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German Pages 519 [520] Year 1988
Otto Ludwig Der Schulaufsatz
Otto Ludwig
Der Schulaufsatz Seine Geschichte in Deutschland
W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1988
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — p H 7, neutral)
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek L u d w i g , Otto: Der Schulaufsatz : seine Geschichte in Deutschland / Otto Ludwig. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1988 ISBN 3-11-011603-0
© 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in Germany
Für Malte und Heidrun
Inhaltsverzeichnis Einleitung Ziele, Gesichtspunkte, Ausgrenzungen Andere Darstellungen Quellen und mögliche Gegenstände der Untersuchung
1 1 3 4
Vorgeschichte: Die rhetorischen Vorübungen der Griechen und Römer
7
1. Die didaktische Konzeption
8
Die Lokalisierung im Unterricht Die rhetorische Ausrichtung Ableitung der Übungen durch Elementarisierung Die Aufstellung eines Lehrplanes Die Schriftlichkeit der Übungen Der Formalismus der Übungen Der propädeutische Charakter 2. Die Übungsformen Die Die Die Die Die Die
Fabel Erzählung Beschreibung Chrie Erörterung (thesis) erfundene Rede
8 9 10 11 11 12 13 13 14 15 17 17 18 20
3. Zur Überlieferung der rhetorischen Vorübungen
21
I. D i e deutsche Sprache an den Schulen
23
1. Der Ausgangspunkt: absolute Latinität
23
2. Die Forderung der Reformer des 17. Jahrhunderts
24
Wolfgang Ratke Johann Balthasar Schupp Christian Weise Johann Arnos Commenius
24 26 28 30
VIII
Inhaltsverzeichnis
3. Das Deutsche am Rande der Schulen
32
Die dramatischen Aufführungen Die oratorischen Darbietungen
33 34
4. Die deutsche Sprache im Unterricht
37
Deutsch im Rhetorikunterricht Deutsch als Sprache des Unterrichts Deutsch als Unterrichtsfach
37 40 42
II. Politische Beredsamkeit: Christian Weise und seine Schule (1680-1720)
45
1. Zur Konzeption
45
2. Die Lehrer der Beredsamkeit
48
Daniel Richter Christian Weise Die sogenannten Weisianer
48 50 52
3. Die Grundformen der Rede
53
4. Die oratorischen Übungsformen
56
Schulreden Ausarbeitungen in Briefform Gedichte (Carmina)
57 60 62
5. Zu Fragen des Stils
65
6. Die Themen (Stoffe)
68
III. Gelehrte Beredsamkeit: Die frühen Aufklärer (1720-1760)
71
1. Die neue Lehre von der Beredsamkeit
72
Joachim Lange Friedrich Andreas Hallbauer Johann Christoph Gottsched Johann Jacob Schatz
73 73 75 77
2. Die Grundzüge des Wandels
79
Von der politischen zur gelehrten Rede Vom Überreden zum Überzeugen Von der Erregung der Affekte zum Appell an den Verstand Von der Wirkung der Rede zum Ausdruck von Gedanken Vom Mündlichen zum Schriftlichen
79 80 81 81 84
Inhaltsverzeichnis
3. Die Die Der Die Die
IX
Vorstellungen vom Schreiben und Reden Gedanken Ausdruck der Gedanken Anordnung der Gedanken Sprachliche Ausführung der Gedanken (Stil)
85 85 88 90 92
4. Schülerarbeiten Gedichte Reden Briefe IV. Schriftliche (1770-1805)
94 95 96 101 Aufsätze:
Die
Forderung
der
Bürger 105
1. Die Grundzüge der neuen Konzeption
105
2. Von John Locke zu Peter Villaume John Locke Friedrich Gabriel Resewitz Peter Villaume Johann Christoph Vollbeding und Johann Christian Dolz
108 108 109 110 111
3. Didaktische und methodische Vorstellungen Inhalt und Form Die Aufgaben Die Aufsatzübungen Der Stil der Aufsätze
111 112 113 114 120
V. Zwischen Rhetorik und Stilistik: Die Deutschen Stilübungen an den Gymnasien ( 1 7 8 0 - 1 8 5 0 ) 123 1. Deutsche Stilübungen in Rahmen des Rhetorikunterrichts Der Rhetorikunterricht Ein Beispiel: Büchners Cato-Rede Die Lehrbücher Die Rhetorik in der Defensive
123 123 126 126 128
2. Die Das Die Die
132 132 134 137
Begründung einer deutschen Stilistik Interesse an einer Stilistik ersten deutschen Stilistiken ersten Stillehren für den Unterricht
3. Die Begründung der Aufsatzdidaktik
139
4. Die Entwicklung einer Methodik der deutschen Stilübungen Ansätze zu einer Methodik Die ersten Methodiker
143 144 148
X
Inhaltsverzeichnis
5. Operationen bei der Ausarbeitung der Aufsätze Die Themenstellung Das Auffinden der Inhalte (Inventio) Die gedankliche Ausarbeitung Die Ordnung der Gedanken (Dispositio) Die sprachliche Ausarbeitung (Elocutio)
151 153 154 158 159 161
6. Die Formen von Aufsätzen Die überlieferten oratorischen Formen Erzählende und beschreibende Aufsatzformen Eine neue Aufsatzform: die Abhandlung Eine problematische Aufsatzform: die Geschäftsaufsätze
168 168 172 177 180
7. Die neuhumanistische Reaktion Friedrich Thiersch Friedrich Joachim Günther
181 182 183
VI. Entrhetorisierung des Aufsatzunterrichtes u n d die Subjektivität der Aufsätze ( 1 8 5 0 - 1 9 1 8 ) 189 1. Die Ablösung von alten Traditionen
189
2. Hiecke, Hildebrand und Laas Robert Heinrich Hiecke Rudolf Hildebrand Ernst Laas
195 195 197 199
3. Die Die Die Der
Subjektivität der Aufsätze (Rudolf Hildebrand) Vorgeschichte Aufsatzdidaktiker Aufsatzunterricht
201 202 203 208
4. Die Die Die Der
Intellektualisierung der Aufsätze (Ernst Laas) Vorgeschichte Aufsatzdidaktiker Aufsatzunterricht
216 217 221 225
5. Eine neue Konzeption: der literarische Aufsatz (R. H. Hiecke) . . . 236 Die Vorgeschichte 236 Robert Heinrich Hiecke 238 Die Einführung literarischer Themen 242 Die Grundzüge der Konzeption 244 Die Formen der literarischen Aufsätze 247 Zur Stilbildung 250 6. Die Aufsätze der Kaiserzeit Die Aufsatzdidaktiker
252 252
Inhaltsverzeichnis
Die Form: der klassische Reproduktionsaufsatz Ein Beispiel: Friedrich Otto Die Themen und Inhalte
XI
253 255 257
VII. Der Volksschulaufsatz: Seine Entstehung im 19. Jahrhundert 265 1. Die historischen Voraussetzungen Auf dem Lande In den Städten Die Stituationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts
265 266 267 269
2. Die Didaktik des „sich anlehnenden Aufsatzes" (die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) Anschluß an die Schreibübungen Anschluß an den Grammatikunterricht Anschluß an die Denkübungen Anschluß an Übungen im mündlichen Gebrauch der Sprache . . . . Anschluß an die Lektüre des Lesebuches
270 272 274 275 278 279
3. Auf dem Wege zum „freien Aufsatz" (die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) 285 Die Restauration 285 Der Aufsatzunterricht 287 Rudolf Hildebrand 291 Die Schüler Hildebrands 293 Max Schießl's stilistische Entwicklungstheorie 295 Ernst Lüttges stilistischer Anschauungsunterricht 298 VIII. Der freie Aufsatz: Aufsatzreform in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts 301 1. Die Kritik an dem sogenannten gebundenen Aufsatz Die deutsche Kulturkritik Rudolf Hildebrand und seine Schüler Die Volksschullehrer Die Gymnasiallehrer
302 302 305 306 307
2. Die Kunsterziehungsbewegung
309
3. Die Persönlichkeitspädagogik Zwei Beispiele Die Ziele und ihre Tradition Die Konzeption des freien Aufsatzes Das Dilemma des freien Aufsatzes Zwei Lösungsansätze
313 313 314 316 318 318
4. Die Arbeitsschule Zwei Voraussetzungen
321 321
XII
Inhaltsverzeichnis
Erste Versuche (vor dem Kriege) Der Ausbau (nach dem Kriege) Die Ergebnisse
323 328 337
5. Ein neues Paradigma zeichnet sich ab: der stilbildende Aufsatz . . . 339 Wilhelm Schneider Walther Seidemann Georg Kühn Ergebnisse und Tendenzen
341 345 348 350
IX. Die Deutschkunde und der deutsche Aufsatz: Das andere Weimar 353 1. Die Idee der Deutschkunde
353
2. Die Deutschkundebewegung
354
3. Der deutschkundliche Aufsatz Die erste Phase Die zweite Phase
356 357 360
X. Der Aufsatz als Ausdruck von Haltung: Das Dritte Reich . . 363 1. Die Liquidierung der reformpädagogischen Ansätze
363
2. Die pädagogischen, amtlichen und didaktischen Vorgaben
366
Politisch-pädagogische Ziele Aufsatzdidaktische Vorstellungen Die amtlichen Richtlinien und Bestimmungen
366 367 374
3. Die Grundlagen des neuen Aufsatzunterrichtes
379
4. Die Ausgrenzung der Stilübungen
384
5. Die Aufsatzformen
387
6. Die Aufgabenstellung (Themen) In den unteren Klassen In den oberen Klassen
391 392 394
7. Die Stoffe und Gegenstände für die Aufsätze
398
Schulische Stoffe Erlebnisse Nationalsozialistische Werte 8. Die Inhalte der Aufsätze
398 400 402 404
Inhaltsverzeichnis
XIII
9. Die Ordnung des Inhaltes (die Gliederung)
406
10. Die sprachliche Ausführung (der Stil der Aufsätze)
408
11. Die Grundzüge der aufsatzdidaktischen Konzeption
413
XI. Der Aufsatz der Nachkriegszeit: Aufsatz ( 1 9 4 6 - 1 9 7 0 )
417
Der
sprachgestaltende
1. Entwicklungen zwischen 1946 und 1956 Anknüpfungen Fortführungen Neue Ansätze
421 422 425 428
2. Die Durchsetzung des sprachgestaltenden Aufsatzes (1956 — 1965). . 431 Der sprachschaffende Aufsatz Der sprachgestaltende Aufsatz 3. Zur Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes Die Der Die Die Die
Bezeichnung Begriff der Gestaltung Stilübungen Aufsatzformen Begründung der Aufsatzformen
432 434 436 436 437 438 439 440
4. Zur historischen Einordnung des sprachgestaltenden Aufsatzes . . . 445 G r u n d z ü g e der E n t w i c k l u n g des deutschen Schulaufsatzes . . . .
449
Literaturverzeichnis
455
Register Personenverzeichnis Sachverzeichnis
495 495 499
Einleitung Ziele, Gesichtspunkte, Ausgrenzungen Eine Darstellung der Geschichte des Aufsatzunterrichtes kann unter verschiedenen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Handelt es sich um eine sozialgeschichtliche Darstellung, so müßte der Einfluß der gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und institutionellen Verhältnisse auf den Aufsatzunterricht zur Sprache kommen. Handelt es sich um eine kulturhistorische Untersuchung, dann ginge es etwa um die Auswirkungen des Aufsatzunterrichtes auf die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Deutschland ausbildende Schriftkultur oder die Alphabetisierung der Massen im 19. Jahrhundert. Es könnte auch ein Interesse bestehen zu erfahren, was Schüler früher wirklich gewußt und geleistet haben: was sie umgetrieben hat; welche Gedanken und Ansichten in ihren Köpfen waren oder von ihnen erwartet wurden; ob sie wirklich, was heute öfters behauptet wird, die Zeichensetzung, die Orthographie und die Grammatik in einem Maße beherrschten, das für Schüler heute unerreichbar ist; ob ihre stilistischen Fähigkeiten so weit entwickelt waren, daß sie auf ein akademisches Studium besser vorbereitet waren. Eine Untersuchung der Schulaufsätze könnte also auch ein Beitrag zur Alltags- oder Mentalitätsforschung sein. Von alledem wird zwar im folgenden hier und da auch die Rede sein, doch nicht in erster Linie. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen vielmehr die pädagogischen Aspekte des Schulaufsatzes und des Aufsatzunterrichtes. Eine solche Darstellung ist mehrfach gefordert worden. So schrieb Rolf Sanner: „Eine historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der Aufsatzdidaktik (wie der Deutschdidaktik überhaupt) steht immer noch aus; die Darstellung der eigenen historischen Dimension des Faches ist immer noch eine Zukunftsaufgabe", und er fügte hinzu: „Vieles wäre dann sicherlich anders zu. sehen" (1975: 9; vgl. auch B. Asmuth 1977: 280). Die Praxis des Aufsatzunterrichtes würde nicht mehr so ausschließlich als Folge „anthropologischer Konstanten", „entwicklungspsychologischer Prozesse", notwendiger Reaktionen auf „die Bedürfnisse des Lebens" oder als Realisierung bestimmter bildungspolitischer Vorstellungen zu sehen sein, sondern auch als das Ergebnis von Traditionen. Eine solche Sicht der Dinge wäre gewiß nicht unnütz. Man wüßte, wie das, was heute im Aufsatzunterricht getrieben wird, einmal entstanden ist. Man wüßte, welchen Sinn es gehabt hat, auch dann, wenn heute kein Sinn mehr zu erkennen ist. Man hätte eine
2
Einleitung
Basis, auf der man sich mit dem heutigen Aufsatzunterricht, seiner Praxis sowie seinen theoretischen Voraussetzungen, auseinandersetzen könnte; eine Basis, auf der sich eine Reform des Aufsatzunterrichtes, die mehr als ephemere Bedeutung hätte, gründen ließe. Eine historische Aufarbeitung des Aufsatzunterrichtes wäre dann als ein Beitrag zu seiner Reform zu sehen. Genau dies ist die Absicht meiner Untersuchung. Sie steht damit in der Tradition, in der auch ihr Gegenstand begründet worden ist: in der Tradition der Aufklärung. Geschichte wird hier nicht, um auf eine aktuelle Diskussion unter Historikern, den sogenannten Historikerstreit, Bezug zu nehmen, als ein Mittel zum Aufbau oder zur Stärkung von Identitäten beansprucht, sondern als Medium der Aufklärung, das heißt, „der Klärung historisch bedingter Gegenwartsphänomene, um sich ihnen gegenüber angemessener verhalten zu können" (Jürgen Kocka in der Frankfurter Rundschau vom 4. 1. 1988, S. 10). Damit ein solcher Zweck erreicht werden kann, wird es notwendig sein, diejenigen Gesichtspunkte in den Vordergrund der Darstellung zu rücken, von denen anzunehmen ist, daß sie die weitere Diskussion bestimmen werden. Wenn ich es richtig sehe, handelt es sich um zwei Aspekte: einmal um die Konzeption des Aufsatzunterrichtes allgemein und dann im besonderen um präzisere Vorstellungen vom Schreiben selbst. Denn wie auch immer Aufsatzschreiben bestimmt werden mag, um Schreiben handelt es sich allemal. Da die Konzeptionen von Aufsatzunterricht in der Vergangenheit nur teilweise oder überhaupt nicht ausgearbeitet worden sind, wird es notwendig sein, sie zu explizieren. Erst dann lassen sie sich verstehen, miteinander vergleichen und unter Umständen einer Tradition zuordnen. Bei der Ausarbeitung der didaktischen oder methodischen Konzeptionen habe ich, bedingt durch mein spezielles Forschungsinteresse (O. Ludwig 1983 b; 1983 c u. ö.), in besonderer Weise die Vorstellungen vom Schreiben: des Schreibprozesses, der Schreibtätigkeit und der Arbeit am Schreiben berücksichtigt. Diese stets unreflektierten, unartikulierten, darum aber nicht unwirksamen Annahmen zu explizieren und damit sichtbar und diskutierbar zu machen, scheint mir ein Erfordernis zu sein, das zugleich der historischen Analyse wie der gegenwärtigen Diskussion einer Aufsatzreform dient. Daß die Korrektur der Aufsätze durch den Lehrer nicht berücksichtigt wird, ist dann nur die Konsequenz einer solchen Entscheidung. Die Darstellung der Geschichte des Schulaufsatzes in Deutschland reicht bis zum Ende der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Die Fragen, die in den siebziger Jahren gestellt worden sind und über die heute noch gestritten wird (vgl. etwa O. Ludwig 1982 und B. Good/H. Sitta 1983), sind nicht mehr aufgenommen worden. Es scheint mir notwendig zu sein, klar zwischen einer historischen Darstellung und der Diskussion aktueller Fragen zu unterscheiden.
Einleitung
3
Daß die Entwicklung, die die Aufsatzdidaktik in der D D R genommen hat, hier nicht berücksichtigt werden konnte, bedauere ich sehr. Es war mir nicht möglich, an die erforderlichen Quellen heranzukommen. So kann ich nur hoffen, daß es einem anderen gelingen möge, diese Lücke in nicht allzu ferner Zeit zu schließen.
Andere Darstellungen Es gibt verschiedene Darstellungen der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes, des Aufsatzunterrichtes, der verschiedenen didaktischen und methodischen Positionen in Deutschland, aber keine, die den Gegenstand erschöpfend behandelt und zugleich wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die erste Darstellung der Geschichte des Schulaufsatzes in Deutschland stammt von Ludwig Giesebrecht. Es handelt sich um einen Artikel der „Zeitschrift für das Gymnasialwesen" mit dem Titel: „Der deutsche Aufsatz in Prima. Eine geschichtliche Untersuchung" (L. Giesebrecht 1856). Der Artikel ist vom Standpunkt eines national eingestellten Preußen geschrieben. Er beschränkt sich ausschließlich auf die Verhältnisse in Preußen zwischen 1740 und 1850 und stellt die Begründung des deutschen Aufsatzes als das persönliche Verdienst Friedrichs des Großen hin. Erst nachdem der Preußenkönig den Schulaufsatz in den Schulen etabliert hatte, so die Überzeugung von Giesebrecht, sei es „der preußische Lehrerstand" gewesen, der diejenige Ansicht vom deutschen Aufsatz geprägt habe, „die wir die Preußische nennen dürfen" (ebd.: 138). Die Geschichte des deutschen Aufsatzes ist natürlich auch im Zusammenhang mit der Darstellung der Geschichte des Deutschunterrichts insgesamt berücksichtigt worden, und zwar sowohl in der „Geschichte des Deutschen Unterrichts" von Adolf Matthias (1907) als auch in der bekannten Darstellung: „Dichtung, Sprache, Menschen, Bildung. Geschichte des Deutschunterrichts von den Anfängen bis 1945" von Horst Joachim Frank (1973). Die Darstellung von Matthias besticht durch die Fülle des Materials, leidet aber an einer unglücklichen Gliederung. Wer Geschichte nach Jahrhunderten ordnet, läuft Gefahr, Zusammengehöriges auseinanderzureißen und zusammenzurücken, was nicht zusammen gehört. — Die Darstellung von Frank weist einen ähnlichen Mangel auf. Die Zeit bis 1918, dem Ende des Ersten Weltkrieges, wird zwar nicht nach Jahrhunderten, wohl aber nach systematischen Gesichtspunkten geordnet, wie „die Stilbildung", „die moralische Erziehung", „die Denkschulung", „die Bildung durch die Literatur" und „die Nationalerziehung". Ein klares Bild von der Entwicklung des Aufsatzunterrichtes ist auf diese Weise nicht zu gewinnen. Für die Zeit nach 1918 hat Frank die vertikale Gliederung aufgegeben: der Stoff wird jetzt nach Epochen geordnet:
4
Einleitung
„Deutschunterricht in der Weimarer Zeit", „Nationalsozialistischer Deutschunterricht". In einem solchen Rahmen können die historischen Prozesse und also auch die Entwicklungen, die der Aufsatzunterricht in dieser Zeit genommen hat, zusammenhängend dargestellt werden. Mehrfach ist die Geschichte des Schulaufsatzes auch im Zusammenhang mit aufsatzdidaktischen oder — methodischen Fragen dargestellt worden — meist als erstes, in die jeweilige Problematik einführendes Kapitel. So zuerst bei A. Vogel für den Volksschulaufsatz (1874) und bei O. Apelt für den Oberstufenaufsatz des Gymnasiums (1883). Später dann bei F. E. Fischer (1922), H. Ahrendt (1948), H. Pröve (1950), Η. Sulzbacher (1960), Α. Beinlich (1961), Τ. Marthlaler (1962), Η. Helmers (1966), S. Eckhart und H. Helmers (1980). Die Funktion erklärt, daß in diesen Darstellungen aufsatzdidaktische und aufsatzmethodische Positionen im Vordergrund des Interesses stehen, diese mehr oder weniger zufallig herausgegriffen werden und die Darstellung insgesamt ein gründliches Studium der Quellen vermissen läßt. Eine Ausnahme bildet die Skizze von Otto Apelt (1883). Aus Hunderten von Schulprogrammen, mit denen Schulen zu Schulfeiern einluden und bei dieser Gelegenheit auch über die Aktivitäten im jeweils verflossenen Schuljahr Rechenschaft gaben, hat Apelt alle Daten, die sich auf den Aufsatzunterricht bezogen, zusammengetragen und auf dieser Grundlage die erste wissenschaftliche Darstellung der Geschichte des Schulaufsatzes in Deutschland vorgelegt. Von den Artikeln, die der Geschichte des Schulaufsatzes gewidmet sind (außer dem oben erwähnten Aufsatz von L. Giesebrecht vgl. auch H. Schumann 1957; H . D . Schmid 1960; B. Asmuth 1977), verdient ein Aufsatz von Bernhard Asmuth Beachtung. Asmuth greift zwar nur einen Aspekt aus dieser Geschichte heraus: „Die Entwicklung des deutschen Schulaufsatzes aus der Rhetorik" (so der Titel), doch dieser Aspekt erweist sich als so grundlegend, daß auf ihm durchaus eine Geschichte des deutschen Schulaufsatzes aufgebaut werden kann. Mit dieser Arbeit hat Asmuth mich auf einen Weg geführt, auf dem es mir erst möglich wurde, dieses Buch zu schreiben.
Quellen und mögliche Gegenstände der Untersuchung Eine Geschichte des Aufsatzunterrichtes ist auch eine Geschichte der Schulaufsätze sowie eine Geschichte der Aufsatzdidaktik und Aufsatzmethodik. Denn jeder Aufsatzunterricht hat sein Ziel in den Aufsätzen der Schüler, und in jedem Aufsatzunterricht schlagen sich bestimmte Auffassungen von Aufsätzen und Aufsatzunterricht nieder, methodische wie didaktische. Insofern ist der Gegenstand der Untersuchung komplex. Für das 17. und 18. Jahrhundert haben sich Schülerarbeiten jedoch nur in Ausnahmefällen erhalten. Erst mit der Einführung des Abiturs in Preußen —
Einleitung
5
endgültig 1812 — sind Abituraufsätze zusammen mit der Abiturakte des Schülers von einigen Schulen aufbewahrt und in Schul- oder Stadtarchiven überliefert worden (vgl. B. Lahann 1982). Aufsätze aus den untersten Klassen der Gymnasien und Realschulen stehen erst seit Ende des 19., aus Volksschulen gar erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Die Schüleraufsätze, die sich erhalten haben, bilden also keine ausreichende Grundlage für eine Darstellung der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes. Als Quellen, die einen Einblick in den Aufsat^unterricht gestatten würden, kämen grundsätzlich in Frage: — Berichte von Schülern (etwa in Autobiographien), — Berichte, die Lehrer oder angehende Lehrer über ihren Unterricht zu erstatten hatten (vgl. etwa I. Böttcher 1986), — Lehrproben, — Verfügungen und Erlasse, mit denen die Behörde versuchte, den Aufsatzunterricht zu ordnen. Aber auch hier ist die Quellenlage äußerst unbefriedigend. Die Berichte sind zu subjektiv, die Lehrproben zu hypothetisch und die amtlichen Verfügungen und Erlasse regeln eher organisatorische, als Fragen des Unterrichtens: die Anzahl der Aufsatzstunden, die Zahl der in einem bestimmten Zeitraum zu schreibenden Aufsätze sowie — zumindest in groben Zügen — den Ablauf des Curriculums. Für die einschlägigen Quellen gilt aber generell, daß sie nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Wie früher im Unterricht Aufsätze niedergeschrieben, wie sie vorbereitet, korrigiert, verbessert und unter Umständen wieder neu geschrieben wurden, wie sich also der Aufsatzunterricht konkret vollzogen hat, das entzieht sich zumeist unserer Kenntnis. Es bleiben die aufsat^didaktischen und aufsatt^methodischen Arbeiten der Pädagogen, die den Aufsatzunterricht von Anfang an begleitet haben. Sie haben sich — von wenigen Ausnahmen abgesehen — in Bibliotheken erhalten und stehen so über den ganzen Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis heute in ausreichender Zahl zur Verfügung, so daß eine Darstellung der Geschichte des Schulaufsatzes sich letztlich nur auf sie beziehen kann. Sie haben aber den Nachteil, daß in ihnen Unterricht nur entworfen, begründet und reflektiert, nie aber dokumentiert wird. Auch wenn der Aufsatzunterricht von allen in Frage kommenden Gegenständen am schlechtesten dokumentiert ist, so ist er doch über seine Produkte, die Aufsätze der Schüler, und die ihn begründenden und reflektierenden, didaktischen und methodischen Erwägungen erschließbar. Die Arbeiten der Schüler dürften für einen solchen Zweck überaus bedeutsam sein, weil sie aus der Praxis des Aufsatzunterrichtes entstanden sind und sich so direkter als alle anderen Quellen auf ihn beziehen. Die aufsatzdidaktischen und aufsatzmethodischen Arbeiten, die Handbücher, Anweisungen und Ratgeber für den
6
Einleitung
Stil- und Aufsatzunterricht, die Rhetoriken und Stilistiken für den Schulgebrauch, die zahllosen Musterbücher, die vor allem im 19. Jahrhundert auf den Markt kamen, enthalten so viele Hinweise auf den Unterricht, daß sie eine Basis bilden, auf der sich eine Darstellung der Geschichte des Schulaufsatzes gründen läßt. Die Berichte über den Unterricht und die wenigen Lehrproben, die sich erhalten haben, sind zumindest zur Illustration, in einigen Fällen auch als Belege von Bedeutung.
Vorgeschichte: Die rhetorischen Vorübungen der Griechen und Römer Die Geschichte, von der im folgenden zu berichten ist, beginnt, wie so viele Geschichten dieser Art, in der Antike, bei den Griechen und Römern, auch wenn diese noch keine Schulaufsätze im heutigen Sinne des Wortes kannten. Dennoch gab es auch in ihren Schulen Übungen, die der Verfertigung von Schriftstücken, also dem Schreiben dienten (zum folgenden vgl. Η. I. Marrou 1959: 2 5 2 - 2 5 7 ; D. L. Clark 1977: 1 7 8 - 2 1 2 ; H. Lausberg 1960: 5 2 8 - 5 4 9 ) . Die Griechen nannten sie „progymnasmata", die Römer „praeexercitationes", beides übersetzt man am besten mit „Vorübungen". Es handelt sich, wie der Name sagt, um Übungen zu Übungen. In den „Vorübungen" wurden die Schüler auf den Rhetorikunterricht vorbereitet. Die Vorübungen sind also Vorübungen zum Unterricht in der Rhetorik oder kurz: „rhetorische Vorübungen". In ihnen ist der eigentliche Vorläufer des neuzeitlichen Aufsatzes zu sehen. Wann diese Übungen aufgekommen sind, ist unklar. Cicero glaubt zu wissen, daß bereits Aristoteles seine Schüler in einer dieser Übungsformen unterrichtet habe (vgl. Cicero 1975: 41). In einer Aristoteles zugeschriebenen Rhetorik aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., der „Rhetorica ad Alexandrum", werden „progymnasmata" (Vorübungen) erwähnt. Doch ist keineswegs ausgemacht, ob es sich in beiden Fällen bereits um schriftliche Übungen gehandelt hat. Einigermaßen zuverlässig belegt sind schriftliche Übungen im antiken Unterricht erst für das 1. Jahrhundert vor und nach der Zeitenwende. Sueton berichtet, daß solche Übungen vom 1. Jahrhundert v. Chr. an üblich waren. Einige Übungsformen werden von Cornificius und Cicero (beide 1. Jahrhundert v.Chr.) erwähnt. Relativ ausführlich hat sich Quintilian (1. Jahrhundert n.Chr.) mit ihnen beschäftigt. Im 2. Jahrhundert n. Chr. sind dann die ersten Lehrbücher zu den Übungen erschienen, eher für die Hand des Lehrers bestimmt, als für die des Schülers. Sie sind in griechischer Sprache abgefaßt und tragen alle denselben Titel: „Progymnasmata". Das älteste Lehrbuch dieser Art hat ein gewisser Aelius Theon aus Alexandria verfaßt, im 2. Jahrhundert n.Chr. (Theon 1626). Aus demselben Jahrhundert, aber etwas später, stammt die Anleitung des Hermogenes, einem Rhetor aus Tarsos (Hermogenes in Priscian 1528). Ende
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Vorgeschichte: Die rhetorischen Vorübungen der Griechen und Römer
des 4., Anfang des 5. Jahrhunderts n. Chr. hat dann Aphthonius aus Antiochien ein Lehrbuch geschrieben, das noch im 18. Jahrhundert Verwendung in Schulen finden sollte (Aphthonius 1649).
1. Die didaktische Konzeption Im folgenden sollen die didaktischen Vorstellungen, die den Progymnasmata zugrunde lagen, herausgearbeitet werden. Es handelt sich um sieben Gesichtspunkte. Wenn man von dem ersten absieht, kann man auch von „didaktischen Prinzipien" sprechen.
Die Lokalisierung im Unterricht Der antike Unterricht bestand aus drei Teilen, die aufeinander folgten: — dem Unterricht in den Anfangsgründen des Lesens und Schreibens, — dem Grammatikunterricht, — dem Rhetorikunterricht. Der Grammatikunterricht umfaßte in hellenistischer Zeit sowohl den Unterricht im richtigen Sprechen und Schreiben (Grammatik im heutigen Sinne), als auch die Beschäftigung mit dem Geschriebenen (griech. „gramma" = Buchstabe), der Literatur (vgl. D. L. Clark 1977: 59 — 66): „Zunächst gehört der Knabe, wenn er geläufig schreiben und lesen gelernt hat, den Grammatikern. (...) Das Gebiet nun, das diese vertreten, birgt, obwohl es, kurz gesagt, nur in zwei Teile sich gliedert, Sprachlehre und Dichtererklärung, mehr in sich, als es von außen verspricht. Denn einmal ist die Rechtschreibung mit der Sprachlehre verbunden, sodann setzt die Dichtererklärung fehlerfreies Lesen voraus, und zu alledem gesellt sich die kritische Urteilskraft" (M. F. Quintiiianus I, 4, 1—2, 1972: 45 f.). — Der Unterricht in der Rhetorik sollte dagegen den jungen Menschen in die Lage versetzen, selbständig Reden halten zu können. Die Fähigkeit, eine Rede halten zu können, zeichnete damals den gebildeten Bürger aus. Sie war geradezu das Kriterium für die Bildung eines Menschen. Man sollte annehmen, daß die Vorübungen zur Rhetorik Bestandteil des Rhetorikunterrichtes waren, eine Art Propädeutikum in die Rhetorik. Das ist anfangs bei den Griechen auch so gewesen und auch später zuweilen noch geblieben. Doch das Desinteresse der Rhetoriker an dieser Art inferioren Unterrichtes und die Expansionsgelüste der Grammatiker führten dazu, daß die Zuordnung der Progymnasmata unklar wurde. „Aus dem, was in dem einen Fach die Anfangsübungen waren", schreibt Quintilian, „sind die Schlußübungen des anderen" geworden (M. F. Quintiiianus II, 1, 3, 1972: 161).
Die didaktische Konzeption
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Überall in den Lehrbüchern, aber auch sonst, finden sich Spuren der Grammatiker. Auf einem ägyptischen Schreibtäfelchen ist uns ein Aufsatz erhalten, in dem der Schüler eine Chrie durch alle Kasus, Numeri und andere grammatische Formen hindurch variiert: „Als der Philosoph Pythagoras gelandet war und die Wissenschaften lehrte, riet er seinen Schülern, sich des Genusses von tierischem Fleisch zu enthalten (Nominativ!). Man berichtet über die Meinung des Philosophen Pythagoras . . . (Genitiv!). Es schien dem Philosophen Pythagoras gut . . . (Dativ!). Man sagt, daß der Philosoph Pythagoras . . . (Infinitivsatz: Akkusativ!). Ο du Philosoph Pythagoras . . . (Vokativ!)". Geradezu absurd wird diese Übung, wenn er zu den Numeri übergeht: „Die (beiden) Pythagorasse, die Philosophen, . . . (Dual). Als die (mehr als zwei) Pythagorasse, die Philosophen, gelandet waren und die Wissenschaften lehrten, rieten sie ihren Schülern, . . . (Plural)". Und so geht das weiter (nach Η. I. Marrou 1959: 256 f.) „Eine so seltsame Übung", meint Η. I. Marrou, „daß man den Verfassern der Lehrbücher fast den Glauben versagen möchte" (ebd.). So oder ähnlich wird der Grammatiker mit den Übungen umgegangen sein. Natürlich ließen nur die dem Umfang nach kleineren Übungsformen eine solche Behandlung zu. Darum ist damit zu rechnen, daß es zu einer Art Kompromiß gekommen sein wird. Die einfacheren Übungsformen (Fabel, Erzählung und vielleicht auch die Chrie) werden von den Grammatikern, die schwierigeren und umfangreicheren von dem Rhetoriklehrer eingeübt. Eine solche Praxis steht Quintilian vor Augen. Die rhetorische Ausrichtung Auch wenn die rhetorischen Vorübungen von den Grammatikern für ihre Zwecke gebraucht — man muß wohl schon sagen: mißbraucht worden sind, kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß sie grundsätzlich im Zusammenhang mit dem Rhetorikunterricht zu beurteilen sind. Von der Rhetorik und dem Unterricht in der Rhetorik haben die rhetorischen Vorübungen ihre rhetorische Ausrichtung. Sie leiten den Schüler nicht — wie es heute vielfach geschieht — an, sein Inneres zu offenbaren, d. h. seine Gedanken, Gefühle, Meinungen, Stimmungen und, was auch immer, in Worten auszudrücken, sondern lehren ihn, wie man wirkungsvoll redet: — wie man eine Sache beschreiben muß, damit nicht nur alle ihre Teile und Eigenschaften erfaßt werden, sondern sie selbst gleichsam dem Hörer so vor Augen tritt, daß er sie greifbar vor sich sieht; — wie man einen Sachverhalt, über den ein Streit entbrannt ist, so darstellt, daß die Richter, die über ihn zu einem Urteil kommen müssen, zu der Überzeugung gelangen, daß es sich so und nicht anders verhalten hat;
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— wie man eine Argumentation so aufbaut, daß ihr keiner seine Zustimmung versagen kann usw. Die rhetorische Ausrichtung des Unterrichts impliziert eine bestimmte Vorstellung vom Zweck des Schreibens und Redens. Schreibend und redend wirkt der Autor auf andere Menschen ein, nimmt Einfluß auf sie, bewegt ihre Affekte oder bringt sie auf bestimmte Gedanken. Es kommt nicht auf den Ausdruck im eigentlichen Sinne des Wortes an, sondern auf den Effekt. Man würde die rhetorischen Vorübungen mißverstehen, wenn man sich diese Zweckbestimmung nicht stets vor Augen hielte. Sie ist es, die den antiken Unterricht von dem modernden Aufsatzunterricht grundlegend unterscheidet.
Ableitung der Übungen durch Elementarisierung Grundsätzlich gibt es zwei Wege, um zu Reden anzuleiten: einen holistischen (ganzheitlichen) und einen elementaristischen. Der ganzheitliche Weg führt von ganz einfachen Reden zu immer umfangreicheren und komplexeren Gebilden, schließlich zu ausgeformten und entfalteten Reden. Diesen Weg ist man in der Antike nicht gegangen. Das elementaristische Vorgehen besteht darin, daß man sozusagen eine voll ausgebildete Rede in ihre Bestandteile — Elemente — zerlegt und dann jedes Element für sich durch den Schüler üben läßt. In jeder Gerichtsrede zum Beispiel steht der Redner vor der Notwendigkeit, den strittigen Sachverhalt darzustellen, damit über ihn geurteilt werden kann. Die Darstellung des Sachverhaltes nannte man „narratio". Ein wesentlicher Teil der Gerichtsrede war also eine Narratio. Diese konnte in einem Unterricht, der auf die Rhetorik vorbereiten sollte, zunächst einmal für sich eingeübt werden. Das ist der Ursprung der Schulerzählung (vgl. O. Ludwig 1984). Dieser in einer Narratio ausgebreitete Sachverhalt mußte nun den Richtern glaubhaft gemacht, die Darstellung der Prozeßgegner als unglaubwürdig hingestellt werden. Aus einer solchen Notwendigkeit erwuchsen zwei weitere Teile der Rede: die Beweisführung der eigenen und die Widerlegung der gegnerischen Darstellung — confirmatio und refutatio. Auch diese Teile einer Rede konnten für sich im Unterricht geübt werden. Auf diese Weise wurden aus den einzelnen Teilen der antiken Rede die Übungsformen des antiken Unterrichtes: die Progymnasmata. Bei den Vorübungen zur Rhetorik handelt es sich also um die Einübung von unselbständigen Gebilden, Elementen, die nur zusammengenommen einen ganzen Text ergeben, für sich genommen noch nicht einmal in der außerschulischen Wirklichkeit vorkommen mußten. Es waren ausgesprochen künstliche Gebilde (H. Lausberg 1960: 533). Erzählen in der Schule, begründen und widerlegen, loben und tadeln waren nicht als autonome Tätigkeiten
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Gegenstand des „vorübenden Unterrichtes", sondern ausdrücklich als Teiltätigkeiten einer komplexen Rahmentätigkeit, der Rede. Dieser Umstand verdient hervorgehoben zu werden, weil in dieser Elementarisierung der Rede für die Zwecke des Unterrichtes bereits die Möglichkeit der Verselbständigung der einzelnen Redeteile enthalten war. Tatsächlich haben sich die einzelnen Übungsformen verselbständigt, als der durch die Rhetorik gegebene Rahmen und die Bindung an ihren Ursprung aufgelöst oder unklar wurde. Die Erzählung, die Beschreibung, die Argumentation sind heute selbständige Aufsatzformen. Ein Bezug zur Form der Rede besteht nicht mehr, daher auch nicht mehr ihre Rechtfertigung aus einem rhetorischen Zusammenhang. Die Aufstellung eines Lehrplanes Die Ableitung der Übungsformen aus den Teilen der antiken Rede hat ihre Anzahl festgelegt, ihre Abfolge im Unterricht wurde jedoch mit einem didaktischen Prinzip begründet, das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat: dem allmählichen Fortschreiten vom Einfachen zum Schweren. Erst muß die Aneignung des Leichten durch Übungen gesichert sein, bevor zum Schweren fortgeschritten werden kann. Auf diese Weise ergab sich ein Lehrplan, der zwar in den Lehrbüchern nicht in jedem Punkte identisch, in seinem Grundbestand aber durchaus einheitlich war. Am Anfang stehen die einfachen Übungsformen, an seinem Ende die schweren. Was als einfach und was als schwer gegolten hat, läßt sich an der Position einer Übungsform in der Liste der Übungsformen ohne weiteres ablesen. Die Fabel und die Erzählung galten als leicht, die erfundene Rede, die Beschreibung und Thesis als schwer.
Die Schriftlichkeit der Übungen Man muß sich den Rahmen, in dem die rhetorischen Vorübungen standen, noch einmal vor Augen stellen. Eine Rede halten, ist eine mündliche Angelegenheit. Die eigentlich rhetorischen Übungen, wie sie im Rhetorikunterricht betrieben wurden, zielten also auf das Mündliche, die mündlich vorgetragene Rede. Die schriftlichen Übungen dienten der Vorbereitung auf das Reden. Quintilian hat das so ausgedrückt: „Einstweilen aber ist es genug, wenn der Knabe mit aller Sorgfalt und der höchsten Kraftanstrengung, deren dieses Alter fähig ist, etwas Lobenswertes schriftlich ausgearbeitet hat: daran soll er sich gewöhnen, es soll ihm zur zweiten Natur werden. Erst der Schüler wird zu dem Ziel, das wir im Auge haben, gelangen oder ihm am nächsten kommen können, der es eher.lernt, richtig zu reden als schnell" (M. F. Quitilian II, 4, 17 - 1972: 181).
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Der Charakter der Schriftlichkeit im antiken Unterrichtswesen als einer Sekundärfunktion ergab sich mit Notwendigkeit aus der rhetorischen Ausrichtung. Er unterscheidet wesentlich die antiken Schreibübungen von dem modernen Aufsatz.
Der Formalismus der Übungen Um auf dem Forum eine Rede halten zu können, bedurfte es eines Anlasses, bei der Gerichtsrede etwa einer Unrechtshandlung. Diese Handlung war nicht nur Anlaß, sondern auch Inhalt der Rede. Der Inhalt war also das Primäre. In der Schule dagegen gibt es normalerweise keinen Streit, der Anlaß für ein Gerichtsverfahren und damit auch für den Vortrag von Reden hätte sein können. Also mußte nicht nur der Anlaß, sondern auch der Stoff, der Gegenstand der Schreib- und Redeübung werden sollte, vorgegeben werden. Geübt werden konnte allein die Form: die Form der Erzählung, die Form der Begründung oder Widerlegung, die Form von Lob und Tadel. „Wie weit sind wir von dem Romantizismus der neueren Zeit, von unserer systematischen Suche nach Originalität entfernt!" schreibt Henri-Irenee Marrou (1959: 256). „Der antike Schüler hatte nicht originell zu sein. Man verlangt von ihm, daß er nach gewissen Normen Aufsätze machen und erläutern lernte. Er muß also zuerst lernen, was diese Normen waren". Aus der Analyse der Übungsformen (s. unten) wird sich ergeben, daß es hauptsächlich drei Dinge waren, die er zu beherrschen lernen mußte: 1. Am Beispiel von Fabel und Erzählung wurde er mit den „Tugenden des Erzählens" (virtutes narrationis) vertraut gemacht: Kürze (brevitas), Deutlichkeit (perspicuitas) und Glaubwürdigkeit (probalitas). Diese Stileigenschaften, denen sich weitere hinzugesellten, bestimmten weithin den Unterricht in den rhetorischen Vorübungen und stellen so etwas wie eine Einführung in den Teil der Rhetorik dar, den man „elocutio" nannte. 2. Am Beispiel der Chrie und Thesis, aber auch an anderen Übungsformen, lernte der Schüler, wie ein Text aufzubauen war. Es handelt sich um eine Einführung in den Teil der Rhetorik, den man „dispositio" nannte. In der Tat waren dies in erster Linie Dispostionsübungen, doch reicht ihre Bedeutung weiter. Denn mit den Dispositionen wurden dem Schüler Gesichtspunkte an die Hand gegeben, nach denen er den Stoff für seine Ausarbeitungen finden konnte, wenn dieser nicht schon vorgegeben war. Insofern sind diese Übungen zugleich auch eine Einführung in die „inventio", einem dritten Teil der Rhetorik. 3. Schließlich lernte der Schüler am Beispiel der „erfundenen Rede"(vielleicht auch der Beschreibung) die Bedeutung kennen, die den kommunikativen Bedingungen (Faktoren) bei der Abfassung einer Rede oder eines Schriftstückes zukommt. Dieser Gesichtspunkt wurde in der antiken Rhetorik dem
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Geschick des einzelnen Redners, seiner „rhetorischen Klugheit" (prudentia orationis), überlassen und nicht in einem eigenen Abschnitt behandelt. Fragen des Stils, des Textaufbaues und der Anpassung an die kommunikativen Bedingungen dominieren den antiken Unterricht in den rhetorischen Vorübungen. Es dürfte also gerechtfertigt sein, von einem Formalismus dieser Übungen zu sprechen. Daß daneben auch Definitionen eine gewisse Rolle gespielt haben und die mit ihnen verbundenen Inhaltsfragen, versteht sich von selbst. Der propädeutische Charakter Man versteht den Sinn der rhetorischen Vorübungen nur dann, wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, daß sie lediglich auf den eigentlichen Unterricht in der Rhetorik vorbereiten. In den Vorübungen wurden, wie gesagt, die einzelnen Teile einer Rede isoliert und für sich geübt, in den eigentlich rhetorischen Übungen die Teile wieder zum Ganzen zusammengefügt. Nun sollte der Schüler beweisen, daß er, was für sich eingeübt wurde, auch im Zusammenhang der Rede beherrschte. Nicht auf die Beherrschung der Übungsformen kam es an, sondern auf die Beherrschung der Rede als ganzer Form.
2. Die Übungsformen In der Anzahl, Art und Reihenfolge der Übungen weichen die Lehrbücher nur geringfügig voneinander ab (vgl. dazu Stegmann 1934: 2045 f.). Bedeutsam ist vor allem die Tatsache, daß die Übungsformen in Listen geordnet waren. Über die Ordnungsprinzipien scheint es keinen Dissens gegeben zu haben. Am Anfang der Liste stehen stets die leichten Übungen: die Fabel und die Erzählung, an ihrem Ende die schweren: die argumentativen Formen. „Der Hauptgrundsatz ist das Fortschreiten vom Leichteren zum Schwereren" (ebd.: 2042). Die Lehrbücher lassen also so etwas wie einen Lehrplan erkennen. Das Schema, nach dem in den Lehrbüchern die schriftlichen Übungen behandelt werden, ist durchgehend dasselbe. Die Darstellung beschränkt sich weitgehend auf eine Beschreibung der Form. Als erstes gibt der Autor eine Definition. So heißt es bei Aphthonius etwa zur Fabel: „Est autem Fabula, sermo falsus, veritatem effingens" (Die Fabel ist eine Rede, die zwar nicht auf Wahrheit beruht, aber Wahrheiten ausspricht). Dann werden verschiedene Eigenschaften der jeweiligen Übungsform angeführt. Im Vordergrund stehen Fragen des Aufbaues und des sprachlichen Ausdrucks, also Stilfragen im weiteren Sinne. Aphthonius hat darüberhinaus für jede Übungsform Musterbeispiele gegeben. Diese waren offensichtlich von großem praktischen Nutzen und erklären den späteren Erfolg seines Buches.
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Die Liste, die Aphthonius in seinem Lehrbuch aufgestellt hat und die später geradezu kanonisch wurde, enthält folgende Übungsformen: 1. fabula 2. narratio 3. chreia
4. sententia 5. destructio sive refutatio 6. confirmatio 7. locus communis 8. laus sive laudatio 9. vituperatio 10. comparatio 11. ethopoeia 12. descriptio 13. thesis 14. legislatio
Fabel Erzählung Behandlung eines Ausspruches, aber auch einer Handlung, die einer historischen Persönlichkeit zugeschrieben werden Behandlung einer Redensart oder eines Sinnspruches Widerlegung eines gegnerischen Argumentes Stützung einer eigenen Behauptung (Begründung) Behandlung eines allgemeinen Gesichtspunktes Lob einer Person oder Sache Tadel einer Person oder Sache Vergleich von Personen oder Sachen die einer anderen Person in den Mund gelegte, darum fiktive Rede Beschreibung Behandlung einer allgemeinen Frage, Erörterung eines Problems Behandlung einer Gesetzesvorlage.
Im folgenden werden einige Übungsformen, die später in der Geschichte des deutschen Aufsatzes noch eine Rolle gespielt haben, detaillierter vorgestellt.
Die Fabel Fabeln kommen in antiken Reden nicht selten vor. Mit einer Fabel konnte man einen Sachverhalt veranschaulichen, verdeutlichen oder erhellen. Weil die Fabel ein möglicher Bestandteil der antiken Rede war, mußte sie auch in den Kanon der Vorübungen aufgenommen werden (vgl. H. Lausberg 1960: 228-229). In diesem Fall scheint die Plazierung innerhalb der Reihe der Vorübungen nicht strittig gewesen zu sein. Sie hat als die leichteste Übungsform gegolten und erscheint deshalb stets an erster Stelle der Reihe. Der Unterricht in den Vorübungen zur Rhetorik begann also stets mit der Behandlung der Fabel. Wenn wir von den Fabeln im Aufsatzunterricht hören, denken wir gleich an die Erfindung einer kleinen Fabel. Das ist damals nicht gefordert worden. „Der antike Schüler hatte nicht originell zu sein" (Η. I. Marrou 1959: 256).
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Seine Aufgabe bestand ausschließlich darin, eine Fabel nachzuerzählen. Der Lehrer gab dem Schüler eine Fabel vor, sei es daß er sie erzählte, sei es daß er sie vorlas. Da die Fabel meist aus Versen bestand, hatte der Schüler die Aufgabe, die gebundene Rede aufzulösen. Quintilian beschreibt die Aufgabe des Schülers so: „so sollen die Knaben es lernen, kleine äsopische Fabeln, die den Märchen der Ammen am nächsten stehen, in reiner Sprache, die sich nirgends über das gewöhnliche Maß erhebt, zu erzählen, sodann dieselbe Leichtigkeit auch mit dem Griffel zu erreichen: zuerst die Verse aufzulösen, dann mit anderen Worten wiederzugeben, dann freier zu paraphrasieren, wobei es gestattet ist, manches zu kürzen und auszuschmücken, wenn nur der Sinn der Dichtung erhalten bleibt" (M. F. Quintiiianus 1972: 125). Reste einer Fabel aus Schülerhand haben sich erhalten. Es handelt sich um einen Papyrus des Fayum aus dem 4. oder 5. Jahrhundert, also in etwa aus der Zeit, in der Aphthonius sein Lehrbuch geschrieben hat. Der Text beginnt so (vgl. im folgenden Η. I. Marrou 1959: 2 5 3 - 2 5 4 ) : „Ein Sohn, der seinen Vater ermordet hatte, und fürchtete, unter die Gesetze zu fallen, floh in die Wüste." Die zweite Hälfte des Satzes ist ein Zitat, ein Vers aus dem Originaltext. Das, was das Kind im Gedächnis behalten hat, gibt es wörtlich wieder. Anderes hat es umgesetzt, wie es gefordert wurde. Die Fabel geht dann so weiter: „Und während er (der Sohn) durch das Gebirge geht, wird er von einem Löwen verfolgt. Und da er von dem Löwen verfolgt wurde, kletterte er auf einen Baum. Und da er einen Drachen sah, der sich auf den Baum zu bewegte und an ihm hinaufsteigen konnte . . . " (an dieser Stelle ist der Text nicht mehr zu rekonstruieren, aus dem folgenden geht jedoch hervor, daß er irgendwie dem Drachen entkommen sein muß. Dort wo der Text wieder lesbar ist, heißt es dann): „Und da er dem Drachen entfloh, fiel er herab." Die Hilflosigkeit des kleinen Schreibers ist mit Händen zu greifen. Krampfhaft klammert er sich an ein syntaktisches Schema, das er, leicht variiert, auf jede Äußerung anwendet. Die Fabel selbst wird dann mit einer, wie der Terminus technicus damals lautete, „Entschlüsselung" abgeschlossen, einer Sentenz, die den Sinn der Fabel zum Ausdruck bringt: „Der Böse entgeht Gott nicht. ,Die Gottheit wird den Bösen richten'". Der zweite Satz ist wieder ein wörtliches Zitat, ein Lehrsatz, der dem Menander zugeschrieben wird. Der erste ist die Auflösung, die der Schüler dem Lehrsatz gegeben hat. Die Erzählung Man muß sich vor Augen halten, daß die antike Erzählung, wie sie in der Gerichtsrede und dann auch in den rhetorischen Vorübungen Verwendung
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fand, nicht viel mit den Erzählungen zu tun hat, die wir im alltäglichen Miteinander, in Gesprächen und Briefen, gebrauchen. Die antike Erzählung ist eine Mitteilung an den Richter, die durchaus parteiisch sein kann, ja sogar parteiisch sein muß. Denn sie verfolgt ein eindeutiges Ziel: den Richter und das Publikum davon zu überzeugen, daß die eigene Partei im Recht ist. Es geht also in der Erzählung vor Gericht nicht darum, ein Publikum zu unterhalten und schon gar nicht, es zu belustigen, sondern auf es einzuwirken, und zwar so, daß es von der Korrektheit der Darstellung überzeugt wird. Der Zweck des Erzählens vor Gericht prägt auch die Eigenschaften, die die Erzählung auszeichnen, die sog. virtutes narrationis, die Tugenden des Erzählens. Um den Richter überzeugen zu können, muß die Erzählung wahrscheinlich und glaubwürdig sein (probabilitas). Damit der Richter von der Richtigkeit der Erzählung überzeugt werden kann, muß die Erzählung klar sein. Damit der Richter die Darstellung aufnehmen und behalten kann, muß sie kurz sein. „Brevitas", „perspicuitas" und „probabilitas" sind also Tugenden des Erzählens. Die „perspicuitas" hat man zuweilen aufgeteilt in gedankliche und sprachliche Klarheit, die „luciditas" und die „perspicuitas"; die Glaubwürdigkeit in Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit, „evidentia" und „probabilitas". So werden zuweilen statt der drei auch fünf Tugenden des Erzählens angeführt. Die Tugenden des Erzählens sind von den rhetorischen Vorübungen unverändert übernommen worden (vgl. Theon 1626: 39 — 66). Auch das Erzählen in der Schule soll kurz, deutlich, klar, anschaulich und glaubwürdig sein. Solche Forderungen sind durchaus angebracht, solange das Üben des Erzählens der Vorbereitung auf das Halten von Reden dient. Sie wurden und mußten problematisch werden in dem Augenblick, in dem das Üben des Erzählens in der Schule sich von dem ursprünglichen Zweck löste und zum Selbstzweck wurde. Das ist dann später geschehen und bis heute so geblieben. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß von der Erzähldidaktik heute immer noch dieselben Tugenden gefordert werden (vgl. O. Ludwig 1984). Die stilistischen Eigenschaften der antiken Gerichtserzählung konnten in die rhetorischen Vorübungen übernommen werden, nicht so die Inhalte. Denn diese ergeben sich von Fall zu Fall, nämlich immer dann, wenn eine Partei eine andere vor Gericht beklagte. In der Schule behalf man sich damit, daß man auf Erzählinhalte zurückgriff, die aus Erzählungen außerhalb des gerichtlichen Rahmens stammten. Das waren Mythen, historische Ereignisse, Ereignisse aus dem bürgerlichen Leben und schließlich auch literarische Gegenstände (vgl. Η. I. Marrou 1959: 2 5 4 - 2 5 5 ) . Man muß sich davor hüten, allzu hohe Vorstellungen von solchen Erzählungen zu hegen. „Es handelte sich nicht, wie wir es heute verstehen, um eine vom Kind frei verfaßte Erzählung. Man verlangte von ihm, einfach auf seine Weise eine ,Geschichte' wiederzugeben, die man ihm gerade erzählt
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hatte. Wiederzugeben, aber nicht zu entwickeln". Das verlangte, wie Marrou dazu bemerkt, im Vergleich zur Fabel „schon ein wenig — ach! immer noch sehr wenig — Erfindungsgabe" (1959: 254). Die Beschreibung Die Form der Beschreibung (descriptio), heute eine der wichtigsten Aufsatzformen überhaupt, wird in den antiken Lehrbüchern nur sehr kurz und unergiebig abgehandelt. Eine Erklärung dafür vermag ich nicht zu geben. Vielleicht spielt die Tatsache eine Rolle, daß die Beschreibung als eine bestimmte sprachliche Figur in der Stillehre, der sogenannten „elocutio", Berücksichtigung fand und darum eher Gegenstand des eigentlichen Rhetorikunterrichtes als seiner Vorübungen war (vgl. B. Asmuth 1978). Bemerkenswert an den Ausführungen zur Beschreibung ist lediglich der Umstand, daß die Beschreibung zu den schwierigeren Übungsformen gerechnet wurde und folglich erst am Ende des Lehrplanes auftaucht. Heute neigt man dazu, sie zu den leichten Aufsatzformen zu zählen, oft steht sie am Anfang des Aufsatzunterrichtes. In diesem Fall liegt eine Erklärung auf der Hand. Geht es bei der Beschreibung lediglich darum, einen Gegenstand oder einen Sachverhalt möglichst genau zu erfassen und das Erfaßte sprachlich darzustellen, dann ist in der Tat die Beschreibung eine elementare Übungsform. Ein Unterricht, der keine rhetorischen Ansprüche erhebt, kann sich damit begnügen. Bei den antiken Vorübungen aber ging es um mehr. Wenn diese Übungen wirklich der Vorbereitung auf den Rhetorikunterricht dienen sollten, dann mußte auch schon die Beschreibung unter rhetorischen Gesichtspunkten erfolgen. Die Darstellung sollte nicht nur genau sein, sie sollte auch auf die Hörer wirken, und zu diesem Zweck mußte der dargestellte Gegenstand oder Sachverhalt dem Hörer so anschaulich wie möglich vor Augen gestellt werden. Das war mehr als eine bloße Beschreibung und — natürlich auch erheblich schwieriger.
Die Chrie Der Ausdruck „Chreia" oder, wie es später heißt, „Chrie" kommt von griech. „chraomai" (gebrauchen). Er spielt auf den „Nutzen" an, den man hat, wenn man sich dieser Form bei der Abfassung einer Rede oder eines Schriftstückes bedient. Im Mittelpunkt einer Chrie steht entweder der Ausspruch einer bekannten Persönlichkeit oder eine ihrer Handlungen. Die Chrie ist also immer im Zusammenhang mit Personen zu sehen. Darin unterscheidet sie sich von einer Sentenz (Redensart).
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Für die Behandlung einer Chrie hatte man ein Schema entwickelt, das vom Schüler Punkt für Punkt zu befolgen war. Das Thema sei: „Isokrates sagt: Die Wurzel der Erziehung ist bitter, aber ihre Früchte sind süß". Der Schüler hatte nun nicht, wie wir das heute machen würden, zu fragen, ob der Ausspruch wahr oder falsch, die Handlung gut oder schlecht sei. Die Wahrheit des Spruches wie die Güte der Handlung wurden schlankweg vorausgesetzt. Die Aufgabe des Schülers bestand einzig und allein darin, eine solche Chrie nach dem vorgegebenen Schema zu entwickeln. Das Schema bestand aus 8 Anweisungen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Isokrates vorstellen und loben (exordium); seinen Aphorismus in drei Zeilen paraphrasieren (expositio); seine Meinung kurz verteidigen (causa, ratio, probatio); sie durch den Gegensatz stützen und die gegenteilige These widerlegen (contrarium, adversum); sie durch einen Vergleich erläutern (simile, comparatio); dann durch eine Anekdote (exemplum); zur Bekräftigung Zitate bringen, die den Alten entlehnt sind (testimonium); folgendermaßen schließen (epilogus): So verhält es sich mit dem schönen Gedanken des Isokrates über den Gegenstand der Erziehung (Aphthonius, zit. nach Η. I. Marrou 1959: 255 f.).
Auch die Behandlung von Redensarten (sententiae) erfolgte nach diesem Schema. Die Erörterung (thesis) „Thesis" (griech. thesis, lat. consultatio oder positio) kann man mit „Betrachtung", „Abhandlung" oder „Untersuchung" übersetzen. Obwohl „Untersuchung" die Sache wohl am besten trifft, wird im folgenden der Ausdruck „Erörterung" verwendet, um den Zusammenhang mit der modernen Aufsatzform deutlich werden zu lassen. Die Erörterung ist vielleicht die bemerkenswerteste unter allen rhetorischen Vorübungen. Einerseits zählt sie zu den ersten Übungsformen, von denen wir wissen. Quintilian und Cicero, selbst Aristoteles heben ihren Nutzen für den Unterricht hervor. Andererseits gehört sie eigentlich nicht mehr in den Rahmen der Rhetorik (s. u.). Darum haben einige Lehrer der Rhetorik sie auch nicht zusammen mit den anderen rhetorischen Vorübungen behandelt (zum folgenden vgl. D. L. Clark 1977: 130—133 und 2 0 3 - 2 0 6 ) .
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Unter einer „Thesis" ist die Behandlung einer allgemeinen und strittigen Frage zu verstehen. Zwei Momente an einer solchen Definition verdienen herausgehoben zu werden. (1) Obwohl Begründungen in ihr eine große Rolle spielen, ist die Thesis doch mehr als eine Begründung. Darin unterscheidet sie sich von anderen argumentativen Übungsformen, wie ζ. B. dem locus communis, der sententia, der Chrie usw. Sie ist die argumentative Untersuchung eines Problems. „Positio autem dubiae rei quaestio" (Die Erörterung ist die Behandlung einer nicht gewissen Sache), sagt Hermogenes — und Aphthonius: „Thesis ( . . . ) est rei alicuius investigandae per orationem consideratio, vel disquisitio" (Die Thesis ist eine in Form einer Rede erfolgende Betrachtung oder Untersuchung einer zu erforschenden Sache). (2) Gegenstand der Thesis ist nicht eine konkrete Frage, die sich in einer bestimmten Situation und im Zusammenhang mit bestimmten Personen stellt, sondern eine allgemeine Frage, in der von Personen, Örtern, Zeiten usw. abgesehen wird. In diesem Punkt unterscheidet sie sich von der „causa", die für die Rhetorik von allergrößter Bedeutung ist. Das klassische Beispiel für eine der Thesis zugrundeliegende Frage ist das Problem, ob man heiraten solle oder nicht. In einer „causa" dagegen wird gefragt: „Soll Cato Marcia heiraten?" Vermutlich hat Cicero diese Unterscheidung eingeführt. In „De Oratore" schreibt er: „Nun wird ja in allen Streitfragen und Debatten nach der Tatsache, nach dem Begriff und nach der Beschaffenheit geforscht ( . . . ) . Um sich dieser Gedankengänge zu bedienen, soll der Redner den Streitfall, wann immer er es kann, von den gegebenen Personen und Zeitumständen lösen. Kann man doch ausführlicher über das Problem im allgemeinen als über einen Einzelteil diskutieren, so daß das, was vom Ganzen bewiesen ist, auch für den Teil als bewiesen gelten muß. Diese Problemstellung, die von den gegebenen Personen und Zeitumständen auf die Erörterung der grundsätzlichen Problematik zurückgeht, heißt thesis" (Cicero 1975: 41). Mit einer solchen Bestimmung der Form der Thesis ist der Rahmen, in dem sich die Rhetorik bewegt, überschritten. In der Beratungsrede geht es um konkrete, politische Probleme, in der Gerichtsrede um konkrete Fälle und in der Preisrede um konkrete Personen. In der Beredsamkeit kommen also nur spezielle Probleme vor, „quaestiones finitae", wie Cicero sagt. Die ihnen angemessene Form der Behandlung ist die „causa". Die Erörterung allgemeiner Fragen (Cicero: „quaestiones indefinitae") dagegen ist eher Gegenstand der Philosophie als der Rhetorik. Sie ist nicht an den Senat oder irgendeinen Gerichtshof gebunden. Die Adressaten sind nicht unbedingt nur Richter, Politiker oder Staatsmänner, sondern einfach Bürger (Theon 1626: 123). Und auch ihr Zweck ist ein anderer: nicht die Lösung tagespolitischer Probleme, nicht die Bestrafung von Übeltätern, sondern die Lösung eines menschlichen Problems, sei dieses nun mehr theoretischer (etwa: Ob es die Götter gebe) oder mehr praktischer Natur (etwa: Ob ein Weiser sich politisch betätigen solle).
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Die erfundene Rede Die erfundene Rede (griech. ethopoeia, lat. conformatio (Theon), allocutio (Hermogenes) oder sermocinatio) zählt zwar heute nicht mehr zu den Aufsatzformen im engeren Sinne, dennoch ist hier kurz auf sie einzugehen, weil bei ihrer Behandlung in den alten Progymnasmata ein Moment eingeführt wird, das heute wieder im Zusammenhang mit dem sogenannten kommunikativen Aufsatz eine Rolle spielt. Man sprach damals von der Klugheit des Redners (Quintilian), später von der „oratorischen Klugheit", gemeint war die Berücksichtigung bestimmter kommunikativer Bedingungen bei der Abfassung einer Rede. Bei der Erfindung einer Rede (ethopoeia) hatte der Schüler einer anderen Person eine Rede in den Mund zu legen. Die Rede war also so zu entwerfen, als hätte sie diese andere Person in einer bestimmten Situation, bei einem bestimmten Anlaß, an einem bestimmten Ort, vor einem bestimmten Publikum usw. gehalten. Worauf es bei einer solchen Übung vornehmlich ankam, war die Notwendigkeit, alle diese Umstände zu bedenken und bei der Abfassung der Rede in Rechnung zu stellen. Die Umstände, die zu beachten waren, sind damals unter drei Gesichtspunkten zusammengefaßt worden. Es handelt sich um dieselben, die auch heute noch genannt werden. Die Rede war jeweils anzupassen — dem Sprechenden (in der „erfundenen Rede" der imaginierten Person, für die der Schüler zu reden hatte), — dem Gegenstand, über den gesprochen wurde, — dem Publikum, dem die Rede gelten sollte. Wenn heute im Zusammenhang mit dem sog. kommunikativen Aufsatz von „kommunikativen Bedingungen" gesprochen wird, ist genau dies gemeint: die Berücksichtigung — des Produzenten und seiner Absichten — des Sachverhaltes und seiner Erfordernisse — des Rezipienten bzw. Adressaten und seiner Eigenschaften. Die Einrichtung einer Rede unter diesen Gesichtspunkten war der systematischen Behandlung kaum zugänglich und wurde deshalb weitgehend der „Klugheit" des Redners überlassen. In der Schule bevorzugte man historische, legendäre oder literarische Personen. „Die Themen waren so beschaffen, daß der Gegenstand ( . . . ) jedem Knaben, der den üblichen Unterricht in der alten Geschichte und in der klassischen Literatur genossen hatte, klar war. Die Praxis der Personifizierung (prosopoeia) machte den Knaben bewußt, daß sie versuchen mußten ( . . . ) , indem sie eine historische oder legendäre Person verkörperten, so zu sprechen, daß ihre Rede dem angemessen war, was man über den Charakter der imaginierten Person wußte. In der Themenstellung ( . . . ) legte man besonderen Wert auf die Zuhörerschaft, der Lehrer betonte, daß die Rede des Schülers
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vor allem auf diese Zuhörerschaft abgestellt sein mußte" (D. L. Clark 1977: 224). Theon, Hermogenes und Aphthonius sind auf diese Gesichtspunkte eingegangen, Hermogenes und Aphthonius relativ kurz, ausführlich dagegen Theon. Ich gebe im folgenden seine Ausführungen stark gekürzt wieder. „Zuerst wird hier die Person zu beachten sein, die spricht: wie sie beschaffen ist, aber auch die Person, der ihre Worte gelten". Theon hebt also als erstes die Bedeutung des Sprechers wie des Angesprochenen, des Adressaten, hervor und nennt im einzelnen an Gesichtspunkten: — das Lebensalter — das Geschlecht — den Stand (fortuna) — den Beruf — die innere Verfassung — die Herkunft — Ort, Zeit und Anlaß der Rede, nur um die wichtigsten zu nennen. Dann geht Theon auf ein Moment sehr ausführlich ein, das heute in der Sprechakttheorie starke Beachtung gefunden hat: den Zweck, den ein Sprecher mit seiner Rede verfolgt: „Ob wir etwas fordern, ob wir selbst zu etwas aufgefordert oder getröstet werden, ob wir um etwas bitten oder Vergebung zu erlangen suchen oder etwas Vergleichbares tun" (Theon 1626: 115). Immer ist die Rede den Zwecken entsprechend einzurichten: „Wie mit der Schicklichkeit gegenüber einer Person, ihren Verhaltensweisen, der Zeit, dem Stande und allen übrigen Punkten, die wir in Erinnerung gebracht haben, so halte man es auch mit dem Zweck (ratio)" (ebd.). Blicken wir noch einmal auf die Übungsformen und ihre Behandlung in den Progymnasmata zurück. In allen Fällen gehen ihre Verfasser auf die jeweiligen Inhalte ein, nehmen Unterscheidungen vor und bestimmen auf diese Weise das Genre. Nicht so bei der Beschreibung der jeweiligen Form. Bei einigen stehen Stilfragen im Vordergrund (Fabel, Erzählung, Beschreibung), bei anderen Fragen des Aufbaus, der Disposition (Chrie, Thesis). Ein völlig neuer Gesichtspunkt wird bei der „Erfundenen Rede" eingeführt: die Einpassung der Rede sozusagen in den kommunikativen Rahmen. Hier geht es nicht mehr nur um die Inhalte, den Stil oder den Aufbau, sondern um alles zugleich, nämlich die Bedingungen ihrer Ausgestaltung in der konkreten Rede.
3. Zur Überlieferung der rhetorischen Vorübungen Die rhetorischen Vorübungen des Theon, Hermogenes und Aphthonius haben das Mittelalter überdauert und ihren Wert im 16. und 17. Jahrhundert noch
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Vorgeschichte: Die rhetorischen Vorübungen der Griechen und Römer
einmal unter Beweis gestellt. Sie sind auch nicht ohne Einfluß geblieben auf die Entwicklung der modernen Aufsatztheorie. Um 500 n. Chr. hat der bekannte Grammatiker Priscian die Progymnasmata des Hermogenes in das Lateinische übersetzt. Diese Übersetzung (Prisciani Grammtici Caesariensis de Praeexercitamentis Rhetoricae ex Hermogene Liber) wurde zusammen mit den Werken des Priscinian tradiert und auf diese Weise verbreitet. E s ist die Version, in der das Mittelalter die rhetorischen Vorübungen kennenlernte. Im übrigen aber zeigte sich das Mittelalter an solchen Übungen wenig interessiert: „So, wie die Rhetorik im Mittelalter gelehrt wurde, hat sie als eine geistige Disziplin durch den Verlust zweier ihrer Abteilungen großen Schaden genommen. Denn die ,Inventio' und die ,Dispositio' wurden der Zuständigkeit der Logik überantwortet. Dadurch daß sich der Unterricht in der Rhetorik (dann) in erster Linie auf die ,Elocutio' beschränkte, definiert damals als die Klassifikation und Illustration verschiedener Redefiguren, war die Tendenz nicht zu vermeiden, Stil als eine oberflächliche Ornamentation anzusehen ( . . . ) . Vergessen war die wohlbegründete Lehre des Aristoteles, Cicero und Quintilian, daß wahrer Stil der effektive Ausdruck eines Inhaltes sei" ( E R . Johnson 1943: 433f.). Erst die Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts sind wieder auf die rhetorischen Vorübungen aufmerksam geworden. Nun wurden auch die Bücher des Theon und des Aphthonius ins Lateinische übersetzt. Die drei bedeutendsten antiken Lehrbücher lagen jetzt für den Unterricht an den Lateinschulen vor. Doch konnten sich nicht alle drei durchsetzen (zum folgenden vgl. D. L. Clark 1952). Theon fand wenig Beachtung, Hermogenes nur so lange, als Priscian interessierte. Durchgesetzt hat sich schließlich einzig Aphthonius. „ ( . . . ) Aphthonius war der populärste Autor der Progymnasmata im Altertum. Ebenso in der Renaissance. Von 1507 bis 1680 wurde er zehn Mal durch zehn verschiedene Übersetzer ins Lateinische übersetzt. Eine elfte Version entstand aus der Kombination zweier früherer Übersetzungen" (D. L. Clark 1952: 261). Sie stammte von dem Marburger Professor für Rhetorik Reinhard Lorich (Reinhardus Lorichius Hadamarius). „Lorichs Veröffentlichung der Progymnasmata von Aphthonius übertraf in den Ländern Westeuropas alle anderen an Popularität, die Zahl der Auflagen, die herauskamen, ging in die Hunderte" (F. R. Johnson 1943: 437). Eine letzte Bearbeitung des Aphthonius besorgte der bekannte Johann Christoph Gottsched im Jahre 1754 (vgl. Kap. III). Aber auch im 19. Jahrhundert wird noch verschiedentlich auf Aphthonius hingewiesen. So ist Aphthonius zu einem wichtigen Verbindungsglied zwischen den rhetorischen Vorübungen der Antike und dem Schulaufsatz der Neuzeit geworden.
I. Die deutsche Sprache an den Schulen „Man hätte meinen sollen, Luthers von Kraft der Empfindung und Formenmannigfaltigkeit überströmende deutsche Sprache hätte mit Katechismus, Bibel, Predigt und Kirchengesang Eingang in die höheren evangelischen Schulen finden und hätte hier als Unterrichtssprache und als Gegenstand eines besonderen Unterrichts sofort eine herrschende Stellung einnehmen müssen. Das geschah nicht" (A. Matthias 1907: 42). Drei Jahrhunderte brauchte das Deutsche, um das Lateinische aus seiner hergebrachten Vormachtstellung an den Schulen zu verdrängen — ein Prozeß, der im 16. Jahrhundert einsetzte, im 17. Jahrhundert forciert wurde und sich erst im 18. Jahrhundert allmählich, wenn auch noch keineswegs an allen Schulen, durchsetzte.
1. Der Ausgangspunkt: absolute Latinität Die gelehrten Schulen des 16. Jahrhunderts waren in einem Ausmaße „Lateinschulen", wie das heute kaum noch nachzuvollziehen ist: (1) An diesen Schulen gab es keinen Deutschunterricht, auch keinen vergleichbaren Unterricht. Im Zentrum allen unterrichtlichen Geschehens stand der Unterricht im Lateinischen in einer solchen Ausschließlichkeit, daß in vielen Fällen das Lateinische fast einziger Unterrichtsgegenstand war: lateinische Grammatik, lateinische Lektüre, lateinische Stil- und Redeübungen, lateinisch schließlich auch die theatralischen Aufführungen, die jede Schule, die auf sich hielt, pflegte. (2) Latein war auch die Sprache, in der unterrichtet wurde. Zwar war es gestattet, in den Elementarklassen (Sexta und Quinta) bei der Einführung des Lesens und Schreibens auch die deutsche Sprache zu verwenden. Das Deutsche durfte auch noch im Religionsunterricht der Mittelstufe (Quarta und Tertia) gebraucht werden, wohl eine Konzession an die hohe Wertschätzung, die die deutsche Muttersprache durch die Reformatoren erfahren hatte. Doch in den beiden Oberklassen (Sekunda und Prima) war einzig und allein das Lateinische Unterrichts- und Verkehrssprache (vgl. P. Bartusch 1897: 128, 144).
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(3) In lateinischer Sprache waren auch die Lehrbücher geschrieben: „vom Handbüchlein Melanchthons, dem 1. Schulbuche der Kleinen, an bis zur griechischen Grammatik" (ebd.: 144). Damit nicht genug! (4) Auch untereinander durften die Schüler sich nicht in ihrer Landessprache unterhalten, sondern hatten sich des Lateinischen zu befleißigen. Was in den verschiedenen Schulordnungen des 16. Jahrhunderts zu diesem Punkt zu finden war, hat Paul Bartusch so zusammengefaßt: „Sie fordern die lat. Sprache für jeglichen Verkehr zwischen Lehrern und Schülern wie zwischen letzteren untereinander, publice und privatim, außer für die Lehrstunden vornehmlich und ausdrücklich für alle Colloquia und die täglichen Schulgebete und -gesänge, sie gestatteten sie sogar beim Sündenbekenntnis dem Beichtvater gegenüber. Das Deutschreden wird in eine Linie gestellt mit dem Schwatzen (garritus), ja sogar mit der Immodestia, mit „ungebührlichen, unzüchtigen und schendtlichen Reden" (ebd.: 144). Wer deutsch sprach, hatte drakonische Strafen zu erwarten. Daß dennoch im Verlauf von drei Jahrhunderten endlich das Deutsche als Unterrichtssprache anerkannt wurde, ist einer Vielzahl von Umständen zu verdanken: gesellschaftlichen Veränderungen, politischen Absichten, ökonomischen Bedürfnissen, kirchlichen oder religiösen Interessen, nicht zuletzt auch Veränderungen innerhalb der Schulen. Auf diese werde ich mich im folgenden beschränken.
2. Die Forderung der Reformer des 17. Jahrhunderts Da es damals noch keinen Deutschunterricht gab und den Zeitgenossen die Vorstellung, daß es ein Fach geben sollte, das ausschließlich dem Studium der deutschen Sprache gewidmet ist, wohl kaum hätte nahegebracht werden können, stellt sich die Frage, was Deutsch an den Schulen damals eigentlich hätte bedeuten können. Die Antwort würde wohl gelautet haben: (1) Deutsch als die Sprache, in der unterrichtet wird und die Lehrbücher abgefaßt sind; (2) Deutsch als die Sprache, in der die Texte zu schreiben und die Reden zu halten sind, die im Rhetorikunterricht der obersten Klassen angefertigt werden müssen. In einem solchen Rahmen bewegen sich in der Tat die Vorstellungen der Reformer des 17. Jahrhunderts. Wolfgang Ratke (1571-1635) Ratke verbrachte sieben Jahre seines Lebens (1603 — 1610) in Amsterdam. Das ist nicht unwichtig zu wissen. Denn in Frankreich und vor allem in den
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Niederlanden gab es damals Bestrebungen, das Lateinische als Unterrichtssprache an den Schulen abzuschaffen und an seine Stelle die jeweilige Landessprache zu setzen. Was lag näher, als das auch für die Schulen in Deutschland zu fordern, was Ratke in Holland kennengelernt hatte: die Muttersprache, also Deutsch, als Unterrichtssprache (zu Ratke vgl. G. Michel 1976). 1612 sollte sich der Reichstag in Frankfurt zur Wahl eines neuen Kaisers versammeln. Ratke schickte an „das deutsche Reich" eine Eingabe, die später unter der Bezeichnung „Frankfurter Memorial" bekannt geworden ist (ich zitiere im folgenden nach der Ausgabe von Karl Seiler 1967: 7 — 9). In diesem Memorial forderte Ratke: „ein vollenkommene Schule in hochdeutscher Sprach" (ebd.: 8). Die Begründung ist eine doppelte. Einmal wird die Situation der Schüler berücksichtigt: „Nu ist der rechte Gebrauch und Lauf der Natur, daß die liebe Jugend zum ersten ihre angeborene Muttersprache, welche bei uns ist die deutsche, recht und fertig lesen, schreiben und sprechen lerne" (ebd.: 7). Das heißt: wenn die Kinder bei Eintritt in die Schule die deutsche Sprache bis zu einem gewissen Maße beherrschen, dann ist es nicht mehr als „natürlich", daß sie als erstes lernen, diese auch zu lesen und zu schreiben, darüberhinaus das Mündliche zu verbessern. Die Begründung berücksichtigte dann aber auch die Gegenstände des Unterrichtes: „Hie stehet nu ferner zu bedenken, wie die Künste und Fakultäten an keine Sprachen und hergegen die Sprachen an keine Künste und Fakultäten gebunden ( . . . ) ; kann derhalben ein vollenkommene Schule in hochdeutscher Sprach sehr wol angerichtet werden" (ebd.: 8). Das aber heißt: weil die Wissenschaften grundsätzlich an keine Sprache „gebunden" sind und es deshalb auch keine Präferenz für die eine oder andere Sprache geben kann, lassen die Gegenstände des Unterrichtes eine jede Sprache als Unterrichtssprache zu, also auch das Deutsche. Beide Argumente werden von den Reformern des 17. Jahrhunderts später immer wieder verwendet. Ratke hat seine Vorstellungen von einer „vollenkommenen Schul in hochdeutscher Sprach" aber nicht nur in allgemeinen Forderungen zum Ausdruck gebracht, sondern auch in einigen Lehrplänen, an denen er mitgewirkt hat, konkretisiert. Für den sog. „Köthener Lehrplan" von 1619 (vgl. K. Seiler 1967: 32 ff.) ist seine Mitautorschaft verbürgt. In ihm beschränkte sich Ratke darauf, die Schüler in den unteren Klassen deutsch lesen und schreiben zu lassen („schreiben" meint in diesem Zusammenhang nicht mehr als orthographisch korrekt schreiben). Von Übungen im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache war nicht die Rede und konnte auch nicht die Rede sein. Denn sobald die Schüler lesen und schreiben gelernt hatten, wurde der Unterrichtsgegenstand gewechselt: an die Stelle des Deutschen trat das Lateinische, das nun nach demselben Modus, wie das Deutsche zuvor, traktiert werden sollte. Horst Joachim Frank bemerkt dazu: „Die deutsche Sprachlehre als ein kürzerer, unbeschwerlicher Weg zu den klassischen Sprachen: das war
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ein Vorschlag, der auch den einnehmen konnte, der auf eine Verbesserung des lateinischen Schulwesens bedacht war" (H. J. Frank 1973/1976: 50). Kein Zweifel, das war nicht das, was Ratke wollte. Sein Ansatz zielte auf die Sprache, in der nicht nur Lesen und Schreiben eingeführt werden, sondern der gesamte Unterricht erfolgen sollte. Im Memorial von 1612 wird dieses Ziel lediglich durch eine Formulierung bezeichnet: „eine vollenkommene Schule in hochdeutscher Sprach", in der Schrift „Anleitung in die Lehrkunst Wolfgangi Ratichii" von 1614/15 wird ausgeführt, was gemeint war: „durch die ,deutsche Schule' wird nicht verstanden, was man insgemein deutsche Schulen zu nennen pfleget, da man nämlich nur deutsch Lesen, Schreiben und Rechnen lehret, sondern eine Schule darinnen alle freien Künste und Wissenschaften in rechtem Deutsch gelehret werden" (K. Seiler 1967: 22). Ging es aber um die Sprache des Unterrichtes selbst, dann mußten alle Aspekte der deutschen Sprache in die Überlegungen einbezogen werden. Ratke hat diese Folgerung in der Tat gezogen: „Darum muß das Fundament und der Grund geleget werden in der deutschen Sprach von der Grammatik ebenso, sowohl als ander Künsten als Logica, Rethorica" etc. (ebd.: 22). Es besteht kein Zweifel, daß sein Interesse hauptsächlich der deutschen Grammatik galt. Diese steht im Mittelpunkt seiner Sprachlehre, nicht etwa eine deutsche Rhetorik. Zwar gibt es einige Bemerkungen zur Ausbildung rhetorischer Fähigkeiten, etwa der Art: „Gut aber wäre es, daß die allgemeine Jugend in der Redekunst abgerichtet würde mit Sendbriefschreiben und mit Redestellen" (ebd.: 10). Doch zu einer Ausarbeitung des rhetorischen Teils seines Unterrichtes in deutscher Sprache scheint es nicht gekommen zu sein. Allerdings sollen sich unter den nicht veröffentlichten Aufzeichnungen Ratkes auch Ausführungen zu einer „Briefzierungs-" und „Redezierungslehr" befinden (vgl. K. Seiler 1967: 110). Es bleibt abzuwarten, was sich dahinter verbirgt. Was Ratke zur rhetorischen Ausbildung in der deutschen Sprache gesagt hat, bewegt sich bereits auf das zu, was man später die deutsche Oratorie genannt hat. Er hat sie gefordert, oder — wahrscheinlich angemessener im Ausdruck — er hat sie gewünscht. Klare Vorstellungen von ihr scheint er aber noch nicht gehabt zu haben. Die Widerstände, die ihm von allen Seiten entgegengebracht wurden und mit denen er wohl auch bei dem Vorschlag, an den Schulen die lateinische Oratorie durch eine deutsche zu ersetzen, zu rechnen gehabt hätte, haben es ihm wohl nicht erlaubt, das auszuführen, was sich letztlich aus seinen originellen Ansätzen ergab. Johann Balthasar Schupp (1610 — 1661) Schupp war für eine kurze Zeit — 1635 bis 1642 — in Marburg als Professor für Beredsamkeit und Geschichte tätig. Aus dieser Zeit stammen seine pädagogischen Ideen. Später, 1658, als er bereits Hauptpastor zu Jacobi in Hamburg
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war, hat er sie in einem Büchlein: „Der Teutsche Lehrmeister" festgehalten (ich zitiere nach der Ausgabe von P. Stötzner 1891; im übrigen vgl. K. Schaller 1976). Das Buch selbst ist erst 1667 posthum erschienen. Schupp war durch eine Erbschaft in den Besitz des literarischen Nachlasses von Ratke gekommen (ebd.: 8). Das ist nicht unwichtig zu wissen. Denn Schupp kannte seinen Ratke wie kaum ein anderer (s. unten). Wie Ratke war auch er in der Welt herumgekommen — nur etwas weiter. Wie Ratke setzte er sich schon früh für die deutsche Sprache im Unterricht an den Schulen ein. Von Ratke bezog er auch seine Argumente: „Et audite, ihr Schul Regenten. Es ist kein Sprach an eine Facultet gebunden, auch kein Facultet an eine Sprach. Warumb solt man nicht eben so wol in der teutschen, als in der lateinischen Sprach lernen können, wie man Gott recht erkennen und ehren solle? ( . . . ) Ich halt, man könnte einen Krancken eben so wol auff Teutsch, als auff Griechisch oder Arabisch curiren" (ebd.: 16). Das ist fast Wort für Wort bei Ratke abgeschrieben (vgl. oben). Nur in einem Punkte ging Schupp eigene Wege. Er maß alles, was in der Schule geschieht oder geschehen soll, an der Elle des praktischen Nutzens: non scholae, sed vitae discimus. Den adligen Herren, denen er seine Schrift widmet, rät er, sie sollten „nicht lange Ihre Herren Söhne im Schul-Staub sitzen lassen, sondern wann sie einen Grund in der Lateinischen Sprache geleget haben, in Exercitien und andern nützlichen Wissenschaften selbige unterweisen lassen, und darauff in die Welt schicken" (ebd.: 24 f.). So kommt Schupp letztlich doch zu etwas anderen Vorstellungen von einem deutschen Unterricht als Ratke. Die Reform hat nicht bei den Wörtern anzusetzen. Die Intention der Sprachgesellschaften hält er für gut, nicht aber ihre Mittel: „Allein daß er alle fremdbe Wörter, welche die Bauern nicht mehr vor frembd halten, hat wollen Teutsch geben, darüber hab ich offtmahls unter dem Lesen den Kopff geschüttelt" (ebd.: 29 f.). Eine Grammatik des Deutschen, die Ratke in den Mittelpunkt seiner reformerischen Überlegungen gestellt hatte, tut es auch nicht: „so frage ich die hochlöbliche fruchtbringende Gesellschafft, was mit diesen Grammaticalischen Dingen sonderlich mit der Teutschen Orthographia, damit sich etliche Leute wollen groß machen, dem Römischen Reich und der Teutschen Nation gedienet sey" (ebd.: 31). Die Sprache diene dem Menschen, „daß er seinen Willen, seine Meynung einem andern offenbahre, also daß er ihn verstehen könne" (ebd.: 36). Darum muß in den Mittelpunkt der Reform die deutsche Beredsamkeit, die „eloquentia germanica", gestellt werden: „Wann ich wiederumb Professor Eloquentiae auff einer Universität werden solte, so wolte ich das Lateinische Phrases-Werck zurück setzen, und wolte die Jugend üben in Teutscher Sprache, in Eloquentia sacra & profana. Ich wolte ein Exercitium Oratorium anordnen und wolte darinn tractiren allerley Materien, die in Republica fürkommen; als wie etwa ein Legat reden könne, der einem Fürsten im Nahmen seines Herrn einen Krieg ankündigen
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solte? Wie ein Feld-Marschall seine Soldaten zum Streit animiren wolle? Mit was vor Reden er eine Rebellion so unter der Armee entstanden, wieder stillen solle? Ich wollte unterweilens ein Concilium Ecclesiasticum anstellen, da einer solte Bischoff seyn, der andere ein Ketzer, die übrigen Assessores und Judices, da solte ein jeder sein votum abgeben" (ebd.: 46). Wie das Zitat zeigt, geht es Schupp keineswegs nur um das Deutsche. Er wollte eine andere, eine nützliche, weil auf das praktische Leben gerichtete Beredsamkeit. Die Anlässe zum Reden und folglich auch die Inhalte der Reden sollten dem Leben entnommen sein — „Materien, die in Republica fürkommen". Das gilt auch für den Stil und die Formen der Rede. An verschiedenen Stellen des Büchleins macht sich Schupp über den rhetorischen Schwust barocker Beredsamkeit lustig (vgl ebd.: 31, 33 — 35 u. ö.). Nichts, aber auch gar nichts hält er von dem Formularwesen, wie es damals üblich war: „Die Politici an grosser Herren Höfen (...) haben (...) allerhand alte Concepten ihrer Vorfahren, wie einer reden soll, wann er als Legat an den Kayser geschickt werde, wie ein Fürst den andern zu Gevattern bitten sol, wie man umb ein Fürstl. Fräulein werben solle? Wie ein Fürst dem andern ein glückseeliges Neues Jahr wünschen solle etc.. Das ist offtmals die gantze Weißheit, damit grosse Politici sich admirabel machen, wann sie als Legaten von grossen Herren verschickt werden. Allein es kombt offtmals, daß einem solchen Formularisten und Politischen Postill-Reiter, der Compaß verruckt wird, so stehet er alsdann wie Butter an der Sonnen" (ebd.: 43). Desgleichen mokiert er sich über die Poeten, die „gemeinen Reim-reisern (...), welche bey Hochzeiten und Leich-Begängnüssen Vers umbs Geld machen, darin weder Saltz noch Schmaltz ist, und wollen gleichwol für Poeten gehalten seyn" (ebd.: 48). Den Eindruck, den sie bei den Schülern hinterlassen, hält er für ruinös: „Dann die Knaben in der Schul dencken offt, ist das ein gekrönter Poet, und macht kein besser Lateinisch Carmen? sondern rumpelt offt wider die Grammatic und Poetic, so bin ich gelährter als er, und dadurch werden die Buben in der Schul so hoffartig, daß sie ihren Praeceptoribus nicht mehr gehorchen wollen" (ebd.: 58). Nimmt man alle diese — mehr angedeuteten als ausgeführten, im übrigen aber stets amüsanten — Bemerkungen zusammen, so ist festzustellen, daß sich Schupp doch ein beträchtliches Stück von Ratke entfernt und die deutsche Oratorie — zumindest in der Idee — ein gutes Stück auf den Weg gebracht hat.
Christian Weise (1642-1708) Ratke und Schupp haben die deutsche Oratorie vorbereitet, Weise hat sie begründet (zu Weise vgl. H . A . Horn 1966 und W. Barner 1970: 190-220).
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Weise war, bevor er Lehrer wurde, für ein Jahr Sekretär bei einem Minister des Herzog August von Sachsen-Weißenfels. „Er sammelte Erfahrungen in der Erledigung der Staatsgeschäfte, erlebte politische Entscheidungen im Kabinettsrat, dem er als Protokollant beiwohnte, und wurde mit höfischer Lebensweise vertraut" (H.A. Horn 1966: 20). Hier — im Vorzimmer eines Ministers — wurden die Grundlagen der deutschen Oratorie gelegt. Weise wird Lehrer, zuerst für ein halbes Jahr Hofmeister, dann für acht Jahre Professor am Gymnasium Augusteum in Weißenfels und schließlich dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tode, Rektor am Gymnasium zu Zittau. Hinterlassen hat er eine große Zahl an pädagogischen Schriften und Büchern. Weise brauchte nicht mehr — wie einst Ratke — die Vorstellung einer deutschen Redekunst in die Diskussion einzuführen. Er brauchte auch nicht — wie Schupp — zu begründen, weshalb es nicht auf einen neuen Grammatikunterricht, sondern auf einen deutschen Rhetorikunterricht ankomme. Weise konnte da anknüpfen, wo Schupp in seinen Überlegungen aufgehört hatte: bei der Frage, wie denn nun eine Schulrhetorik aussehen müsse, die den Anforderungen der Zeit gerecht würde. Weise hat die Frage einmal als eine didaktisch-methodische aufgenommen; „eben dieses ist mein beständiges Principium. Eine Lehre / darnach sich ein junger Mensch richten sol / die muß leicht und verständlich seyn. Drum bin ich durch manche Oratores gegangen ich habe die rarsten Fälle hervor gesucht / und ( . . . ) habe (...) keinmahl nachgelassen / biß ich nun verhoffentlich der Jugend solche Progymnasmata recommendiren kan / dadurch sie zu den übrigen Redner sicher wird schreiten dürffen" (C. Weise 1684: Vorrede). Weises Schriften zur Rhetorik sind Lehrbücher, sei es für die Hand des Lehrers, sei es für die Hand des Schülers. Weise hat dann aber vor allem die Frage auch als inhaltliche verstanden. Die Rhetorik, wie sie von den Alten überkommen war und auf den Schulen gelehrt wurde, hält er in weiten Bereichen für unzweckmäßig: „Damit ich aber nicht auff unnütze Sachen komme / die in vitae communi hernach keine Belohnung finden / so mag ich mit denselben Leuten nichts zu thun haben / die sich in ihren Philologischen Entzückungen verirren / daß sie sich ein neues Rom oder ein neues Athen einbilden / und also die Jugend mit aller Gewalt dazu bringen wollen / wie sie den Roscium auf allem Falle defendiren / oder den Verrem verklagen sollen / ungeacht sie wol wissen / daß unterdessen viel nöthige Übungen / so wol in andern disciplinen / als auch in der Oratorie selbst versäumet werden" (ebd.: 631). Eine neue Zeit verlangt eine neue Rhetorik. Weises Schüler waren überwiegend bürgerlicher Herkunft. Es „steht außer Zweifel, daß er seine Erziehungsarbeit primär auf die Ausbildung der bürgerlichen Jugend richtete" (H.A. Horn 1966: 72 f.). Ihm ging es in erster Linie um ihr persönliches Fortkommen, den Erfolg der Schüler im späteren Leben,
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den „Nutz des männlichen Lebens", von dem er in der Vorrede zu seinem „Politischen Redner" sagt, daß er „die Freude" seines ganzen Lebens und „der gantze Wundsch" seines Glückes sei (C. Weise 1677/1681: Vorrede). Um persönlichen Erfolg zu haben, das hatte Weise als Sekretär in Weißenfels gelernt, mußte man die höfische Lebensart und die höfische Lebensform beherrschen, vor allem höfisches Benehmen und höfische Klugheit. Das waren die Voraussetzungen, um in ein Staatsamt zu gelangen, um Richter oder Geistlicher, Beamter oder Lehrer werden zu können. Höfische Lebensart war in erster Linie höfische Eloquenz. Da sie etwas anderes bedeutete als die Art von Eloquenz, wie sie im alten Rom gepflegt und auf den Schulen immer noch tradiert wurde, mußten die alten Lehrbücher umgeschrieben und der Unterricht reformiert werden. Weise orientierte sich an dem, was am Hofe üblich und also für das Fortkommen seiner Schüler im späteren Leben nützlich war. Aus der überkommenen, klassischen Rhetorik wurde, wie Weise sie nannte, eine „politische Rhetorik", aus einer Rhetorik für Studenten und Erwachsene zum ersten Mal eine ausgesprochene Schulrhetorik. Damit war „die teutsche Oratorie" begründet. Was Weise dachte, hat er auch praktiziert. In Zittau zieht unter Weise die deutsche Oratorie in die Schule ein. Von nun an — wir befinden uns im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts — verändert sich der Unterricht an deutschen Schulen erheblich, wenn auch nur sehr allmählich (zu Chr. Weise mehr in Kap. II). Johann Arnos Commenius (1592—1670) Commenius hat seine Vorstellungen zu einer deutschen Oratorie bereits 1627 vorgetragen, also vor Weise und auch vor Schupp. Seine Ideen fallen ganz aus dem Rahmen dessen, was über die deutsche Rhetorik sonst im 17. Jahrhundert gedacht und geschrieben worden ist. Sie passen eher ins 18., als ins 17. Jahrhundert. Commenius kannte zweifellos Ratkes Gedanken zu „einer vollenkommenen Schul in hochdeutscher Sprach". Der Gedanke ist ihm bereits so vertraut, daß er ihn noch ein Stück weiter verfolgt. Er argumentiert etwa so: Wenn eine rhetorische Ausbildung nicht nur in lateinischer, sondern auch in jeder anderen Sprache möglich ist, dann ist für jeden Menschen der Grund für die Rhetorik bereits in frühester Kindheit gelegt, praktisch mit den ersten Gesten und den ersten lautlichen Äußerungen: „Rhetorica nimpt auch ihren anfang bald im ersten jähre, doch an ihrem letzten theil, an Gestibus oder geberden. Denn ehe das Kind zu rechter gründtlicher außsprache gelangen kan, kan man mit eusserlichen geberden das kindt lencken: wenn man es nimpt, auffhebet, niderleget, etwa weiset, es anlachet etc. und damit andeutet, daß sie uns wieder ansehen, anlachen, das händlein geben, auf uns zulauffen.
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Gewehnen uns also eher durch gestus, alß durch spräche einander zu verstehen, wie man auch mit tauben und stummen leuten thun muß. Es kan aber hierinne ein Kind im ersten und andern jähre so weit abgerichtet werden, daß es verstehe, was ein fröhliches oder trawriges angesicht sey, was das mit finger drewen, mit dem haupt wincken, mit den händen zu sich locken, oder von sich abweisen etc. bedeute. Diß alles sag ich, verstehet ein Kind leichtlich, welches doch ein grundt actionis Rhetoricae ist" (ich habe aus dem „Informatorium der Mutterschule von 1633 (R. Vormbaum 1863: 796) zitiert, eine kürzere Version findet sich in der „Großen Didaktik" Kap. 28, 15 (J. A. Commenius 1627/1954: 190). Eine solche Feststellung hat didaktische Konsequenzen, die Commenius auch durchaus sieht: „Ich habe mir nur vorgenommen zu zeigen, wie sich die wurtzeln aller Künste von jugendt auff in allen Kindern (ob es schon nicht alle leut mercken) herfür thun; undt diß auf solchen grundt weiter zubawen nicht schwer, viel weniger unmöglich sey, wenn man nur mit den vernünfftigen creaturen vernünfftig umbgehet" (ebd.). Die praktischen Konsequenzen hat Commenius dann jedoch nicht mehr gezogen. Es hätte nahegelegen, nicht nur für die Primaner, sondern für Schüler aller Altersstufen eine rhetorische Ausbildung zu fordern, und zwar in der Muttersprache. Faktisch blieb bei Commenius aber alles beim Alten: Rhetorikunterricht nur in den letzten Klassen. Um diesen Widerspruch auflösen zu können, ist kurz auf seine didaktischen Positionen einzugehen. Commenius vertrat zwei Grundsätze, die einander zu widersprechen scheinen, in der richtigen Reihenfolge aber einander bestätigen: (1) die Sachkenntnis vor der Wortkenntnis, so der Sachunterricht vor dem Sprachunterricht; (2) der Sprachunterricht nur zugleich und in Verbindung mit dem Sachunterricht (vgl. H. J. Frank 1976: 58 ff.): „Die Wörter sollen also nur in Verbindung mit den Sachen gelehrt und gelernt werden, ebenso wie der Wein mit der Flasche, das Schwert mit der Scheide, das Holz mit der Rinde, die Frucht mit ihrem Kern verkauft, gekauft und herumgeschickt werden. Denn was sind die Wörter anderes als Hülsen und Scheiden der Dinge? Wenn man nun eine Sprache lernt, die Muttersprache nicht ausgenommen, so müssen die Dinge, die mit Wörtern bezeichnet werden sollen, gezeigt werden. Umgekehrt sollen die Schüler, was sie sehen, hören, fühlen und schmecken, durch Worte ausdrücken lernen, so daß Sprache und Verständnis parallel sich entwickeln und ausgefeilt werden. Als Regel soll also gelten: Was einer versteht, das soll er auch aussprechen, und umgekehrt: was er ausspricht, soll er auch verstehen lernen" (1627/1954: 130). Wendet man die beiden Grundsätze auf den Rhetorikunterricht herkömmlicher Prägung an, so hatte dies eine Reform unausweichlich zur Folge, die seinen Kern berührt: (1) der Unterricht in den Sachen muß dem Rhetorikunterricht vorausgehen, und (2) der Rhetorikunterricht kann sich nicht, wie
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bisher, auf die Vermittlung sprachlicher Formen beschränken. Die Anwendung des ersten Grundsatzes führte dazu, die Ausbildung der rhetorischen Fähigkeiten ganz an das Ende der Schulzeit zu setzen: „Das aber könnte denen, welche die Gewohnheit wie einem Gesetz folgen, merkwürdig vorkommen: daß wir die Dialektik und Rhetorik weit hinter die Realwissenschaften setzen. Aber das muß so sein (...). Denn wenn man auch jede Art und Weise des Vortrags und der Rede beherrscht, aber die Dinge, die man untersuchen und empfehlen will, nicht genau kennt, wird man weder mit der Untersuchung noch mit der Empfehlung etwas erreichen. Wie eine Jungfrau ohne Schwangerschaft nicht gebären kann, so kann auch einer einen Gegenstand nicht vernünftig besprechen, den er nicht zuvor kennengelernt hat" (ebd.: 200f.). Die Anwendung des zweiten Grundsatzes hatte einschneidendere Folgen. Der herkömmliche Rhetorikunterricht war in einem Maße auf die Vermittlung ausschließlich von sprachlichen Formen und Mustern beschränkt, daß sich die Frage stellen mußte, ob ein derart formaler Unterricht überhaupt die Anwendung eines inhaltlich bestimmten Grundsatzes vertragen würde. Er würde es nicht. Doch Commenius löste das Problem auf die ihm eigene elegante Weise. Er machte dem Rhetorikunterricht in der letzten Klasse zur Aufgabe, den gesamten Stoff, den die Schüler bisher in ganzen zwölf Klassen erarbeitet und sich zueigen gemacht haben, wieder aufzunehmen und unter dem Gesichtspunkt einer angemessenen und zweckvollen sprachlichen Darstellung zu rekapitulieren: „Hier wird sich zeigen, daß sie etwas gelernt haben und nicht vergeblich hier gewesen sind" (ebd.: 203). „Dabei soll man jedoch nicht immer an demselben Stoff hängen bleiben, sondern wieder in alle Gefilde der Wahrheit und der Vielfalt der Dinge, auf die Weisen menschlicher Würde und in die Paradiesgärten der göttlichen Weisheit schweifen, damit die Schüler alles Wahre und Gute, von dem sie wissen, daß es nützlich, angenehm und ehrbar ist, auch schön vortragen und, wo es not tut, mit Macht zur Geltung bringen können" (ebd.). Beide Folgerungen, die Commenius aus seinen sprachdidaktischen Grundsätzen zog und ziehen mußte: rhetorische Übungen nur in der letzten Klasse des Gymnasiums und vor allem Akzentuierung des stofflich-inhaltlichen Aspektes, haben die weitere Entwicklung des Rhetorikunterrichtes, vornehmlich in der Phase der deutschen Oratorie, nicht unerheblich bestimmt.
3. Das Deutsche am Rande der Schulen Eine deutsche Oratorie entstand am Ende des 17. Jahrhunderts nicht etwa deshalb, weil sie von einigen hervorragenden Pädagogen gefordert worden ist, sondern auch, weil die deutsche Sprache schon längst von den Rändern her in die gelehrten Schulen und Gymnasien eingesickert war.
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Die Schulen waren neben den Universitäten lateinische Inseln in einer weitgehend deutsch sprechenden Umgebung. Soweit es sich um den Binnenraum der Schule handelte, konnten sie während des 16. und fast auch noch das ganze 17. Jahrhundert hindurch das Prinzip der Latinität behaupten. Aber immer dann, wenn die Schule in die Öffentlichkeit trat, wenn die Grenzen der Schule zu ihrer Umgebung geöffnet wurden, mußte sie Kompromisse auch in dem ihr Heiligsten, der Sprachenfrage, eingehen. So läßt sich erklären, daß die deutsche Sprache bei Schulfeiern und vor allem bei dramatischen Aufführungen der Schüler keineswegs strikt ausgeschlossen war, sondern einmal mehr, einmal weniger Verwendung fand. Auf die Dauer konnte eine solche Praxis nicht ohne Einfluß auf den Unterricht bleiben.
Die dramatischen Aufführungen „In keinem Bereich des humanistischen eloquentia-Betriebs hatte sich die lingua vernacula so früh und dauerhaft einzudrängen vermocht wie in das Schultheater" (W. Barner 1970: 310; zum folgenden vgl. G. Τ. A. Krüger 1862; R. Möller 1878 und 1881; P. Bartusch 1897: 1 5 6 - 1 6 1 ; D. Eggers 1967: 18 ff.; W. Barner 1970: 302 ff.). Das Schultheater hatte zwar die verschiedensten pädagogischen Aufgaben zu erfüllen: die Schüler sollten das Gelernte repetieren, zur erwünschten Lektüre angeregt werden, religiöse und moralische Belehrung erfahren, und sie sollten sich vor allem im mündlichen Ausdruck üben und Sicherheit im Auftritt vor der Öffentlichkeit gewinnen. Doch die Aufführungen hatten auch einen schulpolitischen Zweck: mit ihnen richtete sich die Schule an die Öffentlichkeit. Der Unterhalt der Schule mußte gesichert, neue Schüler geworben und überhaupt das Wohlwollen der Bürger gewonnen werden. Die Verantwortlichen der Stadt und die Eltern sollten sich von dem Leistungsstand der Schüler überzeugen. So steht also neben den pädagogischen Absichten der Wunsch nach Selbstdarstellung. Das aber schaffte Probleme. Der Idee nach wären auch die Theaterstücke, wie alles in dieser Schule, in lateinischer Sprache vorzutragen gewesen. Doch einer solchen Vorstellung entsprach das Publikum nur zum Teil. Geladen waren stets die Honoratioren der Stadt: die fürstlichen Personen des regierenden Hauses, die Ratsherren, wohl auch die Vertreter der Geistlichkeit. Es mag sein, daß sie über ausreichende Sprachkenntnisse verfügten, um den Darbietungen folgen zu können (vgl. D. Eggers 1967: 46). Unter den Zuschauern befanden sich aber auch die Eltern der Schüler, jüngere Mitschüler, Freunde und Bekannte, die Ehemaligen, die Förderer der Anstalt und viele andere mehr. Von ihnen kann nicht in jedem Fall angenommen werden, daß sie verstanden, was auf der Bühne vorgetragen wurde. Um diesen Teil der Öffentlichkeit nicht als Zuschauer
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zu verlieren, mußten die Stückeschreiber, wenn sie schon bei dem Lateinischen bleiben wollten, Kompromisse eingehen. Man ließ sich die verschiedensten Lösungen einfallen. Der eine gestattete, daß zumindest die Vorrede in deutscher Sprache vorgetragen wurde. Ein anderer fügte zwischen den einzelnen Akten des Stückes deutsche Gedichte, Reyen oder kleinere Szenen ein, in denen die des Lateinischen Unkundigen dann auf ihre Kosten kommen sollten. Ein dritter ließ ganze Szenen, ja sogar ganze Akte in deutscher Sprache spielen. Ein vierter kümmerte sich um die theatralische Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht mehr und ließ die eine Person lateinisch, die zweite griechisch, die dritte deutsch, die vierte französisch sprechen. Es konnte sogar vorkommen, daß ein und dieselbe Person die Sprache wechselte, manchmal sogar mitten im Satz (vgl. G. Τ. A. Krüger 1862). Der bekannte Georg Rollhagen hat seine Bibeldramen in Magdeburg einmal in der Schule lateinisch und ein ander Mal auf einem öffentlichen Platz deutsch zur Aufführung gebracht (vgl. D. Eggers 1967: 21). Er war nicht der einzige, der so verfahren ist. Der Wechsel der Sprache mitten im Vortrag und der Wechsel des Aufführungsortes waren Kompromisse, die sich nicht durchgesetzt haben. Auf die Dauer ließ es sich nicht vermeiden, die Stücke deutsch zum Vortrag zu bringen. Das ist in der Tat nicht selten geschehen. 1534 führten die Schüler der Magdeburger Stadtschule „Ein leiblich und nützlich spil von dem Patriarchen Jacob und seinen zwelff Sönen" auf, ein Jahr später wieder ein deutsches Stück. Von 1567 bis 1607 wurden Rollhagens Bibeldramen gespielt, alle in deutscher Sprache. So ist es im 16. Jahrhundert fast überall, wo es eine gelehrte Schule gibt, zu Aufführungen in deutscher Sprache gekommen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts dominierten zwar vorübergehend die neulateinischen Dramen. Doch nach dem dreißigjährigen Krieg ist der Damm endgültig gebrochen. Die uns bekannten Barockdramen von Gryphius, Lohenstein, Hallmann u. a. erobern die Bühne. Ihre Bühne ist die Schulbühne, die Schauspieler sind Schüler, die Stückeschreiber oft Lehrer, und die Sprache ist in jedem Falle deutsch (vgl. dazu D. Eggers 1967: 24 — 30). Zu einem endgültigen Sieg des deutschen Schultheaters ist es aber nicht mehr gekommen. Denn der Aufwand, der mit ihnen getrieben wurde, war schließlich so groß, daß die Stücke kaum noch spielbar waren. Die Pietisten regten sich über die dargestellten Freizügigkeiten auf, und die Pädagogen verfolgten längst andere Ziele (vgl. J. Lange 1723: 27; F. A. Hallbauer 1725: 752 u. a.). 1718 wurden in Preußen theatralische Aufführungen in den Schulen untersagt. Die oratorischen Darbietungen Stärker noch als die dramatischen Aufführungen haben die oratorischen Veranstaltungen das Leben an den Gelehrtenschulen und Gymnasien geprägt
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(vgl. dazu G. Τ. A. Krüger 1860; R. Möller 1878; W. Barner 1970: 291 - 3 0 2 ) . Im Zeitalter der Eloquenz war ein solcher Vortrag auch in der Schule etwas Selbstverständliches. Zum Vortrag kamen Gedichte (carmina) und vor allem regelrechte Reden (orationes). Hallbauer beschreibt die Praxis so: „Es tritt entweder einer allein auf und redet von einer nach seinem Gefallen erwehleten Materie; oder es werden etliche in einem actu oratorio aufgeführet, da etwa der erste die Zuhörer mit einer kleinen Rede einladet und um geneigte Anhörung einiger Reden bittet, hernach einige auftreten, welche von verschiedenen Materien kurtze Rede halten und letztlich ein anderer in einer Nachrede den Zuhöhrern für die geneigte Gegenwart und Anhörung dancket" (Ε A. Hallbauer 1725: 751). Jede Gelegenheit wurde wahrgenommen, um Reden vorzutragen: die öffentlichen Examina, die kirchlichen Feiertage, Jubiläen der verschiedensten Art, Gedenkveranstaltungen für die Stifter von Stipendien, Ehrungen für erlauchte Persönlichkeiten, der Geburtstag des Landesvaters (später auch seiner Favoritin), Abschieds- und Begrüßungsfeiern usw.. „Dennoch genügte dies dem Geschmack und den Ansichten der damaligen Pädagogen so wie des Publikums noch lange nicht. Es wurden vielmehr auch ohne specielle Veranlassung aus heiler Haut eine Menge derartiger Schauspiele (denn das waren sie) in Scene gesetzt, und je häufiger ein Schulmann damit an die Oeffentlichkeit trat, desto höher stieg sein Ruhm" (R. Möller 1878: 4). An einigen Schulen wurden jeden Monat mindestens einmal solche Deklamationen angesetzt, gegen Ende des 17. Jahrhunderts am Martineum zu Braunschweig sogar „jede Woche zwei solcher Vorträge" (G. Τ. A. Krüger 1860: 3). Daneben gab es viele Anlässe, eigene Gedichte vorzutragen: „bald starb ein alter Rektor oder Konrektor, bald feierte ein Lehrer seinen Namenstag oder gar seine Hochzeit, oder er wurde neu introduziert, oder er empfing den Doktorhut, oder er siedelte von einer Schule zu einer anderen über, oder er vertauschte seine bisherige Stellung mit einem Kirchenamte u.dergl. m.. Bei allen diesen Veranlassungen wäre es eine grobe Verletzung des Anstandes gewesen, wenn die Schüler nicht in die Saiten gegriffen und ihren wahren oder erheuchelten Gefühlen Ausdruck gegeben hätten" (R. Möller 1881: 3). Der Zweck der oratorischen Darbietungen unterschied sich kaum von den dramatischen Aufführungen. So ist es oft schwer, wenn nicht unmöglich, klar zwischen den oratorischen und den dramatischen Veranstaltungen zu unterscheiden. „Die Entscheidung, ob ,Theater' oder nicht, ist primär eine Frage der Ausstattung. Die bloße Deklamation vom Katheder herab wurde noch nicht als theatralisch empfunden" (W. Barner 1970: 302). Zwei Umstände verdienen jedoch bei einem Vergleich der oratorischen mit den theatralischen Schulactus Beachtung: (1) Der oratorische Schulactus verlangte weniger Aufwand und konnte darum meist in den Räumen der Schule, einem großen Klassenzimmer oder der Aula, stattfinden. Nur selten war man genötigt, das
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Rathaus oder das Haus eines Patriziers in Anspruch zu nehmen. Der oratorische Schulaktus blieb also von Anfang enger gebunden an den Raum der Schule. (2) Er war aber auch viel stärker als der theatralische in den Lehrplan der Schule eingebunden: er ging „unmittelbar aus dem Rhetorikunterricht" hervor (W. Barner 1970: 292). Beide Umstände erklären, daß zu einer Zeit, als die dramatischen Aufführungen längst verpönt oder gar verboten waren, die oratorischen Übungen mit besonderem Fleiße gepflegt wurden, teils wohl als „willkommener Ersatz" (R. Möller), teils weil sie eher dem Geschmack der Zeit entsprachen. An allen Gymnasien standen die oratorischen Übungen das ganze 18. Jahrhundert hindurch und auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in hohem Ansehen. Die starke Bindung der oratorischen Übungen an die Schule und ihr Lehrprogramm erklärt aber auch, daß die lateinische Sprache hier viel länger der deutschen Widerstand leisten konnte als auf der Bühne. Erst allmählich ist die deutsche Sprache — und dann auch erst spät — im Verlauf des 17. Jahrhunderts in die oratorischen Veranstaltungen eingedrungen, zuerst bei den poetischen Versuchen: „Schon die Breslauer Schulordnung von 1617 sieht für einen actus praelialis vor, daß den älteren Schülern der Preis (mit einer Vermahnung zur Dankbarkeit und Fleiß, jeden durch ein lateinischen Distichon) ausgeteilt wird, (denen aber in den untersten Ordinibus . . . durch teutsche Reime)" (W. Barner 1970: 296). Hier hat wohl die Rücksicht auf die Lateinkenntnisse der jüngeren Schüler eine Rolle gespielt. Die ersten deutschen Gedichte sind kurz vor der Jahrhundertmitte belegt: „Im Bresl.(auer) Magdal.(ineum) werden 1639 und 1641 deutsche Gedichte erwähnt; in Zittau hielt 1660 der Rector Keimann einen actus, bei welchem 5 Schüler Vergil. Georg.(ia) I, in deutsche Alexandriner übertragen, recitierten, und aus dem Ende desselben Jahrhunderts wird aus Arnsburg, Oels, Hannover, Danzig Aehnliches berichtet" (R. Möller 1881: 3). Für das Martineum zu Braunschweig: „Immer häufiger werden dann die deutschen Verse im 18. Jahrhundert, ( . . . ) und je weiter wir in das vorige Jahrhundert vordringen, je mehr die deutsche Sprache das Latein in den Hintergrund drängt, desto häufiger hören wir auch von deutschen Versen" (ebd.: 3). Die Widerstände, die bei den „Orationes" zu überwinden waren, scheinen größer gewesen zu sein. R. Möller berichtet über seine Nachforschungen: „Am frühesten habe ich die deutsche Sprache bei den rhetorischen Schulactus erwähnt gefunden in den Breslauer Schulen, nämlich schon zur Zeit des 30jährigen Krieges, was sich aus der Einwirkung der ersten schlesischen Schule erklärt" (ebd.: 6). Der Durchbruch erfolgt aber erst kurz vor der Jahrhundertwende. R. Möller hat aus seiner Heimat (Königsberg) die folgenden Daten zusammengetragen: „In der altstädtischen Schule wurde 1698 ein deutsches Gedicht vorgetragen, in Tilsit 1704, Angerburg 1705, Rastenburg 1707, gleichzeitig öfters Reden in deutscher Prosa" (ebd.: 7). Etwas früher
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sind deutsche Reden am Martineum zu Braunschweig bezeugt: „Die erste hier eingetragene prosaische Arbeit in der Muttersprache ist eine Abhandlung vom J. 1692" (G. Τ. A. Krüger 1860: 4 Anmerkung). Die Entwicklung scheint der an den Universitäten zu folgen. Bekanntlich hatte Thomasius 1687 in Halle die erste Vorlesung in deutscher Sprache gehalten (vgl. A. Langen 1957: 1015). Wie die Dokumentation von R. Möller zeigt (R. Möller 1878), gewinnen die deutschen Reden erst im 18. Jahrhundert allmählich Oberhand über die lateinischen, bis diese schließlich gegen Ende des Jahrhunderts ganz verschwinden.
4. Die deutsche Sprache im Unterricht Die deutsche Sprache im Unterricht der gelehrten Schulen kann Verschiedenes bedeuten: — die Sprache, in der die Texte abgefaßt sind, die im Rahmen des Rhetorikunterrichtes von den Schülern anzufertigen waren; — die Sprache, in der unterrichtet wurde, d. h. die die Lehrer und Schüler während des Unterrichtes gebrauchten: die Unterrichtssprache; — die Sprache als Gegenstand des Unterrichtes, etwa das Lateinische als Gegenstand des Lateinunterrichtes, das Griechische als Gegenstand des Griechischunterrichtes, so auch das Deutsche als Gegenstand eines Deutschunterrichtes. Die Frage, wie die deutsche Sprache in die Gelehrtenschulen gelangte, wird nach diesen drei Hinsichten gesondert zu beantworten sein. Deutsch im Rhetorikunterricht Wenn Schüler in der Öffentlichkeit außerhalb der Schule Gedichte, Reden und ganze Theaterstücke in deutscher Sprache vortrugen, dann ist anzunehmen, daß eine solche Tatsache nicht ohne Wirkung auf den Rhetorikunterricht geblieben ist, in dem solche Texte normalerweise hergestellt wurden. Von den dramatischen Aufführungen ist bekannt, daß die Autoren der Stücke meist Lehrer waren und die Stücke selbst also kaum Ergebnis von Unterricht gewesen sein können (vgl. etwa R A . Hallbauer 1725: 751; J.Chr. Gottsched 1736: 522). Der Einfluß des Schultheaters auf den Rhetorikunterricht wird also nicht allzu hoch zu veranschlagen sein. Auf diesem Wege ist die deutsche Sprache kaum in den Unterricht gelangt. Enger war der Zusammenhang zwischen dem Rhetorikunterricht und den oratorischen Darbietungen der Schule. Zwar behauptet R. Möller, daß auch die Reden (orationes) aus der Feder von Lehrern geflossen seien (vgl. R.
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Möller 1878: 9). Auszuschließen ist das nicht in jedem Falle. Doch scheint mir die Behauptung zu weit zu gehen. Ich möchte annehmen, daß die Gedichte und Reden, die bei solchen Aufführungen zum Vortrag kamen, in vielen Fällen aus der Hand von Schülern kamen. Wenn das so war, dann muß es einen Zusammenhang zwischen den Redeactus und dem Rhetorikunterricht gegeben haben — und damit eine Brücke, auf der das Deutsche in den Rhetorikunterricht gelangen konnte. Es ist bekannt, daß Christian Weise sehr deutlich zwischen dem öffentlichen Unterricht in der Schule und seinen privaten und zu honorierenden Lektionen unterschieden hat und daß diese einen großen Teil seiner Arbeitszeit in Anspruch nahmen (vgl. H . A . Horn 1966: 128). Als er 1678 sein Amt in Zittau antrat, scheint er den öffentlichen Unterricht weitgehend so belassen zu haben, wie er ihn vorfand (ebd.: 121). In dieser Zeit wird er seine reformerischen Aktivitäten auf die privaten Lektionen beschränkt haben. Es gibt aber einige Indizien dafür, daß Weise später — spätestens gegen 1690 — auch im öffentlichen Unterricht von seinen Schülern deutsche Ausarbeitungen forderte: „In seiner ( . . . ) deutschen Schulordnung von 1690 bildet seine politische Oratorie einen festen Bestandteil des öffentlichen Unterrichts in der Prima (6 Std.) und Sekunda ( . . . ) . Im Rahmen dieses Lehrgangs wurden auch, ( . . . ) worauf er mit seinem ,Arcanum Informationis' aus dem ,Enchiridion Grammaticum' hinweist, die deutschen Übungen entsprechend berücksichtigt. An dieser Stelle fehlt allerdings der ausdrückliche Hinweis darauf" (ebd.: 124f.). Es ist durchaus möglich, daß sich Weise scheute, das in einer Schulordnung öffentlich zu machen, was er mit seinen Schülern schon längst betrieb. Wie dem auch sei, am Beispiel von Weise zeigen sich zwei Möglichkeiten, auf welche die deutsche Sprache in den ansonsten lateinischen Rhetorikunterricht eingeführt werden konnte: einmal sozusagen unter der Hand, stillschweigend und ohne viel Aufhebens zu machen, das andere Mal, um die Ordnung in der Schule nicht zu stören, beschränkt auf den Privatunterricht, für den der Lehrer allein verantwortlich war. Aus derselben Zeit stammt eine Sammlung von Schülerarbeiten des Martineum zu Braunschweig, von der bereits die Rede war und über die G. Τ. A. Krüger (1860) berichtet. Hier finden wir „sehr häufig dieselbe Aufgabe in beiderlei Sprachen bearbeitet" (G. Τ. A. Krüger 1860: 4), und schaut man genauer hin, so findet man, daß die deutsche Arbeit eine „freilich nichts weniger als wörtliche, sondern meistens sehr freie" (ebd.) Übersetzung der lateinischen ist. Aus dieser Tatsache läßt sich entnehmen, daß die Übersetzung einer in lateinischer Sprache konzipierten Rede ins Deutsche eine andere Brücke war, über die das Deutsche in den Rhetorikunterricht gelangen konnte. Daß man auch den umgekehrten Weg gegangen ist, hat Adolf Matthias aus den Programmen des Prenzlauer Gymnasiums von 1691 und 1694 nachweisen
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können. Hier wurden die schriftlichen Ausarbeitungen zuerst in deutscher Sprache vorgenommen und dann erst ins Lateinische übertragen: „Deshalb solle man alle Chrias, alle Complimente, alle Episteln erstlich Deutsch machen, wie das im politischen Redner (gemeint ist das bekannte Lehrbuch von Christian Weise O. L.) empfohlen sei; dann brauchten sie sich nicht um die Worte zu sorgen, sondern könnten allein die oratorische Ordnung in acht nehmen. Sobald durch das Deutsche „der Kopf zu rechte gerückt" sei, „so möge die Mühewaltung wegen des Lateinischen folgen ( . . . ) . Und nach diesen Vorschriften ist dann der Rektor Oesterreich tüchtig ins Zeug gegangen" (A. Matthias 1907: 85). Man wird solchen vereinzelten Zeugnissen nicht entnehmen können, daß damals bereits die deutsche Sprache im Rhetorikunterricht der Schulen üblich gewesen ist (anders R. Möller 1878: 6 f.). Das Gegenteil war der Fall. Wenn die Schüler nach der Prima die Schule verließen, mochte ihr Latein vorzüglich gewesen sein, ihr Deutsch aber war miserabel, vor allem das Schriftdeutsch. Verschiedentlich wird das beklagt. Christian Thomasius etwa stellte fest: „Ich kan meines Orts selbst durch eine 12.Jährige Erfahrung bezeugen / die meisten unter meinen Auditoribus, auch daß diejenigen / die ihr gut Latein von Schulen mitgebracht / wenig oder kein teutsch gekont / das ist / daß sie gar selten capabel gewesen einen deutlichen artigen Brieff zu schreiben / oder einen kleinen Satz formlich vorzubringen / u. s. w. sondern solches hernach erst / wenn sie von Universitäten kommen / mit grosser Mühe und Arbeit lernen und sich darinnen üben müssen" (C. Thomasius 1691/1701: 378). Die Zeugnisse zeigen aber auch, und zwar einhellig, daß an einigen Schulen, denen ein dem Neuen aufgeschlossener Leiter bevorstand — Weise in Zittau, Gelhud in Braunschweig und Oesterreich in Prenzlau — deutsche Übungen allmählich im Rhetorikunterricht üblich wurden, und zwar ziemlich gleichzeitig, etwa um 1690 herum. Zwanzig Jahre später hat sich die Idee einer deutschen Beredsamkeit, einer „deutschen Oratoria", zumindest an einer deutschen Schule durchgesetzt: dem Pädagogium zu Halle, dem August Hermann Francke (1663 — 1727) vorstand. 1702 erscheint die „Ordnung und Lehrart, wie selbige in dem Pädagogio in Glaucha an Halle eingeführet ist" (vgl. D. G. Kramer 1885/ 1966: 107 ff.). Diese Ordnung enthält auch einen Paragraphen „Von der deutschen Oratoria": „Weil so viel daran gelegen, daß man einen feinen deutschen Stylum lerne schreiben, so werden auch einige in demselben durch Anleitung zur deutschen Oratorie geübt" (ebd.: 107). Die Vorstellungen, die hier entwickelt werden, weisen — bis in einzelne Formulierungen hinein — so viele Übereinstimmungen mit Vorstellungen auf, die Weise entwickelt hatte, daß man sie getrost als eine Rekapitulation der Ideen von Weise ansprechen kann.
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1721 kommt eine neue Fassung der Franckeschen Lehrart heraus: „Die verbesserte Methode des Paedagogii Regii zu Glaucha vor Halle" (vgl. D. G. Kramer 1885/1966: 357 ff.). Zwischen der Lehrart von 1702 und der von 1721 gibt es eine Reihe von Unterschieden, die nicht zuletzt auch die deutsche Oratorie betreffen. Für die Schüler, die beabsichtigen, ein Studium aufzunehmen, hatte Francke eine eigens für sie eingerichtete Klasse vorgesehen: „die Classe selecta" oder kurz „die Selecata". Francke ist keineswegs der erste, der eine solche Erweiterung des Unterrichtsangebotes ins Auge faßte. Aber er nutzte entschieden die Möglichkeiten, die eine solche Klasse bot, um seine Vorstellungen von Unterricht in die Tat umzusetzen. Da es keine Vorbilder gab, konnte er frei schalten. In den Mittelpunkt der Selecta stellte er ausdrücklich und ausschließlich „die Übung des Stili", und zwar sowohl des lateinischen wie des deutschen Stils: „Das Hautpwerk ist hieselbst aus den äußerlichen Studiis die Übung des Lateinischen und deutschen Stili in Prosa und ligata oratione (in ungebundener und gebundener Rede O. L.), daher auch die Scholaren fast die meiste Zeit des Tages darauf wenden" (ebd.: 333). Im einzelnen wird ausgeführt, daß bei den schriftlichen Übungen, die aus der Verfertigung von Briefen, Reden und Gedichten bestehen, jeweils ein Schüler einen deutschen Text verfaßt, „die andern in lateinische Sprache" (D. G. Kramer 1885/1966: 334). Monatlich sind von jedem Schüler drei bis vier Briefe und „eben so viel Orationes" anzufertigen. Anstatt der vierten Rede können auch zwei Gedichte abgeliefert werden, von denen das eine lateinisch, das andere deutsch sein muß. Diese Stilübungen in der Selecta bedürfen einer Erklärung. Es handelt sich nicht schon um eine Ausgliederung der deutschen Übungen, vielmehr um eine Zusammenführung der stilistischen Anteile, die zuvor teils in lateinischer, teils in deutscher Sprache bereits getrennt betrieben worden waren (vgl. die Ordnung von 1702), und zwar um eine Zusammenführung in einem neuen, einheitlichen Fach. Stilistisch-rhetorische Übungen waren nun nicht mehr nur Sache des Lateinunterrichtes, aber auch noch nicht des Deutschunterrichtes (den es noch nicht gab). Hier ging es weder um einen „stilus latinus" noch um einen „stilus germanicus", sondern um Stilbildung schlechthin, unabhängig von der Sprache, die jeweils Verwendung fand. Damit war ein neues Fach geschaffen, wenn man genau sein will, noch nicht das Fach „Deutsch", wie Fritz Blättner (F. Blättner 1951/1958: 44) meint, gewiß aber ein Vorläufer von ihm. Deutsch als Sprache des Unterrichtes Ohne Frage: das Lateinische war die Sprache, in der auch noch im 18. Jahrhundert unterrichtet wurde, Schüler und Lehrer miteinander verkehrten, in der die Lehrbücher abgefaßt, die Examina abgehalten und der Schulbetrieb
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organisiert wurde. „Gleichwohl dürfen wir uns keine zu übertriebenen Vorstellungen von der Vernachlässigung des Deutschen machen. Dafür sorgte schon die bunte Vielfalt der Schulen, die weder einen ausgeprägt lateinischen noch einen rein deutschen Charakter trugen, dafür sorgte schon die Muttersprache selbst, der man in keinem Unterrichtsgegenstande gänzlich entraten konnte" (A. Matthias 1907: 26). Man braucht nur die einzelnen Fächer, in denen damals unterrichtet wurde, in Gedanken durchzugehen und sich zu fragen, an welchen Stellen des Unterrichtes das Deutsche unvermeidbar war (zum folgenden vgl. R. Hanns 1881: 10ff., auch A. Matthias 1907: 2 6 - 3 2 und 5 2 - 6 1 ) . Unvermeidbar war der Gebrauch der deutschen Sprache vor allem im Religionsunterricht — zumindest an protestantischen Schulen. Deutsch waren die liturgischen Teile im Religionsunterricht: die Gebete, das Glaubensbekenntnis, die Lieder und Lesungen während der Andachten. Deutsch waren aber auch die wichtigsten Unterrichtsgegenstände: der Katechismus und die Bibel Luthers. So kann es nicht verwundern, daß den unteren Klassen von Anfang an der Gebrauch der deutschen Sprache zugestanden wurde. An einigen Schulen wird später Religionsunterricht bis in die obersten Klassen hinein deutsch erteilt. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Unterricht im Lateinischen. Daß auch hier die Verwendung der deutschen Sprache kaum vermieden werden konnte, ist ein starkes Argument für die Annahme, daß die deutsche Sprache immer schon, wenn auch nur verdeckt, Unterrichtssprache an deutschen Schulen gewesen ist. Im Lateinunterricht werden und wurden Übersetzungen angefertigt. Schon bei den Übersetzungen aus dem Deutschen ins Lateinische ist die deutsche Sprache im Spiel, noch viel mehr bei den Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Deutsche. In solchen Übungen werden nicht nur die lateinischen Kenntnisse geübt, sondern in einem nicht unerheblichen Maße auch die sprachlichen und stilistischen Fähigkeiten der Schüler in der Muttersprache. Darum hat man sehr bald auch auf den sprachlichen Ausdruck der Übersetzungen geachtet und die Übersetzungen selbst als Stilübungen in der Muttersprache betrachtet (vgl. A. Matthias 1907: 28, 39, 54). Mit den Übersetzungen sind die Möglichkeiten des Deutschen im Lateinunterricht keineswegs erschöpft. Denn auch bei der Interpretation und Erklärung der antiken Schriftsteller sowie bei der Einführung in die Grammatik und Rhetorik konnte nur unter größten Mühen der Gebrauch der deutschen Muttersprache vermieden werden. So wurde es hier und da gestattet, die Anfangsgründe in der Grammatik auf deutsch zu legen, deutsche Paradigmen heranzuziehen, um die lateinischen zu erklären, neue Begriffe auf deutsch einzuführen usw.. Zwar wird es zutreffen, daß die meisten Schulmeister das Hilfsmittel „nur notgedrungen und widerwillig" benutzten, „und nur wenige
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faßten auch die Qualität des verwendeten Deutsch ins Auge" (A. Matthias 1907: 28), doch wird auch das Gegenteil der Fall gewesen sein. Für andere war es bequemer, sich der deutschen Sprache zu bedienen, auch wenn es nicht ganz legitim war. Einige sind auch bereit, das zuzugeben: „Es gehet auch bei der Information der Oratorie in Teutscher Sprache alles mit besserer Gefälligkeit ( . . . ) . Und wenn man die Wahrheit sagen soll / so müssen den Schülern die lateinischen Rhetoriquen erst von dem Praeceptore Teutsch erkläret werden, damit sie es quoad verba verstehen können" (Ch. Juncker 1708/1711: 10 f.). Wenn die deutsche Sprache auch schon immer als pädagogisches Hilfsmittel in jeder Art von Unterricht Verwendung fand, so wird man sie darum kaum schon als Unterrichtssprache bezeichnen können. Unterrichtssprache blieb im 16. und auch noch im 17. Jahrhundert einzig und allein das Lateinische. Das ändert sich erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts: „In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts macht sich das Deutsche als Unterrichtssprache immer mehr geltend. Was im 17. Jahrhundert noch als kühne Leistung eines einzelnen Mannes (Thomasius) angesehen wurde, daß auf den Universitäten die Vorlesungen in deutscher Sprache abgehalten wurden, wurde bald herrschender Brauch und wirkte auf die Schulen so kräftig ein, daß hier nur noch an wenigen Stellen das Latein als Lehr- und Umgangssprache im Gebrauch blieb. Schon im Jahre 1711 halten die meisten Professoren in Halle ihre Vorlesungen in deutscher Sprache ab. ( . . . ) Die Schule, die schon an vielen Stellen vom Alten gelassen, war nunmehr in ihrem gesunden Streben nach Neuerem und Besserem gedeckt durch den akademischen Brauch, dem sie von jeher gern sich angeschlossen hatte" (A. Matthias 1907: 94 f.). Gegen Ende des Jahrhunderts, „nachdem auch die alten Jesuitengymnasien, die am längsten die mittelalterliche Lehrsprache behauptet hatten, der Muttersprache ihr gutes Recht zukommen ließen" (ebd.: 95), hatte das Deutsche den Sieg über die lateinische Sprache errungen. Deutsch war nun unumstritten Unterrichtssprache an deutschen Schulen. Deutsch als Unterrichtsfach Deutsch ist im 18. Jahrhundert nicht nur zur Unterrichtssprache geworden, Deutsch wird auch zu einem Unterrichtsfach: „Das Gymnasium zu Oldenburg hat in seinem Lehrplan von 1703 2 Stunden Deutsch, allerdings nur für die Quinta. 1732 folgte das Johanneum zu Hamburg, 1734 unter den preußischen Schulen zuerst das Graue Kloster in Berlin. ( . . . ) In Braunschweig wurde am Kollegium Karolinum, das 1754 gegründet wurde, deutscher Unterricht eingeführt, der den deutschen Aufsatz, Grammatik und Literatur umfaßte. ( . . . ) 1759 finden wir im Stephaneum zu Halberstadt, 1767 am Joachimthalschen Gymnasium zu Berlin besonderen deutschen Unterricht" (A. Matthias
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1907: 97). Das waren die ersten Schulen, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts seltene Ausnahmen. Die vielen anderen hatten auch um die Jahrhundertmitte noch keinen Deutschunterricht, einige — vor allem solche, die etwas auf sich hielten — noch nicht einmal zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Das renommierte Schulpforta ist ein Beispiel. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem gegen sein Ende, findet der Durchbruch statt. In dieser Zeit hat sich der Deutschunterricht an den Gymnasien etabliert. Zwei Umstände haben dabei eine Rolle gespielt: einige Veränderungen im Lehrplan der Schulen und dann vor allem die Entwicklung, die die deutsche Sprache außerhalb der Schule während des 18. Jahrhunderts nahm. (1) Die Veränderungen innerhalb der Schule kann man bereits an der schon einmal erwähnten Halleschen Schulordnung von 1721 erkennen. Es wird auf gutes Deutsch Wert gelegt (vgl. R. Hanns 1881: 1 9 - 2 4 ; 4 7 - 4 9 ) . Auch im Lateinunterricht werden die Schüler angehalten, sich in gutem Deutsch auszudrücken, schriftlich nicht nur, sondern auch mündlich, und die Lehrer sollten die Texte, die sie den Schülern deutsch in die Hefte diktierten „akkurat" korrigieren. „Zweimal in der Woche wird beim Anfang der Lection von einem Scholaren eine ihm aufgegebene und ganz kurz gefassete biblische Historie in deutscher Sprache recensiret, welcher er vorher aufsetzen, dem Informatori zur Correctur übergeben und darauf memoriter hersagen muß" (D. G. Kramer 1885/1966: 292). Diese Übung fand im Lateinunterricht statt — in der Quinta, der Klasse also, mit der der Lateinunterricht begann: ein Stück Deutschunterricht im Lateinunterricht. Bemerkenswert ist auch ein anderer Vorgang. Zum Pensum des Lateinunterrichtes soll nun auch das Schreiben von Briefen gehören — nicht nur, wie man denken könnte, das Schreiben von lateinischen Briefen, sondern auch das von Briefen in deutscher Sprache, und zwar fast die ganze Schulzeit hindurch: „Mittwochs wird ein Thema zu einem deutschen Briefe gegeben, welchen die Scholaren alsbald in der Klasse elaboriren, mundiren, ordentlich zusammenlegen, mit gehöriger Aufschrift versehen, zu Hause versiegeln und darauf dem Informatori exhibiren. Es geschieht dieses um der Übung willen in allen lateinischen Klassen von Quinta an bis ad secudam superiorem inclusive, jedoch mit einigem Unterschied, der sich auf die unterschiedliche Capacität des Discentium gründet" (D. G. Kramer 1885/1966: 296). Gefordert waren also nicht nur deutsche Erzählungen auf den unteren Klassen, solange wie die Lateinkenntnisse zu wünschen übrig ließen, sondern deutsche Briefe im Rahmen des Lateinunterrichtes auch dann noch, als den Schülern längst lateinische Briefe zugemutet wurden. Solche Ungereimtheiten erweisen sich erst dann als vernünftig, wenn man das Ziel, das Francke mit den rhetorischstilistischen Übungen im Lateinunterricht verband, berücksichtigt. Es geht ihm um eine „Cultur des deutschen stili". Der Schüler hat sich so lange mit
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einer Stunde zur Übung in deutschen Briefen zu „behelfen ( . . . ) , bis er dasjenige gelernet, was ihn zur fernem Cultur des deutschen stili tüchtig macht" (D.G. Kramer 1885/1966: 329). Der Schüler lernt also im Lateinunterricht deutsche Briefe schreiben, damit er auf den Unterricht im deutschen Stil vorbereitet wird. Heute würde man wohl eher vom Aufsatzunterricht sprechen. Hier — in der Ordnung von 1721 — lassen sich also bereits die Konturen des späteren Aufsatzunterrichtes erkennen. In der Tat scheinen die Grundlagen des Deutschunterrichtes vornehmlich im tradierten Rhetorikunterricht zu suchen sein. (2) Mindestens ebenso wichtig wie die Veränderungen im Lehrplan der Gymnasien dürfte die Entwicklung sein, die die deutsche Sprache außerhalb der Schulen genommen hatte. Im Verlauf des 17. und vor allem dann des 18. Jahrhunderts war Deutsch nicht nur zur Wissenschafts- und Unterrichtssprache an den Schulen geworden, deutsch war inzwischen auch die Sprache der Verwaltung geworden und — was vermutlich mehr zur Etablierung des Deutschunterrichtes beigetragen haben dürfte — die Dichtung in deutscher Sprache hatte an Selbstbewußtsein, Rang und Bedeutung gewonnen (vgl. E. Blackall 1959/1966). Hier kann auf diese Vorgänge nicht weiter eingegangen werden, so wichtig sie auch für die Entstehung des Deutschunterrichtes gewesen sein mögen. Der Hinweis mag genügen.
II. Politische Beredsamkeit: Christian Weise und seine Schule (1680—1720) In diesem Kapitel geht es um den Unterricht an den Latein- und Gelehrtenschulen vornehmlich des 17., aber auch des beginnenden 18. Jahrhunderts (zur Elementarbildung in den Land- und Stadtschulen vgl. Kap. VII). Der Unterricht galt nicht mehr nur der Ausbildung von Theologen oder kirchlichen Beamten, wie noch im ausgehenden Mittelalter, sondern der des in zunehmendem Maße auch klassisch gebildeten Gelehrten. Der Unterricht in der deutschen Sprache machte keine Ausnahme. So meinte Christian Weise: „Daß ein Gelehrter in Deutschland müsse deutsch reden und schreiben können / solches wird niemand widersprechen. O b man dieses von sich selber lernen könne / daß man also keiner guten Anweisung solte von nöthen haben / das wird mich wohl niemand überreden" (C. Weise 1702:1). Traditionelle, letztlich aus der Antike stammende Vorstellungen bestimmten nach wie vor den Unterricht. Rhetorik war ein konstitutiver Bestandteil, zumal in den oberen Klassen. Man orientierte sich an den Klassikern: Aristoteles, Cicero und vor allem Quintilian. Doch in einigen nicht unwichtigen Fragen entwickelte man durchaus eigene Vorstellungen.
1. Zur Konzeption Die Entwicklung führte von der lateinischen Rhetorik zur deutschen Oratorie, von der Beredsamkeit in der lateinischen Sprache zur Beredsamkeit im Deutschen. Gemeinsam war beiden Konzeptionen die entschieden rhetorische Ausrichtung. Zu jedem Akt des Redens oder Schreibens gehört die Tätigkeit des Sich-Äußerns. Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Ansichten, kurz alles, was sich sozusagen im Kopf eines Menschen befindet, wird nach außen gebracht, findet seinen Ausdruck in Worten oder auf dem Papier. Den Rhetorikern des 17. und 18. Jahrhunderts war das Faktum bekannt: „Dasjenige, was den Menschen zur Beredsamkeit geschickt und fähig macht, das ist die Gabe, die er vor allen andern Thieren besitzet, seine Empfindungen und Gedanken mit deutlichen und vernehmbaren Wörtern auszudrücken", so beginnt die „Ausführliche Redekunst" von Gottsched (J.C. Gottsched 1736: 3). Doch
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dieser Aspekt des Redens oder Schreibens interessierte damals nicht, zumindest war er nicht ausreichend zur Bestimmung der Beredsamkeit: „Dergestalt ist nun zwar die Sprache des Menschen der Grund aller Beredsamkeit: Doch ist sie an sich selbst noch die Beredsamkeit nicht" (ebd.: 4). „Ein Redner ist (...) nicht zufrieden, wenn man ihn gern höret, wenn man seine schöne Schreibart lobet, seine hübschen Gedanken, und sinnreichen Ausdrückungen erhebet. Er geht viel weiter, und fordert ungleich mehr von seinen Zuhörern. Man soll ihm in seinem Vortrage auch vollkommen beypflichten; man soll das vor wahr und falsch halten, was er davor hält; man soll endlich lieben und hassen, zürnen und beneiden, frolocken und trauern, hoffen und fürchten, suchen und fliehen, thun und lassen, was und wie es ihm gefällt; wenn und wo und wie es ihm nur gut dünket" (ebd.: 34 f.). Worauf es ankam — in diesem einen Punkte sind sich alle Rhetoriker, die deutschen wie die lateinischen, einig —, das war der Effekt der Rede, die Wirkung auf die Gedanken, Gefühle und also auch Handlungen der Hörer oder Leser (vgl. W. Barner 1970: 70 ff.). Man kann dies auch so ausdrücken: nicht die Relation zwischen dem Autor (Sprecher oder Schreiber) und seiner Äußerung (dem von ihm produzierten Text) war von Interesse, sondern die Relation, die sich auf dieser Basis zwischen der Äußerung (dem Text) und dem Adressaten (dem Hörer oder Leser) ergab. So wurde der Prozeß der Produktion von Texten, sei es beim Reden oder Schreiben, vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der rhetorischen Wirkung gesehen. Der Ausdruck „deutsche Oratorie" bezeichnete ein Programm, und dieses Programm stand in Konkurrenz zu der bisher an den Lateinschulen betriebenen Rhetorik: die praktischen Übungen im Reden und Schreiben sollten nicht mehr — oder zumindest nicht mehr ausschließlich — auf der Grundlage der lateinischen, sondern auf der Grundlage der deutschen Oratorie erfolgen (vgl. Kap. I). Dem Programm lag die Prämisse zugrunde, daß die Redekunst (Rhetorik) und die Beredsamkeit (Oratorie), Theorie sowie Praxis, ihrem Wesen nach unabhängig von der Sprache seien, in der sie betrieben und also auch gelehrt wurden: „Denn die Sprachen sind nur ein vehiculum rerum, oder conceptum animi, als welche vermittelst der Sprachen müssen an den Tag geleget werden" (C. Juncker 1708/1711: 9). Daraus folgte, daß alles, was in der lateinischen Rhetorik an den Schulen gelehrt wurde, auch auf die deutsche Sprache Anwendung finden könne (vgl. J. Freyer 1736: 185). Solche Erwägungen werden es dem einen oder anderen Schulmann leicht gemacht haben, die Neuerung aufzugreifen oder sie wenigstens zu dulden. Eine Oratorie für die deutsche Sprache, also eine „teutsche Oratorie", ist jedoch mitnichten lediglich eine lateinische Rhetorik in einem anderen Gewände. Was bloß wie eine andere Form aussah, erwies sich in Wirklichkeit als eine andere Idee.
Zur Konzeption
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Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert war Latein die Sprache der Gelehrten, Deutsch die Sprache des täglichen Umganges. Die Ausbildung in der Rhetorik wurde im Rahmen des Lateinunterrichtes betrieben und war infolgedessen ein wichtiger Teil, wenn nicht sogar die Krönung des Erwerbs der Gelehrtensprache. Bei der Begründung einer deutschen Oratorie stellte sich die Frage nach den Zwecken anders. Deutsch war die Muttersprache der Schüler und nicht Gelehrtensprache. Also mußte der Nutzen einer rhetorischen Ausbildung auch anders ausgewiesen werden. In den lateinischen Rhetorikstunden ging es um den Erwerb einer fremden Sprache. Der Rhetorikunterricht baute auf dem Grammatikunterricht auf und wurde meistens in engem Zusammenhang mit der Lektüre der antiken Klassiker vorgenommen. Die deutsche Oratorie dagegen konnte nicht auf einem vorausgehenden Unterricht aufbauen, da es noch keinen Deutschunterricht gab. Dafür konnte aber vorausgesetzt werden, daß die Schüler ihre Muttersprache bereits in einem ganz erheblichen Maße beherrschten. Der Ausgangspunkt des Unterrichtes war also ein anderer, und diese Tatsache konnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die Ziele und Gesichtspunkte, unter denen die oratorischen Übungen im Deutschen betrieben wurden. A. F. Bernhardi hat, wenn auch fast hundert Jahre später, den Unterschied in den Zielen so deutlich gemacht: „Unpassend nennen wir diesen Namen, weil der Ausdruck: Deutsche Stilübungen (so eine damals übliche Bezeichnung für den deutschen Aufsatz O. L.) — das Objekt mit den lateinischen, griechischen, französischen Stilübungen in eine Classe wirft und alle miteinander parallelisiert, da jene ersten doch einen ganz anderen Zweck haben als die drei letzteren. Bei diesen ist nehmlich der Zweck ein rein grammatischer. Sei der Inhalt des lateinischen oder französischen Aufsatzes noch so dürftig und trivial, enthalte er nur nicht etwa reinen Unsinn oder historische Falschheiten, ist er nur in einer reinen, von grammatischen Fehlern ganz freien, vielleicht gar zierlichen und periodisch geordneten, der Eigenthümlichkeit der fremden Zunge ganz angemessenen Sprache geschrieben, so wird der Lehrer nicht umhin kommen, den Aufsatz als einen guten zu loben und höchstens beiläufig einiges über dessen innere Leerheit hinzuzufügen". Auch in der in lateinischen Worten zu entwerfenden und auf lateinisch vorzutragenden Rede kam es in erster Linie auf die sprachlichen Fertigkeiten des Schülers an. „Ist dagegen", so fahrt Bernhardi fort, „der deutsche Aufsatz sprachrichtig, klar, ja zierlich geschrieben, seinem Inhalte nach dagegen leer und flach und ist der Gedanke, welcher dem Ganzen zum Grunde liegt, unvollständig und verkehrt ausgeführt, so wird der Lehrer über die zierliche und richtige Sprachform hinweg sehend, sie höchstens beiläufig lobend, auf den Inhalt des Aufsatzes gehen und seinen Tadel darüber aussprechen und zu begründen suchen" (A. F. Bernhardi 1820: 10 f.). Der Zweck einer Ausarbeitung, für eine Rede nicht anders als für einen Aufsatz, mußte in der Muttersprache ein anderer sein als in einer fremden Sprache: „hier ist es die
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sprachrichtige Form, welche überwiegend in Betracht kommt, dort der Inhalt" (ebd.). Die deutsche Oratorie konnte also nicht, wie damals viele glaubten, eine auf die deutsche Sprache angewendete Rhetorik alten Zuschnitts sein. Im Rahmen des Deutschen gewann die rhetorische Ausbildung der Schüler einen anderen Stellenwert, da die Voraussetzungen sowie die Ziele des rhetorischen Unterrichtes andere als im lateinischen Unterricht waren.
2. Die Lehrer der Beredsamkeit Da Dokumente aus dem Unterricht — etwa Schülerarbeiten —, von ganz wenigen Resten abgesehen, nicht erhalten sind, kommt den Lehrbüchern bei der Rekonstruktion des Unterrichtes in der deutschen Oratorie eine große Bedeutung zu. Daniel Richter Johann Balthasar Schupp (vgl. 1.1) erwähnte in seinem „Teutschen Lehrmeister" von 1658 einen gewissen Daniel Richter: „Fürstlichen Gothischen Rath und Amptsverweser", dem er, als er noch in Marburg die Beredsamkeit lehrte, „diese (gemeint sind die im „Teutschen Lehrmeister" dargestellten O. L.) und andere Handgriffe gezeiget" und der nun Schupps Weise, die Beredsamkeit zu traktieren, „in der berühmten Fürstlichen Schul zu Gotha" eingeführt habe (P. Stötzner 1891: 47). Schupp fügte hinzu: „Ich möchte wünschen, daß wohlgemeldter Herr Richter sich darüber machte, als welcher meinen mentem hierin vollkömmlich assequiret, und fertige solches dem publico commodo zu Nutz in Teutscher Sprache auß. Solche Dinge zu practicieren, läßt nunmehr meine Gelegenheit nicht wol zu. Es gehet mir aber wie den alten Kutschern, welche, wenn sie nicht mehr fahren können, so hören sie doch gern daß andere Kutscher mit ihren Peitschen sich lustig machen" (ebd.). Zwei Jahre, nachdem Schupp diesen Wunsch geäußert hatte, erschien Daniel Richters „Thesaurus oratorius novus. Oder ein neue Vorschlag / wie man zu der Rednerkunst / nach dem Ingenio des Seculi, gelangen / und zugleich eine Rede auff unzehlich viele Arten verändern könne" (D. Richter 1660). Was den „Thesaurus" auszeichnet, ist die Vorstellung einer neuen Lehrmethode. Richter ist sich dieser Tatsache bewußt und bereitet den Leser behutsam darauf vor: „Aber darbey wird ihme vielleicht noch ein Kummer beyfallen / daß in diesem Methodus viel neue Arten zu lehren zu befinden / welche ihm eben darumb / weil sie / wie gesagt / neu seyn / suspect fallen werden" (Vorrede).
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Neu ist einmal das Curriculum eines kombinierten Latein- und Deutschunterrichtes. Ziel ist nach wie vor, „einen Schüler der Eloquenz zuzubereiten" (ebd.: 27), doch in die rhetorischen Übungen geht alles ein, was auch heute noch zu einem guten Sprachunterricht gehört: die Grammatik ebenso wie die Lektüre der Schriftsteller, Übungen im mündlichen wie im schriftlichen Ausdruck. Neu ist der Aufbau des Curriculums. Richter möchte „gleichsam ab ovo" (ebd.: 27) beginnen und sich ganz „pro captu puerorum" (ebd.: 33) richten. Alles soll auf die natürlichste Weise betrieben werden. Also beginnt er mit Übungen zur Aussprache und zum mündlichen Vortrag (pronunciatio sive actio), es folgen Wortschatzübungen und Übungen zur Grammatik (elocutio), dann erst kommen die eigentlich rhetorischen Übungen (inventio und dispositio). Das ist exakt die Umkehrung der tradierten Reihenfolge. Neu ist schließlich die Lehrweise: „der Liebhaber dieser Kunst erstlich aus guten / sowol teutschen als lateinischen Scribenten ( . . . ) die Copiam verborum & rerum observire" (ebd.: 4). An die Stelle der üblichen Vorschriften und Regeln (praecepta) tritt die Beobachtung des Schülers. Er soll die Vorschriften und Regeln, die in den rhetorischen Lehrbüchern deponiert sind, allererst selbst finden und sozusagen den Gang, den die Rhetorik genommen hat, nach vollziehen. Man nennt ein solches Verfahren heute „entdeckendes Lernen". Auf die Beobachtung folgt die Imitation: „Zum andern dieses / was er auf solche Art (d. h. durch Beobachtung O. L.) angemercket / wol imitiren (nachahmen) lerne" (ebd.). Die Imitation spielte in der zeitgenössischen Methodik eine bedeutsame Rolle. Richter meinte jedoch etwas anderes. Während sich nach den Vorstellungen der zeitgenössischen Methodik die Produktion eines Schülers in der Imitation erschöpfte, seine Niederschrift also nicht mehr war als die Nachbildung eines vorgegebenen Musters, ist für Richter die Imitation lediglich eine Vorübung auf das Schreiben. Sie umfaßt Veränderungen (Wort- und Satzvariationen), Nacherzählungen, Umwandlungen ganzer Texte, ja selbst Übersetzungen aus dem Deutschen und in das Deutsche. Der Zweck solcher Übungen ist nicht die Aneignung tradierter Muster, sondern die Ausbildung einer Fähigkeit. Durch die Imitation werde „alles füglich in das Gedächtnis eingedrucket und das ingenium dahin gebracht ( . . . ) / daß es hernach / wie ein fruchtbarer Acker mehr wider hervor gibet / als darein gesäet ist / auch deßhalben darnach alles / was es schreibet / viel natürlicher und nicht so gezwungen und affectat scheinet / welches sonsten eine Rede oder Schrifft sehr anmuthig machet" (ebd.: 27). Wenn „das ingenium" durch solche Übungen ausgebildet worden ist, dann erst soll sich der Schüler befleißigen, „auch vor sich selbst / nach allen Arten der Reden und Schrifften / etwas aufzusetzen" (ebd.: 4), d. h. einen Text zu verfassen.
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Richters Ideen zur Didaktik und Methodik des Rhetorikunterrichtes sind bemerkenswert und für ihre Zeit neu. Daß sie nicht aufgenommen wurden, läßt sich eigentlich nur verstehen, wenn man die pädagogische und publizistische Wirksamkeit, die Christian Weise bald entfalten wird, berücksichtigt. Richter stand im Schatten von Weise und ist darum bis auf den heutigen Tag nicht recht gewürdigt worden.
Christian Weise Der Begründer der deutschen Oratorie war Christian Weise (1642 — 1708), als Autor komischer Stücke heute bekannter denn als Pädagoge, als der er sich selbst verstand (zu Weise vgl. die vorzügliche Untersuchung von Η. A. H o r n 1966, auch A. Heubaum 1905: 34 ff. und W. Barner 1970: 167 ff.). Grundlegend für Weises Vorstellungen einer deutschen Oratorie ist sein Vernunftbegriff. Die Vernunft ist zunächst einmal eine Instanz: „Also bin ich kein Sclave von fremden Gedancken", schreibt er von sich. „Und in diesen Menschlichen Dingen / die von unserer Vernunfft dependiren / gilt der Locus Autoritatis bey mir so viel / als ich in der Praxis und in der nützlichen Probe selbst fortkommen kan" (C. Weise 1702: Vorrede). Vernünftig handeln, heißt für Weise, auf das, was vor Augen liegt, zu blicken, dieses zu prüfen und dann zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen. Vernunft und Klugheit sind weitgehend eins. „Der genauer definierte Zweck dieser Klugheit, Realität durch die vernunftgeschärften Sinne (,sensualistisch') zu prüfen, Wirklichkeit, wie sie ist, vorurteilslos zu erkennen, kraft Erkenntnis nützlich und erfolgreich ( . . . ) handeln zu können — verweist nun vollends darauf, daß jene Krise der Tradition begonnen hat, die sich im 18. Jahrhundert fortsetzen wird. Sachliche Realitätsprüfung und zweckmäßiges Handeln ( . . . ) gehören eben weder zu den Kennzeichen der zeitgenössischen akademischen G e l e h r t heit' noch zum überlieferten Kanon eines christlichen Lebenswandels und seiner Moral" (R. Grimminger 1980: 37). Im Prinzip der Vernünftigkeit sind zwei weitere Prinzipien angelegt. Nützlich sollte die Beredsamkeit schon für Daniel Richter sein, nützlich im Sinne von „im praktischen Leben vorkommend". Weise faßte den Begriff sehr viel enger. Nützlich ist für ihn allein das, was dem persönlichen Fortkommen seiner Schüler diente, ihnen den Erfolg im späteren Leben ermöglichte — wie er es nannte: den „Nutz im männlichen Leben" (C. Weise 1677/1683: Vorrede). Gemeint war: „galante Conduite als Voraussetzung für Erfolg unter Hof- und Weltleuten" (G. Sauder 1980: 221). Man m u ß sie wohl als „die Regel der Anpassung an die herrschende Gesellschaftsschicht" (ebd.) bezeichnen. Das galt damals als „politisch" (vgl. W. Barner 1970: 138 ff.). Dem Prinzip der Nützlichkeit, wie es Weise verstand, entsprach die überlieferte Rhetorik nur zum Teil. Einerseits waren viele Regeln überflüssig und
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konnten ohne weiteres wegfallen: „Alldieweil nun das Reden eine lautere Praxis ist / so wird sich niemand wundern dürffen / warumb ich gar ein weniges von den Praeceptis Rhetoricis berühret habe: nemlich nur so viel / als mir in der That nützlich und erbaulich gewesen ist" (C. Weise 1677/1683: Vorrede). Andererseits ließ die überlieferte Rhetorik viele Dinge vermissen, die für Schüler des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts hätten von Nutzen sein können. Wer am Hofe akzeptiert werden und avancieren wollte, mußte wohl gar eine „Hof- oder Staatsrede" halten, vor allem aber mußte er in der höfischen Konversation — „in sermone secreto et privato" — bestehen können. Weise ergänzte darum den rhetorischen Bestand um zwei Teile: einen über die politischen Reden und einen anderen über Komplimente. Unter den „politischen Reden" sind nicht nur (und wohl auch nicht in erster Linie) Hofreden zu verstehen, sondern auch sog. bürgerliche Reden, d. h. Reden, „welche unter Bürgern und Privat-Personen (...) gehalten werden" (ebd.: 435). „Rede mit der Welt", riet Weise, „und lasse dir die neue Mode gefallen / sonst bleibstu ein kluger Mensch vor dich alleine" (zit. bei G. Sauder 1980: 223). „Complimente" sind Schmeicheleien, ohne die die höfische Konversation nicht denkbar war, oder, wie Weise schreibt, „Complimente sind dergleichen Reden / damit in der Conversation Mangel würcklicher Aufwartung gleichsam ersetzet und vollgefüllet wird" (C. Weise 1677/1683: 161). Das Prinzip der Nützlichkeit betraf die Unterrichtsgegenstände, das der Einfachheit die Unterrichtsmethode. „Gott hat uns zu vernünfftigen Menschen gemacht", stellte Weise fest, „daß wir etwas kluges dencken und etwas kluges reden sollen. Drum will ich hoffen / die Mittel / dadurch so wol die Gedancken / als auch die Reden dirigiret werden / müssen so beschaffen seyn / daß ein jedweder Mensch dieselbigen leicht ergreiffen kan" (C. Weise 1702: Vorrede). Zur Einfachheit gehört aber nicht nur eine leichte Faßlichkeit, sondern vor allem ein hoher Anwendungsgrad, damit möglichst viele Fälle durch möglichst wenige Regeln eine Erklärung finden können. Einige herkömmliche Methoden, schreiben und reden zu lehren, konnten diesen Ansprüchen nicht genügen. Noch im 17. Jahrhundert war es üblich, schreiben dadurch zu lehren, daß man den Schüler Muster, sog. Formulare, abschreiben ließ. Diese Leute „machen / wie man zu reden pflegt / Männchen gegen Männchen", meinte Weise. „Wie der Hochzeit-Brieff / der GevatterBrieff / der Condolenz Brieff aussieht: den sie vor sich haben / so wird die Coppey nach dem Original gemacht: Nur daß die Nahmen / der Ort / nebst den andern Umständen etlicher Massen verändert wird" (ebd.: 7 f.). Das Verfahren selbst ist überaus einfach, doch seine Anwendung höchst aufwendig: „Inmittelst wer den freyen Stylum in Politischen und Familiar-Briefen auf diese Manier und durch lauter abgeschriebene Concepte fortzusetzen
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gedencket / der wird so viel Sachen und so viel Umstände finden/dar2u er eine ganzte Bibliothec voller Formuln von nöthen hätte" (ebd.: 9). Eine andere, an den Schulen damals übliche Methode bestand in der „Imitation" von Vorbildern. Imitation bedeutete nicht Abschrift, wohl aber Nachschrift. Ein Zeitgenosse hat das Verfahren so beschrieben: „das heisset imitiren / wenn man eine Rede resolviret (zerlegt O. L.) in seine Partes, und genau nachsiehet / wo der Autor die Argumenta eines jeden Partis hergenommen habe / wie er seine Sache probirt / illustrirt / u. amplificirt habe / hernach ein gleichmäßiges Thema erwehlet / und aus eben diesen fontibus, mit eben dergleichen Argumentis seine Proposition beweiset / amplificirt und illustrirt" (C. Schröter 1704: 83; vgl. auch A. Bohse 1700: 886). Weise lehnte die Beachtung guter Exempla nicht rundweg ab, doch schien ihm die Imitation als Lehrverfahren wenig geeignet, da „man gantze Formuln und gantze Redens-Arten aus andern Schrifften zusammen klaubt / die hernachmals weder mit der Sachen / davon wir reden wollen / noch mit unserem Ingenio recht übereinstimmen" (ebd.: 293; vgl. auch 29). Weise suchte nach einer Methode, die gleich zwei Tugenden vereinen sollte. Auf der einen Seite sollte sie möglichst einfach sein, damit sich ohne Schwierigkeiten nach ihr lernen ließ, auf der anderen Seite mußte sie flexibel genug sein, um auf alle möglichen Fälle Anwendung finden zu können. Einfach ist nach Weise eine Methode, wenn alle Bestimmungsstücke aus der Sache selbst, um die es geht, gewonnen werden: „Dannenhero bin ich nunmehro von langen Jahren her mit dieser Resolution wohl fortkommen / daß ich die gantze Kunst in etwas gesucht habe / darbey die vornehmsten Tugenden eines galanten Briefes (...) stets ei natura rei, aus der nothwendigen Erforderung der Sache selbst heraus geflossen sind" (ebd.: 30). Flexibel ist eine Methode, wenn sie der Urteilsfähigkeit, dem „Judicium" des Redners, freien Raum läßt. Weise unterschied ein „externes" von einem „internen iudicium": „Es darff aber bey den Worten nicht nur judicium internum seyn / daß man die Sache kennt / die unter dem Worte soll bezeichnet werden; sondern das Judicium externum muß auch darzu kommen (...): das heist / wenn man bedencket: wer redet? zu wem er redet? warum er redet? mit was vor einem Affect er redet?" (ebd.: 275). Weise nimmt damit die Lehre von der Angemessenheit (aptum) aus der antiken Rhetorik (vgl. G. Ueding 1976: 225 ff.) wieder auf.
Die sogenannten Weisianer Weise hatte viele Schüler und hat Schule gemacht, wie kaum ein anderer in der Geschichte des Aufsatzunterrichtes. Einige seiner Zittauer Zöglinge sind später als Pädagogen bekannt geworden. Doch nicht nur sie, sondern auch andere zeitgenössische Pädagogen haben Weises Ideen aufgenommen und
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verbreitet. Zu ihnen zählen August Bohse, genannt der Talander (1700, 1706, 1708), Christian Schröter (1704), Christian Juncker (1708), Erdmann Uhse (1709), Johann Hübner (1712), Hieroniymus Freyer (1736) und viele andere. „Was Christian Thomasius für die Universitäten, bedeutet Weise für die Schulen" (A. Heubaum 1905: 40). Von dem Selbstbewußtsein der sog. Weisianer zeugt das Glückwunschgedicht eines Schülers auf den Meister: „Schreibt / ihr / Neider / was ihr wollet / gebt ihm eines an das Bein: Weise wird wohl Weise bleiben / weil viel Weisianer seyn. Weisiana Methodus ist ein Werck zu unseren Zeiten / Wornach junge Leute sich in viel Schulen zubereiten" (Zit. bei H . A . Horn 1966: 174) Bis etwa 1720, also noch lange nach Weises Tod (1708), beherrschten seine Ideen ziemlich unangefochten das pädagogische Feld. Bald nach 1720 setzte dann die Kritik an Weises Lehre ein, plötzlich und heftig. Doch noch 1729 mußte Gottsched feststellen, daß Weise, der „berühmte Schulmann in der Lausnitz", „theils durch seine Schrifften, theils durch seine Schüler, die großentheils wieder Schul-Männer geworden, fast über alle deutsche Trivial und hohe Schulen in der Redekunst die Herrschaft bekommen" (C. Gottsched 1729:42) habe. In der Zwischenzeit hatten die Schüler und Epigonen Weises aus der Fülle der Ideen und Anregungen des Meisters ein Lehrsystem gemacht. Man sagt wohl nicht zu viel, wenn man feststellt, daß Weises Absichten in einer gewissen Hinsicht in ihr Gegenteil verkehrt worden sind. Weise hatte sich Zeit seines Lebens gegen jeden Formalismus und alles Mechanische des Unterrichtes gewandt: „Es ist kein größerer Verderb bei der Jugend als wenn sie mit ihrer Lektion nicht viel anders als die Papageien aushalten müssen. Drum wenn sie auf die Sprünge kommen und die rechte Formel hören, darein die Fragen eingerichtet sind, so können sie ein Geschrei machen, daß die Eltern im Examen vor Freuden sterben möchten" (zit. bei A. Heubaum 1905: 37). In dem Maße, in dem die vielen produktiven Vorstellungen, die Weise von einem lebendigen Unterricht entwickelte, der Systematisierung unterzogen wurden, haben sie an Leben verloren und sind allmählich zu leeren Formen geworden. Aus den „curiösen Gedancken" des Meisters wurde eine öde „Schuloratorie" (vgl. dazu den nächsten Abschnitt).
3. Die Grundformen der Rede Für Weise und seine Schüler galt das Primat der Methode. Er hat eine Methode entwickelt, die es ihm nicht nur erlaubte, die einzelne Redeform zu bestimmen, sondern aus einer Form — sozusagen einer Urform — alle
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übrigen Formen abzuleiten. Man wird seine Methode am besten verstehen, wenn man einen Blick auf denjenigen wirft, der die Methode zur Grundlage des neuzeitlichen Denkens gemacht hat: Descartes. In seinem „Discours de la Methode" aus dem Jahre 1637 hatte Descartes vier Regeln aufgestellt, nach denen die Wahrheit zu finden sei. Mir ist nicht bekannt, ob Weise diese Schrift gekannt hat. Doch finden sich zwischen dem Verfahren, das Weise praktizierte, und den vier Regeln des Descartes so viele Entsprechungen, daß es nahe liegt, dies anzunehmen. Die erste Regel des Descartes lautet: „niemals etwas als wahr anzunehmen, wenn ich nicht sicher erkenne, daß es wirklich wahr ist, d. h. mich aufs sorgfaltigste vor Übereilung und Vorurteil zu hüten und nur das in mein Wissen aufzunehmen, was sich meinem Verstände so klar und deutlich darstellte, daß ich keinerlei Anlaß hatte, daran zu zweifeln" (Descartes 1637/ 1924: 28). Diese Regel ist mit Weises Vernunftsprinzip, wie es oben dargestellt worden ist, identisch. Sie ist Grundlage seines Denkens. Die zweite Regel läßt erkennen, wieso die antike Form der Chrie (vgl. Vorgeschichte) zum Hauptstück der Redekunst von Weise werden konnte: „jede schwierige Frage, die ich untersuchen würde, in so viel einzelne Teile zu zerlegen, als zu einer vollkommenen Lösung erforderlich wäre" (ebd.). Von allen rhetorischen Vorübungen (Progymnasmata) war die Form der Chrie am eindeutigsten definiert, und zwar dadurch, daß sie in acht Teile zerlegt und die Reihenfolge der Teile genau festgelegt worden war. Weise brauchte also nur aufzugreifen, was in den Lehrbüchern stand. Allerdings nahm er eine Veränderung vor, ganz im Sinne der ersten Regel. Er fragt, ob wirklich alle acht Teile notwendig seien, und kommt zu dem Ergebnis, daß sich einige von ihnen zusammenfassen lassen, so daß schließlich nur noch vier Teile übrig blieben. So konnte er voller Genugtuung feststellen: „Und dieses ist die Ursache / warumb ich so gar übel leiden kan / daß in Schulen hin und wieder eine grosse Nothwendigkeit von allen 8. Stücken gemacht wird / so gar / daß mancher sich eher ein Ohr abschneiden Hesse / als daß er sich erkühnete / eine Chriam absque laude Autoris (ohne das Lob des Autors O. L.) und so denn ohne die übrigen Stücke ( . . . ) zu schreiben" (C. Weise 1677/1683: 37). Die dritte Regel des Descartes dürfte für das Verständnis des Weiseschen Verfahrens die wichtigste sein: „meine Gedanken stets in eine gewisse Ordnung zu bringen, indem ich mit den einfachsten und am leichtesten faßlichen Gegenständen begann, um stufenweise nach und nach zur Erkenntnis des Verwickelteren zu gelangen, und eine gleiche Ordnung mit den Dingen selbst anzunehmen, selbst wenn sie nicht von Natur aus in einem Folgeverhältnis stehen" (Descartes 1637/1924: 28). Descartes hatte das Verfahren bei den Geometern kennengelernt. „More geometrico" geht auch Weise vor. Für ihn ist die Chrie die einfachste Form und damit die sprachliche Grundform, aus
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der alle weiteren Formen abgeleitet werden können. Von den vier konstitutiven Teilen einer Chrie hat er letztlich nur zwei für unentbehrlich gehalten: die Behauptung und ihre Begründung, mit seinen Termini: die „Proposition" und die „Aetiologie". Er kommt damit wieder auf eine alte, von Aristoteles vorgenommene Bestimmng der Rede zurück: „Es gibt (...) zwei Teile der Rede: Man muß nämlich den Sachverhalt, um den es sich handelt, darlegen und schließlich den Beweis zu dem Gesagten antreten" (Aristoteles III, 13/ 1980: 202). Nicht unwichtig für die Rolle, die die Chrie bei Weise spielen sollte, ist die Tatsache, daß er keine Veranlassung sah, die Reihenfolge der Teile einer Chrie festzulegen. Weise gibt sie frei und schafft damit die Voraussetzung für alle möglichen Kombinationen. Nun lassen sich aber nicht alle übrigen Redeformen ohne weiteres aus der Chrienform ableiten, auch wenn sie durch Reduktion der Teile den größtmöglichen Grad an Einfachheit und durch die Freigabe der Reihenfolge der Teile Beweglichkeit erhalten hatte. Weise mußte drei weitere Grundformen der Rede einführen, die als Erweiterungen (amplificationes) der Chrie deklariert und gerechtfertigt werden: (1) Der „oratorische Syllogismus" besteht aus einem Satz (Proposition) und einer Begründung (Aetologia), ist also letztlich mit der reduziertesten Form der Chrie identisch. Der oratorische Syllogismus unterscheidet sich von dem „logischen" durch die Tatsache, daß er keine notwendige Gültigkeit beansprucht, sondern nur eine wahrscheinliche. (2) Die Sequenz „Thesin & Hypothesin" besteht aus einem Satz (Proposition) und einer Erläuterung (Application). Hallbauer hat den Sinn einer solchen Form so klar gemacht: „wenn einer eine Parentation (Trostrede), eine Vermählungs, Landtags, Einweihungs- und andere dergleichen Reden halten sollte; wenn er in einem Carmine, in einer Inscription, in einem Briefe, der gedruckt werden soll, condoliren oder gratuliren wollte: so würde es all zu kurz abschnappen, wenn er nur bey dem Hauptvortrage, ich condolire, gratulire, dancke, etc. bleiben und mehr nichts sagen wollte: daher wird er gleich auf den Gedancken gerathen, noch einen anderen Satz, durch welchen der Haupt-Vortrag erläutert werden könne, zu Hülfe nehmen" (F. A. Hallbauer 1725: 452). (3) Die Sequenz „Antecedens & Consequens" besteht, wie schon der Name sagt, aus einem Vor- und einem Nachsatz. Doch zwischen beiden muß eine logische Relation herstellbar sein: Frage — Antwort, Anlaß — Absicht, Grund — Folge oder dergleichen. Hallbauer hat für diese Form ein schönes Beispiel gegeben: „Adam, als er sich selbst mit Eva trauete, hatte seine Vermehlungsrede bereits per antecedens & consequens disponiret, 1. Β. M. 2, 23.24. Antecedens: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Consequens 1. Man wird sie Männin heißen, darum, daß sie vom Manne genommen ist. Consequens 2. Darum wird ein Mann sein Vater
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und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen. Consequens 3. Und sie werden seyn ein Fleisch" (ebd.: 443; im übrigen vgl. die Ausführungen zu den Briefen im nächsten Abschnitt). Die Formen (2) und (3) weisen die Struktur einer „umgekehrten Chrie" (chria inversa) auf. Aus der Basisform, wie wir die Chrie nennen können, und den drei Ergänzungsformen glaubte Weise nun alle übrigen Redeformen ableiten oder generieren zu können. Dies entspricht der vierten und letzten Regel des Descartes: „sowohl bei Erforschung des Wesens einer Sache als auch bei Betrachtung aller im einzelnen sich ergebenden Schwierigkeiten so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu geben, daß ich mich gegen die Möglichkeit sicherte, etwas zu übersehen" (Descartes 1637/1924: 28). Weise hat natürlich solche „Aufzählungen" und „Übersichten" nicht geben können und ist darum der Nachwelt den Beweis für die Tauglichkeit seines Verfahrens schuldig geblieben. Doch der Versuch an sich, „more geometrico" ein System aller Redeformen zu entwerfen, ist, auch wenn er scheitern mußte, interessant genug, um ihn nicht in Vergessenheit fallen zu lassen. Die meisten Schüler von Weise haben den Rahmen, in dem sich seine Vorstellungen bewegten, nicht verlassen. Doch einige versuchten, den Meister zu übertreffen, und haben seine — durchweg doch recht unsystematisch vorgetragenen Ideen in eine Ordnung bringen wollen. So teilte Erdmann Uhse (1709/1712: 181 ff.) die Chrien in zwei Klassen ein. Jede Klasse wird dann wieder unterteilt, die erste in die „Chria Aphthoniana" und die „Chria Practica", die zweite in die „Chria ordinata" und die „Chria inversa". Damit nicht genug. Die „Chria Aphthoniana" zerfällt in drei Untergruppen (verbalis, activa und mixta), die „Chria inversa" in zwei (Antecedens & Consequens und Thesin & Hypothesin). Man entdeckte immer weitere Varianten der Chrienform, und je mehr man entdeckte, umso unglaubwürdiger wurde die ganze Theorie. Pedantische Unterscheidungen machten sich breit. Nicht erst uns kommt es komisch vor, wenn damals allen Ernstes von einer „Chria perversa" gesprochen wurde. Auch Zeitgenossen dachten ähnlich. So fragte ein Kritiker spöttisch an: „warum nicht auch perplexam & confusam" (J. J. Schatz 1734: Vorrede). Mit den Unterscheidungen ging ein Formalismus einher, der seinesgleichen suchte. So wurde Weises deutsche Oratorie von seinen eigenen Schülern zugrunde gerichtet.
