Der Norden ist die äußerste Grenze, der Norden ist jenseits der Alpen: Poetische Bilder des Nordens von Petrarca bis Tasso [1 ed.] 9783428514168, 9783428114160

Die Frage, mit der sich die Autorin auseinandersetzt, lautet: Wie wird der »Norden« in der italienischen Dichtung darges

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German Pages 322 [323] Year 2004

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Der Norden ist die äußerste Grenze, der Norden ist jenseits der Alpen: Poetische Bilder des Nordens von Petrarca bis Tasso [1 ed.]
 9783428514168, 9783428114160

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MANUELA BOCCIGNONE

Der Norden ist die äußerste Grenze, der Norden ist jenseits der Alpen

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bemd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 23

Der Norden ist die äußerste Grenze, der Norden ist jenseits der Alpen Poetische Bilder des Nordens von Petrarca bis Tasso

Von Manuela Boccignone

Duncker & Humblot . Berlin

Die Philosophische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernabrne und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-11416-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Herrn Professor Dr. Volker Kapp danke ich sehr herzlich für die Betreuung und die Begutachtung sowie für die Unterstützung bei der Veröffentlichung dieser Arbeit in der Reihe "Schriften zur Literaturwissenschaft". Herrn Professor Dr. Carlo Ossola danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Dem Präsidenten der Görres-Gesellschaft Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Paul Mikat danke ich für die großzügige Förderung, die eine Veröffentlichung dieser Arbeit ermöglicht hat. Manuela Boccignone

Inhalt Einleitung ............................................................................

9

I. Finsternis und Licht: heidnischer und christlicher Norden im Dittamondo von Fazio degU Uberti ...............................................................

17

1. Der allegorische Norden: Sinnbild der Sünde und des Unglaubens oder letzte Grenze der Menschheit ........................................................

17

2. Der schreckliche, barbarische, wütende Norden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

3. Der heitere, idealisierte, heile und reine Norden

27

11. Petrarca und der Norden .......................................................

40

1. Der humanistische Blick auf den Norden ......................................

40

2. Thule und das Land der Hyperboreer: Der Norden als Ablenkung und Illusion

43

3. Menschen, vorn Weg der Sonne entfernt und von Natur aus gegen den Frieden, denen das Sterben nichts ausmacht ............................................

50

4. Der Norden ist jenseits der Alpen: "vertu latina" versus "furor di lassu"

54

Der Norden im Werk Ariosts ...................................................

63

1. Topoi, Ironie und ,Nördlichkeit' ...............................................

63

2. Am Rande der Welt ...........................................................

66

a) Die ,Wut des Nordens' ......................................................

66

b) Nördliche Tugenden: männliche Tapferkeit und weibliche Keuschheit.......

72

c) Ungeheuer, Monstren, Piraten...............................................

76

3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen ....................

82

IV. Die Wende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

1. Neue Informationen und neue Quellen: eine Neubewertung des Nordischen ...

90

2. Olaus und Johannes Magnus vertreiben die Finsternis .........................

97

m.

3. Die Navigationi et viaggi von Ramusio. ,Unser Norden' und die andere Hemisphäre......................................................................... 103 4. Eine Interpretation des Nordens ...............................................

109

8

Inhalt

V. Eine poetische summa des Nordens .............................................

121

1. Orazio Ariosti und sein nordisches Epos Alfeo: Imagination und furor ... . .....

121

2. Nordische Landschaften.......................................................

128

a) Stürme, Fjorde, Berge, Seen, Sümpfe und Wasserfälle............ . . . ........

128

b) Das Nordlicht...............................................................

137

c) Thule, andere verlorene Inseln und der reine Nordpol .......................

139

3. Piraterie und verborgene Schätze..............................................

148

4. Ikarus fliegt zum Nordpol. Altertum, Ruhm und Mythen des Nordens .........

152

5. Wunder und Monstren im Norden.............................................

160

a) Gespenster und Dämonen, ,innere Monstren' und Melancholie.... . .........

160

b) Seeungeheuer und Zauberei im Wasser............................. . . . ......

169

6. Nordische Frauen: keusch und kriegerisch, tapfer und männlich ...............

176

7. Krieger des Nordens und Barbarei Italiens............... . .............. . ......

186

8. Nordischer Himmel, kein nordisches Schicksal ........................... . ....

202

VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

206

1. Die Erweiterung des Horizonts ................................................

206

2. Die tapferen Kreuzritter aus dem Norden in der Gerusalemme liberata ........

206

3. Imagination, Wunder, Monstren und Schönheit des Nordens in den Dialoghi . . . 222 4. Kreation und Negation von Nördlichkeit ......................................

233

a) Eine ,nordische' Tragödie...................................................

233

b) Vom Galealto zum Torrismondo: eine literarische ,Nordisierung' auf der Suche nach dem Erhabenen ................................................. 238 c) Die Chöre des Torrismondo: der Norden vom alter orbis zum Paradigma unserer (einzigen) Welt..................................................... 252 5. Der Norden im religiösen Epos Le seite giornate dei mondo creato ............

262

a) Der perfekte Weltbau und die Schönheit der Vielfalt ............. . ..........

262

b) Der stürmische Norden als Sinnbild des menschlichen Lebens ......... . ....

270

c) Der Weg in den Norden auf der Suche nach süßen und reinen Gewässern....

277

d) Das gefrorene Meer, wo die Walfische hausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 e) Der wilde (männliche) Norden und das weiche (weibliche) Italien...........

284

Schlußbetrachtung .............. . ................................ . ...................

293

Literaturverzeichnis ............. . ....... .. ............... . ... . . . ....................

300

Einleitung "Ma chi sotto il giocondo italo cielo Canta nevi e torrenti?" (Luigi Carrer, Alla Terra, 1845)

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema ,Norden' in der italienischen Dichtung. ,Norden' ist dabei keine Bezeichnung für geographisch identifizierbare Orte, sondern stellt für die Italiener ,eine andere Welt' dar, in der alles ,anders' sein kann als in der vertrauten Welt, im negativen wie im positiven Sinne. Die Himmelsrichtung ,Norden' steht hierbei für Barbarei und Grausamkeit, für Wildheit und Wut, für Härte und Erbarmungslosigkeit, aber auch für Keuschheit, Reinheit, Tapferkeit, Heldentum, Kraft, Stärke, Männlichkeit und Ursprünglichkeit, um nur einige Stichworte zu nennen. ,Nördlichkeit' wird als Konzept des Fremden und Rätselhaften, des Unheimlichen und Unerreichbaren konstruiert. Der ,Norden' bietet also reichlich Material für verschiedene poetische Konstruktionen: Hinter diesem schlicht klingenden Begriff verbergen sich ganze Weltbilder, Wertvorstellungen, Sehnsüchte und auch die Konzeptualisierung der Grenzen des Menschlichen. Diese reiche Palette an poetischer Phantasie und ästhetischer Konstruktion ist überaus beeindruckend und allemal wert, literaturwissenschaftlich analysiert zu werden. Umso erstaunlicher erscheint es, daß Untersuchungen über den ,Norden' bzw. die ,Nördlichkeit' in der italienischen Literatur fehlen - und dies, obwohl bereits vor hundert Jahren auf dieses Desiderat aufmerksam gemacht wurde. 1905 beklagte Edoardo Giacomo Boner das Fehlen von Studien, die sich mit dem Thema des Nordens in der italienischen Literatur beschäftigen. Er selbst wolle nur einige Anregungen mit seinem Buch geben. I Inzwischen hat sich jedoch kaum etwas geändert, denn das Verhältnis italienischer Dichter gegenüber dem Norden war bislang immer noch nicht Gegenstand einer Gesamtdarstellung. Nun - beinahe hundert Jahre nach den Anregungen Boners - bietet es sich an, im Rahmen des Graduiertenkollegs ,Imaginatio borealis' nach ,borealen Spiegelbildern' in der italienischen Literatur zu suchen und diese zu analysieren. Deutsche Forscher, die sich mit dem Bild ihres Landes in der italienischen Literatur oder in nichtliterarischen Quellen auseinandersetzten,2 konzentrierten sich Vgl. E. G. Boner, Rijlessi boreali nella letteratura italiana, Messina 1905, S. 94. H. Liebmann, Deutsches Land und Volk nach italienischen Berichterstattern der Re!onnationszeit, Berlin 1910; P. Amelung, Das Bild des Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance (1400-1559), München 1964; K. Voigt, 1talienische Berichte aus I

2

10

Einleitung

nicht auf das spezifisch ,Nordische', sondern auf das Bild des eigenen Landes in der Fremdeinschätzung. 3 Die vorliegende Studie hingegen beschäftigt sich mit Konstrukten des ,Nordens', die nicht einem eindeutigen geographischen Raum entsprechen, und hat eher einen topologischen Ansatz, obwohl - im Rahmen des Methodenpluralismus - auch historische Bemerkungen eine Rolle spielen. ,Nördlichkeit' ist eine abstrakte Dimension, die jeweils mit verschiedenen Inhalten gefüllt wird. So entstehen verschiedene poetische Bilder des Nordens. Die Konstanten, die anzutreffen sind, werden in dieser Arbeit nicht als Klischees, Stereotypen oder Vorurteile, sondern immer als literarische Topoi aufgefaßt. Bei poetischen Werken, die keine Augenzeugenberichte sind, kommt es nicht darauf an zu zeigen, ob es dem jeweiligen Verfasser geglückt ist, sich von bestimmten Stereotypen zu lösen,4 sondern wie der Autor mit bestimmten Motiven umgegangen ist und welchen Zweck er mit seinen literarischen Assoziationen verfolgt hat. Es gibt Darstellungs- und Organisationsformen, die über Jahrhunderte hinweg ihre Inhalte tradieren, Konfigurationen und Konstellationen, die relativ konstant sind und sich langsam entwickeln. Solche Motive gehören zur Welt der Dichtung und haben keinen Wahrheitsanspruch im Sinne einer Beschreibung eines realen, geographischen Raumes, sondern nur im Sinne einer höheren menschlichen Wahrheit. Der Bezug zu äußeren Erscheinungen der Welt in borealen Ländern dient lediglich dazu, eine neue, dichterische Welt zu schaffen, die eine reinere Form des Wirklichen darstellt. In der Dichtung liegt die Manifestation einer Überwindung: Sie entsteht in einer Trennung vom unmittelbaren ,Wirklichen', vom schlechthin Gegebenen, von der Welt des sinnlich-passiven Eindrucks. Die Dichtung konstruiert aus poetischem Stoff und aktiver Imagination eine neue Welt. Um wichtige Quellen zu analysieren und die Arbeit nicht - wie bei Boner - auf eine unsystematische Auflistung kurzer, aus dem Kontext gerissener Zitate zu beschränken, wird in dieser Arbeit der Zeitraum vom 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts untersucht, das heißt von den Anfangen des italienischen Humanismus (Francesco Petrarca und sein Zeitgenosse Fazio degli Uberti) bis zu der manieristischen Auflösung der Renaissance (Torquato Tasso und Orazio Ariosti). Die relativ lange Zeitspanne, die analysiert wird, läßt es nicht sinnvoll erscheinen, eine vollständige Untersuchung durchzuführen, aber die ausgewählten Quellen können als repräsentativ gelten. Der diachronische Ansatz macht deutlich, inwiefern die Motive und paradigmatischen Bilder über den Norden, die die italienische Dichtung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts prägen und über die untersuchte Zeit sogar hinausgehen, sich im Laufe der Zeit verändern. Nicht nur die Formation, sondern auch dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de' Franceschi (1333-1492), Stuttgart 1973. 3 Die Imagologie oder Bildforschung betrachtet es als ihre Aufgabe, das Bild eines Landes zu fixieren und zu analysieren, wie es sich aus der Perspektive eines anderen Landes darstellt. Vgl. W. Leiner, Einleitung zu Das Deutschlandbild in der französischen Literatur; Dannstadt 1989, S. 7. 4 Vgl. K. Voigt, Italienische Berichte... , a. a. 0., S. 14.

Einleitung

II

die Transfonnation poetischer Topoi und diskursiver Konzepte vom Norden sollen erläutert werden. Diese Bilder, die ständig konstruiert und dekonstruiert werden, dienen auch dem Selbst- und Fremdverständnis der Italiener. Die Analyse der Entwicklung dieser poetischen Topoi veranschaulicht gleichzeitig den Übergang von einer humanistischen, romanozentrischen Welt zu einer offeneren, präbarocken Welt. Mit literarischen Texten zu arbeiten heißt notwendigerweise, Kriterien wie ,Intertextualität' und ,Autoreflexivität' große Wichtigkeit beizumessen. Mit Intertextualität ist die Beziehung zu vorausgegangenen, vorbildlichen literarischen Werken gemeint. 5 Quellen, Motive, Anspielungen, Zitate, wiederkehrende Verse und Reimwörter: Das ,Werkzeug' der literarischen Arbeit steht im Vordergrund. Mit Autoreflexivität ist die Thematisierung von Voraussetzungen und Nonnen des eigenen Textes gemeint,6 die in Italien vor allem ab Mitte des 16. Jahrhunderts mit den zahlreichen Poetiken extrem wird. Die Modellfunktion der Literatur kommt durch die prestigeträchtigen Werke mustergültiger Autoren zum Ausdruck, die eine Tradition und die kollektive Vorstellungswelt prägen. Daher werden hier als Quellen herausragende poetische Texte ausgewählt. 7 Neben diesen wirkungsmächtigen Texten widme ich mich in dieser Studie auch Fazio degli Uberti und Ariosts Großneffen Orazio Ariosti, weil sie - besonders letzterer - dem Norden einen besonderen Platz in ihren literarischen Werken eingeräumt haben. Die verschiedenen Texte, die hier präsentiert werden, gehören zu unterschiedlichen Gattungen (Terzinen, politische Kanzonen, Tragödie, Epen in ottave usw.), haben aber etwas gemeinsam: Alle Verse sind endecasillabi. Man ist erstaunt, wenn man merkt, wie oft ein ganzer Vers aus einem vorangehenden Diskurs über den Norden ohne Veränderung übernommen wurde. Verse von Petrarca, die sich auf den Norden beziehen, kommen auch bei Ariost und Tasso vor: Sie werden in jeweils ganz unterschiedliche Kontexte eingebaut. Die Dichter arbeiten immer mit vorausgegangenem poetischem Material. Hinzu kommen die Phantasmen, die ihre Imagination hervorbringt, wenn sie sich dem unbekannten Norden zuwenden. Die Dichter versuchen nicht, die Wirklichkeit als solche abzubilden, daher ist der Begriff der poetischen Imagination von zentraler Bedeutung. Marta Fattori hat in ihrer Einleitung zu den Akten des Internationalen Kolloquiums Phantasia-lmaginatio versucht, eine kurze Definition von ,Imaginatio' zu geben. Phantasmata ("fantasmi") oder imagines ("immagini") sind Bilder, die in Abwesenheit der Objekte, die durch die Sinne wahrgenommen wurden, reprodu5 Nach der Definition Cesare Segres: "rapporti tra testo e testo (scritto, e in particolare letterario)". Vgl. C. Segre, Teatro e romanzo, Torino 1984, S. Ill . 6 Vgl. ebd., S. 111 f. 7 Die analysierten Texte gehören zu den höheren Gattungen ("generi alti"): Terzinen nach dem Vorbild Dantes (Fazio degli Uberti), Kanzonen (Petrarca), Ritterepen (Tasso und Orazio Ariosti), ein Ritterroman (Ariost) und eine Tragödie (Tasso).