4. Die oratorischen Übungsformen Der Gedanke, schriftliche Übungsformen im Unterricht an den Schulen zu verwenden, stammt aus der Spätantike. Die ersten oratorischen Übungsformen waren die sog. Progymnasmata (vgl. Vorgeschichte). Einige dieser
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„rhetorischen Vorübungen" sind auch noch im 17. und 18. Jahrhundert gepflegt worden. So empfahl Weise für den Elementarunterricht, die Kinder erzählen zu lassen: „Und wenn wir an eben dieses Donum referendi gedencken sollen / so ist es gut / wenn man also bald bey den Kindern zweyerley zu exerciren vor sich nimt. Erstlich müssen sie gewohnen / daß sie alle Tage zu gewisser Zeit nicht nur Historien erzehlen / die sie vielleicht aus einem Buch genommen und halb auswendig gelernet haben: sondern daß sie alsobald mit einer guten Manier sagen können / was in dem Hause / was auf der Gasse / bey der Hochzeit und sonsten vorgegangen ist / was der Priester auff der Cantzel / was der vornehme Mann bey dem Gast-Gebothe / was der gute Freund beym Spatziren / u. s. w. geredet hat / ( . . . ) . Zum anderen müssen sie angehalten werden / daß sie alle Tage was aus dem Kopfe schreiben / ob es gleich vielmahl geringe Bagatellen in der Haushaltung / oder sonsten andere KinderPossen betrifft" (zit. nach H . A . Horn 1966: 105f.). Außer den Erzählungen finden sich an tradierten Vorübungen noch Fabeln, Beschreibungen und natürlich Chrien, von denen bereits die Rede war. Für den Rhetorikunterricht an den Schulen des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts ist es jedoch charakteristisch, daß sich dieser nicht auf die rhetorischen Vorübungen beschränkte, sondern auch die rhetorischen Redeformen selbst mit einbezog. Sie waren sein eigentlicher Gegenstand. Es handelte sich um Reden, Briefe und Gedichte (Carmina). Schulreden Der Rhetorikunterricht hat natürlich das Ziel, die Schüler im Reden und Redenhalten zu üben. Doch Weise wollte Schüler nicht zu Rhetoren ausbilden: „Damit ich aber nicht auf unnütze Sachen komme / die in vita communi hernach keine Belohnung finden / so mag ich mit denselben Leuten nichts zu thun haben / die sich in ihren Philologischen Entzückungen verirren / daß sie sich ein neues Rom oder ein neues Athen einbilden / und also die Jugend mit aller Gewalt dazu bringen wollen / wie sie den Roscium auf allem Falle defendiren / oder den Verrem verklagen sollen / ungeachtet sie wol wissen / daß unterdessen viel nöthige Übungen / so wol in andern disciplinen / als auch in der Oratorie selbst versäumet werden" (C. Weise 1684: 631). Weise unterschied also zwischen den feierlichen Reden der Rhetoren und den Schulreden. Schulreden sind für ihn Übungsformen, die nicht unbedingt aus dem Leben genommen sein müssen. „Also komme ich nun auf die gantze Oration", schreibt er, „nicht als meinete ich junge Leute zu bereden / daß sie dergleichen Schul-Orationes dermahl eines im gemeinen Leben würden zu verfertigen haben; Sondern weil dieses ein bequemes Mittel ist / wodurch
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nicht allein die Ordnung im Reden wol erkennet / sondern auch die Zierlichkeit im stylo wol geübet wird" (C. Weise 1677/1683: 133; vgl. auch 2). So wie er die Chrienform vereinfachte und auf eine einfache Grundstruktur zurückführte, so ging er auch bei den Schulreden vor. Das Muster einer förmlichen Rede, wie es aus der Antike übernommen war, sah folgende Teile vor: (1) die Einleitung (exordium), (2) die Darstellung des Sachverhaltes, um den es in der Rede geht (narratio), (3) die These oder der Hauptsatz (propositio), (4) die Beweise für die Richtigkeit der These (confirmatio), (5) die Widerlegung entgegenstehender Argumente (refutatio) und (6) den Schluß (conclusio). Weise faßte wieder einige Teile zusammen: die Narratio wird der Einleitung oder der Proposition zugeschlagen, Confirmatio und Refutatio werden zusammengenommen und erhalten einen neuen Namen. Man spricht von nun an von der „tractatio", zu deutsch „Abhandlung". Da Einleitung und Schluß nicht unbedingt notwendige Stücke sind, konnte Weise das tradierte Schema auf zwei Hauptteile reduzieren: „Was nun die Orationes betrifft / welche insgemein der Jugend zu guter Erbauung auf den SchulCathedern gehalten werden / so bestehen solche aus zwey Stücken; Die heissen / Propositio und Tractatio. Propositio stellet dem Zuhörer vor / was er in der Rede zu gewarten hat. Tractatio handelt dasselbe in gewissen Stücken ab" (ebd.: 133). Wie man sieht, ist das Grundmuster einer Rede (propositio -(- tractatio) mit dem der Chrie (propositio + aetiologia) identisch. Denn sowohl bei der Tractatio als auch bei der Aetiologia geht es um Begründungen. In diesem Fall kann Weise also nachweisen, daß in der Tat eine bedeutsame Redeform von der Grundform der Chrie ableitbar ist. Ob und inwieweit die Schüler bei der Abfassung ihrer Schulreden tatsächlich solchen Vorstellungen gefolgt sind, welchen Einfluß diese auf den Unterricht in der Rhetorik hatten und welche Schulen ihnen überhaupt zugänglich waren, läßt sich heute nicht mehr ausmachen. Mir sind lediglich zwei Reden von Schülern in deutscher Sprache bekannt. Beide gehören zu einem Schulactus, der 1695 in Braunschweig zur Einweihung eines neuen Schulgebäudes aufgeführt und ein Jahr später gedruckt wurde (Frischlinus 1696). In dem Schulactus stehen sie neben einer Rede in französischer und mehreren anderen in lateinischer Sprache. O b man solche Reden als Schulreden im eigentlichen Sinne des Wortes bezeichnen kann, steht dahin. Daß es sich um Arbeiten aus Schülerhand handelt, geht aus dem Vorwort des Rektors hervor. Sie dürften also zumindest einen Eindruck davon geben, wozu damals Schüler in der Lage waren. Die 5. Rede, der Vortrag eines Levinus Otto Lautitz aus Wolfenbüttel, gibt sich — bedingt durch den dramatischen Zusammenhang — als Ansprache an den Vorredner. Es lag darum nahe, daß sich der Verfasser in der Einleitung (exordium) an diesen wandte: „Mein Freund / du seyst wer du seyst / wer
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hat dir die Macht gegeben in unser Gelach zu reden / und dich in diese Compagnie einzuflicken? Ich weiß nicht wer du bist / ich kenne dich weder vom Gesichte noch von dem Namen. ( . . . ) Was ist das für ein Schulfüchsischer Discurs, den du führest? Wie reimt sich deine Rede zu unserm Weinglase? In Zechen muß man lustig seyn / und um kahle Schul-Grillen sich nicht bekümmern". Die Rede selbst ist als Lobrede auf den Soldatenstand zu bestimmen. Der Autor führt den Gegenstand seiner Rede so ein: „Du begehrest zu wissen / was es in dieser Stadt für einen Zustand um die Schulen habe / ob auch das studiren noch in voriger Achtung sey" und fügt zugleich seine Antwort an: „Mein! weistu denn nicht / daß es itzund Krieg ist? da man die Feder nicht hinter das Ohr / sondern auf den Hut stecket. Die Zeiten sind jetzund gantz anders als damahls / wie dein Sammet-Krage noch etwas galt". Die Narratio, wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, und der Hauptsatz, die Propositio der Rede, scheinen hier miteinander vereinigt zu sein. Es folgt die eigentliche Tractatio, die Ausführung des Hauptsatzes. Zunächst geht der Verfasser ausführlich auf seine Zeit ein: „Wer kümmert sich itzt viel um Latein / womit die Welt vor Zeiten gequälet wurde? ( . . . ) Jetzund stecket man die Nase nicht in die Bücher / sondern in ein Bier-Glaß. Das gibt rechte Tapferkeit / womit man der Welt dienen kan. ( . . . ) Wer itzt ein wenig Frantzösisch kan / die exercitia mit der Musquet zu machen weiß / und zu rechter Zeit (wer da?) zu ruffen gelernet hat / der kan sich wol herdurch bringen. ( . . . ) Ein Soldat ists / der die Erde heute zu Tage unterstutzet wie der Atlas den Himmel. Der hat itzund aller Orten das prae. Da bücket sich der Bauer / da demüthiget sich der Bürger / alle erkennen ihn vor ihren Oberherrn. Und meines Erachtens verdienet mans wol. ( . . . ) Meynestu daß man sich im Felde hinter einen Pult verkriechen könne / oder eine Schutt (Befestigungswall O. L.) von alten Glossen an statt der Schantz-Körbe aufwerffen? Nein / mein Freund. Man muß seine Brust bloß dahin stellen / ob gleich mehr Kugeln in den Lüfften fliegen / als Grillen in deinem philosophischen Kopffe herum schwärmen. Hie werden andere Buchstaben gemahlet / die man sein Lebtag nicht auswischen kan." Dann kommt der Verfasser zu einem weiteren Punkt seiner Ausführungen: „Darum läufft ein jeglicher dem Kalb-Fell nach / und wil gern ein Soldat seyn. Und wer wil es uns verdencken / daß wir die Bücher frühzeitig unter die Banck werffen / und eine Musquet ergreiffen? Denn der Respect ist groß / so ist die Annehmlichkeit noch tausendmahl grösser / die man im Kriege genießet ( . . . ) . " Der Hauptteil, die Tractatio, scheint nach dem Schema von „antecedens & consequens" konzipiert zu sein. Den Beschluß, die conclusio, bildet ein irrealer' Wunsch: „Wenn mir das Glück wäre so günstig gewesen / daß ich die Herrschaft über ein Strich Landes bekommen hätte / ich hätte schon vorlängst alle Bücher ins Feuer
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geschmissen / und aus den Schulen Pferde-Ställe gebauet. Ich wolte es gemacht haben / wie ehmahls die Thüringischen Bauern in ihrem Kriege / wovon ich mir habe erzehlen lassen / daß sie die Bibliothec aus dem Kloster Walckenried in die sumpfftichten Pfützen geworffen / damit sie bey nassem Wetter trucknen Fusses hinüber lauffen möchten. Die haben es recht gemacht. Wolte Gott! daß alle Herren so gesinnet wären / und was noch übrig ist von Schulen auf einmahl abschaffeten / so würde man bald bessere Armeen können ins Feld stellen / und die Regimenter viel eher recroutieren. Ο gewünschtes Leben das Soldaten-Leben!" Ausarbeitungen in Briefform Die Ansprüche, die an die Abfassung von Briefen gestellt wurden, sind gegen Ende des 17. Jahrhunderts angehoben geworden. Christian Schröter erinnerte daran: „heute zu Tage ist die Welt so gelehrt und lüstern geworden / daß sie für den alten Formuln einen nicht geringen Abscheu hat / und denselben schwerlich vor einen gelehrten Mann schätzet / der noch auf der alten Leyer eines hermachet" (C. Schröter 1704: 251). Die Tatsache allein war Anlaß genug, Kinder und Jugendliche in der Schule Briefe schreiben zu lassen. „Zwar muß man wohl Lehrlinge anfangs nothwendig auf solche Weise", gemeint ist das tradierte Lehrverfahren der Imitation, „connectiren lassen: allein / wenn sie hierinnen gewieget / muß man sie auch ohne diese Connexionibus-Formuln einen Brief schreiben lassen / damit doch künfftig ein Unterschied seye unter denen Briefen eines Gelehrten und Cantzley-Schreibers" (ebd.: 251 f.). Man war jedoch der Auffassung, daß nicht alle Arten von Briefen auch Gegenstand des Unterrichtes sein müßten. „Familiäre Briefe", wir würden heute sagen: Privatbriefe, und „Antwortschreiben" seien so frei in ihrer Anordnung, daß sich genaue Anweisungen darüber erübrigten (C. Weise 1702: 95 ff. und 190 ff.). Rhetorisch aufgeputzte Briefe brauchten Schüler nicht zu lernen (ebd.: 213 ff.). Für alle übrigen Briefe jedoch empfahl man eine bestimmte Anordnung (Disposition). Christian Weise hat in seinen „Curiösen Gedancken von Deutschen Briefen" (1702) eine Anordnung vorgeschlagen, die zumindest in seiner Schule kanonisch geworden ist. „Zwei Stücke" seien in einem ordentlichen Briefe „unvermeidlich": „Vor eines nennet man die Gelegenheit: dadurch man veranlasset wird / etwas zu begehren oder zu schreiben: Darnach eröffnet man die Gedancken / was man durch solche Veranlassung haben will" (ebd.: 31). Also: „Ich werde Hochzeit haben. Drum bitte ich / er wolle mein Gast seyn. Ich suche Beförderung. Drum bitte ich / er wolle mich dem Patron recommendiren. Ich höre sein Patron ist gestorben. Drum habe ich Anlaß nehmen wollen / demselben zu condoliren. Die Rede gehet als wenn vornehme
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Leute bey ihm durchgezogen wären. Drum bitte ich / er wolle mich berichten / wer sie gewesen seyn" (ebd.: 32). Weise macht darauf aufmerksam, daß diese Form eine der drei Grundformen ist, die die Chrienform als Basisform ergänzten. Die Gelegenheit oder Veranlassung ist das „Antecedens" und das, was „man haben will", die „Consequens". Zu den beiden notwendigen Stücken kommen noch drei fakultative, als erstes „eine genaue Erklärung / warum eben das andere aus dem ersten folgen sol" (ebd.: 34). Weise nennt dieses Sütck eine „Connexio". „Denn gesetzt: einer wolte schreiben: Ich bedarf Geld für Büchern: Drum bitte ich / er wolle mir solches vorstrecken. So kan der andere fragen. Warum sol ichs thun? Warum sucht er nicht andere Leute / die sich vielleicht zum Geld-geben etwas besser verstehen. Und eben dieses kan bey den obengesetzten Exempeln gefraget werden: Warumb soll ich eben zur Hochzeit kommen? Warum soll ich Seinetwegen an den Patron schreiben? Warum hat mich Der eben zu condoliren? u. d. gl." (ebd.: 34 f.). Ein Brief mit einer Connexion sähe dann folgendermaßen aus: „Antecedens. Ich werde Hochzeit haben. Connexio. Wenn ich denn seiner Freundschafft bißhero vielfaltig versichert worden. Consequens. Als bitte ich / Er wolle mein Gast seyn" (ebd.: 36). „Endlich wenn der Brieff seine vollkommene Gestalt gewinnen soll / so muß solche mit einer manierlichen Complimente wohl angefangen und geschlossen werden" (ebd.). Weise spricht von einer „Initial-" und einer „Final-Complimente". Also besteht ein vollständiger Brief aus fünf Stücken: einem Initialkompliment, dem Antecedens, der Connexio, einem Consequens und schließlich einem Finalkompliment. Den Umständen entsprechend kann dies Grundmuster an den verschiedensten Stellen erweitert werden. Ich bin nicht in der Lage, sagen zu können, ob die Ausarbeitungen der Schüler damals nach dem Weiseschen Schema gearbeitet waren. Ich habe keine einzige Schülerarbeit in Briefform aus dieser Zeit gefunden, lediglich in einem Schulprogramm aus dem Jahre 1860 eine kurze Beschreibung des Inhaltes einiger Schulbriefe und des Kontextes, in dem sie standen. (Die Briefe selbst sind im letzten Weltkrieg verbrannt.) „Wir erwähnten schon oben", heißt es in der Beschreibung, „der Briefform, welche wenigstens einige Jahre hindurch (von 1702 bis 1704) nach den vorliegenden Arbeiten in unserer Sammlung nicht ungeübt gelassen wurde und zwar sowohl in deutscher als in lateinischer Sprache. Diese Briefe erscheinen jedesmal als ein sog. actus epistolicus, als eine Correspondenz verschiedener Personen über einen bestimmten Gegenstand, und während einige sich auf Themata des gewöhnlichen Lebens beziehen, wie die von einem Sohne wider Willen des Vaters vorgenommene Veränderung seiner Studien, — auf den Abgang eines Sohnes zur Universität, — auf einen Todesfall (Condolenzbrief), — auf ein erbetenes Darlehn, — auf die Empfehlung zu einer Stelle, — auf die Behänd-
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lung eines jungen Studirenden von Seiten seines Hofmeisters; — so findet sich in anderen auch ein geschichtlicher Stoff behandelt" (G. Τ. A. Krüger 1860: 12).
Gedichte (Carmina) Carmina, Gedichte in lateinischer Sprache, gehörten seit dem 16. Jahrhundert zum Programm der lateinischen Beredsamkeit an den Schulen: „Neben den eigentlichen Schulreden spielten eine grosse Rolle die Carmina, die zu besonderen Gelegenheiten, am Ende der Prüfungen, an Festtagen, bei Hochzeitsfesten, bei Trauerfeierlichkeiten, vor allem, wenn es sich um angesehene Leute handelt, von den Schülern oder zuweilen von den Lehrern verfaßt werden" (P. Bartusch 1897: 155). Gedichte in deutscher Sprache, deutsche Carmina, lassen sich vereinzelt bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Schulen nachweisen (vgl. R. Möller 1881: 3), durchgesetzt aber haben sie sich erst gegen Ende, vor allem dann aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Es war das Werk von Christian Weise. „Weises ganz ernstlich gemeintes Streben war es, die deutsche Poesie als einen Lehrgegenstand in die Gymnasien einzuführen (...); es geschah, was er gewünscht hatte, er erzog ein Heer von Poeten" (Vilmar zit. nach A. Matthias 1907: 175 f.). Man muß jedoch berücksichtigen, daß unter Dichten etwas anderes verstanden wurde. Es kam nicht auf den Ausdruck innerer Zustände an: Empfindungen, Gefühle, Gedanken und was auch immer, sondern auf eine möglichst wirkungsvolle Form. Auch die Poesie war in erster Linie rhetorisch. Und so sollten mit den poetischen Versuchen der Schüler nicht Dichter im modernen Sinne erzogen, sondern einzig und allein ihre sprachlich-stilistischen Fähigkeiten erhöhten Ansprüchen ausgesetzt und auf diese Weise geübt und ausgebildet werden. „Die poetischen Exercitia müssen als Progymnasmata gerühmt werden, welche den Stilum in Prosa zu einiger Perfektion bringen lernen" (C. Weise nach A. Heubaum 1905: 39). Zur Eloquenz gehörte also nicht nur der Vortrag von Reden, sondern auch die Abfassung von Gedichten und, da die Ausbildung der Eloquenz das Ziel des Rhetorikunterrichtes war, waren die poetischen Arbeiten der Schüler notwendigerweise Teil des pädagogischen Programmes. Von den tausend und abertausend Gedichten, die Schüler damals geschrieben haben müssen, haben sich nur einige wenige erhalten. Man findet sie in Schulprogrammen (G. Τ. A. Krüger 1860; R. Möller 1881), einige in der Geschichte des Deutschunterrichts von A. Matthias (1907: 172 ff.), aber auch in Schuldramen, meist zwischen den einzelnen Auftritten als „Chorus", „Reihen" oder „Cantus" eingeschoben. Die künstlerische Form ist so unterschiedlich wie die Gegenstände. Religiöse Gegenstände, biblische wie theologische, forderten heiligen Ernst und
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weisen darum meist eine höchst kunstvolle Form auf. So heißt es in einer „Lobschrift auf Johannem den Täufer" (R. Möller 1881: 33): J ohannes der größeste unter den Menschenkindern, ist kleiner denn des Menschen Sohn, der Gott ist. Der größeste war ER schon, da ER kaum der Geringste war. Denn Er zeugete schon vom Licht, da er das Licht noch nicht sähe; Er predigte vom Wort, ehe er ein Wort reden konnte; Er war des Messiae Vorläufer, ehe er selbst gehen konnte; Er hieß seinen Vater schweigen, da er selbst noch stumm war; Er begrüßte der Welt Heiland, da er noch unter seiner Mutter Herzen war. Den die Alten mit viel tausend Thränen verlanget, den zeiget Er mit Fingern. Und so geht das Gedicht noch über viele Verse weiter. Kunstvoll, wenn auch nicht so angestrengt, waren auch die Gedichte in den Schuldramen. So findet sich in dem Schulactus aus Braunschweig, von dem oben bereits die Rede war, folgender „Chorus", ein Klagelied auf den Schulstand (Frischlinus 1969: 14 f.): Unseel'ger Stand! Gleich wie in Thal und Gründen Sich K o t h und Unflat finden / So kommt auf diese Frommen Mit Hauffen zugeschwommen Verachtung / Spott und Hohn aus unserm gantzen Land. Unseel'ger Stand! Unseel'ger Stand! Da man die Schuh anwischet / Dawider alles zischet / Und seine Zähne wetzet / Den auch der Bauer schätzet Geringer als ein Blat / das er im Kothe fand. Unseel'ger Stand!
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Unseel'ger Stand! Wer ists der deine Plagen Vermag all' herzusagen? Was deine Leute kräncket / Was auf ihr Unglück dencket / Ist mehr als Körnlein hat der gelbe Meeres Sand. Unseel'ger Stand! Unseel'ger Stand! Man siehts an Rheni (Name eines bekannten Grammatikers) Mützen / Wie ihm die Kleider sitzen. Seht durch den Strumpff die Hacken! Die Zähne durch die Backen! So ists mit deinem Volck / unseel'ger Stand / bewand. Unseel'ger Stand! Unseel'ger Stand! Du bist der Hefen worden Vor allen Bürger-Orden. Wer dich nur kennt auf Erden / Der wil kein Schuel-Fuchs werden / Er spricht: Behüt mich Gott für dem unseel'gen Stand! Unseel'ger Stand! Unter den überlieferten Schülergedichten sind die Gelegenheitsgedichte am besten vertreten. Vermutlich hat die Komik, die in ihnen zumindest für den heutigen Beobachter zutage tritt, anziehend gewirkt. Gelegenheiten, Gedichte vorzutragen, gab es allenthalben, zum Geburtstag eines Lehrers wie zu dessen Tod. Ein Geburtstagsgedicht hat folgenden Wortlaut: Ach gütiger Himmel, geuss Segen und Leben Auf unseren Lehrer von oben herab. Vermindre den Unmuth, vermehre die Stärke, Verhindre die Sorgen, befördre die Werke, Durch die er uns Nutzen, dir Ehre zu geben, Uns stärket, sich schwächet und bauet das Grab. Drum, gütiger Himmel, geuss Segen und Leben Auf unseren Lehrer von oben herab. (R. Möller 1881: 10) Zum Tode eines Lehrers wurde das folgende Gedicht vorgetragen: Ο über grosse Noth, Herr Rektor ist nun todt, Ihn, ihn muss ich beklagen Und recht von Herzen sagen,
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Ich fühle grosse Schmerzen. Umb ihn in meinem Herzen. Er hat gelehret mich Sehr gut und empsiglich, Gott woll es ihm belohnen Mit tausend Himmelskronen, Vor die vergossene Zehren Den Himmel ihn bescheren. (R. Möller 1881: 11) Es ist aber durchaus auch möglich, daß die Gelegenheitsgedichte damals tatsächlich unter den Schülergedichten am häufigsten vertreten waren. Denn die Gelegenheitsdichtung spielte im 17., aber auch noch im 18. Jahrhundert nicht nur am Hofe, sondern auch im bürgerlichen Leben eine bedeutsame Rolle, zumindest solange als man von Gedichten nicht einen möglichst authentischen Ausdruck von Gedanken und Gefühlen erwartete (W. Segebrecht 1976).
5. Zu Fragen des Stils Im 17. Jahrhundert gab es noch keine deutsche Stilistik. Eine solche ist erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts ausgebildet worden (vgl. Kap. V). Man kann sich die Schwierigkeiten, vor denen man damals stand, nicht groß genug vorstellen. Stilfragen wurden im Zeitalter der Rhetorik nur im Zusammenhang mit der Rhetorik behandelt. Die Stilistik war ein Teil der Rhetorik, identisch mit der Lehre von der Elocutio, der Lehre der sprachlichen Ausführung eines gedanklichen Konzeptes, wir würden heute vielleicht von der Lehre der Formulierung sprechen. Da die Vorstellungen der Rhetorik aus der Antike stammten und sich fast ausschließlich auf die lateinische Sprache bezogen, galt es folgende Aufgaben zu lösen: (1) Zu allererst durfte man sich nicht länger der Einsicht verschließen, daß die Lehre von der Elocutio, so wie sie überliefert wurde, keine universale, d. h. allgemein gültige Stilistik sein konnte, unabhängig von der Ausgangssprache und anwendbar auf alle Sprachen. Es war vielmehr eine auf das Deutsche zugeschnittene Stilistik zu entwerfen. (2) Man mußte auch sehen, daß es nicht ausreichte, die an der lateinischen Sprache entwickelten Regeln lediglich dem Deutschen anzupassen. (3) Schließlich galt es, eine Grundlage zu finden, auf der allererst bestimmt werden konnte, was ein guter Stil im Deutschen sei. In der lateinischen Stilistik der Zeit hatte man sich weitgehend darauf geeinigt, die Literatur des augusteischen Zeitalters, vor allem aber Sprache
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und Stil Ciceros, als Richtschnur für einen guten lateinischen Stil anzusehen. Für das Deutsche gab es eine vergleichbare Einigung noch nicht, und konnte es auch nicht geben. Weder gab es eine Literatur, die den Rang oder auch nur den Anspruch auf Klassizität hätte stellen können, noch einen Autor, an dessen Sprache man sich hätte orientieren können. In den Fragen des Stils stand die deutsche Oratorie vor einem Neubeginn. Rückblickend kann man sagen, daß ihr zwar kein überzeugender Entwurf gelungen ist, sie aber eine deutsche Stilistik ein gutes Stück auf den Weg gebracht hat. Da die Voraussetzungen für eine normative Stilistik nicht gegeben waren, behalf man sich damit, die Güte einer sprachlichen Äußerung nach ihrem Zweck zu bestimmen. Man ging funktional vor. Der Kern der neuen Stilistik ist bereits in zwei Bemerkungen von Daniel Richter enthalten. Richter schrieb, „der Stylus" sei der beste, „der (...) mit usitatis vocabulis seine Gemütsmeinung anmuthig vorlegen und abbilden kan" (D. Richter 1660: 6), und: „Das Meisterstück eines Oratoris in Elocutione ist / wenn er alle seine animi sensus, und wovon er reden will / wol abbilden und so vormahlen kan / daß der Zuhörer oder Leser meine / er sey selbst darbey und sehe es" (ebd.: 110). „Abbilden" und „vormahlen" sind die beiden Stichworte. Ein Stil ist nach Richter dann gut, wenn er zweierlei erreicht: (1) wenn in einer Äußerung wirklich das zum Ausdruck kommt, d. h. „abgebildet" wird, was der Sprecher oder Schreiber zum Ausdruck bringen möchte, seine „Gemütsmeinung" oder seine „animi sensus"; (2) wenn dies in der Äußerung so zum Ausdruck kommt, daß es dem Hörer oder Leser anschaulich vor Augen steht, und zwar so, daß er „meine / er sey selbst darbey und sehe es". Christian Weise hat den bei Richter angedeuteten Gedanken systematisch ausgebaut. Er greift auf Vorstellungen zurück, die in der antiken Rhetorik in Zusammenhang mit der Lehre von dem „aptum" entwickelt worden waren (vgl. G. Ueding 1976: 225 ff.). Er spricht von einem „iudicium oratorium", einem oratorischen Urteil oder — besser — von der oratorischen Urteilsfähigkeit, die ein guter Stilist haben müsse, und unterscheidet, wie in der antiken Rhetorik, zwischen einem „internen" und einem „externen iudicium". Anders als in der antiken Rhetorik, in der das „iudicium internum" das angemessene Verhältnis der Teile zum Ganzen der Rede betrifft, bezieht Weise dieses auf die angemessene Bezeichnung eines Sachverhaltes: „Ists nicht wahr / so lange das judicium von der Sache / darauff das Wort ziehlet / noch zurücke bleibet / so lange kan man nicht versichert seyn / ob die Worte geschickt angebracht werden" (C. Weise 1702: 275). Ein „iudicium internum" besitzt also derjenige, der von der Sache, von der er sprechen oder schreiben möchte, etwas versteht und in der Lage ist, sie mit einem treffenden Wort zum Ausdruck zu bringen. „Intern" heißt dieses Urteilsfähigkeit wohl deshalb, weil es sich auf eine der sprachlichen Äußerung inhärente Eigenschaft bezieht.
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Das „iudicium externum", die äußere Urteilsfähigkeit beim Reden oder Schreiben, umfaßt verschiedene Momente: die Absicht des Redenden oder Schreibenden, die Berücksichtigung des Adressaten, zu dem oder für den man redet oder schreibt, den Anlaß und weitere Umstände. „Es darff aber", meinte Weise, „bey den Worten nicht nur ein judicium internum seyn / daß man die Sache kennt / die unter den Worten soll bezeichnet werden; sondern das Judicium externum muß auch darzu kommen / was durch die bißherige Gewogenheit in dem Verstände verändert oder eingeführet worden: das heist / wenn man bedencket: wer redet? zu wem er redet? warum er redet? mit was vor einem Affect er redet? der wird die Worte nicht nach dem Ursprünge / oder nach der Grammatica / sondern nach der Gewohnheit / und der Politica judiciren lernen" (ebd.). Diese Art von Urteilsfähigkeit im Reden oder Schreiben heißt wohl „iudicium externum", weil sie sich nicht auf Eigenschaften der sprachlichen Äußerung selbst, sondern auf Faktoren und Bedingungen bezieht, die bei ihrem Zustandekommen eine Rolle spielen. Nach Weise müssen also, um Termini zu gebrauchen, die heute in der Sprachwissenschaft gebräuchlich sind, sowohl grammatische und lexikalische Eigenschaften von Texten als auch die kommunikativen Bedingungen ihrer Produktion berücksichtigt werden, damit von einem guten Stil gesprochen werden kann. Der Begriff des Stils ist noch ganz auf die sprachliche Äußerung, den Text, bezogen und bezeichnet noch nicht eine Menge von Regeln. Der sprachliche Ausdruck war gut, der auf einem klugen Urteil gründete, dem Zweck entsprach und vor allem dem jeweiligen Adressaten angemessen war (dieser Aspekt wird von R. Nickisch 1969: 101 ff. nicht beachtet). Das nannte man damals „natürlich", und „Natürlichkeit" meinte durchaus schon auch „Ungezwungenheit": „Je natürlicher und ungezwungener man schreibet", meinte C. Juncker zum Briefeschreiben, „ je angenehmer ist ein Brief zu lesen" (C. Juncker 1708/1711: 139). Ein solches Stilideal entsprach dem Geschmack der Zeit, dem Pragmatismus der Pietisten sowohl als auch dem Rationalismus der Frühaufklärer. Es hob sich deutlich ab von dem bombastischen Schwulst, der sich in der Sprache der barocken Hofdichtung und noch mehr in deren bürgerlichen Imitaten breit gemacht hatte. Auch der sog. ciceronische Stil, der Stil der Gelehrten, mit seinen „weitläufigen" Sentenzen, später der Periodenstil genannt, stieß zunehmend auf Ablehnung, da er nicht mehr den Vorstellungen von Natürlichkeit im sprachlichen Ausdruck genügte. „Es wird vielmehr ein Vortrag viel leichter verstanden und daher auch lieber gehöret oder gelesen, worin sich zugleich eine geschickte Untermischung kurtzer Sätze findet: nicht zu gedencken, daß es nach dem heutigen Geschmack der Teutschen Welt überhaupt eine gar beliebte Gabe zu werden anfängt, wenn sich iemand nach aller Stücken kürtzer zu fassen und doch deutlich zu bleiben weiß" (H. Freyer 17366: 224).
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Der von Weise und seinen Schülern gepflegte Stil war aber bei allem Bestreben nach Natürlichkeit keineswegs so natürlich wie später bei Geliert, Lessing und Goethe. Es war ein Stil, der sich ausgesprochen weltmännisch gab: anschaulich, bildreich, gespickt mit Redensarten und geistreichen Bemerkungen, zuweilen auch grob und derb, aber nie langatmig und schon gar nicht langweilig, eher „nervös", wie man damals sagte, das Gegenteil des gelehrten Stiles. Es mag Zufall sein, daß die wenigen Prosastücke, die von Schülerhand aus dieser Zeit überliefert sind, einen ganz ähnlichen Stil aufweisen: nicht rhetorisch aufgeblasen, wie später im 19. Jahrhundert noch oft, keine gelehrte Langatmigkeit, aber auch noch nicht die ungezwungene Leichtigkeit, die die Texte im späten 18. Jahrhundert auszeichnet, dafür aber eine herzhafte und kraftvolle Sprache, wie man sie später nicht mehr in Schülerarbeiten finden wird. „Liegt man in Guarnison, so hat man faule Tage / Karten und Bier ist denn der beste Zeitvertreib", so eine Passage aus der Schülerrede von 1696, die schon mehrfach herangezogen worden ist. „Ist man auf dem Marsche, so tribuliret man den Bauern / fräget wo er die Schincken und Würste habe. ( . . . ) Kommt man ins Feld / da kan ich kaum alle Lust beschreiben. Da höret man die Paucken und Trompeten erschallen / die Trommel wird gerühret / bald gewinnet man eine Stadt / plündert sie / man machet Beute / und nimmt hinweg / was einem anständig. Wem wolte solch Leben nicht gefallen / das itzund in Europa und Asia durchgehende geführet wird? Traun wenn ich hieran gedencke / so wundert mich billig / warum nicht alle Leute die Pique ergreiffen / und in den Krieg ziehen" (Frischlinus 1696: 29).
6. Die Themen (Stoffe) Über die Themen der schriftlichen Ausarbeitungen, die die Schüler zur Zeit Weises und seiner Epigonen anzufertigen hatten, sind wir vergleichsweise gut unterrichtet. In den Lehrbüchern (Rhetoriken, Oratorien usw.) findet man überall Themenvorschläge, dazu oft von den Verfassern der Lehrbücher ausgearbeitete Muster (exempla). R. Möller (1878) hat Schulprogramme, G. Τ. A. Krüger (1860) eine umfangreiche Sammlung von Schülerarbeiten aus der Zeit zwischen 1687 und 1720 ausgewertet. Aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen ergibt sich das folgende Bild. Es dominieren in einem ganz erheblichen Maße die religiösen Themen. Daneben stehen Themen aus der Geschichte, Themen, die sich aus der Lektüre der klassischen Schriftsteller ergaben (ohne darum schon literarische Themen im heutigen Sinne des Wortes zu sein) und auch die ersten allgemeinen Themen, d. h. Themen, die sich allgemein mit menschlichen Fragen beschäftigen.
Die Themen (Stoffe)
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Ein großer Teil der religiösen Themen bezieht sich auf Stoffe aus der Bibel. Dabei kam es nicht immer auf die Erörterung religiöser Probleme an. Oft genügte es, wenn aus der Bibel lediglich der Stoff für eine Ausarbeitung gezogen wurde. Um ein Beispiel zu geben: „Man gebe den Schülern selbst Anlaß, dergleichen kleine Reden aufzusetzen, in welchen ein gewisses πάθος lieget. Ζ. E. man lasse sie fingiren, was Adam zu Eva gesagt, da er seines Falles gewahr geworden; wie Abel von seinem erzürnten Bruder auf dem Felde angeredet worden; was Jacob gesagt, da ihm seines Sohnes Rock, der mit Blut bespritzt gewesen, vorgezeiget worden; was Abraham gedacht, da er seinen Sohn schlachten solte usw." (J. J. Schatz 1734: Vorrede). Ein anderer Teil der religiösen Themen galt theologischen Fragen. Die Häufigkeit gerade der theologischen Themen läßt sich aus der Tatsache erklären, daß das Ziel des gesamten Unterrichts an den gelehrten Anstalten — nach der Formel des Straßburger Reformators Sturm — „sapiens atque eloquens pietas" oder, wie man übersetzen könnte, „Sachkunde und Darstellungsgabe im Dienste des evangelischen Glaubens" (P. Bartusch 1897: 118) war. Wie spitzfindig für unsere Begriffe gerade die Behandlung theologischer Themen sein konnte, zeigt die folgende Zusammenstellung. 1711 hatten acht Schüler am Gymnasium zu Insterburg über die Engel Reden zu halten: „1. über die Würde, den Nutzen und die Nothwendigkeit dieses Themas; 2. über die unendliche Güte Gottes, dass er die guten Engel so in ihrer Güte bestärkt, dass sie ewig gut bleiben und dies durch ihre Werke bezeugen (...); 3. Lob der guten Engel wegen ihrer zwar sehr grossen, aber doch beschränkten Weisheit und Heiligkeit; 4. schildert den Ursprung aller bösen Teufel, durch deren Anblick erschreckt, die Verehrer des wahren Gottes zeitig lernen sollen, das Böse zu meiden und sich wahrer Demuth zu befleissigen; 5. beschreibt die Werke und Ränke des Satans (...); 6. wendet die Lehre von den guten Engeln auf das Schülleben an, indem er unter dem Bilde der guten Engel die guten Schüler beschreibt (...); 7. stellt unter dem Bilde der bösen Engel die Sitten der schlechten Schüler dar (...); 8. dankt Gott für seine Wohltaten, namentlich für den Schutz der guten Engel" (R. Möller 1878: 12). R. Möller bemerkt dazu: „Zur Entschuldigung gereicht jenen alten Theologen freilich 1. der damals allgemein herrschende Formalismus, die Buchstabengläubigkeit, und 2. die Schwierigkeit, alle Jahre demselben Stoff neue Gesichtspunkte abzugewinnen und zwar nicht für e i n e Rede, sondern halbe und ganze Dutzende" (ebd.: 14 f.). Neben den religiösen, gab es, wenn auch erheblich geringer an Zahl, historische Themen. Die meisten wurden aus der alten Geschichte genommen, es gab auch einige aus der neueren Geschichte. „In einem langen deutschen Gedichte ( . . . ) aus dem Jahre 1694 von mehr als zehn Folioseiten ( . . . ) wird die ganze Reihe der Kriege Ludwigs XIV. von Anfang an bis auf die damalige Zeit durchgegangen" (G. Τ. A. Krüger 1860: 9). „Historische Themata haben
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Politische Beredsamkeit: Christian Weise und seine Schule
vor allem den Vorzug, daß der Lehrer auch im äußersten Fall nur den Inhalt, Fakta, Namen und Zahlen zu liefern braucht, die Verarbeitung des Gelieferten aber nie die Kräfte des Schülers übersteigt, die Form also ihm allein angehört und er nicht darauf angewiesen ist, ein fremdes Machwerk blos zu memorieren und herzusagen" (ebd.: 23). Bemerkenswert dürfte die Tatsache sein, daß auch die Zeitgeschichte nicht ausgespart wurde. So empfahl Daniel Richter als Quelle für die Ausarbeitungen der Schüler die „neuen Zeitungen": sie „seynd ( . . . ) die besten und nutzlichsten". Doch fühlt er sich verpflichtet hinzuzufügen: „sie fallen aber der Jugend / als welcher in gemein der Status dieses Seculi unbekannt / sehr schwer / und lassen sich auch nicht allemal ohne Gefahr schreiben / weilen sie offt als Schmähschriften scheinen" (D. Richter 1660: 66 ff.). Vereinzelt lassen sich quasi-literarische Themen bereits im 17. Jahrhundert nachweisen. Sie reichen von dem Vortrag ganzer Reden, über den Vortrag von Übersetzungen aus anderen Sprachen, bis zur entfaltenden Erörterung einzelner Sentenzen aus bekannten Werken. Häufiger sind allgemeine Themen. Gehen sie mehr ins Philosophische, so gehören sie, wie die literarischen, eher der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an. Im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts haben sie zumeist die Form der Explikation von allgemeinen Lebensweisheiten, wie sie sich in Redensarten und Sprichwörtern niederschlägt: „Wo der Zaun am niedrigsten ist, will jeder übersteigen", „Je ärger der Schelm, je besser das Glück", „Je magerer der Hund, desto mehr Flöh" usw. (vgl. G. Τ. A. Krüger 1860: 7). Die Themen lassen Rückschlüsse zu auf die Stoffe, die damals als geeignet für die schriftlichen Ausarbeitungen der Schüler angesehen wurden, nicht aber auf die Inhalte der Schülerarbeiten selbst. Über diese wissen wir so lange nichts, bis ein glücklicher Fund uns neue Quellen erschließt.
III. Gelehrte Beredsamkeit: Die frühen Aufklärer (1720-1760) Zwischen 1720 und 1760 gewann die Beredsamkeit, vor allem aber die Lehre von ihr: die Rhetorik und damit auch der Unterricht in der deutschen Oratorie an den Schulen ein anderes Gepräge. Die Zeitgenossen waren sich der Veränderungen bewußt. So schrieb Gottsched 1736: „So viel will ich nur überhaupt von dem itzigen Zustande der Beredsamkeit in Deutschland sagen, daß selbige seit 1720 ohngefehr ein ganz andres Ansehen gewonnen hat, als sie vormals gehabt: Indem solche Redner und Scribenten in verschiedenen Provinzen und Städten unsers weitläuftigen Vaterlandes aufgestanden, die sowohl in der philosophischen als oratorischen und historischen Schreibart uns rechte Meisterstücke gewiesen haben" (J.C. Gottsched 1736: 30). Die Lehrer der Beredsamkeit, die sich nun zu Worte meldeten, wandten sich energisch, oft auch heftig und bissig gegen die Vorstellungen, die Weise und seine Schüler von der Oratorie und ihrem Unterricht entwickelt hatten und die seit etwa vierzig Jahren das Feld beherrschten. Es gab nichts, was man an ihnen nicht kritisiert hätte (vgl. etwa J.C. Gottsched 1736: 25ff.). An der Weiseschen Invention bemängelte man vor allem ihren Formalismus, die Annahme, daß es Formen sein könnten, die einen auf Gedanken brächten (vgl. F. A. Hallbauer 1725: 232). „Es kömmt mir mit der Invention vor", meinte einer ironisch, „als wenn jemand sagte: Richte mir eine schöne Mahlzeit zu: Das Exordium sey eine schöne Suppe: hernach trage alle Gerichte gleichsam in einem Blicke und in einer Schüssel überhaupt vor, (das ist die Proposition) darauf setze sie nach und nach auf, fürs erste dieß, fürs andere das, fürs dritte jenes u. s. w. endlich mache den Beschluß hie und da mit. So wenig dir solche Vorstellung die Essen selbst an die Hand giebt und zubereitet, eben so wenig nützet die Doctrin de Inventione argumentorum" (J. Lange 1723: 26). Vor allem richtete sich die Kritik gegen den Mechanismus, der sich in der Lehre von der Disposition breitgemacht hatte. Sie setzte ein bei den Chrien und der Bedeutung, die man ihnen beimaß. Hallbauer verwarf sie nicht grundsätzlich. „Nur dieses kann ich nicht zugestehen", meinte er, „daß man alle Reden über ihre Leisten schlagen müsse" (F. A. Hallbauer 1725: 399). In der Vorrede zu seiner „Anleitung" war er deutlicher: „Die Chrien sehen recht verworren aus. Einerley kommt etlichemal / nur immer unter neuen Wörtern
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vor / damit das / was leichte ist / ja recht schwer werde" (ebd.: Vorrede). Gottsched stellte den Wert dieser Übungen überhaupt in Frage (J. C. Gottsched 1736: 208). Daß die aufgeklärten Rhetoriker dem zwar galanten, sich weltmännisch gebenden, aber immer noch recht barocken Stil der Weisnianer nicht hold waren, versteht sich von selbst. Gottsched spricht von einem „Mischmasch gesammelter Lappen" (ebd.: 303). So wird schließlich der Niedergang der Beredsamkeit, den man glaubte feststellen zu können, in Bausch und Bogen der Weiseschen Methode in die Schuhe geschoben: „Da nun aber die meisten neuern Anleitungen zu nichts anders, als zu der Kunst, Chrien zu machen, Regeln und Exempel in sich gehalten: So ist leicht daraus abzunehmen, warum die wahre Beredsamkeit bisher so wenig in Schwang gekommen. An der natürlichen Fähigkeit unserer Landsleute hat es nicht gefehlt. Sie sind vielleicht noch wohl geschickter als viele Ausländer. Sie haben Witz, Gelehrsamkeit und Feuer genug bewiesen: Wie die Schriften unserer Dichter sattsam zeigen. Es hat bloß an der Anleitung zu den wahren Regeln und Exempeln der Beredsamkeit gefehlet" (J. C. Gottsched 1736: 216 f.). In den zwanziger Jahren machten sich gleich mehrere Rhetoriker daran, einen Gegenentwurf zur deutschen Oratorie der WeiseSchule zu entwerfen.
1. Die neue Lehre von der Beredsamkeit „Die führenden Redelehrer des frühen 18. Jahrhunderts waren Johann Fabricius, Andreas Hallbauer und Christoph Gottsched. (...) Alle drei Redelehrer basierten ihre rhetorische Theorie auf die von Wolff propagierte philosophische Grundlage der gesunden Vernunft und behaupteten deshalb, dass die Wirkung einer Rede nicht von der sprachlichen Vollkommenheit, sondern von der Überzeugungskraft klar ausgeführter Gedanken abhänge" (R. Scholl 1976: 218). Nicht alle haben sich zur Beredsamkeit an den Schulen geäußert: Fabricius überhaupt nicht, Hallbauer nur im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Beredsamkeit allgemein und auch Gottsched erst relativ spät. Da es hier auf die deutsche Oratorie, wie sie an den Schulen gelehrt wurde, ankommt, werden nur die Autoren herangezogen, die sich zu diesem Aspekt geäußert haben. Fabricius, wie gesagt, gehört nicht dazu, so bedeutsam auch sein Beitrag zur Rhetorik des 18. Jahrhunderts gewesen sein mag. Allerdings kann sich die folgende Darstellung auch nicht auf Hallbauer und Gottsched allein beschränken. Der Kreis derer, die sich an der Diskussion des rhetorischen Unterrichts in den Schulen beteiligte, war größer.
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Joachim Lange (1723) Lange hat in der Vorrede zu seiner „Verbesserten und Erleichterten Grammatica" von 1723, überschrieben mit: „Von der Verbesserung des Schulwesens", die Richtung gewiesen, in der die Umgestaltung der deutschen Oratorie im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts erfolgen sollte. Grundlage der Beredsamkeit sei eine gründliche Kenntnis der Sachen, über die man schreiben oder reden wolle: „Kurtz zu sagen: In der Eloquentia kömmts auf die sapientia an, und diese erfordert solidam rerum cognitionem" ( J . Lange 1723: 27). Da die Kenntnis der Sachen jedoch in den verschiedenen Fächern und Wissenschaften erworben werde, sei sie auch keine Angelegenheit der Beredsamkeit als solcher, auch wenn diese Wissen immer schon voraussetzt. In diesem Punkte stimmte übrigens Lange mit Weise überein. In den Folgerungen, die daraus zu ziehen waren, ging er jedoch eigene Wege. Während Weise und seine Schüler die Sachkenntnis aus den rhetorischen Übungen ausschlossen und diese vornehmlich auf eine Analyse der Redeformen gründeten, machte Lange die Verbindung von Sachkenntnis und Rede, wie sie in der gedanklichen Verarbeitung des Wissens, d. h. im Denken, vorgenommen wird, zur Grundlage seiner Überlegungen: „Denn wer wohl reden will, muß zuvor wohl gedencken: sintemal die äussere Rede nichts anders ist als ein Ausdruck der Gedancken. Die Gedancken aber sind nichts anders, als eine verborgene und innere Rede des Gemüths. Darum wer wohl gedencken kan, der gelanget auch leicht zum wohlreden" (ebd.: 24). Lange hatte eine wichtige Anregung zur Umgestaltung der deutschen Oratorie an den Schulen gegeben, ausgeführt hat sie ein anderer: Hallbauer. Friedrich Andreas Hallbauer (1725) Hallbauers „Anweisung zur Verbesserten Teutschen Oratorie" von 1725 wiegt gewiß nicht das umfangreiche Oeuvre eines Weise auf. Auch hat Hallbauer bei weitem nicht so stark auf seine Zeit gewirkt, wie der galante Pädagoge aus Zittau. Doch wenn eine Persönlichkeit in der Geschichte der deutschen Oratorie an den Schulen neben Weise Aufmerksamkeit beanspruchen kann, dann ist es gewiß der Professor aus Jena (1692 — 1750). Auch für Hallbauer setzt die Beredsamkeit eine gründliche Kenntnis der Sachen voraus: „Gelehrsamkeit" und „Erfahrung". Es sind notwendige, aber keine hinreichenden Voraussetzungen. Die Beredsamkeit selbst gründe vielmehr auf der Klugheit, dem Denken und der Übung (F. A. Hallbauer 1725: 212 — 217). Das Denken erzeuge vernünftige Gedanken, ohne die kein Reden oder Schreiben etwas wert sei. „Die Geschicklichkeit zu reden und zu schreiben" erwerbe man durch Übung. Was den Redner aber letztlich auszeichne, das sei die Klugheit. Die Kategorie der Klugheit steht so im
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Mittelpunkt der Überlegungen Hallbauers. Sie ist es, die ihm erlaubt, auf den Formalismus und die vielen Schemata, wie sie in der Schule Weises ausgebildet und ausdifferenziert wurden, zu verzichten. Klug handelt ein Redner, der seinen Text so einrichtet, daß in ihm die Absicht deutlich zum Ausdruck kommt: „Wenn man etwas schreiben oder reden will, muß man doch eine gewisse Absicht haben. Diese wird die Antwort auf die Frage, warum willst du reden oder schreiben? angeben. Ζ. E. Es soll einer eine Huldigungs-Rede halten; fragt er sich nun, warum? So ist die Antwort, damit die Unterthanen, nachdem sie von dem Recht der Nachfolge überzeuget, beweget werden, dem neuen Regenten den Eid der Treue zu leisten. Hierauf richtet nun der Redner alle Sachen und Worte, als auf einen Mittel-Punct (...). Also hat jede Schrift und Rede ihre besondere Absicht: und wenn man nur diese weiß (...); so ists genug" (ebd.: 205 f.). Zur Klugheit gehört aber auch, daß die Bedingungen in Rechnung gestellt werden, unter denen man spricht oder schreibt: der Ort, die Zeit, vor allem aber „die Beschaffenheit der Leser oder Zuhörer: „Die Klugheit richtet alles nach dem Genie der Leute, die sie vor sich hat, nach den Umständen der Zeit, des Ortes, etc. sie lehret die Gemüther am rechten Orte zu fassen, wo sie am wenigsten Widerstand thun können: sie weiset an, wie sich ein Redner Hochachtung und Liebe bey den Zuhörern erwerben könne, u. s. w. (...). Man wird ohne die Klugheit mehr ein Wäscher, als Redner abgeben: man wird wol auch ohne dieselbe viel sagen könne, aber nicht viel nützen, ja oft viel schaden" (ebd.: 216 f.). Die Klugheit ist es also, die die Sachen und Gedanken in Hinsicht sowohl auf die Absichten des Redenden oder Schreibenden als auch auf die Umstände organisiert, insbesondere auf die Beschaffenheit der Leser oder Zuhörer. Der Gedanke ist nicht neu. Weise spricht zwar nicht von der Klugheit, wohl aber von einem „oratorischen Urteil" (indicium oratorium) (C. Weise 1684: 220 f. u.ö.; 1702: 275 ff., 285 .ff., 295 ff., u. ö.). Doch ist der Stellenwert, den die Kategorie der Klugheit in den beiden Lehrsystemen einnimmt, grundverschieden. Weise führt den Begriff im Zusammenhang mit Ausführungen zum Stil ein. Für ihn ist die Klugheit eine Randbedingung. Für Hallbauer steht sie im Zentrum seiner Überlegungen, bestimmt alle Teile seiner Rhetorik und ist damit für sein System konstitutiv. Hallbauer hat den Unterschied auf eine kurze Begriffsopposition gebracht. Für Weise und seine Schüler sei die Beredsamkeit eine „Kunst": „Eine Kunst hat ihre beständigen Regeln, und Kunstbegriffe, die der Künstler allemahl beobachtet. Ζ. E. ein Uhrmacher macht eine Uhr, wie die andere" (F. A. Hallbauer 1725: 203 vgl. auch S. 213 f.). Er selbst bestimmt die Beredsamkeit anders: „allein ein Redner macht nicht einen Brief, und eine Rede, wie die andere: und die Oratorie bindet sich an keine gewisse Vorschriften, sondern weiset Redner nur an, alles nach dem Endzwecke klüglich einzurichten"
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(ebd.: 213). Weise macht aus der Beredsamkeit eine Technik; denn das ist mit dem Ausdruck „Kunst" wohl gemeint. Hallbauer versteht dagegen unter Beredsamkeit einen Ausdruck intelligenten Verhaltens. Hallbauers Vorstellungen von der Beredsamkeit lassen sich ohne weiteres in einen Zusammenhang mit dem aufkommenden Rationalismus der Aufklärung bringen. Johann Jacob Schatz, ein Schüler von Hallbauer, führt lediglich die Gedanken seines Lehrers aus, wenn er die Klugheit als eine Leistung des Verstandes begreift und sie neben die Meditation (das Nachdenken), das Ingenium (die Findigkeit) und die Memorie (das Gedächtnis) stellt: „Was den Verstand insonderheit betrift, so ist bekant, daß derselbe sich in der Oratorie besonders darinn zu Tage leget, daß er durch eine reiffe Meditation die zum Vortrag nöthige Materie an die Hand giebt. Es muß dabey ein kluges Judicium uns insonderheit belehren, was man demjenigen, so einem unter währender Meditation beygefallen, behalten oder weglassen solle; gleichwie das Ingenium sich insonderheit bey einer guten Ordnung legitimiret, die Memorie aber bey dem mündlichen Vortrag ihre guten Dienste thut" ( J . J . Schatz 1734: 5 f.). Johann Christoph Gottsched (1729, 1736, 1754) „Aus der Synthese von Wolffs Philosophie, dem antiken rhetorischen System und den Einsichten der Franzosen formte Gottsched seine Rhetorik, die den Forderungen der Aufklärung nach Vernunft, Geschmack und Natur entsprach" (R. Scholl 1976: 220). Er selbst wollte die Rhetorik vor allem auf die Vernunft gegründet wissen. Dieses Bestreben kam schon in dem Titel seiner ersten rhetorischen Schrift zum Ausdruck: „Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst". Sie erschien 1729, war zunächst nur zum Gebrauch der Hörer seiner Vorlesungen gedacht und wurde vom Verfasser selbst als ein „Entwurf zu einem vollständigen Rhetorischen Wercke" (C. Gottsched 1729: Vorrede) angesehen. Dieses erschien dann 1736 unter dem Titel „Ausführliche Redekunst". Es läßt zwar den Zusatz „vernunfftmäßige" vermissen, geht dafür aber umso ausführlicher auf die vernunftmäßigen Grundlagen und Aspekte der neuen Redekunst ein. Gottscheds Rhetorik ist in dreierlei Hinsicht „eine vernünftige Anweisung zur Beredsamkeit" (C. Gottsched 1736: 42): (1) Ihre Regeln und Anweisungen sollten nicht der Tradition entnommen, sondern aus der Vernunft des Menschen abgeleitet werden. „Nichts ist in Wissenschaften und freyen Künsten vernünftig, als was auf gute Gründe gebauet ist. Diese sind aber nicht die Meynungen und Zeugnisse großer Leute ( . . . ) : Sondern die unveränderliche Natur des Menschen" (ebd.: 43). Die Natur des Menschen ist seine Vernünftigkeit. Also mußte man „die Vernunft- und Sittenlehre zu Hülfe nehmen, den Verstand und Willen des Menschen kennen zu lernen. Wer dieses nicht
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thut, der kan weder gute Regeln der Beredsamkeit vorschreiben, noch die vorgeschriebenen recht glücklich beobachten" (ebd.). (2) Der Begründung der Redekunst (Rhetorik) entsprach der Hauptzweck der Beredsamkeit (Oratorie). Es ging um einen „Vortrag der Wahrheit" (ebd.: 40). Die wahre Beredsamkeit hatte „bloß allein die Wahrheit und ihre Ausbreitung und Fortpflanzung zum Zwecke" (ebd.: 38). Wenn Gottsched auch von der „Überredung" als der Absicht des Redners sprach, so meinte er doch stets die Uberzeugung als allein moralisch zu rechtfertigendes Ziel seiner Handlung. Und darum hatte die Beredsamkeit auch „allezeit das Beste ihrer Zuhörer zur Absicht" (ebd.: 38). (3) Die diesem Ziel einzig und allein angemessenen Mittel, „so wohl die Beweise als Bewegungsgründe" (ebd.: 37), konnten darum nur Vernunftgründe sein. Sie sind „wohl gegründet, und aus guten Quellen hergeleitet, wie die Vernunftlehre es fordert: So daß man versichert seyn kan, dasjenige, so dergestalt erwiesen wird, sey unfehlbar wahr, falsch, gut oder böse" (ebd.). Was für Lange Sachkenntnis und Weisheit, für Hallbauer die Klugheit war, das war für Gottsched die Vernunft. Es ist klar, daß eine Rhetorik, die solche Ansprüche an sich und die Redner stellte, für Schulen nicht geeignet war. So hat Gottsched seine beiden rhetorischen Lehrbücher nicht für den Unterricht an den Schulen, sondern für den akademischen Unterricht geschrieben. Er war davon überzeugt, daß auch „die meisten der alten und neuen, weiltläufigen und kürzern Redekünste (...) dasjenige nicht sind, was sie zum Gebrauche der Gymnasien und großen Schulen billig sein sollten" (C. Gottschied 1754: Vorrede). Es sei grundsätzlich ein Fehler, „die Jünglinge gleich unmittelbar zur großen Redekunst zu führen". Denn die Beredsamkeit setze „ein männliches, nicht ein kindisches Wesen" voraus: „daß man zu derselben nicht mit einem leeren Kopfe, sondern gleichsam mit allen Wissenschaften gewaffnet, und reichlich versorget, hinzu nahen müsse. Daß man eine reife Urtheilskraft, eine große Belesenheit, und viel Kenntniß der Welt mitbringen müsse: wenn man sie nicht mit ungeschickten Händen angreifen, und nur einigermaßen glücklich darinnen seyn will" (ebd.; vgl. auch 1736: 46 ff., 62). Kurz: die Rhetorik, weder die eigene noch die anderer, sei kein Gegenstand für Schulen. Daraus zu schließen, daß es nach der Auffassung von Gottsched an den Schulen überhaupt keinen wie auch immer gearteten Unterricht in der Rhetorik geben sollte, wäre falsch. Gottsched erinnerte an die Alten und deren rhetorische Vorübungen (Progymnasmata) und gab 1754 die „Vorübungen der Beredsamkeit" heraus, ein Buch, das zwischen 1754 und 1775 in vier Auflagen erschien (R. Scholl 1976: 217). Über seine Absicht äußerte er sich im Vorwort: „Ich sah also keinen andern Rath, als daß ich den Weg wiederum einschlagen mußte, den uns die alten Lehrer gewiesen hatten. Ich entschloß mich, nach dem Beyspiele Theons und Aphthons, Vorübungen der Beredsamkeit zu schreiben; und dadurch die Jugend, auf den obersten Classen der
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Gymnasien und Schulen, durch nützliche Übungen ihres Witzes, und ihrer Feder vorzubereiten; daß sie dereinst auf hohen Schulen, geschickte Zuhörer der wahren Redekunst abgeben könnten" (C. Gottsched 1754: Vorrede). Die Aufgabe der Schule sei daher nicht in der Einführung in die Redekunst zu sehen, sondern in der Vorbereitung auf diese. Gottsched legte seinen „Vorübungen" die Progymnasmata des Aphthonius (vgl. Einleitung) zugrunde, veränderte an einigen Stellen die Reihenfolge der Übungen, setzte an die Stelle der alten Beispiele Meisterstücke der zeitgenössischen Redekunst, stellte eine kurze Übersicht über die Lehre von der guten Schreibart voran und an das Ende einen Abschnitt „Von Briefen, oder Sendschreiben", behielt im Ganzen aber die überlieferte Anlage der aphthonischen Vorübungen bei. Zwar hatte Johann Jacob Breitinger mit ausdrücklichem Bezug auf die antiken Vorübungen noch 1740 „Elementar-Beschreibungen" für den Unterricht an Schulen empfohlen ( J . J . Breitinger 1740: 50). Auch Lessing wird einige Jahre nach dem Erscheinen von Gottscheds „Vorübungen" in seiner Abhandlung „Vom besonderen Nutzen der Fabeln in Schulen" (G. E. Lessing 1759) an die Übungen der Alten erinnern. Das waren nützliche Hinweise auf einzelne Übungsformen. Der Versuch Gottscheds jedoch, gleich den antiken Lehrplan insgesamt wieder mit Leben zu versehen, muß als ein ziemlich verunglücktes Unternehmen angesehen werden. Von den Vorübungen der Alten ist zwar später immer wieder einmal, von Gottscheds Versuch aber bald überhaupt nicht mehr die Rede. Wenn Horst Joachim Frank Gottsched „zu dem Begründer jenes Aufsatzunterrichtes" macht, „der dann im 19. Jahrhundert große Bedeutung erlangen sollte", so muß eine solche Behauptung als ein krasses Fehlurteil bezeichnet werden. Gottsched hat den deutschen Aufsatzunterricht nicht begründet, er war noch nicht einmal an seiner Begründung beteiligt. Es wäre falsch, die Bedeutung, die er zweifellos hatte, im Bereich der Schule und des Unterrichtes zu suchen. Wenn überhaupt jemand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rolle gespielt hat, die — nach Auffassung von Frank — Gottsched gespielt haben soll, dann wäre ein anderer Lehrer der deutschen Oratorie zu nennen gewesen. Er ist heute so gut wie vergessen. Johann Jacob Schatz (1734) „An vielen Orten mit großem Beyfall aufgenommen", so charakterisierte Schatz, von 1730 bis 1738 Direktor des Gymnasiums zu Eisennach, die Resonanz, die die „Anweisung" von Andreas Hallbauer damals hatte. Schatz schildert auch sehr eindrücklich seine eigene Reaktion. Zuvor habe er trotz einiger Bedenken nach der Weiseschen Methode gelehrt. Hallbauers Oratorie habe ihn dann aber „von allem bisher gesamelten Zweifel und Sorgen auf
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einmal befreyet": „So trug auch ich keine Bedencken, diesen neugebahnten Weg mit Hindansetzung alles vorigen Krams zu folgen: wobei sich der augenscheinliche Nutzen auch bey Zeiten zu Tag geleget hat" (J.J. Schatz 1734: Vorrede). Der Beitrag, den Schatz zur Entwicklung der deutschen Oratorie geleistet hat, besteht in folgendem: (1) Er hat ein Lehrbuch vorgelegt, das — anders als viele Bücher aus der Weise-Schule — lesbar war und nach dem unterrichtet werden konnte. Es war nützlich. (2) Er hat den Lehrplan der deutschen Oratorie in einer Weise erweitert, die den ursprünglich rhetorischen Rahmen zu sprengen drohte. Die Unterweisung in der deutschen Oratorie sollte früher einsetzen, als es damals üblich war: „Nebst dem kan ich nicht gut heissen, daß man insgemein so lange damit wartet: sintemalen am Tag ist, daß selbige auf den meisten Schulen nur allein in der obersten, oder, wo es ein großes Gymnasium ist, nur in den beyden obersten Classen den Anfang machen könte und sollte" (ebd.). Man könnte annehmen, daß es sich lediglich um eine organisatorische Maßnahme handelte. Als eine solche war sie vermutlich auch gedacht. Doch ihre Folgen waren höchst bedeutsam. Von den Schülern in den unteren Klassen waren Reden und Gedichte kaum zu erwarten, allenfalls Aufzeichnungen in Briefform. Darum mußten andere, einfachere Übungsformen entwickelt werden. Schatz erkannte die Bedeutung von Erzählungen für den Unterricht in den unteren Klassen. Bedeutsamer aber dürfte die Tatsache gewesen sein, daß, wer die Abfassung von Texten in deutscher Sprache nicht mehr auf den Rhetorikunterricht in den oberen Klassen beschränkte, den ersten Schritt auf den späteren Deutschunterricht hin tat. (3) Schatz hat schließlich auf der Grundlage, die Hallbauer gelegt hatte, erste Vorstellungen von einer Methode des deutschen Unterrichtes, den es damals noch nicht gab, entwickelt. „Die Vorschriften, die er gibt", meinte Adolf Matthias mehr als hundert Jahre später, „sind klar, praktisch und von so dauerndem Wert, daß selbst heutzutage hier und da ein 'eigensinniger Schulfuchs' noch daran lernen kann" (A. Matthias 1907: 138). Die Ausführungen von Schatz lassen erkennen, daß die deutsche Oratorie in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts bereits im Begriffe ist, über den ihr ursprünglich gesetzten Rahmen hinauszuwachsen und zu dem zu werden, was später als Deutschunterricht bezeichnet wurde. Daß auch Gottsched die Tatsache, daß es keinen Deutschunterricht gab, als einen Mangel empfand, geht aus der folgenden Bemerkung zur Erziehung der Knaben hervor: „da wir nicht sowohl einen lateinischen als einen deutschen Redner auferziehen wollen; die deutsche Sprache aber in den öffentlichen Schulen gar nicht betrieben wird: So muß ein sorgfältiger Vater auch neben den öffentlichen Schulen, seinem Sohne noch einen besondern Unterricht darinne geben lassen.
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Es ist gut und nöthig, daß man ihnen nebst der latheinischen, auch eine deutsche Grammatik beybringen lasse. Ferner muß man sie deutsche Historiebücher zu lesen angewöhnen, und zwar lauter solche die wohl geschrieben sind. Imgleichen muß man ihnen die Schriften der besten Poeten in die Hände geben, als woraus sie einen grossen Reichthum in Worten und Redensarten fassen werden" (C. Gottsched 1736: 60 f.).
2. Die Grundzüge des Wandels Innerhalb von kaum mehr als 30 Jahren hat sich die deutsche Oratorie in ihren Grundlagen und wesentlichen Stücken gewandelt. Die Entwicklung geht — von der politischen zur gelehrten Rede — vom Überreden zum Überzeugen — von der Erregung der Affekte zum Apell an den Verstand — von der Wirkung der Rede zum Ausdruck von Gedanken — von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Das Ergebnis dieses Wandels ist für den Unterricht an den Schulen schließlich ein neuer Unterrichtsgegenstand: der deutsche Aufsatz. Um die Bewegung dieser Entwicklung herausarbeiten zu können, ist es nötig, zeitlich auszugreifen und sowohl die Verhältnisse vor 1720 als auch die nach 1760 in die Betrachtung einzubeziehen. Von der politischen zur gelehrten Rede Zu allen Zeiten sind Lehrer bestrebt gewesen, ihre Zöglinge so auf das Leben vorzubereiten, daß sie in ihm erfolgreich werden konnten. Die Lehrer der Beredsamkeit machten keine Ausnahme. Solange man nur am Hofe Karriere machen konnte, mußte der Unterricht an den Gegebenheiten des Hofes ausgerichtet werden. Reden waren gefragt: „politische Reden", wie man die Reden in der Öffentlichkeit von den mehr privaten Ansprachen unterschied. Vor allem aber kam es bei Hofe, um sich selbst in ein günstiges Licht zu setzen, auf die Fähigkeit an, Komplimente — man sprach ungeniert von „Schmeicheleien" — in die Konversation einzuflechten. Die öffentliche Rede und die Komplimentierkunst waren darum die beiden Hauptstücke der politischen Oratorie, wie sie Christian Weise etwa vertrat. Die Verhältnisse am Hofe und in der Gesellschaft veränderten sich aber bald. Um seine Machtansprüche gegen die Stände durchzusetzen, bediente sich der absolute Monarch der Verwaltung (zum folgenden vgl. W. Bleek 1982). Es entstand der moderne Verwaltungsstaat, und in diesem konnte man
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auch außerhalb des Hofes Karriere machen. Das Vorbild, an dem sich nun der aufstrebende Bürger orientierte, war nicht mehr der Höfling, sondern der Gelehrte. Das hatte unmittelbar Folgen für den Unterricht. Aus der politischen Oratorie wurde die gelehrte Beredsamkeit. Die Rhetorik ging eine neue Verbindung mit der sog. „Vernunftlehre", der Philosophie oder speziell der Logik, ein, sie wurde philosophischer und — unpolitischer (vgl. G. Grimm 1983). „Philosophische Oratorie, das ist: Vernünftige Anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit", so lautet der Titel eines Lehrbuches (J. A. Fabricius 1724). In ihm sind die zentralen Begriffe der neuen Rhetorik wie in einem Brennpunkt vereint. Vom Überreden zum Überzeugen Die Vorstellung vom gelehrten Bürger als dem Ziel des rhetorischen Unterrichtes führte zu einer Akzentverlagerung in der Bestimmung des allgemeinen Zweckes der Beredsamkeit. In der Beredsamkeit kam es nun nicht mehr so sehr auf die Überredung anderer Menschen, als vielmehr darauf an, sie zu überzeugen. Die Entwicklung geht von der Überredung zum Überzeugen. Weise konnte noch behaupten, daß der beste Redner der sei, „welcher heimlich / gleich als in guter Conversation, bey andern seine persuasiones (Überredungskünste O. L.) anbringen kan. Derhalben darff man nicht alle Exempel durch hohe Worte und tiefsinnige Reden ausführen / damit man seine Meynung dem andern einflößen / und also die Bewegung der Affecten desto leichter zuwege bringen lernet" (zit. nach Η. A. Horn 1966: 100). Auch wenn die Worte „Überredung" und „Überzeugung" damals austauschbar waren und Gottsched noch von „Überredung" sprach, wo er Überzeugung meinte, dürfte Weise Überredung im heutigen Sinne des Wortes, also die Einflußnahme auf den Gesprächspartner auch mit unerlaubten Mitteln, gemeint haben. Die Überredung als allgemeiner Zweck der Beredsamkeit geriet jedoch in dem Maße in Verruf, in dem sich der Rationalismus der Frühaufklärung durchsetzte. Wie sehr sich die Einstellung änderte, zeigt das folgende Zitat: „Gemeiniglich sagt man, der Endzweck der Oratorie sey die Überredung ( . . . ) . Wenn diese durch bündige Beweisthümer geschiehet, so wird es besser eine Überzeugung genennet; allein man hat wol zu dem Ende der Oratorie diesen Endzweck gesetzt, weil man den Rednern erlaubet, sich auch der Scheingründe zu bedienen, und durch solche den Lesern oder Zuhörern etwas weiß zu machen, davon sie mit gültigen Gründen nicht überzeuget werden können. Das heißt aber Wind machen, und gehöret vor die Wind-Müller, nicht vor geschickte Redner. Ein Redner thut zu wenig, wenn er nur überredet: er muß auch überzeugen. Er muß einen weit tieferen Eindruck dem Gemüthe geben, wenn er einen Satz beweiset, zu etwas ermahnet oder von etwas
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abmahnet, als wenn ein Kaufmann den unvorsichtigen Käufer überredet, die schlimme Ware wäre gut, oder eine Mutter ihrem einfältigen Kinde weiß macht, der Ruprecht werde es holen, wenn es nicht fromm sey" (F. A. Hallbauer 1725: 204; vgl. auch C. Gottsched 1729: 21; 1736: 36 f. u. ö.). Von der Erregung der Affekte zum Apell an den Verstand Wer nicht überreden, sondern überzeugen will, wendet sich in erster Linie an den Verstand seines Partners. Eine solche Grundauffassung haben alle Lehrer der gelehrten Beredsamkeit vertreten. Das heißt aber nicht, daß sie die Bedeutung der Affekte bei der Wirkung einer Rede verkannt hätten. Den sogenannten „Gemüths-Bewegungen" kam jedoch nur eine Hilfsfunktion zu. Sie sollten die Kraft der Beweisgründe stützen oder ergänzen, nie aber ihre Stelle einnehmen. „Die allerbesten Beweisgründe", schreibt Gottsched (1736: 160), „nehmen zuweilen einen halsstarrigen Zuhörer nicht völlig ein; Wenn nehmlich das Gegentheil dessen, so man ihm vorgetragen, seinen Begierden angenehmer ist. Wenige Menschen sind vermögend ihren Neigungen zuwider zu handeln. Was würde es also einem Redner helfen, wenn er seinen Satz noch so schön erwiesen hätte, dafern er nicht auch ihre Gemüths-Bewegungen sich zum Vortheile rege zu machen, oder die wiedrigen zu dämpfen wüßte". Doch versprach man sich von den Beweisgründen grundsätzlich mehr Erfolg: „Denn die Überzeugung gibt dem Verstände eine weit grössere Erkentniß und dem Willen eine weit stärckere Bewegung, als die Überredung. Also nutzet ein Redner mehr, wenn er überzeuget, als wenn er überredet" (F. A. Hallbauer 1725: 204 f.). Es war vor allem Gottsched, der die rationalistischen Züge an der deutschen Oratorie in besonderer Weise herausgestellt hat. Für ihn war die Argumentation das Kernstück einer Rede und das Kapitel von den Beweisgründen „das wichtigste Capitel der ganzen Redekunst": „Hierauf kommt ( . . . ) alles an, und ( . . . ) so sieht man leicht, daß der Beweis das rechte Hauptwerk sey, darauf ein Redner allen seinen Fleiß anwenden muß. Alles übrige, was man in einer Rede sagen kan, gehört entweder nur zu den Zierrathen und Nebendingen; oder es ist nur eine Vorbereitung zum Beweise; oder auch eine Folgerung aus demselben" (C. Gottsched 1736: 106, vgl. auch 36 f.). Von der Wirkung der Rede zum Ausdruck von Gedanken Solange es Rhetorik gibt, ist die Rede (oratio) von ihrer Wirkung her definiert worden, sei es daß man diese als Überzeugung oder als Überredung anderer Menschen bestimmt hat. Eine solche Feststellung trifft, wie wir gesehen haben, ohne Einschränkungen auch noch für das 18. Jahrhundert zu. Von einem Redner sagt Gottsched (1736: 34 f.): „Man soll ihm in seinem Vortrage
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(...) vollkommen beypflichten; man soll mit ihm einerley Meynung werden; man soll das vor wahr und vor falsch halten, was er davor hält; man soll endlich lieben und hassen, zürnen und beneiden, frolocken und trauren, hoffen und fürchten, suchen und fliehen, thun und lassen, was und wie es ihm gefällt; wenn und wo und wie es ihm nur gut dünket". Es gibt jedoch bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einige Anzeichen dafür, daß sich das Interesse der Rhetoriker nicht mehr nur, um mit K. Bühler zu sprechen, auf die Apellfunktion der Rede richtete, sondern in zunehmendem Maße auch die Ausdrucksfunktion in die Überlegungen einbezogen wurde. Damit bahnte sich eine Entwicklung an, die erst gegen Ende des Jahrhunderts zum Durchbruch gelangen sollte (vgl. Kap. IV). Schon für Joachim Lange war „die äussere Rede nichts anders (...) als ein Außdruck der Gedancken", und die Gedanken waren „nichts anders, als eine verborgene und innere Rede des Gemüths" (J. Lange 1723: 24). So schloß er: „Darum wer wohl gedencken kan, der gelanget auch leicht zum wohlreden" (ebd.). Man kann einer solchen Argumentationsfigur ohne weiteres entnehmen, daß die Hinwendung der neuen Rhetorik zu den Sachen und damit zu den Gedanken über die Sachen die Aufmerksamkeit notwendigerweise auch auf den Ausdruck der Gedanken lenken mußte. Ein Jahr später führte Hallbauer den Abschnitt über die Elocutio in seiner Rhetorik mit dem Titel ein: „Von dem Ausdruck der Gedancken durch den teutschen stilum" und forderte von diesem unter anderem, daß er richtig sei: „Richtig ist er, wenn er nicht mehr oder weniger ausdrückt, als die Gedancken haben wollen" (F. A. Hallbauer 1725: 496). Daß eine solche Feststellung nicht ganz unbedacht gemacht worden sein kann, ergibt sich aus der Tatsache, daß man bei Hallbauer auch die Umkehrung des Gedankens finden kann. Wenn der Stil Ausdruck der Gedanken ist, dann ist auch anzunehmen, daß er nicht unabhängig von dem Menschen sein kann, der sich seiner bedient. Hallbauer hat einen solchen Schluß gezogen, doch weigerte er sich, ihn gelten zu lassen: „Der stilus ist ein Ausdruck der Gedancken: die Gedancken dependiren von der Seele, also auch der stilus. So lange ich den Schluß nicht begreifen kann, in dessen Geblüthe sich viel öhlichte Theile befinden, der hat ein gut ingenium; so lange werde ich auch nicht zugestehen können, daß ein sanguinus einen weitläuftigen stilum führen müsse". Gut zehn Jahre später hatte Gottsched keinen Anlaß mehr, sich der Einsicht Hallbauers zu verschließen: „Schreibet wohl Cäsar wie Livius? Schreibt Cornelius wohl so wie Sallustius? Bemüht sich wohl Plinius dem Cicero nachzuahmen? Wo hat Xenophon einem Thukidides; Demosthenes dem Isokrates, oder Aristoteles dem Plato im Schreiben nachgeäffet? Ein jeder von diesen Männern schrieb aus seiner eigenen Einsicht, und brauchte seine eigene Geschicklichkeit im Denken, und im Ausdruck seiner Gedanken" (C. Gottsched 1736: 405 f.). Gottsched hat die Argumentation, die bei Hallbauer
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in eine falsche Richtung lief, wieder zurecht gerückt. Er verband die Idee, daß auch der Stil Ausdruck eines Menschen ist, nicht wie Hallbauer mit der Lehre von den Temperamenten, sondern, wie er sich ausdrückt, mit der Vernunftlehre. Es ist die individuelle Prägung der Gedanken, die in dem Stil eines Menschen zum Ausdruck kommt. Gottsched hat darüberhinaus noch eine Differenzierung vorgenommen, die erkennen läßt, daß er die Ausdrucksfunktion einer Rede richtig bestimmt hat. Wenn der Stil eines Menschen wirklich Ausdruck seiner Gedanken, und das heißt, von diesen auch abhängig ist, dann braucht eine Ausdrucksweise, die einen Gedanken in jedem Punkte getreu wiedergibt, darum nicht auch schon gut zu sein. In dieser Hinsicht glaubte Gottsched einen Unterschied zwischen der Malerei und dem Stil machen zu müssen: „Ein Bild ist schon schön und gut, wenn es dem Originale nur vollkommen ähnlich ist. (...) Aber ganz anders ist es mit der Schreibart. Denn ob es gleich wahr ist, daß eine Schreibart auch darum schlecht und verwerflich seyn kan, weil sie nicht alle Schönheit des Originals, das ist der Gedancken, sattsam darstellet und zu verstehen giebt: So ist sie doch mehrentheils bloß deßwegen schlimm und verwerflich, weil sie ihrem Originale so ähnlich ist. Wenn die Gedancken eines elenden Scribenten noch so genau ausgedrücket werden, so werden sie darum noch keine schöne Schreibart geben: Denn je genauer die Worte mit dem Sinne des Schreibers übereinstimmen; desto närrischer, verwirrter, niederträchtiger und abgeschmackter werden sie lauten" (ebd.: 226 f.). Aus einer solchen Feststellung zog Gottsched zwei Schlüsse: (1) Wenn der Stil eines Menschen der Ausdruck seiner Gedanken ist, dann gehören zu ihm beide: nicht nur die Worte und Redensarten, sondern auch die Gedanken. Gottsched geht aber noch einen Schritt weiter. (2) „Wer lauter phantastisches Zeug, lauter ungereimte Einfälle, und thörichte Fratzen im Kopfe hat, der kann unmöglich was kluges schreiben" (ebd.: 227). Folglich komme es bei der Schreibart „mehr auf die Gedancken als auf die Worte und Redensarten" (ebd.) an. Schließlich ist für Gottsched der Stil auch Ausdruck der Empfindungen und Gefühle, Gottsched spricht von „Gemüthsbewegungen": „Die Sprache ist eine Abbildung der Seelen und dessen, was im Innersten vorgehet. Ist nun in derselben alles ruhig, so drücket sie auch alle ihre Gedancken auf eine gewöhnliche Art aus. Ist aber das Gemüthe gestört, das Herz aufgebracht und in voller Bewegung, alsdann bringet auch die Zunge Wörter hervor, die diesen verwirrten Zustand der Seelen an den Tag legen" (ebd.: 273). Gottsched erörterte diese „Arten des Ausdrucks" im Zusammenhang mit der Lehre von den Figuren. Die Figuren sind für ihn sowohl Ausdruck, „dadurch wir unsre Gemüthsbewegungen zu verstehen geben" (ebd.), als auch Mittel, um auf Leser und Zuhörer einzuwirken (ebd.: 274). Apell- und Ausdrucksfunktion der Rede kommen insofern an den Figuren am klarsten zum Vorschein.
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Vom Mündlichen zum Schriftlichen Wo rhetorische Grundüberzeugungen herrschen, da dominiert das Mündliche; das Schriftliche ist ihm untergeordnet. Reden können ex tempore gehalten werden, meist aber werden sie vorbereitet. Zur Vorbereitung gehört zwar oft ein schriftliches Konzept (C. Gottsched 1736: 221), dieses ist jedoch nicht mehr als eine Stütze des Gedächtnisses für den Vortrag, allenfalls ein Mittel, die Gedanken zu ordnen, in jedem Fall aber nur ein Teil der Vorbereitung auf die mündlich vorzutragende Rede. Man kann das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gegolten hat, ohne weiteres in Analogie zum Verhältnis von schriftlichem Konzept und mündlicher Rede bestimmen. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Briefe sind seit dem Altertum zu allen Zeiten geschrieben worden, und Briefe sind ausschließlich an das schriftliche Medium gebunden. Wie stark jedoch die rhetorischen Grundüberzeugungen noch im 18. Jahrhundert waren, kann man an der Bestimmung ablesen, die der Brief in jener Zeit erfuhr: „Ein brief ist nichts anders, als eine schrifftliche rede eines abwesenden mit dem andern" (B. Neukirch 1721: 4). Der Brief war danach also Ersatz für eine Rede, die nicht gehalten werden konnte. Auf diese Weise ließ sich der Brief nicht nur in den rhetorischen Rahmen einpassen, sondern auch weiter der ausschließlich mündliche Charakter der Beredsamkeit behaupten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts und teilweise auch zuvor wurde jedoch dem Brief und damit auch der Schriftlichkeit in der Rhetorik zunehmend größere Bedeutung beigemessen. Weise stellte zwar nicht die rhetorische Auffassung von Briefen in Frage, doch nahm er eine nicht unwichtige Veränderung vor. Er stellte die Briefe nicht den Reden, sondern den Komplimenten, also einer spezifischen Form des Gesprächs, zur Seite: „Gleichwie ein Compliment eine Rede ist des Gegenwärtigen an den Gegenwärtigen / also ist ein Brieff ein Compliment des Abwesenden an den Abwesenden" (C. Weise 1677/1783: 219). Eine solche Einordnung der Briefe erlaubte es, diese aufzuwerten: „Doch hat man die Brieffe in etwas höherm Werthe (als die Komplimente, O. L.) / weil sie mehr Fleiß und Nachsinnen erfordern. Denn was geredet wird / das verschwindet in der Lufft dahin / und kan nach allen geringen Umständen so genau nicht judiciret werden: Hingegen ein Brieff liegt klar vor Augen / und weil er offt kan überlesen werden / muß der Schreiber viel in acht nehmen / welches ein Redner nicht bedencken darff" (C. Weise ebd.). Damit war ein erster Schritt zur Aufwertung des Schriftlichen und dessen Emanzipation getan. Die schriftliche Aufzeichnung, die Niederschrift und die schriftliche Ausarbeitung waren in der Schule ein Medium, dessen Nutzen für die Zwecke des Übens und Einübens seit der Antike geschätzt wurde. Es sei daran erinnert,
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daß die rhetorischen Vorübungen der Griechen und Römer fast ausschließlich schriftlich erfolgten. Die Schriftlichkeit nahm also in der Schule seit eh und je eine Sonderstellung ein. Es ist darum nicht verwunderlich, wenn in einer Zeit, in der die Bedeutung der Schriftlichkeit auch in der Öffentlichkeit zunahm, die schriftlichen Übungen sich von den mündlichen allmählich ablösten und Eigenständigkeit gewannen. Es erschienen die ersten Lehrbücher, die ausschließlich der Abfassung von Briefen gewidmet waren (C. Juncker 1708/1711; C. Weise 1704; B. Neukirch 1721 u.a., vgl. dazu R. Nickisch 1969). Zwischen 1760 und 1780 scheinen Anleitungen zum Briefschreiben an den Schulen als Ersatz für eine damals noch fehlende deutsche Stilistik Verwendung gefunden zu haben. Zumindest deutet eine Bemerkung des in Schulsachen überaus beschlagenen Resewitz auf eine solche Entwicklung hin. Dieser stellte 1780 fest: „Die meisten Lehrer verfallen darauf, ihren Zöglingen Gellerts und anderer Neuern deutsche Briefe in die Hände zu geben, sie in Nachahmung derselben zu üben, und auf ihre Schönheiten aufmerksam zu machen; in der Meynung sie dadurch zu einem guten Styl zu gewöhnen" (F. R. Resewitz 1 7 7 8 - 1 7 8 7 : III, 3, 125). Kein Zweifel, war bisher die Schriftlichkeit der Mündlichkeit in allen Belangen untergeordnet, so begann sich nun das Verhältnis umzukehren. Hallbauer spricht nun zugleich: vom Reden und Schreiben, von Hörern und Lesern. Über die „Anleitung zur Oratorie" des Johann Jacob Schatz (1734) urteilte A. Matthias so: „Der Wert dieses Buches liegt (. . .) darin, daß es das Reden hinter dem Schreiben zurückstellt und die Kunst Briefe zu schreiben weit ausführlicher und eingehender behandelt als die Kunst der Rede" (A. Matthias 1907: 140).
3. Die Vorstellungen vom Schreiben und Reden Mit den Vorstellungen vom Wesen, dem Zweck und den Mitteln der Beredsamkeit haben sich auch die Vorstellung vom Schreiben und Reden gewandelt. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichneten sich bereits die Konturen eines Modells ab, das erst in der zweiten Hälfte ausformuliert wurde und von da ab auch die Vorstellungen vom Schreiben und Reden in der Schule bestimmte. Die Gedanken „In der Eloquentia kömmts auf die sapientia an" ( J . Lange 1723: 27). „Das Wesen der Beredsamkeit" besteht „in dem accuraten ausdruck der gedancken" ( J . A. Fabricius 1724: 3). „Wer nur ordentlich meditiret / wird auch ordentlich schreiben" (F. A. Hallbauer 1725: Vorrede). „Es kommt folglich bey der Schreibart mehr auf die Gedancken als auf die Worte und Redensarten an"
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(C. Gottsched 1736: 227). Die Belege ließen sich ohne Mühe vermehren. Die Grundüberzeugung ist bei allen dieselbe: nicht die schönen Worte machen einen Redner aus, sondern seine Gedanken. Die Gedanken, die in Worte gefaßt oder auf das Papier gebracht werden sollten, wurden in der überlieferten Rhetorik in dem Teil behandelt, der mit „Inventio" überschrieben war (gemeint war die Findung der notwendigen Gedanken). Diese Lehre von der „Erfindung" erfuhr unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts eine grundlegende Umgestaltung. Die überlieferte Schulrhetorik empfahl den Schülern die Mittel der sogenannten Topik und der Realien. Topoi waren Gesichtspunkte, die man an den Gegenstand, über den man reden wollte, anlegte in der Erwartung, auf diese Weise auf die notwendigen Gedanken zu kommen. So konnte man ζ. B. aus dem Namen, dem Alter, der Lebensweise, dem Beruf, den Freunden, den körperlichen und geistigen Eigenschaften einer Person Hinweise für ihre Charakterisierung gewinnen. Bei einer Erzählung galt es zu fragen, wer an dem darzustellenden Geschehen beteiligt war, wann es sich ereignete, wo, unter welchen Umständen usw. „Die Topik wurde im 17. Jahrhundert ( . . . ) prinzipiell als Quelle für den Stoff der Rede betrachtet" (U. Stötzer 1962: 127). Realien waren Sammlungen von Excerpten, die man bei der Lektüre anlegte. Man sprach von „Kollektaneen", „Florilegien" oder „Schatzkammern". Gesammelt wurde alles Wissenswerte, Auffällige, bemerkenswerte Formulierungen und Bilder, von denen angenommen werden konnte, daß es bei der Ausarbeitung einer Rede von Nutzen sein konnte. Mit Hilfe der in der Topik zusammengestellten Gesichtspunkte und aus dem Material, das in den Kollektaneen zusammengetragen war, sollten die Schüler den Inhalt für ihre Ausarbeitungen finden. Christian Weise hat in seinen Unterrichsstunden die alte Topologie nicht verschmäht (vgl. etwa 1677/1683: 113 ff.). Besonders lagen ihm die Realien am Herzen: „Niemand kan die geringste Rede aus eigenen Kräfften aufsetzen / wenn er keine Probation erdencken kan / dadurch die Protasis muß bestätigt werden. Denn wer vom Glauben oder von den guten Wercken etwas reden wolte / der müste sich bey der Theologie Raths erhohlen. Wer von Erbschafften / von Kauffen und Verkauffen / von Vormundschafften u. d. g. was vorzubringen hätte / der müste wol die besten Realien von einem Juristen haben. Wer mich bereden wolte / als wäre ich kranck / der müste sich in Medicinischen Schrifften umsehen" (C. Weise 1684: 74). Doch setzte Weise seine ganze Hoffnung auf die Macht der Formen. Die Form galt ihm sozusagen als leere Form, die mit Inhalt zu füllen war. Wer die Form beherrscht, wisse bereits zu einem Teil, was er zu sagen und zu schreiben habe. Man kann sagen, daß für Weise die Redeform dieselbe Funktion erfüllte, die den Topoi in der Rhetorik der Alten zukam.
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Die Aufklärer des frühen 18. Jahrhunderts hatten das Vertrauen in die Macht der Form verloren, und von den Techniken, die die Schulrhetorik anbot, hielten sie schon gar nichts: „Will man eine Rede oder Schrift aufsetzen, so verschließt man sich in ein Zimmer, schlägt seine Collectanea auf, und schreibt diese aus: oder man nimmt etliche Sribenten vor sich, und holet bald aus diesem, bald aus ienem ein Maul voll. ( . . . ) Man sticket Lappen zusammen, deren keiner auf den andern gemacht ist: man kann nichts mit Nachdruck sagen, weil man selbst keiner Sache gewiß ist: man setzt nicht, was man soll, sondern was man in den Collectaneis und Büchern findet. Man bringt nichts eigenes, sondern nur fremdes hervor, und die ganze Rede oder Schrift ist als eine Sammlung von gar nicht zusammenhangenden und gleichsam ohngefahr gefundenen Bücher-Stellen anzusehen" (F. A. Hallbauer 1725: 236). Die Aufklärer unter den Lehrern der Beredsamkeit setzten auf „die eigenen Kräfte", ohne die „nichts eigenes" (s. oben) zustande käme. Eigene Erfahrungen und gründliche Kenntnisse mußte man voraussetzen: „die Erfahrung und den Umgang mit vernünftigen und wohlgesitteten Leuten" (C. Gottsched 1736: 227 f.), vor allem aber „eine genug klare und deutliche Erkentniß des Wahren und Guten" (F. A. Hallbauer 1725: 265), daneben auch gelehrtes Wissen: „Die Logick ist das nöthigste instrument eines redners benebst der moral, aus den disciplinen holt man hauptsächlich argumenta probanda, aus der lectur und erfahrung illustrantia, die Moral giebt fürnehmlich pathetica an die hand" (J. A. Fabricius 1724: 51). Worauf es aber bei den Ausarbeitungen vor allem ankam, war der Verstand und die Klugheit. Dem Verstand fielen zwei Aufgaben zu. Zum einen sollte der Redner durch ihn überhaupt erst auf Gedanken kommen. Zum andern war der Verstand bei der Verarbeitung der Gedanken beteiligt. Ihm oblag es, „Sachen zu verbinden und aus einander zu setzen" (F. A. Hallbauer 1725: 246). So konnte Hallbauer feststellen: „Wer ein fertiges ingenium hat, erfindet vieles aus eigenem Nachsinnen. Sein eigener Kopf ist ihm eine reiche Quelle der Erfindung. So bald er auf eine Sache kommt, bringt der muntere und erhabene Verstand ohne Hülfe der Kunst von sich selbst vieles hervor" (ebd.: 269). Aufgabe der Klugheit war es dann, unter den zur Verfügung stehenden Gedanken diejenigen auszuwählen, die dem Zweck der Rede entsprachen: „Denn man darf nicht alles sagen, was einem in den Sinn kommt, ob es schon zur Materie gehöret, weil man so auf eine verdrießliche und dem Endzweck nicht dienliche Weitläufigkeit gerathen würde. Also gehöret zur Erfindung nothwendig die kluge Wahl mit, da man dasienige auslieset, welches sich zum Endzwecke schicket" (ebd.: 246). Hallbauer hat die Hauptgedanken der neuen Lehre von der Erfindung (inventio) so zusammengefaßt: „Erfinden heißt in der Oratorie, aus Wissenschaft und Erfahrung Gedancken abfassen, durch welche der Endzweck der
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Rede oder Schrift erhalten werden kan: und ist hierzu eine Fertigkeit des Ingenii Sachen zu verbinden und aus einander zu setzen; nachdem Judicium und Klugheit nöthig, aus den erfundenen das zum Endzweck dienende zu Wehlen, und das erwehlete recht an Mann zu bringen" (1725: 246). „Ein neues, aus der Naturwissenschaft und Logik stammendes Erfindungsmodell löst das besonders in humanistischer und scholastischer Wissenschaft gültige topische Erfindungssystem ab. Erfindung, im 16. und 17. Jahrhundert als Kunst definiert, aus vorgegebenen Materialien und Phrasen das ( . . . ) Geeignete 'aufzufinden', erhält nun den modernen wissenschaftlichen Sinn, Neues, bisher noch nicht Bekanntes zu entdecken" (G. Grimm 1983: 79). Der Ausdruck der Gedanken Auf die Lehre von der Findung der Gedanken wäre die Lehre von dem Ausdruck der Gedanken zu erwarten gewesen. Von einer bemerkenswerten Ausnahme abgesehen, über die gleich ausführlicher die Rede sein wird, ist dieser Schritt in den rhetorischen Lehrbüchern nicht getan worden. Stattdessen hielt man sich an die überlieferte Reihenfolge: auf die Lehre von der Findung der Gedanken folgte die Lehre von der Anordnung der Gedanken, die sogenannte dispositio. Doch ist die Idee an sich allenthalben erkennbar. Wenn Weise aus der antiken Lehre von der Angemessenheit (aptum) der Rede die Unterscheidung zwischen einem „internen" und einem „externen judicium" übernimmt, dann interpretiert er das innere Urteil als „das judicium von der Sache / darauff das Wort zielet" (C. Weise 1702: 275). Zwar spricht er von der „Sache", auf die sich das Wort beziehe, nicht von Gedanken. Doch dürfte schon gemeint sein, was andere Rhetoriker als Ausdruck der Gedanken bezeichnet haben. Weise hat dem inneren Judicium keine Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Für ihn war das äußere Urteil des Redners zur Ausgestaltung der Rede wichtiger. Hallbauer unterscheidet sich in diesem Punkt kaum von ihm. Jedoch änderte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bewertung: „Gegenüber dem gesellschaftlichen Richtmaß des äußeren aptum rückt zu Beginn des 18. Jahrhunderts das sachliche Kriterium des inneren aptum in den Vordergrund — ein Resultat der Wissenschaftsentwicklung einerseits und der Gesellschaftsumstrukturierung andererseits" (G. E. Grimm 1983: 67). Ein anderer Ansatzpunkt für eine Lehre vom Ausdruck unmittelbar im Anschluß an die Lehre von der Findung der Gedanken ist in Gottscheds Unterscheidung von Beredsamkeit und Wohlredenheit enthalten. Ihr liegt die Unterscheidung von Beredsamkeit und Sprache zugrunde. Sprache ist für Gottsched „die Gabe", des Menschen, „seine Empfindungen und Gedanken mit deutlichen und vernehmlichen Wörtern auszudrücken" (C. Gottsched 1736: 3). Infolgedessen besteht die Wohlredenheit „in vernünftigen und wohl
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ausgedrückten Gedanken" (ebd.: 33 f.). Die Sprache (und also auch die Wohlredenheit) sind zwar „ der Grund aller Beredsamkeit": „Doch ist sie an sich selbst noch die Beredsamkeit nicht" (ebd.: 4). Denn die Beredsamkeit wird von Gottsched ganz im herkömmlichen Sinne bestimmt: „ Wir müssen nemlich durch die Beredsamkeit, im eigentlichen und engern Verstände, eine Geschicklichkeit verstehen, sein Zuhörer von allem, was man will, zu überreden, und zu allem was man will, zu bewegen" (ebd.: 34). Gottsched hat zwei Funktionen der Rede vor Augen und ordnet diese unterschiedlichen Fähigkeiten des Menschen zu. Die Wirkung einer Rede ist Folge seiner Beredsamkeit. Sie setzt den Ausdruck von Gedanken und Empfindungen voraus, und diese macht die Sprache eines Menschen und, wenn sie gelungen sind, seine Wohlredenheit aus. Genau dreißig Jahre später kehrte Bernhard Basedow, der bekannte Philanthrop, das Verhältnis um: „die Wohlredenheit (...) schliesset die eigentliche Beredsamkeit oder die Kunst zu überreden und zu bewegen, als einen Theil in sich, und muß in einem jeden Vortrage, auch in einem solchen, der fast keiner Beredsamkeit und Schönheit fähig ist, angewendet werden" (J.B. Basedow 1756: Vorrede). Sein Lehrbuch galt darum auch nicht mehr der Beredsamkeit, sondern der „prosaischen und poetischen Wohlredenheit". Die Ausnahme, auf die oben hingewiesen wurde, bildet Andreas Fabricius. Fabricius unterschied zwischen dem Wesen und dem Zweck der Beredsamkeit. Das Wesen sei „der accurate ausdruck der gedanken" (F. A. Fabricius 1724: 3), der Zweck, „durch geschickten ausdruck der gedancken in andern eben die gedancken und regungen (zu) erwecken" (ebd.: 4). Beides gehört für ihn zur Beredsamkeit. So sei eine jede Oratorie: ,,a) (...) eine vernünftige anweisung (...) zu der geschicklichkeit, solche wörter zu gebrauchen, welche mit unsern gedancken genau übereinkommen, b) und in solcher Ordnung mit solcher art seine gedancken fürzustellen, daß in denen die unsere worte hören oder lesen, eben die gedancken und regungen entstehen, die wir ihnen beybringen wollen" (ebd.: 2). Der zentrale Begriff, der beiden Aspekten der Beredsamkeit zueigen ist, ist also für Fabricius der Ausdruck der Gedanken. So ist zu erklären, daß er sich — meines Wissens als erster — von der überlieferten Reihenfolge der Teile einer Rhetorik lösen und die Lehre von dem „Ausdruck der Gedanken", wie bei ihm die Elocutio überschrieben ist, unmittelbar auf die Lehre von der Findung der Gedanken folgen lassen konnte. Ein solches Vorgehen hat zweifellos den Vorteil, daß es den neuen Vorstellungen vom Reden und Schreiben entsprach und von diesen geradezu gefordert wurde. Doch handelte man sich mit ihm auch Schwierigkeiten ein, und mit diesen ist Fabricius nicht zurande gekommen. Wenn man die Lehre von dem Ausdruck, dem Stil oder der Elocutio, vor die Lehre von der Anordnung der Gedanken (die Disposition) stellt, dann muß notwendigerweise in dieser
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zwischen der Anlage und der Ausführung eines Vortrages oder Aufsatzes unterschieden werden. Das hat Fabricius getan. Seine Lehre „von der Ordnung im fürtrage" zerfallt in zwei Teile: „Die zusammenfügung heist dispositio, und die Überkleidung elaboratio" (ebd.: 372). Das ist überzeugend. Doch wenig überzeugend war es dann, die Lehre von der Elocutio als ganze voranzustellen. Denn einige Teile von ihr können zwar der Lehre von dem Ausdruck zugerechnet werden, andere jedoch gehören zu dem, was Fabricius die „Elaboration" nannte. Wie man auch immer seinen Versuch, die Lehre von der Beredsamkeit neu zu organisieren, beurteilen mag, die „Philosophische Oratorie" von Fabricius ist ein erstes, wichtiges Zeugnis für einen grundsätzlichen Wandel in den Vorstellungen vom Reden und Schreiben, der Produktion von Texten. Die Anordnung der Gedanken Für Weise und seine Schule war das Disponieren von Reden und Schriften kein Problem. Man wußte, wie ein Kompliment anzubringen, ein Brief abzufassen und eine Rede zu gliedern war. Die Schemata waren vorgegeben. Man brauchte sie nur anzuwenden. Was dann noch zu tun übrig blieb, besorgte die äußere Urteilsfähigkeit des Autors. Für die Aufklärer unter den Rhetorikern des 18. Jahrhunderts war jedoch nicht die Form, sondern der Gedanke, der zum Ausdruck kommen sollte, Grundlage für die Ausarbeitung von Texten, und so „kann man nicht vorschreiben, wie viele Theile einer machen solle: denn dieses kommt nicht allemal auf des Redners Willkür an: das thema muß ausweisen, wie viele Theile zu machen sind" (F. A. Hallbauer 1725: 411). Damit wurde das Disponieren zum Problem. Fabricius, Hallbauer und Gottsched haben ein Verfahren entwickelt, das den neuen Vorstellungen vom Schreiben und Reden entsprach und noch lange im Aufsatzunterricht Anwendung finden sollte. Sie erinnerten sich daran, daß die alten Rhetoriker zwischen der Proposition und ihrer Ausführung einen Redeteil für nützlich erachteten, den sie „partitio" oder „divisio" nannten. Hier sollte dem Hörer oder Leser eine Gliederung der Rede vorgestellt werden, die es ihm erleichtern sollte, den Ausführungen zu folgen. „Wenn aber nun die Gliederung auch nicht immer notwendig oder auch nützlich ist", meinte Quintilian, „so trägt sie, richtig angewandt, dazu bei, die Rede licht- und reizvoll zu machen. Denn sie bringt nicht nur zuwege, daß dadurch, daß die Dinge gleichsam aus dem Gedränge herausgehoben und den Richtern unter die Augen gebracht werden, das, was gesagt wird, klarer wird, sondern sie bietet auch dem Hörer eine Erholung durch die festen Endpunkte der einzelnen Teile — nicht anders als dem Reisenden die Meilensteine mit ihren Entfernungsangaben viel von ihrer Ermüdung nehmen" (Quintilian IV, 5, 22, zit. nach 1972: I, 508 f.). Aus einem Teil der Rede
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leiteten nun die Rhetoriker des 18. Jahrhunderts eine Operation ab, die es einem Schreiber oder Redner ermöglichen sollte, aus dem Gegenstand oder Thema den Verlauf ihrer Ausführung, also die Gliederung, zu entwickeln. Es ist dies die Geburtsstunde der Disposition, wie sie bis vor nicht langer Zeit von jedem ordentlichen Schulaufsatz verlangt wurde. Auch Hallbauer hielt die Anwendung des Verfahrens nicht in jedem Fall für notwendig. Doch „in längeren Reden, darinne man sich ein gewiß thema auszuführen vorgesetzt, wird es oft nöthig seyn, dasselbe in gewisse Theile zu zerlegen" (F. A. Hallbauer 1725: 409). Sonst würde ein Redner „alles unter einander mengen, und in der größten Unordnung reden oder schreiben" (ebd.). Für Hallbauer ist die Gliederung also nicht mehr eine Orientierungshilfe für den Leser oder Hörer, sondern eine Methode für den Schreiber oder Leser, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Die Gliederung hat eine neue Aufgabe erhalten. Hallbauer hat insgesamt sechs Gesichtspunkte angeführt, nach denen die Zergliederung eines Themas vorgenommen werden kann (ebd.: 409 — 411).: 1. Handelt es sich um ein Ganzes, auf das sich das Thema bezieht, so sollen die Teile des Ganzen der Gliederung zugrundegelegt werden: „z. E. wer von den Menschen reden wollte, würde ihn zu betrachten haben 1) nach der Seele, 2) nach dem Leibe". 2. Bei Gattungsbegriffen legt sich eine Gliederung nach den Arten nahe: „als wenn man von den Geistern schreiben wollte, würde man erstlich von Gott, hernach von Engeln, und hier wiederum theils von guten, theils von bösen, und endlich von den Seelen der Menschen handeln müssen". 3. Man kann die Teile einer Rede aber auch aus „den erklärenden Umständen des thematis, als den Eigenschaften, Endzwecken, Hülfs-Mitteln, der Art und Weise, der Gelegenheit, etc." nehmen: „z. E. man wollte von einem guten Gewissen reden, so könnte man 1) sagen, was ein gutes Gewissen sey, 2) woher es entstehe, 3) was es vor herrliche Wirckungen habe". 4. Bei Erzählungen braucht man nur „1) die Gelegenheit, 2) die Sache selbst, 3) den Erfolg erzehlen". 5. Bei Begründungen sind nur die „Beweisthümer" anzuführen: „z. E. thema, Schulen sind in einer Republik nöthig, Denn 1) dienen sie zur Erhaltung und Fortpflanzung der einen Lehre und Gelehrsamkeit; 2) wird darinne die Jugend zubereitet, dereinst dem gemeinen Wesen nützlich Dienste zu leisten". 6. Bei der Erörterung von Problemen sind die Argumente pro et contra vorzubringen: „Wenn das thema ein problema vorträgt, ζ. E. ob die Seele des Menschen heutigen Tages von Gott unmittelbar geschaffen würde? so könnte man 1) anführen, daß es einige bejahten, aus was Ursachen dies geschehe, und was vor Grund dieselben hätten, 2) zeigen, daß andere es
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verneinten, und lehren, die Seelen würden durch die Eltern fortgepflanzt, mit was vor Gründen es geschehe, und ob sie trifftig sind". Gottsched hat die verschiedenen Gesichtspunkte auf zwei reduziert und damit den Grund zu der Dispositionslehre gelegt, die im 19. Jahrhundert verbindlich wurde (C. Gottsched 1726: 81 ff.): 1. „Da entweder das Subject ein Gantzes ist, so viele Theile unter sich begreifet, oder das Praedicat von solcher Beschaffenheit ist". 2. „Da entweder das Subject, als ein Begriff von einer Gattung, vielerley Arten unter sich begreift, von welchen das Praedicat auch gilt; oder wo das Praedicat vielerley Arten unter sich hat, die dem Subjecte alle zugeeignet werden". Im ersten Fall sprach man später von der „Partitio", im zweiten Fall von der „Divisio". Zu einer anständigen Gliederung eines Textes gehört aber nicht nur die Zerlegung eines Gegenstandes oder Themas in seine Teile, sondern auch die Festlegung ihrer Reihenfolge: „Steine, Holz und Kalk machen noch kein Gebäude aus, wenn sie gleich an sich noch so gut und auserlesen sind. Sie müssen auf eine gewisse Art aneinander gefügt, und verbunden werden, wenn ein Haus daraus werden soll. Wie aber die Regeln der Baukunst sehr unterschieden sind, danach man in verschiedenen Ländern gebauet hat: So ist es auch mit den Regeln von der Anordnung und Einrichtung einer Rede beschaffen. So viele Köpfe es unter den Lehrern der Beredsamkeit gegeben hat, so viel eigene Lehrsätze von des Disposition haben sie auch gegeben" (ebd.: 193).
Die sprachliche Ausführung der Gedanken (Stil) Der Unterricht in der deutschen Oratorie zielte von Anfang an nicht nur auf die Ausbildung der Beredsamkeit, sondern auch auf die Bildung eines guten Stils. So sei nicht nur die „persuasio" Aufgabe der Rednerkunst, meinte Daniel Richter (1660: 3), sondern auch das „bene dicere". Weise geht noch ein Stück weiter. Er ist der Auffassung, daß es nicht Aufgabe der Schule sei, Redner auszubilden. Selbst wenn von Schülern die Abfassung kleinerer Reden verlangt werde, so geschehe dies doch in erster Linie zur Bildung ihres Stiles: „nicht als meinete ich junge Leute zu bereden / daß sie dergleichen SchulOrationes dermahl eines im gemeinen Leben würden zu verfertigen haben; Sondern weil dieses ein bequemes Mittel ist / wodurch die Zierligkeit im stylo wol geübet wird" (C. Weise 1677/1781: 133). Die Tatsache, daß die Ausbildung stilistischer Fertigkeiten am bequemsten an schriftlichen Ausarbeitungen vorgenommen werden kann, hat schließlich dazu geführt, daß Stil und Schreiben in einen immer engeren Zusammenhang gebracht und die
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Abschnitte über den Stil oder die rhetorische Elokution in zunehmenden Maße überschrieben wurden mit: „V° n der Schreibart". Dennoch klagte Hallbauer noch 1725, daß es eine Stilistik der deutschen Sprache nicht gebe, die den Ansprüchen, die an eine solche zu stellen wären, genüge: „Man findet wol in allen teutschen Oratorien auch eine Anweisung zum teutschen stilo: sie ist aber bey den meisten sehr kurz und unzulänglich, auch wol nach dem Unterricht, welchen die Alten vom Lateinischen gegeben, schlechterdings abgefasset, ohne auf die teutsche Sprache insbesondere Absicht zu haben, welches doch schlechterdings nöthig ist, wenn man einen im teutschen stilo unterrichten will" (F. A. Hallbauer 1725: 495 f.). Eine solche Klage mag ungerecht erscheinen, wenn man sieht, wie in den Lehrbüchern die Abschnitte über den Stil immer umfangreicher wurden. Doch grundsätzlich wird man Hallbauer zustimmen müssen. Es gab zwar eine allgemeine Tendenz in den Stillehren des frühen 18. Jahrhunderts, die E. Blackall so beschreibt: „Die Opposition gegen den altehrwürdigen, schwerfälligen, unbiegsamen Prosastil, der sich auf den Kanzleistil berief, wurde immer stärker, aber auch der Widerstand gegen die übertriebene Natürlichkeit eines Christian Weise. Ein neutraler Mittelweg hieß die Forderung der Stunde" (E. Blackall 1966: 122). Doch blieben die Stilvorstellungen der einzelnen Rhetoriker nach wie vor unsicher und uneinheitlich. Den neutralen Mittelweg, von dem Blackall spricht, waren die Gelehrten gegangen. Ihre Direktion und Ausdrucksweise entsprach durchaus den neuen Vorstellungen vom Reden und Schreiben. So lag es nahe, daß sich die neuen Rhetoriker auch am Stil der Gelehrten orientierten. Joachim Lange war so sehr davon überzeugt, daß es „in der Eloquentia" nur „auf die sapientia" und eine „solida rerum cognitio" ankomme ( J . Lange 1723: 27), daß er die Fragen des Stils für nachrangig hielt: „Verstehet man nu nebst der Sprache auch die Sache selbst und siehet man solche mit gehörigem affect ein; so ists leicht, die Worte, so man mit gutem Vorrathe zu seinem Dienste hat, der erkannten Sache in gehöriger Ordnung und Deutlichkeit, imgleichen mit rechtem Gewichte und Nachdruck geschickt zu accommodiren" (ebd.: 26). Fabricius schwebte eine Mischung von galantem (er spricht auch von politem) und gelehrtem Stil vor Augen, also von Weise und Wolf: „Und wann man endlich von einer spräche und derselben Schönheit urtheilen will, so muß man den gelehrten und politen gebrauch zur richtschnur setzen" (J. A. Fabricius 1724: 179). Zum gelehrten Stil bemerkte er: „ ( . . . ) diese ist eine geschicklichkeit, eine sache, welche wir in unserm gemüth klar, deutlich, gründlich, artig und ordentlich, nach ihren beschaffenheiten entworffen, mit denen darüber in uns entstandenen gedancken und regungen, durch solche worte fürzustellen, die mit der sache so sie fürbilden und unter sich selbst eine genaue proportion und Übereinstimmung haben, sich zu denen begriffen
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des Zuhörers oder lesers schicken, und also vermögend sind, bey andern eben die gedancken und regungen zu erwecken, welche wir intendiren" (ebd.: 146). Danach müßte der Stil der beste sein, dem es gelingt, die Gedanken genau und verständlich auszudrücken. Hallbauer hat auf die galanten Beimischungen verzichtet. Stil ist für ihn kurz und bündig Ausdruck der Gedanken. Doch nicht jeder Ausdruck von Gedanken ist schon ein guter Stil, sondern nur derjenige, der seine Form aufgrund der dargestellten Sache findet, der Art der Adressaten und der Absicht, die der Schreiber oder Redner verfolgt: „Der Ausdruck der Gedankken geschiehet durch den stilum, oder eine gewisse Art zu reden und zu schreiben, welche sich zu den Sachen, der Beschaffenheit der Leser und Zuhörer, und der Absicht des Redners genau schicket, und andern eben die Gedancken beyzubringen fähig ist" (F. A. Hallbauer 1725: 495). Hallbauer verbindet die neuen Vorstellungen vom Reden und Schreiben mit der alten Lehre von der Angemessenheit (aptum) der Ausdrucksweise. Gottsched dürfte am prägnantesten beschrieben haben, was man damals von einem guten Stil dachte. Er teilte uneingeschränkt die Grundüberzeugung der neuen Rhetorik, nach der es bei der Schreibart „mehr auf die Gedancken als auf die Worte und Redensarten" (C. Gottsched 1736: 227) ankomme. „Ein Satz kann unmöglich schön seyn, der noch nicht einmal vernünftig ist: So wenig ein menschlicher Körper schön werden kan, wenn er höckericht und gebrechlich ist (...). Der innere Bau der Gebeine muß den wahren Grund zur äußerlichen Schönheit legen, obgleich hernach noch mehr dazu gehöret: Und die logische Richtigkeit eines Gedankens muß aller Perioden innerliche Schönheit ausmachen" (ebd.: 270). Die Grundvoraussetzung eines schönen Stils ist also ein richtiger Gedanke. Was „hernach noch mehr dazu gehörte", das ist die Natürlichkeit. Diese charakterisiert Gottsched so: „Es bestehet aber die natürliche Schreibart in der gemeinen Art des Ausdruckes, deren man sich im täglichen Umgange bedienet. Man denkt in derselben mehr an die Sachen, als an die Wörter; man redet deutlich, leicht, und verständlich; man sinnt auf keine Zierrathen seiner Redensarten; man bemüht sich nichts sonderbar scharffsinniges oder nachdenkliches zu sagen, sondern ist zufrieden, daß man wahre und ordentliche Gedanken vorbringet. (...) Sie zwinget sich in nichts: Ausser, daß sie etwa in der Ordnung der Wörter, und im Zusammenhange der Perioden etwa sorgfältiger ist, als man in der gemeinen Sprache zu seyn pflegt" (ebd.: 338 f.) Ein natürlicher Stil ist also ein im schriftlichen Medium kontrollierter Ausdruck vernünftiger Gedanken.
4. Schülerarbeiten Für die zweite Phase in der Entwicklung einer deutschen Oratorie, die in der Überschrift zu diesem Kapitel als „gelehrte Beredsamkeit" charakterisiert
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wurde, liegen mir einige Arbeiten von Schülern vor. Sie stammen aus dem Archiv der Hohen Karlsschule zu Ludwigsburg und befinden sich heute im Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Ihre Verwendung im Rahmen des Kapitels ist nicht unproblematisch. (1) Die Hohe Karlsschule war kein gelehrtes Gymnasium, sondern eine herzogliche Militärakademie und folglich eher wie eine Ritterakademie eingerichtet. (2) Es haben sich nur die Arbeiten von Schülern erhalten, die dem Herzog vorgelegt und aus welchen Gründen auch immer für wert erachtet wurden, aufbewahrt zu werden, teils Reden und Gedichte, die für festliche Gelegenheiten angefertigt worden waren, teils Arbeiten, die der Herzog selbst in Auftrag gegeben hatte (meist Abhandlungen, auch in Form von Brieffolgen oder Tagebucheintragungen). (3) Die Arbeiten stammen aus den Jahren 1771 — 1781, also aus einer Zeit, die schon jenseits des Zeitrahmens liegt, der Gegenstand des Kapitels ist. Das zeitliche Argument könnte man beiseite schieben, wenn nicht auch die Arbeiten selbst Züge aufwiesen, die schon in eine neue Zeit gehören. So wird man die Abhandlungen hier kaum heranziehen dürfen, da es sich bei ihnen bereits um Aufsätze im modernen Sinne des Wortes handelt (vgl. Kap. V), wohl aber die Gedichte, Reden und — mit Einschränkungen — auch die Briefaufsätze. Gedichte Die wenigen Gedichte, die bei den Akten liegen, sind Gelegenheitsgedichte, die am Jahrestag der Gründung der Akademie, zum Geburtstag der herzoglichen Favoritin oder bei der Verabschiedung des Herzogs, also bei irgendwelchen festlichen Gelegenheiten, vorgetragen wurden, teils im Namen aller Schüler, teils aber auch nur im eigenen. Dies waren mit Sicherheit keine Übungsarbeiten. In allen Gedichten wird dem Herzog oder seiner Favoritin, der Reichsgräfin von Hohenheim, auf eine Weise gehuldigt, die den Ausdruck wahrer Gefühle so gut wie ausschließt. Ihrem rhetorischen Gestus nach zu urteilen, sind sie eher der ersten Hälfte des Jahrhunderts als der zweiten, aus der sie tatsächlich stammen, zugehörig. So lautet ein Gedicht zur Verabschiedung des Herzogs, der offensichtlich zu einer Reise aufbrechen wollte: Ο was fühl' ich! Weg von meinem Herzen Weicht gewohnte Lust Ein geheimer banger Schmerzen Wühlt in meiner Brust. Weinet Musen! Weinet meine Brüder! Unser Vater geht! Wem sing' ich Geburthsfest-Lieder, wenn der Vater geht?
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Vor den Herrn des Lebens will ich treten, Und in heil'ger Furcht, vor ihm, Daß mein Herzog lebe, beten: Schik ihm Deine Cherubim. Schik sie, Gott, den Fürsten zu bewahren, Mit dem Flammenschwert, Daß Er, frey vom Neze der Gefahren, Munter wiederkehrt. Carl! Ihr Schöpfer sey in Ihrer Mitte, Gott Ihr Tritt und Schritt! Nehmen Sie, (das Einz'ge, was ich bitte,) Unsre Herzen mit! (im Stuttgarter Hauptarchiv unter dem Signum A 272 Bü 11, Nr. 41 zu finden). Von dem jungen Schiller stammen zwei Gedichte auf den Geburtstag der Reichsgräfin, vermutlich 1778, beide unter dem Titel „Empfindungen der Dankbarkeit", das eine „von der Akademie", d. h. den Zöglingen der Militärakademie, das andere „von der Ecole des Demoiselles", die der Karlsschule assoziiert war. Sie unterscheiden sich weder im Inhalt noch in Diktion und Ton von den Gedichten der anderen: Heut wird kein Ach gehört — heut fließet keine Träne; Nur froher Dank steigt himmelwärts! Die Luft erschallt von jubelndem Getöne, Franziskens Name lebt durch jedes Herz, so heißt es in dem Akademiegedicht, und von der Jubilarin selbst: So wandelt sie dahin auf Rosenpfaden, Ihr Leben ist die schönste Harmonie, Umglänzt von tausend tugendsamen Taten, Seht die belonte Tugend — Sie! Reden Von den zahlreichen Reden, die die Karlsschüler zu halten hatten, haben sich insgesamt 44 erhalten. Sie befinden sich teils in den Akten der Karlsschule (s. oben), teils in Privatbesitz. Es handelt sich vermutlich bei allen um Entwürfe für Festreden zum Geburtstag der Reichsgräfin Franziska von Hohenheim aus den Jahren 1779 bis 1781. Zweimal, 1779 und 1780, hatte „der Eleve Schüler" (Schiller) die Ehre, die Festrede halten zu dürfen (vgl. Schiller Nationalausgabe, Bd. 20, 1. Teil, Weimar 1962: 112 und Bd. 21, 2. Teil, Weimar 1963: 121 ff.).
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Die Themen wurden alle vom Herzog selbst gestellt. Einige der Themen von 1779 lauteten: „Von der zu erwartenden Standhaftigkeit tugendsamer Frauen"; „Ist wahre unverfälschte Tugend eins mit Religion im engsten Verstand?"; „Was ist die Anlage des Schöpfers in Betreff der Tugend?"; „Kann Tugend Tugend seyn ohne geofenbarte Religion?"; „Hat Gott alle mögliche Tugend in sich, was bleibt dem jrrdischen Menschen übrig?"; „Inwieweit hat Denken Einflus auf die praktische Tugend?". Ein Jahr später hatten alle Schüler nur ein Thema zu bearbeiten: „Die Tugend, in ihren Folgen betrachtet". Ein Jahr darauf ging es um die Freundschaft: „Gibt es Glückseligkeit ohne Freundschaft?" Vielleicht gehört in dieses Jahr auch eine undatierte Rede zu dem Thema: „Ist die Freundschaft des Fürsten dieselbe, wie die eines Privat Manns?" O b Tugend oder Freundschaft, in jedem Fall handelt es sich um moralphilosophische Themen. Dies entsprach durchaus der Zeit. Einem Königsberger Direktor verdanken wir eine Sammlung von Themen für Schulreden aus dem 18. Jahrhundert (R. Möller 1878). Sie bestätigt und differenziert das Bild, das man aus den Reden der Karlsschule gewinnt. Es wird deutlich, daß die im 17. Jahrhundert noch dominierenden religiösen Themen allmählich durch moralphilosophische verdrängt wurden. Diese hatten sich teils aus den religiösen Themen, teils neben ihnen her entwickelt. Zumeist geht es um Tugenden und Laster der Menschen: „Es giebt wirklich keine lobenswerthe Eigenschaft", meint der Königsberger Gewährsmann, „über welche die Schüler damals nicht öffentlich peroriert hätten: Hochmuth und Demuth, Stolz und Bescheidenheit, Mässigkeit und Üppigkeit, Ehrgeiz und Zufriedenheit, Wahrheitsliebe und Schmeichelei, Geiz und Freigiebigkeit, Patriotismus und Egoismus (...), vor allem aber Freundschaft, Gehorsam, Dankbarkeit, Fleiss, Thätigkeit, Wetteifer und Anwendung der Zeit" (R. Möller 1878: 20). So lauteten in Hirschberg beispielsweise 1738 die Themen: „die kluge Anwendung der Zeit unter dem Beispiel des weisen Königs Salomonis, wie er seine Zeit gut und übel angewendet: 1. von der Wichtigkeit der Zeit überhaupt vor alle Menschen; 2. von der Jugend eines Menschen und Salomonis insonderheit, 3. von der mittleren Lebenszeit, was Salomon da vor gute und böse Thaten gethan, 4. vom Alter der menschlichen Lebenszeit und wie man gar oft mit Salomo alsdann beklaget, was man in der Jugend vor Thorheiten begangen, 5. vom Ende der Zeit" (ebd.: 20). Neben den moralphilosophischen oder — wie man sie später nennen wird — den allgemeinen Themen setzten sich auch die historischen und die auf die klassische Literatur bezogenen Themen im Verlauf des 18. Jahrhunderts durch (vgl. ebd.: 21 ff.). Die Form der Reden scheint weitgehend den Vorstellungen entsprochen zu haben, die in den Lehrbüchern immer wieder ausgebreitet wurden. Jedenfalls ist dies der Eindruck, den man aus den Schülerreden der Hohen Karlsschule gewinnt. Ich möchte diese Behauptung zumindest an einer dieser
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Reden erläutern. Es handelt sich um die Rede von „Struve dem ältern" von 1780 (A 272, Bü 15, Nr. 21). Festreden haben oft eine doppelte Aufgabe. In ihnen soll der Anlaß gebührend gefeiert und gleichzeitig ein Thema abgehandelt werden. Wenn die Karlsschüler zum Geburtstag der Reichsgräfin über das Thema sprechen sollten: „Die Tugend, in ihren Folgen betrachtet", dann standen sie genau vor einer solchen Aufgabe. Das rhetorische Schema einer förmlichen Rede gab ihnen die Möglichkeit, sich ihrer auf eine elegante Weise zu entledigen. Alle Autoren verbinden im Exordium (der Einleitung) und in der Conclusio (dem Schluß) das Thema mit dem Anlaß, konzentrieren sich im übrigen aber ausschließlich auf das Thema. Struve etwa beginnt mit einer allgemeinen Feststellung: „Jeder Mensch, welchen erhabene Tugenden von dem Haufen der übrigen Sterblichen auszeichnen, kann mit Recht Anspruch auf unsere Verehrung machen", deutet vorsichtig den Bezug des Themas auf den aktuellen Anlaß an: „Wenn aber dieser Tugendhafte unter uns ist, wenn seine Tugend den Staat erbauet, alsdenn macht die Dankbarkeit eine heilige Pflicht aus diesem Tribut von Ehre und Liebe", um dann den Herzog direkt anzusprechen: „Diese Empfindungen sind der Grund der gegenwärtigen Versammlung. Jeder steht hier mit dem äußersten Verlangen zu opfern auf dem Altar, den heut CARL der Tugend errichtet; jeder wünscht in Worten ausdrüken zu können die Empfindungen, die der heutige Tag in jedem hervorbringt". Es folgt die für die Einleitung charakteristische „captatio benevolentiae": „Diese Empfindungen sind es, DURCHLAUCHTIGSTER HERZOG, die auch mich dreuste (sie) machen, daß ich aus der Ferne mit schwachen furchtsamen Schritten mich nähere, um hier die Gedanken in Worte einzukleiden, die die Betrachtung der Tugend am heutigen Tage in mir hervorgebracht". Schließlich wird das Thema, die Propositio, eingeführt: „Glüklich werde ich mich schätzen, wenn ich dem höchsten Zutrauen des erhabensten Tugendfreundes entspreche, indem ich die Herrlichkeit der Tugend in ihren Folgen zu zeigen versuche!" In derselben Manier wird am Schluß (in der Conclusio) der Bezug zu der Gräfin hergestellt: „Der Tugendhafte darf nur genannt werden, und sein Lob steigt himmelan: ich habe SIE genannt, ERLAUCHTE GRÄFINN, und ihr Lob steigt himmelan". Im thematischen Teil, dem Hauptteil der Rede, folgt Struve nicht stur einem überlieferten Redeschema, sondern macht die Form, getreu den neuen Vorstellungen vom Reden, abhängig von dem, was das Thema erforderte und er selbst zu sagen hatte. Das Thema legte eine Betrachtung nahe: „die Tugend, in ihren Folgen betrachtet''. Eine regelrechte Form der Betrachtung gab es damals noch nicht, wohl aber sprach man von „Erklärungen" oder „Erläuterungen" (vgl. etwa F. A. Hallbauer 1725: 295 ff.), und für eine solche hatte Hallbauer das folgende Vorgehen empfohlen: „Überhaupt kann man
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auch die Theile nehmen aus den erklärenden Umständen des thematis, als den Eigenschaften, Endzwecke, Hülfs-Mittel, der Art und Weise, der Gelegenheit etc. Ζ. E. man wollte von einem guten Gewissen reden, so könnte man 1) sagen, was ein gutes Gewissen sey, 2) woher es entstehe, 3) was es vor herrliche Wirckungen habe" (ebd.: 410). Wendet man die Empfehlung Hallbauers auf das gestellte Thema an, so hätte Struve zuerst den Begriff der Tugend bestimmen, dann auf die Herkunft der Tugend eingehen und schließlich ausführlich ihre Folgen darstellen müssen. Nichts anderes hat er getan. „Tugend ist Uebereinstimmung aller unserer Absichten, Neigungen und Handlungen mit der göttlichen Anordnung, die sich stets auf unser Glük und das Beste unserer Nebenmenschen bezieht". Das ist die Bestimmung des Begriffes. Nur kurz geht Struve auf die Frage ein, „woher" denn die Tugend „entstehe": „Nur mit vieler Mühe, nur mit fortgesetzter Arbeit kann Tugend errungen werden; nur durch Anstrengung unsers jugendlichen, unsers männlichen und höhern Alters kann Tugend in unsern Herzen feste Wurzeln schlagen" usw. Den größten Raum in der Rede nimmt, wie das Thema es verlangte, die Darstellung der Folgen ein. Sie ist denkbar einfach gegliedert. „Tugend macht den Tugendhaften selbst glücklich", das ist der Inhalt des ersten, „sie macht auch andere glücklich", dies der Inhalt des zweiten Teiles. Die Aussage des ersten Teiles wird mit drei Argumenten gestützt: die Tugend „breitet eine geheime Zufriedenheit, recht gethan zu haben" über den Tugendhaften aus; „sie lohnt auch mit Ehre und Beyfall", und sie „beseeligt endlich den Tugendhaften mit den höchsten, mit den dauerhaftesten Freuden". Was diese sind, wird nicht ganz deutlich. Struve faßt diesen Abschnitt seiner Rede so zusammen: „Der Tugendhafte ist also immer glücklich. Er besitzt Gesundheit, die Frucht der Arbeitsamkeit und Mäßigung, er wird von allen geehrt und hochgeschätzt, er ist mit sich selbst zufrieden, und freut sich seines guten Gewißens, er genießt endlich die dauerhafteste die reinste, die ächteste Freuden". Der zweite Abschnitt, der dem Glück der anderen gewidmet ist, fallt kürzer aus. Auch hier findet man drei Argumente: der Tugendhafte „macht (...) durch sein Beyspiel viel tugendhaft"; er „lehrt überall die Vortreflichkeit, Hoheit und Würde der Tugend" und „findet sein größtes Vergnügen darinn, andere glücklich zu machen". „Heiter sieht man ihn oft unter Haufen armer kranken herumgehen, um sie mit milder Hand zu erquiken. Oft sizt er in einer armen Hütte, und versammelt die wißbegierigen Landleute um sich herum (...). Überall verbreitet er Seegen, Glük und Wärme um sich her". Auch dieser Abschnitt wird durch eine Zusammenfassung abgeschlossen. Zwischen beiden Abschnitten ist eine sogenannte „refutatio" oder „Widerlegung" von Einwänden anderer eingeschoben: „Woher kömmt es, ruft man mir zu, daß der Tugendhafte so oft unglüklich ist?" Struve setzt sich mit
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diesem Einwand nicht auseinander, sondern bestreitet einfach, daß es sich so verhalte: „Der Tugendhafte ist nie unglüklich. Wenn er sich gleich seine Sicherheit nicht immer schaffen, seine äußerliche Wohlfahrt nicht immer erhalten, die Schmerzen und Krankheiten nicht immer von sich abwenden, den Beleidigungen und Verfolgungen der boshaften und unverständigen sich nicht stets entziehen kan, so ist er doch glücklich". Und dann folgen lauter Argumente in Form rhetorischer Fragen, die erweisen sollen, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Nicht alle Reden der Sammlung sind so klar und durchsichtig aufgebaut, wie die Rede von Struve. Doch läßt sich in allen das Grundmuster mehr oder minder deutlich erkennen. Der Stil der Reden ist bei weitem nicht so einheitlich wie ihre Anlage. Zwar ist der oratorische Schwung bei allen ausgeprägt, einmal mehr, einmal weniger gelungen. Doch scheint der Stil, den die Schüler schreiben, mehr von der Lektüre abhängig gewesen zu sein, als von den Anweisungen in den rhetorischen Lehrbüchern. Struve, den wir ausführlich zu Worte kommen ließen, entfaltet eine vergleichsweise neutrale Rhetorik, stellenweise gewiß nicht ohne Wirkung. Schiller war beeindruckt von den spekulativen Gedankengängen der englischen Moralphilosophen, und so scheint er auch deren Stil nachgeahmt zu haben: „Wenn wir uns den Menschen als einen Bürger des großen Weltsystems denken, so können wir den Wert seiner Handlungen nach nichts besser bestimmen als nach dem Einfluß, den sie auf die Vollkommenheit dieses Systems haben. Wenn wir noch weiter gehen, wenn wir finden, daß alle Räder, alle treibende Kräfte des großen Systems nur darum so innig ineinandergreifen, nur darum so harmonisch zusammenstimmen, damit der geistige Teil der Schöpfung dadurch vollkommener werde, der empfindende angenehmer, der denkende höher, umfassender denke; so können wir jede moralische Handlung nur nach dem Maße schätzen oder verdammen, nach welchem sie mehr oder weniger zur Vollkommenheit der geistigen Wesen mitgewürkt hat. Ja, wenn wir dann noch höher hinaufsteigen" usw. (Nationalausgabe: 1963: 30 f.). „Der rhetorische Darstellungsstil tritt hier, verglichen mit der ersten Akademierede, etwas zurück" (ebd.: 122), dafür wird die Schreibweise gelehrter, philosophischer. Den nachhaltigsten Eindruck muß Klopstock auf die Karlsschüler gemacht haben. Sein Einfluß auf den Stil der Reden ist durchweg nachzuweisen. Nur ein Beispiel für viele: „Erhaben, so denkt die junge Seele, erhaben ist sein (Gottes O. L.) Werk, erhaben muste sein Endzwek seyn ( . . . ) . Durchdrungen von tiefster Ehfurcht betet sie an, und feurig fült sie, daß Gott nachahmen himmlische Wollust, daß sein Zwek erfüllen ihre und des Menschengeschlechts und der ganzen Geisterwelt Glükseligkeit sey. ( . . . ) Unaufhaltsam durchwallt der wohlwollende Sterbliche die rumvolle Laufbahn des Lebens,
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und verbreitet seinen gütigen Einfluß um sich her gleich der duftenden Blume, welche die umliegende Gegend mit Wohlgeruch füllt" (A 272, Bü 15, Nr. 19). Wie sich später noch öfter zeigen wird, läßt sich auch den Reden der Karlsschüler entnehmen, daß der Stil der Ausarbeitungen den unterrichtlichen Maßnahmen am wenigsten zugänglich ist. Die Themen waren vorgegeben, damit auch die Stoffe. Die Redeformen waren meist Gegenstand des Unterrichtes, so daß auch in diesem Punkte die Schüler weitgehend gebunden waren. Nur die stilistische Ausführung ließ ihnen eine gewisse Freiheit, sei es, daß die stilistischen Normen noch nicht so ausgebildet waren, daß sie hätten normierend wirken können, sei es, daß sich der Stil eines Menschen allgemein am renitentesten erweist — auch in der Schule. Briefe Die Akten der Hohen Karlsschule haben auch einige Briefaufsätze erhalten, die ältesten Briefaufsätze von Schülerhand, die mir bekannt geworden sind. Es lohnt sich, die Entstehungsgeschichte dieser Arbeiten kurz zu betrachen. Der Herzog war im Juli 1778 mit neun Zöglingen in den Schwarzwald ausgeritten, um an Ort und Stelle die herzogliche Forstwirtschaft zu inspizieren und diese den Schülern bekannt zu machen. Wieder zuhause angekommen, wurde der Ausflug, wie so oft, zum Anlaß genommen, Ausarbeitungen anfertigen zu lassen. Wie den Unterlagen entnommen werden kann, ließ der Herzog als erstes von jedem Schüler ein Tagebuch anlegen. Wessen Ausführung Gnade in den Augen des Herzogs fand, der durfte dann dieselbe Materie in Form von Briefen an einen Freund ausarbeiten; wer nicht so glücklich war, mußte sich erneut an das Tagebuch machen. Es wird nicht ganz klar, ob die Abhandlungen zur Forstwirtschaft im Schwarzwald, die ohne Zweifel in demselben Zusammenhang entstanden sind, Alternativen zu den Briefaufsätzen waren oder ob erst derjenige, dessen Briefaufsatz in Ordnung war, nun eine Abhandlung abfassen durfte. Wie dem auch sei, die Tatsache, daß wir Tagebucheintragungen, Briefe und Abhandlungen über denselben Gegenstand haben, gibt uns die Möglichkeit, Vergleiche anzustellen. Uber einen solchen Vergleich läßt sich dann ohne weiteres herausarbeiten, worauf es bei den Briefaufsätzen ankam. Ich lege im folgenden die Aufzeichnungen des ersten Reisetages zugrunde. Im Tagebuch eines Schülers heißt es: „Donnerstag den 9. July Neuenburger Forst (offensichtlich der Ort der Tagebucheintragung O. L.). Reißten von Stuttgardt ab, und kamen über Meystadt, Schaffhausen und Engstett nach Calw" (Büschel 111, ohne Nummernangabe). Kürzer geht es kaum. Von einem anderen Schüler stammen „Bermerckungen", welche er „auf der, dem 9 ten Julii mit gnädigster Erlaubniß und im Gefolge Seiner Herzoglichen
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Erlaucht angetrettenen Reise auf den Schwarzwald gemacht" (Büschel 111, ohne Nummernangabe) hat. Die „Bemerkungen" sind nach Reisetagen geordnet, so daß sie sich für den Vergleich anbieten. Der Inhalt läßt erkennen, daß wir jeweils kleine Betrachtungen oder Abhandlungen vor uns haben. „Bemerkung" scheint also eine Bezeichnung für eine kleine Abhandlung gewesen zu sein. Die einschlägige Stelle lautet: „Donnerstag. Ich trat diese Reise mit 9 Eleven von der Herzoglichen Militäracademie den 9 ten Juli Nachmittags an. Der Weg gieng nach Calw: durch das Maystätter Unteramt. Hinter Maystätten ist die größte und schönste Flur Fruchtfelder, die ich je gesehen habe. Der Dinkel ist an den Grenzen des Ackers (?) gegen die Straßen, Wege und Wälder mit Roggen zur Verhütung des Schadens umgeben". Dies ist zunächst nicht mehr als die Feststellung einer Tatsache. Einen abhandelnden Charakter nehmen die Ausführungen erst im folgenden an: „Hinter Schaffhausen, dicht an dem WeilerWald (?) trafen wir Fruchtfelder an, die mir dünn und sehr niedrig bewachsen zu seyn schienen. Nur gute Bedüngung, nebst einer Ruhe von 1 oder 2 Jahren, während welcher man die Felder fleißig bearbeiten und stets schräg ackern (?) würde, möchte vielleicht ihnen die völlige Fruchtbarkeit wieder geben; besonders wenn man, weil der Boden zu sandigt, leicht und also den Dung nicht behalten würde, das Feld vorher mit andern Erdarten vermischte und die Verbesserung damit anfleng". Die Eintragung wird dann so zuende geführt: „Wir kamen des Abends um 8 Uhr in Calw an. Wir hatten nicht mehr die Gelegenheit alda etwa merckwürdiges zusehen, und das was wir vom OberAmtMann daselbst erfuhren, gehört nicht in die Reihe unserer Beobachtungen. So viel aber läßt sich aus der Beschaffenheit der umliegenden Gegend ersehen, daß die Einwohner sich nicht viel auf den Ackerbau legen, sondern mit ManufacturArbeit ernähren. Die Stadt schien mir ziemlich bevölkert zu seyn". Das Beispiel zeigt, daß zu einer Abhandlung zwei Dinge gehörten: zunächst Beobachtungen, die man auf der Reise machen konnte, und dann vor allem Betrachtungen, die im Anschluß an die Beobachtungen anzustellen waren. Der Briefaufsatz eines dritten Schülers hebt sich deutlich sowohl von der Tagebucheintragung als auch von den abhandelnden Bemerkungen ab. Ein Brief, dessen Leser nicht der im Brief selbst angesprochene Adressat, sondern eine Person ist, die ihn beurteilen soll, in diesem Fall der Herzog selber, hatte (1) alle Formalitäten zu erfüllen, die damals an einen Brief gestellt wurden, (2) den Anschein zu erwecken, als handele es sich um einen Brief an einen wirklichen Partner, in diesem Fall an einen Freund, und (3) letztlich die Erwartungen des Zensors zu befriedigen, womöglich auch dessen Eitelkeiten. Der Verfasser entledigte sich dieser dreifachen Aufgabe bereits in den beiden ersten Abschnitten des Briefes, indem er auf eine nicht unelegante Weise eine Verbindung zwischen dem Herzog und dem fiktiven Freund herstellt: „Neuenburg, den 10. July 1778. Werthester Freund! Mit vielem Vergnügen
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leiste ich Ihren Wünschen genüge, und hoffe, Sie werden keine weitläufftige Nachrichten zufälliger Dinge, sondern Beschreibungen nützlicher Gegenstände erwarten. (Dies war ja der eigentliche Zweck der ganzen Übung. O. L.). Sezen Sie sich jederzeit in unsere Stelle, und vereinigen Sie alle nur möglichen Vergnügungen in eines, nehmlich: in das Vergnügen die H O H E G N A D E zu haben, stets die H O H E G E G E N W A R D T unseres DURCHL A U C H T I G S T E N ERHALTERS und W O H L T Ä T E R S zu gemessen, und zeugen (sie) D E R O gnädigen HERABLASSUNG und M E N S C H E N L I E B E zu seyn, so werden Sie jedesmalen von unsern Freuden, von unserem Glük, ohne solches von mir vielmahls wiederholt zu vernehmen, unterrichtet seyn. Ich werde daher meine Beschreibung auf den Gegenstand selbst wo möglich einzuschränken suchen, dessen hinlängliche Kentniß der hohe Endzwek unserer Reise war". Der Schreiber hatte nicht nur den Adressaten, auch einen Freund, mit dem nötigen Respekt anzusprechen, sondern auch den ihm angemessenen Ton zu finden und darüberhinaus, so weit das möglich war, sich in seine Lage zu versetzen. Das gebot die „Klugheit", das „iudicium externum", von dem in den Lehrbüchern so häufig die Rede war. Sie war nicht in Regeln zu fassen, sondern blieb dem Geschick des einzelnen Schreibers und seinem Einfühlungsvermögen überlassen. Die „Beschreibung nüzlicher Dinge", die der Schreiber angekündigt hatte, beginnt mit der Schilderung des ersten Reisetages: „Gestern Abend den 9 ten langten wir in Calw an, nachdem wir zuvor die Dörfer Maystadt, Schafhausen und Engstädt zurük gelegt hatten. Links und rechts stelte sich unsern Augen ein reizbares Gemählte, eine prächtige Gegend von angenehmen dichtstehenden fruchtbaren Feldern, mit Wiesen und Waldungen abwechselnd vermengt, dar; welche bei Schafhausen von der Würms (?) durchflossen wird, sich alda in etwas verändert, und den (ein unleserliches Wort O. L.) mit Sand vermischten Boden in Steinigten verwandelt, so daß es scheint die gütige Natur komme dem almählich warmen, in kaltes sich ändernden Clima, durch Steine, welche fähig sind, die Wärme länger zu behalten, zu Hülfe; um denen Einwohnern ihre Fruchtbarkeit nicht zu versagen". Eine solche Beschreibung enthält zwar einige reflektive Momente in Form von (wenn auch etwas abwegigen) Erklärungen, doch gilt ihr Zweck in erster Linie, dem Freund einen Eindruck von den Ansichten zu gewähren, die sich während der Reise dem Betrachter boten. Es sind, um eine Bezeichnung aufzugreifen, die in dieser Zeit aufkam (vgl. Kap. V), Schilderungen, die so natürlich nicht in Abhandlungen zu finden, wohl aber einem persönlichen Brief angemessen sind. Es folgen Beschreibungen verschiedener Orte des Schwarzwaldes, die eher in ein Tagebuch als in einen Brief gehören. Sie können hier übergangen werden. Der Brief endet wieder mit einer knappen Schilderung: wir „gelangten auf der Neuenburger Staig hinab in das Enzthal, und Neuenburg an. Neuenburg selbst ist ein artiges von Bergen umgebenes Städtlein; auf einem
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dieser Berge ist das Schloß und Wohnung des Herrn Oberforstmeisters. Die Stadt und das Thal werden von der Enz von Süden gegen Norden durchströmt". Und dann die unvermeidliche Ergebenheitsfloskel: „Leben Sie wohl! Ihr aufrichtiger Freund und Diener EWJeitter". Die Beispiele zeigen, daß in den siebziger Jahren, zumindest an einer Neugründung, wie es die Karlsschule war, neben den überlieferten Formen der Rede, des Gedichtes und des Briefes neue Übungsformen aufkamen: das Tagebuch und die Abhandlung. Die neuen Übungsformen waren ausschließlich schriftliche. Der gesamte Lehrplan war so angelegt, daß am Ende der Reihe nicht die Rede, sondern die Abhandlung stand. Alle diese Momente sind neu und weisen in ein anderes Kapitel der Geschichte des Aufsatzunterrichtes.
IV. Schriftliche Aufsätze: Die Forderung der Bürger (1770 — 1805) 1. Die Grundzüge der neuen Konzeption Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts kamen in den Latein- und Gelehrtenschulen die Interessen des gelehrten Bürgers zur Geltung. Durch Erziehung zur Gelehrsamkeit wurden die Söhne der Bürger auf den Dienst in der Kirche, am Hofe, in der Verwaltung und in der Wissenschaft vorbereitet. In den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts spielten andere Interessen eine Rolle (zum folgenden vgl. K.-E. Jeißmann, 1974: 37 ff., R. Engelsing 1974: 137 ff.). „Der erwerbende Theil der Bürger" (F. G. Resewitz), „der geschäfftige und thätige Bürger", meldete sich zu Wort. Er beklagte, daß es für seine Söhne keine geeigneten Schulen gebe: „Der Ackermann, der Landwirth, der Kaufmann, der Handwerker und Künstler, durch deren Kopf und Hände die ganze Gesellschaft erhalten wird, treten in ihr Geschafft ohne Vorbereitung, ohne vorläufige Kenntniß des mannichfaltigen Stoffes, den sie künftig behandeln sollen: ihr Geist ist nicht gewöhnt, über das, was sie zu betreiben haben, zu denken" (F. G. Resewitz 1773/1776: 7; vgl. auch Κ. A. Zedlitz 1787: 108 ff). Ein solcher Zustand sei nicht hinzunehmen, da das erforderliche Wissen doch zur Verfügung stehe: „Viele Kenntnisse, die diesen Ständen sehr nützlich seyn können, sind wirklich in der Welt vorhanden; aber sie finden sich fast gänzlich in dem kleinen Zirkel derjenigen, die sie nicht anzuwenden wissen" (ebd.). Darum forderte man „Schulen zur zweckmäßigen Erziehung des erwerbenden, und das Ganze erhaltenden Bürgers" (ebd.), d. h. Bürgerschulen, nicht Gelehrtenschulen. Sollte der Unterricht an den Schulen den Interessen des „erwerbenden Theils der Bürger" dienen, so mußte er sich von dem der Gelehrtenschulen deutlich abheben: der Bürgersohn soll „das, was er weiß und wissen muß, nicht auf die Art wissen, wie es der Gelehrte weiß: er soll vielmehr das, was er zu wissen nöthig hat, mit dem gesunden Verstände fassen, es richtig gebrauchen, und auf das künftige bürgerliche Leben anwenden lernen" (F. G. Resewitz 1773/1776: Vorbericht). Die Schule sollte „denkende und selbstthätige Männer" (J. Struve 1783: 148) erziehen. Der Schüler sollte „zum Anschauen, eigenem Nachdenken und also zu muntrer Selbstthätigkeit" (ebd.: 147) gebracht werden. „Eine einzige Stunde, in der sich der Jüngling für
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sich allein und mühsam anstrengt, und sich, wie man so sagt, den Kopf zerbricht, um etwas heraus zu bringen, den Grund einer Sache zu entdecken, seine Gedanken zu ordnen, und gehörig vorzutragen, mag oft für seine Geistesbildung wichtiger und nützlicher seyn, als vierzehntägiger oder wohl gar so viel wöchentlicher Unterricht, wobey der Lehrer nur spricht und er nur zuhört" (ebd.: 148). Entwicklung und Übung der Verstandeskräfte sowie Gegenstände, die etwas mit dem bürgerlichen Leben zu tun haben oder doch zumindest sich auf dieses anwenden lassen, das war es, was der „erwerbende Theil der Bürger" von der Schule forderte (U. Herrmann 1982: 293). Die neuen Ziele wirkten sich bei der Bestimmung der konkreten Aufgaben des Unterrichtes aus. Auch die schriftlichen Übungen waren betroffen. Wie alle schulischen Aktivitäten, so sollten auch sie der Verwirklichung des „Nationalschulzweckes" (v. Rochow) dienen: „Der Griffel, d. i. bey uns die Schreibfeder, schärft den Verstand, sie berichtigt die Sprache, sie entwickelt Ideen, sie macht die Seele auf eine wundersame Weise thätig. Nulla dies sine linea" ( J . G . v . Herder 1796/1820: 170). Versteht man Schreiben als ein Mittel, den Verstand in Anspruch zu nehmen und dadurch auszubilden, so mußte eine solche Auffassung den Schreibunterricht grundlegend verändern. Es veränderte sich ihr Verhältnis zu den mündlichen Übungen, ihre Reputation im Kreis der übrigen Fächer und schließlich auch das Verständnis von Schreiben. Von nun an hatten die schriftlichen und mündlichen Übungen im Unterricht an den Schulen verschiedene Aufgaben. Den mündlichen Übungen blieb die alte Aufgabe noch lange Zeit erhalten: die Ausbildung der Eloquenz. Die schriftlichen Übungen wurden dagegen in den Dienst der Verstandeskräfte gestellt. Sie bereiteten nicht auf den oratorischen Vortrag vor, sondern mit ihnen trieb man Gedankenarbeit. Sie hatten einen ausgesprochen kognitiven Zweck. August Hermann Niemeyer unterscheidet zum Beispiel passiv-rezeptive und aktiv-produktive Seelenkräfte: „Sehr häufig wird bei dem Lehren die Thätigkeit der Seelenkräfte des Schülers durchaus empfangend und auffassend geübt. Desto mehr bestrebe man sich, sowohl während des Unterrichts, als vor und nach demselben auch die aktive und produktive Kraft in Anspruch zu nehmen" (Α. H. Niemeyer, Bd. II, 1796/1884: 19). Wie diese während des Unterrichts „in Anspruch genommen" werden konnten, bestimmte Niemeyer so: „Während des Unterrichts geschieht dies überhaupt durch stete Anregung und Übung irgendeines Seelenvermögens zum Selbstmerken, zum Mitdenken, zum eigenen Urteil, zur Prüfung des Vorgetragenen, — also der sinnlichen und geistigen Aufmerksamkeit, des Urteils, des Scharfsinnes, des Witzes" (ebd.). Mitdenkend soll der Schüler den Unterricht begleiten. Den schriftlichen Übungen kam eine bedeutsame Rolle zu, wenn es darum ging, die Verstandeskräfte des Schüler außerhalb der Schule tätig werden zu lassen. Als Hausarbeiten sollten „Aufgaben von schriftlichen Arbeiten allerlei Art
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( . . . ) , teils als Wiederholung des Gehörten oder Gelesenen, teils als Aufsätze über neulich Gelesenes oder Abgehandeltes" (ebd.) gegeben werden. Man kann die Bemerkungen Niemeyers ohne weiteres verallgemeinern. Schriftliche Übungen waren wie kaum eine andere Übungsform geeignet, die Selbsttätigkeit des Schülers anzuregen, seine Verstandeskräfte in Anspruch zu nehmen und auszubilden. Im Vergleich zu anderen Übungsformen mußte ihr pädagogischer Wert sehr hoch angesetzt werden. Die neue Bestimmung des Schreib- und Aufsatzunterrichtes hatte eine letzte Veränderung, wohl die entscheidenste, zur Folge. Der Schreibvorgang wird anders interpretiert. Im Rahmen der Rhetorik war Schreiben — nicht anders als Sprechen und Reden — an der Wirkung, dem Effekt, den es auf den Leser ausübte, ausgerichtet. Es kam auf die Beziehung zwischen der sprachlichen Äußerung und dem Adressaten an, einer kausalen Beziehung, in der das eine auf das andere wirkt. Geht es beim Schreiben jedoch darum, daß der Schreibende seine eigenen Verstandeskräfte ins Spiel und damit zur Entfaltung bringt, dann gewinnt die Beziehung zwischen dem Schreiber und dem Text an Bedeutung. Diese Beziehung ist keine kausale, wiewohl mehrfach die Versuchung nachzuweisen ist, sie als eine solche zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine expressive oder poetische Relation. Nicht daß der Text wirkt, ist das Entscheidende, sondern daß der Schreibende seine Gedanken nach außen, auf das Papier, d. h. zum Ausdruck bringt und daß er auf diese Weise einen Text schafft. In seinem Roman „Levana oder Erziehlehre" hat Jean Paul den Grundgedanken der neuen Aufsatzlehre auf seine bildhafte, aber doch recht klare Weise wiedergegeben. Er wendete sich an die Lehrer: „Laßt ( . . . ) den Knaben noch früher eigne Gedanken aufschreiben als eure nachschreiben, damit er die schwere, klingende Münze der Töne in bequemes Papier-Geld umsetze. Nur werd' er von Schulherren mit Schreib-Texten verschont, wie sie sie zu geben pflegen — ζ. B. mit Lob des Fleißes, des Schreibens, der Schulherren, irgendeines Landherren etc. — kurz mit Texten, worüber der Schulherr selber nichts Besseres vorbrächte als seine Schul-Knechtchen" ( J . Paul 1807/1962: 834). Jean Paul legte besonderen Wert auf die „eigenen Gedanken" der Schüler, da nur der „lebendige Gegenstand" diesen zur Darstellung „drängen" könne: „Gift jeder Darstellung ist eine ohne lebendigen Gegenstand und Drang. Wenn vielen genialen Männern, z.B. einem Lessing, Rousseau u.a., immer irgendein lebendiger Vorfall den Text ihrer im höhern Sinne geschaffenen Gelegenheit-Dichtung aufgab und aufdrang; wie wollt ihr dem Knaben begehren, daß er ins Himmelblau der Unbestimmtheit eintunke und damit die Himmelswölbung so male, daß die unsichtbar Dinte als Berlinerblau zuletzt erscheine?" (ebd.). Die Ausführungen von Jean Paul bestätigen, daß sich das Interesse am Aufsatzschreiben verlagert hat: von der Wirkung, die ein Text ausübt, hin
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zu dem Prozeß des Produzierens, des Schaffens, dem eigentlichen Schreibvorgang. Zwar wird dieser auch durch die Vorstellungen, die der Schreiber vom Leser hat, bestimmt, doch spielen andere Momente eine nicht minder wichtige Rolle: die Absicht, die der Schreiber hat, das Motiv, das ihn zum Schreiben drängt, und schließlich der Anlaß, der Gelegenheit zum Schreiben gibt, von den Gedanken, die beim Schreiben zum Ausdruck gebracht werden sollen, einmal ganz zu schweigen. Lauter Momente, die mit der Person des Schreibenden verbunden sind. Das Interesse am Verfassen von Aufsätzen verlagert sich also vom Leser weg und hin zum Schreibenden, von der Rezeption von Texten zu deren Produktion.
2. Von John Locke zu Peter Villaume John Locke Die Ahnenreihe der neuen Konzeption mit John Locke beginnen zu lassen, bedarf einer Erklärung. Erstens war er Engländer, zweitens lebte er fast ein ganzes Jahrhundert früher ( 1 6 3 2 — 1 7 0 4 ) , etwa zur selben Zeit wie Christian Weise. Doch war er es, der sich als erster von den Fesseln tradierter pädagogischer Vorstellungen befreite und in seinen „Gedanken über die Erziehung" ( 1 6 9 3 ) Ideen entwickelte, die erst ein Jahrhundert später wieder aufgegriffen werden sollten. Dazu gehören auch seine, im übrigen nur beiläufig geäußerten Ansichten zu den schriftlichen Übungen. Locke hatte einige Briefe an einen adligen Freund geschrieben. Ursprünglich war nicht beabsichtigt, daraus ein Buch zu machen. Locke wollte dem Freunde „bei der Erziehung seines kleinen Sohnes behilflich sein" (J. Locke 1 6 9 3 / 1 9 8 0 : 2 7 7 ) . „Einen jungen Gentlemen für das praktische Leben tüchtig machen" ( 2 7 8 ) , das war seine Absicht. Dazu taugte aber nicht die gelehrte Bildung, wie Locke sie an den Gelehrtenschulen vorfand. Locke stieß sich nicht nur am Lateinischen, sondern auch an der rhetorischen Ausrichtung des Unterrichtes insgesamt: „Wenn es aber nach allem doch sein Schicksal sein sollte", schrieb er seinem Freunde zur Erziehung seines Sohnes, „daß er zur Schule geht, um Latein zu lernen, dann ( . . . ) setze ( . . . ) , wenn es geht, mit allen Mitteln durch, daß man ihn mit dem Anfertigen lateinischer Aufsätze und Deklamationen und vor allem mit dem Versemachen aller Art verschont. Du mußt darauf bestehen, daß du nicht die Absicht hast, aus ihm einen Redner oder Dichter zu machen" (ebd.: 214). Kein Redner, kein Dichter, aber auch kein Gelehrter sollte aus ihm werden, sondern ein tüchtiger Gentleman. Und dazu gehörte eine gründliche sprachliche Ausbildung. Denn „es kann kaum einen größeren Mangel an einem Gentleman geben, als wenn er sich schriftlich und mündlich nicht gut ausdrücken kann" (ebd.: 234).
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Locke hat einige Vorschläge gemacht, wie die Ausbildung im schriftlichen Ausdruck vorgenommen werden könnte: von mündlichen Erzählungen zu deren Niederschrift, von kleinen Nacherzählungen, etwa äsopischer Fabeln, zu ersten eigenen Erzählungen. Erzählen wird aber nur als ein Mittel angesehen. Der eigentliche Zweck schriftlicher Übungen waren Briefaufsätze: „Wenn sie wissen, wie sie englisch zusammenhängend, angemessen und geordnet in gebührender Weise schreiben müssen und es zu einer gewissen Beherrschung eines leidlichen Erzählstils gebracht haben, kann man mit ihnen zum Briefeschreiben fortschreiten" (ebd.: 235). Im Zusammenhang mit den Ausführungen über die Briefe kommt es zu einer bemerkenswerten Feststellung. Was an Briefen zu lernen sei, ist nach Lockes Auffassung einzig und allein: „ihre eigenen einfachen und ungezwungenen Gedanken zusammenhängend, klar und fließend auszudrücken" (ebd.: 236). Wenn sie das gelernt haben, dann könne man ihnen auch zeigen, „wie sie ihre abwesenden Freunde mit Briefen in höflichen, heiterem, scherzhaftem und plauderndem Ton unterhalten können" (ebd.). Locke hat also bereits zwischen einer einfachen, gedanklich-sprachlichen Darstellung, ohne rhetorische Ambitionen, konzentriert allein auf den Akt des Ausdrucks, und der stilistischen Aufmachung unterschieden. Damit hat er einen Gedanken vorweg genommen, der — zumindest in Deutschland — erst ein Jahrhundert später für den Aufsatzunterricht bedeutsam geworden ist (vgl. Kap. V). Friedrich Gabriel Resewitz Achtzig Jahre nachdem Lockes „Gedanken über Erziehung" erschienen waren, hat ein deutscher Abt, der Abt des Klosters Berge, Friedrich Gabriel Resewitz (1729 — 1806), ähnliche Gedanken, aber in einem ganz anderen historischen Kontext vorgetragen. Was ihn mit Locke verbindet, war sein Bestreben, junge Leute für das praktische Leben tüchtig zu machen. Was ihn unterscheidet, war das Ziel. Nicht die Erziehung eines adligen Gentleman konnte ihm am Herzen liegen, sondern „die Erziehung des Bürgers zum Gebrauche des gesunden Verstandes, und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit" (so der vollständige Titel eines seiner vielen Bücher, auf das im folgenden Bezug genommen wird). Resewitz schrieb für die bürgerliche Gesellschaft. Er geht von zwei Feststellungen aus. Der für den Erhalt der Gesellschaft wichtigste und überdies auch größte Stand sei der „Nährstand", der sich aus Bauern, Handwerkern, Kaufleuten, Künstlern, Fabrikanten (Manufakturisten) usw. zusammensetze, also „der erwerbende Theil der Bürger" (F. G. Resewitz 1773/1776: 6). Aber Schulen für die Erziehung und den Unterricht dieses Standes gäbe es nicht: „Man hat nur gelehrte und niedrige Schulen. In den letzteren ist Erziehung und Unterricht für ihn zu mangelhaft und zu schlecht; in den ersteren ist ihm oft beydes nicht dienlich" (Vorbericht). So lautet die
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Forderung des Abtes: „Ist nun dieser Stand für das Ganze so wichtig, so muß es auch die Erziehung seyn", „so muß der Verstand desselben aufgeklärt, und über die Kenntnisse, welche zu dem geschäfftigen Leben erforderlich sind, zu denken gewöhnt werden" (ebd.: 90). Resewitz hat zwar die Ausbildung des Verstandes in den Mittelpunkt seiner pädagogischen Überlegungen gestellt. Im Zusammenhang aber mit den „Kenntnissen", über die „zu denken" die Schüler gewöhnt werden sollten, kam er auch auf die Schreib- und Stilübungen zu sprechen. Auf den „Landund Ackerschulen" genüge es, wenn „die fähigsten Schüler" (offensichtlich nur diese) „verständlich und natürlich schreiben lernen" (78). Mit „Schreiben" ist in diesem Zusammenhang lediglich die Beherrschung der Schrift und der Rechtschreibung gemeint. Etwas mehr wird auf den „Handwerksschulen" in den Städten verlangt. Hier sollten die Schüler lernen, „ihre Gedanken aus(zu)drucken" (85), also eigene Gedanken zu fassen und für diese einen angemessenen Ausdruck zu finden. Nur auf den „Erziehungsanstalten in der Hauptstadt" sollte Stilbildung im eigentlichen Sinne des Wortes betrieben werden: einen Gedanken „deutlich, anständig und zierlich ausdrucken" (ebd.: 181). Sieht man von den Unterschieden im Einzelnen ab, so ist der Zweck der schriftlichen Übungen stets ein und derselbe. Schreiben wird als Ausdruck von Gedanken bestimmt. Die Gedanken aber beziehen sich auf den vorausgegangenen Unterricht. Schreibend sollten die Schüler die „Kenntnisse, die zum geschäfftigen Leben erforderlich sind" (ebd.: 97), gedanklich durchdringen und verarbeiten. Die Aufsätze waren somit „das sicherste Mittel für die Jugend, was sie lernen, deutlich und bestimmt zu fassen" (ebd.).
Peter Villaume In den Umkreis von Resewitz gehört auch Peter Villaume (1746 — 1825), von 1778 bis 1793 Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, ein Jakobiner unter den Pädagogen, der Berlin verlassen mußte und später in Dänemark lebte (vgl. G. Funk 1894; R. Wothge 1957; H. König 1960: 350 ff.). Seine Schrift mit dem Titel: „Methode jungen Leuten zu der Fertigkeit zu verhelfen, ihre Gedanken schriftlich auszudrücken" ist 1780 im dritten Band von Resewitz's „Gedanken, Vorschläge und Wünsche zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung" (erschienen seit 1778) zum ersten Mal abgedruckt worden, später 1784 als selbständige Publikation erschienen (nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert) und in einer ziemlich veränderten Fassung noch einmal 1804. Villaume war zwar Lehrer an einem Gymnasium, doch seine Ausführungen zu den deutschen Stilübungen sind so allgemein gehalten, daß sie ohne weiteres auch für Bürgerschulen brauchbar waren, zumal Villaume sich nur auf den Anfangsunterricht bezog und dieser in den unteren Klassen der
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Gymnasien dem der oberen Klassen der Bürgerschulen sehr ähnlich gewesen sein dürfte. Seine Überlegungen zu den Stilübungen und dem Aufsatzunterricht sind Grundlage der folgenden Ausführungen (vgl. auch V), so daß es sich hier erübrigt, weiter auf sie einzugehen. Johann Christoph Vollbeding und Johann Christian Dolz Johann Christoph Vollbeding, „Diakonus zu Luckenwalde", und Johann Christian Dol%, „Vicerektor an der Rathsfreyschule in Leipzig", haben die neuen Ideen für den Aufsatzunterricht an Bürgerschulen praktisch umgesetzt. Das „praktische Lehrbuch zur Bildung eines richtigen, mündlichen und schriftlichen Ausdruckes" von Vollbeding (1794) enthält hauptsächlich Ausführungen zu Übungen in der Gedankenschulung und im sprachlichen Ausdruck, Übungen, die den Aufsatzunterricht vorbereiten sollten. Was Vollbeding zu den einzelnen Übungen selbst zu sagen hatte, ist wenig originell. Er gibt hier die Gedanken von Villaume wieder und scheut sich auch nicht, seine Formulierungen zu übernehmen. Dolz, der seine „Praktische Anleitung zu schriftlichen Aufsätzen über Gegenstände des gemeinen Lebens" (1798) mit einem entsprechenden Schulbuch: „Hülfsbuch zur Schön- und Rechtschreibung und zum schriftlichen Gedankenvortrage für die oberen Classen in Bürgerschulen" (1801) versah, hat sich vornehmlich der Aufsatzübungen angenommen. Fünf Übungsformen werden ausführlich dargestellt und diskutiert: Erzählungen, Umsetzungen leichterer Gedichte in Prosa, Beschreibungen, Briefe und Geschäftsaufsätze. Dolz begnügt sich nicht mit einer Definition der Übungsformen und einigen dazugehörigen Beispielen, sondern führt detailliert aus, was der Schüler bei der Anfertigung seines Aufsatzes und was der Lehrer in seinem Unterricht dazu jeweils zu beachten haben.
3. Didaktische und methodische Vorstellungen Wenn man zuvor einen Lehrer gefragt hätte, was ein Schüler zu tun habe, um eine schriftliche Ausarbeitung anzufertigen, dann hätte er wohl geantwortet: zu allererst einen Stoff für seine Darstellung finden (Quellen ständen ihm zur Verfügung: das eigene Studium, Stoffsammlungen der verschiedensten Art, aber auch die eigene Erfahrung), dann den geeigneten Stoff auswählen, ordnen und schließlich in Wörtern und Sätzen ausformulieren. Was oft keine Berücksichtigung gefunden hätte, wäre die Tatsache gewesen, daß ein Stoff erst dann sprachlich ausgeführt werden kann, wenn er zuvor gedanklich angeeignet und verarbeitet worden ist. Die Tätigkeit des Denkens wurde in solchen Überlegungen vernachlässigt.
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In der neuen Aufsatzkonzeption ist es genau umgekehrt. Alles kommt auf die Tätigkeit des Denkens und auf die Gedanken an. Sie sind der Stoff, aus dem die Aufsätze gemacht sind, und aus ihnen ergibt sich schließlich auch die sprachliche Form. „Man lehre (...) den Menschen zu denken", empfahl Villaume (1784: 26), „richtig und deutlich denken, mit Geschmack und Gefühl denken, was des Geschmacks und des Gefühls fähig ist; so wird er auch seine Gedanken übereinstimmend zu prägen, zu ordnen und darzustellen wissen, d. h. er wird Gedankenstyl haben". Johann Christian Dolz hat auf die Frage: „Was wird zu einer praktischen Anleitung zu schriftlichen Aufsätzen erfordert?", geantwortet, daß „derjenige, welcher einen Aufsatz machen (...) will, 1. Etwas haben muß, was er aufsetzen will, Gedanken. Dies nennt man auch den Stoff, oder die Materialien zu schriftlichen Aufsätzen; daß er aber auch 2. wissen müsse, wie er seine Gedanken ausdrücken, wie er den Stoff bearbeiten soll. Dies nennt man die Form schriftlicher Aufsätze" (J.C. Dolz 1798: 29 f.). An die Stelle eines dreiteiligen Modelles, bestehend aus Inventio, Dispositio und Elocutio, ist also ein zweiteiliges getreten: Gedanken und ihr sprachlicher Ausdruck. Man könnte annehmen, daß die Zweiteiligkeit dadurch zustande kam, daß das Mittelstück des rhetorischen Modelles, die Dispositio, zu einem der beiden angrenzenden Teile geschlagen wurde. Das ist aber nicht der Fall. Die Veränderungen sind grundsätzlicherer Art.
Inhalt und Form Die Form, in der sich ein Gedanke darstellt, ist eine Funktion des auszudrückenden Gedankens, nicht mehr. Es gibt keine Formen an sich. „Jeder Gedanke hat seinen eigenen und, so zu sagen, natürlichen Ausdruck; seine Worte und seine Construction, wie sie der Gedanke, wenn er bloß Gedanke ist, nach dem Sprachgebrauche, hervorbringt" (P. Villaume 1784: 68). „So darf also gar keine Ordnung in seinem Briefe seyn?" läßt Heinrich Braun fragen und gibt zur Antwort: „Keine andre, als die natürliche der Gedanken. Und diese natürliche Ordnung giebt jedem der gesunde Menschenverstand ohne Regel an die Hand" (H. Braun 1787: 138). In einer persönlich gehaltenen Bemerkung hat Peter Villaume die Erfahrungen, die der neuen Auffassung vom Schreiben zugrunde lagen, so beschrieben: „Ich weiß nicht, ob es allen Schriftstellern so geht, mir aber, wenn ich schreibe, ist das Bild der Sache immer gegenwärtig, und selbst bey den abstraktesten Gegenständen, schwebt mir immer wie ein Phantom vor Augen (sie), ich sehe meinen Gegenstand, welcher er auch seyn mag; und da schreibe ich, ohne an Regeln, ohne an Worte zu denken. Die Worte folgen von selbst, kaum bin ich mir derselben bewußt. Wenn das ist", so folgert Villaume, „schreibt der Schriftsteller das dahin gehörige und nichts anders, nicht weil er eines von dem andern unterscheidet, und das
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erstere wählt, nein, weil er das gehörige sieht und das übrige nicht sieht" (P. Villaume 1784: 66, vgl. auch J. Moser 1954: 12 ff.). Die Form, vor nicht ganz hundert Jahren noch das Nonplusultra aller schriftlichen Ausarbeitungen, hatte an Interesse verloren. Die Inhalte von Aufsätzen sind die Gedanken des Schülers, nicht irgendwelche Stoffe. „Alles, was man niederschreibt, muß vorher gedacht seyn. Wer daher nicht denken kann, ist auch nicht im Stande, einen Aufsatz zu machen, oder seine Gedanken schriftlich auszudrücken." ( J . C . Dolz 1798: 30). „Zum Schreiben, wie zum Sprechen, (müssen) die Vorstellungen klar —, zum Richtigschreiben, die Begriffe deutlich und bestimmt —, zum Fertigschreiben, die Vorstellungen und Gedanken bereit und zu Gebote stehen" (P. Villaume 1804: 14). Es kam nicht so sehr darauf an, Stoffe zu finden, als vielmehr Gedanken entstehen zu lassen, Wissen zu schaffen, kurz: zu erkennen. Sammelte der Schüler früher Stoffe für seine Aufsätze, so sah er sich jetzt auf sein Denk- und Erkenntnisvermögen verwiesen. „Wir können uns Vorstellungen und Begriffe machen, oder Erkenntnisse von Dingen verschaffen, weil wir ein Vermögen dazu haben, welches das Erkenntnisvermögen genennt wird" (J. C. Dolz 1798: 31). In den Anleitungen zum Aufsatzunterricht findet man darum an Stelle der alten Inventio breite Ausführungen über Begriffe, Urteile und Schlüsse (lauter Themen aus der Logik) oder solche über die Sinnlichkeit, die Vorstellung und die Erkenntnis (Themen aus der Erkenntnislehre). Logik und Erkenntnislehre ersetzen die Rhetorik. Ohne Zweifel: der Rationalismus der Aufklärung hatte im Aufsatzunterricht Fuß gefaßt. Die Aufgaben Weder Formen noch Inhalte waren Ausgangspunkt der neuen Aufsatzlehre, Ausgangspunkt war vielmehr der tätige, d. h. der beobachtende und denkende Schüler. Das hatte Konsequenzen für die schriftlichen Arbeiten, die von dem Schüler verlangt wurden. Wenn es darauf ankam, klare Gedanken zu fassen und sie klar zum Ausdruck zu bringen, dann mußten die Aufgaben so gestellt werden, daß die Schüler eigene Gedanken entwickeln konnten. Das bedeutete im einzelnen: (1) Die Themen mußten das Interesse der Schüler finden. Sie mußten ihnen einen emotionalen Halt geben: „Die Kinderchen, die schreiben sollen, denken noch nicht, sie haben nur Worte gefaßt, sie hängen sich ängstlich an einen Ausdruck, an eine Wendung, die gewiß in ihrer Schrift wieder vorkommen wird. Sie haben also lauter Bruchstücke, kein Ganzes, und daher zerren sie jedes Stück so lange herum als sie können, und nehmen mit was sie finden, es mag dahin gehören oder nicht. Man versetze sie aber in die Lage, wo sie Interesse haben etwas zu schreiben, so bin ich versichert, daß ihr Schreiben Einheit haben wird" (P. Villaume 1784: 9).
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(2) Um den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Gedanken aufzuschreiben, müssen die Aufgaben dem Erfahrungsbereich der Kinder entnommen werden. Im übrigen wird ihnen dadurch auch das Schreiben erleichtert: „Alle Aufgaben (sind) aus dem wohlbekannten Gesichtskreise der Schüler zu nehmen: denn, bei diesen Versuchen müssen sie weder in dem Gedanken, noch in dem Gedächtniß, Schwierigkeiten antreffen; sie haben an dem Ausdruck, an der Grammatik und Rechtschreibung Arbeit genug" (ebd.: 29). (3) Die Aufgaben sollten auch dem Alter der Schüler angemessen sein, nicht zu schwierig, aber auch nicht zu einfach: „Mit den Stilübungen scheint es ganz anders als bisher eingerichtet werden zu müssen, wenn sie der Jugend angenehm und nützlich werden sollen. Mir däucht, man begehe zwei Hauptfehler dabei. Der eine ist, daß man sie zu früh, der andere, daß man sie zu spät anfangt. Zu früh kommen alle Ausarbeitungen, deren Inhalt der Jugend zu fremd, zu wenig interessant, zu wenig homogen mit ihren Dispositionen, Neigungen und Fähigkeiten ist. (...) Zu spät oder gar nicht läßt man die Kinder solche Schreibübungen vornehmen, denen sie schon gewachsen sind, die sie gern vornehmen würden, und die den schweren Ausarbeitungen der Jugend zur Leiter dienen müßten" (E. C. Trapp 1780: 330 f.). (4) Bevor man überhaupt Aufsätze schreiben lassen kann, sind geeignete Vorbereitungen zu treffen: „Zum Schreiben sind (...) zwei Dinge notwendig: Gedanken und Sprache". Daraus folgt: „diejenigen, welche man schreiben lehren will, muß man zuvörderst denken und sprechen lehren" (P. Villaume 1804: 14). Dem Aufsatzunterricht müssen also Denk- und Sprachübungen vorausgehen. J . C . Vollbeding (1794: 4 - 1 2 9 ) und J . C . Dolz (1798: 7 - 2 7 ) haben darum ihre Anleitungen zum Aufsatzschreiben mit solchen vorbereitenden Übungen eingeleitet.
Die Aufsatzübungen Die Aufsatzübungen, die die Schüler auszuführen haben, wurden nicht mehr nach Stoffen oder Formen geordnet, sondern nach Gelegenheiten und Anlässen, die Schüler zum Denken und Erkennen anregen konnten. Es sind teils ganz freie Ausarbeitungen, teils Arbeiten im Anschluß an den Unterricht oder die Lektüre, teils aber auch Briefe, freundschaftliche und geschäftliche. Schon ein solcher Überblick läßt erkennen, daß die Übungsformen kaum noch etwas mit denen der deutschen Oratorie gemeinsam haben. Freie Ausarbeitungen geben dem Schüler in einem großen Maße die Möglichkeit, eigene Beobachtungen, eigene Erfahrungen, eigene Gedanken und Erkenntnisse vorzutragen. Sie entsprachen darum ziemlich genau den neuen pädagogischen Bestrebungen. Freie Ausarbeitungen sollten nicht erst am
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Ende der Schulzeit stehen, sondern mit ihnen sollte der Aufsatzunterricht beginnen. Eine solche Auffassung verbindet die Aufsatzreformer des 18. Jahrhunderts mit denen des beginnenden 20. und unterscheidet sie von den meisten Aufsatzdidaktikern des 19. Jahrhunderts. Frei sind Ausarbeitungen, wenn der Schüler weder in der Wahl der sprachlichen Form noch durch irgendwelche Stoffe gebunden ist, sondern frei über seine Gedanken und ihre Darstellung entscheiden kann. Zwei Vorteile weisen solche Arbeiten auf: „1) Da sie den Jüngling an keine Form fesseln, geben sie seinen Gedanken mehr Raum und Freyheit. 2) Werden Gedanken hier die Hauptsache; Worte und Sprache stehen nur im zweyten Range" (P. Villaume 1784: 101). Keiner unter den Aufsatzreformern des 18. Jahrhunderts hat die Bedeutung der freien Ausarbeitungen für den Anfangsunterricht deutlicher gesehen als Peter Villaume (1784 und 1804). Er empfahl das folgende Vorgehen: ,,a) der Lehrer gebe dem Kinde vorerst etwas auf, das wenigen Zusammenhang hat. ( . . . ) Es schreibe auf, was es in der Stube, Küche, in dem Stall etc. siehet. b) Nachher setze es zu jedem Dinge eine leicht zu sehende und auszudrückende Bestimmung hinzu, als Farbe, Materie, Nutzen, Ursprung" (P. Villaume 1784: 89). Das sind einfachste Beschreibungen, keine Beschreibungen im formalen Sinne und auch keine Beschreibungen vorgegebener Gegenstände, sondern Beschreibungen dessen, was das Kind selbst sieht und entdeckt. Unter c) führt Villaume an: „Nach und nach kann man die Kleinen anhalten, ihre leicht zu bestimmende Anliegen ihren Eltern und Lehrern vorzutragen", d. h. kleine Briefe zu schreiben, und er fügt hinzu: „So haben sie simple, bestimmte Gedanken, die sie gewiß ohne große Schwierigkeiten ausdrücken werden, weil es ihre eigenen sind, d. h. weil sie solche deutlich und richtig fassen. Nur müssen diese Aufsätze frey, ohne Umstände, ohne vorgeschriebene Form seyn, und nichts anders enthalten, als gerade das, was die Kinder mündlich sagen würden" (ebd.). Zuletzt kommen Erzählungen: ,,d) Man erzählt den Kindern eine kleine, ganz simple, ihnen angenehme Geschichte, oder sie lesen solche; diese setzen sie auf, so gut wie sie können, und ohne daß man von ihnen zu viel verlangt. Sie können auch eine kleine, einfache Begebenheit, deren Zeugen sie gewesen sind, ( . . . ) niederschreiben" (89 f.). Johann Christoph Vollbeding hat in seinem „Praktischen Lehrbuch" ganz ähnliche Vorstellungen entwickelt (1794: 134, 135 u. 137 f.). Der Gedanke des freien Aufsatzes ist nur bei wenigen Aufsatzdidaktikern des 18. Jahrhunderts zuende gedacht worden. Die meisten gestanden dem Schüler zwar eine freie Wahl der Aufsatzform zu, scheuten sich aber, ihm diese Freiheit auch bei der Bestimmung der Gegenstände zu gewähren. So schreibt der Experte für den Deutschunterricht unter den philanthropischen Pädagogen, Ernst Christian Trapp: „Sobald ein Kind schreiben kann, ( . . . ) muß es Beschreibungen, erst von den simpelsten Dingen, als Schemel,
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Scheere, Messer, Gabel, Stul, Tisch usw. machen und nach und nach zu immer mehr zusammengesetzten in den Reichen der Natur und Kunst fortgehen. ( . . . ) Von den Aufgaben geht man zu Erzählungen, wenn man nicht etwa gar diese jenen voranschicken will" (E. C. Trapp 1780; 331). Dolz wollte auf jeden Fall Erzählungen vor Beschreibungen behandelt wissen. Denn bei Erzählungen, zumal wenn an Nacherzählungen gedacht sein sollte, sei der Stoff vorgegeben, während er bei Beschreibungen erst vom Schüler gefunden werden müsse: „Der Gegenstand, den wir beschreiben sollen, wird uns zwar auch ( . . . ) gegeben. Aber wir nehmen ihn doch nur durch den Sinn des Gesichts wahr. Wir müssen daher, ehe wir eine Beschreibung aufsetzen können, die Anschauungen von den Gegenständen zu Vorstellungen erheben, und zur Bezeichnung dieser Vorstellungen passende Ausdrücke suchen. Dadurch erhalten wir nun erst Das, was den Stoff zu schriftlichen Aufsätzen ausmacht, — Gedanken" ( J . C . Dolz 1798: 159). Man erkennt hier deutlich den Versuch, die Übungen nach dem Maß der Ansprüche zu ordnen, die sie an das Denkvermögen des Schülers stellen, und damit zu methodisieren. Jede Methode aber schränkt die Freiheit des Schülers ein. Weitaus häufiger als freie Ausarbeitungen werden darum Ausarbeitungen im Anschluß an den Schulunterricht empfohlen. Gemeint sind vornehmlich der Geographie-, Geschichts- und Religionsunterricht. Auch der Unterricht in der deutschen Oratorie bezog sich auf den übrigen Unterricht. Doch war der Gesichtspunkt ein anderer. Der übrige Unterricht war nur insoweit von Interesse, als er Stoffe für die Ausarbeitungen der Schüler bereitstellte. Nun aber ging es nicht um die Stoffe, sondern um die dem Schüler eigenen Gedanken. Der übrige Unterricht war nur insofern von Interesse, als er in der Lage war, diese in dem Schüler anzuregen (vgl. F. G. Resewitz 1776: 181; P. Villaume 1784: 105; 1804: 4 7 - 5 2 ; J . C . Vollbeding 1794: 100 ff. u. ö.). Unter diesem Gesichtspunkt schätzte man den Wert des übrigen Unterrichtes (mit Ausnahme der Lektüre) nicht gerade hoch ein: „Mehr als Wiederholung als zur Uebung im Schreiben", meinte Villaume (1784: 105). 1804 differenzierte er seine Beurteilung: „Diese Aufsätze sind zweierley; entweder eine Skizze der Lection, in welcher die Hauptpunkte in ihrer Ordnung kürzlich bemerkt werden": „die beste Repetition des Unterrichts und eine vortreffliche Uebung des methodischen Denkens", — „oder die Entwicklung eines Stückes, wobei man das wählen kann, was die Schüler vermuthlich am besten gefaßt haben" (P. Villaume 1804: 47). Die bloße Repetition sei zur Bildung der Fertigkeit im Schreiben „von keinem erheblichen Nutzen", bei der „Entwicklung" jedoch habe „die Feder mehr Raum als bei der Skizze" (ebd.). Positiver wird die Bedeutung von Tagebüchern für die Geistesbildung der Schüler angesehen: „Sobald die jungen Leute nur erst einige Uebung im Schreiben haben, müssen sie angehalten werden, ein eigenes Tagebuch zu halten, worin sie das in den Lectionen Gehörte aufzeichnen. Dieß giebt
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Gelegenheit auf vorkommende Dinge zu merken, sie zu behalten und andern mitzutheilen; es erweckt den Beobachtungsgeist, übt das Gedächtniß und ist ein vortreffliches Mittel, seine Gedanken schriftlich aufzusetzen" (J.C. Vollbeding 1794: 144, vgl. auch P. Villaume 1784: 97). Schriftliche Ausarbeitungen im Anschluß an die Lektüre des Lesebuches hat es vorher nicht gegeben. Sie sind von allen Reformern begrüßt und als nützlich anerkannt worden. Johann Heinrich Ludwig Meierotto, dessen aufsatzdidaktische Vorstellungen in einen anderen Zusammenhang gehören und dort noch behandelt werden (vgl. Kap. VI), hat mit Bezug auf das Sulzersche Lesebuch eine Reihe von Übungsformen entwickelt (J. H. L. Meierotto 1782), auf die später immer wieder zurückgegriffen worden ist: (1) Die schriftliche Beantwortung von Fragen: „Wenn also ein Abschnitt im mündlichen Unterricht gehörig erläutert ist; so dictire der Lehrer seinen Schülern Fragen, deren Beantwortung bloß aus dem Inhalt des Abschnittes zu nehmen ist" ( J . H . L . Meierotto 1782: 15). (2) Auszüge aus Stücken des Lesebuches: „entweder in Aushebung einzelner Stücke und Gedanken nach verschiedenen Absichten, oder in der Skizze gewisser Theile, oder auch der ganzen Materie" (P. Villaume 1804: 52, vgl. auch J. H. L. Meierotto 11782: 21 ff., G. v. Herder 1796/1820: 170; J. C. Dolz 1798: 307 ff.). (3) Übersichten über die Anlage einzelner Teile ( J . H . L . Meierotto 1882: 24 ff.). (4) Aufgaben, die „die Erfindsamkeit des kleinen Lehrlings" (ebd.: 29) wecken. So mache der Schüler „Erfindungen", wenn er bedenkt und niederschreibt, „was diese oder jene Sache dem Menschen für Nutzen gewähre" (ebd.), wenn er zu den Beispielen, die er im Lesebuch findet, weitere Beispiele aufsucht und anführt, schließlich wenn er Unterschiede zwischen Gegenständen bemerkt und beschreibt. (5) Den Erfindungen ähnlich sind die Aufgaben, die als „Auflösung einer Aufgabe" bezeichnet werden. Die Bindung an das Lesebuch lockert sich hier. Der Schüler soll „sich näher mit den mannigfachen Geschäften bekannt ( . . . ) machen" (ebd.: 43), „sich selbst umsehen, selbst die Handwerke, oder Künste bemerken, die zu der angegebenen Eintheilung gehören" (ebd.: 42) und seine Beobachtungen schriftlich mitteilen. (6) Zuletzt nimmt Meierotto die Vorschläge auf, die Lessing im 5. Teil seines Buches über die Fabeln („Von eine besondern Nutzen der Fabeln in Schulen") gemacht hatte (G. E. Lessing 1756: 87 ff.). Mindestens ebenso charakteristisch für den neuen Aufsatzunterricht wie die freien Ausarbeitungen und die Aufsätze im Anschluß an die Schullektüre sind die Briefaufsät^e. Es handelt sich sowohl um private Briefe (damals sprach man von „freundschaftlichen Briefen") als auch um Geschäftsbriefe (geschäftlicher oder amtlicher Briefverkehr).
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Die Reformer waren nicht die ersten, die Geschäftsbriefe für den Unterricht an den Schulen vorsahen. Geschäftsbriefe waren seit dem Mittelalter bevorzugter Gegenstand der Schreibschulen, später dann auch der sog. Klipp- und Winkelschulen. Auch in öffentlichen Schulen hat man hie und da in der Anfertigung von Geschäftsbriefen unterrichtet. Die Reformer, die eine Bürgerschule forderten und also für den „erwerbenden Theil der Bürger" sprachen, haben die Notwendigkeit, die Schüler in den Gebrauch von Geschäftsbriefen einzuführen, in besonderem Maße hervorgehoben: „Es ist unstreitig eins der schwersten Geschäfte für einen Lehrer in Bürgerschulen, die Jugend beyderley Geschlechts auf dem zweckmäßigsten Wege dahin zu bringen, daß sie einen zusammenhängenden schriftlichen Aufsatz über solche Gegenstände verfertigen können, welche im bürgerlichen Leben häufig vorkommen. ( . . . ) Aber gleichwohl bleibt es auch für diesen eine unerläßliche Pflicht, seine Schüler und Schülerinnen nicht ohne alle Geschicklichkeit in dieser so wichtigen Sache, welche für das bürgerliche Leben einen überaus großen Werth hat, aus der Schule zu entlassen" (J. C. Dolz 1798: 1 f.). Verschiedene Anleitungen zur Anfertigung von Geschäftsbriefen sind damals herausgekommen (vgl. J . C . Dolz 1798; 2 f.; J . G . Resewitz 1776; 182; E. C. Trapp 1780: 334; J . C . Vollbeding 1794: 144; C. P. Funke 1795: 1 6 7 - 1 7 3 ; P. Villaume 1804: 43 f., 46 u. a.). Da es bei den Anleitungen lediglich darauf ankam, die Schüler mit den Mustern und Formularen für Rechnungen, Quittungen, Mahnungen, Verträgen, Geschäftsberichten, dem Schriftverkehr überhaupt bekannt zu machen, war zwar ihr praktischer Wert groß, ihre Bedeutung für die Verstandesbildung jedoch nur gering. Um das Interesse der Aufsatzdidaktiker an den privaten Briefen verständlich machen zu können, ist ein kleiner Exkurs unumgänglich. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich die Auffassung von Briefen grundlegend geändert. Bis dahin wurden Briefe an die Seite förmlicher Reden gestellt und als Rede, Ansprache oder förmliches Compliment an einen Abwesenden betrachtet: „Reden im Kleinen" (J. H. L. Meierotto 1794: VII). Der Brief wurde rhetorisch definiert. Dieses Verständnis wurde um die Mitte des Jahrhunderts aufgegeben. Den Wendepunkt markieren zwei kleinere Schriften von Christian Fürchtegott Geliert: die eine 1742 erschienen („Gedanken von einem guten deutschen Briefe"), die andere 1751 („Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen"). Geliert bestimmte „Natur und Absicht" (1751: 1) von Briefen als Gespräche mit einem Abwesenden: „Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt. Dieser Begriff ist vielleicht der sicherste. Ein Brief ist kein ordentliches Gespräch; es wird also in einem Brief nicht alles erlaubt seyn, was im Umgange erlaubt ist. Aber er vertritt doch die Stelle einer mündlichen Rede, und deswegen muß er sich der Art zu denken und zu
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reden, die in Gesprächen herrscht, ( . . . ) nähern ( . . . ) . Er ist eine freye Nachahmung des guten Gesprächs" (1751: 2 f.). Alle Eigenschaften, die die Form des Briefes für den neuen Aufsatzunterricht attraktiv machen mußten (vgl. K. Badhäuser 1794: Vorrede, auch P. Villaume 1784: 89 u.a.), sind in der Bestimmung Gellerts enthalten: (1) Die Inhalte von Briefen lassen sich nicht auf bestimmte Stoffe beschränken: „In einer Rede hat man nur Einen Gegenstand zum Zwecke, und auf diesen zielen alle Theile der Rede hin. ( . . . ) Ein Brief kann zehnerley Gegenstände oder Geschäfte enthalten. Man räth; man tröstet; man erzählt: man dankt; man trägt einem Freunde Geschäfte auf; man wünscht ihm Glücke, und das alles in einem und eben demselben Briefe" (H. Braun 1787/1791: 7, vgl. auch C. F. Geliert 1742: 179 u. ö.). (2) Ebensowenig läßt sich die Form eines Briefes auf ein bestimmtes Muster festlegen: „Wir reden also nunmehr von der Form eines Briefes. In was für einer Ordnung soll er abgefaßt werden? ( . . . ) Giebt es eine gewisse Kunst, oder verschiedene Methoden, nach welchen alle Materien in Briefen können vorgetragen, und miteinander verbunden werden? Man darf nur an das denken, was ein Brief ist: so wird man sich diese Frage leicht beantworten können. Man darf nur an die Ordnung denken, die man beobachtet, wenn man im Umgange von solchen Dingen spricht, die man in einem Briefe vortragen will. Man bedient sich im Umgange keiner weitläufigen Eingänge. Man fängt bald von der Sache an. Man setzt gemeiniglich das, was in der Sache das erste ist, voran. Man fährt mit den Vorstellungen fort, wie sie sich darbieten, und man hört auf, wenn man glaubt, das Nothwendigste gesagt zu haben. Dieses ist auch der Plan zu einem Briefe" (C. F. Geliert 1751: 46 f., vgl. auch 1742: 179, H. Braun 1787/1791: 8 u.ö.). Wenn Briefe also weder auf bestimmte Stoffe noch auf bestimmte Formen festgelegt sind, dann kann auch (3) die Tätigkeit des Briefschreibens als reiner Ausdruck von Gedanken charakterisiert werden. „Die natürliche Folge der Sachen, die man schreiben will, giebt sich freiwillig von selbst" (H. Braun 1787/1791: 8). „Man bediene sich also keiner künstlichen Ordnung, keiner mühsamen Einrichtungen, sondern man überlasse sich der freywilligen Folge seiner Gedanken, und setze sie nacheinander hin, wie sie in uns entstehen: so wird der Bau, die Einrichtung, oder die Form eines Briefes natürlich seyn" (C. F. Geliert 1751: 47 f.). „Wenn die Gedanken auseinander herzufließen scheinen; wenn keiner fehlt, der zum Verstände nöthig ist; wenn keiner da steht, der zu nichts dienet ( . . . ) ; wenn dieß ist: so heisset der Zusammenhang in ( . . . ) Briefen natürlich" (ebd.: 31). Briefe, verstanden als „ordentliche Gespräche", entsprachen exakt den Kriterien, die für die freien Ausarbeitungen aufgestellt worden waren, und dies dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb sich Briefaufsätze für den neuen Aufsatzunterricht in besonderem Maße empfahlen. In einem Punkt gehen Briefaufsätze jedoch über die freien Arbeiten hinaus. Briefe haben
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immer einen Leser. In ihnen werden nicht nur Gedanken ausgedrückt, sondern auch anderen mitgeteilt. Insofern ließ sich an ihnen ein über die freien Ausarbeitungen hinausgehendes Moment üben. Inwieweit Briefe, die zu Übungszwecken unter schulischen Bedingungen geschrieben wurden, immer auch für einen wirklichen Leser bestimmt sein mußten, darüber gingen damals die Meinungen genauso auseinander wie heute. Trapp und Villaume haben es gefordert (E. C. Trapp 1780: 333; P. Villaume 1784: 104; 1804: 44 f.), andere sind nicht so weit gegangen.
Der Stil der Aufsätze Wenn Aufsätze Ausdruck von Gedanken sind, dann mußte sich die Frage stellen, ob außer einem klaren und deutlichen Ausdruck auch noch ein besonderer Stil zu fordern sei: „Aber schon längst höre ich die Frage thun", schrieb Meierotto, ein damals geläufiges Argument aufgreifend, „warum soll denn durch alle diese Aufgaben, und Arbeiten, bloß Aufmerksamkeit, Scharfsinn, Erfindsamkeit geschärft werden? wird es nun wenigstens nicht Zeit seyn, auch an den Vortrag, die Einkleidung der Sachen, kurz an den Stiel zu denken? und waß soll der Jüngling thun, um ausser der Deutlichkeit, und Bestimmtheit auch Annehmlichkeit seiner Schreibart zu geben?" (J. H. L. Meierotto 1782: 63 f.). Seine Antwort ist kurz und bündig und dürfte die Tendenz, in der auch die Antworten der übrigen Reformer gelautet hätten, gut wiedergegeben: „Nichts neues, möchte ich am liebsten antworten, denn eines Theils ist schon alles geschehen, wenn man ihn (den Schüler O. L.) nach Anleitung der Vorübungen richtig beschreiben und zweckmäßig wieder erzählen gelehrt hat; andern Theils prägt sich zu sehr das ausgezeichnete, uneigentliche, geblühmte, dichterische aus andern Büchern, die er liest, ihm ein" (ebd.). Wieder ist es Peter Villaume, der diese Frage ausführlich erörtert hat. Er unterschied zwischen dem „Styl der Gedanken" und dem „Styl der Sprache". Eine Unterrichtung schien ihm in beiden Fällen überflüssig zu sein. Einen besonderen „Styl der Gedanken" zu pflegen, sei für die meisten Schüler ohne praktischen Nutzen, „wenn man in Geschäften nur seine Gedanken gehörig auszudrücken weiß; und Geschäfte, nicht aber schöne Wissenschaften sind in dieser Welt einmal die Hauptsache" (P. Villaume 1784: 24). Sollte es dennoch einmal notwendig sein, dann stelle sich der angemessene Stil von selber ein (vgl. 25). Der „Styl der Sprache" aber hänge zu „sehr von den Gedanken ab, und folge gewissermaßen aus der Natur, und aus der mehr oder minder vollkommenen Bildung der Gedanken" (ebd.), als daß man ihn noch lehren müsse: „Ein Jüngling, der mit Gedanken beschäftigt ist, hat eben so wenig, als der Mann, Kraft und Zeit übrig an den Putz zu denken, Worte aus dem Gedächtniß zusammenzuraffen, und die vollklingendsten zu wählen. Er sieht
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nichts als seinen Gedanken, drückt ihn so aus, wie er ihn sieht, und nicht mit den schellenartigen Worten dieses oder jenes Buches und Gedichts. Er ist präcis, concis, zuweilen abgebrochen, und wohl auch trocken und hart" (ebs.: 114). Facit: „Man muß von der Jugend eigentlich keinen bestimmten Schreibton fordern. Man lasse der Natur ihren Lauf, wenn sie je bey dem Jüngling spricht, und wenn sein Styl nicht schon Flickwerk ist. Hat er wahren Schwung; nun so drücke man ihn nicht nieder; nur nehme man ihm die Stelzen, wenn er sie statt der Flügel brauchen will. Hat er keinen Schwung; so schleudere man ihn doch nicht in die Wolke; er würde ja doch nicht länger in der Höhe schweben, als die Kraft des Wurfes dauern würde" (ebd.: 112 f.).
V. Zwischen Rhetorik und Stilistik: Die deutschen Stilübungen an den Gymnasien
(1780-1850) Im Zusammenhang mit den schriftlichen Ausarbeitungen der Schüler in Gymnasien und Gelehrtenschulen sprach man damals nicht nur von „Aufsätzen" oder „schriftlichen Aufsätzen", sondern häufiger noch von „deutschen Stilübungen". Gemeint ist ein und dasselbe. Doch die letzte Bezeichnung dürfte charakteristisch sein für den Stellenwert, den die schriftlichen Ausarbeitungen an den Gymnasien einnahmen. Unter dem Ausdruck „Stilübungen" verstand man allgemein jede Form schriftlicher Arbeit in Schulen (Abschriften und Diktate ausgenommen): „Es scheint nothwendig, daß wir zuerst den (...) Ausdruck: Stylübungen, erklären und rechtfertigen. Wir verstehen darunter denjenigen Theil des Unterrichts in unsern Schulen, welcher sich mit der Verfertigung schriftlicher Arbeiten oder Aufsätze, wie man gewöhnlich sagt, beschäftigt" (C. F. Falkmann 1823: 43). Der Ausdruck „Stilübung" war eine Gattungsbezeichnung; die Angabe der jeweiligen Sprache, in der der Unterricht erfolgte, eine Spezifizierung, und so konnte man von „lateinischen", „griechischen", „englischen", „französischen" und also auch von „deutschen Stilübungen" sprechen. FLin solcher Sprachgebrauch unterstellt, daß sich die deutschen Stilübungen von den übrigen lediglich durch die Sprache unterscheiden, in der die Ausarbeitungen anzufertigen waren, darüber hinaus vielleicht auch die Vorstellung, daß bei allen Stilübungen allein die Tatsache von Bedeutung sei, daß überhaupt geschrieben und Schreiben geübt werde, die jeweilige Sprache dagegen eine eher beiläufige Angelegenheit darstelle. Sollten wirklich solche Vorstellungen aufgekommen sein, so dürften sie nicht untypisch für die Einschätzung der schriftlichen Arbeiten an Gymnasien gewesen sein, zumindest in einer Übergangszeit: der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
1. Deutsche Stilübungen im Rahmen des Rhetorikunterrichtes Der Rhetorikunterricht Die Rhetorik war auch noch während des 19. Jahrhunderts ein bedeutsamer Unterrichtsgegenstand der Gymnasien, und im Rahmen dieses Unterrichtes
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wurden schriftliche Ausarbeitungen auch in deutscher Sprache, „deutsche Stilübungen", angefertigt. Der Unterricht in der Rhetorik gehörte zum Programm der oberen Klassen: meistens der vorletzten Klasse, der Sekunda, auf jeden Fall aber der letzten, der Prima. Da die Rhetorik ihrem Selbstverständnis nach an keine Sprache gebunden ist, konnte der Unterricht in diesem Fach die verschiedensten Verbindungen mit dem Sprach- und Literaturunterricht eingehen. In den Rhetorikstunden wurde die Lektüre deutscher Schriftsteller ebenso betrieben, wie die der lateinischen und griechischen. So waren auch die schriftlichen Ausarbeitungen, die im Rahmen des Rhetorikunterrichtes zur praktischen Anwendung des Gelernten üblich waren, keineswegs auf die deutsche Sprache beschränkt. Selbst grammatische Fragen konnten aufgegriffen werden. Da im Rhetorikunterricht die verschiedenen Teile des Deutschunterrichtes Aufnahme fanden, war neben den rhetorischen Übungen ein regelrechter Unterricht in der deutschen Sprache überflüssig. Wenn in den oberen Klassen Rhetorik gelehrt wurde, fand in der Regel auch kein Deutschunterricht statt. Wie beharrlich sich dieses Grundmuster gehalten hat, welche Variationsmöglichkeiten es aber zugleich zuließ, mögen zwei Beispiele zeigen: der Rhetorikunterricht, den Meierotto am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, solange er dort tätig war (1771 — 1800), zu erteilen pflegte, und der Rhetorikunterricht, wie ihn die „Instruction für den Unterricht in dem Großherzoglichen Gymnasium zu Darmstadt" von 1827 für eben dieses Gymnasium regelte. Nach dem Zeugnis seines Biographen konzentrierte Meierotto den Unterricht in der Sekunda auf „die Güte des (mündlichen und schriftlichen) Ausdruckes" (F. L. Brunn 1802: 416), also auf die sog. Wohlredenheit (vgl. V.2). Meierotto hatte dazu „eine eigene Theorie entworfen, die insonderheit den Bedürfnissen des Jünglings angemessen war. Denn sie machte Diesen auf alles Das aufmerksam, was selbst im täglichen Gespräche, selbst im freundschaftlichen Briefe, seinen Worten das Gepräge der Cultur aufdrucken sollte, so auch die Abwege, denen ein falscher modischer Geschmack, oder jugendliche Ueppigkeit der Darstellung, oder ungeprüfte, einseitige Nachahmung zuführt" (ebd.: 417). Zu diesem Zwecke hatte Meierotto ein eigenes Lesebuch zusammengestellt: „Abschnitte aus deutschen und verdeutschten Schriftstellern, zu einer Anleitung der Wohlredenheit, besonders im gemeinen Leben, geordnet" ( J . H . L. Meierotto 1794). In der Prima wurde eine Arbeitsteilung zwischen dem Lateinischen und dem Rhetorikunterricht vorgenommen. Von lateinischen Reden hielt Meierotto nichts. Dafür oblag dem Lateinunterricht aber die weitere Übung des Stils: „Die Stiluebungen der ersten rhetorischen Classe bestanden bloß aus lateinischen Ausarbeitungen" (ebd.: 424). In den Rhetorikstunden wurden die Schüler auf den immer noch obligatorischen Redeactus vorbereitet: „Freywillige Uebungen waren die Reden, welche (deutsch — einige auch lateinisch) auf
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den öffentlichen Oster-Prüfungen von einigen Primanern gehalten wurden. Der junge Redner konnte unter den von Meierotto dictirten Themata wählen, und mußte, vor Abfassung der Rede selbst, ihm einen ansehnlichen, bereits disponirten Materialien-Vorrath für die Rede übergeben. Da dieser Entwurf ( . . . ) selten befriedigend ausgefallen war: so beurtheilte ihn Meierotto nur mündlich mit Zuziehung des Verfassers, dem er alsdann eine, von ihm selbst niedergeschriebene, Disposition übergab, nach welcher die Rede ohne weitere Beyhülfe ausgearbeitet werden mußte. Nun wurde die Rede selbst von Meierotto corrigirt ( . . . ) . Zuletzt wurden noch mit den jungen Rednern die nöthigen Declamations-Proben angestellt" (ebd.: 424). „Die Kunst der eigentlichen Rede", sonst die Krönung des Rhetorik- wie des Unterrichtes an Gymnasien überhaupt, zählte Meierotto nicht mehr zu den Aufgaben der Schule (vgl. auch F. Gedike 1793: 23 ff.). Die einschlägigen Bestimmungen der Instruktion für das Darmstädter Gymnasium von 1827 hat Gerhard Schaub (1975) zusammengestellt. Die Rhetorik war „zwar kein spezielles, selbständiges Unterrichtsfach, dafür aber ein überaus wichtiger Unterrichtsgegenstand ( . . . ) in fast allen philologischen Fächern" (G. Schaub 1975: 15). Rhetorisch ausgerichtete Stilübungen gab es sowohl im Französischen als auch im Griechischen. Doch „viel früher, intensiver und breiter ( . . . ) wird Rhetorik im Fach Deutsch betrieben (.. .). Bereits in Tertia und Sekunda wird die ,mündliche Wohlredenheit und die Kunst, ex tempore einen zusammenhängenden Vortrag zu halten', ,durch vielfältige Übungen' gefördert (...). Alle diese stilistisch-rhetorischen Übungen werden in Prima und Selekta (einer der Vorbereitung auf das akademische Studium dienenden Klasse O. L.) fortgesetzt und vertieft" (ebd.). Damit nicht genug: „Die eigentliche Domäne der Rhetorik ist und bleibt nach wie vor der Lateinunterricht. ( . . . ) Er beginnt wie im Fach Deutsch mit Stilübungen in der Sekunda. In Prima wird dann ,die Lehre vom richtigen Gebrauche der einzelnen Redetheile, von der Stellung und Verbindung der Wörter und Sätze, von der Syntaxis und der Synonymik' hinzugefügt. ( . . . ) In Selekta wird schließlich als Krönung des Rhetorikunterrichtes eine zusammenhängende ,Theorie des lateinischen Styls vorgetragen', d. h. „eine systematische Darstellung der Rhetorik" (ebd.). Schaub resümiert: „Wir dürfen und müssen also davon ausgehen, daß am Darmstädter Gymnasium noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das ganze Lehrgebäude der Rhetorik vermittelt wurde" (ebd.). Vergleicht man beide Weisen, Rhetorik zu lehren, miteinander, so zeigt sich, daß die Darmstädter Instruktion von 1827 weitaus konservativer war. Meierotto, wiewohl er noch im 18. Jahrhundert lehrte, hatte in vielen Punkten die Entwicklung, die die Rhetorik während des 19. Jahrhunderts an den Schulen nahm, vorweggenommen.
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Ein Beispiel: Büchners Cato-Rede Es sind nur wenige Schülerreden aus dem frühen 19. Jahrhundert bekannt. Ein bemerkenswertes Zeugnis ist Georg Büchners Cato-Rede, die er am 29. September 1830 in einem öffentlichen Redeactus des Darmstädters Gymnasium, also unter Bedingungen der Darmstädter „Instruction", gehalten hat (vgl. G. Büchner 1967: 2 1 9 - 2 3 5 ; dazu G. Schaub 1975: 34ff.). Die Frage, wie Catos Tod zu beurteilen sei, war damals wiederholt Gegenstand von Schülerarbeiten. Die Antwort lag keineswegs fest. J . B . Basedow entwickelte 1756 in seinem „Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit" eine Argumentation, die auf eine Ablehnung hinauslief: „Cato hat sich aus Zaghaftigkeit umgebracht. ( . . . ) Ist derjenige nicht zaghaft, der seine Pflichten aus den Augen setzt, um Verdruß und Gefahr zu meiden? Es war Catos Pflicht zu leben, die verdorbenen Sitten der Republik hatten seiner und des Exempels nöthig, welches er gab" usw. ( J . B. Basedow 1756: 20 ff.). Büchner dagegen ging es um den Erweis, daß der Selbstmord Catos zu rechtfertigen sei. Entsprechend ist seine Rede aufgebaut. Der Narratio geht ein Abschnitt voraus, in dem „der Maßstab" angegeben wird, an dem Büchner Cato gemessen wissen will. Man dürfe „an einem Kato nicht den Maßstab unserer Zeit anlegen" (20): „er ist nur als Römer und Stoiker zu betrachten" (221). Mit der Offenlegung seiner Kriterien beginnt Büchner den eigentlichen Teil der Rede, die Beweisführung oder probatio. Diese wird im Anschluß an die Narratio fortgeführt, indem insgesamt sechs Gesichtspunkte, die zu einer Verurteilung der Tat führen könnten, entkräftet werden. Der Behauptung, „der Beweggrund zu seinem Selbstmord sei ein unbeugsamer Stolz gewesen" (222), setzt Büchner entgegen: „Den Fall seines Vaterlandes hätte Kato überleben können, wenn er ein Asyl für die andere Göttin seines Lebens, für die Freiheit, gefunden hätte. Er fand es nicht. Der Weltball lag in Roms Banden, alle Völker waren Sklaven, frei allein der Römer. Doch als auch dieser endlich seinem Geschicke erlag, als das Heiligtum der Gesetze zerrissen, als der Altar der Freiheit zerstört war, da war Kato der einzige unter Millionen, der einzige unter den Bewohnern einer Welt, der sich das Schwert in die Brust stieß, um unter Sklaven nicht leben zu müssen ( . . . ) . Und war auch Rom der Freiheit nicht wert, so war doch die Freiheit selbst wert, daß Kato für sie lebte und starb" (222 f.). Eine rhetorisch effektvoll aufgemachte Einleitung eröffnet die Rede, das sog. Exordium, beschlossen wird sie nach den Regeln der Kunst durch einen Epilog, „ein Muster- und Glanzstück einer peroratio" (G. Schaub 1975: 44): „So handelte, so lebte, so starb Kato" (G. Büchner 1976: 225). Die Lehrbücher Die Zahl der rhetorischen Lehrbücher, die Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienen sind, ist nicht gering. Ein Zeugnis
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gewiß für die Beharrlichkeit, mit der sich die Rhetorik im Unterrichtsbetrieb der Gymnasien gehalten hat. Doch ihr Inhalt zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die Position der Rhetorik erschüttert war. Wie unterschiedlich auch diese Bücher ihrer Konzeption nach waren, in einem stimmen sie überein: in der Orientierung an den antiken Vorbildern: Aristoteles, Cicero und Quintilian. Nur gelegentlich wird noch an die deutsche Oratorie erinnert. Auch in ihrem Aufbau folgen die Lehrbücher dem antiken Schema, d. h. den einzelnen Stadien der Produktion einer Rede (inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio). Doch die beiden letzten Teile waren instabil geworden. G. G. Fülleborn (1802) hat auf sie ganz verzichtet. Meist werden sie zu einem Teil zusammengenommen, der dann „von dem mündlichen Vortrage" oder anders heißen kann (vgl. T. Heinsius 1810: III). Wenn die Memoria überhaupt noch erwähnt wird, wie bei J. Püllenberg (1827), geschieht es nur noch der Vollständigkeit halber. Es wird deutlich, daß die Rhetorik auf dem Wege ist, ihr eigentliches Feld: den konkreten Vortrag, zu räumen und zu einer allgemeinen Lehre von der Abfassung von Texten schlechthin zu werden. August Hermann Niemeyer geht in seinem umfassenden Werk „Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts" aus dem Jahre 1796 im 8. Kapitel kurz auf „den Unterricht in den redenden Künsten und der Bildung des Geschmacks" ein, nachdem einige Kapitel zuvor „der schriftliche Ausdruck und die Bildung des Stils" in den unteren und mittleren Klassen behandelt worden waren. Niemeyer breitet noch das volle rhetorische Programm aus und stemmt sich gegen die Tendenz seiner Zeit, die Rhetorik auf den schriftlichen Ausdruck zu beschränken, dabei aber „ihre Hauptbestimmung, zum Reden zu bilden", in Vergessenheit geraten zu lassen: „gerade diese Bildung, welche ein Hauptgewinn alles Studiums der redenden Künste sein sollte, wird über den untergeordneten Zweck, oder dem Mittel dazu, der Bildung des Stils zum schriftlichen Ausdruck, in dem gewöhnlichen Jugendunterricht fast ganz vergessen" (Α. H. Niemeyer 1796/1884: II, 236). Die „Rhetorik. Ein Leitfaden beym Unterrichte in obern Klassen" von G. G. Fülleborn (1802) liest sich fast wie ein Gegenentwurf zu Niemeyers Vorstellungen. Die Rhetorik ist für Fülleborn die „Fertigkeit, schriftliche und mündliche Vorträge zweckmäßig einzurichten" (1), mehr nicht. Die Darstellung der elocutio, also der stilistische Teil der Rhetorik, nimmt mehr als die Hälfte des ganzen Buches ein. Die Rhetorik ist hier zu einer „schreibenden Rhetorik" geworden, wie später ein Rhetoriker treffend sagte (O. Wolff 1846: VIII). Dementsprechend ist das Lehrbuch eingerichtet. Es besteht aus zwei Teilen: „Von der Kunst zu denken" und „von der Kunst zu schreiben". Theodor Heinsius hat im dritten Teil seines bekannten Lehrbuches „Teut" oder „theoretisch-praktisches Lehrbuch des gesamten Deutschen Sprachunterrichts" aus dem Jahre 1810 eine merkwürdige Rechtfertigung für die Behandlung an den Schulen gegeben, die eine große Unsicherheit in der Einschätzung
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dieses Faches verrät. „Ich kann nicht der Meinung seyn", schrieb Heinsius, „daß sich durch eine Anleitung dieser Art Redner und Dichter bilden lassen" (Vorrede). Es kam nicht auf die Ausbildung produktiver Fähigkeiten an. „Wohl aber ist es nöthig und nützlich, daß jeder wissenschaftlich sich bildende auch die Kenntniß sich aneigne, durch welche wir allein im Stande sind, uns die Lektüre unserer Redner und Dichter zu einem schönen Genuß zu machen, und unser Urtheil über Kunstwerke dieser Art zu sichern und zu verfeinern" (ebd.). Es ging Heinsius also nur um die Kenntnis der Rhetorik, und dies auch nur, damit der Kunstsinn entwickelt und verfeinert werde. Der „Leitfaden bey dem Unterrichte in der Rhetorik im engeren Sinn zum Gebrauche für Obergymnasial-Klassen" von Andreas Mühlicb (1825) leitete eine neue Entwicklung ein. Mühlich unterschied zwischen der Rhetorik im weiteren und im engeren Sinne und beschränkte sich selbst auf eine Darstellung der Rhetorik im engeren Sinn: „Dieser Leitfaden ist für jene Schüler bestimmt, welche nach hinlänglicher Kenntniß und Uebung in den verschiedenen Stylarten, die sie in den zunächst vorhergehenden Lehrkursen beschäftigen, zu dem Studium der eigentlichen Beredsamkeit und zum Lesen griechischer, römischer und deutscher Redner übergehen" (Vorrede). Die Rhetorik weicht hier vor dem sich ausbreitenden Deutschunterricht zurück. Mühlich hat die Beschränkung begrifflich vorbereitet, aber nicht konsequent durchgeführt. Diesen Schritt hat zwei Jahre später Johann Püllenberg (1827) getan. Er trennte die Rhetorik von der „Theorie des Styls" ab: „Quintilian und viele Andere werfen die Theorie des ganzen Styls und die Rhetorik durcheinander; einige handeln die Theorie des ganzen Styls, oder wenigstens des prosaischen Styls ab, wo sie Rhetorik abhandeln sollen. Aber die gute Ordnung fordert unstreitig, daß zuerst die Theorie des Styls überhaupt und der einzelnen Arten abgehandelt werde, und der Gymnasiast in der Sprache, in denen einzelnen Stylarten sicher und geübt sey, ehe er sich an die schwere Kunst der Beredsamkeit wagt (ebd.: 4f.). Das „theoretisch-praktische Lehrbuch der Rhetorik" von Joseph Nikolaus Schmeisser (1838) sei hier lediglich noch als Zeugnis angeführt dafür, daß die Schulrhetorik sich in zunehmendem Maße darauf beschränkte, die alten Autoritäten wiederzugeben, ohne auch nur den Versuch einer Anpassung zu machen. Schmeisser schrieb sein Buch „in der Ueberzeugung, daß die Vorschriften, welche uns die Alten, namentlich Cicero und Quintilian über die Erlernung und Ausübung der Redekunst hinterlassen haben, im Ganzen genommen auch in unseren Zeiten bei Ertheilung des Unterrichts ihre Anwendung finden dürfen" (ebd.: IV). Die Rhetorik in der Defensive Auch wenn, nach der Häufigkeit der Veröffentlichung von Lehrbüchern zu urteilen, die Rhetorik an den Schulen Ende der zwanziger und während der
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dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts einen Boom zu erleben schien, war ihr Untergang besiegelt. In der literarischen Öffentlichkeit und wohl auch weit im öffentlichen Bewußtsein war das rhetorische Paradigma, das über viele Jahrhunderte das Denken bestimmt hatte, spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts abgelöst worden. Symptomatisch für die Abwertung der Rhetorik dürfte Kants Äußerung sein: „Ich muß gestehen, daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, die die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. ( . . . ) Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig" (I. Kant 1799: 217). Dieter Breuer hat den Paradigmenwechsel ausführlich beschrieben (1974: 145 — 150). Ungünstig wirkte sich auch die politische Restauration im 19. Jahrhundert auf den Rhetorikunterricht aus. Seit es Rhetorik gab, ist ein Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen gesehen worden. Ein freies Wort gibt es nur in einer freien Gesellschaft. In einem absolutistischen Staat, wie etwa dem preussischen, mochte er sich auch als aufgeklärt betrachten, hatte die öffentliche Rede keinen Platz. „Wo ist die Arena für die Eloquenz, die sie (die Schüler O. L.) einmal im Leben auf dem Redeaktus des Gymnasiums frei entfalten durften?", läßt die Schwester Georg Büchners in der Erzählung „Ein Dichter" einen Lehrer ihres Bruders sprechen: „Schweigt! donnert ihnen überall die Polizei entgegen; schweigt! heißt es in den Gerichtssälen, denn was wissen wir von öffentlichen Gerichten? schweigt! heißt es selbst in Kammern, wenn ihr nicht Vertrauen zu flöten wißt. Nur auf der Kanzel, da dürfen sie sprechen" (L. Büchner 1965: 54). Überflüssig fast, in diesem Zusammenhang noch einmal an das viel zitierte Diktum Schubarts zu erinnern: „Deutschland kann, nach seiner Verfassung, keine Meisterstücke in der politischen Beredsamkeit aufweisen" (C. F. D. Schubart 1777: 104). Der Rhetorikunterricht an den Schulen hatte im öffentlichen Leben kaum noch eine Entsprechung. Damit fehlte ihm ein Ziel, auf das hin er hätte ausbilden können. Die Schulrhetorik war zum Selbstzweck geworden. Zwar gab es gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Gegenbewegung liberaler und demokratischer Kräfte verschiedenster Art, die schließlich zur Revolution von 1848 führte (vgl. G. Jäger 1977: 8). Man könnte auch vermuten, daß die rhetorischen Lehrbücher, die Ende der zwanziger und während der dreißiger Jahre erschienen, mit dieser Bewegung in einem Zusammenhang stehen (so G. Jäger 1973: 131 ff.). Doch der Schein trügt. Wenn in Bayern 1829 und 1830 die klassische Rhetorik wieder installiert
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wurde (vgl. J . N . Schmeisser 1838: Vorrede), so hatte das andere Gründe. Hier meldeten sich nicht Demokraten zu Wort, sondern konservative Altphilologen, die ihr Fach durch den Deutschunterricht bedroht sahen. Wenn in den rhetorischen Lehrbüchern auf die politischen Verhältnisse Bezug genommen wurde, so ist dies nichts als eine Ausrede, um die Rhetorik des Cicero und des Quintilian an den Schulen zu rechtfertigen. Wenn schließlich vor und nach der Revolution engagierte Schulmänner wie Falkmann (1831), Günther (1841), Knispel (1844) und Campe (1851), um nur einige zu nennen, die Wiedereinrichtung freier Vorträge und die sie vorbereitenden Redeübungen an den Schulen forderten, dann dachten sie an die Ausbildung der Schüler im mündlichen Ausdruck, weniger an die Rhetorik (vgl. dazu Kap. VI.l). Ihre Forderung war nicht politisch motiviert. Der neue Liberalismus hat auf die klassischen Gymnasien keinen Einfluß nehmen und schon gar nicht das Schicksal der Rhetorik aufhalten können. Im 17. Jahrhundert gefordert, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich an einigen wenigen Schulen, in der zweiten Hälfte auf breiter Front durchsetzend, im 19. Jahrhundert dann auf seinen Ausbau bedacht, war der Deutschunterricht zum Konkurrenten der Rhetorik geworden. Er war, wenn der militärische Ausdruckt erlaubt ist, im Vormarsch begriffen, der Rhetorikunterricht eindeutig in der Defensive. Lange Zeit konnte die Rhetorik dem Deutschunterricht in den oberen Klassen das Feld streitig machen. Doch diese Position ließ sich auf die Dauer nicht halten. Schließlich blieb der Rhetorik nur die Wahl, sich in den Deutschunterricht als einen Teil desselben zu integrieren oder die Distanz zum Deutschunterricht zu suchen. Georg Jäger (1973) und Dieter Breuer (1974) haben die Rückzugsbewegungen, die die Rhetorik an den Schulen der verschiedenen Länder während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm, anhand von Schulprogrammen und ministeriellen Erlassen wenigstens in Umrissen rekonstruiert. Danach hat das Land Baden den tradierten Rhetorikunterricht in diesem Zeitraum weitgehend unangetastet gelassen: Stilistik auf der Tertia, Poetik auf der Sekunda und Rhetorik auf der Prima (Verordnung über die Gelehrtenschulen von 1837). „Die Aufeinanderfolge von Stilistik, Poetik und Rhetorik stellt überall ein Grundmuster dar, wo der Unterricht am Herkommen festhält" (G. Jäger 1973: 134). Bayern verfolgte keine einheitliche Linie. Das Niethammersche Normativ von 1808 stellte entschieden die deutsche Klassik in den Mittelpunkt des Deutschunterrichtes und vernachlässigte infolgedessen den Rhetorikunterricht. Die Schulordnungen von 1829 und 1830 kehrten das Verhältnis wieder um: „Seit dem Schulplan von 1829 und 1830 ist die Theorie der redenden Künste wieder unter die Lehrgegenstände der K. bayrischen Gymnasien aufgenommen, nachdem sie lange Zeit so wie fast in ganz Deutschland in Miscredit gestanden" (L. Döderlein zit. nach G. Jäger 1973: 138). „Die Ordnung von 1830 bezeichnet das Fach, früher Deutsche Sprache,
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in der ersten Gymnasialklasse als deutschen Stil, in den drei übrigen als Theorie der redenden Künste" (G. Jäger 1973: 136). Nur in Preußen setzte der Verdrängungsprozeß bereits vehement in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Unter dem Oberschulkollegium (1787 bis 1806) kam dem Rhetorikunterricht zwar noch eine gewichtige Rolle zu, weil sich sozusagen unter seinem Dach der Deutschunterricht etablieren konnte. Nachdem sich aber einmal der Deutschunterricht an den Schulen eingerichtet hatte, konnte der Abbau des Rhetorikunterrichtes einsetzen. Das ist klar erkennbar während der vierziger Jahre geschehen. „In Magdeburg, im Pädagogium zum Closter Unser Lieben Frauen, wird 1847 in der Sekunda die Rhetorik ,beendet', die Prima nennt gesondert ,Meditation' (inventio) und Disposition, während das Kölner Friedrich-Wilhelm-Gymnasium 1848 und 1849 Rhetorik und Poetik nicht mehr kennt. In der Provinz Westfalen weisen 1847 zwei von fünf evangelischen Programmen Rhetorik, eines zusätzlich Poetik aus, von vier katholischen drei Poetik, eines Rhetorik. Zwei altehrwürdige Anstalten Berlins können den Horizont der Hauptstadt abstecken. Das Friedrichwerdersche Gymnasium gibt 1839 der Prima ,Anleitungen zur Bearbeitung von Abhandlungen und Reden, wozu der Lehrer die Literatur der Beredsamkeit' vorträgt, das Joachimsthalsche Gymnasium vermeidet 1839, 1840, 1846, also wohl durchgehend, jede Andeutung des Faches, auch der Poetik. Wenngleich das Lehrgebäude noch zuweilen vermittelt wird, ist die Rhetorik doch auf der ganzen Linie im Abbau begriffen" (Jäger 1973: 143). Endgültig abgeschafft wurde sie jedoch in Preußen erst durch die Lehrpläne von 1892 und 1898. An die Stelle der rhetorischen Übungen waren teils die deutschen Aufsätze getreten, teils aber auch Übungen im mündlichen Ausdruck. Diese beanspruchten den Platz, den zuvor die Deklamationen eingenommen hatten, jene den ihrer Ausarbeitung. In einem „Circulare des Königl. Ministeriums der Geistlichen-, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten an sämmtlichen Königl. Consistorien und Provinzial-Schul-Collegien" vom 12. Februar 1829 (F. Schultze 1831: 79 ff.) wird die Ablösung der Deklamationen ziemlich deutlich angesprochen. „Diese sind", heißt es dort, „wie sie gewöhnlich angestellt werden können, minder zweckmäßig: theils deshalb, weil die wenigsten Lehrer selbst die Gabe und die Kunst der Deklamation besitzen, daher nicht im Stande sind, ihre Schüler in derselben gründlich zu unterrichten, theils deshalb, weil es an der nöthigen Zeit fehlt, um ihnen die erforderliche Anweisung zu ertheilen und sie in der richtigen Anwendung zu üben." Dazu die bissige Bemerkung: „im günstigsten Falle aber wird doch durch jene Uebungen höchstens nur eine gewisse Fertigkeit hervorgebracht, fremde, nicht aber, was im Leben so oft notwendig ist, eigene Gedanken frei und angemessen vorzutragen". Um die Schüler in den Stand zu setzen, „eigene Gedanken frei und angemessen vorzutragen", werden Übungen im mündlichen Ausdruck für nützlicher erachtet: „Aus diesen Gründen sollen die
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gewöhnlichen Uebungen im Declamiren seltener angestellt, und dafür die Schüler mehr zu eigenen freien Vorträgen veranlaßt werden. Die ersten hierzu nöthigen Uebungen mögen in den untersten Classen darin bestehen, daß die Schüler längere Erzählungen, welche sie gelesen oder gehört haben, wieder erzählen. Die Schüler der mittleren Classen sind dazu anzuhalten, den Inhalt eines gelesenen Buches oder einzelner Abschnitte aus demselben mündlich wiederzugeben, über aufgegebene Gegenstände aus der Geographie oder Naturgeschichte kurze Vorträge zu halten und dergleichen. In den beiden obersten Classen können diese Uebungen in sehr mannigfaltiger Art angestellt werden; die größere oder geringere Schwierigkeit der Aufgaben wird von der Fähigkeit der Schüler überhaupt und von der Fertigkeit abhängen, welche sie bereits in der Auffassung, Anordnung und der mündlichen Darstellung eigener oder fremder Gedanken erlangt haben" (F. Schultze 1831: 86 f.; vgl. auch die großartige Vorrede von J. H. L. Meierotto 1794). Neben den Übungen des mündlichen Ausdrucks sind noch eine Zeit lang Deklamationsübungen betrieben worden, allerdings abgelöst vom Aufsatzunterricht (vgl. etwa H . A . Kerndörffer 1833 und W. Fricke 1862).
2. Die Begründung einer deutschen Stilistik Die Einrichtung deutscher Aufsätze steht im Zusammenhang mit einem generellen, geradezu paradigmatischen Wechsel, dem Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von einer primär oralen zu einer primär literal bestimmten Kultur. Literal war bereits die Bildung der Gelehrten, wie sie seit Beginn der Neuzeit gepflegt wurde. Literal wurde seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges in zunehmenden Maße die öffentliche Verwaltung, teilweise auch der Handel und das Handwerk, und zwar in dem Maße, in dem die Organisationsstrukturen komplexer und damit indirekter wurden (vgl. P. von Polenz 19789); 85 ff.; H. Eggers 1977/1986: 180 ff.; Ν. N. Semenjuk 1985: 1458 f.). Nun — im 18. Jahrhundert — gewann die Schriftlichkeit Bedeutung für fast alle Bereiche der Kultur, des öffentlichen Lebens und der Ökonomie. Das Interesse an einer Stilistik Der allgemeine Wandel von einer rhetorisch-mündlichen zu einer eher schriftlichen Kultur fand in der gelehrten Auseinandersetzung seinen Niederschlag. Im 18. Jahrhundert unterschied man allgemein zwischen „Beredsamkeit" und „Wohlredenheit". Noch zu Beginn des Jahrhunderts galt das Interesse hauptsächlich der Beredsamkeit: „Ein Redner ist (...) nicht zufrieden, wenn man ihn gern höret, wenn man seine schöne Schreibart lobet, seine hübschen
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Gedanken, und sinnreichen Ausdrückungen erhebet. Er geht viel weiter, und fordert ungleich mehr von seinen Zuhörern. Man soll ihm in seinem Vortrage auch vollkommen beypflichten; man soll mit ihm einerley Meynung werden; man soll das vor wahr und vor falsch halten, was er davor hält; man soll endlich lieben und hassen, zürnen und beneiden, frolocken und trauren, hoffen und fürchten, suchen und fliehen, thun und lassen, was und wie es ihm gefällt; wenn und wo und wie es ihm nur gut dünket" ( J . C. Gottsched 1736: 34). Zwanzig Jahre später schrieb der bekannte Pädagoge und Philanthrop Johann Bernhard Basedow im Vorwort seines „Lehrbuches prosaischer und poetischer Wohlredenheit": „die Wohlredenheit erstreckt sich nicht allein zugleich über Prose und Poesie; sondern sie schließet auch die eigentliche Beredsamkeit, oder die Kunst zu überreden und zu bewegen, als einen Theil in sich" (J. B. Basedow 1756: Vorrede). Für Basedow ist die Beredsamkeit nur ein Theil der Wohlredenheit, und nur diese ist Gegenstand seines Buches. Der Schritt von Gottsched zu Basedow: von der Beredsamkeit zur Wohlredenheit entsprach einem Trend der Zeit, gibt ihn aber nur zum Teil wieder. Aus dem Jahre 1736, dem Erscheinungsjahr von Gottscheds „Ausführlicher Redekunst", gibt es ein Zeugnis, in dem die Unterscheidung zwischen Beredsamkeit und Wohlredenheit mit anderen Begriffen und in der Sache schärfer vorgetragen wird. Im Vorwort schreibt der Verfasser: „Nachdem nun die Urtheile darüber (gemeint ist die erste Auflage seines Buches O. L.) so gefallen, daß ich damit wohl zufrieden seyn kan; so trage ich ( . . . ) kein Bedenken, ( . . . ) denjenigen, welche dieses Werck vor eine Oratorie angesehen und ausgegeben, zu Gemüthe zu führen, wie sie sich darinnen gar sehr irren, und die Oratorie mit der Lehre vom Stylo gewaltig vermischen" (D. A. F. Glaffey 1736: neue Vorrede). Er spricht also nicht von „Wohlredenheit" allgemein, sondern vom „Styl" und von der „Schreib-Art". Diese Begriffe sind enger. Sie erstrecken sich vielleicht noch nicht ausschließlich auf die geschriebene Sprache, doch scheint diese ihre eigentliche Domäne zu sein. Was sie mit dem Begriff der Wohlredenheit gemeinsam haben, ist der Verzicht auf rhetorische Ambitionen: „Der Stylus aber ist damit zufrieden, wenn einer dasjenige, was die Redner-Kunst zum Vortrage aus denen Wissenschafften ( . . . ) zusammen gesucht und in Ordnung gebracht (Anspielung auf die inventio und dispositio der Rhetorik O. L.), oder sonst die vorhabende Materie von selbsten darbietet, vielleicht auch von andern zur Ausarbeitung an Hand gegeben wird, so wohl in förmlichen Reden, als auch bey Abfassung gewisser Deductionen, Berichte, Gesetze, Befehle, Briefe und anderer solcher Schrifften, wo eigentlich keine Redner-Kunst angebracht, sondern nur verständlich, ernsthaftig und weltüblich geschrieben werden soll mit deutlichen weltbrauchbaren und schönen Worten, in wohl gefaßten und natürlich an einander hangenden Periodis vorzubringen weiß" (ebd.). Der Verfasser dieser „Anleitung" unterschied also zwischen der „Redner-Kunst" und der Lehre
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„von der Teutschen Schreib-Art". Ihm kam es lediglich darauf an, daß „verständlich, ernsthaft und weltüblich" geschrieben wurde. Die einzelnen Schritte der Entwicklung lassen sich kurz so wiedergeben: Die Beredsamkeit wurde auf Wohlredenheit, die Wohlredenheit — zumindest der Tendenz nach — auf einen guten Stil und dieser allmählich auf eine gute Schreibart reduziert. Zuletzt war der Stil eine „gute schriftliche Darstellung" (F. E. Petri 1811: 6), und die Stilistik eine Anleitung „des zweckmäßigen und schönen Ausdrucks in Schriftsprache", und zwar „in jeder Art und Bestimmung schriftlicher Mittheilungen" (ebd.: 2).
Die ersten deutschen Stilistiken Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden verschiedene Versuche unternommen, eine neue, eine deutsche Stilistik zu begründen. Die ersten Anleitungen zu einer guten deutschen Schreibart stammen weder von Schulleuten noch von Professoren der Beredsamkeit, sondern von Verwaltungsfachleuten. „Damit aber ein Leser", so stellt sich der Verfasser eines solchen Lehrbuches vor, „nicht etwa aus unzeitiger Beysorge das Vertrauen zu dem Buche gleich sincken lassen ( . . . ) möge (...): So dienet demselben so viel zur Nachricht, daß der Auetor ( . . . ) ein in einem ansehnlichen öffentlichen Ehren-Amt stehender Mann sey, welcher vor grosse Herren, nicht zwar als Cantzley-Person, sondern als Deducente viele Jahre her die Feder geführet, und dahero in dieser Wissenschaft alle Vermuthungen vor sich hat" (A. F. Glaffey 1730/1736: Vorrede zur ersten Auflage). Diese Anleitungen zeichnen sich außerdem dadurch aus, daß sie von der rhetorischen Tradition so gut wie keinen Gebrauch machten, sondern entschieden einen Neuanfang setzten. Die erste, mir bekannte Stilistik dieser Art ist die „Anleitung zur weltüblichen Teutschen Schreib-Art" mit dem etwas barocken Untertitel „Worinnen die Grund-Lehren zu dem in Welt-Händel gebräuchlichsten Stylo enthalten sind" des Adam Friedrich Glaffey, sechs Jahre vor Gottscheds „Redekunst" und fünf Jahre nach Hallbauers „Anweisung" erschienen: 1730 in erster, 1736 in zweiter Auflage. Diese Anleitung fallt völlig aus dem üblichen Rahmen. Glaffey beschränkte sich ausschließlich auf stilistische Fragen und verwendete von dem tradierten, rhetorischen Arsenal lediglich einige Gesichtspunkte der Chrien für die Anordnung von Texten, nicht etwa, weil er etwas gegen die Rhetorik gehabt hätte, sondern weil seine Absicht eine andere war: „meine Absicht dermahlen fürnehmlich dahin gerichtet ist, wie ohne Tropische Ausschweiffungen und Rhetorische Figuren ( . . . ) in Welt-Händeln geredet und geschrieben werden soll" (Vorrede zur 1. Auflage). Was Glaffey zur „weltüblichen Teutschen Schreib-Art" zu sagen hatte, entstammte seiner Erfahrung aus der Verwaltung. Er wollte den „Stylus
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publicus" lehren, und diesen glaubte er am ehesten bei Ministern, Räten und Kanzlisten zu finden: „Gleich wie man aber die fremden Bedeutungen derer lateinischen Worte samt denen schönen Redens-Arten aus Lesungen guter lateinischer Auctorum zusammen suchen muß: Also ist es bey der teutschen Sprache (...) mercklich gefehlt, wenn man die Welt-übliche Expression (.. .) von selbsten ausfündig machen will, da doch vielmehr der Umgang mit Leuten und Affairen, absonderlich aber die Lesung guter teutscher Hoff- und Cantzley-Schrifften hiebey das beste thun müssen" (ebd.: 38). Die Grundlage des „Stylus publicus", den Glaffey vor Augen hatte, war also die Verwaltungssprache oder das Amtsdeutsch, wie wir heute sagen würden. Der „Anleitung" Glaffeys in der Absicht ähnlich, in der Ausführung aber teilweise abweichend, ist die „Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart und allen in den Geschäften und Rechtssachen vorfallenden schriftlichen Ausarbeitungen" von Johann Heinrich G. von Justi (1755). Von Justi lehrte an einer Verwaltungsfachschule, einer Schule für „öconomische und Cameralwissenschaften", zugleich mit diesen Fächern auch die deutsche Beredsamkeit (zur kameralistischen Ausbildung der Beamten vgl. W. Bleck 1982). Doch hatte er nicht Redner auszubilden, „sondern man verlangte, daß die darinnen studirende vornehme Jugend einer guten deutschen Schreibart mächtig werden sollte" ( J . H . G. von Justi 1755: Vorrede). Denn, „da die jungen Leute so fort bey Verlassung des Collegii entweder in Bedienung gesetzet, oder höchstens Orts angewiesen wurden, bey ansehnlichen Kaiserl. Rathen sich in den Geschäften zu üben: so wünschte man, daß sie in dieser Staats-Schule zu allen in den Geschäften vorfallenden schriftlichen Aufsätzen und Ausarbeitungen vorläufig angeführet werden möchten" (ebd.). Und so schrieb von Justi ein Lehrbuch für die Abfassung amtlicher Schriftstücke. Die Bemühungen der Verwaltungsleute um eine deutsche Stilistik sind bemerkenswert, waren jedoch wenig erfolgreich. Die Schule hat von ihnen keine Notiz genommen. Ein zweiter Versuch ging von den sogenannten Briefstellern aus. Anleitungen zur Verfertigung von Briefen sind seit dem Ende des 17. Jahrhunderts immer wieder erschienen, die bekannteste von Benjamin Neukirch 1721 (mehrfach wieder aufgelegt). Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sind zwei kleinere Schriften von Christian Fürchtegott Geliert bedeutsam geworden: „Gedanken von einem guten deutschen B r i e f (1742) und „Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen" (1751). Von beiden war im vorigen Kapitel die' Rede (vgl. IV.4). Da Briefe immer schriftlich sind und folglich auch ihr Stil ein schriftlicher sein muß, kann man in solchen Anleitungen zum Briefschreiben erste Stilistiken des Deutschen sehen (vgl. J . C . Stockhausen 1751/1760; W. (Anonymus) 1764; J. F. Heynatz 1783; u.a.m.). Man muß jedoch berücksichtigen, daß ihr Zweck eingeschränkt war. Wenn Stilfragen aufgegriffen wurden, ging es lediglich
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um den sog. Briefstil. Dieser wurde auch in den zeitgenössischen Rhetoriken — zum Teil sogar recht ausführlich — behandelt, so daß die Anleitungen zum Briefschreiben eher einen Ausschnitt aus der überlieferten Rhetorik boten, als eine neue Entwicklung einleiteten. Die Ausführungen der Briefsteller zu Fragen des Stils waren auf den Briefstil, die der Verwaltungsleute auf den Stil amtlicher oder geschäftlicher Schriftstücke beschränkt. In beiden Fällen war der Ansatz zu eng für das Format einer allgemeinen Stilistik des Deutschen. Es galt, die Behandlung von Stilfragen aus solchen Beschränkungen zu befreien. Das ist erst in den achtziger Jahren gelungen. Dieser dritte Versuch der Begründung einer deutschen Stilistik zeichnet sich nicht nur durch die Breite seines Anwendungsbereiches aus, sondern auch durch den entschiedenen Rückgriff auf alte rhetorische Bestände. Für eine ausschließlich auf die Ausbildung der Schreibfahigkeiten beschränkte Lehre kam das Gebäude der alten Rhetorik zwar nicht mehr in seiner Gesamtheit in Betracht, brauchbar waren aber wohl einzelne Teile. Um schreiben zu lernen, brauchte man nicht zu lernen, wie eine Rede aufzubauen (dispositio), wie der Stoff dazu zusammenzutragen (inventio), und schon gar nicht, wie der Text einzuprägen (memoria) und schließlich vorzutragen war (actus). Von den fünf Teilen der alten Rhetorik war also nur noch einer von Interesse: die alte Elocutio, die Lehre vom sprachlichen Ausdruck oder, wie es bald heißen wird, die Lehre vom Stil. Die meisten ihrer Regeln konnten, auch wenn sie ursprünglich nur für Texte aufgestellt worden waren, die für den mündlichen Vortrag bestimmt waren, ohne weiteres auf schriftliche Ausarbeitungen übertragen und angewendet werden. So erklärt sich die Tatsache, daß die Lehre von der Elocutio zur Grundlage für die Konzeption einer allgemeinen, deutschen Stilistik wurde. Als erster hob Johann Joachim Eschenburg in seinem „Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften" (gemeint sind Poesie und Prosa) von 1783 die Beschränkungen auf, die sich seine Vorgänger auferlegt hatten, und ließ damit die Umrisse erkennen, innerhalb derer sich eine auf alle Fälle anwendbare Theorie des deutschen Stils bewegen konnte. Doch war dieser Schritt teuer erkauft. Eschenburg mußte die alte Rhetorik zurate ziehen, es gelang ihm aber nicht, die übernommenen Stücke in seine Stilistik zu integrieren. So werden unter den allgemeinen Eigenschaften eines guten Stils ausgesprochen oratorische aufgeführt, unter den Schreibarten auch die „rednerische". Der Prosateil ist mit Rhetorik überschrieben, obwohl nur „die Theorie der prosaischen Schreibart" behandelt wird. Eine Erklärung für diesen merkwürdigen Tatbestand findet man in Eschenburgs Begriff von der Rede. Die Rede ist für ihn — man höre und staune! — ein schriftlicher Text: „Das Wort Rede, im engeren Verstände genommen, bedeutet einen nach gewissen Regeln der Kunst verfertigten und zum mündlichen Vortrag bestimmten Aufsatz"
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( J . J . Eschenburg 1783/1805: 281). Der erste Schritt zu einer deutschen Stilistik war getan, doch konnte er noch nicht überzeugen. Erst Johann Christoph Adelung hat zwei Jahre später der Theorie einer deutschen Schreibart die Fassung gegeben, die lange Zeit als vorbildlich gelten sollte. „Ueber den deutschen Styl", so lautet kurz und bündig der Titel seiner über 1000 Seiten umfassenden Darstellung. In der Vorrede stellte Adelung „den gänzlichen Mangel eines solchen Lehrbuches" fest. Er beanspruchte für seine Darstellung, „die Lehre von dem Style auf eine ausführliche und überzeugende Art vorzutragen" und ihr damit „eine etwas andere Gestalt" ( J . C. Adelung 1785: I, III f.) zu geben. Adelungs Bestreben war es, so „ausführlich" und „überzeugend" wie möglich zu sein; gemeint war „rhetorisch überzeugend". So prägen das Bestreben nach Vollständigkeit und Systematizität den Charakter der Adelungschen Stilistik. Vollständig sollte die Erfassung der allgemeinen Eigenschaften des guten Stils sein. Von Justi wollte nur die nützlichsten Eigenschaften anführen, Adelung alle, insgesamt zwölf. Fast ebenso lang ist die Liste der „besonderen Arten des Styles": nicht drei, wie bei von Justi, nicht fünf, wie bei Eschenburg, sondern deren zehn, die Gespräche, Briefe und Reden nicht gerechnet. Systematisch ist die Darstellung von Adelung insofern, als alle Aussagen deduktiv gewonnen werden sollten. So werden aus dem Begriff der Sprache, der übrigens ganz im Saussurschen Sinne gefaßt ist, der Begriff der Rede (Saussure: „parole"), des Stils, des schönen Ausdrucks und aus diesem wiederum seine allgemeinen und besonderen Eigenschaften abgeleitet. Vollständigkeit und Systematizität zeichnen Kompendien aus. Adelungs Stilistik ist ein solches Kompendium. Er habe „wohl", schreibt Marie-Luise Linn, der wir die einzige Übersicht über die Stilistiken des 19. Jahrhunderts verdanken, „am umfassendsten den Stand der Stilistik gegen das Ende des 18. Jahrhunderts und damit die Ausgangsposition des 19. Jahrhunderts verdeutlicht. Sein Buch faßt die Stillehren der Aufklärung zusammen und kann als repräsentativ für sie gelten" (M.-L. Linn 1963: 41). Es wurde bald und für lange Zeit Grundlage der Schulstilistiken. Die ersten Stillehren für den Unterricht Als es vor und nach der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert darum ging, zusammen mit der Ausgestaltung des Deutschunterrichtes auch für die deutschen Stilübungen ein Konzept zu entwickeln, konnte auf Vorbilder nur in einem eingeschränkten Maße zurückgegriffen werden. Für die unteren Klassen aber gab es kein Vorbild. Zwar wurden im Fremdsprachenunterricht, vor allem in den lateinischen Lektionen, stilistische Übungen im Zusammenhang mit den Übersetzungen aus der Fremdsprache veranstaltet. Hier und da wurden auch kleinere Briefe, Nacherzählungen und Berichte selbsterlebter
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Begebenheiten angefertigt, manchmal sogar in deutscher Sprache. Doch daraus ließ sich kein Konzept für deutsche Stilübungen gewinnen. Ein solches mußte erst geschaffen werden. Die Lehrbücher zu den deutschen Stilübungen, deren erstes schon drei Jahre nach dem Erscheinen der Stilistik von Adelung auf den Markt kam, zeigen zunächst nur einen Weg: die Orientierung des neuen Faches an der Stilistik Adelungs. „Die meisten Stillehrbücher der folgenden Generation schreiben ihn aus oder beziehen sich — auch ohne Nennung des Namens — wenigstens in Einzelheiten auf ihn" (M.-L. Linn 1963: 41). Zu nennen wären: C. W. Snell 1788, K. Reinhard 1796, Κ. H. L. Pölitz 1800-1802, T. G. Voigtei 1802, F. E. Petri 1802, Τ. Heinsius 1808 u. a. m.. In zwei Punkten wurde die Adelungsche Konzeption von den Stillehrbüchern weiter entwickelt: (1) Adelung hatte die rhetorischen Figuren nach den Seelenkräften, auf die sie wirken sollen, also nach einem psychologischen Gesichtspunkt eingeteilt: „Figuren sind Hülfsmittel, auf die untern Kräfte der Seele zu wirken. Sie zerfallen also ganz natürlich in so viele Classen, als es untere Seelenkräfte gibt" ( J . C . Adelung 1785: I, 282). C.W. Snell griff diesen Gesichtspunkt auf, führte „die Regeln des guten Geschmacks immer (gesperrt O. L.) auf psychologische Gründe zurück" (C.W. Snell 1788/1818: Vorrede) und fügte zwischen die beiden Hauptteile der Adelungschen Stilistik einen neuen Abschnitt mit der Überschrift ein: „Von den besonderen Arten des Styls für die einzelnen Seelenkräfte". Später wurde der Gesichtspunkt benutzt, um zuerst den Abschnitt über die allgemeinen Eigenschaften des Stils, dann auch den über die verschiedenen Arten des Stils neu zu ordnen (vgl. K. Reinhard 1796; J . H . Hurtel 1824, mit Einschränkungen auch Κ. H. L. Pölitz 1801 IV und S. Η. A. Herling 1837). Man kann also von einer allgemeinen Psychologisierung der Adelungschen Stilistik sprechen. (2) Von dem vergeblichen Bemühen Adelungs, „alles aus den ersten Begriffen herzuleiten" (J. C. Adelung 1785: I. Vorrede), war schon die Rede. Die Schulstilistiken nehmen sein Anliegen wieder auf und treiben die Systematisierung der Stilistik — manchmal mit recht grotesken Ergebnissen — weiter, einmal um, wie sie glauben, die Lehrbarkeit zu erhöhen, dann aber auch um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Ein Beispiel ist der „Versuch eines Systems des teutschen Styls, zu einem vollständigen Kursus der teutschen Sprache auf Akademien und Gymnasien" von Karl Heinrich Polity (1800 und 1802). Das Buch ist ebenso voluminös (5 Teile mit mehr als 1600 Seiten), wie anspruchsvoll: „Durch das Ganze soll ein System, eine Philosophie der teutschen Sprache begründet seyn, wie sie aus dem Geiste der Sprache, nach dem gegenwärtigen Standpunkte ihrer Vollkommenheit hervorgeht" (1800: I, 16). Kant, auf den sich Pölitz mehrfach bezieht, hatte die Maßstäbe wohl zu hoch gesteckt. Unter einem System verstand Pölitz
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„das ebenmäßig angelegte und durchgeführte Ganze in welchem eine Wissenschaft ( . . . ) befriedigend dargestellt wird" (1802: IV, 2, 400). „Alle Theile sind in ihm zweckmäßig verbunden und systematisch auseinander abgeleitet; jeder erhält die Stelle, die ihm nach dem Zusammenhange des Ganzen zukommt" (ebd.). So unternahm Pölitz den fast schon gigantisch anmutenden Versuch, nicht nur die einzelnen Teile der Stilistik für sich und in Abhängigkeit voneinander darzustellen, sondern darüberhinaus auch andere Theorien, die für die Erklärung von Stilphänomen in Betracht kamen, wie Psychologie, Logik, Ästhetik und Anthropologie, in sein Lehrgebäude einzubeziehen. Eine Verwissenschaftlichung der Stilistik, die ihr nicht gut getan hat (vgl. auch die Stilistik von S. H. Herling 1837). Die Entstehung der deutschen Stilistik nach dem Zuschnitt Adelungs und die aus ihr erwachsenen Lehrbücher waren nur eine Voraussetzung für die Ausbildung deutscher Stilübungen an den Gymnasien, eine notwendige Voraussetzung, aber keine hinreichende. Damit es zu einem solchen Unterricht kommen konnte, bedurfte es weiterer, vornehmlich didaktischer und methodischer Anstrengungen.
3. Die Begründung der Aufsatzdidaktik Die didaktischen Überlegungen, die dem sich etwa seit 1780 ausbildenden Aufsatzunterricht zugrundelagen, sind nur in einem größeren Rahmen zu verstehen. Es hatten sich in der Zwischenzeit nicht nur die Vorstellungen von den Zielen des Unterrichts an den Schulen geändert, sondern auch die Auffassung von der Sprache. Auf beides ist kurz einzugehen. Der „erwerbende Theil der Bürger", von dem im vorigen Kapitel die Rede war, forderte von der Schule die Vermittlung praktischer Kenntnisse und in diesem Zusammenhang vor allem die Ausbildung kognitiver Fähigkeiten. „Verständig machen, zum Verstand verhelfen, aufklären, veredeln, Weisheit, rechte Erkenntnis, Wahrheitssinn und Wahrheitsliebe mehr gemein machen", so hatte Friedrich Eberhard von Rochow 1779 den „Nationalschulzweck" bestimmt (F. E. von Rochow 1779/1962: 17). Der Teil der Bürger, der sich in den Gymnasien vertreten sah, hatte etwas andere Vorstellungen von Erziehung und Unterricht·. „Bei allem Unterricht, — mag er betreffen, was er will, mag er sich einen noch so bestimmten und besonderen Zweck vorsetzen und bald auf die eine oder die andere Seelenkraft berechnet sein — muß man dennoch stets den ganzen Menschen mit allen seinen Anlagen und Kräften im Auge behalten. So nur wird die Einseitigkeit der Bildung verhütet" (Α. H. Niemeyer 1796/1884: 8). Ähnlich Friedrich Gedike einige Jahre zuvor: „Uebung der Kräfte ist ja der Hauptzweck alles Unterrichts" (F. Gedike 1793: 5; vgl. auch J.G. Sulzer bei J. H. L. Meierotto 1782: If.). Man muß es noch deutlicher
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sagen. Diesen Pädagogen genügte die Ausbildung der Verstandeskräfte allein nicht mehr, sie beabsichtigten die Weckung, Entfaltung und Ausbildung aller Seelenkräfte, also auch die des Gefühls, der Vorstellung, der Phantasie, des Witzes (im alten Sinne des Wortes), der Vernunft, des sittlichen und moralischen Empfindens (vgl. H. J . Frank 1973/1976: 217 ff.). Allgemeinbildung lautete das neue Schlagwort, und die Allgemeinbildung definierte sich in Opposition zur Berufsausbildung. Peter Villaume sprach zwar von einer „liberalen Bildung", meinte aber durchaus Allgemeinbildung, wenn er schrieb: „Sie begreift alles, was ohne Rücksicht auf einen besonderen Stand oder Beruf, die Bildung des Geistes, die Entwickelung des Verstandes, die Veredelung des Herzens, die Vervollkommnung des Menschen, als solchen und in der bürgerlichen Gesellschaft befördert", dazu führte er aus: „Die Grundsätze derselben unterscheiden sich von denen des Bedürfnisses in manchen Stücken; besonders darin, daß es bei der Bildung zum Bedürfniß, auf Wissen, auf Fertigkeit, auf Vollendung der Künste und Wissenschaften; bei der liberalen Bildung aber auf Uebung und Schärfung der Seelenkräfte vornähmlich ankommt" (P. Villaume 1804: 12 f.). Von nun an scheiden sich die Geister. Die Bürgerschule und später die Realschule befriedigte das Bedürfnis, das Gymnasium betrieb „die Vervollkommnung des Menschen" (vgl. H.-E. Jeißmann 1974: 76 ff.). In den Vorstellungen von der Sprache und ihrem Hauptzweck waren Veränderungen eingetreten, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der zeitgenössischen Pädagogik erkennen lassen, aber, wie sich herausstellen wird, letztlich dennoch mit deren Vorstellungen einem gemeinsamen Paradigmenwechsel angehören. „Die Rede ist Ausdruck der Seele", sagte Herder ( J . G . von Herder 1796/1820: 165), „ein darstellendes Bild aller unserer Gedanken und Empfindungen". Noch deutlicher Hegel: „Sprache und Arbeit sind Äußerungen, worin das Individuum nicht mehr an ihm selbst sich behält und besitzt, sondern das Innere ganz außer sich kommen läßt, und dasselbe Anderem preisgibt. Man kann darum ebensosehr sagen, daß diese Äußerungen das Innere zu sehr, als daß sie es zu wenig ausdrücken; zu sehr, — weil das Innere selbst in ihnen ausbricht, bleibt kein Gegensatz zwischen ihnen und diesem; sie geben nicht nur einen Ausdruck des Inneren, sondern es unmittelbar; zu wenig, — weil das Innere in Sprache und Handlung sich zu einem Anderen macht, so gibt es sich damit dem Elemente der Verwandlung preis, welches das gesprochene Wort und die vollbrachte Tat verkehrt und etwas anderes daraus macht, als sie an und für sich als Handlungen dieses bestimmten Individuums sind" (F. G. Hegel 1807/1972: 235). Natürlich wußte man, daß Sprache auch Mitteilung an andere Menschen ist (Hegel deutete es an), unter Umständen auch ein Mittel, um auf sie einzuwirken und damit ihr Denken und Handeln zu bestimmen. Doch dieser Aspekt, der dem rhetorischen Denken wichtig war, interessierte auf einmal nicht mehr. Was dem
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Bürger wichtig war, war die Möglichkeit, in der Sprache für sich, für seine Gedanken und Gefühle einen Ausdruck zu finden: „so hat die Rede ein weites Reich von Gegenständen, Gesinnungen, Leidenschaften, Empfindungen, Zuständen der Seele u. s. f., deren Ausdruck sie zu schaffen, und auf die mächtigste, angenehmste Weise darzustellen hat" (J. G. von Herder 1796/1820: 166). Es kam den zeitgenössischen Sprachphilosophen, um mit Carl Bühler zu sprechen, also nicht so sehr auf die Darstellungsfunktion, als vielmehr auf die Ausdrucksfunktion der Sprache an. Das pädagogische Konzept und die sprachtheoretischen Auffassungen ergänzen einander. Das ist der Punkt, von dem her die aufsat^ßidaktischen Programme der Zeit ihre Begründung finden. Die Pädagogen forderten die Ausbildung aller Seelenkräfte. Ausgebildet werden die Seelenkräfte aber nur, indem sie in Anspruch genommen und in Tätigkeit versetzt werden. Wie aber konnte das geschehen? In der Sprache kommen die inneren Zustände nach außen, und werden auf diese Weise gegenständlich. Die Seelenkräfte in Tätigkeit zu versetzen, heißt also zwar nicht ausschließlich, wohl aber doch vornehmlich, sie einen Ausdruck finden zu lassen, einen sprachlichen Ausdruck, der es dem Lehrer wie dem Schüler ermöglicht, an ihnen im Unterricht zu arbeiten. Es gab einige Sprachdidaktiker, die von dem Gedanken einer Übereinstimmung von Sprache und Seele, Denken und Sprechen so fasziniert waren, daß sie darüber die Unterschiede vergaßen. Um nur ein Beispiel zu geben: „Reden und denken sind so genau verbunden, daß man richtig denken und richtig reden, schön denken und schön reden für Synonymen zu halten hat. Denn die Rede ist die Dolmethscherin der Seele; sie ist der Abdruck und Copie des Denkens" (I. J . G . Scheller 1772: 246). Auf der Grundlage einer solchen Annahme mußten sie zu einigen nicht unproblematischen Schlüssen kommen. Wenn Denken und Sprechen so nahe beieinander liegen, dann konnte man erwarten, daß sich der sprachliche Ausdruck „von selbst" einstelle, wenn nur der zugrundeliegende Gedanke klar und deutlich ausgeprägt war: „Wo Ordnung, Bestimmtheit, Deutlichkeit in Gedanken und Vorstellung ist, da kommt der gute Ausdruck bei mittelmäßiger Uebung von selbst" (I. C. Vollbeding 1794: 3; vgl. auch G. A. Bürger 1787: 33). Aber auch in umgekehrter Richtung war ein Schluß möglich. Vom sprachlichen Ausdruck konnte man auf die Verfassung der Gedanken, letztlich wohl auch auf die Denkfähigkeit des Sprechers und seine Gesinnung schließen. Ein solcher Schluß legte sich besonders beim Schreiben nahe: „loquere, ut te videam (rede, damit ich dich sehe O. L.), heißt es. Wer nicht richtig und schön schreibt, denkt auch nicht richtig und schön" (I. J . G . Scheller 1772: 27; vgl. auch P. Villaume 1784: 65). Ähnlich hatte sich auch Lichtenberg geäußert (vgl. A. Schöne 1982: 4 ff.). So konnte man schließlich auch die Erwartung hegen, daß die Bildung der Verstandeskräfte im Unterricht am besten über die Bildung der
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Sprache erfolge: „Kraft dieser Verbindung (von Denken und Sprechen O. L.) kann man wohl sagen, daß man durch das Denken zum Reden, und durch das Reden zum Denken gelangen könne; und daß beydes, Denken und Reden, ein reciproker Weg zueinander sey. Das heißt: ( . . . ) wer richtig und schön reden lernet, der lernet auch richtig und schöne denken" (I. J. G. Scheller 1772: 246). „Die Sprache ( . . . ) ist das Organ, vermittelst welches unsre Geisteskräfte entwickelt, gebildet, geschärft werden; ja sie ist uns das einzige Mittel zum richtigen Denken, und selbst zum Denken" (P. Villaume 1804: 17; vgl. auch G. A. Bürger 1784: 42). Den helleren Köpfen unter den Sprachdidaktikern war jedoch klar, daß das Verhältnis von Denken und Sprechen komplizierter ist und ein Gedanke nicht ohne Berechnung in Worten zum Ausdruck kommt, der sprachliche Ausdruck also auch nicht direkt auf den ihm zugrundeliegenden Gedanken zurückbezogen werden kann. „Sprache ist ein Mittel wodurch man die Dinge sieht, und ein jedes Mittel hat etwas Unreines, Ungetreues, es giebt niemals das Bild so wie es ist", meinte Peter Villaume (1784:36). „Die Sprache hat viel schiefes, blendendes Licht, einmal kann sie nur stückweise und getrennte Dinge vorstellen, die ein Ganzes ausmachen, und mit einem Blick gefaßt werden müssen; ein andermal erzählt sie in einem Augenblick was in Jahren geschieht, stellt Dinge zusammen, die in der Natur entfernt sind" (ebd.). Die Prämisse war also nicht zu halten. Damit aber geriet das ganze Konzept in Bewegung, und in dieser Bewegung zeigte sich seine ganze Kraft. Der Gedanke, daß an der Rede oder Schreibe eines Menschen seine geistige oder seelische Verfassung ohne weiteres ablesbar sei, war in dieser strengen Form nicht aufrecht zu halten. Wohl aber hat er sich bei der Formulierung der allgemeinen Ziele des Aufsatzunterrichtes behaupten können. In dem Maße, in dem der deutsche Aufsatz in den Mittelpunkt des in Preußen seit 1788 eingeführten Abiturs rückte, wurde seine zentrale Position mit dem Argument gerechtfertigt, daß sich in ihm „die eigentliche Blüthe der ganzen Bildung" des Prüflings darstelle (Verfügung des Provinzialschulkollegiums zu Breslau vom 8. Juni 1829, vgl. F. Schultze 1831: 94), und zwar nicht nur „als Reife des Geistes und Wissens", sondern auch als „Reife des Charakters" (ebd.: 10). Eine Circular-Verfügung des Schulkollegiums der Provinz Brandenburg aus demselben Jahre sprach darum auch von dem deutschen Aufsatz als derjenigen Arbeit des Abiturienten, „in welcher sich denn doch nach Allem das Maaß seiner Bildung am Klarsten darlegen und sein ganzes inneres Wesen sich am unbehindertsten aufschließen kann" (ebd.: 106). Der Gedanke, daß sich die Gesamtbildung des Schülers im deutschen Aufsatz am deutlichsten dokumentiere, war keineswegs auf den Abituraufsatz beschränkt, sondern bestimmte zumindest gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmenden Maße den Aufsatzunterricht: „Alles, was der Schüler in einer gewissen Classe geworden ist, in Wissenschaft, Sittlichkeit und Religion, sein Verhältnis zu Gott, zu den Menschen und zur Natur, kurz Alles, was in ihm eine geistige
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Existenz gewonnen hat, das soll sich in seiner Gesammtheit, in seiner lebendigen Einheit und individuellen Zusammenfassung durch die deutschen Aufsätze offenbaren. Sie sind die Blüthen der Schülerbildung. In ihnen treten die verschiedenen Seiten der Gymnasialbildung in einer individuellen Spitze zusammen" ( J . H . Deinhardt 1837: 138). Die Annahme, daß die Sprache eines Menschen unmittelbar an seiner Gedanken- und Geistesbildung, ja darüberhinaus an der Ausbildung aller seiner Seelenkräfte, beteiligt· sei, paßte so gut in das Konzept der neuen Pädagogik, die sich eben der Ausbildung dieser Seelenkräfte verschrieben hatte, daß man auf sie nicht verzichten konnte, auch wenn es schwer fiel, sie zu verifizieren. Man brauchte sie vor allem zur Legitimation der Stil- und Aufsatzübungen. So schrieb Christoph Ferdinand Falkmann: „dieses ganze Feld liegt dem Lehrer der Stylübungen zur Benutzung offen. Es kann an jedem Stoffe jede Seelenkraft üben. Er kann sein Wahrnehmungsvermögen bilden durch genaue Beschreibung vorliegender Gegenstände; seine Einbildungskraft durch solche von abwesenden; seine Dichtungsgabe durch freie Hervorbringungen eines schildernden oder erzählenden Stoffes. Er kann auf den Verstand wirken ( . . . ) ; auf die Urtheilskraft ( . . . ) ; auf Witz und Scharfsinn (...); auf die Vernunft ( . . . ) . Nicht allein aber die intellektuelle Seite der menschlichen Seele, auch ihre Gefühlsseite ist bei der Ausbildung der Darstellungsgabe in beständiger Thätigkeit. Das Sich-Aussprechen gilt ja eben so oft von Empfindungen, wie von Urtheilen! ( . . . ) So ist denn dem Lehrer der Stylübungen der Schlüssel zu dem jugendlichen Herzen gegeben" (C. F. Falkmann 1823: 78 f.). Die Einsicht schließlich, daß es keinen Automatismus zwischen Denken und Sprechen, Denken und Schreiben gebe, lenkte zum einen die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß die Exteriorisierung innerer Zustände, also etwa das Nach-außen-bringen eines Gedankens, selbst ein geistiger Akt und überdies das Ergebnis einer Anstrengung ist. Die Notwendigkeit eines Unterrichtes im Sprechen und Schreiben brauchte also nicht aus dem Dienst an der Gedankenbildung abgeleitet zu werden, sondern ergab sich aus seinem Gegenstand selbst. Zum andern führte die Einsicht auf die Erkenntis der Differenz zwischen Sprechen und Schreiben, schriftlichem und mündlichem Ausdruck. Hieß es früher oft: „Schreib, wie du sprichst", so wurde jetzt vor einer solchen Auffassung gewarnt. Man begann, die ersten Überlegungen zur Untersuchung des Schreibprozesses und seiner Eigenarten anzustellen (vgl. dazu unten).
4. Die Entwicklung einer Methodik der deutschen Stilübungen Die Bedeutung, die einer Methodik für den Aufsatzunterricht zukommt, ist damals bald gesehen worden: „es kommt vielleicht bei keiner Disziplin so
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sehr auf das Verfahren an, als bei dieser: indem wohl bei keiner so viele Schwierigkeiten sich einer zweckmäßigen Behandlungsart entgegenstellen, und so viele Ab- und Irrwege zu vermeiden sind" (C. F. Falkmann 1823: 98). Die Jahre zwischen 1780 und 1830 können als der Zeitraum gelten, in dem zum ersten Mal eine Aufsatzmethodik des Deutschen entwickelt worden ist. Ihr Weg ist noch ziemlich genau zu verfolgen. Ansätze zu einer Methodik 1779 hatte der Abt des Klosters Berge, Friedrich Gabriel Resewit^ (vgl. IV.2), einen Preis ausgesetzt. Anlaß war die Klage über die schlechte Ausbildung der Schüler im Schreiben: „Die Fertigkeit, seine Gedanken in der Muttersprache richtig auszudrucken und deutlich und ordentlich niederzuschreiben, ist allen Menschen in allen Ständen gleich nöthig, und zu den mannigfaltigen Geschäften dieses Lebens ganz unentbehrlich. Aber wie wenig gemein diese Gabe sey, brauche ich wohl nicht zu erinnern. Die Schuld davon scheint mir vornehmlich darin zu liegen, daß die Jugend nicht zweckmäßig zum Schreiben angewiesen und nicht sattsam darin geübt wird" (F. G. Resewitz 1779: 124). Um diesem Mißstand abzuhelfen, kam der Abt auf folgende Gedanken: „so habe ich andere Erzieher, denen die Sache auch am Herzen liegt, auffordern wollen, ihre Gedanken darüber mitzutheilen. In dieser Hoffnung setze ich einen Preiß von sechs Species Ducaten auf den besten Entwurf einer Methode den Styl junger Leute zu bilden und sie zu einer Fertigkeit zu bringen ihre Gedanken schriftlich auszudrucken" (ebd.: 126). Das war die Geburtsstunde der Methodik des deutschen Aufsatzunterrichtes. Auf folgende Punkte sollte es in der Preisschrift ankommen: „1) Wie werden sie (die Schüler O. L.) am sichersten angeführt, deutlich und ordentlich schreiben zu lernen? ( . . . ) 2) Welches sind die besten Uebungen, welche man zu dieser Absicht anstellen kann? 3) Welches sind die besten und schicklichsten Materien zu diesen Uebungen? 4) Wie greift man es an, um die nöthigen Regeln des Styls mit diesen Uebungen so zu verbinden, daß sie sich einprägen und Frucht schaffen?" (ebd.: 126 f.). Es waren also Fragen nach dem Stoff der Aufsätze, ihren Formen und einer geeigneten Methode des Unterrichts. Den Preis erhielt der „Inspector des Fürstl. Schullehrer-Seminariums zu Wörlitz unweit Dessau" ( J . L . Tamm 1782: 131), Johann Lebrecht Tamm, für seine Schrift: „Preißschrift und Beantwortung der zweyten Aufgabe: über die beßte Methode, wie man junge Leute anführen und üben soll, ihre Gedanken schriftlich auszudrücken". Wie aus der Einschränkung, die der Verfasser im Titel seiner Abhandlung vornahm, hervorgeht, hat er von den vier Aufgaben lediglich eine beantwortet. Er hat verschiedene Übungsformen zusammengestellt, die ihm geeignet erschienen, den Stil der Schüler — „von zehen Jahren angefangen ( . . . ) ins achtzehende bis zwanzigste Jahr" (ebd.: 130) — zu
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verbessern, und diese Übungen in drei Klassen eingeteilt, und zwar in vorbereitende Übungen (vornehmlich Denkübungen), die eigentlichen Stilübungen (Gespräche, Erzählungen, Beschreibungen, Briefe, Geschäftsaufsätze, „Entwürfe des Lehrers, welche die Schüler ausführen müssen" (ebd.: 110) usw.) und „Hülfsmittel", gemeint sind begleitende Übungen (Übersetzungen in die Muttersprache, Analyse von Musterbeispielen, Vergleiche usw.). Zwar glaubte Resewitz in einer abschließenden Bemerkung zur Preisschrift auf „die hie und da hervorleuchtenden Spuren einer gedachten Methodik" (Resewitz, F. G. 1779: 132) aufmerksam machen zu müssen, doch kann von einer regelrechten Methodik noch nicht die Rede sein. In einem Nachtrag zur Ausschreibung des Preises erwähnte Resewitz 1780 einen Aufsatz, der „noch unterm 26. Febr. d . J . " (F. G. Resewitz 1780: 116) bei ihm eingegangen sei: „welcher zwar wahre Grundsätze enthält, und sich durch den raisonierenden Geist, der darin herrscht, vortheilhaft unterscheidet", aber „die Gedanken mehr angegeben als ausgeführt, auch nicht in eine natürliche O r d n u n g wircklicher und bestimmter Regeln, die dem Lehrer und Zögling als Leitfaden dienen könnten, verfaßt" (ebd.) habe. Verschiedene Indizien sprechen dafür, daß dies die Schrift „Methode jungen Leuten zu der Fertigkeit zu verhelfen, ihre Gedanken schriftlich auszudrücken" des Peter Villaume war, damals noch Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin (vgl. zu P. Villaume IV.2.). Der Titel der Schrift ist fast identisch mit dem Text der Ausschreibung; die Charakterisierung, die Resewitz gab, trifft auf die Ausführungen Villaumes zu; die Schrift Villaumes ist zum ersten Mal vor der Preisschrift in den von Resewitz herausgegebenen „Gedanken, Vorschlägen und Wünschen zur Verbesserung der öffentlichen Erziehung" (1778 — 1787) abgedruckt worden, und schließlich spricht L. Schaaff mit Bezug auf die Preisaufgabe von einer „dahin gehörige(n) Vorarbeit" (1812: 12). Die Arbeit von Villaume kommt den Anforderungen, die an eine Methodik zu stellen gewesen wären, schon näher. Sie ist zwar unsystematisch, enthält aber viele Anregungen für den Unterricht in den deutschen Stilübungen. Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen ist der Schüler, genauer: das Kind oder der Jüngling im Schüler. Villaume fragte nicht so sehr nach den Zwecken und Absichten des Unterrichtes, also didaktisch, als vielmehr methodisch nach den Schwierigkeiten, die Schüler, vornehmlich Anfänger, haben, wenn sie ihre Gedanken schriftlich zum Ausdruck bringen wollen: „Es ist nöthig solche zu kennen und ihre Quellen zu erforschen, wenn man ihnen ausweichen und mit Erfolg lehren will" (P. Villaume 1784: 28). So zerfallt seine Arbeit in zwei Teile. Im ersten werden die Schwierigkeiten der Schüler beim Schreiben dargestellt, im zweiten die Möglichkeiten aufgezeigt, wie der Lehrer mit ihnen umgehen kann. Der erste ist analytisch, der zweite methodisch-therapeutisch. Ein Teil der Schwierigkeiten beruht nach Villaume auf der „Verworrenheit und Dunkelheit der Begriffe (ebd.), also auf einem
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noch nicht ausgebildeten Denkvermögen, ein anderer auf der „Unvollkommenheit der Sprache" (ebd.: 44). Dem Abhilfe zu schaffen, ist Aufgabe teils des Grammatikunterrichtes, teils des Gesamtunterrichtes. Es kommen aber noch zwei Arten von Schwierigkeiten hinzu, mit denen sich speziell der Aufsatzunterricht auseinanderzusetzen hat. Die eine beruht auf falschen Vorstellungen, die sich Kinder vom Schreiben und von Aufsätzen machen: „Ich habe mich immer gewundert, daß Kinder nicht gerade zu ihre Gedanken aufschreiben, wie sie sie sagen. Sie wissen nicht, wie sie anfangen, wie sie schließen, wie sie dieses und jenes, das sie alle Tage sagen, ausdrücken sollen; sie sind über alles in der größten Verlegenheit. (...) Alles ist ihnen Kunst, d. h. etwas weit Hergeholtes, Ungewöhnliches. Dieser Gedanke macht sie schüchtern, ängstlich, sie besorgen immer, was sie geschrieben haben, sey nicht gut, nicht lang genug, weil es schlecht ist, und nicht anders aussieht, als was sie mündlich sagen würden. Und eben deshalb machen sie es viel schlechter, als sie es ohne diese Besorgniß gemacht haben würden" (ebd.: 45 f.). Grundsätzlicher sind aber Schwierigkeiten, die sich aus dem Prozeß des Schreibens selbst ergeben. In der Beurteilung des Schreibprozesses gibt es bei Villaume einen bemerkenswerten Widerspruch. Einerseits wird angenommen, daß es zwischen Schreiben und Reden keinen wesentlichen Unterschied gäbe: „Denn Schreiben und reden sind doch für den, der keine Künsteleyen sucht, der keine weiß, beynahe einerley" (ebd.: 4). Andererseits war es gerade Villaume, der, soweit ich feststellen konnte, als erster auf einen sehr gravierenden Unterschied aufmerksam gemacht hat. Sprechen geschehe „flüchtig". Das bedeutet: die Gedanken, die beim Sprechen geäußert werden, haben gerade so viel Zeit, sich zu entfalten, wie der Sprechakt währt. Also: nur einen einzigen Augenblick lang. Zum Schreiben aber benötige man erheblich mehr Zeit. So hätten auch die Gedanken Zeit, sich zu entwickeln und auszubilden, eine notwendige Voraussetzung, um einen etwas umfangreicheren Text aufzusetzen (vgl. dazu ebd.: 44f.). Aus dieser Differenz erklärte Villaume die Schwierigkeiten der Kinder. Wenn sie ihre ersten Aufsätze niederschrieben, schreiben sie so, wie sie sprechen würden, d. h. flüchtig. Obwohl der Schreibakt ihnen viel mehr Zeit ließe, entstehen ihre Gedanken noch so, wie sie es gewohnt sind: ebenfalls flüchtig. „Diese Flüchtigkeit (...) erlaubt ihnen nicht, ihren Gedanken vor ihren Augen gleichsam fest und unbeweglich zu halten. Dieser schwankt vor ihren Augen wie ein durch den Wind bewegtes Licht; daher kommts, daß ihre Periode gleichfalls schwankt, und bald diese oder jene Seite des beweglich hüpfenden Bildes zeigt" (ebd.). Kurz: „Kinder haben wenig Gefühl und noch weniger Einsicht von dem Zusammenhange und der Verbindung eines etwas zusammengesetzten Gedankens, oder einer Periode von einigen Zeilen" (ebd.: 45).
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Verglichen mit dieser Analyse fallen die methodischen Anregungen eher etwas dürftig aus. Villaume ordnet die Schreib- und Aufsatzübungen nicht anders, als jeder andere Aufsatzdidaktiker auch: vom Leichteren zum Schwereren. Das Kriterium zur Bestimmung des Schweren ist aber nicht der Stil, sondern seine gedankliche Grundlage, eine Auffassung, die Villaume mit vielen aufgeklärten Pädagogen seiner Zeit teilte, übrigens auch mit Resewitz. So werden die Übungen nach dem Schwierigkeitsgrad geordnet, der für die gedankliche Arbeit des Schülers zu erwarten ist. Der Anfang sei so behutsam, wie möglich, mahnte Villaume. Keine Überforderungen, keine vorgeschriebenen Formen, keine Inhalte, die nicht schon dem Kinde vertraut sind! „Der Lehrer gebe dem Kinde vorerst etwas auf, das wenigen Zusammenhang hat" (ebd.: 89), gemeint ist: wenig gedanklichen Zusammenhang: „Was es in der Stube, Küche, in dem Stall etc. siehet" (ebd.). Der Aufsatzunterricht beginnt also mit einfachsten Beschreibungen. „Nachher setze es (das Kind O. L.) zu jedem Dinge leicht zu sehende und ausdrückende Bestimmungen hinzu, als Farbe, Nutzen, Ursprung" (ebd.). Dann erst kommen die ersten Ausarbeitungen: „Nach und nach kann man die Kleinen anhalten, ihre leicht zu bestimmenden Anliegen ihren Eltern und Lehrern schriftlich vorzutragen" (ebd.). Erst wenn die Kinder so weit sind, sollten die bekannten Aufsätze von ihnen verlangt werden: Nacherzählungen „kleinerer, ganz simpler, ihnen angenehmer Geschichten" (ebd.), „auch eine kleine einfache Begebenheit, deren Zeugen sie gewesen sind" (ebd.: 90), dann die ersten Briefe, „ein Tagebuch über die wichtigsten Stücke der Lehre in der Schule" (ebd.: 97), Übersetzungen in die Muttersprache (ebd.) und schließlich „freye Ausarbeitungen, aber keine Reden und keine Gedichte (ausführliches zu den aufsatzmethodischen Vorstellungen Villaumes vgl. IV.3.). 1793 hat
Friedrich
Gedike
(1754—1803),
preußischer Oberschulrat
und
Direktor des Friedrichwerderschen Gymnasiums zu Berlin, anläßlich einer Abiturfeier „Einige Gedanken über deutsche Sprach- und Stilübungen auf Schulen" vorgetragen. Die Rede ist in einem Schulprogramm abgedruckt (F. Gedike 1793). Ohne die Preisaufgabe zu erwähnen, vielleicht auch ohne Bezug auf sie, erörterte Gedike genau die Punkte, auf die Resewitz hingewiesen hatte: (1) die Vorübungen, (2) „den bei unserm Gymnasium von mir theils eingeführten, theils noch einzuführenden Gang dieses Unterrichts" (ebd.: 5) und (3) die „bei uns in diesem Theil des Unterrichts gewöhnlichen Grundsätze und Methoden" (ebd.). Einen ausgeführten Entwurf zur Methodik des Aufsatzunterrichtes wollte auch Gedike nicht vorlegen. Zu den Vorübungen, die ein jeder Aufsatzunterricht voraussetzt, werden (ähnlich wie bei J. L. Tamm) gerechnet: Übungen im Denken, im mündlichen Ausdruck, in der Orthographie, in der Grammatik und vor allem die Lektüre: „Das Lesen ist nicht nur eine nothwendige Vorübung zum Schreiben, sondern
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die Leseübungen müssen auch bei dem Anfänger schlechterdings den schriftlichen Uebungen fortgesetzt zur Seite gehen" (ebd.: 9 f.). Die eigentlichen Stilübungen werden in „Anfangerübungen" (ebd.: 19) für die drei unteren Klassen des Gymnasiums und in die Übungen für Fortgeschrittene in den drei oberen Klassen geteilt. Für die Anfangerübungen in Sexta, Quinta und Quarta führte Gedike insgesamt 14 Übungen an: Arbeiten an Sätzen und Texten (Ergänzungen, Umformungen, Verbesserungen, Übersetzungen, Übungen, die zum Teil wenigstens aus dem Lateinunterricht bekannt gewesen sein dürften), Beantwortungen von Fragen aus dem Unterricht und schließlich auch kleinere Stilgattungen (Beschreibungen, Erzählungen, Briefe, Geschäftsaufsätze, Dialoge und Tagebuchaufzeichnungen). Ein Prinzip für die Auswahl ist nicht erkennbar. Man gewinnt eher den Eindruck, als habe hier Gedike zusammengetragen, was nur immer aufzufinden war. Ganz anders die Stilübungen in Tertia, Sekunda und Prima! Hier bezieht sich Gedike ausdrücklich auf die Stilgattungen, die in der zeitgenössischen Stilistik herausgestellt worden waren (vgl. V.2.). Für die Tertia war der Briefstil und der sogenannte historische Stil (Erzählungen, Beschreibungen und Schilderungen) vorgesehen, für die beiden oberen Klassen der dogmatische Stil (Auszüge, Abhandlungen vor allem und schriftliche Wiederholungen „von allen wissenschaftlichen Hauptlektionen" (ebd.: 22), außerdem in der letzten Klasse „förmliche Reden", ein letzter Rest des Rhetorikunterrichtes: „Alle Woche (zuweilen auch nur alle 14 Tage) trift einen die Reihe, so daß etwa jeder nur einmal im Jahre dazu kömmt (...). Das Thema wählt sich jeder selbst, macht es aber in der Klasse durch Anheftung eines Zettels bekannt, damit jeder seiner Mitschüler Gelegenheit habe, ebenfalls über dasselbe nachzudenken oder auch nachzulesen, und also desto gerüsteter zur nachherigen Beurtheilung derselben erscheinen kann" (ebd.: 23). Der Lehrplan von Gedike ist das erste Zeugnis für den Einfluß, den die moderne Stilistik auf die deutschen Stilübungen und den Aufsatzunterricht von nun an nehmen wird.
Die ersten Methodiker Gedike hatte die Bausteine für eine Methodik der deutschen Stilübungen zusammengetragen, zusammengefügt hat sie ein anderer: August Hermann Niemeyer (1754—1828). In seinen bekannten „Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts" von 1796 hat Niemeyer die deutschen Stilübungen unter dem Gesichtspunkt der Methode behandelt und die Übungsformen, die Gedike nur lose aneinandergereiht hatte, zu in sich geschlossenen Kursen geordnet. In Übereinstimmung mit der damaligen Praxis unterschied er zwischen dem „Unterricht im schriftlichen Ausdruck und Bildung des Stils" und dem „Unterricht in den redenden Künsten und der Bildung des Geschmacks". Diesem galt der Rhetorikunterricht in den oberen Klassen der
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Gymnasien, jenem die Stilübungen in den mittleren Klassen. Seine Vorstellungen vom „Unterricht in den redenden Künsten" sind oben dargestellt worden (vgl. V.l.). Die Stilübungen in den mittleren Klassen sollten in zwei Stufen vorgenommen werden. Aufgabe der ersten Stufe war es, „die Lehrlinge zur eigenen Darstellung ihrer Gedanken in Sprache und Schrift zu führen" (Α. H. Niemeyer 1796/1884: 74). Sie hatten also einen eher propädeutischen Charakter. Der Weg führte „vom Satze zur Periode, von der Periode zu einem kürzeren oder etwas längerem mehr zusammenhängenden Aufsatz" (ebd.). Erst auf der zweiten Stufe wurden Aufsätze im eigentlichen Sinne geschrieben: Beschreibungen, Erzählungen, Briefe, Geschäftsaufsätze, aber noch keine Abhandlungen, auch nicht leichtere. Die Ordnung der Stilübungen zu aufeinander aufbauenden Kursen ist ein erster Schritt zu einer Methodik der deutschen Stilübungen. Einen zweiten, wichtigen Schritt hat der sonst unbekannte Ludwig Schaaff getan. Schaaff kannte die Arbeiten von Tamm, Villaume, Gedike und Niemeyer. Doch begnügte er sich nicht mit der Aufstellung und Einrichtung eines Lehrplanes für die deutschen Stilübungen, sondern entwickelte für diese eine Methodik auf eine mehr systematische Weise. Grundlegend für seine „Methodik der deutschen Styl-Uebungen" von 1812 ist die Unterscheidung zwischen dem „Materialen" und dem „Formalen der stilistischen Arbeiten". Zum materialen Teil gehören sowohl die Themen der Ausarbeitungen als auch die Berücksichtigung der Tatsache, „daß sowohl der Ideenkreis des Schülers einer fortschreitenden Berichtigung und Erweiterung, als die Herrschaft über denselben einer sorgsamen Befestigung fähig und bedürftig sey" (L. Schaaff 1812: 13 f.). Für beides hatte der Lehrer zu sorgen. Dem Schüler obliege es, die dazu geeignete Form zu finden und auszuarbeiten, d . h . „zusammenhängende Gedankenreihen" (ebd.: 38) zu bilden, „die einzelnen Theile derselben so zusammen(zu)stellen, wie sie der beabsichtigten Wirkung am meisten förderlich sind" (ebd.: 46), und schließlich „den aufgefundenen und geordneten Stoff vermittelst der Sprache anschaulich darzustellen" (ebd.: 51). Unschwer erkennt man das rhetorische Schema von lnventio (Schaaff spricht von „Meditation"), Dispositio und Elocutio. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß die Grenze zwischen Stoff (Materie) und Form nicht zwischen der lnventio (Meditatio) und der Dispositio oder, wie es früher auch üblich war, zwischen der lnventio und Disposition auf der einen Seite und der Elocutio auf der anderen gezogen wurde, sondern die gedankliche Arbeit, die dem Schüler abverlangt wurde, insgesamt, also auch die sogenannte Meditation, zum formalen Teil der stilistischen Arbeiten gezählt wurde. Diese Unterscheidung bringt an den Tag, daß sich die Begriffe von Inhalt und Form geändert haben. Die Unterscheidung zwischen dem
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„Materialen" und dem „Formalen" ist nicht mehr identisch mit der von „Gedanke" und „Ausdruck". Die verschiedenen Bemühungen um eine Methodik der deutschen Stilübungen wurden von dem Detmolder Lehrer Christian Ferdinand Falkmann (1782—1844) in einer mehr als 600 Seiten umfassenden „Methodik der deutschen Stylübungen" zusammengefaßt (maßgebend ist die zweite Auflage von 1823, die erste war 1818 erschienen). Falkmann berücksichtigte alle Stilübungen (Aufsatzformen), die von Meierotto, Gedike, Niemeyer und anderen aufgeführt worden waren, darüberhinaus weitere, und ordnete sie zu drei aufeinander aufbauenden Kursen mit jeweils Vor-, Haupt- und Nebenübungen. E r unterschied zwischen Stilübungen, die im Unterricht Verwendung fanden, und den „Aufsatzformen". Im Gegensatz zu unserem Sprachgebrauch handelte es sich bei diesen um sprachliche Darstellungsformen allgemein, also auch um solche, die nicht zum schulischen Repertoire gehörten. Sowohl die Stil- als auch die Aufsatzformen waren durch den Zweck definiert: „es kommt ein Zweck, eine Hauptabsicht, in Betracht, und folglich ein bestimmtes Verhältniß, in welches man seine Rede zu dem Zuhörer, zu sich selbst, und zu der Welt zu setzen wünscht" (C. F. Falkmann 1823: 301). Wir würden heute von der Funktion der Texte sprechen und von ihren Konstitutionsbedingungen. Aus der Schulrhetorik (vgl. V.l) übernahm Falkmann „die bekannte Reihe von Operationen, welche, zu einem stehenden Unterrichtsgegenstand geworden, in den Schulen den Nahmen: ( . . . ) Verfertigung von Aufsätzen führen" (ebd.: 331). Im Rahmen einer Methodik der deutschen Stilübungen konnten die ursprünglich rhetorischen Operationen aber nicht bleiben, was sie waren. Sie erhielten neue Namen: aus der Inventio wird „Heuristik", aus der Dispositio „ Ö k o n o m i k " und aus der Elocutio „Phrastik". Vor diese Reihe stellte Falkmann die Lehre von der Themenstellung („Epigraphik"), an ihr Ende die Lehre von der Korrektur und Beurteilung der Arbeiten („Epanorthotik"). Hatte L. Schaaff (s. oben) im Gegensatz zur Tradition die Bildung der Gedanken, ihre Anordnung und auch ihre sprachliche Darstellung zum „Formalen" der Aufsätze gezählt, so faßte Falkmann „alle geistigen Verrichtungen, welche sich bei der Sprachdarstellung vereinigen müssen" (ebd.: 352), also nicht nur die „Finde-Arten", sondern auch „das Ordnen der Gedanken" (zumindest insoweit es im Kopfe stattfindet) und „ihr Fassen in Worte" (ebd.: 351 f.), unter dem Begriff der „Meditation" zusammen. So verschieden auch die Bezeichnungen und Zuordnungen bei Schaaf und Falkmann sind, im wesentlichen stimmen sie doch überein. Die eigentlich kognitiven Operationen beim Schreiben werden in beiden Fällen von den nicht-kognitiven abgehoben. Wenn Schaaff von dem „Formalen" sprach, dann setzte er sie gegen die Themen und Stoffe ab. Wenn Falkmann den Gesichtspunkt der „Meditation" in den Mittelpunkt rückte, dann unterschied er diese von den eher mechanischen Operationen des Schreibens. In beiden Fällen aber wird
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ein Strukturmodell, das von Inhalt und Form, Gedanken und Ausdruck ausgeht, gesprengt. Vermutlich haben beide Autoren die Konsequenzen, die sich aus ihrem entschieden methodischen Ansatz ergaben, nicht übersehen. Falkmann selbst glaubte, die „Hauptsache" (ebd.: 331) seiner Methodik sei die Aufstellung einer Reihe von „Grundsätzen" gewesen. Diese nehmen den „Haupttheil" (ebd.: 459) seines Buches ein. „Die unermeßliche Bücherwelt, und die noch reichere des menschlichen Geistes selbst liegen vor unsern Blicken, und eröffnen uns bei jedem Schritte neue Aussichten, an die sich neue Beziehungen knüpfen. Zum Glück herrscht indeß mitten in All dieser Mannigfaltigkeit jene bewunderswürdige Einfachheit, die zu suchen und zu finden das Geschäft unsrer Vernunft ist. Diese lehrt uns Hauptgesichtspunkte kennen, von denen aus wir, so gut sterbliche Augen es vermögen, das große Labyrinth zu überschauen, an denen wir uns wieder zurecht zu finden im Stande sind, wenn wir uns einmahl verirrten. Ihr folgend haben wir uns bemüht, diejenigen allgemeinen, den vorliegenden Unterrichtszweig betreffenden Sätze, von deren Wahrheit, Wichtigkeit und ausgedehnter Anwendbarkeit wir überzeugt sind, (...) zusammenzustellen, sie zu erklären und ihre Anwendung zu zeigen" (ebd.: 105 f.). In diese Grundsätze sind so ziemlich alle allgemeinen Eigenschaften der Adelungschen Stilistik eingegangen, dazu eine Fülle von allgemein pädagogischen, didaktischen und methodischen Hinweisen. Dadurch daß die Methodik der deutschen Stilübungen „von gewissen, allgemeinen, festbegründeten Sätzen" (ebd.: 8) ausgeht, sollte sie ihren Rang als einer Wissenschaft erweisen: „Die Methodik steht also billig in der Reihe der Wissenschaften, und wie bei den übrigen kann auch ihr Gebiet abgesteckt, können ihre obersten Grundsätze nachgewiesen, ihre Haupttheile nahmhaft gemacht und ihre Darstellungsart untersucht werden" (ebd.: 7). Dieser Anspruch hat ihren Aufbau bestimmt: „Wie bei den meisten Wissenschaften, so treten auch hier zwei Haupttheile auf: ein reiner, welcher die Bemerkungen des Verfassers über Stylübungen im Allgemeinen enthält, und ein angewandter, welcher das im ersten Theile Vorkommende auf einzelne stylistische Arbeiten anwendet, also Beispiele liefert" (ebd.: 41). Die „Methodik der deutschen Stylübungen" von Falkmann markiert eine Zäsur in der Entwicklung der Methodik des Aufsatzunterrichtes: den Abschluß der ersten Phase ihrer Geschichte. Bis zum Ende der sechziger Jahre ist keine Arbeit erschienen, die sie hätte ersetzen oder sich gar mit ihr hätte messen können. Erst mit Ernst Laas (1868) setzte eine neue Phase ein (vgl. Kap. VI.2 und VI.4).
5. Operationen bei der Ausarbeitung der Aufsätze Die Schulrhetorik hatte fünf Operationen bei der Ausarbeitung von Reden unterschieden: (1) die Gewinnung des Stoffes (inventio), (2) seine Anordnung
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(dispositio), (3) die sprachlich-stilistische Ausarbeitung (elocutio), (4) die Speicherung im Gedächtnis (memoria) und (5) die eigentliche Vortragshandlung (actio). Dieses Modell liegt letztlich auch noch den Überlegungen zugrunde, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Ausarbeitung von Aufsätzen angestellt wurden. Die Beschränkung auf schriftliche Arbeiten jedoch und didaktisch-methodische Erwägungen haben zu einer nicht unerheblichen Veränderung des tradierten Modelles geführt. Die beiden letzten Operationen sind bei schriftlichen Arbeiten überflüssig. Die „memoria" konnte wegfallen, weil beim Schreiben nur das Kurzzeitgedächtnis beansprucht wird; die „actio" ebenfalls, weil die Redehandlung durch eine Schreibhandlung ersetzt wird, diese aber der Schüler bereits beherrschen muß, bevor er sich an die schriftliche Ausarbeitung von Texten machen kann. Von den drei übrigen Operationen erwies sich die erste, die Findung des Stoffes, wie man früher, oder die Ausbildung der Gedanken, wie man jetzt meist sagte, als besonders problematisch. Wenn Aufsätze als der sprachliche Ausdruck von Gedanken bestimmt wurden, dann kam unter didaktischen Gesichtspunkten der Gedankenbildung beim Verfassen von Aufsätzen eine herausgehobene Bedeutung zu. Hier waren vor allem die Methodiker unter den Aufsatzdidaktikern gefordert. In diesem Zusammenhang unterschieden sie drei inhaltliche Operationen·. (1) die Aufgabenstellung, die gewöhnlich dem Lehrer oblag, d. h. die Formulierung der Aufsatzthemen, (2) die Bereitstellung von Materialien oder Stoffen, am ehesten der alten Inventio zu vergleichen, und (3) das Hauptstück der neuen Lehre: die sogenannte „Meditation", die gedankliche Arbeit des Schülers, durch die das Konzept eines Aufsatzes entwickelt wird. Schließlich wurde oft auch (4) die Anordnung der Gedanken, ihre Organisation auf den zu schreibenden Text hin, die alte Dispositio, zu den inhaltlichen Operationen gezählt. Unter den formalen Operationen ist die sprachlich-stilistische Ausarbeitung der Gedanken zu verstehen. Über sie erfahrt man aber nur sehr wenig. Über einige praktische Ratschläge, deren Grundlage ohne Ausnahme die persönliche Erfahrung des Lehrers oder Methodikers ist, gehen die Ausführungen nicht hinaus. Umso breiter und detaillierter sind aber die Darlegungen über den Stil im allgemeinen wie den der Stilarbeiten im besonderen. Von diesen aber soll erst im nächsten Abschnitt die Rede sein. Überblickt man die verschiedenen Operationen, die als erforderlich für die Abfassung von Stilarbeiten bzw. Aufsätzen angesehen werden, so läßt sich leicht erkennen, daß die fünf Teile der klassischen Rhetorik letztlich auf zwei reduziert worden sind: Inhalt und Form. „An jedem rednerischen Producte aber, mag es sich auf die Verbreitung und Vermehrung der Erkenntnisse, oder auf die Erweckung der Gefühle, oder auf die Bestimmung des Willens beziehen, kann man zweierlei unterscheiden, nämlich den Inhalt und die
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Form" (J. N. Schmeisser 1838: 15). Diese Unterscheidung entspricht weitgehend der Differenzierung von Gedanken und sprachlichem Ausdruck. Sie ist Grundlage der gesamten modernen Aufsatzdidaktik geworden. Die Themenstellung Wie den Klagen und den Ratschlägen zu entnehmen ist, bestand das Hauptproblem in der Wahl der Themen. So findet sich im Reichsanzeiger vom 22. März 1803 eine vielleicht nicht in jedem Punkte gerechte, insgesamt aber doch recht aufschlußreiche Kritik an der herrschenden Praxis: „Viele Lehrer fehlen in Ansehung der Wahl der Aufgaben; viele darin, daß ihre gegebenen Themata zu einförmig, daß sie zu vielumfassend, zu schwer und dem jugendlichen Verstände und Geschmacke nicht angemessen sind". Die Vorwürfe werden im folgenden konkretisiert: „Einige lassen bisweilen ihre Schüler bis zum Ueberdrusse vom Nutzen und Schaden aller Dinge schreiben, die nur in der Welt nützlich oder schädlich sind oder seyn können! Andere geben Themata, über die ganze Bücher geschrieben werden können, ζ. B. über den Stolz, über den Umgang mit andern, über den Frühling, Sommer, Herbst und Winter etc. Aeltere Schulmänner bestimmen am liebsten theologische Aufgaben zu deutschen Ausarbeitungen, und da kommen nicht selten Themata zum Vorscheine, die weder dem Verstände noch dem Geschmacke junger Leute angemessen seyn können" (Anonymus 1803: 1028). Gewiß handelt es sich um die persönliche Einschätzung eines im übrigen anonymen Beiträgers. Aber so falsch kann das Bild, das er skizziert hat, nicht gewesen sein. Denn ähnliche Beanstandungen finden sich auch in amtlichen Schreiben: „Da wir Ihnen schon öfters bei andern Veranlassungen unsere Bemerkungen über den Unterricht in der Muttersprache zur Erwägung und Beachtung mitgetheilt haben, so verweisen wir Sie auf diese, und wiederholen hier nur zunächst, daß wir es auch ( . . . ) für einen vorzüglichen Uebelstand halten, wenn den jungen Leuten Aufgaben gegeben werden, zu deren Bearbeitung ihnen noch die nöthige Reife des Geistes, und der erforderliche Umfang der Kenntnisse fehlt. Eine unausbleibliche Folge dieser Aufgaben ist, daß die Schüler sich gewöhnen und begnügen, oberflächliche Gedanken ohne Vollständigkeit und innern Zusammenhang, mühsam und trocken, oder überladen und schwülstig vorzutragen" (F. Schultze 1831: 85; vgl. auch 95 f.). Die Klagen richteten sich immer wieder auf die Überforderung der Schüler durch die ihnen gestellten Aufgaben. An dieser Stelle setzen darum auch die Verbesserungsvorschläge ein. Um zu gewährleisten, daß von den Schülern nichts Unbotmäßiges verlangt wurde, setzte sich zunehmend die Auffassung durch, daß nur solche Themen gestellt werden sollten, deren Gegenstände aus dem Schulunterricht entnommen waren. „Für den gedachten Zweck", heißt es ζ. B. in einer Verfügung des
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Provinzschulkollegiums von Breslau, „werden daher nur solche Aufgaben zu wählen seyn, für deren Beantwortung derjenige Vorrath des im Gymnasio erworbenen allgemeinen Wissens, welcher jedem gebildeten Geiste immer zu Gebote stehen soll, hinreicht" (ebd.: 96). Das Auffinden der Inhalte (Inventio) Aufgabe der Heuristik (Falkman) oder der Lehre von der Findung der Stoffe, wie die überlieferte Bezeichnung lautete, wäre es eigentlich gewesen, die Operationen aufzuzeigen, die es dem Schüler ermöglichen, die Inhalte seiner Aufzeichnungen zu finden. Auf diese Frage ist aber unter allen Aufsatzmethodikern lediglich C. F. Falkmann eingegangen, und das auch eher beiläufig. Sonst wird die Frage nur aus der Perspektive des Lehrers behandelt und dies auch nur in engem Zusammenhang mit der Themenstellung der Aufsätze. L. Schaaff stellte zusammen, was „von dem Lehrer gefordert" wird: „daß er 1) eine deutliche Vorstellung besitze von den Grenzen der durch Unterricht bewirkten Schulbildung, um danach das Ziel zu bestimmen, bis zu welchem jener Ideenkreis ausgedehnt werden kann und soll; 2) mit Umsicht den Einfluß beachte, welchen der herrschende Geist der Zeit auf das jugendliche Gemüth äußert, um die Bedingungen kennen zu lernen, unter welchen das vorgesteckte Ziel erstrebt werden muß; und 3) mit dem wirklichen Ideenkreise seiner jedesmahligen Schüler vertraut sey, um zweckmäßige Anleitung und Beyhülfe geben zu können" (1812: 14). C. Hiersche machte darauf aufmerksam, daß „der Stoff zu Stylübungen" bei Mädchen ein anderer sein müsse als bei Knaben; „Wie vielfach sind die Bedürfnisse des Wissens bei dem Knaben, wie auf nur wenige Gegenstände beschränkt bei dem Mädchen, wenn sie anders nicht aus Sucht nach einer überfeinerten Modebildung erweitert werden; jener soll für das öffentliche, dieses für das häusliche Leben gebildet werden" (1821/1827: V). Die entscheidende Frage aber war, ob der Stoff, aus dem die Aufsätze zu machen waren, auf die Gegenstände des Unterrichtes zu beschränken sei oder nicht auch die Erfahrungen, die Schüler außerhalb der Schule machen, einbezogen werden können. L. Schaaff und C. F. Falkmann, die bemerkenswertesten Aufsatzmethodiker der Zeit, aber auch Friedrich Schleiermacher plädierten für Offenheit: „Aufgaben, die im Zusammenhange stehen mit dem, was auf der Schule getrieben wird oder in dem gemeinsamen Leben so vorkommt, daß es die Jugend beschäftigt" (F. Schleiermacher 1849: 520). Die amtlichen Verfügungen und Erlasse dagegen drängten auf Einschränkung, und so dachte auch die Mehrzahl der Autoren. Vereinzelt griff man noch auf Stoffe aus dem Religionsunterricht zurück (vgl. etwa E. Wisseler 1831: 6). Doch die Zeit der religiösen Themen war vorbei (vgl. F. J. Günther 1841: 70f.). Sie hatten den sogenannten „allgemeinen",
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d. h. „allgemein menschlichen Themen" weichen müssen. Allein die Schulbehörde war noch an religiösen Stoffen interessiert (vgl. F. Schultze 1831: 98), in Preußen namentlich in der Ära des Ministers Eichhorn. Ludwig Giesebrecht, Dichter, Schriftsteller und Lehrer am Marienstift in Stettin, berichtet darüber: „Bald aber verlauteten Aeußerungen von oben her, die mit dem Sinn und der Art unserer Schule nicht in Einklang waren. Die Zeitungen meldeten, der Minister Eichhorn habe da und dort in einer Ansprache erklärt, sein Bestreben gehe dahin, das positive Christenthum aufrecht zu halten. Dazu bemerkte ich, im Gespräch mit Freunden, die Polizei müsse dahin sehen, daß die Sonne mit Bankeisen befestigt werde, sonst könne sie uns über kurz oder lang auf den Kopf fallen" (F. Kern 1875: 164 f.). Im Herbst 1843 kam der vortragende Rat für das höhere Unterrichtswesen zur Revision nach Stettin. „Hasselbach (der Direktor O. L.) und ich" schreibt Giesebrecht, „waren vorzugsweise die Objecte seiner Aufmerksamkeit" (ebd.: 165). Eilers visitierte „eine deutsche Lection in der Prima", die Schüler gingen mit und „der Revisor war befriedigt" (ebd.). Doch „schon am folgenden Tage wehte ein anderer Wind. Dr. Eilers hatte sich die Aufsatzhefte der Primaner vorlegen lassen und hatte gefunden, die Themata des halben Jahres enthielten disputable Sätze aus Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte, die in den deutschen Arbeiten erörtert wurden. Das schien ihm sehr bedenklich, dadurch werde die Jugend verleitet, über die Autoritäten unserer Literatur sich ein Urtheil anzumaßen" (ebd.). Die Sache wurde beigelegt. „Aber einige Monate später", fährt Giesebrecht fort, „kam eine Verfügung des Ministers, welche mit Bezug auf den Revisionsbericht des Dr. Eilers die Rüge aussprach, es sei bemerkt worden und durch die Mittheilung einer Reihe von Themata für deutsche Ausarbeitungen nachgewiesen, daß ich in meinem Unterricht vorzugsweise nur die kritische Entwickelung des Verstandes zu erzielen suche, und mich nicht dabei beruhige, das Positive in dem Gebiete der Religion ( . . . ) auf das Gemüth und den Geist der Zöglinge unmittelbar wirken zu lassen" (ebd.). Die Episode dürfte nicht ganz uncharakteristisch für die Atmosphäre an den Schulen gewesen sein. Eine starke Lobby hatten auch alle Stoffe, die aus den antiken Schriftstellern zu ziehen waren. Sie hatten nicht nur die Tradition der rhetorischen Übungen auf ihrer Seite, sondern auch die Altphilologen an den Gymnasien, natürlich auch die Schulbehörde (vgl. F. Schultze 1831: 98). „Denn man urtheilt fürwahr nicht aus blinder Vorliebe für das Alterthum", heißt es in einem „Handbuch der Materialien zu deutschen und lateinischen Abhandlungen", „wenn man behauptet, dass die Schriften der Griechen und Römer bis jetzt noch eine unausgeschöpfte Quelle der wissenswürdigen Kenntnisse sind, welche bei der Aufsuchung und Prüfung ihrer Gründe, bei der Vergleichung entgegengesetzter Meinungen und bei der Auflösung einzelner Begriffe, durch die mannigfaltigsten Reize, mit welchen diese Werke angefüllt sind, den
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Verstand in einer fast nie zu ermüdenden Thätigkeit erhalten, und wenn man glaubt, dass diejenigen, welche sich in ihrer Jugend ernstlich mit denselben beschäftigt haben, zu jeder Wissenschaft und Geschäftsart, welche Anstrengung des Kopfes erfordert, weit aufgelegter sind, und sich überall besser zu finden wissen, als diejenigen, welche, bei gleichen Talenten, diese Beschäftigung verabsäumt haben" (Κ. H. Sintenis 1808: VII). So oder ähnlich lauteten die Rechtfertigungsversuche für die klassischen Stoffe. Diese haben sich in der Tat erstaunlich lange behaupten können. Der Deutschunterricht war an den Gymnasien noch nicht so weit entwickelt, als daß seine Stoffe schon für die schriftlichen Ausarbeitungen ernsthaft in Frage gekommen wären. Aber immerhin gab es einige Ansätze dazu. G. Jäger hat unter den Abiturarbeiten für die Jahre vor und nach 1800 zahlreiche Themen nachweisen können, die dem Rhetorikunterricht der oberen Klassen entnommen sein können: Themen aus dem Bereich der Rhetorik, Poetik und Stilistik (1973: 139 ff.). Die deutschen Klassiker empfahlen sich allenfalls für die Lektüre, sie waren aber noch nicht in dem Maße anerkannt, daß man sich in den schriftlichen Arbeiten auf sie hätte beziehen können. Noch 1841 mußte H. J. Günther feststellen: „Wir nannten ( . . . ) Arbeiten über ästhetische Gegenstände. Es scheint, als ob diese gerade am meisten in den deutschen Stunden geboten würden, und doch ist es merkwürdig, daß gerade solcherlei Themata am seltensten sowohl in den Lehrbüchern, als auch vielleicht in der Praxis vorkommen" (1841: 74). Der wichtigste Stofflieferant für die deutschen Ausarbeitungen scheint in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Geschichtsunterricht gewesen zu sein. Das ist leicht zu erklären. Im Anschluß an die Darstellung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten ließen sich ohne weiteres allgemein menschliche Fragen erörtern. Auf diese und nicht so sehr auf die Fakten kam es an. In diesem Zusammenhang dürfte es angebracht sein, noch einmal eine CircularVerfügung des Provinzialschulkollegiums zu Breslau anzuführen. „An Material zu ihren Arbeiten", heißt es da, „wird es den Schülern umso weniger fehlen, ( . . . ) je anschaulicher ihnen, beim Geschichtsunterrichte, die verschiedenartigen Weltverhältnisse, die Gestalten des sittlichen Lebens und in der Entfaltung der Weltbegebenheiten die Wege der Vorsehung gezeigt und angedeutet werden" (F. Schultze 1831: 98). Man muß sich jedes Wort genau anschauen. Die Geschichte ist hier nicht nur ein Dokument „verschiedenartiger Weltverhältnisse", sondern in ihren Gestalten zugleich auch Zeugnis „sittlichen Lebens" und insgesamt so etwas wie eine Offenbarung der göttlichen „Vorsehung" (im übrigen vgl. F. Thiersch 1826: I, 361 ff.: E. Wisseler 1831: 7 f.; H. Niemeyer 1834: 19). Die Behörde scheint an den Stoffen aus der Geschichte ein besonderes Interesse gehabt zu haben. Ihr ging es um die rechte Staatsgesinnung der
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Untertanen. So liest man in der Zirkular-Verfügung weiter: „Wenn die Staatsverfassungen und Gesetzgebungen Athens und Roms in den Geschichtsstunden der Prima ausführlich behandelt, und in Verbindung damit die Reden des Demosthenes und des Cicero gelesen werden, wird der einsichtige Lehrer Anlaß und Stoff genug finden, richtige Vorstellungen von den Zwecken und Formen des Staates einzuleiten, und die Zöglinge unvermerkt auf den Standpunkt zu führen, auf welchem der wahrhaft Gebildete die Verhältnisse, in welchen sich die Gegenwart bewegt, überblickt, und unter dem Geräusch widerstreitender Interessen und leidenschaftlicher Meinungen ein ruhiges und besonnenes Urtheil behauptet" (ebd.: 99). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß im Bereich der Heuristik zwar einige Stoffe aufgegeben wurden, für die andere hinzukamen, der Wechsel aber nicht viel besagt. Die Lehre von der Stofffindung blieb weithin die alte, und auch ihre moralische, religiöse Ausrichtung hatte sich erhalten. Exkurs: die sogenannten Materialsammlungen Der Anonymus, der sich im Königlichen Reichsanzeiger vom 22. März 1803 zu Wort gemeldet hatte (s. oben), ist auch kurz auf Hilfen für den Lehrer eingegangen. Er erwähnt lobend mehrere Anleitungen zu den Stilübungen, vermerkt aber bedauernd, daß „diese Schriftsteller ( . . . ) sich entweder nur auf eine bloße Anleitung zur Verfertigung deutscher Aufsätze" beschränkten oder „ihre Aufmerksamkeit, wenn sie Materialien lieferten, nur auf die nidern Classen der Schulen" (Anonym 1803: 1026) richteten. „Es scheint", so stellte er fest, „daher ein Buch, was nicht bloß Anleitung, sondern Materialien, Themata zu deutschen Stylübungen für Schüler der oberen Classen, für reifere Jünglinge lieferte, ein Bedürfniß zu seyn, welches, so viel mir bekannt ist, noch nicht befriediget ist" (ebd.: 1026 f.). Ein solches Buch stellte er sich so vor: „Diese Sammlung von Materialien, oder Themen müßte aber nur für Lehrer bestimmt seyn, und könnte so eingerichtet werden, daß jedes Thema disponirt wäre, verschiedene Ansichten in möglichster Kürze angedeutet, enthielte, und die Aufgabe soviel wie möglich (immer in Form der Disposition) auseinander gesetzt würde" (1027). Ihm scheint eine Übertragung der Predigtentwürfe, wie sie damals unter Pfarrern gebräuchlich waren (vgl. R. Gentsch 1912: 156), auf die Bedürfnisse der Deutschlehrer vor Augen gestanden zu haben. Das Bedürfnis der Lehrer ist bald gestillt worden. Es entstand eine neue Gattung von Büchern, für die noch keine einheitliche Bezeichnung gefunden ist. Zwei Momente erlauben es, von einer Gattung zu reden. Der Absicht nach waren es „Hülfsbücher" für Lehrer, dem Inhalte nach handelte es sich nicht um Abhandlungen, sondern um Sammlungen, Sammlungen allerdings der verschiedensten Art:
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— Sammlungen von Aufgaben und Themen für den Stil- und Aufsatzunterricht ( J . G . Pfannenberg 1808; F. J. A. Muck 1810; F. E. Petri 1827: Τ. Colshorn 1850); — Stoffsammlungen, unkommentiert (Κ. H. Sintenis 1808; J. J. Dilschneider 1840), disponiert, wie der Anonymus aus dem Reichsanzeiger sie wünschte (C.H. Hänle 1806/1824; H. Kunhardt 1820; C. Hiersche 1821/1827; C. Bomhard 1844; L. Döderlein 1857), kommentiert ( J . D . Schulze 1804); — Sammlungen von ausgeführten Aufsätzen, sogenannten Musteraufsätzen oder „Beispielen" (C.H. Hänle 1806/1824; 1810/1824; 1814; 1822; 1826; F. P. Wilmsen 1811; J. Kehrein 1839), sogar mit Kommentaren zur Erarbeitung im Unterricht (C. H. Hänle 1810/1824); — Sammlungen von Stilproben aus der schönen Literatur (C. Hiersche 1821 / 1827; J. Rupp 1842; T. Colshorn 1850). Unterrichtsanregungen, Musterbeispiele und Stilproben finden sich hier und da auch in der didaktischen und methodischen Literatur zum Aufsatzunterricht (z.B. bei K . H . L . Pölitz 1800-1801; C. F. Falkmann 1823 u.a.), sowie in den Lehrbüchern für die Schüler ( J . M. Hurtel 1824; Κ. H. L. Pölitz 1827; Anonym (J. S. Zauper) 1829). Solche Sammlungen von Stoffen, Dispositionen und selbst aufgeführten Musteraufsätzen sind das ganze 19. bis hinein in das 20. Jahrhundert sehr beliebt gewesen, nicht nur bei Lehrern, für die sie ursprünglich gedacht waren, sondern auch, wie zahlreiche Zeugnisse beweisen, bei den Schülern — zur Vorbereitung auf ihre Aufsätze. Die gedankliche Ausarbeitung Die Stoffe allein tun es nicht: sie müssen vom Schüler angeeignet und gedanklich verarbeitet werden, damit aus ihnen ein Aufsatz entstehen kann. Es muß „das absichtliche, von bestimmten Gesetzen geleitete Nachdenken über einen Gegenstand" (C. F. Falkmann 1823: 351) hinzukommen. Dieses Nachdenken nannte man „Meditation" (vgl. F.K. Grieshaber 1829: 7ff.). Man sollte annehmen, daß in einer Aufsatzlehre, für die in einem Aufsatz Inhalt und Form, Gedanken und ihr sprachlicher Ausdruck die entscheidenden Momente sind, der Ausarbeitung der Gedanken als der Basis eines jeden Aufsatzes eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Gewiß empfand man durchaus die Notwendigkeit, sah sich aber nicht in der Lage, dem Schüler weitere Hilfen anzubieten als die, die schon in den alten Rhetoriken zu finden waren. Den Autoren, die sich an der rhetorischen Tradition orientierten (G. G. Fülleborn 1802: 4 ff.; T. Heinsius 1810: 22 ff.; A. Mühlich 1828: 6 ff.: J . N . Schmeisser 1838: 22ff. u.a.), stand die alte Topik mit ihren Erweiterungen aus der Schullogik zur Verfügung: die Lehren von der Begriffsentwicklung, der Sachentwicklung, insbesondere die Lehre von den Beweisen, aber auch
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verschiedene Schemata, das bekannteste unter ihnen das Frageschema: „wer? was? wo? womit? warum? auf welche Weise? wann?". Man hat von diesem Vorrat ausgiebig Gebrauch gemacht. Aber auch diejenigen, die die rhetorischen Bahnen verlassen hatten (L. Schaaff 1812: 38 ff.; C. F. Falkmann 1823: 351 ff.; C. H. Hänle 1826: 4 ff.; vgl. V.4.), scheinen in der so wichtigen Frage eher hilflos gewesen zu sein. Man gab gute Ratschläge, etwa: „Wahrhaft goldene Mittel sind aber die drei folgenden: Fange möglichst früh an zu arbeiten, damit du Zeit genug habest. ( . . . ) Meditire immer mit der Feder in der Hand, und schreibe jeden wichtigen Gedanken nur erst fragmentarisch nieder. Später mögen Ordnung und Ausdruck ihr Recht erhalten. ( . . . ) Vergiß nie, daß die Arbeit ein Ganzes bilden, folglich Selbstständigkeit, Theile, Zweck, Verhältnis zu andern Ganzen haben soll" (C. F. Falkmann 1823: 355). Schließlich kehrte man aber doch wieder zur alten Topik zurück. L. Schaaff lehnte zwar „die Wiedereinführung der Topik" ab, da „es naturwidrig sey, dem Schüler eine gewisse Norm des Denkens, als die alleingültige, aufdringen zu wollen", befürwortete diese jedoch in einer der Zeit angepaßten Form: „eben deshalb sollte man nicht von einer Wiedereinführung ( . . . ) reden, sondern von einer für unsern jetzigen Cultur-Zustand und den daraus hervorgehenden Charakter der neueren Beredtsamkeit berechneten Nachahmung derselben" (L. Schaaff 1812: 42). Auch C. F. Falkmann war von dem Nutzen der Topik überzeugt: „Ein vor dem Schüler liegender allgemeiner Überblick über die Hauptgesichtspunkte bei einer Sache läßt ihn schnell und sicher das Nöthige wahrnehmen, und setzt doch seine Urtheilskraft und seinen Fleiß in bedeutende Tätigkeit" (C. F. Falkmann 1823: 360; vgl. auch C. H. Hänle 1826: 17 ff.). Doch schätzte er bei den Stilübungen ihren Nutzen höher für das Disponieren ein: Die Topik „liefert gleichsam General-Dispositionen. Diese unterscheiden sich von den Special-Dispositionen zu einem einzelnen bestimmten Aufsatze dadurch, daß sie nicht so ins Detail gehen, wie diese, und daß ihre Ordnung sich auf keinen besonderen Zweck, sondern bloß auf eine belehrende Übersicht dessen, was zu einem Begriffe gehört, bezieht" (ebd.: 359). So kann Falkmann selbst noch der Chrienform als einer Darstellung der „Hauptgesichtspunkte bei der Behandlung eines Denkspruchs" (ebd.: 362) einen Sinn abgewinnen. Wie auch immer man zur Wiedereinführung der Topik stand, einig war man sich in dem Punkte, daß es sinnvoll und nützlich sei, den Stil- und Aufsatzunterricht durch Denkübungen der verschiedensten Art vorzubereiten (vgl. dazu auch V.3.). Die Ordnung der Gedanken (Dispositio) Daß es nützlich sei, die Gedanken zu ordnen, bevor man sie zu Papier bringt, ist damals grundsätzlich nicht bestritten worden. Der Hauptgrund ergibt sich
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aus dem Wesen der Sprache: „Das Succesive ist ein wesentliches Merkmal der Sprachgestaltung; wir können die Vorstellungen und Gedanken, die wir dem Leser gern auf einmahl in die Seele brächten, demselben nur nach und nach mittheilen. Es kommt also sehr Viel darauf an, daß der Leser (und noch mehr der Hörer, da jener wieder nachlesen kann) nicht nur für den Augenblick den Zusammenhang des Vorhergehenden und Folgenden gehörig fasse; sondern auch diesen Zusammenenhang möglichst im Gedächtnisse behalte, bis mit dem Ende das Gelesene als ein Ganzes vor ihm steht" (C. Ε Falkmann 1823: 367 f.). Eine Disposition ist also „die, bloß in Gedanken angeschauete oder auch auf dem Papier ausgedrückte, vernunftmäßige Aufeinanderfolge der kleineren und größeren Theile einer Rede" (ebd.: 367). Man muß sich von der Vorstellung frei machen, als sei eine Disposition immer ein mehr oder minder schematischer Plan, nach dem ein Aufsatz ausgeführt werden muß. Zur Ausarbeitung einer förmlichen Rede gab es zwar ein bestimmtes Schema, für Geschäftsaufsätze sogar Formulare, im übrigen aber war man sich einig in der Ablehnung vorgegebener Schemata, wie sie noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts üblich waren. Man propagierte das „freye Disponiren" (L. Schaaff 1812: 49). Darunter ist zunächst einmal nicht mehr als eine ziemlich lockere Skizze zu verstehen, die Fixierung der Idee eines Textes. In den Abituraufsätzen, die mir aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stehen, finden sich, wenn diese überhaupt mit einer Disposition versehen sind, ausschließlich solche Skizzen. So lautet die Disposition zu einem Thema, wie „Eine ernste Jugend verspricht ein heiteres Alter" (eigene Sammlung 1842/ 1), folgendermaßen: „Die Jugend ist gleich wie der Frühling, die Zeit der Aussaat; ist diese eine reiche und gesegnete gewesen, so werden wir auch im Alter, dem Winter des Lebens, reichliche Früchte in Ruhe und Freude genießen. Wie säet man aber am Besten aus? Mit dem ernsten Gedanken an die erhabene Bestimmung des Menschen und an das schöne Ziel, was einem Jeden nach einem wohlzugebrachten Leben winkt. Also es paare sich Ernst in der Jugend mit Frohsinn und Heiterkeit, damit einst das Alter ohne Reue, ein heiteres, frisches und zufriedenes sein kann". Man kann jedoch feststellen, daß für das Disponieren von Schulaufsätzen oft auf Operationen zurückgegriffen wurde, die aus der Schullogik stammten: „Die Gesetze der Anordnung mehrerer Gedanken werden eigentlich in der Logik gelehrt. Disponiren heißt nemlich nichts anders, als klassificiren, das heißt von Individuis auf Species und von diesen auf Genera fortschreiten" (G. G. Fülleborn 1802: 21; vgl. auch C. H. Hänle 1806/1822: 23 ff.; T. Heinsius 1810: 28ff.; K. H. L. Pölitz 1827: 246 u.a.). Zwei logische Operationen, die übrigens schon Quintilian (V, 10, 63) erwähnt, sollten sich als bedeutsam für die Lehre von der Disposition erweisen: die sogenannte „Partitio" und die „Divisio". Falkmann kannte noch nicht die Bezeichnungen, trifft aber die
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Sache, wenn er zwischen koordinierenden und subordinierenden Formen der Disposition unterscheidet: „In logischer Hinsicht ist die Form der Disposition a. coordinirend, wenn die einzelnen Gedanken bloß als Theile des Aufsatzes betrachtet, und nach ihrer Verwandtschaft geordnet werden. ( . . . ) b. subordinirend, wenn die einzelnen Gedanken auch als Theile einer vom anderen betrachtet, und einander untergeordnet werden" (C. F. Falkmann 1823: 370). Um den Unterschied an einem Beispiel klar zu machen: ein Thema, wie „ E s ist süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben" (ein Thema übrigens, das Falkmann selber nennt), wird in der Form einer Partitio (oder koordinierend) disponiert, wenn zuerst dargestellt wird, inwiefern der Tod fürs Vaterland „süß" ist, dann (in einem zweiten Hauptteil), inwiefern er „ehrenvoll" ist. Wählt man dagegen das Verfahren der Divisio, geht man also subordinierend vor, so sind verschiedene Gesichtspunkte zu entwickeln, unter denen der Heldentod sowohl als „süß" als auch als „ehrenvoll" erscheinen kann, also etwa der Schutz von Frau und Kind, die Verteidigung von Recht und Ordnung, das Ansehen, das man gewinnt, wenn man sich geopfert hat (übrigens damals ein übliches Argument) u . a . m . . In dem Maße, in dem logische Operationen die Dispositionsübungen bestimmten, wurde ihre Bedeutung nicht mehr so sehr in der Erleichterung der Arbeit an den schriftlichen Ausarbeitungen gesehen, als vielmehr in dem Nutzen „für Schärfung der Denkkraft, Aufhellung des Verstandes, und Feststellung der Begriffe" (F. P. Wilmsen 1811: 149). An dieser Stelle wird die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder anknüpfen (vgl. VI.4).
Die sprachliche Ausarbeitung (Elocutio) Der gedanklichen Ausarbeitung des Konzepts von einem Text entspricht seine sprachliche Ausarbeitung, d. h. seine Ausformulierung in Wörtern, Sätzen, Abschnitten und schließlich auch in einer bestimmten Textform. Dies alles wurde als Stil bezeichnet, die Lehre davon als Lehre von dem Stile oder als Stilistik. Die sprachliche oder, wie man auch sagen könnte, die stilistische Ausarbeitung eines Konzepts kann in einer Reihe von Operationen dargestellt und als eine Folge von Operationen den Schülern gelehrt werden. Ansätze zu einem solchen Vorgehen findet man in der didaktisch-methodischen Literatur der Zeit: „ N u n werden die gefundenen Ideen hingeworfen, geordnet nach einem vernünftigen Zusammenhang, und dann, während das Herz warm, und der K o p f vom Gegenstande erfüllt ist, niedergeschrieben, wie sie sich verknüpfen. Wer bei der ersten Hervorbringung seiner Ideen schon daran denkt, ihnen die vollkommenste Richtigkeit und das anpassendste Gewand
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zu geben, alles Ueberflüssige, Ueppige, das gegen die Regel ist, hinwegzuschneiden, der wird in der Wirksamkeit seiner Denkkraft gehemmt, und gelangt gerade durch jenes Suchen nicht zum rechten Ziele seiner Arbeit" (C. H. Hänle 1826: 12). Dann kommt die eigentliche Arbeit am Text: „Allein wann er sich beim ersten Hinwerfen der Gedanken, den Eindrücken der Gegenstände, der von der Erinnerungs- und Einbildungs-Kraft ihm gegebenen und zugemischten Ideen und der freien Thätigkeit seines Verstandes überlassen hat, dann ist die zweite Arbeit, zu sichten, besser zu ordnen, die Regeln der Logik, der Grammatik, Aesthetik und Rhetorik, so weit sie ihm bekannt sind, zu beherzigen. Zuerst muß immer der Stoff vorliegen; erst nachher wird die Prüfung vorgenommen" (ebd.). Ähnliche aus der eigenen Erfahrung mit dem Schreiben entnommene Ratschläge finden sich auch sonst (vgl. etwa C. F. Falkmann 1823: 387 ff.; J. Moser 1786 (?)/1954: 1 1 - 1 5 ) . Aufs Ganze gesehen, hatte man dem Schüler aber nicht viel zu sagen. Hier könne und müsse „dem Schüler das Meiste überlassen bleiben", meinte selbst ein sonst so umsichtiger Aufsatzmethodiker wie C. F. Falkmann (1823: 379). Statt auf hilfreiche Operationen zu sinnen und dem Schüler zu zeigen, auf welche Weise man einen Text ausformulieren kann, begnügte man sich in der Regel damit, die Stillehren in der Nachfolge Adelungs auszuschreiben, ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß die Stilarbeit eines Schülers nie und nimmer denselben Zweck verfolgen kann, wie etwa das Schriftstück oder die Rede eines Erwachsenen. „Der Schüler, ein junger Mensch, maßt sich nicht an", stellte C. H. Hänle zurecht fest, „die Zuhörer, erwachsene, zum Theil alte, gebildete Leute, unterrichten, belehren, zu wollen, sein Zweck ist meistens, durch Schilderung, durch einen schönen Vortrag eine Probe seines guten Styls abzulegen" (1810/1824: 63). Meist erschöpfte sich die Darstellung der Theorie des Stils in einer mehr oder minder variierten Wiederholung der allgemeinen Eigenschaften, des Stils, wie sie Adelung aufgelistet hatte (vgl. etwa G . G . Fülleborn 1802: 31 ff.; T. Heinsius 1808: 270 ff.; 1810: 56 ff.; C. F. Falkmann 1823: 307 ff.; J . M . Hurtel 1824: 29 ff.; Anonym (Zauper) 1829: 3 ff.). Wozu aber diese allgemeinen Stilnormen? Einen einheitlichen deutschen Stil gab und gibt es auch heute nicht. Wie waren solche Normen zu rechtfertigen? Auf die deutsche Literatur konnte man sich nicht berufen. „Was aber bietet uns zur Bildung des Styls die deutsche Literatur?" hat damals ein höchst renommierter Gelehrter gefragt. „Ich kenne für keine Gattung einen rein ausgebildeten, in sich abgeschlossenen deutschen Styl. Wir stehen in dieser Hinsicht nicht nur hinter den Alten, sondern auch den Neuen, besonders den Franzosen, weit zurück. Unsere Literatur ist zu jung, um einen solchen zu haben, und zu frei, um sich einer bestimmten Norm zu bequemen" (F. Thiersch 1829: III, 392 f.). Neben den allgemeinen Eigenschaften des Stils spielten die Stilarten in den Lehrbüchern eine bedeutsame Rolle. Von den Autoren wurden unterschiedliche Einteilungen vorgeschlagen.
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Aus der rhetorischen Tradition stammt die Unterscheidung von Stilebenen: des niederen (Adelung: vertrauten), des höheren und des mittleren Stiles. Das Kriterium für die Unterscheidung war die gesellschaftliche Position des Adressaten. Das entsprach rhetorischem Denken (vgl. L. Schaaff 1802: 58 ff.; T. Heinsius 1808: 278 ff.; 1810: 105 f.; J . M . Hurtel 1824: 110; K. H. L. Pölitz 1827: 45ff. u.a.m.). Blickt man in die Aufsätze der Schüler, insbesondere in die Arbeiten von Primanern, so ist eine gewisse Neigung für den hohen Stil nicht zu verkennen, zumindest immer dann, wenn die Aufgabenstellung einen oratorischen Gestus nahelegte. So liest man in einer „Ermunterungsrede an Studirende" etwa: „Zuerst bedenket, um euren Eifer unablässig anzuspornen, welch ausgezeichneten Vortheil ihr in der Bestimmung und im Fortgange eurer Erziehung genießet: ihr bildet euren Geist auf einem stillen, sanften Wege, was anderen auf dem Wege der Erfahrung nur gegönnt ist; ist aber je ein Weg zu seinem Ziel zu gelangen beschwerlich und stark mit Dornen des Kummers besäht, so ist es gewiß der, den uns die Erfahrung führt. Doch aber auch euch leitet jener Weg nicht immer durch lachende Augen und duftende Wiesen, nicht immer ist euer Pfad mit Rosen der Freude bestreut: wenn ihr nicht ringet mit eurem Geiste, ihm jegliches abzugewinnen sucht, so viel er uns zu geben im Stande ist, d. h. wenn nicht der strengste Fleiß, verbunden mit der genauesten und schönsten Ordnung in eurem Studiren obwaltet, so werdet ihr nie als Mann oder Greis die schönen Früchte der Wissenschaften genießen, die euch als Jüngling jetzt so herrlich blühen" (eigene Sammlung 1821/1(S)). Es ist schwer zu entscheiden, worauf das Hochgestochene im Stil einer solchen Passage zurückzuführen ist. Es braucht nicht unbedingt das Ergebnis einer Belehrung über den hohen Stil zu sein, sondern ließe sich auch durch eher diffuse Vorstellungen von einer oratorischeffektvollen Redeweise erklären. Aus den Stillehrbüchern der Zeit stammt die Einteilung nach historischen, dogmatischen und oratorischen Schreibarten. Den historischen Stil fand man in Erzählungen und Beschreibungen, den dogmatischen in Abhandlungen und den oratorischen schließlich in Reden und Briefen. In der didaktischmethodischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts findet sich diese Unterscheidung nur selten (vgl. J. M. Hurtel 1824: 172 ff.). A. F. Bernhardi hat diese Einteilung zum Teil übernommen, jedoch an die Stelle der oratorischen Schreibweise die Darstellung von Gefühlen und Gesinnungen gesetzt: „So mannigfach derselbe (gemeint ist der Inhalt von Aufsätzen O. L.) auch sein mag, so sind es doch nur drei mögliche Bestrebungen, welche ihm zum Grunde liegen können; entweder der Verfasser will etwas rein faktisches darstellen, rein erzählen oder beschreiben, oder er will Begriffe analysiren und synthetisiren, oder er will Gefühle und Gesinnungen darstellen" (1820:12). So weit ich feststellen konnte, ist sein Vorschlag, so interessant er auch ist, nicht aufgenommen worden. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht allerdings mit dem
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Vorschlag von C. F. Falkmann. Falkmann sprach von „Grundformen der Sprachdarstellung" und meinte „die Art, wie sich der Stoff auf die Grundbegriffe des Raumes, der Zeit etc. bezieht" (1823: 300). So unterschied er zwischen einer beschreibenden, einer erzählenden und einer betrachtenden Grundform: „In der Beschreibung waltet das Räumliche, in der Erzählung das Zeitliche; die Betrachtung hat sich von Beiden mehr los gemacht" (ebd.). Falkmann's Klassifikation läßt sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur noch einmal belegen (vgl. J. M. Hurtel 1824: 71 ff.), später wurde sie zur Grundlage für die Didaktik der Stil- und Darstellungsformen (vgl. Kap. VIII ff.). Der neuen Auffassung vom Schreiben entsprach eine andere Einteilung der Schreib- und Stilarten. Wenn das schreibende Subjekt den Schreibprozeß bestimmt (und nicht so sehr die Orientierung am Leser), dann mußte auch die Einteilung der Schreibarten von ihm aus vorgenommen werden. So wurde in zunehmendem Maße die Absicht des Schreibers zum Kriterium für die Unterscheidung von Stilarten. Man unterschied zwischen dem Geschäftsstil, dem Briefstil, dem historischen Stil und dem Lehrstil, dessen Hauptform die Abhandlung war. Diese Unterscheidung hat sich in der didaktischen Literatur der Zeit durchgesetzt (vgl. K. H. L. Pölitz 1801: 4. Teil, 2. Abtl.; G . G . Fülleborn 1802: 73ff.; T. Heinsius 1808: 284ff.; 1810: 115ff. u.a.m.). Der Geschäftsstil war der Stil, der in „allen Gattungen von Geschäftsaufsätzen" Verwendung fand: „zuerst des niederen Geschäftsstyls, wie Abschiede, Anweisungen, Reverse, Cicularschreiben, Contracte, Formulare, Obligationen, Quittungen, Rechnungen, Schenkungsschriften, Schuldscheine, Specificationen, Vollmachten, Vorschläge, Wechsel, Zeugnisse u . s . w . . Hierauf folgen einige Gattungen des Canzlei- und Gerichtsstyls, ζ. B. Attestate, Berichte, Citationen, Decrete, Gutachten, Protokolle, Relationen, Scheine u. s. w., endlich einige Gattungen des Hofstyls, Bittschriften, Gutachten, Vorstellungen u. s. w." (aus der Instruction für den Unterricht in dem Großherzoglichen Gymnasium zu Darmstadt von 1827, zit. nach G. Jäger 1977: 13). Aus dem Zweck solcher Schriftstücke und ihrer Bestimmung läßt sich der Charakter des Geschäftsstiles ableiten: „Dieser geht nämlich auf Belehrung und Unterricht des Verstandes hin; es kommt daher in dem Geschäftsstyl wenig auf die Schönheit der Form an, aber sehr viel auf Deutlichkeit, Klarheit, Vollständigkeit, O r d n u n g und Präcision, da alles, was schwankend und zweideutig ist, die nachtheiligsten Mißverständnisse und die langwierigsten Streitigkeiten verursachen kann. ( . . . ) Außer diesen stylistischen Eigenschaften hat der Geschäftsstyl wegen der Wichtigkeit und Würde der öffentlichen Geschäfte eine gewisse herkömmliche Form, die sich am sichtbarsten ausgeprägt in gewissen ceremoniellen Titeln, Ausdrücken, Formeln und Terminologien, die man mit dem Namen der Courtoisie belegt, so wie in einem einförmigen, trockenen und langen Periodenbau" (T. Heinsius 1808: 288).
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Eine Passage aus einem Abituraufsatz von 1822, dem der Lehrer „Eigenheiten des Geschäftsstyls" nicht absprechen kann, möge veranschaulichen, was unter dem Geschäftsstil in einem Schüleraufsatz zu verstehen war. Das Thema der Arbeit lautete: „Bitte eines Jünglings, der nach vollendetem GymnasialCursus seine Studien fortzusetzen wünscht, um ein Stipendium an einer Universität". Nachdem der Verfasser berichtet hat, daß sein Vater 1814 „für König und Vaterland" gefallen sei, begründet er seine Bitte so: „Wenn Sie bedenken, daß von der Gewährung meiner Bitte das Schicksal einer ganzen Familie abhängt, so werden Sie nicht lange anstehen mir meine Bitte zu gewähren. Bei dem Leben meines Vaters war meine Mutter immer bedacht uns eine gute Erziehung geben zu lassen, allein dieser Plan wurde durch dessen frühes Absterben vereitelt. Es blieb ihr nichts übrig, als Menschenfreunde anzuflehen, daß sie sich unserer erbarmen sollten; denn daß wir ohne alle Bildung aufwachsen, und ohne Kenntnisse in der Welt herumtreiben sollten, war ihren edlen Absichten nicht angemessen. ( . . . ) Mit der Gewährung meiner Bitte sieht eine ganze Familie einer schönen Zukunft entgegen. Ich bringe es alsdann vielleicht so weit, daß ich meiner Mutter den vielen Kummer vergelten kann, den sie seit meiner Jugend gehabt hat. ( . . . ) Ewig werde ich dankbar die Unterstützung anerkennen, die Sie mir durch Gewährung meiner Bitte verleihen werden, und mein höchstes Bestreben wird dahin gehen, durch Fleiß, gute Aufführung und Fortschritte den Erwartungen zu entsprechen, die Sie von mir zu machen berechtigt sind" (eigene Sammlung 1822/1 (S)). Briefe waren auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht anders als im 18. Ausdruck der eigenen Gedanken und Empfindungen und darüberhinaus oft auch ein Dokument der Kultur des Schreibers. „Es herrscht ein allgemeines Bestreben, gute Briefe zu schreiben" (G. Steinhausen 1889: 327). So wurde auch der Briefstil nicht nur unter pragmatischen, sondern auch unter ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt. „Ich sollte Ihnen (...)", schrieb Wieland an Riedel einmal, „von Rechtswegen schöne, wohlgesetzte, gedrehte und gewendete, witzige, gelehrte, mit einem Wort ostensible Briefe schreiben, damit Sie nicht nur das Couvert, sondern die Briefe selbst auf einem Teller herumgehen lassen könnten; aber ach! mein lieber Riedel, woher die Zeit dazu nehmen" (zit. nach G. Steinhausen 1889: 328). Auch von den Briefen der Schüler erwartete man mehr als eine „leichte, gewandte, populäre Schreibweise" (C. F. Falkmann 1830/1849: 339): „je weiter ein solcher Aufsatz sich vom Strenggeschäftlichen entfernt, je mehr die Persönlichkeit durchschimmert oder durchschimmern soll, desto nöthiger wird noch ein ( . . . ) Erforderniss, nämlich: Bildung und feine Sitte" (ebd.: 340). Den historischen Stil fand man nicht nur in Erzählungen, sondern auch in Beschreibungen aller Art. In beiden Fällen kam es auf eine möglichst zuverlässige und anschauliche Darstellung der Fakten an: „Bei der Erzählung und
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Beschreibung, sie mögen nun wahr oder erdichtet seyn, kommt es hauptsächlich darauf an, daß man sich ( . . . ) eine — für den jedesmahligen Zweck — hinlängliche Vorstellung von der aufgezeichneten oder beschriebenen Sache machen kann" (J. G. Pfannenberg 1808: 1). „Daraus ergibt sich im Allgemeinen, daß die stilistischen Eigenschaften der Klarheit, Deutlichkeit, Präcision und Würde hier in einem vorzüglichen Grade sichtbar seyn müssen, daß aber Schmuck und figürliche Sprache nur sehr beschränkt angewandt werden können, weil sie die Phantasie zu stark beschäftigen" (T. Heinsius 1808: 378). Übrigens sind damals Erzählungen und Beschreibungen nicht nur in den unteren Klassen geschrieben worden (oft begann der Aufsatzunterricht erst in Tertia!). Selbst unter den Abiturarbeiten finden sich, wenn auch vereinzelt, Erzählungen. So hatten 1839 Trierer Abiturienten über das Thema zu schreiben: „Ein verbildeter, dünkelhafter Jüngling kommt in die Gesellschaft wohlgesitteter, wahrhaft gebildeter Jünglinge. Der Eindruck, den er hier erhält, macht ihn stutzig, führt ihn zu einer ernsten Selbstprüfung, und wird der erste Anfang seiner Besserung". Das Thema ist zugleich schon die Disposition des Aufsatzes. Damit der Schüler auch über Form und Stil der Arbeit nicht um Unklaren bleibt, wird hinzugefügt: „Erzählung". Die folgende Passage ist dem Anfang einer dieser Arbeiten entnommen: „Max war der Sohn begüteter Eltern. Sein Vater hatte ihm eine standesmäßige, sorgfältige Bildung geben lassen. ( . . . ) Das klassische Alterthum schien ihm Befriedigung gewähren zu können. Darum studirte er die alten Schriftsteller fleißig, und er erfreute sich an den edlen Charakteren, welche jene uns vorführen und schildern. Aber sein jugendlicher unstätiger Geist hatte keine Ruhe; bald ward ihm jene untergegange(ne), verklungene Welt zuwieder; der Gegenwart wollte er leben, mit der jetzigen Zeit wollte er sich bekannt machen, und so gerieth er auf jenen unseligen Irrweg, der schon so vielen Jünglingen einen Untergang bereitet hat, auf das Lesen der modernen Romane. Gierig kostete er dies langsam aber sicher wirkende Gift. Seine edle Seele wurde verdorben, sein gerades und offenes Herz wurde mit falschen Grundsätzen und irrigen Ansichten erfüllt, er wurde fortgerissen in den Strudel des Verderbens, gleichwie die tückischen Wogen des Meeres das schwache Schifflein zum schwarzen Abgrund reissen. Kurz, der früher so edle Jüngling wurde ein dünkelhafter, verbildeter Geck" (eigene Sammlung 1838/1 (S)). Zu dem dogmatischen oder dem Lehrstil gehören diejenigen Aufsätze, „worinn einzelne oder mehrere allgemeine Wahrheiten vorgetragen, erkläret, bewiesen und angewandt werden" (J. C. Adelung 1785: II, 110). Es kam auf begriffliche Klarheit, logische Verknüpfung der Gedanken und systematische Geschlossenheit an: „Denn wenn Unterricht des Verstandes ihr Hauptzweck ist, so kann dessen Erreichung nichts zuträglicher seyn, als Deutlichkeit und genaue Bestimmtheit der Gedanken sowohl, als des Vortrages und Faßlichkeit, eine nothwendige Folge von beyden. Alles rednerischen Schmuckes kann ein
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dogmatischer Vortrag um so eher entbehren, da es dem Schriftsteller hier nicht um angenehme Unterhaltung der Phantasie, nicht um lebhafte Rührung der Leidenschaften zu thun ist" ( J . J. Eschenburg 1783/1805: 351 f.). Ob man den eher populären oder den strengen wissenschaftlichen Stil wählte, hing von den Zwecken ab, die man verfolgte, und dementsprechend auch von den Lesern: „Oft führt man eine Materie auch für diejenigen aus, denen die Wissenschaft, in deren Gebiete sie gehört, fremd ist. Da muß man zuweilen einige der ersten Gründe derselben erklären und beweisen. Oft schreibt man für Geübtere, und alsdenn ist jenes nicht nöthig. ('...) Oft will man nicht alles sagen, was über die Materie mit Nutzen gesagt werden kann, sondern nur einige seiner besonderen Meynungen darüber entdecken, oder nur des Hauptsächlichen erinnern, oder fast wie in Lehrgedichten, nur dasjenige sagen, was eben so anmuthig als nützlich zu lesen ist. ( . . . ) Da braucht man nicht das Gerippe der Disposition zu zeigen; da schreibt man nicht ängstlich für die Deutlichkeit, nicht trocken der Vollständigkeit wegen; da bedient man sich einer feinen Paradoxie, die einem Kenner sehr orthodox ist; da wechselt man die Art, seine Gedanken zu zeigen, tausendfach ab; man redet selbst, man läßt andere reden, man wirft Fragen auf, und veranlaßt nur die Antwort, ohne sie zu geben; man giebt mehr zu denken, als zu lesen; ein einziger Bogen enthält den Stoff eines Quartanten; man giebt Wahrheiten zu erkennen, welche dem Verfasser gefährlich wären, wenn er sie nicht etwas rätselhaft sagte, und sie dadurch denjenigen verbärge, die sie mißbrauchen würden. Das ist der Acker, worauf die tiefsinnige Vernunft, der patriotische Eifer, der muntre Witz, der lachende Scherz, die bessernde Satyre, das feine Lob ihren Saamen zugleich ausstreuen können, ohne daß einer den andern verdirbt" ( J . B . Basedow 1756: 419ff.). Die meisten Primanerarbeiten sind im dogmatischen oder didaktischen Stile geschrieben. Natürlich haben ihre Verfasser kaum den Vorstellungen von Basedow entsprochen. Doch was ein Schüler damals an begrifflicher Schärfe aufbringen konnte, zeigt der Abituraufsatz von Theodor Mommsen aus dem Jahre 1838 zum Thema „Genies sind notwendige Übel": „Das Genie ist der Apostel des Zeitgeistes, der mit leisem Ohr das, was zur weiteren Entwicklung nötig ist, die Zeitbedürfnisse erlauscht, der, selbst ein Sohn des Zeitgeistes, ihn hervorruft und hegt, der, das Künftige ahnend im Busen tragend, seiner Zeit vorangeeilt ist, der die Zukunft ins Leben ruft und mit prophetischer Begeisterung verkündet. Es handelt sich nun nicht mehr um geschickte Verarbeitung und Benutzung des Alten, des Überlieferten, des Abgestorbenen, sondern um die Schöpfung eines Neuen, eines Selbstempfundenen, eines Belebten und Belebenden, nicht mehr darum im Verfolg des alten Schlendrian im Kleinen Gutes zu stiften, sondern neue Bahnen zu brechen und das Ganze zu fördern. Eine Epoche zu machen, treten Genies auf; darum sind sie so selten" (zit. nach B. Lahann 1982: 42 f.).
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6. Die Formen von Aufsätzen Von den Stilarten (Stilgattungen) sind die Stilformen zu unterscheiden. Die Bezeichnung variiert. K. H. L. Pölitz (1801: 4. Teil, 2. Abt., 11) sprach von „stilistischen Formen", was wohl auf dasselbe hinausläuft, S. Η. A. Herling (1837: 262 ff.) und C. F. Falkmann (1823: 301) dagegen von „stilistischen Darstellungsweisen" bzw. „Aufsatzformen". Da unter „Aufsätzen" nicht nur Schulaufsätze, sondern schriftliche Aufzeichnungen jeglicher Art verstanden wurden, dürfte Falkmann in etwa dasselbe wie Herling gemeint haben: Formen schriftlicher Texte. Das Kriterium für die Unterscheidung von Stilformen ist nicht ganz klar. Meist werden die Stilformen nach den Zwecken, die man mit den jeweiligen Texten verfolgt, eingeteilt (wir würden heute wohl von Funktionen sprechen). Es spielen aber auch inhaltliche Kriterien eine Rolle, wenn etwa die Beschreibung von der Erzählung abgehoben wird, und in einigen Fällen rein formale Gründe, so etwa bei der Unterscheidung von Monolog, Dialog, Brief und Rede. Offensichtlich ist man nicht deduktiv vorgegangen, sondern hat versucht, die Formen, die in Gebrauch waren, in ein System zu bringen. Im folgenden werden nur die Stilformen behandelt, die in der Schule Verwendung fanden, und von diesen auch nur die wichtigsten. Ich spreche von „Aufsatzformen" und fasse den Begriff Aufsatz enger, als es damals üblich war. „Aufsätze" sind dann immer nur „Schulaufsätze". Die überlieferten oratorischen Formen Die Hauptformen der deutschen Oratorie hatten ausgedient. Eine Ausnahme bildete einzig und allein die Form des Briefaufsatzes. Der Grund für eine solche Abwertung ist in dem Paradigmenwechsel zu sehen, von dem schon mehrfach die Rede war. Es handelte sich um ausgesprochen rhetorische Formen, denen in einer zunehmend entrhetorisierten Welt die Existenzgrundlage entzogen war. Die Zeit, in der alle Welt Gedichte schrieb, war vorbei (vgl. W. Segebrecht 1976). Gelegenheitsgedichte widersprachen nicht nur dem Nützlichkeitsdenken der Zeit, sondern auch seinen poetischen Anschauungen. So sind es denn diese beiden Argumente, die auch gegen die poetischen Versuche von Schülern immer wieder, ins Feld geführt wurden. Heinrich Martin Gottfried Köster hat sie schon 1776 klar und deutlich vorgebracht: „Es ist unbegreiflich", schrieb er in seinen „Gedanken von den Schulsachen", „wie das Vorurtheil, als müsse ein jeder Verse machen können, noch so sehr in Schulen herrschen kan, und was für eine kostbare Zeit darüber verdorben wird, die man wenigstens auf prosaische Aufsätze hätte wenden können" (1776: 190). Das ist das pragmatische Argument, das poetische kommt in der Fortsetzung
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zur Geltung: „Gemeiniglich pflegen Schullehrer alle diejenige, welche sich diesem Misbrauche widersetzen, zu beschuldigen, daß, weil sie selbst keine Verse machen könnten, sie dieselbigen verachteten. Nicht zu untersuchen, wie viele von ihnen würklich Poeten sind, so füge ich hinzu, daß ich selbst in meinen Schul-Jahren viele tausend, und insonderheit lateinische Verse gemacht, und nur durch das häufige Lesen der Poeten, eine solche mechanische Fertigkeit erworben hatte, daß ich es noch jetzo mit manchem, der sich dessen rühmt, aufzunehmen gedächte. Wenn ich aber überlege, daß (...) unter tausend, die würklich Verse machen, vielleicht kaum einer ein wahrer Poet ist, daß solche Verse, wie insonderheit die Lateinischen sind, fast nichts als Gedächtniswerk und Diebstahl sind, bei welchen noch selten etwas heraus kommt, das nur mittelmäßig genennt werden kan (...), so bedauere ich billig die Zeit, die ich damit verdorben, und wichtigeren Sachen entzogen habe" (1176: 190 f.). Das pragmatische Argument konnte leicht entkräftet werden. So wandte Α. H. Niemeyer ein: „Wie manche neuere Pädagogiker überhaupt gegen die Beschäftigung mit Poesie eifern konnten, dies erklärt sich bloß aus ihrem so einseitigen Streben, alles auf den Nutzen und Gebrauch im äußern Leben zurückzubringen, wonach freilich der Erfinder des Spinnrades und der Kartoffelpflanzer, wie in Campe zu lesen ist, mehr Verdienst hat, als der Dichter der Ilias und Odysee" (1796/1884: II, 239 f.). Es blieb aber das poetische Argument. So fand man den Kompromiß: „aufgegeben wird niemals eine poetische Arbeit, niemand wird dazu aufgefordert noch weniger verpflichtet. Es giebt ja der Dichterlinge leider schon genug, als daß der Schullehrer es noch absichtlich darauf anlegen sollte, diese Brut zu vermehren" (F. Gedike 1793: 26). Doch wäre es „Thorheit von Seiten eines Schulvorstehers oder Lehrers, seinen Schülern alle poetische Versuche verbieten zu wollen. Man lasse also immerhin junge Leute, die poetische Anlage haben, sich in ihren Stilübungen auch von dieser Seite versuchen. Selbst die, welchen bei der Geburt Melpomene nicht mit holdem Blik zulächelte, mögen immerhin einige Versuche der Art machen, um eben durch das Mißglükken derselben zur Selbstkenntnis und zum Gefühl ihrer unpoetischen Natur zu gelangen" (ebd.: 27, vgl. auch L. Schaaff 1812: 60 f.; C. F. Falkmann 1823: 251 f:, F. Thiersch 1826: 359ff. u.a.). Die Form der Chrie („Gebrauchsmuster"), das Herzstück der deutschen Oratorie von Christian Weise sowie seiner Schule (vgl. Kap. II.), hatte schon bei den Frühaufklärern, allen voran Hallbauer und Gottsched, an Interesse verloren. Trotzdem wurde sie auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einigen Lehrbüchern zur Rhetorik als „eine nützliche Vorübung für die eigentliche Rede" aufgeführt, als „herrliches Mittel der Erfindung" ((J. S. Zauper) 1829: 36) oder als „Anweisung, die Materialien nach einem festen Plane an einander zu reihen". Selbst ein so fortschrittlicher Aufsatzmethodiker
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wie C. F. Falkmann konnte ihr nicht jeden Nutzen absprechen. In „ etwas veränderter Gestalt" hat er sie unter die „Nebenübungen" aufgenommen „und so der Vergessenheit, in die sie, nicht ganz verdient, gerathen war, entrissen" (C. F. Falkmann 1823: 563). Aber was besagen schon einige wenige Fürsprecher? Die meisten übergehen sie mit Schweigen. Für sie dürfte Ludwig Giesebrecht gesprochen haben, wenn er feststellte: „Die Chrie soll zur eigenen freien Production vorbereiten, hinüber führen. Also zuerst die Form, dann der Inhalt. Man sollte meinen, der Inhalt bestimme die Form, diese könne nichts anders sein, als die Aeusserung jenes" (zit. nach F. Kern 1875: 178). Eine Rede (oratio) abfassen und vor einem Publikum vortragen zu können, das war das letzte und höchste Ziel des Rhetorikunterrichtes, und zwar von der Spätantike bis in das 18. Jahrhundert. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts wurden selbst die deutschen Stilübungen oft durch den Vortrag selbstverfertigter Reden — meist im Rahmen eines öffentlichen Redeactus — abgeschlossen (vgl. F. Gedike 1793: 2 3 - 2 5 ; F. L. Brunn 1802: 424 über den Unterricht von J. H. L. Meierotto). Die bis dahin unangefochtene Stellung der Rede im Curriculum der gelehrten Schulen geriet aber bald im 19. Jahrhundert ins Schwanken. An den Schulen, in denen weiterhin in den oberen Klassen Rhetorikunterricht erteilt wurde (vgl. V.l), war die förmliche Rede selbstverständlich ein ausgezeichneter Gegenstand des Unterrichtes: „ein nach den Regeln der Kunst ausgearbeiteter, in Einem fortgehender Aufsatz, welcher zum mündlichen Vortrage bestimmt ist" (C.W. Snell 1788/1818: 295). Wo der Rhetorikunterricht aus dem Lehrplan der Schulen verschwand, wurde die Rede in einen schriftlichen und einen mündlichen Teil aufgespalten. Für den mündlichen Vortrag wurden oft eigene Deklamationsübungen eingerichtet. So sah der Lehrplan des Mindener Gymnasiums folgenden Stufengang vor: „1. Sexta und Quinta: 'Klares, ruhiges Lesen prosaischer und poetischer Stücke, die vollständig erklärt, dann memorirt, und von der ganzen Classe zusammen gelernt werden.' Lernziel: 'Klarheit und Deutlichkeit des Lesens'. 2. Quarta und Tertia. Der Lehrer sieht stärker 'auf den Ausdruck, auf den höheren Rede-Accent, und zuletzt beim freien Vortrage, auf die Berichtigung der Gestikulation'. 3. Sekunda und Prima. 'Der Vortrag wird eigentliche Deklamation'. Der Schüler wählt das zu deklamierende Stück selbst aus. Die Übungen gehen in Prima in die freie, augenblicklich extemporirte Rede über, wobei der Schüler nicht blos (!) den äußern Vortrag, sondern auch schnelles Erfinden und Ordnen der Begriffe üben kann" (nach G. Jäger 1977: 10, dort auch weitere Hinweise zu der öffentlichen Vortragskunst, der Wissenschaft der Deklamatorik und zu der Deklamatorik an den Schulen). Den Stilübungen blieben die schriftliche Ausarbeitungen von Reden vorbehalten. Damit aber wird der Charakter der Rede verändert. Reden sind nicht länger mehr Aufsätze, „welche zum mündlichen Vortrage bestimmt" (s. oben)
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sind, sondern lediglich „nach den Regeln der Kunst ausgearbeitete, in Einem fortgehende Aufsätze", mehr nicht. Die Rede ist zu einer Aufsatzform geworden, und diese Aufsatzform war — vor allem in der Prima und dann natürlich auch im schriftlichen Teil des Abiturs — zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts äußerst beliebt. Eine Rede, die eigentlich keine Rede, sondern ein Aufsatz ist, hat auf die Dauer nicht überzeugen können. In den vierziger Jahren wurden die ersten Bedenken laut. F. J . Günther stellte die etwas spöttische Frage, „ob die Schüler wohl für die Gegenstände ihrer Reden die echte Begeisterung haben können, und dann, wenn wir das verneinen müssen, womit man aushelfe und wohin diese künstlichen Mittel abermahls führen müssen" (1841: 58). Grundsätzlicher waren die Bedenken von R. H. Hiecke (1842: 270 f.). Die Beredsamkeit sei eher eine Tugend, als eine Fertigkeit. Denn es komme auf den „Ausdruck eines tiefen Gefühles" an, und dieses setze eine sittlich reife Persönlichkeit voraus: „ein sittlich wohlgeordnetes, zu uneigennütziger und verständiger Theilnahme an hohen Zwecken gebildetes Inneres". Überdies seien solche Stilübungen höchst überflüssig. Denn, käme der Schüler später einmal in die Lage, eine Rede halten zu müssen, dann würden sich schon von selbst die rechten Worten einstellen" (ebd.). Eine Rede als ein ausschließlich schriftlicher Aufsatz oder ein Aufsatz in Form einer Rede, dieser Widerspruch verlangte eine Auflösung. Man fand sie, indem man aus der Form der Rede eine Aufsatzform entwickelte, die nicht mehr als eine schriftliche Angelegenheit war: die sogenannte Abhandlung. Von ihr wird noch die Rede sein. Von den genuin rhetorischen Aufsatzformen blieb schließlich nur noch die unrhetorischste übrig: der Brief . Der Brief als Aufsatzform genoß am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter den Aufsatzrhetorikern dieselbe Wertschätzung, die ihm als Form des geselligen Umganges außerhalb der Schule unter den Gebildeten entgegengebracht wurde. Darüberhinaus empfahl er sich auch aus didaktisch-methodischen Gründen. Hatte J . C . Gottsched ausschließlich pragmatische Gründe angeführt, um die Briefform im Aufsatzunterricht zu rechtfertigen: „Denn das brauchet man in allen Ständen: damit kann man sich bey abwesenden Freunden beliebet machen; ja auch großer Herren Gnade erwerben und erhalten" (1754/1756: 200), so waren die Briefe für C. F. Falkmann „unter den Aufsätzen von einer bestimmten Form bei weitem die wichtigsten für den stylistischen Unterricht" (C. F. Falkmann 1823: 493). Abgesehen von der Tatsache, daß sie „die unmittelbarste Beziehung auf das Leben haben", wecken sie „wegen ihres Individuellen" bei den Schülern „das meiste Interesse", schließen „mehr oder weniger alles Übrige in sich" (ebd.) und sind in ihrem bildenden Wert darum unübertroffen: „Keine der stylistischen Arbeiten pflegt sich so mercklich mit dem zunehmenden Alter der Schüler zu verbessern, als Briefe,
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an ihnen ist jedesmahl am schnellsten irgend ein neuer Einfluß auf dessen Bildung zu verspüren" (ebd.: 544). Auch unter den Lehrern scheinen die Briefaufsätze beliebt gewesen zu sein, so sehr, daß sich, wie C. F. Falkmann feststellte, „die Stilübungen auf manchen Schulen hauptsächlich in Briefschreiben erschöpfen" (1830/1849: 339).
Erzählende und beschreibende Aufsatzformen Erzählung und Beschreibung haben immer schon zu den wichtigsten Aufsatzformen gehört, auch heute ist es nicht anders. Schon unter den rhetorischen Vorübungen der Spätantike waren sie zu finden. Im 18. und 19. Jahrhundert zählten sie neben der Abhandlung zu den drei Hauptformen des deutschen Aufsatzes. Der eigentliche Aufsatzunterricht nahm entweder mit der Beschreibung oder mit der Erzählung seinen Anfang. Im Anfangsunterricht waren Erzählungen meist nicht mehr als Nacherzählungen von Gehörtem oder Gelesenem. Die Darstellung einer Begebenheit, deren Zeuge der Schüler geworden war, kam zuweilen hinzu. Im Unterschied zu heute waren Erzählungen aber nicht auf den Anfangsunterricht beschränkt. In allen Klassen, auch in den oberen, wurden Erzählungen angefertigt. Selbst unter den Abiturarbeiten findet man sie (s. oben). Bemerkenswert dürfte sein, daß das ganze 19. Jahrhundert hindurch noch nicht zwischen Erzählungen und Berichten unterschieden wurde. Zwar gab es Versuche, die Kategorie der Erzählung zu unterteilen. So führte beispielsweise C. F. Falkmann drei „Unterarten" an: die Lehrerzählung, die Geschäftserzählung und die „Schönerzählung" (1823: 485 ff., 532 ff., 588 ff.). Die Lehrerzählung dient, wie der Name schon sagt, der Belehrung, die Geschäftserzählung dem Austausch derer, die Geschäfte untereinander abzuwickeln haben, also von Geschäftspartnern und Behörden; die Schönerzählung schließlich hat zum Zweck die Unterhaltung. Die Unterscheidung ist später verschiedentlich wieder aufgenommen worden, durchgesetzt aber hat sie sich nicht. Die Geschäftserzählung entspricht am ehesten dem, was wir heute Bericht nennen würden. Solche Berichte wurden damals gewöhnlich unter den Geschäftsaufsätzen aufgeführt (z.B. T. Heinsius 1808: 295ff.), d . h . zwischen ihnen und den Erzählungen bestand noch kein begrifflicher Zusammenhang, der die Grundlage für eine Entgegensetzung (Opposition) der beiden Kategorien hätte bilden können. Die Schönerzählung war bald dem Spott kritischer Aufsatzdidaktiker ausgesetzt: „Das ist doch geradezu nichts Anderes, als sie auf die Leetüre von Romanen des gewöhnlichen Schlages hinzuweisen. Denn mit dem Studium von einem oder ein paar vorangeschickten Musterbildern ist es nicht getan; ein natürlich richtiger Tact wird dem Schüler sagen, daß er, um etwas Eigenes
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dieser Art zu produciren, mehrfache Productionen solcher Art gelesen haben müsse, — und der Romanleser ist fertig, und — der Sentimentalität, dem Grundzug der gewöhnlichen ( . . . ) Schönerzählungen, Thür und Thor geöffnet" (R. H. Hiecke 1842: 271 f.). Solche und ähnlich bissige Bemerkungen (vgl. auch die Kritik von F. J. Günther an den Erzählaufsätzen überhaupt 1841: 45 ff.) mögen ausgereicht haben, um die Schönerzählung aus der Liste der Aufsatzformen — zumindest für eine gewisse Zeit — zu streichen. So blieb also schließlich nur noch die sogenannte Lehrerzählung übrig. Ihre Position im Lehrplan nicht nur der Gymnasien, sondern auch der anderen Schularten ist nie angefochten worden. Anders als die Erzählung ist die Aufsatzform der Beschreibung in dem hier interessierenden Zeitraum ausdifferenziert worden. Für Gottsched war die Beschreibung „eine Sache, darinn man durch die Erwähnung der Eigenschaften einer Sache, derselben ganze Beschaffenheit dem Zuhörer, oder Leser, gleichsam lebhaft vor die Augen malet" (C. Gottsched 1754/1756: 81). Sieht man von den Beimischungen aus der Rhetorik einmal ab, so ist eine solche Bestimmung der Beschreibung auch später allgemein geteilt worden (vgl. ζ. Β. T. Heinsius 1808: 382 ff. und C. F. Falkmann 1823: 481 ff., 528 ff., 585 ff.). In den weiteren Ausführungen Gottscheds gibt es einen Ansatzpunkt für eine mögliche Differenzierung. Gottsched führte als Gegenstände, die beschrieben werden können, an: Personen, Sachen, „Oerter" und Jahreszeiten. So wäre es also durchaus möglich gewesen, zumindest Personen-, Sach- und Ortsbeschreibungen zu unterscheiden. Gottsched hat dies nicht getan. Aber später finden sich verschiedene Versuche, Beschreibungen nach ihren Gegenständen einzuteilen. So hat F. Gedike 1793 von den Beschreibungen im engeren Sinne die Natur- und Personenbeschreibungen abgetrennt und als „Schilderungen" bezeichnet (1791: 20 ff.). Mit seinen „Schilderungen von angenehmen oder schreklichen Naturszenen" ist er aber auf wenig Gegenliebe gestoßen. Der Begriff der Schilderung blieb einer anderen Unterscheidung vorbehalten. Da ihre Genese komplizierter ist, muß ich etwas ausholen (zum folgenden vgl. B. Asmuth 1978). In seiner „Critischen Dichtkunst" hatte Johann Jacob Breitinger 1740 eine Unterscheidung vorgenommen, die, rückblickend gesehen, für die Geschichte der Aufsatzformen von allergrößter Bedeutung war. Er unterschied zwischen Beschreibungen und „Schildereyen", und zwar so: „Diese poetischen Schildereyen sind von derjenigen Art der eigentlich sogenannten Beschreibungen gantz unterschieden, welche die Natur nach ihren wesentlichen Eigenschaften und bekanntesten Umständen erklären, und mehr besorget sind, den Verstand zu unterrichten (...). Weil die vornehmste Absicht dieser Art Beschreibungen ist, den Verstand zu erleuchten, muß der philosophische Verfasser derselben alle Umstände und Merckmahle einer Sache, dadurch dieselbe von andern
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unterschieden wird, sorgfaltig auf- und zusammensuchen; zumahlen ein jeder Umstand dem Begriff einen neuen Zusatz von Licht mittheilet; hingegen", und damit kommt Breitinger zum eigentlichen Kriterium für seine Unterscheidung, „muß der poetische Mahler, der durch seine Gemähide die Phantasie einnehmen, und das Gemüthe in eine angenehme Bewegung setzen will, nur die kleinsten und absonderlichsten Umstände auslesen, und mit einander verbinden, durch welche ein Ding von allen andern nur dem äusserlichen Anscheine nach unterschieden ist, und die seine Absicht, das Gemüthe auf eine gewisse Weise zu rühren, am meisten befördern helffen" (1740/1966: 47 f.). Breitinger unterscheidet also Beschreibungen und Schilderungen — ganz im Sinne der Rhetorik — nach der Wirkung, die angestrebt wird. Beschreibungen sprechen den Verstand an, Schilderungen die Phantasie. Beschreibungen wollen „unterrichten", Schilderungen „das Gemüthe in eine angenehme Bewegung setzen". Die Unterscheidung ist bei Breitinger Teil seiner poetologischen Überlegungen. Doch hat schon Breitinger die Frage aufgeworfen, ob nicht die eine oder andere Form für den Unterricht an den Schulen nützlich sein könne. Es dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert, bis seine Anregung aufgegriffen wurde. Der erste Aufsatzdidaktiker, bei dem sich die Breitingersche Unterscheidung nachweisen läßt, ist J. C. Dolz (vgl. 5.3.). Dolz spricht zwar noch nicht von „Beschreibungen" und „Schilderungen", doch unterscheidet er innerhalb der Kategorie der Beschreibung zwischen zwei verschiedenen Zwecken, die mit den Ausführungen Breitingers durchaus übereinstimmen: „Die Zwecke aber, die man bey Verfertigung einer Beschreibung voraussetzen kann, ist entweder bloße Belehrung desjenigen, für welchen man eine Beschreibung aufsetzt, oder man will auch zugleich dadurch Jemanden Unterhaltung verschaffen" (1798: 160). Drei Jahre später ist die Unterscheidung auch kategorial vollzogen. 1801 schrieb K. H. L. Pölitz (vgl. V.3): „Die Schilderung ( . . . ) ist ( . . . ) diejenige Beschreibung, welche durch eine höhere Versinnlichung des vorgehaltenen Gegenstandes denselben auschaulicher machen, seine Theile lebhafter hervorheben, und ihn dadurch dem Gefühle näher bringen soll" (1800-1801: Bd. 4, 2. Teil, 259 f.). Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die Unterscheidung dann in der Aufsatzdidaktik durchgesetzt (vgl. T. Heinsius 1808: 391; F. E. Petri 1811: 124 f.; C. F. Falkmann 1823: 482, 528, 586 ff.; J. P. Thielmann 1833: II, 229; E. L. Ritsert 1839/ 1848: 131 f.; F. J. Günther 1841: 51 ff. u. a.). Aus der traditionellen Beschreibung war durch Abspaltung eine neue Aufsatzform entstanden, die bis heute nicht aus dem Aufsatzunterricht wegzudenken ist. Das Kriterium, das zur Abspaltung geführt hatte, die Bezugnahme auf das Gefühl — zuerst das Gefühl des Lesers, später immer stärker das Gefühl des Schreibenden — hat seine Wirksamkeit erst in der zweiten Hälfte
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des 19. Jahrhunderts entfalten können, und das weit über die beschreibenden Aufsatzformen hinaus. F. Gedike hatte nicht nur „Schilderungen von angenehmen oder schrecklichen Naturscenen", sondern auch „Schilderungen allgemeiner moralischer Charaktere" (1793: 20) von den eigentlichen Beschreibungen abgetrennt, er sprach von „Charakterschilderungen". Das sind später die Charakteristiken. Sie waren nicht Gedikes Erfindung, sondern lassen sich bereits bei Johann Gotthelf Lindner 1755 nachweisen: „Karacktere oder moralische Schilderungen giebt man nur eigentlich von Personen; Und zwar besonders nach ihren sittlichen Eigenschaften und Gemüthsgaben" (1755: 173 f.; vgl. auch 1772: 131 ff.). Lindner hatte einige Gedanken von Bodmer (und wohl auch Breitinger) zur Poesie aufgegriffen und auf die Stilistik angewendet: „Bodmer hat viel von den poetischen Gemälden geschrieben, ich will die Gemälde im Stil durch Exempel nutzbar machen, und ihre Natur dadurch zugleich zu erklären suchen" (ebd.). Wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, so ist es Lindner gewesen, der die Charakteristik als Stilform begründete (vgl. ebd.: 173). Einen Bezug zum Unterricht hat dann J. J. Eschenburg 1793 vorsichtig angedeutet: „Eigentlich sind die Charaktere nur ein Theil jeder Geschichtserzählung, sie mag wahr oder erdichtet, vielbefassend, oder auf die Umstände einer einzelnen Person eingeschränkt seyn. Man kann sie aber auch als eine besondre prosaische Gattung betrachten, welche durch Schilderungen dieser Art moralischen Unterricht ertheilt, und lehrreiche Beyspiele darstellt" (1793/ 1805: 367). Bei K. H. L. Pölitz (1801: 4. Bd., 2. Teil, 261) trägt sie bereits den Namen, der ihr bis heute geblieben ist. Es gab zwei Gesichtspunkte, unter denen eine Persönlichkeit beschrieben und charakterisiert werden konnte. Im 18. Jahrhundert wurden Typen beschrieben. Gedike ging es um die „Individualisierung des Allgemeinen" (1793: 29): „Man lasse also z.B. den Charakter eines fleißigen, gesitteten bescheidenen jungen Menschen, oder umgekehrt den Charakter eines trägen, unordentlichen, eitlen, zänkischen, eigensinnigen u. s. w. entwerfen" (ebd.: 21). In diesem Sinne sind Personenbeschreibungen Exemplifizierungen typischer Charaktere. Im 19. Jahrhundert dagegen interessierte nicht mehr das Typische, sondern das Individuelle. So ist für K. H. L. Pölitz die Charakteristik „die Darstellung des Individuellen", entweder „die Darstellung einzelner Züge ihrer ganzen individuellen Denkungsart, Richtung, Kultur, Grundsätze, Maximen und Handlungsweisen", also „die Darstellung dessen, wodurch sie das werden oder geworden sind, was sie sind und werden" (1801: Bd. 4, Teil 2, 261; vgl. auch C. F. Falkmann 1823: 503). Welcher Aspekt auch immer in den Vordergrund gestellt wurde, der allgemeine oder der individuelle, in einer Hinsicht gab es damals einen Konsens: in der Beurteilung des sittlichen Wertes solcher Schreibübungen. Für F. Gedike sind sie „das beste Mittel, den moralischen Beobachtungsgeiste
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zu schärfen" (1793: 20; vgl. auch C. F. Falkmann 1823: 225 f. und das Zitat von Eschenburg oben), und noch für R. H. Hiecke „reizen" sie den Schüler zu einer „Vertiefung in Persönlichkeiten, in welchen sich die Idee der Sittlichkeit nach irgend einer bestimmten Seite hin vollständig und begeisternd verwirklicht" (1842: 268). Vereinzelt findet man eine Aufsatzform, die man „Betrachtung' genannt hat, F. J. Günther spricht etwas spöttisch von „Selbstbeleuchtungen" (1841: 55). Hier ging es darum, daß der Schüler „seine Empfindungen über eine That oder über einen Vorgang oder über eine schöne Gegend u. dergl. darzustellen hat" (ebd.). Von dem später als Journalist, Politiker und Schriftsteller bekannt gewordenen Heinrich Zschokke ist der Abituraufsatz von 1790 erhalten, der zwar den Untertitel „Eine Fantasie" trägt, aber genau der Beschreibung einer Betrachtung, wie sie F. J. Günther gegeben hat, entspricht. Thema war „Landsbergs Gegenden", also eine Landschaftsschilderung. Zschokke gibt ausschließlich seine Empfindungen bei dem Gedanken an diese Gegenden wieder: „Ihr schlaft den eisernen Schlaf, welchen die Zauberin Natur, eure göttliche Mutter, über euch hingos, Gefilde um Landsberg, mit doppelten Reizzen, doppelter Kraft in kommenden Monden, von der Hand des rosenwangigten Lenzes dahergeführt, zu erwachen. Aber nicht ich werde euch erwachen sehen; werde ihn nicht sehn den ersten rosigen Frühstrai der Sonne hinter ienen Hügeln hervorgehn; werde nicht wieder lustwandeln an deinem Gestade, murmelnde Warta, die du nachlässig deine gelben Fluten vor dich hinrollst. Werde nicht sehn das herrliche Abendrot, das letzte zitternde Leben des Sonnenstrahls über der schimmernden Welle oder an der mossigten Kuppel des einsamen Kirchenthurms. Werde mich nicht mehr freuen in der magischen Dämmerung des Abends, wo Licht und Schatten in lieblicher Verwirrung streiten, der Odem der Natur matter weht, linder der Lärmen der Stadt wird, und in angenemer Dunkelheit die dunkelrote Flamme auf dem Nachen des Schiffers lodert und sich wiederspiegelt in der gebrochenen Woge. Fern von euch, liebe, holde Gegenden, fern von euren zauberischen Schönheiten werd' ich die Tage des Frühlings vertrauern, und trübe Sehnsucht wird dem Geiste noch oft Fantasien statt des Genusses gewähren müssen" (Tschirner 1826: 34). Man versteht, was mit einer Betrachtung gemeint war, am besten, wenn man sie gegen die Schilderung, wie sie oben bestimmt wurde, abhebt. Bei der Schilderung geht es immer um beides, die beschriebene Sache und die Empfindungen des Beschreibenden. Doch „die subjektive Empfindung bei der Sache geht nur so nebenher, weil der Knabe zu der Meisterschaft nicht kommen kann, seine Subjektivität mit dem zu beschreibenden Dinge so zu verschmelzen, daß man zwischen Beiden keine Grenzen entdecken könnte" (F. J. Günther 1841: 55). Die Beschränkung fallt bei der Betrachtung weg.
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Hier geht es dann nur noch um die Darstellung der mit dem zu beschreibenden Dinge verschmolzenen Subjektivität des Schreibenden. Nicht die Sache steht im Vordergrund der Darstellung, sondern die Subjektivität des Empfindenden (im übrigen vgl. C. F. Falkmann 1823: 272, 262). Eine neue Aufsatzform: die Abhandlung Die Abhandlung als eine Form des Schulaufsatzes gibt es erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Der erste Beleg, den ich gefunden habe, findet sich bei F. Gedike: „Außerdem werden besondre Themata zu dogmatischen Abhandlungen aufgegeben" (1793: 22). „Dogmatisch" heißt hier so viel wie „belehrend", „lehrhaft", oft steht „dogmatisch" neben „didaktisch". Es ist aber nachweisbar, daß die Form der Abhandlung älter ist. Sie dürfte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sein und ist ohne Zweifel ein typisches Produkt der Aufklärungszeit. Eine Formgeschichte der Abhandlung steht noch aus, doch ist es jetzt schon möglich, die wichtigsten Etappen ihrer Genese zu rekonstruieren. (1) Die Form der Abhandlung hat sich aus der Form der Rede, wie sie in der Antike konzipiert worden war, entwickelt. Die antike Rede orientierte sich an der Gerichtsrede. Das Grundmuster sah etwa folgendermaßen aus: 1. Einleitung (exordium) 2. Erzählung (narratio), d. h. die Darstellung des strittigen Falles, oft mit der Angabe des Themas (propositio) und einer Gliederung der folgenden Teile (partitio) verbunden 3. Beweise (argumentatio, confirmatio) 4. Widerlegung der gegnerischen Beweise (refutatio) 5. Schluß (conclusio). Davon gab es natürlich die verschiedensten Abweichungen. Christian Weise und die frühen Aufklärer, F. A. Hallbauer etwa, haben das antike Muster vereinfacht, indem sie die Erzählung, die Beweise und die Widerlegungen zu einem Teil zusammenzogen und mit dem Namen „tractatio" versahen: „Tractatio begreiffet drey Stück unter sich, narrationem, confirmationem und confutationem" (F. A. Hallbauer 1725: 462; ähnlich J . G . Lindner 1755: 356). Das deutsche Wort für „tractatio" ist „Abhandlung". Die Abhandlung war also zunächst einmal nichts anderes, als der Hauptteil einer förmlichen Rede. Das wird von J . J . Eschenburg später bestätigt: „Nimmt man das Wort Abhandlung im eingeschränkten Verstände, so versteht man darunter denjenigen Theil ( . . . ) einer förmlichen Rede, der den eigentlichen Vortrag der Materie enthält, und zwischen Eingang und Beschluß in der Mitte steht" (1783/1805: 352). Noch ist die Abhandlung keine selbständige Textform, noch handelt es sich um eine Angelegenheit des mündlichen Vortrages (vgl. dazu U. Stötzer 1962: 151 ff.).