12

Einleitung

ziert oder auch verwandelt werden, denn die Imagination kann nicht nur reproduzieren, sondern auch schaffen, kreieren. 8 Die poetische Fiktion ist aber - dank der Einbildungskraft - nicht nur Ort der Konstruktions-, sondern auch der Dekonstruktionsarbeit: Die Texte selbst geben sichere Hinweise auf das spannungsvolle Verhältnis zur Tradition und das ihnen inhärente Subversionspotential einer alten Struktur. Ariost dekonstruiert jeden ihm vorausgehenden Nord-Diskurs durch seine heitere Ironie, Orazio Ariosti durch seine Begeisterung für exotische Neuerungen, Tasso durch seine abgründigen Seiten, seine Intensivierung des Pathos und seine Suche nach dem Erhabenen. Anklänge, Anspielungen und Zitate inhaltlicher und fonna1er Art stehen in dieser Untersuchung des Nord-Diskurses in der italienischen Literatur im Vordergrund: Jedes Werk, das analysiert wird, ist Teil eines komplexen Zeichensystems, in dem sich konnotative Eigenheiten von Einzelwörtern verändern und bestimmte Wortkombinationen in immer verschiedenen Konstellationen und Metapherlandschaften vorkommen. Jeder Dichter verfügt über Material - Worte, Verse, Metaphern, Begriffe, Argumente -, das er sowohl in der ersten Phase der inventio als auch während der dispositio und elocutio verwenden und verarbeiten kann. Am Ende steht ein neues Nord-Gebilde, eine neue Konstruktion. Die italienische Literatur weist eine extreme Kontinuität in der Rückbeziehung auf Vorbilder auf. Die Modelle, die vennengt und bewusst vennischt werden, sind stets noch erkennbar. Diese Kontinuität ennöglicht eine Studie zu den NordDiskursen über drei Jahrhunderte hinweg. Fundamentale, sich wiederholende Motive bilden eine kompakte ,Topik des Nordens'. Eine Topik ist ein Arsenal von loei communes, die zum Teil in ihrer sprachlichen Fonn festgehalten, aber auch unendlich variiert werden. Gerade durch die vielen Konstanten kann die Verwandlung herausgearbeitet werden. Diese Topik steht als Schnittstelle von memoria und inventio bereit. Sie bildet ein offenes, kulturell kodiertes System, in dem das Material der Vorstellungen, Konzepte, Argumente, Beschreibungen, Reimwörter und Verse als Reservoir für poetische Inspiration gilt. Es ist ein Archiv des Gedächtnisses, das seine Fruchtbarkeit durch pennanente De- und Resemiotisierung beim Erfinden beweist. Das Motiv des freiwillig Sterbenden im Norden, zum Beispiel, kommt leitmotivisch vor und erfährt Wiederholungen und Varianten. Zwei Konzepte der ,Nördlichkeit' - um einen Begriff zu verwenden, der durch seine Abstraktheit deutlich macht, daß es sich nicht um eine geographische Größe handelt - erscheinen in der italienischen Literatur der hier untersuchten Zeit: zum einen der Norden im Sinne einer fernen Randregion am Ende der Welt (etwa die Vorstellung von einer ultima Thule oder von anderen letzten, verlorenen, unbekannten Inseln im Ozean), die eine materielle und metaphorische Grenze für die 8 Vgl. M. Fattori, Prefazione zu dem V Colloquio Intemazionale dellessico intellettuale europeo: Phantasia-lmaginatio, Roma, 9-11 gennaio 1986, hrsg. von M. Fattori und M. Bianchi, Roma 1988, S. XI - XXX. Für Tassos Verständnis von der vis imaginativa siehe E. Ardissino, ,L'aspra tragedia'. Poesia e sacro in Torquato Tasso, Firenze 1996, S. 91-101.

Einleitung

13

Menschheit darstellt, zum anderen der Norden als Barbarei jenseits der Alpen und Gefahr für die Freiheit Italiens. Dieselben Eigenschaften, die den unbekannten, am nördlichsten Ende der Welt liegenden Orten zugesprochen werden (dort ,unter dem Pol', wo die Menschen in Höhlen und Wäldern hausen), dienen auch der Beschreibung von Regionen und Menschen, die sich unmittelbar nördlich von Italien befinden. Für die Italiener stellt dann dieser metaphorische Raum die Härte und die Grausamkeit des Krieges dar. Fazio degli Uberti ist der Ausgangspunkt der vorliegenden Recherche. Er vertritt noch die mittelalterliche Auffassung eines gefahrlichen Nordens, der Kälte, Dunkelheit und Verdammung bedeutet. Er bevölkert den nordöstlichen, noch nicht christianisierten Raum Europas - Sinnbild der Sünde und des Unglaubens - mit Monstren und grausamen Völkern. Der mit mirabilia erfüllte Norden der christlichen Länder Norwegen, Schweden, Dänemark, England, Irland und Island, in denen die Farbe Weiß dominiert, ist dagegen sehr hell und kann auch Sinnbild für Reinheit, Unschuld und ewiges Leben sein. Petrarca initiiert mit seinem Nord-Diskurs das Gefühl der kulturellen Überlegenheit Italiens gegenüber dem Norden und schlägt somit eine Brücke zur Identitätsfindung der Italiener. Das Selbstverständnis der eigenen Nation bildet sich hauptsächlich in Abgrenzung gegen die nördlichen Nachbarn jenseits der Alpen heraus. Italien als Erbe des antiken Rom, Wiege der Zivilisation, Ort geistlicher Werte und Heimat der "virtu" (als virtus der Römer und humanistischer Begriff) stellt gegenüber dem Rest Europas als Ort der Barbarei einen literarischen Mythos dar, der über die Jahrhunderte hinweg anhält. Die eigene Geschichte kann aber nicht nur als Verfall nach der glorreichen Vergangenheit des römischen Reiches durch die Gewalt der nordischen Barbaren verstanden werden, sondern auch als Verlust der einstigen "virtu". Orazio Ariosti spricht anderen, im fernen Norden lebenden Völkern die "virtu" (als Tugend und Sittenreinheit) zu. Die Barbarei kennzeichnet nun Italien. Es bleibt aber dabei, daß man den Norden stilisiert, um die eigene Identität zu finden und sich selbst zu profilieren. Deswegen ist die Wandlung in der Deutung des Nordens im poetischen Diskurs von großem Interesse für die italienische Geistesgeschichte. 9 9 Eine Geschichte Italiens als Ganzheit ist übrigens schon immer eine Literaturgeschichte gewesen: Die einheitliche Tradition Italiens entspringt aus einem literarischen Ideal. Italien überdauert letztendlich nur als Kulturnation. V gl. C. Dionisotti, Geografia e storia della letteratura italiana, Torino 1967, S. 26 f. In Italien wird die Literatursprache allgemein verbindlicher sprachlicher Standard für den gesamten schriftsprachlichen Bereich. Auch ideologisch haben bestimmte Meisterwerke eine große Tragweite. Deswegen kann eine literaturwissenschaftliche Arbeit ein Interesse wecken, das über die Literaturgeschichte hinausgeht. Hans Liebmann mußte selbst für seine Quellen - Reise- und Nuntiaturberichte, Relationen, Depeschen - hinnehmen, daß sie meistens eher als Beitrag zur Kenntnis der italienischen Geistesgeschichte zu nutzen seien und sich ein der Wahrheit wirklich entsprechendes Bild vom deutschen Leben jener Zeit daraus nicht entwerfen lasse. V gl. H. Liebmann, Deutsches Land und Volk nach italienischen Berichterstattern der Reformationszeit, a. a. O. Das gilt umso mehr für die Quellen dieser Studie.

14

Einleitung

Die Gründe für eine solche Wandlung werden in dieser Arbeit aufgespürt. Da es bei den von mir untersuchten Autoren keineswegs um persönliche Reiseerlebnisse, eigene Beobachtungen und unmittelbare Erfahrungen geht, sind es neue ästhetische Paradigmen, epochale Paradigmenwechsel und Weltanschauungen, die in der Transformation der Nord-Bilder eine Rolle spielen. So kann man keine positive Bewertung des Nordischen erwarten, solange das klassische Schönheitsideal oder - um mit den Worten von Francesco Alunno da Ferrara zu sprechen - die "vaghezza,,10 im Vordergrund steht. Erst als sich ein anderes Konzept von erhabener Schönheit durchsetzt und die Schätzung martialischer Werte, die man dem Norden zuspricht, zunimmt, begegnet man in der italienischen Literatur positiveren Konstruktionen von ,Nördlichkeit'. Vor allem nach der Veröffentlichung der Werke der Brüder Olaus und Johannes Magnus und der von Ramusio herausgegebenen Reiseberichte beginnt eine intensivere Herausstellung von positiven Nord-Bildern. Die Veröffentlichung solcher Quellen führt zu einer Wende in der Geschichte des italienischen Nord-Diskurses. Es ist eine Tatsache, daß die Geschichte und die Sitten des Nordens schon immer in einer interpretatio romana zugänglich waren: Sie wurden in der lateinischen Sprache und für ein ,südliches' Publikum, von dem die Autoren annahmen, daß es nichts vom Norden weiß, verfaßt, u. a. um viele Parallelen zu beweisen und die gemeinsame Zugehörigkeit zur Kultur des Christentums zu betonen. Es sind Werke von gebildeten Autoren, die von der klassischen Tradition durchdrungen waren und die Geschichte der nordischen Völker mit der Absicht der imitatio und aemulatio imperii romani schrieben. Die Selbstbilder des Nordens, die in Italien rezipiert werden und literarische Werke inspirieren, bestehen also hauptsächlich aus klassischen Bausteinen. Die zahlreichen Kosmographien aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in denen die Vollkommenheit der von Gott mit grenzenloser Weisheit geschaffenen Erde in ihrer unendlichen Vielfalt betont wird, tragen dazu bei, daß man das nordische Klima und die nordische Landschaft nicht mehr als unschön verachten darf. Die exotischen Kuriositäten entsprechen dem präbarocken Geschmack: Der Norden Europas rückt zusammen mit dem fernen Orient und der neuen Welt in den Mittelpunkt des Interesses. Darüber hinaus verbreitet sich in Italien die Idee des ,Gotizismus': Die nordischen Goten werden gepriesen, weil sie die dekadenten Römer besiegt haben. Die Zeit der Völkerwanderung ist in die italienische Geschichtsschreibung als ,Invasion der Barbaren' eingegangen. Die aus dem Norden nach Italien ziehenden Menschen werden oft als wild, grausam und unzivilisiert dargestellt. Das Bild der 10 Vgl. Francesco Alunno da Ferrara, Lafabrica dei mondo, Venetia 1581, S. 101v.: "Vaghezza" bedeutet "desiderio et brama di cosa che diletta" und ist in der poetischen Topik mit der Göttin der Liebe und mit Begriffen wie venustas, gratia, suavitas, pulchritudo, deliciae oder "cortesia", "gentilezza", "lusinghe", "delicatezze", "dolcezza", "soavita", "piacevolezza", "gioia", "allegrezza", "letitia", "pace", "amore", "amoroso piacere" verbunden.

Einleitung

15

Nordländer in der italienischen Literatur nimmt daher sehr früh feste negative Züge an, die mit den politischen Umständen verbunden sind. Doch gibt es in der italienischen Tradition zahlreiche, eindrucksvolle Bilder des Nordens, die sich nicht in dieses Schema einordnen lassen. ,Nordisch' heißt nicht immer ,barbarisch" wütend und gefährlich. ,Nordisch' heißt in erster Linie ,fremd', ,anders', ,unbekannt' und kann wie alles Fremde Angst machen und gleichzeitig faszinieren. Einerseits will man sich in Italien vom Norden abgrenzen, andererseits ist der Norden aber auch ein geheimnisvoller Ort der Sehnsucht. Die italienische Literatur war außerdem nie so stark von der römischen und klassischen Tradition besessen, daß sie für die Amegungen von jenseits der Alpen unempfanglich gewesen wäre, vielmehr versuchte sie, diese in die eigenen Maßstäben einer klassischen, ,italienischen' Eleganz zu integrieren. 11 Im übrigen blüht ab dem 16. Jahrhundert die modeme Literatur in den verschiedenen europäischen Ländern auf, und die größten Humanisten (Erasmus, Bude, Thomas Morus, Vives, usw.) kommen nicht mehr aus Italien. Einige lateinschreibende Literaten versuchen ihre vermeintlichen Privilegien zu verteidigen (wie die von Erasmus von Rotterdam angegriffenen Ciceronianer in Rom), aber vergeblich. In der Epoche des Manierismus nimmt die Bewunderung des Nordens im Rahmen der allgemeinen exotischen Tendenzen stark zu, so daß man von einem literarischen "goticismo" sprechen kann, der zu Francesco Negri, Apostolo Zeno und Gianbattista Vico führt. 12 Gustavo Costa hat in seiner Studie über die germanische Altertumskunde in der italienischen Kultur bewiesen, daß auch diese einen wichtigen Beitrag zum Phänomen des ,Gotizismus' (der sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt) im Sinne einer Entdeckung der borealen Traditionen geleistet hat, und zwar in einer besonderen Art und Weise, nämlich als ein Land, das sich vom ,Norden' weit entfernt versteht. Italien als Zentrum der römischen Kultur öffnet sich dabei einer alternativen Kultur. 13 Die langsame Transformation der Konstruktionen des Nordens vom 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, die Gegenstand dieser Studie ist, kann die Verbreitung des Mythos vom Norden in den darauffolgenden Jahrhunderten verständlicher erVgl. C. Dionisotti, Geografia e storia della letteratura italiana, a. a. 0., S. 197. Vgl. D. Poli, 11 primitivismo in Saxo e Vico, in: Saxo Grammaticus. Tra storiografia e letteratura, Bevagna, 27 - 29 settembre 1990, hrsg. von C. Santini, Roma 1992, S. 281 - 291 und vor allem G. Costa, Le antichita germaniche nella cultura italiana da Machiavelli a Vico, Napoli 1977. 13 Wichtige Namen des italienischen Barock werden mit dem Phänomen des ,Gotizismus' in Verbindung gebracht (Campanella, Botero, Tesauro, Bentivoglio und Boccalini). Die Nachfolger Tassos und Giraldis, in deren Theater so oft englische, schottische oder skandinavische Könige auftreten (Guidoccio, Ondedei, Andreini, Manzini, Cevoli, Ruggeri, Partini), können ebenfalls als Vertreter des ,Gotizismus' verstanden werden. Sie bereiten den Weg für Apostolo Zeno, der sich kein Buch über die Regionen des Aquilone entgehen lassen will und sich von Saxo Grarnmaticus für seinen Ambleto inspirieren läßt. Die Königin Christina aus Schweden hat ebenfalls mit der Eröffnung ihres Salons in Rom zum "goticismo" in der italienischen Literatur des 17. Jahrhunderts einen großen Beitrag geleistet. II

12

16

Einleitung

scheinen lassen. Einige wichtige Motive treten nämlich schon in dieser Zeit auf und wirken weiter. Der traditionell mit den nördlichen Völkern verbundene Begriff des Barbarentums verändert sich in seiner Bedeutung schon in dieser Epoche: Der unterschiedliche Gebrauch von Schlüsselwörtern wie "rabbia" und "furore" oder "barbaro" in der poetischen Tradition helfen dabei, diese Wandlung zu erkennen und nachzuvollziehen. Ein Kapitel über Tasso rundet diese Arbeit ab, weil seine Dichtung im Hinblick auf die Nord-Bilder in der italienischen Literaturgeschichte nicht nur einen Paradigmenwechsel, sondern auch ein Endresultat darstellt. Für ihn reichen die klassisch-humanistischen Bilder des Nordens nicht mehr aus. Er greift auf neue, nördliche Quellen (Saxo, Olaus Magnus) und auf geographische Schriften zurück, um seinen eigenen ,Norden' zu konstruieren. Er beherrscht mit Leichtigkeit die poetische Sprache (die immer noch die petrarkische Sprache ist) und nützt sie in erweitertem Sinne, um die Grausamkeit und die Vergänglichkeit der menschlichen Leidenschaften darzustellen. Tasso fügt dem "italianismo" als Schule humanistischer und höfischer Eleganz etwas Neues hinzu, das zum ersten Mal eine psychologische Vertiefung und eine dramatische Interpretation des Lebens ermöglicht. 14 Mit seiner poetischen Konstruktion des Nordens vollbringt er eine beachtliche Erweiterung des geistigen Horizonts. Zum ersten Mal wird der Norden zum Hauptthema einer heroischen und tragischen Dichtung erkoren, die, ganz der italienischen poetischen Tradition entsprechend, den Klang des Krieges und des Sieges immer mit der Nostalgie des Friedens verbindet. Keine Quelle dieser Studie gibt Auskunft über die geographische, politische oder geschichtliche Wirklichkeit der Länder in Nordeuropa. Vielmehr wird durch sie ein Diskurs über das politische und moralische Schicksal des Landes Italien und die Werte, Sehnsüchte und Grenzen des Menschen angeregt. Diese Texte folgen ausschließlich den Gesetzen der ,poetischen Wahrheit' und konstruieren den ,femen Norden' aus italienischer Perspektive, um über die eigene Geschichte zu reflektieren oder einen generellen Diskurs über das menschliche Dasein zu entwickeln.

14

Vgl. C. Dionisotti, Geograjia e storia delta letteratura italiana, a. a. 0., S. 45.

I. Finsternis und Licht: heidnischer und christlicher Norden im Dittamondo von Fazio degli Uberti 1. Der allegorische Norden: Sinnbild der Sünde und des Unglaubens oder letzte Grenze der Menschheit

Das unvollendete allegorische Lehrgedicht in Terzinen Dittamondo 1 (etwa ,Berichte von der Welt') des Ghibellinen Fazio degli Uberti, das zwischen 1346 und 1367 entstand, ist repräsentativ für die geistige Bedeutung der Struktur des Raumes und die Vorstellung vom Norden in der italienischen Literatur vor Petrarca. Die Zeit, in der er schreibt, ist die Epoche, in der die ersten mappae mundi mit den skandinavischen Ländern erscheinen und verbreitet werden. 2 Das Gebiet, das Fazio degli Uberti emphatisch mit dem Begriff ,Norden' ("Settentrione") bezeichnet, entspricht nicht dem transalpinen Europa, sondern dem damals noch nicht christianisierten Gebiet im heutigen Osteuropa und Rußland. Vor allem entspricht aber der Begriff der ,Nördlichkeit' einer Dimension, die nicht geographisch zu verstehen ist. Wenn der Dichter das Phänomen der sechsmonatigen Finsternis erwähnt, das am Nordpol vorkommen soll, denkt er nicht an ein tatsächliches Naturphänomen oder an eine geographische Größe, sondern an das moralische und theologische Symbol der Dunkelheit. Somit gehört das christliche Europa dem Dichter zufolge nicht zum dunklen nordischen Raum, da es das Licht des wahren Glaubens erhalten hat. In der Beschreibung des Nordostens werden einige Naturphänomene wie die Kälte des Klimas und die Länge der Winternächte verschärft, um eine verwerfliche Andersartigkeit darzustellen, während im Nordwesten andere Elemente wie der lange Sommertag und das schöne Weiß der dort lebenden Tiere im Vordergrund stehen. Für das Gebiet jenseits der christlichen Königreiche Schweden und Nor1 Fazio degli Uberti, Dittamondo, hrsg. von G. Corsi, Bari 1952,2 Bde. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 2 1321 wird Papst Johannes XXII. in Avignon von dem Venezianer Marin Sanudo der geographische Text Liber secretorum fidelium crucis geschenkt, dem mehrere Karten beigelegt sind. Die Karten mit der Beschreibung Nordeuropas von Angelico Dalorto und Angelino Dulcert folgen ein paar Jahre später, während die sogenannte Mappa estense oder Laurenziana Gaddiana auf das Jahr 1351 zurückgeht. Mehrere Karten der Katalanischen Schule kommen in den folgenden Jahrzehnten hinzu. Vgl. F. Cardini, Mito dei Nord e conoscenza dei Settentrione europeo in alcune fonti fiorentine del Trecento, in: Italianistica scandinava. Atti dei II Congresso degli italianisti scandinavi, Turku-Abo, 3-6 giugno 1976, Turku 1976, S. 186 und S. 195.