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(2) Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an wird eine Verbindung zwischen der Form der Abhandlung und dem schriftlichen Medium hergestellt, nachweisbar 1755 bei J. H. G. von Justi. Von Justi beschränkt zwar die Extension des Begriffes auf die Beweise und Widerlegungen und weicht damit etwas von der Bestimmung Hallbauers ab, doch wird der Zusammenhang von Abhandlung und der Struktur schriftlicher Texte deutlich ausgesprochen: „Die Natur und das Wesen aller schriftlichen Aufsätze giebt demnach von selbst an die Hand, daß wir erstlich die Sache, wovon zu handeln ist, deutlich und nach ihrer wahren Beschaffenheit erzehlen, vortragen und vorstellen" (das ist die narratio der antiken Rede); „sodann aber entweder unser Gesuch, oder unser Gutachten und Urtheil daraus herleiten und mit genügsamen Gründen unterstützen müssen". Von Justi faßt seine Ausführungen dann so zusammen: „Ein jeder schriftlicher Aufsatz hat demnach zween Haupttheile: nämlich 1) den Vortrag oder die Erzehlung der Sache; und 2tens die Abhandlung derselben, oder was aus und mit dieser Sache geschehen soll" (1755: 139). Eine notwendige Voraussetzung für die Konstitution einer schriftlichen Textform war damit erfüllt. (3) Der nächste Schritt in der Entwicklung war programmiert. Nachdem die Abhandlung in einen Zusammenhang mit dem schriftlichen Medium gebracht worden war, konnte sie sich von ihrem ursprünglichen Kontext lösen. Die Abhandlung wurde zu einer selbständigen Textform, und zwar zu einer genuin schriftlichen. Sie war nun nicht länger mehr lediglich ein Teil, wenn auch der Hauptteil, einer förmlichen Rede. „Unter einer Abhandlung verstehen wir", stellte J. J. Eschenburg 1783 fest, „einen zusammenhängenden prosaischen Aufsatz, worinn eine gewisse, theoretische oder praktische Materie, irgend ein wichtiger, wissenschaftlicher oder historischer Hauptsatz weiter ausgeführt, erläutert, bewiesen, vertheidigt oder widerlegt wird" (1783/1805: 352). Zwei Jahre später J. C. Adelung: „Zu dem dogmatischen, didaktischen oder Lehr-Style gehören alle diejenigen Aufsätze, worinn entweder einzelne oder mehrere allgemeine Wahrheiten vorgetragen, erkläret, bewiesen und angewandt werden. Schriften dieser Art sind entweder Lehrbücher, in welchen mehrere allgemeine Wahrheiten im Zusammehang vorgetragen werden, oder didaktische Reden und Abhandlungen, welche sich mit einzelnen allgemeinen Wahrheiten beschäftigen" (1785: II, 110). Hier wird die Abhandlung als eine selbständige Form neben der Rede aufgeführt. Nachdem die Abhandlung von der Rede abgetrennt worden war, konnten auch ihre Funktionen unterschiedlich bestimmt werden: „Eine Rede hat, im Ganzen genommen, vieles mit der Abhandlung gemein (...). Nur geht der Zweck des Redners weiter, als der Zweck des abhandelnden Schriftstellers. Dieser letztere begnügt sich mit der bloßen Darlegung und Erörterung seines Gegenstandes, und mit der Ueberführung desjenigen, der auf den Zusammenhang und die Bündigkeit seiner Beweise gehörig Acht hat. Dem Redner hingegen ist nicht bloß an dem Unterrichte des Verstandes, sondern hauptsächlich an der Bewegung
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und Lenkung des Willens gelegen; jener ist ihm nur ein Mittel, und diese sein eigentlicher Zweck, zu dessen Erreichung er daher auf Herz und Leidenschaften möglichst eindringend zu wirken sucht" ( J . J . Eschenburg 1783/ 1805: 397 f.). Die Form der Abhandlung ist sehr bald, wie das Zitat von F. Gedike (oben) zeigt, von den Schulen aufgegriffen worden und hat sich in kurzer Zeit zu einer der wichtigsten Aufsatzformen für die oberen Klassen der Gymnasien entwickelt (vgl. Κ. H. L. Pölitz 1802: 401 ff., 1827: 83 f.: L. Schaaff 1812: 25 ff.; C.F. Falkmann 1823: 489 ff., 536 ff., 550, 59 ff.; S. Η. A. Herling 1837: 275 f. u. a. m.). Sie wurde zu der Form, auf die „jede Darstellung allgemeiner, sich auf einen gewissen Gegenstand beziehenden Wahrheiten (das Sprechen über einen Gegenstand)" (C.F. Falkmann 1823: 489) angewiesen war. Man war überzeugt, daß „hier" der „Grund zu einer kräftigen und zugleich geregelten Geistesthätigkeit bei dem Zöglinge" (ebd.) gelegt werde. Wie sehr sich auch die Abhandlung als Aufsatzform von der förmlichen Rede entfernt haben mag, das ursprünglich rhetorische Muster konnte auch später nicht verleugnet werden. „Einen (...) Gedanken in seine Bestandtheile zu zerlegen, ihn zu beweisen und passende Beispiele dazu aufzusuchen", so hat auch noch 1841 F. J. Günther die Aufgabe beschrieben (67). Übrigens sind Abhandlungen nicht den Gymnasien vorbehalten geblieben. M . J . C . Dolz teilt in seinem „Hülfsbuch zur Schön- und Rechtschreibung und zum schriftlichen Gedankenvortrage" aus dem Jahre 1801 einige Entwürfe von Schülern aus den oberen Klassen von Bürgerschulen mit, die ohne Zweifel der Form einer einfachen Abhandlung entsprechen. Die Aufgabe bestand darin, einen „Entwurf zu einer Vorstellung an die Mitschüler" vorzulegen, „auf der Straße, besonders auf dem Schulwege ohne Geräusch zu gehen". Einer dieser Entwürfe lautet so: „Ein geräuschvolles Betragen auf der Straße ist I. unsittlich; weil es durch die Vernunft verboten wird; II. Es ist unanständig; weil es verständigen Menschen mißfällt. III. Es ist nachtheilig; 1) für diejenigen selbst, die sich so betragen; indem sie sich die Achtung Andrer entziehen, und leicht ihren Körper, ihre Kleider und Bücher beschädigen können. 2) Auch ist es nachtheilig für die Schule, deren Mitglieder sie sind; weil Andre leicht glauben können, daß man sich um das Betragen der Schüler außerhalb der Schule nicht bekümmere, und überhaupt wenig auf den äußern Anstand derselben sehe. 3) Endlich ist es auch nachtheilig für die Aeltern solcher Menschen. Hier schließt man ebenfalls: entweder die Aeltern sehen nicht ein, daß ein solches Betrages unartig ist, oder sie bekümmern sich doch nicht um die Aufführung ihrer Kinder" ( M . J . C . Dolz 1801: 141).
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Eine problematische Aufsatzform: die Geschäftsaufsätze Es bereitete wenig Schwierigkeiten, die Geschäftsaufsätze an den Bürgerschulen (vgl. IV.4), später auch an den Volksschulen (E. Ritsert 1839/1848: 511 ff.) einzuführen. Diese Schularten haben sich immer in starkem Maße an praktischen Bedürfnissen orientiert. Doch die Gymnasien taten sich von Anfang an schwer. L. Schaaff war der Auffassung, daß solche Übungen „von dem GymnasialLehrer füglich übergangen werden" (1812: 59) könnten. Dazu berechtigte zunächst der Gegenstand dieser Aufsätze: „Wie soll der Schüler sich eines Stoffes bemächtigen, von dem er keine Kenntniß hat; und wie will man ihm diese Kenntniß beybringen, ohne ihn in die bestehenden Verhältnisse des öffentlichen und bürgerlichen Lebens zu versetzen? Glaubt man denn wirklich, etwas für künftigen Staatsdienst Ersprießliches zu leisten, wenn man von Zeit zu Zeit Quittungen, Abschiede für Dienstboten, Trauscheine, PachtContracte, oder zur Abwechslung Mandate, Bestallungen, Bündnisse, Kriegserklärungen u. dergl. verfertigen läßt?" (ebd.). Das ergäbe sich aber auch aus der Form der Aufsätze: „auch die herkömmliche Form des Geschäfts-Styls, das Eigenthümliche desselben in Terminologie, Periodenbau und allem dem, was man zur Courtoisie zu rechnen pflegt, erfordert keineswegs, wiewohl einzelne Erfahrungen für das Gegentheil zu sprechen scheinen, frühzeitige Einübung. Ein Theil davon hat durch die Fortschritte der neueren Zeit seine verjährte Gestalt mit Recht gegen die gefalligere vertauscht, und macht eben deshalb auf Aneignung keine Ansprüche; der noch übrige Theil ( . . . ) wird gewiß nicht demjenigen Schwierigkeiten verursachen, der sich frühzeitig gewöhnt hat, mit dem Streben nach Correctheit im Ausdrucke zugleich Rücksicht auf Schicklichkeit und Würde desselben zu verbinden" (ebd.). Ob bei dieser Ablehnung der Geschäftsaufsätze schon der Standesdünkel der Gymnasiallehrer, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unverbrämt zum Ausdruck kommt, eine Rolle gespielt hat, ist schwer auszumachen. Tatsache ist, daß in fast allen Arbeiten zum schriftlichen Aufsatz und zum Aufsatzunterricht an den Schulen, auch den Gymnasien, die Geschäftsaufsätze berücksichtigt worden sind (vgl. F. Gedike 1793: 17; T. Heinsius 1808: II, 284ff.; F. E. Petri 1811: 116ff.; C. F. Falkmann 1823: 497ff. u. ä.; J. M. Hurtel 1824: 116 ff.; Κ. H. L. Pölitz 1827: 225 ff. u.a.m.). In seinem „Lehrbuch der deutschen Abfassungskunst für die obern Klassen der Schulen" rechtfertigte C. F. Falkmann solche Aufsätze gegenüber den Schülern: „Zwar hat der Jüngling meistens bloß Privatgeschäfte, und auch diese nur von geringer Bedeutung ( . . . ) ; da er aber oft schon früh in das 'Geschäftsleben' einzutreten Gelegenheit hat und in jedem Fall doch späterhin seine eigenen Geschäfte besorgen muss: so ist es wohlgethan, wenn er schon früh anfängt, sich mit Geschäften und den dabei erforderlichen Arbeiten bekannt zu machen, und
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vor allem den thörichten Wahn nicht bei sich aufkommen läßt, es seien Dies Gegenstände, eines künftigen Gelehrten unwürdig" (C. F. Falkmann 1830/ 1849: 382). So hat denn auch der erfahrene Pädagoge, der Falkmann ohne Zweifel war, schon für Tertianer, also Anfanger des Aufsatzunterrichtes, eine Reihe von Übungen vorgeschlagen, die mit dem Erfahrungskreis der Schüler in einen Zusammenhang zu bringen waren: „Verzeichniß derjenigen Sachen, welche Ν. N. mitnehmen wird auf die Schule zu Ν. N." (dabei ist zu berücksichtigen, daß damals viele Schüler Internatsschüler waren), „Verzeichniß der Ausgaben, die ich im Monat Januar dieses Jahres gehabt", „Katalog meiner sämmtlichen Bücher", „Rechenschaft von der Verwendung einer vom Oheim Ν. N. empfangenen Summe von 20. Rthlr. zum Behuf meiner Studien", „Anzeige im Wochenblatt, einen verlohrenen Geldbeutel betreffend", „Ein Miethscontract über ein Wohnzimmer und eine Schlafkammer nebst dem nöthigen Geräthe" (Geschlossen zwischen einem Schüler und dessen Hauswirthe)" usw. (C. F. Falkmann 1823: 497 f.). Es hat durchaus den Anschein, als habe man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Geschäftsaufsätzen Einlaß auch in die Gymnasien gewährt, zumindest können die Vorbehalte, die hier und da sich geäußert haben, nicht allzu groß gewesen sein.
7. Die neuhumanistische Reaktion Es hätte merkwürdig zugehen müssen, wenn sich nicht gegen die deutschen Stilübungen wie gegen den sich ausbreitenden Deutschunterricht insgesamt Widerstand geregt hätte. Von der Reaktion derer, die um den Rhetorikunterricht bangten, war schon die Rede (vgl. V.l). Doch nicht nur der Rhetorikunterricht mußte sich bedroht fühlen, auch die klassischen Fächer, das Griechische und das bis dahin dominierende Lateinische, waren unmittelar betroffen. Ihre Vertreter, die sogenannten Neuhumanisten, organisierten den Widerstand in den zwanziger und dreißiger Jahren. Zwar konnten sie nicht verhindern, daß an den Gymnasien neben den klassischen Studien nun auch noch deutsche getrieben wurden. Dafür saß der deutsche Unterricht schon zu fest im Sattel. Doch versuchte man, um größeres Unheil zu verhindern, den Deutschunterricht, wie übrigens die anderen Fächer auch, möglichst fest an das Studium der klassischen Schriftsteller zu binden. F. Paulsen hat die Idee des neuhumanistischen Unterrichts so charakterisiert: „Der ganze Unterricht bewegt sich um die klassischen Schriftsteller als Mittelpunkt; Deutsch, Geschichte, Philosophie schließen sich aufs engste an die klassische Lektüre; selbst Religion und Mathematik streben danach. Was sich nicht fügt, wird von dem obligatorischen Schulbetrieb ausgeschlossen" (1921: II, 430). Was für den ganzen Unterricht galt, hatte natürlich auch für die deutschen Stilübungen zu gelten.
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Friedrich Thiersch Friedrich Thiersch (1784 — 1860), Lehrer, Professor und Reformator des bayrischen Schulwesens (vgl. Hans Loewe 1925), vertrat als erster in seinem bekannten Werk „Ueber gelehrte Schulen" (1826 — 1829) den neuhumanistischen Standpunkt. Was die neuhumanistische Argumentation auszeichnet, ist die Tatsache, daß glattweg bestritten wurde (und bestritten werden mußte), daß Schüler überhaupt in der Lage seien, ihre Gedanken schriftlich auszudrücken. Daß ein Schüler erst die Fähigkeit erwerben muß, einen Aufsatz stilgerecht auszuführen, war allgemein akzeptiert. Die Geister schieden sich jedoch an der Frage, ob er schon über Gedanken und Einsichten verfügt, über die zu schreiben sich lohne. Thiersch's Auffassung ist in diesem Punkt klar und eindeutig: „Einen Aufsatz aus eigenen Gedanken und Mitteln schöpfen, sezt einen Vorrath eigener Gedanken und Mittel voraus, wie sie nach langer Uebung erst in dem gereiften Geist sich als die Frucht am Baume der wissenschaftlichen Bildung ansetzen, und der von aller Einsicht in den jugendlichen Geist, sein Kennen und Vermögen verlassene Wahn pädagogischer Thoren, welcher dergleichen von dem kaum erwachten (...) Jünglinge begehrt, will mit ungeschickter Hand die Früchte brechen, wo erst die Keime derselben aus der Blüthe hervordringen" (ebd.: 363). Eigene Gedanken von Schülern zu fordern, ist nach Auffassung Thierschs nicht nur nicht möglich, sondern darüberhinaus auch schädlich. Thiersch appelliert an die eigene Erfahrung der Leser: „Ein jeder unter uns, dem so etwas in der Jugend angesonnen wurde, kann und wird sich der Noth erinnern, in die er dadurch gerathen ist, die Leere, die er oft zu seinem Entsetzen in sich selbst zu fühlen glaubte; wenn ihm zugemuthet wurde, zu geben von dem, was er nicht hatte, zu bilden ohne Stoff, zu beweisen ohne Mittel, oder zu lehren, zu ermahnen, ohne der Lehren und der Ermahnungen mächtig zu seyn" (ebd.), und, um das düstere Bild noch schwärzer zu malen, fügt er hinzu: „Mehrere talentvolle Jünglinge, die sich später als Männer in den Wissenschaften ausgezeichnet und Ruhm erworben haben, sind dadurch in jenen Jahren mit Kleinmuth, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit erfüllt worden, weil sie, den Mißbrauch nicht kennend, welcher mit ihrer Jugend und Unerfahrenheit getrieben wurde, der Ueberzeugung waren, daß sie zu aller selbständigen Thätigkeit unfähig, und zu einer trostlosen Nichtigkeit im Gebiete der ganzen Bildung verdammt seyen" (ebd.: 363 f.). Aus solchen Vorüberlegungen zog Thiersch zwei Schlüsse. Erstens: „daß nämlich der Styl auf der Grundlage richtigen Denkens und genauen Wissens gegründet, durch ein ernsthaftes und mannhaftes Studium edler und zumeist antiker Muster am sichersten ausgebildet wird" (ebd.: 348). „Der mannhafteste, an gesunden Gedanken reichste, in seiner Form geübteste und strengste
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der großen Schriftsteller wird zu solcher Uebung der geschickteste seyn. Ist er außerdem noch einer aus dem classischen Alterthum, so bringt er zu jenen Vorzügen noch die Großartigkeit, Sicherheit und Harmonie der alten Fügung und Gliederung der Rede hinzu, welche so sehr geeignet ist die Mannhaftigkeit des Geistes zu stärken" (ebd.: 343). Das ist das neuhumanistische Programm für die deutschen Stilübungen. Zweitens: daß „die Schule sammt der Jugend vor der fruchtlosen Plage der sogenannten freien oder eigenen deutschen Aufsätze bewahrt bleiben" müsse, „die hier unter dem Namen Lucubrationen, dort von Chrien als ein wüstes Stück veralteter Lehrweisheit zurückgeblieben, und durch die Afterlehren neumodischer Schulkünstler unter andern Namen und Zurichtungen in vielen Anstalten recht wider zu Ehren gekommen sind" (ebd.: 362 f.). Friedrich Joachim Günther Der brillanteste und schärfste Kritiker des modernen Aufsatzunterrichts war Friedrich Joachim Günther, „Lehrer am Königl. Pädagogium Halle" (vgl. F. J. Günther 1841). Es macht heute noch Spaß, seine geistreichen Attacken zu verfolgen. Im übrigen dürften einige von ihnen immer noch bedenkenswert sein. Günthers Ausführungen sind von einem tiefen Widerspruch durchzogen. Seine Vorstellungen vom Zweck und den Methoden des gymnasialen Unterrichtes sind erzkonservativ: „keine historisch-philologische Methode, kein so reiches mathematisches Wissen, keinen Katechisationsunterricht in der Religion, keine unmittelbare Vorbereitung zum reinen Denken: sondern bloß Elementarmethode, Einübung des Materials, Reproducirung des Gelernten, gründliches und tüchtiges Wissen der Elemente, darum Uebung des Gedächtnisses, das ist hinreichend, die Methode dazu liegt in der Sache selbst" (ebd.: 25). Die Argumente aber, die er gegen den Aufsatzunterricht ins Feld führte, finden ihresgleichen nur bei Peter Villaume und später noch bei Rudolf Hildebrand, also bei den fortschrittlichsten Geistern des 18. und 19. Jahrhunderts. Günther hat die einzelnen Aufgaben, vor die Schüler im Aufsatzunterricht gestellt wurden (und werden!), also beim Nacherzählen, beim Briefeschreiben, beim Beschreiben und Schildern usw., einer ebenso schonungslosen, wie subtilen Analyse unterzogen. Sein Facit ist niederschmetternd: Durch den Aufsatz erziehe man „zur Unwahrheit der Empfindung" (ebd.: 44), zur „sentimentalen Lüge" (ebd.: 57); „denn ich definire Sentimentalität", schreibt Günther, „als den Gemüthszustand, in welchem man sich einbildet, Empfindungen zu haben, die man nur von Anderen gelernt hat, als die unbewußte Heuchelei der Empfindung" (ebd.). Seine Argumente sind teils modernpsychologische (er geht von dem Gefühl als einem Ausdrucksvermögen des
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Menschen aus), teils moralische (verständlich, weil die Erziehung immer auch eine höchst moralische Angelegenheit ist). Das analytische Vorgehen sei am Beispiel der Schilderung erläutert. Zunächst werden die Erwartungen herausgearbeitet, die der Lehrer mit einer bestimmten Aufgabe verbindet. Bei der Schilderung „hat es der Lehrer mit der Phantasie des Knaben zu thun; denn jede Schilderung soll eine subjektive Färbung haben, soll gleichsam das Gemüth des Schreibenden zurückwerfen" (ebd.: 51). Also wird die Aufgabe in zwei Punkten expliziert: „Wie will man das anders anfangen, als indem man von dem zu beschreibenden Gegenstande diejenigen Merkmale angeben läßt, welche den einzelnen Knaben durch ihre besondere Schönheit auffallen? ( . . . ) Aber um nun eine Anleitung dazu zu geben, daß der junge Stilist auch seine Empfindung beim Anschauen des zu Beschreibenden mit einfließen läßt, muß man doch mindestens sich die Gründe angeben lassen, warum dies oder jenes gefallen hat" (ebd.: 51 f.). Dann werden die Schwierigkeiten, mit denen auf Seiten des Schülers bei der Erfüllung der Aufgabe zu rechnen ist, angeführt: „Und auch zugegeben, daß alle Lehrer — wenn es nämlich überall anginge — so viel Pietät vor dem Kindersinne hätten, jedes Individuum bei seiner Eigenthümlichkeit zu belassen und es nur anzuhalten, daß es gerade so, wie es empfindet, die Schilderung auch niederschreibe: so bemerkt man auch hier schon eines Theils die gerechte Scheu des Knaben, seine wahren Empfindungen vor seinen Mitschülern und vor seinem Lehrer bloßzulegen, die daraus entstehende Neigung, lieber etwas zu sagen, das auch dem Lehrer angenehm ist, ( . . . ) und endlich die Unfähigkeit (welche uns stets das Zeichen eines tieferen Gemüths gewesen ist), sich die gehabten Empfindungen so zum Bewußtseyn zu bringen, daß man sie aussprechen könne; andern Theils dieselbe und eine noch gesteigerte Schwierigkeit, dem dunklen und verworrenen Phantasiegebilde durch das Niederschreiben Leben und Ausdruck zu geben, die Erkältung des ganzen Gemüths, wenn abermals einige Stücke von dem mühselig heraufbeschworenen Ganzen losgerissen und dargestellt werden sollen" (ebd.: 52). Um dem Schüler die Arbeit zu erleichtern, gibt es für den Lehrer ein probates Mittel: „die Musterstücke großer Meister in der schildernden Darstellung" (ebd.). „Die meisten Lehrer thun das und müssen es auch, wollen sie bei ihrer Unterrichtsmethode konsequent seyn" (ebd.), obwohl ein solches Vorgehen äußerst problematisch ist. „Nicht einmal wir Erwachsenen und Gebildeten dürfen uns dergleichen zum Muster nehmen, weil wir gar zu leicht, wegen des unwiderstehlichen Reizes, den sie auf uns ausüben, zu der Meinung kommen könnten, als stellte sich uns die Sache eben so dar, während doch ganz bestimmte Umstände der mannichfaltigsten Art, dann die weit über uns schwebende Größe solcher Geister, und dazu die ganz andere
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wunderbare Tiefe ihres Gemüths, die Bedingungen dieser oder jener Form und Anschauung sind" (ebd.: 53). „Was geschieht aber bei dem Knaben?" fragt Günther. Das Ergebnis kann nicht anders ausfallen: „Er bemühet sich, seine Sache ebenso zu machen, er prägt sich die prägnantesten Bilder, die schlagendsten Beiwörter, die angenehmsten Wendungen, die frappantesten Gruppirungen ein und sucht nachahmend dieselben in seinem Stücke anzubringen. Unbewußt empfindet er anders, als es wahr ist, oder vielmehr er empfindet anfangs gar nicht, sondern strengt sich bloß an, untermischte Empfindungen auszusprechen, mit ihnen seine magere Sachbeschreibung hier und da aufzustutzen und zu verbrämen, um wenigstens dann und wann auf dem Rande ein Gut! oder Bravo! zu erhäschen und dadurch für den ganzen Aufsatz ein billiges oder lobendes Urtheil zu erwerben" (ebd.: 53). Daß Günthers Analyse keineswegs unrealistisch ist, zeigt ein Beispiel aus dem Aufsatzunterricht von C. F. Falkmann, ein Aufsatz, den der später bekannt gewordene Christian Dietrich Grabbe in Quarta oder Tertia, 1812 — „spätestens 1813" — geschrieben hat (vgl. A. Bergmann 1926). Falkmann hatte die Schüler ein vermutlich selbst verfaßtes Stück abschreiben lassen. Thema: „Ein Sonnenaufgang", eine Schilderung ganz im Geschmack der Zeit: „Noch ruheten Himmel und Erden im schweigenden Dunkel und nur von Osten her dämmerte ein leiser Schimmer am Horizont empor. Aber der Schimmer wuchs von Minute zu Minute; das Licht der Sterne wurde bleicher; die Sichel des Mondes blinkte in matterm Licht und die Gegenstände auf der Erde begannen mit schärferen Umrissen hervorzutreten. Das leise Wehen der Nacht verstärkte sich zum melodischen Rauschen, und frische Kühle durchschauerte die Glieder des Wanderers". Und so geht es weiter. Die Aufgabe der Schüler bestand einmal in der Abschrift des vorgegebenen Stückes, dann aber vor allem darin, nach dem Muster der Schilderung des Sonnenaufganges „einen Sonnen-Untergang" zu beschreiben oder — wie es im Thema heißt — die „Parodie eines gegebenen Styl-Stückes" anzufertigen. Eine Parodie war damals nicht unbedingt eine Nachahmung mit komischem Effekt (so schon K. F. L. Pölitz 1802: IV, 1, 353), sondern konnte einfach jedes „Gegenstück" bezeichnen. Falkmann erwähnte diese Aufsatzform verschiedentlich in seiner Methodik, rechnete die „Gegenstücke (Pendants)" (C. F. Falkmann 1823: 337) zu den „bezugnehmenden Aufsätzen", „welche rücksichtlich ihres Inhalts und ihrer Form in wesentlicher Verbindung mit einer anderen Schrift stehen" (ebd.), und hob ihren Nutzen für die Meditation hervor: „Dieses Verfahren leidet mannichfache Modification, kann daher mehr oder weniger erleichternd seyn, und liefert zugleich die Disposition und den Styl des zu Schreibenden" (ebd.: 357). In einer früheren Fassung seiner Methodik aus dem Jahre 1818 äußerte er sich etwas ausführlicher über die „Wichtigkeit des Gebrauchs der Muster bei den Stylübungen":
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„Meistentheils aber sey der Ton, die Sprache, die Art der Darstellung das Nachahmende. Es versteht sich hiebei von selbst, daß der Gegenstand nicht immer gerade der nämliche, sondern nur ein, in einer bestimmten Beziehung ähnlicher seyn muß" (zit. nach A. Bergmann 1926). Als Beispiel führte Falkmann unseren Fall an: „So würden wir ζ. B. der Schilderung eines Sonnenaufgangs vom Schüler die Schilderung eines Sonnenuntergangs an die Seite setzen lassen; so daß er also ein Gegenstück lieferte" (ebd.). Grabbes Arbeit sei hier vollständig wiedergegeben, da es das einzige mir bekannte Zeugnis eines Schulaufsatzes aus der früheren Zeit ist, das nicht aus einer der oberen Klassen stammt. Die Parodie „Ein Sonnen-Untergang" Noch erhallte hallendes Getümmel von der lichten Erde zum Himmel; allein den Ost-Himmel bezog allmählig ein düsteres Dunkel. Aber es wuchs von Sekunde zu Sekunde; bleicher wurden die Strahlen der Sonne, und der gerundete Mond stieg mit vergrößertem Licht und ein dunkler, zarter Schleier umhüllte Himmel und Erde. Das wilde Getümmel des Tages verlohr sich in ein sanftes Rauschen und den ruhigen Beobachter befaßte (sie) milde Kühle. Stiller und ruhiger wurde es auf der Flur und im Walde, in den abgemähten Saatfeldern und in dem Laube und die Drossel, der Dompfaf und die Schwalbe schwiegen, verstummend in düsteren Gesängen. Der dunklichte Schimmer umgab jetzt den ganzen Himmel, nur im Westen sank noch die Sonne in milchigten Strahlen. Es verhallten jetzt die Töne der Vögel, nur die Eule stimmte ihr krächzendes Nachtlied an, das Schnauben der Rosse verstummte in der Nähe, das Läuten der Heerden, das Krachen der Wagen verschallte. Die Wälder, die Fluren und Dörfer lagen dunkel da, nur ein röthlichter Schimmer noch umfloß die Spitzen der Berge und Thürme. Da sinkt im Osten die Scheibe der Sonne, wie ein heller Strahlenkranz. Freundlich leuchtend, mild und ein sanftes Licht ausgießend hinter jener waldumkränzten Ebene. Ein düsteres Dunkel beschattet Himmel und Erde, die Sterne und die Scheibe des Mondes blinken hell auf dem dunklen Grunde, und Blätter, Halme und Aeste sind mit den müden Thieren beladen". Falkmanns Urteil dazu: „Die Abschrift des ersten Stücks ist zu incorrect, die Parodie noch nicht gelungen". Das Urteil ist gewiß zutreffend. Der kleine Grabbe klammert sich ängstlich an die Vorlage, merkt nicht, daß die Sonne zwar im Osten auf-, doch im Westen untergeht, und daß der eine oder andere Ausdruck unangemessen, zumindest aber recht ungewöhnlich ist. Günther hat den Schaden, den solche Aufsätze anrichten können, schonungslos aufgedeckt: „aber nach gerade, wenn solche Mittel geholfen haben, wird er dreister, er spricht kecker eine gar nie gehabte Empfindung aus, er lernt Künste, dieselbe Empfindung durch die ganze Arbeit ziehen zu lassen,
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er spielt unbewußt mit dem Lehrer Komödie ( . . . ) . Endlich — denn es ist ja ein geheimer Zug unserer Natur, daß wir uns dem, womit wir tagtäglich zu thun haben, mehr und mehr verähnlichen ( . . . ) — endlich werden dem Knaben die auf jene Weise angelernten Empfindungen so geläufig, daß er sie selbst zu haben meint, daß er sie so ordentlich für die seinigen ausgibt, daß er, sobald nur irgend etwas Anderes sich in seiner Seele regen will, durch die Erinnerung an jenes gleichsam gesetzgebende Vorempfinden großer Geister das Eigenthümliche seiner Natur unterdrückt und nachgerade mitziehen lernt an dem großen Sklavenseile, das unsere ganze Generation schon so lange über dem Nacken gehabt hat" (F. J . Günther 1841: 53).
VI. Entrhetorisierung des Aufsatzunterrichtes und die Subjektivität der Aufsätze (1850 — 1918) 1. Die Ablösung von alten Traditionen „Das Gymnasium des Vormärz (1815 — 1848) war mehrheitlich eine Schule des gehobenen und unteren Bürgerstandes" (P. Lundgreen 1980: I, 83). Das geht aus statistischen Erhebungen hervor. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlen entsprechende Untersuchungen, so daß man auf Vermutungen angewiesen ist: „Vielfach wird angenommen, daß sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft in dieser Zeit zuungunsten mittlerer und unterer Schichten verändert habe (...). Wir wissen es jedoch nicht." (ebd.: 86).
In diesem Zusammenhang dürfte eine aufsatzdidaktische Kontroverse aus den fünfziger Jahren nicht uninteressant, zumindest illustrativ sein. 1852 hatte Rudolf von Raumer (vgl. VII.2.) auf die Frage: „Was ist die Bestimmung des Gymnasiums?" zur Antwort gegeben: „Unseren künftigen Pfarrern, Richtern und Aerzten die Anfangsgründe der höheren allgemeinen Bildung zu geben. Das ist die wirkliche Lage. Gegenüber den künftigen Theologen, Juristen und Medicinern ist die Zahl der Gymnasialschüler, die auf keine dieser praktischen Berufsarten lossteuern, ganz unerheblich" (R. v. Raumer 1852: 120). Da es sich ausnahmslos um akademische Berufe handelte, so folgerte von Raumer, habe das Gymnasium „gut vorbereitete und lernbegierige Studenten zu bilden" (ebd.). Dagegen legte Ludwig Giesebrecht 1856 in einem Aufsatz über die Geschichte „des deutschen Aufsatzes in Prima" Widerspruch ein: „Alle diese Zumuthungen muss, wenn nicht das Baierische, doch das Preußische Gymnasium entschieden ablehnen. Seine Schüler, auch in den oberen Klassen, sind keinesweges nur künftige Pfarrer, Richter und Aerzte. Sämmtliche Civilbeamte, selbst die Subalternen haben bei uns den Gang durch das Gymnasium gemacht; die Postverwaltung, die Regierungen, selbst die landräthlichen Aemter nehmen keinen Schreiber an, der nicht das Primanerzeugnis aufzuweisen hat, das Abiturientenzeugniss giebt im Heere den Anspruch auf das Porte-d'epee. Auch Nichtbeamte, Gutsbesitzer, Fabrikherren, Kaufleute, Schiffskapitäne, Gewerbetreibende von mancherlei Art finde ich in nicht
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geringer Zahl unter meinen ehemaligen Schülern. So entsenden unsere Gymnasien nicht alle ihre Schüler, nicht einmal deren Mehrzahl auf die Universitäten, können mithin auch nicht die Bestimmung haben, nur Studenten zu bilden" (L. Giesebrecht 1856: 148). Vergleicht man die Angaben mit vorliegenden Statistiken (P. Lundgreen a.a.O.: 84), so dürfte die Annahme nicht unbegründet sein, daß Giesebrecht das differenziertere Bild von der Zusammensetzung der Schülerschaft auf Gymnasien gegeben hat. Von Raumer und Giesebrecht bezogen sich auf die fünfziger Jahre. Für die achtziger Jahre ist eine Veränderung in der Zusammensetzung der Schülerschaft von Gymnasien nachweisbar. P. Lundgreen hat eine Aufstellung mitgeteilt, in der „die soziale Herkunft der Berliner Abiturienten" von 1832 bis 1911 erfaßt ist. Die wichtigsten Aussagen hat dann C. Conrad so zusammengefaßt: „Die Angaben über die soziale Herkunft der Abiturienten (...) zeigen, daß der Abiturientenanteil, der der Oberschicht, dem höheren und gehobenen Bürgertum entstammt", bis 1877 zwar „mit durchschnittlich 70,2% (...) deutlich überwiegt". Doch „nach 1882 sinkt dieser Anteil auf 59,5 %, während der Anteil des unteren Bürgertums und der Unterschicht (...) auf 40,3 % ansteigt" (C. Conrad 1986: 131). Hinter solchen Zahlen standen nicht nur neue Berufsfelder, sondern in ihnen kommt auch ein Bildungsstreben zum Ausdruck, das das Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte (vgl. C. Conrad 1986: 131 f.). Das Gymnasium erhielt neue Ziele, und diese standen in Gegensatz zu den rhetorischen Traditionen. Sie erklären, daß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Rhetorik das Interesse vollends entzogen und ihr Abbau an den Schulen zu einem vorläufigen Abschluß gebracht wurde. Die Progymnasmata, die rhetorischen Vorübungen der Alten, sind noch keineswegs in Vergessenheit geraten, spielen aber letztlich keine Rolle mehr: „die darüber handelnden Schriften der Alten scheinen mir bei unsern Pädagogen, die sich mit der Theorie und Praxis des deutschen Unterrichts auf Gymnasien befaßten, keine gerechte Würdigung und Berücksichtigung gefunden zu haben. Höchstens, daß einmal hier und da eins der Progymnasmen (...) zur Bearbeitung gestellt wird, oder sonst ein Thema entfernt an ein andres Progymnasma erinnert" (R. Volkmann 1861: 19). Vereinzelte Wiederbelebungsversuche (vgl. D. L. Döderlein 1860: 279; R. Volkmann 1861; K. Kock 1866: 10; P. Geyer 1906: 63 u.ä.) blieben ohne Wirkung. Nur über den Sinn oder Unsinn der Form der Chrie, die in der pädagogischen Diskussion seit dem 17. Jahrhundert immer schon eine hervorgehobene Position unter den Progymnasmen eingenommen hatte (vgl. Kap. 2.), wurde auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heftig gestritten. Die Vorteile dieser Form glaubte man in ihrer einfachen Handhabung zu sehen: „Man erkennt ohne Schwierigkeit aus der reichhaltigen Form dieses Schema, (...) wie zweckmäßig dasselbe erfunden sei, um der jugendlichen Kraft
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einen nicht zu schweren und doch universellen Stoff zur Explizierung und Gestaltung eines Gedankeninhalts zu geben" (M. Seyffert 1857/1872: 9). Andere Aufsatzdidaktiker lehnten die Chrie rundweg ab. „Es wäre an der Zeit", meinte R. Lehmann (1890: 332), „daß diese Mumie aus der lebendigen Welt des deutschen Unterrichts verschwindet" (vgl. auch G. Wendt 1884: 6 f.; W. Strehl 1895: 9). Selbst M. Seyffert, der ihren Nutzen für den lateinischen Unterricht nachdrücklich verteidigte, äußerte „starke Bedenken" gegen ihre Verwendung im deutschen Aufsatz (M. Seyffert 1857/1872: VII). Andere wollten sie ausschließlich als ein Mittel für die Stoffindung (Inventio) gelten lassen (Κ. A. Schmidt 1859: 343; E. Laas 1877: 223; P. Geyer 1906: 63). Wieder andere sahen in ihr eine nützliche Form für Anfänger (vgl. L. Cholevius 1868: 57; F. Linnig 1871: 144; P. Geyer 1906: 63 u. a. m.). Wie sehr auch immer die Chrienform die Praxis des Aufsatzunterrichts noch bestimmt haben mag, so kann doch nicht zweifelhaft sein, daß sie theoretisch längst ins Gerede gekommen war und zunehmend an Kredit verlor. Spätestens nach 1918 sprach kaum noch jemand von ihr. Heute kennt man nicht einmal mehr ihren Namen. Entscheidend für die Entrhetorisierung des deutschen Aufsatzes während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dürfte die Auseinandersetzung gewesen sein, die Ernst Laas in seinen Publikationen mit der Rhetorik geführt hat. Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf seine Arbeit „Der deutsche Aufsatz in den oberen Gymnasialclassen" von 1877 (vgl. aber auch E. Laas 1868: 3 1 - 3 5 ; 1872: 1 3 0 - 1 3 8 u. ö.). Zunächst einmal lehnte Laas „rundweg" und grundsätzlich „jene bedenklichen und theilweise geradezu unsittlichen Anschauungen und Veranstaltungen" ab, „die ( . . . ) fast aller antiken Rhetorik anhaften" (E. Laas 1877: 4). Was er vorzubringen hatte, war weitgehend eine Wiederaufnahme der Kritik, die Kant vorgetragen hatte und die in der Zwischenzeit immer rekapituliert wurde: „Unsere propädeutischen Elaborate sollen vor Allem der Wahrheit und den Bedürfnissen eines ehrlichen Verstandes genügen. Wir speculiren auf keine Gemüthswallungen der Leser, die wir etwa pfiffig hervorzurufen und raffinirt zu benutzen lehrten. Bei uns soll der gesunde Sinn mehr Erfolg haben, als die gewandte schnell combinirende Rabulistik. ( . . . ) Die Feder und Zunge unserer Schüler soll nur benutzt werden, um ehrlich die echten, eigenen Vorstellungen, Gefühle und Einsichten darzustellen; was sie sagen, müssen sie glauben und billigen. ( . . . ) Ihr erster und letzter Gedanke sei die Wahrheit" (ebd.: 4 f.). Das war schon nicht mehr ein Angriff auf die Rhetorik, sondern eine moralische Abfertigung, die auch in dieser Schärfe damals von vielen Zeitgenossen geteilt worden ist. Was aber könnte dann noch von der ehrwürdigen rhetorischen Tradition Bestand haben? Laas unterschied drei Ziele der rhetorischen Erziehungskunst: (1) die Fähigkeit, eine Rede unvorbereitet aus dem Stegreif zu halten, die
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sog. „extemporalis facilitas", (2) die Fähigkeit, „innerlich Vorhererwogenes ohne die Hilfe eines heiligenden ausgeführten Concepts ,frei' vorzutragen", also den vorbereiteten, mündlichen Vortrag, und (3) die Verfertigung eines Schriftstückes. Laas geht die einzelnen Punkte durch. Die „Stegreifberedsamkeit", wie herabsetzend die „extemporalis facilitas" jetzt heißt, werde „von Niemand wirklich bloss darum erwartet, weil er zu den höheren Schichten der Gesellschaft gehört" (ebd.: 5). Sie widerspreche der Allgemeinbildung und darum der letzten und höchsten Aufgabe der höheren Schulen: „dieses Auesserste ist gerade darum auch etwas, was wir in unsern Schulen, die keine Spezialschulen für Advokaten und Parlamentsredner, sondern allgemeine Bildungsanstalten sind, nicht erreichen können und auch nicht erreichen mögen" (ebd.). Aber auch die Fähigkeit, einen Vortrag frei, wenn auch vorbereitet halten zu können, sei letztlich kein Ziel des Gymnasialunterrichtes. Denn zum einen steige man „mit Erwartungen dieser Art schon ziemlich weit empor" (ebd.: 6), d. h. ein solches Ziel wäre zu anspruchsvoll, zum anderen wundere man sich zwar, wenn später ein Vertreter aus „den höheren Schichten der Gesellschaft" dazu nicht in der Lage sei: „ist aber der Beweis für die Leistungsbefähigung anderweit erbracht, so sieht man den Mangel auf dieser Seite als eine verzeihliche, ja unter Umständen als eine sogar berechtigte Eigenthümlichkeit an" (ebd.). So bleibe also schließlich nur die „logisch und stilistisch correkte Handhabung der Feder" (ebd.): „Wer auch mit der Feder in der Hand, frei von menschlich begreifbaren und mehr oder weniger verzeihlichen Aufregungen und Befangenheiten es nicht über rohe Rede hinausbringt, gilt unweigerlich und erbarmungslos als ein auch wirklich und innerlich unpolirter und für höhere Aufgaben ungeschickter Mensch" (ebd.). Facit: „Können also zur Erlangung angemessener Darstellung umfassender Gedankengruppen besondere ausdrücklich auf dieses Ziel gerichtete Unterweisungen helfen ( . . . ) und sind wir andererseits genöthigt, diese Unterweisungen auf das Wesentlichste und Instructivste zu beschränken, so wird vor Allem und an erster Stelle an den Aufsatz gedacht werden müssen; denn er ist der wichtigste und unentbehrlichste Theil der von einem Gebildeten zu fordernden allgemeinen Darlegungsformen" (ebd.: 6 f.). Der Aufsatz hat die Rede, der Aufsatzunterricht den Unterricht in der Rhetorik überflüssig gemacht. Das war zumindest die entschiedene und keine Unklarheiten zulassende Auffassung von Laas. Nicht alle Aufsatzrhetoriker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind so weit gegangen. Einig war man sich in der Auffassung, daß eine „Stegreifberedsamkeit" im Unterricht an den Gymnasien nicht mehr anzustreben sei. Doch in der Frage der freien, aber vorbereiteten Vorträge gingen die Meinungen auseinander. Die namhaftesten Aufsatztheoretiker der Zeit hielten eine
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solche Fähigkeit nicht für unbedingt erforderlich (R. H. Hiecke 1842: 270) oder lehnten sie ab (P. Klaucke 1871: 30 ff.; R. Lehmann 1890: 95; vgl. auch R. H. Hiecke 1842: 193 f.). Andere haben dagegen solche Redeübungen für nützlich erachtet, einige sogar für notwendig (vgl. P. Geyer 1906: 16). Es blieb die Frage, ob die Rhetorik, wenn schon nicht in Redeübungen, so doch wenigstens in der Form der oratorischen Prosa ein Überlebensrecht habe. Franz Linnig hat dies gemeint: „Wie die Dichtkunst ihren Höhepunkt hat in der dramatischen Poesie (...), so bildet auf dem Gebiete der Prosa den Höhepunkt sprachlicher Darstellung die oratorische Gattung" (F. Linnig 1871: 278). Ihre „Aufgabe, die Lenkung des fremden Willens, ist die höchste und schwierigste von allen und nur dadurch erreichbar, daß der ganze Reichthum von Mitteln, über welche die Sprache gebietet, zu diesem Zweck aufgeboten wird" (ebd.: 279). Linnig ist in dieser Frage aber allein geblieben. Der Ablösungsprozeß des deutschen Aufsatzes von seinen rhetorischen Ursprüngen, wie er sich in der aufsatztheoretischen Diskussion der Zeit vollzog, fand seinen Niederschlag auch in den amtlichen Bestimmungen. Dieter Breuer hat diesen Vorgang anhand der preußischen, bayerischen, sächsischen und österreichischen Lehrpläne zumindest in groben Zügen nachgezeichnet (D. Breuer 1974: 159 — 170). Preußen, wie so oft im Bildungswesen des 19. Jahrhunderts, war auch in dieser Frage Vorreiter. Nachdem die Rhetorik in den dreißiger Jahren und dann noch einmal während der sechziger Jahre eine gewisse Aufwertung erfuhr, ist gegen Ende des Jahrhunderts über ihr Schicksal an den Schulen entschieden: „In den Lehrplänen von 1892 und 1898 ist der bis dahin zumindest noch rudimentär vorhandene RhetorikUnterricht erstmals aus dem Oberstufenunterricht verdrängt und — in noch verkürzterer Form — den Lernzielen der Klasse III a (Obertertia) zugeschlagen" (D. Breuer 1974: 163). Nach der Jahrhundertwende hat man dann reinen Tisch gemacht. In den Lehrplänen von 1901 ist „der Programmwechsel verbindlich für die Praxis ( . . . ) vollzogen; hier findet bei fast wörtlicher Übernahme der Zielvorstellung ein wie immer gearteter Rhetorikunterricht keine Erwähnung mehr" (ebd.: 164). Die anderen Länder des deutschen Reiches benötigten noch einige Jahre, um diesen Schritt nachzuvollziehen. Vereinzelt hat es auch Versuche gegeben, sich von der normativen Stilistik der Aufklärung, wie sie Adelung vorbildlich formuliert hatte, zu lösen. Wieder ist es Robert Heinrich Hiecke, der als erster grundsätzliche Bedenken vorbrachte. „Auffallen wird es vielleicht," schreibt er in seinem bekannten Buch von 1842, „daß wir gar nicht der Nothwendigkeit, den Schüler in allen einzelnen Arten prosaischer Darstellung zu üben, Erwähnung gethan, da es doch gut sei, wenn derselbe genöthigt werden, sich in allen diesen verschiedenen Arten, ja auch Unterarten, recht ordentlich fest zu setzen. Dieß halten wir aber, offen herausgesagt, für nichts als für eine ächt deutsche Pedanterie,
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die wohl ein Fachwerk von Rubriken, nicht aber den lebendigen Menschen, sein Bedürfniß, seinen Drang und seine Befähigung vor Augen hat" (R. H. Hiecke 1842: 269). Das schreibende Subjekt bedürfe solcher Regeln nicht. Und im Blick auf den Unterricht an den Schulen stellte Hiecke die Frage: „Was kann wohl dabei herauskommen, wenn die vorher gegebenen Fächer der Rhetorik zu einem so durchgreifenden Bestimmungsgrunde für die Wahl der Aufgaben gemacht werden? Was anders, als Dressur, statt Entwickelung. Wie kann ein einigermaaßen lebendiger Jüngling mit Lust und Liebe nach diesen vorher fertigen Rubriken arbeiten? Und wozu ist es nöthig, daß man in möglichst vielen verschiedenen Arten schriftlicher Darstellung sich versuche, um für die Zukunft, wenn einmal die Veranlassung zu dieser oder jener kommt, gleich des Erfolgs versichert zu sein? Ja wird man dieß sein dadurch, daß man an sich das früher nach dem Leisten gefertigte Musterstükken hält?" (ebd.: 269 f.). Ganz in diesem Sinne hat sich ein Jahr später Philipp Wackernagel geäußert (Κ. Ε. P. Wackernagel 1843: 8 f.). Später hat man es an solcher Deutlichkeit fehlen lassen. Die Macht des Normativen erwies sich vor allem in Fragen des Stils als zu stark. So scheint die alte rhetorische Lehre von der Elocutio überall durch, wo vom Stil der Aufsätze die Rede ist (vgl. etwa W. Vigelius 1881: 6 — 8; A. Kutzner 1882: 13 ff. und viele andere). Eine Ausnahme bildet, wie so oft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Rudolf Hildebrand: „es gibt auch ein Denken, das jenem stummen Lesen in seinem Wesen genau entspricht, ich möchte auch kurz sagen, ein stummes Denken, und dieß galt und gilt vielfach noch auf Schulen und sonst als das Höchste, was einer an geistiger Bildung erreichen kann" (R. Hildebrand 1867/1887: 51). Er fügte hinzu: „sein Träger und Meister ist der bloße Verstand, der von den Dingen die äußeren Verhältnisse erfaßt und weiter nichts — ihr Inhalt und vollends ihr Leben ist ihm gänzlich unzugänglich. Sein Reichthum ist gedächtnißmäßiges Wissen, wolgeordnet in Fächern über und unter und neben einander, worin die Dinge niedergelegt sind in Form und Begriffen, und feine Fäden werden von einem zum andern gezogen, die das Ganze halten sollen ( . . . ) . Nur ein Mangel hängt noch der ganzen Herrlichkeit an: daß das alles (außer in Büchern) nur eben in einem Menschenkopfe niedergelegt werden kann, wo es doch mancherlei Beschädigungen und Störungen des Zufalls ausgesetzt ist" (ebd.: 51 f.). Blickt man noch einmal zurück, dann dürfte deutlich geworden sein, daß die Ablösung von den rhetorischen Traditionen, die im Aufsatzunterricht bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitet worden war, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann noch einmal in den sechziger Jahren teilweise zurückgenommen wurde, in der zweiten Hälfte zu einem Abschluß gebracht worden ist. Von da ab spielt die Rhetorik im Aufsatzunterricht keine Rolle mehr.
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2. Hiecke, Hildebrand und Laas Die Didaktik und Methodik des Aufsatzunterrichtes hat in dem Zeitraum zwischen 1850 und 1918 eine bedeutsame Rolle in den pädagogischen Auseinandersetzungen gespielt. Lehrer, Professoren, aber auch Männer aus der Verwaltung haben sich zu Worte gemeldet: Rudolf von Raumer (1852), der Sohn des preußischen Kultusministers, Karl von Raumer, Johann Heinrich Deinhardt, der bekannte Direktor des Bromberger Gymnasiums (1837, 1850, 1858, 1859), Paul Klaucke aus Landsberg (1871), Rudolf Lehmann (1890), Paul Geyer (1906), um nur einige Namen zu nennen. Hier sollen nur die drei bekanntesten Aufsatztheoretiker vorgestellt werden: Robert Heinrich Hiecke, Rudolf Hildebrand und Ernst Laas, Namen, die bis heute nicht ganz in Vergessenheit geraten sind. Robert Heinrich Hiecke (1842) R. H. Hiecke (1805 — 1861), Konrektor am Merseburger Gymnasium, später Direktor des Greifswalder Gymnasiums, war nach dem Zeugnis der Zeitgenossen „ein begnadeter" Lehrer: „Nicht der Lehrstoff war es, der ihn beim Unterrichte vorzugsweise interessierte, sondern die Knaben und Jünglinge, denen er denselben darreichte" (H. Fischer 1862: 7). Politisch ist er dem liberalen Lager zuzurechnen: „Das Jahr 1848 konnte ihn nicht unberührt lassen, und wie in allen Dingen, die sein Interesse erregten, war ihm auch der politischen Bewegung gegenüber ein bloss passives Verhalten unmöglich" (ebd.: 4). Die Tatsache, daß „er den Schülern eine in der Paulskirche (...) gehaltene Rede vorgelesen" (ebd.: 5) hatte, führte zu einer Untersuchung des Provinzialschulcollegiums. Bekannt geworden aber ist er als Reformer des Deutschunterrichts (zu seinem Leben vgl. den Nachruf von H. Fischer 1862 und vor allem K. Abels 1986). Hiecke hatte für die Schulbehörde ein Gutachten über die Organisation des deutschen Unterrichtes an den Gymnasien auszuarbeiten. Aus dem Gutachten wurde ein ganzes Buch: „Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien" (1842). Es gibt keine theoretische Darstellung des Deutschunterrichtes, die den Aufsatzunterricht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachhaltiger geprägt hat, als diese. Der Rahmen seiner Vorstellungen ist folgender: Gipfel und Ziel nicht nur des Deutschunterrichtes, sondern der Gymnasialbildung überhaupt sind die eigenen, freien Produktionen der Schüler. Dazu zählen in erster Linie die schriftlichen, die Aufsätze: „Die eigentliche allgemeine Reife zum Abgang auf die Universität wird sich darin bekunden, daß der Schüler, — nicht etwa über Alles in der Welt schriftlich oder mündlich etwas Erträgliches und leidlich ins Gehör Fallendes schwatzen könne, sondern daß er über Fragen
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aus allen ihm bekannt gewordenen Gebieten auf der Basis der erlangten Kenntniß befriedigende eigene Arbeiten zu liefern, und eben so darüber mit einer gewissen Freiheit und mit klarem Ueberblick auch ohne vorherige Vorbereitung mündlich im Zusammenhang sich auszudrücken im Stande sei" (R. H. Hiecke 1842: 20). Es war Hiecke wichtig hervorzuheben, daß solche Produktionen nur „auf der Basis der erlangten Kenntniß" zustande kommen können. Das bedeutete eine gewisse Einschränkung ihrer Freiheit: „Production also, jedoch nicht eine ganz freie, sondern eine solche, die auf selbständiger Reproduction und einsichtiger Reflexion auf das, was die Aufmerksamkeit des Schülers auf sich hat ziehen müssen, beruht" (ebd.: 21). Materielle Grundlage solcher Produktionen konnten sein: einmal „die aufmerksame und sinnige Betrachtung dessen, was außer uns und in uns vorgeht" (ebd.: 251), dann der gesamte Stoff, der im Unterricht — nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in den anderen Fächern — verhandelt wird, schließlich und in besonderem Maße der Stoff, den sich der Schüler in den Lektüre- und Interpretationsstunden angeeignet hat. Hiecke mochte zwar die beiden ersten Quellen nicht ausschließen, sie hatten nach wie vor eine gewisse, wenn auch nicht erhebliche Bedeutung für den Aufsatzunterricht. Doch gingen seine Vorstellungen in eine andere Richtung. Wie der Unterricht im Deutschen insgesamt aus der Lektüre „hervorwachsen" (84) soll, so im besonderen auch der Aufsatzunterricht: „Arbeiten über das Gelesene (sind) zwar nicht die einzig zulässigen (...), wohl aber die fruchtbarste und kräftigste Anregung zu immer freieren und durch Gehalt wie durch Wärme und Lebendigkeit ansprechende Darstellungen, mündlichen wie schriftlichen" (ebd.: 86). Die Produktionen sind das Ziel allen Unterrichtens, die Grundlage jedoch ist die Lektüre deutscher Schriftsteller: „Leetüre ( . . . ) als Basis und Ausgangspunkt, Production als Ziel und Gipfelpunkt für den gesammten deutschen Unterricht" (195). Hiecke hat mit seinem Vorschlag, die Lektüre zur Grundlage auch des Aufsatzunterrichtes zu machen, der Entwicklung zumindest der gymnasialen Aufsatzdidaktik (zu einer parallelen Entwicklung vgl. Kap. VII) eine neue Richtung gewiesen. Wie sehr diese aufgenommen wurde, mag eine Äußerung zeigen, die von einem der besten Kenner der Geschichte des deutschen Aufsatzes stammt: „Die Mahnungen einer aus so voller Überzeugung herausgeschriebenen Schrift ( . . . ) konnten nicht wirkungslos verhallen. Gab es eine vernünftigere Forderung als die, daß die Beschäftigung mit unseren Klassikern nicht bloß dem freien Willen und gelegentlichen Trieb des Einzelnen anheimgestellt werden sollte, sondern daß die Schule selbst diese Lektüre als ein notwendiges Stück der Bildung in die Hand nehmen und in methodischer Weise pflegen solle? In der That ist seitdem allenthalben die Lektüre einer der wichtigsten Bestandteile des deutschen Unterrichts und einer der lohnendsten Felder für den deutschen Aufsatz geworden" (O. Apelt 1883: 27).
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Rudolf Hildebrand (1867) Rudolf Hildebrand (1824—1894), Lehrer an der berühmten Thomasschule zu Leipzig, Mitarbeiter, später Mitherausgeber am Grimmschen Wörterbuch, Verfasser zahlreicher Schriften zur deutschen Philologie, ein Lehrer, der zu den bekanntesten Gelehrten des ausgehenden 19. Jahrhunderts zählt, ein Gelehrter, der auch durch seine pädagogischen Ansichten Ansehen bis in unsere Zeit gewonnen hat. Wenn unter denen, die sich im 19. Jahrhundert zu Fragen des Aufsatzunterrichtes geäußert haben, heute überhaupt noch einer Erwähnung findet, dann ist es Rudolf Hildebrand. Hildebrand hat zweimal zum Aufsatzunterricht Stellung genommen, einmal in seiner berühmten Schrift „Vom deutschen Sprachunterricht" (1867), dann noch einmal in einem kurzen Zeitschriftenartikel: „Die Stilübung als Kunstarbeit" (1885). Insgesamt nicht viel: nur ein paar gedruckte Seiten! Doch die Wirkung war ungeheuer. Dreh- und Angelpunkt seiner aufsatztheoretischen Überlegungen ist der Stilbegriff. Stil ist für Hildebrand nicht nur der sprachliche Ausdruck von Gedanken, sondern des ganzen „inneren" oder des ganzen „geistigen Lebens" eines Menschen (R. Hildebrand 1885/1890: 131). „Denn wie bei aller Kunst, sind auch hier gegeben Stoff und Form, die sich zu einem dritten, in dem beide aufgehen, einigen sollen zu einem Lebendigen (ich wüßte es nicht besser zu bezeichnen), in dem der Geist in die Erscheinung aus unserem Innen in unser Außen hinaustritt" (ebd.: 128). Das ist durchaus dialektisch gedacht und könnte so auch von Hegel gesagt worden sein. „Es ist, genau zugesehen, eigentlich durchaus kein Unterschied zwischen der Aufgabe eines Künstlers und dessen, der die Sprache handhabt. Auch dieser muß einen Gedanken- und Empfindungsstoff, der erst als formloser Stoff in ihm liegt und sich regt, zunächst im Geiste so ausgestalten, daß er mit allem Zubehör sich zu einer lebendigen Einheit formt, und muß mit den Mitteln der Sprache diese Einheit dann aus sich heraussetzen, so, daß jeder Andre an dieser äußern Erscheinung das Innere, das ihr das Leben gab, wieder erkenne und in sich ebenso nachbilden kann in gleicher Gestaltung, daß also Geist zu Geiste spreche durch die Vermittlung eines außen für sich erscheinenden Lebendigen. Und so im Großen wie im Kleinen, von der Schöpfung des Dichters oder Redners bis zur geringsten Äußerung, die im Alltagsleben zwischen Sprechenden ihr Inneres vermittelt, wie groß oder klein an Gehalt es sei" (ebd.). Damit nicht genug! Hildebrand radikalisierte den Stilbegriff, indem er radikale Konsequenzen zog. Wenn der Stil der Ausdruck des geistigen Lebens eines Menschen ist, dann sei er auch der persönliche Ausdruck eines Individuums: „Eigener Stil — soll denn jeder einzelne Schüler einen Stil für sich haben? also 500 verschiedene Stile, wenn in einer Schule 500 Schüler wären? und wie viele weiter, wenn man dann in ganz Deutschland hinaus und herum denkt?
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Erschreckender Gedanke für den Lehrer, dem für den Stil noch ein Ideal vorschwebt!" (R. Hildebrand 1867/1887: 55). Hildebrand bejahte den Gedanken und mußte ihn auch von seinen Voraussetzungen her bejahen: „Ja es ist aber doch so (...), es ist wie mit den Handschriften: in der Schreibstunde in der Elementarklasse wird allen Schülern und Schülerinnen ein und dieselbe Handschrift als Muster vorgelegt, die sie nachzumalen sich treulich bemühen, und in den obersten Klassen, nachher hat doch jeder Schüler und jede Schülerin eine andere, seine, ihre eigene Handschrift, ja das Männliche und Weibliche ist darin ziemlich sicher zu unterscheiden. Wer will das unrecht finden, anders haben und dagegen ankämpfen?" (ebd.). „Le style c'est l'homme meme" (Buffon). Hildebrand würde dem wohl zugestimmt haben. Der Stilbegriff Hildebrands hatte Konsequenzen für seine Vorstellungen vom Stil- und Aufsatzunterricht. Der Stil ist Ausdruck eines Inneren, der Aufsatz beides: Außen und Innen, Ausdruck und Ausgedrücktes, Stoff und Form. Also sind im Aufsatzunterricht beide Seiten zu berücksichtigen: der sprachliche Ausdruck (Stil im engeren Sinne) und der Stoff, der „eigene Inhalt der Schülerseele" (ebd.). Bemerkenswert sind schon die Vorstellungen Hildebrands von der sprachlichen Form der Aufsätze. Wenn der Stil letztlich der Ausdruck eines Individuums ist, dann kann es auch kein Stilideal geben. Jeder Inhalt muß dann seine eigene, ihm gemäße Form finden. So rückt Hildebrand dem „akademischen Stil", wie er auf den Gymnasien gelehrt wurde, zu Leibe, den „langathmigen oder vielmehr atemlosen Perioden" (ebd.: 57). Bemerkenswerter noch sind seine Bemerkungen zu Stoff und Themen von Aufsätzen. In dieser Frage steht Hildebrand quer zur gesamten Aufsatztradition. Die moralisierenden, philosophierenden, aber auch die Themen werden abgelehnt, in denen auf den übrigen Unterricht Bezug genommen wird, also auch die literarischen. Die einen, weil man mit ihnen nur „Moral einpflanzen" wollte, die anderen, weil sie den Schüler verleiten, „angepflogene und aufgeschnappte allgemeine Gedanken aneinander zu reihen", die dritten schließlich, weil der Aufsatz durch sie „zu einer Gedächtnisprobe" erniedrigt werde (vgl. ebd.: 54). In keinem dieser Fälle komme der eigene Gedanke des Schülers zum Ausdruck. Was not täte, wäre, „erst den eigenen Inhalt der Schülerseele herauszulocken und daran die Form zu bilden" (ebd.: 55), d. h. einmal, „daß der Schüler sein Selbsterlebtes, Selbsterfahrenes (und das ist ja bei jedem anders bei aller durchgehenden Ähnlichkeit) richtig und gründlich verarbeiten und für die höheren Zwecke alles Lebens verwerthen lerne" (R. Hildebrand 1897: 22), und dann, bezogen auf den Unterricht, „die stillen Gefühle und Gedanken" für die Aufsätze fruchtbar zu machen: „Die Schüler denken und fühlen aber bei allem das sie gelehrt bekommen, etwas Eigenes in sich, und in diesen stillen Gefühlen und Gedanken, die neben denen des Lehrers heimlich nebenher laufen, sitzt das Ich des Schülers, und da hinein zu greifen mit ordnender Hand, das ist die höchste Aufgabe des Lehrers" (R. Hildebrand
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1867/1887: 54 f.). Wenn es gelänge, diese Neben- und Seitengedanken aus der Schülerseele hervorzulocken, dann wäre „der Riß" geschlossen, „der jetzt klafft zwischen den Gedanken und Reden des Schülers, wie er wirklich ist, ζ. B. in der Zwischenstunde, und wie er in den Arbeiten erscheint oder erscheinen will — jener das wirkliche Gewächs seiner Verhältnisse, das eben zu bilden ist, dieser eine äußerlich aufgeklebte Schale" (ebd.). Denkt man diesen Gedanken zuende, dann muß man schließlich zu der Auffassung gelangen, daß jeder Schüleraufsatz, auch der unscheinbarste, ein kleines Kunstwerk, das Schreiben von Aufsätzen also „Kunstthätigkeit", ja „Kunstarbeit" ist (R. Hildebrand 1885/1890: 130). Hildebrand hat diesem Schluß einen ganzen Aufsatz gewidmet. Darin stellte er fest: „Ich habe in meiner langen Praxis in diesem Fache je länger je mehr die Überzeugung gewonnen, daß es, gewisse Ausnahmen zugegeben, in den Schülerarbeiten etwas absolut Falsches oder Dummes nicht gibt, und habe mir immer öfter bei einzelnen Arbeiten die Mühe gegeben, seitenlang aus dem halb verkehrt Gesagten gleichsam herauszuholen und nachzutragen oder nachzuflicken, was vom Schüler gemeint war, so weit sich das erkennen ließ, so daß eine solche Seite manchmal recht röthlich aussah, so schimmerte die rothe Tinte über der schwarzen (...). Die Arbeit war aber wesentlich Kunstarbeit, denn es galt, einen halbreifen Gedankenstoff in oder aus sich vollends so auszubilden, daß er seine abgerundete Gestalt gewann in den Ausdrücken und Wendungen, die, wenn Alles völlig gelang, nachher wie für ihn, den Gedankenstoff, gerade geschaffen erschienen" (ebd.: 134). Man kann die Ideen Hildebrands auf aufsatzdidaktische Vorstellungen beziehen, die nach ihm gedacht worden sind, und in ihm den Mann sehen, der mitten im 19. Jahrhundert Gedanken des 20. vorweggenommen hat. Das ist vielfach geschehen (vgl. vor allem die Arbeiten von E. Linde) und, wie ich meine, zurecht. Hildebrand ist ein Reformpädagoge im 19. Jahrhundert. Man kann seine Ideen aber auch auf Vorstellungen beziehen, die vor ihm gedacht worden sind. Auch dann wird seine große Bedeutung deutlich. Wenn er darauf insistiert, daß das, was nicht vom Schüler selbst gedacht, auch nachgedacht, nicht selbst erlebt, erfahren, empfunden, gefühlt oder vorgestellt worden ist, für einen Aufsatz nicht in Betracht komme, weil „es alle Selbstthätigkeit zu nichte macht und dem Schüler die Selbstachtung knickt und das Selbstvertrauen, die beiden geistigen Mächte, auf die dabei alles ankommt" (R. Hildebrand 1867/1887: 54), dann greift er, vermutlich ohne sich dessen bewußt gewesen zu sein, Gedanken auf, die die Mutigsten unter den aufgeklärten Pädagogen bereits vorgedacht, nie aber zuende gedacht hatten. Ernst Laas (1868, 1877) Laas (1837 — 1885), Lehrer am Friedrichgymnasium zu Berlin, später Professor für Philosophie in Straßburg, hat wie kein anderer in den letzten Jahrzehnten
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des 19. Jahrhunderts die aufsatzdidaktischen Auseinandersetzungen bestimmt. Was Falkmann für die erste Hälfte des Jahrhunderts war, war Laas für die zweite. Das Werk von Laas kann als Ausgangspunkt einer neuen aufsatzdidaktischen Entwicklung im 19. Jahrhundert bezeichnet werden (vgl. R. Lehmann 1890: 5 4 - 6 2 ; auch VI. 4). 1868 erschien „Der deutsche Aufsatz in der ersten Gymnasialklasse (Prima)". Das Buch wurde, wie ein Rezensent bemerkte, „ausserordentlich viel benutzt" (G. Wendt 1879: 612). Der Verfasser aber empfand, daß es nicht genügte. Ihm fehlte vor allem der Bezug zum übrigen Deutschunterricht. So machte er sich an die Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption des Deutschunterrichtes, seiner Ziele, Gegenstände und Methoden. Das Ergebnis legte er als Skizze in einer Artikelserie der „Zeitschrift für das Gymnasial-Wesen" (E. Laas 1870 — 1871) und in ausgearbeiteter Form 1872 als Buch vor: „Der deutsche Unterricht auf höheren Lehranstalten". Auf der Grundlage dieser Studien konnte er die Aufgaben des Aufsatzunterrichtes präziser festlegen. 1877 erschien sein Hauptwerk: „Der deutsche Aufsatz in den oberen Gymnasialklassen". Laas deklarierte es als „zweite umgearbeitete Auflage" seines Buches von 1868. Doch nicht nur der Titel hatte sich geändert, sondern auch sein Inhalt. Aus einem Band waren derer zwei geworden. Einige Kapitel sind neu konzipiert, andere umformuliert worden. Auch die Anlage des Buches war nicht mehr die alte. Es wäre also durchaus gerechtfertigt gewesen, von einem neuen Buch zu sprechen. Entschiedener als 1868 beschränkte Laas die Stoffe für die Aufsätze durch „die rücksichtslose principielle Abscheidung aller anders als litterarisch gearteten Stoffe" (E. Laas 1871: 582). Begründet wird eine solche Beschränkung mit der Einheitlichkeit des Faches: „Obwohl dem rhetorischen Lesebuch und dem rhetorischen Uebungsaufsatz ihrem Begriff nach die Möglichkeit offen liegt, in alle Schulgebiete überzugreifen, um Inhalt für formale Muster und formale Uebungen zu holen, so sollen sie doch um des eisernen Bandes willen, das nun einmal am deutschen Gymnasium den Rhetor mit der deutschen Litteratur verknüpft, mit Rücksicht auf die Einheit des deutschen Unterrichts in alles andere im ganzen nur so weit sich einlassen — als es der pädagogischen Verarbeitung deutscher Litteratur dienlich ist" (ebd.: 581). Nach wie vor standen Ausführungen zur Inventio, Dispositio und Elocutio im Mittelpunkt, doch die Gewichtung der Teile wurde anders vorgenommen. Der Stil der Schüler sollte gebildet werden, das stand außer Frage. Dazu reichte es aber aus, wenn der Lehrer bei der Korrektur der schriftlichen Arbeiten „dem naturwüchsigen oder schon durch den bequemen Tagesgebrauch oder die fremdsprachlichen Muster verbildeten Stil abwehrend und anleitend zur Hülfe kommt" (E. Laas 1872: 144). Natürlich sollte ein Aufsatz auch klar gegliedert sein. Dazu gab es einige allgemeine Hinweise. Doch mußte sich die Ordnung letztlich aus dem Inhalt ergeben: „Geordnet muß
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werden; aber das Princip der Ordnung kann nicht eingelernt werden; der Hauptplan ergibt sich von selbst; die Sache teilt sich von selbst, von innen heraus. Jedes von aussen herangebrachte Schema vergewaltigt sie, zerstört die Eigentümlichkeit" (E. Laas 1877: 203). Es blieb also letztlich nur noch die Inventio übrig. In der Bestimmung der Ziele des Aufsatzunterrichtes hatte Laas 1868 noch geschwankt zwischen „deutscher Erziehung" („auf daß sie einst deutsche Männer seien", E. Laas 1868: 5) und „den ersten Anfängen einer wahrhaft wissenschaftlichen Thätigkeit" (ebd.: 12). 1877 gab es keinen Zweifel mehr: „Die mit dem Aufsatz verknüpfte Arbeit erweist sich ( . . . ) nicht bloss als eine logische, sondern ganz allgemein als wissenschaftliche Propädeutik. In den Studien, und Ueberlegungen, Excerpten, Analysen und Synthesen, die er nöthig macht, liegt das direkte Vorspiel eines großen Theils der wissenschaftlichen Arbeit" (E. Laas 1877: 20; ausführlicher dazu VI. 4.). All dies, vor allem aber die Entscheidung, den deutschen Aufsatz in den Dienst einer wissenschaftlichen Propädeutik zu stellen, dürfte dazu geführt haben, daß Laas Fragen zur Inventio in den Mittelpunkt seiner aufsatztheoretischen Überlegungen stellte. Fast alles, was er zum Aufsatzunterricht zu sagen hatte, betraf die Inventio. Nach seinem Verständnis umfaßt die Inventio aber nicht nur und auch gar nicht so sehr die „Findung der Stoffe", als vielmehr oder vornehmlich „die gesamte Vorbereitung des Schülers auf die Abfassung des Aufsatzes". Die Inventio ist für Laas eine primär kognitive Auseinandersetzung des Schülers mit dem Thema, der Aufgabe, vor die er sich gestellt sieht, und den Stoffen: „Die Materialien, welche der psychische Mechanismus ( . . . ) in buntem Wirrwarr ,νοη selbst' emporzaubert, werden in der geistigen Bewegung, die wir Nachdenken, Meditation nennen, der ordnenden, organisirenden, dirigirenden Kraft eines allbeherrschenden Denkobjects und Denkproblems unterworfen" (ebd.: 57 f.). Laas wich nicht, wie viele andere Aufsatzdidaktiker und -methodiker vor und nach ihm, diesem schwierigsten Stück der Aufsatzmethodik aus, sondern konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen einen Punkt. Denn er wußte, daß, wenn man dem Schüler helfen will, einen Aufsatz zu schreiben, hier angesetzt werden mußte: „Es ist leicht zu sehen, welche Unsummen von Stockungen der vergleichsweise ungeschulte und immerhin nur dürftig ausgestattete Schülergeist bei dieser Operation zu erleiden haben wird" (ebd.: 58). So ist die Laassche Theorie des deutschen Aufsatzes in erster Linie eine Theorie der Aufsatzvorbereitung (vgl. unten VI. 4).
3. Die Subjektivität der Aufsätze (Rudolf Hildebrand) Daß jeder Mensch eine eigene Art zu schreiben: eine eigene ,Schreibart' hat und folglich jede schriftliche Äußerung nicht nur eine objektive, sondern
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mehr oder minder auch eine subjektive Seite aufweist, ist eine Einsicht, die man auch im 18. Jahrhundert nicht erst zu entdecken brauchte. „Kein Mensch ist dem andern an Gesichtszügen, Geschmack und Sitten völlig ähnlich", schrieb Lindner 1755, „und also auch nicht in der Schreibart" (J. G. Lindner 1755: 240). Die Frage war nur, ob man sich für diese Seite interessierte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts tat man es nicht. Adelung gestand dem einzelnen Menschen „seine eigene Schreibart" nur unter der Bedingung zu, daß „er sich selbst überlassen bleibt" (J. C. Adelung 1785: I, 28). Das ist natürlich eine irreale Bedingung, zumindest ist sie nicht relevant für schriftliche Aufsätze. Hallbauer hatte sich zuvor über diejenigen lustig gemacht, die einen Einfluß der Temperamente auf den Stil eines Menschen nicht für unmöglich hielten: „Man dürfte sonst nur einen zur Ader lassen, und sein Geblüt nach der Chimie untersuchen; so würde man gleich wissen können, was es mit des andern Gemüths-Neigungen vor Bewandniß habe, und zu welcher art des stili er geschickt sey" (F. A. Hallbauer 1725: 512). Die Beispiele zeigen: man wußte mit der Subjektivität des Schreibers nichts anzufangen. Das änderte sich bald.
Die Vorgeschichte Noch bevor das Jahrhundert zuende ging, trat ein Wandel in der Bewertung der Subjektivität ein. Ein Teil der neuen Stilistik berief sich auf Adelungs Stilnormen (vgl. V. 2). Von ihm war ein solcher Wandel nicht zu erwarten. Ein anderer Teil aber orientierte sich am sprachlichen Kunstwerk und somit am schreibenden Künstler. „Indem der redende oder bildende Künstler ein Werk verfertigt", schrieb Gottfried August Bürger, „so bemühet er sich, gewissen Vorstellungen, so wohl Gedanken, als Empfindungen, die er selbst hat, darzustellen und in andern Menschen zu erwecken. Er schildert also nicht bloß den Gegenstand, von welchem er gewisse Vorstellungen hat, sondern in dem Gegenstande auch sich selbst. Dieses sich selbst Schildern heißt so viel gesagt: er schildert die ihm eigenthümliche Art, die Sachen anzusehen, sie zu erkennen, sie zu begreifen, und zu empfinden" (G. A. Bürger posthum 1826: 30 f.). Zwischen dieser „eigenthümlichen Art, die Sachen anzusehen", und dem Stil eines Kunstwerkes hat Bürger eine Beziehung hergestellt: „Nun wohl gemerkt! Der besondere Anstrich, der besondere Ton, das besondere Gepräge, welches auf diese Art das Werk, entweder von dem allgemeinen festen und immer währenden Charakter des Künstlers, oder von seiner besonderen vorübergehenden Gemüthsstimmung erhalten hat, scheinet dasjenige zu seyn, was auch von der Materie oder den Gedanken eines Werkes mit dem Style gerechnet werden muß" (ebd.; vgl. auch C.W. Snell 1788/ 1818: 61 f.; K. Reinhard 1796: 18 ff.; P. Villaume 1805: 69 f.). Bürger zählte
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allerdings die subjektiven Aspekte des Kunstwerkes noch nicht zu seinen „wesentlichen" Eigenschaften. Es waren für ihn nur „zufällige" (ebd.). Karl Philipp Morit% hat das Verhältnis von wesentlichen und zufalligen Eigenschaften dann auf den Kopf gestellt. Die Subjektivität eines Kunstwerkes sei seine ihm höchst eigene und darum wesentliche Eigenschaft: „Da doch im Grunde jedes Produkt des Geistes für sich eine ganz eigene individuelle Erfindung ist, deren Individualität gerade ihren eigentlichen Werth ausmacht, und bei der Klasse, worunter man sie bringt, immer nur das Zufallige ist" (K.P. Moritz 1793: I, 4). Moritz ist damit zum Begründer einer neuen subjektiven Stilistik geworden. Der Stil eines Menschen ist dann nicht mehr unter allgemein gültige Regeln zu fassen: „So abweichend von den gewöhnlichen Begriffen dieß auch klingen mag, so giebt es doch im strengsten Sinne gar keine Regeln des Styls" (ebd.: 8). Stil kann auch nicht gelehrt werden. Alle Versuche, es dennoch zu tun, sind nicht nur vergeblich, sondern auch verderblich: „Wenn irgend etwas der freien Entwicklung der Geisteskräfte geschadet, den Gesichtskreis für das Große und Schöne verengt, und das Gefühl dafür aus seinem Geleise gebracht hat, so sind es die unzähligen Versuche, dasjenige zu lehren, was sich nicht lernen läßt" (ebd.: 3). Die Methode, die Moritz empfiehlt, um zu einem guten Stil zu gelangen, setzt an die Stelle der Regeln die Beobachtung: „In dem geringsten Aufsatz, den man entwirft, wird sich der Nutzen davon zeigen, weil durch die Aufmerksamkeit auf das Eigenthümliche in den fremden Werken, die Nachahmungssucht immer mehr verdrängt wird, und das Eigenthümliche in unserer eigenen Vorstellungsart allmälig sich entwickeln kann, wodurch erst der Ausdruck sein Gepräge erhält, und der Styl sich bildet" (ebd.: 9). Es hat nicht lange gedauert, bis die subjektive Stilistik auch von einigen Aufsatzdidaktikern aufgenommen wurde. Die Aufsatzdidaktiker Gefühle hatten im Unterricht an den Schulen sowohl in den rhetorischen als auch in den stilistischen Übungen immer schon eine Rolle gespielt. Es waren aber nicht die Gefühle des Schreibenden, sondern die des Lesenden. Auf seine „Seelenkräfte" sollte der Schreiber Einfluß nehmen. Das war rhetorisch gedacht. In der Aufsatzdidaktik des 19. Jahrhunderts wandte sich das Interesse von dem Leser und seinen Gefühlen ab. Wichtig war jetzt vornehmlich der Schreiber. Seine Gefühle, seine Gedanken, seine Einstellungen usw. standen auf einmal im Mittelpunkt des Aufsatzunterrichtes. Den Ubergang von der rhetorischen zu einer eher unrhetorischen Auffassung dokumentiert eine Bemerkung von Peter Villaume aus dem Jahre 1804. Villaume unterscheidet zwischen der bloßen Mitteilung eines Sachverhaltes, wir würden heute sagen: der Information, und dem „Ton" einer Äußerung:
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„Wenn man nur Gedanken mittheilen will, und wenn diese Gedanken kein anderes Interesse als ein bloßes Wissen haben, so druckt man seine Vorstellungen kaltblütig aus" (P. Villaume 1804: 69). Das wäre so etwas wie ein sachlicher Stil. „Es ist aber auch eben so natürlich zu fühlen als Gedanken zu haben; es ist natürlich, wenn die Vorstellungen groß, erhaben, interessant sind, wenn wir den Zuhörer schätzen, lieben, fürchten, wenn wir seine Gunst gewinnen wollen, wenn man uns widersteht, hartnäckig widerspricht, daß wir neben den Gedanken auch Gefühle haben: und dann ist es auch ganz natürlich, daß unsre Sprache, unser Ton, unser Styl nicht mehr kalt, ruhig, simpel sey; und daß wir einen höheren Ton anstimmen" (ebd.: 69 f.). Villaume spricht hier nicht mehr von den Gefühlen der Leser, die zu erregen und zu steuern wären, sondern von den Gefühlen des Schreibenden, die entweder die Gegenstände, über die er schreibt, in ihm erwecken oder die aus der Beziehung zum Leser erwachsen. So ist Stil für Villaume „das im Ausdruck, was ihn von dem bloßen Gedanken unterscheidet" (ebd.: 69). Kein Zweifel, das ist eine neue, eine unrhetorische Auffassung von Stil, die eher von Bürger und Moritz als von Adelung herkommt. Ludwig Schaaj, dem wir die erste Methodik des deutschen Aufsatzes verdanken (vgl. V. 4), hat acht Jahre später die Individualität der Schreiber als einen konstitutiven Faktor in seine aufsatzdidaktischen Überlegungen aufgenommen. Stil ist für ihn nicht etwas, das zum Ausdruck der Gedanken noch hinzu kommen kann, sondern grundsätzlich sowohl durch objektive als auch durch subjektive Faktoren bestimmt ist: „Die stylistische Einkleidung" (die Elokutio O. L.) „hat zum Zweck, den aufgefundenen und geordneten Stoff vermittelst der Sprache anschaulich darzustellen. Die dazu nothwendige Form wird bestimmt theils durch objective Gründe, die in der Art der Rede liegen, theils durch subjective, die aus der Individualität des Darstellenden hervorgehen. Das Erstere bewirkt gewisse Charaktere (Gattungen) der stylistischen Form, die als allgemein gültig aufgestellt werden können" (die bekannten Stilarten und Stilformen, vgl. V. 6); „das Letztere eine eigenthümliche Manier, die von der verschiedenen Individualität der Darstellenden abhängig bleiben muß" (L. Schaaf 1812: 51). Beide Seiten des Stils sollten nach Meinung von Schaaf Gegenstand des Aufsatzunterrichtes sein, also auch „die Ausbildung der Individualität": „harmonische Ausbildung derselben wird mit Recht als das Ziel freyer Bildung betrachtet" (ebd.: 54). Schaaf hat ausgeführt, was in Aufsätzen von Schülern individuell sein könnte. Als erstes wird die „Auffassung des Gegenstandes" genannt: „Was sich zuerst als bemerkenswerth darbietet; ist die Art und Weise, wie Schüler des darzustellenden Gegenstandes Meister zu werden suchen" (ebd.). Stärker auf die sprachliche Darstellung bezogen, seien zwei weitere Momente anzuführen, der „Ton" der Darstellung und vor allem die „Diction". Unter „Ton" versteht Schaaf den Ausdruck der „Gemüthsstimmung des Darstellenden",
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also den Ausdruck seiner jeweiligen psychischen Verfassung, seiner Gestimmtheit: „Wessen Gemüth von dem Gegenstande innig ergriffen ist, in dessen Darstellung wird ein treuer Abdruck dieses inneren Zustandes erscheinen; umgekehrt wirkt aber auch die Gemüthsstimmung des Darstellenden auf die Ansicht des Gegenstandes, und theilt diesem ihr Eigenthümliches mit" (ebd.: 55). Die „Diction" dagegen sei das Produkt der Einbildungskraft, also der Phantasie und Kreativität des Schreibenden: „So wie die Gemüthsstimmung auf den Ton der Darstellung wirkt, und sich durch denselben an den Tag legt; so wirkt die Einbildungskraft auf die Diction, theils durch Individualisierung der Gegenstände, theils durch das Bildliche des Ausdrucks" (ebd.: 56). Die Individualität und damit die Subjektivität eines Schülers drückt sich also nach Schaaf nicht nur in der Art und Weise aus, in der die Gegenstände in einem Aufsatz dargestellt werden, sondern auch in dem Ton und der Diktion seiner Ausführungen. Schaaf hat schließlich auch angegeben, wie er sich die Berücksichtigung des Subjektiven im Aufsatzcurriculum vorstellte. In den Übungen für die Anfänger (vermutlich Tertia) sei „der Unterschied zwischen dem Objectiven und Subjectiven in der Darstellung" nur „als Nebensache" (ebd.: 27) zu behandeln, d.h. allenfalls „anzudeuten" (ebd.: 21). „Die innere Welt des Darstellenden, sein Gefühlszustand, und die dadurch bedingte Schönheit des Styls" sei dagegen Hauptgegenstand der Übungen für „Geübtere" (vermutlich Sekunda): „Demnach muß die Auswahl des Stoffs so getroffen werden, daß der Lehrling den innern Zustand, worein ihn die Betrachtung des Gegenstands versetzte, zugleich mit diesem darzustellen sich vermocht fühlt; woraus denn von selbst die beste Gelegenheit für ihn hervorgehet, auf der einen Seite mit den einzelnen Eigenschaften der stylistischen Darstellung aus eigner Erfahrung bekannt zu werden, und auf der andern durch fortgesetzte Uebung sich diejenigen Eigenschaften anzueignen, welche seiner bestimmten Individualität am meisten entsprechen" (ebd.: 27). In den Übungen für die „Geübtesten" (vermutlich Prima) wäre dann hauptsächlich „auf den Zweck zu welchem, und die Beschaffenheit der Personen, für welche dargestellt werden soll", (ebd.: 33) zu achten. Das Ganze ergibt ein in sich geschlossenes Curriculum, das auf den drei wichtigsten kommunikativen Faktoren gründet: der Sache, dem Schreiber und dem Adressaten. In ihm hat die Subjektivität des Schreibers einen ihm angemessenen Platz. Ähnliche Vorstellungen hat später Philipp Wackernagel entwickelt: „der Styl bildet sich im Einklang dreier Wirkungen: der Styl ist der Gegenstand, der Styl ist der Schreibende, der Styl ist der Leser. Es ist eine Naturnothwendigkeit, vermöge derer der Schreibende gezwungen ist, seine Darstellung bis ins Einzelne sich selbst, dem Gegenstande und dem Leser gemäß zu bilden" (P. Wackernagel 1843: IV, 8). Und er fügte hinzu, nicht ohne Seitenblick auf die Aufsatzpraxis seiner Zeit:
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„Das Verhältnis des Schreibers zum Leser wird in der Regel zu wenig berücksichtigt" (ebd.). A. F. Bernhardt differenzierte die Gattungen deutscher Aufsätze nach ihrem Inhalt: „So mannigfach derselbe auch im einzelnen sein mag, so sind es doch nur drei mögliche Bestrebungen, welche ihm zum Grunde liegen können; entweder der Verfasser will etwas rein Faktisches darstellen, rein erzählen oder beschreiben, oder er will Begriffe analysiren und synthetisiren, oder endlich er will Gefühle und Gesinnungen darstellen" (A. F. Bernhardi 1820: 12). „In dieser Gattung giebt der Jüngling sein innerstes Selbst, seine ganze Individualität dem Lehrer in die Hände (ebd.: 15). Die „rein faktische Gattung" entspricht dem „historischen Stil", die Analyse und Synthese von Begriffen dem „dogmatischen" oder dem „Lehrstil". Neu ist die Gattung der „Gefühls- und Gesinnungsdarstellungen". Was Bernhardi darunter verstanden hat, versuchte er im Kontrast zur ersten Gattung klarzumachen: „Ist der Inhalt des Aufsatzes die Beschreibung einer Luftpumpe, so dürfte wohl nur der Humorist die Beziehung dieses Instruments auf das Gefühl durch Umdeutung und Analogie bezeichnen können, ist aber dagegen das Thema die Beschreibung des Erndtefestes, so ist es zwar möglich, das Ganze rein faktisch aufzustellen, allein eben so möglich, die Beschreibung von irgend einem bestimmten Gefühl aus aufzufassen und je nachdem dieses oder jenes geschehen ist, gehört der Aufsatz zur rein faktischen Gattung oder zu der, welche Gefühle darstellt" (ebd.: 12; ähnlich G. A. Bürger, s. oben). Christoph Ferdinand Falkmann (1823) hat die Unterscheidung von objektiven und subjektiven Eigenschaften der Sprachdarstellung, wie er sie etwa bei L. Schaaf fand, aufgegriffen und mit Bezug auf „den persönlichen oder individuellen Styl" hervorgehoben, „daß in der Methodik des Unterrichts, wo die Individualität des Schülers so sehr berücksichtigt wird, auch dieser Gesichtspunkt Beachtung verdiene" (C. F. Falkmann 1823: 305). Das wird so begründet: „Denn 1. wie leicht wird ohne dieß der Lehrer in seinem Urtheile irren, und folglich den Schüler unrichtig behandeln (Wenn er ζ. B. die natürliche Anlage mit den Resultaten des Fleißes und der Absicht verwechselt; mit dem Persönlichen auch das Bestimmte und Kräftige ausrottet; Dinge bei dem Schüler erzwingen will, die sich nicht erzwingen lassen, ζ. B. Gefühl von dem Kalten, Fluß von dem Steifen etc.). 2. Wie sehr wird er Gelegenheit haben, das Urtheil des Schülers zu berichtigen; wenn er ihn aufmerksam macht, wie der Charakter des Menschen zum Charakter seines Styles werde! Wie viele Mühe wird er demselben ersparen, wenn er ihm bei gewissen Arbeiten vorzeichnet, wie weit und in welcher Art das Objective oder das Subjective darin vorwalten müsse. 3. Den Gewinn zu schweigen, welchen die Kenntniß dieses Unterschiedes der ganzen intellectuellen und moralischen Bildung des Zöglings zuwendet; insofern sie von unendlicher Wichtigkeit bei der Erforschung der Wahrheit ist" (ebd.: 305 f.).
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Es dürfte in diesem Zusammenhang nicht uninteressant sein, darauf aufmerksam zu machen, daß es Falkmann war, der mit Bezug auf die objektiven und subjektiven Eigenschaften der Schüleraufsätze von „Gebundenheit" und „Freiheit" gesprochen (ebd.: 311) und damit zwei Begriffe eingeführt hat, die sich später die Aufsatzreformer des 20. Jahrhunderts zueigen machten, um die von ihnen propagierte Epoche des „freien Aufsatzes" von der des „gebundenen" abzusetzen. Freiheit ist nach Falkmann „diejenige Beschaffenheit der Schreibart, welche wahrnehmen läßt, daß der Zusammenhang zwischen Form und Stoff von der Willkür des Schreibenden abgehangen habe; oder, daß es ihm möglich gewesen, diese Verknüpfung auch anders einzurichten" (ebd.). Es ist also die individuelle Freiheit des Schreibenden, die den subjektiven Stil prägt. Weitere Hinweise anzuführen, die die Bedeutung der Kategorie der Subjektivität in der Aufsatzdidaktik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausstellen, dürfte überflüssig sein (auf F. J. Günther (1841) ist bereits eingegangen worden, vgl. V. 7). In der %weiten Hälfte des Jahrhunderts hat es den Anschein, als habe sich die Einstellung der Aufsatzdidaktiker zur Subjektivität in Schüleraufsätzen gewandelt. Sehen wir einmal von der entschiedenen Stellungnahme Hildebrands für einen individuellen Stil der Schülerarbeiten ab (vgl. VI. 2), so findet man nur noch Bedenken gegen Themen, die eine subjektive Behandlung durch den Schüler erwarten lassen. Schon Bernhardi war nicht ganz frei davon: „Wenn nun ein junger Mensch, welchen man auf der einen Seite die Einlieferung der Aufsätze zur Pflicht macht und dadurch gewissermaßen zwingt, sein Inneres hinzugeben, wenn dieser nun, sei es aus Eitelkeit, oder bei einem gänzlichen Mangel an Gefühlsorganen, immer also nun aus einem Verkennen seiner selbst, oder endlich, weil das Gefühlsorgan noch nicht ausgebildet ist, bald kecklich bald schüchtern immer aber doch zutraulich es wagt, in einem solchen Aufsatze sein ganzes innerstes Wesen in seiner Dürftigkeit, in seiner Leerheit, in seiner Kraftlosigkeit, in seiner Lächerlichkeit und in seinen Verwirrungen und seiner Unklarheit dem Lehrer darzustellen, ist es da wohl gerathen, alle diese verschiedenen Classen auf eine gleiche Weise zu behandeln, wie es so oft geschieht?" (A. F. Bernhardi 1820: 16 f.). Bernhardi wollte darum dem Schüler die Wahl für ein solches Thema überlassen. Robert Heinrich Hiecke ging einen Schritt weiter. Er lehnte — „geringe Ausnahmen ( . . . ) abgerechnet" (R. H. Hiecke 1842: 265) — solche Themen ab: „Da den Schülern die nöthige Erfahrung und das Interesse für das abgesonderte Betrachten vereinzelter Seiten des menschlichen Herzens abgeht, — weshalb gerade die besseren unter ihnen sich auch am meisten dagegen sträuben, — so führen sie ( . . . ) fast nothwendig zu einer höchst kahlen und frostigen oder was noch schlimmer ist, zu einer altklugen und hofmeisterlichen Behandlung" (ebd.: 264 f.). Κ. A. Schmid paßte schließlich die ganze Richtung nicht mehr: „Die modernen Deutschen haben in dieser
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Beziehung schlimme Zeiten durchgemacht, die Thränenüberschwemmung der Wertherperiode, die Mittelalterbegeisterung der Romantiker, die Europamüdigkeit und der Weltschmerz, und die schöne Literatur hat sich eifrigst bemüht, unsere Jugend seufzen und sich unglücklich fühlen zu lehren. Das ist der Jünglinge wie der Mädchen unwürdig. Ein sentimentaler Jüngling wird im Leben zwischen Hammer und Ambos viel wahrscheinlicher zu Brei zerschlagen, als zu Stahl gehärtet werden; einem Schüler, der von seinen guten Gesinnungen und Vorsätzen anders als in kürzesten Worten spricht, trauen wir nicht; die Empfindungsblüten in das Herbarium der Aufsätze gelegt, können nicht anders als verdorren. Also weg mit den Aufsatzthemen, welche zu sentimentalen oder moralisierenden Ergüssen Veranlassung geben; sie sind geeignet, alles wahre Gefühl zu erkälten, wo nicht zu ertödten; weg mit ihnen auch an den Mädchenschulen. Gott hat dem weiblichen Herzen den Reichthum seiner Gefühlswelt verliehen, daß es das heilige Feuer hüte" (Κ. A. Schmid 1859: 344, vgl. auch 336). Diese Stellungnahmen, die sich vermehren ließen (vgl. etwa noch W. Strehl 1895: 7), sind Reaktionen auf eine bestehende Praxis. Indem sie den Aufsatzunterricht in andere Bahnen lenken wollten, werden sie selbst zu Zeugen. So kann nicht zweifelhaft sein, daß auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Subjektivität in den Aufsätzen der Gymnasien eine Rolle spielte. Auf Rudolf Hildebrand, den Kronzeugen, ist bereits hingewiesen worden (vgl. VI. 2). Der Aufsatzunterricht Die
Aufsat^formen
Die unmittelbaren Auswirkungen für den Aufsatzunterricht lassen sich an drei Stellen nachweisen: bei den Themen, den Aufsatzformen und dem Stil der Ausarbeitungen. Am deutlichsten sind sie in den Aufsatzformen. Nicht daß man neue Formen erfunden hätte. Es sind weithin noch dieselben Formen, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren (vgl. V. 6). Man hat lediglich ihre oratorisch-rhetorische Ausrichtung eleminiert: man hat sie, wenn man so sagen will, entrhetorisiert. Man sollte annehmen, daß sich der Briefaufsat'.ζ in besonderer Weise für den Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen eignen würde. Das wäre auch der Fall gewesen, wenn dem nicht die institutionellen Bedingungen entgegengestanden hätten. Schon Hiecke hatte solche Aufsätze skeptisch betrachtet: „In den dafür gültigen Formen die Schüler festzumachen, so daß sie bei vorkommenden äußern Anlässen keine albernen Verstöße begehen ( . . . ) , wird man umso weniger versäumen dürfen, da mit geringem Zeitaufwand die nöthige Anweisung und Uebung erfolgen kann. Zu hüten aber hat man sich, Briefe aufzugeben, die eine Empfindung aussprechen sollen. Die
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Empfindung, welche wirklich vorhanden ist, wird sich schon im jedesmaligen Falle, ( . . . ) ohne Dressur, und gerade dann erst wahrhaft und acht auszusprechen vermögen" (R. H. Hiecke 1842: 257). Sehr viel weiter ging die Ablehnung der Briefaufsätze in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Franz Linnig gestattete allenfalls, „den Brief als eine besondere Species des oratorischen Stiles zu behandeln" und überließ es „getrost" dem Schüler, „sich mit der Praxis abzufinden" (F. Linnig 1871: 309). Ein anderer Autor hielt die Übung im Briefschreiben für unter der Würde eines Gymnasiums. „Vermeide auch die beliebte Briefform", rät er seinen Kollegen. „Diese mag auf niedern Bürgerschulen um des praktischen Zweckes willen zu dulden (sie!) sein; ein Gymnasiast muss durch den Gang seiner Bildung selbst die Fähigkeit erlangen, einen Brief zu schreiben. Die Form der Spielerei aber soll eine Aufgabe der männlichen Jugend nie annehmen" (K. Kock 1866: 9). J . H . Deinhardt (1852), F. Schultze (1887/1905), R. Lehmann (1890) und P. Geyer (1906), um nur einige Namen zu nennen, erwähnen den Briefaufsatz überhaupt nicht mehr. Dennoch sind auch in Gymnasien Briefaufsätze geschrieben worden, selbst untern den Abituraufsätzen finden sich noch einige. Nimmt man sich solche Aufsätze vor, dann versteht man die Warnungen. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1870, dem ersten Jahr des deutsch-französischen Krieges, schrieb ein Abiturient aus Hannover in einem Brief an seinen Vater: „Daß ich bei dieser allgemeinen Begeisterung nicht kalt geblieben bin, daß auch ich vor Begierde brenne, dem Rufe meines Königs zu folgen und mich den tapferen Vaterlandsvertheidigern anzuschließen, das wirst du nicht mehr als natürlich finden. Ich habe alles bereit gehalten, um sogleich eintreten zu können, nur deine Erlaubniß, lieber Vater, fehlt mir noch, und die wirst du mir gewiß nicht versagen" (eigene Sammlung S 1870: 4 f.). Das klingt ziemlich echt, ist es aber nicht. Denn sozusagen im selben Atemzug hatte der Schüler auch noch das Antwortschreiben des Vaters zu entwerfen, und dessen Bescheid war ablehnend. So sehr sich der Brief außerhalb der Schule zum Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen eignet, so ungeeignet dürfte er in der Schule sein. Darin ist seinen Kritikern recht zu geben: er verleitet notwendigerweise, Gefühle und Empfindungen vorzugeben, die man nicht hat und wohl auch nicht haben kann. Von dem Umwandlungsprozeß, von dem oben die Rede war, waren vor allem die narrativen und deskriptiven Aufsatzformen betroffen. Für Karl Heinrich Ludwig Pölitz war die Erzählung noch „die lebendige und unterhaltende Darstellung von Begebenheiten" (K. H.L. Pölitz 1800-1801: IV, 2, 256). Hier kam es noch allein auf die Wirkung der Erzählung, auf „die Belebung des Interesses" bei dem Leser an (ebd.). Die Orientierung am Leser ging dann aber allmählich im Verlauf des 19. Jahrhunderts verloren. An ihre Stelle tritt das faktische Geschehen: „Die Reihe von Veränderungen, die ein
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Gegenstand erfahrt, bilden dessen Geschichte; sie einzeln gleichsam herzählen, für sich und in ihrer Beziehung zueinander, heißt erzählen. Die EinzelVeränderungen sind Ereignisse und Thaten. Das Ereignis besteht aus Ursache und Wirkung; in der That tritt zu der Ursache noch als zweiter Hebel der Bewegggrund des Handelnden; die That ist mithin ein Product äußerer Ursachen und innerer Motive" (F. Linnig 1877: 12; vgl. auch E. Laas 1877: 85 u. a. m.). Es ist nur konsequent, wenn K. A. J. Hoffmann zwischen „oratorischen" und „historischen Erzählungen" unterscheidet (K. A. J. Hoffmann 1859: 18). Bei der Erzählung ging die Entwicklung im 19. Jahrhundert von der Orientierung am Leser zur Orientierung an der dargestellten Sache. Der Schreiber mit seinen Gefühlen und Empfindungen spielte noch keine Rolle. Erst im Zusammenhang mit der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt auch er ins Spiel. Bei der Beschreibung können wir zunächst einmal eine ähnliche Entwicklung feststellen. Die oratorisch-rhetorische Zweckbestimmung wird aufgegeben. Stattdessen tritt der zu beschreibende Gegenstand, das Objekt, in das Zentrum der Aufmerksamkeit: „Das Geschäft des Beschreibens läßt sich dem Porträtiren passend vergleichen. Der Maler will ein Bild entwerfen, das uns das Anschauen der Person selbst ersetzen soll. Je sorgfaltiger der dabei die einzelnen Züge des Originals erfaßt, je sicherer seine Hand durch sein Auge geleitet wird, desto treuer wird sein Bild erscheinen. Ebenso haben wir uns beim Beschreiben zu verhalten und danach zu streben, den Umriß und die einzelnen Züge des darzustellenden Gegenstandes möglichst treu nach der Natur zu zeichnen" (F. Linnig 1871: 55; vgl. auch F. Spengler 1891: 43 f.; W. Strehl 1895: 16ff. u.a.m.). Die Entwicklung weicht dann aber von der der narrativen Formen insofern ab, als eine Differenzierung zwischen Beschreibungen und Schilderungen vorgenommen wird, genauer: bereits vorgenommen worden war (vgl. V. 6). Für die Unterscheidung waren die Zwecke maßgebend gewesen, und die Zwecke wurden durch die Wirkung auf den Leser bestimmt: Belehrung auf der einen, Unterhaltung auf der anderen Seite. Ein erstes Anzeichen für die Ablösung von einem solchen rhetorischen Kriterium ist in der Beteuerung einiger Aufsatzdidaktiker zu sehen, daß, wer auf die Gefühle anderer Menschen einwirken wolle, zuvor selber etwas empfunden haben muß. Die Schilderung gebe nicht bloß wieder, „was das Auge sieht, sondern auch, was das Herz bei dem Anschauen des Gegenstandes empfunden hat" (T. Heinsius 1808: 391, vgl. auch L. Schaaf 1812: 27). In der Schilderung müßten „auch die Gefühle und Empfindungen, die durch die gehörige Betrachtung eines Gegenstandes in uns erweckt worden sind" (E. L. Ritsert 1839/1848: 123; vgl. auch A. F. Bernhardi 1820: 12 und F. Linnig 1871: 57), zur Darstellung kommen. So nenne man „Schilderung" eine Beschreibung, „welche nicht bloß den Gegenstand an und für sich, sondern
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auch den Eindruck darstellen will, den derselbe auf das Gemüt des Betrachtenden macht" (K. A. Hoffmann 1859: 15). Auf diesen zunächst peripheren Aspekt konnte man zurückgreifen, als der Aspekt der Wirkung auf den Leser seine Gültigkeit zu verlieren begann. Die Schilderung wird von nun an als eine Aufsatzform begriffen, in der der Schüler seine Gefühle und Empfindungen zum Ausdruck bringen kann. Nachdem diese Möglichkeit geschaffen war, gab es keinen Anlaß mehr, die Darstellung auf den Ausdruck von Gefühlen und Empfindungen zu beschränken. In der Schilderung konnten alle Seelenkräfte und damit das Subjekt des Schreibers zum Ausdruck kommen. Die Schilderung wird so zu einer Form, in der „die Person des Schreibenden hervortritt, dieser also an sich zu denken hat" (R. H. Hiecke 1842: 255). Der Begriff der Subjektivität ist es, der von nun an die Kategorie der Schilderung definiert. Das Subjektive wird als etwas „Idealisches" empfunden. Schilderungen „unterscheiden sich von den Beschreibungen dadurch, daß in ihnen nicht mehr blos das objective Bild der Sache dargestellt wird, sondern daß sich in und mit der Darstellung noch ein subjectives Gefühl, besonders das ästhetische Gefühl befriedigt, überhaupt ein idealer Gesichtspunkt durch die Darstellung verwirklicht" (J. H. Deinhardt 1850: 103). Franz Linnig faßte in gewisser Weise die Entwicklung, die die Form der Schilderung während des 19. Jahrhunderts genommen hat, zusammen, wenn er feststellte: „Bindet sich der Maler nicht streng an die Wiedergabe aller Eigenthümlichkeiten seines Originals, hält er die Aehnlichkeit nur im großen und ganzen fest, während er, um sein Bild zu heben, einzelne Züge stärker hervorhebt und verschönert, läßt er mithin bei seiner Darstellung die Subjectivität mitwalten, so liefert er ein idealisirtes Portrait, — statt der Beschreibung erhalten wird die Schilderung" (F. Linnig 1871: 55). Die Entrhetorisierung der narrativen und deskriptiven Aufsatzformen führte im 19. Jahrhundet also in zwei divergente Richtungen. Die Orientierung am Zweck wurde aufgegeben. So gab es grundsätzlich noch zwei Möglichkeiten. Man konnte sich an der dargestellten Sache orientieren. Das ist bei der Beschreibung und der Erzählung geschehen. Man konnte sich aber auch am schreibenden Subjekt orientieren. Das geschah im 19. Jahrhundert zunächst nur bei der Schilderung. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich auch schon während des 19. Jahrhunderts im Bereich der sog. dogmatischen oder didaktischen Stilarten feststellen. Neben der Form der Abhandlung, in der es um die Untersuchung eines Sachverhaltes geht (vgl. V. 6), entwickelte sich eine Form, die zwischen Schilderung und Abhandlung zu stellen wäre: die Betrachtung. „Verhält sich der Darstellende einem gegebenen Stoffe gegenüber objectiv, so erzählt oder beschreibt er; gibt er der Darstellung des Stoffes eine subjective Färbung, so schildert er; läßt er dagegen das gegebene Object in den Hintergrund treten,
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nimmt er es nur zum Ausgangspunkte oder zur Basis der Darstellung und macht dafür seine Subjectivität mit ihrem Fühlen und Wollen zum Hauptgegenstande, so entsteht die Art der Darstellung, welche wir Betrachtung nennen" (F. Linnig 1871: 110, vgl. auch 1872: 441). Drei Eigenschaften der Betrachtung werden hervorgehoben: „Bei ihr ist darnach vorhanden: 1. ein äußeres Object, durch welches die Subjectivität erregt und erwärmt wird. Dabei werden die Merkmale und Eigenschaften des Objects als bekannt vorausgesetzt und kommen nur in Betracht, insofern sie auf das Gefühl des Betrachtenden wirken. ( . . . ) 2. Die Einwirkung des in der Außenwelt gegebenen Stoffes auf den Betrachtenden bildet den eigentlichen Gegenstand der Darstellung. Die Wirkungen offenbaren sich als Empfindungen und Reflexionen. 3. Zweck der Betrachtung ist nicht das gegebene Object selbst, sondern dem Verhältnis desselben zu dem betrachtenden Subjecte Ausdruck zu geben und darzulegen, welche Empfindungen und Gedanken der Gegenstand in dem Darstellenden hervorgerufen habe; sie verlangt daher Aufschluß der geheimsten Kammer des menschlichen Herzens" (ebd.). „Tempora mutantur d.i. Betrachtungen am 6. Nov. 1870" lautete das Thema, das die Abiturienten 1870 in Lübeck zu bearbeiten hatten. In einem der Aufsätze heißt es: „Diese Betrachtung konnte sich einem ganz besonders am 6. Nov. dieses Jahres in Lübek aufdrängen. An ihn knüpfen sich für unsere Stadt große Erinnerungen aus den Jahren der Knechtschaft Deutschland^. Gerade an diesem Tage vor 64 Jahren besetzten die Franzosen dieselbe, nachdem sie den tapferen Feldmarschall Blücher aus ihr vertrieben und mit beinahe seiner ganzen Armee gefangen genommen hatten. Noch mancher Bürger Lübeks mag heute seinen Kindern und Enkeln von dem Jammer und Leiden erzählen, welche die Stadt damals zu erdulden hatte und von Geschlecht zu Geschlecht wird die Erinnerung an diesen Tag sich fortpflanzen. Was aber mögen die, welche damals die Franzosen als übermüthige Sieger einrücken sahen, denken und fühlen, wenn sie diese Herren gerade an demselben Tage nach 64 Jahren so bescheiden und demüthig als Gefangene einziehen sehen. Wahrlich, niemand kann besser ermessen als sie, was die Worte bedeuten: tempora mutantur" (eigene Sammlung S 1870: 1 f.). Man erkennt die Eigenschaften der Form hier ohne weiteres wieder. Es kommt nicht auf die Darstellung des Geschehens an sich an, sondern auf die Gedanken und Empfindungen, die sich für den Betrachtenden mit ihm verbinden. Blickt man noch einmal zurück, so läßt sich folgende Entwicklung im Bereich der Aufsatzformen während des 19. Jahrhunderts feststellen. Die Aufsatzformen werden entrhetorisiert. An die Stelle der Wirkung auf den Leser tritt die Wirkung auf den Autor, den Schreiber. Durch die Einführung der Kategorie der Subjektivität entsteht ein neues System der Aufsatzformen. Markiert sind alle subjektiven Formen: die Schilderung und die Betrachtung, nicht markiert alle übrigen: die Erzählung, die Beschreibung und die
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Abhandlung (vgl. F. Schultze 1887/1905: 8 ff.). Schematisch dargestellt, sieht das System folgendermaßen aus: objektive Aufsatzformen
subjektive Aufsatzformen
Erzählung Beschreibung Abhandlung
—
Schilderung Betrachtung
Wie aus dem Schema zu erkennen ist, fehlt noch die subjektive Entsprechung zur Erzählung. Die weitere Entwicklung zeigt, daß die Einordnung der Erzählung noch nicht endgültig war. Später wird an die Seite der Erzählung der Bericht treten. Damit rückt die Erzählung in die Klasse der markierten, d. h. subjektiven Formen. Die
Aufsatzthemen
„Philosophische" oder, wie man sie auch nannte, „allgemeine", „freie" oder „moralische Themen" waren ein bevorzugter Gegenstand der Primaneraufsätze, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. O. Apelt 1883: 21). Das war das Erbe, das man in die zweite Hälfte übernahm. Das Urteil über solche Themen war aber nicht einhellig. Rudolf Hildebrand lehnte Themen dieser Art grundsätzlich ab: „keine moralisierenden Themata, mit denen man Moral einpflanzen zu können wähnte ( . . . ) . Aber auch keine philosophirende, die den Schüler verleiten, angeflogene und aufgeschnappte allgemeine Gedanken aneinander zu reihen mit einiger unpassender Ausfüllung" (R. Hildebrand 1867/1887: 54). Die überwiegende Mehrheit der Aufsatzdidaktiker aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts akzeptierte jedoch die sog. allgemeinen Themen, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. Soweit sich die Themen auf Fragen und Gegenstände bezogen, die ein Schüler selbst erlebt und erfahren haben konnte, hatte man keine Einwände zu machen. „Diese Gegenstände", meinte Laas, seien „mehr als ein blosser Nothposten" (E. Laas 1877: 25). Die Begründung, die er gibt, ist charakteristisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie bezieht sich auf die individuelle Erfahrung des Schülers: „Ueber allgemein zugängliche oder individuelle Erfahrung und Erlebnisse zu berichten und sie für weitere Zwecke zu verwerthen und auszubeuten, wird später in all den Kreisen verlangt, denen der Gymnasialunterricht, denen der Aufsatz dienen will" (ebd.). Solche Themen wurden aber nicht nur von der Gesellschaft gefordert, sondern auch notwendig aufgrund des Erziehungsauftrages der Schule: „Ließe man die moralischen Themata ganz fallen, so glitte damit ein Stoff, unverwerthet und unbeherrscht, der Schule aus den Händen, die bisherige Erfahrung des Jünglings. Er hat nicht immer in der Schule gesessen, er hat vielfach das
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Wirren und Treiben der Welt gesehen; aber auch verstanden? correct geschätzt? — Soll die Erziehung bis zur Universität hin wirklich in einer bestimmten Einheit sich halten, zu Resultaten führen, auf die einiger Verlaß ist, so darf die Schule die Eindrücke, die ihm aus jenem ,Wirrwarr' kamen, nicht in seinem Kopf zu zufälliger Wirkung herumschwirren lassen; auch sie müssen angezogen werden, um dem Geist edler, wissenschaftlicher, nationaler, sittlicher Bildung zu dienen, auf die alle unsere Arbeit gerichtet ist" (E. Laas 1868: 28). Ähnlich haben sich auch R. H. Hiecke (1842: 259), W. Vigelius (1881: 12), G. Wendt (1884: 5), K. Koch (1889: 12), mit Einschränkungen auch R. Lehmann (1890: 78) u . a . m . geäußert. Auf Ablehnung stießen dagegen alle Themen, von denen anzunehmen war, daß sie keine Grundlage in der persönlichen Erfahrung eines Schülers haben konnten. Das waren weniger die allgemein-philosophischen, als in erster Linie die moralischen Themen. „In der radikalen Verurteilung aller derartiger Themen mit moralisierender Tendenz", meinte W. Strehl, „sind sich heute alle verständigen Lehrer einig" (1895: 7). Hiecke hatte für das Aufkommen solcher Themen im 18. Jahrhundert noch ein gewisses Verständnis aufbringen können: „die Hinwendung auf die Subjectivität, welche den neuen Aufschwung unserer gesammten Literatur in und nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts charakterisirt, sprach sich auch in jener Vorliebe für moralische Themen in dem Unterricht der Jugend aus; und sie mochten wohl für um so mehr gerechtfertigt gelten, je mehr Gewinn und Förderung für die moralische Gesinnung und für die Kunde des menschlichen Herzens sie zu versprechen schienen" (R. H. Hiecke 1842: 264). Doch für seine Zeit mußte er sie ablehnen: „Wenn schon das Vormoralisiren von Aeltern und Lehrern höchst unwirksam, ja vielmehr unmoralisch ist, so gilt dies noch viel mehr von dem Moralisirenlassen" (ebd.: 265). „Da den Schülern die nöthige Erfahrung und das Interesse für das abgesonderte Betrachten vereinzelter Seiten des menschlichen Herzens abgeht, — weshalb gerade die bessern unter ihnen sich auch am meisten dagegen sträuben, — so führen sie ( . . . ) fast nothwendig zu einer höchst kahlen und frostigen oder was noch schlimmer ist, zu einer altklugen und hofmeisterlichen Behandlung" (ebd.: 264 f.). Der Tatsache, daß Hiecke im allgemeinen die moralischen Themen ablehnte, die eher philosophischen aber durchaus gelten ließ, scheint ein und dasselbe Motiv zugrundezuliegen: die „Subjectivität", von der Hiecke gesprochen hatte, (s. oben). Soweit zu erwarten war, daß in Aufsätzen mit allgemeinen Themen die Subjektivität des Schreibers zum Ausdruck kam, seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, aber auch das Wissen, das er sich persönlich zueigen gemacht hatte (R. Lehmann 1890: 78), paßten solche Themen in das subjektive Konzept vom Aufsatzschreiben. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben war oder als unwahrscheinlich zu gelten hatte, mußten solche Themen als verderblich angesehen und entschieden abgelehnt
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werden (zu einer weiteren Rechtfertigung allgemeiner Themen vgl. den nächsten Abschnitt VI. 4). Wie klar und begründet auch die Auffassungen der Aufsatzdidaktiker damals waren, die Wirklichkeit des Aufsatzunterrichtes scheint anders ausgesehen zu haben. Otto Apelt hat festgestellt, daß die allgemeinen Themen, die in den Primen des Schuljahres 1878/1879 zu bearbeiten waren, etwa ein Viertel aller Arbeiten ausmachten. Seine Feststellung stützt sich auf eine Untersuchung, in die alle Gymnasien Deutschlands mit nur wenigen Ausnahmen einbezogen waren (O. Apelt 1883: 251). Der Eindruck, den P. Klauke (1871: 12), G. Wendt (1884: 5), R. Lehmann (1890: 30) und andere damals gewannen, ging in dieselbe Richtung. Die Zusammenstellung der allgemeinen Themen, die man bei Apelt findet, zeigt aber auch, daß man sich keineswegs auf Themen beschränkte, in denen sich die Subjektivität der Schüler ausdrükken konnte. Moralische und abstrakt-philosophische Themen waren noch durchaus an der Tagesordnung. Der Stil der Aufsätze Diejenigen unter den Aufsatzdidaktikern des 19. Jahrhunderts, die als erste die Individualität der Schüler berücksichtigt wissen wollten und von der Subjektivität ihrer Aufsätze sprachen, haben, wenn überhaupt, nicht so sehr an die Themen und Formen gedacht, als vielmehr an den Stil der Ausarbeitungen, den „Ton" oder die „Diktion" (P. Villaume, L. Schaaf, C. F. Falkmann). Bernhardi bildete da eine Ausnahme (s. oben). Stilistische Fragen spielten auch noch bei den Aufsatzdidaktikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle. Doch nur noch vereinzelt wird die Ausbildung eines individuellen Stiles gefordert. Unter den bekannteren Aufsatzdidaktikern ist es allein Rudolf Hildebrand, der sich kompromißlos für die Subjektivität auch im Stil der Schülerarbeiten einsetzte. Auf seine eindringlichen Worte ist schon hingewiesen worden (vgl. VI. 2). In den vierziger Jahren waren es immerhin noch J . J . Dilschneider (1840: 9) und Philipp Wackernagel (1843: 8 f.). Statt eines individuellen Stiles wird wieder ein klarer, präziser, verständlicher und angemessener Stil der Aufsätze gefordert. Es sind die alten Forderungen aus der Aufklärungszeit. Ernst Laas faßte die Stilvorstellungen seiner Zeitgenossen so zusammen: „Erstens kann man sagen: A u f s Schreiben richtet sich unsere Bemühung, nicht a u f s Reden. Vernünftig und klar sich schriftlich ausdrücken zu können, ist Zeichen höherer allgemeiner Bildung, das Redenkönnen ist Talent (...). Zweitens: Wir beabsichtigen heutzutage nicht, die Fähigkeit auszubilden, worin die alten Redner so gross sind, in unchristlicher Rabulistik die schlechteste Sache durchzufechten, sondern schlichte, sachgemässe, von Einsicht und Ueberzeugung eingegebene Abhandlungen zu schreiben. Drittens: Mit werthvolleren Erziehungszielen hinlänglich beschäftigt,
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verzichten wir auch darauf, Ciceros schönen und gesättigten, wahrhaft künstlerisch entwickelten Stil nachzubilden" (E. Laas 1872: 134). Ähnliche Vorstellungen findet man allenthalben (vgl. etwa J. Cholevius 1868: 142 ff.; A. Kutzner 1882: 13 ff.; F. Spengler 1891: 6 ff.). Bei einer solchen Lage der Dinge kann es einen nicht verwundern, wenn man in den Arbeiten der Schüler vergeblich nach individuellen Stilmerkmalen Ausschau hält. Wo man hinschaut, ein und derselbe Gymnasiastenstil, wie ihn Hildebrand gegeißelt hatte: „langathmige ( . . . ) Perioden", „der Eingang ein hübscher langer Satz", zwischen dem Artikel und seinem Substantiv eine ganze Reihe Adjectiva oder Partizipialsätze", „und manches Andere der Art, wie die ähnliche Ausartung grammatischer Gewissenhaftigkeit, d. h. Verkehrtheit im Periodenbau, daß man zwischen das Subjekt und das Verbum eines Satzes, die doch zum Verständnis nahe zusammengehören, nebensächliche Bestimmungen einschiebt, selbst ineinander geschachtelte Nebensätze" (R. Hildebrand 1867/1887: 57 f.). Auch seine Erklärung dürfte zutreffend sein: „stammt doch diese ganze Richtung wesentlich aus der gelehrten Schule, als eine Frucht des angeblich Ciceronischen Lateins, wie es dort weitverbreitet zugerichtet war als Werkzeug, womit den deutschen Jünglingen des 19. Jahrhunderts der letzte Schliff ihrer Geistesbildung beigebracht wurde" (ebd.: 51). Der Versuch, in die Aufsätze der Schüler einen neuen, frischen und direkten Stil einziehen zu lassen, in dem das einzelne Individuum sich zum Ausdruck bringen konnte, muß als gescheitert angesehen werden. Statt der Subjektivität machte sich Uniformität breit.
4. Die Intellektualisierung der Aufsätze (Ernst Laas) Scheinbar im Gegensatz zu der Betonung des schreibenden Subjekts in der Aufsatzdidaktik des 19. Jahrhunderts (VI.3.) steht eine andere Tendenz, die sich nicht auf den Aufsatzunterricht beschränkte, sondern alle Bereiche des Deutschunterrichts ergriff. Horst Joachim Frank hat über sie in seiner Geschichte des Deutschunterrichts berichtet (vgl. zum folgenden H . J . Frank 1973/1976: 153 — 213). Das Ergebnis seiner Ausführungen faßte er so zusammen: „Überblickt man die Entwicklung des Deutschunterrichts aller drei Schularten im 19. Jahrhundert, so läßt sich ( . . . ) deutlich eine gemeinsame neue Zielsetzung erkennen. Der Deutschunterricht will, neben seinen übrigen Aufgaben, insonderheit zum logischen Denken erziehen und der formalen Geistesbildung dienen. Begründet wird diese Zielsetzung durch den Zusammenhang von Denken und Sprache, von Logik, Grammatik und Rhetorik. Methodisch verwirklicht wird sie in der Sprachlehre, im Lese- und Aufsatzunterricht" (ebd.: 208). Hier soll nur vom Aufsatzunterricht die Rede sein (zur Sprachlehre und zum Leseunterricht vgl. H . J . Frank a.a.O.).
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Ein Gegensatz ergibt sich jedoch nur dann, wenn man Subjektivität auf den Ausdruck von Gefühlen oder Wertungen beschränkt. Im 19. Jahrhundert ist der Begriff aber sehr viel weiter gefaßt worden. Subjektivität war der Ausdruck des inneren Lebens eines Individuums insgesamt, nicht nur seiner emotionalen Komponenten, sondern auch der Gedanken. „Nun ist die Gefühlswelt nur eine Hälfte unseres inneren Lebens", schrieb Franz Linnig 1871, „die andere Hälfte bildet das unbegrenzte Reich des Gedankens (...). Wie das Gebiet des Gefühles im Herzen und Gemüthe der Menschen, so liegt das Gebiet des Gedankens im Verstände, dessen Gebilde sich ebenso subjektiv gestalten, wie die Aeußerungen des Gefühles" (F. Linnig 1871: 107). Also ist letztlich auch „der reine Charakter der philosophischen Prosa" Subjektivität (ebd.), da „die philosophische Prosa (...) die ganze innere Welt des menschlichen Geistes in seinen Regungen und Bewegungen, mit allen ihren Vorstellungen, Gedanken und Ideen" umfaßt (ebd.: 108).
Die Vorgeschichte Mit Recht stellt Frank fest, daß die „Ansätze zu einer allgemeinen Denkschulung im Rahmen des Deutschunterrichts" bereits im 18. Jahrhundert erkennbar seien, und zwar in der Stilbildung: „So hatte schon Christian Thomasius zur Vorbereitung auf den Unterricht in der Beredsamkeit eine Einführung in die ,Denk-Kurse' verlangt. Eindringlich hatte 1725 Friedrich Andreas Hallbauer auf die ,Mängel der Schul-Oratorie' hingewiesen, durch die die Schüler ,eher reden als gedencken' lernten. Diesem Hinweis folgend war es Gottsched in seinen ,Vorübungen der Beredsamkeit' 1754 darauf angekommen, vorzüglich solche Aufgaben zusammenzustellen, an denen die Schüler ,nicht allein ihre Rede, sondern auch ihren Witz' üben konnten. (...) Der Schärfung der Verstandeskräfte sollte auch Sulzers Lesebuch ,Vorübungen der Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens' 1768 dienen. Ähnlich war dann von Karl Philipp Moritz 1795 die Forderung erhoben worden, daß man bei der Stilbildung ,den Verstand schärfen, und das eigene Nachdenken üben' müsse, denn nur das könne ,wirklich schön gesagt' werden, was ,auch vorher schön gedacht' worden sei. In diesem Sinne hatte August Hermann Niemeyer 1796 für die ,Bildung des Stils' den Grundsatz aufgestellt: ,Wer gut schreiben soll, muß vor allen Dingen gut denken können' (ebd.: 155 f.). Die Forderung, daß im Zusammenhang mit der Stilbildung vornehmlich die Verstandeskräfte der Schüler entwickelt werden sollten, hat in der Tat eine bis in die frühe Aufklärung zurückgehende Tradition. Was jeweils unter der Übung der Verstandeskräfte verstanden wurde, unterschied sich jedoch nicht unerheblich voneinander: (1) In der deutschen Oratorie der Frühaufklärer (Hallbauer, Gottsched) kam es entscheidend auf die Überzeugungsarbeit an, und diese unterschied
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sich von der Überredung dadurch, daß sie auf Gründen beruhte: „Ein Redner thut zu wenig, wenn er nur überredet; er muß auch überzeugen. Er muß einen weit tieferen Eindruck dem Gemüthe geben, wenn er einen Satz beweiset, zu etwas ermahnet, oder von etwas abmahnet, als wenn ein Kaufmann den unvorsichtigen Käufer überredet, die schlimme Ware wäre gut, oder eine Mutter ihrem einfältigen Kinde weiß macht, der Ruprecht werde es holen, wenn es nicht fromm sey" (F. A. Hallbauer 1725: 204). Mit anderen Worten: erst die Überzeugung garantiere den rhetorischen Effekt, darum täte eine solide Begründung not. Denkschulung ist hier Schulung in der Argumentation. (2) Der „erwerbende Theil der Bürger", der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Wort meldete, hatte andere Vorstellungen von der Übung der Verstandeskräfte. Ihm kam es darauf an, daß die Schüler lernten, ihren Verstand zu gebrauchen: „Vielerley wissen lernt die Jugend noch wohl, aber ihren Verstand zu brauchen, lernt sie nicht genug: und daher ist vieles in der Jugend gelernte in der Folge der Zeit unnütz, ( . . . ) weil man es entweder nicht zu gebrauchen weiß, oder weil der Verstand bey dessen Erlernung nicht geschäftig gewesen ist. Und doch sollten alle unsre Bemühungen des Unterrichts dahin gerichtet seyn, den Verstand denken zu lehren, ihn in alle Materien mit hineinzuziehen, ihn zum Forschen und Beurtheilen, kurz zur Thätigkeit zu gewöhnen, daß er bey keinem Geschäft des Geistes müßig bleibe" (F. G. Resewitz 1780: 132). Die Bemühung dieser bürgerlichen Pädagogen zielte nicht so sehr auf die Ausbildung argumentativer Fertigkeiten, als vielmehr auf die Ausbildung der Verstandeskräfte insgesamt. Dadurch daß sie in Tätigkeit versetzt werden, sollten sie sich entfalten. Die Notwendigkeit einer solchen Denkschulung ergab sich aus den Anforderungen des praktischen Lebens. Ausbildung der Verstandeskräfte, um brauchbare Bürger (Handwerker, Kaufleute, Beamte usw.) zu erhalten, das war letztlich auch das Programm des aufgeklärten Staates, für den jene Pädagogen sprachen. (3) Dem Bildungsbürgertum des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts genügte die Ausbildung der Verstandeskräfte allein nicht mehr. Vor allem war ihm die Nützlichkeit als Rechtfertigungsgrund suspekt. Es strebte die allseitige Bildung des bürgerlichen Individuums an, die Ausbildung aller seiner Seelenkräfte, nicht nur die des Verstandes. Die „liberale Bildung" begreife, meinte Peter Villaume, „alles, was, ohne Rücksicht auf einen besonderen Stand oder Beruf, die Bildung des Geistes, die Entwicklung des Verstandes, die Veredelung des Herzens, die Vervollkommnung des Menschen als solchen und in der bürgerlichen Gesellschaft befördert" (P. Villaume 1804: 12 f.), und, damit der Unterschied zu allen pragmatischen Einstellungen deutlich werde, betonte er: „Die Grundsätze derselben (der liberalen Bildung O. L.) unterscheiden sich von denen des Bedürfnisses in manchen Stücken; besonders darin, daß es bei der Bildung zum Bedürfniß, auf Wissen, auf
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Fertigkeit, auf Vollendung der Künste und Wissenschaften; bei der liberalen Bildung aber auf Uebung und Schärfung der Seelenkräfte vornähmlich ankommt" (ebd.: 13). Denkschulung ist hier nur ein Teil der Entfaltung aller Seelenkräfte. Die Entwicklung vom 18. und 19. Jahrhundert geht also von der Einübung der Fertigkeit, mit Gründen zu überzeugen, über die Ausbildung der Verstandeskräfte bis zur Entfaltung aller Seelenkräfte. Sie hat, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, die Geschichte des Aufsatzunterrichtes in dieser Zeit nachhaltig bestimmt. Das 19. Jahrhundert selbst nimmt diese Entwicklung ein Stück weit wieder zurück. Aufgabe des Aufsatzunterrichtes, wie auch des Deutschunterrichtes insgesamt, war nun in zunehmendem Maße nicht mehr so sehr die Ausbildung aller Seelenkräfte, als vielmehr die Schärfung des logischen Denkens. Nachdem die Rhetorik das Feld weitgehend geräumt hatte, zog die Logik in den Aufsatzunterricht ein. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war mehrfach der Wunsch geäußert worden, vorbereitende philosophische Studien in den Lehrplan der Gymnasien aufzunehmen. Herbart brachte 1821 „den Gegenstand wieder zur Sprache" (A. Matthias 1907: 330). Hegel wußte 1822 zu berichten, „daß die studierende Jugend ohne die erforderliche Vorbereitung für das Studium der Philosophie auf die Universität zu kommen pflege" (F. Hegel 1822/1970: XI, 31). Auch dem preußischen Minister war die Klage zu Ohren gekommen. In einer Circular-Verfügung vom 26. Mai 1825 schrieb von Altenstein: „Seit längerer Zeit haben mehrere geachtete Schulmänner dem Min.(ister O. L.) den Wunsch zu erkennen gegeben, dass philosophische Vorbereitungsstudien wieder in den Kreis des Gymnasialunterrichts aufgenommen werden möchten, damit die abgehenden Gymnasiasten nicht ganz ohne Vorbegriffe und Vorübungen dieser Art die Hörsäle der Universität betreten dürften" (L. Wiese 1867: 90). Im Herbst 1821 war Friedrich Hegel von dem „Preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten" um ein Gutachten gebeten worden, „wie eine zweckmäßige Vorbereitung hierzu auf Gymnasien zu veranstalten sein möchte" (F. Hegel 1822/1970: XI, 31). Hegel hatte bereits 1812 in einem „Privatgutachten" für den Königlich Bayerischen Oberschulrat Niethammer (durch das sog. Niethammersche Normativ bekannt geworden) seine Gedanken über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien zu Papier gebracht (F. Hegel 1812/1970: IV, 4 0 3 - 4 1 7 ) . 1822 legte Hegel, inzwischen Professor für Philosophie an der Universität Berlin, sein Gutachten dem preußischen Minister von Altenburg vor. Hegel vertrat darin die Auffassung, daß „der Vortrag der Philosophie noch von dem Gymnasialunterrichte auszuschließen und für die Universität aufzusparen sei" (F. Hegel 1822/1970: XI, 35), vorbereitende Studien hingegen durchaus für den Unterricht an den Gymnasien angezeigt seien: „Für den
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Unterricht des Gymnasiums bleibt so für sich selbst das Mittelglied (im Original gesperrt gedruckt O. L.) übrig, welches als der Übergang von der Vorstellung und dem Glauben des gegliederten Stoffes", wie er durch „das Studium der Alten" und den Religionsunterricht bereitgestellt worden sei, „zu dem philosophischen Denken anzusehen ist" (ebd.). Hegel erklärt sich genauer: „Es würde in die Beschäftigung mit den allgemeinen Vorstellungen und näher mit Gedankenformen, wie sie dem bloß räsonierenden Denken und dem philosophischen gemeinschaftlich sind, zu setzen sein" (ebd.). „Bekanntschaft und Gewohnheit ( . . . ) , mit förmlichen Gedanken umzugehen, wäre dasjenige, was als die direktere Vorbereitung für das Universitätsstudium der Philosophie anzusehen sein würde" (ebd.). Zwei Gegenstände waren ihm wichtig: die sog. empirische Psychologie und die Anfangsgründe der Logik. Die empirische Psychologie als „eine Einleitung in die Logik": „Von den äußeren Sinnen, den Bildern und Vorstellungen, dann von der Verbindung, sogenannten Assoziationen derselben, dann weiter von der Natur der Sprachen, vornehmlich von dem Unterschied zwischen Vorstellungen, Gedanken und Begriffen, ließe sich immer viel Interessantes und auch insofern Nützliches anführen" (ebd.: 36). Die Anfangsgründe der Logik als der „Hauptgegenstand" der philosophischen Propädeutik: „Mit Beseitigung der spekulativen Bedeutung und Behandlung könnte sich der Unterricht auf die Lehre von dem Begriffe, dem Urtheile und Schlüsse und deren Arten, dann von der Definition, Einteilung, dem Beweise und der wissenschaftlichen Methode erstrecken" (ebd.: 36 f.). Selbst „eine Bekanntschaft mit den Kantschen Kategorien als sogenannten Stammbegriffen des Verstandes" (ebd.: 37) möchte Hegel nicht ausgenommen wissen. Hegel schlug vor, „durch das Abbrechen von einer oder zwei Stunden an dem sog. Unterrichte im Deutschen oder der deutschen Literatur, oder noch passender durch das Aufheben der Vorlesung über juridische Enzyklopädie, wo solche auf Gymnasien vorkommen" (ebd.: 40), die erforderlichen „zwei Stunden, wöchentlich in einem Jahreskursus", (ebd.) zu beschaffen. Es war auf Hegel ausführlich einzugehen, weil die preußische Kultusbehörde Hegels Vorschläge aufnahm, und zwar ohne Abstriche. Man machte sich Hegels Gutachten so sehr zueigen, daß selbst dessen Formulierungen mit übernommen wurden. Eine Passage aus einer Circular-Verfügung des Magdeburgischen Consistoriums vom 12. August 1825 möge die enge Bindung an Hegel zeigen: „Als Hauptgegenstand solcher vorbereitenden Lehrstunden", heißt es dort (F. Schultze 1831: 127), „würden aber vorzüglich die Anfangsgründe der gewöhnlichen Logik, und namentlich die Lehre von dem Begriffe, dem Urtheile und dem Schlüsse, von der Definition, der Eintheilung, dem Beweise und der wissenschaftlichen Methode, und die Elemente der Erfahrungsseelenkunde zu benutzen seyn". Ähnliche Formulierungen finden sich in den Circularverfügungen des Ministers von Altenstein vom 26. Mai 1826
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(L. Wiese 1867: 90 ff.), des Provinzialschulkollegiums zu Breslau vom 8. Juni 1829 (ebd.: 97) u.a.m. Nur in einem Punkte wich man von den Vorschlägen Hegels ab. Man nahm Abstand von seinen organisatorischen Vorstellungen. Für die vorbereitenden philosophischen Studien wurden keine besonderen Stunden bereit gestellt. Nach anfänglichem Schwanken in der Frage, welchem Fache diese zuzuordnen seien, entschloß man sich, sie dem Deutschunterricht zuzuschlagen. So heißt es in einer Circular-Verfügung des Ministers Karl von Raumer vom 7. Januar 1856: „Die philosophische Propädeutik ist, wie es bei einer grossen Zahl der Gymnasien bereits geschieht, ( . . . ) nicht als ein besonderes Unterrichtsfach anzusetzen. Der wesentliche Inhalt derselben, namentlich die Grundlehren der Logik, kann mit dem deutschen Unterricht verbunden werden, weshalb ( . . . ) statt der bisherigen 2 wöchentl. Stunden für das Deutsch in Prima 3 Std. bestimmt worden sind" (L. Wiese 1867: 31). Es dauerte nur wenige Jahre, bis in einer Circularverfügung des Ministers Heinrich von Mühler vom 13. Dezember 1862 das philosophische Propädeutikum mit dem Aufsatzunterricht in Verbindung gebracht wurde. Zwar enthalte „der gesammte wissenschaftliche Unterricht ( . . . ) an sich auch eine philosophische Propädeutik", heißt es dort, „besonders ein rationeller Sprachunterricht und alle mathematische Wissenschaft", doch gäben „die eigenen Productionen der Schüler", d. h. ihre Aufsätze, „immer aufs neue Gelegenheit, auf die Notwendigkeit logischer Consequenz der Gedanken und der dadurch bedingten Ordnung der Darstellung aufmerksam zu machen" (L. Wiese 1867: 94; vgl. auch H. J. Frank 1973/1976: 207 f.). Damit waren die Voraussetzungen für eine Intellektualisierung des Aufsatzunterrichts im Sinne der formalen Logik gegeben. Die Aufsatzdidaktiker Bevor die Beamten im preußischen Kultusministerium Klarheit über den endgültigen Platz der logischen Übungen im Unterricht an den Gymnasien gewannen, hatte Robert Heinrich Hiecke (vgl. VI. 2) den Boden für ihre Aufnahme bereitet. 1842 legte er einen Entwurf für den deutschen Unterricht vor, der den Aufsatzunterricht in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Gedankenbildung, wie Hiecke statt „Denkbildung" zu sagen vorzog (R.H. Hiecke 1842: 24), brachte. Die Grundzüge seiner didaktischen Vorstellungen vom Aufsatzunterricht hat Horst Joachim Frank so charakterisiert: „Sprache und Denken gehören für Hiecke zusammen. Ohne Denken ist keine Sprache, aber ohne Sprache ist auch kein Denken möglich. Wenn also ein Schüler über einen Sachverhalt reflektiert, sich mit ihm geistig auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung in einem Aufsatz darstellt, so ist dieser Aufsatz als Ergebnis eines
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geistigen Prozesses ( . . . ) eine ,Production', wenn schon im Sinne einer Reproduction. Denn das ist das Besondere dieses ,gebundenen' Aufsatzes, daß er von vorliegenden geistigen Gegenständen ausgeht und sie durch Reflexion reproduziert" (H. J. Frank 1973/1976: 196). Der Aufsatz ist für Hiecke also zunächst und vor allem das Ergebnis einer geistigen Auseinandersetzung (vgl. auch VII.2). Drei unterschiedliche Ziele, meinte Hiecke, würden von seinen Zeitgenossen mit dem Gymnasium verbunden. Die Gelehrten forderten eine formelle Bildung: „also Uebung des Gedächtnisses und des Urtheils, Befruchtung der Einbildungskraft, Bildung des Geschmacks" (R. H. Hiecke 1842: 17). Die Kaufleute, Fabrik- und Rittergutsbesitzer usw. suchten „eine möglichst ausgedehnte und sicher angeeignete Summe solcher Kenntnisse, die einmal im praktischen Leben eine unmittelbare Anwendung erleiden" (ebd.). Die Geschäftsleute schließlich, die — wie Hiecke bissig bemerkte — „bloße Routiniers sind" (ebd.: 18), würden Fertigkeiten verlangen: „Einen geschickten, klar gedachten und gut stylisirten Aufsatz über praktische Fragen in der Muttersprache einmal zu liefern, auch mit Gewandtheit und so, daß es sich gut anhört, über solche Fälle mündlich sich auszudrücken, (wozu es denn freilich keiner besonderen Tiefe der Bildung noch idealen Schwunges bedarf) für diese beneidenswürdige Fertigkeit — das möchte eine weit verbreitete Ansicht sein, haben die Gymnasien den Schüler möglichst weit vorzubilden" (ebd.). Der Aufsatz ist das Produkt von Wissen und Gedankenbildung. Es gilt aber auch das Umgekehrte. Dadurch daß der Schüler seine Gedanken schriftlich niederlegt, befestigt er nicht nur das Wissen und macht es sich erst eigentlich zueigen, sondern übt und bildet zugleich auch seine Geisteskräfte. Die Fertigkeit im Schreiben steht also in einem dialektischen Verhältnis sowohl zu den Kenntnissen, als auch zu einer formellen Bildung. Sie sei die Synthese von Wissen und Denken, und darum komme der deutsche Unterricht im deutschen Aufsatz erst eigentlich zu sich selbst. „Er ist es, der wahrhaft das Bewußtsein formalisirt, der die freieste und klarste Entwickelung des Selbstbewußtseins nach dessen rein formeller Seite herbeiführt, indem er zu der Herrschaft über das unserer Nation natürlichste Organ des Sprechens und damit des Denkens entwickelt und erzieht" (ebd.: 280). Insofern kann Hiecke mit Recht feststellen, daß „der ganze theoretische deutsche Unterricht nach der hier vorgeschlagenen Methode eine fortgesetzte praktische Erläuterung der Logik" sei (ebd.: 248). In einem Schulprogramm aus eben dem Jahre, in dem Hieckes Buch erschienen ist, finden sich ganz ähnliche Gedanken: „Nichts ist so bildend, nichts fördert so die Klarheit im Denken, wie die freien Deutschen Arbeiten (...). Hier muss der Geist bald aus sich selbst erfinden, bald Gelesenes oder Gehörtes wiederfinden und in beiden Fällen sowohl über die Sprache als über
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den gefundenen Stoff mit Umsicht schalten. Dabei sind sowohl Gedächtniss-, Anschauungs- und Einbildungskraft, als auch Verstand und Vernunft und namentlich auch das Gemüth mehr oder minder thätig. So erregen dergleichen Uebungen die gesammten Seelenkräfte zu einer gespannten Thätigkeit, und indem sie dieselben durch ein gemeinschaftliches Band vereinigen, führen sie zum Hauptziele des Gymnasialunterrichts, zur Totalität der inneren Bildung" (C. Matthiae 1842: 2). Hiecke hatte die Bedeutung des Aufsatzschreibens für die Gedankenbildung hervorgehoben. Ihm kam es vor allem auf das an, was man vor ihm bereits die „Meditation" nannte. Ernst Laas ist ihm, wie in so vielen Punkten, so auch in diesem gefolgt: „In der Arbeit für den deutschen Aufsatz eignet man sich zu wahrhaft wissenschaftlichem Sinn, wenn anders überhaupt: wissenschaftliche Methode des Lesens (...) und Schreibens; man lernt tüchtige Kenntnisse fest und sicher hinstellen, sie frei zu beherrschen; der Geist erwirbt etwas von dem, darf ich's sagen? philosophischen Sinn (...); er lernt in dieser Palästra Zucht, Schärfe, Klarheit und Zusammenhang des Denkens (.. .); der junge Mensch erlangt diejenige formale Ausrüstung, die ihn zu jedem gründlichen, methodischen Studium der positiven Wissenschaft geschickt macht" (E. Laas 1868: 30; vgl. auch 1870: 221 ff.). In einem Punkte ging Laas jedoch über Hiecke hinaus. Hiecke sah im Deutschunterricht „eine fortgesetzte praktische Erläuterung der Logik" (s. oben), nicht jedoch in der Logik ein Mittel des Deutschunterrichts, geschweige denn des Aufsatzunterrichts. Die Operationen, die die formale Logik zur Verfügung stellte, spielten bei ihm keine Rolle. Anders Ernst Laas! Er nahm die Tradition, die Hegel begründet hatte und die in den amtlichen Verfügungen des preußischen Kultusministeriums in die Gymnasien getragen worden war, auf und legte einen Entwurf für den Aufsatzunterricht vor, der weithin durch die Schullogik bestimmt ist. Die Forderung Hegels aus dem Jahre 1822, daß bereits an Gymnasien die Anfangsgründe der Logik gelehrt werden sollten, fand bei Laas ihre Verwirklichung im Aufsatzunterricht. So findet man das ganze Arsenal an Kategorien, Operationen, Schemata und Distinktionen, die in der Logik zusammengetragen worden waren, hier wieder. Die Quelle, aus der Laas schöpfte, war nicht die zeitgenössische Logik, wie sie etwa damals an den Universitäten gelehrt wurde, sondern die Schullogik der deutschen Reformatoren: „Es ist gar kein Zweifel, dass die Auffassung der Logik, wie wir sie bei Rudolf Agricola und Melanchthon finden und wie sie die beiden grossen deutschen Kirchen- und Schulreformatoren bei der Reorganisation des Trivialcursus in Gedanken lag, dem gesunden Bildungsbedürfniss einer buntschichtigen Jugend zunächst viel besser entspricht als — nun ja, als etwa (...) die analytische Logik von A. Twesten, oder selbst als die Logik von Lotze oder Sigwart. Mag eine wissenschaftliche ,reine' Logik
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und Methodologie den Studenten angeboten werden: für die Gymnasialjugend ist vorerst diejenige Logik zuträglicher, von der Melanchthon zu sagen pflegte, dass sie sich von der Rhetorik nur dem Namen nach unterscheide, jene Logik, welche die Theorie fortwährend an Inventions- und Dispositionsübungen zur Anwendung bringt" (E. Laas 1877: 11 f.). So hat Laas die Forderungen, die in den Verfügungen der preußischen Behörde seit 1825 immer wieder erhoben wurden, in seinem Entwurf für den deutschen Aufsatz in den oberen Klassen der Gymnasien eingelöst, ausdifferenziert und in praktische Anweisungen umgesetzt. Schullogik und Aufsatzunterricht gehen hier zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Aufsatzes eine systematisch begründete und durchgeführte Verbindung ein. Der Aufsatzunterricht war danach nicht nur „für den Vortrag der Universitätslogik der geeignetste propädeutische Unterbau": „sie präparit diejenige Geschultheit, welche die theoretische Behandlungsart für sich allein nicht erzielen kann, aber natürlicherweise als stets gegenwärthigen Hintergrund voraussetzen muss" (ebd.: 12), sondern auch und vor allem eine Vorbereitung auf das Universitätsstudium schlechthin: „Die mit dem Aufsatz verknüpfte Arbeit erweist sich so nicht bloss als eine logische, sondern ganz allgemein als wissenschaftliche Propädeutik. In den Studien und Ueberlegungen, Excerpten, Analysen und Synthesen, die er nötig macht, liegt das direkte Vorspiel eines grossen Theils der wissenschaftlichen Arbeit" (ebd.: 20). Das war die theoretische Begründung für die Intellektualisierung des deutschen Aufsatzes, auf die in der Überschrift des vorliegenden Abschnittes angespielt wird. Laas hatte großen Einfluß auf die Aufsat^didaktik des ausgehenden 19. Jahrhunderts. „Wie sein Buch über den deutschen Aufsatz", schrieb Lehmann 1890, „die tiefste und zugleich die höchste Auffassung darstellt, welche dieser Unterrichtszweig bisher gefunden hat, so hat es auch den entschiedensten Einfluß auf die Praxis der letzten beiden Jahrzehnte ausgeübt" (R. Lehmann 1890: 54). Einschränkend fügte er jedoch hinzu: „Freilich hat es mehr in einzelnen seiner Teile und gerade nach einigen seiner untergeordneten Gesichtspunkte gewirkt, als daß seine Grundanschauung selber und seine eigentliche Tendenz im Unterricht zur Geltung gekommen wäre" (ebd.). Die Kritik an einem so kopflastigen Aufsatzunterricht ließ nicht lange auf sich warten. Lehmann rügte, wie viele Zeitgenossen, die „einseitige Hinneignung zur Abstraktion und Dialektik" (ebd.: 62), Klauke hielt überhaupt nichts von einer philosophischen Propädeutik im Deutschunterricht: „Weshalb dieser Unterricht mit dem eigenthümlichen Gegenstande des deutschen Unterrichts eine engere Verbindung haben sollte, als mit anderen Disciplinen, kann ich nicht einsehen" (P. Klauke 1871: 5). Andere haben sich dagegen ausdrücklich den Gedanken von Laas angeschlossen. So stellte etwa ein Lehrer des MartinoKatharineum zu Braunschweig ganz im Sinne von Laas fest: „Mit Recht wird die geistige Reife eines Schülers vorzugsweise beurteilt nach seiner Fähigkeit,
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eine größere Gedankeneinheit in seinem Geiste zu umfassen und zusammenhängend zu entwickeln (...). Um so sicherer aber wird er die im Aufsatz zu entwickelnden Gedankenreihen beherrschen, je klarer ihm das Verständnis für den zu Grunde liegenden Begriff aufgegangen ist. Z u m vollen Verständnisse aber wird er erst beim Niederschreiben selbst sich durchringen. Da wird ihm erst der volle innere Zusammenhang aufgehen: er wird das Verhältnis der Teile zum Ganzen durchschauen, die im einzelnen sich etwa ergebenden Lücken richtig ausfüllen und so ein kleines in sich abgeschlossenes Kunstwerk liefern können" (K. Koch 1889: 12).
Der Aufsatzunterricht Für das, was man als „analytischen Aufsatzunterricht" bezeichnet hat, sind nicht Inhalte und Formen, sondern die geistige Tätigkeit des Schülers, seine persönliche Auseinandersetzung mit der gestellten Aufgabe, das Wesentliche. „Man kann viel wissen, viel studiren, viel lesen, viel hören und ist doch nichts weiter. Man läßt durch Schriftsteller oder Redner sich bearbeiten und sieht in behaglicher Ruhe zu, wie eine Vorstellung in uns mit der andern wechselt. Diesem blinden Hange thätig widerstreben, eingreifen in den Mechanismus der Ideenfolge und ihr gebieten, ihr mit Freiheit eine Richtung geben auf ein bestimmtes Ziel und von dieser Richtung nicht abweichen, bis das Ziel erreicht ist: das ist der rohen Natur zuwider und kostet Anstrengung und Verläugnung" (R. H. Hiecke zit. nach E. Laas 1868: 38 f.). Aber genau dies wurde von dem Schreiber gefordert: „Der allgemeine Name für den Prozeß des Geistes, der hier gefordert wird, ist Meditation: sie ist, um zunächst ganz kurz zu definiren, die energische, concentrirte Richtung der natürlichen Ideenassociation auf einen bestimmten Gegenstand" (E. Laas 1868: 38). Die Meditation Um einen Eindruck von der methodischen Strenge zu geben, die von dem Schüler bei der Meditation erwartet wurde, sei im folgenden kurz der Gang einer Meditation wiedergegeben, wie Laas ihn vorgestellt hat. Ausgangspunkt der Meditation ist eine sorgfaltige und genaue Analyse des Themas sowohl unter sachlichen als auch unter sprachlichen Gesichtspunkten. Dazu werden eine Reihe von Operationen angeboten (vgl. 1868: 83 ff.; 1877: 30 ff.). Die Meditation selbst kann auf verschiedene Weisen vorgenommen werden. Relativ unmethodisch und darum nicht gerade favorisiert ist die sog. „kunstlose Inventio". Laas beschreibt sie folgendermaßen: „Man greift, nachdem man mit Liebe und Interesse an den Gegenstand sich hingegeben hat ( . . . ) , nach allen Gedanken, die die Erinnerung, der eigene Geist beibringen, ohne gerade eine Methode einzuhalten. Alles, was die Sache fördern zu wollen scheint,
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notirt man und grübelt und sinnt mit Ausdauer über jede Schwierigkeit. ( . . . ) Hat die Seele endlich Alles, wie man glaubt, hergegeben, sind hier und da die Bücherstellen, auf welche das Gedächtniß fiel, wieder herangezogen worden, so überschlägt man noch einmal den wohlnotirten Ertrag, streicht alles Ungehörige ( . . . ) fort, ( . . . ) ordnet und sichtet" (1868: 50). Laas spricht mit Bezug auf ein solches Vorgehen ziemlich verächtlich von einem „tumultuarischen Nachdenken" (ebd.). Sympathischer ist ihm zweifellos das „methodische Denken" (ebd.: 41). „Wie vollzieht sich unser methodisches Denken? Zu einem Teil zeigt es die fortwährende Wiederkehr gewisser logischer Kategorien ( . . . ) ζ. B. Position, Negation; Aehnlichkeit, Unterschied, Gegensatz; Allgemeines, Besonderes; Ursache, Grund, Folge; Möglichkeit, Nothwendigkeit; — zum andern Theil bezieht es sich auf gewisse Realien: auf Dinge, ihre Attribute, Relationen, Urtheile darüber (...), die den besonderen Gegenstand der jedesmaligen Wissenschaft ausmachen" (ebd.: 41 f.). Die Aufgabe des Schülers bestehe nun darin, die verschiedenen Elemente in einen Zusammenhang zu bringen. Als nützlich erweisen sich in dieser Hinsicht vor allem die Operationen, die die formale Logik zur Verfügung stellt: „Es sind die immer gleichen dialektischen Bezüge, die, mögen die Merkmale der zu gruppirenden, in Zusammenhang zu bringenden Gegenstände sich noch so sehr besondern und unterscheiden, überall das Einzelne zu wissenschaftlicher Ordnung und Einheit zusammenschließen" (ebd.: 42). „Jetzt ist der Kopf zum Nachdenken angeregt", meinte Laas. „Zwei Wege kann man nun mit den Schülern gehen" (ebd.: 43). Entweder folge man der deduktiven, synthetischen Methode: „von dem nächst gelegenen Allgemeinen zu dem Besonderen, das wir suchten" (ebd.: 44), oder man entscheide sich für die induktive, analytische Methode, d. h. man gehe „nicht von dem höher liegenden Gattungsbegriffe, sondern von den unterliegenden Arten, nicht vom Allgemeinen, sondern von dem Besonderen" aus (ebd.: 47). Was Ludwig Schaaf (1812), Christoph Ferdinand Falkmann (1823) u. a. zu Beginn des Jahrhunderts von der Meditation gefordert hatten, aber selber nicht geben konnten (vgl. V. 5), ist hier eingelöst. Laas zeigt akribisch genau einen Weg auf, wie der Schüler mithilfe verschiedener logischer Operationen methodisch stringent auf Gedanken kommen, sie sichten und ordnen kann. Die Themen Die Themen der Aufsätze wurden in der Aufsatzdidaktik bisher unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Stoffes, auf den sie sich bezogen und dessen Kenntnis sie voraussetzten, in zweiter Linie im Blick auf das Ausmaß an Freiheit, das sie dem Schüler bei seiner Bearbeitung gewährten. Freiheit und Bindung waren die beiden Extreme, innerhalb derer sie sich bewegten. Nun aber entdeckte man ein weiteres Kriterium: ihre logische Potenz, d. h. das Ausmaß an logischen Fähigkeiten,
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das sie dem Schüler abverlangten oder zu entwickeln beanspruchten. „Die Themata unterscheiden sich nicht bloss nach den Stoffen und Unterrichtskreisen, aus denen sie genommen sind, nicht bloss durch das grössere oder geringere Mass von freier Bewegung, das sie voraussetzen; sie unterscheiden sich auch ihrer inneren logischen Natur nach" (E. Laas 1870: 218). Wie man sich Themen, die sich durch ihre „innere logische Natur" auszeichnen, vorzustellen habe, hat Laas mit Blick auf die klassische Rhetorik so erläutert: „In den rhetorischen Schriften der Alten handelt es sich freilich, wie beim Process und in der deliberativen Rede, immer um (...) einen Streitpunkt, um einen Gegenstand der Untersuchung und des Beweises; und es wurde für den künftigen praktischen Zweck gleich auf der Schule die Fähigkeit eingeübt, dergleichen proposita in utramque partem zu behandeln. Von dem letzteren sehen wir nun freilich ab, da es uns nicht auf die Ausbildung einer gegen die sittliche Qualität der Sache indifferente Rabulistik ankommt. Aber auch unser nur dem Dienst redlicher Ueberzeugung und ehrlicher Wahrheit ergebener Aufsatz wird auf der obersten Stufe, die wir geradezu eine reflectirende und argumentirende nannten, um der Bedürfnisse der allgemeinen und im besonderen der wissenschaftlichen Bildung willen in hervorragendem Masse sich mit Problemen, mit Sätzen, die eine zu lösenden Aporie enthalten, abgeben" (ebd.: 219). Es handelte sich also um ausgesprochen problemorientierte Themen, die zur Reflexion und Argumentation aufforderten. Man kann durchaus von „Problemaufsätzen" sprechen, Laas sprach von „Denkübungen" (ebd.: 223) oder — genauer — von „dialektischen Uebungen" (ebd.: 225). Themen, die zur Reflexion und Argumentation anregen, waren keineswegs neu. Sie finden sich im 18. Jahrhundert und waren vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts außerordentlich beliebt (vgl. VI. 3). Man sprach meist von „allgemeinen" oder „moralischen Themen". Solche allgemeinen oder moralischen Themen (andere sprechen auch von „freien" oder „rationellen Themen", etwa K. Menge 1890: X), gewannen aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine andere Funktion. Es kam nun nicht mehr so sehr darauf an, den Schüler ein begründetes Urteil über eine strittige Frage, als vielmehr bei der Urteilssuche logische Operationen finden zu lassen. Sie wurden zum Medium der Schulung im logischen Denken. Sie sind „wichtig", meinte Laas, „um an ihnen die Lehren von der Inventio, die Verwerthung richtiger Divisionen und Partitionen, überhaupt die topoi methodischer Gedankenbewegungen beizubringen" (ebd.: 225), und bilden so „ein bedeutendes Contingent für jene dialektischen Uebungen" (ebd.). „Aus der Praxis werden die allgemeinen Gesichtspunkte, die logischen Lehren über inductive oder analytische wie über deductive oder synthetische Methode, über Definition, Gattung, Art, Eintheilung, die Kategorien der Aehnlichkeit, des Unterschiedes und Gegensatzes, der Causalität, der Möglichkeit und N o t w e n d i g keit gewonnen und gesammelt" (ebd.: 226).
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Laas stellte ohne Bedenken sowohl die „allgemeinen" (eher philosophischen) als auch die „moralischen" (eher religiösen oder ethischen) Themen in den Dienst der Denkschulung. Seine Zeitgenossen waren penibler. In der Regel wurden die allgemeinen Themen akzeptiert. Nicht alle urteilten so zurückhaltend, wie Otto Apelt: „sie mögen ein Übel sein, aber sie sind aus mancherlei Gründen ein notwendiges Übel" (O. Apelt 1883: 192). Franz Linnig setzte sich im Vorwort zur 4. Auflage seines damals viel benutzten Buches zum Aufsatzunterricht mit Bezug auf Laas ausdrücklich für sie ein: „Gerade die sogenannten allgemeinen Themata sind für die Schule unentbehrlich, weil an ihnen die Schüler lernen, gegebene Begriffe nach Tiefe und Breite aufzuschließen und aus kunstgerecht bereitetem Schachte das Gold selbständiger Gedanken heraufzufördern. Definitionen, Begriffsentwicklungen, die Ausschöpfung und Beleuchtung des Gedankeninhalts von Sentenzen und Sprichwörtern sind Übungen, wie sie für die logische Schulung des Geistes nicht wirksamer gefunden werden können" (zit. nach K. Menge 1890: Xf.). Ähnlich äußerten sich auch K. Koch (1889: 12), K. Menge (1890: X), W. Strehl (1895: 8 f.), sehr zurückhaltend auch R. Lehmann (1890: 74) u. a. m. Auf große Reserve stießen dagegen die „moralischen Themen". „Alle dergleichen in guter Meinung mit moralischer Tendenz gestellten Themata wirken geradezu demoralisierend, weil sie der Wahrheit des ethischen Gedankens die Kraft und Frische der Einwirkung auf die Seele nehmen. Es sind dem Schulknaben Plattitüden geworden, daß das Leben nicht der Güter höchstes ist, daß der Preis des Lebens Anstrengung fordert, daß der Egoismus die Ursache vieler menschlicher Fehler ist und dergleichen mehr" (L. Wiese zit. nach R. Lehmann 1890: 77; ähnlich auch O. Apelt 1883: 192; R. Lehmann 1890: 76f. u . a . m . ) . Es waren, wie man sieht, in erster Linie moralische Bedenken, die gegen die Bearbeitung moralischer Themen sprachen. Ihr Nutzen für die logischen Exerzitien war — wohl zurecht — völlig aus dem Blick geraten.
Die Aufsat^formen Die neue Absicht des Aufsatzunterrichtes: die Schulung des logischen Denkens hat auch die Auswahl der Aufsatzformen bestimmt und zur Entwicklung neuer beigetragen. Man war nicht der Auffassung, daß nun alle Aufsätze über den neuen Kamm zu scheren seien: „es wäre ungesund und dem Wesen einer allseitigen Geistesbildung widersprechend, wenn man den Schüler immer nur anhalten wollte, zu grübeln und an Denkschwierigkeiten sich abzuquälen, bis er die dialektische Freude der Lösung hat" (E. Laas 1870: 223). Es soll auch das, „was glatt und eben liegt, in aller Ruhe und Gelassenheit — aber in nicht minderer Ordnung und Geschlossenheit" (ebd.) vorgetragen werden können. Die narrativen und deskriptiven Aufsatzformen (vgl. VI. 3) wurden also weiter gepflegt, und zwar bis in die oberen Klassen.
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Z u m Teil wenigstens neu und für die kognitive Ausrichtung charakteristisch sind einige „dialektische Übungen", die Laas zusammengestellt und in eine systematische O r d n u n g gebracht hatte. Die dialektischen Übungen setzten bei den Begriffen ein und stiegen Schritt für Schritt bis zu den Urteilen auf. Ihr Zweck war in jedem Fall die Einübung logischer Operationen. „Dem Schüler müssen diese Formen", so hat es Laas gefordert, „eingeprägt werden. ( . . . ) Sie müssen überall, wo beim Lesen, gemeinsamen Meditiren und bei der Zurückgabe der Aufsätze Methoden aufgewiesen werden, wieder und wieder zur Sprache kommen. ( . . . ) Wer mit den angegebenen Kategorien und Manipulationen noch keine Argumente findet, dem ist nicht viel zu helfen; einsetzen kann man ihm keine; man kann nur die Wege dahin weisen, wo sie die Sache birgt (...). ( . . . ) Augen machen kann keine Methode. Augen schärfen, sehen, beobachten und entdecken lehren (...): das kann man" (E. Laas 1877: 200 f.). „Diesem geistigen Sehen und Finden lernen" (ebd.) dienten die dialektischen Aufsatzformen. Die Reihe beginnt noch vor den Definitionsversuchen mit verschiedenen „Zerlegungsformen" (zum folgenden vgl. E. Laas 1877: 111 — 201): der Zerlegung eines Ganzen in seine Teile (die sog. Partitio), also etwa der Zerlegung der Seele in Gedächtnis, Einbildungskraft, Verstand usw.: der Zerlegung einer Gattung in ihre Arten, Species (die sog. Divisio), ζ. B. die Zerlegung des Kollektivbegriffs Menschheit in Rassen, Klassen, Gruppen und Individuen; der Unterscheidung der Synonymen voneinander (distinctio); der Analyse der integrierenden Elemente eines Begriffs (analysis) und schließlich der Gruppierung, O r d n u n g und Klassifikation eines Besonderen zum Allgemeinen (distributio). Lauter logische Operationen, die Anlaß zu schriftlichen Ausarbeitungen sein können und damit in den Rang von Aufsatzformen erhoben wurden. Dann kamen die eigentlichen Definitionsversuche: „Die Bedeutung der moira bei Homer", „Was nennt Lessing ein christliches Trauerspiel?", „Der Ehrbegriff Tellheims in der Minna von Barnhelm", „Was versteht Lessing in der Hamburger Dramaturgie unter einem Genie?", aber auch „Definition des Begriffes Vorurtheile", „Welches sind die wesentlichen Merkmale des Komischen?". Die Definition ist für Laas „gleichsam eine verkürzte, condensirte Analyse" (ebd.: 135). „Anstatt den Begriff in alle Notiones zu zerlegen, ( . . . ) wird ein Theil der Reihe gleichsam durch E i n f ü h r u n g einer logischen Klammer, des Gattungsbegriffs, mehr angedeutet als ausgeführt; aber diese Operation hat den grossen Vortheil, dass damit der systematische Ort des Begriffes ( . . . ) mitbezeichnet wird" (ebd.). „Der Aufsatz wird", wie H . J . Frank zurecht konstatierte, „zur Definitionsübung" (H. J. Frank 1973/1976: 204). Auf die Begriffsdefinitionen folgten die Bestimmungen der Relationen unter den Begriffen. „Die gewöhnlichsten logischen Correlata sind Genus
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und Species, Grund und Folge. Aber auch die Kategorien des Plus und Minus, der Aehnlichkeit, des Gegensatzes sind correlativen Charakters" (E. Laas 1877: 157). Im Rahmen einer Schulung des logischen Denkens spielten natürlich die kausalen Relationen eine ausgezeichnete Rolle. „Die Gefahren der Einsamkeit" ist ein Thema, das Laas anführt, um kausale Relationen explizieren zu lassen. Von den Begriffen stieg die Systematik zu den Urteilen auf. Horst Joachim Frank hat diese Aufsatzform so vorzüglich charakterisiert, daß ich gerne seinen Worten folge: „Hier wird der Schüler aufgefordert, die Gültigkeit des Urteils zu bestimmen, zum Beispiel ,Morgenstund hat Gold im Munde' oder .Vielen gefallen ist schlimm' (Schiller). Das verlangt zunächst wieder eine genaue Bestimmung der einzelnen Begriffe des Urtheils, damit ,über den Sinn, den Inhalt des betreffenden Urtheils kein Zweifel walte'. Das verlangt darüber hinaus mannigfache Umschreibungen und Beispiele. Ist durch solche ,Paraphrase' das Thema hinlänglich verdeutlicht, so kann die ,Ätiologie' beginnen: Argumente und Belege pro et contra werden gesammelt und gegeneinander abgewogen. Auf diese Weise gelangt der Schüler zur Bestätigung, Einschränkung oder Widerlegung des Urtheils. In der Regel jedoch, und das ist bezeichnend, ist dem Schüler das Ziel des Aufsatzes vorgeschrieben: Die thematische Ansicht soll bewiesen werden" (H. J. Frank 1973/1976: 205). An dieser Stelle mündet die Laassche Systematik in den Strom der tradierten Aufsatzformen ein. Die schriftliche Bearbeitung von Urteilen in der Form von Redensarten, Sprichwörtern, Sentenzen, Maximen, sog. „geflügelten Wörtern", usw. war immer schon Gegenstand von Aufsätzen, und zwar so lange es einen Aufsatzunterricht gab. Die Antike hatte ein Schema für ihre Behandlung im Unterricht zur Verfügung gestellt: die sog. Chrie. Aber eine derart schematische Behandlung von Urteilen widersprach dem logischen Geist der Zeit. An die Stelle der Chrie setzte man eine Aufsatzform, die aus der Chrienform abgeleitet, aber eine freiere Bearbeitung von Urteilen der verschiedensten Art zuließ: die Entwicklung. „Entwicklungen nennen wir diese Aufgaben, weil sie den Zweck haben, eine ausgesprochene Wahrheit nicht sowohl zu beweisen, als zu entfalten und zu erläutern, zu beleben und fruchtbar zu machen" (F. Linnig 1872: 443). „Sie unterscheidet sich von der Abhandlung dadurch, daß der Beweis in ihr zwar einen Theil der Ausführung bildet, aber nicht, wie bei letzterer, den einzigen und Haupttheil" (F. Linnig 1871: 169). Entwicklungen wurden bereits früher erwähnt, aber doch nur vereinzelt (vgl. etwa F. Gedike 1793: 22; C. F. Falkmann 1823: 362). Durchgesetzt haben sie sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Grund dürfte der Nutzen gewesen sein, den man sich von dieser Aufsatzform für die
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dialektischen Aufsatzübungen versprach. Schon 1855 hob ein GymnasialOberlehrer eben diesen Aspekt heraus: „Die Räthlichkeit dieser Art von Aufsätzen ist keinem Zweifel unterworfen. Sie lassen der selbständigen Kraft des Schülers freien Spielraum, nöthigen ihn, Alles herauszugeben, was er an geistigem Gehalte in sich trägt, und erweitern durch das Nachdenken über die Tragweite einer Sentenz den Kreis seiner Lebensanschauungen" (C. Franke 1855: 10). Gerade überschwänglich pries H. Bone diese Übungsform: „Es sind dieses die ergiebigsten und angemessensten Aufsätze philosophischer Art für die höheren Bildungsstufen, denn sie nehmen den ganzen Menschen in Anspruch und doch nur insoweit, als der persönliche Standpunkt des Einzelnen reicht. ( . . . ) Der Geist muß gleichsam Alles hergeben, was er an formalem Gehalte in sich trägt, muß den vollen Höhepunkt seines gesamten Denkens und Anschauens einnehmen, um das Gebiet der gegebenen Wahrheit zu überschauen und sie selbst wieder zu einer neuen Stufe zu machen, von welcher sich die Aussicht für ihn erweitert" (zit. nach Ε Linnig 1871: 169). Weil die Entwicklung so ganz der intellektuellen Tendenz der Aufsatzdidaktik entsprach, wurde sie bald zu einer der beliebtesten Aufsatzformen in der Oberstufe der Gymnasien. „Die Statistik der Programme zeigt", glaubte Linnig feststellen zu können, „dass diese Art Aufsätze weitaus in den oberen Klassen vorwiegen und nach fast constantem Usus die Abiturientenaufgaben aus diesem Felde entnommen werden" (F. Linnig 1872: 443; vgl. auch F. Linnig 1871: 169ff.; R. Lehmann 1890: 320ff.; F. Schultze 1887/1903: 44ff.). Geradezu selbstverständlich war es, die Form der Abhandlung, die bereits im 18. Jahrhundert unter die Aufsatzformen aufgenommen wurde, (vgl. V. 5), in den Dienst der Schulung logischen Denkens zu stellen. „Von der Entwicklung unterscheidet sich die Abhandlung dadurch, daß sie eine Thesis zum Ausgang nimmt, von der erst das Resultat der Untersuchung ergeben soll, ob sie wahr oder falsch ist, ob sie allgemein oder beschränkte Giltigkeit habe" (F. Linnig 1871: 191). Ihr Zweck ist „die Wahrheit zu erweisen, oder den Irrthum zu widerlegen" (ebd.). In der alten, der rhetorischen Tradition des ausgehenden 18. Jahrhunderts, aber auch noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Abhandlung neben dem logischen auch noch einen rhetorischen Zweck. Einmal galt es, „was für, oder wider eine Sache, Handlung oder Entschließung gesagt werden kann" (J.C. Gottsched 1754/1756: 171 f.) ins Kalkül zu ziehen, dann aber auch gleichzeitig, den Leser, wenn nicht zu überzeugen, so doch wenigstens zu überreden. Noch 1848 konnte man lesen: „Es reicht dann nicht hin, die Wahrheit eines Satzes gründlich zu erweisen, sondern die ganze Darstellung muß auch der Art sein, daß sie die Leser oder Hörer recht lebendig in Anspruch nehmen und auf deren Gemüth eine kräftige Wirkung äußern kann" (E. L. Ritsert 1848: 296). Mit der Entrhetorisierung der Aufsatzformen, die während des 19. Jahrhunderts um sich griff (vgl. VI. 3), wurde auch die
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Abhandlung ihres rhetorischen Zweckes entbunden. Von nun ab diente sie einzig und allein dem Erweis der Wahrheit oder Falschheit eines Satzes: „Die Abhandlung ist ihrem Wesen nach untersuchend und wird deshalb oft geradezu Untersuchung (quaestio) genannt. Der Zweck jeder Untersuchung ist Erkenntnis und die Erkenntnis beruht auf Gründen. Das Wesen der Abhandlung, auch wenn sie erklärend oder würdigend ist, besteht also darin, daß der Schreibende seine Ansicht beweist, d. h. begründet" (K. A. J. Hoffmann 1860: 90; vgl. auch F. Beck 1861/1867: 74; J. Naumann 1874: 201; R. Lehmann 1890: 333 ff.; F. Schultze 1887/1905: 57 ff. und natürlich F. Linnig 1871: 191 ff.). Die Veränderungen in der Funktionsbestimmung der Abhandlung haben schließlich auch die Beschreibung ihrer Form nicht unberührt gelassen. Von nun an ist „die Beweisführung die Hauptsache, und die richtige logische Anordnung der Gedanken von besonderem Gewicht" (F. Beck 1861/1867: 74). Diese Konzentration auf die logischen Aspekte der Abhandlung machte diese nicht nur geeignet für das von den staatlichen Behörden verordnete logische Propädeutikum, sondern führte auch dazu, daß das ganze Arsenal, das die formale Logik an Beweismöglichkeiten, Beweisschritten, Schlüssen, Modifikationen der Schlüsse usw. zur Verfügung hatte, nun in die Beschreibung der Form einer Abhandlung aufgenommen werden konnte.
Die Disposition Daß das Disponieren von Aufsätzen eine vorzügliche Schulung des Denkens ist, war keine neue Erkenntnis. Viele Aufsatzdidaktiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben auf diese Möglichkeit hingewiesen (vgl. Kap. V. 5). Auch in den amtlichen Verlautbarungen aus dem preußischen Kultusministerium wurde seit 1825 immer dringlicher auf die Notwendigkeit logisch geordneter Dispositionen aufmerksam gemacht. Von vorneherein spielte bei den Ministerialen der Zusammenhang mit dem von Hegel geforderten philosophischen Propädeutikum eine wichtige Rolle. So heißt es etwa in der „Circular-Verfügung des Königl. Consistoriums zu Magdeburg für die Gymnasien" vom 12. August 1825: „In Prima und Sekunda, wo die freien Ausarbeitungen vorzüglich stattfinden, müssen sie besonders auch als Uebungen in der praktischen Logik betrachtet und behandelt werden (...). Demgemäß sind zu dem deutschen Aufsatze der Abiturienten vorzugsweise solche Themen aufzugeben, welche eine logische Anordnung nothwendig machen, und bei Beurtheilung der deutschen Aufsätze muß stets sowohl die höchste Correctheit in jeder grammatischen Hinsicht, als auch die Richtigkeit und Klarheit der Anordnung berücksichtigt (...) werden" (F. Schultze 1831: 126). In einem Circulare vom 12. Februar 1829 wurde die Forderung wieder aufgenommen: „Nicht dringend und oft genug aber können wir die Aufgabe
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bald kürzerer, bald mehr ausgeführter, immer aber streng logischer Dispositionen empfehlen" (ebd.: 85). Es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Behörde vornehmlich in nach logischen Prinzipien aufgebauten Dispositionen ein ausgezeichnetes Mittel für die logische Schulung der Schüler sah. Die Aufsatzdidaktiker sind den Hinweisen des Ministeriums gefolgt. 1858 legte Johann Heinrich Deinhardt, der Direktor des Gymnasiums zu Bromberg, in einem Schulprogramm eine Abhandlung zur Dispositionslehre vor, die für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgebend geworden ist (J. H. Deinhardt 1858; 1878 separat als Buch erschienen). Auch Deinhardt hob „das logische M o m e n t " beim Disponieren hervor: „Man sieht ( . . . ) , daß die Disposition der logische Theil oder das logische Moment jeder Rede und Abhandlung ist, indem das einem allgemeinen Begriffe oder Zwecke (einem bestimmten Thema) entsprechende Vertheilen und Anordnen der Gedanken ohne Zweifel als eine logische Operation des Verstandes betrachtet werden m u ß " (J. H. Deinhardt 1858: 2). Zwar erwachse eine Disposition letztlich aus der dargestellten Sache. Doch gebe es für jede „allgemeine Gattung von Darstellungen" (ebd.: 7), also für jede Aufsatzform, ja schließlich auch „für alle Arten von Darstellungen" (ebd.) bestimmte Dispositionsregeln, und auf diese allgemein gültigen Regeln käme es bei einer Dispositionslehre, wie sie Deinhardt vor Augen stand, an. Auch Deinhardt hat dann eine Verbindung zu einem philosophischen Propädeutikum hergestellt: „Aber von allem Nutzen, den die allgemeine Dispositionslehre für die Rhetorik und Stilistik hat, bietet sie in sich selbst ein so tiefes logisches Interesse und läßt sich zudem mit einer solchen Anschaulichkeit entwickeln, daß sie als eine vortreffliche philosophische Propädeutik erscheint, die so lange in den höheren Schulunterricht aufgenommen werden muß, so lange man nicht auch noch die deutschen Aufsätze und ein logisch geordnetes Sprechen und Schreiben überhaupt für unwesentlich erklären will" (ebd.: 9). Der Stil Auch der Stil der Schülerarbeiten ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine logische Aufgabe begriffen und die Stilistik in den Dienst der Schulung logischen Denkens gestellt worden. „Der deutsche Stil", heißt es in einer bekannten pädagogischen Enzyklopädie, „hat die allgemeinen Forderungen, die an den Stilisten jeder Sprache gestellt werden, zu erfüllen (...). Jene allgemeinen Gesetze sind logischer und ästhetischer Natur: Wahrheit und Schönheit" (A. Hoppe 1873: 245). Eine solche Feststellung dürfte nicht ganz stimmig sein, insofern als Schönheit zwar eine ästhetische, Wahrheit aber eine sittliche und wohl kaum eine logische Forderung darstellt. So unterschied der Autor an anderer Stelle auch richtig zwischen der sittlichen Forderung der Wahrheit auf der einen und den logischen Forderungen an den Stil auf der anderen Seite (vgl. ebd.: 256). Ein guter Stil hat also logischen,
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sittlichen und ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Logischen, weil jede sprachliche Äußerung der Ausdruck von Gedanken ist, sittlichen, weil jede Feststellung oder Behauptung den Anspruch, wahr zu sein, erhebt, und schließlich ästhetischen, weil sie gefallen will. Hier interessieren nur die logischen Eigenschaften des Stils. „Die logischen Eigenschaften des Stils beziehen sich auf die Sprache, sofern diese der Ausdruck der Gedanken ist" (A. Kutzner 1882: 28). Da Sprache nach der zugrundeliegenden Auffassung immer beides zugleich ist: sowohl Ausdruck (von Gedanken) als auch Gedanken (die zum Ausdruck kommen), beziehen sich die logischen Eigenschaften des Stils einmal auf die Gedanken — die gedankliche Seite einer Äußerung, das andere Mal auf den Ausdruck — ihre sprachliche Seite. Dementsprechend gibt es auch zwei fundamentale Eigenschaften des Stils, die als genuin logisch bezeichnet werden könnten: Bestimmtheit und Klarheit. Eine sprachliche Äußerung ist logisch bestimmt, wenn „die Wahl der bezeichnendsten Ausdrücke und ihre korrekte Verbindung miteinander" so beschaffen ist, „daß der darzulegende Gedanke klar erfaßt werden kann" (ebd.). Bestimmtheit zeichnet also die sprachliche Seite einer Äußerung aus. Klarheit dagegen liegt vor, wenn „der Schüler klar gedacht hat; sie bezieht sich demnach auf die ganze Wendung des Gedankens oder ganzer Gedankenreihen" (ebd.: 31). Bestimmtheit und Klarheit machen die Verständlichkeit von Texten aus. Auf diese zielten letztlich die logischen Forderungen. Bestimmtheit (zuweilen sprach man auch von Deutlichkeit) und Klarheit waren auch die beiden Forderungen, die an einen jeden Schüleraufsatz gestellt wurden. Er sollte in jedem Fall verständlich sein. So wurde auch den logischen Eigenschaften des Stils Priorität eingeräumt: „Mit der steigenden Schwierigkeit des Thema's soll die Forderung an den Stil gleichen Schritt halten; in den mittleren Classen fangt er an selbständig zu werden, in den obern erlangt er immer mehr Reife und Festigkeit, und der Primaner darf sich nicht mehr wie ein Schüler der früheren Classen ausdrücken, sondern sein Aufsatz soll sich auszeichnen, sei es durch Gedrungenheit der Darstellung oder durch Eleganz im Ausdruck oder durch kunstvolle Periodenbildung, oder durch mehrere dieser Eigenschaften zugleich. Gleich ist nur für alle Classen die logische Forderung nach Klarheit und die sittliche Forderung der Wahrheit" (A. Hoppe 1873: 256). Entsprachen die Aufsätze diesen Forderungen? Nicht mehr und nicht weniger, als die Aufsätze heute den Anforderungen der Didaktiker entsprechen. Natürlich gelingt einem Schüler nicht jeder Aufsatz — auch nicht stilistisch. Auch ist der Stil abhängig von der Aufsatzform. Logische Eigenschaften des Stils sind eher in einer Beschreibung zu erwarten, als in einer Erzählung. „Will jemand ein Haus bauen", liest man in einem Aufsatz aus dem Jahre 1886 zum Thema „Der Bau eines Hauses",
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„geht er erst zu einem Maurermeister. Dieser entwirft den Bauriß. Gefällt derselbe dem Betreffenden, so unternimmt der Maurermeister den Bau des Hauses. Er schickt die nötigen Arbeiter her, welche zuerst den Grund ausschachten. Ist derselbe hart, geht das Graben zwar schwer, aber die Mauern stehen fest. Ist derselbe aber weich, so muß man einen Cement- oder Steinboden in den Keller legen. Nun beginnt das eigentliche Bauen . . . " . Der Aufsatz stammt vermutlich aus einer Quinta (heute 6. Klasse) der Stadt- und Töchterschule Hannover II (heute: Lotte Kestnerschule). Die Wahl der Wörter („Bauriß", „Grund", „Cement- oder Steinboden", „ausschachten") ist genau. Nirgends wird der Leser über die syntaktischen Bezüge im Unklaren gelassen. Der Stil zeichnet sich also durch Bestimmtheit aus. Die logischen Bezüge sind bei einer Beschreibung meist durch den zeitlichen Ablauf der einzelnen Verrichtungen bedingt und stellen in der Regel keine großen Ansprüche an den Schreiber. Dennoch läßt die angeführte Passage das Bemühen der Schreiberin erkennen, die einzelnen Gedanken nicht nur zeitlich, sondern auch logisch zu ordnen. Das Mittel, das sie anwendet, sind Bedingungssätze: „Gefallt derselbe (der Bauriß O. L.) dem Betreffenden, so . . . " , „ist derselbe (der Baugrund O. L.) hart, geht das Graben schwer . . . " , „ist derselbe aber weich, so . . . " . Ihr Stil ist, soweit sich das von einer Quintanerin erwarten läßt, also auch klar. Nicht uninteressant sind die Gesichtspunkte, die die Lehrer bei der Beurteilung der Arbeiten anführten. Auch wenn das mir zur Verfügung stehende Material keinesweges repräsentativ ist, läßt sich eine Entwicklung erkennen. Bis zu den achtziger Jahren überwiegen allgemeine Urteile über den Stil. „Die Sprache ist gut, angemessen, fließend usw.", so lautet das Urteil in der Regel. Zuweilen findet man Ansätze zur Differenzierung: „die Sprache gut, lebendig, mitunter schön" (eigene Sammlung 1850); „in einer durchaus edlen und gebildeten Sprache" (ebd.). Es sind ästhetische Eigenschaften des Stils, auf die man sich bezieht. In den achtziger Jahren verändert sich das Bild. Die allgemeinen Urteile verschwinden keineswegs, doch spielen plötzlich logische Eigenschaften eine Rolle. Die Darstellung ist „klar und angemessen" (1881), „klar und gewandt" (1882), „logisch richtig" (1890), so steht es unter den Aufsätzen. Es überwiegen negative Beurteilungen: „der Einleitung fehlt Klarheit und Folgerichtigkeit" (1884), „in der Ausführung ist bisweilen nicht streng logisch verfahren" (1885), „in der Ausführung ist der logische Zusammenhang der Gedanken vielfach nicht ersichtlich" (ebd.). Die Betonung des Logischen in den achtziger Jahren dürfte auf den Einfluß zurückzuführen sein, den die Laassche Aufsatzdidaktik damals ausübte. In den neunziger Jahren sind die Urteile über die logischen Eigenschaften mit einem Schlage verschwunden. Nicht die Verständlichkeit spielt eine Rolle, aber auch nicht die Schönheit des Stils, sondern die „Sicherheit". Die Kaiserzeit macht sich bemerkbar.
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5. Eine neue Konzeption: der literarische Aufsatz (R. H. Hiecke) Literarische Aufsätze sind Aufsätze, die zunächst einmal nur durch ihren Stoff bestimmt sind. Sie beziehen sich ausschließlich auf belletristische Texte, literarische Stoffe sind ihre Gegenstände, und ihre Themen bestehen aus literarischen Aufgaben. Heute sind literarische Aufsätze nichts Außergewöhnliches. Im 19. Jahrhundert jedoch handelte es sich um ein Novum, das für die Geschichte des deutschen Aufsatzes von großer Bedeutung werden sollte. Die Vorgeschichte Die Idee an sich war nicht neu, auch wenn sich literarische Aufsätze im prägnanten Sinne des Wortes erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen lassen. Aus der ersten Hälfte oder gar aus dem 18. Jahrhundert stammen drei Traditionsansätze, von denen jeder für sich zur Ausbildung der Konzeption eines literarischen Aufsatzes hätte führen können. (1) Im Fremdsprachenunterricht, vor allem im Griechischen und Lateinischen, waren schriftliche Arbeiten über Stoffe aus den sog. klassischen Autoren nichts Ungewöhnliches. Teils sah man in solchen Übungen ein geeignetes Mittel, um die Lektüre zu unterstützen und zu intensivieren. So heißt es etwa im Vorwort eines „Ideenmagazins für Lehrer in obern Klassen der Gymnasien und Lyceen" aus dem Jahre 1804: „Daß ich größthentheils die ältere klassische Literatur berücksichtigte, dabei leitete mich die Erfahrung, daß durch schriftliche Arbeiten in Bezug auf die Klassiker das Interesse am Privatstudiren sicherer geweckt und bleibender genährt wird, als durch die bloße Lektüre, welche bekanntlich ( . . . ) entweder sehr bald ermüdet, oder Indolenz und Einseitigkeit begründet" ( J . D . Schulze 1804: II). Teils wurden Ausarbeitungen über Gegenstände aus der klassischen Literatur aber auch betrieben, um den Stil der Jugendlichen zu bilden. Sprechen lerne man am besten zuhause, meinte Friedrich Thiersch. Denken sei „die Frucht eines guten wissenschaftlichen Unterrichtes" (F. Thiersch 1826: 342). Die Kunst aber, „die Frucht richtigen Denkens und gründlichen Wissens in der äußeren Form mit Gewandtheit und Wohlgefalligkeit darzustellen", den Stil also, gewinne man „allein durch einen anhaltenden, vertrauten Umgang mit den besten Werken edler Geister" (ebd.). Gemeint waren die römischen und griechischen Schriftsteller. „Der in solcher Pflege erzogene Jüngling", so folgerte Thiersch, „wird, durch edle Muster genährt und durch Uebung gestärkt, anfangen die Form seiner Gedanken und Ansichten, seiner Gefühle und Erwägungen mit Wohlgestalt zu umgeben, und zuletzt wird die Blüthe des gebildeten Geistes auch in seiner Rede in junger Schönheit und Frische hervorbrechen" (ebd.: 367). Nicht nur lateinische, sondern auch deutsche Aufsätze über Gegenstände
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aus der klassischen Literatur der Antike schreiben zu lassen, das galt den Neuhumanisten als geeignetes Mittel zur Bildung des Stils. (2) Es lag nahe, diesen Gedanken nicht auf die antike Literatur zu beschränken, sondern auch die deutsche mit zu berücksichtigen. So wollte auch Thiersch die deutschen Schriftsteller nicht ganz aus dem Aufsatzunterricht ausgeschlossen wissen: „nur soll man nicht von ihnen das Gedeihen erwarten, sondern sich derselben nur als eines Mittels bedienen, um sich im Einzelnen des Ausdrucks zu benehmen, und auf das Besondere des deutschen Gebrauches bestimmt hinzublicken" (ebd.: 349). Andere vor ihm waren nicht so penibel, vor allem einige aufgeklärte Pädagogen. Für Johann Friedrich Heynatz, Lehrer am Grauen Kloster zu Berlin, soll die Lektüre den Unterricht ergänzen: „Alle Anweisungen zur Verfertigung eines guten Aufsatzes werden für denjenigen unnütz seyn, der nicht eine Anzahl guter Schriften gelesen hat. Durch das mit Nachdenken verknüpfte Lesen wird der Kopf aufgeräumt und helle gemacht, so daß man nun im Stande ist, selbst mit einigem Fortgange seine Feder anzusetzen" (J. F. Heynatz 1773: 520; vgl. auch 572). Heynatz sprach von deutschen Schriften. Der später durch seine Schriften zur Ästhetik bekannt gewordene Johann Georg Sulzer (1720 — 1779), Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, hatte 1768 ein deutsches Lesebuch mit dem Titel „Vorübungen zur Erweckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens" herausgebracht. Der Titel spielt auf Gottscheds „Vorübungen zur Beredsamkeit" (1754) an und bezeichnet ein Kontrastprogramm. An die Stelle der Beredsamkeit trat „die Aufmerksamkeit und das Nachdenken". Anregungen dazu sollte das Lesebuch geben. In der Vorrede führte Sulzer einige Möglichkeiten an, wie das Buch im Unterricht Verwendung finden könnte. Schriftliche Aufsätze werden nicht erwähnt. Doch zwischen 1780 und 1782 kam eine dritte Auflage des Sulzerschen Lesebuches heraus, ergänzt und erweitert auf drei Bände und einen weiteren für die Hand des Lehrers, und in diesem wurde an vielen Beispielen gezeigt, wie das Lesebuch für den Aufsatzunterricht genutzt werden konnte. Betreut hatte diese Auflage der bekannte Direktor des Joachimsthalschen Gymnasiums, Johann Heinrich Ludwig Meierotto (1742 — 1800). Die damals üblichen Formen schriftlicher Übungen sucht man hier vergebens. Alle Übungsformen wurden allein aus den Möglichkeiten abgeleitet, die das Lesebuch bot: Beantwortung von Fragen zur Lektüre, Textauszüge, Übersichten, aber auch kleinere „Erfindsamkeiten", wie etwa Lösungen von Aufgaben, Beschreibungen, eigene Fabeln usw. Mit seinen Bemerkungen hat Meierotto als erster gezeigt, wie sich der Aufsatzunterricht auf die Lektüre des Lesebuches und also auch auf die Lektüre deutscher Schriften gründen ließ. 1835 legte Robert Heinrich Hiecke (vgl. VI. 2) eine ganz ähnliche „Sammlung auserlesener Prosastücke" vor. Daß er das Sulzersche Lesebuch in der Bearbeitung von Meierotto gekannt hat, ist anzunehmen. Nachweisen aber kann man es nicht. Hiecke forderte im Vorwort, daß der Aufsatzunterricht
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an die Lektüre und Interpretation deutscher Schriften anzuschließen sei: „der Schüler muß lesen lernen, wenn er schreiben lernen soll" (R. H. Hiecke 1835: IV). Zwar gebe es „mannigfaltige Hülfsbücher für diesen Unterricht": „Darstellungen der Rhetorik, Zusammenstellungen von Gedanken-Material, Sammlungen von Aufgaben mit Andeutungen für deren Bearbeitung" (ebd.: III). „Nur für eine Art von Hülfsbüchern", wie Hiecke glaubte, die wichtigste, sei „weit weniger geschehen, für prosaische Chrestomathien, als Grundlage für eine auf die Erweiterung des Gedankenkreises, so wie die Entwickelung und Bildung des Productions- und Darstellungsvermögens berechnete Interpretation" (ebd.). Das Programm des später so genannten literarischen Aufsatzes ist hier bereits erkennbar, insbesondere auch das ihm zugrunde liegende Prinzip: „daß die schlechterdings durch nichts zu ersetzende Bedingung eigenen verständigen und gebildeten Hervorbringens in verständiger und nicht zu kärglicher, noch zu einseitiger Leetüre besteht" (ebd.). Was noch fehlte, war die Beschränkung auf ausschließlich belletristische Texte. (3) Vermutlich unabhängig von den beiden skizzierten Traditionsansätzen sind im Rahmen der Elementarschule ähnliche Gedanken entwickelt worden. Zwei Jahre nachdem Hiecke's bahnbrechendes Buch erschienen war, stellte Friedrich Otto fest: „Es ist der Gedanke, daß in der Volksschule das Lesebuch Grund und Mittelpunkt des gesammten Unterrichts in der Muttersprache sein müsse, und Denken und Sprechen, Reden und Schreiben, Lesen und Vortragen, Rechtschreibung und Satzzeichnung, Grammatik und Stilistik in der Verbindung zu lehren und zu üben seien ( . . . ) , heutzutage ein ebenso allgemein bekannter als auch anerkannter" (F. Otto 1844: V). In der Volksschule waren solche Gedanken also schon längst heimisch. 1818 hatte ein Franzose, Jean Jacocot (1770—1840), eine Unterrichtsmethode vorgestellt, die unter der Bezeichnung „Jacototsche Methode" bekannt geworden ist. Sie ist denkbar einfach. Aller Unterricht, also auch der Stilund Aufsatzunterricht, hat zur Grundlage ein einziges Buch. Aus diesem einen Buch hat der Schüler sein ganzes Wissen und Können zu schöpfen. Jacotot legte seinem Unterricht Fenelon's „Die Abenteuer des Telemaque" zugrunde. Jacotot's Schriften wurden erst in den dreißiger Jahren übersetzt (W. Braubach 1830) und rezipiert (L. Kellner 1835). Den „Telemaque" ersetzte man durch das Lesebuch, doch den Grundgedanken behielt man bei. So wurde das Lesebuch bald zur Grundlage des gesamten muttersprachlichen Unterrichts. Auf Einzelheiten dieser Entwicklung braucht hier nicht eingegangen zu werden (vgl. Kap. VII). Robert Heinrich Hiecke Die Entwicklungen, die seit den dreißiger Jahren im Bereich der Volksschule stattfanden, scheinen von den gymnasialen Aufsatzdidaktikern nicht wahrgenommen worden zu sein. Zumindest nahmen sie von ihnen keine Notiz.
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Auf die Bedeutung der griechischen und römischen Schriftsteller für den Aufsatzunterricht ist auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder aufmerksam gemacht worden (R. von Raumer 1852: 125; J. H. Deinhardt 1859: 316; Κ. A. Schmid 1859: 337; G. Wendt 1884 u.a.m.). Wie sehr man auch sich dafür einsetzte, daß ihnen die Stoffe für die deutschen Aufsätze entnommen werden sollten, zu einer Beschränkung ausschließlich auf antike Stoffe konnte sich dennoch keiner mehr durchringen. Die deutsche Literatur ließ sich nicht mehr übersehen. Robert Heinrich Hiecke hat 1842 mit seinem Buch „Der deutsche Unterricht" die Frage nach einer Begründung auch des Aufsatzunterrichtes wieder aufgegriffen, eine andere Lösung als 1835 vorgeschlagen und damit dem literarischen Aufsatz zum Durchbruch verholfen. Das Lesebuch allein erwies sich als eine zu schmale Grundlage. Da Hiecke vornehmlich auch die oberen Klassen der Gymnasien in seine Überlegungen einbezog, mußte die Lektüre der Schüler insgesamt, also nicht nur das Lesebuch, sondern auch die Interpretation von Ganzschriften, ja letztlich auch die Privatlektüre der Schüler, berücksichtigt werden. So gründete Hiecke den Aufsatzunterricht nicht nur auf das Lesebuch, sondern auf die Lektüre schlechthin. Das unterschied ihn sowohl von den Volksschullehrern, die Jacotot's Ideen anhingen, als auch von Vorstellungen in der Nachfolge Meierotto's. Im Gegensatz zu den Vorstellungen, die er 1835 selber vorgetragen hatte, kam Hiecke nun zu der Auffassung, daß Grundlage des Aufsatzunterrichtes nicht die didaktische oder philosophische Prosa sein sollte, sondern Texte aus der schönen Literatur. In dieser Hinsicht kam er den Neuhumanisten nahe. Doch unterschied er sich von ihnen in einem wesentlichen Punkte. Den Anspruch auf Klassizität konnten nach seiner Meinung und der vieler Zeitgenossen nicht mehr die antiken Autoren allein erheben. In der Zwischenzeit hatten auch die deutschen Schriftsteller, Goethe, Schiller, aber auch Lessing und die Romantiker ihren Rang unter Beweis gestellt. So kehrte Hiecke die Gewichtung unter den Autoren um. Bestanden die Neuhumanisten darauf, daß die antiken Autoren vorzüglich im Aufsatzunterricht Beachtung finden sollten, so forderte Hiecke die Priorität für die deutschen. Der Aufsatzunterricht sollte sich in erster Linie auf die deutsche Literatur gründen. Schließlich hat Hiecke es nicht bei Forderungen allein belassen. Er entwikkelte das Konzept eines Unterrichtes im Deutschen, der auf der Lektüre gründete, sein Ziel aber in der Produktion „gehaltvoller Aufsätze" fand. Die ausführliche Darlegung und Begründung einer solchen Konzeption dürfte ausschlaggebend für die Wirkung gewesen sein, die Hieckes Vorstellungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfalteten.
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Zwei Momente haben die neue Konzeption vom Aufsatzschreiben geprägt. Auch für Hiecke sind Aufsätze der schriftliche Ausdruck von inneren Vorgängen. Zu diesen zählen nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle. Doch Hiecke wollte die Darstellung von Gefühlen ausgeschlossen wissen (vgl. VI. 2). Die Aufsätze von Schülern sollten sich auf die schriftliche Darstellung von Gedanken beschränken (vgl. VI. 3). Die Beschränkung auf die Darstellung von Gedanken führte zu einem Problem. Hiecke hat es mit aller Deutlichkeit gesehen. „Sein eigenstes inneres Leben in freien Darstellungen an den Tag zu legen", so hatte Hiecke die Aufgabe bestimmt (R. H. Hiecke 1842: 6). Das war ein hohes Ziel. Es wurde umso höher, je mehr das „eigenste innere Leben" auch qualitativen Ansprüchen unterworfen wurde. Der Schüler sollte nicht alles, was ihm durch den Kopf ging, zu Papier bringen, sondern nur „gehaltvolle" und „würdige" Gedanken. Hiecke wußte, daß eine solche Forderung unrealistisch war. Darum mußte er eine kleine Konzession machen, die sich später unheilvoll auswirken sollte. Solange der Schüler noch nicht über gehaltvolle und würdige Gedanken verfügt, sollten diese ihm zur Verfügung gestellt werden. Das war die Aufgabe und Rechtfertigung der Lektüre. Die Reproduktion des Gelesenen wird zum Mittel, um die Produktion zu ermöglichen: „der gehaltvolle Stoff läßt als durchdrungener und durchgearbeiteter einen vielseitigen würdigen Inhalt in geordneter klarer Gestalt zurück" (ebd.: 281). Man kann nicht deutlich genug betonen, daß für Hiecke die Reproduktion des Schülers nicht mehr war als ein notwendiges Übel. Das letzte Ziel des Aufsatzunterrichtes war nicht die Reproduktion, sondern die freie Produktion des Schülers. Sobald er in der Lage war, gehaltvolle und würdige Gedanken selber zu entwickeln, konnte er die Krücken der Lektüre von sich werfen und sich freien eigenen Produktionen zuwenden. Es hat lange gedauert, bis die Ideen von Hiecke rezipiert wurden. Der Durchbruch erfolgte in den sechziger, vor allem aber in den siebziger Jahren. Verkürzungen blieben nicht aus. Der Begriff der Reproduktion wurde enger gefaßt, als es bei Hiecke der Fall war. Reproduktion wurde im Sinne von Nachahmung (Imitation) gefaßt. So glaubte Johann Heinrich Deinhardt sich auf Hiecke beziehen zu können, wenn er in einem Artikel von Schmid's „Enzyklopädie" Reproduktion nicht so sehr als die Verarbeitung eines Stoffes durch den Schüler, also als eine eigenständige geistige Leistung des Schülers interpretierte, sondern als Nachahmung des Stiles: „Das Hauptmittel aber, um sich einen guten Stil anzueignen, ist das gründliche Studium und Nachahmung von solchen, deutschen Schriften, die selbst in einem unsterblichen Stile geschrieben sind" (J. H. Deinhardt 1859: 317). Andere Autoren wollten päpstlicher als der Papst sein und nur noch Stoffe aus der deutschen Literatur für die Arbeiten der Schüler zulassen. Diesen
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Standpunkt hat am radikalsten Paul Klauke vertreten: „Wenn der Lehrer des Deutschen es ganz streng mit seiner Aufgabe nehmen, nicht nach links, nicht nach rechts schauen, sondern nur auf das ihm vorgeschriebene Ziel seine Blicke richten will, so ist er verpflichtet, allein Themata aus der deutschen Nationalliteratur zu mündlichen und schriftlichen Produktionen zu verwenden" (P. Klauke 1881/1900: 11). Themen aus der Literaturgeschichte, der Poetik, Rhetorik und Stilistik „werfe man doch lieber aus demselben heraus" (ebd.: 14). Themen aus der griechischen und lateinischen Lektüre überlasse man dem Fachlehrer, desgleichen Themen aus der Geschichte, Geographie und Religion. Wenn auch in anderen Fächern schriftliche Arbeiten angefertigt würden, so wäre das durchaus kein Schade. Denn wenn alle Fächer sich an der sprachlichen Ausbildung der Schüler beteiligten, „jeder Lehrer zugleich ein Lehrer des Deutschen" sei, dann würde die deutsche Sprache „als Unterrichtsgegenstand auf unseren Anstalten eine andere Stufe einnehmen als bisher" (ebd.: 23). Ohne Zweifel liegt einer solchen Bestimmung des Aufsatzunterrichts eine veränderte Einstellung zur deutschen Literatur zugrunde: die deutsche Literatur wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Nationalliteratur gewürdigt (vgl. H. J. Franke 1973/1976: 485 ff.). Ernst Laas, dem „das Verdienst" zugebilligt wurde, „die sogenannten literarischen Themen in allen deutschen Schulen in Aufnahme gebracht" zu haben (K. Koch 1889: 8), hat zwar wie kein zweiter die Ideen Hieckes aufgenommen und weitergetragen, sich aber doch im Laufe seiner Entwicklung allmählich von ihnen entfernt. In der ersten Auflage seines Aufsatzbuches von 1868 stellte er sich geradezu enthusiastisch auf den Standpunkt Hieckes: „unsere gegenwärtige Bildung kann weder genetisch begriffen werden, noch kann man in ihr stehen als lebendig wirkendes Glied, wenn man nicht ein Verhältniß gewonnen hat zu dieser unserer klassischen Literatur, bestimmter zu den Werken von Lessing, Schiller, Goethe. In ihnen liegt, gebrochen in mannigfaltigen Strahlen, der eine echte deutsche Geist der modernen Zeit; in dieses Geistes Luft muß der deutsche Jüngling athmen lernen, dieser Geist muß im wesentlichen sein Geist werden" (E. Laas 1868: 5). Später, in der zweiten Auflage von 1877, klingt das alles viel nüchterner: „Wenn man auch alle Ursache hat, die direkten Bemühungen um Stilbildung in die unteren Klassen zu verlegen, so wird es andererseits doch wünschenswert sein, den Aufsatzunterricht mit den edlen Mustern der vaterländischen Literatur in fortwährender Verbindung zu erhalten (...). Ist nun der Lehrer, welcher die rhetorischen Uebungen leitet, derselbe, welcher in die deutsche Literatur einzuführen hat, so wird es sich von selber machen und es kann bei taktvoller Auswahl auch gar nicht bemängelt werden, dass er die Aufsatzstoffe vorzüglich aus dieser Sphäre greift" (E. Laas 1870: 24). Das Interesse an den Fragen der Aufsatzstoffe mußte in dem Maße schwinden, wie Laas in der formalen
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Bildung der Schüler die Hauptaufgabe des gymnasialen Unterrichtes sah (vgl. VI. 4). Hieckes Ideen mußten auf dem Prüfstand gestanden haben, gedreht und gewendet, verkürzt und radikalisiert worden sein, um endlich Einlaß in die Schulen finden zu können. „Aus einem stilistischen Übungsmittel" schrieb Otto Apelt 1883 zum deutschen Aufsatz, „wird er im Verlauf der Entwicklung allmählich zu einem Gradmesser der Gesamtbildung, zu einem Dokument der geistigen Reife überhaupt. Aber erst gegen Endes der vierziger Jahre nimmt er entschieden jene Richtung auf die großen Erzeugnisse unserer Litteratur, die immer mehr, wie im Mittelpunkt des deutschen Unterrichts überhaupt, so auch des deutschen Aufsatzbetriebes stehen" (O. Apelt 1883: 251). Apelts Untersuchung zeigt überzeugend, „in welchem Maße die Bemühungen Hieckes und derer, die ihm folgten", zumindest in den siebziger Jahren des Jahrhunderts „durchgeschlagen haben" (ebd.). Der Weg dahin läßt sich an den Themen der Aufsätze gut verfolgen. Die Einführung literarischer Themen In die erste Fassung des Grünen Heinrich hatte Gottfried Keller eine Szene aus der Schulzeit des jungen Heinrich aufgenommen, die gewiß nicht authentisch ist, aber einen Einblick in den Aufsatzunterricht erlaubt, wie er etwa in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in der Schweiz betrieben wurde. „Während meines Besuches der Schule waren sich zwei verschiedene deutsche Lehrer gefolgt", heißt es dort (G. Keller 1958: I, 166). „Der erste war ein patriotischer Mann, welcher uns mit Begeisterung die Schweizergeschichte vorerzählte und stückweise als Stoff zu schriftlichen Arbeiten aufgab. ( . . . ) Der Mann starb und ein anderer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus dem Leben griff und uns anwies, die verschiedenen Vorkommnisse desselben zu beschreiben. ( . . . ) Er war aber ein Schöngeist und diktierte uns dann und wann als Leckerbissen eine Stelle aus einem deutschen Klassiker, welche für uns zugänglich war ( . . . ) ; ich schrieb sie sorglich ins reine, las sie wieder und arbeitete sogleich in dem betreffenden Stile". Der erste Lehrer kannte nicht einmal Schillers Teil. Als die Reihe an den Nationalhelden kam, legte der junge Heinrich „eine prosaische Wiedererzählung" des Schillerschen Dramas vor. Der Lehrer aber fragte ahnungslos, „wo ich diese und jene Umstände hergenommen hätte" (ebd.). Der zweite kannte die deutschen Klassiker, kam aber nicht auf den Gedanken, die Schüler Themen aus der deutschen Literatur bearbeiten zu lassen. Alles, was ihm dazu einfiel, war der gut gemeinte Versuch, ihnen die Literatur dadurch nahezubringen, daß er „als Leckerbissen eine Stelle" diktierte. Literarische Themen waren in den dreißiger Jahren zumindest an Bürgerschulen in der Schweiz allem Anschein nach unbekannt.
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An vielen deutschen Gymnasien dürfte es kaum anders gewesen sein. Otto Apelt hat eine Zusammenstellung aller deutschen Abiturienten-Arbeiten angeführt, die zwischen 1821 und 1860 am Laubaner Gymnasium (Schlesien) geschrieben worden sind. Darunter befindet sich kein einziges literarisches Thema (vgl. O. Apelt 1883: 22 f.). Doch glaubte er, daß es „auf die Anregungen des Hieckeschen Buches zurückzuführen" sei (ebd.: 28), wenn in den vierziger Jahren an anderen Schulen bereits literarische Themen, die er allerdings für „recht sonderbar" (ebd.) hielt, auftauchten. „So finde ich", schrieb er (ebd.), „in dem Programm des Pädagogiums zu Halle vom Jahre 1849 folgende Themata (...) verzeichnet: 1. Ist Schillers Recension über Bürger gerecht? 2. Brockes, Geßner, Matthison als Naturmaler. 3. Revision des Preisurteils über Leisewitz' Julius von Tarent und Klingers Zwillinge. 4. Wer verdankt dem anderen mehr, Lichtenberg oder Hogarth? 5. Inwieweit ist Götz von Berlichingen ein historisches Schauspiel? 6. Ein Winterabend in Straßburg 1771. Dramatische Szene (Goethe, Herder, Lenz, Lerse, Jung u. a.). 7. Hat Herder zu Antonio gesessen? 8. Die einzelnen Räubercharaktere in Schillers Räuber in absteigender Linie. 9. Warum lockt die Äneide vor andern Epen zur Travestie?" Den literarischen Themen, die in den an der Niedersächsischen Landesbibliothek befindlichen Schulprogrammen aufgeführt werden, ist Claus Conrad nachgegangen. Auch wenn die Untersuchung nicht in jedem Punkte ein klares Bild ergibt, zeigt sich, daß die literarischen Themen bereits in den fünfziger Jahren zunehmen (C. Conrad 1987). Der Durchbruch muß spätestens in den siebziger Jahren erfolgt sein. Otto Apelt hat für das Schuljahr 1878/1879 die Schulprogramme von 250 deutschen Gymnasien untersucht („alle deutschen Gymnasien, an denen überhaupt eine Veröffentlichung der Aufgaben üblich ist") und ist zu einem bemerkenswerten Ergebnis gekommen. Von den insgesamt etwa 4000 Themen, über die Primaner damals zu schreiben hatten, waren knapp die Hälfte allgemeiner Art (genau 1950 Themen), mehr als die Hälfte jedoch (2064 Themen) bezog sich auf die belletristische Literatur, davon der größte Teil (1266) auf Gegenstände der neueren deutschen Literatur, Schiller mit 359 und Goethe mit 333 Themen klar an die Spitze, gefolgt von Lessing mit 263 Themen (vgl. O. Apelt 1883: 251). Berücksichtigt man, daß von den 4000 Themen allein etwa 700 sich mit Goethe und Schiller beschäftigen, mit den neueren deutschen Dichtern jedoch nur insgesamt 20, dann zeigt ein solcher Vergleich, daß lediglich solche Literaturwerke für würdig befunden wurden, Gegenstand von Primaneraufsätzen zu werden, die den Ansprüchen auf Klassizität genügten. Dieser Gesichtspunkt ist damals auch immer wieder als maßgebend für die Wahl der Themen genannt worden. So schrieb J . H . Deinhardt: „Da aber die vornehmlichste Aufgabe der deutschen Aufsätze darin besteht, den Schüler
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einen nach Inhalt und Form vollendeten Gegenstand reproduciren und durch eine solche Reproduction eben so sehr eine werthvolle geistige Substanz in seine Seele aufnehmen und an schönen Formen und an gebildeter Darstellung seinen Sinn für schöne Form und Darstellung entwickeln zu lassen, so wird man keinen zweckmäßigeren Stoff für die freien Arbeiten des Schülers finden können als die classischen Erzeugnisse der Sprache" ( J . H . Deinhardt 1859: 315). Was unter „classisch" zu verstehen sei, hat er dann so erläutert: „Ich verstehe aber unter classischen Werken solche, welche einen allgemein werthvollen Inhalt in einer schönen Form und Sprache enthalten. Wenn die Ideen der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe, der Heiligkeit den innersten Gehalt eines Werkes bilden, und wenn diese Ideen in einer klaren, anschaulichen, gebildeten Form und Sprache sich verleiblichen, dann ist ein Werk ein classisches zu nennen (...). Wer in solche classische Muster eingeweiht wird, der wird recht für die Bildung geweiht" (ebd.: 315 f.). Wenn im 19. Jahrhundert (und wohl auch später) von literarischen Themen die Rede ist, dann ist also stets davon auszugehen, daß nicht die deutsche Literatur schlechthin gemeint war, sondern lediglich die sogenannten Klassiker.
Die Grundzüge der Konzeption Die Einführung neuer Themen in den Aufsatzunterricht wäre an sich noch kein Grund, von einer neuen Konzeption zu sprechen. Die Themen haben sich öfters verändert, ohne daß damit die Konzeption eine andere geworden wäre. Von den religiösen Themen war man auf die moralischen, von den moralischen auf die philosophischen oder historischen gekommen. Die Konzeption blieb aber in den Grundzügen gleich. Das ist nun anders. Geändert haben sich die zugrundeliegenden Vorstellungen vom Schreiben. Nach wie vor war oft von der „Findung" des Stoffes (inventio), seiner „Ordnung" in einem Schreibplan (dispositio) und der sprachlich-stilistischen „Ausarbeitung" (elocutio) die Rede, beispielsweise wenn J. H. Deinhardt schreibt: „Insofern die Darstellung eine sichere Ordnung der Vorstellungen und Gedanken erfordert, insofern sind die deutschen Aufsätze eine treffliche Uebung des logischen Vermögens; insofern aber ein Haupterfordernis derselben in einer reinen und gewandten Sprache besteht, insofern bilden sie ein Hauptmittel zur Bildung des deutschen Stils. Aber ein Hauptpunct ( . . . ) muß noch recht bestimmt hervorgehoben werden, wenn der Zweck der Schüleraufsätze recht erkannt werden soll. Er betrifft nämlich den Stoff (J.H. Deinhardt 1859: 314). Ohne Zweifel bezog sich Deinhardt auf das triadische Modell der alten Rhetorik. Um zu erkennen, was sich inzwischen geändert hat, muß man nicht nach dem Gebrauch der Wörter, sondern nach dem Sinn der Begriffe fragen.
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Gleich geblieben sind allenfalls die Vorstellungen von der sprachlichstilistischen Realisierung (s. dazu unten genauer). Wenn jedoch vom Stoff der Aufsätze die Rede war, ging es nicht mehr um die Findung der Stoffe, die alte Inventio. Der Stoff wurde dem Schüler in den Lektüre- und Interpretationsstunden zur Verfügung gestellt. Ihn zu „finden", war nicht mehr Aufgabe dessen, der einen Aufsatz zu schreiben hatte. Genau genommen, konnte die Inventio darum auch nicht mehr als Teil des Schreibprozesses angesehen werden. Worauf es beim Schreiben einzig und allein ankam, war die Reproduktion des Stoffes im Kopfe des Schreibenden. In die Reproduktion gingen, wie gleich gezeigt werden soll, Elemente sowohl der alten Inventio als auch der Dispositio ein. Man kann also durchaus von einer Umstrukturierung des rhetorischen Modells sprechen. Aus dem triadisch angelegten Modell der alten Rhetorik ist ein duales Modell geworden, dessen Teile aber und deren Verhältnisse untereinander anders bestimmt wurden. Auch wenn keiner der Autoren je davon gesprochen hat, kann man die folgenden Komponenten des neuen Modelles unterscheiden: — die Reproduktion des Stoffes im Kopfe des Schreibenden (teils Bestandteil des Literaturunterrichtes, teils aber eine notwendige Gedankentätigkeit vor und während der eigentlichen Schreibhandlung) — die sprachlich-stilistische Ausführung des gedanklichen Konzeptes. Wenn von „Reproduktion" im Zusammenhang mit dem Aufsatzunterricht die Rede ist, sind zwei Fragen zu beantworten: (1) Was wird reproduziert? (2) Wie wird reproduziert? Die erste Frage ist ziemlich klar zu beantworten. Noch einmal sei eine Stelle aus dem Buch von Hiecke zitiert, aus der deutlich hervorgeht, daß es nicht um die Reproduktion formaler Muster geht; „Auffallen wird es vielleicht, daß wir gar nicht der Nothwendigkeit, den Schüler in allen einzelnen Arten prosaischer Darstellung zu üben, Erwähnung gethan, da es doch gut sei, wenn derselbe genöthigt werden, sich in allen diesen einzelnen Arten, ja auch Unterarten, recht ordentlich festzusetzen. Dies halten wir aber für eine ächt deutsche Pedanterie, die wohl ein Fachwerk für Rubriken, nicht aber den lebendigen Menschen, sein Bedürfniß, seinen Drang und seine Befähigung vor Augen hat" (R.H. Hiecke 1842: 269). Die Reproduktion literarischer Texte ist für Hiecke und alle, die seinen Vorstellungen gefolgt sind, die Reproduktion von Inhalten. „Gewiß ist die Form eine ,wichtige Sache', aber nicht ,an sich', sondern nur in Bezug auf einen bestimmten Inhalt, und ,das Hauptgewicht' ist auf den Inhalt zu legen" (P. Klauke 1881: 27). Die Beantwortung der zweiten Frage ist erheblich schwieriger. Wie wird reproduziert? Relativ einfach dürfte es sein, anzugeben, was nicht gemeint ist. Auf der einen Seite ist die Reproduktion mehr als nur das Verständnis eines Textes. Dieses zu gewährleisten, war Aufgabe des Lese- und Literaturunterrichtes. Es war eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung
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für den Aufsatzunterricht. Auf der anderen Seite wird die kritische Auseinandersetzung mit den Aussagen eines Textes ausdrücklich ausgeschlossen: „unsere Schüler sollen und dürfen nicht zu Ästhetikern und Kritikern erzogen werden. Es ist im Gegenteil Pflicht der Schule (...), jede kritische Regung, die der Litteratur gegenüber dem Schüler erwachen will, zurückzuhalten. ( . . . ) Da der Schüler nur in das Hervorragendste und Beste unserer Litteratur eingeführt wird, darf darüber gar keine Frage mehr entstehen, daß das vorliegende Werk eben ein vorzügliches sei (...); man soll dem Schüler nicht erst beweisen, was ihm von vornherein als Axiom feststeht und keines Beweises bedarf (P. Klauke 1881: 35). Was unter Reproduktion zu verstehen sei, muß also zwischen dem bloßen Verständnis und der kritischen Auseinandersetzung zu suchen sein. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Reproduktion werden oft zwei Begriffe gebraucht, die einigen Aufschluß geben können. Der eine ist der Begriff der „Aneignung". Er bezeichnet die Funktion der Reproduktion. Der Schüler soll einen literarischen Text reproduzieren, um sich seinen Inhalt, vor allem aber die ihn tragenden Ideen und weltanschaulichen Vorstellungen zueigen zu machen. Erst dann können diese als des Schülers Eigentum gelten, wenn er nicht nur über sie verfügt, sondern sich auch in schriftlichen Aufsätzen selbständig über sie äußern kann. Der andere Begriff ist der der Gedankentätigkeit. Er bezeichnet die Operationen, durch die der Gehalt eines Textes zum Eigentum des Schülers werden kann. „Es muß", nach Auffassung von Hiecke (R. H. Hiecke 1842: 36), „— in den oberen Klassen natürlich mehr als in den untern — die freiere Durcharbeitung hinzukommen; es muß die Fähigkeit und der Trieb ausgebildet werden, eigene sinnvolle Fragen aufzuwerfen, Probleme zu entdecken, zweckmäßige Beobachtungen zu ihrer Lösung anzustellen, und eine von klarem Bewußtsein und gründlicher Sorgfalt zeugende, wenn auch nicht höhern Forderungen entsprechende Beantwortung solcher Fragen zu liefern". Der Schüler muß das Recht haben, „seine Arbeiten als eigene Geisteskinder zu betrachten" (O. Apelt 1883: 244). Genau dies unterscheidet die Reproduktion von der Nachahmung, der Imitation, wie sie noch im 18. Jahrhundert gang und gäbe war. Das verbindet sie aber auch mit der intellektualistischen Richtung in der Aufsatzdidaktik, von der im vorgehenden Abschnitt die Rede war. Die Beschränkung der Aufgaben des Aufsatzes auf die Darstellung vornehmlich von Gedanken und das Mittel dazu, die Reproduktion, hatten Konsequenzen. Diese haben dem deutschen Aufsatz eine Gestalt gegeben, die der Tendenz nach bereits in den Vorstellungen der aufgeklärten Pädagogen enthalten war, nun aber deutlich an den Tag kam. Wenn die Aufgabe des Aufsatzschreibers einzig und allein darin bestand, einen in einem literarisch vorbildlichen Text niedergelegten Gehalt präzise
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zu erfassen, gedanklich zu verarbeiten und sprachlich einwandfrei zum Ausdruck zu bringen, wenn der Aufsatz „noch vor aller Mitteilung zunächst und im wesentlichen Niederschlag eines Gedankenganges" war (H. J. Frank 1973/ 1976: 196), dann mußte eine solche Zielsetzung zur Abspaltung der kommunikativen Funktionen beim Schreiben führen, letztlich zu ihrer Eliminierung. Dann war der Aufsatz nicht mehr als das letzte Glied in einer Reihe von Denkoperationen, deren Zweck die Aneignung literarischer Inhalte war, nicht ein Mittel menschlicher Kommunikation, sondern Instrument des Denkens und der Gedankentätigkeit. Seit dieser Zeit dominierten im Aufsatzunterricht die sog. heuristischen Funktionen über die kommunikativen. Wer dem Schüler den Stoff zu seinen Aufsätzen vorgibt, gleichzeitig aber ihm verwehrt, sich mit diesem kritisch auseinanderzusetzen, der hat, wie sehr er auch die Eigenständigkeit der Gedankenarbeit des Schülers hervorhebt, nicht nur den Zugang zu den Köpfen und Herzen der Schüler, sondern auch das Mittel, nicht nur die Gedanken, sondern auch die Einstellungen und Wertungen, kurz ihr gesamtes Bewußtsein zu beeinflussen und zu manipulieren. Er lädt damit eine große Verantwortung auf sich. Der Aufsatzunterricht konnte so zur Charakter- und Gesinnungsbildung benutzt werden. Betrachtet man die weitere Entwicklung des deutschen Aufsatzes in der Kaiserzeit, so ist nicht zu übersehen, daß der Unterricht im deutschen Aufsatz in der Tat zu einem Vehikel der Gesinnungsbildung gemacht worden ist (vgl. den nächsten Abschnitt). Der literarische Aufsatz war mit den Möglichkeiten, die er für einen solchen Mißbrauch bot, maßgeblich an einer solchen Entwicklung beteiligt.
Die Formen der literarischen Aufsätze Die Reproduktionstätigkeit des Schülers, das einer solchen Tätigkeit Raum gebende Thema und die weitgehende Beschränkung auf Stoffe der klassischen Literatur, das waren die drei Eckpfeiler des literarischen Aufsatzes. Dennoch wäre es verfehlt anzunehmen, daß die Form der Aufsätze in solchen Überlegungen keine Rolle gespielt hätte. „Der Stoff ist das Einzelne, Wechselnde; der Sinn für die angemessene Form, einmal gebildet, ist etwas Bleibendes" (O. Apelt 183: 34). „Diesen Sinn", meinte Otto Apelt, „in dem Schüler zu wecken, erachte ich für eine der vorzüglichsten Aufgaben des deutschen Unterrichts und speciell der Arbeit an den Aufsätzen" (ebd.). Darum dürfe „das rein Stoffliche (...) nie dermaßen überwiegen, daß die Formgebung und Gestaltung nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spiele" (ebd.). Daß bei den Vertretern des literarischen Aufsatzes eine solche Tendenz bestand, glaubte auch Apelt feststellen zu können (ebd.). „Die Schüler sollen sich hineinleben in das Kunstwerk" (ebd.: 32). Wenn dies die Aufgabe auch der deutschen Aufsätze war, dann mußte sich ihre
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Form der allgemeinen Zielvorstellung unterordnen. Es kamen dann nur noch solche Aufsatzformen in Betracht, die eine Reproduktion der Stoffe aus der schönen Literatur erlaubten. Im Rahmen des literarischen Aufsatzes wurden die Aufsatzformen zu typischen Reproduktionsformen. Daß dazu die alten Formen aus der Rhetorik (Reden, Briefe und Gedichte) kaum geeignet waren, bedarf keiner Erklärung. „Charakteristiken, Inhaltsbesprechungen in mancherlei Abwechslung, Fragen über den Zweck dieser oder jener Scene, dieser oder jener Figur, immer unter der Voraussetzung, daß ein mit der Idee des Ganzen übereinstimmender Zweck auch vorhanden ist, sittliche Würdigung einzelner Personen und Handlungen, das ist das Feld von Aufgaben, auf dem sich die Schule bewegen soll" (ebd.). Etwas abweichend von der hier zugrundeliegenden Klassifizierung, lassen sich drei Gruppen von Aufsatzformen für die literarischen Themen unterscheiden. In der ersten Gruppe handelt es sich um Übungsformen, deren Zweck einzig und allein in der Erarbeitung des Inhaltes der Vorlage besteht. Dazu gehören in erster Linie Inhaltsangaben, Inhaltsübersichten, Zusammenfassungen der verschiedensten Art, Herausarbeitung der wichtigsten Aussagen oder Gesichtspunkte. Aber auch die bekannten Formen der Erzählung und Beschreibung sind in den Dienst des literarischen Aufsatzes gestellt worden. Die Erzählung als Nacherzählung: „Man lässt eine Geschichte, nachdem sie hinlänglich durchgearbeitet und verstanden ist, durch immer wiederholtes Nacherzählen fast bis zu einer festen Form sich crystallisirt hat, sofort in der Classe niederschreiben" (E. Laas 1870: 203). Als Produktionsform spielte die Beschreibung zumindest in den oberen Klassen des Gymnasiums eine gewisse Rolle: „die beschreibende Gattung" finde sich dort „mit verschwindenden Ausnahmen nur im Anschluß an Dichterwerke", meinte Otto Apelt und er bemerkte dazu: „Ich meine, mit Recht. Denn Beschreibungen nach der Natur, Beschreibungen von Gebäuden und dergleichen, obschon an sich mit dem Entwicklungsstandpunkt des Primaners nicht unverträglich, müssen doch, da sie in den früheren Klassen reichlich geübt sind, anderen Gattungen weichen" (O. Apelt 1883: 250). In einer zweiten Gruppe lassen sich alle Aufsatzformen zusammenfassen, die eine gedankliebe Auseinandersetzung mit den Aussagen des vorgelegten Textes möglich machen. Zu dieser Gruppe gehören ohne Ausnahme alle Formen, die Ernst Laas für seine dialektischen Übungen zusammengestellt hatte (s. oben): die verschiedenen Zerlegungsformen; Definitionsversuche, insofern es sich um Definitionen von für den Text wichtigen Begriffen handelte; die Beantwortung von Fragen, die sich aus dem Text ergaben; die Entwicklung von Sentenzen, in denen sich die wesentlichsten Aussagen eines Textes bündelten, und schließlich die Erörterung von Problemen, die der Text aufwarf, die Abhandlung. Allerdings begegnete man diesen Formen nicht ohne Vorbehalt: „Die streng systematische Form als solche ist gut und
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notwendig für den Jünger der Botanik, der Jurisprudenz, der Philosophie, kurz für das Erlernen der Fachwissenschaften. Dem, was der Schüler im Aufsatz leisten soll, entspricht sie nicht, wie sie überhaupt nicht den Charakter jugendlicher Darstellungsweise trägt. Für diese müssen uns, wenn es erlaubt ist, kleines mit großem zu vergleichen, die Werke der Meister unserer schönen Litteratur, die Lessing, Schiller als Muster gelten, nicht die Kompendien der Logiker und Botaniker" (O. Apelt 1883: 34 f.). Man war also auch konsequent und orientierte sich in diesem Punkte lieber an der didaktischen Prosa der Klassiker als an den Lehrbüchern der Logik. Schließlich ist eine Aufsatzform zu erwähnen, die als die einzige Erfindung des literarischen Aufsatzes im Bereich der Aufsatzformen anzusehen ist, die sog. Charakteristik. Zwar hat auch sie Vorläufer in der Personenbeschreibung oder Personenschilderung (vgl. V. 6). Während diese jedoch sich vornehmlich auf lebende oder historische Persönlichkeiten bezogen, beschränkte sich die Charakteristik auf die Beschreibung literarischer Figuren und ist insofern eine genuin literarische Aufsatzform. An die Stelle der historischen Persönlichkeit, „eines vorzüglichen, dem Schüler nach seinen Thaten und Leistungen bekannt und lieb gewordenen geschichtlich bedeutenden Mannes" trat eine literarische Figur, „die Entwickelung eines durch Geistesadel hervorstechenden Charakters in einem poetischen Werke" (R. H. Hiecke 1842: 267). Kaum eine der Aufsatzformen eignete sich für den literarischen Aufsatz so sehr wie diese Charakteristik. „Dieselbe setzt zunächst eine Vertiefung in den Inhalt des Gelesenen voraus, wie sie kaum eine andere Art von Aufsätzen erforderlich macht" (R. Lehmann 1890: 307) und unterstützt auf diese Weise den Lektüre- und Interpretationsunterricht. Darüberhinaus handelt es sich um eine Operation, die es dem Schüler erlaubt, selbständig zumindest einen Aspekt eines Kunstwerkes zu erarbeiten. „Der Zweck, den man damit verfolgt," versuchte L. Cholevius einem Schüler klar zu machen, „ist nicht nur der, daß ihr mit dieser oder jener Schöpfung eines Dichters genauer bekannt werdet, sondern man will euch die Art und Weise lehren, wie ihr bei eurer Leetüre und für euch selbst das Wesen gehaltvoller Charakter aufzufassen und zu durchdenken habt" (L. Cholevius 1868: 19). Schließlich sah man in der Charakteristik ein probates Mittel der Charakterbildung. Dadurch daß der Schüler die Einstellungen, Maximen, Grundsätze des Denkens und Handelns einer Kunstfigur herausarbeitete, sollte der Schüler sich deren Sittlichkeit zueigen machen, um seine eigene sittliche Persönlichkeit zu festigen und diese in einer Niederschrift zu dokumentieren. „Es ist noch ein gewaltiger Unterschied, ob das Thema so gestellt wird: die Demuth als christliche Tugend, oder so: Charakteristik des Matheserritters in Schillers Kampf mit dem Drachen" (R. H. Hiecke 1842: 267). Damit trat die Charakteristik in Konkurrenz zu den sog. allgemeinen Themen.
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Zur Stilbildung Wie sich die Vertreter des literarischen Aufsatzes die Stilbildung in der Schule vorgestellt haben, dürfte nicht schwer zu erraten sein. Von Stilübungen hielten sie nichts, schon gar nichts von Belehrungen über Fragen des Stils. Der Stil bilde sich, dessen waren sie gewiß, mit der Lektüre: „durch den steten Contact mit der Sprache unserer Classiker" (E. Laas 1877: 24; vgl. auch 1870: 205 ff.; 1871: 573 und 1872: 138 ff.). Durch Aufsätze über Gegenstände der klassischen Literatur würde der Schüler in den Stand gesetzt, meinte Johann Heinrich Deinhardt, nicht nur „in das Innere einer gediegenen Schrift recht lebendig einzudringen" und „einen Schatz von werthvollen Gedanken in sich aufzunehmen", sondern auch „sich mit der Sprache classischer Schriftsteller vertraut zu machen und durch Nachahmung der Muster des Stils selbst nach und nach zu lernen: richtig, klar, angemessen und selbst geschmackvoll zu schreiben" ( J .H. Deinhardt 1859: 315). Die Sprache, an der man sich orientierte, war die Sprache der klassischen Schriftsteller: Goethe vornehmlich, aber auch Lessing und Schiller. „Diese Sprache fordert, daß die Gedanken nicht bloß nothdürftig in Worte gekleidet werden, sondern daß man sich voller und edeler Wendungen bedient; sie will ferner für die Phantasie durch einigen Bilderschmuck belebt sein. Ein Hauskleid braucht nicht wie eine Ballrobe zu glänzen, aber es kann doch noch immer von gutem Stoffe, lebhaften Farben, sauber und zierlich sein" (L. Cholevius 1868: 161 f.). Es kam den Vertretern des literarischen Aufsatzes also nicht nur auf die der Verständlichkeit allein dienenden, logischen Eigenschaften des Stils an (Klarheit, Deutlichkeit und Angemessenheit), sondern vor allem auch auf die ästhetischen Eigenschaften, und diese fand man „in den Prosawerken geachteter Schriftsteller" (ebd.). Cholevius hat an einem Beispiel verdeutlicht, was von einem Schüler erwartet wurde. Es reiche nicht aus, „den Gedanken durch Worte kenntlich zu machen" (ebd.: 163) und etwa auf folgende Weise zu erzählen: „Zu Neujahr pflegten in Frankfurt a. M. alle Leute einander zu gratuliren. Auch die, welche sonst immer zu Hause blieben, putzten sich aus und besuchten ihre Gönner und Freunde. Wir Kinder gingen am liebsten zum Großvater, wo es für uns an diesem Festtage viel Unterhaltung gab. Die Enkel fanden sich da schon frühe ein, weil viele Musicanten vom Militär und Cicil mit ihren verschiedenen Instrumenten Musik machten". Dagegen setzte Cholevius das Original, eine Passage von Goethe: „Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persönlichen Glückwünschungen für die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Gönnern und Freunden einen Augenblick freundlich und höflich zu sein. Für uns Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Großvaters an diesem Tage ein höchst erwünschter Genuß. Mit dem frühesten Morgen
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waren die Enkel schon daselbst versammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Clarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das Militär, die Stadtmusici und wer sonst Alles ertönen ließ, zu vernehmen" (L. Cholevius 1868: 162 f.). Es kam darauf an, „mit den volleren Wendungen" der literarischen Sprache „den Sinn genau und erschöpfend" auszudrücken, „außerdem anregende Nebenbeziehungen" herzustellen und „die Begriffe für die Phantasie durch eine veranschaulichende Bildlichkeit" zu beleben (ebd.: 163). So entstand der blumige Stil, der die Aufsätze unserer Groß- und Urgroßeltern zierte. Ein paar Sätze aus einem Abituraufsatz aus dem Jahre 1886 (eigene Sammlung S. 1886) lassen erkennen, wie der erwünschte Stil erreicht wurde. „Betrachten wir zunächst", heißt es da, „in welchem Verhältnis der Herzog Alfons zu Tasso steht". Das ist eine eher rhetorische Geste, die nicht unbedingt zu einem literarischen Stil gehört. „Dieser Mann", fahrt der Autor fort, „ein trefflicher und kunstsinniger Fürst, war es, der dem heimatlosen, unstet herumirrenden Dichter, Tasso, freundliche Aufnahme an seinem Hofe gewährte und somit ihn jeglicher Sorge für das tägliche Brot enthob". Statt schlicht und einfach zu sagen: „Alfons nahm den Dichter an seinem Hofe a u f , wendet der Autor Operationen an, die es ihm erlauben, einige Momente, die er vermutlich für literarisch hielt, in den Satz aufzunehmen: (1) Die Tatsache, daß die Aufnahme am Hofe zugleich auch „das tägliche Brot" implizierte, wird in einem Nachsatz ausdrücklich hervorgehoben, vermutlich eine „vollere Wendung", die „den Sinn genau und erschöpfend" ausdrückt. (2) Der Satzbauplan eines einfachen Handlungssatzes wird durch ein syntaktisches Schema ersetzt, das die Aufnahme einiger Epitheta ornatia zuläßt: „Dieser Mann . . . war es, der . . . " . Durch die Epitheta: „ein trefflicher und kunstsinniger Fürst" und „der heimatlose, unstet herumirrende Dichter" werden „Nebenbeziehungen" hergestellt. (3) Schließlich sollte auch die Phantasie belebt werden. Dafür sorgten bildhafte und „edle" Redewendungen: „jemanden jeglicher Sorge für das tägliche Brot entheben", vielleicht auch „jemanden freundliche Aufnahme gewähren". Die beiden nächsten Sätze zeigen dasselbe Verfahren: „Durch diese lobenswerte That des Alfons war der Dichter in eine Sphäre versetzt, wo ihm das Leben viel anmutiger als zuvor erschien. Dort in Ferrara sah er Turniere, Festspiele u. s. w. und gerade dieser Umstand war es, der Tasso antrieb, sein großes episches Werk das ,Befreite Jersusalem' in Angriff zu nehmen." Das Ergebnis ist in den meisten Fällen ein höchst unliterarischer Stil. Nicht an den deutschen Klassikern haben die Gymnasiasten ihren Stil gebildet, sondern am Schullatein. Nicht Goethe oder Schiller war das Vorbild, sondern Cicero. Es ist der ciceronianische Stil, aufs Deutsche übertragen, den man immer wieder in den Aufsätzen findet. So liest man in einem Aufsatz aus dem Jahre 1889, in dem die Feinde aufzuführen waren, mit denen „geographische Erforschungen zu kämpfen" haben: „Ist aber die Gegend, nach der die Forschungsreise gerichtet ist, von
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solchen Völkern nicht bewohnt, so tritt an die Stelle des Kampfes mit den rohen Völkern der noch viel schrecklichere gegen wilde Tiere. Unvermutet überfällt die kleine Schar ein Löwe und beraubt sie der besten und thatkräftigsten Mitglieder. Andere sterben dahin infolge des todbringenden Bisses einer giftigen Schlange. Noch andere erliegen den Stichen giftgeschwollener Fliegen und anderer Insekten" (eigene Sammlung S. 1889: 4 f.). Einem solchen Schreiber hat der beurteilende Lehrer „hinreichende Gewandtheit im Stil" bescheinigt! Schon 1867 hatte Rudolf Hildebrand diesen „Sohn des Schullateins" (R. Hildebrand 1867/1887: 50) gebrandmarkt: „eine rechte Ausgeburt des stummen Augenlesens" (ebd.: 51), „stammt doch diese ganze Richtung wesentlich aus der gelehrten Schule, als eine Frucht des angeblich Ciceronischen Lateins, wie es dort weitverbreitet zugerichtet war als Werkzeug, womit den deutschen Jünglingen des 19. Jahrhunderts der letzte Schliff der Geistesbildung beigebracht wurde" (ebd.). Als charakteristisch führt Hildebrand ein: Schachtelsätze, Aufblähung der Substantivgruppe durch Adjektive oder Partizipialsätze (ebd.: 57 f.), Genitivkonstruktionen (ebd.: 42), weiter wären zu nennen: hyperbolische Superlative, geschraubte Redensarten und immer wieder Epitheta ornatia, umständliche Bezüge, logische Umständlichkeit und vieles andere mehr.
6. Die Aufsätze der Kaiserzeit So produktiv die Zeitspanne zwischen 1842 (R. H. Hiecke) und 1868 (E. Laas) für den gymnasialen Aufsatz gewesen ist, so unproduktiv war die Kaiserzeit (1871 — 1918). Es gab keine neuen Aufsatzformen, keine neuen Vorstellungen vom Stil der Aufsätze, nicht einmal den Ansatz einer Bemühung, eine neue Konzeption zu entwickeln. Die Aufsatzdidaktiker waren damit beschäftigt, sich mit den Ideen von Ernst Laas auseinanderzusetzen. Die Aufsatzdidaktiker Dem Prinzip der formalen Bildung, das Laas letztlich vertrat, setzte Paul Klaucke 1871 das inhaltliche entgegen: „Das Wichtigste ist: eine gründliche Kenntniß der Hauptwerke unserer Nationalliteratur, und ( . . . ) eine freudige Hingabe und Begeisterung für unsere großen Dichter" (P. Klaucke 1871: 21). Diesem einen Ziel des Deutschunterrichtes hatte sich auch der Aufsatzunterricht unterzuordnen. Mit Aufsätzen sollte der Schüler beides zugleich erreichen, den Inhalt der großen klassischen Werke sich zueigen machen und über das Ergebnis dem Lehrer Rechenschaft geben. Der deutsche Aufsatz wurde so zum Hilfsmittel für den Literaturunterricht. Bissig der Kommentar von
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Ernst Laas: „die Idee ist zu verlockend, und nach allen Seiten beglückend, um nicht zur grössten Vorsicht zu gemahnen" (E. Laas 1872: 381 f.). In seinem Buch „Der deutsche Unterricht" (1890) ist Rudolf Lebmann auf die Kontroverse eingegangen. Er suchte die Vermittlung, den Kompromiß. In der Frage der Aufsatzthemen wußte er sich mit Klauke einig, auch wenn er nicht ausschließlich auf literarischen Themen beharrte. D o c h wollte er den Unterschied zwischen den Zielen des Literatur- und denen des Aufsatzunterrichtes gewahrt wissen: „Die stilistische Fertigkeit (...), der formale Zweck, kann auf keine andere Weise erreicht werden, als indem man sie durch Aufsätze übt. Somit ist es der formale Zweck, der den Aufsatz erst notwendig macht, und ihm hat sich die Rücksicht auf den Inhalt, wiewohl man sie niemals aus den Augen lassen darf, unterzuordnen" (ebd.: 69). Man kann den Ausführungen von Klaucke und Lehmann zum Aufsatzunterricht nicht nachsagen, daß sie wilhelminischen Geist atmeten. Es ist der Nachhall einer Diskussion, die Ernst Laas angezettelt hatte, Produkte von Epigonen. Unter den Didaktikern des gymnasialen Aufsatzes gibt es nur einen, der typisch für die wilhelminische Zeit ist: den Brieger Oberlehrer Paul Geyer (1906). Geyer ordnete sich selbst zwischen Lehmann und Klaucke ein: „Wenn ich das materiale Prinzip, die Rücksicht auf den Inhalt der Aufsätze, in Hinsicht auf die Oberstufe ein wenig stärker betone als Lehmann, so ist damit noch nicht gesagt, daß ich mit Sack und Pack in das Lager Klauckes übergehen möchte" (P. Geyer 1906: 23). Was ihn daran hinderte, war seine Entschlossenheit, sich den „zersetzenden Tendenzen" in der Aufsatzdidaktik entgegenzustellen. Es ging ihm darum, „gebildeten Kreisen des deutschen Volkes jene Einheitlichkeit der Weltbetrachtung, die früher einerseits durch das Christentum, andererseits durch das Studium der Alten vermittelt wurde, und die heute so schmerzlich vermißt wird, durch eine philosophische Vertiefung des deutschen Unterrichts auf der Oberstufe unserer höheren Lehranstalten ( . . . ) in bescheidenen Grenzen wiederzugeben" (ebd.: 24). „Das Beispiel der Priesterseminare und der Kadettenanstalten" (ebd.) stand ihm dabei vor Augen. Der Aufsatzunterricht, wie der Deutschunterricht insgesamt, wurde von nun an dazu benutzt, den „Zöglingen" einen bestimmten geistig-sittlichen Charakter ( . . . ) aufzuprägen" (ebd.). Es ging um nationale Gesinnungs- und Charakterbildung.
Die Form: der klassische Reproduktionsaufsatz Was war der beste, einfachste und direkte Weg, um eine nationale Gesinnung, wie man sie damals verstand, in Kopf und Herz der Schüler zu bringen? Andere oder gar sich selbst glauben zu machen: (1) daß der Schüler, auch noch der Primaner auf dem Gymnasium, im Grunde ein Nichts ist — unfähig, einen Gedanken richtig zu fassen, unfähig, einen Gedanken angemessen zum
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Ausdruck zu bringen, unfähig aber auch, seine Sprache so zu gebrauchen, wie man es von einem gebildeten Menschen verlangte: „Gedanken- und Sprachunmündigkeit", das war die Formel, von der man ausging; (2) daß der Schüler einer Bildung zu unterziehen sei, die sich in nichts von der Bearbeitung eines ungeformten Stoffes unterscheidet. „Ohne bildende Einwirkung" sei er „nicht in seiner wahren, sondern in einer naturwüchsigen Wirklichkeit vorhanden" (F. Otto 1873: 1). Man scheute sich nicht, die Erziehung eines jungen Menschen mit der Herstellung eines Produktes zu vergleichen: „Im Kreise des Handwerks und der formalen Kunst hat das Bilden einen ungeformten Stoff zu seinem Vorwurfe, und besteht in einer Bearbeitung desselben, durch welche er bestimmt gestaltet und in der Gestalt, die er empfängt, zum Träger einer Idee wird. ( . . . ) Auf dem Gebiete der Schule ist es der inwendige Mensch des Schülers, der durch Erziehung und Unterricht eine bildende Einwirkung erfahren ( . . . ) soll" (F. Otto ebd.). Wenn man annehmen kann, daß der Schüler grundsätzlich keine vernünftigen Gedanken hat und also auch nicht auf eigene Gedanken kommen kann, dann muß man ihm konsequenterweise den Inhalt zu den Aufsätzen, den Stoff, wie man damals sagte, und die richtigen Gedanken vorgeben. Methodisch eignete sich dazu am besten die Lektüre von Büchern — wenn es um den nationalen Geist ging, natürlich die Lektüre von solchen Büchern, die aus einem solchen nationalen Geist geboren waren. Es lag also nahe, die Vorstellungen, die Robert Heinrich Hiecke vom deutschen Aufsatz und seinen Grundlagen entwickelt hatte, wieder aufzugreifen und — allerdings wohl in einem anderen Sinne, als Hiecke das ursprünglich gemeint hatte — anzuwenden. So ist zu erklären, daß die literarischen Themen in den sechziger Jahren überhand nehmen und von da ab aus dem Aufsatzunterricht nicht mehr wegzudenken sind. Über die Lektüre der Nationalliteratur sollte nationales Bewußtsein in die Köpfe und Herzen der Schüler transportiert, durch das Schreiben von Aufsätzen über eben diese Stoffe eine nationale Gesinnung eingeübt und befestigt werden. Wenn der Schüler keine vernünftigen Gedanken hat, die es verdienten, zu Papier gebracht zu werden, dann ist es auch folgerichtig anzunehmen, daß ihm auch die entsprechenden Darstellungsformen fehlen, um seine Gedanken zum Ausdruck bringen zu können. Also mußte man ihm nicht nur die Inhalte, sondern auch die Formen vorgeben. Auf diese Weise konnte das ganze Arsenal an Aufsatzformen, das die alte Schulrhetorik entwickelt hatte und das im 19. Jahrhundert noch lebendig war, von dem gesinnungsbildenden Aufsatz übernommen werden: die Erzählung, die Beschreibung, die Schilderung und vor allem die verschiedenen argumentierenden oder interpretierenden Aufsatzformen. In dieser Zeit kommt eine Form auf, die für den gesinnungsbildenden Aufsatz besonders geeignet war: die sogenannte Entwicklung. „Unter Entwicklung verstehen wir hier die Behandlung solcher Themata, die in der
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Form einer Sentenz oder eines Sprichwortes gegeben werden und deren Inhalt eine allgemeine Wahrheit oder Idee ausspricht" (F. Linnig 1871: 169). Entwicklungen ließen sich schreiben über Sprichwörter („Morgenstund hat Gold im Mund"), über allgemeine Lebensweisheiten („Zu allem Großen ist der erste Schritt der Mut") und vor allem über die Sprüche und Sentenzen der Geistesgrößen, voran der Dichter. Worauf es ankam, war, „die Idee zu erläutern, zu begründen und allseitig zu entfalten und zu beleben, — die ausgesprochene Wahrheit von allen Seiten zu beleuchten und sie dadurch fruchtbar zu machen" (F. Linnig 1871: 169). Die Begründung bildete „zwar einen Theil der Ausführung", aber nicht einmal den „einzigen" und schon gar nicht den „Hauptteil" (ebd.). Es kommt noch ein Drittes hinzu. Nicht nur der Inhalt und die Form der Darstellung wurden den Schülern vorgegeben, wenn sie einen Aufsatz zu schreiben hatten, sondern in einem eingeschränkteren Sinne sogar auch noch die Sprache. Man forderte, daß die Aufsätze nicht in der dem Schüler eigenen, seinen Gefühlen, Einstellungen, Gedanken und Anschauungen gemäßen Sprache geschrieben werden sollten, sondern in einer besonderen Art von Prosa, einer „Idealprosa", einem Amalgam aus ciceronischen Stilelementen, wie sie die lateinischen Stilisten immer noch verwendeten, dem Stil der deutschen Klassiker, Schiller vornehmlich, und dem Pathos der Freiheitsdichter. Wie sehr sich der deutsche Aufsatz durch die veränderte Zielsetzung gewandelt hatte, in welchem Ausmaße das Ziel der Gesinnungsbildung die Konzeption des deutschen Aufsatzes berührte, soll an einem Beispiel erläutert und veranschaulicht werden. Ein Beispiel: Friedrich Otto (1844, 1873) 1844 hatte Friedrich Otto ein viel beachtetes und oft gebrauchtes Buch zum Unterricht im Deutschen herausgebracht. Bis 1890 waren insgesamt acht Auflagen erschienen. Vergleicht man die siebte, 1873 herausgekommene, „wesentlich erweiterte und zum Theil umgearbeitete Auflage" mit der von 1844, dann kann man erkennen, wie sehr sich innerhalb von dreißig Jahren die Vorstellungen vom deutschen Aufsatz geändert hatten. Im Jahre 1844 hatte der Deutschunterricht für Friedrich Otto ein einziges, klar umrissenes Ziel: „die Unterrichtsfahigkeit" des Schülers, und zwar durch die Einführung in die Schriftsprache: „Die von mir beschriebene Behandlung der Lesestücke setzt einen Elementar-Unterricht voraus, der dem Schüler durch Sprechen, Schreiben und Lesen die Formen der Büchersprache angeeignet und ihn dadurch unterrichtsfähig gemacht hat" (F. Otto 1844: XIX). In einem solchen Kontext diente der Aufsatzunterricht in erster Linie der Stilbildung. Dreißig Jahre später ist von einem solche Ziele nur noch am Rande die Rede. Nun soll die Schule national bilden, das heißt, „nationalen
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Geist in die Schüler einpflanzen" (F. Otto 1873: 35) durch „die Eintauchung in das, was das Volk gedichtet und gedacht, geredet und geschrieben hat" (ebd.). Hatte Robert Heinrich Hiecke bereits auf die Bedeutung des Lesebuches für den Aufsatzunterricht hingewiesen, dabei aber die Reproduktion von Lesebuch- oder Lektürestoffen als einen zwar notwendigen, doch schließlich zu überwindenden Schritt in Richtung auf freie Produktionen der Schüler angesehen, so kommen Friedrich Otto im Jahre 1873 solche Skrupel schon gar nicht mehr: „Die Didaktik des Produzierens" wird „aus den Aufsatzübungen gestrichen" (ebd.: 29). „Die Anfertigung völlig freier Aufsätze ist ein Ziel, das Knaben innerhalb der Schulzeit ( . . . ) nicht erreichen" (ebd.: 98). Man verlangt „nicht Erfundenes, sondern Empfangenes als Inhalt der Schüleraufsätze" (ebd.: 29). Man gibt der Ansicht Ausdruck, „daß die Jugend in ihren produktiven Mitteln geschont, daß es ihr gestattet sein müsse, lange Zeit hindurch sich innerlich in einem gediegenen Kerne zu sammeln, Kenntnisse aller Art und Gedanken anderer aufzunehmen und in sich zu verarbeiten, ehe man in höherem Sinne und größeren Maße Selbstgedachtes von ihr fordern dürfe" (ebd.: 29). Kurz: Schüleraufsätze hatten ihrem Inhalt nach ausschließlich Reproduktionen stofflicher Vorgaben zu sein. Nur Stoffe aus der „Gotteserkenntnis und der Weltkunde" ließen „eine freiere Gestaltung und wohl auch eine weitere Ausgestaltung" zu (ebd.: 98). Aber das war wohl nicht mehr als eine Konzession an kirchliche Institutionen. Zur inhaltlichen tritt die formale Reproduktion. Hatte Hiecke noch angenommen, daß sich die Form der Aufsätze jeweils von selbst aus den in ihr zur Darstellung kommenden Gedanken ergäbe, normierte Formen also nicht gelehrt werden könnten, weil es sie einfach nicht gäbe, so widerspricht dem Friedrich Otto energisch. Weder würden sie „mit der Muttermilch eingegeben", noch seien sie einem Stoffe „so immanent, daß sie mit dessen Darstellung von selbst hervorgingen" (ebd.: 29). Auch die Aufsatzformen — „diese durch die Sprachkunst in Abhängigkeit von der Natur des darzustellenden Gegenstandes und des Zweckes seiner Darstellung normierten Formen" (ebd.: 29) — seien „durch Reproduktion gegebener Vorbilder und durch Nachbildung und Umbildung derselben" (ebd.: 98) vom Schüler anzueignen, darum zu lehren und zu erlernen. F. Otto stellt zusammenfassend fest: „Der Unterricht in der Sprachkunst beschäftigt demnach den Schüler weder bezüglich des Stoffes noch der Form eines Aufsatzes erfindend, sondern nur, sobald derselbe von der Leine losgelassen werden kann (man beachte den Vergleich mit einem jungen Hund! O. L.), einen gegebenen Stoff nach einer zur Anschauung, zum Verständniß und zur Uebung gebrachten Form gestaltend" (ebd.: 29). Schließlich wurde dem Schüler auch noch vorgeschrieben, in welcher Sprache er seine Aufsätze zu verfertigen habe. Es war nicht die Sprache, die er
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zuhause erworben hatte, auch nicht die Sprache, „die im realen Lebensverkehr cursirende Gemeinsprache", die man heute etwa von Schülern erwartet, schon gar nicht der persönliche Ausdruck von Gedanken und Gefühlen — der konnte es ja schon aus dem Grunde nicht sein, weil dem Schüler keine Gedanken und Gefühle zugestanden wurden —, sondern „die sogenannte Idealprosa, die in der Real- oder Geschäftsprosa ihren Gegensatz hat" (ebd.: 28). „Die Bezeichnung ,Idealprosa' hat darin ihren Grund, daß im kunstmäßigen Aufsatze der Gegenstand der Darstellung, auch wenn derselbe der gewöhnlichsten Wirklichkeit angehört, eine Idealisierung erfährt. Eine solche Verklärung stellt sich mit Nothwendigkeit ein, wenn ein Gegenstand, um den Inhalt zu seiner Darstellung zu gewinnen, gezwungen wird, seine Individualität im Lichte eines Allgemeinen, das der Geist aus seiner Idealität hinzubringt, zu entfalten" (ebd.: 28). Da der Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, zur deutschen Nation gewiß etwas Allgemeines war, „das der Geist aus seiner Idealität hinzubringt", leuchtet es ein, daß die Sprache, in der die Aufsätze geschrieben werden sollten, nur eine „Idealprosa" sein konnte. Die Ausführungen von Friedrich Otto aus dem Jahre 1873 zeigen, wie der deutsche Aufsatz — bald nach 1870 — Teil eines „gedanken- und gemüts-, oder (...) erkenntnis- und gesinnungsbildenden Unterrichtes" (ebd.: 15) wurde. Aufsatzerziehung war nun Gesinnungsbildung. Die Themen und Inhalte Der Gedanke, mit Aufsätzen Gesinnungs- und Charakterbildung zu betreiben, war an sich nicht neu. Solange es deutsche Aufsätze gab, sind diese auch dazu benutzt worden, einen bestimmten Geist „in die Schüler zu pflanzen". War es früher eine religiöse Gesinnung, die ihnen „aufgeprägt" werden sollte, wie im 18. Jahrhundert vielfach noch, später eine eher philosophischmoralische Einstellung, wie fast noch das ganze 19. Jahrhundert hindurch, so ist es jetzt — in der wilhelminischen Zeit — „ein nationaler Geist". Die Veränderung in der Zielsetzung schlug sich in den Themen der Aufsätze und ihren Inhalten nieder. Sie wurden in zunehmendem Maße nationaler, nationalistischer, staatskonformistischer, zuletzt, nicht erst während des Krieges, auch ausgesprochen militaristisch. Ein Schüler, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen Aufsatz über die „Sehnsucht nach dem Vaterlande" zu schreiben hatte (eigene Sammlung 1803: A. Kinberger), hatte weder die deutsche Nation noch das deutsche Reich im Sinn. Denn beide gab es noch nicht, wohl aber gab es viele deutsche Vaterländer. So versetzte sich der Schüler in die Lage eines in der Fremde Eingekerkerten, um der Sehnsucht nach dem Vaterlande Ausdruck zu verleihen: „O schauerlicher Gedanke! wenn ich mich erinnere an jene Abschiedsstunde, wo ich so heiße Zähren auf meine Eltern, Freunde und Geschwister
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Wangen vergoß! ( . . . ) Ο wär es mir vergönnt, meine Geliebten noch einmal zu sehen; Sie in meinem Vaterlande wieder zu umarmen!" Wenn er von Vaterland sprach, dachte er an Zuhause, an die Eltern, die Geschwister, die Freunde. Das Vaterland war für ihn die Heimat. Die Vertreibung der napoleonischen Truppen aus den deutschen Ländern 1815 hat zweifellos so etwas wie ein Nationalgefühl in breiteren Bevölkerungsschichten entstehen lassen. „Daß die endgültige Niederwerfung des ,Erzfeindes' 1815 nicht zur Errichtung des erhofften deutschen Nationalstaates, sondern zum Bund von 35 souveränen deutschen Fürsten führte, ( . . . ) ist für den weiteren Gang der Nationalerziehung in Deutschland von einschneidender Bedeutung geworden. Die erzwungene politische Enthaltsamkeit führte zu einer um so intensiveren Pflege der ,inneren Werte' des Deutschtums" (H. J. Frank 1 9 7 3 / 1 9 7 6 : 4 3 6 ) . Horst Joachim Frank hat in seiner bekannten Geschichte des Deutschunterrichts ausführlich darüber berichtet (ebd.: 375 — 569). In den Schulaufsätzen, die mir vorliegen, findet sich davon lange Zeit nichts. Die ersten Belege stammen aus der Zeit nach 1848, als ein weiteres Mal die Hoffnungen auf eine Vereinigung der deutschen Länder in einem deutschen Reich zu Grabe getragen wurden. „Warum kann der Deutsche stolz sein auf sein Vaterland?" lautete das Thema eines Abituraufsatzes aus dem Jahre 1 8 5 1 (eigene Sammlung S. 1 8 5 1 / 1 ) . Dem Thema war als Motto beigegeben: „Der deutsche Name ist alt und stark, / Voll Hochgefühl und Glauben, / Die Treue ist der Ehre Mark, / Wankt nicht, wenn Stürme schnauben". Damit war die Richtung angegeben, in die sich der Aufsatz bewegen sollte. Der Verfasser des Aufsatzes geht auf die Beschaffenheit des Landes, auf die Größe des deutschen Volkes und schließlich auf die Sprache und Literatur ein. Zwar versteigt er sich zu Äußerungen wie diese: „Ein solches Volk, mit so herrlichen Vorzügen ausgestattet und mit so herrlichen Tugenden geziert, konnte nur Großes ausführen. Daher sehen wir schon in den ältesten Zeiten Deutschland die Römer in Schrecken setzen. Die ausgezeichnete Tapferkeit der Deutschen und ihre hohe, götterähnliche Gestalt hatte in der That etwas Furchtbares. Sie blieben frei von der Herrschaft der Römer". Doch fehlen alle chauvinistischen Züge. Der Stolz auf das eigene Vaterland Schloß noch nicht die Herabsetzung anderer Völker ein. Ein Beispiel aus den sechziger Jahren zeigt, daß sich das bald änderte. Das Thema war mit dem vorigen fast identisch: „Was giebt dem Deutschen ein Recht, der Fremde gegenüber mit Stolz auf sein Vaterland zu blicken" (eigene Sammlung S. 1 8 6 3 / 1 ) . Nur der Zusatz „der Fremde gegenüber" verrät, worauf es dem Aufgabensteller ankam. Und so bemühte sich denn nun auch der Verfasser des Aufsatzes des langen und breiten, die Errungenschaften der Franzosen herabzusetzen und letztlich als nachteilig für das Volk hinzustellen. Er bestritt nicht die Tatsache, daß Frankreich geeint war, eine starke Hauptstadt besaß und so über viel Macht verfügte, Deutschland dagegen in jedem
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Punkt das Gegenteil darstellte. Statt diesen Zustand zu beklagen, kehrte er die Bewertung einfach um. Frankreich hat, meinte der Verfasser „eine große Hauptstadt (...); in ihr wird alles vorbereitet und ausgeführt; sie ist sozusagen die Seele von Frankreich, denn würden in Paris die Fäden losgelassen, von denen das ganze Land gelenkt und geführt wird, entweder würde die tollste Anarchie entstehen, oder alle Räder der Staatsmaschinerie würden stocken. Eine solche Organisation fehlt uns, und wir können uns dazu gratulieren. Denn welche Freiheit haben die Franzosen, deren Thun und Treiben sich ganz nach dem Tone richten muß, der in der Hauptstadt angeschlagen wird! Ja, wir können sagen, das geringste Dorf unseres gesegneten deutschen Vaterlandes hat mehr Freiheit, als eine Departementshauptstadt Frankreichs, ja jeder einzelne, deutsche Mann ist freier als ein Franzose. Und wem verdanken wir das? Wahrlich der so sehr geschmähten und verachteten Kleinstaaterei (...)". Für die Entwicklung des gesinnungsbildenden Aufsatzes sind die Kriegsereignisse der Jahre 1870/71 von großer Bedeutung gewesen. Eine Welle patriotischer Gefühle ging über das Land, der sich auch die Schüler nicht verschließen konnten. Wenn man die Aufsätze der Zeit durchsieht, lassen sich zwei Momente herausheben, die immer wieder zum Ausdruck kommen: die Bereitschaft, sich dem deutschen Heere zur Verfügung zu stellen („Von Nord nach Süd, von Ost nach West geht nur der Ruf: Auf nach Frankreich!"), und das Gefühl der Genugtuung nach dem errungenen Sieg. Der Ausbruch des Krieges scheint ein alle Gemüter derart bewegendes Ereignis gewesen zu sein, daß — gegen alle Konventionen des Aufsatzunterrichtes — ein Ereignis der Zeitgeschichte zum Thema von Aufsätzen, ja sogar von Abiturarbeiten gemacht wurde. In einem in der Form eines Briefes an seinen Vater gehaltenen Aufsatz schreibt ein Primaner im Herbst 1870: „Daß ich bei dieser allgemeinen Begeisterung nicht kalt geblieben bin, daß auch ich vor Begierde brenne, dem Rufe meines Königs zu folgen und mich den tapferen Vaterlandsverteidigern anzuschließen, das wirst Du nicht mehr als natürlich finden. Ich habe Alles bereitgehalten, um sogleich eintreten zu können, nur Deine Erlaubniß, lieber Vater, fehlt mir noch, und die wirst Du mir gewiß nicht versagen. ( . . . ) Habe ich gleich nicht das militärpflichtige Alter erreicht, so bin ich doch rüstig genug, um unter den Reihen meiner deutschen Brüder mitzufechten, und Schande für mich, wollte ich nicht meine ganze Kraft dem Vaterlande anbieten. Wenn Ihr dies erwägt, so hoffe ich ganz bestimmt, daß Ihr meinem Wunsche nicht entgegen sein werdet". Hier ist der Aufsatz nicht ein Instrument zur Erzeugung einer nationalen Gesinnung, sondern eher ein Ventil, um vorhandene Gefühle nach außen bringen zu können. Dasselbe gilt auch für die Aufsätze, die sich während und nach dem Kriege mit den militärischen Erfolgen der Deutschen beschäftigen.
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In einem aus demselben Jahre stammenden Aufsatz aus Lübeck kann sich der Schreiber nicht genug tun, den Sieg der deutschen Truppen zu feiern. Thema des Aufsatzes lautete: „Tempora mutantur!" und wie haben sich die Zeiten geändert! Nicht genug, daß sie (die feindlichen Armeen O. L.) von Anfang an geschlagen wurden, so gänzlich geschlagen wurden, daß die deutschen Heere in ihrem Siegeslauf nicht einen Augenblick aufgehalten werden konnten, wurden diese berühmten französischen Armeen samt ihrem ruhmgekrönten Feldherren, geradezu gezwungen sich bis auf den letzten Mann gefangen zu geben, Beispiele, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat". Der Aufsatz als Sprachrohr für die patriotischen Gedanken und Gefühle der Schüler vor, während und nach den Siegen von 1870 — so etwa könnte man die aufsatzdidaktische Situation beschreiben. In den siebziger Jahren, also nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der Reichsgründung im selben Jahre, hielt der wilhelminische Geist, von dem oben die Rede war, endgültig Einzug in die Aufsätze der Primaner. Drei Momente charakterisieren ihn: — das Vaterland, unter allen Werten nun unbestritten der höchste; — eine ausgesprochen militante Haltung gegenüber allen, die dieses Vaterland nicht als das ihrige betrachten oder gar es zu bedrohen schienen; — eine entschieden antisozialistische Einstellung. Richtete sich jene vor allem gegen die Feinde von Außen, so diese gegen den inneren Feind, die „vaterlandslosen Gesellen", wie die Sozialdemokraten genannt wurden (vgl. U. Wehler 1980: 108). In einem Abituraufsatz aus dem Jahre 1874 sind alle drei Momente vereinigt. Das Thema des Aufsatzes war damals nicht ungewöhnlich (vgl. O. Ludwig 1985). Man findet es in Themen- und Dispositionssammlungen der Zeit, später zählte es zu den Standardthemen für die Sekunda: „Dulce est et decorum pro patria mori — es ist süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben" (Horaz). In dem Thema sind bereits zwei oder drei Momente miteinander verbunden, das Nationale und das Militärische. Der Aufsatz selbst baut auf folgender Argumentationskette auf. Jeder Mensch verdankt dem Vaterlande „sein Leben, den Schutz vor Angriffen der Feinde, die Ruhe, mit der er seinem Geschäfte nachgehen kann". Darum ist er dem Vaterlande gegenüber zu Dank verpflichtet. Zu dieser Dankbarkeit zählt auch die Bereitschaft, es gegen seine Feinde zu verteidigen, ja sogar die Bereitschaft, sein Leben für es zu opfern. „Wäre der Tod fürs Vaterland nicht wirklich ein süßer, würde der Krieger dann wohl so muthig, so gerne denselben aufsuchen? Wenn er fällt, ist noch der letzte Hauch ein Hoch aufs Vaterland". Bemerkenswert an diesem Aufsatz und für die Zeit wohl charakteristisch ist die Tatsache, daß zu den Feinden auch der Feind im Inneren gerechnet wird. Wie es Pflicht des Krieges sei, den äußeren Feind zu bekämpfen, so obliege es dem „ruhigen Bürger" daheim, „kühn und entschlossen" sich „dem aufrührerischen Volke"
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entgegenzustellen, „zur Ruhe" zu mahnen, zu versuchen „es von seinem Vorhaben abzubringen", und sei es auch zuletzt mit dem Einsatz des eigenen Lebens. Das „pro patria mori" hatte also auch für den Bürger Gültigkeit. „Das in Versailles proklamierte deutsche Kaiserreich war nicht das so lang ersehnte Reich der Deutschen. Es war ein Bund der Fürsten und nicht der Zusammenschluß des Volkes, ein Werk zäher Diplomatie im Gefolge militärischer Siege und nicht die Frucht einer nationalen Bewegung" ( H . J . Frank 1976: 487). Es galt, eine Rückkehr zum alten Partikularismus zu verhindern, „den erreichten Status zu behaupten", vor allem gegen eine Bedrohung von außen, „und das neue Reich im Inneren zu festigen" (ebd.: 488). Diesen Zielen hatte das gesamte Bildungswesen, insbesondere aber auch der Deutschunterricht zu dienen. Unter solchen Voraussetzungen mußten sich die Themen der Aufsätze ändern. Natürlich erinnerte man sich noch gerne der Heldentaten deutscher Krieger. Natürlich blickt man voll Stolz auf die erreichte Einigung des deutschen Reiches: „Aus einem zerrissenen, in unendlich viele größere und kleinere, weltliche und geistliche Fürstenthümer geteilten Reiche der früheren Jahrhunderte ist, freilich nach langen, schweren Kämpfen, ein einheitlich geordnetes, nach innen und außen erstarktes deutsches Kaiserreich entstanden" (aus einem Abituraufsatz aus dem Jahre 1882). Doch nicht Erinnerung, sondern der Rückblick in die vaterländische Geschichte charakterisiert zwischen 1871 und etwa 1890 den gesinnungsbildenden Aufsatz. Durch die Besinnung auf die vaterländische Geschichte sollte vaterländische Gesinnung erzeugt werden. Die Verdienste der Hohenzollern werden hervorgehoben: „Mancher Staat zählt eine Reihe glücklicher Eroberer, mancher gute Gesetzgeber und Staatsmänner zu seinen Fürsten, Preußens Herrscher aber sind im wahren Sinne des Wortes Väter ihres Staates" (aus einem Aufsatz aus dem Jahre 1883). Der Beitrag, den die deutsche Dichtung an der Bildung eines Nationalbewußtseins hatte, wird herausgestellt: „Seit Schiller regte sich wieder jenes edle Freiheitsgefühl, das lieber Tod u. Not erleiden, als einem ungerechten u. aufgedrungenen Joche sich beugen will" (aus dem Jahre 1886). Man vergleicht den gegenwärtigen Zustand des deutschen Reiches mit früheren Zeiten, mit der Zeit des großen Napoleon, dem man den Respekt nicht versagen konnte, oder mit der Zeit des heiligen römischen Reiches. In dieser Besinnung auf die vaterländische Geschichte nehmen natürlich die Freiheitskriege einen hervorragenden Platz ein: „Jetzt bricht die schönste Periode unserer Geschichte an", schreibt ein Primaner 1877. „Wer wollte es wagen, die Freiheitskriege mit den zahllosen, edlen Beweisen der deutschen Vaterlandsliebe zu beschreiben? Bände lassen sich darüber schreiben, was in wenigen Tagen von unserem Volke auf den Altar des Vaterlandes gelegt worden ist ( . . . ) . Deutsche waren es, welche vorzugsweise Napoleon zuerst in seinem eigenen Lande angegriffen haben. ( . . . ) Deutsche haben wiederum durch den Feldzug von 1815 der Herrschaft der hundert
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Tage ein Ende gesetzt". Wenn sich der Kaiser später — 1889 — in einem Erlaß zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen darüber beklagt, daß die vaterländische Geschichte in den Schulen vernachlässigt werde (vgl. B. Michael und H . H . Schepp 1973: 409), so setzen ihn die Schulaufsätze der Zeit, vor allem die Arbeiten der Primaner, ins Unrecht. Die vaterländische Geschichte wurde neben den traditionellen Stoffen in den deutschen Aufsätzen behandelt, und diese Aufsätze waren, wie ihr Studium zeigt, ein durchaus geeignetes Mittel, um, wie der Kaiser sich in jenem Erlaß auszudrücken beliebte, „durch Pflege ( . . . ) der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen" (ebd.). Die Begeisterung für das neue Reich genügte %wan%igJahre nach der Reichsgründung nicht mehr. N u n , nachdem das Reich gefestigt und im Begriffe war, eine Weltmacht zu werden, bedurfte es nicht nur einer rechten Gesinnung, sondern auch entschlossener und tatkräftiger Mitstreiter. Es gibt eine Stelle in den Lebenserinnerungen des Kaisers, die die veränderten Ansprüche recht deutlich werden läßt. Der Kaiser vergleicht dort seine „blassen, überstudierten Landeskinder" mit den „britischen Jungens", die er in Eton kennengelernt hatte. Die „sprachen freilich schon damals von kolonialen Eroberungen, von Expeditionen zur Erforschung neuer Länder der Erde, von der Ausbreitung des britischen Handels und strebten danach, als Pioniere der Macht ihres Vaterlandes in praktischer freier Betätigung ( . . . ) Great Britain noch stärker und größer zu machen" (Kaiser Wilhelm II. 1922: 153). Solche „Pioniere der Macht ihres Vaterlandes" hätte sich auch der Kaiser gewünscht. Das war das „Material", das er brauchte. Von n u n an ist die Schulpolitik des Kaisers durch zwei Tendenzen bestimmt: eine aggressive, letztlich doch wohl schon auf die Vorbereitung eines Krieges hinauslaufende und, da eine imperialistischexpansive Politik Ruhe im eigenen Land voraussetzte, eine antisozialistischantikommunistische. In einem Erlaß aus dem Jahre 1889 spricht der Kaiser davon, daß er beabsichtigte, „die Schule ( . . . ) nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken" (B. Michael und H . H . Schepp 1973: 409). Ein Jahr später, auf der Schulkonferenz von 1890, beklagt er sich darüber, daß die Gymnasien ihrer vaterländischen Pflicht nicht nachgekommen seien: „Wenn die Schule das getan hätte, was von ihr zu verlangen ist ( . . . ) , so hätte sie von vornherein von selber das Gefecht gegen die Sozialdemokratie übernehmen müssen" (ebd.: 415). Die Aufsätze scheinen dem Kaiser recht zu geben. Das Gefecht gegen die Sozialdemokratie findet dort weder vor noch nach 1890 statt. Es gibt nur wenige Stellen, in denen — wenig deutlich — von dem „aufrührerischen Volke" die Rede ist. Allerdings gab es auch wenig Anlaß, den Schülern auf dem Gymnasium
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antisozialistisches oder gar antikommunistisches Gedankengut nahezubringen. Sie stammten vorwiegend aus gut situierten Bürgerhäusern und waren, wie sich viele Jahrzehnte später immer noch zeigen sollte, für solche aufrührerischen Ideen überhaupt nicht zugänglich. Das mag erklären, weshalb die eine Richtung der kaiserlichen Schulpolitik so gut wie keinen Niederschlag in den Schulaufsätzen gefunden hat. Umso deutlicher, und zwar zunehmend deutlicher ist die andere Richtung ausgeprägt. Von Anfang an haftet dem deutschen Patriotismus ein militanter Zug an. In dem Aufsatz aus dem Jahre 1874 über das Horazsche „Dulce et decorum est" war dieser Zug bereits deutlich ausgeprägt. Haß auf den „Erbfeind", Stolz auf die militärischen Siege, eine durchweg positive Besetzung von allem, was mit dem Krieg zu tun hatte, das etwa sind die Eigenschaften, mit denen man bis 1890 rechnen konnte. Von nun an aber kommen in den Aufsätzen neue, schärfere Töne auf: eine Hochachtung vor den borniertesten soldatischen Tugenden, eine Verherrlichung des Krieges ohne Rücksicht auf Zweck und Anlaß. Die Vaterlandsliebe nimmt ausgesprochen aggressive Züge an. Es besteht kein Zweifel, der Krieg wurde, lange bevor er begonnen hatte, in den Köpfen und Herzen der Primaner vorbereitet. Der deutsche Aufsatz war dazu ein williges Instrument. Aus der Fülle der Belege sollen hier nur zwei angeführt werden. 1898 hatte man damit begonnen, die Siegesallee in Berlin mit den Standbildern der Hohenzollern zu zieren. Noch waren nicht alle Standbilder aufgestellt, da kam 1901 ein Berliner Oberlehrer, dessen Name nicht bekannt ist, auf die Idee, in den Primen, in denen er Deutsch gab, einen Aufsatz mit dem Thema schreiben zu lassen: „Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee". Vermutlich glaubte er, daß es didaktisch klug sei, sich auf die Beine der Hohenzollern zu beschränken, weil die Beschreibung aller dreiunddreißig Statuen für die Schüler wohl doch eine Überforderung gewesen wäre. Der Kaiser hatte von diesem Unternehmen gehört und sich vier Aufsätze kommen lassen. So sind diese vier in seinen Archiven erhalten geblieben (vgl. R. E. Hardt 1969). Wie aus den Aufsätzen entnommen werden kann, bestand die Aufgabe darin, aus der Beinstellung der jeweiligen Statue auf den Charakter des dargestellten Herrschers Rückschlüsse zu ziehen. Das Ergebnis ist bedrückend. Die Hohenzollern werden in zwei Gruppen aufgeteilt, auf der einen Seite die „schlappen", unkriegerischen „Typen", auf der anderen die Haudegen. Von Joachim Hektor heißt es etwa: „Seine plumpe, schwerfällige Stellung der Beine deutet auf einen kühnen Haudegen hin, der es nicht versteht, sanft aufzutreten, sondern lieber drein schlägt". Von Albrecht dem Bären: „Albrecht tritt mit seinem Beine schonungslos seinen Gegner nieder und zeigt sich dadurch als der Überlegene". Dagegen heißt es von Otto dem Faulen: „Wenn man nicht den Namen läse, wenn man nur die Beine sähe, man müßte wissen, daß diese Figur Otto den Faulen darstellt.
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Als ob er einen stundenlangen Marsch in glühender Hitze hinter sich hätte, steht er da mit schlappen Knien, als ob er, wie der Volkswitz treffend sagt, ,νοη seinem Sockel herunter steigen wollte, um sich auf die Bank zu legen". R. E. Hardt, dem wir den Fund der vier Aufsätze verdanken, faßt den Inhalt so zusammen: „Die vier Hefte (und zweifellos auch die vierzig oder achtzig anderen, die nicht auf uns überkamen) sind ein einziger Hymnus auf das Hauen und Stechen, Würgen und Treten, Morden und Rauben, mit einem Wort auf die ,kriegerische Tradition' der Preußen". Und er stellt fest: „Wie in einem Laboratorium kann man an diesen vier Schüleraufsätzen studieren, mit welchen Mitteln, durch welche Begriffsverbindungen und mit welcher Zwangshaftigkeit den Schülern der Wilhelminischen Ära der Totschlägergeist ( . . . ) anerzogen wurde, den der Imperialismus brauchte" (R. E. Hardt 1960: 136). Der andere Beleg stammt aus einem Abituraufsatz, der 1908 an einem Hannoverschen Realgymnasium geschrieben wurde. Die Aufgabe bestand in einer Charakteristik des Großen Kurfürsten in Kleist's „Prinz Friedrich von Homburg". Nach Auffassung des Verfassers stellt das Theaterstück die Erziehung eines ungehorsamen Prinzen dar. Die Mittel der Erziehung sind Strenge und Strafe, das Ziel der Erziehung: „der unbedingte Gehorsam". Von der Strenge des Großen Kurfürsten schreibt der Abiturient: „Diese Strenge ist seinen Offizieren bekannt. Er verlangt von ihnen nichts weiter, als die unbedingte Pflichterfüllung. Es kommt ihm nicht darauf an, (man höre!) daß der einzelne Offizier besonders viel leistet. Wie ihm selbst Ordnung, Pünktlichkeit, Männlichkeit die Hauptbedingungen sind, so verlangt er dieses auch von seiner Umgebung". Und weiter: „Wer seinen Befehlen gehorcht, kann nicht fehlen. Und dieses ist das Hauptwort, das jeder Offizier sich fest einprägen muß, der unbedingte Gehorsam". Ordnung, Pünktlichkeit, Männlichkeit — unbedingter Gehorsam, das sind die Tugenden, deren es nach der damaligen Anschauung im Kriege und auf dem Schlachtfeld bedarf. Über die Aufsätze aus der Zeit des Krieges (1914— 1918) hat Claus Conrad ausführlich berichtet (C. Conrad 1986). In den Aufsätzen der Primaner lassen sich nun zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Aufsatzes Momente der Kriegspropaganda nachweisen. Die offizielle Kriegspropaganda war sozusagen bis in die Aufsätze durchgeschlagen: „Es läßt sich also", wie Conrad zusammenfassend bemerkt, „eine Entwicklung feststellen, die bei der obrigkeitsstaatlichen Indienstnahme des Deutschunterrichts als Instrument der politischen Sozialisation beginnt und die bei der Instrumentalisierung durch die Armee als Propagandamittel zur Sicherstellung des richtigen Bewußtseins des militärischen Nachwuchses endet" (C. Conrad 1986: 190).
VII. Der Volksschulaufsatz: Seine Entstehung im 19. Jahrhundert 1. Die historischen Voraussetzungen „Eine unterschiedslos die Kinder verschiedener Berufsstände zusammenfassende Volksschule, wie wir es ( . . . ) heute haben, beginnt sich erst allmählich seit dem Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts ( . . . ) zu bilden. Bis dahin ist auch die Organisation der Schule selbst auf ihrer untersten Stufe durch die soziale Verfassung des Ständestaates bedingt" (A. Heubaum 1905: 147). Auch die Idee einer Allgemeinbildung und damit die Vorstellung einer Elementarbildung für die Kinder aller Bürger war dem 18. Jahrhundert noch weitgehend fremd. Wo Schulen bestanden und Unterricht erteilt wurde, hat man erzogen und ausgebildet: in den Land- und unteren Stadtschulen den frommen Kirchgänger und gehorsamen Staatsdiener, in den Schreibschulen der Städte den tüchtigen Handwerker und den erfolgreichen Kaufmann, in den Lateinschulen den Gelehrten und auf den Ritterakademien den Offizier und Mann von Welt. Die Schule war eine reine Zweckschule. Die Folgen einer solchen Auffassung von Erziehung und Unterricht in der Schule waren: (1) Das Unterrichtswesen blieb den Kommunen, den Kirchen, den Ständen oder der Privatinitiative einzelner Bürger überlassen. Der Staat „beschränkte sich ( . . . ) darauf, die von außen kommenden privaten Anregungen aufzugreifen und sie, wo es ihn nützlich dünkte, zu unterstützen" (ebd.: 170). (2) Die Unterschiede zwischen Stadt und Land bestimmten das Bild. Auf dem Lande gab es durchaus nicht überall Schulen. Wo Schulen bestanden, wurde oft nur sporadisch unterrichtet. Im allgemeinen war der Zustand der Landschulen unvorstellbar schlecht. In den Städten war das schulische Angebot oft nicht besser, jedoch differenziert nach unterschiedlichen Zwecken. Halböffentliche und private Schreibschulen, Katechismusschulen, Lateinschulen, Mädchenschulen, Freischulen, für die Ärmsten der Armen auch Armenschulen und gegen Ende des Jahrhunderts Bürger- und Realschulen hatten hier nebeneinander Platz. (3) Da eine einheitliche Bildungsvorstellung fehlte, konnten die Ausbildungsziele und Unterrichtsinhalte der einzelnen Schultypen nicht aufeinander abgestimmt sein. Jede Schule verfolgte ihren eigenen Zweck und leitete von
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ihm her seine Unterrichtsinhalte ab. Ein einheitliches Schulwesen gab es noch nicht. (4) Ob ein Schüler nicht nur das ABC, sondern darüberhinaus auch das Schreiben von Aufsätzen lernte, hing einzig und allein davon ab, in welcher Schule er sich befand. Auf dem Lande Niemand konnte ein Interesse daran haben, daß die Kinder auf dem Lande lernten, wie man Aufsätze abzufassen habe. Der Landesherr oder die jeweilige Obrigkeit wünschten sich fromme und willfahrige Untertanen. Also lag ihnen an Disziplin und Ordnung. Die Kirche wünschte sich fromme Kirchgänger, die im Gesangbuch und in der Bibel lesen konnten. Und die Landbevölkerung selbst? Für sie „muß es ( . . . ) schwierig gewesen sein, überhaupt ein Interesse an der Schule zu entwickeln. Für die leibeigenen Bauern und generell für die arme Landbevölkerung war mit der Schulbildung nicht die geringste Aussicht verbunden, ihre bedrückende ökonomische und rechtliche Lage zu verändern. Im Gegenteil bedeutete die Schulpflicht für sie den Entzug benötigter Arbeitskräfte und das Schulgeld nur eine zusätzliche materielle Belastung" (A. Leschinsky/P. M. Roeder 1976: 110). Die verschiedenen Interessen spiegeln sich im Lehrplan der Landschulen wieder: „beherrschender Lehrinhalt bleiben der Katechismus und einige darüber hinausreichende Kenntnisse der Grundlagen des christlichen Glaubens. ( . . . ) An zweiter Stelle in der Rangfolge der Schulziele steht die Erziehung zur Disziplin. Das heißt primär: Erziehung zur Achtung vor der Autorität der Eltern und der Obrigkeit ( . . . ) . Unter den schulischen Lernzielen im engeren Sinne steht an oberster Stelle das Lesen" (ebd.: 71). Wenn Schreiben überhaupt ein Lehrgegenstand war, geschah es lediglich zur Stützung des Lesenlernens und beschränkte sich auf die elementarsten Fertigkeiten, wie die Kenntnis des Alphabets, die Beherrschung der Schreibmotorik und eine gewisse Sicherheit in der Orthographie. Regelrechte Aufsätze wurden in den Landschulen nicht geschrieben. Wie ein solcher Schreibunterricht aussah, geht aus dem folgenden Bericht hervor, der kaum übertrieben sein dürfte: „Gewöhnlich läßt der Lehrer, sobald er glaubt, daß ein Kind nun groß und alt genug sey, um sich nicht mehr zu sehr mit der Dinte zu beschmutzen, oder die Eltern es wünschen, dasselbe ein Schreibbuch, Feder und Dinte mitbringen, schreibt nun etwas vor, und überläßt es dem Kinde, das Vorgeschriebene nachzubilden. Gehört der Lehrer zu den besseren, so führt er wohl Anfangs einmal hier und da die Hand, zieht Linien, corrigirt einzelne Buchstaben, ermuntert durch Lob und Tadel, eilt nicht zu schnell von Buchstaben zu Sylben, Wörtern und ganzen Sätzen fort, und sieht auf die rechte Haltung der Feder, auf einen nützlichen
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Inhalt der Vorschrift (des vorgelegten und abzuschreibenden Textes O. L.), und auf Reinlichkeit des Schreibbuches; ( . . . ) noch größer ist die Zahl derer, die, sobald das Kind ein Schreibbuch mit zur Schule bringt, demselben ohne allen Fleiß erst einen, dann mehrere Buchstaben, auf, von den Kindern selbst, oft schief und krumm, gezogenen Linien vorschreiben, auf keinen festen Grundstrich sehen, die Kinder ein Buch nach dem andern vollschmieren lassen, und — bald des Vorschreibens müde — es den Kindern überlassen, sich aus der Bibel, oder aus dem Gesangbuche selbst ein Schreibestück zu wählen, bei der Durchsicht des Geschriebenen ein Praesentatum d. 8. Junii 1813, oder wie Tag und Jahr heißen, darunter setzen, im Feuereifer zuweilen ganze Seiten durchstreichen, und mit ihrem Male! beehrten, und dann diejenigen, welche dennoch etwas schreiben zu lernen scheinen, zu ihrer geschnörkelten, nicht selten mit Dinte von allen Farben aufgeputzten Fracturschrift führen" (C. Ch. Zerrenner 1813/1820: 174 f.; vgl. auch den bei F. Dittes 1871/ 1876: 181 f. angeführten Bericht). In den Städten Zwar gab es in den Städten im 18. Jahrhundert Schulen unterschiedlichster Art, doch nicht in allen bestand ein Interesse an Aufsatzunterricht. Die Katechismusschulen waren stets einer Kirche zugeordnet und dienten ausschließlich der kirchlichen Unterweisung. Aufsätze hatten hier keinen Platz. In den Armenschulen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts in vielen Städten eingerichtet wurden und in denen die Kinder derer Aufnahme fanden, die kein Schulgeld zahlen konnten, wurden nur die elementarsten Fertigkeiten vermittelt. Aufsätze gehörten nicht dazu. Andere Schulen, in denen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend deutsche Aufsätze geschrieben wurden, wie die Latein- oder Gelehrtenschulen und die gegen Ende des Jahrhunderts aufkommenden Bürgerschulen, eine Art gehobener Volksschule, können nicht der Elementarschulbildung zugerechnet werden. Der Aufsatzunterricht dieser Schulen ist in den vorausgehenden Kapiteln ausführlich behandelt worden. So bleiben, wenn man von weniger bedeutsamen Schulformen (wie Mädchenschulen, Soldatenschulen, Freischulen usw.) einmal absieht, nur die Schreibschulen übrig, in denen nicht nur Schreiben im engeren Sinne, sondern auch die Abfassung von Schriftstücken (Texten) Gegenstand des Unterrichts war. Da diese Schreibschulen für den sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den Volksschulen ausbildenden Aufsatzunterricht von großer Bedeutung waren, ist kurz auf ihre Geschichte einzugehen (zum folgenden vgl. R. Hanns 1881: 41 ff., K. Fischer 1892: I, 4 ff.; R. Menzel 1958; J. Dolch 1959/1971: 243 ff.; P. Aries 1975: 410 ff.; G. Michel 1976; H. Eckelmann 1986). Zwei Umstände waren es vor allem, die im 13. Jahrhundert zur Gründung der ersten Schreibschulen führten: die Handelsverbindungen wurden ausgedehnter und verzweigter, die Verwaltung der Städte immer komplizierter.
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Beide Umstände erforderten die Schriftlichkeit der Handels- und Rechtsgeschäfte und mit ihr die Etablierung eines neuen Standes: des Standes der Schreiber. Schreiber hatten Schriftstücke abzuschreiben, Schriftstücke zu entziffern und natürlich auch neue Schriftstücke aufzusetzen. Sie waren also zugleich Kopisten, Gutachter und Schreiber im heutigen Sinne des Wortes. Standen sie im Dienste von Kaufleuten, so hatten sie außerdem noch die Bücher zu führen, Berechnungen anzustellen und Rechnungen auszustellen. Auf solche Tätigkeiten haben die Schreibschulen damals vorbereitet. Von Anfang an standen sie in Konkurrenz zu den Lateinschulen. Die Unterschiede waren diese: (1) Jedermann konnte eine Schreibschule besuchen, der bereit und in der Lage war, dafür zu bezahlen. So kommt es, daß man in ihnen Erwachsene wie Kinder, Jungen und Mädchen findet. Der Unterricht fand weder nach Geschlechtern noch nach Alter getrennt statt. (2) Die Vorbereitung auf den Beruf des Schreibers erforderte Schreiben, Lesen und Rechnen als Unterrichtsgegenstände. Auf diese hat sich die Schreibschule zumindest bis zur Reformation beschränkt. (3) In dem Maße, in dem der allgemeine Schriftverkehr in deutscher Sprache abgewickelt wurde, trat auch im Unterricht der Schreibschulen die deutsche Sprache an die Stelle der lateinischen. So wurde diese Schulart auch oft „die deutsche Schule" genannt. (4) Da zu den Aufgaben eines Schreibers die Abschrift sowie die Abfassung von Schriftstücken gehörten, umfaßte der Schreibunterricht die Kalligraphie, die Orthographie und die Epistolographie, d. h. die Anfertigung von Schriftstücken nach vorgegebenen Formularen. Dafür standen Lehrbücher zur Verfügung, sogenannte Formularbücher. An den Gegenständen des Schreibunterrichtes hat sich bis zum 18. Jahrhundert nichts Wesentliches geändert (vgl. etwa G. Schmotther 1755). Dennoch hat sich der Charakter der Schreibschulen insgesamt im Verlauf der Jahrhunderte gewandelt. „Durch die Ausweitung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehrs bedingt, gewann dieses Bildungswesen immer mehr an Bedeutung, so daß die Stadträte sich genötigt sahen, öffentliche Schulen dieser Art einzurichten und zu erhalten" (R. Menzel 1958: 16 f.). Alle die in ihrem Beruf zu schreiben hatten, also nicht nur die professionellen Schreiber, fanden nun in den Schreibschulen eine Ausbildung: die Kaufleute und die Handwerker an erster Stelle. Der öffentliche Status dieser Schulen hatte zur Folge, daß bis in das 19. Jahrhundert hinein private Schreiblehrer stets ihre Dienste angeboten haben und damit oft den Unwillen der bestallten Schreiblehrer und der sie beaufsichtigenden Magistrate auf sich zogen. „Klipp-", „Winkel-" oder „Pfennigschulen" nannte man verächtlich ihre Einrichtungen. Die Entwicklung des Buchdruckes führte dazu, daß auf die Abfassung von Texten mehr Gewicht als auf ihre Abschrift gelegt wurde. Von
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nun an lernten die Schüler in der Schreibschule in erster Linie Schriftstücke aufsetzen. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man hier bereits schon von „Aufsätzen" sprechen. Doch muß man sich vor Augen halten, daß es sich um reine Zweckformen handelte: für den kaufmännischen Schriftverkehr um Rechnungen, Mahnungen, Bestellungen, Quittungen, Vollmachten, Berechnungen, Buchführung und Geschäftsbriefe, für den Schriftverkehr in der Verwaltung um Urkunden, Verträge, Verfügungen, Gesuche, Vollmachten und natürlich auch wieder um Briefe. Von den Aufsatzformen, wie sie heute üblich sind, konnte damals nicht die Rede sein. Schließlich hat die Reformation die Schreibschulen nicht unwesentlich verändert. „Die Reformation, eine zunächst durch und durch bürgerliche Initiative, wertete ( . . . ) die ursprünglich nichtbürgerliche Lateinschule zu ihrer Hauptschule auf, während sie anfangs der Deutschen Schule (. . . ) mißtrauisch gegenüberstand. Die für die deutsche (Volks-) Schulgeschichte so folgenreiche Maßnahme Bugenhagens, der deutschen Schule den Religionsunterricht nicht nur als ein neues Fach beizugeben, sondern ihn sogar zu ihrem Hauptfach zu machen, verfälschte Intention und Curriculum dieser Schule und ließ sie so — zweckentfremdet — für das Bürgertum uninteressant werden. Die Folge war ein Zustrom der bürgerlichen Intelligenz zur Lateinschule und ein Absinken des geistigen und kulturellen Niveaus der Deutschen Schule" (G. Michel 1976: 189; vgl. auch H. Heppe 1858: 8). Dennoch hat sich die Schreibschule in den Städten bis in das 19. Jahrhundert hinein behaupten können — gegen die Konkurrenz der sich allmählich reformierenden Gymnasien und der privaten Schreiblehrer, die sich nach wie vor ausschließlich auf Lesen, Rechnen und Schreiben konzentrieren konnten. Die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderten sich die Bedingungen für die Schreibschulen grundsätzlich: „an die Stelle der alten, nur auf die Vorbereitung für den Beruf berechneten Unterweisung" war eine neue getreten, „die das Ziel der Erziehung in der Ausbildung der Denkkraft und des Urteilsvermögens sah; einer Ausbildung, die abgesehen von jeder künftigen praktischen Verwendung der Mensch als vernünftiges Wesen nötig habe" (A. Heubaum 1905: 188). An die Stelle der Berufsqualifikation war als Ziel der Schule die Allgemeinbildung aller Bürger getreten. Das hatte Konsequenzen für die Schreibschule. In einem der Ausbildung aller Seelenkräfte dienenden Schulwesen war der Schreibschule, einer allein der Berufsausbildung dienenden Schule, die Existenzgrundlage entzogen. Sie wurde eingestellt. Hinzukommt, daß in zunehmendem Maße die Fähigkeit zu schreiben während des 18. Jahrhunderts nicht mehr nur eine Angelegenheit bestimmter Berufsgruppen oder gar eines einzigen Berufsstandes war, sondern
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als ein Erfordernis aller Menschen und somit als ein notwendiger Bestandteil der Allgemeinbildung angesehen wurde. „Die Wichtigkeit der Schreibkunst", bemerkte 1813 ein bekannter Pädagoge, „ist daher jetzt fast an allen Orten so allgemein anerkannt, daß man sich selbst in den unteren Ständen der Unbekanntschaft mit derselben schämt" (C. Ch. Zerenner 1813/1820: 173). Deutlicher noch hat es einige Jahre später Friedrich Schleiermacher gesagt: „Der allgemeine Verkehr ruht größtentheils auf der Schrift und ist durch diese bedingt; es muß demnach die Fähigkeit, mittelst der Schrift an dem allgemeinen Verkehr Theil zu nehmen, die conditio sine qua non für die Ausbildung des praktischen Verstandes sein. Es ist kein Recht da, irgendeinem Individuum diese Fähigkeit vorzuenthalten" (F. Schleiermacher 1826: 386). Es war darum nur konsequent, daß sich alle Schularten der Aufgabe annahmen, den Schülern und Schülerinnen Schreiben zu lehren. Das Schreiben von Aufsätzen ist von nun an ein notwendiger Bestandteil der Elementarbildung, auch wenn später noch vereinzelt Versuche unternommen wurden, das Rad der Geschichte zurückzudrehen (s. unten). Wir können also feststellen, daß Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Vorstellung einer Allgemeinbildung des ganzen Volkes die Voraussetzungen für ein allgemeinbildendes Schulwesen und mit der Vorstellung, daß zur Allgemeinbildung unabdingbar die Beherrschung der Schrift gehöre, die Voraussetzungen für die Einführung des Aufsatzunterrichtes in der Volksschule gegeben waren.
2. Die Didaktik des „sich anlehnenden Aufsatzes" (die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) Was Volksschüler im angehenden 19. Jahrhundert tatsächlich in ihre Aufsatzhefte schrieben, wie sie mit der Feder zurecht kamen, wie sich ihre ersten Niederschriften im Verlauf der Jahre zu regelrechten Aufsätzen entwickelten, welches Niveau sie schließlich erreichten, all das bleibt uns unbekannt. Denn authentische Schülerarbeiten aus der Volksschule haben sich, soweit ich weiß, nicht erhalten, wenn man von den wenigen Beispielen einmal absieht, die in der aufsatzdidaktischen Literatur abgedruckt sind und von denen man nie sicher sein kann, ob und inwieweit sie überarbeitet wurden. Auch über den Aufsatzunterricht selbst, wie er in den Volksschulen damals durchgeführt wurde, gibt es meines Wissens keine Berichte. So sind wir bei dem Versuch, den Aufsatzunterricht der Volksschulen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren, ausschließlich auf die didaktischen und methodischen Schriften der Zeit angewiesen. Der Aufsatzunterricht war an den Gymnasien längst etabliert, als man damit begann, ihn auf den Volksschulen einzuführen, und so konnte es nicht
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ausbleiben, daß viele Ideen, die für den Aufsatzunterricht in den Gymnasien entwickelt worden waren, von der Volksschule übernommen wurden. Mit einem gewissen Recht läßt sich sagen, daß zunächst einmal der Aufsatzunterricht an den Volksschulen nichts anderes war als eine Übertragung gymnasialer Vorstellungen auf die Bedingungen der Volksschule. Es waren dieselben Stilvorstellungen, dieselben Aufsatzformen: Erzählungen, Beschreibungen, zuweilen auch leichtere Abhandlungen, natürlich auch Briefe und Geschäftsaufsätze. Schließlich waren es auch dieselben Ratschläge, die die Methodiker dem Lehrer an die Hand gaben. Dennoch läßt sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Entwicklung erkennen, die es erlaubt, von einer eigenständigen Didaktik des Volksschulaufsatzes zu sprechen. Nachdem das Schulwesen insgesamt hierarchisch geordnet worden war, ging es in der Volksschule in erster Linie um den Anfangsunterricht im Aufsatzschreiben, im Gymnasium um das, was überhaupt mit ihm zu erreichen war; hier mehr um das Ziel, dort um die Voraussetzungen. Von Anfang an aber stand in der Aufsatzdidaktik der Volksschule eine methodische Frage zur Diskussion: Worauf ist der Aufsatzunterricht im Aufsatzschreiben zu gründen? Die Frage ist verständlich. Denn das Schreiben von Aufsätzen setzt voraus, daß der Schüler bereits eine gewisse Beherrschung über seine Muttersprache erlangt hat; daß er über ein Minimum an Erfahrungswissen verfügt, sei es selbst erworben, durch Hörensagen oder gar aus der Lektüre; daß er in der Lage war, eigene Gedanken zu entwickeln; und schließlich, daß er eine gewisse Sicherheit im Schreibvollzug und in der Orthographie, vielleicht auch schon in der deutschen Grammatik erworben hatte. Wenn dies alles vorausgesetzt werden mußte und das meiste davon Gegenstand des Unterrichtes war, dann stellte sich die Frage, an welche Art von Unterricht sich der Unterricht im Aufsatzschreiben anschließen konnte. Die Antworten, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf diese Frage gegeben worden sind, waren nicht einheitlich, in ihrer chronologischen Abfolge aber auch nicht ohne innere Logik. Zunächst wurden nur Schreibfertigkeiten vorausgesetzt, dann orthographische und grammatische Kenntnisse, schließlich der gesamte Sprachunterricht. Damit nicht genug. Der Schüler mußte auch über Kenntnisse verfügen, um einen Aufsatz schreiben zu können, Kenntnisse, die er sich bei der Lektüre oder im gesamten übrigen Unterricht aneignen konnte. Und vor allem: Was nützten Kenntnisse, wenn der Schüler nicht gelernt hatte, sie gedanklich zu verarbeiten? Diese Fragen beschäftigten die Didaktiker und Methodiker des Volksschulaufsatzes in der ersten Hälfte des Jahrhunderts (vgl. A. Vogel 1874: 140 ff.). Ihre Konzeptionen unterscheiden sich dadurch, daß jeweils eine andere Fertigkeit, Fähigkeit oder Kenntnis als grundlegend für die Schreibtätigkeit des Schülers angesehen wurde (zur Kritik vgl. M. Schießl 1889/1906: 22 ff., 28 u. ö.).
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Man hat in diesem Zusammenhang von dem „sich anlehnenden Aufsatz" gesprochen (vgl. etwa M. Schießl 1889/1906: 27). Eine solche Bezeichnung kann selbstverständlich sprachlich nicht befriedigen, sie trifft aber die Sache genau. Darum habe ich sie übernommen. Im folgenden werden die aufsatzdidaktischen Konzeptionen in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie sich gegenseitig voraussetzen und aufeinander Bezug nehmen. Die Reihenfolge entspricht zwar nicht exakt, wohl aber in etwa der Chronologie ihres Entstehens. Anschluß an die Schreibübungen Über viele Jahrhunderte hatte der Schreibunterricht an Elementarschulen sein Ziel erreicht, wenn ein Schüler nachschreiben konnte, was der Lehrer vorgeschrieben hatte — kleinere Texte oder gar nur einzelne Sätze. Übungstexte solcher Art gab es auch in gedruckter Form. Man nannte sie „Vorschriften", was durchaus wörtlich zu verstehen ist, da sie das sonst vom Lehrer an der Tafel oder im Heft des Schülers Vorgeschriebene ersetzten. Sie waren im 18. Jahrhundert oft das einzige Lehrmittel, dessen der Schreibunterricht bedurfte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Bedenken gegen die Vorschriften laut. Man monierte nicht die Vorschriften als solche, sondern die Tatsache, daß sie in der Regel in keinem Zusammenhang mit dem übrigen Unterricht standen. So stellte 1787 Friedrich August Junker in seinem „Handbuch der gemeinnützigsten Kenntnisse für Volksschulen" fest: „Allein, ohne den innern Werth der Vorschriften zu beurtheilen, welche man in Schulen findet: so sind sie theils zu sehr Bruchstücke, welche weder unter sich, noch mit dem eigentlichen Unterrichte in einiger Verbindung stehen, theils drehen sie sich in so engen Kreisen, daß Kinder, welche die Schule nur einige Jahre ordentlich besuchen, eine Vorschrift unzählig oft abschreiben" (F. A. Junker 1787: 9). Junker schlug vor, „die Schreibeübungen der Jugend" auch „als Mittel zu ihrem Unterrichte" zu nutzen, etwa „als Mittel zur bequemen Wiederholung des Gelernten" oder — bei älteren Schülern — zur Vorbereitung auf den zu erwartenden Unterricht (ebd.: 10 und 13). Junker hatte nur den Inhalt der Vorschriften im Sinn. Nun läßt sich aber auch die Form der Texte, die in den Vorschriften erschienen, mit dem übrigen Unterricht in eine Verbindung bringen. In der Tat ist diese Möglichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts und auch noch im 19. Jahrhundert wahrgenommen worden (vgl. J . N . Seifert Bd. IV 1835: 83 f.). In der „Erneuerten Schulordnung für die deutschen Stadt- und Dorfschulen der Chur-Sächsischen Lande" aus dem Jahre 1773 (vgl. R. Vormbaum Bd. III 1864: 669 ff.) heißt es etwa,
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nachdem einige Ausführungen zum elementaren Schreibunterricht gemacht und auch die „vom Lehrer mit Fleiß gefertigten Vorschriften" erwähnt worden sind: „Die gleichen Vorschriften können, aus biblischen Sprüchen, kurzen Briefen, Obligationen, Tabellen, Rechnungen und dergleichen zu wirthschaftlichen Fällen und Regeln brauchbaren Stücken mehr, bestehen, und wechselweise, unter die Kinder, welche schreiben lernen, und solche dem Lehrer deutlich vorlesen müssen, vertheilet werden, damit sie zugleich die vorgeschriebenen Sprüche auswendig, desgleichen ähnliche Briefe, Quittungen, Tabellen und dergleichen nachahmen lernen" (R. Vormbaum Bd. III 1864: 680). Der Grundgedanke ist einleuchtend. Wenn man den Kindern nicht beliebige Texte vorlegen würde, sondern „zu wirthschaftlichen Fällen und Regeln brauchbare Stücke", dann ließe sich nicht nur die Form der Buchstaben, Wörter und Sätze, sondern auch die ganzer Texte nachahmen. Dem Lehrer wurde außerdem empfohlen, den Schülern, „auch die äußerliche und innerliche Form wohleingerichteter Briefe, einiger Titulaturen und Quittungen u. s. w. zu zeigen" (ebd.). Das heißt, er sollte die Schüler auf charakteristische Merkmale der jeweiligen Form aufmerksam machen. Den besseren Schülern sollte es gestattet sein, schließlich ganze Aufsätze selbständig anzufertigen: „Endlich kann (...) auch den Geübtesten eine schickliche Materie zu Briefen, Quittungen und dergleichen vorgegeben, und, in ihrem Aufsatze, das Fehlerhafte gezeiget werden" (ebd.). Hier werden die Umrisse eines Schreibunterrichtes erkennbar, der sich dadurch auszeichnet, daß Schreib- und Aufsatzunterricht noch nicht voneinander getrennt sind, vielmehr der Aufsatzunterricht unmittelbar an den Schreibunterricht anschließt (weitere Beispiele in G. A. Lindner 1884: 73; F. R. Fischer 1922: 11). Ein solcher Vorschlag setzt voraus, daß die Verfertigung eines Aufsatzes lediglich in der Ausfüllung vorgegebener Formulare besteht. Diese Voraussetzung konnte noch im 18. Jahrhundert gemacht werden. Für das 19. Jahrhundert aber war sie nicht mehr akzeptabel. Der Schüler sollte sich nicht mehr Schreibmuster aneignen, sondern das Vermögen ausbilden, selber Texte abzufassen: „Alles, was der Schüler sich bloß mechanisch aneignet und nicht auch geistig in sich aufnimmt, was ihm nicht zur subjectiven Anschauung kommt, das verfliegt in gar kurzer Zeit wieder. Daher muss er selbst gehen, seine eigene Kraft gebrauchen lernen, und sich nicht zu sehr auf fremde Hülfe verlassen dürfen" ( J . N . Seifert Bd. IV 1835: 84).
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So kommt es, daß der Vorschlag, den Aufsatzunterricht unmittelbar an den Schreibunterricht anzuschließen, bald auf Ablehnung stieß und in der weiteren Diskussion keine Rolle mehr spielte. Anschluß an den Grammatikunterricht Eine der Konzeptionen, die den neuen Vorstellungen vom Aufsatzschreiben Rechnung trugen, stellte eine Beziehung zwischen dem Stilunterricht, wie der Aufsatzunterricht jetzt bezeichnenderweise genannt wird, und dem Grammatikunterricht her. Frühe Formulierungen solcher Vorstellungen finden sich bereits in dem „Methodenbuch für Volksschullehrer" von Karl Christoph Gottlieb Zerrenner (1813/1820: 172ff.). Die praktischen Aspekte hat J . N . Seifert in einer Artikelserie erörtert, die zwischen 1832 und 1835 in dem „Magazin für Elementarlehrer" erschien (vgl. vor allem 1835: 83 ff.). Die theoretische Begründung jedoch hat der bekannte Sprachwissenschaftler Karl Ferdinand Becker gegeben (1833 und 1848; vgl. auch C. G. Scholz 1835, 1836). Karl Ferdinand Becker (1775 — 1849) geht von einem modernen Begriff des Stils aus. Reden und Schreiben werden als Ausdruck von Gedanken begriffen: „Der Mensch spricht, ehe noch ein äußeres Bedürfniß ihn zum Sprechen treibt; und der Gedanke wird selbst erst ein vollendeter Gedanke, und tritt lebendiger ins Bewußtsein, indem er gesprochen wird" (K. F. Becker 1848: ΌDer Gedanke drängt, zur Sprache zu kommen. Er vollendet sich in der Sprache. Insofern ist die Sprache wesentlich Ausdruck von Gedanken. Die Sprache ihrerseits drängt, den Gedanken vollkommen zu seinem Ausdruck gelangen zu lassen. Wo ihr dies gelingt, spricht Becker von „Stil". Stil ist also ein „vollkommener" oder — was dasselbe ist — „ein adäquater Ausdruck der darzustellenden Gedanken" (ebd.: 65). Daraus ergibt sich, daß die Stilistik nur „eine Ergänzung der Grammatik" (ebd.: 57) sein kann und in der Grammatik ihre „Grundlage" (ebd.: 53) findet. „Wenn die Grammatik ihrer eigentlichen Aufgabe in ihrem ganzen Umfange Genüge leistet, so ist in ihr die allgemeine Stilistik gewissermaßen schon enthalten; und es ist schwer, zwischen der allgemeinen Stilistik und der Grammatik eine bestimmte Grenze zu ziehen, und zu sagen, was ausschließlich dem Gebiete der Einen, und was ausschließlich dem Gebiete der andern angehöre" (ebd: 56). Aus einer solchen Bestimmung der Stilistik ergibt sich zwangsläufig für den Stilunterricht: der Stilunterricht sollte „nicht von dem Unterrichte in der
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Grammatik getrennt werden, sondern mit ihm Hand in Hand gehen" (ebd.:
ix)· Wie Stil- und Aufsatzübungen im Anschluß an die Grammatik betrieben wurden, hat J . N . Seifert dargestellt. Der Lehrer stellt Fragen, auf die die Schüler in ganzen Sätzen antworten sollen. Geht es thematisch um Bäume, dann wird das folgende Verfahren vorgeschlagen: „L. Der Baum wächst von innen heraus, ist mittels der Wurzel an die Erde befestigt und nimmt aus derselben seine hauptsächlichste Nahrung; deshalb ist er auch was? (Sch. Ein Gewächs.) L. Antwortet immer in ganzen Sätzen. (Sch. Der Baum ist etc). L. Nennt mir die Theile des Baums. — Wozu dient dem Baume die Wurzel? Welcher Theil des Baums schließt sich an die Wurzel an? Der Stamm ist umgeben womit?" ( J . N . Seifert, 1835: IV, 86). Aus einem solchen Gespräch entsteht ein Aufsatz dadurch, daß der Schüler seine Antworten — Satz für Satz — niederschreibt: „Von den Bäumen. Der Baum ist ein Gewächs. Er hat starke Wurzeln, einen Stamm, Äste, Zweige, Knospen, Blüthen, Blätter und Früchte. Die Wurzeln dienen dem Baume dazu, dass er durch sie seine Nahrung aus der Erde an sich zieht. An die Wurzel schließt sich der Stamm an. Der Stamm ist mit einer Rinde umgeben, die ihn schützt vor Frost und Hitze" (ebd.: 88 f.). Und so geht das noch eine Weile weiter. Wenn wir Seifert Glauben schenken können, handelt es sich bei der zitierten Passage um ein Stück aus einem authentischen Schüleraufsatz, einem Schüler übrigens „der obern Classe". „Ein schriftlicher Aufsatz" war also für Seifert „nichts Anders, als mehrere regelmäßig geordnete Sätze, die ein für sich bestehendes Ganzes ausmachen" (ebd.: 83). Die Ordnung der Sätze in einem Aufsatz ist aber weder Gegenstand der Grammatik noch auch der Stilistik, wenn diese die Lehre von dem vollkommenen sprachlichen Ausdruck von Gedanken ist und nichts weiter. Ein Stil- und Aufsatzunterricht, der sich an den Grammatikunterricht anschließt und sich ausschließlich an ihm orientiert, mußte also sein Ziel verfehlen. Bestenfalls mag er dem Schüler helfen, einzelne Sätze zu formulieren, nicht aber ganze Texte abzufassen. Was dabei herauskommen konnte, war „weiter nichts als eine rein mechanische Aneinanderreihung von Sätzen" (M. Schießle 1889/1906: 19). Anschluß an die Denkübungen Wer Stil als „den adäquaten und vollkommenen Ausdruck von Gedanken" bestimmt, muß zwei Fähigkeiten auf Seiten des Schreibers voraussetzen: die Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks, aber auch die Fähigkeit, überhaupt Gedanken fassen zu können. Becker hatte sein Augenmerk ausschließlich auf die Ausbildung des sprachlichen Ausdrucks gerichtet. Die Bildung von Gedanken hielt er für gegeben und konnte sie deshalb vernachlässigen.
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An diesem Punkt setzten andere Überlegungen zur Aufsatzdidaktik der Volksschule ein. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatten Eberhard von Rochow und andere aufgeklärte Pädagogen gesonderte Anschauungs- und vor allem Denkübungen für den Elementarunterricht gefordert. Ihre Anregungen fielen auf fruchtbaren Boden. Gleich nach der Jahrhundertwende kamen mehrere Bücher auf den Markt, in denen Vorschläge für solche Übungen gemacht wurden (einen Überblick über die Literatur geben L. Nissen u.a. 1812: I, Iff.). 1807 setzten „einige Schullehrer und Schulfreunde" einen Preis aus (die Preisaufgabe ist bei L. Nissen u.a. 1812: I, III ff. abgedruckt). Sie stellten fest, daß „diese als besondere Lection eingeführten Denkübungen auf die Verbesserung des Elementarschulwesens im Ganzen einen heilsamen Einfluß gehabt" (ebd.: I, IV) haben, beklagten jedoch, „daß in diesen eingeführten Denkübungen noch gar zu häufig blinde Willkühr, und darum Planlosigkeit und Oberflächlichkeit vorherrsche". Darum forderten sie „für die zum Behuf der formalen Geistesbildung angestellten Denkübungen" „ein planmäßig angelegtes und methodisch ausgearbeitetes praktisches Handbuch". Eine Bedingung, um den Preis zu erlangen, war diese: „Da sich ( . . . ) an diese Denkübungen ganz natürlich auch Uebungen im schriftlichen Ausdruck anschliessen lassen ( . . . ) , so ist auch in Betreff dieser Schreibeübungen ( . . . ) darauf Rücksicht zu nehmen, wie und auf welche Weise diese Uebungen an jene Denk- und Sprechübungen am zweckmäßigsten angeschlossen werden können, und wie, wenn auch ausserdem noch eigene Uebungen im schriftlichen Ausdruck erforderlich seyn sollten, auch diese am füglichsten mit jenen Uebungen in ein richtiges Verhältnis zu setzen seyen". Damit war eine Verbindung zwischen den Denkübungen und dem Aufsatzunterricht hergestellt; die schriftlichen Übungen standen zunächst jedoch noch im Dienste der Denkübungen. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kehrte sich das Verhältnis um: im Vordergrund stand der Aufsatzunterricht und, insofern dieser Denkübungen erforderlich machte, sollten entsprechende Übungen eingerichtet werden. Ihren klarsten Ausdruck hat eine solche Konzeption in den Schriften von Raimund Jakob Wurst gefunden (vgl. vor allem R. J. Wurst 1840/1851, aber auch C. Ch. G. Zerrenner 1813/1820 und Ch. G. Scholz 1831, 1835, 1836). Wurst glaubte, die Schwierigkeiten bei der Verfertigung von Aufsätzen hauptsächlich in der Gedankenproduktion lokalisieren zu können: „Ein schriftlicher Aufsatz ( . . . ) soll nämlich Gedanken enthalten, und zwar eigene Gedanken dessen, der den Aufsatz verfaßt. Wer aber Gedanken aufsetzen oder vortragen will, muß vorerst im Besitze derselben sein. Allein darin fehlt es den Schülern hauptsächlich, wenn sie einen Aufsatz machen
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sollen: sie wissen nichts zu schreiben, weil sie keinen Vorrath von Gedanken haben, oder weil ihnen, wie sie sich auszudrücken pflegen, nichts einfällt" (R. J. Wurst 1840/1851: 1 f.). Was vom Aufsatzunterricht dann zu fordern war, war klar: „Sollen sie (die Schüler) in den Stand gesetzt werden, eigene Gedanken über irgend einen Gegenstand niederzuschreiben, so ist vor Allem nöthig, sie zum selbstthätigen Auffinden von Gedanken anzuleiten, indem man theils die Vorstellungen, Erfahrungen, Kenntnisse etc., welche sich in ihrem innern Seelensein ihnen selbst unbewußt aufgesammelt vorfinden, erweckt und zu klarem Bewußtsein bringt, theils durch moralische und realistische Mittheilungen ihren Gedankenvorrath befruchtet und bereichert" (ebd.: 2). Für den Aufsatzdidaktiker ergeben sich aus solchen Prämissen folgende Konsequenzen: (1) Für die „selbstthätige Auffindung von Gedanken" ist der Grammatikunterricht oder — wie Wurst ihn nennt — die Sprachlehre denkbar ungeeignet: „Aus dem Gesagten dürfte hervorgehen, daß man der Sprachlehre in den Elementarschulen mehr zumuthet, als die ihrer Natur nach leisten kann, wenn man von ihr verlangt, daß sie allein den Schüler befähigen soll, sogenannte schriftliche Aufsätze über verschiedene Gegenstände, Geschäftsaufsätze, Briefe u. dgl. zu verfassen. Sie trägt allerdings wesentlich dazu bei, daß der Schüler in den Stand gesetzt wird, seine Gedanken (wenn er welche hat), richtig, klar und unzweideutig auszudrücken; aber zu den Gedanken selbst, die in einem Aufsatze doch die Hauptsache sind, kann sie dem Schüler nicht verhelfen; die müssen ihm von andern Seiten her und durch andere Uebungen zugeführt werden" (ebd.: 5). Wenn „Stylübungen den Sprachunterricht nicht nothwendig als ihre Grundlage voraussetzen" (ebd.: 11), dann war die Verbindung von Sprach- und Stilunterricht, wie sie von Becker gefordert und wohl auch vielfach praktiziert wurde, aufzugeben. (2) Zur Vorbereitung des Aufsatzunterrichtes sind Denkübungen einzurichten, und zwar „als ein eigener selbstständiger Lehrgegenstand" (ebd.: 11). Aufgabe der Denkübungen ist es nun, „das Denkvermögen anzuregen, zu bilden und zu stärken", damit „den Schüler in den Besitz von Gedanken zu setzen" und „eine gewisse Mannigfaltigkeit von Musterformen in dem Geiste des Schülers zu begründen" (ebd.: 17 f.). Was mit den „Musterformen in dem Geiste des Schülers" gemeint war, ist nicht ganz klar. Vermutlich ist an gedankliche Routinen oder Schemata zu denken. (3) Folglich ist der Aufsatzunterricht im Zusammenhang mit den Denkübungen oder unmittelbar im Anschluß an diese zu betreiben:
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„Wird der Schüler so weit gebracht, daß er jeden Gegenstand von verschiedenen Seiten zu betrachten und alles, was in näherer oder ferner Beziehung zu ihm steht, leicht mit ihm in Verbindung zu bringen weiß, und vermag er über die Dinge und Verhältnisse seines Erfahrungskreises nicht nur richtige Urtheile zu fällen, sondern auch seine Beobachtungen, Erfahrungen, Gedanken klar und geordnet darzustellen; so haben die Denk- und Stylübungen ihren Zweck erreicht" (ebd.: 18). Man wird gegen solche Überlegungen grundsätzlich kaum etwas einwenden können. Problematisch werden sie erst, wenn behauptet wird, daß „die Denkübungen zugleich auch Stylübungen" seien (ebd.: 26) und ein Unterschied zwischen beiden nicht mehr ausgemacht werden könne. In einem solchen Fall stehen die Stilübungen in der Gefahr, reine Denkübungen zu werden. Daß Wurst dieser Gefahr nicht entgangen ist, zeigen seine praktischen Vorschläge. Ihr Formalismus ist mehrfach beklagt worden (vgl. etwa L. Kellner 1846: III). Anschluß an Übungen im mündlichen Gebrauch der Sprache Mit den aufsatzdidaktischen Überlegungen von Karl Bormann (1836 und 1839) kommt die Diskussion über die sprachlichen Voraussetzungen für die Verfertigung von Aufsätzen zu einem vorläufigen Abschluß. Berücksichtigte Becker ausschließlich den sprachlichen Ausdruck, Wurst dagegen den auszudrückenden Gedanken, obwohl beide Stil für einen adäquaten, sprachlichen Ausdruck von Gedanken hielten, so brachte Karl Bormann die beiden sich im Grunde ergänzenden Ansätze wieder zusammen: zum Schreiben bedarf es sowohl der Gedanken als auch des sprachlichen Ausdrucks. Er bestritt nicht den Wert und die Notwendigkeit von Denkübungen für den Aufsatzunterricht: „Man möchte vielleicht einwenden: eine solche Gewandtheit der Rede wie die hier geforderte setze allermeist Klarheit und Gewandtheit des Denkens voraus, und sei ohne diese von zweideutigem Werthe, und darum müsse auch auf sie vorzugsweise die entwickelnde Kraft der Schule und des Lehrens sich hinrichten. Allerdings ist dem so, vollkommen so; wir fordern auch von einem Unterrichtsgegenstande nicht allein, wir fordern sogar von allen, daß sie jene Klarheit und Gewandtheit des Denkens wecken und fördern sollen" (K. Bormann 1836: 3). Aber Gedanken allein machen noch keinen Aufsatz: „es darf auch nicht übersehen werden, daß da, wo sie wirklich geweckt und gefördert ist, sich noch keineswegs mit Nothwendigkeit nun auch die Fertigkeit findet, das klar Gedachte auch klar darzustellen. Hierzu bedarf es einer besonderen Übung" (ebd.: 3).
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Können dies, wie Becker meinte, grammatische Übungen leisten? Bormann lehnte eine solche Auffassung rundweg ab. Sie verkenne, „daß es bei diesen abgesehen ist auf die Gewinnung eines Wissens um die Sprache, daß es bei den Stilübungen dagegen ankomme auf ein Können in der Sprache, und daß dies beides wohl von einander geschieden werden müsse" (ebd.: VI). Zum „Können in der Sprache" bedürfe es vor allem Übungen im mündlichen Gebrauch: „nicht etwa jene Redeübungen, wie sie in höhern oder in gelehrten Schulen wohl angestellt zu werden pflegen; wir meinen vielmehr damit Uebungen in dem mündlichen Gebrauch der Sprache im weitesten Sinne des Wortes" (ebd.: 3). So forderte Bormann, (1) daß der Begriff der Stilübung erweitert werde, (2) daß den mündlichen Übungen der gleiche Rang wie den schriftlichen zuerkannt werde und (3) daß die schriftlichen wie die mündlichen Übungen nebeneinander und — w o möglich — miteinander vorgenommen werden. Bormann spricht zwar von einem Neben- oder Ineinander beider Übungen, es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß damit eine zeitliche Reihenfolge gemeint war: die Priorität kommt den mündlichen Übungen zu. Das ergibt sich schon aus systematischen Gründen: „Und endlich, ist denn nicht jede schriftliche Darstellung, ehe sie eine solche wird, gleichsam eine mündliche gewesen? Muß das geschriebene Wort nicht erst ein innerlich gesprochenes sein, ehe es in der Schrift sichtbar gemacht werden kann? Und giebt es daher nicht eine einfachere, natürlichere Basis für die Fertigkeit der schriftlichen Rede als die mündliche?" (ebd.: 2). Der Vorschlag, die Übungen im schriftlichen Ausdruck von Gedanken unmittelbar im Anschluß an die mündlichen Übungen vorzunehmen, war so einleuchtend, daß es nicht verwundern kann, wenn auf ihn ständig zurückgegriffen wurde, auch wenn ein solches Vorgehen nicht ausdrücklich begründet oder gar mit dem Namen von Karl Bormann in Verbindung gebracht werden mußte. Anschluß an die Lektüre des Lesebuches Wurst hatte auf die Bedeutung der Denkübungen für den Aufsatzunterricht hingewiesen; Bormann folgte ihm. Nun setzen Denkprozesse und Denkoperationen aber immer schon ein Wissen — zumindest ein Minimum an Wissen —
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voraus, an dem sie ansetzen können. Das war Wurst selbstverständlich bekannt. Er erwähnte die Erfahrungen, die die Schüler bereits im Elternhaus gemacht haben, und vor allem die Belehrungen, die ihnen in der Schule zuteil werden. Dennoch hat er dieses Wissen oder — wie man sich damals ausdrückte — den Stoff, der im Denken verarbeitet werden soll, nie zum Gegenstand seiner Theorie gemacht, weder seiner Sprach- noch seiner Aufsatztheorie. An dieser Stelle setzten neue Überlegungen zum Aufsatzunterricht ein. Ähnlich wie Wurst glaubte man, in der Gedankenarmut die Hauptschwierigkeit der Schüler beim Aufsatzschreiben erblicken zu können. Diese wurden aber nicht als gedankliche Verarbeitung des Wissens, sondern als Mangel an Wissen schlechthin bestimmt. Man verkannte zwar nicht, daß bereits der Schüler auf der Volksschule Erfahrungen und Kenntnisse aus dem Elternhaus mitbringt, meinte aber, daß ein solches Wissen zu heterogen sei, um in jedem Falle dem Aufsatzunterricht zugrundegelegt werden zu können. Dagegen sei das Wissen, das im Unterricht an der Schule erworben würde, genau beschreibbar, bei allen Schülern vorauszusetzen und also für den Aufsatzunterricht bestens geeignet. Am besten sei allerdings die gemeinsame Lektüre des Lesebuches, da in diesem Falle beide Teile des Unterrichtes, der Aufsatz wie seine stoffliche Grundlage, in der Hand eines Lehrers lägen. Das sind in etwa die Überlegungen, die zu dem Vorschlag führten, den Aufsatzunterricht an die Lektüre des Lesebuches anzuschließen. Der Gedanke selbst war nicht neu. Der Franzose Jean Jacotot (1770 — 1840) hatte 1818 eine Methode entwickelt, die später unter der Bezeichnung „Jacototsche Methode" bekannt geworden ist. Die Methode selbst ist denkbar einfach: „Gieb Deinem Zögling ein Buch in die Hand, das du oft gelesen hast; überzeuge dich, ob der Zögling Alles versteht, was er gelernt hat; versichre dich, daß er es nicht mehr vergessen kann; lehre ihn endlich auf sein Buch Alles beziehen, was er weiter lernen will und — du übst die Methode des Universal-Unterrichts" (W. Braubach 1830: XII). Jacotot hatte seinen Zöglingen den „Telemaque" von Fenelon gegeben und anhand dieses einen Buches alles gelehrt, was damals gelehrt werden konnte: Lesen und Schreiben, Grammatik und Geschichte, selbst Geographie und Rechnen, natürlich auch das Aufsatzschreiben. An den schriftlichen Ausarbeitungen war ihm besonders gelegen: „Der Zögling, welcher sich begnügt, einige Phrasen über irgend einen Gegenstand zu schreiben, gilt bei den Leuten für schwachsinnig; uns ist er ein Träger oder Unwissender: dieses, wenn er die Thatsachen nicht weiß,
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oder, was dasselbe ist, sie vergessen hat; jenes, wenn er die Thatsachen weiß und sie nicht überlegen und nicht zusammensetzen mag. (...) Damit der Zögling diese Herrschaft über sich selbst erlange, darum empfehlen wir, ihm bestimmten Stoff zu geben und ihm selbst die Seite des Buches, wo er seine Betrachtungen finden kann, anzuzeigen. Er wird Anfangs wenig sagen, aber es wird seine Trägheit reizen, und ihm jede Entschuldigung nehmen. Derjenige welcher sehr wenig ausgearbeitet hat, hört lesen, was die Andern gesehen haben, und merkt, daß er es auch sehen konnte. Ein anderer Vortheil: Derjenige welcher am meisten ausgearbeitet, hat doch das nicht gesagt, was Andre gedacht haben; woraus folgt, daß der Stoff unermeßlich ist, denn es würden hundert tausend Kinder unter sich zusammen einen Folioband über einige Zeilen ausarbeiten. Eine schöne Lection für den Hochmüthigen, der seine eigne Intelligenz zu bewundern versucht wäre!" (ebd.: 44). So werden auf der Grundlage des „Telemaque" Inhaltsangaben, Vergleiche, Nachahmungen, kleinere Abhandlungen und schließlich ganze Reden verfaßt. Die Ideen Jacotots sind in Deutschland erst spät bekannt geworden. Von 1830 stammt die erste Übersetzung ins Deutsche (W. Braubach 1830). Der erste, der seine Vorstellungen in den Aufsatzunterricht einführte und dort etabliert hat, war der Heiligenstädter Seminarlehrer Lorenz Kellner. Über seine Begegnung mit den Jacototschen Ideen schrieb Kellner später: „Es war in den ersten Jahren des vorigen Decenniums, als Jacotot's eigenthümliches Unterrichtsverfahren die Aufmerksamkeit des pädagogischen Deutschlands mit Recht auf sich zog. (...) Mich interessierte es besonders, daß er an ein bestimmtes Buch, als an einen Mittelpunkt, den ganzen Unterricht anknüpfte (...). Ingleichen interessierte mich der Umstand, daß Jacotot seinen Lese- und Aufsatzunterricht, sowie die Redeübungen ganz auf das Lesebuch, nämlich den Telemach, basirte. Da ich damals den Sprachunterricht in der Oberklasse einer Volksschule zu ertheilen hatte und häufig über den Gegenstand nachdachte, der die bisher darauf angewandte Mühe mir selbst noch nicht genügend lohnte, so lag es nahe, daß ich auf den Gedanken kam, den Sprachunterricht, wenn nicht in gleicher, doch in ähnlicher Weise auf eine Reihe ausgewählter Lesestücke zu stützen und diese so zu verwenden, daß sie dem Schüler das Material lieferten, aus welchem der sich die grammatischen Regeln selbst deducire. Zugleich lag es nahe, daß auch auf vollkommenes logisches Verständniß jener Grundlagen hingewirkt werden mußte und sich deshalb eine Menge Übungen der Denk- und Sprachkraft anknüpften" (L. Kellner 1846: 102 f.). Kellner vermied die Überzogenheiten Jacotots, indem er nicht das Buch eines einzigen Verfassers zur Grundlage des Unterrichts nahm, sondern ein Lesebuch.
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Grundlage seiner sprachdidaktischen Überlegungen war die Feststellung, daß wir unsere Muttersprache „durch Umgang und Unterhaltung mit Andern und durch Lektüre" lernen (ebd.: III). Er fährt fort: „Dasselbe gilt auch für die Jugend; nur mit dem Unterschiede, daß die Lektüre in diesem Kreise eine sehr untergeordnete Rolle spielt, dagegen der Umgang fast Alles thut" (ebd.). Das hat der Lehrer zu berücksichtigen: „weshalb sich der Lehrer an das elterliche Haus und dessen Leben ( . . . ) anschließen muß" (ebd.: IV). So begann der Sprachunterricht in der Schule mit Denk-, Sprech- und Schreibübungen. Zu den Schreibübungen zählten bereits die ersten Stilübungen, die aber, da sie noch keine Grundlage in der Lektüre von Büchern haben konnten, nicht mehr waren „als ein gesteigerter Cursus der Denk- und Sprechübungen": „das Erkannte und Gesprochene, was größeren Umfang und abgerundete Selbständigkeit hat", sei „gleich den früheren, einfacheren Sätzen niederzuschreiben" (ebd.: 37). Auf dieser Stufe des Unterrichts spielten die Ideen von Jacotot noch keine Rolle. Kellner bewegt sich noch ganz auf den Bahnen der aufgeklärten Pädagogen, aber auch eines Wurst und eines Bormann. Erst auf der nächsten Stufe konnte der Einfluß Jacotots wirksam werden. Sobald der Schüler lesen konnte, also etwa vom 3. Schuljahr an, war das Lesebuch Grundlage und Mittelpunkt des gesamten Sprachunterrichts, „also auch der Uebungen im mündlichen und schriftlichen Gedankenausdrucke" (ebd.: 33). Kellner sammelte Hunderte von Lesestücken, stellte sie zu Lehrgängen oder Lesebüchern zusammen und demonstrierte an zahllosen Beispielen, wie aus einem einzigen Lesestück fast der gesamte Sprachunterricht entwickelt werden konnte. So wurden ζ. B. auf die Behandlung der bekannten Fabel vom Raben und dem Fuchs (nach der Fassung von Friedrich von Hagedorn) ganze zehn Unterrichtsstunden aufgewendet: zur Festigung des Verständnisses, für Belehrungen über die Form und das Sprichwort im allgemeinen, für grammatische Betrachtungen und Übungen im mündlichen Ausdruck. Schriftlich hatte dann schließlich der Schüler die Wahrheit des Sprichwortes „Wurst wider Wurst!" nachzuweisen (ebd.: 261 ff.). Kellner hatte seine Vorstellungen zum ersten Mal 1835 formuliert (L. Kellner 1835). Kaum zehn Jahre später konnte Friedrich Otto im Vorwort seines viel beachteten und lange Zeit benutzten Buches „Das Lese-Buch als Grundlage und Mittelpunkt eines bildenden, aber nicht grammatisirenden Unterrichts in der Muttersprache" schreiben: „Es ist der Gedanke, daß in der Volksschule das Lesebuch Grund- und Mittelpunkt des gesammten Unterrichts in der Muttersprache sein müsse, und Denken und Sprechen, Reden und Schreiben, Lesen und Vortragen,
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Rechtschreibung und Satzzeichnung, Grammatik und Stilistik in der Verbindung zu lehren und zu üben seien, in welcher diese verschiedenen Seiten ein und desselben Gegenstandes sich gegenseitig vorbereiten und bedingen, fördern und vollenden, heutzutage ein ebenso allgemein bekannter als anerkannter" (F. Otto 1844: V). Die Ideen von Jacotot hatten sich auch in Deutschland durchgesetzt. Otto fahrt jedoch fort: „Gleichwohl mangelt es noch an einem Versuche, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den beregten (sie) Gedanken in seiner Totalität zu erfassen, und alle seine Momente in gleicher Berechtigung nebeneinander zu einem zusammenhängenden Ganzen sich ausbreiten zu lassen" (ebd.). Otto machte einen solchen Versuch. Für Otto — ähnlich übrigens wie für Lorenz Kellner und Robert Heinrich Hiecke vor ihm — war das Lesebuch zwar „Grundlage und Mittelpunkt" des gesamten Deutschunterrichtes, dennoch nicht sein wichtigster Inhalt. Das Ziel sei allgemein die Steigerung der Sprachbildung: „daß er (der Schüler O. L.) sich dessen klar bewußt ist, was er sagt, und warum er es so sagt; daß er sich nicht bloß mit dem Munde, sondern auch mit der Feder der Schriftsprache mit Folgerichtigkeit bedient, und daß er durch Lesen in die verschiedenen Kreise sich einzuführen vermag" (ebd.: XIX). Den Stil- und Aufsatzübungen kam in diesem Rahmen eine besondere Aufgabe zu: „Daß das deutsche Volk auch ein schreibendes werde, ist ein Schritt, den es durch Vermittlung seiner Schulen zu thun hat. ( . . . ) Denn nur der des Schreibens Kundige und Fertige vermag seine Gedanken wörtlich festzuhalten, und, indem er sie prüfend liest, von ihrer Folgerichtigkeit oder Folgewidrigkeit sich zu überzeugen, also auf die wirksamste Weise an der Steigerung und Vervollkommnung seiner Bildung selbst zu arbeiten" (ebd.: XXVIII). Doch nicht solchen didaktischen Fragen galt das Interesse Ottos, sondern Fragen der Methode. Er wollte dem Leser nicht zeigen, wozu der Unterricht in der Muttersprache nütze ist, sondern „wie ein Lesestück zur Grundlage und zum Mittelpunkt aller der Uebungen zu machen ist, in welchem ein bildender Unterricht in der Muttersprache sich zu bewegen hat" (F. Otto 1844: VII). Otto verfolgte also konsequent die Richtung, die vor ihm Lorenz Kellner eingeschlagen hatte.
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Der Versuch, den Aufsatzunterricht im Anschluß an die Lektüre des Lesebuches vorzunehmen, führte zur Entwicklung einer Reihe neuer Aufsatzformen. Zwar finden sich die bekannten Umformungsübungen wieder (Nachahmungen, Nachbildungen, Konzentrationen und Amplifikationen). Auch Erzählungen, Beschreibungen, Schilderungen und Abhandlungen ließen sich ohne weiteres auf Gegenstände anwenden, die aus dem Lesebuch gewonnen waren. Schwierigkeiten bereiteten allerdings Briefe und Geschäftsaufsätze, weshalb sie erst am Ende des Buches kurz erwähnt werden. Doch neu waren die Schreibübungen, die sowohl der Vertiefung der Lektüre als auch der Ausbildung des Stiles durch die Lektüre dienten: Begriffserläuterungen, Charakteristiken, Textvergleiche, Stilanalysen und vor allem Interpretationen, Deutungen von Texten, wie man sie damals nannte, aber auch die Herausarbeitung des Zweckes eines Stückes, seiner Anlage, „das Lesen in der Seele eines Andern", „das Lesen zwischen den Zeilen" (gemeint sind Überlegungen über Motive des Handelns, Gründe, Anlässe, Folgen usw.). Einige dieser Formen sind etwa gleichzeitig von Robert Heinrich Hiecke oder seinen Schülern für den gymnasialen Aufsatz entwickelt worden. Die Bedeutung der Ideen von Kellner und Otto für den Volksschulaufsatz kann kaum überschätzt werden. Wir haben hier eine ähnliche Entwicklung wie beim gymnasialen Aufsatz. Unabhängig voneinander — wie es scheint — haben Robert Heinrich Hiecke für das Gymnasium, Lorenz Kellner und Friedrich Otto für die Volksschule den Weg gewiesen: das Lesebuch oder die Lektüre als Grundlage und Mittelpunkt des Deutschunterrichtes und damit auch des Aufsatzunterrichtes zu machen. Wenn wir noch einmal auf die Entwicklung zurückblicken, die die Didaktik des Volksschulaufsatzes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts — vor allem in den dreißiger Jahren — genommen hat, vom Aufsatz im Anschluß an die ersten Schreibübungen bis zum Aufsatz im Anschluß an das Lesebuch, so imponiert die Konsequenz, in der sie erfolgt ist. Doch lassen sich drei Veränderungen im Grundsätzlichen nicht übersehen: (1) Das Interesse der Aufsatzdidaktiker verlagerte sich zunehmend von Fragen der Didaktik des Aufsatzes zu Fragen seiner Methode. Die Diskussion eines Aufsatzes auf der Grundlage der Lektüre wurde ausschließlich unter methodischen Gesichtspunkten geführt. Mit dieser Verlagerung folgte die Volksschuldidaktik einer Tendenz, die bereits für die Didaktik des gymnasialen Aufsatzes festgestellt werden konnte. Im übrigen entsprach sie einem generellen Bedürfnis der Zeit, wie die Geschichte der Pädagogik ausweist. (2) Die Entwicklung ging von Fragen nach der Form der Aufsätze über zu Fragen nach ihrem Stoff. Die Vorstellung, den Aufsatzunterricht unmittelbar auf die ersten Schreibübungen folgen zu lassen, konnte nur unter der Bedingung entwickelt werden, daß Schreiben nicht mehr ist als die Reproduktion einer vorgegebenen Form. Das war noch ganz in den Kategorien des
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frühen 18. Jahrhunderts gedacht. Dagegen war der Vorschlag, den Aufsatz auf die Lektüre zu gründen, eine Antwort auf die Fragen nach dem Stoff von Aufsätzen. (3) So sehr man sich auch um die Etablierung, Entwicklung und Verbesserung des Aufsatzunterrichtes in den Volksschulen mühte, so scheint es damals dennoch kaum gelungen zu sein, die Praxis entscheidend zu verbessern. Carl Friedrich Lauckhard führte dazu zwei Gründe an. Einmal sei „die Theorie der Sprache ( . . . ) offenbar auf Unkosten der Praxis seither in unsern Schulen getrieben worden — wie denn auch im Allgemeinen das Erziehen über dem Lehren fast vergessen wird" (C. F. Lauckhard 1843: 1), und zum andern sei das Ziel, auf das hin alle Aufsatzdidaktiker der Volksschule damals gearbeitet haben, nämlich für die Stilübungen einen Anschluß an den übrigen Unterricht zu finden, letztlich nicht erreicht worden: „Der Fehler lag, wie mir schien, darin, daß sie die Lehre vom Stil zu isolirt für sich behandelten, ihn zu wenig an die übrigen Unterrichtsgegenstände der Schule anschlossen, wodurch es nicht möglich wurde, die Zeit herauszubringen, sie ganz, oder doch größtentheils durchzuarbeiten" (ebd.: 1 f.).
3. Auf dem Wege zum „freien Aufsatz" (die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) Der Zeitraum, von dem in diesem Abschnitt die Rede sein soll, beginnt mit der gescheiterten Revolution von 1848 und endet mit dem Ersten Weltkrieg, also 1918 (insofern ist die für die Überschrift gewählte Formulierung „die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts" ungenau). Man kann diesen Zeitraum von immerhin 70 Jahren grob in die Zeit der Restauration (1848 bis 1870) und in die Zeit des Kaiserreiches (1870 bis 1918) unterteilen. Selbstverständlich lassen sich nicht alle Bewegungen, die sich während dieser Zeit in der Aufsatzdidaktik der Volksschule ereignet haben, unter die Stichworte „Restauration" und „Wilhelminismus" fassen. Denn schließlich war das letzte Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg die hohe Zeit der Reformpädagogen, und auch schon vorher haben sich reformerische Bestrebungen in der Aufsatzdidaktik bemerkbar gemacht. Um diesen Ungleichzeitigkeiten Rechnung zu tragen, habe ich die ausgesprochen reformpädagogischen Ansätze in der Aufsatzdidaktik einem eigenen Kapitel vorbehalten (Kap. VIII). Die Restauration Nur wenige Jahre nach der Revolution von 1848 hatte sich die Restauration in der Aufsatzdidaktik der Volksschule durchgesetzt. Ihr Wortführer war Rudolf von Raumer, der Sohn des preußischen Kulturministers Carl von
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Raumer, der Ausführende: der im preußischen Kultusministerium für die Volksschulen verantwortliche Beamte Ferdinand Stiehl. Der Anspruch der Aufklärer, jedem Bürger — gleich welchen Standes — eine Allgemeinbildung zuteil werden zu lassen, ein Anspruch, der an der Einrichtung und Entfaltung des Volksschulwesens in Deutschland entscheidend beteiligt war, wurde nun der Volksschule vorenthalten. Noch 1842 hatte Robert Heinrich Hiecke enthusiastisch geschrieben: „in einer Zeit, welche den Pauperismus als eine Schuld des ganzen Geschlechts betrachtet, die durch besonnene Heranziehung der armen Ausgestoßenen zur Arbeit und zum Genuß des Lebens als Lohn der Arbeit getilgt und gesühnt sein will, in einer solchen Zeit erscheint es auch als eine heilige Verpflichtung dem Mangel an Bildung des Denkens und an Umfang des Wissens, so wie dem damit zusammenhängenden Mangel an Bildung des Empfindens und Wollens abzuhelfen" (R. H. Hiecke 1842: VII). Dagegen heißt es nun in den „Grundzüge(n), betreffend Einrichtung und Unterricht der evangelischen einklassigen Elementarschule", einem Teil der berüchtigten Stiehlschen Regulativen von 1854, lapidar: „Der Gedanke einer allgemein menschlichen Bildung durch formelle Entwicklung der Geistesvermögen an abstraktem Inhalt hat sich durch die Erfahrung als wirkungslos, oder schädlich erwiesen" (F. Stiehl 1854/1979: 21). Was eine solche Entscheidung für den Deutschunterricht bedeutete, hatte zwei Jahre zuvor Rudolf von Raumer ausgeführt. Aufgabe des Deutschunterrichtes sei „die Ueberlieferung der Hochdeutschen Schriftsprache und der in ihr niedergelegten Literatur" (R. v. Raumer 1852: 106). Aber beides findet keine Anwendung auf die Volksschule. Auf keinen Fall sollte versucht werden, den Kindern „die Büchersprache" zu vermitteln, d. h. die Sprache, die in der Literatur und von den gebildeten Ständen benutzt wurde. „Eine Mischung von Mundart und Schriftdeutsch" genüge: „nicht diese regelrechte Uebereinstimmung dessen, was der Bauer und Handwerker schreibt, mit der Büchersprache ist die eigentliche Aufgabe der Volksschule, sondern möglichste Geläufigkeit im Schreiben überhaupt, damit nicht hinter Pflug und Ambos die edle Kunst des Schreibens gänzlich wieder vergessen werde" (ebd.: 117 f.). Der Aufsatzunterricht in der Volksschule wird auf das beschränkt, was das Leben von einem Bauern oder Handwerker forderte: „Was hat der Bauer und Handwerker in seinem Berufsleben zu schreiben? ,Gar nichts' antwortet der unbedingte Lobredner vergangener Zeiten. So schnell sind wir aber nicht fertig. Der Meister, der seine Rechnung nicht selbst schreiben kann, läuft Gefahr, der Spott und vielleicht auch der betrogene Narr seines Lehrjungen oder seiner noch schulpflichtigen Kinder zu werden. Der Bauer, der sich seine Termine im Kalender notiert, ist allemal im Vortheil gegen den, der sich auf sein Gedächtnis verlaßen muß. Wer ein Gemeindeamt verwaltet, wird auch bei der vernünftigsten Einrichtung dieser Dinge, bisweilen in den
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Fall kommen, schreiben zu müssen. Und wie viel wird in unserer Zeit gewandert, wie viele Familien zerrißen, ihre Glieder oft durch weite Lande und Meere von einander getrennt. Und welche Freude ist es, wenn einmal wieder nur einige schlecht geschriebene Seiten vom Sohn oder der Tochter aus Amerika anlangen, das muß man selbst mitangesehen haben. Dann wird man nicht mehr von der Nutzlosigkeit des Schreibunterrichtes für die Volksmassen reden" (ebd.: 115). Was bei einer solchen Auffassung von den Bedürfnissen der Volksmassen für den Aufsatzunterricht noch übrig blieb, war nicht viel: „dann und wann etwas Eigenes, eine kleine nacherzählte Geschichte oder dergleichen" (ebd.: 117). Selbst dazu konnte sich der Verfasser der Regulativen nicht aufraffen. Die Fertigkeit, „auch nicht gelesene, eigene Gedanken richtig niederzuschreiben", wird nur von „den fähigeren Schülern" erwartet, „während für alle die Anfertigung geschäftlicher Formeln und Aufsätze nach gegebenen Mustern, welche ζ. B. zweckmäßig den Inhalt von Vorschriften beim Schreiben bilden können, geläufig gemacht werden" soll (F. Stiehl 1854/1979: 25). Solche restaurativen, jeden Fortschritt hemmenden Vorgaben aus dem Ministerium waren natürlich nicht geeignet, die Didaktiker, die gerade dazu angesetzt hatten, eigene Vorstellungen für den Aufsatzunterricht an der Volksschule zu entwickeln, in ihrem Bestreben zu unterstützen und zu fördern. Die aufsatzdidaktische Diskussion stagnierte für Jahrzehnte, wie übrigens die pädagogische Diskussion insgesamt. Der Aufsatzunterricht Von den Konzeptionen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Aufsatzunterricht der Volksschule entwickelt worden waren, haben sich in der zweiten Hälfte nur zwei durchsetzen können: der Anschluß an grammatische Übungen und der Anschluß an die Lektüre (vgl. Eisenlohr 1959: 347 f.). Daß Schreibübungen Bedingung für den Aufsatzunterricht sind und ihm darum vorausgehen müssen, war selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war es, Aufsätze im Zusammenhang mit Sprechübungen schreiben zu lassen. Verschwunden sind die Aufsätze, die im Anschluß an Denkübungen verfaßt wurden und den Aufsatzunterricht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielleicht am nachhaltigsten geprägt haben. An die Stelle des Denkens war die Anschauung getreten, und angeschaut wurde im Aufsatzunterricht in erster Linie das Lesebuch. So spielte der Aufsatz, der im Anschluß an das Lesebuch geschrieben wurde, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in etwa die Rolle, die dem Aufsatz im Anschluß an die Denkübungen zuvor zugekommen war. Die Begründungen, die für einen Anschluß an das Lesebuch gegeben wurden, geben einen Eindruck von dem Geist, der hinter dem Aufsatzunterricht der Volksschule damals stand. „Da nun Kinder", heißt es in einem
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„Enzyklopädischen Handbuch der Erziehungskunde", „bis zum vierzehnten Jahre unreife Menschen sind und keine Gedanken haben, die sie geneigt wären, dem Papier anzuvertrauen, so muß man ihnen dazu verhelfen. Als Mittel zu diesem Zweck empfiehlt sich zunächst das Lesebuch" (G. A. Lindner 18842: 74; vgl. auch Eisenlohr 1859: 349; F. Nadler 1888/1890: 332 u.a.). „Ganz freie Aufsätze, bei denen der Schüler Stoff und Form selbst zu erfinden hat, bleiben" daher „mit alleiniger Ausnahme kleiner Briefe und der gewöhnlichsten Geschäftsaufsätze von der Volksschule ausgeschlossen" (ebd.: 75). „Ganz zu verwerfen", liest man in einer „Anleitung zu den Aufsatzübungen", „sind diejenigen Aufgaben, deren Stoff nicht dem äußeren, sondern dem inneren Leben der Jugend angehören" (A. Krauß 1876: 10). Von Aufsatzübungen im Anschluß an das Lesebuch erwartete man nicht nur die Ausbildung des Sprachvermögens, sondern vor allem auch eine günstige Wirkung auf die Behandlung des Lesebuches selbst. „Noch höher anzuschlagen" als die formale Bildung sei „der materielle Gewinn, welcher für die Schule aus einer richtigen Behandlung dieser Übungen erwächst. ( . . . ) Durch eine solche Arbeit wird der Schüler befähigt, sich in den Geist eines Lese- und Sprachstücks zu vertiefen, dasselbe nach Form und Inhalt zu erfassen, geistiges Material in sich aufzunehmen und zu verwerthen" (A. Krauß 1876: 4; vgl. auch G. A. Lindner 18842: 74 o. ö.). So erklärt sich auch, weshalb die Stoffrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum eigentlichen Problem der Aufsatzdidaktik der Volksschule wurde. Über die Praxis des Aufsatzunterrichtes erfahren wir aus den Anleitungen, Anweisungen, Ratgebern und Vorschlägen, die damals massenweise auf den Markt kamen (E. Graf 1861/1871; F. Nadler 1888/1890; K. Herberger und C. Döring 1888 und 1891 u.a.). So groß die Unterschiede in der Theorie zwischen einem sich an die Grammatik und einem sich an das Lesebuch anschließenden Aufsatzunterricht auch gewesen sein mögen, in der Wirklichkeit kamen sich beide Konzeptionen sehr nahe. Das Grundmuster, nach dem Aufsatzunterricht betrieben wurde, kann man dem folgenden Vorschlag eines Provinzialschulrates entnehmen. Ort der Handlung: die Mittelklasse einer dreiklassigen Volksschule. Die Unterabteilung der Klasse ist schriftlich beschäftigt. „Der Lehrer (zur Oberabteilung): Ihr sollt heute einen Aufsatz schreiben. Die Überschrift heißt: der Herbst. — Wann geht die Sonne im Herbst auf? — Kind: des Morgens. — Lehrer: Nein, des Morgens geht die Sonne das ganze Jahr hindurch auf. Aber wann geht die Sonne im Herbste auf, früh oder spät? — Kind: Die Sonne geht im Herbste spät auf. — L.: Und wann geht die Sonne im Herbste unter? — K.: Die Sonne geht im Herbste früh unter. — L.: Fasse das zusammen! — K.: Die Sonne geht im Herbste spät auf und früh unter. — L.: Stelle das Wort im Herbste an den Anfang! — K.: Im Herbste geht die Sonne spät auf und früh unter. — L.: Wie sind deshalb die Tage im Herbste? — K.: Deshalb sind die Tage im
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Herbste kurz. — L.: Und wie ist die Luft draußen, warm oder kalt? — K.: Die Luft ist kalt. — L.: Fasse diese beiden Sätze zusammen! — K.: Deshalb sind die Tage im Herbste kurz, und die Luft ist kalt. — L.: Wiederhole von Anfang, was wir vom Herbste gesagt haben! — K.: Im Herbste geht die Sonne spät auf und früh unter. Deshalb sind die Tage im Herbste kurz, und die Luft ist kalt. — L.: Welche Kleider legen wir im Herbste an? — Kinder versagen. L.: Welche Kleider tragen wir im Sommer? — K.: Dünne Kleider. — L.: Wir nennen sie Sommerkleider. Tragen wir die Sommerkleider auch im Herbste? — K.: Nein, wir ziehen andere Kleider an. — L.: Welche Kleider legen wir also im Herbste ab? — K.: Wir legen die Sommerkleider ab. — L.: Und welche Kleider ziehen wir an? — K.: Wir ziehen die Herbstkleider an. — L.: Wir wollen sagen wärmere Kleider. Welche Kleider ziehen wir an? — K.: Wir ziehen wärmere Kleider an. — L.: Fasse die beiden Sätze zusammen! — Es folgt Zusammenfassung und Wiederholung der Sätze, bis sie auswendig gehen, dann Wiederholung der beiden ersten in Verbindung mit den neuen. Lehrer: Was tun viele Vögel im Herbste? — K.: Viele Vögel ziehen im Herbste in wärmere Länder. — L.: Sprich: Viele Vögel verlassen uns im Herbste und ziehen in wärmere Länder! — Geschieht. — L.: Warum ziehen sie in wärmere Länder? — K.: Weil es ihnen zu kalt wird. — L.: Und was finden sie nicht mehr? — K.: Und sie finden keine Nahrung. — L.: Gib nun noch einmal an, warum viele Vögel uns im Herbste verlassen? — K.: Viele Vögel verlassen uns im Herbste, weil es ihnen zu kalt wird, und weil sie keine Nahrung mehr finden. — L.: Setze aber auch hinzu, wohin sie ziehen, und fange mit dem Worte im Herbste an! — K.: Im Herbste verlassen uns die Vögel und ziehen in wärmere Länder, weil es ihnen zu kalt wird. — L.: Wir wollen sagen: bei uns zu kalt wird. — K.: Weil es ihnen bei uns zu kalt wird, und sie keine Nahrung mehr finden. — Diese Sätze werden geübt, bis die Kinder sie auswendig wissen, und dann wird das Ganze von Anfang an noch einmal wiederholt" (E. Lüttge 1900/1910: 5 f.). Zu guter Letzt wird das Ganze ins Heft geschrieben. Das ist dann der Aufsatz. Und so sehen die Aufsätze im Original aus: „Unser Hof. Auf unserem Hofe steht das Wohnhaus und die Scheune. In der Küche befinden sich Hausgeräte, und auf der Diele stehen die Kühe und das Pferd. In der Scheune ist Heu, Kartoffeln und Torf. Auf dem Hofe wachsen Eichbäume und Birken. Hinter dem Hause ist der Garten. Äpfel- und Birnenbäume befinden sich im Garten. Neben dem Hause fließt ein Bach" (eigene Sammlung 1910). Dieser Aufsatz ist mit „ + 3" bewertet. Es handelt sich um die Endfassung, der zwei Entwürfe vorausgegangen sind, eine von der Hand des Lehrers korrigiert! Das Grundmuster konnte ohne weiteres variiert werden. In einem an der Grammatik orientierten Aufsatzunterricht wurden nicht einzelne Satzteile erfragt, sondern alle Teile eines Satzes standen dem Schüler zur Verfügung,
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er hatte sie lediglich zu einem grammatisch korrekten Satz zu verbinden. Um ein Beispiel zu geben: Thema war die Beschreibung des Frühling. Zu üben waren Satzverbindung und Satzgefüge. Vorgegeben wurden drei einfache Sätze: (1) Ο sie sind die lieblichsten Boten des Frühlings! (2) Möchtest du nicht mit diesen lieblichsten Boten des Frühlings einstimmen? (3) Solltest du nicht mit ihnen deinen Schöpfer preisen? Erwartet wurde etwa die folgende Satzverbindung: „O möchtest du nicht mit ihnen, diesen lieblichsten Boten des Frühlings, einstimmen, und solltest du nicht mit ihnen deinen Schöpfer preisen?" oder das Satzgefüge: „O möchtest du nicht mit ihnen, diesen lieblichsten Boten des Frühlings, einstimmen, deinen Schöpfer zu preisen" (E. Graf 1861/1871: 53). Der Anschluß des Aufsatzes an das Lesebuch erlaubte dem Schüler ein bißchen mehr Beweglichkeit und Selbständigkeit. Um ein Bild von diesem Verfahren geben zu können, muß ich etwas ausführlicher werden (zum folgenden vgl. K. Herberger und C. Döring 1888: 31 f. und 63 ff.). In einem Lesebuch findet man etwa folgendes Lesestück: „Der Bär. In einem dichten Walde hielt sich ein ungeheuerer Bär auf. Davon hatten zwei Jägerburschen gehört. ,Den wollen wir bald haben! Seine Haut wird verkauft! Mit dem gelösten Gelde können wir unsere Zeche im Wirtshaus bezahlen'. Mit diesen Worten gingen sie alle Tage in den Wald" (ebd.: 31 f.). Und dann nimmt die Geschichte ihren Lauf. Als erstes wird die Geschichte vorgelesen. Dann geht der Lehrer mit den Schülern den Text Satz für Satz durch, und zwar so, daß sich eine geordnete Reihe „leitender Fragen" ergibt. Ihre Behandlung im Unterricht erfolgt auf diese Weise: „L.: Mit welchem Satze beginnt vorstehende Erzählung? — Sch.: In einem — Bär auf. — L.: Was wird uns hier berichtet? — Sch.: Es wird berichtet, daß sich — Bär aufhielt. — L.: Die Jägerburschen waren schon oft in dem Walde gewesen. Welches Wild hatten sie dann mitgebracht? — Sch.: Hasen. Rehe u. s. w. — L.: Was ist also hier das Bemerkenswerte? — Sch.: Daß sich in dem Walde ein Bär aufhielt. — L.: Denke dir, du wüßtest dies noch nicht. Welche Frage wirst du dann stellen? — Sch.: Wer hielt sich in dem Walde auf? — L.: Der Bär hielt sich in dem Walde auf! Dafür kannst du anders sagen. Wie? — Sch.: Er lebte in dem Walde. ,Wohnte', ,hauste' etc. — L.: Wie lautet nun unsere Frage? — Sch.: Wer lebte in einem Walde? ( . . . ) Anschreiben!" (ebd.: 63). Auf diese Weise wurde die Geschichte Satz für Satz traktiert. Am Ende stand eine Liste von Fragen an der Tafel: „1. 2. 3. 4.
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lebte in dem Walde? hatte davon gehört? gedachten sie zu thun? thaten sie deshalb zunächst?
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Was thaten sie dann? Womit wollten sie bezahlen? Was sind sie? Was geschah eines Tages? Was that Arnold? Was that Hubert? Was that der Bär? Wie fragte darauf Arnold den Hubert? Wie antwortete Hubert? Was sagten die Leute dazu?" (ebd.: 65).
Eine solche Liste von Fragen hatte zwei Aufgaben. Zunächst sollte sich der Schüler mithilfe der Fragen „die Gedankenfolge" (ebd.: 13) und also den Plan des Musterstückes klar machen. Dann aber war die Liste auch Grundlage des Schüleraufsatzes: der Schüler legt sich nun die Fragen vor, beantwortet eine nach der anderen, zuerst mündlich, dann schriftlich, und erhält auf diese Weise schließlich einen Aufsatz: „Der Bär. In einem dichten Walde wohnte ein ungeheuerer Bär. Zwei Jägerburschen hatten davon gehört. Diese gedachten den Bär zu schießen. Deshalb gingen sie alle Tage in den Wald usw." (ebd.: 66). Der Aufsatz ist, wenn er nach dieser Methode betrieben wird, wie die Autoren zutreffend feststellen, „die zusammenhängende Antwort auf ein selbstthätig gefundenes System von Fragen" (ebd.: 15). Man gewönne ein falsches Bild von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn man annähme, die Volksschuldidaktiker hätten nichts anderes hervorgebracht als solche für uns heute kaum noch erträgliche Übungen. Die Praxis in den Schulstuben mag in vielen Fällen so oder ähnlich ausgesehen haben. Vermutlich aber war sie besser, als uns die Didaktiker weis machen wollen. Neben solchen Vorstellungen vom Aufsatzunterricht kamen aber auch andere auf, die sich von den Vorurteilen über das Unvermögen der Schüler frei machten, die Fesseln, die man dem Schüler wie dem Lehrer angelegt hatte, ablegten und erkennen lassen, daß einige wenige aufgeschlossene Aufsatzdidaktiker bereits auf einem ganz neuen Wege waren — einem Wege, der schließlich zu den Aufsatzreformern des 20. Jahrhunderts führte. Rudolf Hildebrand Rudolf Hildebrand (1824—1894), von dem in diesem Buche schon mehrfach die Rede war, hat sich nicht ausdrücklich zum Aufsatzunterricht in der Volksschule geäußert. Dennoch muß auch hier von ihm gesprochen werden, da seine Vorstellungen vom Deutschunterricht nicht ohne Wirkung auf den Aufsatzunterricht in den Volksschulen geblieben sind. Hildebrand hat einmal geschildert, wie er sich eine Deutschstunde vorstellte. Die Stelle ist so aufschlußreich, daß sie hier vollständig angeführt sei:
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„Jetzt kommt der Lehrer und hält deutsche Stunde. Da sollen sie nun Deutsch lernen, das sie doch für sich, für ihren Bedarf schon so gut können, sollen es lernen an einem Stoffe, der sie viel weniger interessiert als was sie eben untereinander verhandelt haben. Ja wenn der Lehrer gleich das Interesse erfassen könnte, das eben in ihnen waltete, den Gegenstand aufnehmen, den sie soeben untereinander verhandelten, fortfahren, wo sie aufgehört, die logische und sittliche oder Rechtsfrage, wie sie in jedem Streite liegen, vornehmen und abfragend und bessernd und berichtigend unter ihrer Mithilfe allmählich klar aussprechen, was sie dunkel gefühlt und gesucht, noch besser sagen, was sie eben haben sagen wollen, so daß sie dabei das Gefühl hätten, wie sie es mit haben finden und in reinliche Form fassen helfen und dabei den Dialekt leise in Hochdeutsch hinüberführen, daß es ihnen selbst nun erst gefällt: ,ja so meinte ich's, so ist's recht! Nicht wahr, das wäre doch auch deutscher Unterricht? Und wie wirksam wäre der, und wo bliebe da die Langeweile! Die Schulbänke und Schulwände und die ganze Schule vergessen würden die Schüler vor lauter tätigstem innerm Leben (wie eben in der bewegten und unbewachten Zwischenstunde auch), und zwar mit dem Gefühl, wie sie da aus ihrem eigensten Leben mitten heraus in eine Höhe gehoben würden, die nur eine Veredelung dessen wäre, was sie selbst schon hatten, nichts nagelneues Fremdes" (R. Hildebrand 1867/1887: 5). Dieser „ausgemalte Einfall", wie Hildebrand seine Vision bezeichnete, enthält alle Gedanken zum Deutschunterricht, die er als seine „Grundgedanken" bezeichnet hat. Oberster Grundsatz ist die Forderung, daß alles, was in der Schule geschieht, an den Erfahrungen und Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten anzuknüpfen habe, die das Kind bereits mitbringt. Für den Deutschunterricht bedeutet eine solche Forderung, daß das Hochdeutsche unmittelbar im Anschluß an die Sprache, die das Kind zuhause spricht, und nicht wie eine Fremdsprache einzuführen sei: „ihr Untergrund, ihr Ausgangspunkt kann immer nur die Sprache sein, die die Schüler wirklich reden, sie allein ist ihr Maßstab für alles Weitere, sie haben keinen anderen" (ebd.: 71). Die Haussprache ist Grundlage und Ausgangspunkt des Deutschunterrichts, der Erwerb der Hochsprache sein Ziel. So lautete also der erste Grundsatz für den Deutschunterricht: „Das Hochdeutsche sollte gelehrt werden im Anschluß an die Volkssprache oder Haussprache" (ebd.: 66). Wenn man den Gedanken ernst nimmt, daß die Hochsprache nur im Anschluß an die Haussprache gelehrt werden könne, dann folgt daraus, (1) daß die Hochsprache dem Schüler zuerst in ihrer gesprochenen Form nahegebracht wird: „das Hochdeutsch muß als gesprochene Sprache auftreten, wie die Mundart ist, an die es anwachsen soll" (ebd.: 78); (2) daß im deutschen Unterricht überhaupt das Hauptgewicht „auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt" wird, „nicht auf die geschriebene
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und gesehene", so daß „beide Erscheinungsformen der Sprache ( . . . ) wieder in ihr natürliches Verhältnis rücken" (ebd.: 53 f.); (3) daß der Schüler über das Reden zum Schreiben kommt: „Also reden und reden und wieder reden, und reden lassen unermüdlich, und reden von Dingen, die das Kind völlig fassen kann, ja die seine stets empfangliche Seele gleichsam voll machen, reden auch von der Gestalt und Farbe, die in der Kinderseele sich an die Weltdinge von selbst ansetzen, und das berichtigen: das allein ist der rechte Durchgang zum Schreiben, das allein ist der Boden, aus dem ein Stil erwachsen kann, das allein der Weg, auf dem auch die hochdeutsche Syntax aus der volksmäßigen, kindlichen sich herausentwickeln läßt" (ebd.: 85). Reden tut's freilich auch nicht. Das Kind muß von einer Sache erfüllt sein, um von ihr reden und vor allem um von ihr schreiben zu können, und von einer Sache ist es nur dann erfüllt, wenn es selbst sie gefunden, gesehen und gehört, gedacht und durchgedacht hat: „Das und das allein ist auch die wahre Aufgabe der Stilübung: erst den eigenen Inhalt der Schülerseele herauszulocken und daran die Form zu bilden; jeder andere Weg hat etwas von dem Sprachunterricht, den man Papageien gibt" (ebd.: 55). So ist auch dies einer der pädagogischen Grundsätze Hildebrands: „Nichts befördert das rechte Lernen und die Lust zum Lernen (und beim Lehrer die Lust zum Lehren) mehr als dieses Selbstfindenlassen der Schüler" (ebd.: 21). Nimmt man zusammen, was Hildebrand über die Stilübungen und den Aufsatzunterricht — eher beiläufig als systematisch — bemerkt hat, und fragt man sich, auf welche aufsatzdidaktische Situation solche Vorstellungen (wie übrigens auch sein „ausgemalter Einfall") am ehesten zutreffen könnten, so ist es vielleicht nicht abwegig, zuerst an den Anfangsunterricht in der Volksschule oder in den unteren Klassen eines Gymnasiums zu denken. Hier scheinen sich seine aufsatzdidaktischen „Einfalle" gebildet zu haben. Die Schüler Hildebrands Die Ideen Hildebrands sind auf fruchtbaren Boden gefallen, so daß man bald schon von „seiner Schule" sprechen konnte (vgl. R. Laube 1903). Auch unter den Aufsatzdidaktikern der Volksschule hat er Schüler gefunden: Friedrich Sachse (1886, 1894) und Richard Seyfert (1899), um nur diese beiden zu nennen. Sie haben die Grundsätze Hildebrands, die für den Aufsatzunterricht von Bedeutung waren, auf den Aufsatzunterricht in der Volksschule angewendet, die Forderungen Hildebrands konkretisiert und zur Grundlage eines Lehrplanes gemacht, der bereits wesentliche Elemente der reformpädagogischen Theorie enthält. Beide betonen nachdrücklich, daß nur „freie und selbständige Erzeugnisse des Kindes" (R. Seyfert 1899: 225) Zweck und Ziel des Aufsatzunterrichtes sein können und darum der freie Aufsatz in der Volksschule nicht nur gelitten,
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sondern gefordert werden müsse: „Erst dann, wenn der Aufsatz wirklich eine freie Aeußerung der inneren Vorgänge ist, verdient er seinen Namen", so Richard Seyfert (ebd.: 239). Und Friedrich Sachse: Aufsätze „gelten uns nicht mehr als reine Übungen sprachlicher Formen, sondern wir erblicken in ihnen das geeignetste Mittel, den kindlichen Geist zum Ausdruck und zum Bewußtsein seiner selbst zu bringen. (...) Der Aufsatz soll also nicht nur eine sprachliche Wiedergabe dessen sein, was das Kind weiss, sondern sein ganzes Geistesleben soll sich in ihm spiegeln, sein Denken und Fühlen, seine Phantasie und sein Urteil" (1886: 22). Stärker noch als Hildebrand haben sie den „psychologischen Gesichtspunkt" (R. Seyfert) hervorgehoben, also die Berücksichtigung psychischer Vorgänge beim Schreiben und Schreibenlernen. Der psychologische Gesichtspunkt betrifft zunächst die Themen und Stoffe von Aufsätzen: „das Verhältnis eines Stoffes zum kindlichen Interesse" (R. Seyfert 1899: 249), seine „Nähe oder Ferne" (ebd.). Sachse gibt dafür ein Beispiel: „Wer in der 8. und 7. Klasse über das Pferd eine anatomische Beschreibung nach Analogie einer solchen, wie sie in der Naturgeschichte einer obern Klasse am Platze ist, giebt — und häufig genug werden sie gegeben —, bietet dem Elementarschüler etwas Fremdes, trotzdem derselbe schon genug Pferde in den verschiedensten Situationen gesehen hat. Über die Körperteile und deren Gestalt, über seine Eigenschaften und seine verschiedenartigen Verwendbarkeiten hat es sicher selbst noch nicht nachgedacht. Es hat dasselbe an Lastwagen und Kutschen, an Ackergeräten und als Reitpferd, beim Schmied, im Stalle, auf dem Rennplatz und der Weide gesehen, es hat die verschiedene Farbe derselben beachtet, seine Stimme gehört und mancherlei sonst noch wahrgenommen, aber eine schulgerechte Beschreibung des Pferdes kann es deshalb noch lange nicht liefern und begreifen, denn bei dem Kinde sind die Umstände und besonderen Verhältnisse, unter denen es beobachtet, unzertrennlich von dem, was es beobachtet. Es kann noch nicht einem Gegenstand als solchem seine Aufmerksamkeit widmen. Mit dieser Tatsache muß der erste Unterricht rechnen, er muß aus dem Kinde zunächst herauslocken, was es selbst weiß, und zwar möglichst mit Bezugnahme auf die Umstände, unter welchen es zu seinen Erkenntnissen gekommen ist" (F. Sachse 1886: 23 f.). Unter die psychologischen Gesichtspunkte sind aber auch die psychischen Funktionen gefaßt worden, die im Aufsatzunterricht vorausgesetzt und durch die Abfassung der Aufsätze entwickelt werden. Sachse führt die Phantasie des Kindes an, Seyfert außerdem Erinnerungen und Verstand. Seyfert machte diese zur Grundlage eines Lehrplanes für den Aufsatzunterricht an Volksschulen: beginnen sollte er mit der Darstellung von Erinnerungen, d. h. Erzählungen; er sollte fortgesetzt werden mit Phantasieerinnerungen und phantasievollen Nachbildungen und schließlich in Verstandesprodukten sein Ziel finden:
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gedanklichen Darstellungen oder „Betrachtungen", wie Seyfert diese Aufsätze nennt (R. Seyfert 1899: 246). Unter psychologischen Gesichtspunkten waren aber auch die Schwierigkeiten des Kindes beim Ubergang vom ausschließlich mündlichen zum ersten schriftlichen Ausdruck zu beachten, wobei zu berücksichtigen ist, daß sowohl für Sachse wie für Seyfert der Aufsatzunterricht erst in der Oberstufe der Volksschule, also mit der 5. Klasse, begann. „Eigene Gedanken schriftlich darzustellen", meinte Sachse, „ist am Anfang nicht leicht und erfordert eine lange Übung. Die geschriebene Sprache tritt dem Kinde zunächst fremd und unzulänglich gegenüber, zu viel ist dabei zu beachten, was mit dem, was und wie es denkt, eigentlich nichts zu thun hat. Es fühlt auch, dass es seine Gedanken ordnen und klarer fassen muss, um sie in der Schriftsprache ausdrucksfahig zu machen, und wird gestört durch die Empfindung, dass das, was es selbst denkt, zu geringfügig ist, um zu Papier gebracht zu werden" (E Sachse 1886: 24). Darum forderte er, daß „ihm vor allem Mut gemacht werden" (ebd.) müsse. Dies alles erinnert sehr an Ausführungen von Peter Villaume, die dieser hundert Jahre zuvor gemacht hatte (vgl. Kap. IV) und die in der Zwischenzeit wieder in Vergessenheit geraten waren. Zusammengefaßt kann der Beitrag, den die Schüler Hildebrands für den Volksschulaufsatz geleistet haben, so bestimmt werden: sie haben nicht nur die Ideen Hildebrands auf die Situation des Aufsatzunterrichtes in der Volksschule angewendet, konkretisiert und präzisiert, sondern diese auch weiter entwikkelt, indem sie die ihnen impliziten psychologischen Aspekte expliziert und damit in die Aufsatzdidaktik eingeführt haben. Damit stellen sie ein wichtiges Bindeglied dar zwischen dem Altmeister des Deutschunterrichtes, Hildebrand, und den Reformpädagogen des beginnenden 20. Jahrhunderts, die ähnliche Gedanken vorgetragen haben (vgl. Kap. VIII). Die Schüler Hildebrands waren nicht die einzigen, die damals schon vom „freien Aufsatz" gesprochen und psychologische Argumente in die aufsatzdidaktische Diskussion eingebracht haben (vgl. auch A. Vogel 1874: 150). Es führen verschiedene Wege zu den Reformern des 20. Jahrhunderts. Max Schießl's stilistische Entwicklungstheorie (1890) Max Schießl (gest. 1888) war Realschulrektor in Rosenheim. Zusammen mit W. Götz hatte er zwischen 1875 und 1880 in einem Aufsatz in den „Blättern für das Bayerische Gymnasial- und Real-Schulwesen" einige bemerkenswerte Gedanken zum Aufsatzunterricht geäußert, diese Gedanken dann alleine weiter entwickelt und in zwei umfangreichen Büchern dargestellt: unter stilistischen Gesichtspunkten in dem „System der Stilistik" von 1884, unter aufsatzmethodischen Gesichtspunkten in der „stilistischen Entwicklungstheorie", 1889 posthum erschienen. Ich beziehe mich im folgenden in erster Linie auf die letzte Arbeit (zu Max Schießl vgl. R. Knilling 1890).