2 Boccignone

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I. Finsternis und Licht

wegen kann man wieder vom ,dunklen Norden' sprechen, weil dieser symbolträchtige Raum außerhalb der bewohnbaren Welt liegt und die von Gott gesetzten Grenzen darstellt. Fazio degli Uberti verbindet also mit dem Begriff des ,dunklen Nordens' entweder die verwerfliche Fremdheit der Nichtchristen, deren Unglaube allegorisch durch Kälte, menschenunfreundliche Lebensbedingungen und Scheußlichkeit symbolisiert wird, oder die letzte Grenze, die den Menschen auf Erden gesetzt ist, das mysterium, durch das sie nicht durchschauen können und dürfen. Der Norden kann deswegen auch in Form des Unzugänglichkeitstopos vorkommen. Der äußerste ,helle Norden' ist eine Welt, die sich durch ihre positiv bewerteten Besonderheiten auszeichnet, weil sie einige Privilegien genießt, die der ,normalen' Welt unbekannt sind, wie zum Beispiel den ewigen Frühling oder die absolute Abwesenheit von Krankheiten und giftigen Tieren. Der äußerste Norden bildet also die Kehrseite des Erfahrenen. Er stellt entweder eine dämonische oder eine engelhafte Dimension dar, ist entweder Hölle oder Paradies, wie die vom Heiligen Brendan besuchten Inseln. Die eigene, vertraute Welt identifiziert sich dagegen mit dem Weg der Menschen auf Erden. Der Autor beschreibt daher eine fiktive Reise, die in traditioneller Weise für die geistige und sittliche Vervollkommnung des Menschen steht. In einem Traum wird er ermahnt, auf den Weg des Guten zurückzukehren. Nach dem Erwachen beichtet er deshalb seine Sünden und entschließt sich, zu einer Weltreise aufzubrechen. Er trifft Solinus und vertraut sich seiner sachkundigen Führung durch die drei Weltteile Afrika, Europa und Asien an. Andere Teile der Erde sind nach den damaligen Kenntnissen wegen der dort herrschenden Kälte oder Hitze nicht bewohnbar und werden deswegen von den Reisenden gefürchtet und gemieden. Fazios Schilderungen sind oft phantasievoll und noch stark den geographischen Sammelwerken und Bestiarien des Mittelalters und Autoren wie Plinius, Orosius, Mela, Isidor und Solinus verpflichtet. Dennoch wurde das Werk zu seiner Zeit auch als geographisch brauchbares Handbuch geschätzt. Tatsächlich hat Fazio mehrere Informationen sowohl aus nordischen Quellen wie jene Schriften des Adam von Bremen, des Bartolomeus Anglicus, des Jean Mandeville und des Ranulph Higden, als auch aus Berichten von Seeleuten und aus katalanischen und italienischen Karten der Zeit gesammelt, so daß er als seriöser Geograph anzusehen ist. 3 Wie schon erwähnt, bearbeitet der Dichter in seiner moralischen Topographie die traditionellen Motive über den Norden und teilt sie in zwei Gruppen: Die positiveren Eigenschaften beziehen sich auf den christlichen Nordwesten Europas, eine Region, die zum Teil durch hagiographische Texte bekannt war, die negativeren Merkmale dagegen auf den Nordosten. 4 Im heiteren, idealisierten Raum, der dem Vgl. ebd., S. 186 und S. 204 ff. Der Osten ist generell negativ konnotiert: Auch die südöstlichen Regionen Europas werden verachtet, da in ihnen der orthodoxe Glaube vertreten wird. Die religiöse Identität und die Idee einer translatio der Kultur und der Macht von Osten nach Westen spielen eine große Rolle. 3

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1. Der allegorische Norden: Sinnbild der Sünde und des Unglaubens

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gesamten westlichen katholischen Raum angehört, befinden sich unzählige Inseln mit faszinierenden ,nordischen' mirabilia. Dort leben schöne, hellhäutige, blonde Menschen, die sich als besonders fromm und tugendhaft, mutig und tapfer erweisen. Beide Räume sind Sinnträger moralischer Realitäten und negativer bzw. positiver Eigenschaften des menschlichen Lebens, kurzum von Sünde und Tugend. Man muß jedoch berücksichtigen, daß das Böse im Weltbild des Dichters nicht nur im Nordosten Europas lokalisiert ist, sondern bei jedem ungläubigen Volk, so auch im Süden, wo andere Heiden und Monstren leben und das Klima wegen der Hitze äußerst unangenehm sein soll. Die Weltreise hat für den Ghibellinen und Dante-Bewunderer Fazio degli Uberti nicht nur eine tiefe moralische Bedeutung. Sie ist auch ein Weg - in der Erwartung einer politischen und sittlichen Erneuerung - die Gegenwart und die gesamte Menschen- und Heilsgeschichte zu interpretieren. Die verschiedenen Regionen der Welt, die Dinge des ,Buches der Natur' und auch die Himmelsrichtungen sind nicht nur buchstäblich zu verstehen, sondern sind auch Sinnträger eines verborgenen spirituellen Gehalts, eines sensus spiritualis, der sich in drei Ebenen auffächert, sofern der Text sich auf das moralische Leben der Menschen bezieht (moraliter), von der Heilsgeschichte spricht (allegorice) oder die jenseitige Vollendung zum Inhalt hat (anagogice).5 Vor diesem Hintergrund kann man nachvollziehen, warum der Dichter die an sich negativ konnotierte Himmelsrichtung ,Norden' mit einem Gebiet verbindet, das wir heute ,Osten' nennen. Diese in vierfacher Weise zu verstehende Welt, in der sich der Autor bewegt, hat ein Zentrum: Rom. Daher beginnt die symbolische Fahrt in Latium, wo den Wanderern eine würdige Matrone im Witwengewand gegenübertritt. Es handelt sich um die Personifizierung Roms und seines ewigen Reiches: Die trauernde Frau ist durch den Streit zwischen Papst und Kaiser gedemütigt und verwundet. Sie referiert in einer langatmigen Erzählung die Geschichte der Stadt von der Antike bis zur Zeit des Autors. Es ist eine Geschichte von Erfolg und Ruhm, aber auch von Unglück und Leid. Der Ghibelline Fazio degli Uberti akzeptiert selbstverständlich die Idee der translatio imperii: Rom selbst gab Karl dem Großen den Kaisertitel und die Macht (11, XXII, 2-3: "Cario Magno in Francia fu il primo / a cui dessi gia mai il mio podere"). Dieselbe Legitimität wird Otto von Sachsen zugesprochen, der vom römischen und italienischen Volk berufen wurde (11, XXII, 82 - 84). Mit der Zeit gelangte deswegen der kaiserliche Adler in die Hand von Menschen, die nicht aus Italien stammten. Rom als ewige Stadt bleibt aber in jeder Hinsicht (im historischen wie im moralischen, heilsgeschichtlichen und anagogischen Sinne) das Zentrum des Kosmos: Der Ruin und das Unheil, die die Stadt erfährt, bedeuten daher das Unheil des gesamten Christentums, das Unheil der gesamten Menschheit. 5 Barbara Maunnann hat sich mit der Frage nach der Bedeutung der Himmelsrichtungen auf dem Gebiet der mittelalterlichen Bedeutungsforschung (als "Wissenschaft von den spirituellen Exegese der geschaffenen Welt" gefaßt) in einer umfangreichen Studie beschäftigt. Vgl. B. Maunnann, Die Himmelsrichtungen im Weltbild des Mittelalters. Hildegard von Bingen, Honorius Augustodunensis und andere Autoren, München 1976.

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I. Finsternis und Licht

,Barbaren' sind für Fazio degli Uberti keineswegs die Nichtitaliener, sondern die Nichtchristen. Es ist bemerkenswert, daß Fazio mit "ltalia" oft nur Ober- und Mittelitalien meint. Die Grenzen Italiens werden ungefähr bei Spoleto gesetzt (III, X). Ihm geht es sicherlich nicht darum, die Grenzen Italiens festzumachen. Weder Sizilien noch Korsika oder Sardinien gehören zu Italien. Die auf Korsika lebenden Menschen sind hart und grausam und sehen wie Bären aus (III, XII, 15: "acerbi e fieri son, che paion orsi"). Das gilt auch für die Insel Sardinien, auf der es Menschen gibt, die eine unverständliche Sprache sprechen. 6 ,Barbaren' sind ebenfalls die Orthodoxen im Osten Europas. Wie seine Zeitgenossen in Westeuropa empfindet auch er keine Bewunderung für die Griechen seiner Zeit. Fazio gibt zu, daß sie in der Vergangenheit mutig und keusch waren, nun aber seien sie feige und gleichzeitig grausam. Das Volk, das sich einst durch eine hohe Kultur auszeichnete, sei in der Gegenwart verroht und barbarisch und habe alle Tugenden der Vergangenheit verloren. Keine "vertu" sei nun bei diesem Volk zu finden. Solinus erklärt diese Veränderungen mit dem allgemeinen Gesetz, daß alles ein Ende habe, daß keine Größe anhielte. Es sei der Lauf der Welt, der verlange, daß all das, was einst groß war, einmal zerfällt, so wie das Römische Reich auch zerfallen ist. Die moralische Botschaft ist klar: Der Mensch darf nie hochmütig sein und sich des eigenen Erfolges freuen. Man kann aber diese Darstellung der Weltgeschichte auch im Hinblick auf den Bedeutungsverlust der Mittelmeerländer und die zunehmende Wichtigkeit der früher als niedrig erachteten und unbedeutenden nördlichen Völker Europas interpretieren. Die Abspaltung der orthodoxen von der römischen Kirche spielt eine wesentliche Rolle. Die Griechen sind in den Augen eines Italieners der damaligen Zeit Abtrünnige, die die Autorität des Papstes nicht anerkennen und sich vom rechtmäßigen Glauben abgewendet haben. Der Fall des oströmischen Reiches wird als eine Katastrophe wahrgenommen, die nicht mehr gutzumachen ist. Kultur und Tugend sind also für Fazio degli Uberti nicht mehr im Südosten Europas zu suchen. 7 Vielmehr findet Fazio degli Uberti in Westeuropa (im heutigen West- und 6 Im Inneren Sardiniens, dem Gebiet "Barbagia", sind die Bewohner meistens böse und untreu. Sie sind noch nicht christianisiert, da sie in den Bergen isoliert leben und stark sind (111, XII, 61-63: "Quel che sia cresma 0 battesmo non sanno; / la Barbagia e detta in lor paese; / in sicure montagne e forti stanno"). Auch bei Dante stellen die Menschen aus "Barbagia", zusammen mit den Sarazenen, die Prototypen der Barbaren dar (Purg., XXIII, 94-95 und XXIII, 103 - 105). 7 Der Autor kommentiert den Anblick Trojas mit folgenden Worten: "ma io truovo la gente cruda e vile / ch'esser solea gentile, ardita e casta" (111, XIX, 17 -18), und Solinus erklärt: "Come di', pien di vertute / fu gia questo paese e d'alto stile. / Ma se or vedi le citta abbattute / e coperte di verdi spini e d' erba, / e le vertu ne gli uomini perdute, / imagina che parte e per superba / e imagina che 'I ciel, che qua giu guata, / niuna cosa in sua grandezza serba. / Pensa ov'e Roma, che fu allevata / con tanto studio, e come e ita giuso / quella che in Caldea ancor si guata. / Questa ruota dei mondo l'ha per uso, / cioe di far le gran cose cadere / eie minor talor di montar suso" (111, XIX, 20-33). Das ,Weltrad' dreht sich ständig, und die Herrschaft kann von einem Volk zu einem anderen übergehen, ebenso wie bestimmte Tugenden und positive Merkmale.

2. Der schreckliche, barbarische, wütende Norden

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Nordeuropa) Frömmigkeit und kulturelle Überlegenheit. Die religiöse Identität nimmt dabei den wichtigsten Platz ein. Man kann daher im ,orientierten' christlichen Weltbild oder in der moralischen Topographie des Fazio degli Uberti von einem schrecklichen, barbarischen, wütenden Norden und von einem heiteren, idealisierten, heilen nordischen Raum sprechen.

2. Der schreckliche, barbarische, wütende Norden

Im Dittamondo wird der Norden als Ausgangspunkt von Unheilskräften aufgefaßt. Sicher hatte der Dichter den Vers Jeremias vor Augen (Jer., 1, 14: "ab aquilo pandetur malum super omnes habitatores terrae "), der in verschwommenen Umrissen den Feind aus dem Norden schilderte. Die Region der Welt, die nach Fazio degli Uberti den dunklen, heidnischen, teuflischen und unheilbringenden Norden darstellt, ist traditionsgemäß das weite Skythien. Es gibt zwei Gegenden, die den Namen Skythien tragen ("due Sizie"): Eine gehört schon zu Asien nahe dem Kaspisehen Meer, die andere gehört geographisch zu Europa, wobei der fluß Tanais (Don) die beiden trennt. Im Süden bildet die Donau die Grenze dieser Region, während die nördlichen Grenzen von Skythien die Riphäischen Berge und der Ozean sind. Sie ist eine bedrohliche und schreckliche Welt, die der Nordwind peinigt und in der zahlreiche monströse Völker leben. 8 Sie wird als eine öde, dunkle Steppenlandschaft beschrieben, in der mehrere kriegerische und heidnische Nomadenvölker wie die harten Alanen herumirren (Luc., Phars., VIII, 133: "duros aetemi Martis Alanos") und in der man grausamen Menschenfressern begegnen kann. 9 Es ist das Land der Goten und Dacer ("Dachi"), die nach Plinius (Nat. hist., IV, 81) zwischen dem Ozean, den deserta Sarmatiae, der Weichsel und dem Hister (Donau) leben. Dort hausen auch die Hyperboreer. Sie sind keineswegs ein seliges Volk, das in klimatisch begünstigter Gegend wohnt, sondern lediglich ein Volk aus dem schrecklichen Norden. \0 Die Riphei montes bilden die nördlichste Grenze der 8 Lateinische Geographen hatten alle von Herodot erwähnten mythischen Völker als Scythi bezeichnet (Plinius, Nat. hist., IV, 80), daher waren die Skythen schon als gefährliche und schreckliche Wesen eingestuft. Es kommt hinzu, daß Skythien mit dem Land der gottesfeindlichen Gogs und Magogs identifiziert wurde, die nach biblischen Prophezeiungen (Ezech., 38 f. und Apoc., XX, 7) Israel am Ende der Geschichte vom Norden aus attackieren würden (Isidor, Etym., IX, 150, 31). Skythien stellt daher die Sünde und die Rebellion gegen Gott dar. Die Kälte, die dort herrscht, ist mit einem Mangel an der warmen caritas verbunden. Die Finsternis im skythischen Norden repräsentiert das Reich des Satans, der sich dort seinen Thron suchte (fes., 14, 1: "Ponam sedem meam in aquilone et ero simili Altissimo "). 9 So beschreibt Fazio die Anthropophagen, die seit jeher im unbekannten Nordland zuhause sind: "Qui presso gli Antropofagi si stringono / i quali vivon tanto crudelissimi, / che d'usar came umana non s'infingono" (IV, X, 70-72). 10 Hyperboreus war schon seit langem ein Synonym für den Begriff ,nördlich' geworden, wobei die Hyperborei montes mit den Riphäischen Bergen identifiziert wurden. Boccaccio erklärt, daß sich diese Berge direkt unter dem kosmischen Nordpol befinden: .. Yperborei

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1. Finsternis und Licht

bewohnbaren Welt, und dort befindet sich das Land der "Teroforoni", die Pterophoros regio (Plinius, IV, 88 und Solinus, 16, 2). Jenseits dieser Berge erstreckt sich ein finsterer, von der Natur verdammter Raum. I I Das mythische Volk der einäugigen Arimaspen darf hier nicht fehlen, da es traditionell im äußersten Norden, bei den Hyperboreern, gegen die Greifen um Gold oder Edelsteine kämpft (Mela, 11,2; Solinus, 96, 14 ff.). Alle diese nordischen Völker sind grausam und böse (I, X, 13-18): Da I' altra parte, ehe Boreas affligge, per I'Oeeano eoi gioghi Rifei, dietro de' quali mal fa chi s'affigge. Alania, Gozia, Dazia, Iperborei, Teroforoni e Arimaspi abbranea, Calibi e Daehi, ehe son erudi e rei.

Die Grenze der Welt im Norden stellt der Ozean dar, in dem es so viele Inseln und Völker gibt, daß man behaupten kann, die Natur erschöpfe sich, um sie alle hervorzubringen (I, X, 19-21). Der wenig bekannte Norden erscheint als gewaltiger alter orbis, in dem keine normalen Menschen, sondern lediglich Monstren (in physischer und moralischer Hinsicht) leben. Fazio erinnert den Leser daran, daß in Skythien ein außergewöhnliches Reich gegründet worden war. Es handelt sich um das Reich der Amazonen, jener starken und glorreichen Frauen, die unnatürlicherweise nicht mit ihren Männern leben wollten (IV, X, 25 - 28: "Non lungi qui fu il regno de le femini / che co' mariti lor negavan vivere / salvo ch'al tempo deI Toro edel Gemini"). Die mythischen Kriegerinnen, die einen Weiberstaat gründeten, wurden immer als Volk eines nordischen Stammes gesehen: Der Norden ist seit jeher ihre eigentliche Heimat und ihr fluß Thermodon wird manchmal vom fluß Tanais ersetzt. Die der Liebe abgeneigten und kampfbereiten Frauen gehören zum nordischen Skythien wie die übrigen grausamen Völker. Die Barbarei und die Wildheit aller Skythen wird durch einen seltsamen Vergleich ausgedrückt: Sie werden mit Affen verglichen, das heißt mit Tieren, die in Afrika leben und im nordischen Land nicht vorkommen (IV, X, 1- 3: "Ora passiamo tra popoli barberi,/bestiali, mostruosi e salvatichil quanto le scimmie che stanno tra gli alberi"). Diese Völker zeigen sich seit jeher animalisch und den Tieren ähnlicher als den Menschen. Die Auflistung der Adjektive in diesem Zusammenhang ist interessant: Barbarisch, tierisch, grausam, monströs und wild sind montes sunt Scythie in asyatico Occeani Utore ipso cardine siderum" (De montibus, 287). Die Zitate folgen der Ausgabe G. Boceaecio, De montibus, silvis, fontibus, lacubus, jluminibus, stagnis seu paludibus, de diversis nominibus maris, in: Ders., Tutte le opere, VII-VIII (tomo II), hrsg. von V. Branea, Milano 1998. 11 Boceaeeio gibt folgende Definition der Riphei montes: "sunt Scythie in capite Germanie a perpetuo jlatu ventorum nuncupati, a quibus Tanais jluvius egreditur. Ultra hos iacet ora que spectat ad Occeanum aquilonare, pars mundi a natura rerum damnata et densa demersa caligine" (De montibus, 464).

2. Der schreckliche, barbarische, wütende Norden

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praktisch Synonyme. Man kann behaupten, daß die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation mit der Grenze der christlich-katholischen Welt identisch ist. Die Menschen, die nicht der katholischen Welt angehören, sind noch keine Menschen im engeren Sinne, selbst wenn sie auf Inseln im Mittelmeer leben, wie es im Fall Sardiniens und Korsikas erläutert wurde. Wenn man dieses Muster betrachtet, erscheint es verständlich, daß der Dichter das "paese d' Albania", das sich östlich von Iberien (Georgien) befindet und sich bis zum Kaspischen Meer erstreckt (Plinius, VI, 29), als ein von grausamen Menschen ("acerbi") dicht bevölkertes Land beschreibt. In jener Region leben auch die Neuren (Herodot, 4, 17), bei denen es Werwölfe gibt, die sich im Sommer, wenn die Sonne sich in der Konstellation des Löwen befindet, in Wölfe verwandeln und schließlich wieder Menschen werden. Welche Sünde sie damit sühnen, weiß Solinus nicht zu erklären. 12 Im Norden erstrecken sich immense Wälder, in denen wilde, grausame Tiere hausen. Dort leben die Menschen wie Wilde ohne Gesetz. Östlich des Thermodon befinden sich die lasterhaften Hesidonen oder Issedonen, bei denen Herodot zufolge (IV, 26) die Frauen dieselbe Autorität wie die Männer haben, und die Skythenen, die Menschenopfer bringen (IV, X, 86-87: "tanto sono acerbi gli Scitauri, / che squartan l'uom per farne sacrifizio,,).13 Die gefährlichsten Wesen konzentrieren sich in einem nicht genau bestimmten Raum an der nördlichen Grenze zwischen Asien und Europa. "Rabbia" ist das Schlüsselwort, um diese schreckliche Welt zu beschreiben, ,Wut' von Völkern, von Tieren, ,Wut' von Gewässern und Wäldern, so daß man in jener Region wie gefangen ist (IV, XI, 4 - 6): Qui fui tra due confin, dov'e tal rabbia di genti, d'animai, d'acque e foreste, che qual v'entra pUD dir ch'e in una gabbia.

Die ,Wut' ("rabbia") ist aber kein besonderes Merkmal des Nordens bei Fazio degli Uberti, sondern ist allen barbarischen, heidnischen Fremden eigen, selbst wenn sie sich im Süden befinden. Auch an jener Stelle reimt sich "rabbia" mit "gabbia": Südliche oder östliche Gebiete, die moralisch nicht weniger verwerflich 12 Die unheimlichen Werwölfe wird Olaus Magnus zwei Jahrhunderte später im heutigen Litauen situieren (Hist., XVIII, 45 -47). Siehe O. Magnus, Historia de gentibus septentrionalibus Romae 1555, hrsg. von J. Granlund, Kopenhagen 1972. Im folgenden wird dieses Werk mit "Hist." angegeben. 13 Wenn man Richtung Süden fährt, folgen einige weniger bedrohliche Nomaden ("Numadi"), die sich immerhin noch wie Stiere ernähren. Im asiatischen Skythien sieht es weniger grausam aus: Die Unzivilisiertheit der dort lebenden Völker trägt weniger die Züge der Brutalität und der Unmenschlichkeit als die der Einfachheit, der Genügsamkeit und der Unschuld des Goldenen Zeitalters. Die herumirrenden "Satarcei" zum Beispiel, kennen kein Gold oder Silber und sind daher nicht geizig. Ein Stück weiter leben die Georgier, die Freude an den Feldfrüchten haben, und Asiaten, die kein Geld benutzen und keineswegs gierig sind. In dieser Welt der primitiven Naturvölker kann sich der Autor nicht verständigen. Lesen oder schreiben können hat dort keinen Zweck, und man kann kein Geld ausgeben. Die Zivilisation ist dort noch nicht angekommen, weder mit ihrer Kultur und ihren Vorteilen, noch mit ihren Problemen und Nachteilen, die mit dem Umgang mit dem Geld verbunden sind.

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I. Finsternis und Licht

als die nördlichen sind, können gleichennaßen zu einem ,Käfig' ("gabbia") für die Reisenden werden. So stimmen viele Elemente in der Beschreibung Arabiens mit der Darstellung des schlechten, barbarischen Nordens zum Teil sogar wörtlich überein: zum Beispiel bei der Existenz von öden Gebieten, Wäldern und Monstren (V, XXVI, 70 - 78): Noi trovammo deserti e gran foreste e luoghi solitari e pien di rabbia dico di mostri e di altre tempeste. Come l'ueeel, ehe eerea per la gabbia d'useirne fuori, eereavamo ognora, sempre appressando in verso il sen d' Arabbia. Per quelli stremi di levante, allora, trovammo genti eon si strani volti, ehe a imaginarli me ne segno aneora.

Die Wut und die Monstrosität sind Kennzeichen der Fremden, der Ungläubigen, die am Rande der Ökumene leben, seien sie im äußersten Norden, Süden oder Osten ("per quell i stremi di levante"). Wahrend sich westlich von Europa nur der weite Ozean ausbreitet, gibt es in den drei anderen Himmelsrichtungen Länder, in denen Monstren und grausame, barbarische Völker hausen. Im Norden trifft Fazio Leute, die menschliche Schädel als Becher benutzen, wie es Paulus Diaconus zufolge auch die Langobarden bei ihren Festen taten. Das Volk, das dieses barbarische Brauchtum pflegt, wird aber nicht genauer bestimmt und bleibt ohne Namen. Der Dichter will da nur das abschreckende Motiv, das schon literarischen Niederschlag gefunden hatte, verwenden, um seine Darstellung des grausamen skythischen Nordens abzurunden. Von Wikingern ist jedoch keine Rede. Diejenigen, die aus den Schädeln der Feinde trinken, stehen auf derselben Ebene wie die mythischen Arimaspen, die gegen die Greifen kämpfen. Fazio behauptet, bei ihnen gewesen zu sein, aber er hat sich nicht jenseits der Riphäischen Berge aufgehalten, wo es immer Eis und Nebel geben soll (IV, XI, 19-20: "Dietro a monte Rifeo ... / nuvolo e ghiaccio, ond'io non vi passai"). Von den Hyperboreern behauptet der Dichter, sie befänden sich am Rande Europas und hätten jedes Jahr ohne Veränderung einen sechs Monate langen Tag und eine genauso lange Nacht (IV, XI, 22-24): Ne la fine di Europa poi trovai gl'Iperborei, ehe hanno il di sei me si e sei la notte: e eio non falla mai.

Von dem semenstris dies weiß Fazio durch Plinius (VI, 219) und Solinus (17, 1): Die Hyperboreer, die schon lange ihre Privilegien als ein glückliches Volk verloren hatten, waren an den Nordpol gerückt worden. Bis dahin ist der Dichter in seiner allegorischen Fiktion gekommen, in den äußersten Norden, wo das geronnene Eismeer liegt, das auch ,Totes Meer' genannt wird. Wer den höchst gefährlichen Nordozean überlebt, soll Gott besonders dankbar sein (IV, XI, 28 - 30):

2. Der schreckliche, barbarische, wütende Norden

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Qual vivo scampa a Dio de' render grazia, che va per I' ocean settentrione, dove 'I mar Morto over ghiacciato spazia.

Im nördlichen Ozean, der die Sünde und die Versuchung repräsentiert, befinden sich viele Inseln, die in der Tradition der abschreckenden, abscheulichen mirabilia etwas Besonderes und Unübliches vorzuweisen haben, so wie zum Beispiel die sogenannten Hyppopodes,14 die Fazio erschaudern lassen, weil sie Pferdefüße haben (IV, XI, 34 - 39): Ne I' oceano, per quelle confini, in fra I' altre isoie, una ve ne vidi tal che, pensando, aneor ne aniceio i erini. ,,0 luce mia, diss'io, che qui mi guidi, che gente e questa, e'ha pie di cavallo?" Ed ello a me: "Que' son detti Ippopidi".

Auf einer anderen Insel im Nordozean leben schreckliche Wesen mit übergroßen Ohren, mit denen sie sich bedecken (Plinius, IV, 95, Mela, II1, 6 und Solinus, XIX, 6-8), die Fazio "Fanesi" (Panotii) nennt (IV, XI, 44-45:"i Fanesi, che le membra / si veston, come vedi, con le orecchia"). Der Dichter kann nicht umhin, sich nach dem Sinn der Existenz solcher scheußlichen Wesen zu fragen, gegenüber denen Gott und die Natur zornig und erbannungslos zu sein scheinen. Solinus hat hierfür keine besondere Erklärung, sondern meint lediglich, daß sie ihrem bestialischen Aussehen entsprechend bestialische Seelen hätten. Deswegen bräuchte man sich mit ihnen nicht weiter zu beschäftigen. Die Monstrosität dieser Fabelwesen, von denen Fazio behauptet, sie mit eigenen Augen gesehen zu haben, hat eine moralische Bedeutung. Diese Monstren der klassischen Tradition dienen der Allegorie. Deswegen schaut man nicht genau hin, sondern geht weiter ("passa") wie Dante im Höllenkreis der Trägen (InJ, II1, 51: "Non ragioniam di lor, ma guarda e passa"). Der Allegorie dient aber nicht nur die Beschreibung von bestialischen und abscheulichen Wesen, sondern auch die Darstellung einer äußerst lebensfeindlichen und abschreckenden Umwelt, die sich von der eigenen, vertrauten und geordneten Welt unterscheidet. Deshalb ist die nordöstliche Küste Europas bewaldet, öde und kalt (IV, XI, 46-54): "La gente di queste isole mi sembra ehe Dio e la natura gli abbia in ira, diss'io, ne di piii trista mi rimembra." Ed ello a me: "Passa pur oltre e mira ehe, come sono bestiali in apparenza, eotai l'anime pensa ehe li gira". Presa di questi vera esperienza, tomammo a terra fenna, in su 10 stremo silvano, freddo e eon poca semenza. 14 Schon Plinius hatte die Pferdefüßler auf die Inseln des Nordmeeres gesetzt (Nat. hist, IV, 95).

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I. Finsternis und Licht

Egal, wo Fazio sich im nordöstlichen Raum bewegt, er gelangt immer in Regionen, deren Bewohner brutal und bestialisch sind. "Bestiale" ist ein Synonym für Ungläubige ("senza fe"), das heißt, daß alle Nichtchristen oder Heiden als menschenunwürdig, als Monstren oder als wilde Tiere dargestellt werden. Die Grenzlinie zwischen Menschlichkeit und Zivilisation auf der einen Seite und Barbarei, Wildheit und Monstrosität auf der anderen repräsentiert auf den verschiedenen Ebenen der allegorischen Deutung die Grenzlinie zwischen Christentum und Heidentum, zwischen Gnade mit der Hoffnung auf Erlösung und Ablehnung Gottes und Todsünde. Die V6lker an der östlichen Grenze der christlichen Ökumene werden deshalb extrem negativ dargestellt. Gebiete wie Lettland und Preußen gehören in Fazios imaginärer Topographie zur dunklen und eiskalten Seite der Welt, wobei das unangenehme Klima und die häßliche Landschaft immer mit den schlechten Sitten der dort lebenden V6lker übereinstimmt (IV, XII, 55 - 60): In questa parte, sotto il freddo piu, si passa in Prussia, ove Lettan si trova: senza fe son, quanto mai gente fu. La legge ehe hanno e si bestiale e nova, eh'adoran ci ehe prima il giomo vede, pur ehe sia eosa ehe eon vita si mova.

Wenn Fazio degli Uberti ans Ende seiner Reise durch Skythien angelangt ist, faßt er noch die Grenzen dieser weiten Region zusammen: die Donau im Süden, der Ozean und die Riphäischen Berge im Norden. Der Leser wird aufgefordert, allen Etappen der Reise durch die Vorstellungskraft ("imaginar") mit dem geistigen Auge zu folgen. Diese Reise soll ein Weg zur Erlösung sein, und der Dichter ist von der Klarheit seiner allegorischen Botschaft sehr überzeugt (IV, XIII, 1 - 9): Con gli oeehi de la mente te eonvene, ehe leggi, imaginar di punto in punto, se vuoi la via eh'io fo eomprender bene. Sizia ho eereato e sono, alfine, giunto: sempre dei destro, I' oeeano e i monti Iperborei e Rifei e qui fo punto; Dal sinistro, il Danubio e le sue fonti: or ci eh'e in mezzo a queste due eonfini, in fino a qui, Sizia par ehe si conti.

Den allegorischen skythischen Norden kann man durch die Imagination begreifen, meint Fazio degli Uberti, denn dieser Raum befindet sich noch diesseits der Weltgrenzen und steht für etwas, das der menschliche Intellekt verstehen kann. Jenseits dieser geographischen und intellektuellen Grenzen (Ozean, Hyperboreer und Riphäische Berge) können die Menschen weder mit dem Körper noch mit der Imagination gelangen. Ebenso wird Torquato Tasso einen metaphorischen Norden konstruieren, welchen die wagende menschliche Imagination nicht durchdringen und keine Allegorie erhellen kann [vgl. Kap. VI.5.d)].