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Schießl berücksichtigte auch die „psychologische Nähe und Ferne" der Aufsatzthemen, stellte aber einen anderen psychologischen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: den Prozeß des Schreibens, meines Wissens als erster in der Geschichte der Aufsatzdidaktik, wenn man von einigen Bemerkungen bei Peter Villaume (1784) einmal absieht. Die psychischen Funktionen, von denen R. Seyfert spricht, spielen bei ihm keine Rolle. Die Feststellung, daß „für die Komposition jedes Aufsatzes ( . . . ) drei Faktoren maßgebend" (M. Schießl 1889/1906: 6) seien: der Zweck, der Gegenstand und „die besonderen gegebenen Verhältnisse" (ebd.), war keineswegs originell. Sie gehörte bereits zum rhetorischen Arsenal und ist auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer wieder anzutreffen. Neu war vielmehr die Berücksichtigung der Tatsache, daß Schreiben in erster Linie ein Prozeß ist. Schießl spricht nicht von einem „Prozeß", sondern — dem Sprachgebrauch seiner Zeit folgend — von einer „Entwicklung": „Eine stilistische Darstellung läßt sich nämlich nicht blos als etwas Fertiges, auf einmal Gegebenes betrachten, sondern ebenso auch als etwas durch den Stilisten successive Hervorgebrachtes und erscheint dann als Entwicklung" (M. Schießl/W. Götz 1875: 325). „Jede stilistische Darstellung muß eine Zweckrealisierung sein, die in ihrem Auf- und Ausbau eine möglichst vollendete Entwicklung ist — oder: Jede stilistische Darstellung muß eine Entwicklung sein, in der alles auf den zu erreichenden Endzweck berechnet erscheint!" (M. Schießl 1889/ 1906: 8). Erst beide Aspekte zusammen: die Bedingungen, unter denen jeweils geschrieben wird, und der Vorgang des Schreibens selber — ergeben ein vollständiges Bild von der Schreibtätigkeit. „Was der Stilist zu tun hat", hat er dann so beschrieben: „1. Er muß sich vor allem klar machen, was er will oder soll — muß also über die Aufgabe, über den Gegenstand und Zweck seiner Darstellung meditieren. (Klärung der Aufgabe.) 2. Hierauf muß er die gegebenen Verhältnisse erwägen und darüber nachdenken, was er, stetig fortschreitend, Schritt für Schritt alles vorzubringen habe, um im vorliegenden Falle einerseits den gesetzlichen Zweck zu erreichen, andererseits Entwicklung in seine Darstellung zu bringen. (Entwicklung eines Planes, einer Disposition.) 3. Endlich muß er die so gewonnene Disposition Schritt für Schritt ausführen und als Entwicklung gestalten. (Ausarbeitung der Disposition)" (ebd.: 10). Hervorzuheben ist: eine „Entwicklung in seine Darstellung zu bringen". Denn genau dies ist der Punkt, den Schießl in die stilistische und aufsatzdidaktische Diskussion seiner Zeit eingeführt hat. Eine Formulierung in dem Aufsatz von 1875 bringt diesen Gedanken deutlicher zum Ausdruck. Dort heißt es: „Wie aber schon die Aufstellung des Themas eine Genesis hat und das Resultat einer Entwicklung ist, so ist auch die ganze nun folgende Ausführung des Themas nichts anderes als eine Entwicklung. Durch die Aufstellung des Themas hat sich der Stilist nämlich einen Zweck gesetzt, den er jetzt allmählich verwirklichen
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will und der ihn beständig vorwärts treibt, bis das Thema vollständig durchgeführt ist (M. Schießl/W. Götz 1875: 326). Wendet man die stilistischen Vorstellungen Schießls auf den Unterricht an, dann ist auch der Schulaufsatz nicht nur als fertiges Produkt, sondern auch als ein aufgrund eines komplizierten Produktionsprozesses zustande gekommenes Stilwerk zu betrachten. Im Mittelpunkt des Aufsatzunterrichtes steht dann nicht der Aufsatz als Text, sondern der Prozeß seiner Komposition und Formulierung, kurz: das Schreiben. „Jeder Aufsatz ist eben nicht ein Konglomerat mechanisch aneinandergereihter, sprachlich korrekter Sätze, sondern eine einheitliche, organische, in sich abgeschlossene Gedankenentwicklung, die auf einen zu erreichenden Endzweck berechnet ist; daher läßt sich die Stilisierungskunst nur durch Übungen im Komponieren und methodische Anleitung hiezu schulmäßig lernen" (M. Schießl 1889/1906: 54). Wie methodisch zu Werke zu gehen und ein Lehrplan im Aufsatzschreiben anzulegen sei, hat Schießl so beschrieben: 1. Stadium des Stilunterrichts: der Anfangsunterricht (3. Schuljahr). Auf dieser Stufe muß man „ganz einfache, kurze Erzählungen vor den Augen der Schüler und unter ihrer Mitwirkung succesive entstehen, oder vorgelesene ebenso einfache Musterstücke (Erzählungen) unter direkter Anleitung und Überwachung von ihnen reproduzieren lassen" (ebd.: 64). 2. Stadium: Stumme Einführung in die Kompositionslehre (4. Klasse). „Jedem Aufsatze wird ( . . . ) jetzt die Disposition vorangestellt, aber nicht andiktiert, sondern durch Fragen systematisch aus den Schülern herausgelockt: die Schüler müssen sie Schritt für Schritt entstehen sehen ( . . . ) ; ebenso müssen wir die Ausführung der Dispositionen aus ihnen herauslocken und auch sie Schritt für Schritt vor ihnen und unter ihrer Mitwirkung entstehen lassen" (ebd.: 67). 3. Stadium: Systematische Anleitung zum Komponieren (5. Klasse). „Von jetzt an müssen ( . . . ) unter unserer Führung, Anleitung und Überwachung bei jedem Aufsatze die Schüler selbst die Aufgabe klären, hierauf ( . . . ) , vom Zwecke ausgehend, die Disposition feststellen, endlich durch fragende Meditation auch die ganze Ausführung der Disposition entwickeln ( . . . ) . Als Darstellungen aber dienen zunächst noch Erzählungen mäßigen Umfangs, dann erzählende und berichtende, besonders historische Beschreibungen" (ebd.: 67). 4. Stadium: Übergang zu selbständigen Versuchen (6. Klasse). „Aufgabe des vierten Jahres des Stilunterrichtes ( . . . ) ist, den Übergang zu selbständigen Versuchen zunächst anzubahnen. Wir müssen uns daher jetzt allmählich mehr zurückziehen und die Selbsttätigkeit der Schüler in immer höherem Grade in Anspruch nehmen. Die Disposition wird noch unter unserer Aufsicht und Überwachung entworfen, die Ausführung aber bloß mehr vorgelesen oder
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besprochen und dann von den Schülern ohne weitere Nachhilfe zu Hause oder als ,stille Aufgabe' in der Schule gefertigt" (ebd.: 68). Man erkennt unschwer, daß der Gedanke der Entwicklung nicht nur die Vorstellung vom Aufsatz geprägt hat, sondern auch dem gesamten Lehrplan zugrundeliegt. Zweck des Aufsatzunterrichtes aber ist: die Schüler zur „Selbsttätigkeit" zu führen. Darum steht auch am Ende des Lehrplanes der „freie Aufsatz". 5. Stadium: der freie Aufsatz (7. Klasse). „Wir müssen jetzt Aufsätze fertigen lassen, denen gar keine Besprechung und Anleitung vorausgeht, und zwar solche, wie sie die Praxis des künftigen Lebens verlangt: also ganz einfache, schlichte Berichte, kurze Mitteilungen und Aufzeichnungen, erzählenden und beschreibenden Inhalts, besonders kleine Briefe und Geschäftsaufsätze. Zu solchen Aufsätzen darf nicht einmal mehr eine schriftliche Disposition entworfen werden; denn die Praxis des täglichen Verkehrs kennt das schriftliche Disponieren nicht" (ebd.: 69). Also auch hier steht — zumindest am Ende des Lehrganges und als sein Ziel — der freie Aufsatz! Ernst Lüttges stilistischer Anschauungsunterricht (1900) Ernst Lüttge hat sich selbst in eine Reihe mit Hildebrand, Sachse und Seyfert gestellt und auch der Kunsterziehungsbewegung (vgl. Kap. 8) Sympathie bezeugt (vgl. Vorwort zur 3. Auflage des 2. Bd. 1900/1909: VI). Zweifellos gibt es Berührungspunkte. So hat Lüttge die Bedeutung des Mündlichen für den Aufsatzunterricht immer wieder herausgestellt und den freien Aufsatz — zumindest als Ziel und Endpunkt des Aufsatzunterrichtes (wie Schießl) — auch für die Volksschule gefordert. Dennoch kann er nicht in dem Sinne als Wegbereiter des freien Aufsatzes gelten, wie ihn die Reformpädagogen propagiert haben. Er hat die formale Schulung in den Mittelpunkt seiner aufsatzdidaktischen und aufsatzmethodischen Überlegungen gestellt und auch im übrigen Auffassungen vertreten, die ins 19. Jahrhundert gehören. Sein Blick war nicht vor-, sondern rückwärts gewandt. Wenn er dennoch hier kurz zu Worte kommen soll, dann ist das einzig und allein der Tatsache zu verdanken, daß er auf der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einer der bekanntesten, wenn nicht sogar der bekannteste Aufsatzdidaktiker für die Volksschule war. Seine zweibändige Arbeit: „Der stilistische Anschauungs-Unterricht" (1. Auflage 1900; ich zitiere den 1. Bd. nach 1900/1910, den 2. Bd. nach 1900/1909) hat innerhalb nur eines Jahrzehnts insgesamt acht Auflagen erfahren. „Alle stilistischen Belehrungen und Übungen zielen darauf ab, den Schüler im Gebrauch der Feder selbständig zu machen", so hat Lüttge die Aufgabe des Aufsatzunterrichtes bestimmt (1900/1910: III). „Der Schüler soll die
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schriftliche Gedankenmitteilung üben lernen: nicht als eine neue Sprache neben der ihm geläufigen, nicht als Buchsprache neben der Sprechsprache, sondern als eine seiner persönlichen Eigenart angemessene Ausdrucksform, die durch ein gewisses Verständnis für den Ausdruckswert sprachlicher Darstellungsmittel geleitet wird" (1900/1910: III). Darum hat Lüttge stets den Zusammenhang nicht nur der schriftlichen mit der mündlichen Sprache, sondern auch den der schriftlichen mit den mündlichen Übungen betont: der Schüler „soll zwar schreiben lernen, wie er redet, aber er soll zuvor gut reden lernen: zusammenhängend, geordnet, mit besonnener Wahl des treffenden Ausdrucks und sprachrichtig, kurz so, daß sich das Gesprochene auch in der sprachgesetzlichen Form der schriftlichen Darstellung festlegen läßt" (ebd. I). Das Problem des Aufsatzunterrichtes wird darum „in der organischen Erweiterung der mündlichen Mitteilungsfahigkeit zur schriftlichen" (1900/ 1910: V) und damit „in der allmählichen Hinüberführung der zwangslosen Ausdrucksweise des Umgangs zu der mehr gebundenen schriftlichen Gedankenmitteilung" gesehen. Nun weist aber der schriftliche Gedankenausdruck — nicht anders als der mündliche — eine formale und eine inhaltliche Seite auf. In der Geschichte des Aufsatzunterrichtes ist mal die eine, mal die andere Seite in den Vordergrund gerückt worden. Lüttge glaubte, bei „den Anhängern des alten Verfahrens" eine Tendenz zum Formalen, bei den „Kunsterziehungsreformern" eine Tendenz zum Inhaltlichen erkennen zu können: daß „jene (...) zu einer Vernachlässigung der inhaltlichen Seite, diese zu einer Vernachlässigung der formellen Seite verleitet werden" (ebd.: III). Er selbst möchte „beide Einseitigkeiten" (ebd.) vermeiden. Das war zumindest seine Absicht. Tatsächlich aber hat er — vielleicht schon als Reaktion auf die Reformpädagogen — die formale Seite der Sprache und damit die formalen Übungen in den Vordergrund des Aufsatzunterrichts gestellt. Das verbindet seine Aufsatzdidaktik mit der des 19. Jahrhunderts. Auch seine Aufsatzmethodik gehört eher dem 19. als dem 20. Jahrhundert an. „Der stilistische Anschauungs-Unterricht" ist nicht nur Titel des Buches, sondern bezeichnet zugleich auch ein methodisches Programm: die Stilübungen sollen sich auf Anschauung gründen. Unter Anschauung ist nicht nur die bloße sinnliche Wahrnehmung, sondern auch die Betrachtung zu verstehen: „Ein Stilunterricht, der wirklich nach dem Prinzip der Anschauung verfahren will, muß denselben Weg nehmen, den jeder naturgemäße Unterricht nimmt, um etwas Neues zum geistigen Eigentum des Schülers zu machen: es ist der Weg, der mit dem sinnlichen Erfassen beginnt, zur denkenden Verarbeitung fortschreitet und sein Ziel in der selbständigen Anwendung erreicht. Also: Sinnliches Anschauen, denkende Betrachtung, selbständige Anwendung — das sind die Stufen, die den methodischen Gang eines stilistischen Anschauungsunterrichtes bezeichnen" (ebd.: 14).
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Was aber könnte im Aufsatzunterricht angeschaut werden? Das Beispiel des Lehrers und das Lesebuch: „Nicht weniger, als der biegsame kindliche Geist willig den Richtungen folgt, die Lehre und Beispiel Erwachsener ihm anweisen, ist er auch den Einflüssen desjenigen Geistes zugängig, der auf jedem Blatte der Nationalliteratur zu ihm redet" (1900/1909: 35). Auch das war nicht originell. Denn fast alle bedeutenden Aufsatzmethodiker des 19. Jahrhunderts hatten auf die Bedeutung der Lektüre für den Aufsatzunterricht hingewiesen oder das Lesebuch zur Grundlage des Aufsatzunterrichts gemacht: Meierotto schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, der Franzose Jacotot 1818, Hiecke 1842, Friedrich Otto 1844, Laas 1868, K. Herberger und C. Döring 1888, um nur einige zu nennen. Doch stärker als diese hat Lüttge die formalbildende Wirkung der Lektüre herausgestellt: „Daß der Stil des Kindes nur an vollendeten Mustern, also aufgrund stilistischer Anschauung gebildet werden könne, dieser Gedanke ist der Methodik schon lange geläufig, und seine praktische Verwertung ist nach den verschiedensten Richtungen hin versucht worden. ( . . . ) Aber diese Übungen leisten für die Stilbildung nicht das, was von einer psychologisch begründeten Verwertung der Stilmuster erwartet werden muß. Sie liefern dem Schüler in erster Linie einen Inhalt für seinen Aufsatz, oder erleichtern wenigstens die Auffindung desselben; wieweit sie aber seinen Sprachschatz wirklich bereichern, seine Formgewandtheit fördern, das bleibt mehr Sache des Zufalls und hängt in der Hauptsache ab von dem Grade der Leichtigkeit, womit er seine Gedanken einer ungewohnten Form anzupassen weiß" (1900/1910: 8 f.). Primärer Gegenstand des stilistischen Anschauungsunterrichtes war also die sprachliche Form. Das ist auch nur folgerichtig. Denn „anschauen" läßt sich immer nur die Form, nicht der Inhalt einer Äußerung. So stehen sich an der Wende zum 20. Jahrhundert zwei gegensätzliche Auffassungen von einem Aufsatzunterricht in der Volksschule gegenüber. Die eine betont den Inhalt, die andere die Form. Diese führt zurück in das 19., jene weist voraus auf das 20. Jahrhundert. Für diese steht Ernst Lüttge, für jene die Reformpädagogen, die bald von sich reden machen. Von ihnen soll im folgenden Kapitel die Rede sein.
VIII. Der freie Aufsatz: Aufsatzreform in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Mit dem Kapitel über den Aufsatzunterricht der Reformpädagogen beginnt die Zone, in der die Grenzen des Historischen undeutlich werden. Gewiß, alles, von dem ich berichten werde, gehört der Vergangenheit an. Aber einiges davon ist heute noch aktuell, wird heute noch diskutiert oder lebt im Aufsatzunterricht an unseren Schulen fort, oft unreflektiert und fast immer ohne Kenntnis seiner Herkunft. Was war eigentlich so neu an den reformpädagogischen Ideen? Wolfgang Scheibe, einer der besten Kenner der reformpädagogischen Bewegung, schreibt: „das Kind trat in den Mittelpunkt erzieherischen Denkens und Handelns; die Pädagogik fand im Kinde eine neue überzeugende Orientierung. Wenn bis dahin die Gesellschaft, die Erwachsenen, die Sachwelt, die objektiven Werte, die Bildungsgehalte und Ziele die Pädagogik bestimmt hatten, so sollte nun der Heranwachsende bestimmend sein" (W. Scheibe 1969/ 1974: 57). Scheibe stellt gewiß zutreffend fest, daß eine solche Umkehrung der pädagogischen Auffassungen eine neue Einstellung zum Kinde voraussetzte: „Die Reformpädagogik beruhte auf einer neuen Anthropologie des Kindes" (ebd.). Man muß aber doch wohl den Rahmen weiter fassen. Die Auffassung vom Menschen schlechthin hatte sich geändert. In einer Beilage zum Hamburger Echo vom 12. 10. 1913 (Nr. 240) meinte ein ungenannter Schreiber: „Es findet heute eine Umwertung in der Schätzung der Persönlichkeit statt. Während früher derjenige am meisten geachtet und gewertet wurde, der sich intellektuell gebildet und ein großes Wissensgebiet erobert hatte und dieses Wissen mit Scharfsinn und Logik anwenden konnte, gilt heute der Mensch mit Eigennote, Eigenton, der aus innerer Anschauung und feingebildetem Gefühl für die Kulturentwicklung neue Werte schafft. Das, was nicht erlernt, erdacht, errechnet werden kann, das, was dem persönlich und eigen gewachsenen Gefühl entspringt, hat heute Geltung. Darum lautet die Bildungsforderung der heutigen Zeit: Entwickelt euch selbst, löst die Kräfte, die in euch sind, gebt ihnen eigene Form und Gestalt". Es ging um eine Umwertung der Werte, um den Aufbau einer neuen Kultur. Das betrifft den Aufsatzunterricht unmittelbar. Verfall der Schriftkultur, das war das eine, das man empfand: „Die literarische Kultur, besonders die Fähigkeit des einzelnen zur schriftlichen Darstellung, ( . . . ) ist heute verküm-
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mert. (...) Die meisten Menschen sind von einer rührenden Unbeholfenheit, wenn sie irgendetwas Schriftliches selbständig anfertigen müssen. Sie wissen kein Gesuch zu schreiben, keine Entschuldigung, keinen Bericht, keine Zusammenfassung. Sie können weder ihrer Freude noch ihrer Trauer Ausdruck geben, wenn sie beglücken, helfen oder trösten sollen. Sie verstummen, wo das Aussprechen der Gefühle etwas so menschlich Wertvolles und Bereicherndes wäre. Sie verfallen in Angstkrämpfe und schweigen, oder sie verfallen in Bildungskrämpfe und bringen Stilblüten mit unmöglichen Bildern hervor (...). Das gilt nicht nur von der Frau, das gilt auch von dem Mann, nicht bloß von dem Proletarier, auch von dem Bürgertum, nicht nur von denen, die die Volksschule besucht haben, auch von den aus der höheren Schule Hervorgegangenen; das gilt überhaupt von allen, die sich nicht wie die wenigen literarisch beruflich Tätigen, durchgerungen haben" (ebd.). Aufbau einer neuen Ausdruckskultur, das ist das andere: „Gelingt es uns, das in Stil und Form zu bringen, was in uns selber lebt, ringt, spielt und lacht, so bannen wir die Gangart, den Rhythmus unserer eigenen Seele und formen unseren persönlichen Stil" (ebd.). Der Aufbau mußte in der Schule ansetzen — am deutschen Aufsatz.
1. Die Kritik an dem sogenannten gebundenen Aufsatz Wo Neues geschaffen wird, muß Altes zerstört werden. Dieses Gesetz scheint auch für die Geschichte des deutschen Aufsatzes zu gelten. Die „teutsche Oratorie" entstand aus der Kritik an der lateinischen Rhetorik. Die teutsche Oratorie wiederum mußte der Kritik unterzogen werden, um dem ersten deutschen Aufsatz Platz zu machen, dem Aufsatz der späten Aufklärungszeit. Ein solches Schicksal blieb schließlich dem Aufsatz des 19. Jahrhunderts nicht erspart, und aus dieser Kritik erwuchs der Aufsatz der Reformpädagogen. Die Kritik kommt bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf, und zwar aus zwei Richtungen. Im Zusammenhang mit der gegen Ende des Jahrhunderts sich entwickelnden Kulturkritik geraten das Bildungswesen, die Bildungsanstalten, vereinzelt auch der Deutschunterricht und mit ihm der deutsche Aufsatz, ins Gerede. Innerhalb des Faches hatte bereits Rudolf Hildebrand eine Entwicklung eingeleitet, die zur Überprüfung des Deutschunterrichtes, vornehmlich auch des Aufsatzunterrichtes, führte. Die Reformpädagogen sind also keineswegs die ersten, die den Aufsatz des 19. Jahrhunderts kritisiert und sich von ihm abgewendet haben. Die deutsche Kulturkritik „Daß die Erziehungsweise in Deutschland der politischen und ökonomischen Situation unangemessen sei, wurde im selben Maße bewußt wie die Zerstörung der älteren kulturellen Überlieferungen. Die ,kulturkritische' Literatur
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nahm von selbst eine pädagogische Wendung. ( . . . ) Die erste Reaktion war: unsere bewährte Bildungstradition geht verloren, die Auffassungen werden veräußerlicht" (W. Flitner 1961: 13). Die Kritik setzte an der Intellektualisierung der Bildung an, ihrer Verwissenschaftlichung und an der Geistfeindlichkeit des tradierten Bildungsidealismus. Drei Namen sind in diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. W. Scheibe 1969/1982: 5 - 2 3 ) : Friedrich Nietzsche ( 1 8 4 4 - 1 9 0 0 ) , Paul de Lagarde (1827 — 1891) und Julius Langbehn, genannt der Rembrandtdeutsche (1851 — 1907). Nietzsche hatte 1872 in einer Vortragsreihe vor der ,Academischen Gesellschaft', zu Basel (vgl. F. Nietzsche (1872/1977: 1 7 5 - 2 6 3 ) die „pädagogische Geistesarmut" seiner Zeit und die ihrer Bildungsanstalten insbesondere gegeißelt: „im Grunde ist unter den edler begabten und wärmer fühlenden Menschen dieser Gegenwart ein stillschweigendes Einverständnis: jeder von ihnen weiß, was er von den Bildungszuständen der Schule zu leiden hatte, jeder möchte seine Nachkommen mindestens von dem gleichen Drucke erlösen, wenn er sich auch selbst preisgeben müßte. Daß aber trotzdem es nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmut unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfalle haben und welche wissen, daß die rechte Genialität und die rechte Praxis sich notwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfallen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt" (ebd.: 197). Die Vortragsreihe hatte den charakteristischen Titel „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten". — Paul de Lagarde, selbst zwölf Jahre lang Lehrer, bevor er in Göttingen Archeologie lehrte, warf dem Bildungsidealismus seiner Zeit Mangel an wahren Idealen vor: „Deutschland ahnt gar nicht einmal, wie es sich durch seinen Harem von Idealen dem Spotte preisgibt" (P. de Lagarde (1885/1920): 412). — Julius Langbehn — „Kunsthistoriker, Kulturreformer, Schriftsteller mit Zügen des Sonderlings", so Wolfgang Scheibe (1969/1982: 6) — klagte die Verwissenschaftlichung von Kultur und Bildung an: „Deutsche Kinder sieht man jetzt, auf ihrem Schulwege, ganze Bibliotheken unterm Arme tragen" (J. Langbehn 1890/1922: 313). Er setzte gegen die Gelehrtenerziehung die Erziehung durch die Kunst und wurde damit zu einem Begründer der späteren Kunsterziehungsbewegung. Die Kritik an der Kultur, den Bildungsidealen und den Bildungsanstalten hat den Aufsatzunterricht damals nicht unberührt gelassen. Langbehn war zwar an der „Jugenderziehung" zu wenig interessiert, um den Aufsatzunterricht in seine Betrachtung einzubeziehen. Doch Paul de Lagarde geht, wenn auch eher beiläufig, in einem Artikel aus dem ersten Band seiner Deutschen Schriften auf ihn ein (vgl. P. de Lagarde 1878/1920: 1 8 3 - 2 3 5 ) . Er greift die
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Aufsatzthemen heraus, um an ihnen den Zustand des Unterrichtes an den preußischen Gymnasien zu charakterisieren, führt eine Reihe solcher Themen an und kommt zu dem Schluß: „Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß ein Unterrichtswesen, welches Knaben und unbärtigen Jünglingen Arbeiten wie die eben verzeichneten zumuthet, nichts anderes bewirken kann, als daß die Jugend unserer höheren Stände sich gewöhnt, Anmuth und Würde, naive und sentimentalische Poesie, und alle übrigen ihr zum Beschwatzen vorgeworfenen guten und bösen Dinge nur als Rechenpfennige anzusehen, deren sie nach nicht allzulanger Zeit müde wird: ich bin der Ansicht, daß es mehr tauge, aus der Kenntnis der Sachen das Wort für die Sachen zu finden, als durch die Kenntnis des Worts das Verständnis der Sache einzubüßen" (P. de Lagarde 1878/1920: 184). Hier wird dem Aufsatzunterricht ein Vorwurf gemacht, der ihn noch lange begleiten wird, der Vorwurf, daß er zur Phrase erziehe. Friedrich Nietzsche exemplifiziert den Vorwurf der „pädagogischen Geistesarmut" in seiner Vortragsreihe an der barbarischen Behandlung der deutschen Muttersprache im Unterricht der Gymnasien. In diesem Zusammenhang geht er ausführlich auf „die sogenannte deutsche Arbeit" ein und deckt einen fundamentalen Widerspruch auf. Die durch den Lehrer vollzogene Beurteilung der Aufsätze widerspreche der an den Schüler gestellten Aufgabe. „Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker ein Schüler sich seiner unterscheidenden Eigenschaften bewußt ist, umso persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten" (F. Nietzsche 1872/1977: 201 f.). Gefordert wird „persönliches Gestalten", „Persönlichkeitsarbeit". Das Kriterium für die Beurteilung aber sei genau das Gegenteil: „die uniformierte Mittelmäßigkeit". „Das eigentlich Selbständige, das sich, bei dieser allzu frühzeitigen Erregung, eben nur und ganz allein in Ungeschicklichkeiten, in Schärfen und grotesken Zügen äußern kann, also gerade das Individuum wird gerügt und vom Lehrer zugunsten einer unoriginalen Durchschnittsanständigkeit verworfen" (ebd.: 203). Kurz: „Hier wird Originalität verlangt, aber die in jenem Alter einzig mögliche verworfen" (ebd.). Ein solcher Aufsatzunterricht ist gefährlich, davon ist Nietzsche überzeugt, gefährlich nicht nur für die Entwicklung des einzelnen betroffenen Schülers, sondern auch für den Zustand der gesellschaftlichen Kultur, da „alle Schäden unserer literarisch-künstlerischen Öffentlichkeit hier dem heranwachsenden Geschlecht immer wieder von neuem aufgeprägt werden, die hastige und eitle Produktion, die schmähliche Buchmacherei, die vollendete Stillosigkeit, das Ungegorene und Charakterlose oder Kläglich-Gespreizte im Ausdruck, der Verlust jedes ästhetischen Kanons, die Wollust der Anarchie und des Chaos, kurz die literarischen Züge unserer Journalistik ebenso wie unseres Gelehrtentums" (ebd.).
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Rudolf Hildebrand und seine Schüler Kritik erstand dem deutschen Aufsatzunterricht auch aus den eigenen Reihen. Diese kritische Strömung ist nicht nur älter als die kulturkritische, sondern auch genauer, gerechter im Hinblick auf die historischen und institutionellen Bedingungen des Unterrichtes damals und darum folgenreicher. Die Reformpädagogen haben sie ohne wenn und aber übernommen. Die herausragende Persönlichkeit ist Rudolf Hildebrand (1824—1894). Hildebrand verabscheute alles, was den Schüler hindert, anschaulich, lebendig, ehrlich, kurz authentisch zu schreiben. Und das waren ohne Ausnahme lauter Relikte der alten Schulrhetorik. Daß er die Themen der alten Schulrhetorik ablehnte, die moralisierenden und philosophierenden, aber auch die den übrigen Unterricht lediglich rekapitulierenden, ist nicht weiter bemerkenswert. Das haben andere auch getan (vgl. Paul de Lagarde s. oben). Origineller ist seine Kritik des gymnasialen Aufsatzstiles. Das sei eine Sprache für das Auge, nicht für das Ohr: „dabei kann das Ohr ausruhen oder schlafen (und der lebendige Theil der Seele auch)". Gemeint ist der gelehrte Periodenstil: „da gleitet alles so glatt und klar in weit ausholenden wolgeschwungenen Linien daher, fast wie eine moderne Equipage über eine macadamisirte Straße" (R. Hildebrand 1867/ 1887: 50). Auch dies ein Relikt der Schulrhetorik, letztlich wohl des Schullateins: „stammt doch diese ganze Richtung wesentlich aus der gelehrten Schule, als eine Frucht des angeblich Ciceronischen Lateins, wie es dort weitverbreitet zugerichtet war als Werkzeug, womit den deutschen Jünglingen des 19. Jahrhunderts der letzte Schliff ihrer Geistesbildung beigebracht wurde" (ebd.: 51). Hildebrand begnügte sich nicht mit der Stilkritik, er geht tiefer. Er deckt eine bestimmte Art zu denken auf, die von dem gymnasialen Aufsatz vorausgesetzt und durch ihn entwickelt wird. Er nennt es das „stumme Denken". Drei Eigenschaften bestimmen dieses Denken: (1) der Intellektualismus: „sein Träger und Meister ist der bloße Verstand, der von den Dingen die äußeren Verhältnisse erfaßt und weiter nichts — ihr Inhalt und vollends ihr Leben ist ihm gänzlich unzugänglich"; (2) Die Verselbständigung der Begriffe (das begriffliche Denken): „sein Reichthum ist gedächtnißmäßiges Wissen, wolgeordnet in Fächern über und unter und neben einander, worin die Dinge niedergelegt sind in Form von Begriffen, und seine Fäden werden von einem zum andern gezogen, die das Ganze halten sollen, und das alles mit dem Tröste, daß darin das Wesen der Dinge gerettet sei, so daß den Denker selbst das Gefühl anwandeln kann, daß eigentlich die Dinge selbst zu Grunde gehen könnten und es wäre eigentlich nichts wirklich verloren"; (3) die Abstraktion: „das, was beim Einzelnen die natürliche Krankheit des Geistes ist, dessen Lebenskraft in den Gliedern schwindet, dessen Zusammenhang mit der wirklichen Welt sich langsam löst, während das Gehirn
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noch in seiner Art fort thätig ist, mit dem er aber doch nur noch dem Leben zusehen, nicht mehr mitleben, eingreifen kann". „Diese Abstraction ist die Krankheit unserer Zeit" (ebd.: 51 — 53). Nietzsche hatte einen psychologischen Widerspruch des Aufsatzunterrichts aufgedeckt, den Widerspruch zwischen der Aufgabe und den Erwartungen des Lehrers. Hildebrand ist grundsätzlicher. Er stellt das ganze Konzept in Frage, das Konzept des das Denken des Schülers bildenden Aufsatzes, der aber so, wie er angelegt ist, nur zur Verarmung des Denkens führen kann.
Die Volksschullehrer Nach der Jahrhundertwende verändert sich die Kritik am alten und, wie es jetzt heißt, „gebundenen" Aufsatz grundlegend. Es melden sich die Lehrer selbst zu Wort, zunächst ausnahmslos Volksschullehrer! Es sind nicht einzelne Stimmen, es ist gleich ein ganzer Chor: Heinrich Scharrelmann, Fritz Gansberg, die beiden Bremer; Otto Anthes, Paul Georg Münch, Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus, um nur diese zu nennen. Der Ton der Auseinandersetzung wird schärfer, polemischer, aber auch grober. Das zeigen schon die Titel der Bücher: „Der Papierene Drachen" (O. Anthes 1905/1907), „Rund ums rote Tintenfaß" (P. G. Münch 1908), „Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat" (A. Jensen und W. Lamszus 1910). Man rechnete mit dem alten Aufsatz in einer Weise ab, die dem Leser oft den Atem verschlägt: geistreich, witzig, oft ironisch, stets unbarmherzig und wohl auch ungerecht. Otto Anthes kleidet seine Anklage in einen förmlichen Gerichtsbeschluß (O. Anthes 1905/1907: 90 f.). Ein anderer klagt sich selber an: „Wir Alten sind allzumal Sünder. Wir haben in dem Kinde einen Armen gesehen und haben ihm Pfennige gegeben. Wir haben es ans Maulbrauchen gewöhnt und zu einem Papagei und Sprachrohr gemacht. In der Kindersprache entdecken wir nur Fehler und Gebrechen. Die einzelne Individualität galt uns nichts. Ein Schüler durfte schreiben wie der andere. Je gedrechselter der Stil war, je mehr er unserem Vorbild glich, desto lieber war es uns. Es wurde ,Ein Hirte und eine Herde', eine Gemeinschaft aber von der allertraurigsten Sorte, eine Gemeinschaft, die bloß von solchen geliebt werden kann, die nur Hammel zum Folgen haben wollen" (zit. nach F. E. Fischer 1922: 22). Neu sind nicht so sehr die Argumente, neu ist vielmehr die Tatsache, daß nun alle Teile des alten Aufsatzunterrichtes in die Kritik einbezogen werden: die Themen (O. Anthes 1905/1907: 101 f., 116 f.), die Disposition (P. G. Münch 1908: 33 — 35), die Regeln, die bei der Niederschrift zu beachten waren (O. Anthes 1905/1907: 129-133), der Stil, der dem Schüler nahegelegt wurde, und vor allem die Korrektur der Aufsätze. Alles wurde in Frage gestellt und lächerlich gemacht: „Schulaufsätze pflegen sich durch verkehrte
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Stoffauswahl, durch Gedankenreihen, die nicht aus Interesse am Thema geboren sind — und die infolgedessen auch kein Interesse zu wecken vermögen — durch eine Ausdrucksweise, die die Schönheiten der Lesebuch- und Realienbuchsprache zu erreichen sucht und durch eine pedantische, schriftliche Ausführung auszuzeichnen. Eine Probe mag dies alles veranschaulichen: ,Die Rose. Die Rose ist eine prächtige Zierpflanze. Sie wird daher auch die Königin der Blumen genannt. Aus der Wurzel entspringen holzige Stengel. Die Stengel und Zweige sind mit harten Stacheln besetzt. Die Blätter sind eirund und am Rande haben sie weiche Zähnchen. Die Gartenrose hat viele, die wilde Rose hat fünf Blütenblätter'. Usw., usw. Derartige Aufsätze bestehen nur aus Phrasen. ( . . . ) Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen ( . . . ) etwas über ,die Rose', den ,Frühling', den .Maikäfer' usw. aufzuschreiben. Kein Mensch würde sich freiwillig so gequält, unnatürlich, schnörkelhaft schriftlich ausdrücken, wenn ihm der bekannte Aufsatzstil nicht in der Schule aufgenötigt worden wäre. ( . . . ) Ich meine, die Schule hat von jeher im Aufsatzunterricht falschen Idealen zugestrebt. Der Generalirrtum steckt in dem törichten Glauben, daß es für den Schüler nicht nur gut sei, sondern auch im höchsten Maße bildend und veredelnd auf ihn wirke, über die gleichgültigsten Dinge die unbedeutendsten Urteile mit dem denkbar höchsten Aufwand an Phrase zu Papier zu bringen" (H. Scharrelmann 1905: 9 f.). Die Kritik der reformpädagogischen Volksschullehrer ist zwar breiter angelegt als die von Rudolf Hildebrand, sie erwächst auch aus der konkreten Unterrichtserfahrung, doch erreicht sie nicht dessen Tiefe und Radikalität. Der Hinweis Hildebrands, daß mit der Kritik an dem Aufsatz letztlich eine bestimmte Art zu Denken getroffen sei, wird zwar aufgenommen, aber in seiner kritischen Potenz entschärft. Otto Anthes etwa stellt dem „begrifflichen Denken", das in der Schule vorherrsche, das „anschauliche" zur Seite, versteht das eine als „Ergänzung" des anderen und kann auf diese Weise beiden einen Platz im Unterricht zuweisen (O. Anthes 1905/1907: 1 3 4 - 1 4 0 ) .
Die Gymnasiallehrer Natürlich haben später, sehr viel später, in den zwanziger Jahren erst, auch einige couragierte Gymnasiallehrer gemerkt, daß es mit dem Aufsatzunterricht so nicht weiter gehen konnte. Sehr persönlich ist das Bekenntnis von Martin Havenstein: „Was ( . . . ) wäre eher geeignet, uns den Beruf eines Deutschlehrers nicht segnen, sondern verwünschen zu lassen als die Marter, immer wieder und wieder, zehnmal, zwanzigmal, dreißigmal das niederträchtige, beinahe in jedem Satz verfehlte, den hohen Gegenstand kläglich mißhandelnde Zeug lesen und verbessern zu müssen, das der Durchschnittsprimaner über ,Wallenstein' oder ,Tasso' zu Papier zu bringen imstande ist! Auch die reichlichste,
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kaum noch zulässige Vorbereitung durch den Lehrer ändert an der fluchwürdigen Beschaffenheit solcher Arbeiten nach meiner Erfahrung nichts. (...) Ich selbst — man erlaube mir diese persönliche Bemerkung — habe als Anfänger diese Leiden bis zu dem Grade durchgekostet, daß ich mir jahrelang die Hölle als einen stark geheizten Raum vorstellen konnte, in dem man Aufsätze über ,Wallenstein' und ,Die Jungfrau' korrigiert. Es war daher im wesentlichen ein Akt der Selbsterhaltung, als ich den Beschluß faßte, mir diese Leiden in Zukunft nach Möglichkeit zu ersparen. Es geschah nach einem Aufsatz über ,Macbeth', der diese gewaltige Dichtung so fürchterlich verplattete, daß ich die Korrktur nur unter wirklichen Folterqualen zu Ende brachte und mir dann selber den Eid abnahm, daß ich fortan nie wieder einen Schüler zu einem Aufsatz über eine bedeutende Dichtung zwingen oder nur überreden wolle. Diesen Eid habe ich gehalten und fühle mich seitdem ein ganzes Teil glücklicher in meiner Arbeit als Deutschlehrer" (M. Havenstein 1925: 19 f.). So wettern nun auch die Studienräte gegen den alten Aufsatz: gegen die moralischen und literarischen Themen, die unsinnigen Disponierübungen und vor allem gegen den phrasenhaften, d. h. rhetorisch aufgeputzten oder pubertär verstiegenen Stil der Primaneraufsätze: Wilhelm Schneider (1926), Walter Schönbrunn (1930), Georg Kühn (1930), Fritz Rahn (1930, 1933), um nur einige zu nennen. Neues hatten sie nicht zu sagen, darum erübrigt es sich, weiter auf ihre Kritik einzugehen. Die Kritik war schon längst in eine neue Praxis umgeschlagen. Pädagogische Persönlichkeiten, pädagogische Schulen, ja pädagogische Bewegungen machten von sich reden. Sie alle haben den Aufsatzunterricht nicht unberührt gelassen. Wie unterschiedlich auch die Anregungen für den Aufsatzunterricht jeweils waren, in einem Punkte war man sich einig: Man wollte einen anderen Aufsatz und einen anderen Aufsatzunterricht. Man propagierte „den freien Aufsatz". Frei sollte der Schüler beim Schreiben sein und nicht gebunden wie früher. Die neue Bewegung, die „deutsche", wie man sie nannte, oder die „reformpädagogische", was wohl angemessener ist, hatte bereits in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende eingesetzt. Im Aufsatzunterricht machte sie sich aber erst danach bemerkbar. Die erste Phase in der Entwicklung eines Konzeptes vom freien Aufsatz reichte von etwa 1904 bis 1914, also bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Der Weltkrieg selbst setzte deutlich eine Zäsur. Innerhalb dieser Phase lassen sich drei Schübe erkennen. Die Schübe sind jeweils durch Anregungen bestimmt, die von außen auf den Aufsatzunterricht zukamen. Der erste Schub ging von der Kunsterziehungsbewegung aus, der zweite von der sogenannten Erlebnispädagogik und der dritte schließlich von der Arbeitsschulbewegung.
Die Kunsterziehungsbewegung
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2. Die Kunsterziehungsbewegung „Das Kind hat selbst Kunst, und zwar von Beginn an alle Arten, es zeichnet, malt und knetet, es baut, macht seine Puppen, singt und tanzt, lebt in Geschichten und Märchen, an denen seine Phantasie im Wachen und Träumen fortwirkt, mimt und ulkt, und das Spiel ist wie eine Art Gesamtkunstwerk, in dem sich sein ganzes künstlerisches Leben vereinigt. Von hier aus gesehen erscheint die Kunsterziehung als die naturgemäße Fortsetzung der in diesen Jahren im Kinde arbeitenden Selbstätigkeit. Das war die eigentlich pädagogische Idee der neuen Bewegung. Es handelt sich nur darum, diese Erlebniskraft des Kindes und die aus ihr erwachsene Ausdrucks- und Gestaltungskraft zu bewahren und zu entwickeln" (H. Nohl 1935: 43). Begonnen hatte es mit der Revolte der Künstler in den sechziger Jahren, die dem Gelehrtenideal der Zeit den Kampf ansagten (H. Nohl 1935: 38 — 40). Ausgelöst wurde die Bewegung durch Langbehn's „Rembrandt als Erzieher" (1890): „Rembrandt als Erzieher, das hieß ja: Erziehung durch die Kunst" (H. Nohl 1935: 39). Ihren Höhepunkt bilden die Kunsterziehungstage: 1901 in Dresden, 1903 in Weimar und 1905 in Hamburg (zum folgenden vgl. K. F. Sturm 1930: 2 4 - 3 4 ; H. Nohl 1935; H. Pröve 1950: 84ff.; W. Flitner u. G. Kudritzki (Hrg.) 1961: H. Lorenzen 1966; W. Scheibe 1969/1982: 1 3 9 - 1 7 0 ) . Inspirator, Motor und Organisator der neuen Bewegung war der Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark, einst selber Lehrer. „Praktisch begann Lichtwark mit Versuchen, ein breiteres Publikum für den Besuch der Kunstmuseen zu gewinnen und ihm den Sinn für die Sprache der Künstler zu öffnen. Vorträge und Führungen erwiesen sich als nützlich ( . . . ) . Aber auch die Grenzen dieser belehrend-aufklärenden Methode wurden deutlich. Lichtwark fand, daß das Publikum der Künstler selbst künstlerisch oder mindestens gestaltend aktiviert werden müsse, wenn es ein richtiges Urteil und eine echte Neigung für das Künstlerisch-Schöne erwerben soll. Er wies darauf hin, wie im 18. Jahrhundert der ,edle Dilettantismus' in allgemeiner Übung gewesen sei und wie das in England noch fortdauere. Vor allem suchte er die Jugend zu solchem Dilettantismus zu ermuntern und die Lehrer dafür zu gewinnen" (Flitner 1961: 30). Lichtwark hatte Erfolg. Die Kunst zog ein in die Schulstuben. Eine Bewegung entstand: die Kunsterziehungsbewegung. Eine Mode, ohne Zweifel: „Die Bildhändler hatten gute Tage, in allen Städten des Landes zogen Schulklassen auf halbdüsteren Korridoren an farbigen Reproduktionen vorüber, von dem Rufe nach Kinderkunst hypnotisiert, gliederten sich die Schulvorstände der kleinsten Dorfgemeinden, die ihrem Lehrer kaum einen ausgestopften Vogel in den Schulschrank zu stellen hatten, der Bewegung an. Künstler zeichneten fleißig auf Stein, um den Bedarf zu befriedigen, jeder
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Tag brachte dem Lehrer neue Bilder-Kataloge ins Haus; und es wurde manches wahrhaft künstlerische Bild angepriesen, denn einige von Deutschlands besten Künstlern stellten ihre Kraft in den Dienst der guten Sache. Rund ums Katheder (...) stellt man Bildabdrucke, zu jedem Schmarren wurde eine Prise neuer Kunst hinzugetan, in Konferenzen feierte man das aufprangende Morgengestirn einer neuen Ära". Das schrieb 1908 ein Kenner der pädagogischen Szene, wohl nicht ganz ohne Übertreibung (P. G. Münch 1908: 44; ähnlich H. Scharrelmann 1904, zit. in H. Lorenzen (Hrg.) 1966: 81 f.). Die Kunsterziehungsbewegung beabsichtigte mehr als nur eine Reform des Kunstunterrichtes. Mit dem Ausdruck „Kunsterziehung" war ein pädagogisches Prinzip gemeint, das für jede Art von Unterricht Gültigkeit haben sollte: „Es handelt sich (...) darum, (...) ein neues Unterrichtsprinzip zu beraten, das (...) nicht für diesen oder jenen Unterrichtsgegenstand, sondern für die ganze Erziehung gilt" (A. Lichtwark 1903/1917: 51). Galt der Dresdner Kunsterziehungstag (1901) noch ausschließlich dem Kunstunterricht, Hamburg (1905) der Musik und Gymnastik, so war der Weimarer Kunsterziehungstag (1903) dem Deutschunterricht gewidmet, genauer: „Deutscher Sprache und Dichtung". Hier kam auch der deutsche Aufsatz zu Wort. Die Aufsätze der Schüler als „Kunstarbeit im Kleinen" zu verstehen, dieser Gedanke war nicht neu. 1885, also vor der Kunsterziehungsbewegung und auch vor dem Rembrandtdeutschen, hatte ihn Rudolf Hildebrand in einem kleinen Artikel mit dem charakteristischen Titel: „Die Stilübung als Kunstarbeit" geäußert (vgl. R. Hildebrand 1890: 127-135). Hildebrand entwickelt den Gedanken in zwei Schritten. Zunächst stellt er der Tätigkeit des Künstlers „die Handhabung des Sprachvorrathes" zur Seite, also das was wir heute als Sprachproduktion bezeichnen würden, Sprechen und Schreiben: „Es ist, genau zugesehen, eigentlich durchaus kein Unterschied zwischen der Aufgabe eines Künstlers und dessen, der die Sprache handhabt. Auch dieser muß einen Gedanken- und Empfindungsstoff, der erst als formloser Stoff in ihm liegt und sich regt, zunächst im Geiste so ausgestalten, daß er mit allem Zubehör sich zu einer lebendigen Einheit formt, und muß mit den Mitteln der Sprache diese Einheit dann aus sich hinaussetzen, so, daß jeder Andere an dieser äußeren Erscheinung das Innere, das ihr das Leben gab, wieder erkenne und in sich ebenso nachbilden kann in gleicher Gestaltung, daß also Geist zu Geiste spreche durch die Vermittlung eines außen für sich erscheinenden Lebendigen. Und so im Großen wie im Kleinen, von der Schöpfung des Dichters oder Redners bis zur geringsten Äußerung, die im Alltagsleben zwischen zwei Sprechenden ihr Inneres vermittelt, wie groß oder klein an Gehalt es sei" (R. Hildebrand 1890: 128). Dann bezieht er den Gedanken ausdrücklich auf das „Fertigen der deutschen Aufsätze auf der Schule": „immer handelt sichs um Stoff und Form, die mühsam herauszuarbeiten sind,
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damit ein drittes herauskomme, in dem beide aufgehen: es ist wesentlich Künstlerarbeit im Kleinen, auch mit Künstlernoth und Künstlerfreude" (R. Hildebrand 1890: 130). Das Verfertigen von Aufsätzen als „Kunstthätigkeit", der deutsche Aufsatz als „Kunstarbeit", die Stilarbeit als „Kunstübung", der Schüler als Schriftsteller, wenn auch nur als „kleiner Schriftsteller", das alles findet sich bereits bei Hildebrand! Dennoch hat man sich 1903 in Weimar schwer getan, das didaktische Prinzip der Kunsterziehung auf den Deutschaufsatz anzuwenden. Um es vorweg zu nehmen, es ist nicht viel dabei herausgekommen. Die folgenden Gründe mögen eine Rolle gespielt haben: (1) Obwohl der Vorsitzende, der bekannte Münchner Stadtschulrat Georg Kerschensteiner, die Förderung der Ausdrucksfahigkeit als „das erste und nächste Ziel" bezeichnete, „das Verständnis für den künstlerischen Ausdruck" dagegen als „das fernere" (Kunsterziehung 1904: 20), stand auf der Tagung selbst das literarische Kunstwerk im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, nicht der Aufsatz. „Die erste Phase der kunsterzieherischen Bewegung (blieb, O.L.) im Verstehen stecken" (F. Blättner 1951/1958: 223). (2) Man hatte den falschen Referenten eingeladen. Von dem, was die Kunsterzieher wollten, hatte der Professor aus Stuttgart nicht die mindeste Ahnung. Die „Übung in sprachlichen Formen und Darstellungsweisen", meinte er, sei „die einzige Gelegenheit, wo der Schüler wirklich produziert" (Kunsterziehung 1904: 101). (3) Erfolg und Mißerfolg hingen aber nicht nur von dem Referenten ab. Es zeigte sich, daß die anwesenden Lehrer an der Frage, ob Prinzipien der Kunsterziehung auf den Aufsatzunterricht anwendbar seien, herzlich wenig interessiert waren. Ihnen ging es in erster Linie um die Frage: „Wie weit ist das Kind fähig — vor allen Dingen auch das Kind der Volksschule — auf dem Gebiet der Sprache schöpferisch tätig zu sein?" (Kunsterziehung 1904: 108). Die Antwort kam von einem Lehrer aus Leipzig: „Ich habe diese Frage an die Personen gerichtet, die auch ein gewisses Interesse an unseren Verhandlungen haben, nämlich an die Kinder selbst, und zwar in sehr einfacher Weise, so, daß ich neben den offiziell verlangten guten Aufsätzen noch freie Aufsätze nebenherlaufen ließ, vollständig freie Aufsätze, derart, daß die Zeit, die Wahl des Themas, die Form, kurz alles frei war". Das Ergebnis seiner Beobachtungen hat er dann so zusammengefaßt: „Es waren da von 76 Arbeiten 28 in Mundart geschrieben. Das ist mir sehr wesentlich gewesen, und von der Zeit an habe ich angefangen, in der Schule die Mundart zu pflegen. Ich habe weiter die Erfahrung gemacht, daß die Kinder beim Vorlesen dieser in der Mundart geschriebenen Arbeiten die Sprache ganz selbstverständlich als das gebrauchen, was sie eigentlich ist, nämlich als ein System von Ausdrucksbewegungen. Lassen wir unser Kind in der hochdeutschen Sprache sprechen, so hören wir ein papierenes Deutsch; lassen wir es
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im Dialekt reden, so spricht es sich selbst aus". Er fahrt fort: „Weiter waren unter den 76 Aufsätzen 24, die ich als humoristisch bezeichnen würde, auch ein sehr wichtiger Punkt. Wenn wir das Kind etwas freier arbeiten lassen, so wird der Humor, von dem Jean Paul sagt, daß er der Himmel ist, unter dem alles gedeiht, in die Schule gezwungen werden, auch wenn es der Lehrer nicht wollte. Weiter habe ich auch gefunden, daß die Kinder die sprachlichen Formen, die man gewöhnlich als schwierige bezeichnet, in einer Weise gebrauchen, als wenn das ganz selbstverständlich wäre, ζ. B. die Form des Gesprächs. 24 von 76 Arbeiten sind in Gesprächsform abgefaßt, und es fanden sich auch 2 Theaterstücke dabei, und zu meiner großen Verwunderung, meine Damen und Herren, das letzte: unter 76 Arbeiten fanden sich 20 Gedichte. Ich möchte bemerken, daß es nicht eine höhere Töchterschule, keine höhere Schule, keine höhere Bürgerschule war, sondern eine mittlere Volksschule in Leipzig, also die einfachste Schule, die wir in Leipzig haben, daß es Kinder von Arbeitern waren, die die Gedichte geliefert haben, 20 Gedichte, die natürlich nicht in irgendeiner Weise von mir angeregt waren!" (Kunsterziehung 1904: 108 f.). Die Lehrer interessierte nicht die Frage, ob der Schüler ein kleiner Schriftsteller, der Aufsatz ein kleines Kunstwerk sei, sondern ob und wie Schüler in die Lage gebracht werden können, „daß sie aus eigenem Antrieb etwas aufs Papier bringen, was sie selbst erfahren haben und gern erfahren haben und darum anderen mitteilen möchten" (Kunsterziehung 1904: 112 f.). Die Kunsterziehung konnte auf diese Frage keine bündige Antwort geben. Es ist dann bald still geworden um die Kunsterziehung und die Kunsterziehungsbewegung. 1908 — nur sieben Jahre nach dem Dresdner Kunsterziehungstag — gab Paul Georg Münch den folgenden Lagebericht: „die Kunstbewegung ging vorüber mit Prunk und Prasseln wie ein Lauffeuer. Heute sind die Rufe nach Kinderkunst verhallt; nur die Bildhändler, die diesmal wirklich was ins Geschäft steckten, manches Gute aufs Lager häuften und über die plötzlich abflauende Kunstbewegung von ihrem Standpunkte aus mit Recht verärgert sind, sie geben wohl noch heute durchs Reklamehorn die Parole in die Welt hinaus: Kunst für die Kinder! Zum Händlerruf ist geworden, was vor Jahren Schulmänner forderten" (P. G. Münch 1908: 45). Dennoch! In dem aufsatzschreibenden Schüler heimlich einen Künstler bei der Arbeit zu sehen, diese Vorstellung war zu verlockend für einen Pädagogen, als daß er sie hätte sang und klanglos zu den Akten legen können. O b sie nun zurecht oder unrecht bestehe, sie ist geblieben, vermutlich bis auf den heutigen Tag. „Das Kind arbeitet wie der Künstler", so lautet eine Kapitelüberschrift in dem bekannten Buch „Unser Schulaufsatz ein verkappter Schundliterat" (A. Jensen und W. Lamszus 1910: 146), und so haben sich die Autoren den wie ein Künstler schaffenden Schüler vorgestellt: „Vorstellungen und Bilder (stürmen, O. L.) auf ihn ein (...), daß er mit heißen Wangen eine Welt in sich aufleuchten sieht, die nach außen schwillt und drängt, daß er
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mit fliegender Feder dem Ablauf kaum folgen kann, bis er endlich ermattend den versiegenden Strom bewältigt hat" (A. Jensen und W. Lamszus 1910: 156).
3. Die Persönlichkeitspädagogik Zwei Beispiele „Zuerst stand ich wie vor einem wunderbaren Rätsel, als ich hörte: ,selbst ein Thema wählen' — und noch dazu eine Beobachtung. Bis dahin hatte ich nur meine Phantasie arbeiten lassen und darüber das Nächste, meine Umwelt, vergessen. Man hatte mir gesagt, man müßte in hübschen, gewählten Worten schreiben, und nun hieß es: die einfachsten und natürlichsten Worte nehmen. ( . . . ) J e d e Woche zwei Aufsätze', sagte mein Lehrer. Das war mir etwas ganz Ungeheuerliches! Ich war gewohnt, vierzehn Tage zu einem vom Lehrer gestellten Thema Zeit zu haben. Und ich wußte überhaupt nicht, worüber ich schreiben sollte, ich konnte es nicht begreifen, daß in einem einfachen Gegenstand soviel Stoff stecken sollte. Nur mit großer Mühe brachte ich die beiden verlangten Aufsätze fertig. Da plötzlich — an einem hellen, fröhlichen Frühlingsmorgen — gingen mir die Augen auf. Ich sollte vor der Schule noch etwas besorgen und traf an diesem Tage meinen ersten, gelungenen, freien Aufsatz in der Gestalt meines ,Morgenreiters'. Einen ganzen, langen Tag trug ich mich damit herum; doch am Abend konnte ich es nicht mehr aushalten. Mitten aus dem neuen, unbekannten Gefühl heraus schrieb ich in einem Zuge den Aufsatz in die Kladde. Ohne mich einmal zu besinnen, schrieb ich mit heißem, rotem Kopf, und als ich das Buch zuklappte, war mir, als sei mir ein großer Stein vom Herzen gefallen. Erlöst atmete ich auf. Nun wagte ich mich auch an andere Gegenstände heran". Das berichtet eine siebzehnjährige Schülerin über ihre ersten Erfahrungen mit dem sogenannten freien Aufsatz (zit. bei A. Jensen/W. Lamszus 1912: 154 f.). Daß dies kein Einzelfall war, bestätigt der folgende Bericht. Er stammt von Alice Herdan-Zuckmayer, der Frau des bekannten Schriftstellers. In ihrer Autobiographie schreibt sie, rückblickend: „Ich erinnere mich an die Leidenschaft des Niederschreibens, an die Aussagen zu selbstgewählten Themen, an die kurz bemessene Zeit, die langes Überlegen ausschaltete, und besonders an die Absolution für Rechtschreibung und Interpunktion, die ungehemmte Phantasie erlaubte, ohne an die Regeln zu denken. Das war wie ein Sturm: Rückenwind, heißer, heller Kopf, schnelle Schreibhand. Fräulein Klara sammelte dann die Aufsätze ein und nahm sie mit nach Hause. Nach einigen Tagen brachte sie sie wieder und ließ sie von den Verfassern selbst vorlesen. ( . . . ) Rudi schrieb: ,Ich will entweder Maler der Natur oder Goldarbeiter oder Korbflechter oder Modellierer oder Buchbinder oder am liebsten
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möchte ich Dichter werden, Märchendichter. Aber nie will ich Inschinjör werden, nie, nie, nie, nie!' (...) Mein Nachbar Sixtus hatte zum Thema ,Was alles elektrisch ist4 notiert: ,Vor allem ist die Elektrische elektrisch. Dann die Glocken, Lampen usw. Auch der Blitz, denn wenn die Wolken aneinanderstoßen, so entsteht Licht, was man Blitz nennt.'" (A. Herdan-Zuckmayer 1981: 16 ff.). Was ist das für ein Aufsatzunterricht gewesen? Es war ein Aufsatzunterricht, der sich mit dem Schlagwort vom „freien Aufsatz" verband und den Männer wie Heinrich Scharrelmann (1909 wegen seiner pädagogischen Anschauungen aus dem Bremer Schuldienst entlassen!), Otto Anthes, Paul Georg Münch, die beiden Hamburger Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus, Fritz Gansberg, Otto Karstädt, um nur die wichtigsten zu nennen, konzipiert und natürlich auch praktiziert haben.
Die Ziele und ihre Tradition Diese Pädagogen haben keine Schule gebildet, keine Bewegung ausgelöst, es sind pädagogische Einzelgänger und wohl auch Außenseiter gewesen. In verschiedenen Darstellungen der reformpädagogischen Bewegung werden sie der Kunsterziehungsbewegung zugesellt (W. Flitner/G. Kudritzki (Hrg.) 1961, W. Scheibe 1969/1982, aber auch H. Arendt 1948: 74ff. u.a.). Das ist nicht unbegründet. Alle diese Pädagogen haben von der Kunsterziehungsbewegung gelernt, alle sehen in der Weckung und Förderung der schöpferischen Kräfte des Kindes ein wichtiges Ziel des Aufsatzunterrichtes, und keiner von ihnen hat es sich versagen können, den Aufsatzunterricht in die Nähe des Kunstunterrichtes zu rücken. Weckung und Förderung der schöpferischen Kräfte ist für sie aber nicht alles. Sie gehen bei der Bestimmung der Ziele des Aufsatzunterrichtes noch einen Schritt weiter. Hinter den Kräften des Kindes, den schöpferischen wie denen des Verstandes, sehen sie das Kind selbst: seine Persönlichkeit. Der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit eines jeden Kindes hat aller Unterricht in der Schule zu gelten, an erster Stelle der Aufsatzunterricht. Das etwa ist ihre Zielvorstellung. Wenn man ihre recht unsystematisch vorgetragenen und über ihre Schriften verstreuten Aussagen über die Ziele des Aufsatzunterrichtes zusammenstellt, lassen sich drei Teilziele erkennen: (1) Im Aufsatz soll der Schüler das Persönliche zum Ausdruck bringen — „das, wenn auch geringe, so doch überaus wertvolle Stück eigener Weltanschauung des Schreibers" (H. Scharrelmann 1905: 10). Ein Beispiel: „Ein Musterknabe würde über das Pferd vielleicht schreiben: ,Das Pferd hat 4 Beine'. Ein lebendiger, vollsaftiger Junge jedoch, der sich noch trotz aller Schultyrannei seine Art Welt und Menschen zu sehen bewahrt hat, soll einmal
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geschrieben haben: ,Das Pferd hat vier Beine, an jeder Ecke eines'. Jener konnte nur das konstatieren, was alle anderen sofort sehen: die Vierzahl der Beine. Dieser hingegen wußte demselben Satze noch ein Stück echter Persönlichkeit, ein Besonderes, das nur er selber gesehen, hinzuzusetzen" (H. Scharrelmann 1905: 11). (2) Persönliches zum Ausdruck zu bringen, ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Bildung und Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit, d. h. eine eigene Identität durch das Kind finden, entfalten und stabilisieren zu lassen: „Es ist ein freudiger Wuchs, ein ,an die Dinge sich verlieren', in ihnen sich wiederfinden, in alle Lande sich ausbreiten, sie als sein eigen in Besitz nehmen, und in den Augenblicken des Schreibens: ein Zusammenraffen, ein Behaupten seiner selbst wider die Eindrücke der Umwelt" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 174). (3) Eine festgegründete Persönlichkeit und die Fähigkeit, für sich einen persönlichen Ausdruck zu finden, sind „Grundlagen", auf denen „eine persönliche Ausdruckskultur gedeihe" (A. Jensen/W. Lamszus: ebd.). „Der Mann unserer Sehnsucht, den wir durch unseren Aufsatzunterricht aus einem Schuljungen heranbilden helfen wollen, ist nicht der schreibgewandte Bureauskribent, der den Duden rückwärts aufsagen und einen Schmarren kalligraphisch darstellen kann. Nicht der schneidige Berichterstatter mit seinem prompten Gendarmenstil. Nicht der durch grammatische Studien versimpelte Akademiker mit seinem Oberlehrerstil. Nicht der subalterne Hofmann mit dem verfloskelten, in Ersterbung vollkommenst und ganzest ergebenst verschmachtenden Hotelportierstil. Unser letztes Ziel ist: den horchenden Menschen zu bilden, der aus der Sprache mehr heraushört als die ihm in der Schule eingedrillte Einteilung der Adverbia in Alpha und Beta. Der vielmehr hinter dem Wortgehäuse seiner Muttersprache den Pulsschlag deutscher Kulturgeschichte ticken hört" (P.G. Münch 1908: 116 f.). Ging es den Vertretern der Kunsterziehungsbewegung um Weckung und Förderung der schöpferischen Kräfte im Kinde, so ist der Anspruch, der hier mit dem Aufsatzunterricht verbunden wird, weiter gespannt: es geht allgemein um Persönlichkeitsbildung und im Aufsatzunterricht besonders um eine Kultur des persönlichen Ausdrucks. Eine solche Zielsetzung steht der Persönlichkeitspädagogik näher als der Kunsterziehungsbewegung. So gesehen, ist der freie Aufsatz in die Tradition der Persönlichkeitspädagogik zu stellen (so auch K. F. Sturm 1930: 34 ff., K. Fahn 1958: 78 ff.). Wieder einmal geht eine Idee, die die Reformpädagogen faszinierte, die sie aufnahmen und weiter entwickelten, von Rudolf Hildebrand aus. Im Hinblick auf den Aufsatzunterricht hatte er 1867 geschrieben: „Die Schüler denken und fühlen (...) bei allem, das sie gelehrt bekommen, etwas Eigenes in sich, und in diesen stillen Gefühlen und Gedanken, die neben denen des Lehrers heimlich nebenher laufen, sitzt das Ich des Schülers, das zu bilden ist, darin
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sitzt die Zukunft des Schülers, und da hinein zu greifen mit ordnender Hand, das ist die höchste Aufgabe des Lehrers" (R. Hildebrand 1867/1887: 54 f.). Zu bilden ist also nicht irgendeine Fähigkeit, sondern schlicht und einfach das Ich des Schülers. Der Gothaer Volksschullehrer und spätere Professor der Pädagogik Ernst Linde hat die Anregung aufgegriffen, aus den verstreuten Bemerkungen Hildebrands eine kleine Schrift zusammengestellt mit dem Titel, der der Richtung dann den Namen gab: „Persönlichkeits-Pädagogik", und ist damit zum Begründer einer neuen pädagogischen Konzeption geworden. Persönlichkeiten werden nur durch Persönlichkeiten gebildet. Das war der Grundgedanke. Auf den Lehrer also kam es an. Diese Gedanken münden unmittelbar in die Vorstellungen, die sich Scharrelmann, Anthes, Münch, Jensen und Lamszus vom freien Aufsatz gemacht haben. Auch für sie war die Persönlichkeit des Lehrers wichtig, doch wichtiger war für sie, was sie bei den Kunsterziehern gelernt hatten: die Weckung und Förderung der schöpferischen Kräfte des Kindes. Indem sie die Ziele der Kunsterziehungsbewegung in den Kontext der Vorstellungen stellten, die die Persönlichkeitspädagogik entwickelt hatte, gelangten sie zu ihrem Konzept: Bildung der Persönlichkeit des Kindes durch Weckung und Förderung aller schöpferischen Kräfte in ihm. Unklar ist, welche Bedeutung Wilhelm Dilthey und seinem Erlebnisbegriff in diesem Zusammenhang zukommt. In der Literatur wird sein Einfluß als erheblich eingeschätzt (F. Blättner 1937/1938: 112 ff., H. Arendt 1948: 79 ff., K. Fahn 1958: 79 f., R. Geißler 1968/1974, W. Scheibe 1969/1982: 152 ff. u. a.). Von Erlebnis und Erlebnissen ist in der Tat bei den Pädagogen des freien Aufsatzes auf Schritt und Tritt die Rede. Dennoch gibt es keine Anhaltspunkte für einen unmittelbaren Einfluß Diltheys: weder ein Hinweis auf ihn noch eine Erläuterung des Erlebnisbegriffes, die deutlich seine Spuren aufwiese. Die Tatsache, daß von Erlebnissen gesprochen wird, besagt an sich noch nichts. Im übrigen spricht auch schon das Erscheinungsjahr von Diltheys „Erlebnis und die Dichtung" gegen einen solchen Einfluß. Das Buch ist 1905 erschienen, also zu einem Zeitpunkt, als Heinrich Scharrelmann seine beiden wichtigsten Bücher bereits veröffentlicht hatte und Otto Anthes Schrift vom „Papierenen Drachen" herauskam. Die Konzeption des freien Aufsatzes Bildung der Persönlichkeit durch Weckung, Freisetzung, Entfaltung und Förderung aller schöpferischen Kräfte des Kindes, das war die Zielvorstellung. Wie aber sollte ein solches Ziel in Unterricht umgesetzt werden? Man machte sich die Sache leicht, indem man zwei Prämissen als gegeben nahm. Man nahm an, daß, was das Kind mündlich beherrscht, auch schriftlich geleistet werden kann, der Unterschied zwischen schriftlichem und münd-
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lichem Ausdruck lediglich technischer Art sei: „Weshalb soll das Kind, das mündlich ausdrückt, was es meint, dasselbe nicht auch schriftlich tun können, sobald es sich das Technische des Schreibens angeeignet hat?" (O. Anthes 1905/1907: 95). Weiter nahm man an, daß, wenn Schreiben ein Aus-sichheraus-setzen eines Inneren ist, die äußere Form sich von selbst — also quasi automatisch — finde: „Es ist der Geist, der sich den Aufsatzkörper baut" (P. G. Münch 1908: 10). Die sprachliche Form, die angemessene Aufsatzform bis hin zum sprachlichen Ausdruck, stelle sich umso selbstverständlicher ein, je ungestörter der Prozeß der Exteriorisierung verlaufe. Man hat deshalb später nicht ohne Berechtigung von einem „pädagogischen Expressionismus" (A. Rude 1931: 178) gesprochen. Beide Annahmen sind nicht unproblematisch. Sie haben allenfalls eine eingeschränkte Geltung für Kinder, die gerade damit beginnen, schreiben zu lernen. In einem solchen Fall haben sich mündlicher und schriftlicher Ausdruck noch nicht differenziert, die schriftliche Äußerung ist eher ein Diktat der mündlichen Formulierung als eine Äußerung sui generis, und die schriftliche Mitteilung ist weitgehend noch unmittelbare Wiedergabe der Gedanken und Gefühle des Kindes. Ein solcher Fall kann aber nicht verallgemeinert werden. Das zeigt schon die Tatsache, daß es für ein und denselben Gedanken zwei mögliche sprachliche Formen gibt, die durchaus verschieden sind, eine mündliche und eine schriftliche. In den Prämissen der neuen Konzeption kündigt sich also schon ein Dilemma an. Nimmt man aber einmal die Prämissen als gegeben an, so folgt aus ihnen, daß der beste Aufsatz der ganz freie ist, der beste Aufsatzunterricht, der, „in dem am wenigsten unterrichtet" (P. G. Münch 1908: 40) und dem Schüler freigestellt wird, was auch nur immer freizustellen ist: -das Thema, der Stoff, die Form, die Sprache, aber auch der Zeitpunkt, zu dem er den Aufsatz niederschreibt, und natürlich auch der Ort, es muß nicht unbedingt die Schule sein, und schließlich, ob der Schüler den Aufsatz überhaupt schreibt. Daß diese Freiheit des freien Aufsatzes nicht Willkür und Zufall sein kann, ist immer wieder betont worden: „Was ist nun eigentlich dies verflixte Wort ,frei', das es so manchem angetan hat, daß es ihm unangenehm in die Nase steigt? Es ist eigentlich nicht mehr als ein Schlagwort, das von den Gegnern dahin verstanden wird: laßt die Göhren schreiben, was sie wollen, und wenn sie schließlich ,vom Hemd anfangen zu phantasieren'. Nur immer schreiben lassen und die erzeugten Produkte als Ausflüsse genialer Methode und begabter Köpfe anstaunen! Das Kind als Künstler! Das Kind als Dichter! Hurra! Die neueste Entdeckung! Ist das der freie Aufsatz? Nun, frei ist er insofern, als er sich nicht von Stilmustern erdrücken läßt, er hat sich frei gemacht von sklavischer Nachahmung. Er arbeitet nicht nach Vorlagen, welche der gebundene Aufsatz von der gedeckten Tafel der deutschen Literatur stiehlt, um den Schüler mühsam mit seiner Feder darin herumstochern
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zu lassen. Das ist die Freiheit des freien Aufsatzes; er hat den Stulmannschen Geist (ein veraltetes Prinzip des Kunstunterrichtes, O. L.) auch in seinem Gebiet überwunden. Er hält sich aber, und das ist sein einzigster Kanon, an die Sache, er redet nie, wenn er nicht auf einer Sache ruht, er macht keine Worte, wo er keine Sache in Händen hält, er spricht nicht, weil er kommandiert wurde zu sprechen, er spricht, weil er von einer Sache überfließt" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 15 f.). Diese Feststellung macht deutlich, daß die Freiheit des freien Aufsatzes nicht das Ziel des Aufsatzunterrichtes sein konnte. Das Dilemma des freien Aufsatzes Ziel ist die Bildung einer Persönlichkeit, insbesondere die Ausbildung einer Kultur des persönlichen Ausdrucks. Ein solches Ziel kann nur durch die Arbeit des Schülers an sich, an seinem persönlichen Ausdruck, an seiner Persönlichkeit erreicht werden. Der Lehrer kann ihm dabei helfen. Das Mittel soll der freie Aufsatz sein, der freie, unmittelbare und authentische Ausdruck dessen, was der Schüler erfahren und erlebt hat. Wie aber kann der freie Aufsatz zur persönlichen Ausdruckskultur des Schülers führen? Klafft nicht zwischen beidem, dem Mittel und dem Ziel, ein unüberbrückbarer Graben? Der freie Ausdruck seiner Gedanken und Gefühle ist zwar eine notwendige Bedingung zur Persönlichkeitsbildung, aber diese Bedingung ist nicht hinreichend. Es müssen weitere Bedingungen erfüllt werden. Das Konzept mußte also weiter entwickelt werden. Stellte sich dann aber nicht ein neues Problem, das Helmuth Arendt „das Problem der schriftlichen Darstellung" schlechthin bezeichnet hat: „wie löse ich den Zwiespalt, dem heranwachsenden Kinde die Ursprünglichkeit und Echtheit seines sprachlichen Ausdrucks zu erhalten und doch seine Sprachkraft zu entwickeln?" (H. Arendt 1948: 96). Die Vertreter des freien Aufsatzes haben das Problem gesehen, vielleicht nicht von Anfang an, wohl aber im Verlauf der Entwicklung ihrer Konzeption. Gelöst haben sie es, um es vorweg zu nehmen, nicht. Zwei Lösungsansätze In dem Zeitabschnitt, in dem wir uns bewegen: der Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, hat es zwei Lösungsansätze gegeben. Der eine setzt an bei der Frage nach den Stoffen für die Aufsätze, Heinrich Scharrelmann hat als erster diese Frage gestellt. Der andere geht von den entwicklungspsychologischen Voraussetzungen für alles Schreiben bei den Schülern aus, den sprachlichen sowie auch den kognitiven (logischen) Voraussetzungen. Diesen Weg haben Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus, also die beiden Hamburger unter den Reformern, eingeschlagen. Den beiden Lösungsansätzen entsprechen zwei deutlich voneinander abhebbare Phasen
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in der Entwicklung des reformpädagogischen Programmes für den Aufsatzunterricht. Die Frage nach den Stoffen wird auf zwei verschiedene Weisen beantwortet. Einmal von den Zielen des Aufsatzunterrichtes her. Heinrich Scharrelmann schreibt dazu: „Wenn ( . . . ) die Aufsätze der Kinder viel Persönliches offenbaren sollen, so ist vor allem nötig, daß die Klasse innerlich in Beziehung steht zum Thema, über welches sie schreiben soll. Lebendige Beziehungen aber hat das Kind nur zu den Stoffen, die es erlebt, nicht zu denen, die es nur gelernt hat" (1905: 11). Er gibt darum einem seiner Bücher den Titel „Im Rahmen des Alltags". Die Formulierung ist sehr präzise: der Alltag soll den Rahmen abgeben, innerhalb dessen die Stoffe für die Aufsätze zu suchen sind. — Dann ergibt sich eine Antwort auf die Frage nach den Stoffen aus der Situation des Kindes, das mit dem Schreiben beginnt: „In der ersten Zeit ( . . . ) werde ich dem Schüler nicht sagen können: Schreib, was du willst! Ich würde ihn damit in einen Abgrund von Unsicherheit stürzen. Denn sein kleines bescheidenes Herz ahnt ja nicht, wagt nicht zu glauben, daß seine kindlichen Interessen auch die meinigen sind. Da werde ich ihm auf die Sprünge helfen müssen. Auch nicht, indem ich ihm einen Stoff darbiete; sondern indem ich daran erinnere, was für Stoffe er selbst schon mit seinen Sinnen aufgenommen hat" (O. Anthes 1905/1907: 125). Also auch unter Berücksichtigung der psychischen Situation des Anfängers bieten sich Stoffe aus dem Alltag, dem Erfahrungs- und Erlebnisfeld der Kinder an. Es hat sich bald gezeigt, daß neue Stoffe allein das Problem nicht lösen konnten. Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus (1910): „Ein neues Stoffgebiet, wo man allerlei kindliche Themen finden kann, ist der freie Aufsatz geworden, kein Mittel der Sprachbildung. Das ist es: man weiß nicht recht was mit ihm anzufangen. Was soll man mit den Aufsatzheften anfangen, wenn 40 Kinder freudestrahlend von ihren persönlichen Erlebnissen berichtet haben? ( . . . ) Man kann den der fünften Klasse nicht von dem der ersten Klasse unterscheiden, man kann sie nicht verschieden behandeln. ( . . . ) Die höhere Schule erst hat kaum mehr als ein Lächeln für die Kindereien übrig gehabt. Wir können doch 20jährigen Menschen nicht zumuten, über solche Themen zu schreiben, wie ,Mutter, der Schornsteinfeger kommt' oder ,Wenn wir Wäsche haben* u. dgl. Kinkerlitzchen. Der freie Aufsatz ist von Anfang an von der höheren Schule der Kleinkinderschule überlassen worden" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 12 f.). Auf zwei Punkte kam es den Hamburgern an: (1) Wenn von dem Schreiber eines Aufsatzes nicht mehr verlangt wird, als aufs Papier zu bringen, was in seinem Inneren ist, seine Erfahrungen und Erlebnisse, dann bleibt ein solcher Aufsatz für den weiteren Unterricht unproduktiv. An ihm gibt es nichts zu lernen, weder für den Verfasser, noch für die Klasse. Das etwa ist gemeint, wenn festgestellt wird, daß der Lehrer mit ihm „nichts anzufangen" wisse.
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(2) Mochte es noch angehen, solche freien Aufsätze in den untersten Klassen schreiben zu lassen, um die Kinder überhaupt erst einmal zum Ausdruck ihrer Gefühle und Gedanken kommen zu lassen, so blieb doch immer noch die Frage offen, wie ein solcher Unterricht in den oberen Klassen, vor allem im Gymnasium, fortgesetzt werden sollte. Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus haben sich der Frage gestellt und einen anderen Weg vorgeschlagen. Sie führen in die Überlegungen zu einem neuen Aufsatzunterricht eine Erkenntnis ein, die Kinderpsychologen schon längst selbstverständlich war und nun zunehmend aufgeschlossene Pädagogen überzeugte, die Erkenntnis, daß sich ein Kind entwickelt: „Es verändert, es entwickelt sich, durchläuft Stadien, schreitet von Stufe zu Stufe aufwärts. Und zwar stellen diese Stadien einen gesetzmäßigen Ablauf dar. Jedes Kind durchläuft sie naturnotwendig, vollendet in ihnen seines Daseins Zweck. Und durch die Eigenart dieser Entwicklungsstufen sind der Erziehung ihre notwendigen Schritte vorgezeichnet" (K. F. Sturm 1930: 42). In der Pädagogik schlägt sich diese Erkenntnis in dem Schlagwort nieder „Vom Kinde aus" (vgl. K. F. Sturm 1930: 3 9 - 4 5 , W. Scheibe 1969/1982: 5 1 - 8 0 ) . Man begann die Entwicklung der Kinder zu beobachten. Auf den Aufsatzunterricht angewendet, besagt die Erkenntnis: bevor der Didaktiker Ziele setzt, Normen festschreibt und Methoden entwickelt, muß der Pädagoge erst einmal die natürliche Entwicklung des Kindes beobachtet und festgestellt haben, wie denn nun die kognitive, die sprachliche und vor allem die schriftsprachliche Entwicklung eines Kindes verläuft. Erst auf dieser Grundlage kann er entscheiden, wie ein Aufsatzunterricht auf den ersten freien Erlebnisdarstellungen der Kinder aufzubauen sei. Respektiert er eine solche in dem Kinde angelegte Entwicklung, dann wird er sich hüten, allzu heftig in sie einzugreifen, und sich weitgehend darauf beschränken, sie zu organisieren und in eine Richtung zu lenken, die der natürlichen Entwicklung des Kindes entspricht. Genau dies ist das Programm von Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus. Grundlage der schriftsprachlichen Entwicklung wie der Aufsatzerziehung ist der Ausdruck des individuellen Erlebnisses, der Erlebnisaufsatz: „Erst in dem Augenblick, da wir (...) den Aufsatz auf d^s jeweilig frische und nach Ausdruck verlangende individuelle Erlebnis stellen, haben wir den Aufsatzunterricht auf die natürlichen Sprachstoffe im Kinde gegründet. (...) Es sind die inneren Spannungen, die nach sprachlichen Entladungen drängen. (...) Diese natürlichen Seelenentladungen sind die Stoffe unserer natürlichen Kinderaufsätze. Sie aufzufangen, ist die methodische Voraussetzung des Aufsatzunterrichts" (A. Jensen/W. Lamszus 1912: 73 f.). Von den ersten Erlebnisdarstellungen, dem Ausgangspunkt aller schriftsprachlichen Entwicklungen, der Urform aller schriftlichen Darstellungen
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sozusagen, führt die Entwicklung in zwei durchaus unterschiedliche Richtungen. Die eine zielt auf den ästhetischen, die andere auf den logischen Aufsatz. Im ästhetischen Aufsatz verdichtet sich das, was das Kind gesehen, beobachtet und erfahren hat, zu einem einheitlichen, innerlich geschlossenen Bild: „Jede Situation erzeugt in uns mit Notwendigkeit eine Reihe von Bildern und Vorgängen, die nach einem geschlossenen Bilde drängen" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 76). Gestaltung heißt hier Verdichtung, wohl auch Poetisierung. Im logischen Aufsatz werden nicht Bilder geschaffen, sondern Erkenntnisse gezeitigt. Das einzelne Erlebnis ist Anlaß, Beziehungen zu entdecken: Ähnlichkeiten und Unterschiede, zeitliche, räumliche oder kausale Verhältnisse: „Das erste produktive Ergebnis des logischen Triebes ist die Entdekkung vorher nicht gesehener Zusammenhänge" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 106). Für den Pädagogen kommt es nun darauf an, der Spur dieser im Kinde angelegten Entwicklung zu folgen, diese zu befestigen und auszubauen. Leider hat diese Theorie ein Handicap. Die sprachliche Entwicklung von Kindern war noch nicht lange Gegenstand der psychologischen Forschung (Preyer, Ament, Sully, Wundt, Stern und Neumann). Man hatte die ersten Schritte in der Untersuchung der ersten Lebensjahre eines Kindes getan, also seiner mündlichen Sprache. Die Entwicklung der Fähigkeit zu schreiben war noch kein Gegenstand der Forschung: „da, wo die große Verantwortung des bewußt und systematisch arbeitenden Pädagogen einsetzt, ist es mit allen Sprachbeobachtungen vorbei" (A. Jensen/W. Lamszus 1910: 17). Die Pädagogen mußten sich also damit behelfen, selber Daten zusammenzutragen. Sie taten es, indem sie die Aufsätze der Schüler aufbewahrten, veröffentlichten und vor allem auswerteten, um auf diese Weise Linien der kindlichen Schreibentwicklung aufzudecken. Zufallig zusammengetragene Beobachtungen sind aber als Grundlage einer psychologisch begründeten Aufsatzdidaktik unzureichend. Dieser Mangel war den beiden Hamburger Reformern durchaus bewußt. In der ersten Phase der Entwicklung ihrer Konzeption (etwa 1904 — 1910) haben die Reformer dem freien Aufsatz nicht nur ein neues, sondern das ihm allein angemessene Stoffgebiet erschlossen: den Alltag des Kindes. In einer zweiten, aber nicht abgeschlossenen Phase (etwa 1910 — 1911) wiesen Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus auf eine überaus bedeutsame Grundlage des Aufsatzunterrichtes hin: die psychische Entwicklung der Kinder. Dieser Hinweis konnte aber noch nicht aufgenommen werden.
4. Die Arbeitsschule Zwei Voraussetzungen Die Kunsterziehungsbewegung hatte dem deutschen Aufsatz einen neuen Stoffbereich erschlossen: das eigene Erleben der Kinder. Offen blieb das Ziel
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des Aufsatzunterrichtes. An dieser Stelle setzt die Persönlichkeitspädagogik ein. Das Kind als eine zwar noch nicht fertige, jedoch als eine werdende Persönlichkeit, daraus ließ sich ein Ziel des Aufsatzunterrichtes ableiten: die Persönlichkeitsbildung. Die Frage, wie Persönlichkeitsbildung im Aufsatzunterricht erreicht werden kann, fand schließlich eine Antwort im Rahmen der Arbeitsschulbewegung. Durch Arbeit bildet sich eine Persönlichkeit. Schreiben ist Arbeit. Also ist Schreiben geeignet, freie, denkende und autonome Persönlichkeiten zu bilden. Die Vorstellungen, die im Rahmen der Arbeitsschule entwickelt worden sind, setzten also logisch und wohl auch historisch die Vorstellungen der Kunsterziehungsbewegung und der Persönlichkeitspädagogik voraus. Aber auch der Arbeitsschulgedanke bedurfte einer Erweiterung, bevor er auf den Aufsatzunterricht Anwendung finden konnte. Faktisch wurde dieser Schritt 1911 auf dem ersten Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde zu Dresden vollzogen. Kerschensteiner vertrat die herkömmliche Position, die Beschränkung des Arbeitsschulgedankens auf manuelle Arbeiten: „Die ungeheuere Mehrzahl aller Menschen im Staate steht im Dienste der rein manuellen Berufe und dies wird für alle Zeiten Geltung haben. ( . . . ) Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit für die Organisation der Volksschule die Forderung des fachlichen, systematisch sich entwickelnden Arbeitsunterrichtes und diese Notwendigkeit wird verstärkt durch den Umstand, daß auch die geistige Entwicklung der Massen mangels frühzeitiger hervorragender Begabung unweigerlich auf den Boden der Erziehung durch manuelle Arbeit gestellt werden muß" (Erster Deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde 1912: 10). Demgegenüber forderte Gaudig die Aufhebung aller Beschränkungen des Arbeitsschulgedankens, der Beschränkung auf die staatsbürgerliche Erziehung, die Volksschule und vor allem die manuelle Tätigkeit. „Nicht staatsbürgerliche, sondern Persönlichkeitserziehung!" (ebd.: 13). Hier finden wir den Einfluß der Persönlichkeitspädagogik wieder. „Die stärkere Betonung der manuellen Tätigkeit wird den Wert der deutschen Schule erhöhen. Aber die Reform, deren die deutsche Schule bedarf, wird durch die manuelle Arbeit nicht erreicht. Um sich reformieren zu können, muß die deutsche Schule allerdings ,Arbeitsschule' werden, aber Arbeitsschule in dem Sinne, daß die s e l b s t t ä t i g e A r b e i t d e s S c h ü l e r s die den Charakter der Schule bestimmende Tätigkeitsform ist. In dieser Arbeitsschule soll der Schüler während der gesamten Arbeitsvorgänge selbsttätig sein; selbsttätig beim Zielsetzen, selbsttätig beim Ordnen des Arbeitsganges, selbsttätig bei der Fortbewegung zum Ziel, selbsttätig bei den Entscheidungen an den Kreuzwegen, selbsttätig bei der Kontrolle, bei der Korrektur usw." (ebd.: 15). Statt „Selbsttätigkeit" wird Gaudig später sagen „freie, geistige Tätigkeit des
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Schülers". Aber das gehört bereits in eine andere Phase der Entwicklung des Arbeitsschulgedankens. Erst der Schritt von der manuellen Arbeit zur Selbsttätigkeit erlaubte eine Anwendung des Arbeitsschulgedankens auf den Aufsatzunterricht. Denn Schreiben ist eine Form geistiger Arbeit, und die freie Abfassung von Texten, etwa freier Aufsätze, erfordert alles, was Gaudig angeführt hatte: Selbsttätigkeit bei der Aufstellung eines Schreibzieles, Selbsttätigkeit bei der Entwicklung eines Schreibplanes (der Gliederung), Selbsttätigkeit beim Schreibakt, Selbsttätigkeit schließlich auch bei der Formulierung, der Kontrolle des Geschriebenen und der Korrektur. Die Aufsatzreformer haben sich schwer getan, den Arbeitsschulgedanken aufzugreifen und in ihre Überlegungen einzubeziehen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges handelt es sich lediglich um Annäherungen. Eine durchdachte und ausformulierte Konzeption von einem Aufsatzunterricht auf der Grundlage des Arbeitsschulgedankens ist erst nach dem Ersten Weltkrieg gefaßt worden: zu Beginn der zwanziger Jahre. Erste Versuche (vor dem Kriege) 1911 hatte Otto Anthes, der Verfasser des „Papierenen Drachens" (1904), dem Dresdner Kongreß einige Leitsätze unter dem Titel: „Das Prinzip der Arbeitsschule angewendet auf den deutschen Sprachunterricht" vorgelegt (Erster Deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde 1912: 43 — 44). Alles, was Anthes dazu zu sagen hat, beschränkt sich jedoch auf die Aussage: „Die Arbeitsschule wird darauf ausgehen, die jedem Kinde eingeborenen sprachlichen Kräfte zu entwickeln dergestalt, daß es sich seinen eigenen sprachlichen Ausdruck zu schaffen befähigt wird" (ebd.: 44). Das hatten bereits die Kunsterzieher gefordert. Immerhin zeigt das Beispiel, daß die Aufsatzreformer sich der Arbeitsschule zu nähern begannen. Heinrich Scharrelmann, auch ein Reformer der ersten Stunde, suchte einen Ausweg aus der Sackgasse, in die sich der freie Aufsatz manövriert hatte, und glaubte ihn in einer Richtung zu finden, auf die ihn die Arbeitsschule gebracht haben könnte. 1912 berichtete er darüber: „Ich habe lange vergebens gesucht und geforscht. Manchmal trat mir in meiner Verzweiflung sogar der Gedanke vor die Seele: Ist es auch ein Irrweg gewesen, den du ( . . . ) gewiesen hast? Sollte es auch eine Sackgasse gewesen sein, an deren Ende dir wieder das alte Schulelend entgegengrinst? Eines Morgens kam mir ,zufallig' ein Lichtblick. ( . . . ) Die Klasse mußte vor größere Aufgaben gestellt werden. Alle Kräfte müssen sich vereinigen, um ein größeres Ganzes zu schaffen, und das nicht einmal, sondern mehrere Male. Bis durch diese größeren Aufgaben sich die Gestaltungskraft so sehr gestärkt hat, daß sie sich aufs neue sehnt nach höheren Zielen" (H. Scharrelmann 1912: 199). Scharrelmann ließ nun
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Serien inhaltlich zusammenhängender Aufsätze schreiben, die zu einem Buch vereinigt werden sollten. Die Beiträge der einzelnen Schüler mußten ausgewählt, in ein Verhältnis zueinander gebracht und aufeinander abgestimmt, d. h. beurteilt, kritisiert und eventuell umgearbeitet werden. So sollten die Schüler im Kollektiv der Klasse lernen, Texte zu gestalten. Ernst Heywang bewegte sich in einer ähnlichen Richtung auf die Arbeitsschule zu (E. Heywang 1913/1921: 1914; 1930). Auch für ihn beginnt die Arbeit an den Aufsätzen erst, nachdem sie geschrieben worden sind: „Wir lesen uns gegenseitig unsere Arbeiten vor. ( . . . ) Da liest ein Kind seine etwas steif geartenen Ausführungen. Ihm folgt eines, das seine Darstellung frisch, farbig und lebensfrisch angreift. Und jedes merkt den Unterschied. Auch das erste Kind. Und es entnimmt dem Gehörten eine Anregung für seinen späteren Aufsatz" (E. Heywang 1913/1921: 138). Heywang begnügte sich nicht mit dem beim Vorlesen von den Schülern stillschweigend vorgenommenen Vergleich: „Nachdem ein Aufsatz gelesen ist, manchmal auch zwei oder drei, schreiten wir zur Beurteilung. Diese stellt fest, wie die Arbeiten allgemein zu beurteilen sind. ,Zu knapp!' ,Zu lang.' ,Sehr schön.' ,Mir hat sie gut gefallen.' ,Sie ist netter als meine.' ( . . . ) Wir lassen es aber bei dem allgemeinen Urteil nicht bewenden, auch ins Einzelne treten wir ein" (ebd.: 139). So etwa sieht die Arbeit an den Aufsätzen aus. Ist das schon ein Aufsatzunterricht im Sinne der Arbeitsschule? Ich weiß es nicht. Tatsache aber ist, daß Heywang das so sah. Er rechnete sich ausdrücklich der Arbeitsschule zu und beanspruchte, den Arbeitsschulgedanken in die einklassige Volksschule eingeführt zu haben (vgl. E. Heywang 1913/1921: 1 - 1 8 ) . Erst bei Otto Karstädt (1912) ist der Einfluß der Arbeitsschule auf den freien Aufsatz deutlicher erkennbar. Man kann es auch anders ausdrücken: „Zweifellos die stärkste Stütze für den freien Aufsatz in der arbeitsschulmäßigen Ausprägung kam von Otto Karstädt" (K. Fahn 1958: 104 f.). Gemeint ist das Buch: „Vorbereitung für den Deutschunterricht. Freie Aufsätze und Niederschriften aus Erfahrung und Unterricht" (O. Karstädt 1912/1926). Karstädt hat den Begriff des freien Aufsatzes präzisiert. Frei ist für ihn ein Aufsatz nicht schon dann, wenn es dem Kind gelungen ist, seine eigenen Gedanken und Erlebnisse mitzuteilen, sondern erst, wenn es dafür auch den ihm eigenen Ausdruck und die ihm angemessene Darstellungsform gefunden hat. „Der freie Aufsatz ist also ein Darstellungs-, kein Stoffgrundsatz" (XI). „Das geistige Sehen und die sprachliche Darstellung mit den eigenen Hilfsmitteln der jeweiligen Altersstufe, das ist das Wesen des freien Aufsatzes. Hierdurch eben wird der Aufsatz zu einem der Hauptgrundsätze der Arbeitsschule im vergeistigten Sinne erhoben" (ebd.: 63). Karstädt hat aus diesem Grundsatz sieben Folgerungen gezogen. Die wichtigsten sind diese (vgl. 60 — 67): „Der freie Aufsatz ist nicht auf die Wirklichkeit des Erlebens beschränkt. Die künstlichen Grenzpfahle zwischen
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dem wirklich-sinnlichen und dem phantasiemäßigen Erleben sind in den Freien Aufsätzen niederzureißen". Neben dem Erlebnisbericht wird also die Phantasiegeschichte zugelassen. Auch die Abhandlung findet wieder ihren angestammten Platz im Ensemble der Aufsatzformen: „Der freie Aufsatz kann mehr persönlicher oder sachlicher Art sein. Läßt der Darsteller sich selbst hinter den Sachen möglichst zurücktreten, so entsteht der wissenschaftliche Aufsatz. Auch der soll ,frei', d. h. mit eigenen Denk- und Sprachmitteln erarbeitet sein". Da der Wert der Phantasiegeschichte von den Reformern nie ernsthaft bestritten worden ist und auch die Abhandlung hier und da erwähnt wurde, ist es bedeutsamer, daß Karstädt nun auch wieder die Stoffe aus dem übrigen Schulunterricht berücksichtigt wissen wollte: „Der freie Aufsatz kann ebensogut wie aus dem wirklichen und vorgestellten Erleben aus der Unterrichtsarbeit erwachsen. Jedes Fach, jeder Inhalt, jede Stunde bieten reichlich Anregung für die Darstellung — sei es Ausspinnen, Ergänzen, Veranschaulichen, Anwenden, Fabulieren — und das alles mit eigenen Gedanken — und sprachlichen Mitteln". Im freien Aufsatz wird die Arbeitsschule für Karstädt „im vergeistigten Sinne" repräsentiert. So lautet die 4. Folgerung: „Ich möchte den Freien Aufsatz zu einem der allgemeinen Unterrichtsgrundsätze überhaupt erhoben wissen. Das Erweitern des Erlebens zum geistigen Miterleben fremder Seeleninhalte und des nicht leiblich geschauten Geschehens, und das sprachliche Darstellen der durch Einfühlung und Nachschaffen erworbenen Erlebnisse ( . . . ) ist Voraussetzung der geistigen Selbsttätigkeit" (ebd.: 3). Das Prinzip des freien Aufsatzes wird also auf den gesamten Unterricht ausgedehnt. Fritz Gansberg (1914) greift viele Anregungen Karstädts auf und führt sie aus. Auch er will dem freien Aufsatz „neue Möglichkeiten" (F. Gansberg 1914: VI) erschließen. Auch er sieht in der Aufsatzreform eine „Unterrichtsreform" (ebd.: VI). Man könne den Aufsatzunterricht aber nicht reformieren, ohne gleichzeitig auch den übrigen Unterricht zu verändern. Der freie Aufsatz erfordere eine Reform des gesamten Unterrichtes. Denn „er ist der eigentliche Nährboden des Aufsatzes" (ebd.: III), wie umgekehrt der gesamte übrige Unterricht „naturgemäß im Aufsatz" gipfele (ebd.: 367). Das kann nur heißen: eine Aufsatzform ist nur in einer neuen Schule möglich. Es ist anzunehmen, daß Gansberg die Arbeitsschule gemeint hat (vgl. 151). Er sieht den Aufsatzunterricht unter dem Gesichtspunkt der Produktivität — kindlicher Produktivität. Produktiv ist das Kind aber, lange bevor es Aufsätze zu schreiben beginnt. Darum hat der Aufsatzunterricht die Entwicklungen, die bereits stattgefunden haben, aufzunehmen und fortzuführen: „Wir können also nichts Besseres tun, als das fortzusetzen, was das Kind vor der Schulzeit bereits in der glücklichsten Weise begonnen hat — die geistige Eroberung der Umwelt durch produktive Darstellung und Umgestaltung im kleinen Modell. So gut wie das Kind mit den Stubengerätschaften oder mit Sand oder mit Papier
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und Farbe (...) ein Stück der Welt nachahmte, so gut kann es auch im freien Aufsatz die Erscheinungen der Welt sich vergegenwärtigen und die beliebige Um- und Ausgestaltung der Lebensvorgänge im Aufsatz als ein ergötzliches Spiel liebgewinnen" (ebd.: 134). Der Aufsatzunterricht wird vorbereitet mit der Arbeit an kindlichen Begriffen. Was Gansberg gemeint hat, kann man am besten an einem Beispiel klarmachen: „,Da sprangen eine Menge Gefangene auf und davon', hatten wir gesagt; nicht wahr, das Wort ,gefangen' erregt unsere Aufmerksamkeit. Hier sind es ja nur dumme Strohhalme, die von ihresgleichen zu einem Bündel zusammengepreßt werden, und wir können noch lachen über den komischen Vergleich, aber unser Mitleid wird gleich rege, wenn es sich um denkende und empfindende Geschöpfe handelt, wenn wir arme Singvögel im engen Stubenbauer hin- und herhüpfen sehen, wenn wir das eingesperrte Eichhörnchen sehen, das in rasendem Wirbel in seinem Drahtkäfig herumfährt; ja, auch der Löwe, der Eisbär und der Seeadler erregen in ihrer traurigen Lage unser Mitleid. Wieviel mehr sollten wir uns nicht die traurige Lage von Menschen vor Augen halten, die ihrer Freiheit beraubt sind. Wir wissen alle, wie es den armen Kranken zumute ist, die an schönen Sommertagen, wenn die Stadt wie ausgestorben ist, im Bette zubringen müssen. Wir haben auch Mitleid mit den armen Kerlen, die man wohl im Bahnhofsgewühl sieht, wenn sie von Schutzleuten rasch zum Gefangenenwagen gebracht werden. Sind sie nicht vielleicht von ihrer Jugend an schon in schlechte Gewohnheiten hineingedrängt worden? Sind das nicht auch Gefangene, die sich von ihren Angewohnheiten nicht frei machen können? — Und so kann uns auch das Thema .gefangen' vielerlei Szenen des Lebens in Erinnerung zurückrufen" (ebd.: 47). Auf diese Weise werden viele Begriffe expliziert: „Ein jeder Griff in das Wörterbuch der kindlichen Sprache wird uns mit einem lohnenden Aufsatzthema versorgen; denn in jedem Begriffswort, das sich das Kind aneignet, steckt eine Unzahl von Erlebnissen und Beobachtungen, und erst diese persönlichen Eindrücke ergeben in ihrer Summe den Begriff des Wortes" (ebd.: 48). Die Arbeit an Begriffen mündet wie von selbst in den Aufsatzunterricht. Den Erlebnisaufsätzen, der Aufsatzform, die die strengen Reformer als einzige gelten ließen, begegnet Gansberg mit einer gewissen Reserve: „die Allgemeinheit kann mit diesen Alltagserlebnissen nichts anfangen. Denn sie haben fast nur individuellen Wert. Wir begrüßen sie als eine gesunde Reaktion gegen die kurzsichtige und engherzige Gängelung des sogenannten gebundenen Aufsatzes, aber eine neue Zielsetzung können wir in ihnen doch nicht erblicken" (ebd.: 213 f.). Dennoch sind auch diese Aufsätze nicht ganz überflüssig, vorausgesetzt es kommt zu einer „ernsten Arbeit" (ebd.: 136): — Vergegenwärtigung vergangener Eindrücke in „inneren Bildern des Lebens" (ebd.: 22)
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— Konzentrierung und Sammlung: „er (der Schüler, O. L.) muß eine Sache, die er einmal angepackt hat, festhalten; er muß nach den ersten einleitenden Sätzen und tastenden Schritten recht bald den Punkt zu finden verstehen, wo die Gedanken von allen Seiten zuströmen" (ebd.: 135) — Unterordnung der Eindrücke, Beobachtungen und Erfindungen unter einen Hauptgedanken oder zumindest Abstimmung aufeinander (ebd.). Nur so gewinnt der Aufsatz „Geschlossenheit, Einheitlichkeit und Abrundung" (ebd.). Nur so kann die Erlebniserzählung „die Grundlage unseres Unterrichtes" werden (ebd: 103). Erfundene Geschichten sind Gansberg mindestens ebenso wichtig wie Erlebniserzählungen. In ihnen werden „Lebensmöglichkeiten" (nicht gelebtes Leben) konstruiert (ebd.: VII), und die Entwicklung von Lebensmöglichkeiten ist eine Angelegenheit, die die ganze Klasse angeht: „damit können wir ja am allerbesten die Aufmerksamkeit der Klasse einfangen und auf einen Brennpunkt richten. Niemals werden auch die Bilder des Lebens so scharf geschaut, (...) die höchste geistige Aktivität, die größte Energieaufwendung und die stärkste intellektuelle Wirkung erzielt" (ebd.: 29 f.). Was die erfundene Geschichte für die Unterstufe, das ist die Abhandlung — „die kindliche Abhandlung" — für die Mittel- und Oberstufe: „Die Abhandlung ist (...) eine ebenso natürliche Aufsatzform wie die Erzählung und Schilderung; denn (...) auch in dem kleinen Schüler steckt schon ein angehender Philosoph. Aus den Erlebnissen und Beobachtungen bildet auch er sich eine ,Ansicht', die dann über seine kleine Lebenspraxis entscheidet. So mischen sich auch in die Erlebnissätze ganz von selber Sätze allgemeinen Inhalts, Behauptungen, Meinungen und Zusammenfassungen, wenn auch anfangs vielleicht sporadisch. (...) Das sind die Keime zu den späteren Abhandlungen" (ebd.: 216). Im Unterricht kommt es lediglich darauf an, „die bunten individuellen Erinnerungen durch übergeordnete Gedanken zusammenzufassen" (ebd.: 8), sie „mit denen von den Generationen überlieferten Erfahrungen in Beziehung zu bringen" und auf diese Weise „die in der Freizeit außerhalb der Schule erworbenen Anschauungen und Erfahrungen zu bearbeiten, zu ordnen, zu werten" (ebd.: 23). Wie Gansberg zu seiner Systematik der Aufsatzformen gelangt ist, ist unschwer zu erkennen. Sie stimmt überein nicht nur mit der von Otto Karstädt, sondern, was bemerkenswerter sein dürfte, auch mit der von Jensen und Lamszus (1910). Diese hatten ihre Systematik entwicklungspsychologisch begründet, das heißt, die kindliche Entwicklung von Fähigkeiten zugrundegelegt, und kamen so zu der Vorstellung, daß sich aus den Erlebnisaufsätzen als der natürlichen Basis allen Schreibens in der Schule durch Differenzierung der ästhetische und der logische Aufsatz herausbilde (vgl. VIII. 3). Karstädt und Gansberg haben lediglich die alten Termini „Phantasiegeschichte" und „Abhandlung" wiedereingesetzt. Man kann also feststellen,
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daß sich sowohl im Rahmen der Persönlichkeitspädagogik als auch der Arbeitsschule ein und dasselbe Schema abzeichnet: Erlebniserzählung / \ Phantasiegeschichte
Abhandlung
Dieses Schema ist in mehrfacher Hinsicht neu. Die Zahl der Aufsatzformen ist drastisch reduziert. Nur noch drei Aufsatzformen spielen eine Rolle. Zwischen ihnen werden Beziehungen hergestellt. Nicht mehr der Weg vom Einfachen zum Schwierigeren bestimmt das Curriculum, sondern die Vorstellung von einer Basis, die sich ausdifferenziert. Schließlich werden die Beziehungen genetisch begründet. Der Ausbau (nach dem Kriege) Die Arbeit von Gansberg über den freien Aufsatz war die letzte, die noch vor dem ersten Weltkrieg erscheinen konnte. Während des Krieges stand einem nicht der Sinn nach Reformen. Soweit mir bekannt ist, kam in dieser Zeit in Deutschland keine reformpädagogische Arbeit zum Aufsatzunterricht heraus. In der Schweiz erschien das Buch von Otto von Greyerz (1914), in Österreich das von Karl Linke (1916). Ihnen ist kein deutsches an die Seite zu stellen. Erst die Jahre unmittelbar nach dem Kriege waren wieder günstig für neue Ideen und vor allem für die Verwirklichung von Reformen. Große Hoffnungen hat man in die Arbeitsschule gesetzt. Davon zeugt die Tatsache, daß der Arbeitsunterricht neben der Staatsbürgerkunde ausdrücklich in der Weimarer Verfassung von 1919 aufgeführt wird. In Artikel 148 heißt es dort: „Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen" (vgl. E. R. Huber (Hrg.) 1966: 150). Damit hatte der Arbeitsunterricht Verfassungsrang. Es ist wohl nicht allein diesem Umstand zuzuschreiben, daß der Arbeitsschulgedanke sich zunehmender Anerkennung erfreute. 1920 schrieb Ernst Heywang: „Vor einem Jahrzehnt gärte der Arbeitsschulgedanke. Heute ist mehr Klarheit gekommen. Auswüchse sind abgestoßen; aber auch der Widerspruch hat sich mäßigen und das Berechtigte des Gedankens anerkennen müssen" (E. Heywang 1920: 1). Lehrer folgten in ihrem Unterricht den Prinzipien der Arbeitsschule. Ganze Schulen wurden auf der Grundlage des Arbeitsschulgedankens eingerichtet. Der Arbeitsschulgedanke schien Wirklichkeit zu werden. 1911 hatte Hugo Gaudig auf dem Ersten Deutschen Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde eine Erweiterung des Arbeitsbegriffes gefordert, damit der Arbeitsschulgedanke auf jede Art von Unterricht Anwendung finden könne. Nicht nur manuelle Arbeit, sondern jede Form von Arbeit,
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vor allem auch die geistige, sollte für die Arbeitsschule bestimmend sein. Nach dem Kriege haben Gaudig und seine Schüler diese Vorstellungen systematisch ausgebaut. Auf der einen Seite wird das Ziel allen Unterrichtes genauer bestimmt: die Bildung wacher, kritischer und kulturfahiger, d. h. freier Persönlichkeiten, auf der anderen Seite der Weg dahin deutlicher markiert. Die Devise lautet nicht mehr nur: „selbsttätige Arbeit des Schülers", sondern „freie, geistige Tätigkeit", und freie, geistige Tätigkeit ist „ein Handeln aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbstgewählten Bahnen, zu freigewählten Zielen" (H. Gaudig 1922/1925: 33). Auf die Methode kam es also vor allen Dingen an. Diese hat Wilhelm Flitner so charakterisiert: „Während Kerschensteiner die Unterrichtsmethode auf den Arbeitsvorgang gründete und dabei das Modell selbständigen handwerklichen Arbeitens im Sinne hatte, fand Hugo Gaudig ein Prinzip der Arbeitsschule, indem er die Herbartsche Unterrichtsmethode in eine Form der ,freien geistigen Schularbeit* umformte. Herbart und seine Schüler (...) hatten das Lehren in eine psychologische Ordnung gebracht, indem sie den Lernvorgang zergliederten und auf die innere Gliederung der möglichen Lerninhalte bezogen. (...) Hugo Gaudig erkannte die Einseitigkeit der Herbartschen Lehrmethode: sie überließ die (...) Bearbeitung des Lehrstoffes allein dem Lehrer, während der Lernende im wesentlichen folgen mußte, rezeptiv sich verhielt und mit seinen freudig nach Tätigkeit verlangenden Kräften unbeschäftigt blieb. Gaudigs Verfahren der freien geistigen Schularbeit ist eine Umkehrung des Herbartschen Verfahrens insofern, als er die Kinder in den Besitz der Methode setzen will. Sie sollen selbst das neue Lehrstück nach Regeln bearbeiten" (W. Flitner in W. Flitner/ G. Kudritzki (Hrg.) 1961: 28). Erst in der Ausprägung, die Hugo Gaudig und seine Schüler dem Arbeitsschulgedanken gegeben hatten, war dieser auf den Deutschunterricht und das heißt auch auf den Aufsatzunterricht anwendbar. Die Einsicht, daß, um Erfolg zu haben, eine Reform des Aufsatzunterrichtes nicht isoliert betrieben werden kann, wurde allgemein akzeptiert. Die Reform des Aufsatzunterrichtes setzt bis zu einem gewissen Grade die des gesamten Unterrichtes voraus. Darum steht von nun an bei den Deutschdidaktikern die Reform des Deutschunterrichtes insgesamt im Mittelpunkt des Interesses. Diesem Ziel wurde die Aufsatzreform untergeordnet. So lauten die Titel der wichtigsten Bücher auch: „Vom Deutschunterricht in der Arbeitsschule", „Methodik des deutschen Unterrichts". Sigismund Rauh mußte erst ein Buch mit dem Titel: „Die Grundfragen des Deutschunterrichtes" schreiben (S. Rauh 1923 a), bevor er ein zweites zum Aufsatzunterricht herausgeben konnte. Die Verlagerung des Interesses von der Aufsatzreform zur Reform des Deutschunterrichtes erklärt wohl auch die Tatsache, daß die Reform des Aufsatzunterrichtes nicht mehr als so dringlich empfunden wurde wie zuvor. Nur wenige Deutschdidaktiker
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haben sich eingehender mit dem deutschen Aufsatz beschäftigt: Lotte Müller (1921), Susanne Engelmann (1926) und der eben erwähnte Sigismund Rauh. Die Arbeitsschule war eine Schule für das Leben. Die Arbeit in der Schule sollte auf die Arbeit im Berufsleben vorbereiten. Das hatte auch für den Schreibunterricht, wie man gerne statt „Aufsatzunterricht" sagte, zu gelten. Das bedeutet, daß Formen alltäglichen Schreibens, vom Brief bis zu spezifischen Büroarbeiten (den sogenannten Zweckformen des Schreibens, die in der Volksschule seit ihrem Bestehen immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten), in den Aufsatzunterricht Aufnahme fanden, dagegen alle mehr oder weniger schulischen Aufsatzformen, wie die Schilderung, aber auch die Erzählung, auf Reserve stießen. Die Frage nach geeigneten Schreibformen wurde zu dem Problem, das die Aufsatzdidaktiker der Arbeitsschule am dringlichsten empfanden und dessen Lösung sie miteinander verband. In anderen Fragen gingen ihre Wege oft weit auseinander. Von Sigismund Rauh, einem Berliner Stadtschulinspektor, sind zwei Bücher zum Deutschunterricht 1923 posthum erschienen. Hier interessiert nur das zweite: „Der deutsche Schulaufsatz und seine Umgestaltung" (S. Rauh 1923). Rauh hat in der Aufsatzdidaktik den Arbeitsschulgedanken am konsequentesten und originellsten vertreten, er ist aber auch am wirkungslosesten gewesen. Konsequent war er in der Anwendung des Arbeitsgedankens auf den Aufsatzunterricht, indem er Schreiben als eine spezifische Tätigkeit begriff. Originell waren die Konsequenzen, die er aus seinen Einsichten in den Schreibprozeß für den Aufsatzunterricht zog. Drei Punkte verdienen hervorgehoben zu werden. (1) „Sprechen, schreiben, lesen; in diesen drei Tätigkeiten äußert sich die menschliche Sprache. Die Bewertung dieser drei Tätigkeiten im Vergleich zueinander ist für das Allgemeinempfinden kaum zweifelhaft. Sprechen wird durchweg am niedrigsten eingeschätzt, lesen höher, schreiben am höchsten" (ebd.: 5). Anders, so Rauh, das Gymnasium, wie die Schule überhaupt: hier stehe das Lesen an oberster Stelle. Wer aber, wie es einem Vertreter der Arbeitsschule ansteht, das Kriterium des Tätigkeitscharakters an diese drei Tätigkeiten anlege, der müsse zu einem anderen Ergebnis kommen: „Das Sprechen ist die allgemein grundlegende, natürliche, das Schreiben eine gesteigerte, höherer Gesittung eigentümliche Tätigkeitsform des menschlichen Geistes. Das Lesen dagegen ist überhaupt nicht im engeren Sinne Tat, Arbeit, Wirken, sondern es ist nur Nahrungsaufnahme des menschlichen Geistes" (ebd.: 10). Aus einer solchen Einsicht ergeben sich für den Aufsatzunterricht zwei Konsequenzen. Einmal: „Wenn auch im Deutschunterricht die Schule der deutschen Zukunft eine Arbeitsschule werden soll, so muß sie eine Sprechschule werden" (ebd.: 20). Denn „aller Sprachunterricht wurzelt im Sprechunterricht. Die anderen Zweige sind eben nur Zweige dieses Stammes" (ebd.).
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Dann: Wenn auch der Aufsatzunterricht im Sprechunterricht „wurzelt", dann kann nicht mehr die Lektüre oder der Literaturunterricht Grundlage des Aufsatzunterrichtes sein: „so ist in der Volksschule (für die Rauh schreibt, O. L.) die Vorbildung für das Aufsatzschreiben nicht Bücherlesen, sondern Reden" (ebd.: 177). (2) So sehr Rauh die Priorität der gesprochenen Sprache betont, so sehr hat er auch den Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben, gesprochener und geschriebener Sprache herausgestellt: „Man kann — im strengen Sinn — nicht schreiben, wie man redet" (ebd.: 113). Der Vorgang des Schreibens unterscheidet sich von dem des Sprechens schon durch die Zeit, die jeweils aufgewendet werden muß: „Niemand hetzt den Schreibenden. Er hat Zeit. Dagegen muß er viel Vorsicht üben, weil hernach der Leser seinerseits auch Zeit hat zu strengem Urteile" (ebd.: 14 f.). Die geschriebene Sprache ist darum abstrakt, weniger redundant als die gesprochene, ganz allgemein „langgliedriger" und zuweilen auch umständlich (ebd.: 156 ff.). Da die geschriebene Sprache nicht zuhause gelernt wird, sollte man annehmen, daß dies die Aufgabe der Schule sei. Rauh mahnt jedoch zur Vorsicht. Ziel des Schreibunterrichtes sollte zumindest auf der Volksschule nicht die Einführung in eine quasi neue Sprache sein, sondern „ein dem Sprechen stark angeähneltes Schreiben" (ebd.: 15). „Wollen wir ( . . . ) Kindern schreiben lehren, so müssen wir eine Vermittlung suchen, ein Schriftdeutsch, das sich von dem leichten Sprechdeutsch möglichst wenig entfernt und das dem noch schwereren Buchdeutsch möglichst fernbleibt" (ebd.: 168). Auf die Dauer dürfe jedoch der prinzipielle Unterschied zwischen Sprechen und Schreiben, gesprochener und geschriebener Sprache nicht verwischt werden. Schreiben ist auf Verständlichkeit angelegt, Schreiben lernen erziehe zu Denkklarheit. „Erziehung zu Schreibklarheit ist darum Stärkung des Willens, Erziehung zu zielbewußtem Handeln" (ebd.: 171), eben darum ein ausgezeichnetes pädagogisches Mittel des Arbeitsunterrichtes. (3) Schreiben dient verschiedenen Zwecken, ist also funktional differenziert. Rauh unterscheidet beim Schreiben nicht anders als beim Sprechen: — den Willen zum Schreiben — den Willen zur Mitteilung — den Willen, einen bestimmten Zweck zu erreichen (ebd.: 120). Dem Willen zum Schreiben liegt das Bedürfnis zugrunde, einfach zu schreiben, so wie man das Bedürfnis empfinden kann, mit einem anderen Menschen einfach zu sprechen, ohne Absicht, sei es aus Freude am Schreiben, sei es auch nur so. Der Wille zur Mitteilung ist natürlich mit einer Absicht verbunden. Die Absicht besteht in der Regel in dem Wunsch, den Partner an dem Wissen, über das man verfügt, teilnehmen zu lassen. „Man schreibt frischer über Sachen, von denen man einiges weiß, gründlicher über solche, von denen man alles weiß. Die Frische wird durch das Vorwiegen des
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reinen Ausdruckswillens, die Gründlichkeit durch das des Mitteilungswillens hervorgerufen" (ebd.: 190). Der Wille, einen bestimmten Zweck zu erreichen, liegt dann vor, wenn man mit Hilfe eines Schriftstückes beim Leser eine bestimmte Wirkung, einen Effekt hervorrufen, ihn überzeugen oder überreden, ihn zu einer bestimmten Handlung bewegen oder von ihr abhalten möchte. Ein solcher Wille ist ausgesprochen rhetorisch. Rauh hat aus dieser Klassifikation der Schreibfunktionen im Leben eine höchst originelle Klassifikation von Schreibformen für die Schule abgeleitet. Dem Schreib- oder Ausdruckswillen entspricht der Plauderaufsatz (121 —125), dem Mitteilungswillen der Mitteilungsaufsatz (128 — 129) und dem Zweckwillen der Zweckaufsatz (129 — 137). Ohne Zweifel: das sind nicht mehr die traditionellen Aufsatzformen: Beschreibung, Erzählung, Abhandlung, auch wenn der Mitteilungsaufsatz als Erzählungs- oder Berichtsbrief charakterisiert wird. Das Kriterium ist ein anderes: „Bei unserer Unterscheidung der Sprachgattungen wurde eingeteilt nach der Stellung der Sprachstücke im Leben, nach ihrem praktischen Zweck, bei der sonst üblichen nach der gedanklichen Folge und Verknüpfung ihres Inhalts, jenes war eine praktische, dieses eine logische Gliederung" (ebd.: 138 f.). Rauh hat in erster Linie über den Schreibunterricht an Volksschulen geschrieben. Die der Volksschule gemäße Schreibform ist der Brief (ebd.: 115). Auf das Leben wird der Volksschüler durch Briefe aber nur dann vorbereitet, wenn er die den Briefen zugrundeliegenden Tätigkeiten übt: den Schreibwillen im Plauderbrief, den Mitteilungswillen im Mitteilungsbrief, den Wirk- oder Zweckwillen im Zweckbrief, vor allem im Geschäftsbrief. Die Ausführungen von Sigismund Rauh über die Bewertung schriftlicher Äußerungen im Deutschunterricht, über den prinzipiellen Unterschied zwischen geschriebener und gesprochener Sprache und vor allem sein Versuch, sich von dem überlieferten Kanon der Aufsatzformen zu lösen und an seine Stelle eine funktional begründete Folge von Schreibformen zu setzen, hätten es auch heute noch verdient, Beachtung zu finden. Sie sind jedoch damals schon bald in Vergessenheit geraten. Der Name des Verfassers wird zwar noch ein paar Mal erwähnt, doch seine Gedanken zum Aufsatzunterricht sind nicht aufgegriffen worden, auch nicht von den Vertretern der Arbeitsschule. Selbst Karolina Fahn (1958), der wir eine so vorzügliche Darstellung des Aufsatzunterrichtes verdanken, führt zwar das Buch von Rauh im Literaturverzeichnis an, widmet ihm selbst aber keine Zeile. Nicht Sigismund Rauh, sondern die Leipziger Oberlehrerin Lotte Müller hat in der Arbeitsschule die Aufsatzdidaktik geprägt. Sie war Gaudigschülerin. Aber anders als ihr Lehrer hat sie die grundsätzlichen Fragen der Pädagogik hintangestellt und sich vornehmlich praktischen Fragen des Deutschunterrichtes zugewandt. In ihren Überlegungen zum Aufsatzunterricht steht die Frage nach den „Arbeitsformen (...), in denen das Kind selbst zum Gestalter wird" (L. Müller 1921/1925: 95), im Vordergrund.
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Unter dem Ausdruck „Arbeitsformen" sind nicht Aufsatzformen zu verstehen, also die Angabe der Teile, aus denen ein Aufsatz bestehen soll, und deren Reihenfolge. Die Arbeitsformen betreffen den Weg, den ein Schüler in seiner Arbeit zu nehmen hat, um einen Aufsatz zu verfassen, also den Arbeitsvorgang. Es handelt sich um Formen, in denen ein Gegenstand (Stoff, Problem usw.) erarbeitet werden kann, ζ. B. wie man „ein Bild beschreibt, ein Erlebnis darstellt, einen Gegenstand nach seiner Zwecksetzung durchdenkt" (ebd.: 4). Aufgabe des Aufsatzunterrichtes ist es nicht, nach der Beschreibung von Textmustern schreiben zu lassen, sondern die Schüler zu „planvollem Arbeiten" anzuhalten: „Dazu gehört, daß sie den Anstoß (Reiz) zur Betätigung aus dem Stoff selbst, ohne besondere Aufforderung des Lehrers, gewinnen lernen und daß sie fähig werden, den Arbeitsweg selbständig zu wählen und zu durchlaufen, im Hinblick auf das ohne Fremdhilfe erkannte Ziel" (ebd.: 3). Das ist zweifellos die Übertragung der „Arbeitsstufen", die in der Arbeitsschule an die Stelle der Herbartschen Formalstufen traten, auf den Aufsatzunterricht. Weder Sigismund Rauh noch Susanne Engelmann haben das Prinzip des Arbeitsunterrichtes im Aufsatzunterricht so klar zur Geltung gebracht. Drei Arbeitsformen spielen im Aufsatzunterricht von Lotte Müller eine Rolle: — die Darstellung von Erlebnissen — die Darstellung von Beobachtungen — die Darstellung von Ersonnenem. Es dürfte nicht zufällig sein, daß sie nicht von Erzählungen, Beschreibungen und Abhandlungen, also von Textformen, sondern von Tätigkeiten spricht. Nicht die Form, sondern der Arbeitsvorgang bestimmt den Unterricht. Die Trias weist Ähnlichkeiten mit der bei Otto Karstädt (1912) und Fritz Gansberg (1914) auf. Es gibt jedoch einen bedeutsamen Unterschied. Der ästhetische Aufsatz (O. Karstädt) fehlt, die Phantasiegeschichte (F. Gansberg) wird zu dem „Ersonnenen" gerechnet, neu ist die Darstellung von Beobachtetem. Gewiß kommt hier wieder die traditionelle Aufsatzform der Beschreibung zum Vorschein, doch dürfte es nicht weiter bemerkenswert sein, daß ein Vertreter der Arbeitsschule wieder ein Interesse für diese Aufsatzform aufbrachte (s. unten). Wie bei allen Arbeitsschulpädagogen ist das Verhältnis zu den Erlebnisaufsätzen gebrochen. Auch Lotte Müller muß zugeben, daß sie für die kleineren Kinder „das Natürliche" (ebd.: 99) sind. Doch: „Zu häufige Darstellung von .Ich-Erlebnissen' lenkt die Aufmerksamkeit leicht auf die eigene kleine Person" (ebd.: 101). Das eigentliche Bedenken dürfte jedoch die Tatsache sein, daß sich an solchen Erlebnisberichten kaum arbeiten läßt. Lotte Müller empfiehlt daher, den erzählenden oder berichtenden Darstellungen Erlebnisse aus dem Schulleben zugrundezulegen. Sie gäben der Klasse die Möglichkeit,
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„den Bericht auf seinen Wahrheitswert hin zu prüfen" (ebd.: 98) und mit der Zeit „gewisse Fragerichtungen" zu erarbeiten, nach denen solche Darstellungen geprüft werden können, „etwa: Ist das Erlebnis wert, daß man es anderen mitteilt? Kann der Hörer oder Leser miterleben? Ist es klar geschildert? Verweilt die Verfasserin bei Nebensächlichem oder Allbekanntem? Hat sie wirklich erlebt, d. h. war ihre Seele dabei?" (ebd.: 99). Die Darstellung von Beobachtetem kommt den pädagogischen Absichten der Arbeitsschullehrer natürlich näher. An ihnen können die Schüler die Beobachtungsgabe schulen, die Kräfte entwickeln, „die alles um uns in Beziehung zu uns setzen" (ebd.: 104), und lernen, wie man das alles planmäßig und planungsvoll zur Darstellung bringt. Die Darstellung selbst kann nach Lotte Müller in zwei Richtungen erfolgen. „Die Pflege der scharfen, sachlichen Beobachtung" führt zu einer Form der Darstellung, „die mit photographischer Treue den Vorgang wiedergeben will, ohne daß die Stellungnahme des Verfassers zum Ausdruck kommt" (ebd.: 108). Das ist eine strenge Auffassung von dem, was bisher als Beschreibung gegolten hat. Die Darstellung braucht aber nicht in jedem Fall so scharf zwischen dem Beobachteten und Erlebten zu scheiden. Die Grenzen zwischen Beobachtetem und Erlebtem können sich verwischen: „das Geschaute wirkt auf das Gefühlsleben des Kindes ein und erhält hierdurch persönliche Prägung" (ebd.). Gemeint ist wohl die alte Form der Schilderung. Was Lotte Müller zur Darstellung von Ersonnenem ausgeführt hat, ist weitgehend bekannt. Bemerkenswert ist lediglich, daß zu dem Ersonnenen nicht nur allgemeine Denkvorgänge: „Durchblicke, Auffindungen von Beziehungen, Vergleiche, Charakteristiken, Abhandlungen" (ebd.: 131) gerechnet werden, sondern auch „die verschiedensten Formen der Phantasietätigkeit" (ebd.: 118), also auch die erfundene Geschichte. Originell und charakteristisch für die Arbeitsschule ist die Einbeziehung des „technischen Denkens": „Da neben dem Zeichnen und Formen die Sprache zum wesentlichen Darstellungsmittel gebraucht wird, kann man mit einer gewissen Berechtigung das Gebiet der Technologie dem Deutschunterricht einordnen — wenigstens so lange, bis der Lehrplan nicht eine besondere Stunde dafür bereitstellt" (ebd.: 117). Die schriftliche Darstellung ist in diesem Zusammenhang nur ein „Nebenzweck" (ebd.: 127): „Den Hauptnachdruck lege ich auf das technische Denken, also auf die Fähigkeit, im Werkzeug die Zweckanpassung zu erkennen und es entsprechend zu benutzen" (ebd.). So werden Arbeitsformen ausfindig gemacht, mit Hilfe derer die Funktion von Werkzeugen erfaßt und Werkzeuge erfunden werden können. Lotte Müller gibt ein Beispiel: „Zu einer erfreulich selbständigen Arbeit waren die Schülerinnen meiner 5. Klasse durch gelegentliche Technologiestunden angeregt worden. Sie erklärten, sie wollten einen ,Neuen Robinson' schreiben. Im Gegensatz zu Defoe ließen sie das Schiff sinken, so daß Robinson nicht
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wochenlang zum Wrack schwimmen konnte, um sich Geräte und Werkzeuge zu holen, sondern sich alles selbst herstellen mußte. Die Klasse suchte die wichtigsten Dinge, die ihr Held brauchte, ordnete sie nach dem Grade der Notwendigkeit, verteilte die Robinsonarbeit auf die einzelnen Tage und Wochen. Freiwillig übernahmen einzelne die Darstellung einer Erfindung (Tierfalle, Feuergewinnung, Herstellung eines Sonnenschutzes und dgl.); die Klasse als verantwortlicher Herausgeber' ließ sich die Einzelarbeiten vorlesen und beurteilte sie. Eine Schülerinnengruppe übernahm die letzte Redaktion, in der die Teile aneinandergepaßt wurden. Buchschmuck, ( . . . ) Herstellung des Umschlags mit Titelzeichnung, Heften der kleinen Schrift, alles das war Eigenarbeit der Klasse" (ebd.: 131). Der Abschnitt über die Darstellung technischen Denkens ist übrigens in späteren Auflagen und Umarbeitungen dem Zeitgeist zum Opfer gefallen. Offensichtlich trug er zu deutlich die Züge der Arbeitsschule. Sigismund Rauh und Lotte Müller hatten vornehmlich für die Volksschulen geschrieben, Susanne Engelmann schrieb für das Gymnasium. Ihr pädagogisches Interesse galt methodischen Fragen. „Methodik des deutschen Unterrichts" heißt darum auch der Titel des Buches, das sie bekannt gemacht hat (S. Engelmann 1926/1927). Die Ausführungen zum Aufsatzunterricht weisen zwei Gesichter auf. Auf der einen Seite sind ihre Vorstellungen traditioneller als die von Rauh und Müller, wohl eine Konzession an das Gymnasium, das sich den Ideen der Reformbewegung weitgehend verschlossen hatte. Auf der anderen Seite läßt sich feststellen, daß die Arbeit von Susanne Engelmann wie kaum ein anderes Buch die weitere Entwicklung der Aufsatzdidaktik bestimmt hat. Alle Momente, die sie neu in die Aufsatzdidaktik eingeführt hat, sind später aufgegriffen und zur Grundlage des Aufsatzunterrichtes gemacht worden. Neu sind folgende Gedanken: (1) Susanne Engelmann war überzeugt, als erste vorgeschlagen zu haben, zwischen Aufsätzen und Stilübungen zu unterscheiden, die Stilübungen vom Aufsatzunterricht, insbesondere von der Abfassung der Aufsätze, abzutrennen, um auf diese Weise den Aufsatzunterricht zu entlasten: „die Notwendigkeit, die Ausdrucksfahigkeit durch besondere Stilübungen neben und vor dem Aufsatz zu bilden, ( . . . ) wurde mir bewußt durch den vor Jahren viel besprochenen ,Extemporalerlaß'. Dieser oft mißverstandene Erlaß bezweckte bekanntlich, die großen Klassenarbeiten in den Fremdsprachen, die häufig mit Angst erwarteten Katastrophen glichen, in ihrem Schrecken zu mildern durch vorbereitende Übungen gleicher Arbeitsform, nämlich durch kürzere Klassenarbeiten, die nicht zensiert, sondern in der Klasse besprochen und verbessert wurden. Die feine psychologische Beobachtung, die diesem Erlaß zugrunde lag, läßt sich so ausdrücken: Man kann bei den meisten Kindern keine Leistung erwarten, die nicht durch gleichartige Übungen vorbereitet
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ist (...). Diese Beobachtung und die aus ihr gezogenen Folgerungen gelten aber in vollem Umfang für die schriftlichen Arbeiten in der Muttersprache. (...) Aus diesen Gründen entschloß ich mich, mit jeder Klasse, in der ich deutschen Unterricht zu geben hatte, als Vorübung für Haus- und Klassenaufsätze freie mündliche und schriftliche Stilübungen zu veranstalten" (ebd.: 40 f.). In Wirklichkeit hatte Wilhelm Schneider bereits 1921 einen solchen Vorschlag vorgebracht. Fritz Rahn hat ihn aufgegriffen und in einem Zeitschriftenartikel ausgearbeitet (F. Rahn 1930), freilich ohne seine Quelle zu nennen. In den Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" des nationalsozialistischen Unterrichtsministers von 1938 wurde die organisatorische Trennung von Aufsatzunterricht und Stilübungen vollzogen. (2) Wenn Susanne Engelmann von Aufsatzformen spricht, dann meint sie „Stilformen". Stilformen sind nicht, wie die alten Aufsatzformen, durch ihren Aufbau definiert. Schon gar nicht handelt es sich um Arbeitsanweisungen, wie man es bei einer Vertreterin der Arbeitsschule erwarten könnte und wie Lotte Müller es ausgeführt hatte. Stilformen werden durch den Inhalt konstituiert. Susanne Engelmann zitiert Philipp Wackernagel: „Der Stil ist der Gegenstand" (1843: 8) und erklärt: „Das heißt, er (der Stil, O. L.) hängt von ihm (dem Gegenstand, O. L.) ab, wird entscheidend von ihm beeinflußt; oder mit anderen Worten, es gibt so viele ,Stile', als es Gegenstände gibt, jeder Gegenstand erfordert die ihm gemäße Form der Darstellung" (ebd.: 39). Allerdings unterschlägt sie, daß Wackernagel außer dem Gegenstand auch den Leser und vor allem auch den Schreibenden als Faktoren für die Bildung von Stil genannt hatte. Stattdessen führt sie den Stil allein auf den darzustellenden Gegenstand zurück und reduziert damit die Form eines Textes auf die einem Gegenstand angemessene Sprache. Von hier geht eine Entwicklung aus, die später zu den „Stil- und Darstellungsformen" führen wird, die in der Nachkriegszeit den Aufsatzunterricht bis in die sechziger Jahre und darüberhinaus bestimmt haben. (3) Als Stilformen konnten die alten Aufsatzformen (die Erzählung, die Beschreibung, die Schilderung, Abhandlungen und Briefe) auch im Rahmen der Arbeitsschule weiter gepflegt werden. Kleine Modifikationen werden vorgenommen. So wird der literarische Aufsatz abgelehnt. Schülern, die sie nach den Gründen fragten, habe sie stets geantwortet: „Weil deutsche Dichtungen zu schade sind, um von euch beschwatzt zu werden, und ihr zu schade, um über Dichtungen zu schwatzen" (ebd.: 192). Nur die Hervorhebung und Differenzierung der Aufsatzform des Berichtes läßt Absichten der Arbeitsschule erkennen: — „der möglichst lebendige, knappe, klare, frische und fröhliche Bericht über Spiel und Arbeit, über Selbstgeschautes und -gehörtes in und außerhalb der Schule" (ebd.: 185)
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— „der kurze Sachbericht in der Form des Protokolls über Klassenversammlungen, Schulgemeinden, gehörten Vorträgen oder auch Unterrichtsstunden" (ebd.: 190) — „der Bericht über einen starken künstlerischen Eindruck nach freier Wahl" (ebd.: 194). Eine Tendenz, die sich bereits bei Lotte Müller abzeichnete, setzt sich hier fort: der Bericht als eine Stil- und Darstellungsform für den Aufsatzunterricht hebt sich allmählich von der Erzählung ab. Die Erzählung war schon längst zur „Erlebniserzählung" geworden, nun wird der Bericht zum „Sachbericht". Der Terminus fallt zum ersten Mal bei Susanne Engelmann. Wieder werden es die Nationalsozialisten sein, die eine in der Arbeitsschule sich anbahnende Entwicklung aufnehmen und abschließen. Die Ergebnisse Wie frei war der freie Aufsatz eigentlich? Das ist die Frage, die an jede Didaktik des freien Aufsatzes zu stellen ist. Die Vertreter der Kunsterziehungsbewegung vertrauten zwar noch darauf, daß sich die im Kinde schlummernden ästhetischen und künstlerischen Kräfte von selbst entfalten würden, wenn man ihnen völlige Freiheit gewähre. Die Vertreter der Persönlichkeitspädagogik hätten wohl auch gerne ähnliche Vorstellungen vertreten, doch mußten sie einsehen, daß der freie Ausdruck der Kinder nach einer Gestaltung verlangt. Der Zwang zur Gestaltung der kindlichen Äußerungen aber bringt die ersten Einschränkungen der ihnen anfanglich zugestandenen Freiheit notwendigerweise mit sich. Den Vertretern der Arbeitsschulbewegung in der Aufsatzdidaktik schließlich konnte die Gestaltung allein nicht genügen. Es kam ihnen auf diszipliniertes, planvolles und nützliches Arbeiten auch bei der Abfassung von Aufsätzen an. Sie haben das Ideal der freien geistigen Tätigkeit nicht aus den Augen verloren. Doch freie geistige Tätigkeit setzt selbständiges Arbeiten voraus: „Selbsttätigkeit" oder „Eigentätigkeit", wie sie sagen. Diese ist aber bei Kindern oder Jugendlichen nur zu erreichen, wenn sie es gelernt haben, so zu arbeiten, wie es eine geistige Tätigkeit verlangt. Damit stellt sich die Frage bei ihnen am dringlichsten, wie sie es mit der Freiheit der freien Aufsätze gehalten haben. In der Wahl der Themen und S t o f f e nehmen alle Vertreter der Arbeitsschule Einschränkungen vor. Sigismund Rauh reduziert die freie Wahl der Themen und Stoffe durch den Schüler auf die Anteilnahme: „Geeignet für den Aufsatz sind nur Stoffgebiete, die die wirkliche innere Teilnahme der Klasse in beträchtlichem Maße haben" (S. Rauh 1921/1925: 186), und „alle Lehrstoffe haben innere Teilnahme gefunden, die von den Schülern mit Freude in eigener Darstellung wiedergegeben werden" (ebd.: 188). Aus der freien Stoffwahl ist
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die Freude an der eigenen Darstellung geworden. Lotte Müller (1921) geht einen Schritt weiter. Selbstverständlich muß ein Aufsatz frei sein, wenn er zu selbständigem Denken führen soll. Es ist aber gefährlich, „die Wahl des Themas zu häufig den Kindern selbst zu überlassen", wenn beim Aufsatzschreiben „möglichst alle geistigen Funktionen in Tätigkeit treten" sollen: „phantasiebegabte Schüler betätigen dann gewöhnlich nur die eine Seite ihrer geistigen Kraft, und noch dazu gerade die, die der Übung am wenigsten bedarf (L. Müller 1921/1926: 97). Darum überläßt sie nur „von Zeit zu Zeit — etwa bei einem Zehntel der Aufsätze — den einzelnen die Wahl des Stoffes ( . . . ) , häufig wird ein umfassendes Thema gestellt, und es bleibt jedem vorbehalten, sich für ein Teilthema zu entscheiden. Mindestens ebensooft bekommen alle die gleiche Überschrift; das Leben stellt ja auch den Menschen vor Aufgaben, ohne zu fragen, ob sie ihm liegen" (ebd.). Für Susanne Engelmann ist die freie Stoffwahl überhaupt kein Thema mehr. Sie erwähnt sie nicht einmal. Die Vorstellung, daß man dem Schüler die Wahl des Themas und die Wahl des Stoffes für seine Aufsätze überlassen könne, wird in der Arbeitsschule allmählich aufgegeben. Sie steht zwar nicht im Widerspruch mit ihrem Ideal der freien geistigen Tätigkeit, wohl aber mit ihren Vorstellungen von einem planvollen Arbeiten. „Bei gleichem Thema" ist „die Beurteilung leichter, die Besprechung der Arbeit nach der Korrektur für die Allgemeinheit fruchtbarer" (L. Müller 1921/1926: 97). Man kann die Aufsätze einer Klasse nur dann miteinander vergleichen, wenn sie gleich sind: „Vergleichen ( . . . ) kann aber nur bei Gleichartigem geschehen" (E. Heywang 1913/1921: 138). Die Freiheit in der Wahl der Form der Darstellung wird von den Arbeitsschulpädagogen sehr viel vorsichtiger gehandhabt. Das ist verständlich, bezog man doch den Vorwurf der Gebundenheit, den man dem alten Aufsatz machte, in erster Linie auf die vorgeschriebenen Aufsatzformen: die Schemata, in denen der Aufbau eines Aufsatzes geregelt war. Im Grunde gehen die drei Hauptvertreter der Arbeitsschule in der Aufsatzdidaktik der Frage aus dem Wege. Lotte Müller (1921) setzt an die Stelle der Frage nach der Form der Aufsätze die Frage nach den Arbeitsformen. Das ist ganz im Sinne der Arbeitsschulgedanken gedacht. Die Schüler sollen sich nicht bestimmte, mehr oder minder streng definierte Textformen aneignen, sondern sollen lernen, sich bestimmte Gegenstände zu erarbeiten, bestimmte Aufgaben zu lösen, d. h. sprachliche Tätigkeiten auszuüben. An die Stelle der Textform tritt die Form einer Tätigkeit. Diese wird nicht in Aufbauschemata dargestellt, allenfalls in Handlungsplänen. Susanne Engelmann reduziert die Frage nach der Form eines Textes auf die Frage nach dem ihm angemessenen Stil. Jeder Gegenstand macht eine andere sprachliche Darstellung erforderlich. Es gibt keine Aufsatzformen, es
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gibt allenfalls Stilformen: den Stil der Erzählung, der Beschreibung, der Schilderung, der Abhandlung, des Briefes usw. Auf diese Weise können die alten Aufsatzformen wieder in die Schule einziehen. Doch muß man sich hüten, die neuen Stilformen mit den alten Aufsatzformen in einen Topf zu werfen, auch wenn ihre Bezeichnungen weitgehend gleich geblieben sind. Durch die Konstitution von Stilformen entgeht man der Notwendigkeit, anzugeben, wie ein Text, also auch ein Aufsatz, aufzubauen sei. Oft erfahrt man nicht mehr, als daß ein Text, und zwar jeder gute Text, eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Schluß habe. Das was die einzelnen Texte dann noch voneinander unterscheidet, ist einzig und allein ihr Stil, der Stil einer Gattung wie der Stil eines jeden Textes in concreto. Auf einem ganz anderen Weg, aber doch zu demselben Ergebnis wie Lotte Müller und Susanne Engelmann war Sigismund Rauh gekommen. Er geht von einer Überlegung aus, die als charakteristisch für die Arbeitsschule angesehen werden kann. Er fragt nicht, wie Lotte Müller, nach den Arbeitsformen, sondern nach der Funktion von Texten im Leben. So kommt er zu einer Unterscheidung der Textsorten nach ihrem praktischen Zweck: „Bei unserer Unterscheidung der Sprachgattungen wurde eingeteilt nach der Stellung der Sprachstücke im Leben, nach ihrem praktischen Zweck, bei der sonst üblichen nach der gedanklichen Folge und Verknüpfung ihres Inhalts, jenes war eine praktische, dieses eine logische Gliederung" (S. Rauh 1923: 138 f.). Von allen Textsorten, die im Leben eine Rolle spielen, kommt für die Volksschule jedoch nur eine einzige in Frage: der Brief, und dieser auch nur in einem eingeschränkten Sinne. Für echte Briefe gibt es in der Schule kaum einen Anlaß. Die alten schulmäßigen Briefe sind kaum geeignet, auf das Leben vorzubereiten. Doch die in allen Briefen mehr oder minder enthaltenen Tätigkeiten: die Plauderei, die Mitteilung an andere und der Versuch, auf andere einzuwirken, sind es nicht nur wert, in der Schule geübt zu werden, sie sind auch dazu bestens geeignet. Der Überblick zeigt, daß eine Schule für das Leben mit der Vorstellung von freien Aufsätzen nicht verträglich ist, nicht nur mit der freien Wahl der Formen, letztlich auch nicht mit der freien Wahl der Stoffe und Themen. Der Arbeitsschulgedanke mußte mit dem freien Aufsatz in Konflikt geraten.
5. Ein neues Paradigma zeichnet sich ab: der stilbildende Aufsatz Die Arbeitsschule verlor in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zunehmend an Attraktivität, auch in der Aufsatzdidaktik. Nationalistische Tendenzen drängten sich in den Vordergrund. Die Deutschkunde führte in der
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Deutschdidaktik das Wort (dazu ausführlicher im nächsten Kapitel). Zur Aufsatzdidaktik hatte sie so gut wie nichts zu sagen. Ratlosigkeit machte sich breit, vor allem im Aufsatzunterricht des Gymnasiums. Davon gibt Georg Kühn 1930 ein beredtes Zeugnis: „Der Erlebnisaufsatz im Sinne der radikalen Wortführer hat zum mindesten auf der Oberstufe der höheren Schule keinen beträchtlichen Raum erobern können. Das bedarf keiner Begründung; widersprach er doch ihrem wissenschaftlichen Charakter. Auf der anderen Seite freilich konnte sich auch der alte Aufsatz nicht voll behaupten, sondern wandelte unter dem Druck der neuen Bewegung sichtlich sein Antlitz. Der logische Regelzwang lockerte sich. Die Gliederung wurde einfacher und zweckentsprechender, soweit sie nicht ganz fiel. Man schätzte auch in Sachaufsätzen eine ich-betonte, durchlebte Darstellung. Seelenkundliche Gesichtspunkte setzten sich immer mehr durch. Verfrühte und der Erfahrung des Schülers entrückte Aufgaben wurden vermieden, Stoffe, die ihm Freude machten, bevorzugt. Die moralischen Themen verschwanden zusehends, aber auch die literarisch-ästhetischen verloren an Boden. Die auf die umliegende Sinneswelt gerichteten Beobachtungsaufsätze mehrten sich. Es wurde üblich, mehrere Themen zur Wahl zu stellen, um der Individualität des Schülers Rechnung zu tragen. Man achtete das Urteil des Jugendlichen, auch wenn es abwegig war. (...) So scheint es, daß die Gegensätze sich abgeschliffen haben und ein erfreulicher Ausgleich eingetreten ist. Bei Lichte besehen aber, enthüllt sich dieser Ausgleich als eine heillose Verwirrung" (G. Kühn 1930: 18), als „ein Durcheinander, das jede planmäßige Spracherziehung gefährdet, wenn nicht ausschließlich und gebieterisch nach Klärung verlangt" (ebd.: 20). Kühn hat auch die Richtung angegeben, in der er eine solche Klärung erwartete: „Der Weg, der zur Klarheit führt, ist durch die geschichtliche Entwicklung vorgezeichnet. Es gilt, über den alten Verstandesaufsatz und den neuen Erlebnisaufsatz hinaus zu einer Synthese fortzuschreiten, die die Gegensätze in dialektischem Sinne aufhebt. (...) Es muß versucht werden, von höherer Warte, d. h. aus tieferer Einsicht in das Wesen der Dinge, über die Ansprüche einer jeden der beiden Aufsatzarten klar zu entscheiden, jeder ihren Platz deutlich anzuweisen und abzugrenzen und beide unter einem Gesamtziel als Einheit zu begreifen" (ebd.). Tatsächlich ist von der Mitte der zwanziger Jahre ab in der Aufsatzdidaktik eine Tendenz festzustellen, die ein neues Paradigma erkennen läßt. Es ist die Tendenz, die Stilbildung in den Mittelpunkt des Aufsatzunterrichtes zu stellen, das heißt Sprachbildung als Stilbildung zu begreifen, den Aufsatzunterricht als Stilunterricht zu betreiben und Fragen nach den Aufsatzformen auf Stilfragen zu reduzieren. Eine solche Tendenz hatten wir bereits in der Arbeitsschule feststellen können. Susanne Engelmann (1926) hatte an dieser Entwicklung teil.
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Die Arbeiten, die in diesem Zusammenhang zu nennen wären, bestehen zu einem Teil aus Arbeiten mit ausgesprochen praktischen Zielen. Ihre Verfasser traten mit Überzeugung für den freien Aufsatz ein, ohne theoretische Ambitionen und ganz undogmatisch. Bedenkenlos übernahmen sie aus dem alten Aufsatzunterricht, was ihnen gut dünkte. In ihren Büchern findet der Leser eine bunte Fülle von praktischen Hinweisen, methodischen Überlegungen, Unterrichtserfahrungen und schließlich ausgearbeitete Lehrpläne für den Aufsatzunterricht von der ersten bis zur letzten Klasse. Zu dieser Gruppe gehören die folgenden Bücher: — „Der Deutschunterricht als Weg zur nationalen Erziehung" des Schweizers Otto von Greyerz (1914/1921) — „Der deutsche Aufsatz auf der Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe" des Österreichers Karl Linke (1916/1921) — „Neue Wege im Aufsatzunterricht. Dargestellt auf Grund der wesentlichsten Erscheinungen des Büchermarktes der letzten Jahrzehnte mit einer geschichtlichen Einleitung und einer psychologischen Fundierung" von Friedrich Emil Fischer (1922) — „Erlebnis und Schulaufsatz. Versuche und Ergebnisse" von Josef Weiler (1923) — „Gedanken über den deutschen Aufsatz" von Alfred Enzinger (1925) — „Dieses Deutsch!! Ein froher Führer zu gutem Stil" von Paul Georg Münch (1925), dem Verfasser des bekannten Büchleins „Rund ums rote Tintenfaß". Aufgeführt werden hier nur die wichtigsten Arbeiten. Zu einem anderen Teil bestehen die aufsatzdidaktischen Arbeiten aus eher theoretischen Versuchen. Ihre Verfasser beabsichtigten natürlich auch eine Verbesserung des Aufsatzunterrichtes, doch gingen sie grundsätzlicher vor. Sie erhofften sich eine Reform des Aufsatzunterrichtes auf der Grundlage einer neuen Konzeption. Sie haben keine Schule gebildet und sich nie als eine Gruppe empfunden. Dennoch verbindet sie die Abkehr von Fragen, die dem alten Aufsatz wichtig waren, und die Zuwendung zu Fragen des Stils.
Wilhelm Schneider (1926) Wilhelm Schneider hat sich zweimal zum Aufsatzunterricht geäußert, einmal sehr kurz im Vorwort zu seinem Büchlein: „Neue Wege der Stilbildung. Ein Beitrag zur Erneuerung des Aufsatzunterrichts" (W. Schneider 1921/1925), dann ausführlich noch einmal in dem viel beachteten Buch: „Deutscher Stil- und Aufsatzunterricht" (W. Schneider 1926). Der Vergleich der beiden Darstellungen läßt erkennen, daß der 1921 skizzierte „Grundgedanke" später in einem wesentlichen Punkte präzisiert, damit zugleich aber als ganzer undeutlich geworden ist.
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Der Grundgedanke ist dieser: Der Schüler lernt schreiben (das heißt auch Aufsätze schreiben) einzig und allein zu dem Zweck, um schreiben zu lernen. Eine solche Feststellung klingt banal, ist tatsächlich aber bemerkenswert. Indem Schneider dies feststellte, brach er mit einer alten aufsatzdidaktischen Tradition. Joachim Fritzsche (1980) hat drei Funktionen des Aufsatzes unterschieden: der Aufsatz als Lernkontrolle, der Aufsatz als Lernmedium und der Aufsatz als Lerngegenstand. Eine solche Unterscheidung erlaubt, die aufsatzdidaktischen Vorstellungen Schneiders zu verdeutlichen. Schneider ist überzeugt, daß der Aufsatz „im Grunde" kaum mehr ist als ein Instrument der Lernkontrolle (die erste Funktion von J. Fritzsche): „Alle Schulaufsätze, sowohl die moralischen und literarischen der alten Schule wie die Erlebnis- und Beobachtungsaufsätze, sind, im Grunde genommen, mehr Prüfungen als Übungen. Der Schüler soll erweisen, wie weit sein Ausdrucksvermögen reicht und ob er imstande ist, einen gegebenen oder gewählten Tatbestand mit eigenen Worten darzustellen" (W. Schneider 1926: 81). Ein solches Urteil dürfte nicht unzutreffend, aber doch wohl einseitig sein. Jedenfalls wurde das Schreiben von Aufsätzen seit dem 18. Jahrhundert eher medial (zweite Funktion) begründet: durch Schreiben sollte der Schüler alle Seelenkräfte ausbilden (so die Aufklärung), vor allem aber die Kräfte des Verstandes (so bis weit hinein in das 19. Jahrhundert), das sittliche Vermögen (die Kaiserzeit), die künstlerischen Kräfte (die Kunsterziehungsbewegung) oder gar seine Persönlichkeit als ganze (so noch jüngst die Persönlichkeitspädagogik). Schneider hat mit dieser Tradition gebrochen. Für ihn ist der Aufsatz nicht ein Lernmedium, sondern der eigentliche Lerngegenstand (die dritte Funktion): „In einem solchen Aufsatzunterricht", wie er ihn vor Augen hat, „ist der eigentliche Aufsatz das Ziel des Unterrichts, nicht so sehr sein methodisches Mittel" (W. Schneider 1921/1925: 3). Eine so klare und nüchterne Zielsetzung des Aufsatzunterrichtes hatte Konsequenzen. Bisher sollte das Schreiben von Aufsätzen die Fähigkeit des Sehens, des Denkens oder das sittliche Vermögen des Schülers fördern. Sehen, Denken und sittliches Wollen waren die Ziele, das Schreiben das Mittel. Schneider dreht das Verhältnis um. Die Beherrschung der geschriebenen Sprache ist das Ziel; Sehen, Denken und eine „anständige Gesinnung" (W. Schneider 1926: 67) sind die Mittel dazu. Goethe wird zitiert: „Will jemand einen großartigen Stil schreiben, so habe er einen großartigen Charakter" (ebd.: 69) — auch Friedrich Gundolf: „Guter Stil ist nicht abgelöst vom Gesamtcharakter denkbar, nur soweit sich sinnliche Bestimmtheit, geistige Helle und seelische Sauberkeit lehren lassen, läßt sich anständige Prosa lehren" (ebd.: 63 f.). Das heißt in den Worten Schneiders: „Wer den Stil seiner Schüler bilden will, muß ihren Geist bilden" (ebd.: 64).
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Aus einer solchen Bestimmung der Mittel-Ziel-Relation ergeben sich die Aufgaben des Aufsatzunterrichtes wie von selbst. Zunächst ist der Schüler zu genauem Sehen, zu klarem Denken und zu diszipliniertem Wollen anzuhalten. Diesen Teilzielen dienen zwei Aufsatzformen, der „Beobachtungsaufsatz": „die peinlich genaue Darstellung von Gegenständen und Vorgängen der sinnlichen Umwelt" (ebd.: 76), und „die Darstellung abstrakter Gedanken" (ebd.: 78): das Referat und später die Facharbeit. Die sittliche Erziehung erfordert keine besondere Aufsatzform, da sie den beiden anderen immer schon zugrundeliegt. Für die eigentliche Stilbildung bleibt nun nicht mehr viel zu tun übrig: „Wenn man es recht bedenkt und sich nicht rosaroten Pädagogenträumen überläßt, dann muß man sich zu der bescheidenen Einsicht bekehren, daß es im Grunde nicht viel mehr als eine negative Arbeit ist, die man als Lehrer des deutschen Sprachstils leistet: Auswüchse abschneiden, Fehlerquellen verstopfen, zur Erkenntnis des Fehlerhaften, Verstiegenen, Geschmacklosen führen. Alles andere ist weniger eine sprachlich-ästhetische als eine moralische Angelegenheit" (ebd.: 69). Für die eigentliche Stilbildung hat Schneider gesonderte Stilübungen vorgesehen: „jenes methodische Mittel, das der neue Aufsatzunterricht vor dem alten voraus hat" (ebd.: 84). Schneider hatte bereits 1921 solche Übungen vorgeschlagen. Dies ist in etwa der Grundgedanke der aufsatzdidaktischen Konzeption von Schneider. Damit sich der Leser ein Bild von den Produkten eines solchen Aufsatzunterrichtes machen kann, sei aus einem der vielen Schüleraufsätze, die Schneider mitteilt, zitiert. Es handelt sich um einen Beobachtungsaufsatz mit der Überschrift „Ein Sprung unseres Hundes". Der Aufsatz zeigt, inwiefern genaue Beobachtung ein Mittel der Stilbildung sein kann: „Den Körper lang ausgestreckt, die Vorderpfoten nebeneinander gelegt, die Ohren gespitzt und die Augen scharf auf mich gerichtet, erwartet er das Zeichen zum Sprunge. Auf das Wort ,Los' springt er auf. Nach ein paar raschen, großen Sätzen schnellt er in die Höhe, ungefähr ein Meter vor dem Sprunggestell. Beim Hochspringen schlägt er seinen Schwanz für einen Augenblick kräftig nach unten. Die Vorderpfoten zusammengelegt und vorgestreckt, die Hinterläufe etwas angezogen, den Kopf weit nach vorn geneigt und die Ohren in den Nacken gelegt, so schießt er in weitem Bogen über das Gestell. Beim Sprunge nimmt sein Schwanz eine waagerechte Richtung ein und ist am Ende ein wenig nach oben gekrümmt. Sobald der Hund auf den Boden aufstößt, knickt er in den Schultern etwas ein und schlägt seine Rute nach unten" (ebd.: 149). Die genaue Beobachtung des Sprunges und die detaillierte Beschreibung des Beobachteten zwingen den Schüler, nach treffenden Ausdrücken zu suchen und auf diese Weise seinen Stil zu bilden. Genau dies sei eine der dringlichsten Aufgaben des Stilunterrichtes. Denn „ein Grund der unzulänglichen Ausdrucksfähigkeit des Schülers, vielleicht der Hauptgrund, ist der kleine Umfang seines Wortschatzes" (W. Schneider 1921/1925: 9).
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Schneider hat 1926 an dem Grundgedanken seiner Konzeption eine Prä^isierung vorgenommen, die nicht unproblematisch ist. 1921 blieb offen, zu welchem Stil die Schüler geführt werden sollen. 1926 ist seine Antwort klar und eindeutig: zur „Zwecksprache". Schneider hat den Terminus von Theodor Steche (1925) übernommen. Gemeint ist eine Sprache, die in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, in Verordnungen der Behörde und in der Presse gebraucht wird und ausdrücklich von der Sprache der Dichter, der „Edelsprache" (Steche) unterschieden ist. Sie und ausdrücklich nicht die Dichtersprache sei das Ziel des Stil- und Aufsatzunterrichtes. Schneider: „Die Zwecksprache, deren grammatische Richtigkeit als selbstverständlich vorausgesetzt wird, sei wahrhaftig, sachlich, genau und klar; sie passe ihren Ton den verschiedenen Zwecken an und sei nicht unnötig umständlich und abstrakt" (W. Schneider 1926: 40). „Diese Auffassung atmet den Geist der neuen Sachlichkeit" (G. Kühn 1930: 21). Schneider begründet seine Entscheidung für die Zwecksprache mit Forderungen des Lebens: „Was das Leben von uns und unseren Schülern fordert, ist die Beherrschung der ,Zwecksprache'" (ebd.: 37). Doch ausschlaggebend dürfte das Motiv gewesen sein, allem Phrasenhaften des alten gymnasialen Aufsatzes und seiner hohlen Rhetorik ein neues, der Zeit der neuen Sachlichkeit angemessenes, das heißt klares und nüchternes Stilideal entgegenzusetzen: „Ein Platz im Unterrichtsgebäude muß gesichert sein, wo nur die gefüllten, vor innerer Anschauung prallen Worte leben und wo die Waffen des Geistes geschmiedet werden gegen den Erzfeind der anständigen Menschenrede. Und wenn sich einmal eine Phrase hier einschleicht, dann muß sie sofort ergriffen und entlarvt, verhöhnt und mit Schanden davon gejagt werden; oder aber der Puppe wird, wenn möglich, eine Seele eingehaucht, so daß sie mit den anderen lebendigen Worten leben darf. Dieser Platz ist natürlich der Deutschunterricht und zwar ganz besonders der Stil- und Aufsatzunterricht" (ebd.: 34). Der „Grundgedanke" von Schneider ist später von Walter Schönbrunn (1928, 1930) wieder aufgenommen worden: „Jetzt wissen wir, daß es auf Umstellung des Gesamtcharakters ankommt, wenn die Schreibweise sich ändern soll" (W. Schönbrunn 1930: 120), die aufsatzdidaktischen Vorstellungen Schneiders stoßen allerdings auf Zurückhaltung. Schönbrunn erkennt zwar die Nützlichkeit von Beobachtungsaufsätzen an, warnt jedoch vor einer seelenlosen Sachlichkeit: „Unsere Jugend ( . . . ) will gar nicht ewig bloß die Wirklichkeit wiedergeben. Sie will auch nicht nur die Wirklichkeiten bloß sachlich verarbeiten. Sie will auch bei irgendeiner Sache mit Herz und Gemüt dabei sein" (ebd.: 135). Darum stellt Schönbrunn an die Stelle der Facharbeit in der Oberstufe „den lebenskundlichen Aufsatz": „Technik kämpft gegen Geist. Amerikanismus gegen Innerlichkeit. Indem die Schule und insbesondere der deutsche Unterricht diesen Kulturkampf aufnimmt, werden die Aufsätze Äußerungsventil und gleichzeitig Kampfschauplatz" (ebd.: 137 f.).
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Walther Seidemann (1927) Walther Seidemann hat die an der Stilbildung orientierten Entwürfe von Paul Georg Münch, Wilhelm Schneider und Susanne Engelmann auf eine theoretische Grundlage gestellt, weiterentwickelt und eine Konzeption des Aufsatzunterrichtes ausgearbeitet, die unter der Bezeichnung „sprachschaffender Aufsatz" in die Geschichte des deutschen Aufsatzes eingegangen ist. Seidemann knüpft an die beiden wesentlichen Einsichten Wilhelm Schneiders an. Auch für ihn ist das Schreiben der eigentliche Gegenstand des Aufsatzunterrichtes: „Noch ist die Meinung nicht überholt, daß er nur sprachliche Fertigkeit zu vermitteln habe. (...) Er kann kein anderer als die Erziehung zu sprachschaffender Darstellung sein" (W. Seidemann 1927/1962: 86). Doch ist eine leichte Verschiebung in der Bestimmung des Gegenstandes festzustellen. Schneider geht es um Stilbildung, Seidemann um Sprachbildung, genauer: um „innere Sprachbildung". Von Schneider hat Seidemann auch die Unterscheidung zwischen Zweckund Dichtersprache übernommen. Seidemann spricht aber nicht von Zwecksprache, sondern von der Sprache im Dienste der Erkenntnis, nicht von Dichtersprache, sondern von Sprache im Dienste der Kunst. Auch in diesem Fall ist beides nicht dasselbe. Seidemann erläutert seine Unterscheidung folgendermaßen: „Sobald die Sprache Kultur wird, tritt sie in den Dienst zweier gegensätzlicher Leistungen, der Erkenntnis und der Kunst" (ebd.: 48). Das heißt: es gibt einen Naturzustand der Sprache und einen Kulturzustand. Im Naturzustand wird die Sprache für alle möglichen Zwecke verwandt, im Kulturzustand lediglich zu Zwecken der Erkenntnis oder der Kunst. Für den Deutschunterricht sind nach Auffassung Seidemanns nur diese beiden relevant. Im Dienste der Erkenntnis, oder — wie es an anderer Stelle auch heißt — der Wissenschaft hat die Sprache die Aufgabe, „Wirklichkeitsklärung" zu betreiben, ihrer Struktur nach ist sie dann „Erkenntnissprache": „Die sprachliche Gestaltung muß infolgedessen vom eifrigsten Willen zur Sachlichkeit getragen sein. Alle begrifflichen Bestimmungen der Einzelerscheinungen, alle sachlichen Beziehungen, also die räumlichen, zeitlichen, ursächlichen, zwecklichen Zusammenhänge, finden durch sie sprachlichen Niederschlag" (ebd.: 49). Im Dienste der Kunst — wie es auch heißt — des Gefühls hat die Sprache die Aufgabe der „Wirklichkeitserhöhung", ihrer Struktur nach ist sie dann poetische oder dichterische Sprache'. „Die dichterische Sprache führt Wirklichkeitserhöhung herbei dadurch, daß sie (...) die Wirklichkeit nicht nur klärt, sondern verklärt. Deshalb muß sie eine andere Sprachform als die Begriffssprache haben" (ebd.). Anders als Wilhelm Schneider läßt Seidemann beide Kulturformen der Sprache für den Deutsch- und also auch für den Aufsatzunterricht gelten.
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Auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, kommt doch der dichterischen Sprache für seine Konzeption von Sprachunterricht die größere Bedeutung zu. Nicht die Zwecksprache, nicht die Erkenntnissprache, sondern die Sprache des Gefühls und der Kunst ist es, die als leitende Idee seine Vorstellungen von Sprachunterricht bestimmt haben. Verständlich wird eine solche Bevorzugung, wenn man den sprachtheoretischen Hintergrund berücksichtigt. Sprache ist für Seidemann ganz im Sinne von Wilhelm von Humboldt, auf den er sich ausdrücklich bezieht, nicht ein Inventar von Formen und Regeln, sondern eine Kraft im Inneren des Menschen, „Energeia": die Kraft, Sprache schöpferisch zu verwenden, das heißt, in den jeweiligen sprachlichen Gestaltungen den Inhalt auf die Form und die Form auf den Inhalt abzubilden dergestalt, daß eine völlige Integration von Form und Inhalt hergestellt wird. „Die gestaltenden geistig-sinnlichen Wechselwirkungen zwischen Inhalt und Form, wie sie sowohl bei der Wortfindung als auch bei der Wortdeutung sich äußern, die jeder sprachlichen Erscheinung, der schlichtesten wie der zusammengesetztesten, wesentlich ist, bilden die innere Sprachform" (ebd.: 24). Das Sprachvermögen des Menschen kann aber auch mehr sein als Gestaltung, und sei sie noch so schöpferisch. In der sprachlichen Gestaltung sind die schöpferischen Kräfte der Sprache selbst zu mobilisieren, nicht nur schon gefundene und vorhandene Sprachgestalten anzuwenden, sondern „nachzuschaffen" oder gar neue Sprachgestalten zu finden. Das heißt im eigentlichen Sinne „Sprache schaffen". Darauf kommt es Seidemann an, und diesen Anspruch hat er auch an den Sprachunterricht gestellt. Im Sprachunterricht geht es nicht um irgendwelche Inhalte, die zum Ausdruck zu bringen wären. Die Inhalte werden einfach vorausgesetzt. Es geht auch nicht um die Vermittlung von Formen. Auch diese werden vorausgesetzt. Letztlich geht es auch nicht um sprachliche Gestaltungen, wie wohl Seidemann sich öfters in diesem Sinne geäußert hat. In und durch seine sprachlichen Gestaltungen soll der Schüler an die schöpferischen Kräfte der Sprache herangeführt werden, diese soll er entdecken, mobilisieren, artikulieren, um „Sprache zu schaffen". „Wem das Wesen der inneren Sprachform sich erschlossen hat, der weiß, daß Sprache in jedem Gebilde Schöpfung ist. Auch das Kind soll an diese Entdeckung herangeführt werden. Sprache sei ihm nicht etwas, was man nachspricht und auswendig lernt oder was nur einen Inhalt hat. Die innere Sprachbildung erzieht zum Nachschaffen des Sprachvorganges" (ebd.: 31). Der Aufsat^unterricht ist „die Erziehung zu sprachschaffender Darstellung" (ebd.: 86). Um genau bestimmen zu können, was Seidemann gemeint hat, empfiehlt es sich, zwischen „Sprachgestaltung" und „Sprachschaffen" deutlicher zu unterscheiden, als Seidemann das selbst getan hat. Die „Sprachgestaltung" ist die Gestaltung eines Textes mit sprachlichen Mitteln, „Sprachschaffen" bezieht sich in erster Linie auf eben diese sprachlichen Mittel und
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meint, daß sie allererst für eine Gestaltung geschaffen werden müssen, sei es „nachgeschaffen" oder gar „neugeschaffen". Das heißt, auf den Aufsatzunterricht übertragen, der Schüler wird zunächst vor eine Gestaltungsaufgabe gestellt. Gestaltungsziele lassen sich grundsätzlich in zwei Richtungen hin formulieren. Sie ergeben sich aus den beiden Hauptfunktionen der Sprache im Bereich der Kultur (s. oben). Dient die Sprache der Erkenntnis des Schülers oder der Wissenschaft, dann wird von der Gestaltung Sachbezogenheit verlangt: „der Einzelausdruck muß sachlich genau und die gedanklichen Beziehungen zwischen den Inhalten müssen sicher gefaßt sein" (ebd.: 92). An Gestaltungsvorgängen dieser Art werden angeführt der Vorgang des Beschreibens, des Berichtens, des Schilderns, des Vergleichens und der Kennzeichnung einer Person. Dient die Sprache dem Gefühl oder der Kunst, dann wird nicht Sachbezogenheit, sondern Verinnerlichung verlangt. „Die künstlerische Sprache strebt nach Formung in Bildern und Stimmungswirkungen" (ebd.: 92). Formen für gefühlsbezogene Aufsätze sind Bilder von Personen, Landschaften oder Tieren, Märchen und Geschichten, Gespräche und Auftritte. Ziel des Aufsatzunterrichtes ist aber nicht so sehr die sprachliche Gestaltung von Erlebtem, sondern die sprachschöpferische Tätigkeit des Schülers. Die Gestaltung ist ein Mittel oder eine Methode, um zu diesem Ziel zu gelangen. Vor eine Gestaltungsaufgabe gestellt, soll der Schüler seine sprachschöpferischen Kräfte mobilisieren und in sprachschöpferischen Akten zur Geltung bringen. Karl Reumuth hat an einem Beispiel gezeigt, wie das geschieht: „Wir betrachten beispielsweise eine Birke und beobachten besonders die Bewegung der Zweige. Wir nehmen uns vor, dieses Naturerlebnis sprachlich festzuhalten". Das ist die Gestaltungsaufgabe. Der Gestaltungsvorgang wird dann so beschrieben: „Der Prozeß der sprachlichen Formung kommt allmählich in Fluß. Wörter und Wendungen stellen sich ein: Die Zweige schwanken, schwingen, sie schleudern hin und her, sie baumeln, sie wedeln usf. Wir müssen nun das treffende Wort wählen". Das ist der Augenblick, in dem die sprachliche Gestaltung in das Sprachschaffen übergeht: „Unser Auge richtet sich auf die Bewegungen der Zweige, wir fühlen uns in sie ein, und unser Sinnen wendet sich den sprachlichen Formen, die sich uns anbieten, zu. Diese hin- und hergehende Gedankenbewegung mündet schließlich ein in die sprachliche Fassung: ,Die Zweige schwingen im Winde'. Das Körpergefühl leichter Bewegung fließt in das Wort ,schwingen' ein". Das Ergebnis des Sprachschaffens geht zuletzt wieder in die Gestaltung ein: „Das Erlebnis hat einen Klangleib gefunden, uns erfüllt ein Gefühl der Stimmigkeit, die ,innere Sprachform' ist gefunden" (K. Reumuth 1941: 205). Was in diesem Beispiel an einem einzigen Wort demonstriert wurde, das soll für den Aufsatz als ganzen gelten. Der Schüler soll sprachschöpferisch tätig werden dadurch, daß er vor sprachliche Gestaltungsaufgaben gestellt wird.
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Nirgends in der Aufsatzdidaktik ist der Anspruch an den Schüler, den Unterricht und die Aufsätze so hoch angesetzt worden, wie bei Seidemann: der Schüler zwar kein Künstler, wie zu Zeiten der Kunsterziehungsbewegung, wohl aber, was vielleicht noch anspruchsvoller ist, der Schüler als Sprachschöpfer! Kein Wunder, daß Seidemanns Ideen zunächst einmal wenig Resonanz fanden. „Seine Zentralidee, die innere Sprachbildung, war bei dem Erscheinen der Erstauflage so neu", schreibt der Herausgeber der siebten Auflage, „der Begriff der ,inneren Sprachform' so wenig geklärt, daß zunächst nur Sprachwissenschaftler und ausgesprochene Fachleute auf dem Gebiete des Deutschunterrichts einen Zugang zu dem Buch als Ganzem fanden. ( . . . ) So ist es nicht verwunderlich, daß einerseits seither fast alle wesentlichen Veröffentlichungen auf dem Gebiete des Deutschunterrichts sich auf Seidemann berufen und ihn zitiert haben, daß andererseits aber die Praxis des muttersprachlichen Unterrichts zunächst nur wenig von seinem Buche befruchtet wurde" (P. Nentwig im Vorwort zu W. Seidemann 1927/1965).