3. Der heitere, idealisierte, heile und reine Norden

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3. Der heitere, idealisierte, heile und reine Norden Der heitere, idealisierte Norden gehört zur christlichen Ökumene und wird als ein Raum vorgestellt, der besondere Merkmale aufweist und sich durch diese vom vertrauten Raum des Dichters unterscheidet. Die positive Bewertung des Nordens kann mit der Feststellung verbunden sein, daß, während alles andere sich im Weltall in einem ewigen Kreislauf bewegt, der Himmelsnordpol ein fester Punkt ist. Je weiter man gen Norden fährt, desto erstaunlicher sind die mirabilia, die erwähnt werden, desto größer ist die Bewunderung für eine reiche, üppige, manchmal fast paradiesische Natur mit frischer und gesunder Luft und reinem Wasser im Überfluß. Je weiter Fazio in den Norden fährt, desto keuscher, tugendhafter, gastfreundlicher, freiheitsliebender und mutiger scheinen die Menschen zu sein, die außerdem wegen ihrer hellen Haut und ihrer blonden Haare wunderschön sind. Die Farbe Weiß und das Licht nehmen den Platz der Finsternis ein, die im dunklen Norden ständig herrschte. Es hausen keine Monstren in diesem Raum, sondern gutaussehende, fromme Christen. Der immense Ozean umarmt die gesamte bewohnte Welt (I, X, 35 - 36: "il grande Oceano, / ch'a tutto il mondo, come vedi, e zona"). Hier ist es aber nicht mehr der Nordozean mit den schrecklichen, von Monstren bewohnten Inseln, der Skythien abgrenzt. Im westlichen Ozean sind schöne und reiche Inseln mit äußerst ritterlichen und sittsamen Bewohnern zu finden: England, Irland, Ibernia (Fazio hat dabei übersehen, daß Ibernia eigentlich der antike Name Irlands ist), Schottland (das auch als Insel für sich gedacht ist!), weitere Inseln der Nordsee und des Nordatlantik und schließlich Thule ("Tile"),15 seit jeher Inbegriff des limes oder finis terrae im Norden. Inseln mit paradiesischen Zügen sind in einem äußersten nordischen Raum situiert, der keinem geographischen Raum mehr entspricht, weil er einer ,anderen' Zeit und einer ,anderen' Dimension angehört. Deshalb kann man behaupten, daß die Beschreibung der bereisten Länder phantasievoller und bedeutungsvoller wird je weiter man nach Norden kommt. Fazio degli Uberti verfügt über keinerlei persönliche Erfahrungen in bezug auf Länder wie England oder Irland, aber er betrachtet diese Regionen, die sich in Richtung Nordwesten erstrecken, als Teil eines einheitlichen christlichen Gebietes, zu dem auch Italien gehört. Einige dieser Regionen zeichnen sich zwar durch ein kälteres Klima aus, wie der Dichter manchmal erwähnt, aber dieser Umstand wird nicht besonders betont. 16 Auf jeden Fall gibt es 15 Der griechische Name der Insel wurde in zwei Fonnen ins Lateinische transskribiert: Thule oder Thyle. Das "y" der zweiten Fonn wird oft in den italienischen Texten durch ein "i" ersetzt, so daß die mythische Insel letztendlich "Tile" heißt. Fazio degli Uberti behauptet nicht, daß "Tile" die letzte Insel im Norden oder in Richtung Nordwesten sei, sondern daß diese die letzte Insel sei, von der er Kunde hat. Er läßt dabei offen, ob weitere Inseln oder Länder nördlich von Thule existieren könnten. 16 Die Kälte einiger dieser Länder wird nur gelegentlich erwähnt (I, X, 76-78: "ltalia, con le Alpi, nel ponente, / de la Magna e di Gallia confina, / si che 'I bel petto il lor gran

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dort nichts, das moralisch verwerflich sein könnte. Im Gegenteil: Tapferkeit und Ehrlichkeit, Freiheitsliebe und Gastfreundschaft scheinen die maßgeblichen Eigenschaften der Menschen im ,guten' Norden zu sein. Der Dichter hat alles Positive über den Norden aus seinen Quellen herausgearbeitet, ebenso wie er für den negativen, heidnischen, barbarischen Norden alles Negative herausgestellt hatte. Nachdem der Autor und Solinus Skythien verlassen haben, befinden sie sich im eigentlichen Europa, im christlichen Westen, der für Fazio mit der zivilisierten Welt gleichzusetzen ist. Man läßt deshalb die wilden und bewaldeten ürte, das Eis und den Nebel, den Nordwind und die Wut der Elemente hinter sich, wenn man Skythien verläßt und nach Westen fährt (IV, XIII, 65: "in ver ponente"). Es eröffnet sich dem Reisenden das Land der schöneren, intelligenteren und tüchtigeren Dänen (IV, XI, 71-72: "gli uomini vidi / piu belli, piu accorti e piu maestri") und der starken Goten, die Isidor zufolge (Etym., IX, 2) vom biblischen Magog abstammen und mehrere Reiche und sogar Italien eroberten (IV, XI, 78: "piu regni acquistär gUt con la lor mano"; IV, XI, 83: "presono Italia"). Es ist eine Welt, die nur teilund übergangsweise mit dem skythischen Norden in Verbindung stand: Die Goten heirateten in der antiken Zeit die Amazonen (IV, XI, 76-77: "De le Amazone funno, al tempo strano, / mari ti e da Magog il norne scese"). Die Geschichte der Goten ist aber vor allem mit der Geschichte Roms verknüpft: Die Goten verließen ihr Land und siedelten diesseits der Donau, als Kaiser Valents in Rom herrschte (IV, XI, 79: "imperando Valente"). Wenn Fazio sich mit dem christlichen Norden beschäftigt, weiß er, daß er seinem Lehrer Solinus hierin überlegen ist, weil er zum Teil weitergehende Informationen gesammelt hat, die die heidnische Antike und Solinus noch nicht besaßen. Sein Wunsch, die Welt kennenzulernen, so meint der Dichter, führt ihn zu Ländern, die die alten Geographen überhaupt nicht kannten. Er begibt sich mit einem gewissen Stolz auf einen Weg, der den antiken Autoren versagt blieb, und will seine eigenen Beobachtungen oder das, was er für wahr hält, notieren (IV, XII, 1-6): Tanto son vago di cercare a dentro, ch'io mi lascio Solin alquanto dietro ed esco fuor dei suo segnato centro. E cio ch'io veggio e per vero odo, impetro ne la mia mente, e poi cosi 10 noto in questi versi con ch' io sono e cetro.

Solinus hinter sich zu lassen heißt, weitere nördliche Länder am Eismeer zu entdecken, von denen die Autoren der Antike wenig zu berichten hatten. Fazio spricht von "Suecia" (wie die Region "Gozia" Teil vom heutigen Schweden), und von "Scandelavia" (IV, XII, 11), einer Insel, die nördlich von "Suecia" liegt. Die Insel freddo sente"). Deutschland ist trotz der Kälte (I, X, 42: "assai v'e gente, ma freddo e 10 stallo") ein reiches und dichtbevölkertes Land. Eigentlich sind die schöne Natur, das fruchtbare Land und das angenehme Klima nicht auf das Mittelmeer beschränkt, sondern alle europäische Länder weisen diese positiven Merkmale auf.

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Gotland ist wegen des Wild- und Pelzhandels und als alte Heimat der Goten bekannt. Die altertümliche Geschichte dieses Volkes, die ,nordische Antike', die Fazio nicht genau kennt, wird bedeutsam als "tempo strano" (IV, XI, 76) oder "gli anni strani" (IV, XII, 21) bezeichnet. Der Autor erreicht zunächst das ferne Eismeer und einen schrecklichen dunklen, leeren Ort, um dann wieder in Richtung Zentrum der Ökumene zu fahren (IV, XII, 14: "venendo in verso noi"). Er läßt also die äußerste nördliche Grenze sofort hinter sich, um anschließend vertrautere Regionen zu beschreiben. Auf diese Art und Weise, durch den Kontrast zu der dunklen Leere des gefrorenen Meeres am Ende Schwedens (IV, XII, 7 - 9: ,,10 son su I' ocean ghiaccio e rimoto, / e a la fine di Suecia io sono / in luogo pauroso, oscuro e vöto"), werden Länder wie Gotland und Norwegen mit ihren Bewohnern bereits als ,familiärer' gedeutet (IV, XII, 15: "piu dimestica assai al parer mio"). Das Königreich Norwegen, in dem schon seit über hundert Jahren Zehnte für Rom gesammelt werden, wird sehr positiv dargestellt. 17 Es hat große Wälder und Berge; es gibt weder Wein noch Öl, aber die Norweger, die im übrigen weiß, schön, groß und stark sind, sind ausgezeichnete Fischer und Jäger und ernähren sich von Wild und Fisch. Schöne und zahlreiche Tiere, die die Italiener nicht kennen, sind dort zu finden, weiße Falken l8 und Vögel anderer Arten sowie weiße Bären. Adam von Bremen und auch Albertus Magnus hatten bereits auf die weiße Farbe der meisten Tiere im Norden hingewiesen. Sie hat im christlichen kulturellen Kode eine sehr positive Konnotation und steht im Kontrast zur Finsternis des ,östlichen' Nordens. 19 Die Norweger, deren Land von drei Seiten mit Wasser umgeben ist (auch nördlich von Norwegen liegt der Ozean), waren auch Piraten, aber Fazio scheint sie dafür nicht zu verdammen, sondern erwähnt diese Tatsache fast nebenbei. Inzwischen sind sie ein schlichtes, tüchtiges und frommes Volk geworden. Das Wasser spielt eine große Rolle in seiner Beschreibung: Der Vergleich der norwegischen Flüsse mit dem vertrauten und geliebten Fluß EIsa seiner Heimat gilt als größtes Lob. Der Autor darf natürlich nicht vergessen zu schreiben, daß es in Norwegen lange Nächte im Winter gibt. Er drückt sich sehr zurückhaltend aus und spricht von ,einigen Tagen', in denen es kein Tageslicht gibt. Von der Tristesse der langandauernden Dunkelheit oder der Weigerung der Sonne, dieses Land zu erhellen, ist keine Rede (IV, XI, 31-45): Bianea, robusta e grande v'e la gente e il paese alpestro e eon gran sei ve e freddo si, ehe poeo ealdo sente. Assai v'e pesee, selvaggina e belve onde han la vita lor, ehe da la terra biada, olio e vin non si divelve. 17 Cardini vermutet, daß Fazio degli Uberti die Karte von Angelino Dulcert (1339) vor Augen hatte. Vgl. F. Cardini, Mito del Nord ... , a. a. 0., S. 206. 18 Weiße Falken und Eisbären sind auf der Karte von Angelieo Dalorto (1325) abgebildet. Vgl. ebd., S. 197. 19 Vgl. L. De Anna, II mito dei Nord. Tradizioni classiche e medievali, Napoli 1994, S. 32.

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Il mare intomo a tre parti la serra; pescator sono e cacciatori isnelli e, quai pirati, altrui per mar fan guerra. Girfalchi bianchi e novita d'uccelli e diversi animali vi sono assai, orsi canuti e fibri grandi e belli. Da poi che 'I sole e giunto in Capricorno, passan piu di, che non v'e giomo mai.

Fazio behauptet, in Deutschland, wo es viele Wälder und Berge gibt, nicht nur Auerochsen und Wisente, sondern auch einen Elch (IV, XIII, 75: "alce") gesehen zu haben, den Solinus (XX, 7) in "Gangavia" und Plinius in "Scatinavia" (IV, 9697) angesiedelt hatten. Wahrscheinlich hat er "Germania" mit "Gangavia" verwechselt. Die Deutschen, deren Name "Germani" wie bei Paulus Diaconus (Rist. Lang., I, 1) dadurch erklärt wird, daß ihr Land viele Menschen hervorbringt ("germina"), sind groß, kräftig und tapfer und bewältigen jede Anstrengung. Vor allem sind sie aber gütig und gerecht, wenn man sie nicht betrügt (IV, XIII, 72: "leali altrui e buon, se non l'inganni"). Deutschland ist ein reiches Land mit vielen großen Städten. Das Rittertum und die Ritterlichkeit sind dort sehr verbreitet (IV, XV, 7375 und IV, XIV, 5 - 6: "Molto sono i paesi grandi e ricchi; molto in tornei e in giostre vi si spende"). Aus Bayern kommt das edelste Geschlecht des guten Kreuzritters Namo (IV, XIV, 22 - 24: "passammo in Bavera, / onde fu il buon Namo e questa schiatta / la piu gentil"). Sachsen ist schön und seine Bewohner, die seiner Kenntnis nach von den Griechen abstammen, zeichnen sich durch Güte, Schönheit, Höflichkeit (IV, XIV, 42: "la gente v'e buona, bella e cortese") und darüber hinaus durch Mut und besondere Stärke aus, wie die Ottonen beweisen können (IV, XV, 52-53: "Genti fortissime e fiere vi sono: / e cio provaro al tempo de' buon Otti"). Thüringen ist ein schönes und reiches Land mit reiner und gesunder Luft (IV, XV, 64: "e l'aire sana e pura"). "Bello" und "buono" sind zusammen mit "forte", "ricco" und "grande" die am häufigsten gebrauchten Adjektive, um Deutschland zu beschreiben. Auch Adjektive wie "soave" oder "dilettevol" kommen vor. In der deutschen Landschaft gibt es zwar auch Berge und Wälder, aber vor allem die Flüsse, Städte und edlen Burgen (IV, XV, 77: "forti cittadi e nobili Castelli") erregen die Aufmerksamkeit des Autors.z° Von der Barbarei der Germanen ist keine Rede. Als 20 Auch Holland und Flandern werden als fruchtbare, schöne Regionen mit reichen Städten beschrieben. Holland mit seinen zahlreichen Seen ist wie eine Insel vom Wasser - nämlich vom Ozean und von Rhein - umgeben. Von den Holländern sagt man auch, sie seien friedlich (und nicht dem Raub ergeben), aber in der Lage, sich notfalls auf hoher See mit Drachenschiffen zu verteidigen, wenn jemand versucht, sie zu betrügen oder zu bezwingen (IV, XV, 10-12: "Gli abitator son pacifici e vaghi / viver delloro e non rubare altrui; / ma, a qual li sforza 0 'nganna, mostran draghi"). Flandern schneidet sehr gut ab: Das Land hat zwar viele Wälder (IV, XV, 67: "Di boschi e forte quel paese afflitto"), aber es gibt auch sehr viele reiche und schöne Städte dort. Die Luft ist mild, gesund und klar, der Boden fruchtbar, kurz gesagt, das Land ist "dolce" (IV, XV, 76-78: "Dolce e il paese quanta a l'uom diletta / e l'aire temperata, chiara e sana, / la terra buona a cio che vi getta"). Auch die Champagne ist

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er nach Brabant kommt und an die kriegerische Haltung des Volks dort erinnert, fügt er gleich hinzu, daß jene Menschen nur den äußeren Feind bekämpfen wollen, ansonsten aber sehr gütig, friedlich und barmherzig sind (IV, XV, 94-96):

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Questa gente fiera e bellicosa contro a' nemici e in fra lor si vede benigna assai, pacifica e pietosa.

Die Bereitschaft der Nordeuropäer zum Kampf wird nie negativ bewertet. Sie stellt vielmehr ein Zeichen von Stärke und Tapferkeit dar. Wenn Fazio in eine Region kommt, in der die Menschen von besonders großem Wuchs sind, fragt er Solinus, ob sie die Friesen seien, die gegen Cäsar kämpften und schließlich zweimal besiegt wurden. Solinus bejaht. Die Friesen wagten, zweimal gegen denjenigen zu revoltieren, der immer siegreich war. Der einzige Grund dafür sei ihre Freiheitsliebe gewesen. Für ihre Freiheit würden die Friesen auf alles verzichten und jede Trauer in Kauf nehmen. Somit werden sie ehrwürdige Verwandte des Cato der Göttlichen Komödie (Purg., I, 71-72: "liberta va cercando, ch'e si cara, / come sa chi per lei vita rifiuta"), der sich im Namen der Freiheit, die ihm mehr wert war als das Leben selbst, gegen Cäsar gewehrt hatte (IV, XV, 31- 33 : "Gente non so, che dentro allor ridutto / piu amin liberta, che costor fanno, / che per lei son disposti a ogni lutto"). Dieses Land der freiheitsliebenden Friesen lernt der Autor vollständig kennen und malt es sich im Herzen aus (IV, XV, 38 - 39: "poi che noto / mi fu a I' occhio e dipinto nel core"), unter anderem weil die Leute dort die Keuschheit besonders lieben (IV, XV, 43 - 44: "Vidi gli abitator di questo loco / come aman castitade"). Die Bewohner von Flandern werden schmeichelhaft als ehrlich, schön, vorsichtig und intelligent geschildert. Die Tatsache, daß sie hart in der militärischen Kunst vorgehen und dem Kriegsgott Mars ergeben sind, kommt in diesem Zusammenhang einem Kompliment gleich (IV, XV, 64-66: "Poi sopra tutti gli altri sanno I'arte / ehe Pallas porto in Egitto; / aspri ne l'armi e molto dati a Marte"). Die Menschen in Lothringen stellen die letzten Germanen dar. Der Autor scheut sich nicht, in einem hyperbolischen Lob auf Metz zu behaupten, es sei ein zweites Rom (IV, XV, 105: "poi fui a Mes, ch'e di la una Roma"). Auch die Normandie ("Normandia") ist für Fazio ein "paese ricco e buon" (IV, XV, 84). Er stellt sich die Frage, aus welchem Land die Normannen (IV, XVI, 4: "Questa gente normanna") stammen. Woher kamen die Seeräuber, die wegen ihres Ursprungs ,Menschen des Nordens' genannt wurden und der französischen Region ihren Namen gaben? Für Fazio degli Uberti gibt es nur eine Erklärung: Sie stammen aus dem schrecklichen, barbarischen, dunklen Land des Nordens, das heißt aus Skythien. Sie kamen in die Normandie, nachdem sie ihr Land verlassen und Norwegen, Deutschland und die Bretagne - wie es Piraten sonst tun - geplündert hatten. Bald erweisen sich aber diese Piraten in der Rede des Reiseführers als tugendhafte Helden. Die Normannen haben den dunklen Norden im Osten verlasschön, während die Leute gütig, höflich und arbeitsfreudig sind (IV, XX, 7 -9: "Marno fiume la contrada bagna; / bello il paese e la gente v' ebuona, / cortese altrui e volentier guadagna").