Georg K ü h n (1930) In dem aufsatzdidaktischen Entwurf von Georg K ü h n „Aufsatz und Spracherziehung in der Höheren Schule" verbinden sich zwei Entwicklungen. In den sprachtheoretischen Rahmen, den Wilhelm Schneider begründet und Walther Seidemann ausgearbeitet hatte, werden Ausführungen von Susanne Engelmann über die Stilgattungen eingelagert. Wie Schneider und Seidemann geht K ü h n von einer sprachphilosophischen Grundlegung des Aufsatzunterrichtes aus. Von Schneider und Seidemann übernimmt er die Unterscheidung zweier Sprachformen. Er spricht von „Erkenntnis- und Erlebnissprache". Drei Punkte unterscheiden K ü h n jedoch von Seidemann: (1) E r begründet die beiden Sprachformen nicht sprachtheoretisch, sondern philosophisch-anthropologisch. Erkennen und Erleben sind für K ü h n „die beiden Grundhaltungen des menschlichen Geistes zur Umwelt" (G. K ü h n 1930: 25). Die Begründung hat sich später als überaus folgenreich erwiesen. Von nun an wird stets auf sie zurückgegriffen, wenn von unterschiedlichen Sprachformen die Rede ist. (2) Die anthropologische Begründung zwingt K ü h n , die beiden Sprachformen anders als Seidemann zu charakterisieren. Erkennen könnte eine „Grundhaltung des menschlichen Geistes" sein, dichten aber ist es mit Bestimmtheit nicht. Also muß an die Stelle der „dichterischen Sprache" eine andere Sprachform treten. K ü h n wählt die „Erlebnissprache". (3) K ü h n hält es für unangebracht, den Humboldtschen Begriff der inneren Sprachform „allein zur Grundlage für Begriff und Wesen der Spracherziehung zu machen" (ebd.: 24). Man muß es wohl deutlicher sagen: er hat den Begriff
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überhaupt nicht verwendet. An seine Stelle tritt der Begriff des Stiles: „das einheitliche Formprinzip, nach dem ein sprachliches Werk gestaltet wird". Die Einführung des Stilbegriffes an Stelle des Begriffes der inneren Form gibt K ü h n die Möglichkeit, aufsatzdidaktische Vorstellungen von Susanne Engelmann (1926) in den durch das gegensätzliche Paar „Erkenntnis-/Erlebnissprache" bestimmten Rahmen einzuarbeiten. Susanne Engelmann hatte die tradierten Aufsatzformen als Stilgattungen interpretiert, und Stilgattungen sind für sie einzig und allein durch den Gegenstand bestimmt. Auch für K ü h n ist „die Stilgattung ( . . . ) zunächst einmal bestimmt durch den Gegenstand, der sich eben nur in der ihm zukommenden Art erleben läßt" (ebd.: 28). K ü h n kann sich damit aber nicht begnügen. U m eine Stilgattung vor dem Hintergrund von Erkenntnis- und Erlebnissprache beschreiben zu können, m u ß er neben dem Gegenstand auch die Person einbeziehen, die ihn zur Darstellung bringt. Das Erkennen richtet sich auf den Gegenstand, das Erleben geht aber immer von einer Person aus. Der Stil ist das Produkt zweier Faktoren: von Gegenstand und Person. Mit den Worten Kühns: „Der Stil einer Darstellung wird wesentlich bestimmt durch das Maß und die Art, wie das Erleben sich dem Bedeutungsgehalt einlagert. Dies aber hängt ab von dem Gegenstand selbst und der Persönlichkeit dessen, der ihn darstellt" (ebd.). Wie sehr K ü h n unter dem Zwang des Gegensatzpaares von Erkennen und Erleben steht, wird deutlich, wenn man den Gewährsmann von Susanne Engelmann zurate zieht. Engelmann hatte Philipp Wackernagel zitiert: „der Styl ist der Gegenstand". Das Zitat ist, wie bereits festgestellt wurde, unvollständig. Georg K ü h n hätte das Zitat wohl so ergänzen können: „der Styl ist der Schreibende, der Styl ist der Lesende" (Ph. Wackernagel 1843: 8). K ü h n konnte den Leser als dritten Faktor bei der Konstitution von Stil nicht einbeziehen, weil dieser in dem Gegensatzpaar „Erkenntnis — Erlebnissprache" einfach nicht vorkam. Die Vorstellungen, die K ü h n vom Aufsat^unterricht entwickelt hat, lassen sich unmittelbar aus seinen Bemerkungen zum Grundsätzlichen ableiten. Der Grundsatz, daß die Stilform durch den Gegenstand der Darstellung und die Person des Darstellenden bestimmt ist, führt ihn zur Ablehnung einiger bekannter Aufsatzformen. Abgelehnt werden vor allem der Brief und der Beobachtungsaufsatz, wie ihn Wilhelm Schneider gefordert hatte, aber auch „die Erzählung, Beschreibung und Schilderung des alten Aufsatzes" (ebd.: 133). Der Grundsatz, daß das Verhältnis des Menschen zur Umwelt durch zwei Grundhaltungen oder, wie K ü h n auch sagt, „Wertrichtungen" bestimmt sei und diese auch in der Sprache zum Ausdruck kämen, führt ihn zu der Annahme, daß es auch im Aufsatzunterricht lediglich um zwei Aufsatzformen gehe: „Auch hier haben wir die beiden Richtungen, nach denen alles Bildungsgut, das sprachliche Form annimmt, auseinanderstrebt: den Erkenntnis- und
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den Erlebnisaufsatz, die Wiedergabe objektiver Sach- oder Denkzusammenhänge und die Gestaltung persönlicher Erlebnisse" (ebd.: 35). Hinzu kommen drei neue Momente: (1) Da die Kinder und Jugendlichen während der Schulzeit eine Entwicklung durchlaufen, sind die beiden Grundformen des Aufsatzes so auszudifferenzieren, daß ein Lehrplan entsteht, in dem das eine auf dem anderen aufbaut. So entwickelt sich aus dem Erlebnisbericht der Unterstufe (des Gymnasiums, für die Kühn schreibt) in der Mittelstufe die Erlebnisschilderung und in der Oberstufe die Erlebnisskizze; aus dem Sachbericht der Unterstufe in der Mittelstufe die Darstellung von Arbeitsvorgängen und in der Oberstufe die Facharbeit und der Problemaufsatz: zwei Reihen von Stilund Darstellungsformen, die dadurch unterschieden sind, daß die eine die Subjektivität des Darstellenden, die andere die Objektivität des Dargestellten in den Vordergrund rückt. (2) Die Entwicklungspsychologie wird lediglich für die Differenzierung der Aufsatzformen und den Aufbau eines Lehrplanes bemüht, die Forderungen, die an den Aufsatzunterricht selbst gestellt werden, ergeben sich dagegen „aus dem Wesen der Sprache und ihrer Aufgabe im Leben der Kultur" (ebd.: 53). Sie werden normativ gesetzt: „Feststellungen über den Stil führen von selbst zu der Frage, wie er sein sollte, bzw. ob er gut oder schlecht ist" (ebd.: 31). Darum stehen die Stilgattungen oder Stilformen, die im Aufsatzunterricht zu vermitteln sind, auch ein für alle Mal fest: „Eine weit ausschauende Stilerziehung macht es notwendig, daß (...) gewisse Stilformen in angemessenen Abständen so oft wiederkehren, bis sie beherrscht werden" (ebd.: 43 f.). In der Stoffwahl kann dem Schüler eine gewisse Freiheit zugestanden werden, in der Wahl der Aufsatzform nicht. (3) In der werte-theoretischen Begründung des Aufsatzunterrichtes ist impliziert, daß dem Erkenntnisaufsatz und seinen Spielarten letztlich doch der Vorrang vor dem Erlebnisaufsatz eingeräumt wird (vgl. ebd.: 44, 93). Der Erkenntnisaufsatz ist für alle Schüler obligatorisch, der Erlebnisaufsatz nicht in jedem Falle. Ergebnisse und Tendenzen Um die aufsatzdidaktischen Arbeiten von Wilhelm Schneider, Walther Seidemann und Georg Kühn würdigen zu können, sind sie im Zusammenhang mit den reformpädagogischen Bemühungen um den deutschen Aufsatz insgesamt zu sehen. Vier Tendenzen lassen sich in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ausmachen: (1) Anfangs schien das Problem der Aufsatzreform ein stoffliches zu sein. Die Parole lautete: Gib dem Kind die richtigen Stoffe, und es wird schreiben
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lernen, und zwar gerne und aus vollem Herzen. Das war sehr human gedacht, aber doch zu optimistisch. Aus vollem Herzen schreiben, führt allein noch nicht zu guten Texten. Es kommt auch auf ihre Gestaltung an! Also revidierte man die Ausgangsparole: „Der neue Aufsatz ist nicht ein Stoff-, sondern ein Gestaltungsproblem". Die reformpädagogischen Bemühungen um den deutschen Aufsatz nahmen mit einer solchen Bestimmung des Problems eine Wende, die notwendigerweise wieder zu den Aufsatzformen zurückführen mußte. (2) Wenn auch die Reformpädagogen erneut nach den für die sprachliche Ausbildung der Schüler notwendigen Aufsatzformen fragten, dann bedeutete das keineswegs eine Rückkehr zu den alten Vorstellungen. Die Tatsache, daß sie lieber von „Stilgattungen" als von „Aufsatzformen" sprachen, zeigt, daß sie etwas anderes meinten. Die alten Aufsatzformen waren strukturell definiert: Angabe der sie konstituierenden Teile sowie der Ordnung, in der sie aufeinander folgten. Zu Beginn der zwanziger Jahre schien es für einen Augenblick, als hätte man die Lösung in einem prozessualen Vorgehen gefunden: Gib dem Kind keine Aufsatzschemata, sondern Arbeitsanweisungen, in denen das Vorgehen bei der Anfertigung von Texten beschrieben wird, lautete der Rat von Lotte Müller. Das wäre in der Tat eine Alternative zu dem alten Aufsatz gewesen. Doch hat er sich nicht durchsetzen können. Durchgesetzt hat sich schließlich eine andere Auffassung. Susanne Engelmann hatte sie gleichzeitig mit Wilhelm Schneider formuliert. Die Aufsatzformen werden auf die in ihnen vorzugsweise verwendeten sprachlich-stilistischen Formen reduziert. Aus den Aufsatzformen werden Stilformen, und der Aufsatzunterricht erhält ein neues Ziel: Durch Schreiben soll schreiben gelernt werden, und Schreiben heißt letztlich immer gut schreiben. Aufsatzunterricht ist Stilbildung. (3) Wer die Stilgattungen in den Mittelpunkt des Aufsatzunterrichtes stellt, muß auch angeben können, um welche Stilgattungen es sich handeln soll. So führt die neue Entwicklung notwendigerweise zu der Frage nach einem neuen Kanon der Darstellungsformen für den Aufsatz. Uber das Kriterium, das anzulegen war, war man sich keineswegs einig. Wilhelm Schneider hielt nur die Zwecksprache für den Unterricht geeignet und unterschied auf ihrer Grundlage zwischen Beobachtungs- und Erkenntnisaufsatz. Ähnlich hatte Lotte Müller zuvor zwischen der Darstellung von Beobachtetem und Ersonnenem unterschieden. Das Kriterium ist hier der Unterschied zwischen Wahrnehmen und Denken. Dieses Paradigma hat sich nicht durchgesetzt. Es gibt noch ein anderes, das sich im Verlauf der aufsatzdidaktischen Bemühungen der Reformpädagogen schon früh zu erkennen gibt, aber erst allmählich sein Profil gewinnt. In der Erlebnisdarstellung wird der Ausgangspunkt und die Basis einer Entwicklung gesehen. Die Entwicklung selbst ist durch Differenzierung der Basis bestimmt. Bei A. Jensen und W. Lamszus (1911)
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differenziert sich die Basis in den ästhetischen und in den logischen Aufsatz aus, bei O. Karstadt (1912) und F. Gansberg (1914) in die Phantasiegeschichte und die Abhandlung, bei Walther Seidemann (1927) in den künstlerischen und den erkenntnisbezogenen Aufsatz und bei G. Kühn schließlich in die Erlebnisschilderung und den Sachbericht mit seinen Varianten. Einmal werden neue Begriffe geschaffen, dann wird auf alte wieder zurückgegriffen. Der Tendenz nach sind diese Bemühungen aber homogen. Es gilt aus einer undifferenzierten, sozusagen noch ganzheitlichen Basis, der Erlebnisdarstellung, durch Ausdifferenzierung zwei Reihen von Aufsatzformen oder Stilgattungen zu gewinnen, von denen die eine primär durch den Gegenstand der Darstellung bestimmt ist, die andere durch die Person des Darstellenden, die eine durch Sachlichkeit und Objektivität der Darstellung, die andere durch das Persönliche beim Erleben, also Subjektivität. Das ist die Grundstruktur eines Aufsatzkanons, der erst in den sechziger Jahren seine endgültige Gestalt gewonnen hat. (4) Die neuen Stilgattungen werden nicht nur anders beschrieben als die alten Aufsatzformen (vgl. (2)), sondern auch qualitativ anders definiert. Die Struktur der Unterscheidung in zwei Reihen ist Anlaß und Zwang, eine jede Stilgattung entweder als eine sachlich-objektive oder eine persönlichsubjektive zu definieren. Von der Unterscheidung geht also ein struktureller Zwang aus, dem sich niemand entziehen kann, der sie einmal akzeptiert hat. Nun wird auch dann unterschieden, wenn es nicht notwendig ist, und die Unterschiede werden stärker herausgestellt, als es oft geboten erscheint. Die Unterscheidung führt zur Polarisierung der Aufsatz- oder Stilformen. Eine solche Polarisierung war in der Tradition der Aufsatzformen bereits angelegt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte man die Schilderung von der Beschreibung abgehoben. Die Schilderung repräsentierte die subjektive Darstellung von Gegebenheiten, die Beschreibung die objektive. Nun aber wird diese Unterscheidung auch auf die erzählenden Aufsatzformen angewendet. Der Bericht und die Erzählung treten auseinander: hier die Erlebniserzählung, da der Sachbericht. Das eine hat von nun an mit dem anderen nichts mehr zu tun. Allerdings ist die Zuordnung noch nicht streng durchgeführt. Zwar ist von dem Sachbericht bereits überall die Rede. Doch ihm stehen einmal der ästhetische, dann der künstlerische Aufsatz, die Phantasiegeschichte oder die Erlebnisschilderung gegenüber. Eine Klärung der Zuordnung blieb der Zukunft vorbehalten.
IX. Die Deutschkunde und der deutsche Aufsatz: Das andere Weimar Die Vertreter der Deutschkunde haben sich selbst als Reformer verstanden. In der Tat beabsichtigten sie eine Reform des Deutschunterrichtes und des Unterrichtes an den Schulen insgesamt. Es wäre also nicht unbegründet, wenn man ihre Vorstellungen vom deutschen Aufsatz im Zusammenhang mit denen der Reformbewegung darstellen würde. Das geschieht hier nicht. Denn die Vorstellungen, die die Deutschkundler mit dem Begriff der Reform verbanden, haben mit denen, die im vorigen Kapitel dargestellt wurden, nicht das Mindeste zu tun. Man muß es wohl deutlicher sagen: sie waren das genaue Gegenteil. Zum Aufsatzunterricht hatten sie fast nichts beizutragen, und das wenige, das sie dazu vorgebracht haben, war eher dazu angetan, den alten, von den Reformern bekämpften Aufsatz zu erhalten, als ihn zu überwinden (zur Deutschkunde allgemein vgl. H. J. Frank 1973/1976; 527-752; K. Reumuth 1925; W. Hofstaetter in W. Hofstaetter und U. Peters (Hrg.) 1930: 236 f.; eine Gesamtdarstellung steht noch aus).
1. Die Idee der Deutschkunde Erziehung im Sinne der Deutschkunde ist nicht Ausbildung eines Gelehrten, auch nicht die allseitige Bildung einer Persönlichkeit, sondern die Erziehung des Deutschen zum Deutschen: „wir trachten danach", schreibt Johann Georg Sprengel, vielleicht der rührigste unter allen Deutschkundlern, „das wahrhaft zu werden, was wir allein sein können, wenn wir in der Welt überhaupt etwas sein wollen: Deutsche" (J. G. Sprengel 1922: 267). Walter Hofstaetter, ein Mitstreiter Sprengeis, hat „Wesen und Aufgaben der Deutschkunde" in zehn Punkten, einer Art Dekalog der Deutschkunde, zusammengefaßt, und dabei das Ziel so erläutert: „1. Wenn auch die innere Einigung unseres Volkes nicht allein durch Erziehung und Schule erzielt werden kann, so hat die Schule doch die Aufgabe, diese Einigung vorzubereiten und anzubahnen (...). 2. Die Voraussetzung zur Arbeit in diesem Sinne ist die Einigung auf ein bestimmtes Ziel aller Schularbeit. Vom Volksganzen aus gesehen ist dieses Ziel: gesunde deutsche Menschen zu erziehen, die das Leben unseres Volkes in der Gegenwart verstehen, sich ihm bewußt einordnen
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und willens sind, an den Aufgaben des Volkes mitzuarbeiten. ( . . . ) Diesen Willen zu wecken, ist das letzte Ziel der deutschen Bildung" (W. Hofstaetter 1926: 1 f.). Es geht um Verständnis für das eigene Volk, es geht um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, doch Verständnis und Gefühl sind nur Mittel zur Weckung des Willens, „an der Aufgabe des Volkes mitzuarbeiten". Der Weg, den eine solche Erziehung zum deutschen Menschen nehmen sollte, geht über die Geschichte. Was ein deutscher Mensch, was deutsche Art und deutsches Wesen sei, das läßt sich nicht begrifflich ableiten, sondern nur an seiner Geschichte ablesen. Man muß sich aber deutlich vor Augen halten, daß die Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Volkes und seiner Kultur nicht einem historischen Interesse entspringt: „Der Deutschkundler stellt sich ( . . . ) bewußt anders ein als der Geschichtsforscher, der wissen will, wie alles war (...). Die Deutschkunde betrachtet das Leben der Vergangenheit nur um der Gegenwart willen, sie sucht nur das auf, was weiter gewirkt und Früchte getragen hat, die für unsere Zeit noch bedeutsam sind ( . . . ) ; nur dann, wenn solche Ansätze die besondere Stellung einer Zeit zum Deutschtum erhellen, haben sie auch für unsere Betrachtungsweise Bedeutung" (W. Hofstaetter 1921: 4 f.). Für den Deutschunterricht hatte eine solche Auffassung Konsequenzen. Bisher hatte er die Aufgabe, dem Schüler die deutsche Sprache und die deutsche Literatur nahezubringen. Wenn nun an die Stelle von Sprache und Literatur deutsche Art und deutsches Wesen treten, dann mußte das zu einer Erweiterung seines Gegenstandsbereiches führen. Klaus Bojunga führte 1913 an neuen Gegenständen des Deutschunterrichtes neben Sprache und Schrifttum an: „Kunst, Sitte, Weltanschauung und Recht; Stammesart, Volksart und Staat; Landschaft, Wirtschaft und Wohnung" (K Bojunga 1913: 31). Musik, Philosophie, Frömmigkeit u. a. m. wären noch zu nennen gewesen. Ein imposantes Unternehmen: die Erfassung von deutscher Art und deutschem Wesen in seiner historischen Erstreckung „von der Frühzeit bis heute" und die Einbeziehung aller seiner „wesentlichen Erscheinungen" (J. G. Sprengel 1922: 268).
Betraut mit einer solchen Aufgabe, veränderte sich auch das Gewicht des Deutschunterrichtes im Spektrum der übrigen Fächer. Der Deutschunterricht wird zum Mittelpunkt des gesamten Unterrichtes.
2. Die Deutschkundebewegung Mag auch der Name „Deutschkunde" neu gewesen sein (vgl. W. Hofstaetter und U. Peters (Hrg.) 1930: 236), der Grundgedanke war es mit Sicherheit nicht. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch sind ähnliche Ideen immer wieder vorgebracht worden, und zwar nicht nur von irgendwelchen verbohrten
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Chauvinisten, sondern von den gebildetsten und liberalsten Vertretern der Pädagogik und auch der Deutschdidaktik. Zwei Beispiele nur. Der berühmte Diesterweg prophezeite: „Es wird eine Zeit kommen, wo ( . . . ) unsere künftigen Bürger und Vaterlandsverteidiger deutsch reden, deutsch denken, deutsch fühlen und deutsch — deutsch sein lassen. Diese Revolution wird eine der größten, eine der wichtigsten sein, die je die Welt erfahren hat" (zit. nach A.Fehn 1920: 1 (vgl. auch R. H. Hiecke 1842: 279)). Und ein anonymer Autor schrieb im Jahre 1841, indem er das Programm der Deutschkunde bis in die Formulierungen hinein vorwegnahm: „Es gilt, das Gymnasium auf ein ganz neues Fundament zu stellen. Die Ziele sind Ausrottung des Kosmopolitismus und Weckung und Förderung von Vaterlandsliebe und Nationalgefühl (...). Alles pädagogische Geschehen hat sich in den Dienst der deutschen Nationalerziehung zu stellen, und das bedeutet, daß nicht Beruf, Stand, Gelehrsamkeit oder gar so etwas wie Humanität das Bildungswesen bestimmen dürfen, sondern der vaterländische Geist, wie er sich in Literatur, Kunst und Geschichte offenbart" (zit. nach C. Conrad 1986: 178). Die Deutschkundebewegung trat zum ersten Mal in Erscheinung mit der Gründung des „Deutschen Germanisten-Verbandes" im Jahre 1912. Es war die Absicht, alle, die lehrend mit der Kunde von deutscher Art und deutschem Wesen betraut waren, in einem Verband zusammenzuführen, die Lehrer so wie die Professoren. So ist es bis heute geblieben. Das einigende Band sollte der vaterländische Gedanke sein. So heißt es in dem Gründungsaufruf: „Wollen die höheren Schulen ihre Pflicht wirklich erfüllen, die ihnen anvertraute Jugend zu fruchtbringender, auf gediegenem Verständnis gegründeter Mitarbeit an der Ausgestaltung unseres Volkstums und unserer Kultur zu erziehen, so ist eine entschiedenere Betonung des Deutschen unbedingt erforderlich" (Verhandlungen 1912: 1). 1913 kommt es in Marburg zum ersten Germanistentag. Die Frage war nun: „Was ist erforderlich, um den Unterricht auf unseren Schulen so zu gestalten, daß in ihm unser Deutschtum zur Grundlage, zur lebendigen, alles durchdringenden, segentragenden Kraft wird?" (K. Bojunga 1913: 22). Es beginnt die Arbeit an der Ausformulierung des Programmes. In zwei großen Schüben setzte sich die Deutschkunde durch. Zunächst hatte sie sich mit den Altphilologen an den Schulen und Universitäten auseinanderzusetzen. „In dem ungeschichtlichen, für unser Volkstum mörderischen Trugbild alexandrinischer Weltbetrachtung, in der aus diesem Nährboden erwachsenen Weltbürgerlichkeit und wurzellosen übervölkischen Fremdsucht hat der deutsche Unterricht seinen bewußten Gegner, seinen unversöhnlichen Feind zu erblicken", schrieb Johann Georg Sprengel (1917: 3). Das Deutsche steht gegen das Lateinische, die Deutschkunde gegen die klassische Altertumskunde. Getragen von der Welle vaterländischer Begeisterung, die der Krieg mit sich brachte, hatte die Deutschkunde leichtes Spiel.
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1916 brachten ihre Vertreter eine „Eingabe an die deutschen Regierungen" ein. Dies veranlaßte den Deutschen Gymnasialverein, das Organ der klassisch orientierten Studienräte, auf ihrer „Kriegstagung" im Herbst desselben Jahres zu heftigen, teils maßlosen Reaktionen. Ein letztes Aufbäumen. Von da ab gaben sich die Altphilologen geschlagen. Dann hatte sich die Deutschkunde mit der pädagogischen Reformbewegung auseinanderzusetzen, vor allem mit den Vertretern der Arbeitsschule, die zunächst einmal die Unterstützung des Staates hatten. Wieder kam den Deutschkundlern die Gunst der Stunde zu Hilfe. „1923 war die Republik in ihre bisher schwerste Krise geraten. Die im Januar erfolgte Besetzung des Ruhrgebietes und der darauf einsetzende Ruhrkampf hatten zur rapiden Geldentwertung, zur Verarmung großer Teile des Mittelstandes und zur Radikalisierung der politischen Meinungen geführt. Als endlich im November mit der Einführung der Rentenmark und wenige Monate später mit dem Dawes-Plan nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein politischer Neubeginn möglich wurde, bedurfte es größter Umsicht der verantwortlichen Politiker und zugleich strengster Restriktion öffentlicher Ausgaben, um diesen Ansatz nicht scheitern zu lassen. ( . . . ) Die Republik wurde 1924 gleichsam ein zweites Mal geboren und, wie es schien, nun unter klareren Voraussetzungen. Doch die Ereignisse des Jahres 1923 hatten sich eingeprägt, hatten Enttäuschung und Erbitterung hinterlassen, und es fehlte nicht an Stimmen, diese schmerzliche Erinnerung wachzuhalten. Schien es nicht geraten, gerade nun, wo die Dinge endlich eine leichte Wendung zum Besseren nahmen, mehr denn je nach Sicherheit verbürgenden Traditionen Ausschau zu halten? Vor allem dort, wo es um die Zukunft der Nation ging: im Bildungswesen? Nicht trotz der widrigen Zeitumstände, sondern gerade durch sie vermochte sich die preußische Reform in ihrer Zielstrebigkeit durchzusetzen. Denn sie war zielstrebig in ihrer restaurativen Tendenz" (H. J. Frank 1973/1976: 639). Die Ideen der Deutschkundebewegung paßten genau in dieses Konzept, und so konnten sie im Zuge der Richert-Boelitzschen Reformen in vielen Punkten an den Schulen konkrete Gestalt annehmen. Nach 1925 beherrscht die Deutschkunde das deutschdidaktische Feld. Die Reformpädagogen befinden sich auf dem Rückzug, suchen entweder die Nähe zu der neuen Bewegung oder orientieren sich wieder, wie wir gesehen haben, an hergebrachten Positionen. Zugleich aber artikuliert sich in den Reihen der Deutschkundler Widerspruch. Auf ihn wird bei der Darstellung der aufsatzdidaktischen Vorstellungen der Deutschkunde zurückzukommen sein.
3. Der deutschkundliche Aufsatz Die Deutschkunde konnte aufgrund ihrer Voraussetzungen mit dem deutschen Aufsatz nicht viel anfangen, und sie hat sich darüberhinaus die Sache
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noch schwieriger gemacht, als es ohnehin schon gewesen wäre. Man kann zwei, vielleicht sogar drei Phasen in ihrer Einstellung zu Fragen des Aufsatzunterrichtes und zur Aufsatzdidaktik unterscheiden. Die erste Phase Daß Schüler, Primaner zumal, des Deutschen mächtig sein sollten, und zwar in Wort und Schrift, eine solche Forderung war zu selbstverständlich, als daß sie nicht auch von Vertretern der Deutschkunde erhoben worden wäre. Aber wichtiger als der Gebrauch der deutschen Sprache, ihre Beherrschung in Wort und Schrift, war ihnen die Kenntnis der deutschen Sprache als eines Kulturgutes, in dem sich deutsche Art und deutsches Wesen offenbarten. Die Forderung nach der Vermittlung sprachlicher Fähigkeiten hatte hinter der Kunde des Deutschen in der Sprache zurückzutreten. Eine solche Auffassung kam in einer veränderten Akzentuierung der Ziele des Deutschunterrichtes zum Ausdruck. Man unterschied zwischen dem „Nutzziel" und dem „Bildungsziel". Claudius Bojunga hatte die Unterscheidung 1917 eingeführt. Im selben Jahre hatte W. M. Becker eine ähnliche Unterscheidung vorgenommen, die sich zwar nicht durchgesetzt hat, aber deutlicher erkennen läßt, worum es ging: „Unser Deutschunterricht leidet an einer Dreispaltigkeit ( . . . ) : er umfaßt eine Technik, eine Wissenschaft und eine Art Seelsorge. Er soll den Schüler im Gebrauche seiner Sprache schulen, er soll Lehrstoffe vermitteln, er soll Gesinnungen anregen" (W. M. Becker 1917: 128). Das erste ist eine technische, das zweite eine wissenschaftliche und das dritte eine moralische Aufgabe. Es besteht kein Zweifel, daß die Vertreter der Deutschkunde an der Technik am wenigsten interessiert waren. Die Wirkung auf die Gesinnung der Schüler, „die Belegung des vaterländischen Sinnes", war die Hauptsache, also „die Seelsorge". Und weil diese nicht ohne Kenntnis deutscher Art und deutschen Wesens zu erreichen war, kam auch der wissenschaftlichen Seite des Faches eine gewisse Bedeutung zu. Der Deutschunterricht ist nach dieser Auffassung ein Gesinnungsfach. Auch wenn er es vermutlich immer schon war, hier wurde es zum Programm. Der Aufsatzunterricht wurde ohne Wenn- und Aber dem „Nutzziel" unterstellt und damit zu einer „Kulturtechnik" degradiert. Wer vaterländische Gesinnung im 20. Jahrhundert wieder in die Schulen einziehen lassen wollte, der empfand natürlich kein Bedürfnis und schon gar keine Notwendigkeit, sich mit den Dingen des täglichen Lebens abzugeben. Er hatte Wichtigeres im Sinn, als Kindern und Jugendlichen Lesen und Schreiben beizubringen. Mit Verachtung spricht er darum von „Kulturtechniken". Wohl an keinem anderen Punkte wird der Gegensatz zwischen Deutschkundlern und Reformpädagogen deutlicher als hier. Schreiben war für die Reformer, welcher Schule auch immer sie angehören mochten, Ausdruck eines Innersten, Ausdruck der
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Persönlichkeit: ein Akt von höchster kultureller Bedeutung. Für die Vertreter der Deutschkunde ist Schreiben nicht mehr als eine Technik. Eine derart — man muß es wohl schon so sagen — bornierte Auffassung vom Aufsatzunterricht findet in der Tatsache seinen unmittelbaren Ausdruck, daß sich die Vertreter der Deutschkunde zunächst einmal überhaupt nicht um den Aufsatzunterricht gekümmert haben. Ich habe bis zum Ende der zwanziger Jahre in der gesamten, im übrigen recht umfänglichen Literatur der Deutschkundebewegung nur zwei Stellen gefunden, in denen Fragen des Aufsatzunterrichtes aufgegriffen wurden. So viel ich feststellen konnte, erwähnt der Direktor der Berliner Augustaschule, Thomas Lenschau, als erster 1917 den „kulturkundlichen Aufsatz". (Die Bezeichnung „Kulturkunde" steht in dieser Zeit noch oft für „Deutschkunde".) Lenschau meint, man könne schon in der Obertertia oder Untersekunda „in jedem Jahr ein bis zwei Aufgaben" stellen, „die den Schüler veranlassen, einen im Laufe des Unterrichts angesammelten Stoff zu einem Gesamtbilde zu vereinigen und dadurch in sich lebendig zu erhalten" (Th. Lenschau 1917: 88). Kulturkundlich sind hier lediglich die Stoffe und Themen. An Themen werden vorgeschlagen für die Obertertia und Untersekunda: „das altdeutsche Gerichtswesen", „das Turnier" und „die Burg" — für die Oberstufe: „Schiller und die französische Revolution", „der Ausklang der Romantik: Eichendorff, Schumann, v. Schwind", „das deutsche Frauenideal", „der Wald im deutschen Bewußtsein" und „vom Tod in der deutschen Kunst" (eine gescheite Kritik der deutsch- bzw. kulturkundlichen Themen findet sich bei K. Becker 1927). 1921 erschien ein Buch mit dem Titel „Forderungen und Wege für den neuen Deutschunterricht". Es handelt sich um Beiträge verschiedener Autoren. Walter Hofstaetter, der Herausgeber des Buches, hatte den Artikel (wenn drei Druckseiten eine solche Bezeichnung überhaupt verdienen) über den Aufsatz der Oberklassen geschrieben. Auch er richtet sein Augenmerk auf die Themen, doch hebt er ein anderes Moment hervor: das Persönliche. „Es bleiben nun noch," heißt es da, „die ganz persönlichen Aufgaben, auf die ich besonderen Wert lege, da sie dem Schüler helfen, sich über sich selbst und seine Stellung zur Welt klar zu werden" (W. Hofstaetter (Hrg.) 1921: 46). Das klingt recht reformerisch und könnte durchaus auch von einem Vertreter der Persönlichkeitspädagogik gesagt worden sein. Doch ist etwas ganz anderes gemeint. Das Persönliche ist instrumentalisiert. Die Deutschkunde, meint Hofstaetter, „erstrebt ein innerliches Verhältnis zu unserem Volk und seinem Leben in Vergangenheit und Gegenwart — das erreichen wir, indem wir unsere Jugend immer wieder veranlassen, selbständig zu beobachten und einzudringen und für das Selbstgewonnene auch einzutreten" (edd.). Man muß sich an diesem Satz jedes Wort genau ansehen. Es geht nicht darum, daß der Schüler in seinem Aufsatz Persönliches zum Ausdruck bringt, wie sich das Rudolf Hildebrand und viele
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Reformer vorgestellt haben. Nicht das Persönliche, sondern „unser Volk und sein Leben in Vergangenheit und Gegenwart" sind Gegenstand der Aufsätze, der Gegenstand der Deutschkunde schlechthin. Warum dann „die ganz persönlichen Aufgaben"? Die Antwort liegt auf der Hand. Der Schüler soll „ein persönliches Verhältnis" zu seinem Volk gewinnen, d. h. eine nationale Gesinnung in sich ausbilden. Das geschieht am besten dadurch, daß er sich nationale Stoffe „selbständig" erarbeitet und auf diese Weise zueigen macht. Mit den „persönlichen Aufgaben" soll also zweierlei erreicht werden: der Aufbau einer nationalen Gesinnung, und das Gefühl der Verpflichtung, „für das Selbstgewonnene auch einzutreten". Man kann sich ein Bild von einem deutschkundlichen Aufsatz am Beispiel eines Abituraufsatzes machen, der 1927 in Hannover-Linden angefertigt worden ist. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß es sich nicht um einen Musteraufsatz handelt (der Aufsatz wurde schließlich mit „ungenügend" bewertet) und hier nur die Aussagen angeführt werden, die in etwa den Gedankengang erkennen lassen. Das Thema lautete: „Die Reichsstadt Augsburg im Mittelalter (geschildert nach Hebbels ,Agnes Bernauer')". Das Thema bezieht sich auf ein Stück deutscher Kulturgeschichte, hier eine Stadtgeschichte, und die Tatsache, daß dieses Stück nicht aufgrund von Gehörtem oder Gelesenem einfach dargestellt, sondern anhand eines Dramas erarbeitet werden sollte, bringt das persönliche Moment, von dem W. Hofstaetter gesprochen hatte, zur Geltung. „A. Hebbel hat seine Tragödie ,Agnes Bernauer' ein deutsches Trauerspiel genannt; er äußert sich jemandem gegenüber, daß es ihm schon lange am Herzen gelegen hätte, etwas recht deutsches (sie) darzustellen, um dem alten Reich, das 1804 totgeschlagen und 1848 begraben wurde, ein Kreuz aufzurichten. Was lag da näher, als irgendeine freie Reichsstadt in ihrem Aussehen, in ihrem Leben und Treiben zu schildern, denn gerade in den alten Reichsstädten kam doch so recht das Deutsche zum Ausdruck (...)." Soweit die Einleitung. Worauf es dem Verfasser ankam und worauf es auch wohl ankommen sollte, wird deutlich ausgesprochen: „etwas recht Deutsches darzustellen", und zwar so, daß „so recht das Deutsche zum Ausdruck" komme. Das genau war der deutschkundliche Gesichtspunkt. Im folgenden geht es dann mehr um kulturkundliche Aspekte. Der Hauptteil: „Daher entschloß sich Hebbel, die freie Reichsstadt Augsburg als Hintergrund für das rührende Schicksal der schönen Badertochter zu nehmen. In seinem Trauerspiel zeigt er uns mit satten Farben das deutsche Kulturleben im Mittelalter. Die Stadt Augsburg verdankt ihre Blüte und Schönheit einigen Handelsfamilien, deren Handel sich über die ganze, wenigstens damals bekannte Welt erstreckte. Sie sind es vor allem gewesen, die dazu beitrugen, das Stadtbild dermaßen zu gestalten, daß es die Freude und Bewunderung eines jeden erwecken mußte. (...) Doch legt der Dichter in der Schilderung Augsburgs den Hauptwert auf das Leben und Treiben der Bürger. Das
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ehrenfeste Bürgertum ist nach hartem, vielleicht noch ein wenig nachzitterndem Kampfe zur Einigkeit gekommen (...). Recht ausführlich führt uns auch der Dichter das Bürgertum vor. Es ist eben das biedere, ehrliche und treue Bürgertum, das es gerne in seinem Leben zu etwas bringen möchte, um einen ruhigen Lebensabend haben zu können ( . . . ) " . Ein eigentlicher Schluß fehlt. Die zweite Phase Erst gegen Ende der zwanziger Jahre, nachdem sich die Deutschkunde schon längst im Deutschunterricht etabliert hatte, hat sie, wenn auch mehr dazu gedrängt als aus eigener Einsicht, dem Aufsatzunterricht Beachtung geschenkt. Voraussetzung dafür war, daß die Sperre, die sich die Deutschkunde durch ihre Unterscheidung von Nutz- und Bildungszielen im Deutschunterricht selbst geschaffen hatte, aufgehoben wurde. Das ist in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in der Tat geschehen. Zweifel am Sinne der Unterscheidung kamen außerhalb der Bewegung, aber auch in ihren eigenen Reihen auf. Der badische Minister des Kultus und Unterrichts, Willy Hellpach, forderte 1925 kurz und bündig: Mehr Deutschkönnen, weniger Deutschkunde. Denn „wir leiden unter viel zu viel .Deutschkunde', und sollen noch immer mehr davon bekommen, während das Deutschk ö n n e n ständig zurückgeht" (W. Hellpach 1925: 119). Im selben Jahr griff Martin Havenstein den Bildungsbegriff der Deutschkunde an. Er selber war Mitglied der deutschkundlichen „Gesellschaft für deutsche Bildung", gehörte sogar ihrem Vorstand an (vgl. G. Ried (Hrg.) 1927: 87), dennoch scheute er sich nicht, in seinem Buch „Die Dichtung in der Schule" (1925) die Richtung, in die die Deutschkunde trieb, einer harschen Kritik zu unterziehen: „Die Herren ( . . . ) haben nicht den rechten Bildungsbegriff, ihr Bildungsdenken ist alexandrinisch entartet, sie verwechseln Bildung und Wissenschaft. Echte Bildung ist beim einzelnen wie bei der Gruppe, wo man sie Kultur nennt, nicht ein Wissen und Verstehen, ( . . . ) sondern Ausdruck und Gestaltung des eigenen inneren Seins und der Umwelt". Und das bedeutet für die prachliche Bildung: „sprachliche Bildung oder Kultur hat man einzig in dem Grade, wie man die Sprache selber praktisch beherrscht, wie man imstande ist, mit ihr sich selbst, sein Inneres, den Gehalt seiner Persönlichkeit auszudrücken und mitzuteilen" (M. Havenstein 1925: 3). Das ist ganz im Sinne der Reformer gedacht. Ein Jahr später, 1926 auf dem Kongreß des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht in Weimar, kam es dann zum offenen Bruch mit der Deutschkundebewegung. „Denken lehren sollen wir die Schüler im philosophischen wie in jedem wissenschaftlichen Unterricht, nicht deutsch denken" (G. Ried (Hrg.) 1927: 41). Das war Havenssteins Schlußwort. In der Zwischenzeit hatte der renommierte Theodor Litt zu einer fundamentalen Kritik der Deutschkunde angesetzt. In einem Zeitschriftenartikel aus
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dem Jahre 1925 arbeitete er unnachsichtig die theoretischen Implikationen des kulturkundlichen Unterrichtsprinzip heraus (Th. Litt 1925). Auf dem Weimarer Kongreß von 1926 ging er dann auch ausführlich auf „die Mißachtung der unterrichtlichen Arbeit" ein, wie sie die Deutschkunde programmatisch betrieb: „Wie oft begegnet man in der einschlägigen Literatur einem Begriff des technischen'. Lesen, Schreiben, Rechnen werden kurzerhand unter die ,Kulturtechniken' einrubriziert. Der deutsche Unterricht dient, soweit er sich um den richtigen Gebrauch der Muttersprache bemüht, einer von seiner ,deutschkundlichen' Sendung scharf unterschiedenen technischen' Aufgabe. ( . . . ) Dieselbe Schätzungsweise tritt uns überall da entgegen, wo man die erzieherische Aufgabe der Schule gegen ihre unterrichtliche Zielsetzung ausspielt" (Th. Litt in G. Ried (Hrg.) 1927: 7). Litt dreht den Spieß um: „Pädagogisch wird die Behandlung der genannten Gegenstände gerade erst in dem Augenblick, da sie den Charakter des bloß Technischen verlieren, da es dem Erzieher gelingt, den pädagogischen Wertgehalt in ihnen selbst aufzutun und durch sie selbst zur Wirkung zu bringen" (ebd.). Die Vertreter der Deutschkunde reagierten empört und mit Abwehr. Doch die Kritik blieb nicht ohne Wirkung. Man war zwar nicht bereit, die eigene Position grundsätzlich zu überdenken, und schon gar nicht, sie zu revidieren, wohl aber, Korrekturen vorzunehmen. Als erster reagierte Walter Hofstaetter. Er gibt zu bedenken: „Man darf nicht vergessen, daß die Deutschkunde vom deutschen Unterricht ausgegangen ist, daß sie ihn aus der Beschränkung auf Sprache und Schrifttum erlösen wollte. Jetzt aber droht die Gefahr, ( . . . ) daß man um der Geschichte willen dem deutschen Unterricht eine Zwangsjacke anlegt" (W. Hofstaetter (Hrg.) 1926:18). Und in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Weimarer Kongreß ist er sogar bereit, die Ausbildung der sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Deutschunterricht auf eine Stufe selbst mit deutschkundlicher Bildung und Erziehung zu stellen: „Es ist selbstverständlich: Wie Deutschkunde zu Deutschkönnen (das sind die Worte Hellpachs, O. L.) führt, so führt Bemühung um Deutschkönnen zur Erkenntnis deutschen Wesens, sie beide gehören zusammen und ergänzen sich als gleichberechtigte Glieder des deutschen Unterrichts" (W. Hofstaetter 1927: 100). Damit war zwar nicht die Unterscheidung zwischen Deutschkunde und Deutschkönnen, Bildungs- und Nutzziel des Deutschunterrichts aufgehoben, wohl aber die den Sprach- und Aufsatzunterricht diskreditierende Gewichtung der beiden Ziele grundsätzlich in Frage gestellt. Ein weiterer entscheidender Schritt in der Aufwertung des Aufsatzunterrichtes ist dann Anfang der dreißiger Jahre zu beobachten. Die Unterscheidung zwischen Nutz- und Bildungsziel wird beibehalten, sie erfahrt nun aber eine andere Anwendung auf den Deutschunterricht. Sie wird auf den Aufsatzunterricht als solchen bezogen. Dem Nutzziel oder — wie es jetzt heißt — dem „Fertigkeitsziel" dienen lediglich die Stilübungen, für deren
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Abtrennung vom Aufsatzunterricht sich Wilhelm Schneider, Susanne Engelmann, Georg Kühn u. a. eingesetzt hatten. Die Aufsätze jedoch werden unter das Bildungsziel gestellt. Damit ist der Aufsatzunterricht auf Kosten der Stilübungen aufgewertet. So kann man in einem Artikel mit dem charakteristischen Titel „Was ist uns der Aufsatz?" lesen: „so wertvoll die Stilübung auch sein mag, sei es für die Erlernung der Stilmittel, sei es für die Schulung in der Gedankengliederung, sie bleibt doch im Handwerkmäßigen stecken. (...) Schreibrichtigkeit, Sprachrichtigkeit und Stilangemessenheit (...) sind Fertigkeitsziele" (H. Davits 1931: 537). Von den Stilübungen heben sich die Aufsätze deutlich ab. Sie dienen keinem Nutz- oder Fertigkeitsziel, sondern der zentralen Aufgabe des Deutschunterrichtes im Sinne der Deutschkunde: dem Bildungsziel. „Solange man den Aufsatz als erweiterte Stilübung oder als besonders abgegrenztes Teilgebiet des Deutschunterrichtes ansieht, wird man seinen Gesamtwert nicht abschätzen können. Das Bildungsziel des Aufsatzes liegt im gleichen Bereich wie das des Gesamtunterrichtes. (...) Das Bildungsziel des Aufsatzes ist in der Fähigkeit zu suchen, sich schriftlich mit Problemen der Umwelt im Sinne der Erziehung zum Deutschen Menschen auseinanderzusetzen" (ebd.). Damit war der Aufsatzunterricht in den engsten Kreis der deutschkundlichen Unterrichtsgegenstände aufgenommen und konnte sich derselben Aufmerksamkeit erfreuen wie etwa der Literaturunterricht. Nun konnte es Walter Hofstaetter, dessen Stellungnahmen zum Aufsatzunterricht wir durch die beiden vorausgehenden Phasen verfolgt haben, wagen, in einem Lexikonartikel zu schreiben: „Wir sehen die Aufgabe des Aufsatzes heute nicht mehr nur in der Pflege der Sprachfertigkeit (früher wäre an dieser Stelle vom Nutzziel die Rede gewesen, O. L.) — hier wird er durch kleine Ausarbeitungen und stilistische Übungen ergänzt und entlastet — sondern betonen (...) den Ausdruck eigener Gedanken und verlangen die Behandlung eines in eigenem Gedankenkreise liegenden Themas" (W. Hofstaetter in W. Hofstaetter und U. Peters (Hrg.) 1930: 246). Er gibt zu, daß „die Zweiteilung der Deutschkunde nach ihrer kulturellen und technischen Seite" dem Deutschunterricht „schwer geschadet hat", und führt neben „dem geschichtlichen Sprachunterricht" und „einem Teil des Literaturunterrichts" auch die Behandlung „deutschkundlich gerichteter Aufsatzthemen" als Aufgaben des Deutschunterrichtes an (ebd.: 246 f.). Der Zeitpunkt war erreicht, an dem die Deutschkunde ihre selbstproduzierte und völlig unnötige Blockierung gegenüber Fragen des Aufsatzunterrichtes aufheben, die Entwicklung, die die Aufsatzdidaktik inzwischen übernommen hatte, zur Kenntnis nehmen und auch selbst in die Diskussion der brennendsten Fragen des Aufsatzunterrichtes eingreifen konnte. Damit beginnt eine dritte Phase in der Entwicklung deutschkundlicher Vorstellung vom deutschen Aufsatz. Diese dritte Phase in der Entwicklung des deutschkundlichen Aufsatzes ist identisch mit dem Aufsatz im Dritten Reich.
X. Der Aufsatz als Ausdruck von Haltung: Das Dritte Reich 1. Die Liquidierung der reformpädagogischen Ansätze „Mit dem 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübernahme, endeten in Deutschland für zwölf Jahre eine reiche Schultradition und ein tiefgreifender Versuch, Reformpädagogik genannt, Veränderungen in allen Einflußbereichen der Pädagogik, mithin auch in der Schule zu erreichen und die besonders vom Neuhumanismus und Idealismus übernommenen Bildungsvorstellungen auf ihre weitere Aktualität und Relevanz zu überprüfen. Was die einzelnen Strömungen der Reformpädagogik (...) vielfältig diskutiert und in mannigfacher Form praktiziert hatten, nahmen die Nationalsozialisten 1933 zwar teilweise an, entwickelten es dann jedoch allenfalls unwesentlich weiter. Den größten Teil überkommener pädagogischer Vorstellungen indessen lehnten sie ab" (K.-I. Flessau 1977/1979: 19). Die Kunster^iehungsbewgung hatte sich längst überlebt. Was von ihren Vorstellungen noch von Interesse war, war in andere Reformströmungen eingeflossen. Eine Auseinandersetzung der Nationalsozialisten mit den Ideen der Kunsterziehungsbewegung fand also nicht statt. Doch waren die Ideen der Persönlichkeits- oder Erlebnispädagogik 1933 nach wir vor lebendig und nahezu selbstverständliches Gedankengut aller pädagogisch Interessierter. Zu ihnen standen die pädagogischen Vorstellungen der Nationalsozialisten in diametralem Gegensatz. „Nun wurde fraglich, ob das Ideal des in sich schwingenden, selbstherrlichen Ich und die ihm entsprechende pädagogische Haltung und Bemühung zu den unverlierbaren philosophischen Gedanken und Erziehungsweisen gehören. Der Deutsche fand sein Volk und damit sich selber in einer neuen, von Grund aus anderen geschichtlichen Lage. (...) Es vollzog sich eine grundsätzliche pädagogische Wendung von weltgeschichtlicher Bedeutung" (K. F. Sturm 1942; 9 0 - 9 2 ) . Auf den ersten Blick scheinen die Ideen der Arbeitsschule den Nationalsozialisten zugesagt zu haben. Der Gedanke an eine geordnete, planmäßig betriebene und disziplinierte Arbeit hatte in der Tat gerade für den Nationalsozialisten seinen Reiz. Darum waren sie auch nicht zimperlich und erklärten den „Arbeitsunterricht" kurzerhand zu einem ihrer Unterrichtsgrundsätze: „Unterrichtsgrundsatz ist ein maßvoller, gebundener Arbeitsunterricht", heißt
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es in den Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" (1938: 19). Doch schaut man genau hin, dann erkennt man, daß zwischen den Vorstellungen der Nationalsozialisten und denen der Vertreter der Arbeitsschule ein himmelweiter Unterschied besteht. Für Georg Kerschensteiner, vor allem aber für Hugo Gaudig ging es um „freie, geistige Tätigkeit". Die Freiheit der Tätigkeit war Programm: „ein Handeln aus eigenem Antrieb, mit eigenen Kräften, auf selbstgewählten Bahnen, zu freigewählten Zielen" (H. Gaudig 1922/1925: 33). Auch in den Bestimmungen von 1938 ist von der Selbsttätigkeit des Schülers die Rede, aber noch mehr von der Führung durch den Lehrer: „Die Lebensnähe unserer vorwärtsdrängenden Jugend verlangt straffe Unterrichtsführung und lebendiges Weiterschreiten des Unterrichts". Nicht Wachsenlassen oder Führen ist die Frage, sondern: „Wachsenlassen und Führen sind die sich ergänzenden Grundsätze aller planvollen Erziehung". Arbeitsunterricht, das sind „die sinnvoll gestellte Hausaufgabe", „die richtig vorbereitete und geleitete Gemeinschaftsarbeit", „das lebendige Lehrgespräch" und der zur Mitarbeit anspornende Lehrervortrag" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 20). Weil das alles nicht mehr viel mit dem Unterricht der Arbeitsschulbewegung zu tun hat, reklamierten die Nationalsozialisten für sich „einen maßvollen, gebundenen Arbeitsunterricht, bei dem der Lehrer das Ziel setzt und die Führung fest in der Hand behält" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 19). Die Nationalsozialisten haben zwischen der Deutschkunde und der Kulturkunde deutlich unterschieden. Die Kulturkunde war für sie ein Produkt des Weimarer Staates und darum abzulehnen. Natürlich konnten sie den Grundgedanken der Kulturkunde, den der deutschen Nationalerziehung, wie er in den Boelitz-Richertschen Reformen von 1925 seinen Niederschlag fand, nicht rundweg ablehnen. Doch mußten sie deutlich machen, daß „der dort vertretene Gedanke der Nationalerziehung ( . . . ) in seinem Wesen sowohl wie in seinen geschichtlichen Voraussetzungen grundverschieden" sei „von dem, was der Nationalsozialismus unter politischer Erziehung begreift" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 9). Was sie störte war die Romantik der Kulturkundler, konkret „die Flucht aus der Not der Gegenwart in das Bildungsreich einer dahingegangenen Zeit" (ebd. S. 20), natürlich auch ihr politischer Liberalismus: „Wer so ohne Maßstab vor die Geschichte hintritt, für den wird das Deutsche mit Notwendigkeit etwas Vielgestaltiges und darum Ungreifbares" (H. Neumann 1933: 604). Verständlicherweise sind es unter den Reformern allein die Anhänger der Deutschkunde, die einhellig den neuen Staat und seine Prinzipien begrüßten. Gleich nach der Machtübernahme meldeten sich ihre Wortführer in Aufrufen und kurzen Stellungnahmen zu Wort. Eine geheime Unsicherheit über die Rolle, die die Deutschkunde nun in dem neuen Staat spielen werde, ist
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ihren Äußerungen zu entnehmen. Einige glaubten naiv, daß nur noch das Programm der Deutschkunde in die Tat umzusetzen sei (K. Vietor 1933: 343). Andere waren vorsichtiger und sprachen von Revisionen, die nun notwendig geworden seien (L. Kiehn 1933: 314), von Ergänzungen, vor allem des Rassegedankens (U. Peters 1933: 339). Wieder andere erkannten, daß die Deutschkunde nicht so ohne weiteres auf die neuen Bedingungen anzuwenden war: „Wir sind im Übergang zu einem Neuen, das in solcher Art noch nicht bestanden hat und dennoch alle gültigen Werte ewigen Deutschtums in sich zusammenzufassen bestrebt ist. Es gilt nicht Brüche und Zerreißungen; es gilt organische Übergänge und tief innerlich begründete Wandlungen. (...) Das Schicksal der Deutschkunde liegt in den Händen derer, die sie in neuem Geiste für sich gewinnen kann!" (W. Linden 1933: 414; ähnlich Κ. A. Korff 1933: 342). Doch wohlgemut waren sie alle, die Deutschkundler. Dazu aber war kein Anlaß. Daß die Deutschkundebewegung den Nationalsozialisten vorgearbeitet hatte, daran kann kein Zweifel bestehen. Beide stehen in ein und derselben Tradition, der deutschnationalen oder national-chauvinistischen. Dennoch verhielten sich die Nationalso2ialisten ausgesprochen reserviert gegenüber ihren Vorkämpfern. Zum einen konnten sie kein Interesse daran haben, Kontinuitäten im historischen Prozeß zu betonen. Das Jahr 1933 bedeutete ihnen mehr als nur eine Reform, es war in ihren Augen eine Revolution, der Bruch mit der Geschichte, auch im Bereich der Erziehung. Zum anderen scheinen die Nationalsozialisten in der Tat etwas anderes im Sinn gehabt zu haben. Es kam ihnen in der Erziehung auf die politische Aktivierung an, nicht auf die Kunde von deutscher Art und deutschem Wesen: „Es ist nicht notwendig, daß ein Schüler etwas über die Psyche des Hans Castorp oder auch ,des' barocken Menschen auszusagen weiß, es ist aber notwendig, daß er zu handeln versteht, wie es die politische Lage verlangt" (R. Ibel 1933: 435). Es ging ihnen um einen neuen Menschen: „Die nationale Revolution gibt der deutschen Schule und ihrer Erziehungsaufgabe ein neues Gesetz: Die deutsche Schule hat den politischen Menschen zu bilden, der in allem Denken und Handeln dienend und opfernd in seinem Volke wurzelt und der Geschichte und dem Schicksal seines Staates ganz und unabtrennbar zu innerst verbunden ist" (Frick 1935: 24). Wie wurde der neue Mensch begründet? Die alte Deutschkunde suchte sein Wesen in der Geschichte. Auch nach 1933 gibt es vereinzelt noch Philologen, die deutscher Art und deutschem Wesen auf der Spur waren. Andere, vor allem die Vertreter der neuromantischen Schule, bemühten die Sprache: „Mit den sprachlichen Kenntnissen wächst der Schüler in die Erkenntnis des deutschen Weltbildes hinein. Daß wir so denken, wie wir Deutschen denken, daran trägt unsere Muttersprache das Hauptverdienst"
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(Κ. H. Probst 1934: 405). Die offizielle Begründung war aber weder philologisch noch sprachtheoretisch, sondern ihrem Anspruch nach biologistisch: „Immer mehr bricht sich Erkenntnis Bahn, daß die Wesensart eines Volkes und die Grundkräfte seiner geschichtlichen Entwicklung gar nicht begriffen werden können ohne genügende Kenntnis seiner rassischen Besonderheit" (Frick 1935: 27). Die Rassekunde tritt an die Stelle der Deutschkunde, oder die Deutschkunde wird zur „politischen Volkskunde" (H. Freudenthal 1935, vgl. dazu R. Eichenauer 1933; R. Mehlem 1937: Geleitwort; E. Linden 1933: 412ff. u.a.).
2. Die pädagogischen, amtlichen und didaktischen Vorgaben Bevor der Aufsatzunterricht selbst dargestellt werden kann, ist kurz auf die Bedingungen einzugehen, die seine Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus erklären. Aus der Vielzahl möglicher Bedingungen wähle ich die aus, die unmittelbar auf den Aufsatzunterricht eingewirkt haben: — die politisch-pädagogischen Zielsetzungen — die aufsatzdidaktischen Vorstellungen — die amtlichen Bestimmungen. Politisch-pädagogische Ziele Über die Erziehung im Dritten Reich gibt es zahlreiche Veröffentlichungen, gerade auch aus jüngster Zeit (etwa K.-I. Flessau 1976/1979; E. Nyssen 1979). Dennoch besteht nach wie vor Unklarheit über die Absichten, die die Nationalsozialisten im Bereich der Erziehung und des Unterrichtes verfolgten. Wollten sie den ideologisch zuverlässigen Parteigänger? Den durchtrainierten Frontsoldaten? Oder letztlich nicht doch den qualifizierten Facharbeiter? Gab es überhaupt einheitliche Vorstellungen über Erziehung und Unterricht.? Elke Nyssen hat in ihrer Studie „Schule im Nationalsozialismus" auf einen Wandel in den Zielen aufmerksam gemacht: „Zu Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde in der Formulierung der obersten Erziehungsziele und in den Fachdidaktiken die Forderung aufgestellt, Schule total in den Dienst der Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie zu stellen, d. h. Schule auf die Funktion der Ideologievermittlung zu reduzieren. (...) Im Verlauf des Nationalsozialismus wurde jedoch die Bedeutung der Qualifizierungsfunktion offensichtlich. Dies schlägt sich in den Präambeln der Lehrpläne, im Mathematikunterricht und in der Auslesepraxis nieder. Die Qualifizierungsfunktion tritt neben die Integrationsfunktion" (E. Nyssen 1979; 15 f.). Die Unterscheidung von Integrations- und Qualifizierungsfunktion scheint mir zu grob zu sein, um auf den Aufsatzunterricht Anwendung finden zu können, zumal dann, wenn unter der Integrationsaufgabe der
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Schulen in erster Linie, wie E. Nyssen es nahelegt, „die Funktion der Ideologievermittlung" (E. Nyssen 1979; 84 ff.) verstanden wird. Die verschiedenen, auch bei E. Nyssen angeführten Verlautbarungen der Nationalsozialisten zeigen, daß zur Integration der Schüler in das nationalsozialistische System nicht nur die Bewußtseinsbildung, sondern auch die Charakterformung gehörte. So unterscheidet der führende Pädagoge des Dritten Reiches, Ernst Kriek, drei Funktionen von Erziehung: — die Vermittlung des nötigen technischen Könnens und des Sachwissens (Qualifikation) — die Ausbildung der nationalsozialistischen Weltanschauung (Ideologievermittlung) und — die Charakterbildung. Zur Charakterbildung führt er aus: „Erziehung zu einer Haltung, zu einer gesamten Lebensrichtung, zu einer Willensgestaltung in Festigkeit und Zielsicherheit gemäß unserer rassischen Wertordnung und Weltanschauung". Und er fügt hinzu: „Von hier aus ist eine totale Neuformung des Menschentums gefordert und in die Wege geleitet" (zit. nach E. Nyssen 1979: 60 f.). Niemand wird bestreiten können, daß Schreibenlernen auch der Qualifizierung von Arbeitskräften dient, ebensowenig die Tatsache, daß an Aufsätzen ideologische Inhalte eingeübt werden können. Das Interesse, das die Nationalsozialisten am Aufsatzunterricht hatten, war jedoch ein anderes. Der Aufsatz war für sie ein Instrument der Charakterbildung, Charakterformung, Charakterschulung, wie auch immer die Begriffe lauten. Keiner der maßgebenden Aufsatzdidaktiker des Dritten Reiches hat es versäumt, die „Aufsatzerziehung" — wie es von nun ab statt Aufsatzunterricht heißt — in den Dienst der Charakterbildung zu stellen. „Charaktererziehung und Ausdrucksschulung fallen zusammen", stellte Hans Dahmen fest (1936: 398). Hans Heinrich Schmidt-Voigt spricht vom Aufsatz als einer „Zuchtform im nationalsozialistischen Sinne" (1938: 303). „Zucht der Sprache" sei auch „Zucht des Charakters", heißt es lapidar in den amtlichen Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule (1938: 45). Karl Reumuth entdeckte einen Zusammenhang zwischen Sprach- und Sportunterricht: „Mit derselben Energie, mit der wir unsere Jugend körperlich ertüchtigen, mit der wir sie zu technischen und militärischen Großleistungen befähigen, müssen wir sie auch in sprachliche Zucht nehmen" (K. Reumuth 1941: 200). „Jedes Wort" müsse „unter der Zucht der Verantwortung" stehen, meinte Rudolf Preiß (1935: 14). Aufsatzdidaktische Vorstellungen
Die Entwicklung Nach der Machtübernahme ließ sich die Diskussion der Fragen des deutschen Aufsatzes nur sehr langsam an. Es galt zunächst, die neue Weltanschauung
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im Aufsatzunterricht zu verankern (R. Müller 1933, H. Dahmen 1936), vor allem dem Erlaß des Preußischen Unterrichtsministers vom 13. September 1933, der die Pflege von Rassenkunde, Rassenhygiene, Erblehre, Bevölkerungspolitik und Familienkunde in der Untersekunda und Oberprima forderte, nachzukommen (K. Kauenhowen 1934). „Wie sollte es auch anders sein", bemerkte ein Zeitgenosse. „Die großen Fragen des geistigen Umbruchs stehen naturgemäß im Vordergrund!" (K. Kindt 1935: 134). So standen in den ersten Jahren (1933 — 1936) Fragen der Themenwahl, der Stoffe und der Inhalte von Aufsätzen im Zentrum der aufsatzdidaktischen Diskussion. „Die Probleme der Unterrichtsmethodik" blieben zunächst „unberührt" (ebd.). Von 1936 ab kommt aber Bewegung in die aufsatzdidaktische Landschaft. Jetzt werden auch methodische Fragen aufgegriffen. Rahn und Pfleiderer stellen den sogenannten literarischen Aufsatz zur Diskussion (1936 und 1937). Herweg Müller erörtert Probleme der Themenstellung (1937 und 1938 a), sowie der Aufsatzgliederung (1938 b). Vereinzelt findet man auch Erörterungen grundsätzlicherer Probleme. 1934/1935 hatte K. Heinrich Probst in einer längeren Artikelserie den Versuch unternommen, den gesamten Sprachunterricht auf die Stil- und Aufsatzerziehung hin auszurichten. Fritz Blättner (1938) und Otto Karstädt (1939/1941) knüpften an reformpädagogische Traditionen an und entwickelten die Umrisse eines neuen Aufsatzunterrichtes. Alle diese Arbeiten haben aber einen eher ephemeren Charakter. Wenn man sie heute liest, hat man den Eindruck, als habe man sich damals nicht getraut, ein klares Wort zu sagen, oder auf ein klares Wort von oben gewartet. Unter den angeführten Publikationen befindet sich kein einziges Buch! Zwischen 1937 und 1939 wird der Unterricht an den Schulen durch amtliche Bestimmungen und Richtlinien neu geordnet (vgl. unten). Damit war der Damm gebrochen. Das Wort von oben war gesprochen. Unmittelbar auf die Veröffentlichung der Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht an den Höheren Schulen" vom 29. Januar 1938 erschienen verschiedene Erläuterungen, Kommentare und Ausführungen zum Aufsatzunterricht (F. Rahn 1938, Κ. H. Schmidt-Voigt 1938, B.Bock 1938, E.Fuchs 1938, H. Geffert 1940/1941, F. Kegler 1940, E. Schätzer 1941 u.a.). Einige haben Buchformat. Wilhelm Ebel paßte seine Aufsatzdidaktik aus dem Jahre 1933 den neuen Gegebenheiten an und ließ sie 1939 neu herauskommen. Im selben Jahr erschien ein Buch von Werner Lippert: „Deutschunterricht im Aufbruch". In seinem Mittelpunkt steht die Stilerziehung. 1941 gab Wilhelm Ebel ein weiteres Buch heraus: „Die Gegenwart in der Praxis des Aufsatzunterrichts". Es erschien das bekannte, auch nach dem Kriege mehrfach wieder aufgelegte Buch von Karl Reumuth: „Deutsche Spracherziehung" mit einem umfangreichen Kapitel über die Aufsatzerziehung (K. Reumuth 1941). Danach wird es still. Der Krieg machte sich bemerkbar. Da es nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist, auf alle aufsatzdidaktischen Äußerungen einzugehen, greife ich im folgenden nur die wichtigsten heraus.
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Karl Friedrich Probst Probst hat in einer Artikelserie einen alten Vorschlag der Volksschuldidaktik wieder aufgenommen: Stil- und Aufsatzübungen im Anschluß an die Grammatik. Nur hat er das Verhältnis umgekehrt: „Sprachlehre ist nicht um ihrer selbst willen zu betreiben (...), sondern als Mittel zum Zweck" (K. F. Probst 1934: 407): „Für den Stil- und Aufsatzunterricht soll die unentbehrliche sprachliche Grundlage gelegt werden, und die Sprachübungen sollen durch die Ausrichtung auf einen Inhalt in ihrem Wert gehoben werden" (K. F. Probst 1935: 344). Fritζ Blättner und Otto Karstädt Die Vorstellungen, die Fritz Blättner und Otto Karstädt vom Aufsatz entwikkelt haben, nehmen alte Traditionen auf, Vorstellungen der Reformpädagogen (O. Karstädt), aber auch Vorstellungen, die in der alten Schreibschule entwikkelt und noch jüngst von Vertretern der Arbeitsschule propagiert worden waren (F. Blättner). Otto Karstädt strebte eine Versöhnung zwischen dem freien und dem gebundenen Aufsatz an: „Der Streit: sachlich oder persönlich? ist ,ein Streit um die beiden Seiten unseres Erkennens'". Fritz Blättner entwickelte eine Alternative zu dem Erlebnisaufsatz der Reformpädagogen: die „Gemeinschaftsarbeit" — das „Werk einer Gemeinschaft, an eine Gemeinschaft gerichtet, mit dem Sinne Gemeinschaft zu schaffen" (F. Blättner 1938: 213). Sieht man von gelegentlichen Bemerkungen einmal ab, so haben die Ausführungen von beiden nichts mit den pädagogischen Zielen der Nationalsozialisten zu tun. Wilhelm Ebel Der „Neubau des Aufsatzunterrichts" (1933) ist weder ein für die Zeit des Nationalsozialismus charakteristisches noch überhaupt ein politisches Buch, auch wenn es in der NS-Zeit ungemein erfolgreich war (bis 1941 insgesamt sechs Auflagen). Was Ebel mit den nationalsozialistischen Aufsatzdidaktikern verbindet, ist seine entschiedene Ablehnung des Erlebnisaufsatzes, die Gründung des Aufsatzunterrichtes auf bestimmte Aufsatzformen und sein Bestehen auf einer straffen Führung im Unterricht. Was ihn von jenen trennt, ist der psychologische Ansatz. Mit den führenden Entwicklungspsychologen seiner Zeit (W. Stern) unterscheidet er vier Stufen in der geistigen Entwicklung eines Kindes: die Ding-, die Handlungs-, die Merkmals- und die Beziehungsstufe. Diesen Stufen entsprechen nach Auffassung Ebels in der Volksschulzeit drei Aufsatzformen: die Handlungs-, die Zustands- und die Menschenschilderung. Nur die Bezeichnungen sind neu. Im Grunde handelt es sich wieder um die Erzählung, die Beschreibung und die Charakteristik. Nachdem 1939 die neuen Richtlinien für „Erziehung und Unterricht an der Volksschule" herausgekommen waren, hat Ebel seine Aufsatzdidaktik
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überarbeitet. Im Vorwort zur „Neuausgabe" von 1939 behauptet er zwar, daß das Buch „ein ganz neues Gesicht" erhalten habe. Doch das ist übertrieben. Im Text selbst steht es genauer: „Ich hatte die Freude, daß meine Bemühungen um eine Neuformung der Spracherziehung sich weitgehend mit ihnen (den neuen Richtlinien, O. L.) decken" (W. Ebel 1939/1941: 77). In Wirklichkeit hat Ebel einige neue Themen aufgenommen, die sich auf „das große Zeitgeschehen" bezogen, einen Zusammenhang mit dem übrigen Sprachunterricht hergestellt und einige grundsätzliche Bemerkungen zur Sprache allgemein hinzugefügt. Die ursprüngliche Fassung des Buches blieb aber bis in den Wortlaut unangetastet. Mit einem Wort: der „Neubau des Aufsatzunterrichtes" von Wilhelm Ebel ist im Grunde kein Beitrag zu einer nationalsozialistischen Aufsatzdidaktik. Das zweite Buch von Wilhelm Ebel, „Die deutsche Gegenwart in der Praxis des Aufsatzunterrichts", 1941 erschienen, ist anders zu beurteilen. „Die wissenschaftliche und gedankliche Unterbauung des Aufsatzes konnte unterbleiben" (Vorwort). Sie ist identisch mit der von 1933. Jetzt geht es ihm nicht um eine didaktische, sondern um eine unterrichtspraktische Frage: „Wie ich mir die Gestaltung des Unterrichts in der Gegenwart, insbesondere in den Jahren des Krieges, denke" (ebd.). Nun wird der Aufsatzunterricht unter den Gedanken der „Wehrerziehung" (W. Ebel 1941: 6) gestellt. Die Folgen liegen auf der Hand. Mit Diktaten, kurzen, täglichen Niederschriften, Wochenberichten, Tagebuchaufzeichnungen und Aufsätzen aller Art sollten die Kriegsereignisse unmittelbar von den Schülern begleitet werden: „Das Soldatentum des neuen Reiches spricht in dem unerhörten Einsatz die deutlichste, klarste und schönste Sprache, und dieses Soldatentum ist jedem Jungen so nahe, daß er sich sagen kann: wenn der's gekonnt hat, dann werde ich es auch erringen. Das ist besser und erfolgverheißender als Hinweise auf Helden, die vielleicht im Mittelalter oder in Büchern gelebt haben" (W. Ebel 1941: 17). Karl
Reumuth
Reumuth hatte 1930 einen kleinen Aufsatz über „Dynamische Sprachbildung" veröffentlicht (K. Reumuth 1930), in dem die Grundlagen auch seiner späteren Aufsatzdidaktik klar zum Ausdruck kommen. Drei Grundsätze bestimmen seine Auffassung von sprachlicher Bildung: Er begründet den Sprachunterricht nicht, wie Wilhelm Ebel, entwicklungspsychologisch, sondern, wie er sagt, „gegenstandstheoretisch". Das heißt: dem Sprachunterricht und der Sprachdidaktik liegt eine Theorie der Sprache zugrunde. Reumuth selbst befolgt dieses Postulat aber nicht konsequent. In seinen Ausführungen bezieht er sich lediglich auf zwei Teiltheorien. Einmal auf Ausführungen von Karl Bühler über die Funktionen des sprachlichen Zeichens. Wie Bühler setzt er voraus, daß die Darstellungsfunktion die Grundfunktion von Sprache
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schlechthin sei: „Es kommt gar nicht in erster Linie auf das Subjekt an, das sich ausdrückt, sondern auf die Sache, die dargestellt wird" (K. Reumuth 1930: 225). Aus einer solchen Prämisse ergibt sich für den Sprachunterricht: „Die Grundaufgabe des Deutschunterrichts ist die Schulung der sprachlichen Darstellungskraft" (K. Reumuth 1930: 224). Sodann bezieht er sich auf Ausführungen von Walther Seidemann (1927). Für Seidemann wie für Reumuth waren Sprechen und Schreiben Prozesse, in denen sich das Erlebnis eines Sachverhaltes und das Ausdruckspotentials einer Sprache gegenseitig in einem schöpferischen Akt durchdringen: „Die sprachliche Wendung ist nicht mehr äußere Form, nicht mehr leere Klanghülle, sondern durchseelte Form für einen erlebten Sachverhalt. Bei dieser Wahl der Wortsymbole wird es einerseits nötig, den Bedeutungsrahmen der Wörter zu dehnen, andererseits von einzelnen Zügen und Schwebungen des Eindrucks abzusehen, damit er sich der Worthülle einzufügen vermag. So spannt und wandelt sich die Bedeutung der sprachlichen Symbole auf die Erlebnisse hin, die es zu formen gilt, so formen sich aber auch die Eindrücke auf die sprachlichen Symbole hin, durch die sie mittelbar gemacht werden sollen" (K. Reumuth 1930: 227). Ein Sprachunterricht, der sich aus solchen Vorstellungen der Spracherzeugung ableitet, zielt beim Schüler letztlich ab auf „kleine eigene Schöpfungsakte" (K. Reumuth 1930: 228). In seiner großen „Deutschen Spracherziehung" von 1941 hat Reumuth einige einschneidende Veränderungen vorgenommen. Der gegenstandstheoretische Ansatz bleibt erhalten, doch wird der Gegenstand jetzt anders bestimmt. Das Schlagwort lautet: „völkisch-anthropologische Sprachauffassung". Hier zeigt sich der Einfluß der neuromantischen Schule: „Zur volkformenden Kraft wird sie (die Sprache, O. L.) erst, wenn ein volkformender Wille sie beseelt. Sprache ist eine, aber nicht d i e Voraussetzung der Volkwerdung. Auch die Volkwerdung ist ein großer Wirkungszusammenhang: rassische Grundlage, geschichtliches Schicksal, führende Persönlichkeiten, Lebensräume, Sprache, Brauchtum und andere Kräfte und Mächte bringen die große Lebenseinheit des Volkes hervor" (K. Reumuth 1941: 21). Auf diese Weise ließ sich — ganz im Geiste der Nationalsozialisten — ein Zusammenhang mit der Rasse herstellen. Und darauf kam es Reumuth jetzt an (vgl. dazu B. Rosenbaum und M. Zimmermann 1982). Von alle dem ist in dem Kapitel, das der Aufsatzerziehung gewidmet ist, jedoch nicht mehr die Rede. Dieses Kapitel stellt den Versuch dar, die ursprünglichen, von Walther Seidemann übernommenen und 1930 skizzierten Vorstellungen dem Rahmen, der durch die inzwischen erschienen amtlichen Bestimmungen zum Deutschunterricht vorgegeben war, einzupassen. Die erste Hälfte des Kapitels entwickelt noch einmal die Ideen von Seidemann: „Wir fassen hier nur das beseelte Sprechen ins Auge. Wir wissen, daß kein Wort von sich aus lebt, daß es in jedem Falle von der Seele zum Leben
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erweckt werden muß. Darum sollen die Kinder auch bei der kleinsten Sprachübung angeregt werden, besonnen zu sprechen. Alles echte Sprechen baut sich aus kleinen sprachlichen Schöpfungsakten a u f (K. Reumuth 1941: 200). Die zweite Hälfte ist nicht mehr als eine Erläuterung der amtlichen Bestimmungen: „Mit derselben Energie, mit der wir unsere Jugend körperlich ertüchtigen, mit der wir sie zu technischen und militärischen Großleistungen befähigen, müssen wir sie auch in sprachliche Zucht nehmen" (K. Reumuth 1941: 200). Die Spannung zwischen dem letztlich unpolitischen Ansatz Seidemanns und den ganz auf Zucht und Charakterformung ausgerichteten Bestimmungen der Behörde durchzieht von nun an alle Aussagen zur Aufsatzerziehung. Wenn Reumuth von Erlebnissen spricht, meint er — ganz im Einklang mit den Reformern — das Erlebnis als Stoff: „Die Kinder sollen über Vorgänge berichten, an denen sie teilhaben, die sie innerlich angehen" (K. Reumuth 1941: 220). Doch gleichzeitig heißt es: „Die Jugend muß zur aufgeschlossenen und liebevollen Hingabe an das Gegebene erzogen werden" (K. Reumuth 1941: 224). Freie Aufsätze werden befürwortet: „Die Forderung der Freiheit bleibt natürlich im Rahmen der einzelnen Gestaltungsaufgabe bestehen; denn schöpferische Tätigkeit verträgt keinen Zwang" (K. Reumuth 1941: 225). Doch im selben Atemzug wird „die gesamte Arbeit" unter das „Gesetz der Sprachzucht" gestellt (ebd.). „Freiheit und Bindung, eigenes Wachstum und erzieherische Führung" müssen „zum fruchtbaren Ausgleich gebracht werden" (ebd.). So erweisen sich die Ausführungen von Karl Reumuth zum Aufsatzunterricht als eine Kompilation eigener Vorstellungen vom Aufsatzschreiben mit Forderungen an den Aufsatzunterricht, die das Reichserziehungsministerium durch Erlasse vorgegeben hatte. Frit^ Rahn Auch Rahn hat seine Vorstellungen vom Stil- und Aufsatzunterricht vor 1933 entwickelt. 1930 war in der Zeitschrift für Deutschkunde ein Aufsatz erschienen mit dem Titel: „Stilpflege: Theorie und Handwerk". Hier hatte sich Rahn ganz auf die Stilerziehung und die Stilübungen beschränkt. Es folgte 1933 der Aufsatz: „Aufsatzerziehung. Zur Frage der Planwirtschaft im Aufsatzunterricht", in dem alles, was er zum Aufsatzunterricht zu sagen hatte, bereits enthalten ist. Schließlich hat Rahn 1938 unter dem Titel „Aufsatzerziehung" „eine Handreichung für Deutschlehrer zur Erfüllung der Lehrplananforderungen" vorgelegt. Es ist nicht viel, was Rahn vor 1945 zur Aufsatzdidaktik geschrieben hat. Bekannter ist er als Autor zahlreicher Schulbücher geworden. Dennoch ist er für die nationalsozialistische Aufsatzdidaktik bedeutsam geworden wie kein anderer. In seinen aufsatzdidaktischen Schriften werden zwei Momente hervorgehoben; die Notwendigkeit eines detaillierten Planes für die gesamte
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Aufsatzerziehung und die Orientierung des Aufsatzunterrichtes ausschließlich an den Aufsatzformen. Das eine bedingt das andere. Im Aufsatzunterricht sollte ein für alle Male mit dem alten Schlendrian Schluß gemacht werden. Rahn fordert eine „Planwirtschaft im Aufsatzunterricht". Die alte Planlosigkeit hätte lediglich der Bequemlichkeit der Lehrer gedient, gelernt hätten die Schüler nichts. Von darstellerischer Zucht könne hier nicht mehr die Rede sein, und auf die komme es ihm nun einmal an. „Das alte Pröbeln und Spielen mit dem Zufall ist abgeschnitten. Der Aufsatzplan verlangt Einsatz und Arbeit", schrieb er 1933. 1938 sagt er es noch deutlicher: „Doch wozu all diese Erwägungen? Die Gewissensfrage der Aufsatzerziehung: freies Ausschwärmen oder gebundene Marschrichtung? sollte mit den neuen Lehrplänen für den gewissenhaften Lehrer eindeutig entschieden sein. Die dort aufgestellten Forderungen erzwingen ein planmäßiges Vorgehen. Die Frage ist heute nicht mehr, ob der einzelne Lehrer da mitmachen will oder nicht, sondern ob es heute schon möglich ist, Wege aufzuzeigen, die uns die erhobenen Leistungsanforderungen mit einiger Gewißheit auch erfüllen lassen" (F. Rahn 1938/1941: 5). Die Frage war nicht echt. Rahn hatte die Antwort längst gegeben. Bereits 1933 hatte er einen Plan für den Aufsatzunterricht vorgelegt, bei dem sich die Schriftleitung damals genötigt sah, die Leser darauf hinzuweisen, „daß die Darlegungen keineswegs als starre Bindung für den Fachlehrer, sondern als Anregung zu dem mehr und mehr als notwendig erkannten planvollen Aufbau in der Stilund Aufsatzerziehung gedacht sind" (F. Rahn 1933: 145, Anmerkung). Ein Plan verlangt eine Grundlage. Grundlage für einen Plan des Aufsatzunterrichtes können entwicklungspsychologische Erkenntnisse (W. Ebel), sprachtheoretische Vorstellungen (K. Reumuth) oder irgendwelche Zielsetzungen sein. Von alledem scheint Rahn nichts gehalten zu haben. Ein gebundener Arbeitsplan erfordert den gebundenen Aufsatz: „Ein gebundener Arbeitsplan kann nicht mehr die alte Rücksicht auf die zufalligen Begabungsrichtungen der Schüler nehmen, auf ihren Geschmack und ihre einseitige Vorliebe für gewisse Stilformen." „Planmäßiges Vorgehen im Aufsatzunterricht hat zur Voraussetzung, daß der Schüler in seinen Aufsätzen festgelegt wird auf ganz bestimmte Stilformen, und daß er womöglich auch im Stofflichen an einen mehr oder weniger weit gespannten Rahmen gebunden bleibt" (F. Rahn 1933: 147). Wenn irgendwo in der Aufsatzdidaktik des Dritten Reiches überhaupt, so wird hier deutlich die Abkehr von allen reformpädagogischen Prinzipien und die Restituierung des alten Aufsatzes, wie er aus dem 19. Jahrhundert überkommen war, ausgesprochen. Rückblick auf die Λ ufsat^didaktik Die Übersicht über die wichtigsten aufsatzdidaktischen Positionen ergibt ein merkwürdiges Bild:
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(1) Alle Aufsatzdidaktiker greifen auf Vorstellungen zurück, die sie bereits vor 1933 geäußert hatten. Das gilt auch für Fritz Blättner (vgl. F. Blättner 1933). (2) Sie knüpfen an unterschiedliche Traditionen der Aufsatzdidaktik an: Wilhelm Ebel an entwicklungspsychologisch orientierte Arbeiten, Karl Reumuth an Seidemanns sprachschaffenden Aufsatz, Otto Karstädt an den Erlebnisaufsatz, Fritz Blättner an Vorstellungen von Wilhelm Schneider und Fritz Rahn schließlich an den gebundenen Aufsatz. (3) Alle Aufsatzdidaktiker haben ihre ursprünglichen Vorstellungen vom Aufsatzunterricht an die politischen Gegebenheiten, insbesondere an die amtlichen Bestimmungen angepaßt. Nur einer nicht: Fritz Rahn. Er brauchte sich nicht anzupassen, weil er auch zuvor nichts anderes vertreten hatte (vgl. dazu unten). (4) Die Ausführungen zur Aufsatzdidaktik bleiben jedoch in einem bemerkenswerten Maße unpolitisch. Zweifellos gab es Schwierigkeiten, die Aufsatzdidaktik der neuen Ideologie zu unterwerfen. Daß damals auch „ganz oder teilweise ideologiefreie Schulbücher" erscheinen konnten, ist bekannt (vgl. K.-I. Flessau 1973/1979: 137 ff.). (5) Nimmt man alles zusammen, so kann man sagen, daß es unter den Aufsatzdidaktikern des Dritten Reiches weder in den Grundlagen noch in den Ausführungen einheitliche Vorstellungen gab. Dennoch ist der Aufsatzunterricht vermutlich ziemlich einheitlich gewesen. Dafür sorgte der Staat — mit seinen Verordnungen. Die amtlichen Richtlinien und Bestimmungen Die Nationalsozialisten sind erst relativ spät dazu gekommen, das Schul- und Unterrichtswesen neu zu regeln. Erst 1938 und 1939, also kurz vor und bei Beginn des Krieges, kamen die wichtigsten Erlasse heraus. Die Bedeutung dieser Richtlinien und Bestimmungen zu „Erziehung und Unterricht", wie stets ihr Titel lautete, ist kaum zu überschätzen. „Richtlinien stellen nach diesem Verständnis keine Leitlinien dar, an denen sich der Lehrer orientieren kann. Vielmehr sind sie als Bestimmungen zu verstehen, nach denen er sich richten muß" (K.-I. Flessau 1973/1979: 47). Zwar werden die Anordnungen für die Volksschule als „Richtlinien", die für die Mittel- (Haupt-) und Höhere Schule dagegen ausdrücklich als „Bestimmungen" deklariert. Doch läßt der amtliche Kommentator der Volksschulrichtlinien an ihrer Verbindlichkeit keinen Zweifel: „Die vom Reichserziehungsminister herausgegebenen Richtlinien sind höchstbehördliche Weisungen und damit amtliche Bestimmungen über Erziehung und Unterricht ( . . . ) . An dem bestimmenden Charakter der Richtlinien darf darum nicht gedeutelt werden. Sie sind für uns Erzieher geltendes Recht und verbindliche Pflicht" (A. Kluger 1940: 104 f.). Eine
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solche Auffassung degradiert natürlich jede didaktische Bemühung. Was ihr noch bleibt, ist lediglich der Vollzug. So erschöpften sich die aufsatzdidaktischen Arbeiten nach 1938 ohne Ausnahme in Erläuterungen, Kommentaren und Hinweisen für die praktische Anwendung im Anschluß an die amtlichen Verlautbarungen (vgl. X. 2). Die amtlichen Bestimmungen zu Erziehung und Unterricht an den Schulen sind als „Markstein in der Geschichte des Deutschunterrichts", als „Abschluß der Reformbewegung der letzten vier Jahrzehnte" (K. Reumuth 1941: 229) gepriesen worden. Doch kann davon nicht die Rede sein. In Wirklichkeit handelt es sich um ein äußerst problematisches Machwerk. Kurt-Ingo Flessau hat darauf hingewiesen, daß die verschiedenen Bestimmungen keineswegs homogen sind: „Erheblich unterscheiden sich die einzelnen Pläne nach Aufbau, Umfang, Gehalt und Intention" (1973/1979: 47). Problematischer noch dürfte ihre Sprache sein. Helmut Arendt hat sie als „taktische Sprache" charakterisiert: „sie bauen die Methoden, die zur Zeit noch geübt werden, in verklausulierter Form ab" (1948: 124). So ist von „Arbeitsunterricht", von „Erlebnisaufsätzen" usw. die Rede. Auf diese Weise wird eine Übereinstimmung mit weithin anerkannten Vorstellungen der Reformpädagogen vorgetäuscht, die in Wirklichkeit überhaupt nicht mehr bestand. „Die nationalsozialistische Schule, die sich oft und gern als ,neue' Schule ausgibt, ist in Wirklichkeit orientiert an den pädagogischen Vorstellungen und Leitbildern des .bürgerlichen* Kaiserreichs" (K.-I. Flessau 1973/1979: 95).
Die Höhere Schule Am 29. Januar 1938 sind die Bestimmungen für „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" in Kraft getreten. Sie sind nicht nur die ersten vollständigen Bestimmungen für die Schule, sondern auch die ausführlichsten und am besten durchgearbeitet. Man gewinnt den Eindruck, daß die Umgestaltung des Schulwesens und der Lehrpläne auch hier wieder von der Höheren Schule aus erfolgte. Im Bildungswesen des Dritten Reiches kam den höheren Schulen trotz vieler gegenteiliger Beteuerungen eine herausragende Bedeutung zu. Sie waren verantwortlich für die Ausbildung der Leistungselite. Das hatte Auswirkungen auch auf den Aufsatzunterricht: „Zur schärferen Abgrenzung des neuen Deutschunterrichts von dem der alten Schule wird gefordert, daß das Schwergewicht verlagert wird vom Sprachwissen auf das Sprachkönnen, vom Aufnehmen zum Gestalten" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule (im folgenden kurz Höhere Schule) 1938: 36). So wird auf die mündlichen und schriftlichen Gestaltungsübungen besonderer Wert gelegt. Beim Aufsatz kam es vornehmlich auf zweierlei an. Zum einen sollte der Aufsatz Ausdruck einer „Werkgesinnung" sein: „Der Aufsatz soll als selbständige und bis zu einem gewissen Grad schöpferische Leistung des
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Schülers ein abgeschlossenes Werkstück darstellen" (Höhere Schule 1938: 42). Zum anderen soll er wirken, die Überzeugung des Lesers „erzwingen", also ganz im Sinne der klassischen Rhetorik funktionieren: „Nicht der sogenannte ,eigene' Stil ist Ziel des Aufsatzunterrichts, sondern der durch das persönliche Erleben und Erfahren entzündete, durch den Gegenstand der Darstellung gebundene und durch die gemeinschaftsbildende Kraft der Muttersprache genormte Stil, der nicht nur das Verständnis möglich machen, sondern die Überzeugung des Lesers durch Eindringlichkeit der Darstellung erzwingen will" (Höhere Schule 1938: 45). Es geht um „das Maß des geistigen und seelischen Einsatzes" (ebd.), letztlich also auch hier um politische Schulung. Um ein solches Ziel zu erreichen, wird für den Aufsatzunterricht ein „gebundener Lehrgang" (Höhere Schule 1938: 40) gefordert, eine Planwirtschaft im Aufsatzunterricht, wie Fritz Rahn es nannte: „Alles Schreibenlernen hat auf dem Sprechenkönnen aufzubauen" (Höhere Schule 1938: 41). Im Anschluß an die mündlichen Ausdrucksübungen sollen eigens eingerichtete und vom Aufsatzunterricht abgetrennte schriftliche Ausdrucksübungen veranstaltet werden: „Durch Vereinzelung und Abgrenzung der vielfältigen Schwierigkeiten sollen hier die formalen Aufgaben des Aufsatzschreibens allmählich gelöst, der Aufsatzunterricht selbst von den eigentlichen stilistischen Aufgaben entlastet werden" (Höhere Schule 1938: 41 f.). Übrigens hatte dies Fritz Rahn bereits 1930 gefordert. Die Bestimmungen zum Aufsatzunterricht im engeren Sinne beschränken sich auf die Frage nach den Aufsatzformen. Der literarische Aufsatz wird verboten, allerdings nur insoweit (was selbstverständlich sein dürfte) als „er dichterische Werke zerredete und sie der Jugend verleidete" (Höhere Schule 1938: 43). Die alte Abhandlung oder Betrachtung wird umfunktioniert zum neuen Besinnungsaufsatz (siehe dazu ausführlicher unten) und damit „zu einem Bestandteil der Charakterbildung" (ebd.). Lapidar wird festgestellt, wenn nicht geradezu dekretiert: „Es gibt vier Grundformen des Schulaufsatzes, denen ohne Ausnahme alle anderen als Mischformen zuzuordnen sind. Diese vier Grundformen sind: Erzählen, Sachbericht, Schilderung und Betrachtung" (ebd.), bzw. der Besinnungsaufsatz. Auch dies war bereits bei Rahn zu lesen. Was sind das für Aufsatzformen? Es lohnt, der Frage nachzugehen. Es sind bestimmt nicht die Formen, die ein Schüler wählen würde, um für sich einen Ausdruck zu finden. Es sind aber auch nicht die Formen, die das Leben später von ihm abverlangt, die sogenannten Zweckformen des Schreibens. Es handelt sich vielmehr um ausgesprochene Übungsformen. Und genau das ist auch beabsichtigt: „Im Aufsatz werden alle diejenigen Stilformen durchgeführt, die sich als Schulungsformen eignen, aber auch nur diese" (Höhere Schule 1938: 40). Ein solcher Hinweis erklärt, weshalb „der bisher viel geübte Aufsatz in Briefform" keine Gnade findet, er begründet aber
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nicht, weshalb es ausgerechnet diese vier Aufsatzformen sein müssen, nicht mehr und nicht weniger. Den Versuch einer Begründung hatte Fritz Rahn 1933 unternommen (vgl. unten). Er ist aber in die amtlichen Bestimmungen nicht aufgenommen worden. Blickt man zurück, so fallt eines auf. Die Ausführungen stimmen mit den Vorstellungen, die Fritz Rahn 1930 und 1933 vorgetragen hatte, inhaltlich und begrifflich weitgehend überein. Sie stimmen so sehr überein, daß Rahn den Text von 1933 nur an einigen Stellen korrigieren mußte, um ihn 1938 in einer leicht erweiterten Fassung als „Handreichung für Deutschlehrer zur Erfüllung der Lehrplanforderungen" auszugeben. Um es deutlicher zu sagen: die „Aufsatzerziehung" von 1938 ist ein überarbeiteter Wiederabdruck des Aufsatzes von 1933! Das kann kein Zufall sein. Ich nehme an, daß Rahn an Konzeption und Abfassung der amtlichen Bestimmungen, zumindest der Passagen, die den Aufsatzunterricht betreffen, beteiligt gewesen ist (ausführlicher O. Ludwig und E. Merchert 1987).
Die Volksschule Am 10. April 1937, also noch vor den Bestimmungen für die Höhere Schule, waren „Richtlinien für den Unterricht in den vier unteren Jahrgängen der Volksschulen" herausgekommen (vgl. K.-I. Flessau 1973/1979: 74—77). Diese Richtlinien waren ein Provisorium und sind darum am 15. Dezember 1939 durch die vollständigen „Richtlinien über Erziehung und Unterricht in der Volksschule" ersetzt worden (vgl. A. Kluger 1940: 107 ff.). Im Rahmen der allgemeinen Aufgabe deutscher Schulen „trägt die Volksschule die Verantwortung dafür, daß die Jugend mit den grundlegenden Kenntnissen und Fertigkeiten ausgerüstet wird, die für den Einsatz ihrer Kräfte in der Volksgemeinschaft und zur Teilnahme am Kulturleben unseres Volkes erforderlich sind" (A. Kluger 1940: 108). Für den Deutschunterricht in den vier unteren Jahrgängen hieß das: „Sicherheit im Lesen und Schreiben", für die Volksschule insgesamt: „selbständiger und richtiger Gebrauch der Muttersprache in Wort und Schrift" (nach A. Kluger 1940: 122). Die Ausführungen über den Aufsatzunterricht sind, wie übrigens alles in diesen Richtlinien, ausgesprochen dürftig. Sie decken sich weitgehend mit den Bestimmungen für die Höhere Schule. Doch gibt es einige Unterschiede. Daß für die Volksschule keine Besinnungsaufsätze vorgesehen sind, ergibt sich aus der Natur der Sache. Weniger verständlich ist aber erstens die Tatsache, daß die Kategorie des Sachberichtes nicht auftaucht, stattdessen ihre beiden Unterkategorien, Bericht und Beschreibung, gesondert aufgeführt werden; zweitens daß die geforderten Aufsatzformen mit „den Bedürfnissen des späteren Lebens begründet werden (dies in klarem Widerspruch zu den Bestimmungen für die Höhere Schule) und drittens daß — wohl aufgrund einer andersartigen Begründung — „Briefe und Mitteilungen" ausdrücklich
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erlaubt sind. Aus diesen Abweichungen wird man kaum auf eine andere Konzeption von Aufsatzschreiben und Aufsatzunterricht schließen dürfen, wohl aber auf Meinungsverschiedenheiten unter den Verantwortlichen. Die Mittelschule
(Hauptschule)
Die Neuordnung der Verhältnisse an den Mittelschulen wurde erst 1942 abgeschlossen. Damit hatte es folgende Bewandtnis: „1938 verfügt der Reichserziehungsminister Rust, die in den Ländern recht unterschiedlichen Einrichtungen des mittleren Schulwesens dem preußischen Typ der an das vierte Volksschuljahr anschließenden sechsklassigen Mittelschule anzugleichen" (H. J. Frank 1973/1976: 795). Die entsprechenden Bestimmungen kamen etwa gleichzeitig mit dem Volksschulrichtlinien heraus, sind aber nie in Kraft getreten. Denn „wenige Monate vor dem Erlaß hatte der ,Führer' seine alte Heimat ,heim ins Reich' geholt, wie es damals hieß. So hätte man auch hier die Neuordnung durchführen müssen. Hitler selbst kam indessen auf den Gedanken, die in Österreich bestehende vierjährige Bürgerschule (...) auf das Reich zu übertragen und als vierklassige ,Hauptschule' zur Normalform des mittleren Schulwesens in ganz Deutschland zu machen" (H.J. Frank ebd.). So werden die „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Mittelschule" von 1939 am 9. März 1942 von den „Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule" ersetzt. Die Hauptschule hatte die Aufgabe, die Voraussetzungen „für jene mittleren Berufsschichten des deutschen Volkes" zu schaffen, „deren Arbeit erhöhte Geschicklichkeit der Hand und vertiefte Einsicht in das Wesen und die Bedeutung des eigenen Berufes und in seine Zusammenhänge mit der Volkswirtschaft sowie mit dem gesamten völkischen Leben erfordert. Sie dient damit besonders den Bedürfnissen aller mittleren und gehobenen praktischen Berufe in Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Industrie, Verwaltung und Erziehung sowie aller hauswirtschaftlichen pflegerischen, sozialen und technisch-künstlerischen Frauenberufe" (Erziehung und Unterricht in der Hauptschule 1942: 7). Wie in den Volksschulrichtlinien werden die Aufsatzformen für die Mittelbzw. Hauptschule aus den Anforderungen des Lebens abgeleitet: „Die Ausrichtung der Hauptschule auf das praktische Leben und die Eigenart der künftigen Berufe ihrer Schüler erfordern, daß diese ihre Erlebnisse, Beobachtungen und Gedanken im Zusammenhang in gegenständlichem und allgemeinverständlichem Deutsch bündig ausdrücken können" (ebd.: 18). Neben den Grundformen des Aufsatzes (Erzählung, Sachbericht, Beschreibung und Schilderung) werden die Briefform und „die Abfassung von Schriftstücken, die das praktische Leben fordert" (ebd.: 20), ausdrücklich genannt. Besonders die Briefform wird dem Lehrer ans Herz gelegt: „Die im Schulleben nicht häufigen Anlässe zum Schreiben von echten Briefen sind voll auszunutzen"
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(ebd.). Sollten die „Schriftstücke, die das praktische Leben fordert" identisch sein mit den „Mitteilungen" der Volksschulrichtlinien, so bestünde in den Anforderungen für den Aufsatzunterricht eine völlige Übereinstimmung zwischen den Richtlinien für die Volksschule und den Bestimmungen für die Mittel- bzw. Hauptschulen. Die Sichtung der Vorgaben des Aufsatzunterrichtes im Dritten Reich, insbesondere der aufsatzdidaktischen Schriften und der amtlichen Bestimmungen, hat ein in sich widersprüchliches Bild ergeben. A u f der einen Seite haben wir eine Vielfalt von aufsatzdidaktischen Entwürfen, politische und unpolitische, angepaßte und weniger angepaßte, mehr oder weniger an die Tradition gebundene usw. Auf der anderen Seite steht der Block der amtlichen Richtlinien und Bestimmungen, bei allen Differenzen im Detail doch einheitlich in der Konzeption, dazu die Arbeiten von Fritz Rahn. Wie steht es nun angesichts dieser Tatsachen mit der Feststellung von Hort Joachim Frank: „Eine neue Aufsatzlehre hat der nationalsozialistische Deutschunterricht nicht hervorgebracht" (1973/1976: 831)? Eine solche Feststellung trifft zweifelsohne zu auf die aufsatzdidaktische Diskussion der Zeit. Eine neue Konzeption ist hier nicht erkennbar. Sie scheint mir aber zugleich auch unzutreffend zu sein. Denn die amtlichen Richtlinien und Bestimmungen sowie Fritz Rahn in seinen verschiedenen Veröffentlichungen vertreten durchaus eine einheitliche Linie. Mir scheint, daß hier in der Tat „eine neue Aufsatzlehre" vorliegt, die nur deshalb in der Nachkriegszeit nicht als eine eigenständige Konzeption erkannt worden ist, weil man selber keine andere hatte. Ich werde im folgenden versuchen, die Konturen der neuen Konzeption nachzuzeichnen. Daß dabei die amtlichen Quellen sowie die Arbeiten von Fritz Rahn im Mittelpunkt der Analyse stehen, dürfte verständlich sein.
3. Die Grundlagen des neuen Aufsatzunterrichtes Im folgenden stelle ich einige Gesichtspunkte zusammen, die die Grundlagen des neuen Aufsatzunterrichtes erkennen lassen. Es handelt sich um den Versuch, das, was den meisten aufsatzdidaktischen Arbeiten der Zeit implizit ist, herauszuarbeiten. (1) Wenn es erlaubt ist, auch die historischen Bedingungen zu den Grundlagen zu rechnen, dann ist der Hinweis nicht unwichtig, daß die Nationalsozialisten auf einen sehr labilen Zustand in der aufsatzdidaktischen Diskussion trafen: „das Alte war nicht beseitigt, das Neue nicht verwirklicht, das Ganze im privaten Experiment verhaftet. Die Reform im Aufsatzunterricht hatte es nicht zu festem Stil und neuer Tradition gebracht" (H. Schumann 1957: 14).
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Die Aufsatzdidaktiker unter den Nationalsozialisten haben die Gunst der Stunde genutzt. (2) Die sprachtheoretischen Grundlagen der nationalsozialistischen Aufsatzerziehung entstammen der neuromantischen Schule, insbesondere den Schriften Leo Weisgerbers (1929). Sprache wird hier nicht so sehr als ein Mittel der Verständigung (Kommunikation) begriffen, sondern in einen Zusammenhang mit der Sprachgemeinschaft gebracht, in der sie gesprochen wird. Ich führe eine etwas längere Passage aus einem Artikel von Fritz Stroh an, in der die neuromantische Auffassung von Sprache recht gut wiedergegeben wird: „Das Wissen um die Zusammenhänge und das Zusammenwirken von Volk und Sprache ist uns im letzten Jahrhundert verloren gegangen. Einmal dadurch, daß die seit J. Grimm echt geschichtlich begründeten nationalen Philologien weithin völlig dem reinen Historismus verfielen. Zweitens dadurch, daß im Zeitalter der aufgehenden Naturwissenschaften auch unsere Sprache zu einem meßbaren Ding entartete, d. h. zu einem bloßen Schallgebilde. Drittens dadurch, daß die Sprache — soweit sie ihre menschliche Bindung überhaupt behielt — zu einem rein persönlichen, privaten Handwerkszeug wurde. Dem haben wir eine neue Anschauung von unserer Sprache entgegenzusetzen. ( . . . ) Wir gründen unsere Sprachanschauung nicht darauf, was unsere Sprache etwa sei, wie sie werde und sich entwickle, sondern vor allem darauf, was sie für die tragende Gemeinschaft leistet. Welches ist diese ursprüngliche Leistung der Sprache? Sie ist nicht nur Schall und Klang; nicht ein bloßes Lautkleid; nicht ein bloßes Mittel, schon vorhandene Gedanken, Begriffe, Bedeutungen nur zu bezeichnen. Sie ist nicht etwa nur ein Mittel der Verständigung. Erst durch diese Sprache vermögen wir überhaupt die Welt gedanklich zu erfassen, zu begreifen. Wie geschieht das? Dadurch, daß aus dem Strome des Geschehens, der Empfindungen, Einzelnes herausgegriffen und abgesondert, abgegrenzt und ausgegliedert wird. Es wird von ihr eine Ordnung hergestellt, ein Bedeutungsgefüge aufgebaut, eine Bedeutungswelt geprägt. Entscheidend ist nun ferner, daß dieses Bedeutungsgefüge der Sprache subjektiv, und zwar völkisch bedingt ist. Diese Ordnung der Erscheinungen durch unsere Sprache kommt nicht allein von den ,Dingen' her. Sie wird vielmehr von den ordnenden Menschen, von den ausgliedernden Sprachgemeinschaften gestiftet. ( . . . ) In jeder Sprache des Volkes ist also niedergelegt, was sich im Werdegang der tragenden Gemeinschaft im weitesten Sinne als brauchbar erwiesen hat, was Geltung gewonnen hat. ( . . . ) Jede Volkssprache ist also eine besondere eigentümliche Ordnung, die Welt zu begreifen" (F. Stroh 1939: 1). (3) Die Sprachdidaktik des Dritten Reiches hat die neuromantischen Vorstellungen von der Sprache weithin übernommen, aber anders akzentuiert. Die
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neuromantische Schule hatte ursprünglich die bewußtseinsbildende Kraft der Sprache herausgestellt: Die Sprache, die wir sprechen, prägt zunächst und zutiefst unser Denken. Das nationalsozialistische Erziehungskonzept zielte aber nicht so sehr auf den Intellekt ab, als vielmehr auf die Charakterbildung (siebe oben). In dem Maße, in dem die neuromantischen Auffassungen von Sprache in das neue Erziehungskonzept eingepaßt werden, verlagert sich der Schwerpunkt des Interresses der Sprachpädagogen von den bewußtseinsbildenden auf die charakterbildenden Kräfte der Sprache. Man kann sich diesen Wechsel an einem Zitat von Georg Kühn verdeutlichen: „Indem wir Deutsch als Muttersprache lernen, (...) schauen wir die Welt in einer bestimmten, von unseren Vätern übernommenen Weise". Das ist neuromantisch gedacht. Nationalsozialistisch ist es, wenn Sprache nun auch Grundlage der Charakterbildung wird: „Indem wir Deutsch als Muttersprache lernen, (...) übernehmen wir sogar die Gesinnung und Haltung der völkischen Sprachgemeinschaft" (G. Kühn 1936: 77). (4) Der Begriff der Haltung war ein Schlüsselbegriff der Nationalsozialisten (vgl. R. Schnell 1985; O. Ludwig im Druck). 1940 hatte der Psychologe Wilhelm Hehlmann einen Vortrag über „Persönlichkeit und Haltung" gehalten. Hehlmann unterschied drei Aspekte des Begriffes: (1) Als „äußere Haltung" bezeichne der Begriff „die Gesamtheit dessen, wie ,sich der Mensch gibt', die Art und Weise, sich zu bewegen, samt einer Fülle von .Gewohnheiten' (W. Hehlmann 1940: 8). Als Beispiel wird der Soldat genannt, „dessen äußeres Verhalten ( . . . ) in einer für die Außenwelt deutlich erkennbaren Weise eben die Spuren einer planmäßigen Prägung trägt" (ebd.: 8 f.). (2) Die äußere Haltung gründet in einer „inneren Haltung": „das Verhalten will von innen her verstanden werden. Es ist ,ausdruckshaltig'" (ebd.: 10). Hehlmann spricht in diesem Zusammenhang von „der persönlichen Wesensart" (ebd.) und meint damit vor allem „die Gefühlsansprechbarkeit und die Erregbarkeit des Wollens, das Äußerungsvermögen, die Beweglichkeit und viele andere Eigenschaften" (ebd.: 10 f.). Da „in der beschriebenen Schicht ein hoher Grad von Vorbestimmtheit durch Art und Erbe" (ebd.: 11) herrsche, ist dieser Aspekt von Haltung für die Pädagogik weniger interessant. (3) Auffalligerweise wird ein Bereich der inneren Haltung ausgegrenzt und für sich gestellt: „die Weise, wie einer ,zur Welt steht', der Bereich, aus dem „die Antriebe unseres Handelns stammen" (ebd.: 12): „Wird in diesem Zusammenhang von Haltung gesprochen, dann bedeutet das offenbar etwas anderes als den formalen Vollzug bloßer Ablaufseigentümlichkeiten. Wenn wir glauben, bei einem Menschen (...) Ehrenhaftigkeit und Aufrichtigkeit, Mut und Treue, Leistungswillen und Verantwortungsbereitschaft voraussetzen zu dürfen, dann ist damit ein Bezirk persönlichsten charakterlichen Seins bezeichnet" (ebd.: 13). Hehlmann spricht von „charakterlicher Haltung". Sie stand im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Erziehung.
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Für die Aufsatzdidaktik der Nationalsozialisten waren nicht so sehr die begrifflichen Unterscheidungen von Bedeutung, als vielmehr die Beziehungen zwischen den begrifflichen Schichten. Haltung ist einmal „Ausdruck bestimmter vitaler Grundgeartetheiten" (ebd.: 13), d. h. in der äußeren Haltung drückt sich die innere Haltung eines Menschen aus. Man sollte annehmen, daß eine solche Bestimmung für die Aufsatzdidaktik der Nationalsozialisten attraktiv gewesen sei: der Schüleraufsatz als schriftlicher Ausdruck einer inneren Haltung. Tatsächlich jedoch hat sie dieser Aspekt kaum interessiert. Zwar gibt es einige Äußerungen von Aufsatzdidaktikern, die in eine solche Richtung weisen, ζ. B. wenn K. Reumuth schreibt: „So wie man in der militärischen Erziehung und in der gesamten Leibeserziehung erst in der Lage des ,Rührt euch' erkennen kann, ob die erzieherischen Einwirkungen in Fleisch und Blut übergegangen und zur Haltung geworden sind, so ist der Stand der Umgangssprache Maßstab dafür, wie weit unsere spracherzieherische Arbeit sprachliche Haltung erzielt hat" (1941: 65). Doch unmißverständlich heißt es in den amtlichen Bestimmungen für die Höhere Schule: „Der Schulaufsatz ist weder der geeignete Prüfstein für eine propagandistische Begabung noch der Ort, wo er seine Gesinnung zu Markte tragen soll" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 44). Offensichtlich hatten die Nationalsozialisten es nicht nötig, den deutschen Aufsatz in den Dienst der Gesinnungs- und Gewissenprüfung zu stellen. Sie hatten mit ihm anderes im Sinn. Haltung war für Nationalsozialisten nicht nur Ausdruck einer inneren Einstellung, sondern zugleich auch immer Forderung: „So gewiß die Haltung auf der einen Seite die persönliche Form darstellt, in welcher sich bestimmte Art und bestimmte rassische Substanz ausprägt, so gewiß ist die haltungsmäßige Eigentümlichkeit, die wir in die Begriffe Zucht, Disziplin und Prägung zusammenfassen, die Selbstbeherrschung, der Formwille und die Spannkraft, die wir immer mitmeinen, die Antwort dieses Menschentums auf Forderungen und Aufgaben, die keine einfachen Gegebenheiten darstellen, sondern die man erst in seinen Willen aufnehmen muß; die Antwort auf Aufträge, für die man sich einsetzen muß" (W. Hehlmann 1940: 14 f.). Haltung war also eine Lebensform oder — wie Wilhelm Hehlmann sie bezeichnet — „eine Zuchtform, in der hochwertiges Rassentum zu geschichtlichen Leistungen aufsteigt" (ebd.: 14f.). Was die nationalsozialistischen Aufsatzdidaktiker unter Haltung verstanden haben, läßt sich vielleicht am besten im Vergleich darstellen. Von Haltung war in der Aufsatzdidaktik seit ihrem Bestehen immer wieder die Rede. So schrieb der bedeutendste Aufsatztheoretiker aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Wenn also kein Theil einer menschlichen Rede dem andern grundlos und direct widerspricht; wenn Worte, Wendungen, Gedankenreihen, wenn Ton und Farbe ganzer Stellen nach der Vernunft-Ordnung zu einander passen, und über dem Ganzen die einzig bestehende Schöpfungsharmonie
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schwebt; dann hat die Rede Haltung" (C. F. Falkmann 1823: 329 f.). Haltung ist hier eine Eigenschaft der Rede, oder, wie wir heute sagen würden, des Textes (vgl. auch G. G. Fülleborn 1802: 53; Th. Heinsius 1810: 78; F. E. Petri 1811: 95; L. Schaaff 1812: 55, 58, 72 u. ö.; S. Η. A. Herling 1837: 45 u.a.). Wenn nationalsozialistische Aufsatzdidaktiker von Haltung sprachen, meinten sie nicht die Texte, sondern die Schreiber von Texten. Der Schüler sollte beim Schreiben eine bestimmte Haltung annehmen — nicht irgendeine beliebige, sondern die vom neuen Menschen geforderte. Eine Haltung, in der auf der einen Seite „die rassische Art" (W. Hehlmann 1940: 13) zum Ausdruck gelangte, die aber auf der anderen Seite der historischen Aufgabe entsprach, für die der Schüler vorzubereiten war: eine „charakterliche Haltung", wie Hehlmann sagte, ausgezeichnet vor allem durch Selbstbeherrschung, Disziplin, Leistungswillen, Verantwortungsbereitschaft und Zucht. „Zucht der Sprache" sei „auch Zucht des Charakters", wie die Verfasser der amtlichen Bestimmungen von 1938 feststellten (Erziehung und Unterricht 1938: 45). (5) Haltung, Zucht, Charakter — diese Ziele setzen eine ebenso zuchtvolle Organisation des Aufsatzunterrichtes voraus, mit einem Wort: Planwirtschaft (F. Rahn 1933). „Die bisher noch vorherrschende Planlosigkeit und Willkür in der Stil- und Aufsatzerziehung muß einem gebundenen Lehrgang weichen, der auf allen Stufen den Unterricht mit einer lebendigen Fülle lösbarer und reizvoller Aufgaben bedenkt und ihn in organisatorischer Verbindung mit Sprachlehre und Redeübung nach erreichbaren Zielen einheitlich ausrichtet" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 40). Immer wieder wird Klage über den alten Schlendrian geführt: „Während in anderen Fächern, etwa in den Fremdsprachen, eine planmäßige Unterweisung den Schüler von Sexta bis Prima leitete, erfolgte die Ausbildung in der Muttersprache meist weniger zielbewußt. Zwar sollten auf der Unterstufe die Grundlagen der Rechtschreibung und der Grammatik erwogen werden, aber die eigentliche Stilbildung blieb mehr oder weniger dem Belieben des einzelnen Lehrers überlassen. Während — am anderen Ende — auf der Oberstufe die drohende Reifeprüfung eine gewisse Richtung erzwang, war die Stil- und Aufsatzbildung der Mittelstufe vollends dem Gutdünken des Lehrers anheimgestellt" (B. Bock 1938: 50). Weil es auf die Formung des Charakters ankam, auf den systematischen Aufbau einer Haltung im Schüler, durfte nichts dem Zufall überlassen bleiben, weder der Eigeninitiative des Schülers, aber auch nicht der des Lehrers. So wurde der Aufsatzunterricht verplant. Planwirtschaft im Aufsatzunterricht heißt, daß genaue Pläne sowohl für die einzelnen Schuljahre als auch für den Unterricht insgesamt aufgestellt werden (vgl. etwa F. Rahn 1933, K. F. Probst 1937, Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 53 — 68, Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule 1942: 2 3 - 2 8 ) .
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4. Die Ausgrenzung der Stilübungen Die Geschichte des deutschen Aufsatzes beginnt mit der Ausgliederung der Schreibübungen (vgl. VII.2). Es folgte die Ausgliederung der Rechtschreibübungen. Die Nationalsozialisten haben diese Tradition fortgesetzt. Sie gliedern die Stilübungen aus. In den amtlichen Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" von 1938 werden die „schriftlichen Ausdrucksübungen", wie die Stilübungen hier genannt werden, von der „Aufsatzlehre" abgetrennt und gesondert aufgeführt. Eine Differenzierung der beiden Übungsformen hatte sich bereits in den zwanziger Jahren angebahnt. Im Zusammenhang mit der „Neuen Sachlichkeit" war der Pflege des Stils eine Beachtung zuteil geworden, die weder der alte gymnasiale noch der freie Aufsatz der Reformer aufbringen konnte. Der „Deutsche Stil- und Aufsatzunterricht" von Wilhelm Schneider (1926) markiert in dieser Hinsicht einen Wendepunkt in der Aufsatzgeschichte. 1928 forderte Hans Heinrich Schmidt-Voigt im Namen der Deutschkundler an den Höheren Schulen Frankfurts für die Stilschulung „wöchentlich eine Stunde" (H.H. Schmidt-Voigt 1928: 154). Zwei Jahre später grenzte Fritz Rahn die Stilübungen deutlich von der Aufsatzlehre ab: „denn Stilübungen sind etwas grundsätzlich anderes als kleine Aufsätzchen und nicht durch solche zu ersetzen. ( . . . ) Aufsätze gehen vom Gehalt aus. ( . . . ) Stilübungen dagegen zielen auf Sprache" (F. Rahn 1930: 589 f.). 1936 setzte Schmidt-Voigt die Trennung von Stilübung und Stilleistung voraus. Diese zeige sich im Aufsatz, jene obliege den Stilübungen und der Stillehre (H.H. Schmidt-Voigt 1936: B. III.l). Die amtlichen Bestimmungen von 1938 setzten also nur den Schlußpunkt unter eine lange Entwicklung, indem sie organisatorisch vollzogen, was zuvor von verschiedenen Seiten gefordert war. Die Abgrenzung der Stil- und Ausdrucksübungen vom eigentlichen Aufsatzunterricht bedeutete eine stärkere Betonung des Eigengewichtes dieser Übungen. Sie wurden nicht mehr im Aufsatzunterricht sozusagen nebenbei betrieben, sondern hatten eine eigene Aufgabe: „Die Stilübungen dienen einer planvoll betriebenen Erweiterung des Ausdrucksumfangs und der Schärfung des Gefühls für den richtigen Einsatz der Ausdrucksmöglichkeiten. Sie fördern die Findung der Gedanken und ihre Aufgliederung" (Η. H. SchmidtVoigt 1938: 220). Mit anderen Worten: sie bereiten nicht nur den eigentlichen Aufsatzunterricht vor, sondern vermitteln darüberhinaus dem Schüler ein auf dem natürlichen Sprachgefühl aufbauendes Sprachbewußtsein. In dem Maße, wie sich die Stil- und Ausdrucksübungen vom Aufsatzunterricht lösten, näherten sie sich den mündlichen Ausdrucksübungen an. In den amtlichen Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" werden beide Arten von Ausdrucksübungen nur noch aus Gründen
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der Darstellung gesondert aufgeführt: „Die verschiedenen Arten mündlicher und schriftlicher Ausdrucksübungen ( . . . ) sind nicht, wie es den Anschein haben könnte, getrennte Gebiete, sondern bilden im Unterricht eine unlösbare Einheit" (1938: 37). Begründet wird die Ausgliederung der Stil- und Ausdrucksübungen mit der Entlastung, die der Aufsatzunterricht durch sie erfahrt: „Durch Vereinzelung und Abgrenzung der vielfaltigen Schwierigkeiten sollen hier die formalen Aufgaben des Aufsatzschreibens allmählich gelöst, der Aufsatzunterricht selbst von den eigentlichen stilistischen Aufgaben entlastet werden" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 41 f.). Ähnlich hatte Fritz Rahn bereits 1930 die Trennung nahegelegt: „Der junge Mensch müht sich mit Gehalten ab und kämpft zugleich mit der Sprache. Entweder erstickt er im gestaltlosen Stoff oder er kommt vor lauter Darstellung nicht zum Gehalt; das eine Mal ist er Umstandskrämer, das andere Mal Formalist. ( . . . ) Hier helfen ihm die Stilübungen. Der Aufsatz ist der Ernstfall, sie sind das Kriegsspiel. Sie isolieren die Probleme der Darstellung und nehmen ihm die Sorge um den Gehalt ab" (F. Rahn 1930: 590). Die Trennung wäre aber wohl nicht möglich gewesen, wenn sich nicht auch inzwischen die Einschätzung der Bedeutung des Aufsatzunterrichtes gewandelt hätte. 1917 hatte Klaudius Bojunga die Unterscheidung zwischen Nutz- und Bildungszielen auf den Deutschunterricht angewendet (K. Bojunga 1917: 28, vgl. Kap. IX.). Der Aufsatzunterricht kam unter das Nutzziel und wurde auf diese Weise abgewertet. Dabei ist es dann für viele Jahre geblieben. Zumindest in der Deutschkunde. Innerhalb der Deutschkunde ist dann Ende der zwanziger Jahre eine Veränderung in der Einstellung zum Aufsatzunterricht zu beobachten. Die Unterscheidung von Nutz- und Bildungszielen wird beibehalten, sie wird aber jetzt auf den Aufsatzunterricht angewendet. Dem Nutzziel — oder wie es jetzt heißt — dem „Fertigkeitsziel" dienen die Stilübungen, dem „Bildungsziel" jedoch die Aufsätze selbst: „Das Bildungsziel des Aufsatzes ist in der Fähigkeit zu suchen, sich schriftlich mit Problemen der Umwelt im Sinne der Erziehung zum deutschen Menschen auseinanderzusetzen" (H. Davidts 1931: 537). Hermann Davidts hatte den Aufsatzunterricht auf Kosten der Stilübungen aufgewertet. Das war ein notwendiger Schritt, um die notorische Vernachlässigung des Aufsatzunterrichtes durch die Deutschkunde allmählich aufzuheben. Aber auch die Stilübungen erfahren bald eine Aufwertung. In dem Maße, in dem neuromantische Vorstellungen den Sprachunterricht bestimmten (vgl. X. 3.), nahm die Bedeutung der Stilübungen für den Deutschunterricht zu: „Wer sich stilistisch versucht, beobachtet die Sprache in ihrem lebendigen Verhalten hier und jetzt, auf dem Sprung sozusagen, wie ein Jäger auf der Jagd, der weder Zoologie noch Anatomie treibt, sondern sein Wild belauert,
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der kämpft, schießt, ausweidet, heimträgt und schließlich den Hasen verspeist. — Noch einmal: es geht um den Ausdruck. Was bewirkt das Wort, was bewirkt der Satz und wie geschieht das? Auf diesem Gebiet, an diesem Stoff gilt es eigene Erfahrungen zu machen" (F. Rahn 1930: 581). Damit die Schüler solche Erfahrungen mit der Sprache machen konnten, damit ihr Sprachgefühl verfeinert, ihr Ausdrucksvermögen bereichert und ihr Sprachbewußtsein geschärft werde, wurden verschiedene Übungsformen vorgeschlagen und eingeführt: Wortschatzübungen, Umformungsübungen (Kürzungen und Erweiterungen von Texten), sog. Treff- und Unterscheidungsübungen, Gliederungsübungen und kleinere Niederschriften (Notizen, Nacherzählungen, kleinere Erzählungen, Protokolle usw.). Mit den Stilübungen war für „das Handwerksmäßige" gesorgt. Doch auch mit harmlos anmutenden Wortschatzübungen konnten Begriffe umfunktioniert und im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung besetzt werden: „Vielfach füllen sich alte Hülsen mit neuen Inhalten. So empfiehlt es sich, Wörter wie: Freundschaft und Kameradschaft, Freiheit und Frechheit, Idealismus und Materialismus, Liberalismus und Sozialismus, Zucht und Züchtung, Staat und Volk, Gemeinschaft und Persönlichkeit u. a. paarig gegeneinander zu halten und aus ihrer Einkleidung in bestimmte sprachliche Anwendungen heraus zu erläutern" (H.H. Schmidt-Voigt 1938: 299). Auch die Stilübungen konnten, systematisch betrieben, der Einführung nationalsozialistischer Ideologeme dienen. Ein Beispiel gibt Wilhelm Ebel (W. Ebel 1941: 9 f.): „Es stehe die deutsche Erhebung zur Behandlung; wir haben das gewaltige Geschehen des Frühlings 1933 uns wieder in die lebendige Erinnerung zurückgerufen und gehen nun daran, auch sprachlich herauszustellen, welche Werte hier neu geweckt worden sind. Wir beginnen wieder mit den so wichtigen Wortschatzübungen: Der Führer nahm den Kampf auf gegen Verzagtheit, Schwachheit, Feigheit, Unredlichkeit, Zerrissenheit, Halbheit, Bosheit; — er kämpfte für Wahrheit, Einheit, Freiheit, Deutschland, Sicherheit . . . Da begann die große Zeit der Erneuerung, der Selbstbesinnung, der Erhebung, der Selbstachtung, der Läuterung, der Aufartung. Zu Ende waren die Jahre der Bedrückung und Erniedrigung, der Vergewaltigung und Demütigung, der Verelendung und Entrechung, der Überfremdung und Ausbeutung". Und so geht das noch lange weiter, Im Grund sind das keine sprachlichen Übungen mehr. Es werden zwar sogenannte Einsetzübungen ausgeführt, doch diese Übungen dienen nicht der Schärfung des Sprachgefühls, sondern der Einführung von Sprach- und Denkklischees. Auch auf diese Weise wurden nationalsozialistische Wertvorstellungen in die Köpfe und Herzen der Schüler transportiert und eine spezifisch nationalsozialistische Haltung erzeugt. Daß der Vorschlag von Ebel kaum eine geschmacklose Ausnahme gewesen sein kann, zeigen die Aufsätze der Schüler. Dort findet man solche und ähnliche Klischees wieder (s. unten).
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5. Die Aufsatzformen Die nationalsozialistischen Aufsatzdidaktiker waren vornehmlich an der Frage interessiert, wie der Aufsatzunterricht in Lehrplänen zu organisieren sei: „Die entscheidende Schwierigkeit, die sich einer Anwendung gewonnener Einsichten in der Praxis stellt, ist organisatorischer Art" (F. Rahn 1938/1941: 5). Die „Marschrichtung" hatte Fritz Rahn vorgegeben, sie war in den amtlichen Bestimmungen festgeschrieben worden: „Die Gewissensfrage der Aufsatzerziehung: freies Ausschwärmen oder gebundene Marschrichtung? sollte mit den neuen Lehrplänen für den gewissenhaften Lehrer eindeutig entschieden sein. Die dort aufgestellten Forderungen erzwingen ein planmäßiges Vorgehen." (F. Rahn ebd.). Um eine strenge Planwirtschaft auch im Aufsatzunterricht betreiben zu können, bedurfte es einer geeigneten Grundlage. Diese mußte einfach, klar und tragfahig sein, vor allem aber unmißverständlich und unabhängig von irgendwelchen Sonderwünschen, sei es von Lehrern oder von Schülern: „Ein gesunder Arbeitsplan kann nicht mehr die alte Rücksicht auf die zufälligen Begabungsrichtungen der Schüler nehmen, auf ihren Geschmack und ihre einseitige Vorliebe für gewisse Stilformen" (F. Rahn ebd.). Man hätte zur Grundlage eines Lehrplanes nehmen können, was man über die geistige Entwicklung von Kinden und Jugendlichen wußte. Aber ein solches Eingehen auf die Situation der Kinder war nie ein Anliegen der NS-Pädagogen. — Man hätte einen Lehrplan auf den Stoffen, Themen und Inhalten der Aufsätze aufbauen können. Auch das ist nicht geschehen. Stattdessen hat man sich für die Aufsatzformen entschieden: „Planmäßiges Vorgehen im Aufsatzunterricht hat zur Voraussetzung, daß der Schüler in seinen Aufsätzen festgelegt wird auf ganz bestimmte Stilformen" (F. Rahn 1938/1941: 4). Unter den bekannten Aufsatzformen wählte man eine kleine Anzahl aus, brachte sie in eine Reihenfolge, die sich im übrigen kaum von der üblichen unterschied, und gewann auf diese Weise die Grundzüge eines Lehrplanes für den Aufsatzunterricht. Die Wahl der Aufsatzformen wird verschieden begründet. In den Richtlinien für die Volksschule und in den Bestimmungen für die Mittelschule bzw. Hauptschule werden Bedürfnisse den späteren Lebens, insbesondere der Berufswelt, geltend gemacht. Ähnlich äußert sich auch Schmidt-Voigt: „Die Schule dient zunächst dem Alltag. Unser Anliegen sind daher vorerst die in ihm geforderten volkläufigen Darstellungsformen" (1938: 293). Eine solche Begründung überzeugt aber nicht, da die ausgewählten Darstellungsformen, von einigen Ausnahmen abgesehen, kaum etwas mit dem sogenannten Leben zu tun hatten. Es sind, wie Fritz Rahn zurecht betont, künstliche Gebilde: Übungsformen, mehr nicht. Sehr viel überzeugender ist die Begründung, die Rahn selbst gegeben hat, einmal weil sie die Auswahl
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wirklich erklärt und zum anderen weil sie in Übereinssimmung mit den Erziehungszielen der Nationalsozialisten steht. Rahn entscheidet sich für die Aufsatzformen, in denen eine bestimmte Haltung zum Ausdruck kommt: „Da dieser Unterschied der Haltung für die Stilbildung (...) fruchtbarer ist als der Zweckgesichtspunkt, so handelt es sich für den Aufsatzunterricht darum, den Schüler vor Aufgaben zu stellen, die möglichst eindeutig eine bestimmte — sei es sachliche, sei es gefühlsbetonte — Haltung hervorrufen" (F. Rahn 1938/1941: 14). Mit dem Begriff der Haltung konnte die Aufsatzdidaktik unmittelbar an die allgemeinen Erziehungsziele anschließen (vgl. X.3(4)). Um die Auswahl unter den Aufsatzformen verstehen zu können, ist ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Die Aufsatzformen sind Übungsformen. Das jedenfalls ist die Uberzeugung von Rahn und anderer Aufsatzdidaktiker. An ihnen sollen bestimmte Haltungen und ihr sprachlicher Ausdruck eingeübt werden. Darum kam es vor allem auf ihre Trennschärfe an. Je eindeutiger eine Aufsatzform einer bestimmten Haltung zugeordnet werden konnte oder — umgekehrt — je eindeutiger eine bestimmte Haltung in einer Aufsatzform zum Ausdruck kommt, umso besser schien sie für den Unterricht geeignet zu sein. „Der Aufsatz verlangt klare Einsicht und zielstrebige Arbeit — solange wenigstens, bis die Grundformen beherrscht sind" (E Rahn 1938/1941: 5). Eine solche Absicht erklärt die Beschränkung auf einige wenige Grundformen. Die Ableitung erscheint mir bis zu diesem Punkt ziemlich einsichtig und nachvollziehbar zu sein. Sie wird aber problematisch, wenn es an die Bestimmungen der relevanten Aufsattformen geht. Ohne weitere Begründung stellt Rahn fest, daß sich der Mensch nur auf drei verschiedene Weisen zu den Dingen verhalten könne, sachbetont, gefühlsbetont und verstandesbetont (vgl. dazu ausführlicher XI. 3). Diesen drei Haltungen entsprechen drei Grundformen des Aufsatzes: — der Sachbericht (sachbetont) — die Schilderung (gefühlsbetont) — die Betrachtung oder der Besinnungsaufsatz (verstandesbetont). Damit sind wichtige Formen der Aufsatztradition benannt und in den neuen Kanon aufgenommen. Doch es fehlen mindestens noch zwei: die Erzählung und die Beschreibung. Die Beschreibung wird von Rahn und auch von den amtlichen Bestimmungen, zumindest von den für die Höhere Schule, dem Sachbericht subsumiert, die Erzählung erhält einen Sonderstatus. Zu den einzelnen Aufsattformen des neuen Kanons „Die Erzählung ist die naive Sprachkunstform des Kindes wie des Erwachsenen" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Einer solchen Feststellung liegt die Annahme zugrunde, daß in der Erzählung die
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verschiedenen Haltungen noch nicht geschieden sind und also gemeinsam zum Ausdruck kommen, also eine Art Urform. Bei der Aufzählung von Beispielen für Erzählungen gehen die Quellen auseinander. Fritz Rahn betont den Erlebnischarakter: „Da der Schüler der 1. Klasse (Sexta, O. L.) ( . . . ) im wesentlichen naiv erlebt, ( . . . ) so gibt es für ihn auch nur eine einzige Stilform, in der es ihm wohl ist, weil er in ihr frei gestalten kann: die Erzählung eines wirklichen und eines erdachten oder erträumten Erlebnisses" (F. Rahn 1938/ 1941: 8). Die amtlichen Bestimmungen nennen literarische Formen: „das Märchen, die Sage, die Fabel, die Phantasiegeschichte, die Abenteuergeschichte" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Was auch immer unter Erzählung verstanden worden ist, in einem Punkt sind sich alle einig: die Erzählung ist nicht nur Grundlage für alle anderen Aufsatzformen, mit ihr beginnt aller Aufsatzunterricht und damit auch der Lehrplan. Auf der nächsten Stufe des Lehrplanes tritt eine Differenzierung ein. Die Form der Erzählung setzt sozusagen zwei weitere Aufsätzformen aus sich heraus. Das Kriterium ist die jeweils zum Ausdruck kommende Haltung. Ist die Haltung des Schreibenden sachbetont, so führt sie zum Sachbericht, ist sie gefühlsbetont, zur Schilderung. „Während der Bericht Tatsachen feststellt, schwingt in der Schilderung der innere Anteil am Dargestellten mit" (K. Reumuth 1941: 233). Aus der Erzählung wird ein Sachbericht durch Zurückdrängung, wenn nicht gar Ausmerzung aller gefühlsmäßigen, persönlichen und subjektiven Elemente und Konzentration ausschließlich auf die sachbezogenen: „Strengste Bindung an den rein sachlich beschriebenen Vorgang ohne Ausschmückung oder Belebung durch Persönliches oder Zufälliges" (F. Rahn 1938/1941: 31 f.), „reine Hingabe an die Sache" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). In den oberen Klassen führt der Sachbericht zum Tatsachenbericht, der Inhaltsangabe und schließlich zur Facharbeit. In jedem Falle aber wird gefordert: Klarheit, höchste Genauigkeit und Richtigkeit. Die Tatsache, daß — anders als in den Richtlinien für die Volksschule — zur Form des Sachberichtes auch die klassische Beschreibung (Ding-, Bildund Menschenbeschreibung, auch die Charakteristik) gerechnet wird, ist zunächst wenig einleuchtend. Rahn begründet den Zusammenhang jedoch so: „der Bericht bringt in der Absicht der Richtigkeit und Genauigkeit einen einmaligen Vorgang innerhalb eines Lebenszusammenhanges, die Beschreibung dagegen vereinzelt den Gegenstand oder Vorgang und nimmt sie damit aus ihrem Lebenszusammenhang heraus" (F. Rahn 1938/1941: 22). Was die beiden Formen verbindet, ist, auch wenn die dargestellten Sachverhalte verschieden sind, die Haltung, die der Schreibende ihnen gegenüber einnimmt. Im Rahmen einer Aufsatzdidaktik, die den Aufsatz als Ausdruck einer
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bestimmten Haltung versteht, ist es also nur konsequent, wenn die beiden Formen nicht, wie es in der Aufsatztradition üblich war, getrennt werden. „Die Schilderung versucht einen Sachverhalt nicht von außen, sondern von innen her gesehen wiederzugeben" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Sie ist das subjektive Pendant zum Sachbericht. Auch die Schilderung entwickelt sich aus der naiven Erzählung: „Was sich auf der Stufe des naiven Erzählens in schönen Ansätzen von selbst ergibt, muß auf der Stufe der Schilderung in einem schöpferischen Akt bewußt gestaltet werden. Die Schilderung will auf den Leser und Hörer wirken, sie will ihn zum innerlichen Mitgehen bewegen; sie fügt und wägt darum die Worte mit besonderem Bedacht" (K. Reumuth 1941: 233). Zur Schilderung zählen die Erlebnisschilderung, auch phantastische Schilderungen, später das Erlebnisbild, die Stimmungsskizze und das Stimmungsbild. Die Opposition, ja geradezu Polarisierung von Sachbericht und Schilderung ist für die Geschichte der Aufsatzformen höchst bedeutsam geworden. In den Aufsatzdidaktiken nach 1945 trat an die Stelle der Schilderung mehr und mehr die Erzählung oder die Erlebniserzählung. Die Schilderung selbst wurde als Gegenpol zur Beschreibung empfunden. So kommt es dann schließlich zu einer Entgegensetzung von Bericht und Erzählung, Sachbericht und Erlebniserzählung, die den Aufsatzunterricht später in starkem Maße beansprucht hat. Aus dem Sachbericht entwickelt sich auf der Oberstufe der Höheren Schule die Betrachtung. So lautet der Begriff in den amtlichen Bestimmungen. Rahn vermeidet den Begriff und spricht von Erörterung, lieber aber noch von Besinnungsaufsatz (s. dazu unten). Gemeint ist in allen Fällen dasselbe: „Sein Wesen ist bestimmt durch die Darstellung von Gedanken" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Erzählung, Sachbericht, Schilderung und Betrachtung sind die vier Grundformen für den Aufsatzunterricht in der Höheren Schule. Für die Volks- und Mittelschule sind Betrachtungen nicht vorgesehen, dafür Briefe, außerdem in der Volksschule „Mitteilungen", was auch immer darunter zu verstehen ist, in der Mittel- oder Hauptschule „auch in begrenztem Umfange die Abfassung von Schriftstücken, die das praktische Leben erfordert" (Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule 1942: 20). Vermutlich ist beides identisch, jedenfalls sieht Heinrich Geffert, der Kommentator der Volksschulrichtlinien, das so: „Die Mitteilung ist der Sammelbegriff für die Formen, die sich im persönlichen und öffentlichen Schriftverkehr herausgebildet haben" (H. Geffert 1941: 91). Angeführt werden der Brief, die Postkarte, das Telegramm, dienstliche Meldungen, Lebenslauf und Zeitungsanzeige. Es stellt sich die Frage, welche traditionellen Aufsatzformen in dem neuen Lehrplan fehlen und warum. Es fehlen alle rhetorisch-oratorischen Formen.
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Horst Joachim Frank mag recht haben, wenn er meint: „Die Ausbildung professioneller Parteiredner mochte den Führerschulen der H J überlassen bleiben" (H. J. Frank 1973/1976: 828). Doch ist zu berücksichtigen, daß freie Redeübungen in den amtlichen Bestimmungen unter der Rubrik „selbstgestaltendes Sprechen" aufgeführt werden, und dort heißt es: „Schon frühzeitig müssen die Schüler daran gewöhnt werden, vor den Mitschülern frei zu sprechen und in sicherer Beherrschung des Stoffes und aus eigener Erfülltheit heraus, mit festem Blick auf die Hörer, das Thema anschaulich, überzeugend und wirkungsvoll auszuführen" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 40). — Es fehlen — zumindest in den Bestimmungen für die Höhere Schule — alle epistolarischen Formen. Aber das hat wenig zu besagen. Denn die Verachtung solcher Gebrauchsformen war im Gymnasium Tradition. — Es fehlen auch alle argumentativen Aufsatzformen: die Abhandlung, die Entwicklung, letztlich auch die Erörterung. An ihre Stelle tritt die Betrachtung, umfunktioniert zum Besinnungsaufsatz: „Die Betrachtung wird auf der Oberstufe gepflegt und als Besinnungsaufsatz geübt. ( . . . ) Er ist weder mit der Abhandlung alten Stils noch mit dem Erlebnisaufsatz der Nachkriegszeit zu verwechseln. ( . . . ) Der Besinnungsaufsatz, wie ihn die neue Schule fordert, darf kein Bekenntnisaufsatz sein, der den Schüler zwingt, sein Inneres bloßzustellen, sondern setzt — wie auch die alte Abhandlung — die Fähigkeit verstandesklarer Stoffgliederung voraus, gewinnt jedoch seine jugendgemäße Form durch den im jungen Menschen geweckten Willen zur persönlichen Entscheidung" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Kein Wort von Beweisführung durch Schlüsse, kein Wort von rationaler Auseinandersetzung. Zwar soll die Stoffgliederung „verstandesklar" sein, doch sein Inhalt ist eine Haltung: „der Wille zur persönlichen Entscheidung". Die Betrachtung ist als Besinnungsaufsatz nicht mehr den argumentativen Aufsatzformen zuzurechnen, sondern ein Instrument der Charakterbildung. Das bestätigen die Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule ausdrücklich: „Der Besinnungsaufsatz wird damit zu einem Bestandteil der Charakterbildung" (1938: 43).
6. Die Aufgabenstellung (Themen) Man darf das, was unter nationalsozialistischen Themen zu verstehen ist, nicht zu eng fassen. Nationalsozialistisch sind nach damaliger Auffassung alle Themen, die mit nationalsozialistischen Lebensfragen zu tun hatten, und das ist ein weites Feld: „Die nationalsozialistischen Lebensfragen sind natürlich nicht rein gedanklicher Art, sondern erstrecken sich in die ganze Wirklichkeit; sie erfassen die Heimat (Charakterbild einer Stadt, einer Landschaft und ihrer Menschen, Bräuche und Lebensbedingungen, Verhältnis von Stadt und Land
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usw.), die Grundsätze, Ereignisse und Maßnahmen unserer Zeit (Rassegesetzgebung, Wehrgesetz, Mai- und Sonnenwendfeier, Erntedankfest, Tag des Buches, Reichsautobahneröffnung, Grenzlandnot, Arbeitsfront, Winterhilfswerk, Erneuerung des Rundfunks, Films und Theaters usw.), sowie bedeutsame Tagesfragen (Kameradschaft im Alltag, Berufsarbeit anderer Volksgenossen)" (H. Dahmen 1936: 467 f.). Das Bild, das sich ergibt, wenn man die Themen untersucht, ist für die Oberstufe der Höheren Schulen ein ganz anderes als für die unteren Klassen, die Volks- und die Mittelschule. In den unteren Klassen Es wird zwar immer wieder betont, daß „die Teilnahme des Kindes an dem politischen Leben der Gegenwart bei der Themenstellung gebührend berücksichtigt werden" müsse (H. Geffert 1940/1941: 87). Dennoch ist die Zurückhaltung, die in der didaktischen Literatur gegenüber nationalsozialistischen Themen geübt wird, auffällig. Karl Reumuth wagt es noch 1941, so gut wie kein ausgesprochen nationalsozialistisches Thema seinen Lesern anzubieten. Das ist bemerkenswert, auch dann, wenn man berücksichtigt, daß er nur für die Volksschule geschrieben hat. Noch bemerkenswerter ist die Zurückhaltung bei einem Mann wie Fritz Rahn, der als der eigentliche Aufsatzdidaktiker des Dritten Reiches angesehen werden kann. Unter seinen Themenvorschlägen für die Unter- und Mittelstufe an Höheren Schulen gibt es zwar vereinzelt parteitreue Themen, insgesamt aber nur recht wenige. Ein Blick auf die Aufsatzhefte ergibt ein ähnliches Bild. Zwar sind Unterschiede von Lehrer zu Lehrer, von Schule zu Schule und von Schultyp zu Schultyp festzustellen. Gewiß sind auch nationalsozialistische Themen gestellt worden, sogenannte Erlebnisaufsätze, die sich auf die „großen Ereignisse der Zeit" bezogen (die Aufmärsche am 1. Mai, die Reichsparteitage, die Einverleibung Österreichs, die Besetzung des Sudetenlandes und natürlich die Ereignisse im Kriege), sowie Charakteristiken, in denen die Helden der Bewegung, allen voran der Führer, gefeiert werden. Dennoch gewinnt man den Eindruck, daß nationalsozialistische Themen in der Volks- und Mittelschule, sowie in den unteren Klassen der Höheren Schule nicht eben häufig sind. Fritz Rahn hat taktische Gründe angegeben: „Kein Schulbuch kann bestehen, das mit seinen pädagogischen Grundsätzen nicht laut oder leise auch seine weltanschauliche Haltung verriete. Das vorliegende Lehrwerk stellt den Versuch dar, die ureigenen, doch erst in unseren Tagen wieder neu entdeckten Lebenswerte der deutschen Seele für die Schule unmittelbar fruchtbar zu machen. (...) Ausgang und Ziel sind dabei die Urbilder des deutschen Lebens, in die das deutsche Kind hineingeboren ist und von denen es geformt wird,
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die deutsche Art und die deutsche Heimat in all ihren Ausprägungen. Die wichtigsten Lebenskeime sind aber die empfindlichsten und gefährdetsten. Sie gedeihen am besten im Dunkel des Gefühls. Deshalb darf diese Deutschheit dem kindlichen Bewußtsein nicht aufgedrängt werden, sie muß als selbstverständlicher Wesensgehalt in ihm wachsen. So verzichten wir darauf, vorgeprägte Formeln für Sinn und Wert der Volksgemeinschaft zu geben, und versuchen vielmehr behutsam, einen Grundbestand deutscher Werte für das Kind und — durch die gestalterische Bewältigung — im Kinde allmählich zu verwirklichen. Dies ist von unendlicher Bedeutung. Denn hier geht es um die geistige Formung des deutschen Menschen, um die Bildung eines deutschen Instinkts" (F. Rahn/H. Geffert 19414: 12). Rahn spricht hier zunächst von Schulbüchern. Doch wenn er „die gestalterische Bewältigung" anführt, dann sind auch die Aufsätze gemeint. Man kann nicht ausschließen, daß eine angebliche Schonung der kindlichen Seele eine Rolle bei der Themenwahl gespielt hat. Doch gibt es auch Gründe, die sich aus der neuen Konzeption des Aufsatzunterrichtes ergaben, und diese scheinen mir größeres Gewicht zu haben. Zwar bemerkt Fritz Rahn einmal beiläufig, daß der ganze Aufsatzunterricht schließlich „auf das geeignete Thema" hinauslaufe (F. Rahn 1938/1941: 6). Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der neue Aufsatzunterricht auf der Grundlage der Aufsatzformen entwickelt worden ist und die Frage nach geeigneten Themen grundsätzlich der Formfrage nachgeordnet wird. Es sollen nur solche Themen genommen werden, durch die „eine bestimmte und von vornherein festgelegte Stilform eingeübt werden kann" (F. Rahn 1938/1941: 5). Gute Themen sind solche, „die zur Anwendung einer bestimmten Stilform zwingen" (ebd.). Das heißt klar und eindeutig: die Themen sollen in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der einzuübenden Aufsatzform ausgewählt werden. Für die Volks- und Mittelschule sowie für die unteren Klassen der Höhren Schule bedeutet eine solche Festlegung, daß nur solche Anlässe, Inhalte und Stoffe Anwendung finden können, die in der Form des Sachberichts, der Erlebniserzählung oder der Schilderung bearbeitet werden konnten. Eine weitere Einschränkung der Themenwahl kam noch hinzu. Sie ergab sich notwendig aus der Forderung nach Planwirtschaft des Aufsatzunterrichtes. Auch das hat Fritz Rahn klar gesehen. Er stellt fest, „daß es im Rahmen eines festen Arbeitsplanes", wie von ihm selbst gefordert und von der Behörde gebilligt, „oft schwer halten wird, gegenwartsnahe Stoffe auszuwerten. Gemeint sind solche Stoffe, die uns der Zufall des Alltags und der Zeitgeschichte mit ihren überraschenden und erregenden Ereignissen, mit ihren Festen und Schicksalsschlägen mehr oder minder freigebig zuspielt" (F. Rahn 1938/1941: 5 f.). Langfristige Planung des Aufsatzunterrichts, eine Planung, die auch nicht die einzelne Themenstellung unberücksichtigt läßt, schließt natürlich aus, daß in den Aufsätzen auf tagespolitische Ereignisse, die nicht geplant und verplanbar sind, eingegangen werden kann.
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In den oberen Klassen Die Aufsätze in den oberen Klassen der Höheren Schulen zeigen ein ganz anderes Bild. Hier haben die Nationalsozialisten schon recht bald Einfluß auf die Wahl der Aufsatzthemen genommen. Wie schnell sich einzelne Schulen auf die neue Situation eingestellt haben, hat Klaus Lindemann an den Abiturthemen des Gymnasiums Borbeck gezeigt. 1933 waren die Themen noch recht unverfänglich. Von der bereits vollzogenen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist noch nichts zu sprüren: 1. Großstadt (Rahmenthema) 2. Die Umstellung der Kruppschen Werke nach dem Weltkriege 3. Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten 4. Adolf Schmidthenners Novelle „Friede auf Erden" als Machtgemälde des 30jährigen Krieges. Doch bereits ein Jahr später ist ihr Einfluß unverkennbar. Mit einem Schlage sind die Themen andere geworden: 1. Ich bin ein Deutscher, ein Wort des Stolzes und der Pflicht 2. Welche besondere Anregung zur Verwirklichung der Volksgemeinschaft hat mir das letzte Jahr gegeben? 3. Inwiefern bildet der Weltkrieg die Grundlage und den Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Revolution? 4. „Wie erhalten wir dem Volke die Nerven in der Erkenntnis, daß man nur mit einem nervenstarken Volke Politik betreiben kann?" (Hitler) (aus K. Lindemann 1985: 226). Ähnlich lauten die Themen, die Dieter Rossmeissl für das Schuljahr 1933/ 1934 aus Programmschriften süddeutscher Gymnasien zusammengestellt hat: 1. Welchen Gemeinschaftsgebilden gehöre ich an und welche Opfer erwachsen mir daraus? 2. Wie stehen die germanischen Fürsten in Kleists „Hermannschlacht" zur nationalen Frage? 3. „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre". (Dargelegt im Hinblick auf die jüngste deutsche Vergangenheit.) 4. Inwiefern erfüllt sich am deutschen Volk der Kriegs- und Nachkriegszeit das Dichterwort: „Sieg oder Unsieg liegt in Gottes Hand, der Ehre sind wir selber Herr und König"? 5. Klassenhaß oder Volksgemeinschaft in Lessings „Minna von Barnhelm"? Zu entscheiden an den Vertretern des Soldatenstandes. 6. Es ist herrlich, in einer Zeit zu leben, die ihren Menschen große Aufgaben stellt. (Ad. Hitler) 7. Ich bin ein Deutscher! (Ein Wort des Stolzes und der Pflicht) 8. „Unsere Zukunft mag sich unter dem ewigen Dreigestirn gestalten: Arbeit, Glaube und Freiheit!" (Beumelburg)
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9. Welche dem Deutschen eigentümlichen Charaktereigenschaften müssen wir bewußt pflegen, um zum Wiederaufbau unseres Vaterlandes wirksam beizutragen? 10. Welche Kräfte und Wesenszüge des deutschen Volkes offenbart der Reichsparteitag der N.S.D.A.P. in Nürnberg? 11. „Sie lieben Deutschland wie einen Glauben . . . und sie glauben an Deutschland wie an einen Gott". Gedanken im Anschluß an das Schauspiel „Schlageter" von Hanns Johst (aus D. Rossmeissl 1985: 154). Für das Schuljahr 1934/1935 liegt das Ergebnis einer Untersuchung vor, die im Auftrag der Partei unter Leitung von Schmidt-Voigt durchgeführt und 1936 veröffentlicht wurde (H.H. Schmidt-Voigt 1936). Es handelt sich um eine Überprüfung der Aufsatzthemen in der Provinz Hessen-Nassau, die in den Jahresberichten der Höheren Schulen aufgeführt worden waren. Das Ergebnis hat Schmidt-Voigt so zusammengefaßt: „Nirgends hat sich eine Aufgabe gefunden, die in der Sache und in der Sicht der nationalsozialistischen Weltanschauung widerspräche. Auch kitschige Aufgaben im Sinne billiger Stimmungsmache oder äußerlicher Gesinnungs-Tüchtigkeit wurden nicht gefunden. ( . . . ) Die meisten Schulen lassen in der Aufgabenstellung die nationalsozialistische Sicht weithin zur Geltung kommen. Im einzelnen verhalten sie sich freilich nicht gleichmäßig. Wohl findet sich keine Schule oder Klasse, an der der vollzogene Umbruch nicht erkennbar wäre. Doch entsteht der Eindruck, als ob hier und da das Pensum oder ein Haften an altüblichen Themen den gegenwartsnahen Notwendigkeiten noch etwas entgegenstünde. An den Mädchenschulen tritt im allgemeinen das Politisch-Geschichtliche leicht zurück hinter dem Schrifttum, der bildenden Kunst und den lebenskundlich praktischen Fragen des Frauentums" (H.H. Schmidt-Voigt 1936: ebd.). Wir haben hier ein gewiß parteiisches, aber doch sehr wichtiges Zeugnis für den raschen Wandel in den Aufsatzthemen der Oberstufe der Gymnasien, das die Beobachtungen an einzelnen Gymnasien bestätigt. Leider fehlt eine vergleichbare Erhebung für die nächsten Jahre. Die Tatsache, daß sich die nationalsozialistischen Themen an den Höheren Schulen sehr viel schneller und nachhaltiger als in der Elementarbildung durchsetzen konnten, bedarf einer Erklärung. Vermutlich waren hier die Bedingungen günstiger. Spätestens seit der wilhelminischen Zeit, im Grunde aber schon viel früher, war der Aufsatzunterricht an den Gymnasien — im Gegensatz zur Volksschule — ganz auf die moralische und sittliche, wohl auch auf Gesinnungsbildung allgemein ausgerichtet. Mit der Form der Entwicklung sollte das Bewußtsein, mit der Form der Charakteristik das sittliche Denk- und Empfindungsvermögen der Schüler gebildet werden. Den Ideen der Reformpädagogen hatten sich zwar die Gymnasiallehrer auf die Dauer nicht ganz verschließen können, doch ist anzunehmen, daß sie die Praxis an
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den Gymnasien in der Weimarer Zeit kaum verändert haben. Mit wilhelminischen Zuständen muß man also auch in der Weimarer Zeit an den Gymnasien rechnen. Dann war es nur noch ein relativ kleiner Schritt von der Gesinnungsbildung der Kaiserzeit zu der Charakterbildung der Nationalsozialisten. Welcher Schritt zu vollziehen war, hat Schmidt-Voigt ausführlich am Beispiel einiger, ihm vorliegender Aufsatzthemen beschrieben: „Im Sinne nationalsozialistischer Erziehung liegt es nicht, daß die Sicherheit der Sachkenntnis (also Wahrnehmungen und Feststellungen) vernachlässigt wird. Darum wird auch die Erziehung zu klarer Darstellung eines Sachverhaltes nach wie vor als Kernaufgabe gefordert werden müssen" (Η. H. SchmidtVoigt 1936: B. III. 3.). Doch daneben spielt die Wertfrage eine bedeutsame Rolle: „Die (...) geforderte Sicht der Aufgabe soll das In- und Auseinander der Gedanken und den wertschaffenden Tatwillen wecken. Geschichte soll ζ. B. nicht nur gewußt, sondern als rückwärts gewandte Politik begriffen werden im Dienste des geführten Volkes, das Geschichte macht. Dem politischen Soldatentum' ist nicht genügt mit der Versicherung der Gesinnung, sondern durch erlebte Haltung und Tat, durch Kündertum und Kämpfertum. Nachempfindung und Lebensverständnis seien überhöht vom Willen zur Lebensverwirklichung. Schulung werde vertieft zur Bildung. Sie sichere die Fähigkeit zur persönlichkeitsbewußten Entscheidung aus der festen Bindung an eine überpersönliche Wertwelt, die gründet im Dienst und im Opfer für das Volksganze. Einen farblosen Bericht, der sich mit der äußeren Einordnung in den Wissensbesitz begnügt, verlangen die folgenden Aufgaben: Welche Maßnahmen zur Pflege der Rasse hat unsere Regierung bisher getroffen? Ο I (Oberprima) Walter von der Vogelweide. Ο I Μ (Oberprima Mädchen) Unser letzter Heimabend. U I (Unterprima) Die Sturm- und Drangperiode in der deutschen Literatur. U I Eine Betrachtung, die zum In- und Auseinander der Gedanken anregt, bezwecken etwa die Aufgaben: Die erbbiologische Gesetzgebung des nationalsozialistischen Staates und ihre Begründung. Ο II Um welche Ziele deutscher Volksgemeinschaft kämpfte Walter von der Vogelweide? Ο II Μ Worauf muß ich als Führerin bei meinen Mädchen achten? U II Μ Inwiefern entspricht Sturm und Drang der nordischen Wesensart? Ο II Μ Auf eine Entscheidung, bei der es um die wertende Einbeziehung oder Eingliederung eines Tatbestandes in den seelisch-sittlichen Eigenbesitz (also um Eindeutung) geht, zielen die folgenden Aufgaben: Welche Verpflichtungen ergeben sich aus den Erkenntnissen der Erbbiologie für meine Lebensführung? Ο I
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Walter, ein für mich vorbildlicher Kämpfer für deutsche Sitte und Ehre. Ο II Warum bin ich ein Mitglied der H. J.? U II Sturm und Drang. Wurzeln, Wesen, Wert. Ο I" ( H . H . Schmidt-Voigt 1936: ebd.). Fritz Rahn ist 1938 noch einen Schritt weitergegangen. Er ging keine Kompromisse mehr mit der alten Aufsatzform der Abhandlung oder der Betrachtung ein, verwarf die Sachfrage als Thema für Schüleraufsätze und erfand eine neue Form — den Besinnungsaufsatz: „Der Besinnungsaufsatz hat zwei Grundtypen: Die Sachfrage (Was ist?) und die Wertfrage (Was ist gut — böse, was nützlich — schädlich, was schön — häßlich usw.?). Die Erfahrung des Unterrichts legt es dringend nahe, die Sachfrage als selbständiges Thema zu vermeiden. Sie ist sinnvoll, wo es um wissenschaftliche oder praktische Gegenstände geht (...). Angewandt auf lebenskundliche Fragen verführt jedoch die Sachfrage (ζ. B. „Wie gebrauchen die Menschen die Macht, die sie über andere haben?") zu einer verstandesdürren Ausbreitung von Stoff, die als desto überflüssiger und schulmeisterlicher empfunden wird, je lebhafter der seelische Anteil ist, mit dem der Schüler den Inhalt des einzelnen Gegenstandes umfaßt. Die eigentlich fruchtbare Frage ist jedoch die Wertfrage (ζ. B. „Wie darf man die Macht, die man über andere hat, gebrauchen?"); sie nötigt den Schüler zu einer Entscheidung und gibt ihm damit erst den inneren Antrieb, sich mit dem Thema ernstlich zu befassen" (F. Rahn 1938/1941: 41). Rahn hat an einigen Beispielen gezeigt, wie Sachfragen in Wertfragen zu verwandeln sind: Die verschiedenen Möglichkeiten der Erholung. Wie kommt ein Mensch zur Macht über andere? Was kann einen Menschen dazu veranlassen, keine Zeitung zu lesen? Was folgt daraus, wenn man seinen Zorn nicht beherrscht? Was folgt daraus, wenn man das Betteln verbietet? Wie entsteht Armut?
Welches ist die richtige Art, sich zu erholen? Welchen Menschen gönnst du Macht über andere? Wie beurteilst du einen Menschen, der keine Zeitung liest? Soll man stets seinen Zorn beherrschen? Ist es richtig, das Betteln zu verbieten? Darf man den armen Menschen geringer achten als den wohlhabenden?
(F. Rahn 1938/1941: 43). Das zweite Beispiel ist vielleicht das deutlichste. Die Sachfrage: „Wie kommt ein Mensch zur Macht über andere?" könnte allzu sehr dazu verleiten, nach den Ursachen und Gründen der Macht zu fragen,
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und zwar nicht nur der Macht im allgemeinen, sondern auch der Macht der Machthaber im besonderen. Solche dem Regime gefährlichen Fragen können bei der Wertfrage überhaupt nicht aufkommen, einmal weil sie die Anerkennung von Herrschaft bereits voraussetzt und zum anderen weil es im Grunde eine andere Frage ist. Mit ihr wird nicht nach dem Ursprung von Macht gefragt, sondern nach den Menschen, denen man es „gönnen" kann, daß sie Macht innehaben. Es kann hier nur auf eine Rechtfertigung der Machthaber hinauslaufen. Mit der neuen Form des Besinnungsaufsatzes waren die beiden Umstände, die die Durchsetzung nationalsozialistischer Themen in den unteren Klassen behindert zu haben scheinen, aus dem Wege geräumt. In dem Besinnungsaufsatz lag erstens eine Aufsatzform vor, die eigens für die neuen Themen erfunden und also auf sie zugeschnitten war, und zweitens war die Wertfrage grundsätzlich unabhängig von den Tagesereignissen. Ein Konflikt zwischen der Aufsatzform und den von den Nationalsozialisten erwünschten Themen konnte hier nicht mehr auftreten.
7. Die Stoffe und Gegenstände für die Aufsätze Da die Stoffe und Gegenstände der Aufsätze abhängig sind von den gestellten Themen und diese wiederum von der zu übenden Form, bestimmte letztlich die Form der Aufsätze auch deren Stoffe und Gegenstände. Einen guten Einblick in die Stoffe und Gegenstände der Aufsätze gibt die Untersuchung von Hans Heinrich Schmidt-Voigt. Sie hat zwar nur die Aufsatzthemen zur Grundlage und bezieht sich ausschließlich auf die Themen, die im Schuljahr 1934/1935 in der Provinz Hessen-Nassau für Oberstufenklassen gestellt worden sind, doch kann man mit aller gebotenen Vorsicht ihre Ergebnisse ohne weiteres verallgemeinern (zum folgenden vgl. H.H. Schmidt-Voigt 1936).
Schulische Stoffe Die Frage, ob für die Aufsätze schulische Stoffe, die im Unterricht erworben wurden, herangezogen werden sollten, ist nie klar beantwortet worden. Es bestand wohl eher die Neigung, sie zu vermeiden. Verboten aber hat man sie nicht. Zwar waren literarische Themen, die nicht der Charakterbildung dienten, sondern lediglich literaturhistorische oder ästhetische Probleme aufgriffen, „verboten". Ein solches Verdikt bezog sich aber nicht auf die Stoffe aus der Literatur: „Selbstverständlich lassen sich auch aus dem Schrifttum Stoffe
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und Anregungen für selbständige Gestaltungen entnehmen" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 43). Stoffe aus anderen Unterrichtsfachern sind nur in begrenztem Maße zugelassen worden. „Am häufigsten findet sich die Verbindung mit der Geschichte" (H. Dahmen 1936: 468). Auch Stoffe aus der Erdkunde waren üblich. In beiden Fällen aber gab es Vorbehalte. Nicht auf das Fachliche kam es an, sondern auf den erzieherischen Wert: „Auch in der Erdkunde sind nur solche Themen geeignet, die über das rein Fachliche hinausreichen und Lebenserfahrung, Weltbild, Urteils willen des Schülers berühren" (H. Dahmen ebd.). Schmidt-Voigt faßt das Ergebnis seiner Untersuchungen so zusammen: „Im Sinnkreis der Aufgaben, die aus der Arbeit der Schule erwuchsen, sind diejenigen über die Sprache sehr gering an Zahl, auch die Übersetzungsübungen. Die Stoffe aus dem Schrifttum ( . . . ) umfassen etwa ein Drittel sämtlicher Aufsätze: Altnordisches Schrifttum (gering), altdeutsche Dichtung (erfreulich häufig, unter starker Berücksichtigung des Hildebrandliedes, Walters, des Nibelungenliedes, aber nicht Wolframs). Völlig zurück tritt die Zeit zwischen Höfik und deutscher Bewegung. Beachtung finden Klopstock und Herder. Die Klassik herrscht mit Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, wobei Lessings Deutsche Sendung (Minna v. Barnhelm) im Vordergrund steht und Schiller sehr stark führt ( . . . ) . Die Romantik fällt fast ganz aus, auch Hölderlin. Stärker zur Geltung kommt der poetische Realismus (Storm, G. Keller, Hebbel, auch Ludwig). Die Gegenwartsdichtung erscheint in Stefan George (häufiger), Stehr, Grimm, Carossa, Blunck, vor allem Kolbenheyer. Daneben stehen Forster, Kyser, von der Goltz, Schäfer (18. Oktober). Religiöse Fragen sind fast verstummt ( . . . ) . In den geschichtlichen Aufgaben treten die fremden Völker ganz zurück. Deutsche Frühgeschichte ist beliebt, die deutsche mittelalterliche Geschichte aber erscheint so gut wie gar nicht. In der neueren Geschichte treten hervor: Preußens Aufstieg, der Befreiungskrieg, Bismarcks Werk, aus der Gegenwartsgeschichte: Der Weltkrieg und Versailles, Hindenburg, Adolf Hitler und der Umbruch, die Saarfrage. Auf dem Gebiet der Kunst wird die Tonkunst sehr wenig berücksichtigt, ebenso wie die Baukunst, häufiger ist die Bildkunst bedacht und zwar Malerei und Griffelkunst mehr als Bildhauerei. Aus der Erdkunde sind verschwindend gering die Aufgaben aus der allgemeinen Erdkunde und aus der fremden Länderkunde. Befriedigend vertreten ist die deutsche Landeskunde, dürftig bedacht die Kolonialfrage. Die fremden Kulturen, auch die klassischen Mittelmeerkulturen (sogar an den Gymnasien) erscheinen selten. Frankreich findet sich ein einziges Mal. Shakespeare wird stark ausgewertet. Naturwissenschaftliche Fragen (mit Ausnahme der Biologie) sind nicht gestellt worden. Außerschulische Technik und Körperschulung erfreuen sich großer Beliebtheit" (Η. H. Schmidt-Voigt 1936: B. III. 2. a).
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Erlebnisse „Jeder Aufsatz soll ein Erlebnisaufsatz sein" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 42). Eine solche Feststellung erweckt den Eindruck, als seien die Erlebnisse der Schüler der wichtigste Stoff für die Aufsätze gewesen. Blickt man in die Aufsatzhefte der Schüler, so wird ein solcher Eindruck weitgehend bestätigt. Die Hefte der Schüler, zumindest auf der Unter-, aber auch noch auf der Mittelstufe, sind voller Erlebnisdarstellungen. Von beglückenden und bedrückenden Ereignissen wird berichtet, alles was das Herz der Schüler bewegte. Wenn etwa ein Lehrer in einer Untertertia das Thema stellte: „Zum ersten Mal auf dem Dache", so hat er vorausgesetzt, daß die Schüler schon einmal auf einem Dache waren und ihre Erlebnisse nun in lebendigen Darstellungen zum Ausdruck bringen konnten (eigene Sammlung 1935). Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß in der Wirklichkeit des Unterrichtes — auch in der NS-Zeit — die Erlebnisse und persönlichen Erfahrungen der Schüler der Stoff waren, aus dem viele Aufsätze gemacht worden sind. Ebensowenig kann zweifelhaft sein, daß genau dies nicht in das pädagogische Konzept der Nationalsozialisten paßte. Ich habe nur einmal bei einem Aufsatzdidaktiker des Dritten Reiches den Hinweis gefunden, daß die Kinder über Gegenstände schreiben sollten, „die sie angehen" (K. Reumuth 1941: 224). Die übrigen haben dem Begriff des Erlebnisses einen anderen Inhalt gegeben. Helmuth Arendt, ein Zeitzeuge, hat die neue Besetzung des Begriffes deutlich wahrgenommen. „Hervorzuheben ist (...), daß das Erlebnis nicht Ausgangspunkt (also Stoff für Aufsätze, O. L.) ist, sondern daß der Stoff, der im Sinn der nationalsozialistischen Ideologie an die Kinder ,herangebracht' wird, zum Erlebnis gestaltet werden soll" (H. Arendt 1948: 120). Das Erlebnis ist nicht so sehr eine Kategorie des Stoffes, als vielmehr eine erzieherische Absicht. Die Jugend soll begeistert werden. „Wer die Jugend erziehen will, muß sie (...) begeistern können" (Baidur von Schirach, zit. nach D. Rossmeissl 1985: 91). So werden Schulfeiern inszeniert, Fahrten organisiert, Lagerfeuer entzündet (vgl. E. Nyssen 1979: 115ff. u.a.): an die Stelle des persönlichen Erlebnisses tritt das „organisierte Gemeinschaftserlebnis" (N. Hopster und U. Nassen 1983: 33). In diesem Zusammenhang spielen die Schulaufsätze eine, wenn auch untergeordnete Rolle. In ihnen sollen die Schüler Begeisterung zeigen. Ein Ausschnitt aus einem Aufsatz mag verdeutlichen, was gemeint ist: „(...) Um drei begann die Feier. Die Wimpel- und Fahnenträgerinnen hatten sich im Halbkreis aufgestellt. Wir standen im Burghof. Ernst, unerschütterlich ragen die alten, grauen, unzertrümmerten Mauern gen Himmel, gerade als wollen sie sagen: Wir halten aus und geben nicht nach und wenn der Sturm auch noch so tobt. Und dieser Gedanke paßte so richtig in unsere Feier, die sich gliederte in
Die Stoffe und Gegenstände für die Aufsätze
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1. Krieg 2. Vergessen 3. Das neue Deutschland Es wurden Briefe gefallener Studenten vorgelesen, vaterländische Gedichte vorgetragen und nationale Lieder gesungen. Herr Rektor D. L. hielt eine Ansprache, die er mit einem dreifachen Sieg-Heil! auf unseren Kanzler und Führer beendete. Wir sangen dann gemeinsam das Deutschland- und HorstWessel-Lied. Schön war die Feier; sie wurde uns zu einem richtigen Erlebnis" (eine Schülerin aus der ersten Klasse einer Frauenoberschule, zit. nach D. Rossmeissl 1985: 104 f.). Neben den Gemeinschaftserlebnissen spielten auch die großen Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit eine bedeutsame Rolle in den Aufsätzen der Schüler. Bei diesen Gegenständen ging es nicht so sehr darum, Begeisterung zu wecken, als vielmehr die Schüler zu Ehrfurcht und zu Stolz zu erziehen, Ehrfurcht vor den großen Taten der Nationalsozialisten und Stolz auf das von ihnen Erreichte. Erleben wird hier zum Nacherleben. So feiert 1935 ein etwa Zehnjähriger auf eine etwas altkluge Weise die ersten Jahre des tausendjährigen Reiches: „ ( . . . ) Schließlich am 30. Januar 1933 ging es wie ein Freudenalarm durch Deutschlands Gaue, Adolf Hitler ist Reichskanzler. Vom Fels bis zum Meer, von Osten bis Westen wurden die Hakenkreuzfahnen jubelnd hervorgezogen. Drei erfolgreiche kurze Jahre sind nun seit dieser Zeit verflossen. Neues und Großes wurde unter der Regierung Adolf Hitlers geschaffen. Mit eisernem Willen sorgte er für Ordnung und rottete die Kommunisten in Deutschland aus" (zit. nach D. Rossmeissl 1985: 147). Eine etwa gleichaltrige Schülerin schreibt über die Besetzung des Sudetenlandes: „ ( . . . ) Der Führer konnte nicht länger zuschauen. Er sagte, am 1. Oktober sollen die deutschen Truppen einmarschieren. Als er mit seinen Truppen durch die Straßen fuhr, weinten die Leute vor Freude. Sie warfen Blumensträuße in des Führers Auto. Der Führer hatte Sudetendeutschland erlöst. Es war ein großes Ereignis. Sudetendeutschland gehört jetzt zu Großdeutschland" (zit. nach D. Rossmeissl 1985: 152). Eine schier unerschöpfliche Quelle an Gegenständen für Aufsätze war dann der Krieg. In der 7. Klasse einer einklassigen Volksschule sollten die Schüler einen Aufsatz über „Hunnenstürme gegen Europa" schreiben (eigene Sammlung 1944) und also einen Zusammenhang zwischen dem Kampf an der Ostfront und den Hunnenkriegen herstellen. Ein Aufsatz endet so: „Die Bolschewisten übernahmen die Erbschaft der zaristischen Eroberer. Sie stürmten bald gegen Deutschland und wollten ganz Europa verschlucken. Wenn Deutschland zusammengebrochen wäre, würde Raub und Mord noch schlimmer geworden sein als bei den vorhergehenden Völkern. Ganz Europa unter Führung des deutschen Reiches steht trotzend gegen den Osten. Deutsches Blut fließt für die Freiheit Europas. Es ist ein verzweifeltes und erbittertes Ringen. Der deutsche Soldat weiß, warum er
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kämpft. Der Sieg wird darum unser sein". Wilhelm Ebel hat 1941 ein ganzes Buch über „die deutsche Gegenwart in der Praxis des Aufsatzunterrichtes" geschrieben und sich dabei hauptsächlich auf das Kriegsgeschehen bezogen. Über die Auswahl und Behandlung solcher Stoffe äußert er sich so: „Und nun, in der unfaßbar kurzen Zeit von wenig mehr als vier Jahren, liefert dieses Heer einen Kampf, der größer ist als alles, was bisher in der Weltgeschichte nicht nur wirklich, sondern auch nur denkbar gewesen ist. Das ist gewiß ein weltgeschichtliches Wunder, und Wunder sind nicht zu erklären (...). Aber Wunder machen den Atem anhalten, sie lehren uns das Staunen und lassen die Herzen höher schlagen. So und nicht anders wollen wir den Dingen um uns und für uns, die wir miterleben dürfen, begegnen. Ich bin nicht der Meinung, daß man den Kindern von all diesem predigen solle, sondern es scheint mir notwendig zu sein, ehrfürchtig all dem Großen gegenüberzutreten und selbst in den Hintergrund zu stehen. Danach ist dann auszuwählen und auszurichten" (W. Ebel 1941: 19). Nationalsozialistische Werte Neben die Erlebnisse, die persönlichen wie die organisierten, treten als primäre Gegenstände für Aufsätze die nationalsozialistischen Wertvorstellungen. Sie zielen direkt auf die Charakterbildung der Schüler ab und dürften darum für den Aufsatzunterricht des Dritten Reiches noch typischer sein als die sogenannten Erlebnisaufsätze. In den unteren Klassen wurden die Wertvorstellungen an den großen Vorbildern demonstriert: den Helden der Bewegung, ihren Märtyrern (Horst Wessel, Leo Schlageter u. a.) und vor allem an ihrem Führer Adolf Hitler. In einem Aufsatz aus der Grundschule heißt es über Horst Wessel: „Der Horst Wessel stieg mit seiner SA in ein Lastauto. Er setzte sich auf das Autodach und hielt die Fahne hoch. Sie fuhren durch Berlin zu den Kommunisten. Vor einem Wirtshaus blieb das Auto stehen. Aus allen Fenstern schauten die Kommunistenweiber heraus und ihre Männer kamen auf die Straße herunter. Horst Wessel hielt eine große Rede, erzählte von Adolf Hitler. Sie hörten zu. Am Schluß sangen sie das Horst-Wessel-Lied. Einige Kommunisten gingen zum SA-Appell. Horst Wessel hat sich gefreut" (zit. nach D. Rossmeissl 1985: 162). Hitler wurde als der „einfache Gefreite des Ersten Weltkrieges" gefeiert: „Adolf Hitler und das Giftgas. Der Soldat Adolf Hitler mußte wieder einmal einen Befehl in einen Schützengraben tragen. Er wußte nicht, daß die Franzosen ein Giftgas herübergeschossen hatten. Auf dem Hinweg muße er recht schnaufen und seine Augen brannten schon ein wenig. Später brannten ihm seine Augen wie glühende Kohlen. Vor seinen Augen wurde es finster und schwarz, er sah nichts mehr. Adolf Hitler mußte gleich nach Deutschland ins Krankenhaus" (ein Schüler aus einer 4. Klasse, zit. nach D. Rossmeissl 1985: 176). In den Aufsätzen der oberen Klassen wird „der Genius der
Die O r d n u n g des Inhaltes (die Gliederung)
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deutschen Geschichte" beschworen: „In seinen Hunger- und Leidensjahren in Wien lernte er (A. Hitler, O. L.) das tiefe Unglück seines Volkes kennen ( . . . ) . Er begreift die Notwendigkeit der Überwindung dieses Unglücks, erlebt das ungeheuere Geschehen des Weltkrieges und dessen ruhmloses Verenden durch den Verrat der Heimat mit und erkennt nun immer deutlicher seine Mission, die ihm aufgegeben ist von dem Genius der deutschen Geschichte. Dieses Bewußtsein, vom geschichtlichen Genius beauftragt zu sein, befähigt ihn 14 Jahre gegen Haß, Mißgunst der Parteien und gegen Kleinmut in den eigenen Reihen zu kämpfen, den Sieg zu erringen und jetzt Deutschland wieder aufzubauen nach den Grundsätzen alter preußischer Tradition und ihm wieder Ruhm und Ehre zu erkämpfen" (eigene Sammlung 1935/7). Die Person an sich tritt allmählich in den Hintergrund, in den Vordergrund rückt die Idee, die sie verkörpert. Auf diese Weise konnten die Wertvorstellungen allmählich von ihren Repräsentanten abgelöst werden. Sehr typisch in dieser Hinsicht dürfte der folgende Aufsatz aus der Untertertia einer Mädchenoberschule sein (eigene Sammlung). Das Thema lautete: „Adolf Hitler und das deutsche Volk, ein Sinnbild von Führer und Gefolgschaft". Die Verfasserin schlägt einen großen Bogen von den Germanen bis zum Zweiten Weltkrieg. Sie kommt auf die nationalsozialistischen Organisationen zu sprechen, in denen das Führerprinzip herrschte, auf die Kulturpolitik, das Erziehungswesen, die „großen Siege auf allen Kriegsschauplätzen", dies alles, um einen Hintergrund zu schaffen für das, was Hitler zum Thema gesagt hatte: „In seinem Buch ,Mein K a m p f betont er die Wichtigkeit der führenden Persönlichkeiten, die die restlose Verantwortung für alle Handlungen freudig auf sich nehmen. Derselbe Gedanke spricht aus jeder Rede an seine deutschen Volksgenossen, die er stets zur gleichen Verantwortungsfreudigkeit aufruft. Das Volk dankt seinem Führer durch unbedingtes Vertrauen auf ihn und seine Unterführer". In den oberen Klassen der Höheren Schule ging es dann ausschließlich um die nationalsozialistischen Werte selbst: „Wir stehen mitten drin in der ungeheueren Erneuerungsbewegung — und da sollen wir die ganze Fülle dieser Erfahrungen, die Kämpfe um ein neues Weltbild, um neues Denken, neue sittliche Begriffe und neue Tugenden aus dem sprachlichen Bemühen der Jugend ausschließen? Müssen wir nicht gerade jetzt die neu aufleuchtenden Leitworte und weithin weisenden Sprüche unserer politischen und geistigen Führer ausdeuten und dem eigenen Wollen zur Hilfe und zum Anstoß werden lassen?" (H. Dahmen 1936: 396). Die Frage war rhetorisch. Längst waren „die neu aufleuchtenden Leitworte und weithin weisenden Sprüche" zu Aufsatzstoffen geworden. Schmidt-Voigt berichtet darüber: „Im ( . . . ) großen Sinnkreis Mensch und Gemeinschaft wird gefragt nach dem Wesen und Wirken des Staates (Verhältnis des Ganzen zu seinen Gliedern, Staatsleistungen an Schutz, Sicherheit ( . . . ) und Hilfe, wobei aber die Bedeutung von Zucht und Ordnung völlig im Hintergrund bleibt). Häufig erörtert wird der
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germanische Gedanke von Führer und Führertum (s. oben, O. L.), überreich bedacht sind Jugendbund und Jugendbewegung (...), erfreulich oft begegnet man dem Gedankenkreis Leistung und Pflicht (Alltagsheldentum, Dienst und Pflicht der Jugend). ( . . . ) Kaum berührt ist die ( . . . ) große Gedankeneinheit Mensch und Mächte" (H.H. Schmidt-Voigt 1936: B. III. 2. b). Später - im Kriege— treten die soldatischen Tugenden in den Vordergrund: Gehorsam, Härte, Durchhaltevermögen, Entscheidungsfreudigkeit — kurz: Wehrbereitschaft. Schmidt-Voigt kommt aufgrund seiner Untersuchung zu dem abschließenden Urteil über die Stoffe und Gegenstände der Aufsätze: „Neben dem herkömmlichen Stoffgut, an dessen Auswahl man auch das Bestreben spürt, die Beziehung zum Umbruch herzustellen, kommt das neue Gedankengut des Nationalsozialismus sowohl in seinem Umfang als auch in der Erkenntnis seiner Bedeutung voll zur Geltung" (Η. H. Schmidt-Voigt 1936: ebd.). Gewiß ist dies die Sicht des Leiters einer renommierten Adolf-Hitler-Schule. Seine Feststellungen lassen sich aber ohne weiteres übersetzen. Dann müßten sie lauten: das Gedankengut des Nationalsozialismus war bereits 1934/1935 die eigentliche Quelle für die Aufsätze an Höheren Schulen. Schmidt-Voigt hat jedoch auch einige Mängel festgestellt: „Zu wünschen wäre, vom Stoff her gesehen, in häufigen Fällen die Einschränkung des willkürlichen Vielerlei der Gegenstände zu Gunsten einer höheren Schätzung des deutschen Schrifttums, der deutschen Kunst, der deutschen Sprache, des Wehrtums, sowie die Erörterung der deutschen Raumnot und der Grundlagen unserer Selbst- und Weltbewußtheit" (ebd.). Es ist anzunehmen, daß diese Monita bald abgestellt worden sind, sie also die Richtung angeben, in der sich die Aufsatzstoffe entwickelt haben.
8. Die Inhalte der Aufsätze Die Inhalte der Aufsätze ergaben sich aus den Stoffen, den Aufgabenstellungen (Themen), den Aufsatzformen und vor allem aus der Haltung, aus der heraus sie abzufassen waren. Das Thema stellte der Lehrer und mit dem Thema war dann in der Regel auch die Aufsatzform festgelegt. Ob ein Aufsatz dann sach-, gefühls- oder verstandesbetont zu entwickeln war, ergab sich aus der Aufsatzform. Daß in allen Aufsätzen eine nationalsozialistische Haltung zum Ausdruck kommen sollte, war zu selbstverständlich, als daß es dazu noch eines Wortes bedurft hätte. Unklar ist, inwieweit auch die Stoffe vorgegeben wurden. Die Auffassung der Aufsat^didaktiker ist in diesem Punkt einheitlich und eindeutig: Kein Aufsatz, der nicht inhaltlich vorbereitet worden ist! „Allgemein gelte die Regel: der Aufsatz, vor allem die Klassenarbeit, sollte von allen Sorgen um das rein Gegenständliche so gut wie möglich entlastet werden. Man arbeite
Die Inhalte der Aufsätze
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darauf hin, daß die Schüler eine möglichst frische Anschauung in die Aufsatzstunde mitbringen" (F. Rahn 1938/1941: 25). Der Grundsatz galt nicht nur für die Arbeiten auf der Unter- und Mittelstufe, sondern für die Oberstufe in noch stärkerem Maße: „Es sollten in Zukunft auf der Oberstufe nur noch vorbereitete Aufsätze geschrieben werden" (F. Rahn ebd.: 658 f.). Das ist zumindest die Auffassung des maßgebenden Aufsatzdidaktikers im Dritten Reich. Rahn begründet die inhaltliche Vorbereitung der Aufsätze mit dem Hinweis, daß sich nur so die Schüler ganz auf die sprachliche Aufgabe konzentrieren könnten. Eine solche Auskunft klingt vernünftig. Es ist aber nicht auszuschließen, daß auch ganz andere Gründe eine Rolle spielten. Was passieren konnte, wenn ein Aufsatz nicht genügend vorbereitet worden war, zeigt ein Beispiel, das Dieter Rossmeissl mitteilt. Die Schüler sollten über „ein Erlebnis beim Reichsparteitag" schreiben, gemeint ist der Reichsparteitag zu Nürnberg 1935. So beginnt ein Schüler: „Nach dem Beschluß des Führers findet jährlich der Reichsparteitag in der altehrwürdigen Stadt Nürnberg statt. Wir sind stolz darauf, in nächster Nähe zu wohnen. Mit einigen Kameraden fuhr ich Samstag den 14. September zum Reichsparteitag der Freiheit". Statt sich jedoch dann den Eindrücken, die man auf diesem Parteitag gewinnen konnte, zu widmen, schreibt der Schüler über ein Fußballspiel, das vermutlich im Rahmen des Festprogrammes stattfand, mit diesem aber wenig zu tun hatte: „Der deutsche Meister Schalke 04 und NürnbergFürth kamen in den Platz gesprungen. Die erste Halbzeit verlief torlos ( . . . ) . Die zweite Halbzeit brachte einen ungerechten 0 : 1 für die Schalke". Erst gegen Ende des Aufsatzes kommt er noch einmal flüchtig auf den Parteitag selbst zurück: „Um 8 Uhr begann ein Riesenfeuerwerk. Es war ein schöner Abschluß das Riesenfeuerwerk, am 14. September 1935" (zit. nach D. Rossmeissl 1985: 148 f.). Bei Erlebnisaufsätzen war ein Abweichen von der Aufgabe zuweilen nicht zu vermeiden. Folgenreicher aber mußte es sein, wenn die Schüler ideologisch aus dem Ruder liefen. Um eine solche Situation überhaupt nicht aufkommen zu lassen, durfte man den Schülern die Inhalte der Aufsätze, soweit das überhaupt möglich war, nicht überlassen. So mußten auch sie weitgehend vorgegeben werden. Schaut man sich die Aufsätze der Schüler an, so gewinnt man ein Bild, das keineswegs so einheitlich ist, wie die Auffassungen der Didaktiker erwarten lassen. Es besteht kein Zweifel, daß die Aufsätze inhaltlich vorbereitet worden sind. In den meisten Fällen ist der Stoff derselbe: die Argumente, die Beispiele (vor allem dann, wenn sie aus der Geschichte genommen sind), die Gesichtspunkte, unter denen die Stoffe bearbeitet worden sind u. a. m. Doch ist zu berücksichtigen, daß es früher, vornehmlich in der Kaiserzeit, auch nicht anders war. Kritisch wird die Frage erst dann, wenn nach dem Ausmaß gefragt wird, in dem die Aufsätze jeweils vorbereitet und inhaltlich festgelegt worden sind. Eine solche Frage müßte für jeden Einzelfall zunächst einmal gesondert beantwortet werden, da anzunehmen ist, daß sich die Praxis von
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Situation zu Situation (beim Abitur anders als bei einer gewöhnlichen Klassenarbeit), von Lehrer zu Lehrer, vielleicht auch von Schule zu Schule unterschied.
9. Die Ordnung des Inhaltes (die Gliederung) Eigentlich ist eine Gliederung „eine kurze Skizze des Aufsatzes selbst, eine Art Leitfaden, an dem der Schüler sich in der Fülle des Stoffes immer wieder zurechtfinden kann" (J. Hagemann 1932: 254 f.). Sie hat den Zweck, die Abfassung des Aufsatzes zu erleichtern. Aber schon der alte Primaneraufsatz begnügte sich nicht mit einer solchen Funktionsbestimmung. Für ihn wird die Disposition zu einer Art Denkaufgabe: „Recht eigentlich ein Tummelplatz für die formale Logik war die Disposition, die Stelle im Verlauf der Aufsatzanfertigung, wo der Verstand allein und gewissermaßen isoliert arbeitete" (G. Kühn 1930: 8). Die nationalsozialistischen Aufsatzdidaktiker knüpften, wie so oft, an diese Tradition an: „alles in allem ist das Bemühen um die Gliederung eine geistige Schulung, die sich mit nichts auf der höheren Schule vergleichen läßt" (B. Bock 1938: 59). Sie betonten aber stärker noch die erzieherische Aufgabe der Gliederung: „Durch die Gliederung wird man Herr über den S t o f f (B. Bock 1938: 57). „Wer seine Darstellung in Ordnung hat, mußte vorher seine Gedanken in Ordnung bringen" (W. Ebel 1941: 13). Die Gliederung soll „zur gedanklichen Klarheit durch die Nötigung zu sinnvoller Gruppierung erziehen" (F. Rahn 1938/1941: 35). So dient letztlich auch die Gliederung dem Grundsatz: „Zucht des Charakters" durch „Zucht der Sprache". Eine erzieherisch so hoch bedeutsame Angelegenheit wie die Gliederung konnte natürlich nicht in das Belieben weder des Schülers noch des Lehrers gestellt werden. In den Volksschulrichtlinien von 1939 ist nur von „Gliederungsübungen" (wohl im Sinne von Stilübungen) die Rede. Regelrechte Gliederungen wurden selbst nicht für die Mittel- oder Hauptschule verlangt. Die Bestimmungen sprechen nur von einer Möglichkeit: „Auf gutes Ordnen ist von Anfang an zu achten. In der 4. Klasse (der Abschlußklasse der Hauptschule, O. L.) kann dem Aufsatz eine Gliederung vorangestellt werden" (Bestimmungen über Erziehung und Unterricht in der Hauptschule 1942: 20). Auf der Höheren Schule werden Gliederungen dann aber zur Pflicht: „Zu jedem Aufsatz aber muß eine Gliederung geliefert werden" (B. Bock 1938: 58). In Wirklichkeit ist diese Forderung unterschiedlich befolgt worden. Es gibt selbst Abituraufsätze ohne vorangestellte Disposition, und die Ausführung der Gliederung ist sehr verschieden gehandhabt worden. Von 22 Abituraufsätzen, die 1939 an der Höheren Schule Hannover-Linden (heute Humboldtschule) geschrieben wurden, weisen 8 Aufsätze keine Gliederung auf.
Die Ordnung des Inhaltes (die Gliederung)
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Die Gliederung scheint nicht unabhängig vom Thema gewesen zu sein. Vier der Aufsätze behandeln ein literarisches Thema: nur einer davon ist mit einer Gliederung versehen. Bei den Besinnungsaufsätzen ist das Verhältnis umgekehrt: 13 haben eine Gliederung und nur 5 nicht. Auch die Ausführlichkeit der Gliederungen ist recht unterschiedlich. Zu dem Thema „Die Lösung der Arbeiterfrage in Deutschland durch das Dritte Reich" gibt es ganz kurze Übersichten, wie etwa die folgende: A. B.
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Die Stellung des Arbeiters vor der Machtübernahme. Die Lösung der Arbeiterfrage in 1. der deutschen Arbeitsfront 2. der N.S.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude" 3. anderen Organisationen Der Arbeiter des Dritten Reiches
(eigene Sammlung Ο 1939/6). Daneben stehen Gliederungen, die an Detailliertheit alles in den Schatten stellen, was bisher an Gliederungen zu beobachten war, zum Beispiel die folgende: „A. Einleitung: Die Lage des Arbeiters in der Systemzeit. B. Ausführung: Die Lösung der Arbeiterfrage in Deutschland durch das Dritte Reich. I. Soziale Fürsorge: 1.) Schaffung besserer Wohnbedingungen. 2.) Gesundere Arbeitsstätten (Schönheit der Arbeit) und andere hygienische Einrichtungen. 3.) Familienfürsorge. 4.) Krankheits- und Altersversorgung. 5.) Hebung des Lebensstandards. II. Berufliche Förderung 1.) Bessere Lehrlingsausbildung (Lehrlingswerkstätten) 2.) Günstigere Aufstiegsmöglichkeiten für die Befähigten 3.) Reichsberufswettkampf 4.) Leistungs- und Musterbetriebe III. Geistige Hebung 1.) Studienmöglichkeit für den Begabten 2.) Nationalpolitische Erziehungsanstalten und Ordensburgen 3.) Schaffung von Werk- und Hausbibliotheken. Schöpfung (sie) und Ausbau der deutschen Arbeitsfront 1.) Reichsgruppen der einzelnen Berufe 2.) Betriebsführer und Gefolgschaft 3.) Arbeitsgericht und Kündigungsschutz
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Freizeitgestaltung 1.) durch den Betrieb a.) Schaffung von Tagesräumen und Kameradschaftshäusern b.) Werkheime als Urlaubsstätten c.) Turnhallen und Sportplätze 2.) durch die N.S. Gemeinschaft „Kraft durch Freude" a.) Konzert zur Werkpause b.) Besuch von Theater und Konzert c.) Veranstaltung von K.d.F.-Volksfesten und K.d.F.-Varietes (sie) d.) K.d.F.-Urlaubsfahrten e.) K.d.F.-Bäder f.) K.d.F.-Wagen Schluß: Vom Erfolge der sozialen Maßnahmen des Dritten Reiches" (eigene Sammlung Ο 1939/4).