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sen, um nach Westen zu gelangen. Dies bedeutet, daß sie die Barbarei hinter sich gelassen haben, um die (europäische, christliche) Zivilisation zu erreichen; oder mit anderen Worten: Sie haben auf die Sünde verzichtet, um den Weg der Tugend einzuschlagen, sie haben das Heidentum für den wahren Glauben abgelegt. Mit einer gewissen Bewunderung erklärt der Dichter, daß die Normannen wie Stare in Gruppen aus Skythien kamen (IV, XVI, 8 - 9: "come volan li storni a schiera a schiera, / mosson di Sizia e di quelle pendici"). Sobald sie nach Westen gezogen sind, sind sie in den Worten Solinus keine Piraten mehr, sondern Herren (IV, XVI, 22: "quivi fermaron lor signoria"). Ihr Führer Rollo, der die Tochter des Kaisers zur Frau bekommt, wird wegen seiner Tapferkeit, Großzügigkeit und Höflichkeit - kurzum wegen aller Tugenden der Ritterwelt - gepriesen (IV, XVI, 23 - 25: "Rollo era il signor tra loro piu magno, / pieno di gran vertute e di valore, / largo e cortese a ogni suo compagno"). Der Mann aus dem Norden ist nun Herr eines Landes in der christlichen Welt. Er erhält zusammen mit seinem Gefolge die Taufe. Seine Söhne sind die "Normanni", die aus der französischen Normandie Krieg nach Apulien bringen und damit Städte und Burgen erobern und Beute sammeln (IV, XVI, 47 -48: "e 'n Puglia andaro e la fen guerra, acquistando citta, castella e preda"). Die zwei Brüder Guglielmo Lungaspada und Riccardo sind zweifellos schmeichelhaft beschrieben: mutig, großzügig, überstark und natürlich auch schön (IV, XVI, 43: "larghi, pro' funno, fortissimi e belli"). Die Schönheit der Nordländer ist für Fazio nicht zu bezweifeln. Schön sind die Franken / Franzosen, die von den Trojanern abstammen, und mit den Galliern gleichzusetzen sind, meint der Dichter. Ihr Name geht nach der mittelalterlichen etymologischen Auslegung auf die helle Farbe ihrer Haut zurück, die wie Milch aussieht. 21 Die Erklärung, weswegen gerade in Frankreich die Menschen besonders weiß sind, ist interessant: Es liege an der Kälte, die von den von Eis und Schnee bedeckten Alpen kommt. Es komme aber auch von der Kälte des Himmels. Sie war im schrecklichen Nordosten zu verdammen, hier hat sie dagegen eine sehr positive Wirkung, denn sie spendet Schönheit und auch Kraft: Die schneeweißen Körper sind groß, stark, robust und hart, so daß die Franzosen im Kampf große Ehre erreichen können (IV, XX, 17 - 27): "Una gente son, disse, i Galli e i Franchi

egalla e tanto a dir qual latte in greco.

E perche son piu qui, ch'altrove, bianchi uomini e donne, per certo ti svelo dal bianco latte il norne par che branchi.

21 Auch auf England sind die Menschen wegen ihrer schneeweißen Haut besonders schön. Ihre ,weiße Schönheit' wird von Fazio degli Uberti der ,schwarzen, schmutzigen Häßlichkeit' der Äthiopier entgegengesetzt (IV, XXIII, 16 - 18: "Perle vi sono ancora in larga copia / le genti vi son bianche e con bei volti, / si come neri e sozzi in Etiopia"). Es handelt sich hier natürlich nicht um eine persönliche Vorliebe seitens Fazios, sondern um einen starken kulturellen Kode der europäischen Welt. Die Einwohner der großen britannischen Insel stammen Fazio zufolge von den Trojanern ab, das heißt von den edlen Verlierern der antiken Geschichte.

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Per le grandi Alpi e coperte di gelD, ch'al caldo sole temperanza danno, ehe non gli accende, e col rigor deI cielo, i corpi loro piu candidi stanno ehe in altra parte; e son robusti e duri, grandi e forti, e in arme onor si fanno. "

Fazio degli Uberti singt außerdem ein Loblied auf das mittelalterliche Kulturzentrum Paris, eine edle Stadt, in der das moralische und geistliche Wissen gepflegt wird. Dort sei die höchste Kultur Europas zu finden, meint der Dichter. Diese Stadt übertrifft Athen während seiner größten Blüte, es hat eine translatio artium et scientiarum gegeben, vom alten Griechenland an das modeme Paris (IV, XVIII, 10-12: "Qui sono i bei costurni e natural i / quanto ad Atene mai, quando fu donna / di filosofi e d'arti liberali"). Rom scheint vergessen. Es ist interessant festzustellen, daß die Figur Solinus von der alten, klassischen Zeit, aber auch von der modemen Zeit (die der historische Solinus natürlich nicht kennen konnte) berichtet. Fazio degli Uberti betrachtet Frankreich mit den Augen eines mittelalterlichen Autors, der einige Quellen der Antike kennt und modernere Autoren der unmittelbar vorausgegangenen Zeit schätzt, die ihm zusätzliche Informationen über dieses Land geben (IV, XX, 2-3: "ragionando m'andava la mia scorta / or deI tempo moderno, or de l'antico"). In allen Regionen Frankreichs sind die Leute schön und gut und überall gibt es edle Städte. In Vienne befindet sich das Grab des Heiligen Anton, der gegen die Versuchungen des Teufels kämpfen mußte. Die Merkmale dieses Heiligen entsprechen den Merkmalen der meisten Menschen, die Fazio in den Ländern nördlich von Italien, Deutschland, Holland, Flandern und Frankreich getroffen hat. Er ist nämlich "acerbo", "fiero" und "robusto" gegenüber denjenigen, die ihn verachten, auf der einen Seite und "benigno" und "pietoso" mit denen, die ihn verehren, auf der anderen Seite. Er besitzt die nötige Härte und die nötige pietas, wie die Christen im Nordwesten Europas im allgemeinen (IV, XXI, 16 - 18): Acerbo, fiero si truova e robusto a chi ' I dispregia e benigno e pietoso a qual con fede il prega e con buon gusto.

Was England betrifft, so kann man sagen, daß eine positivere Bewertung kaum möglich ist: Die Menschen dieser Insel sind fromm, gerecht, stark und tapfer, konstant und großzügig, schön und höflich (IV, XXIII, 44-48). Die Tradition der Ritter spielt bestimmt eine sehr große Rolle in dieser Bewertung. Wilhelm der Eroberer wird sogar als der beste Christ der Welt bezeichnet und selbst die Schotten, die früher wild und hart waren, sind nun zivilisiert geworden (IV, XXVI, 19-24). Über England hinaus eröffnet sich mit zahlreichen geheimnisvollen kleinen Inseln ein von mirabilia erfüllter Raum im Norden. Der Dichter will nicht glauben, daß es Menschen auf einer Insel in der Nähe von Britannien gibt, die mit einem Schwanz zur Welt kommen, weil er keine Monstren oder halbtierischen Wesen in 3 Boccignone

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diesem heilen, reinen, schönen Norden akzeptiert (IV, XXIII, 31-33). Fazio glaubt aber an die Legende der Bäume, deren Früchte im Wasser Flügel bekommen und sich in Vogel verwandeln. Diese Sage war schon zu seiner Zeit ein paar Jahrhunderte alt und gehörte zu den mirabilia, die zunächst mit dem phantastischen Land Indien verbunden waren (IV, XXIII, 37 -39: "fama e tra costoro / ch'arbor vi sono di tal meraviglia, / che fanno uccelli: e questo e il frutto loro"). Auch der Norden Europas als terra incognita kann solch einer Legende Platz machen: Die wunderbaren Vogel werden nach Schottland und zu den Orkney-Inseln fliegen, wo Olaus Magnus auf sie treffen wird (Hist., XIX, 9). Neben England und Irland gibt es die Insel "Ibernia". Hier situiert Fazio degli Uberti eine paradiesische Natur, die zum Teil den alten Mythos der Hyperboreer wiedergibt und wie die paradiesische Insel des Heiligen Brendan sehr schwer zu erreichen ist. Fazio lobt das milde Klima der Insel, die in einem ewigen Frühling lebt. Er verschweigt nicht die Gefahren des Ozeans und der schwierigen Seefahrt bis nach Ibernia, aber von Monstren ist an keiner Stelle die Rede. Es werden Felsen und starke Winde erwähnt, aber es tauchen keine Ungeheuer auf. Die Leute und die Landschaft sehen wegen der hohen Berge im ersten Augenblick zwar wild aus, aber es handelt sich um eine Täuschung: Sowohl die Menschen als auch das Land sind so ,süß' und angenehm, daß der Autor noch lange Zeit nach der Reise mit Vergnügen daran zurückdenkt. Schönheit und Reinheit der Gewässer, Milde und Anmut spielen die Hauptrolle in der Beschreibung dieser mythischen Insel des Nordens, die nur unter Risiken zu erreichen ist, ebenso wie das Glück der Seele nur durch Mühe und Verzicht zu erlangen ist (IV, XXVI, 31- 48): Ibernia ora qui ci aspetta e ehiama e, benehe 'I naviear Ja sia eon rischio, la ragion fu qui vinta da la brama. Diversi venti eon mugghi e eon fisehio soffiavan per quel mare, andando a piaggia, 10 qual di seogli e di gran sassi misehio. Questa gente, benehe mostri selvaggia e, per li monti, la eontrada aeerba, non di meno ella dolce a chi I' assaggia. Quivi son gran pasture e piene d'erba e la terra si buona, ehe Cerera niente a I' arte sua mostrar si serba. Quivi par sempre, eome in primavera, un'aire temperata ehe gli appaghi, eon chiare fonti e eon belle rivera. Quivi vid'io di piu natura laghi e un fra gli altri ehe si mi contenta, eh'aneor diletto n'han gli oeehi miei vaghi.

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Da ist der heile Norden, das entfernte paradiesische Land, das nur schwer, wenn überhaupt, erreichbar ist. In der Nähe dieser wundervollen, edenischen Insel Ibernia befindet sich auch eine andere kleine Insel, auf der man nicht auf natürliche

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Weise sterben kann, sondern den Freitod wählt und sich selbst ins Meer herabstürzt. Eigentlich gehörte diese Eigenschaft auch zu den mythischen Hyperboreern (Plinius, IV, 89, Mela, III, 37, Solinus, 16, 4), genauso wie das wunderbar milde Klima und alle anderen guten Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Weisheit, Frömmigkeit, Gastlichkeit, Eintracht und Friedlichkeit. Fazio degli Uberti macht aus den glücklichen Greisen, die dem Tod ohne Angst entgegentreten können, indem sie sich von einem Felsen herabstürzen, die Einwohner einer anderen, neu erdachten Insel im Nordwesten?2 Es ist der äußerste Norden, der nicht der historischen Welt angehört, sondern als terra incognita ein Zufluchtsort für wunderbare Mythen mit allegorischer Bedeutung ist. Das Nicht-Vorhandensein von Todesangst oder das Streben nach dem Tod, so könnte man sagen, geht mit dem Streben nach dem unendlichen Leben, nach der Vollkommenheit und Unversehrtheit des erlösten und glorifizierten menschlichen Körpers einher. Es ist deshalb nachvollziehbar, daß sich auf derselben Insel die Höhlen befinden, in denen die Luft so mild ist, daß sich die Körper nicht zersetzen (IV, XXVI, 58 - 63): Ancora vi trovammo un'isoletta, la dove I'uomo mai morir non puote, ma, quando in transir sta, fuor se ne getta. E sonvi ancora caverne rimote dove niun corpo si corrompe mai, si temperata l' aire vi percote.

Beim äußersten Nordwesten kann man also vom heiteren, hellen und reinen ,Norden' sprechen. Fazio sagt ausdrücklich, daß er sich freut, das sich im Norden befindende Island ("sotto la tramontana"), erwähnen zu können, wobei er vorgibt, es von Ferne gesehen zu haben, ohne es allerdings - wie im Falle Pytheas und der Insel Thule - erreichen zu können. Ein solches Land der Sehnsüchte und der absoluten Reinheit kann der menschliche Fuß nicht betreten. Die weißen Bären, die unter dem Eis fischen, und das schöne "cristallo" faszinieren ihn. Unter "cristallo" ist kein banales Eis zu verstehen, sondern es handelt sich nach dem allgemeinen Wissen der Zeit um ein wunderbares Produkt der Berge im heilen Norden, das aus Schnee besteht und sowohl ein inneres Feuer als auch heilende Kräfte besitzt, wie es im Werk L'Acerba von Cecco d' Ascoli 23 erklärt wird (L'Acerba, III, 18, 13-20): Nasce neH' Alpe dei settentrione cristallo fatto deH'antica neve secondo la comune opinione 22 Mit größter Wahrscheinlichkeit kannte der Dichter die Mappa mundi des englischen Zisterziensers Ranulf Higden (1360). Sie berichtet von diesen ,glücklichen' Menschen: "Gens Yperboria beatissima, ultra aquilonem sita, arboribus pascuntur, aegritudine non sentiunt, in mari de morte optant." Vgl. A. Fago, L'occidente "latino" difronte al nord artico e ai lapponi, in: Same, I: la dimensione remota, hrsg. von G. Mazzoleni, Roma 1981, S. 180. 23 Francesco Stabili (Cecco d' Ascoli), L'Acerba, hrsg. von A. Crespi, Ascoli Piceno 1927.

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Opposto al Sole di fuor manda il fuoco; la sete, posto in bocca, curar deve; trito di miele fa latte non poco, E forte vale al colico dolore che fa cessare quel maligno umore

Fazio erwähnt die Bären mit weißem Pelz und diesen wunderbaren, heilenden "cristallo,,24 der letzten, nicht erreichbaren Insel: Die hellen Farben dominieren auf Island, wobei keine Rede von unerträglicher Kälte ist. Vielleicht hatte der Dichter mit zeitgenössischen Seeleuten gesprochen, die auf Island gewesen waren, also mit echten Augenzeugen. Vielleicht hatte er die Information über die Präsenz von Weißbären dem Polychronicon von Ranulph Higden entnommen?5 Er stellt sich damit als einen Geographen dar, der auf aktuellem Stand ist. 26 Vor allem aber ist er an der symbolischen Dimension der weißen Farbe interessiert. Ebenfalls faszinieren ihn die magischen Männern und Frauen jenes Meeres, die ,so viel Wind haben können, wie sie wollen' und ihn den Seeleuten verkaufen. Er verurteilt solche Zauberer nicht, obwohl sie der Magie ergeben sind, sondern staunt wegen ihrer vermeintlichen Macht über die Winde und verweist auf vertrauenswürdige Autoritäten - Bartolomeus Anglicus und Adam von Bremen hatten schon davon berichtet27 - da er zugibt, sie nicht gesehen zu haben (IV, IV, XI, 85-97): Sotto la tramontana, ov'ero allora, vidi Isolandia, de la qual mi giova che la memoria ne sia per me ora, si per 10 bel cristallo, ch' uom vi trova, si per i bianchi orsi sotto il ghiaccio sale pescano in mare il pesce che vi cova. 10 non vi fui, ma per certo da tale autor I'udio, che senz'altro argomento 10 scri vo altrui e far non mi par male: io dico lungo il mar, che qui rammento, uomini e femine magiche sono ch'a' marinai col fil vendono il vento e quanta piace a loro aver ne pono.

In dem Raum, der sich nach Nordwesten erstreckt, sind nur die positiven alten Mythen des Nordens vertreten. Die sonstigen mirabilia, die an dieser Stelle erwähnt werden, wie zum Beispiel der See auf "Ibernia", in dem sich das Holz in 24 Auch Dante erwähnt den "cristallo" (Par., XXIX, 25: "E come in vetro, in ambra od in cristallo"). Vgl. R. Wis, Dante e i paesi settentrionali, in: AA. VV., Dante nel pensiero e nella esegesi dei secoli XIVe XV, Atti deI 11 Congresso Nazionale di Studi Danteschi, Melfi, 27 Settembre - 2 Ottobre 1970, Firenze 1975, S. 473 f. 25 Vgl. F. Cardini, Mito dei Nord ... , a. a. 0., S. 204. 26 Vgl. ebd., S. 209. Der Dichter wird von Cardini als "geografo serio e aggiornato" bezeichnet. 27 Vgl. ebd., S. 205.

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Eisen oder Stein verwandelt, sind bewundernswerte Ereignisse, die die Neugier des Fahrenden wecken und ihn in Staunen versetzen, ohne Angst oder Schrecken zu erregen. 28 Die äußersten Regionen der Welt, die nicht bewohnt sind, werden dagegen vom Reisenden gemieden. Über Thule hinaus fährt Fazio nicht, weil er eine den Menschen gesetzte Grenze nicht überschreiten darf. Das ,Buch der Natur' bildet zusammen mit der Heiligen Schrift die Offenbarung Gottes an die Menschen, die mit Demut die Zeichen lesen sollen. Darüber hinaus gibt es Geheimnisse, die allein aus dem Glauben heraus akzeptiert werden sollen. Vor diesem Hintergrund setzt Fazio degli Uberti Thule ("Tile") ans Ende der Reise in den heiteren Norden Europas. 29 Er berichtet aber nichts über diese Insel. Von Thule wird lediglich behauptet, es sei am Ende der Welt (IV, XXVII, 114-115: "passammo poi a Tile, ch'al fin e / dico deI mondo, per questo cammino"). Nördlich davon erstreckt sich ein unbekanntes Gebiet, das wegen der Kälte nicht bewohnbar ist, so wie es im Ptolemäischen System eine Klimazone am Äquator gibt, in der kein Mensch leben kann. 3o Den Menschen wurden klare Grenzen gesetzt, die nicht überschritten werden dürfen. Eine davon ist Thule. Bis dahin kommt der Reisende, er geht aber nicht weiter. Auch die untere Hälfte des Erdballs wird nicht besichtigt, obwohl sie Solinus zufolge bewohnt sein soll (I, VI, 31- 33: "L' altra meta, che ci e di sotto, poi, / nota non e, ne qual v'abita gente; / ma pure il ciel vi gira i raggi sUOi,,)?1 Zu den wenig bekannten Inseln, die kurz vor Thule liegen, notiert der Dichter, daß die Menschen dort ein einfaches Leben führen, keinen Privatbesitz wollen und sich von Milch und Fischen ernähren. Sie werden von einem König regiert und 28 Die schönen Edelsteine, von denen er berichtet, sind übrigens auch in anderen Regionen der Erde zu finden. Fazio erzählt von solchen mirabilia aus allen Ländern (selbst aus Italien), da man ihnen nicht nur in den unbekannten Regionen der Erde, sondern in allen von Menschen bewohnten Gegenden begegnet. 29 De Anna hat die Sonne der weißen Insel Thule ("bianca Thule") im ozeanischen Nordwesten dem Schatten von Gog und Magog im kontinentalen Nordosten gegenübergestellt, um die Zweideutigkeit des Mythos des Nordens zu veranschaulichen. Vgl. L. De Anna, Il mito dei Nord ... , a. a. 0., S. 47 f.: "Mentre a nord-ovest brilla il sole di Thule, a nord-est si intravede I' ombra di Gog e Magog." 30 Aus demselben Grund, nämlich die von Gott gesetzten Grenzen nicht überschreiten zu wollen, traut sich der Dichter nicht, in die Höhle des Heiligen Patrick hinabzusteigen, die sich auf der Insel "lbernia" neben einem Kloster befindet. Gott darf man nicht reizen, man soll sich mit dem zufrieden geben, was im menschlichen Rahmen bleibt. Fazio glaubt, daß die Heiligen Patrick und Nikolaus im Fegefeuer waren. Ihre Erfahrungen reichen ihm, er braucht nur an sie zu glauben und darf nichts wagen, was ein Zeichen von unbegründeter Selbstsicherheit und Übermut sein könnte, ja die größte Sünde des Hochmutes und der Ablehnung der menschlichen Grenze gegenüber Gott. An dieser Stelle rät der Autor Solinus, die Reise ins Jenseits - wie im Epos üblich - nicht zu wagen, und sich mit dem, was oben sich auf der Erde befindet, zu begnügen (IV, XXVII, 91 - 92: "questo pensier lassa / e non volere il tuo Signor tentare"; IV, XXVII, 94: "basti a noi quel di sopra cercare). 31 Die Existenz der Antichthonen oder Antipoden wird somit vermutet, es werden aber keine Hypothesen über ihr Aussehen oder sonstige Eigenschaften gemacht. Das Land ist völlig unbekannt und stellt ebenfalls eine Herausforderung dar, die über das Erlaubte hinausgeht.

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I. Finsternis und Licht

haben daher Gesetze, was bedeutet, daß sie nicht als Barbaren einzustufen sind, sondern als diszipliniertes Volk, das den Luxus ablehnt (IV, XXVII, 109 - 111: "Propio alcun non voglion queste genti; / usano latte, pesce e hanno re / ch'a legge i tien con pover vestimenti"). Es fällt auf, daß Fazio auf die Kälte und Rauheit des Klimas im Norden Europas nicht eingeht und an einen ewigen Frühling auf "Ibernia" glaubt. Das hat mit der positiven Bewertung der christlichen Welt und mit dem Mythos des heilen Nordens zu tun. England, Schottland, Irland, Island, selbst die Grenzinsel Thule gehören in seiner allegorischen Topographie zum moralisch positiven Raum. Ganz anders verhält es sich, wie man sehen konnte, bei der Beschreibung der Landschaft und des Klimas in Skythien, weil die Gegenden Sinnträger der negativen Eigenschaften des menschlichen Lebens sind. Dieselbe Behauptung gilt letztendlich auch für den südlichen Raum, in dem die Nichtchristen leben. Im fünften Buch verweist Fazio immer wieder auf die unangenehme Hitze in Afrika. Die meisten Monstren oder bedrohlichen Untiere, die meisten tierähnlichen Völker befänden sich in den wenig bekannten Ländern Schwarzafrikas, wo die Menschen der Fleischeslust und allen tierischen Trieben verfallen seien. 32 Selbst in Jerusalern seien die Menschen unangenehm, häßlich und nervig wie Fliegen. Zion als eigentliches Zentrum der Welt sei ein Ort, der von den Christen zurückerobert werden sollte, um seiner Rolle wieder gerecht zu werden. Bis dahin befände sich die Stadt leider in der Macht ,unanständiger' Völker. Fazio degli Uberti, der selbstverständlich an einen Kreuzzug aller christlichen Mächte gegen die Muslime denkt, akzeptiert die Theorie, nach der alle Völker in Afrika und Asien Nachfolger von Noahs Söhnen Sem und Harn seien. Das Schicksal der Söhne Harns, der Afrikaner, sei die Sklaverei. Die Völker Asiens, die von Sem abstammen, hätten schon in der Vergangenheit Herrschaft ausgeübt und sie schließlich verloren. Die Krone der Welt gehöre nun den Nachfolgern Japhets, das heißt den Völkern Europas (Römern oder Italienern, Franzosen, Spaniern, Deutschen usw.) und nicht nur denjenigen, die am Mittelmeer leben?3 In der Vorstellung des Autors gehören alle Christen des europäischen Kontinents zusammen, deswegen gibt es keine bedeutende Grenze oder Nord-Süd Spannung innerhalb Europas. Kaiser Karl IV. wird von Fazio nicht abgelehnt oder kritisiert, weil er nicht aus Rom oder Italien kommt. Diese Anschuldigung erhebt erst Petrarca. Für Fazio besteht die Schuld des Kaisers eigentlich nur darin, daß er kein Interesse für einen Kreuzzug zeigt. Er beschreibt ihn bei dem Versuch, Feigenbäume und Trauben in Böhmen zu pflanzen (VI, V, 67 - 69: "quel sofisto, / che sta in Buemme a piantar vigne e fichi / e che non cura di si caro acquisto"). Diese Pflanzen, so könnte man einwenden, können in Böhmen gar nicht gut gedeihen. Dies könnte man so inter32 Der Topos, der dem rauhen, mutigen Menschen des Nordens den verweichlichten und ungesitteten Menschen des Südens entgegenstellt, ist bekannt. Er kommt auch bei Cäsar, Tacitus und Plinius vor. Der Rahmen ist eine Theorie, die man als ,Anthropoklimatologie' definieren kann. Vgl. F. Cardini, Mito dei Nord . .. , a. a. 0., S. 189. 33 Nach der V6lkertafel in der Genesis rechnete man die Japhetiten dem nördlichen und westlichen Bereich der damals bekannten Welt zu.

3. Der heitere, idealisierte, heile und reine Norden

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pretieren, daß einem böhmischen Kaiser der Anspruch auf den Kaiserthron aberkannt wird. Fazio will jedoch bloß die Faulheit Karls IV. anprangern und hat keineswegs die Absicht, dessen Recht auf die kaiserliche Krone in Zweifel zu ziehen, weil er jenseits der Alpen geboren ist. 34 Der Böhme ist der rechtmäßige Nachfolger der römischen Kaiser durch Otto, Friedrich Barbarossa, Friedrich 11. und alle Kaiser, die jeder Ghibelline zu unterstützen hat (VI, V, 70-72: "Che fai? Perche non segui i primi antichi / 0 i Cesari romani e che non segui / dico gli Otti, Curradi e Federichi?"). Fazio degli Uberti ist auch sehr kritisch gegenüber dem Papst eingestellt, aber nicht so sehr wegen seines Aufenthaltes in Avignon und seiner Verachtung der Stadt Rom, sondern wegen seiner unmoralischen Haltung und seines Desinteresses für den Kreuzzug (VI, V, 64 - 66: "Poi al Pastor mi volsi per rampogna: / "E tu ti stai, che se' Vicar di Cristo, / co' frati tuoi a 'ngrassar la carogna"). Eine Trennung zwischen Italienern als Erben der antiken Römer und dem Rest der Europäer als Nachfolger der von den Römern besiegten Barbaren ist bei Fazio degli Uberti nirgends zu finden, obwohl er eine große Achtung vor der Tradition des Römischen Reiches hat. Wie Dante sieht er zwar den Verfall der Sitten und die Krise der Institutionen, aber er glaubt daran, daß das Römische Reich im universalen Heiligen Römischen Reich weiterlebt oder weiterleben sollte. Er glaubt auch an die kulturelle Einheit des christlichen Europa, die auf den Werten des Rittertums basiert, und er glaubt an die Kontinuität der Geschichte, an die enge Verbindung zwischen "tempi antichi" und "moderni". Die Gegenüberstellung von italienisch-lateinischer Kultur und nordischer Barbarei in Europa bei Petrarca ist in der italienischen Literatur ein novum. Erst nach ihm und durch seinen Einfluß wird es zu einem wichtigen humanistischen Topos. Fazio degli Uberti ist zwar Petrarcas Zeitgenosse, aber er vertritt noch eine mittelalterliche Sichtweise. Und so wie er im ,dunklen Norden' den Monstren der Sünde begegnet, sieht er auch im ,hellen Norden' die Zeichen der Reinheit und der Tugend.

34 Die Beschreibung Böhmens ist im Dittamondo durchaus positiv, obwohl das Land sich geographisch zwischen Europa (im engsten Sinne) und dem europäischen Skythien befindet. Moralisch ist Böhmen ein Teil des christlichen Europa. Das Land ist reich und berühmt, die Leute haben etwas angenehm Exotisches für einen Italiener und sind auf jeden Fall sehr schön. In der großen Stadt Prag, in der Karl IV. zeitweilig seinen Regierungssitz hat, gibt es edle Gebäude. Sie ist die einzige Stadt, die so weit Richtung Osten liegt und von Fazio erwähnt wird (IV, XI, 70-73: "Poi chiara e nota la Buemmia fumi, / copiosa d'argento e di metalli,l con bella gente e di novi costumi. / Praga v' egrande e con nobili staUi").

11. Petrarca und der Norden 1. Der humanistische Blick auf den Norden

Mit Petrarca findet im Hinblick auf die Nordthematik in der italienischen Dichtung eine bedeutende Wende statt. Seine Gegenüberstellung von Italienern, Nachfolgern der Römer, die den schönsten Teil der Welt bewohnen, und ,Barbaren' des restlichen Europa, ist etwas Neues, das in der italienischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts zu einem häufig wiederkehrenden Motiv wird und zu einem ,Barbaren-Verdikt' der italienischen Humanisten gegen alles Transalpine führt. I Es fällt auf, daß dieser Gegensatz, der eine Zäsur innerhalb der christlichen Ökumene durch den Rückgriff auf antike Muster einführt, bei Dante und bei den Autoren vor Petrarca nicht zu finden ist? Selbst bei seinem Zeitgenossen Fazio degli Uberti stellen vielmehr die nichtchristianisierten Skythen im Nordosten Europas die ,Barbaren' dar (vgl. Kap. 1.2.) und nicht etwa die Deutschen oder Franzosen, die nördlich der Alpen wohnen. 3 Erst mit Petrarca wird in der italienischen Literatur das Oppositionspaar ,Christen-Heiden' durch jenes der ,Römer-Barbaren' ersetzt. Für ihn sind erstmals die Nichtitaliener Vertreter eines nordischen Raums: Nachfolger von barbarischen GaIIiern, Kimbern und Teutonen. Sie werden der römischen Zivilisation mit WerI Dieses Barbaren-Verdikt, unter dem noch Erasmus zu leiden hatte, wie Amelung bemerkt hat, ist ein Beispiel des kulturellen Überlegenheitsgefühls der italienischen Humanisten, das die politische Ohnmacht kompensieren mußte. Vgl. P. Amelung, Das Bild der Deutschen in der Literatur der italienischen Renaissance ( 1400 -1559), München 1964, S. 18 und S. 35 - 66. Zu Petrarcas Beziehung zu Deutschland siehe auch K. Voigt, Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland, Stuttgart 1973, S. 24 - 38. Nach Petrarca löst sich für viele italienische Autoren die universale christianitas als grundlegend übergeordnete Einheit auf. Diese Spaltung wird mit semantisch aufgeladenen Begrifflichkeiten verbunden und ist häufig auch politisch denotiert. Den Nichtitalienern, die über die einstigen Herrscher der Welt Macht ausüben, d. h. den Deutschen und Franzosen, werden barbarische Eigenschaften zugeschrieben. 2 Dante nennt einmal die Deutschen ,Schweiger' (Inf, XVII, 21: "e come la tra li Tedeschi lurchi"), aber es handelt sich um eine Notiz über Sitten, die keineswegs die Einheit des Reiches und der christlichen Ökumene angreift. Für Dante sind die Germanen barbarische Horden, solange sie nicht christianisiert sind, genau wie die Sarazenen und alle Nichtchristen. ,Barbaren' aber sind seine deutschen Zeitgenossen nicht. Zwar wird Albert I. mit Verachtung "Tedesco" genannt (Purg., VI, 97), aber nur, um zu betonen, daß der Kaiser Italien vernachlässigt und sich nur für seine eigene Nation interessiert. Der Dichter will ihn jedoch nicht von einer höheren Zivilisation, die nur in Italien blüht, ausschließen. 3 Von den Skythen schreibt auch Petrarca. Er klagt, daß sich Sklaven der ,skythischen Rasse' in Avignon mit der schönen ,römischen Rasse' vermischen (Sen., X, 2).

1. Der humanistische Blick auf den Norden

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ten wie virtus und pietas gegenübergestellt, und man schreibt ihnen spezifisch ,nördliche' Attribute wie wilde Wut und Grausamkeit (juror und rabies) zu. Das neue Konzept der humanitas als hohe Bildung und umfassende Kenntnis der Antike gilt als eine exklusiv italienische Eigenschaft, da man nur hier mit den Überresten der antiken Kultur und in ständiger Berührung mit ihr aufwachsen kann. Das französische Papsttum und das deutsche Kaisertum werden von Petrarca als Finsternis und barbaries bezeichnet,4 denn sie stehen im Gegensatz zur Kontinuität des römischen Weltimperiums, das ideell und virtuell an Rom - ,Heimat aller' (Fam., IV, 6, 2) - gebunden ist. Vor Petrarca war der Begriff des Nordens jahrhundertelang eine eher astronomische und symbolische Dimension, die meistens eine Negation moralischer Werte beinhaltete. Der Norden stellte die dunkle Seite der Welt dar, die dazu diente, religiöse Werte zum Ausdruck zu bringen. Der öde und dunkle Norden, von Schnee und Eis bedeckt, von Monstren bewohnt, war ein Raum, welcher der Allegorie diente. Diese Himmelsrichtung symbolisierte meistens die Finsternis der Sünde, die Kälte des Unglaubens und des Todes. Petrarcas Nord-Diskurs ist dagegen nicht mehr allegorisch zu deuten. Er tut so, als ob er an dem geographischen, realen äußersten Norden interessiert wäre, um dann - im Rahmen seiner pia philosophia und seines Verständnisses der humanae litterae - die Unwichtigkeit dieses topographischen Nordens und der Erdkunde im allgemeinen zu betonen. Die Naturgeheimnisse, welche die Aristoteliker seiner Zeit enthüllen wollen, scheinen ihm gegenüber der moralischen Frage unwichtig zu sein. 5 Der mythische Norden der Antike, der als Gegenwelt und Umkehr der normalen Ordnung entweder außergewöhnlich negative oder außergewöhnlich positive Attribute besaß, wird von Petrarca als Illusion aufgefaßt. Die sagenhafte Insel Thule und das Land der Hyperboreer materiell zu suchen und bereisen zu wollen heißt, der eigenen müßigen Neugier zu folgen und sich selbst zu verlieren. Für Petrarca ist der äußerste unbekannte Norden verlockend, aber man darf nicht vergessen, daß die ,Schaulust' eine Sünde ist. Man muß sich klarmachen, daß der unbekannte vom Nebel umhüllte Norden, der die curiositas reizt, in Wirklichkeit öde und häßlich ist. So soll man - statt physisch - im Geiste eine würdigere Reise unternehmen, den itinerarium mentis in Deum. Fazio degli Uberti hatte eine imaginäre allegorische Reise sowohl in den dunklen als auch in den hellen Norden Europas geführt. Petrarca entmythisiert diese rätselhaften borealen Länder, reduziert sie auf öde Wüste, schneebedeckte, unangenehme und häßliche Gegenden, die auf keine moralischen Werte verweisen und den Menschen nichts Bedeutendes für ihr Leben zu sagen haben. Solche Länder dürfen ruhig unbekannt bleiben, weil sie bedeutungslos geworden sind. Der nahe, bekannte Norden ist für Petrarca hingegen von wilder Barbarei und Wut erfüllt. Vgl. P. Piur, Petrarcas ,Buch ohne Namen' und die päpstliche Kurie, Halle 1925, S. 398. Vgl. E. Garin, Rinascite e Rivoluzioni. Movimenti culturali dal XIV al XVIII secolo, Bari 1976, S. 24 f. 4