Die Gliederung dient hier der Beherrschung des Stoffes, seiner Aufteilung und Systematisierung. Das Ganze wird in einem Maße durchgeordnet, daß es für die Ausführung jeweils nur einer Erläuterung der einzelnen Punkte bedurfte.
10. Die sprachliche Ausführung (der Stil der Aufsätze) Uber den Stil der Aufsätze gab es unter den Didaktikern keine einheitlichen Vorstellungen, und auch die Aufsätze der Schüler unterscheiden sich im Stil oft ganz erheblich voneinander. Dennoch kann man eine gewisse Tendenz feststellen. In der Aufsatzdidaktik lassen sich drei didaktisch-methodische Ansätze unterscheiden: (1) Fritz Rahn hatte 1930 zurecht festgestellt, daß es im Deutschen kein einheitliches, von allen akzeptiertes Stilideal gebe, und so stellte sich ihm die Frage: „wenn es schon ein kanonisches Stilideal nicht gibt, ist dann trotzdem eine deutsche Stillehre möglich?" (F. Rahn 1930: 579). Rahn widerstand der Versuchung, ein neues Stilideal aufzustellen und dieses normativ zu bestimmen. Stattdessen folgte er den Bahnen der neuromantischen Sprachtheoretiker und bemühte den Sprachgeist: „Dann nämlich ist sie (die Stillehre, O. L.) möglich, wenn es gelingt, nicht bloß an die fertigen Formen, sondern durch sie hindurch an die Wurzeln und das Walten des deutschen Sprachgeistes heranzuführen, wenn es weiter gelingt, durch klare und einfache Übungen diesen Sprachgeist zu zwingen, der eigenen Warheit und Innerlichkeit zum Ausdruck zu verhelfen" (ebd.). Was gemeint ist, hat Rahn an anderer Stelle
Die sprachliche Ausführung (der Stil der Aufsätze)
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viel einfacher gesagt: „Also nicht bloß, was sie (die Sprache, O. L.) beim anderen bewirkt, beim Hörer und Leser, sondern was sie bei mir, dem Sprecher, dem Schreiber bewirkt. Darüber soll ich ( . . . ) Erfahrungen machen" (582). Dieser Ansatz ist zwar später von Karl Reumuth (1941) wieder aufgenommen, im übrigen aber nicht weiter verfolgt worden. Selbst Rahn hat ihn später aufgegeben. Der Sprachgeist, von dem er gesprochen hatte, war zu unbestimmt und ließ dem Schüler zu viele Freiheiten. (2) Neuromantisch waren auch die Vorstellungen von einem völkischen Stil. Wenn Georg Kühn beispielsweise von Stil spricht, dann meinte er nicht mehr so sehr den Ausdruck eines Individuums, als vielmehr den einer Gemeinschaft: „auch wenn wir vom Stil eines bestimmten Künstlers sprechen, eines Musikers, Malers, Schriftstellers, so meinen wir keineswegs nur die Summe der kennzeichnenden Züge, die seine Ausdrucksformen von anderen unterscheiden, sondern die Ganzheit der Wesenszüge als Ausdruck einer typischen Haltung, die als Vorbild Geltung hat für die Gemeinschaft" (G. Kühn 1936: 76). Stil als Ausdruck einer vorbildlichen, weil typischen Haltung, dieser Gedanke führt unmittelbar zu dem von einem völkischen Stil: „So mannigfach nun die Gemeinschaftsgebilde sind, deren Haltung sich im Stil ausdrückt, sie alle weisen zurück und werden überhaupt erst möglich durch die umfassende bluthafte Wesensgemeinschaft des Volkes. So sprechen wir von einem völkischen Stil und verstehen darunter das Hochbild eines Volkes, das in seinem rassischen Bestände angelegt ist und sich in seinem geschichtlichen Leben entfaltet" (ebd.). Typisch ist, was völkisch ist, und eben darum ist es vorbildlich. Was für den Stil allgemein gilt, hat natürlich auch Gültigkeit für den Sprachstil im besonderen. Auch der Sprachstil ist, insofern er vorbildlich ist, Ausdruck völkischen Wesens: „Alle Sprachwerke deutscher Zunge ( . . . ) zeigen eine gemeinsame völkische Prägung" (G. Kühn 1936: 78). So fordern die Sprachdidaktiker einen „völkischen Stil" (G. Kühn), „artgemäßes Deutsch" (E. Fuchs) oder einen „nordischen Stil" (G. Kühn). Gemeint ist immer ein und dasselbe: das Postulat eines rassisch begründeten, im Verlauf der Geschichte sich entfaltenden Sprachstiles, in dem die innere Haltung des Volkes ihren Ausdruck findet, der aber zugleich für die Nachgeborenen Vorbild und Norm sein soll. Was aber ist „völkisch", „artgemäß", „nordisch" konkret? Eine klare Antwort auf diese Frage hat es nicht gegeben. Rahn hatte vom Schüler gefordert: „Schreibe anschaulich, klingend, schlicht, angemessen, rein und eigenwüchsig" (F. Rahn 1930: 54). Für Karl Reumuth ist „nordisch-deutsch": „der weitgespannte Satz" (K. Reumuth 1941: 29). Vorbild waren Hitlers Reden und Schriften. Ganz anders Georg Kühn: nordischer Sprachstil sei „knapp, herb, wortkarg, ,abstandhaltend', sachlich und klar, von verhaltener Kraft" (G. Kühn 1936: 80). K. F. Probst zitiert einen zeitgenössischen Dichter:
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höchstes Ziel der Stilerziehung sei „der klar bestimmte, kraftvolle, sachlich knappe, beste deutsche Stil", der — wie er hinzufügt — „Generalstabsstil" (K. F. Probst 1935: 478). Im Grunde verfolgt jeder seine eigenen Stilvorstellungen. Es dominiert jedoch die Vorstellung von einem knappen, sachbetonten und zweckrationalen Stil, ohne viele Schnörkel, direkt und geradezu, zackig und wohl auch zuweilen kantig. Sie entsprach am ehesten den Vorstellungen von einer „Zucht des Charakters" durch „Zucht der Sprache" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 45). „Jedes Wort" müsse „unter der Zucht der Verantwortung stehen", forderte Rudolf Preiß in einem Artikel mit dem charakteristischen Titel: „Der Zuchtgedanke im stilistischen Unterricht" (R. Preiß 1935: 14). Ohne Zweifel haben Vorstellungen von einem zuchtvollen, nordischen Stil auch den Stil von Schüleraufsätzen geprägt. Insgesamt aber waren sie zu unpräzise und zu wenig konkret, um mehr als nur eine diffuse Wirkung ausüben zu können. (3) Stilbildend in nationalsozialistischer Zeit scheint weder die Beschwörung des Sprachgeistes noch die Aufstellung neuer Stilnormen gewesen zu sein, sondern die aufsatzdidaktische Konzeption insgesamt. Dem Schüler vorgegeben waren bestimmte Aufsatzformen und mit ihnen jeweils eine von drei Grundhaltungen zur Welt der Dinge: die sachbezogene, die erlebnisbezogene und die verstandesbezogene. Die Aufgabe des Schülers bestand zunächst darin, die entsprechende Haltung anzunehmen und aus ihr heraus den im Thema genannten Gegenstand zu bearbeiten. Es wäre nun durchaus konsequent gewesen, wenn von dem Schüler nicht nur die inhaltliche Bearbeitung des Themas, sondern auch die sprachliche Ausführung aus der vorgegebenen Haltung verlangt worden wäre. Der Schüler hätte also nicht irgendwelchen diffusen Stilnormen zu folgen gehabt, sondern die Haltung, die einzunehmen war, auf sich wirken zu lassen und aus einer solchen Einstellung heraus den jeweils angemessenen Stil zu finden. Man hätte dann Abschied genommen von der Vorstellung eines einheitlichen Stilideals und allenfalls einen sachbetonten, einen gefühlsbetonten und einen verstandesbetonten Stil unterschieden, im übrigen aber die Erwartung gehegt, daß, wenn eine bestimmte Haltung eingenommen und innerlich zur Entfaltung gekommen wäre, sich auch der entsprechende sprachliche Ausdruck von selbst eingestellt hätte. Für diese Auffassung von Stilbildung habe ich keine Belege finden können. Dennoch halte ich es für wahrscheinlich, daß solche oder ähnliche Vorstellungen der Praxis der Stilbildungen im Dritten Reich zugrundegelegen haben. Für den Stil der gefühlsbetonten Haltung gibt es viele Belege unter den Schüleraufsätzen. Etwa der folgende: „(...) Jetzt steigt an der Halde Dampf auf. Schnell renne ich zu Karl Reuße. Dieser läuft mir schon entgegen. Willi Steins treffen wir auch. Wir wollen sofort zur Brandstätte. Herr Fichtenwirt ruft: ,Holt die Spritzen sofort aus meinem Schuppen!' Wir laufen so schnell
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wir können hin, und fahren die Spritze im rasenden Tempo zur Grafschaft. Dort stehen schon viele Leute. Schnell rollen wir die Schläuche mit aus. Einige Männer löschen. Der Motor ist brennend bei dem Sägewerk heruntergekommen. Es sind einige Bäume, Kaff und die Miste in Brand geraten. Auf dem ,schwarzen Weg' liegt die Tragfläche. Ich sehe das schwarze Kreuz mit weißer Umrandung. Es ist ein deutscher Jäger. — Tiefe Trauer überkommt mich . . . " (7. Klasse Volksschule 1944, eigene Sammlung). Dieser Beleg und viele ähnliche besagen jedoch nicht viel. Erlebnisberichte, vor allem Berichte von Begebenheiten, die die Kinder noch beim Schreiben innerlich bewegen, sind von einem solchen Stil geprägt: unbekümmert, direkt, anschaulich. Es ist der altersgemäße Ausdruck eines Erlebnisses und insofern gewissermaßen zeitlos. Spezifischer für die Zeit des Nationalsozialismus scheint mir der sachbetonte Stil zu sein, wie er von einem Sachbericht gefordert wurde, der „Generalstabsstil": „Gefolgschaftsbefehl! 7.30 auf dem Holzplatz an den Pulverweiden antreten! Pünktlich 7.30 meldet unser Gefolgschaftsführer dem Gebietsführer: ,Hitlerjugend, Gefolgschaft XIV, angetreten!' Kurz ertönen Kommandos. Die Musik setzt ein, und los geht es, den Brandbergen entgegen. Wir, die Hitlerjugend, marschieren an der Spitze des Zuges. Noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht der einer Riesenschlange gleichende Festzug die Brandberge. Langsam füllt sich der Platz. Immer neue Kolonnen marschieren auf. Indessen beginnt es dunkel zu werden. Gefolgschaftsführer Η . . . ergreift das Wort und begrüßt die versammelten Verbände. Die Feier beginnt" (Untersekunda 1933, zit. nach F. Hermsmeier 1936: 69). „Militärisch kurz, knapp und klar jeder einzelne Satz und das Ganze", so hat der Lehrer den Stil charakterisiert (ebd.). Es ist der Stil der militärischen Meldung. Als Beleg für einen verstandesbetonten Stil, wie er dem Besinnungsaufsatz zukam, mag die Einleitung des folgenden Abituraufsatzes gelten: „Deutschlands heutige Lage ist ganz kurz mit drei Schlagworten skizziert: Devisenmangel, Rohstoffknappheit, Vierjahresplan. Das heißt einmal, wir haben nicht genug auf ausländischen Banken geltende Zahlungsmittel, um uns die Rohstoffe zu kaufen, die unsere hochentwickelte Industrie zur weiteren Verarbeitung braucht. Daraus folgt, daß früher oder später einmal der deutsche Arbeiter nicht mehr schaffen kann, weil es ihm an den nötigen Rohmaterialien fehlt usw." (Hannover Linden, Ostern 1938/11). Hier wird mit wenigen Worten Auskunft über Prämissen gegeben, aus denen dann im weiteren Verlauf des Aufsatzes die Konsequenzen gezogen werden. Auch dieser Stil ist geprägt durch seine Kürze, doch kommt ein rhetorisches Moment hinzu, das Fritz Rahn so beschrieben hatte: „belebt durch den festen Willen, den Leser sicher von einem Gedankengang zum anderen zu führen, also zielbewußt, hell, überzeugend, an entscheidenden Stellen auch leidenschaftlich rednerisch" (F. Rahn 1933: 267).
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Man kann wohl sagen, daß der Stil eines Aufsatzes durch die vorgegebene Aufsatzform und die ihr zugrundeliegende Haltung bestimmt ist. Eine solche Feststellung trifft aber nur bis zu einem gewissen Maße zu. Der Stil eines Schriftstückes wird auch durch andere Faktoren beeinflußt: durch den Gegenstand, über den man schreibt, die Absicht, die man beim Schreiben verfolgt, vor allem auch durch den Leser, den man beim Schreiben vor Augen hat. Die Faktoren sind bekannt und brauchen hier nicht noch einmal ausführlich erörtert zu werden. Es war wohl unrealistisch anzunehmen, wie es offensichtlich die nationalsozialistischen Aufsatzdidaktiker taten, daß, wenn die richtige Haltung eingenommen worden sei, sich auch der entsprechende Stil von selbst einstelle, d. h. alle relevanten Faktoren sozusagen automatisch berücksichtigt würden. Eine solche Annahme setzte bei dem Schüler ein Vermögen voraus, das vermutlich in der Regel nicht gegeben war. Sie war zugleich gefährlich. Denn der Schüler, der ihr nicht entsprach, sah sich genötigt, so zu tun, als könne er ihr entsprechen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf gängige Floskeln, billige Klischees und Stereotype zurückzugreifen. Derselbe Schüler, von dem die lebendige Schilderung des Flugzeugabsturzes stammt (s. oben) schreibt in einem anderen Aufsatz „Warum dürfen wir nicht schwatzen?": „Ein Feindagent ist gut getarnt. Er geht im Gewand des Arbeiters, oder in der Uniform eines Offiziers mit hohen Kriegsauszeichnungen im Volke um. Er hält sich am liebsten in Rüstungsbetrieben und in Zügen auf. Er weiß, daß dort viel geplaudert wird. Durch sein harmloses Gebaren verleitet er den Wichtigtuer, noch mehr auszuplaudern. Weil der Nachrichtendienst eine große Rolle in der Kriegsführung spielt, hört der Spion genau zu und funkt alles dem Feindnachrichtendienst durch". Es ist von „Rüstungsbetrieben", „Nachrichtendienst" und „Feindagenten" die Rede: lauter Dinge, mit denen der Schreiber kaum eine konkrete Anschauung verbinden dürfte. So finden, wenn auch in diesem Aufsatz nicht gerade überaus zahlreich, aufgegriffene Floskeln Aufnahme in die Darstellung, wenn ζ. B. von „im Volke umgehen", von dem „harmlosen Gebaren" der Wichtigtuer oder gar von dem „Gewand des Arbeiters" gesprochen wird. Noch stärker ist der folgende Aufsatz eines etwa gleichaltrigen Schülers aus dem Jahre 1936 von Klischees geprägt: „Drei Jahre Aufbauarbeit Adolf Hitler. In den Jahren nach dem Kriege lag das einst so stolze Deutschland schwer danieder. Durch die Marxisten- und Bolschewistenregierung war das Land dem Untergang nahe. Da stand endlich ein unbekannter Soldat auf, um Deutschland aus Schmach und Not zu retten, Adolf Hitler. Nach langem, 14jährigen, schweren und hartem Kampf kam er endlich an die Macht. Viele seiner Kameraden mußten für die Bewegung um Deutschlands Befreiung ihr Leben lassen. Schließlich am 30. Januar 1933 ging es wie ein Freudenalarm durch Deutschlands Gaue. Adolf Hitler ist Reichskanzler. Vom Fels bis
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zum Meer, von Osten bis Westen wurden die Hakenkreuzfahnen jubelnd hochgezogen. Drei erfolgreiche kurze Jahre sind nun seit dieser Zeit verflossen. Neues und Großes wurde unter der Regierung Adolf Hitlers geschaffen" (zit. nach D. Rossmeissl 1985: 147). Hier ist kein Satz, in dem nicht eine vorgegebene Wendung, eine Redensart oder ein Stereotyp Verwendung findet. Es würde zu weit führen, sie alle aufzuzählen. Der didaktische Ansatz, nach dem wahrscheinlich während des Dritten Reiches Stilbildung im Aufsatzunterricht betrieben worden ist, erweist sich — ob mit Absicht oder nicht — als ein überaus geeignetes Mittel der Charakterbildung. Die Haltung, in der sich ein Charakter definierte und die in den Aufsätzen zum Ausdruck kommen sollte, konnte ihrerseits, wenn sie nicht den entsprechenden Ausdruck fand oder gar überhaupt nicht vorhanden war, durch einen übernommenen Ausdruck, wie er in Floskeln, Klischees und Stereotypen zur Verfügung gestellt wurde, beeinflußt, geprägt oder sogar allererst ausgebildet werden. Die Möglichkeit dazu war durch die Annahme gegeben, daß sich der Stil von selbst ergebe, wenn nur die richtige Haltung von dem Schüler eingenommen worden ist.
11. Die Grundzüge der aufsatzdidaktischen Konzeption Obwohl die aufsatzdidaktischen Vorstellungen der nationalsozialistischen Pädagogen an keiner Stelle vollständig und auch sonst nur wenig explizit entwickelt worden sind, erweisen sie sich, aufs Ganze gesehen, in einer Weise kohärent und systematisch, wie es zunächst nicht zu erwarten war. Auszugehen ist von der Tatsache, daß der Aufsatzunterricht — anders als der Literaturunterricht — unter das allgemeine Erziehungsziel der Charakterbildung gestellt wurde. Aufsatzunterricht ist Aufsatzerziehung, darüber sind sich alle Aufsatzdidaktiker der Zeit einig. Zwar vermittelt das Schreiben von Aufsätzen auch Fähigkeiten (Qualifikationen): die Fähigkeit, Schreibakte zu vollziehen, die Fähigkeit, einfache Gedanken auszuführen oder ganze Texte abzufassen. Doch steht die Vermittlung dieser Fähigkeiten nicht im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Aufsatzerziehung. Die Aufsatzerziehung dient nicht mehr, wie noch in der Deutschkunde der Weimarer Zeit, einem „Nutzziel". Sie dient aber auch nicht — oder zumindest nicht in erster Linie — der Vermittlung einer Weltanschauung, selbst nicht der nationalsozialistischen. Zwar werden bei der Abfassung der Aufsätze ideologische Inhalte eingeübt, in nationalsozialistischer Zeit nicht anders als sonst auch. Doch vermittelt werden die ideologischen Inhalte nicht eigentlich durch die Aufsätze, sondern durch den übrigen Unterricht, im Deutschunterricht vor allem durch den Literaturunterricht. Die Aufsatzerziehung diente primär der
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Charakterformung. Daß es sich um einen nationalsozialistischen Charakter handeln mußte, bedurfte keiner weiteren Begründung. Was aber war damit gemeint? Wenn ich es richtig verstehe, wird der Begriff des Charakters durch den der Haltung expliziert. Es geht um die Haltung, die ein Mensch zu den Dingen der Welt einzunehmen, von der aus er sie zu betrachten und zu beurteilen hat. Dem Charakter, der in dem Schüler ausgebildet werden sollte, entspricht zunächst einmal eine Haltung, die als „deutsch" deklariert und als in der Rasse begründet ausgegeben wurde. In der nationalsozialistischen Haltung prägt sich ein deutscher Charakter aus. Damit solche Vorstellungen auf den konkreten Aufsatzunterricht Anwendung finden konnten, bedurfte es einer weiteren Explizierung, die vor allem Fritz Rahn vorgenommen hat. Bei diesem Schritt der Ableitung gehen die ideologisch-politischen Aspekte des Begriffs der Haltung verloren, ohne daß dadurch die ganze Konzeption unpolitisch würde (s. dazu unten). Es werden drei verschiedene Haltungen unterschieden, ohne daß angegeben wird, woher eine solche Unterscheidung stammt oder wie sie begründet werden könnte: eine sachbetonte, eine gefühlsbetonte eine verstandesbetonte Haltung. Diese Haltungen — als Explikation des Charakterbegriffs — sind die Grundlage, auf der die Nationalsozialisten die Konstruktion ihrer aufsatzdidaktischen Überlegungen errichtet haben. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die Vorstellung, daß die Aufsätze aus einer dieser drei Grundhaltungen heraus geschrieben werden sollen, also nicht nach bestimmten Regeln oder Aufsatzschemata, wie noch zur Kaiserzeit, und schon gar nicht nach dem eigenen Gusto der Schüler, wie man den Reformern unterstellt, daß sie es gefordert hätten. Auf Aufforderung durch den Lehrer hatte der Schüler eine dieser Haltungen einzunehmen und dann sozusagen aus dieser Lage heraus die angemessene sprachliche Form für einen Stoff zu finden, der ihm zumeist vorgegeben war. Es kam also auf die Haltung an, aus der heraus der Aufsatz geschrieben wurde, oder — genauer gesagt — auf die richtige Einstellung, von der aus die Sachverhalte zu sehen waren. Eine solche Auffassung von Aufsatzschreiben fügt sich auf der einen Seite ohne weiteres in die Tradition des deutschen Aufsatzes ein. Schreiben ist auch hier noch Ausdruck eines inneren Zustandes. Auf der anderen Seite hebt sie sich aber auch deutlich von ihr ab. Der innere Zustand, der in den Aufsätzen zum Ausdruck kommen soll, ist eine bestimmte Haltung, nicht mehr eine Gesinnung, wie zur Kaiserzeit, und schon gar nicht sind es die Gedanken, Gefühle, Meinungen der Schüler. Die Haltung drückt sich auf den verschiedenen Ebenen des Aufsatzes unterschiedlich aus:
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(1) Am unmittelbarsten kommt die Haltung in den Aufsatzformen zum Ausdruck. Eine sachbetonte Haltung zeigt sich im Bericht und in der Beschreibung; eine gefühlsbetonte in der Erzählung, vor allem der Erlebniserzählung, und in der Schilderung; verstandesbetont schließlich ist der Besinnungsaufsatz bzw. die Betrachtung. Man erkennt an dieser Stelle der aufsatzdidaktischen Ableitung unschwer, daß in Wirklichkeit nicht die Aufsatzformen aus den Haltungen, sondern umgekehrt die Haltungen aus den zur Verfügung stehenden Aufsatzformen abgeleitet worden sind. Diese sind bekannt, sie sind Teil der aufsatzdidaktischen Tradition. Die Haltungen dienen lediglich ihrer Legitimation. (2) Auch der Stil der Aufsätze, ihre sprachliche Ausführung, ist Ausdruck einer bestimmten Haltung. Wenn hier und da in der aufsatzdidaktischen Literatur noch Stilregeln angeführt werden, dann ist das in gewisser Weise ein Anachronismus. Der Schüler, der wirklich darauf bedacht ist, für eine bestimmte, ihm vom Lehrer verordnete Haltung einen sprachlichen Ausdruck zu finden, bedarf keiner Regeln mehr. Der Ausdruck kommt geradezu von selbst. (3) Schließlich drückt sich eine Haltung auch in der Gliederung der Aufsätze aus. Die Gliederungen haben eine erzieherische Aufgabe. In ihnen zeigt sich, ob der Schüler den Stoff beherrscht. Allerdings ist dieser Gesichtspunkt in die aufsatzdidaktischen Überlegungen nur beiläufig aufgenommen worden, in der Praxis wurde er wohl nur von Fall zu Fall beachtet. Eine solche, aus drei verschiedenen Haltungen entwickelte Konzeption vom Aufsatzschreiben hatte zur Folge, daß die Themen, die Stoffe und wohl auch die Inhalte der Aufsätze bei aller Bedeutung, die sie für ideologische Indoktrination der Schüler zweifelsohne hatten, doch letztlich in Abhängigkeit von den Aufsatzformen, damit also von den drei Grundhaltungen, gesehen wurden. Grundlegend war die Wahl der Aufsatzform als Ausdruck einer bestimmten, einzuübenden Haltung, von ihr abhängig die Wahl der Stoffe, Themen und Inhalte.
XI. Der Aufsatz der Nachkriegszeit: Der sprachgestaltende Aufsatz (1946 — 1970) Hans Peter Schwarz hat in seiner bekannten Darstellung „Die Ära Adenauer" in der Bundesrepublik für die Jahre nach dem Kriege zwei große Entwicklungslinien festgestellt: „Die Anfange der Adenauer-Ära wirken noch in vielen Bereichen wie eine Wiedergeburt der deutschen Gesellschaft vor dem Zweiten Weltkrieg. Hingegen erkennen wir in der Gesellschaft der späten Adenauer-Ära bereits die vertrauten Züge unserer Gegenwart" (Η. P. Schwarz 1981: 382). Die beiden Entwicklungen werden als zwei aufeinanderfolgende Schübe beschrieben: „Die Veränderungen jener Epoche haben sich in zwei großen Schüben vollzogen, die bruchlos ineinander übergingen. In einer ersten Phase, die mit der Währungsreform begann und gegen Mitte der fünfziger Jahre einen gewissen Abschluß erreicht hatte, richteten sich die Energien auf den Wiederaufbau. Treibendes Motiv war das Bestreben aller Bevölkerungsgruppen, möglichst rasch aus der Misere der Kriegs- und Nachkriegszeit herauszukommen. Es war fast selbstverständlich, daß sich dieser Wiederaufbau an den Daseinsformen, am Lebensstandard, an den Sozialverhältnissen, auch an den Ideen der Vorkriegszeit orientierte. Das Verlangen nach Normalisierung herrschte überall vor. Aus dem Normalisierungsvorgang der frühen fünfziger Jahre entfaltete sich alsbald in einer zweiten Welle der Veränderung die typisch moderne Gesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte. Dieser Modernisierungsprozeß setzte in manchen Bereichen früher, in anderen später ein — im ganzen war er aber schon das große Thema der Sozialgeschichte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre" (ebd.: 382 f.). Wiederaufbau und Wiederherstellung von Normalität bis etwa 1955 und von da ab die Ausbildung der Bundesrepublik zu einem modernen Industriestaat, so etwa könnte man die beiden Entwicklungsschübe in den Jahrzehnten nach dem Kriege charakterisieren. Auch in der Geschichte der Aufsatzdidaktik kann man eine Zäsur in der Mitte der fünfziger Jahre entdecken, doch läßt sich die Richtung, in der sich die Aufsatzdidaktik entwickelt hat, kaum mit den allgemeinen Entwicklungslinien der Bundesrepublik in Einklang bringen: die Aufsatzdidaktik und damit wohl auch der Aufsatzunterricht an den Schulen wurde in zunehmendem Maße anachronistisch. Die Zeit bis etwa 1949 hat Ingrid Böttcher (I. Böttcher 1986: 124 u. ö.) zutreffend als eine Zeit der „Improvisation" bezeichnet. Damit überhaupt ein
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Unterricht stattfinden konnte, war es wichtiger, sich um die Schulgebäude und die Einrichtung der Klassenräume zu kümmern, als sich Gedanken über den Aufsatzunterricht zu machen. Es ist erstaunlich, daß dennoch gleich nach Beendigung des Krieges die ersten Arbeiten zur Aufsatzdidaktik erscheinen konnten (M. Katzer 1946; F. Fahnemann 1947; H. Arendt 1948; W. Albert 1949). Eine aufsatzdidaktische Diskussion, die diesen Namen verdient, setzte aber erst 1949 ein, also etwa gleichzeitig mit der Etablierung der Bundesrepublik Deutschland. Was diese auszeichnete, war die Vielfalt der Ansätze: „ein zum Teil verwirrendes Ineinander der Stile", wie ein Zeitzeuge meinte (H. Pröve 1950: 84). Natürlich kann diese Vielfalt als Versuch begriffen werden, Normalität im Aufsatzunterricht wiederherzustellen. Doch scheint es mir eher angebracht zu sein, sie als einen Versuch zu charakterisieren, sich wieder in der didaktischen Landschaft zurechtzufinden, sich zu orientieren, Abklärungen vorzunehmen und Auseinandersetzungen durchzustehen, um überhaupt erst wieder einen Weg zu finden, auf dem sich gehen ließ. Erst um die Mitte und in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre konnte sich dann eine Konzeption von Aufsatzunterricht durchsetzen, die von da ab bis gegen Ende der sechziger Jahre das Feld behauptete: der sogenannte sprachgestaltende Aufsatz. Er scheint mehr das Ergebnis von Auseinandersetzungen innerhalb der Fachdidaktik gewesen zu sein, als eine Reaktion auf die Zeit. Von einem Modernisierungsschub, wie ihn Hans Peter Schwarz für die Bundesrepublik in dieser Zeit insgesamt feststellte, kann jedenfalls in der Aufsatzdidaktik nicht die Rede sein. Man sollte meinen, daß sich die Aufsatzdidaktiker damals (1) der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen gestellt hätten, die in nationalsozialistischer Zeit vom Aufsatzunterricht entwickelt worden waren; daß sie sich (2) aus der Isolierung, in der sich die Deutschdidaktik seit eh und je befand, befreit und, wie in der Literatur, der Architektur, der Wirtschaft und Technik, um nur einige Bereiche zu nennen, auf denen der Einfluß des Auslandes mit Händen zu greifen ist, über die Grenzen hinweg auf den Aufsatzunterricht anderer Länder geblickt hätten, und (3) daß man die drängenden Fragen der Zeit zumindest zur Kenntnis genommen hätte: die Demokratisierung der Gesellschaft, den Ausbau eines modernen Industriestaates, die Innovationen in Technik und Wirtschaft. Von alle dem findet man in der Aufsatzdidaktik der Bundesrepublik so gut wie nichts! Eine Öffnung der Aufsatzdidaktik der Bundesrepublik und eine Berücksichtigung der Erfahrungen anderer Länder fand nicht statt. Ich habe in der aufsatzdidaktischen Literatur lediglich einen einzigen Aufsatz gefunden, der auf die englischen Verhältnisse eingeht — auf ganzen vier Seiten (K. Schäfer 1963)! Die Aufsatzdidaktik verharrte weiter in ihrem nationalen Ghetto.
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Aber auch innerhalb dieses Ghettos hat man es geflissentlich vermieden, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Man überging die Zeit des Nationalsozialismus meist mit Schweigen und tat so, als habe es sie nicht gegeben. Andere zierten sich nicht, ihre Kollegen aufzufordern, ungeniert auf den Grundlagen aufzubauen, die im Dritten Reich gelegt worden waren. So stellte beispielsweise ein namhafter Aufsatzdidaktiker fest: „Einen für die einzelnen Klassen der Oberschule ausgearbeiteten Plan gibt uns Rahns ,Aufsatzerziehung'" (R. Ulshöfer 1948/1949 a: 17). Den Plan hatten aber nationalsozialistische Pädagogen ausgearbeitet, er wurde in der amtlichen Ausgabe der Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" von 1938 veröffentlicht, deren erste Sätze so lauten: „Die deutsche Schule ist ein Teil der nationalsozialistischen Erziehungsordnung. Sie hat die Aufgabe ( . . . ) , den nationalsozialistischen Menschen zu formen" (Erziehung und Unterricht 1938: 9). „Auf dieser Grundlage", so wird 1948 gefordert, „muß weitergebaut werden" (R. Ulshöfer 1948/1949 a: 17 f.). Belege dieser Art gibt es zahlreiche. Bezüge auf die Zeit und ihre Probleme finden sich vereinzelt, Ende der vierziger und auch noch zu Beginn der fünfziger Jahre. Von da ab verlieren sie sich endgültig. Sie beschränken sich auf Klagen über den Verfall des sittlichen und geistigen Lebens: „Vielleicht wird man einmal feststellen, daß die hinter uns liegenden Jahre ( . . . ) Jahre des größten Tiefstandes im sittlichen und geistigen Leben unseres Volkes waren. Vielleicht aber wird man später nachweisen, — wir hoffen es nicht —, daß sie erst eine solche Zeit eingeleitet haben, daß heute der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, nur gebannt werden kann, wenn jeder einzelne von uns dazu beiträgt, den Sinn für das Unvergängliche in uns und in der Jugend zu haben". Mit diesen Worten wird das erste Heft der Zeitschrift „Der Deutschunterricht" vorgestellt (DU 1, 1948/1949, Η. 1: 1). Zu Beginn der fünfziger Jahre ist es dann nur noch der Sprachzerfall, der die Gemüter erregte: „Nach dem Urteil der Sachkundigen mehren sich die Anzeichen, daß die Sprachkultur unseres Volkes im Absinken begriffen sei. Unsere Sprache selbst scheint in Gefahr ( . . . ) . An diesem Zustand trifft die Schule gewiß nicht die Hauptschuld. Aber wo immer man sie auch suchen mag ( . . . ) , die entscheidende, vielleicht die einzige Stelle, von der aus wirksame Hilfe einsetzen kann, ist die Schule" (G. Kühn 1953: 7). Die Schule war, wie man rückblickend feststellen muß und wie es auch einige einsichtsvolle Lehrer gesehen haben, überfordert. Sie konnte den Aufgaben, vor die sie sich gestellt sah, nicht gewachsen sein: „Die frisch angeheuerten Lehrer ( . . . ) ahnten wohl kaum, eine wie überdimensionale Verantwortung ihnen zugefallen war. Sie sollten die Jugend für eine neue Welt, ein verändertes Denken, für die Erfüllung bisher nicht gekannter Aufgaben heranbilden. So sahen sie sich nach den Bergen um, woher ihnen Hilfe kommen konnte". Aber: „Es waren die alten erprobten Lehrer, die nun
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nach und nach wieder in die Schulstuben eintraten. ( . . . ) Es war ein sehr mühsamer Weg, dieser Weg der umwälzenden Denkprozesse mit seinen demütigenden Erkenntnissen, und vielen, allzuvielen war er zu anstrengend, vielleicht ging er auch über ihre Kräfte. Und so entwickelte sich die neue Schule nicht zu jener freien, selbstbewußten Gestalt, die ihren optimistischen Initiatoren vorgeschwebt hatte und die sie annehmen mußte, wenn sie ein organischer, harmonistischer Wesensteil des neuen Staates und keine bestandsgefährdende Mißbildung werden sollte" (W. Schwerwinsky 1951: 432). Immerhin aber hatten die neuen Verhältnisse eine Veränderung bewirkt, deren Folgen erst allmählich zutage traten. Für die Nationalsozialisten war der Aufsatzunterricht in erster Linie „Aufsatzerziehung" (so auch der Titel des maßgebenden Buches von Fritz Rahn). „Zucht der Sprache" war für sie „auch Zucht des Charakters" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 45), und so kam es ihnen auch im Aufsatzunterricht auf die Formung des Charakters und nicht so sehr auf die Bildung junger Menschen an. Auch nach 1945 wird noch öfters von der „Zucht der Sprache" und „Spracherziehung" die Rede sein. Vor allem taten sich jene Aufsatzdidaktiker schwer, sich von den nationalsozialistischen Vorstellungen zu lösen, die allzu sehr in den Nationalsozialismus und seine Gedankenwelt verstrickt waren. Für Fritz Rahn zum Beispiel war der Stil eines Menschen nach wie vor „Merkmal seelischer Artung" und der Sprachunterricht „Erziehung zu klarem, sauberem und fruchtbarem Denken, zu.sprachlichem Geschmack und Verantwortungsgefühl" (F. Rahn/W. Pfleiderer 1952: 1). Konsequenterweise heißt darum auch das Unterrichtswerk, das er zusammen mit Wolfgang Pfleiderer herausgegeben hat: „Deutsche Spracherziehung". Karl Reumuth zitiert kurzerhand den Erlaß der Nationalsozialisten, wenn er die erzieherischen Aufgaben des Aufsatzunterrichtes bestimmt: „Wenn die Aufsatzarbeit von Anfang an in der hier geschilderten Einstellung durchgeführt wird, dann wird die Zucht der Sprache auch Zucht des Charakters" (K. Reumuth 1950: 44). Insgesamt aber rückte der Erziehungsgedanke, auch wenn er über den gesamten Zeitraum nie ganz aus dem Aufsatzunterricht verdrängt werden konnte, in den Hintergrund. An seine Stelle trat der Bildungsgedanke. „Wir müssen der Jugend", so steht es im ersten Heft des „Deutschunterrichts" programmatisch, „den Sinnzusammenhang zwischen dem Einzelgeschehen und dem großen Weltgeschehen ( . . . ) und die Beseeltheit aller Lebenserscheinungen aufzeigen, um sie zum Nachdenken und Erfühlen der Dinge und ihrer Werte hinzuführen. Nur daraus kann ein neues Bewußtsein vom Werden und Sein, ein klarer Sinn für das eigene Wesen wie für die Bindungen des einzelnen an das Weltganze, für Sitte und Religion, und damit auch ein neuer Sinn für die Sprache sich entwickeln" (DU 1, 1948/1949, Η. 1: 2).
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Von nun an geht es auch im Aufsatzunterricht um die moralisch-sittliche, die geistige Bildung der Jugend überhaupt und darum auch um ihre sprachliche Bildung. Schreibend sollte der junge Mensch gebildet und damit auf das Leben vorbereitet werden: „Bildung hat in dieser Zeit die Aufgabe, über Wissen positive Handlungsnormen zu vermitteln. Ziel ist die verantwortungsvolle Persönlichkeit' " (I. Böttcher 1986: 278). In diesem Zusammenhang kam der Höheren Schule eine besondere Aufgabe zu, „da aus ihr ein großer Teil der Führer des Volkes, d. h. aber der Führer mit Wort und Feder hervorgeht, deren sprachliche Haltung für die anderen maßgebend und darum vorbildlich sein sollte" (G. Kühn 1953: 7). So nimmt es auch nicht Wunder, daß die entscheidenden Impulse für die Aufsatzdidaktik in dieser Zeit immer häufiger aus dem Gymnasium kamen.
1. Entwicklungen zwischen 1946 und 1956 Die ersten aufsatzdidaktischen Arbeiten erschienen gleich nach Beendigung des Krieges: kleine, schmale Bändchen, von Autoren, die während des Dritten Reiches nicht hervorgetreten und also auch nicht belastet waren, allesamt Arbeiten zur Volksschuldidaktik (M. Katzer 1946; F. Fahnemann 1947; W. Lamszus 1948; H. Arendt 1948; W. Albert 1949). Die Kollegen aus dem Gymnasium hielten sich bedeckt. Sie meldeten sich erst nach 1948 zu Wort, und das auch nur in Zeitschriftenaufsätzen. Das Organ, dessen man sich bediente, hatte man soeben erst geschaffen: „Der Deutschunterricht". Zunächst besprach man ziemlich belanglose Dinge: methodische Probleme der Bildbeschreibung, der Inhaltsangabe, der Charakteristik. Fritz Rahn propagierte wieder den Besinnungsaufsatz. Eine Ausnahme bilden lediglich einige Artikel von Robert Ulshöfer, von denen noch die Rede sein wird. In den Jahren zwischen 1949 und 1956 entwickelte sich dann eine rege Diskussion didaktischer und methodischer Fragen des Deutschunterrichtes, in deren Mittelpunkt oft Probleme des Aufsatzunterrichtes standen. Nebeneinander finden wir Versuche, — auf die aufsatztheoretischen Vorstellungen der Zeit vor 1933 zurückzugreifen (Anknüpfungen); — die Vorstellungen, die während des Dritten Reiches und von nationalsozialistischen Pädagogen entwickelt worden waren, zu übernehmen, freilich ohne ihre Herkunft zu kennzeichnen (Fortführungen); — vereinzelt auch Bemühungen, auf die Bedingungen der sich konstituierenden Bundesrepublik und deren Bedürfnisse einzugehen und neue Ideen zu entwickeln (neue Ansätze). Kurz nach der Mitte der fünfziger Jahre konnte sich in diesem „verwirrenden Ineinander der Stile" (H. Pröve) eine Auffassung von Aufsatzunterricht
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durchsetzen, die zwar nie die Geschlossenheit und den Rang anderer didaktischer Konzepte erreichte, aber doch rückblickend als eine solche anerkannt werden muß — der sogenannte sprachgestaltende Aufsatz. Anknüpfungen Man sollte annehmen, daß der Reproduktionsaufsat^ des 19. Jahrhunderts nach 1945 endgültig aus dem Aufsatzunterricht verschwunden wäre. Das ist zum Teil auch geschehen. In der Aufsatzdidaktik gibt es niemanden mehr, der es gewagt hätte, ihm noch das Wort zu reden. Aber unterhalb der seriösen Didaktik: in den Schulstuben und in einigen Anweisungen zum Aufsatzschreiben lebte er weiter. In einem Beitrag der Zeitschrift „Die Pädagogische Provinz" aus dem Jahre 1952 wurde die Wiederkehr der alten Aufsatzbücher mit Skepsis registriert: „Seit den zwanziger Jahren gehören die Aufsatzbücher in das Kuriositätenkabinett der Pädagogik. ( . . . ) Für Deutschlehrer, die sich diese Auffassung ihres Berufes zu eigen gemacht haben, ist es nun keine geringe Überraschung, daß die alten Aufsatzbücher ( . . . ) wiedergekehrt sind" (G. Stein 1952: 239 f.). Zwei Titel werden angeführt: „Der deutsche Aufsatz" von E. Brenner und „Deutsche Aufsätze" von M. Gebhardt. Zu ergänzen wäre die Neuauflage des bereits 1932 veröffentlichten Büchleins von Konrad Kupfer: „Grundbegriffe und Gesichtspunkte als Hilfsmittel für den deutschen Aufsatz" (1951). „Mein Hauptgrundsatz ist", schreibt Michael Gebhardt, „am Vorbild zu lernen und mit dem Vorbild in Wettbewerb zu treten" (M. Gebhardt 1950/ 1952: 6). Und E. Brenner, an den Schüler gewendet: „In diesem Buche findest Du zahlreiche Übungen und Stilproben, die Dir zeigen, wie Du es machen sollst. Hast Du aber das Zeug in Dir, einmal ein tüchtiger Meister der Feder zu werden, dann wirst Du die Anregungen entbehren können, und je gründlicher Du dich von den Vorbildern freimachst, desto besser für Dich" (E. Brenner 1951: 7 f.). Die Vorbilder waren Musteraufsätze aus den verschiedensten Stoffkreisen. Indem der Schüler diese Muster reproduzierte, sollte er seinen Stil bilden, lernen, Gliederungen anzufertigen, und vor allem in sich „eine geistige Welt aufzubauen" (ebd.: 2). An anderer Stelle wird von einem Aufsatzunterricht an einer Dorfschule berichtet: „Die Arbeit begann für beide Klassen gemeinsam um 8 Uhr mit der Ankündigung des Themas. In einem kurzen Gespräch wurde nun zusammengetragen, was die Kinder zum Thema wußten. Was nicht gefunden wurde und dem Lehrer doch notwendig erschien, trug er von sich aus bei (...). Nun wurde unter starker Führung des Lehrers der Aufsatz aus einzelnen Sätzen zusammengestellt. Nachdem von den Kindern scheinbar ein Satz gefunden worden war — der Lehrer hatte den Aufsatz bereits fix und fertig auf einem Zettel stehen —, wurde dieser von einem schlechten Schüler an
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die Tafel geschrieben. Die vielen Rechtschreibfehler wurden von einzelnen Schülern verbessert. Nach langer Zeit stand der Satz fehlerfrei und ordentlich an der Tafel. So wurde der ganze Aufsatz erarbeitet, oft laut einzeln und im Chor gelesen, auswendig gelernt und von allen Kindern niedergeschrieben" (L. Bayerl 1960: 296). Dieser Bericht sowohl als auch die Aufsatzbücher zeigen, daß der Reproduktionsaufsatz auch nach 1945 fortbestand. Nur vereinzelt hat man nach 1945 auf die Vorstellungen der Reformpädagogen zum freien Aufsaß zurückgegriffen, gleich nach der Beendigung des Krieges und dann noch zweimal in den fünfziger Jahren. Wie viele Menschen nach dem Kriege in einem einfachen Leben eine Perspektive für ihre Zukunft sahen, so glaubte auch Maximilian Katzer 1946 durch Vereinfachung eine Neugestaltung des Deutschunterrichts erreichen zu können (M. Katzer 1946). „Vom Eindruck zum Ausdruck", so lautet der Titel seiner Schrift — und der Untertitel: „Skizzen für eine Neugestaltung und Vereinfachung des Deutschunterrichts in der Volksschule". Mit Rudolf Hildebrand wurde die Beseitigung des bisherigen Übergewichts des Schreibens verlangt: nur „der Anfang einer Grundlegung im schriftlichen Ausdruck" (ebd.: 31) sei in der Volksschule erforderlich. Und mit den Reformpädagogen wurde die Wiederherstellung natürlicher Verhältnisse im Unterricht nahegelegt: „von den Dingen zu den Worten, von der Sache zu ihrer Bezeichnung (...), vom Denken zum Reden, kurz: ,Vom Eindruck zum Ausdruck!' " (ebd.: 34). — 1948 meldete sich noch einmal Wilhelm Lamszus (vgl. Kap. 8) zu Wort: „,Alles Lernen der Jugend soll selbständiges freies Erzeugen aus sich selbst, lebendige Schöpfung sein'. Mit diesen programmatischen Worten hat Pestalozzi (...) auch unserm Aufsatzunterricht den richtigen Weg gewiesen. »Selbständiges freies Erzeugen aus sich selbst!' Dieser methodische Grundsatz, der allen anderen vorangestellt wird, gilt für sämtliche Altersstufen" (W. Lamszus 1948: 7). In den fünfziger Jahren setzten sich noch einmal Rudolf Wegmann-Willing (1951) und Ludwig W. Müller (1955) für den freien Aufsatz ein. Charakteristisch sind die Titel ihrer Arbeiten: „Freude am Aufsatz" (Wegmann-Willing) und „Der natürliche Aufsatz" (Müller). Wegmann-Willing rechtfertigte den freien Aufsatz — ganz im Sinne der alten Reformpädagogen — mit der Persönlichkeitsbildung des jungen Menschen: „Wenn wir bisher großes Augenmerk auf die verschiedenen Ausdruckstypen (wie beschreibender, beobachtender, Gefühls- und Gelehrtentyp) legten (das waren die Aufsatzformen, die Georg Kühn (1930), Fritz Rahn (1938) und die Nationalsozialisten herausgestellt hatten, O. L.), so glaube ich, daß gerade durch den freien oder Erlebnisaufsatz der Forderung der Persönlichkeitsentfaltung mehr als durch andere Übungsformen Gerechtigkeit widerfahrt" (R. Wegmann-Willing 1951/ 1971: 6). Ganz im selben Geiste auch Ludwig W. Müller: „Die Nachahmung
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der Vorbilder, die Briefstellermethode im Aufsatzunterricht, die Papageienmanier — sie sind abgetan, ( . . . ) die Fesseln der Typen sind gefallen. Der Weg zum Ziel ist frei, der Aufsatz ist frei; denn er entfaltet die Persönlichkeit des jungen Menschen in der Richtung auf das Bildungsziel, das auf die zeitlosen Werte gegründet ist" (L.W. Müller 1955; 16). Die Tatsache, daß der freie Aufsatz nach 1945 kaum noch eine Rolle spielte, mag zwei Gründe haben. Zum einen scheint die Kritik noch nachgewirkt zu haben, die die Vorstellungen vom freien Aufsatz in den zwanziger Jahren erfahren hatten (vgl. Kap. 8), und vor allem wohl auch das Verdammungsurteil, das die Nationalsozialisten über ihn ausgesprochen hatten (vgl. Kap. X). So würde sich auch die Tatsache erklären, daß man von dem freien Aufsatz nur noch dann sprach, wenn es galt, ihn abzulehnen. Zum andern scheint die Tradition des sprachgestaltenden Aufsatzes (s. unten) zu übermächtig gewesen zu sein. Erst als diese in den siebziger Jahren aufgegeben wurde, konnte Gerhard Sennlaub (1980) mit seinem bekannten Büchlein „Spaß beim Schreiben oder Aufsatzerziehung?" an den freien Aufsatz erinnern und wieder an ihn anknüpfen. Selbst die Vorstellungen der Arbeitsschule zum deutschen Aufsatz haben sich nach 1945 nicht mehr durchsetzen lassen. Zwar wurden die beiden wichtigsten Arbeiten 1952 noch einmal aufgelegt: Susanne Engelsmann „Methodik des deutschen Unterrichts" von 1926 und Lotte Müllers „Vom Deutschunterricht in der Arbeitsschule" von 1921, diese in einer sehr weitgehenden Überarbeitung und mit einem neuen Titel: „Der Deutschunterricht. Selbsttun — Erleben — Lernen". Doch haben beide in das aufsatzdidaktische Geschehen nicht mehr eingreifen können. Spuren der Arbeitsschule finden sich nach 1945 lediglich in der Arbeit von Fritz Fikenscher: „Der schriftliche Ausdruck. Praktische Stilpflege in der Volksschule" (1951). Ein Zusammenhang mit „arbeitsschulmäßigen Bestrebungen" (F. Fikenscher 1951/ 1961: 20) wird hier ausdrücklich festgestellt, er kommt auch in den Vorstellungen vom Schreiben zum Ausdruck: „Der schriftliche Ausdruck gibt die Form der reinen Sprachübung und der Prüfung eines erreichten Gewandtheitsgrades auf, er wird zweckhaft" (ebd.: 13 f.). Und so sind es vornehmlich reale Schreibanlässe, die den Aufsatzunterricht bestimmen: „Niederschriften aus dem Sachunterricht, Arbeitsberichte, Einträge in das Arbeitsheft, Gruppenarbeiten, Beiträge für die Schülerzeitung, ( . . . ) Erinnerungsschriften über Feiern, Wanderungen, Schullandaufenthalte und andere besondere Ereignisse" (ebd.). Von den aufsatztheoretischen Konzeptionen, die noch aus der Zeit vor 1933 stammen, hat einzig und allein der sogenannte sprachschaffende Auf sat wie ihn Walter Seidemann 1927 entworfen hatte, noch Anerkennung gefunden. Im Geleitwort zur zweiten Auflage von 1952 schreibt der Herausgeber: „Vor fünfundzwanzig Jahren erschien die erste Auflage ( . . . ) . In den ersten
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fünf Jahren nach dem Erscheinen des Buches wurde nur ein knappes Drittel der Auflage abgesetzt; auch in den nächsten zehn Jahren (also während der NS-Zeit, O. L.) konnte die Erstauflage nicht ganz verkauft werden. Der Rest fiel den Brandbomben zum Opfer" (P. Nentwig in W. Seidemann 1927/1963: 6). Erst nach dem Kriege ist man auf die Bedeutung des Buches aufmerksam geworden. Innerhalb von nur zehn Jahren wurde es insgesamt fünf Mal aufgelegt. Im Vorwort zur letzten Ausgabe konnte der Herausgeber feststellen: „Seidemanns Buch hat in der Auseinandersetzung um die Erneuerung des muttersprachlichen Unterrichts aus dem Geiste der Sprache heraus eine bedeutende Rolle gespielt" (ebd.: 6). Ich werde zeigen, daß aus dem Seidemannschen „sprachschaffenden Aufsatz" nach 1945 unter der Hand jedoch ein „sprachgestaltender Aufsatz" wurde. Die Versuche, an die aufsatzdidaktischen und aufsatzmethodischen Vorstellungen der Weimarer Zeit anzuknüpfen, haben sich also insgesamt als wenig erfolgreich erwiesen. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist aber der Versuch gewesen, die Gedanken, die im Dritten Reich zum Aufsatzunterricht gefaßt worden waren, nach 1945 durchzusetzen. Fortführungen Unter den Aufsatzspezialisten, die sich während der nationalsozialistischen Herrschaft hervorgetan hatten, gibt es — von einer einzigen Ausnahme abgesehen — keinen, der sich nicht nach 1945 wieder zu Worte gemeldet hätte. Sie haben auch nach 1945 in der Bundesrepublik die Aufsatzdidaktik bestimmt. In den fünfziger und sechziger Jahren war „der Rahn/Pfleiderer" ein Begriff: das Schulbuch, das — neben den Lesebüchern — den Deutschunterricht geprägt hat. Wenn man sich ein Bild davon machen will, wie und in welchem Maße die nationalsozialistischen Vorstellungen von Aufsatzunterricht nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weiter gelebt haben, braucht man bloß der Entstehung dieses Buches nachzugehen. Man rekapituliere: Im Januar 1938 hatte der NS-Minister Rust zusammen mit den Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule" Lehrpläne für die einzelnen Unterrichtsfacher ausgegeben, darunter auch Lehrpläne für den Aufsatzunterricht. Hier sind die Vorstellungen der Nationalsozialisten vom Aufsatzunterricht amtlich niedergelegt. Im Mai desselben Jahres erschien die „Aufsatzerziehung" von Fritz Rahn (F. Rahn 1938). Es handelt sich, wie es im Untertitel heißt, um „eine Handreichung für Deutschlehrer zur Erfüllung der Lehrplananforderungen", also um einen Kommentar zu den amtlichen Bestimmungen, soweit sie den Aufsatzunterricht betrafen. Er sollte „zu einer Besinnung und Klärung über die Frage beitragen, wie man den Forderungen der Lehrpläne gerecht werden kann" (ebd.; 2). Man sollte
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annehmen, daß nach dem Kriege ein Kommentar zu den Bestimmungen der Nationalsozialisten zusammen mit diesen aus dem Verkehr gezogen worden wäre. Das ist nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil! Fritz Rahn hat zusammen mit Wolfgang Pfleiderer (auch dieser hatte sich schon vor 1945 in der Aufsatzdidaktik hervorgetan) aus der „Aufsatzerziehung" von 1938 eine Methodik der „Deutschen Spracherziehung" gemacht. Aus einem schmalen Bändchen von kaum mehr als sechzig Seiten wurde ein stattliches Werk von mehr als dreihundert Seiten. Der Ausbau der „Spracherziehung" zur „Methodik" der „Deutschen Spracherziehung" erfolgte in drei Richtungen: (1) Die Methodik umfaßt — außer dem Literaturunterricht — alle Bereiche des Deutschunterrichtes und beschränkt sich nicht mehr allein auf den Aufsatzunterricht. (2) Mit besonderer Sorgfalt sind in der Methodik die praktischen Aspekte des Sprachunterrichtes ausgearbeitet worden. (Parallel zu den einzelnen Teilen der Methodik erschienen Arbeitsbücher für die Schüler. Auf sie bezog man sich, wenn man damals vom „Rahn/Pfleiderer" sprach.) (3) Hier und da sind auch einige theoretische Ergänzungen vorgenommen worden. Was verblüfft, ist die Tatsache, daß nicht nur einzelne Passagen, sondern der gesamte Text von 1938 — von einigen wenigen Retouchen abgesehen — wieder abgedruckt wurde, und zwar Wort für Wort. Ein von den Nationalsozialisten gebilligter Kommentar zu ihren Anweisungen konnte also bereits einige Jahre nach dem Ende ihrer Herrschaft ohne Abstriche in den theoretischen Teil des für mehr als ein Jahrzehnt maßgebenden Unterrichtswerks übernommen werden. Es gibt vermutlich kein anderes Dokument, das die Kontinuität zwischen der Aufsatzdidaktik der Nationalsozialisten und der der Nachkriegszeit eindrucksvoller belegen könnte, als eben diese Methodik von Rahn und Pfleiderer. Auch an anderen Stellen hat Fritz Rahn versucht, seine im Zusammenhang mit den amtlichen Lehrplänen der Nationalsozialisten entwickelten Vorstellungen vom Aufsatzunterricht nach 1945 zu propagieren und durchzusetzen. In mehreren Aufsätzen der Zeitschrift „Der Deutschunterricht" hat er sich für den Erhalt des Besinnungsaufsatzes eingesetzt, bei dessen Taufe 1938 er vermutlich selbst Pate gestanden hatte (vgl. O. Ludwig und E. Merchert 1987). „Es geht um das Lebensrecht des Besinnungsaufsatzes", so beginnt der erste Artikel in dieser Reihe (F. Rahn 1948/1949: 45), acht Jahre später ein anderer: „Immer noch steht im Mittelpunkt der Aufsatzerziehung an der Oberstufe unserer Gymnasien der sog. Besinnungsaufsatz" (F. Rahn 1957: 24). Im Verlauf der fünfziger Jahre hatte sich der Besinnungsaufsatz, wie ihn Rahn Ende der dreißiger Jahre konzipiert hatte, an den Gymnasien der Bundesrepublik durchgesetzt. Er war zur klassischen Form des Oberstufenaufsatzes aufgestiegen. Was Rahn im Dritten Reich nicht geschafft hatte, das erreichte er nach 1945.
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Mit gewissen Einschränkungen ist auch das Buch von Georg Kühn „Stilbildung in der höheren Schule" (1953) zu den Arbeiten zu rechnen, in denen die Ideen der nationalsozialistischen Pädagogen nach 1945 fortgeführt wurden. Es handelt sich um die Überarbeitung und Erweiterung seines Buches „Aufsatz und Spracherziehung in der höheren Schule", dieses war bereits 1930 — also bereits vor der sogenannten Machtübernahme — erschienen. Doch hat Kühn auf zwei Wegen Einfluß auf die Aufsatzlehre des Dritten Reiches nehmen können. Einmal hat er auch während des Dritten Reiches seine Vorstellungen weiter entwickelt und an die herrschende Doktrin angepaßt. Davon zeugen einige Zeitschriftenaufsätze (vgl. G. Kühn 1933, 1935, 1936 u.ö.). Zum andern haben die nationalsozialistischen Aufsatztheoretiker ihre Vorstellungen zur Aufsatzdidaktik weitgehend der Arbeit von Kühn entnommen. Sein Buch bildet also die Grundlage der nationalsozialistischen Aufsatzlehre. So kann man an den Arbeiten von Georg Kühn eine Entwicklung in der Aufsatzdidaktik verfolgen, die von den letzten Jahren der Weimarer Zeit über das Dritte Reich bis in die Nachkriegs jähre führt. Veränderungen in der Setzung der Akzente sind in ihr durchaus feststellbar. Sprach Kühn vor 1945 von der „Spracherziehung in der höheren Schule", stellte er den Sprachunterricht also unter das Primat der Erziehung, so heißt es nach 1945: „Stilbildung in der höheren Schule": die Bildung des jungen Menschen wird jetzt in den Vordergrund der Überlegungen gestellt. Muttersprachliche Bildung bedeutete Kühn zweierlei. „Vom Ganzen der Sprachgemeinschaft aus gesehen": „hineinnehmen des heranwachsenden Geschlechtes in ihre geistige Welt". Denn „wer seine Muttersprache erlernt, übernimmt ihr Weltbild, die Ordnungen und Maßstäbe des Vorstellens, Fühlens, Denkens und Wertens" (G. Kühn 1953: 26). Vom Einzelnen aus gesehen: „sich hineinformen in diese gegebene Welt und dadurch zugleich persönliche Kräfte entfalten" (ebd.). Denn „wer, was in ihm ist, in einer Form zu äußern lernt, die Stil hat, formt damit sich selbst und gewinnt Stil" (ebd.: 45). Das „Hineinnehmen" in die geistige Welt der Sprache sollte der sprachbetrachtende Unterricht, das „Hineinformen" der Aufsatzunterricht besorgen. Im Rahmen dieses eher bildungstheoretisch begründeten Konzeptes besteht die Aufgabe des Schüleraufsatzes in der Gestaltung eines Stückes der Wirklichkeit durch Sprache: „Im Aufsatz wird der Schüler vor die Aufgabe gestellt, ein Stück des Daseins, der innern oder äußern Welt, tunlichst nach eigener Kraft geistig zu bewältigen und diese Leistung zu der ihm möglichen sprachlichen Vollendung zu bringen" (ebd.: 67). dadurch daß er sie „aus sich herausstellt" (ebd.: 67), objektiviert er sie und schafft sich so die Möglichkeit, sie zu „ordnen" (ebd.) und zu verarbeiten. Auf diese Weise wird in und durch die Verfertigung von Aufsätzen Wirklichkeit „innerlich gemeistert" (ebd.: 164). Solche Vorstellungen von der bildenden Kraft des Aufsatzschreibens führen auf direktem Wege zu der Konzeption des „sprachgestaltenden Aufsatzes".
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Neue Ansätze Regelrechte Innovationen hat es in der Aufsatzdidaktik der Bundesrepublik bis Ende der sechziger Jahre nicht gegeben. Mit einer gewissen Berechtigung kann man aber von neuen Ansätzen sprechen — zumindest in dem Sinne, daß nicht auf früher geäußerte Vorstellungen zurückgegriffen, sondern neu in die Überlegungen zum Aufsatzunterricht eingetreten wird. In den beiden Fällen, von denen hier die Rede sein muß, spielt der Gesichtspunkt der Bildung, insbesondere der der sprachlichen Bildung eine bedeutsame Rolle. Die bildungstheoretische Orientierung der Pädagogik während der AdenauerÄra bildete eine Grundlage, auf der auch in der Aufsatzdidaktik und methodik neue Ideen entwickelt werden konnten. Für Robert Ulshöfer scheint das Gefühl der Verantwortung für die geistige, moralische und damit auch sprachliche Kultur des Landes Anlaß für seine Bemühungen um eine Neugestaltung des Aufsatzunterrichtes gewesen zu sein: „Unsere Welt ist nicht mehr in sich gefügt. Sie bietet dem jungen Menschen keinen sicheren Halt, keinen unverrückbaren Glauben, kein einheitliches Weltbild" (R. Ulshöfer 1950: 46). So sei es die Aufgabe der Schule, Wege zu suchen, „auf denen die Schüler in der veränderten Welt eine Anleitung zur Weltdeutung und Lebensführung finden können" (ebd.: 47). Im Deutschunterricht glaubte Ulshöfer zwei Bereiche ausmachen zu können, die in besonderer Weise zur Erreichung dieses Zieles geeignet zu sein schienen: den Aufsatzunterricht und den Literaturunterricht. Der Aufsatzunterricht sei aus zwei Gründen von Bedeutung. Einmal weil er wie kein anderes Fach die „Selbsttätigkeit des Schülers" zur Geltung kommen lasse: „einen bildenden Wert hat ein Fach nur, wenn und in dem Maße, wie es den jungen Menschen zur Klärung seines eigenen Denkens und Empfindens, zur Vertiefung seines Wollens, zur Gestaltung seines Erlebens, zum Ausdruck eines eigenen Urteils anregt" (R. Ulshöfer 1948/1949 b: 8). Zum andern, weil der Aufsatzunterricht die Gelegenheit biete, dem Schüler Kategorien an die Hand zu geben, mit denen er sein Denken ordnen und ein neues Weltbild aufbauen könne. In verschiedenen Aufsätzen, die Ulshöfer zwischen 1948 und 1950 im „Deutschunterricht" veröffentlichte, favorisierte er zunächst den Aufsatzunterricht, indem er vor allem den bildenden Wert von Denkkategorien herausstellte. Diese hatten nicht die Aufgabe, die Stoffindung zu erleichtern (wie früher die rhetorischen Topoi), sondern zielten ab auf die Gedankenbildung, indem durch sie das Denken der Schüler in Ordnung gebracht werden sollte: „Diese Denkformen werden auf Probleme des Alltagslebens oder der geistiggeschichtlichen Welt angewandt. Durch den richtigen Gebrauch dieser Begriffe bringt der Schüler in die Verworrenheit der Gedanken und der Verwobenheit der menschlichen Erscheinungen Ordnung und Übersicht" (ebd.: 27).
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Es sind gewissermaßen Denkschienen, auf denen die Gedanken der Schüler laufen lernen sollten: „Alle diese Hilfsmittel, die jeweils auf eine ganz bestimmte Art und Anzahl von Themen anwendbar sind, wollen dem Schüler wesentliche G r u n d f o r m e n des Denkens einprägen" (ebd.). Durch die Einführung, Einschleifung und schließlich Fixierung ganz bestimmter Denkschemata sollte der Schüler nicht Denken schlechthin, sondern ein bestimmtes Denken einüben: das „auf Werteverwirklichung zielende Denken" (ebd.: 29; ausführlicher dazu O. Ludwig und E. Merchert 1987). In der „Methodik des Deutschunterrichts", die Ulshöfer von 1952 ab herausgab, erhielt der Aufsatzunterricht einen anderen Stellenwert. Geblieben ist die Dominanz des Bildungsgedankens: „nur aus dem Wissen um ein bestimmtes Bildungsziel findet man den richtigen Weg" (R. Ulshöfer 1952: 9). Geblieben ist auch die Ausrichtung der Bildung an einem bestimmten Weltbild: „Eine Methodik des Deutschunterrichts, die nicht von einem bestimmten Weltbild ausgeht und auf ein bestimmtes Leitbild des Menschen hinweist, bleibt im Allgemeinen und Formalen, wenn nicht im Formalismus stecken" (ebd.). Doch in einem Punkt hat sich die didaktische Konzeption grundlegend geändert. Das Interesse hat sich vom Aufsatzunterricht auf die Behandlung der Dichtung verlagert, vom Schreiben auf das Lesen, vom Gestalten auf das Verstehen: „Wir sind gebildet ( . . . ) in dem Maße, wie wir in uns das Organ des Verstehens von Sinnganzheiten entfaltet haben" (ebd.: 16). Der Literaturunterricht erschien darum f ü r die Vermittlung weltanschaulicher Inhalte besser als der Aufsatzunterricht geeignet. Entlastet von der Aufgabe, Denkinhalte über Denkkategorien zu vermitteln, konnte sich nun der Aufsatzunterricht ganz auf den bildenden Wert der Selbsttätigkeit konzentrieren und damit einen zweiten Grundsatz der Bildungsarbeit verwirklichen: „Der Mensch bildet sich in dem Maße, wie er etwas bildet" (ebd.: 28). Bildung im Aufsatzunterricht wurde nun ganz im herkömmlichen Sinne verstanden als Weckung und Entfaltung der inneren Kräfte des jungen Menschen. Für einen Pädagogen v o m Schlage Ulshöfers waren dies nicht so sehr die Kräfte des Verstandes, als vielmehr die „seelischemotionalen Kräfte im Menschen" (ebd.: 43): „Die Gestaltungsmethode will ( . . . ) die einheitsstiftenden Kräfte — es sind dies die eigentlichen Segenskräfte der Menschheit — im Kinde und Jugendlichen wecken und lenken: die Liebe, die Freude, das Vertrauen, die Phantasie, die Einbildungskraft, das soziale, wissenschaftliche und religiöse Gewissen" (ebd.: 30). So wird auch der Aufsatzunterricht schließlich zur „Lebenskunde" (ebd.): auch er will „zur vollen Teilhabe an der höheren geordneten Wirklichkeit des beseelten und vergeistigten Lebens hinführen" (ebd.). Erika Essen hat 1956 in ihrer bekannten „Methodik des Deutschunterrichtes" mehr auf die muttersprachliche Bildung der Schüler abgehoben. Muttersprachliche Bildung war für sie mehr als nur die Vermittlung von Kenntnissen
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oder die Ausbildung von Fähigkeiten: „Sinn des Deutschunterrichts ist die Kräftigung und Bildung des sprechenden Menschen durch seine Sprache. Dabei heißt Kräftigung: Erhaltung, Befreiung und Stärkung der ursprünglichen lebendigen Sprachkräfte; Bildung: allmähliche Durchdringung des Sprachlebens mit Bewußtsein, das über die Erkenntnis der eigenen Kräfte zu deren Beherrschung und Formung gelangt" (E. Essen 1956: 9). Begründet wird dieser Anspruch mit der Behauptung, daß „der Mensch sein Leben in der Welt durch die Sprache bewältigt" (ebd.) und darum die Sprache sein Wesen ausmache: „Indem wir zu Sprache erziehen, setzen wir Sprache voraus. Wir rechnen mit den im Menschen ursprünglich lebendigen Sprachkräften, zugleich aber erstreben wir nichts anderes als eben die Entwicklung dieser Sprachkräfte im jungen Menschen. Damit bemühen wir uns aber um die Entwicklung der eigentlich menschlichen Kraft überhaupt: durch Sprache greift der Mensch nach der Welt, als Sprache prägt sich ihm die Welt ein, in der Sprache hat er Gemeinschaft mit den anderen Menschen, in Sprache sagt er sich selbst aus. Haben wir es mit Sprache zu tun, so haben wir es zu tun mit dem Menschen, arbeiten wir an der Sprache eines Menschen, so rühren wir damit an den Kern seines Wesens und Handelns" (ebd.). Sprachunterricht wird also nicht zu dem Zweck betrieben, daß der junge Mensch sprechen und schreiben, lesen und zuhören lernt, sondern durch sprachliches Handeln Erfahrungen mit der ihn umgebenden Welt und mit sich selbst macht. Auf der Unterstufe soll er Sprache als eine Kraft erfahren, die es ihm erlaubt, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen; auf der Mittelstufe als eine Kraft, sich mit der Wirklichkeit auf der Welt der Sachen auseinanderzusetzen, und auf der Oberstufe, zu sich selbst zu kommen, „indem er sein Dasein in der Welt der Sprache durchleuchtet — als Denkender — und sein Dasein in Sprache deutet — als Dichtender" (ebd.: 179). Danach hat die Sprache drei Grundfunktionen: (1) die Kommunikation mit anderen Menschen (das „Gespräch") (2) die Darstellung von Sachverhalten (die „Darstellung") und (3) das Nachaußendringen innerer Zustände (die „Äußerung"). Nach diesen Gesichtspunkten werden die Aufgaben nicht nur auf die drei Schulstufen verteilt, sondern innerhalb dieser wiederum aufgeteilt. In einem solchen Lehrplan verliert die herkömmliche Differenzierung des Deutschunterrichtes in Aufsatzunterricht, Unterricht im mündlichen Ausdruck, Literaturunterricht und Grammatikunterricht ihre Bedeutung. Das Gespräch, die Darstellung und die Äußerung werden sowohl mündlich als schriftlich geübt, in der Literatur aufgesucht und in der Grammatik verständlich gemacht: „Wir unterscheiden nicht Sprecherziehung und Schreiberziehung, sondern Erziehung zum sprachlichen Darstellen, zu sprachlicher Auseinandersetzung usw. und richten die Übungen in Sprechen, Schreiben und Lesen jeweils auf das übergeordnete Ziel der Spracherziehung aus" (ebd.: 208). Darum möchte
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Erika Essen auch nicht von „Aufsätzen" oder „Aufsatzunterricht" sprechen: „Denn der Begriff des Aufsatzes und der Aufsatzerziehung ist immer problematisch gewesen und hat Anlaß zu verhängnisvollen Fehlentwicklungen gegeben. Wozu sollen die Schüler lernen, ,Aufsätze' zu schreiben? Sie sollen lernen, den Aufgaben des Lebens, soweit sie das Sprachhandeln angehen, zu entsprechen. Das heißt — kurz umrissen —, daß sie fähig werden sollen, in Sprache darzustellen, sich in Sprache auseinanderzusetzen, in Sprache aus eigenem heraus frei zu entwerfen, Sprachgebilde zu verstehen und zu beurteilen" (ebd.). Darum spielen die Stil- und Darstellungsformen in diesem Entwurf nicht die Rolle, die ihnen sonst oft beigemessen wird: „Sinn der Darstellung in Sprache bleibt ( . . . ) immer die bewußte Durchdringung der sichtbaren Welt, nicht der Erwerb einer ,Beschreibungstechnik'. Der Schüler lernt beschreiben, um sehen und erkennen zu können" (ebd.: 125).
2. Die Durchsetzung des sprachgestaltenden Aufsatzes (1956-1965) Von den verschiedenen Strömungen und Richtungen, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch eine Rolle gespielt haben, konnten sich in der zweiten Hälfte nur noch zwei behaupten. Sie bestimmten von nun ab die Diskussion in der Aufsatzdidaktik. Die eine geht auf Walther Seidemann zurück, die andere letztlich wohl auf Fritz Rahn, auch wenn ihre Wurzeln weiter zurückreichen dürften (s. dazu unten). Die eine stellte in den Mittelpunkt der Aufsatzlehre das schöpferische Moment beim Schreiben, die andere das gestalterische. So hat die eine Richtung sich selbst als Vertreterin des „sptzchschaffendeti Aufsatzes", die andere des „sprachgesta/tenden Aufsatzes" bezeichnet. Beide betonten sowohl die Bedeutung der schöpferischen als auch die der gestalterischen Momente. Dennoch gibt es Unterschiede, die es geboten erscheinen lassen, von zwei unterschiedlichen Richtungen innerhalb der Aufsatzdidaktik der fünfziger und sechziger Jahre zu sprechen. Wenn ich im folgenden vor allem die Unterschiede herausarbeite, bin ich mir bewußt, daß dies auf Kosten der Gemeinsamkeiten geschieht. Es scheint mir jedoch notwendig zu sein, die Unterschiede zu betonen, da diese bisher zu wenig beachtet und selbst von den Vertretern sowohl der einen wie der anderen Richtung nur selten deutlich genug gesehen worden sind. Wenn Walther Seidemann von Gestaltung spricht, dann meinte er in erster Linie den Gestaltungsvorgang, d. h. die „wechselseitigen Gestaltungen von Inhalt und Form" (W. Seidemann 1927/1965: 27): „Der Inhalt wirkt gestaltend auf die äußere Form, die nach ihm umgebildet wird, und die äußere Form
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beeinflußt gestaltend den Inhalt, indem durch sie nur bestimmte Merkmale festgehalten werden" (ebd.: 23). Worauf es ankam, war der schöpferische Augenblick, in dem Inhalt und Form einander berühren, und vor allem der Vorgang, durch den sie sich gegenseitig in Übereinstimmung bringen. Seidemann konnte darum auch von einem „Gestaltungserlebnis" sprechen, „in welchem Stoff und Form in ihrem Verhältnis zueinander schöpferisch ergriffen werden" (ebd.: 87 f.). Genau dieses „Erleben der schaffenden Gestaltungsvorgänge" sei, so meinte Seidemann, „das Geheimnis der Aufsatzbildung" (ebd.). Gegenüber dem schöpferischen Ereignis beim Schreiben mußte die Bedeutung der Formen und Stoffe, die sonst in der Aufsatzdidaktik die Hauptrolle spielten, zurücktreten. Regeln, nach denen die Aufsätze anzufertigen seien, hatten in einer solchen Konzeption dann überhaupt keinen Platz mehr: „Dem lebendigen Wesen der Sprache würde es widerstreiten, wenn die innere Sprachbildung in die Fesseln kleiner Vorschriften festgelegt werden sollte. Freie Bewegung im Geiste großer Grundsätze ist ihr Bedürfnis" (ebd.: 43). Eben diese „freie Bewegung im Geiste" vermißt man bei der Rahnschen Position: „Im Aufsatz soll der junge Mensch eigene, durch Beobachtung, Empfindung oder Nachdenken erworbene selbsterlebte Gehalte in sprachliche Form bringen", so Fritz Rahn schon 1938 (F. Rahn 1938/1941: 3). Nach 1945 wurde das Moment angestrengter Arbeit beim Schreiben noch stärker betont. Der Aufsatz eines Schülers sei „das Ringen seines Sprachvermögens mit einem unverrückbaren Gegenstand" (F. Rahn/W. Pfleiderer 1951: 47), das Ergebnis der Tatsache, daß ein „geistige(r) Gehalt in sprachlicher Darstellung ausgeformt wird" (ebd. 1951: 2). Ziel des Aufsatzunterrichtes sollte es sein, „durch fortschreitende Beherrschung der technischen Vorgänge eine gewisse Freiheit der selbständigen Gestaltung zu erreichen" (ebd. 1952: 6). Hier sind sowohl die Gehalte als auch die sprachlichen Formen vorgegeben. Es kommt nicht auf ihre „wechselseitigen Gestaltungen" an, wie überhaupt das „Gestaltungserlebnis" keine Rolle spielt. Das Schöpferische wird auf die „Ausformung" vorgegebener Stoffe in vorgegebenen sprachlichen Mustern reduziert. Im einen Fall steht das Ereignis der Sprachwerdung im Mittelpunkt des Aufsatzschreibens: „Die innere Sprachbildung erzieht zum Nachschaffen des Sprachvorganges" (W. Seidemann 1927/1965: 31), im anderen Fall die Aneignung fester, vorgegebener Stilformen und — die „zielstrebige Arbeit — solange wenigstens, bis die Grundformen beherrscht sind" (F. Rahn 1938/ 1941:5). Der sprachschaffende Aufsatz Man sollte annehmen, daß die ganz auf die innere Sprachbildung des jungen Menschen abzielende Konzeption des sprachschaffenden Aufsatzes der bildungstheoretischen Orientierung der zeitgenössischen Pädagogik (s. oben)
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entgegengekommen wäre. Das ist zweifellos auch der Fall gewesen, und nur so läßt sich die Beachtung erklären, die die Arbeit von Walther Seidemann in den fünfziger und sechziger Jahren erfahren hat (vgl. XI.1). Man kannte „den Seidemann", man bezog sich auf ihn, man referierte ihn, doch insgesamt sind seine Ideen nur von wenigen Aufsatzdidaktikern aufgenommen worden: hier und da einmal in einem Zeitschriftenartikel (H. Brüstle 1957; H. Sulzbacher 1960; H. H o p p 1960; K. Gerth 1962), einmal auch im Zusammenhang mit einem Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Aufsatzunterrichtes (H. Pröve 1950), aber nur zweimal im Rahmen umfangreicherer Darstellungen. 1951 haben zwei Autoren die Vorstellungen Seidemanns, die dieser vornehmlich für das Gymnasium entworfen hatte, für den Unterricht an den Volksschulen ausgearbeitet (A. und E. Kern 1951). Nie mehr ist das Schöpferische in den Aufsätzen junger Menschen, auf das es Seidemann so sehr ankam, so klar und kompromißlos herausgestellt worden wie hier: „Es sind vorwiegend aktivschöpferische Leistungen, die hier vollzogen werden (...). Das Ergebnis ist darum jeweils eine sprachliche Neugestaltung im wahren Sinne des Wortes. Es handelt sich um freischöpferische Hervorbringungen neuer Wörter, neuer sprachlicher Bilder schlechthin" (ebd.: 82). „Sprachschöpferischer Unterricht" heißt darum zurecht der Titel ihres Büchleins. Wie fremd solche Gedanken damals den Zeitgenossen letztlich doch gewesen sind, zeigt die Tatsache, daß die Seidemannschen Ideen so gut wie nicht zur Anwendung gekommen sind. Karl Reumuth hatte die Seidemannschen Vorstellungen bereits in der Zeit des Dritten Reiches in einer eigenen Interpretation vorgestellt (K. Reumuth 1941, vgl. Kap. X). Das Büchlein wurde 1950 noch einmal, von einigen Konzessionen an die Nationalsozialisten befreit, abgedruckt, und von diesem Abdruck sind dann mehrere Auflagen erschienen — ein Indiz dafür, daß es Erfolg hatte. Die Tatsache, daß Seidemann in der Fassung, die Reumuth seinen Gedanken gegeben hatte, rezipiert wurde, läßt sich leicht erklären. Zwar sprach auch Reumuth wiederholt noch von sprachlichen „Schöpfakten", doch wurden diese als Gestaltungen von Texten und nicht, wie Seidemann es verstand, als „ein Nachschaffen des Sprachvorganges" begriffen: „Die Kinder müssen das kleine Sprachwerk zur letzten jeweils möglichen Bündigkeit bringen; sie sollen auch bei dieser Arbeit den Vollendungswert erleben" (K. Reumuth 1950: 44). Aus der Sprache wurde das Sprachwerk, aus dem „Gestaltungserlebnis" das Erlebnis des „Vollendungswertes". Reumuth interpretierte also den sprachschaffenden Aufsatz im Sinne des sprachgestaltenden Aufsatzes und ebnete auf diese Weise die Unterschiede, die ursprünglich zwischen den beiden Konzepten bestanden hatten, ein Stück weit ein. Der sprachschaffende Aufsatz war auf dem Wege, sich dem sprachgestaltenden anzunähern.
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Der Aufsatz der Nachkriegszeit: Der sprachgestaltende Aufsatz
Der sprachgestaltende Aufsatz Im Verlauf der fünfziger Jahre hat sich die Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes zunehmend durchgesetzt. Folgende Merkmale dürften für sie charakteristisch sein: (1) die Rolle, die der Gesichtspunkt der Gestaltung in den didaktischen und methodischen Entwürfen spielt; (2) die Bedeutung, die bei der Gestaltung den Aufsatzformen beigemessen wird; (3) die Beschränkung möglicher Aufsatzformen auf einen weitgehend kanonisch gewordenen Bestand von etwa fünf oder sechs Grundformen; (4) deren Charakterisierung als „Schulungsformen", und schließlich (5) der Aufbau und die Durchführung eines strengen Lehrplanes von der ersten bis zur letzten Klasse. Legt man diese Kriterien an die verschiedenen Didaktiken und Methodiken zum Aufsatzunterricht an, die in der Nachkriegszeit erschienen sind, dann zeigt sich, daß bereits vor 1950 einige Arbeiten Züge des sprachgestaltenden Aufsatzes erkennen lassen, daß in den fünfziger Jahren jedoch die wichtigsten Arbeiten eben dieser Richtung zugerechnet werden müssen: auf jeden Fall die Arbeiten von Rahn und Pfleiderer (1950 — 1952) sowie die von Georg Kühn (1953), mit Einschränkungen auch die von Robert Ulshöfer (1952 ff.) und Erika Essen (1956), und daß endlich in den sechziger Jahren so gut wie alle Arbeiten dem sprachgestaltenden Aufsatz verpflichtet sind. Die Arbeiten, die vor 1950 erschienen sind und bereits zum sprachgestaltenden Aufsatz gerechnet werden können, zeichnen sich durch eine gewisse Unentschiedenheit aus, ein Schwanken zwischen den Positionen. Doch überwiegt in ihnen die Tendenz zu Vorstellungen, die später mit dem sprachgestaltenden Aufsatz verbunden wurden. Josef Tille (1950), ein Österreicher, knüpfte noch einmal am freien Aufsatz der Aufsatzreformer an, stellte aber die Stoffgestaltung in den Mittelpunkt der Aufsatzarbeit: „Es kommt nicht so sehr darauf an, was und worüber die Kinder schreiben, sondern wie sie schreiben" (J. Tille 1950: 25). Franz Fahnemann (1947) bezog sich sowohl auf Walther Seidemann als auch auf Fritz Rahn, sprach sowohl vom „sprachschaffenden" als auch vom „sprachgestaltenden Aufsatz" und betonte einmal mehr den Gesichtspunkt der Schöpfung, ein ander Mal mehr den der Gestaltung. Heinrich Pröve (1950) war überzeugt, „daß wir im Augenblick einen Stand der Aufsatztheorie erreicht haben, der seinem Wesen recht nahekommt" (H. Pröve 1950: 84). Er hatte die Rahnsche Aufsatztheorie im Sinn, und so stellte er sich — wohl als erster — entschieden in die Tradition, die im Dritten Reich begründet worden war und Grundlage des sprachgestaltenden Aufsatzes werden sollte. Die Arbeiten von Tille, Fahnemann und Pröve belegen, daß es nicht erst der „Methodik" von Rahn und Pfleiderer (1950)
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bedurfte, um die nationalsozialistische Aufsatzlehre nach 1945 in die des sprachgestaltenden Aufsatzes einmünden zu lassen. Andere hatten das bereits besorgt. Zehn Jahre später, am Ende der Adenauer-Ära, hatte sich die Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes endgültig durchgesetzt. Das wird eindrucksvoll durch die Tatsache belegt, daß alle aufsatztheoretischen Entwürfe der sechziger Jahre, deren es eine stattliche Anzahl gab, sich dem sprachgestaltenden Aufsatz verschrieben hatten. Im Grundsatz stimmte man überein, in der Betonung und Ausarbeitung einzelner Aspekte ging man aber auseinander. Kurt Singer (1966) steht Josef Tille nahe, doch führt er nicht, wie dieser, vom freien zum sprachgestaltenden Aufsatz, sondern geht den umgekehrten Weg. Er unterzog Fehlentwicklungen des sprachgestaltenden Aufsatzes einer vorsichtigen Kritik: „So treffen wir unter ,sprachgestaltendem Aufsatz' Unterrichtsformen an, die deutlich den Charakter des gebundenen Aufsatzes tragen" (K. Singer 1966: 12), verwies auf „jene belebenden Elemente (...), die der freie Aufsatz brachte" (ebd.) und propagierte eine Verschmelzung beider Aufsatzkonzeptionen im „sprachgestaltenden freien Aufsatz" (ebd.). Der Beitrag von Theo Marthaler (1962) besteht in einer klaren Gliederung und Fixierung der Aufsatzarten. Seine Grundsätze sind die folgenden: „Eine gute Ordnung der Aufsatzarten ist notwendig" (T. Marthaler 1962: 30), „es gibt sechs Aufsatzarten" (ebd.) und — „mehr oder weniger als sechs Aufsatzarten kann es logischerweise nicht geben" (ebd.: 32). Spätestens von nun an wird die Tafel der Aufsatzarten kanonisch: Bericht und Erzählung, Beschreibung und Schilderung, Abhandlung und Betrachtung. — Alexander Beinlich (1961) hat in einem umfangreichen Lexikonartikel die Ergebnisse der aufsatzdidaktischen und aufsatzmethodischen Forschung vor allem aus dem Blickwinkel des sprachgestaltenden Aufsatzes dargestellt, Oswald Beck in einem zweibändigen Werk (1966 und 1969) Möglichkeiten der Arbeit am Aufsatz in der Volksschule aufgezeigt. Für beide Autoren waren die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen von Bedeutung. So versuchten sie nicht nur den Aufsatzunterricht in den Verlauf der natürlichen Sprachentwicklung einzupassen, sondern auch die Berechtigung der tradierten und inzwischen kanonisch gewordenen Aufsatzarten aus der kindlichen Entwicklung abzuleiten und zu rechtfertigen. — Dagegen stellte Hermann Helmers (1966) zurecht fest, daß alle sprachlichen Formen und also auch die Aufsatzformen nur „Normen" sind, „die von der Sprachgemeinschaft gesetzt worden sind und gesetzt werden" (H. Helmers 1966: 17) und also „die Annahme von allgemeingültigen Darstellungsformen (...) nicht haltbar erscheint" (ebd.: 181). Daß er dennoch davon die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gestaltungen ausnahm und als zeitenthobene „Darstellungsgrundformen" (ebd.) betrachtete, kann man heute nur noch als eine Konzession an den Geist des sprachgestaltenden Aufsatzes bezeichnen.
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Der Aufsatz der Nachkriegszeit: Der sprachgestaltende Aufsatz
Die Arbeit von Rolf Sanner (1964/1976) markiert bereits schon den Übergang zu einer neuen Konzeption vom Aufsatzschreiben. Er blieb bei den Aufsatzformen, die durch die Tradition des sprachgestaltenden Aufsatzes festgeschrieben wurden, doch begründete er sie anders, als es in dieser Tradition üblich war. Entscheidend war für ihn die kommunikative Absicht des Schreibers. „Entscheidend ist (...), ob ich informieren, in Kenntnis setzen will (dann berichte ich), ob ich durch sprachliche Vergegenwärtigung ein inneres Beteiligtsein des Zuhörers im Sinne von Spannung und Lösung erstrebe (dann erzähle ich), oder ob ich im weitesten Sinne belehren will (dann beschreibe ich), oder ob ich meinen Eindruck und mein inneres Gestimmtsein anläßlich der Darstellung eines Zustandes oder Vorgangs zum Ausdruck bringen möchte (dann schildere ich)" (R. Sanner 1964/1976: 26). Die Überlegungen Sanners, noch ganz im Rahmen des sprachgestaltenden Aufsatzes, zeigen bereits eine Öffnung dieser Konzeption zu einer Vorstellung von Aufsatzunterricht, die dann in den siebziger Jahren die aufsatzdidaktische Diskussion beherrschen wird.
3. Zur Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes Die Bezeichnung In den ersten Jahren nach dem Kriege gab es noch keine feste Bezeichnung für die Vorstellungen vom Aufsatzunterricht, die sich soeben entwickelten. Man sprach von dem „neuen Aufsatzunterricht" (J. Tille 1950: 15), von dem „modernen Typ des Aufsatzunterrichts" (P. Ficker 1950: 39) oder von der „gelenkten Aufsatzarbeit" (H. Pröve 1950: 107), um die Richtung anzudeuten, in der die Überlegungen liefen. Nur einmal taucht der Ausdruck „sprachgestaltender Aufsatz" vor 1952 auf: „da jeder Inhalt die ihm gemäße Form der Darstellung verlangt, gibt es keinen allgemein festgelegten Stil, der für jeden Stoff passend ist, sondern jeweils nur den einen, der dem bestimmten Stoff entspricht (...). Darin ist also der sprachschaffende oder sprachgestaltende Aufsatz ein gebundener Aufsatz: gebunden an das Stilgesetz des gewählten Stoffes" (F. Fahnemann 1947: 67). Die Bezeichnung wird hier noch nicht als Terminus verwendet, eher als eine Erläuterung zu „sprachschaffend". Als Terminus der Aufsatzlehre wurde die Bezeichnung „sprachgestaltender Aufsatz" von Heinrich Geffert eingeführt (vgl. J. Prestel 1956: 73; K. Gerth 1963: 76). „Der neue Aufsatzunterricht", so schrieb Geffert 1952, „will den Gestaltungswillen des Schülers wachrufen, seinen Sinn für die einzelnen Darstellungsformen wecken und seinen Wortschatz erweitern und gliedern; man kann hier daher von dem sprachgestaltenden Aufsatz sprechen" (H. Geffert 1952: 5; vgl. auch ebd.: 11).
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Die Bezeichnung „sprachgestaltend" ist in Analogie zu „sprachschaffend" (W. Seidemann) gebildet, doch, wie sich zeigen wird (s. dazu unten), anders zu interpretieren. „Sprachschaffend" ist ein Aufsatz, wenn es dem Schüler gelingt, einen sprachlichen Ausdruck entweder „nachzuschaffen" oder neu zu bilden. Sprache ist in diesem Fall das Objekt eines Schöpfungsaktes, die Gestaltung nur das Mittel. Bei dem Ausdruck „sprachgestaltend" ist es genau umgekehrt; die Gestaltung ist das Objekt und die Sprache das Mittel. Ein Aufsatz ist also dann „sprachgestaltend", wenn der Schüler mithilfe von Sprache Gestaltungen von Texten zustande bringt. Die Tatsache, daß die Analogie auf die Ausdrucksseite beschränkt ist und sich nicht auch auf die Inhaltsseite erstreckt, hat zu einigen begrifflichen Irritationen und Unklarheiten geführt. Da nicht zwischen Texten und Sprache unterschieden wurde, konnte man „sprachgestaltend" als synonym mit „sprachschaffend" betrachten (vgl. F. Fahnemann 1947: 67). Oder man hielt den Ausdruck „sprachschaffend" für eine unglückliche Formulierung, die im Grunde nicht mehr als „sprachgestaltend" zum Ausdruck bringen wollte. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein Schüler in der Lage sei, sprachschöpferisch wirken zu können. In beiden Fällen wurde der Ausdruck „sprachschaffend" in Analogie zu „sprachgestaltend" interpretiert und damit der Anspruch, der in ihm zum Ausdruck kam, verdeckt.
Der Begriff der Gestaltung Im Zentrum der Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes steht der Begriff der Gestaltung. Dieser Begriff wird aber nicht einheitlich verwendet. Unklar bleibt, auf welches Objekt sich der Gestaltungsvorgang bezieht. Zuweilen wird der Begriff der Gestaltung auf die Form einer sprachlichen Äußerung bezogen, also auf den Text der Aufsätze. Gestaltet wird dann ein Gegenstand: die sprachliche Äußerung, und das Mittel dazu ist der Stoff: „der moderne Aufsatzunterricht sieht den Aufsatzstoff vor allem als Mittel der stilistischen Kräfteschulung. Es kommt nicht so sehr darauf an, was und worüber die Schüler schreiben, sondern wie sie schreiben" (J. Tille 1950: 25). Der Begriff der Gestaltung kommt dann dem der Formung nahe: „Gestaltung von Sprache (gemeint ist der Text O. L.) bedeutet also im besonderen eine Art des Formens, in welcher die gedankliche Intention die sprachlichen Elemente vollkommen durchdringt und sie zu einem zwingenden Ganzen organisiert" (H. Helmers 1966: 171; vgl. auch A. Beinlich 1961/1969: 414). Meistens wird aber das Verhältnis umgekehrt bestimmt. Gestaltet wird dann nicht der Text, sondern ein Stoff, und das Mittel dazu ist die Sprache: „Es handelt sich also um ein Gestalten des Stoffes mittels der Sprache" (J. Munique 1950: 8). In dieser Verwendung steht der Begriff der Gestaltung dem der sprachlichen Darstellung eines Sachverhaltes nahe: „Für uns ist jedes Sagen,
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auch das bescheidenste, ein einmaliges Fertigwerden mit der Sache, um die es geht, und dieses Fertigwerden geschieht in ihrem sprachlichen Darstellen" (H. Pröve 1950: 106; vgl. auch F. Fahnemann 1947: 51; G. Kühn 1948/1949: 19; F. Rahn/W. Pfleiderer 1951: 2 u.a.). Die Vorstellung, daß es letztlich doch um die Darstellung und Gestaltung eines Stoffes gehe und diesem Zweck die sprachlichen Formen dienen, wurde von den bedeutendsten Aufsatzdidaktikern des sprachgestaltenden Aufsatzes vertreten. So meinten Fritz Rahn und Wolfgang Pfleiderer: „Es gibt nicht bloß einen Weg von innen nach außen, vom Gehalt zur Form, sondern auch einen solchen von außen nach innen, von der Form zum Gehalt. Dies wurde und wird in jedem geschichtlichen Erziehungssystem von Rang seit jeher praktisch geübt" (F. Rahn/W. Pfleiderer 1951: 3). Ähnlich äußerte sich auch Georg Kühn: „Die Ordnungsbegriffe für die verschiedenen Aufsatzarten (...) bezeichnen die möglichen und notwendigen Gestaltungsweisen, in denen sich das Kind und der Heranwachsende äußert" (G. Kühn 1948/1949: 5); „sie machen deutlich, welche sprachliche Gestalt eine bestimmte Art der geistigen Leistung annehmen soll" (G. Kühn 1953: 50). Eine solche Auffassung von Gestaltung dürfte letztlich der Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes zugrundegelegen haben. Sie erlaubte eine klare Unterscheidung der didaktischen Ziele und der methodischen Mittel. Das didaktische Ziel war die Darstellung einer Sache, eines Gehaltes oder einer geistigen Leistung — sowie deren sprachliche Gestaltung. Der Weg zu diesem Ziel, die Methode also, ging über die Formen, die die Muttersprache zur Verfügung stellt: die Wortformen, Satzformen und auch Textformen. Die Aufgabe des Unterrichtes bestand darum vorrangig in der Einübung der sprachlichen Formen, da nur durch sie — so die Überzeugung der Vertreter des sprachgestaltenden Aufsatzes — die Darstellung und Gestaltung eines Sachverhaltes gelingen könne.
Die Stilübungen Im Unterricht wird sowohl am einzelnen sprachlichen Ausdruck als auch an ganzen Aufsätzen gearbeitet. Darum weist die sprachliche Gestaltung von Sachverhalten zwei Dimensionen auf: die Gestaltung einzelner Formulierungen und die Gestaltung ganzer Texte. Auf Anregungen von Wilhelm Schneider (1926), Hans Heinrich SchmidtVoigt (1928), Fritz Rahn (1930) und Georg Kühn (1930) hatten die Nationalsozialisten 1938 die beiden Bereiche der Gestaltungslehre, die bis dahin integriert betrieben wurden, organisatorisch voneinander getrennt: „Durch Vereinzelung und Abgrenzung der vielfaltigen Schwierigkeiten sollen hier (in den Stilübungen O. L.) die formalen Aufgaben des Aufsatzschreibens
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allmählich gelöst, der Aufsatzunterricht selbst von den eigentlichen stilistischen Aufgaben entlastet werden" (Erziehung und Unterricht in der Höheren Schule 1938: 41 f.). Die Trennung ist von den Aufsatzdidaktikern nach dem Kriege ohne Diskussion übernommen worden. Nur zweierlei hat sich geändert: Stilübungen wurden zur Gewohnheit und, in dem Maße wie sie Gewohnheit wurden, setzte sich die Einsicht durch, daß sie nicht hielten, was sie versprochen hatten; Kritik kam auf. Die Kritik an den Stilübungen ist nur einmal grundsätzlich geworden: „Sicherlich lernen dabei die Kinder viel, es geht mit ihnen aber ähnlich wie mit den Fingerübungen im Klavierspiel, das Musizieren kommt dabei zu kurz; der Virtuose braucht sie, wer sich aber mit einfachen Volksmelodien begnügt, kann sie zum großen Teil entbehren. Wir wollen keine Stilvirtuosen bilden, sondern junge Menschen, die schriftlich ordentlich, klar und möglichst fehlerfrei ausdrücken können, was sie zu sagen haben" (F. Fikenscher 1951/ 1969: 17). Man muß dabei allerdings berücksichtigen, daß der Verfasser der Arbeitsschule nahe stand (vgl. Kap. XI. 1) und kaum zu den Verfechtern des sprachgestaltenden Aufsatzes gerechnet werden kann. Wenn bei den Vertretern des sprachgestaltenden Aufsatzes Kritik laut wurde (F. Fahnemann 1947: 52 f.; G. Kühn 1953: 251; A. Beinlich 1961/1969: 460 ff.; R. Sanner 1964/1976. 36 u. a.), beschränkte sie sich auf die Praxis dieser Übungen, insbesondere der Wortschatzübungen.
Die Aufsatzformen Zwei Tatsachen bestimmen Ziel, Lehrplan und Methode des Aufsatzunterrichtes, der sich als den sprachgestaltenden bezeichnet hat: (1) Das Konzept setzt an der Formseite der Sprache an. Der Weg soll von den Formen zu den Inhalten führen. Die Formen werden eingeübt, damit Sachverhalte gestaltet werden können. (2) Nachdem die Arbeit an der Form einzelner sprachlicher Ausdrücke ausgegliedert worden war, war „der Aufsatz" nun nicht mehr „Stilübung, sondern der Ertrag von Stilübungen" (F. Rahn/W. Pfleiderer 1950: 6). Beide Momente erklären, daß sich nun der Aufsatzunterricht auf die Einübung von Textformen, also der Aufsatzformen, beschränken konnte. Im Mittelpunkt des sprachgestaltenden Aufsatzes stehen darum die Aufsatzformen oder — wie sie auch sonst bezeichnet werden — die Stil- oder Darstellungsformen. Es ist für die Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes charakteristisch, daß man sich nicht nur auf die Behandlung der Aufsatzformen beschränkte, sondern auch die Zahl der möglichen Aufsatzformen auf einen Kanon von vier oder sechs Darstellungsformen reduzierte. Die Bezeichnungen der einzelnen Aufsatzformen und zuweilen auch ihre Bestimmungen sind nicht immer einheitlich. Doch lassen sich stets zwei Reihen erkennen: eine Reihe, in der das
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schreibende Subjekt seinen Ausdruck finden sollte (Erzählung, Schilderung, Betrachtung bzw. Besinnungsaufsatz), und eine andere, die sich vornehmlich an der dazustellenden Sache orientierte (Bericht, Beschreibung, Abhandlung bzw. Erörterung). Die beiden Reihen selbst waren wiederum nach den dargestellten Gegenständen geordnet, und zwar in gleicher Weise. In Erzählungen und Berichten bezog man sich auf Geschehnisse, in Beschreibungen und Schilderungen auf Dinge oder Personen, in Betrachtungen (Besinnungsaufsätzen) und Abhandlungen (Erörterungen) auf Gedanken und Erkenntnisse. So entstand die folgende Systematik, deren klarste Ausprägung man bei Theo Marthaler (1962) findet: subjektbezogen
objektbezogen
Geschehnisse
Erzählungen
Berichte
Sachverhalte
Schilderungen
Beschreibungen
Gedanken
Betrachtungen (Besinnungsaufsätze)
Abhandlungen (Erörterungen)
Erzählungen, Berichte, Beschreibungen und Schilderungen waren der Volksschule vorbehalten, im Gymnasium kamen Besinnungsaufsätze (Betrachtungen) und Erörterungen (Abhandlungen) hinzu. In seinen Grundzügen war dieser Kanon bereits in den zwanziger Jahren ausgebildet worden (vgl. Kap. VIII). Die Nationalsozialisten übernahmen weitgehend, was sie vorfanden, gaben diesem jedoch einen amtlichen Charakter, indem sie es zum Bestandteil ihrer Bestimmungen über „Erziehung und Unterricht an der Höheren Schule" (1938) machten (vgl. Kap. X). Nach dem Kriege hat man die Aufsatzformen streng nach zwei Kriterien klassifiziert und damit erst ihre Ordnung schematisiert. Im übrigen aber blieb alles beim Alten. Die in den fünfziger und sechziger Jahren (zuweilen aber auch noch heute) verbindlichen Aufsatzformen sind also das Ergebnis ihrer Geschichte. Einen allgemeinen oder gar universellen Anspruch können sie nicht erheben.
Die Begründung der Aufsatzformen Kaum einer der Aufsatztheoretiker der fünfziger und sechziger Jahre hat die Aufsatzformen jedoch als das genommen, was sie waren. Eine Ausnahme bildet lediglich Hermann Helmers (H. Helmers 1966. 179), der nicht müde wird zu betonen, daß es sich um Normen handele und diese „von der Sprachgemeinschaft gesetzt worden sind und gesetzt werden" (ebd.: 17). Stattdessen wurden die verschiedensten Versuche unternommen, den Kanon der Aufsatzformen als allgemein gültig zu rechtfertigen.
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Unter den Rechtfertigungsversuchen lassen sich drei Typen unterscheiden: (1) pragmatische, in denen der Nutzen einer solchen Einstellung herausgestellt wird; (2) funktionale, mit denen der Versuch unternommen wird, die verschiedenen Aufsatzformen aus den wichtigsten Funktionen sprachlicher Kommunikation abzuleiten und (3) anthropologische, durch die ein Zusammenhang zwischen den Aufsatzformen und sogenannten „Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens" überhaupt hergestellt werden soll. (1) Schematische Übersichten dienen in der Regel dazu, einen schnellen Uberblick über ein von Komplexität gekennzeichnetes Gebiet zu vermitteln. Man sollte annehmen, daß dies auch die Absicht sowohl der Reduktion der tradierten Aufsatzformen, als auch ihrer Systematisierung war. Das mag ursprünglich vielleicht der Fall gewesen sein. Doch in den didaktischen Darstellungen spielte dieser Zweck kaum noch eine Rolle. Heinrich Pröve bemerkte eher beiläufig, daß die Aufsatzlehre mit ihrer Hilfe „einen geordneten Durchblick durch die sprachliche Wirklichkeit" (H. Pröve 1950: 102) erlaube. Etwas ausführlicher äußerte sich Georg Kühn: „Daß solche Typenbegriffe in der Aufsatzlehre nützlich, ja unentbehrlich sind, ist leicht einzusehen, wenn man sich klarmacht, was sie leisten. Sie schaffen innere Ordnung auf dem weiten Felde der Stilbildung" (G. K ü h n 1953: 50). Außerdem ließe sich auf einer solchen Systematik ohne weiteres ein Curriculum entwickeln: „Sie kennzeichnen überdies die einer bestimmten Altersstufe angemessene Leistungsform" (ebd.). Und schließlich seien sie auch von pädagogischem Wert, da eine klar definierte Aufsatzform den Schüler vor eindeutige Aufgaben stellte: „Als Stilform bergen sie Forderungen in sich; sie machen deutlich, welche sprachliche Gestalt eine bestimmte Art der geistigen Leistung annehmen soll und weisen damit der Stilbildung Weg und Richtung" (ebd.). Alle anderen Versuche, die Aufsatzformen zu rechtfertigen, setzten grundsätzlicher an. (2) Georg Kühn (1953), Erika Essen (1956) und Rolf Sanner (1964) haben die Aufsatzformen aus den Grundleistungen der Sprache abgeleitet, der eine deutlicher und entschiedener als der andere. Alle beziehen sich, ob ausdrücklich oder nicht, auf Karl Bühler, der in seinem Organonmodell diese Grundleistungen dargestellt hatte (1934). „Dreifach ist die Leistung der Sprache, die sich im Sprechakt vollzieht: Darstellung, Ausdruck und Appell; Darstellung in Bezug auf die Gegenstände und Sachverhalte, Ausdruck gesehen vom Redenden, Appell im Hinblick auf die Angesprochenen". Mit diesen Worten leitete Georg Kühn die Ausführungen zu seiner „Stilbildung in der höheren Schule" ein (G. Kühn 1953: 21). Bei dem „Aufbau der Stilformen" (ebd.: 47 ff.) selbst tritt dieser Gesichtspunkt jedoch in den Hintergrund, Kühn bevorzugte die gängigen Rechtfertigungsversuche, von denen im nächsten Abschnitt die Rede sein soll. Ähnlich wie Georg Kühn gründete auch Erika Essen den Deutschunterricht auf die Bühlersche Trias. Sie hob jedoch stärker
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den Handlungscharakter von Sprache hervor: „Da der Deutschunterricht lebt als Sprachhandeln, fragen wir nach dessen Grundformen. Sie erscheinen: als Ausdruck des eigenen Daseins, als Beziehung zum anderen Menschen, als geistiger Zugriff auf das sachlich Gegebene. Das Ich kommt in Sprache zur Äußerung, die menschliche Beziehung verwirklichen wir im Gespräch, das Gegebene begreifen wir, indem wir es in Sprache darstellen. Damit erfassen wir das sprachliche Grundverhältnis: Sprechender — Angesprochener — Besprochenes" (E. Essen 1956: 9). Für den Aufsatzunterricht war hauptsächlich die Darstellungsfunktion von Bedeutung. Insgesamt aber blieb auch bei Erika Essen der Bezug der Aufsatzformen auf die Grundfunktionen der Sprache noch recht locker. Am entschiedensten hat schließlich Rolf Sanner (1964) die Aufsatzformen aus den Bühlerschen Grundfunktionen abgeleitet. „Grundvoraussetzung" für einen Aufsatz ist „das allgemeine Wissen um die ,Sache' " (R. Sanner 1964: 26). Doch kommt es für Sanner bei der Bestimmung und Differenzierung der Aufsatzarten weniger auf die dargestellte Sache, als vielmehr auf „die intentionale Richtung des Mitteilens im Hinblick auf das Erwarten des Sprachpartners" (ebd.) an, also auf den Ausdruck des Schreibenden und die Wirkung auf den Leser: „Die einzelnen Arten sprachlicher Zuwendung" ergeben sich „von den Intentionen" her, „die wir mit unserer Darstellung verfolgen", und den „Grundverhaltensweisen, die wir jeweils im Hinblick auf den Sprachpartner einnehmen" (ebd.). Die Versuche, die Aufsatzformen systematisch aus den Grundfunktionen der Sprache, wie sie Karl Bühler entwickelt hatte, abzuleiten, blieben in der Nachkriegszeit vereinzelt und wohl auch ohne erkennbare Wirkung. Beliebt und verbreitet war dagegen der Versuch, die Aufsatzformen grundsätzlicher aus vermeintlichen anthropologischen Grundtatsachen zu rechtfertigen. Ich muß zeitlich etwas ausholen, um zeigen zu können, wie sich diese Auffassung gebildet hat. (3) 1925 hatte Theodor Steche in einer bekannten Abhandlung über „Neue Wege zum reinen Deutsch" unterschieden. — die „Edelsprache": die Sprache der Dichter und Schriftsteller — die „Zwecksprache": „die Sprache der gesamten Wissenschaft, weiterhin die amtliche Sprache, das heißt die Sprache der Politik und die der Behörden ( . . . ) , ferner die Sprache der Zeitungen, des Handels und alles schriftlichen Verkehrs, und endlich die Sprache der amtlichen, öffentlichen und sonstigen druckwürdigen Rede" (ebd.: 12 f.) — die „Umgangssprache": die Sprache des täglichen Lebens — die „Mundarten" — die „Ludersprache (Th. Steche 1925: 12 — 15). Wie man sieht, handelt es sich um „Anwendungsbereiche der Sprache" oder, wie sie Steche bezeichnet, um „Sprachzweige".
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Ein Jahr später erschien Wilhelm Schneiders „Deutscher Stil- und Aufsatzunterricht" (1926). Schneider fragte, „worauf die Zielsetzung des Aufsatzunterrichts sich zu gründen" (ebd.: 36) habe. Bei seiner Antwort bezog er sich auf die Ausführungen von Steche. Da in der damaligen Zeit die Umgangssprache für den Stil- und Aufsatzunterricht nicht in Frage kam, von der Ludersprache ganz zu schweigen (die Mundarten sind in Deutschland nie eine schriftliche Form der Sprache gewesen), kamen nur noch die „Edel-" und die „Zwecksprache" in Betracht. Schneider entschied sich für die Zwecksprache: „Was das Leben von uns und unseren Schülern fordert, ist die Beherrschung der ,Zwecksprache'" (ebd.: 3). Schneider reduzierte also die fünf Sprachzweige von Theodor Steche auf zwei, die „Dichtersprache" und die „Zwecksprache", wohl eingedenk, daß es zwar mehr Anwendungsbereiche der Sprache gebe, diese aber für den Stil- und Aufsatzunterricht nicht relevant seien. Wiederum ein Jahr später stellte Walther Seidemann kategorisch fest: „Die innere Sprachbildung unterscheidet zwei Hauptrichtungen des Sprachgestaltens, die Erkenntnissprache und die künstlerische Sprache. Jede hat, ihrem eigenen Zweck gemäß, ihre eigene Formweise; jede bedient sich in besonderer Art der einzelnen Sprachmittel und leiht ihnen damit wahren Sinn" (W. Seidemann 1927: 92). Aus der „Zwecksprache" war bei Seidemann die „Erkenntnissprache" und aus der „Edelsprache" die „künstlerische Sprache" geworden, und aus den beiden „Grundrichtungen des Sprachgestaltens" wurden dann zwei „Hauptgattungen von Aufsätzen" abgeleitet: „Ihrer Unterscheidung entsprechend kennt die innere Sprachbildung zwei Hauptgattungen von Aufsätzen, den Erkenntnisaufsatz und den künstlerischen Aufsatz" (ebd.). Der entscheidende Schritt zur Ablösung von der Sprache und zur Anthropologisierung des Begriffpaares findet sich dann drei Jahre später bei Georg Kühn (1930). Aus den „Sprachzweigen" Steches, den „Sprachgattungen" Schneiders und den „Hauptrichtungen des Sprachgestaltens" Seidemanns sind auf einmal zwei „Wertegebiete" und — noch deutlicher — zwei „Grundeinstellungen des Menschen zur Wirklichkeit" geworden. „Aufsatzarbeiten", schrieb Kühn 1930, „müssen so gestellt sein, daß sie eine überindividuelle, für die jeweilige Altersstufe sinn- und wertvolle Leistung ermöglichen. (...) Die Wertegebiete aber, unter deren Bedingung auch der Schüleraufsatz stehen muß, sind die jeder sprachlichen Darstellung, die der Erkenntnis und des Erlebens" (ebd.: 35). Hier sind die „Wertegebiete" noch „Bedingungen" der sprachlichen Darstellung. Was unter Bedingungen zu verstehen ist, wird an einer anderen Stelle deutlich: „Die zweifache Grundeinstellung des Menschen zur Wirklichkeit findet ihren Ausdruck in den beiden Hauptgruppen, der Erlebnisdarstellung und der Erkenntnisdarstellung" (ebd.: 149). Das heißt, es gibt nur zwei Grundeinstellungen des Menschen zur Wirklichkeit, das Erlebnis und die Erkenntnis. Da die Sprache des Menschen letztlich aber nur der Ausdruck von Grundeinstellungen sei, könne es also auch nur zwei
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Sprachformen geben, die Erlebnisgestaltung und die Erkenntnisgestaltung. Nach dem Kriege hat Georg Kühn diesen Gedanken wiederholt: „Zweierlei verbindet sich also in der sprachlichen Äußerung: die Aussage objektiver Sinngehalte und die Kundgabe persönlicher Besonderheiten: (...) Dank dieser Doppelseitigkeit ist die Sprache in der Lage und berufen, den beiden Grundeinstellungen des Menschen zur Wirklichkeit, dem Erleben und Erkennen, Ausdruck zu verleihen (G. Kühn 1953: 23). „Ihnen entsprechen als Grundgattungen des Aufsatzes die Erlebnisgestaltung und die Erkenntnisgestaltung" (ebd.: 49). Im Rahmen des sprachgestaltenden Aufsatzes ist die Rechtfertigung der Aufsatzformen, die wir bei Georg Kühn gefunden haben, geradezu die Regel geworden. Die Aufsatzformen, zumindest deren Aufteilung in eine subjektive und eine objektive Reihe, werden abgeleitet aus „Grundeinstellungen", „Grundhaltungen", „Grundgegebenheiten des Menschen", ihre Begründung ist also eine anthropologische. Die folgende Bemerkung Alexander Beinlichs möge für viele Belege stehen: „Die Formulierung der allgemeinen Zielsetzung weist bei verschiedenen Autoren keine volle Übereinstimmung auf. (...) Indessen zeichnet sich in den gewichtigen Arbeiten doch eine überwiegend übereinstimmende Grundauffassung wenigstens in Umrissen ab. Sie wird vom ganzen Menschen und von seiner Stellung in der Welt her definiert" (A. Beinlich 1961/1969: 412). Und: „Der Mensch verfügt grundsätzlich zunächst über zwei entgegengesetzte Weisen des Weltverhaltens: er durchlebt die Welt im Einswerden mit ihr in ganzheitlicher Hingabe, oder er schaut im Abstandnehmen auf Welt und Leben hin, um sie zu erfassen. Die eine ergibt eine subjektive, gefühlsbetonte, farbige, lebendig-rhythmische Sprache, die Erlebnissprache. (...) Die andere Grundhaltung ist Erkenntnishaltung mit der darauf bezogenen Erkenntnis-, Zweck- oder Sachsprache" (A. Beinlich 1961/1969: 413; im übrigen vgl. R. Ulshöfer 1948/1949: H. 5, 24 f.; H. Pröve 1950: 101 f.; H. Hopp 1960: 48 f.; auch H. Helmers 1966: 180 f.). Zu der anthropologischen Rechtfertigung gibt es noch zwei Varianten der Aufsatzformen. Die eine beruft sich auf die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und glaubt in der Sprachentwicklung von Kindern einen allmählichen Übergang von dem unmittelbaren Erlebnis zum analysierenden Erkennen feststellen zu können: „Die ursprüngliche (Grundeinstellung des Menschen zur Wirklichkeit O. L.), die des naiven Menschen und darum auch des Kindes, ist das Erleben. Es ist die selbstverständlichste Art, mit der der Mensch sich als fühlendes, wertendes und handelndes Wesen mit der Umwelt eins fühlt und sich in Raum und Zeit hineingestellt fühlt. (...) Anders der erkennende Mensch: Er löst die Dinge aus ihrer räumlich-zeitlichen Erlebnisfolge und sich selbst aus der Welt, stellt sich als Subjekt dem Objekt gegenüber (...) und steigt so zu Urteilen auf" (G. Kühn 1953: 23). Josef Munique spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Erbanlage"
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(J. Munique 1950: 9). Wiederum entspricht der kognitiven Entwicklung die sprachliche: aus der Erlebnissprache des Kindes, etwa bei Schuleintritt, wird allmählich die Erkenntnissprache. Die andere Variante ist der Charakteriologie geschuldet. Diese glaubte zwei Grundtypen unter den Schülern ausfindig machen zu können: den sogenannten Erlebnistyp und den logisch-formalen Typ. Dazu Alexander Beinlich: der Erlebnistyp „erlebt gegenständlich-anschaulich, greift ins volle flutende Menschenleben, lebt unmittelbar mit", der andere, der logischformale Typ bringe dagegen „Gliederungen und Begriffe" (A. Beinlich 1961/ 1969: 426 f.; im übrigen vgl. G. Kühn 1953: 66; H. Helmers 1966: 180). Wie auch immer man die Begründung der Aufsatzformen drehen und wenden mag, es handelt sich um vergebliche Bemühungen, historisch Gewordenes auf eine unhistorische Weise zu rechtfertigen. Man wird hinzufügen müssen: die Begründungen selbst sind, wie ihre Entstehungsgeschichte zeigt, Produkte der Geschichte und also Bestandteile einer Tradition, nicht mehr.
4. Zur historischen Einordnung des sprachgestaltenden Aufsatzes Wenn in den Darstellungen des sprachgestaltenden Aufsatzes auf seine Geschichte überhaupt Bezug genommen wird, dann wird das Bild einer Entwicklung vorgeführt, die in den zwanziger Jahren mit der Abkehr vom freien Aufsatz ihren Lauf nahm, sich ohne Friktionen oder Brüche durch die Zeit des Dritten Reiches hindurchzog und nach dem Kriege in der Konzeption des sprachgestaltenden Aufsatzes ihre endgültige Fassung fand. Mit dem sprachgestaltenden Aufsatz sei so die Synthese von gebundenem und freiem Aufsatz gelungen (so etwa A. Beinlich 1961/1969: 408). Ein solches Bild enthält zwei Implikationen: (1) die Annahme, als habe sich die Aufsatztheorie unberührt von den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 kontinuierlich weiter entwickelt, und (2) die Vorstellung, daß mit der Versöhnung von gebundenem und freiem Aufsatz diese Entwicklung ihren endgültigen Abschluß erreicht habe und damit — so muß man wohl schließen, auch wenn es nie so ausgesprochen worden ist — alle Probleme gelöst seien. Die Annahme einer kontinuierlichen Entwicklung der Aufsatzztheorie von den zwanziger Jahren bis in die fünfziger und sechziger erweckt den Eindruck, als habe das, was die Nationalsozialisten mit dem deutschen Aufsatz vorhatten, einer solchen Entwicklung nicht nur keinen Abbruch tun können, sondern sei auch ein notwendiger Beitrag dazu gewesen. Die Folge einer solchen Auffassung ist eine völlig unkritische Aufnahme dessen, was zwischen 1933 und 1945 über den Aufsatzunterricht gedacht, vorgeschlagen oder
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erlassen worden ist. So schreibt etwa Alexander Beinlich: „Ganz auf dem Wege Seidemanns folgt Reumuth mit seiner dynamischen Sprachbildung. Über diesen hinaus geht Rahn in seiner konkreten Wirkung auf die Stilarbeit der höheren und nachher auch der Volks- und Realschule. (...) Die Werke standen also ebenso entschieden auf dem Boden eines von innen her formenden Sprachgestaltens innerlich selbst erlebter Inhalte und Gehalte, wie dem des planmäßigen Vorgehens auch im Aufsatzunterricht durch ein ausgiebiges, zielstrebiges Üben im Rahmen des Einschulens ganz bestimmter Stilformen" (A. Beinlich 1961/1969: 411). Hier wurden unterschiedliche Arbeiten aus den zwanziger, dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren in eine Reihe gestellt. Was Beinlich geflissentlich übersieht, sind die Unterschiede und die Tatsache, daß Rahn es war, der den „Boden" allererst geschaffen hatte, auf dem der sprachgestaltende Aufsatz erwachsen konnte. Wer die Geschichte des sprachgestaltenden Aufsatzes so darstellt, setzt sich dem Verdacht aus, als sei ihm daran gelegen, nicht nur das, was im Dritten Reich mit dem deutschen Aufsatz geschehen war, zu verharmlosen, sondern auch die Spuren zu verwischen, die aus der Gegenwart zurück ins Dritte Reich führen. Natürlich kann man die Geschichte des sprachgestaltenden Aufsatzes, seine Herkunft und seine Entwicklung so darstellen, wie es seine Vertreter getan haben. Man kann aber erstens nicht behaupten, daß die Entwicklung „so kommen mußte", wie es etwa Beinlich getan hat (ebd.: 408). Sie hätte auch ganz anders verlaufen können. Wir sehen in dem sprachgestaltenden Aufsatz eine von mehreren Möglichkeiten, auf die Probleme zu reagieren, die sich mit dem freien Aufsatz in den zwanziger Jahren gestellt hatten. Das Problem war dieses: „Ein neues Stoffgebiet, wo man allerlei kindliche Themen finden kann, war der freie Aufsatz geworden, kein Mittel zur Sprachbildung. Das ist es: man weiß nicht recht was mit ihm anzufangen" (A. Jensen und W. Lamszus 1910: 12). Es ging also um Sprachbildung mithilfe von Aufsätzen. Alle Theorien des Schulaufsatzes haben sich seither mit den Problemen der Sprachbildung auseinandergesetzt, und alle haben eine Lösung der Probleme in der sprachlichen Gestaltung der Schüleraufsätze gesehen. Man kann zweitens auch nicht von einer Entwicklung sprechen, die im sprachgestaltenden Aufsatz an ihr Ziel gelangt sei. Alle neueren Theorien sind als das zu nehmen, was sie selbst sein wollten: unterschiedliche und verschiedenartige Versuche, den Ansatz, der mit dem freien Aufsatz gegeben war, in eine Aufsatztheorie zu überführen, die nicht nur die Kinder zum Schreiben brachte, sondern auch ihrer Sprachbildung diente. Bereits innerhalb des Kreises derer, die den freien Aufsatz forderten, gab es Bemühungen, den schriftlichen Ausdruck der Schüler durch Bearbeitungen zu formen (A. Jensen/W. Lamszus 1910; 0. Karstädt 1912; F. Gansberg 1914 u.a. m.). In der Arbeitsschule wurde Schreiben als Arbeit begriffen und die schriftlichen Gestaltungen etwa einem bearbeitenden Werkstück an die Seite gestellt. Wilhelm Schneider (1926) und Georg
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Kühn (1930) betrieben Stilbildung mithilfe von Aufsätzen. Für Walther Seidemann (1927) waren die Gestaltungen der Schüler ein Anlaß, ihre sprachschöpferischen Kräfte in Anspruch zu nehmen. Die Nationalsozialisten schließlich ließen durch die Gestaltungen der Schüler Haltungen einüben. In dieser Reihe ist der sprachgestaltende Aufsatz weder das Ziel einer Entwicklung noch die Summe der Erträge, sondern einer unter mehreren Versuchen, auf die Provokation des freien Aufsatzes zu reagieren. Wenn es eine Kontinuität in der Entwicklung gibt, dann kann man sie allenfalls zwischen dem sprachgestaltenden Aufsatz und dem „Aufsatz der Haltungen", wie ihn die Nationalsozialisten propagierten, erkennen: — dieselbe Trennung von Stilübungen und Aufsatzunterricht, — dieselben Aufsatzformen; — dieselbe Betonung eines geordneten und planmäßigen Vorgehens im Aufsatzunterricht; und wohl auch — ähnliche Vorstellungen von den Gestaltungsaufgaben des Aufsatzunterrichts. Es läßt sich auch nicht übersehen, daß der sprachgestaltende Aufsatz viele Berührungspunkte mit den Überlegungen von Georg Kühn aus dem Jahre 1930 aufweist, so daß nichts dagegen einzuwenden wäre, wenn man ihn als einen Vorläufer des sprachgestaltenden Aufsatzes bezeichnete. Gewiß bestehen auch Beziehungen zu Wilhelm Schneider (1926) und Walther Seidemann (1927). Beide können aber nicht schon als Vertreter oder Wegbereiter des sprachgestaltenden Aufsatzes angesehen werden, da sie ganz andere Absichten in ihrer Aufsatzlehre verfolgten. So ergibt sich ein Bild von der Entstehung und der Entwicklung des sprachgestaltenden Aufsatzes, das sowohl auf Kontinuitäten als auch auf Diskontinuitäten der Geschichte Rücksicht nimmt. Zweifellos besteht eine Kontinuität mit den aufsatztheoretischen Vorstellungen, die im Dritten Reich und zuvor von Georg Kühn entwickelt worden waren. Dennoch ist der sprachgestaltende Aufsatz weder mit der einen noch mit der anderen Konzeption identisch. Es handelt sich vielmehr um eine eigenständige Konzeption. Was sie auszeichnet, ist der bildungstheoretische Rahmen der bundesrepublikanischen Pädagogik und die in diesem Rahmen gewonnene Zielsetzung: sprachliche Bildung durch schriftliche Gestaltungen. Man hat dem sprachgestaltenden Aufsatz nachgesagt, daß er letztlich nur eine moderne Variante des alten Reproduktionsaufsatzes sei: „Der Wert solcher Arbeiten", so Artur und Erwin Kern (1951: 81), „ist im Hinblick auf unser gesamtes spracherzieherisches Ziel natürlich sehr bedeutsam, und ein guter Sprachunterricht wird hierauf nicht verzichten dürfen. Doch befinden wir uns hierbei noch völlig im Gebiet der geistigen Reproduktion". Ich glaube, daß eine solche Beurteilung nicht unzutreffend ist. Zwar haben sich
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Der Aufsatz der Nachkriegszeit: Der sprachgestaltende Aufsatz
Vertreter des sprachgestaltenden Aufsatzes dagegen verwahrt und darauf verwiesen, daß die sprachlichen Formen keine leeren Hülsen, sondern das Produkt geistiger Arbeit seien. „Die Form" sei „von den Ur- und Grundgesetzen der menschlichen Sprache als eines Verständigungsmittels unter lebenden Geistern" abgeleitet und darum „selbst geisterfüllt" (F. Rahn/W. Pfleiderer 1951: 3), und „die Stilform" sei „eine innere Gestalt, in der sich eine bestimmte geistige Haltung sprachlich" verwirkliche (G. Kühn 1953: 3). Doch verfangen die Gegenargumente nicht. Denn der Vorwurf, letztlich doch ein Reproduktionsaufsatz zu sein, bezieht sich nicht auf die Formen als solche, sondern auf die Art ihrer Vermittlung im Unterricht. Dem Schüler werden die sprachlichen Formen vorgegeben, sie sind von ihm einzuüben, d. h. doch wohl zu reproduzieren. Insofern ist der Schüler nicht frei, sondern an sie gebunden. Frei ist er nur in ihrer Anwendung auf einen Stoff.
Grundzüge der Entwicklung des deutschen Schulaufsatzes Blickt man zurück auf mehr als dreihundert Jahre, in denen an Schulen schriftliche Ausarbeitungen in deutscher Sprache angefertigt wurden, auf die vielen verschiedenartigen Richtungen in der Aufsatzdidaktik und Aufsatzmethodik, denen wir oft bis ins Detail gefolgt sind, dann stellt sich die Frage, ob sich in dieser überaus verwickelten Geschichte nicht doch einige wenige Grundströmungen oder Grundzüge erkennen lassen, die zumindest eine Orientierung erlauben. In der Literatur gibt es zwei Versuche, die Geschichte des deutschen Schulaufsatzes zu periodisieren. Der eine stammt von den Reformpädagogen, der andere von Hermann Helmers (1966). Die Aufsat^reformer unterschieden zwischen dem „freien" und dem „gebundenen" Aufsatz. Später fügten andere noch den „sprachschaffenden oder sprachgestaltenden Aufsatz" hinzu. Die ersten Aufsatzreformer waren ausnahmslos Volksschullehrer. Sie propagierten eine Form von Aufsatzunterricht, in dem dem Schüler so viel Freiheit wie nur irgend möglich zugestanden werden sollte: den „freien Aufsatz". Den Aufsatzunterricht, den sie bekämpften, diskreditierten sie als „gebunden", d. h. als unfrei. Die Begriffe „gebundener Aufsatz" und „freier Aufsatz" waren also ursprünglich, wie H. Helmers zutreffend feststellt, „Kampfbegriffe" (H. Helmers 1966: 212). Eine Periodisierung der Aufsatzgeschichte war mit ihnen zunächst einmal nicht beabsichtigt. Wenn man von dem „gebundenen Aufsatz" sprach, meinte man die herrschende Praxis in der Voksschule, allenfalls den Aufsatzunterricht, wie er im 19. Jahrhundert in den Volksschulen üblich war. Erst als man dazu überging, den Begriff auch auf die Praxis des Aufsatzunterrichts an anderen Schulen anzuwenden, was spätestens in der bekannten Schrift „Unser Schulaufsatz, ein verkappter Schundliterat" (A. Jensen und W. Lamszus 1910) zu beobachten ist, gewann er eine neue Dimension. Der Begriff blieb auch hier, was er war — ein Kampfbegriff. Doch konnte er von nun an dazu benutzt werden, die Geschichte des Aufsatzunterrichts in zwei ungleiche Teile aufzuteilen. „Frei" war der Aufsatzunterricht, den die Reformer anstrebten, „gebunden" jede Art von Aufsatzunterricht, die diesem vorausgegangen war, wie unterschiedlich er im übrigen auch gewesen sein mochte.
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Später hat man die Notwendigkeit, sich entweder für einen freien oder für einen gebundenen Aufsatzunterricht entscheiden zu müssen, als unbefriedigend empfunden. So suchte man nach einer Synthese. Diese glaubte man in den zwanziger Jahren in dem „sprachschaffenden Aufsatz" (Walter Seidemann), in den fünfziger Jahren in dem „sprachgestaltenden Aufsatz" (Fritz Rahn) gefunden zu haben, und die Geschichte des Aufsatzunterrichtes in Deutschland stellte sich dann so dar: „gebundener Aufsatz" — „freier Aufsatz" — „sprachschaffender oder sprachgestaltender Aufsatz". Doch mit diesem Zusatz wurde die Periodisierung der Aufsatzreformer nicht besser. Zum einen ist eine solche Konstruktion, logisch gesehen, unglücklich. Zwischen „frei" und „gebunden" (unfrei) gibt es keine Vermittlung: tertium non datur. Entweder ist der „sprachschaffende oder sprachgestaltende Aufsatz" frei, oder er ist unfrei. In diesem Falle wäre er dem Typus des „gebundenen Aufsatzes" zuzuordnen, und dafür spricht, wie wir gesehen haben, einiges (vgl. Kap. XI). Zum anderen wird das Verfahren der Reformpädagogen nur verdoppelt. Wurde zuvor alles, was in der Geschichte des Aufsatzunterrichtes dem „freien Aufsatz" vorausgegangen war, als „gebunden" bezeichnet, so jetzt das, was auf ihn folgte, als „sprachschaffend oder sprachgestaltend". Auf eine Pauschalierung wurde lediglich eine zweite gesetzt. Hermann Helmers unterschied drei Epochen in der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes: die Epoche des „Imitationsaufsatzes", die Epoche des „Reproduktionsaufsatzes" und schließlich die des „Produktionsaufsatzes" (H. Heimers 1966: 2 1 2 - 2 1 6 ; vgl. auch J. Eckhart und H. Helmers 1980: 3 - 4 6 ) . Eine solche Einteilung steht den Auffassungen der Reformer näher, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Sie unterscheidet sich von der Periodisierung der Reformpädagogen durch die Tatsache, daß innerhalb der Phase des „gebundenen Aufsatzes", wie sie die Reformpädagogen bestimmten, eine Differenzierung vorgenommen wurde: der „gebundene Aufsatz" erscheint hier einmal als „Imitationsaufsatz" und dann als „Reproduktionsaufsatz". Dreh- und Angelpunkt der Periodisierung aber bleibt nach wie vor das Faktum des „freien Aufsatzes". Auch in der Charakterisierung der einzelnen Epochen steht Helmers den Reformern nicht ferne. Für ihn ist der Grad an Selbsttätigkeit, die der Schüler bei der Abfassung eines Aufsatzes aufbringen muß, das Kriterium zur Unterscheidung der verschiedenen Epochen. Der Gegenbegriff zur Selbsttätigkeit ist aber der Begriff der Gebundenheit. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß Helmers den Imitations- und den Reproduktionsaufsatz fast mit denselben Worten wie die Reformer beschreibt. Beim Imitationsaufsatz sei der Schüler an eine bestimmte Form fest gebunden: „an eine bestimmte Stilebene (Prosa Ciceros), an die durch die Aufgabe verlangte Stilform (ζ. B. Beweisführung), an einzelne feststehende Stilmittel (Redewendungen), an eine genau vorgeschriebene Weise des Erarbeitens" (ebd.: 214). Weniger stark
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sei dagegen die Bindung durch den Reproduktionsaufsatz gewesen: dieser „verzichtete auf das (...) allgemeine Stilmuster und schuf derart eine breitere Auslauffläche" (ebd.). Er ist, wie aus den Ausführungen Helmers hervorgeht, weitgehend mit dem „literarischen Aufsatz" identisch, also einem Aufsatz, der sich auf literarische Stoffe bezog, literarische Fragestellungen im Thema formulierte und die Fähigkeit des Schülers erforderte, mit literarischen Texten umgehen zu können. Im Produktionsaufsatz schließlich sei die Bindung am schwächsten, das Moment der Selbsttätigkeit dagegen am stärksten ausgeprägt: „Allgemeines Kennzeichen dieses Weges ist die Tendenz zu Gestaltungsweisen, die das Moment der Selbsttätigkeit stärker hervortreten lassen" (ebd.: 126). Im Produktionsaufsatz hat Helmers den freien Aufsatz der Reformer und den sprachschaffenden oder sprachgestaltenden Aufsatz derer, die sich für ihre Nachfolger hielten, zusammengefaßt. Vergleicht man die Periodisierung, die Helmers vorgenommen hat, mit der der Reformpädagogen, so stellt sich heraus, daß wir zwei Varianten ein und desselben Grundmusters vor uns haben. Helmers hat lediglich in das Schema der Reformpädagogen eine Unterscheidung eingefügt und eine andere zurückgenommen. Hinzugefügt wurde die Unterscheidung zwischen dem Imitations- und Produktionsaufsatz, zurückgenommen die zwischen dem freien und dem sprachschaffenden oder sprachgestaltenden Aufsatz. Es ist gewiß nicht abwegig, geschichtliche Entwicklungen in Phasen einzuteilen. Auch in der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes ist ein solches Verfahren bis zu einem bestimmten Maße nützlich, um die Grundlage der Entwicklung aufzudecken. Geht man nicht gleich von Aufsätzen, sondern von schriftlichen Ausarbeitungen allgemein aus, so ist es gewiß sinnvoll, eine Phase in der Entwicklung dieser Arbeiten, in der diese im Rahmen des Aufsatzunterrichtes angefertigt wurden, zu unterscheiden von einer anderen, in der sie Teil des Rhetorikunterrichtes waren. Die Zäsur zwischen diesen beiden Phasen liegt etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Man könnte von zwei Phasen in der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes sprechen, wenn die schriftlichen Arbeiten im Rhetorikunterricht bereits Aufsätze im strengen Sinne des Wortes gewesen wären. Da sie dies aber nicht waren, wird man den Rhetorikunterricht an den Gymnasien des 17. und 18. Jahrhunderts zumindest als Vorgeschichte des Aufsatzunterrichtes zu begreifen haben, gewissermaßen seine rhetorische Vorgeschichte. In der Geschichte des Aufsatzunterrichtes im engeren Sinne setzt der „freie Aufsatz" eine deutliche Zäsur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wie wir gesehen haben (vgl. Kap. 11), kann man alle Entwicklungen, die nach dem freien Aufsatz einsetzten, als Reaktionen auf die Provokation verstehen, die der freie Aufsatz ohne Zweifel bedeutete: den Erlebnisaufsatz
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der Persönlichkeitspädagogen, den Aufsatz der Arbeitsschule, den sprachschaffenden Aufsatz Walther Seidemanns, den sprachgestaltenden Aufsatz der Nachkriegszeit und auch den Aufsatz, den die Nationalsozialisten propagierten. Es dürfte aber kaum möglich sein, die verschiedenen Vorstellungen vom deutschen Aufsatz, die vor dem freien Aufsatz gefaßt worden sind, lediglich unter dem Gesichtspunkt des Kontrastes zu diesem (Aufsatzreformer) oder als Schritte auf dem Wege zu ihm hin (Hermann Helmers) zu bestimmen. Mit beidem wird man ihnen nicht gerecht. Angemessener wäre es schon, wenn man drei Phasen in der Entwicklung des deutschen Aufsatzes bis zum Aufkommen des freien Aufsatzes unterschiede: 1. die Phase der Einführung, zumindest an den Gymnasien (etwa von 1770 bis 1800); 2. die Phase der Konsolidierung: der Entwicklung einer eigenständigen Aufsatzdidaktik und -methodik, aber auch der Etablierung des Aufsatzunterrichtes in der Volksschule (etwa von 1800 bis 1845); 3. die Phase der Ausdifferenzierung und der Entwicklung verschiedener aufsatzdidaktischer Konzeptionen: des literarischen Aufsatzes (Robert Heinrich Hiecke), des Gedanken- und Verstandesaufsatzes (Ernst Laas), des Gesinnungsaufsatzes (Kaiserzeit) und schließlich einer Tradition in der Aufsatzdidaktik, die mit dem Namen von Rudolf Hildebrand verbunden ist. Eine solche Einteilung der Aufsatzgeschichte hat jedoch den Nachteil, daß mit ihr die eigentlich geschichtlichen Prozesse in der Entwicklung des Aufsatzunterrichtes nicht sichtbar gemacht werden können. Eine Darstellung, die die verschiedenen Traditionen in den Mittelpunkt der Aufsatzgeschichte stellt, scheint dazu besser geeignet zu sein. Der kategoriale Ansatz ist demnach durch einen überlieferungsgeschichtlichen zu ersetzen, zumindest aber zu ergänzen. Geht man überlieferungsgeschichtlich vor, so kann man global drei Entwicklungsschübe erkennen: 1. die rhetorische Vorgeschichte des deutschen Aufsatzes (s. oben): das 17. und etwa drei Viertel des 18. Jahrhunderts; 2. die Ablösung des deutschen Aufsatzes aus den rhetorischen Traditionen und die Begründung eigener Traditionen: letztes Viertel des 18. und das ganze 19. Jahrhundert; 3. die Vorstellungen, die der freie Aufsatz ausgelöst hat: 20. Jahrhundert. Diese Entwicklungen sind nicht als Phasen oder Etappen zu verstehen, sondern als Prozesse, die sich überlappen und teilweise lange Zeit nebeneinander her laufen. So ist der literarische Aufsatz, wiewohl im 19. Jahrhundert begründet, bis auf den heutigen Tag noch aktuell. Der Gesinnungs-bildende Aufsatz der Kaiserzeit fand seine Fortsetzung im „Besinnungsaufsatz" der
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vierziger und fünfziger Jahre. Die Ideen zum Aufsatzunterricht, die Rudolf Hildebrand in nur wenigen Zeilen hinterlassen hat, haben immer wieder zu schöpferischen Umgestaltungen geführt, am folgenreichsten im „freien Aufsatz" der Reformpädagogen, aber auch in den Vorstellungen Walther Seidemanns vom „sprachschaffenden Aufsatz", um nur zwei markante Beispiele zu nennen. So gesehen folgte auf die Einführung deutscher Aufsätze an den Schulen, der Ausbildung einer Aufsatzdidaktik und einer Aufsatzmethodik eine Entwicklung, die durch verschiedene Traditionen bestimmt ist und in der auch wir uns heute noch bewegen, Traditionen, die nicht nur nebeneinander bestehen konnten, sondern auch unterschiedliche Geschichten geschrieben haben. Sie repräsentieren das 19. Jahrhundert in der Geschichte des Aufsatzunterrichtes des 20. Jahrhunderts. Wenn ich mich nicht täusche, ist zu Beginn der siebziger Jahre eine neue Tradition begründet worden, die zweifelsohne, auch wenn es ihren Erfindern nicht bewußt ist, Momente aus der rhetorischen Tradition wieder aufnimmt, dennoch aber nicht als seine Fortsetzung begriffen werden kann: der „kommunikative Aufsatz". Aufsätze werden nun nicht mehr als Einübung bestimmter Aufsatzformen, wie im „sprachgestaltenden Aufsatz" noch, sondern als Produkte kommunikativer Handlungen begriffen: eingebettet in eine Situation, in der es einen Sinn hat zu schreiben; gerichtet an Personen, so daß, was geschrieben worden ist, auch gelesen werden kann; mit Folgen, die es beim Schreiben zu bedenken gilt. „Das ganze Umfeld, in dem Schreiben stattfindet" (B. Good und H. Sitta 1983: 7), sollte in den Blick genommen werden, und der Schüler sollte, indem er beim Schreiben der Aufsätze dies alles reflektiert, lernen, auch schreibend verantwortlich zu handeln (vgl. ebd.: 8). Es kann kaum zweifelhaft sein, daß wir es hier nicht mit einer Fortsetzung oder gar Variante des „sprachgestaltenden Aufsatzes" der Nachkriegszeit zu tun haben, sondern mit einer neuen Konzeption von Aufsatzunterricht. Alles ist hier anders: die Themen, die Formen, die Anlässe, die Motivation, der Zweck und — vor allem die Begründungen. Mit dem kommunikativen Aufsatz scheint ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Schulaufsatzes aufgeschlagen worden zu sein.
Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis enhält alle Schriften, die mir zugänglich waren, also nicht nur die in der Untersuchung zitierten. Insofern handelt es sich um eine erste Bestandsaufnahme der Literatur zum Aufsatzunterricht bis 1970, allerdings immer noch nicht um eine einigermaßen vollständige und darum zuverlässige Bibliographie. Es wurde darauf verzichtet, zwischen Quellenschriften und Schriften über den Gegenstand zu unterscheiden, da beide Arten in dem Maße, wie man sich der Gegenwart nähert, nicht mehr unterscheidbar sind. So stehen alle Schriften, die ich verwendet habe, alphabetisch nach Verfassern geordnet in einer Reihe. Bei ein und demselben Autor folgen sie chronologisch nach dem Erscheinungsjahr. Abels, Kurt: Zur Geschichte des Deutschunterrichts im Vormärz. Robert Heinrich Hiecke ( 1 8 0 5 - 1 8 6 1 ) - Leben, Werk, Wirkung, Köln, Wien 1986 Adamietz, Horst: Möglichkeiten der Schulzeitschrift. In: Pädagogische Provinz 5 (1951), 374-379 Adelung, Johann Christian: Über den Deutschen Styl, 2 Bde, Berlin 1785 Ahmeis, Herbert: Spracherziehung als innere Sprachgestaltung, ZfdB 11 (1935), 352 — 363 Albert, Wilhelm: Das Kind als Gestalter, Nürnberg 1923 - : Kindlicher Ausdruck. In: Die neue deutsche Schule 1 (1927), 48 — 58 —: Schulpraktische Meisterlehre: 1. Bd: Deutschunterricht, Nürnberg 1949 Alfes, Leonhard: Zum Besinnungsaufsatz: Bedingung und Bedenken, W W 10 (1962), 362-372 Alschner, Richard: Deutsch und Deutschkunde. 1. Teil: Auswertung der naturkundlichen Stoffgebiete, 2. Aufl. Leipzig 1928; 2. Teil: Auswertung der geschichtlichen Stoffgebiete, Leipzig 1926 Angermeier, Alfred: Bilder aus einem Aufsatzunterricht. Zum Grundsätzlichen. In: Blätter für Lehrerfortbildung 9 (1957), H. 4, 1 0 9 - 1 1 2 Anonym: Ueber deutsche Styl-Uebungen auf Schulen; nebst einer Aufforderung, eine Sammlung von Aufgaben dafür zu veranstalten. In: Kaiserlich privelegirter Reichsanzeiger Nr. 78 vom 22. 3. 1803, Sp. 1 0 2 5 - 1 0 2 9 — (Zauper, Joseph Stanislaus): Praktische Anleitung zur Redekunst mit sorgfältig gewählten Beispielen, Dresden 1829 —: Der Zeitgeist und die Gelehrtenschulen, Berlin 1829 Anrieh, Ernst: Neue Schulgestaltung aus nationalsozialistischem Denken. Stuttgart 1933 Anthes, Otto: Der papierene Drachen, Leipzig 1905 —: Der Literaturaufsatz. In: Der Sämann 1905, 329 ff. —: Der Schulaufsatz ein Kunstwerk. In: Der Sämann 1906, 189 ff. und 234 ff. —: Das Prinzip der Arbeitsschule, angewendet auf den deutschen Sprachunterricht. In: Erster deutscher Kongress 1912, S. 43—44 Apelt, Otto: Der deutsche Aufsatz in der Prima der Gymnasien, Leipzig 1883 —: Der deutsche Aufsatz in den oberen Klassen der Gymnasien, Leipzig 1910 Aphthonius: Progymnasmata, Amsterdam 1649
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Register Personenverzeichnis In das Verzeichnis sind nur die Namen der Verfasser von Quellenschriften sowie die einiger bekannter Persönlichkeiten aufgenommen worden, Schriftsteller (Schiller), Philosophen (Kant) und Wissenschaftler (Bühler). Adelung 137, 138, 151, 162, 163, 166, 178, 193, 202 Agricola 223 Albert 418, 421 Apelt 213, 215, 228, 242, 243, 246, 247, 248, 249 Aphthonius 8, 13, 14, 15, 18, 19, 21, 22, 76, 77 Anthes 306, 307, 314, 316, 317, 319, 323 Arendt 400, 418, 421 Aristoteles 7, 18, 22, 45, 127
Deinhardt 209, 211, 233, 239, 240, 243, 244, 250 Descartes 54, 56 Diesterweg 355 Dilschneider 158 Dilthey 316 Dittes 267 Döderlein 190 Dolz 111, 112, 113, 114, 116, 117, 118, 174, 179 Döring 288, 290, 300
Badhäuser 119 Basedow 126, 133, 167 Bayerl 423 Beck 435 Becker K. 358 Becker W. M. 274, 275, 276, 357 Beinlich 435, 437, 439, 444, 445, 446 Bernhardi 47, 163, 206, 207, 210, 215 Blättner 369, 374 Bock 368, 406 Bohse 53 Bojunga 354, 355, 357, 385 Bormann 278, 279 Braun 112, 119 Brenner 422 Breitinger 77, 173, 174, 175 Büchner 126, 129 Bühler 370, 441, 442 Bürger 141, 142, 202
Ebel 368, 369, 370, 373, 374, 386, 402, 406 Eichenauer 366 Engelmann 330, 332, 335, 336, 337, 340, 345, 349, 362, 424 Enzinger 341 Eschenburg 136, 167, 175, 178, 179 Essen 429, 434, 441, 442
Campe 130 Cicero 7, 18, 19, 22, 45, 66, 67, 127, 128, 130, 157, 216, 251 Cholevius 249, 250, 251 Colshorn 158 Commenius 30, 31, 32 Dahmen 367, 368, 399, 403 Davidts 385
Fabricius 72, 80, 85, 87, 89, 93 Falkman 123, 130, 143, 144, 150, 151, 158, 159, 160, 161, 162, 164, 165, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 179, 180, 181, 185, 186, 200, 206, 226, 230, 386 Fahnemann 418, 421, 434, 436, 437, 439 Fenelon 280 Ficker 436 Fikenscher 42, 439 Fischer 341 Francke 39, 40, 43 Freundenthal 366 Frick 365, 366 Freyer 53, 67 Fricke 132 Frischlinus 58, 63, 68 Fuchs 368 Fülleborn 127, 158, 160, 162, 164, 383 Funke 118
154, 168, 177, 215, 438,
496
Register
Gansberg 306, 314, 325, 327, 328, 333, 352, 446 Gaudig 322, 328, 329, 364 Gebhardt 422 Gedike 125, 139, 147, 169, 170, 173, 175, 177, 180, 230 Geffert 368, 436 Geliert 118, 119, 135 Gerth 433 Geyer 190, 191, 193, 209, 253 Giesebrecht 3, 4, 155, 170, 189, 190 Glaffey 133, 134 Goethe 231, 241, 243, 250, 251 Gottsched 22, 37, 45, 53, 71, 72, 7 5 - 7 7 , 78, 79, 81, 82, 83, 86, 87, 88, 89, 90, 92, 94, 133, 134, 169, 171, 173, 217, 231 Grabbe 185 Graf 288, 290 Greyerz 328, 341 Grimm 380 Günther 130, 171, 174, 176, 179, 1 8 3 - 1 8 6 , 207 Hänle 158, 160, 162 Hallbauer 35, 37, 55, 71, 72, 7 3 - 7 5 , 77, 78, 81, 82, 85, 87, 88, 90, 91, 92, 94, 98, 134, 169, 177, 202, 217, 218 Havenstein 307, 360 Hebbel 359 Hegel 140, 219, 223, 232 Heinsius 127, 158, 160, 162, 163, 164, 166, 172, 173, 174, 180, 210, 383 Hellpach 360 Helmers 435, 437, 440, 444, 445, 449, 450, 451, 452 Herbert 219, 329 Herberger 288, 290, 300 Herder 106, 117, 140, 141 Hehlmann 381, 383 Herling 168, 179, 383 Hermogenes 7, 19, 21, 22 Heynatz 237 Heywang 324, 328 Hiersche 154, 158 Hiecke 171, 173, 176, 193, 195, 207, 208, 209, 211, 214, 221, 236, 237, 2 3 8 - 2 4 2 , 245, 246, 249, 252, 254, 256, 284, 286, 300, 355, 452 Hildebrand 183, 194, 1 9 7 - 1 9 9 , 207, 213, 215, 216, 252, 291, 292, 293, 295, 305, 306, 310, 311, 315, 358, 423, 452, 453 Hoffmann 232 Hofstaetter 353, 354, 358, 361, 362 Hopp 433, 444 Hübner 53 Humboldt 346, 348 Hurtel 158, 162, 163, 164, 180
Ibel 365 Jacotot 238, 280, 282, 300 Jensen 306, 312, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 320, 321, 351, 446, 449 Juncker 53, 67, 85 Junker 272 Justi 135, 178 Kant 129, 138, 191 Karstadt 314, 324, 327, 333, 352, 368, 374, 446 Katzer 418, 421, 423 Kauenhowen 368 Kegler 368 Kehrein 158 Keller 242 Kellner 278, 281, 282, 283, 284 Kern 433, 447 Kerndörfer 132 Kerschensteiner 311, 322, 329, 364 Kiehn 365 Kindt 368 Klauke 193, 215, 224, 241, 245, 246, 253 Kleist 264 Klopstock 100 Kluger 374, 377 Knispel 130 Koch 202, 225, 228 Kock 190, 209 Korff 365 Köster 168 Krauß 288 Kühn 308, 340, 344, 3 4 8 - 3 5 0 , 352, 381, 406, 409, 419, 421, 423, 427, 438, 439, 441, 443, 444, 445, 446, 448 Kupfer 422 Laas 191, 1 9 9 - 2 0 1 , 210, 213, 214, 2 1 6 - 2 2 1 , 223, 224, 227, 229, 241, 250, 252, 253, 300, 452 Lagarde 303, 304 Lamszus 306, 312, 313, 314, 315, 316, 319, 320, 321, 327, 351, 421, 423, 449 Lange 70, 73, 76, 82, 85, 93 Lehmann 193, 200, 209, 214, 215, 224, 231, 232, 249, 253 Lenschau 358 Lessing 77, 107, 117, 239, 241, 243 Lichtenberg 141 Lichtwark 310 Linde 316 Linden 365, 366
369,
252,
362, 434, 447,
215, 248, 318, 446, 228,
Personen Verzeichnis Lindemann 394 Linke 341 Linning 209, 210, 211, 212, 217, 228, 230, 231, 232, 255 Lindner 175, 177, 202, 273, 288 Lippert 368 Litt 360, 361 Locke 1 0 8 , 1 0 9 L ü t t g e 288, 298 Marthaler 435, 440 Meierotto 117, 118, 120, 124, 125, 132, 139, 170, 237 Mehlem 366 Melanchton 223 M o m m s e n 167 Moritz 203, 217 Mühlich 128, 158 Müller H. 368 Müller L. 330, 332, 33, 334, 336, 337, 351, 424 Müller L. W. 423 Müller R. 368 M ü n c h 306, 310, 312, 314, 315, 316, 317, 341, 345 M u n i q u e 444 Muck 158 Nadler 288 Neukirch 84, 85, 135 Niemeyer 106, 127, 148, 149, 156, 169, 217 Nietzsche 303, 304, 306 N a u m a n n 232 O t t o 238, 254, 2 5 5 - 2 5 7 , 282, 283, 284, 300 Paul (Jean) 107 Peters 365 Petri 158, 180, 383 P f a n n e n b e r g 158, 166 Pfleiderer 368, 425, 426, 434, 438, 439, 448 Pölitz 138,158, 160,163, 164,168, 174,175, 179, 180, 185, 209 Preiß 367, 410 Priscian 22 Probst 366, 368, 269, 383, 409, 410 P r ö v e 418, 421, 434, 436, 438, 441, 444 Püllenberg 127, 128 Quintilian 7, 8, 9, 11, 15, 18, 20, 22, 45, 90, 127, 128, 130, 160 R a h n 308, 336, 368, 371, 372, 374, 376, 377, 379, 383, 384, 385, 387, 388, 389, 392, 397, 405, 406, 408, 409, 411, 414, 419,
497
420, 421, 423, 425, 426, 431, 432, 434, 438, 439, 448, 450 Ratke 2 4 - 2 6 , 27, 28, 29, 30 R a u h 329, 330, 331, 332, 333, 335, 337 R a u m e r 189, 221, 239, 285, 286 Reinhard 202 Resewitz 85, 104, 109, 110, 116, 118, 144, 145, 218 R e u m u t h 347, 367, 368, 371, 372, 373, 374, 375, 382, 390, 392, 400, 409, 420, 433 Richter 4 8 - 5 0 , 66, 70, 92 Ritsert 174, 210, 231 R o c h o w 106, 139, 276 R u p p 158 Sachse 293, 294 Sanner 436, 439, 441, 442 Schaaff 149, 154, 159, 163, 179, 180, 204, 210, 215, 226, 383 Schäfer 418 Scharrelmann 306, 307, 310, 314, 315, 316, 318, 319, 323 Schatz 75, 7 7 - 7 9 , 85 Schätzer 368 Scheller 141, 142 Schießl 295, 296, 297 Schiller 96, 100, 239, 241, 243, 251 Schleiermacher 154, 270 Schmeisser 128, 158 Schmidt K . 193, 207, 208, 239 Schmidt-Voigt 367, 368, 384, 387, 395, 396, 398, 399, 403, 404, 438 Schneider 308, 336, 3 4 1 - 3 4 4 , 345, 348, 349, 350, 362, 438, 443, 446, 447 S c h ö n b r u n n 308, 344 Scholz 276 Schröter 53, 60 Schubart 129 Schultze 132, 153, 209, 213, 220, 231, 232 S c h u p p 2 6 - 2 8 , 48 Schwerwinski 420 Seidemann 3 4 5 - 3 4 8 , 350, 352, 371, 424, 431, 432, 433, 434, 436, 443, 447, 450, 452, 453 Seifert 272, 273, 274, 275 Sennlaub 424 Seyffert 191, 293, 294, 296 Singer 435 Sintenis 158 Snell 202 Sprengel 353, 354, 355 Steche 344, 442, 443 Stiehl 286, 287 Strehl 214, 228 Stroh 380 Struve 98, 100, 104 Stulmann 318
498
Register
Sulzbacher 433 Sulzer 139, 217, 237 Tamm 144 Theon 7, 16, 21, 22, 76 Thielmann 174 Thiersch 156, 182, 183, 236, 237 Thomasius 37, 39, 42, 217 Tille 434, 436 Trapp 114, 115, 116, 120 Uhse 53, 56 Ulshöfer 419, 421, 428, 434, 444 Vietor 365 Vigelius 214 Villaume 110, 113, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 140, 141, 142, 145, 186, 195, 196, 202, 203, 215, 218 Vollbeding 111, 114, 115, 116, 118, 141
Wackernagel 194, 205, 215, 336, 349 Wegmann-Willing 423 Weiler 341 Weise 2 8 - 3 0 , 38, 39, 4 5 - 4 7 , 5 0 - 5 2 , 53, 54, 55, 56, 57, 58, 60, 61, 62, 66, 68, 71, 72, 73, 74, 77, 78, 79, 80, 84, 85, 86, 88, 92, 93, 169, 177 Weisgeber 380 Wendt 191, 200, 214, 215, 239 Wieland 165 Wilhelm (Kaiser) 262 Wilmsen 158, 161 Wisseler 156 Wurst 276, 277, 279, 280 Zerrenner 267, 274, 276 Zschokke 176 Zuckmayer 313, 314
Sachverzeichnis Abhandlung 9, 11, 12, 18 f., 21, 58 f., 91 f. 95, 101-104, 131, 148, 157, 164 166 f., 171 f., 177-179, 211, 213, 215, 230, 231 f., 248 f. 271, 281, 284, 325, 327 f., 332 f., 339, 343, 350, 376, 391, 440 Actio s. Rede Adressat s. Kommunikation Ästhetik 139, 162, 165, 233, 246, 252 f., 321 Affekt s. Gefühl Allgemeinbildung s. Bildung Alltag s. Leben Angemessenheit 52, 66, 88, 94 (s. Kommunikation) Anordnung s. Gliederung Anschauung 287, 299, 256 Appell s. Wirkung Arbeitsschule 308, 321-339, 356, 363 f., 369, 424, 446 Argumentation 76, 81, 91, 126, 158, 177, 227, 230, 232 Aufbau s. Gliederung Aufgabenstellung s. Themen Aufklärung 2, 71 f., 75, 80, 137, 177, 215, 217 Aufsatz 4f., 9.15, 38 f., 47, 48, 58-60.61 f., 6 2 - 6 5 , 68, 69, 9 4 - 1 0 4 , 123, 126, 131, 139 f., 143, 155, 163, 165, 166, 169, 176, 179, 186, 192, 195 f., 199, 209, 212, 215, 216, 234f., 251 f., 257-264, 269, 270, 275, 289, 307 f., 311, 313f., 315, 321, 343, 359f., 382, 392, 400 401 f., 402, 403, 405, 407 f., 410-413, 430 - : gebundener 207, 222, 252- 257, 302-308, 340, 342, 349, 353, 372, 373, 422 f., 435, 445, 447 f., 449 f. - : freier 51, 114f., 116f., 119f., 147, 183, 195, 196, 207, 222, 226 f., 240, 244, 256, 288, 293 f., 295, 298, 308, 311, 313 f., 316-318, 319, 321, 323, 325 f., 337-339, 341, 372, 423 f., 434f., 445, 449, 4 5 1 - 4 5 3 —: kommunikativer 436, 453 - : literarischer 70, 236- 242, 248 f., 368, 376, 398 f., 407, 451 f.
—: sprachgestaltender 346 f., 418, 422, 425.427, 432, 434 - 436, 445 - 448, 450 —: sprachschaffender 345 f., 424 f., 431-433, 450 Aufsatzbücher s. Materialsammlungen Aufsatzdidaktik s. Didaktik Aufsatzformen s. Formen Aufsatzmethode s. Methode Aufsatzunterricht s. Unterricht Ausarbeitungen s. Aufsatz, Aufsatzformen, Aufsatzunterricht Ausdruck 45f., 62, 79, 81-83, 88-90, 94, 106-108, 109, 110, 112, 114, 119, 140— 143, 151 f., 158, 165, 170 f., 197 f., 203, 234, 237, 240, 274, 294, 299, 302, 310, 315, 317, 318, 331, 360, 382, 409 f., 414, 430, 432, 442 Ausdrucksübungen s. Stilübungen Auszüge 117, 148 Beantwortung von Fragen 117, 148, 248 Bedingungen (kulturelle, politische, soziale usw.) 8 f., 23, 33, 44, 45, 75, 79 f., 105 f., 109 f., 128-130, 132, 189f., 269 f., 301 f., 366f., 374-379, 417 f. Begriff 91, 158, 163, 206, 228 f., 248, 284, 305, 326, 386, 428 f. Begründung s. Argumentation Beobachtung 49, 114, 203, 333, 334, 343 Beobachtungsaufsatz 340, 343, 344, 349 Beredsamkeit s. Rhetorik Bericht 137, 172, 213, 297, 298, 325, 332, 333, 336 f., 350, 352, 376f., 388, 389f., 396, 411, 415, 424, 440 Beruf s. Leben Beschreibung 9, 11, 17, 21, 57, 77, 103, 111, 115 f., 143, 145,147, 148, 149, 163, 164, 165 f., 168, 172, 173-176, 183, 206, 210, 212f., 237 f., 248, 254, 271, 294, 297 f., 332 f., 339, 343, 369, 377, 389 f., 415, 421, 440 Besinnungsaufsatz 376, 388, 391, 397 f., 403 f., 407, 411, 415, 421, 426, 440, 452
500
Sachverzeichnis
Betrachtung 98, 102, 164, 176f., 196, 205, 211-213, 295, 388, 390, 396, 415, 440 Beurteilung 2, 150, 235 Beweis s. Argumentation, Rede Bildung 127, 139, 140-142, 143, 148, 165, 182, 189, 190, 192-196, 204, 206, 209, 215 f., 218, 222 f., 228, 237, 242, 244, 252 f., 254, 257, 265, 269 f., 283, 286, 288, 299f., 301-303, 315 f., 329, 354, 360-362, 393, 396, 420f., 424, 427, 428 f., 430 Briefaufsätze 26, 43f., 51 f., 57, 6 0 - 6 2 , 77, 84, 90, 95, 101-104, 109, 111, 114, 115, 117-120, 124, 133, 135 f., 137, 145, 147, 148, 149, 163, 165,168, 171 f., 183, 208 f., 248, 268, 271, 284, 298, 332, 339, 349, 376, 377 f., 378 f., 390 f. Briefstil s. Briefaufsätze Bürgerschule 105 f., 109f., 111, 118, 140, 179, 180, 209, 242, 265, 267, 378 f. Charakter 249, 253, 367,372, 381-383, 396, 402, 406, 413 f., 420, 445 Charakteristik 175f., 248 f., 284, 334, 369, 392, 421 Chrie 9, 12, 17/., 19, 21, 39, 5 4 - 5 6 , 57, 58, 61, 71 f., 134, 159, 169f., 183, 190f., 230 Confirmatio s. Argumentation, Rede Darstellung s. Gestaltung Darstellungsformen s. Formen Definition s. Begriff Deklamation 35, 125, 131 f., 170 Denkbildung (s. auch Meditation) 114, 145, 147, 149, 216-218, 221, 227, 232f., 275- 278, 282, 287 Denkformen 305 f., 428 f. Deutschkunde 339, 3 5 3 - 3 6 2 ( = Kap. IX), 364 f. 385 Deutschunterricht 24, 42 - 44, 49, 78 f., 124, 125, 128, 130-137, 156, 181, 195, 200, 219, 220 f., 223, 261, 286, 292 f., 310, 329 ff., 348, 354-356, 357, 361, 368, 375, 377, 425, 430 Dialektische Übungen 229, 248 Dialog s. Gespräch Dichtersprache s. Erlebnissprache Didaktik (s. auch Konzeption) 5 f., 48 — 50, 50 f., 106-108, 111-121, 139-143,
152, 195, 198, 203-208, 224 f., 253, 270-285, 287, 340, 342, 368, 372f., 373 f., 375, 382, 413-415, 417-421, 425 f., 427, 438, 453 Disposition s. Gliederung, Rede Divisio 9 0 - 9 2 , 160 f., 229 Edelsprache s. Erlebnissprache Elementarisierung 10 f. Elementarschule s. Volksschule Elokutio s. Stil Eloquenz s. Rhetorik Empfindung s. Gefühl Entrhetorisierung 168, 189-194, 208 ff. Entwicklung (Aufsatzform) 116, 230/., 254 f., 391 Entwicklung (Psychologie) 160, 296, 320 f., 325, 327, 351, 369, 387, 435 Epilog s. Rede Erdkunde s. Geographie Erfahrung 73, 87, 111, 112, 114, 134, 154, 162 f., 181, 213 f., 292, 319 f., 430 Erfindung s. Meditation Erlebnis 316, 319 Erlebnisdarstellung 320, 325, 333, 340, 351, 371, 392, 400 f., 405, 423 (vgl. auch Erzählung, Bericht) Erlebnissprache 255, 257, 344, 345, 347, 348-350, 442-444 Erörterung s. Abhandlung Erkenntnissprache s. Zwecksprache Erzählung 9, 10, 11, 12, 15-17, 21, 43.49, 57, 78, 86,91, 109, 111, 115 f., 132, 137, 145, 147, 148, 149, 163, 164, 165 f., 168, 172/., 177, 183, 209/, 212, 213, 248, 254, 271, 284, 294, 297 f., 327 f., 332 f., 337, 339, 352, 369, 376, 386, 388 f., 390, 415, 440 Erziehung 109 f., 139, 201, 264, 266, 331, 340, 343, 353 f., 361 f., 364f., 366 f., 372, 373, 381, 406, 413, 420 Exordium s. Rede Expressionismus 317 (vgl. auch Ausdruck) Fabel 11, 12, 14f., 21, 57, 77, 117, 237, 282, 389 Facharbeit 343, 350, 389 (vgl. auch Abhandlung, Bericht) Findung (inventio) s. Meditation, Stoff
Sachverzeichnis
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Form 86, 112f., 149, 152, 158, 170, 197 f., 200, 207, 212, 247, 300, 310, 414, 432, 437 f., 439, 448 Formalismus 12 f., 53, 56, 69, 71, 74, 278, 448 Formen (Aufsatzformen) 13 — 21, 53 — 65, 111, 114-120, 144 f., 147 f., 150, 161, 168-181, 183-187, 206, 208- 213, 228-232, 237, 247-249, 254, 256, 284, 311, 312, 317, 324f„ 327f., 330, 332-334, 336/., 338, 340, 349, 351 f., 369, 373, 376, 378 f., 387-391, 393, 415, 431, 432, 434-436, 438, 439-445, 448 Formular 28, 51, 60, 160, 268 f., 273 Französisch 125 Funktionen 141, 246 f., 331 f., 339, 342, 366 f., 441 f.
150, 152, 157-161, 166 f., 200f., 232f., 296, 297, 308, 323, 340, 368, 386, 391, 406-408, 415, 422 Grammatik 41, 42, 47, 49, 79, 114, 124, 146, 147, 162, 216, 238, 274 f., 277, 279, 283, 287, 288-290, 369, 383 Griechisch 125, 181, 236 Gymnasium 32, 34, 36, 38, 42, 43, 44, 62, 69, 7 6 - 7 8 , 95, 110, 123-130, 139, 140, 149, 155, 173, 179, 180 f., 189 f., 200, 208 f., 215, 219 f., 221, 253, 262, 271, 307, 340, 355, 375-377, 396 f., 421, 426, 440
Gedanken s. Meditation Gedichte 28, 34, 35, 36, 37, 38, 40, 57, 62-65, 78, 95 f., 104, 129, 147, 168f. 248, 312 Gefühl 62, 66, 81, 83, 93, 140, 163, 171, 173, 176, 183-187, 191, 198, 203-206, 208f., 210, 211 f., 217, 240, 255, 294, 345 f. Gelehrtenschule 34, 37, 45, 105, 108, 123, 130 Gemüt s. Gefühl Geographie 116, 132, 399 Germanisten-Verband 355 Geschäftsaufsätze 111, 117, 118 145, 148, 149, 160, 164 f., 180/., 269, 271, 273, 284, 286 f., 298, 330 Geschäftstil s. Geschäftsaufsätze Geschichte 69 f., 116, 156f., 354, 362, 396, 399, 402 Geschichte des Aufsatzunterrichts 3 f. Gesinnung 156, 163, 206, 208, 214, 247, 249, 253-255, 259, 261 f., 353f., 357-359, 381-383, 395 Gespräch 84, 118 f., 124, 137, 145, 148, 168, 312, 430 Gestaltung 197, 199, 247, 310, 318-323, 324, 337, 346 f., 351, 360, 375, 385, 427, 431 f., 436, 437 f., 446 (vgl. auch Aufsatz: sprachgestaltender) Gliederung 12, 13, 21, 22, 28, 49, 60 f., 71, 89, 9 0 - 9 2 , 112f., 119, 125, 127, 149,
Idealisierung 211, 257 Idealprosa s. Erlebnissprache Ideologie 366 f., 374, 386 Imitation 12, 49, 60, 85, 119, 124f., 131, 133, 137, 159, 185 f., 240, 245 f., 248, 256 f., 273, 281 Imitationsaufsatz 450 Individualität 175, 203-206, 215, 257, 306 Inhalt vgl. Stoff, Meditation Inhaltsangabe 248, 281, 389, 421 (vgl. auch Bericht) Intellektualisierung 2 1 6 - 2 3 6 , 303, 305 Inventio s. Stoff, Meditation
Haltung 367, 381-383, 386, 388, 389, 391, 396, 409-415, 447 Hauptschule s. Bürgerschule Hochsprache s. Sprache
Klassizität 243 f. Klugheit 67, 7 3 - 7 5 , 76, 87.88, 103 Kommunikation 12 f., 20 f., 46, 66 f., 7 3 - 7 5 , 94, 103, 107, 119f., 150, 163, 205, 247, 296, 430, 436, 453 Komplimente 51, 61, 79, 84, 118 Konzeption 2, 8 - 1 3 , 4 5 - 4 8 , 7 9 - 8 5 , 8 5 - 9 4 , 105-108, 139-143, 151-167, 201-208, 221-225, 244-247, 252, 270-285, 287, 292, 293-295, 295-298, 306, 309-313, 316-321, 328-339, 341-352, 391, 413-415, 418, 434, 4 3 6 - 4 4 5 Korrektur 2, 150, 304, 323, 324, 338 Kreativität 205, 311 f., 314, 325 f., 346 f., 431 f., 433, 437 Kultur 304, 315, 318, 354f., 360
502
Sachverzeichnis
Kulturkritik 302-304 Kulturkunde s. Deutschkunde Kulturtechnik 357 f. Kunsterziehung 298, 299, 303, 308, 309-313, 314, 321 f., 337, 363 Künstler s. Kunstwerk Kunstwerk 199, 202f., 247, 249, 309-313, 317, 348 Lateinschule 22, 23, 45, 105, 265, 268, 269 Lateinunterricht 23, 41 f., 47, 49, 108, 123, 124, 137 f., 148, 155 f., 181, 236, 355 Leben 106, 319, 321, 330, 332, 339, 344, 357, 377, 378, 387, 390 f., 424, 443 Lehrbücher 7 f., 13, 22, 24, 29, 76, 78, 85, 126-128, 129, 134-139, 162, 163, 178 Lehrplan 11, 17, 25f., 49, 78, 109, 144f., 147 f., 148 f., 150, 170, 193, 205, 266, 282, 293 ff., 297 f., 341, 350, 372 f., 375f., 383, 3 8 7 - 3 9 1 - 3 9 3 , 425, 434, 441 Lehrstil s. Abhandlung Lektüre 47.49, 107, 114, 117, 124, 128, 132, 155 f., 196, 200, 236- 252, 254, 256, 279-285, 287 f., 290f., 300, 330, 331, 399, 428 f. Leser s. Kommunikation Literatur 238-241 Literaturunterricht s. Lektüre Logik 80, 83, 87, 88, 113, 139, 160, 162, 216 ff., 221, 222-225, 226, 232f., 235, 249, 321, 406 Mädchen 154, 198, 208, 265, 268 Materialien s. Stoff Materialsammlungen 111, 157-158, 422 Meditation 22, 49, 71, 75, 85-88, 93f., 106 f., 112, 113, 116, 117, 120, 131 f., 141, 143, 146, 149 f., 152, 154, 157, 158 f., 170,182 f., 191,195 f., 198 f., 201, 203, 216 f., 221-224, 225f., 227, 229, 238, 245 f., 253 f., 275-278, 278f., 280, 288, 293, 296, 297 f., 299, 305 f., 326 f. Memoria s. Rede Methode 5f., 4 8 - 5 0 , 51 f., 53-56, 78, 111-121, 143-151, 183, 195, 201,203, 206, 271, 280, 283 f., 295 f., 299, 329, 333, 335, 421, 425 f., 438, 453 Militarismus 257, 260 f., 263 f. Mitteilung 377, 379, 390
Mittelaler 21 f., 45, 118 Mittelschule s. Bürgerschule Monolog 168 Moralisierung 213 f. Mündlichkeit 79, 84 f., 132, 147, 278 f., 316 f., 384 f., 390 f. Muster 49, 182, 184-186, 194, 241, 245, 287, 291, 422, 424, 432 Musteraufsätze s. Materialsammlungen Muttersprache s. Sprache Nachahmung s. Imitation Nacherzählung s. Erzählung Narratio s. Erzählung, Rede National(ismus) 253 — 257 Nationalsozialismus 363—415 ( = Kap. X) Natur 75, 142, 187, 210, 256 Natürlichkeit 67 f., 94, 121 Neuhumanismus 181 — 187, 239 Neuromantik 371, 380, 385, 408 f. Nutz- und Bildungsziele 357 f., 360-362, 385 Nützlichkeit 50, 67 Objektivität 350, 352 Ordnung s. Disposition Oratorie: deutsche 46-48, 50 f., 57 f., 71 ff., 77 f., 79— 85 (vgl. auch Rhetorikunterricht) Orthographie s. Rechtschreibung Parodie 185 f. Partitio 9 0 - 9 2 , 160 f., 229 Periodisierung 449, 451—453 Persönlichkeit 301, 304, 329, 358 f., 421, 423 f. Persönlichkeitspädagogik 313 — 321, 322, 337, 363 Phantasie 140, 166 f., 174, 176, 184, 205, 250 f., 313, 334 Phantasiegeschichte 325, 328, 334, 389 Philosophie 80, 97, 100, 219 ff., 233, 348 Phrase 304, 307 f., 344, 412 f. Poetik 62, 107, 130, 131, 133, 156, 169, 174 f., 193, 241 Pragmatismus s. Nützlichkeit Probatio s. Rede Problemaufsatz s. Abhandlung Produktion 196, 240, 256 Produktionsaufsatz 450 f.
Sachverzeichnis Progymnasmata 7-22, 29, 54, 56 f., 62.76 f., 190 f. Psychologie 138,139,220, 294 f., 320 f., 340, 350, 369, 444 f. Quellen 4—6 Rasse 365, 366, 367, 368, 371, 382 f., 409 Rationalismus 67, 75, 80, 81, 113 Realien 86 Realschule 140, 265 Rechtschreibung 114, 147, 238, 313, 383, 384 Rede (oratio) 11, 13, 20 f., 40, 4 7 - 4 9 , 5 3 - 5 6 , 5 7 - 6 0 , 62, 73, 78, 81, 83, 84f„ 8 6 - 9 1 , 95, 9 7 - 1 0 0 , 101, 103, 125f., 136, 163, 168, 170f., 177 f., 191-193, 236, 248, 281 Redeactus 124 f., 148 Redeteile s. Gliederung, Rede, Rhetorik Referat 343 Reflexion s. Meditation Reformpädagogik 210, 285, 291, 295, 298, 301-352 ( = Kap. VIII), 353, 356f., 363, 369, 373, 375, 379, 423 f., 449 Refutatio s. Argumentation, Rede Religion 41, 69, 116, 154 f., 220 Repetitionen 116, 148 Reproduktion s. Imitation Reproduktionsaufsatz s. Aufsatz: gebundener Restauration 129, 2 8 5 - 2 8 7 Rhetorik 9 f., 26, 29, 30, 33, 35, 39, 45f., 48, 62, 7 1 - 7 6 , 7 9 - 8 5 , 87, 88 f., 94, 123-134, 136, 159, 163, 174, 177, 191-194, 216, 227, 241, 244 Rhetorikunterricht 8 - 1 3 , 26.27 f., 29 f., 3 0 - 3 2 , 36, 3 7 - 4 0 , 42, 4 6 - 4 8 , 49, 57, 62, 7 2 - 7 9 , 96f., 108, 123-132, 148f., 151 f., 156, 170, 181, 190-194, 390f., 451-453 Rhetorische Vorübungen s. Progymnasmata Sache, Sachkenntnis 31, 58, 73, 76, 210 f., 396 f., 440, 442 Sachbericht s. Bericht Sachlichkeit 344, 389 Schilderung 103, 148, 162, 173-175, 176 f., 183, 184-187, 210-212, 284,
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334-339.352, 376, 388, 389, 390, 415, 440 Schöpfertum s. Kreativität Schreibart s. Stil Schreiben 2, 25, 49, 8 5 - 9 4 , 102f., 110, 112 f., 114, 116, 123, 143 f., 145-148, 153, 159, 161 f., 164f., 184, 192, 194, 199, 201-207, 212, 215, 216, 238, 244-247, 254, 255, 266 f., 272, 274, 279, 286, 293, 294, 296-298, 312, 317, 318, 321, 322f., 324, 330-332, 342, 345, 357 f., 361 f., 371, 413 f., 421, 424, 430 Schreiber 203-208, 210, 211, 225, 268, 349, 352, 383, 409 Schreibschule 265, 267-269, 369 Schreibübungen 110, 272-274, 282 Schriftlichkeit 11 f., 79, 84/., 132, 178, 270, 283 Schriftsprache 134, 255, 283, 286, 295, 320, 331 Schulactus s. Schultheater Schulreden 34—37, 37 f. (vgl. auch Reden, Rhetorik, Rhetorikunterricht) Schultheater 33 f., 34, 35, 37, 59, 63 f., 312 Seele 106,138,139-143,187,198, 203, 211, 218 f., 228, 244, 314 Selbsttätigkeit 105, 107, 199, 279 f., 322 f., 325, 329, 337, 364, 428 f. Selecta 40, 125 Sentenzen 17, 18, 19, 70, 248, 255 Sittlichkeit s. Gesinnung Sprache 2 3 - 4 4 (= Kap. I), 4 5 - 4 8 , 88f., 140-143, 250, 274, 286 f., 292, 311, 330, 345 f., 371, 380, 408 f., 427 Sprachtheorie 346, 348, 380 Sprachverfall 301, 419 Sprechen 141-143, 146, 330, 371 Stil 12, 13, 21, 22, 58, 6 5 - 6 8 , 72, 74, 82f., 85, 89, 9 2 - 9 4 , 100f., 120f., 127, 133f., 136, 137, 149, 150, 161-167, 168, 182, 194, 197f., 200, 202-208, 215 f., 233 f., 235 f., 250-252, 255, 274, 305, 307, 336, 338f., 349, 408-413, 415, 427 —: dogmatischer s. Abhandlung —: historischer s. Erzählung, Beschreibung, Bericht Stilarten s. Stilistik Stilbildung 1 3 - 1 7 , 21, 40, 6 5 - 6 8 , 9 2 - 9 4 , 110, 120 f., 123.137-139, 161-167,
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Sachverzeichnis
170 f., 181, 193f., 197f., 201-205, 215 f., 233-235, 250, 253, 255, 277 f., 279, 285, 293, 300, 307, 343, 384-386, 408-413, 422, 427 Stileigenschaften s. Stilistik Stilerziehung s. Stilbildung Stilformen s. Formen Stilistik 12, 16, 49, 6 5 - 6 8 , 85, 128, 132-139, 144, 148, 156, 162-167, 193 f., 202 f., 238, 241, 252, 274, 274, 283, 384, 408 Stilproben s. Materialsammlung Stiltheorie s. Stilistik Stilübung 148, 149, 150, 200, 278 f., 335f., 343, 361f., 372, 376, 384-386, 438 Stoff 12, 16, 20, 21, 6 8 - 7 0 , 111, 116, 125, 127, 141, 144, 149, 152, 154-159, 162, 183, 196, 197, 198, 200 f., 204, 207, 211, 213, 226, 236, 239, 245, 247, 254, 280, 284 f., 288, 294, 307, 310, 317, 318 f., 325, 337 f., 340, 358 f., 368, 372, 373, 385, 387, 398-404, 415, 428, 432, 437 f., 446 Stoffsammlung s. Materialsammlung Subjektivität 176f., 184, 201-216, 217, 350, 352, 390, 440 Systematik 53, 137-139, 230 Tagebuch 101, 102, 103, 104, 116 f., 147 f., 370 Technik 334 f. Theaterstücke s. Schultheater Themen 20f., 61 f., 62, 6 8 - 7 0 , 97, 113f., 116, 125, 152, 153/., 154-157, 181, 198, 201, 207, 213-215, 226-228, 241, 242-244, 253, 254f., 294, 296f., 304, 305, 308, 313, 317, 318 f., 326, 337 f., 340, 358f., 362, 368, 370, 391-398, 415, 446 Themensammlungen s. Materialsammlung Thesis s. Abhandlung Topik 86, 158 f., 428 Traktat s. Abhandlung Überredung s. Wahrheit Übersetzung 38, 41, 49, 70, 137, 145, 148 Überzeugung s. Wahrheit
Übersichten 117 Übungen s. Unterricht, Rhetorikunterricht Übungsformen s. Formen Umformung 49, 11, 148, 284, 386 Universität 33, 37, 61, 219 f., 224 Unterricht (Aufsatzunterricht) 5, 85, 105-107, 110, 111, 113 f., 123-125, 130, 139, 142, 143, 146, 148 f., 151, 154, 157,162 ff., 171 f., 180 f., 183,191-193, 195-201, 203, 215f., 221-225, 228, 230, 237, 239, 242, 252 f., 256.266 f., 269, 270, 274 f., 276-278, 285, 288-291, 295, 297, 299, 303 f., 306 f., 329, 331, 343, 346 f., 349 f., 351, 356-362, 370, 374, 376, 377, 384f„ 404 f., 422 f., 428 f. Urteil (iudicium) 52, 66 f., 74, 230, 269, 340 Vergleiche 145, 281, 284, 334 Vernunft 50, 54, 72, 7 5 - 7 7 , 87, 105 f., 110, 140, 143, 151, 179, 217 ff., 223, 269 Vernunftlehre s. Logik Verstand s. Vernunft Verwaltung 79, 105, 132, 134 f., 136, 195 Volksschule 118, 180, 238, 265-300 ( = Kap VII), 306f., 331-335, 339, 377 f., 421, 440 Vorbilder s. Muster Vorschriften 272, 287 Vorstellung 140, 191, 204, 217, 220, 225 Wahrheit 76, 7 9 - 8 1 , 89 Weltanschauung s. Ideologie Wert 349 f., 392, 396, 397 f., 402 - 404, 429 Wiederholung s. Repetition Wilhelminismus 260, 285 Winkelschule 268 Wirkung 46, 62, 79, 8 1 - 8 3 , 89, 107, 332, 376, 390, 442 Wohlredenheit 88f., 124, 125, 132-134 Zeitgeschichte 70, 259 Zucht 367, 372, 373, 382f., 406, 410, 420 Zweckformen s. Geschäftsaufsätze Zwecksprache 344-347, 348-350, 442-444
Danksagung An der Entstehung des Buches sind viele Menschen beteiligt gewesen. Ihnen allen möchte ich danken: Meinen Kindern und meiner Frau; denen, die mir Aufsätze von Schülern zur Verfügung gestellt, den Damen, die die Manuskripte geschrieben, den Kollegen und Freunden, die das eine oder andere Kapitel durchgesehen haben: Jürgen Baurmann, Claus Conrad, Klaus Gerth, Wolfgang Sauer, Rainer Schuller, Gerhart Wolff; schließlich den Mitgliedern des Arbeitskreises „Geschriebene Sprache" der Werner Reimers-Stiftung in Bad Homburg für ihre Geduld, mir zuzuhören, auch wenn die Materie ihnen oft fremd war. Mein Dank gilt insbesondere den Mitarbeitern der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover für ihre Hilfsbereitschaft und durch nichts zu erschütternde Freundlichkeit, dem Stuttgarter Staatsarchiv für drei unvergeßliche Arbeitstage.
HELMUT HENNE
Jugend und ihre Sprache Darstellung — Materialien — Kritik Oktav. XIV, 385 Seiten. Mit einer Dokumentation „Texte und Zeichen" (z.T. farbige Abbildungen) 1986. Kartoniert DM 3 8 , ISBN 311010967 0
Λ us dem Inhalt: 1. Jugend, Sprache und Geschichte — eine Hinführung zum Thema 2. Musik — „Sprache" der Jugend 3. Texte und Materialien zur Musik der Jugend 4. Jugendsprache 1982: Ein einzelner Fall 5. Jugendsprache 1982: Klassenaspekte 6. Jugendsprache 1982: Namen weit, Lautwörterkommunikation und „Sprüchekultur" 7. Interviews — zögernde Annäherung 8. Schulwortschatz 9. Jugendsprache in den Medien 10. Theorie der Jugend und jugendliche Gruppensprachen 11. Sprachforschung und Sprachkritik: Jugend — der Stein des Anstoßes
Literaturverzeichnis — Wortregister — Sachregister Texte und Zeichen
Preisänderung vorbehalten
Walter de Gruyter
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