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11. Petrarca und der Norden

Mit dem Rückgriff auf lateinische Klassiker werden antike Denkmuster wiederverwendet, in denen die Feinde der Römer jenseits der Alpen als wild, grausam, undiszipliniert und wütend dargestellt werden. Dies geschieht nicht, um einen Diskurs über Tugenden und Laster zu entwickeln, sondern um die Geschichte Italiens zu reflektieren und die Größe der antiken lateinischen Zivilisation zu betonen. So spürt man die ,Wut des Nordens' ("rabbia") nicht mehr - wie bei Fazio am borealen Ende der Welt (vgl. Kap. 1.2.), sondern durch die deutschen Söldnerscharen, die mit den Kimbern und Teutonen gleichgesetzt werden, auf italienischem Boden. Petrarca als Begründer der Studien, die der Heranbildung des Menschen zu einem guten und sprachlich gewandten Individuum dienen sollen (studia humanitatis), strebt die Wiederbelebung des klassischen Altertums an. Mit den antiken Autoren fühlt er sich so verbunden, daß er eine Reihe von direkt an sie gerichteten Briefen schreibt, als ob sie lebendig wären. So sind auch die barbarischen Nordländer in seinem poetischen Diskurs so präsent wie zur Zeit Cäsars. 6 Für Petrarca ist die Einheit des christlichen Westens nur so zu erlangen: Rom soll wieder kulturelles und politisches Zentrum und Papstsitz werden. Nur so kann der reine Glaube restauriert und die ruhmreiche Zivilisation des antiken Rom erneut lebendig werden. In seinem poetischem Diskurs unterschieden sich die transalpinen Völker seiner Zeit nicht von den nördlichen Barbaren, die seine vorchristlichen Lieblingsautoren beschrieben hatten. Seine polemischen und bewußten Abflachungen sind nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich: Er überspringt nicht nur Jahrhunderte, sondern auch Tausende von Kilometern, um sein Ziel zu erreichen. Letztendlich gelten die typischen Merkmale des Nordischen, die er in seinen Quellen findet, für alle Völker und Länder Europas. Ihnen steht das schöne, sanfte, fruchtbare Italien gegenüber, das seiner Meinung nach die Natur selbst durch die Alpen vom kalten, öden, schrecklichen Norden trennte.

6 Petrarcas Anspruch auf die Wiedergeburt römischer Größe erschwert ihm, die neuen Realitäten der internationalen Politik adäquat zu erfassen. Der Mythos Rom wird von ihm selbstbewußt gegenüber dem kulturellen Hegemonieanspruch Frankreichs ausgespielt. Die Nachkommen der einst unterworfenen Gallier hätten die Überlegenheit der Nachfahren Roms anzuerkennen: Frankreich sei immer noch nur eine römische Provinz und die Franzosen ,Barbaren' wie alle anderen nichtitalienischen Nationen (Sen., IX, 1). Ein französischer Papst, der sich weigert, nach Rom zurückzukehren, sei ebenfalls ein ,Barbar' (Fam., IV, 13). Für Petrarcas Nachfolger wird der Mythos Rom lebendiger denn je und die ,Nördlichkeit' oder ,Barbarei' wird weiter als dessen Verneinung gelten. Erst Enea Silvio Piccolomini wird die römische Welt angesichts der Türkengefahr mit der christlichen Welt identifizieren. Wenn die europäischen Länder eine Einheit bilden, gelten nur die Germanen vor der Christianisierung als ,Barbaren' und nicht die Zeitgenossen in Nordeuropa.

2. Thule und das Land der Hyperboreer

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2. Thule und das Land der Hyperboreer: Der Norden als Ablenkung und ß1usion In allen vier Himmelsrichtungen gibt es für die Menschen im 14. Jahrhundert Weltrandzonen, Säume der bekannten oder bewohnten Welt. 7 Petrarca zeigt sich aber vor allem am Ende der Welt im Norden interessiert. In einem Sonett erwähnt er alle Grenzen der bewohnten Welt und behauptet, er hätte den Namen der Geliebten überall bekannt gemacht, wenn man seine Verse in jenen Orten verstünde (R.v.f, CXLVI,9-11):8 ... se mie rime intese fossin si lunge, avrei pien Tyle et Battro, la Tana e '1 Nilo, Athlante, Olimpo et Calpe.

Der Dichter zitiert hier nicht nur vier Extreme, sondern sieben: die Insel Tyle (oder Thule), die einem Fluß im Nordosten gegenübergestellt wird und als Grenze in Richtung Nordwesten dient, den Fluß Tana (oder Tanai, der Tanais, heute Don), der traditionell Europa von Asien trennt und hier als letzte Grenze der bewohnten Welt im Norden gilt, den Fluß Nil in Richtung Südosten, die Bergkette des Atlas im Südwesten, den Berg Olympus im Osten und schließlich eine der Herkulessäulen im Westen. Das Mittelmeer, in dessen Mitte sich Italien befindet, hat klare, nicht weit entfernte Grenzen im Osten (Griechenland) und Westen (Herkulessäule). Im Süden der bewohnten Welt kennt man die westliche Bergkette des Atlas besser als die östliche geheimnisvolle Quelle des Nils. Im Norden bleiben zwei Flüsse, welche die Ökumene abgrenzen, und eine Insel im Ozean, die als letztes bewohntes Land gilt. Petrarca ist im besonderen an dieser Insel und am Saum der Ökumene im Norden und Nordwesten interessiert, weil er durch seine klassische Lektüre bestimmte Mythen und Werte mit diesem Raum verbindet. In einem seiner Briefe, den Petrarca 1333 datiert, aber sehr wahrscheinlich erst 1352 von ihm geschrieben wurde (Fam., I1I, 1, an Thomas aus Messina: "de Thile insulafamosissima sed incerta, opinione diversorum"),9 befaßt er sich mit der Lage der Insel Thule und des Landes der mythischen Hyperboreer. Die Insel ultima Thule geistert schon seit Jahrhunderten durch die Literatur. Sie wird oft erwähnt, aber man kennt ihre Lage nicht, meint der Dichter. So sei sie gleichzeitig berühmt und ,unsicher'. Petrarca betreibt mit seinen Briefen eine Moralphilosophie und ist nicht wie einige Scholastiker und Aristoteliker seiner 7 Vgl. A. von den Brincken, Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten, Hannover 1992, S. 148 ff. 8 Die Zitate aus den Rerum vulgarium fragmenta (R. v.f) folgen der Ausgabe: F. Petrarca, Canzoniere, hrsg. von M. Santagata, Milano 1996. Für die deutsche Übersetzung siehe F. Petrarca, Canzoniere. Italienisch-deutsch. Nach einer Interlinearübersetzung von Geraldine Gaber in deutsche Verse gebracht von Emst-Jürgen Dreyer, Basel/Frankfurt a. M. 1989. 9 Alle Zitate aus den Briefen Familiares folgen der Ausgabe: F. Petrarca, Le Familiari, kritische Ausgabe hrsg. von V. Rossi, Edizione Nazionale delle Opere di Francesco Petrarca, Bde X-XIII, Firenze 1933.

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H. Petrarca und der Norden

Zeit an der nuda natura interessiert. Deshalb behauptet er polemisch, daß er Thule weder finden kann, noch wirklich hofft, sie zu finden, obschon er sich an der Küste des britischen Ozeans und vermutlich nicht weit von der berühmten Insel aufhält. Es bestehe kein Zweifel daran, daß Thule das letzte ("ultima") aller Länder sei, meint Petrarca, der die Ausführungen von Vergil, Seneca, Boetius und anderen Autoren kennt, die der Insel dieses Merkmal zugeschrieben hatten (Fam., III, 1, 2: "Ultimam quippe terrarum esse, non ambigitur: hoc Virgilius canit, hoc Seneca, hoc secutus utrunque Boetius, hoc omnis denique scriptorum cohors"). Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Petrarca behauptet, man interessiere sich für die Lage der Insel, gerade weil sie nicht allzu entfernt sein soll, denn man kennt das benachbarte Irland, die Orkaden und weitere Inseln im Ozean - entweder aus direkter Erfahrung oder durch die Berichte von Seeleuten. Auch die Insel Thule soll im Westen liegen, und der Dichter, der Briefadressat und alle Leser, die ein ,Wir-Gefühl' verbindet, befinden sich ebenfalls im westlichen Weltteil. Es ist also die Nähe selbst, die uns reizt, die berühmte Insel Thule weiterzusuchen, während einer Insel im femen Osten niemand Aufmerksamkeit schenkt. Thule liegt in ,unserem' Ozean (Fam., IH, 1,3: "in nostro occeano"). Deshalb erwarten wir, etwas mehr darüber zu wissen, meint Petrarca, der außerdem behauptet, mehrmals an einen englischen Freund geschrieben zu haben, um genauere Informationen über Thule zu erhalten. Doch vergeblich bemühte sich der Dichter: Diese Insel wurde ihm keineswegs vertrauter (Fam., III, 1, 6: "Ita michi Thile amicitia britannica nichil notior facta est"). Petrarca, der bis dahin Thule als die letzte Insel in Richtung Westen betrachtet hatte, bezieht sich nun auf ein kleines Buch De mirabilibus Hybemie, das Solinus und Isidor zitiert, um sich selbst zu korrigieren und zu präzisieren, daß die Insel im Nordwesten liegen soll (Fam., IH, 1, 8: "quod insularum occeani, que circa Britanniam que ve inter Arthon et occasum sunt, extrema sit Thile "). Doch wurde Thule nahe dem gefrorenen Meer mit ihren typischen Merkmalen - einem langen Tag ohne Nacht bei der Sommersonnenwende und einer langen Nacht ohne Tag bei der Wintersonnenwende (Fam., III, 1, 8: "ubi estivo nulla nox, brumali contra solstitio nulla dies; ultra quam pigrum atque concretum iaceat mare ") - nicht gefunden. Wenn aber die Insel nicht im Nordwesten liegt, kann man vermuten, daß es diese Insel gar nicht gibt, daß sie genauso berühmt wie fabulosa ist, meint Petrarca. Eine zweite Hypothese, die er erwähnt, beinhaltet dagegen, daß es diese Insel gibt, aber weder im Westen noch im Nordwesten, sondern im äußersten Norden, in den weit entferntesten Schlupfwinkeln des borealen Ozeans, von allen übrigen Ländern durch eine unendlich große Distanz getrennt, wie Orosius behauptet hatte. Dann hätte für Petrarca der Dichter Claudianus Recht gehabt, der vom ,verdammten Thule unter einem hyperboreischen Himmel' gesprochen hatte (Fam., m, 1, 8: "aut infinita ab aliis spatio secretam, nusquamque alibi quam in intimis borealis occeani secessibus requirendam "; "yperboreo damnatam sidere Thilen "). Petrarca zitiert die Autoren, die etwas über Thule geschrieben haben ex memoria, denn er hatte in England nach eigener Aussage keine Bücher dabei. Plinius, der

2. Thule und das Land der Hyperboreer

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sich auf Pytheas stützt (Petrarca weiß nicht mehr, ob er Phocea oder Pithia heißt), darf in seiner Auflistung der antiken Quellen nicht fehlen (Nat. hist., H, 187 und IV, 16, 104). Jener behauptete, daß Thule sich im Norden, sechs Seefahrtstage von Britannien entfernt befände und durch einen sechsmonatigen Tag und eine sechsmonatige Nacht charakterisiert sei (Fam., III, 1, 10: "Thilen esse insulam sex dierum navigatione in septentrionem a Britannia distantem, ubi semestrem estivum diem ac paris spatii brumalem noctem esse coniectat"). Petrarca glaubt jedoch weder Plinius noch den übrigen Autoren, die Thule in den Nordwesten Europas setzen, weil er sich nicht vorstellen kann, daß eine so nahe und berühmte Insel allen verborgen bleiben konnte. Eine Insel, die sechs Seefahrtstage von Britannien entfernt liegt, wäre schon erreicht und erforscht worden. Die mittelalterliche Identifikation Thules mit Island akzeptiert Petrarca nicht, denn er verliert kein Wort darüber. Thule muß für ihn entweder nicht vorhanden sein oder im äußersten Norden liegen. Dorthin könne man jedoch nicht gelangen, um die Existenz der Insel zu überprüfen. 10 Mit Thule kommt man also an die fines orbis terrarum im realen und übertragenen Sinn. Der von Petrarca hochgeschätzte Geograph Pomponius Mela 11 hatte im Gegensatz zu Plinius geschrieben, daß es auf Thule keinen sechs Monate langen Tag gab. Trotzdem seien die Nächte kurz, nebelig im Winter und klar im Sommer. Es gäbe keine Nacht bei der Sonnenwende, und Thule befände sich gegenüber der Küste Belgiens. Die Nacht, die sechs Monate lang anhält und der ein sechs Monate lang andauernder Tag folgt, sei für Mela nicht, wie für Plinius, ein Merkmal Thules, sondern des Landes der Hyperboreer jenseits der Riphäischen Berge, an der Küste Asiens im Norden. Dieses Volk der Hyperboreer, in deren Land es einen einzigen Sonnenaufgang und einen einzigen Sonnenuntergang im Laufe des Jahres gäbe, sei Mela zufolge das glücklichste und unschuldigste auf Erden, so zitiert Petrarca (Fam., III, 1, 13: "omnium - siquid sibi credimus - mortalium innocentissimisfelicissimisque "). Wo liegt die Wahrheit bei all den Unterschieden und Widersprüchen der antiken Autoren? Sie ist verborgen wie die Insel Thule selbst, meint Petrarca, der feststellen muß, daß die antiken Quellen über die letzte boreale Insel stark voneinander abweichen (III, 1, 13: "En quanta discordia! Ut michi quidem nichilo videatur occultior insula ipsa quam veritas") . Für ihn aber kann die Insel ruhig unbekannt bleiben. Das geographische Ende der Welt im Norden ist den Menschen versagt wie das Ende der Welt im Süden, die Quelle des Nils. Die Menschen mit ihren Grenzen versuchen vergeblich, die Natur zu erforschen. Es gibt ,Wahrheiten', die 10 Der Ire Dicuil hatte um 825 Thule mit Island identifiziert und die Erscheinung der Mitternachtssonne beschrieben. Petrarca will aber diese Identifikation nicht wahrhaben. Die Navigatio Brandani sprach darüber hinaus von einer terra promissionis im nordwestlichen Ozean, das heißt in der Gegend, in der sich die Insel Thule befinden soUte. Auch diese QueUe wird hier von Petrarca nicht erwähnt, der sich nur auf Autoren der Antike bezieht. 11 Petrarca versah die drei Bücher De chorographia von Pomponius Mela mit Randbemerkungen: Der Kodex ist der H 14 info der Bibliothek Ambrosiana in Mailand.

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II. Petrarca und der Norden

den Menschen versagt bleiben. Am besten sollten sie sich mit sich selbst, mit der Moral, mit ihrer irdischen Lebensreise beschäftigen. Die Säume der Ökumene stellen unüberwindbare Grenzen dar, innerhalb derer sich das Leben abspielt. Die Sterblichen müssen zu sich selbst zurückfinden, zum Zentrum der Schöpfung, um sich nicht zu zerstreuen: Die virtus darf, im Gegensatz zu den WeItenden im Norden und Süden, nicht verborgen bleiben (Fam., III, 1, 14: "Lateat ad aquilonem Thile, lateat ad austrum Nili caput; modo non lateat in medio consistens virtus "). Petrarca glaubt nicht an das Glück der Hyperboreer: Sollte es gelingen, ihr Land - wie die Insel Thule auch - zu erreichen, würde man wahrscheinlich diesen Ort wieder verlassen wollen (Fam., III, 1, 15: "Jorsan inventum cupide linqueremus"). Die Verläßlichkeit der antiken Geographen als Quellen der Wahrheit erfährt in diesem Brief eine grundsätzliche Erschütterung. Petrarca versteht, daß die Menschen in jene entfernten Orte im Norden eigene Wünsche projiziert haben. Die materielle Entdeckung würde nur einige Illusionen ausräumen. Er hat dieses Bewußtsein, ohne dafür eine Weltreise unternehmen zu müssen. Er braucht nicht die Geheimnisse der Natur zu erhellen, um zu wissen, daß die einzige Reise, die es sich zu unternehmen lohnt, diejenige in sich selbst ist. Es ist der Weg des christlichen nosce te ipsum, der durch die Erforschung der eigenen Seele einlädt, das Ziel in Gott zu entdecken (Fam., III, 1, 15: "Miehi quidem sie hee nature latibula rimari et abdita nosse negatum fuerit, me ipsum nosse sufficiet"; "Orabo Eum qui me Jecit, ut se miehi meque simul ostendat et, quod votum Sapientis est, notum michi Jaciat finem meum "). Thule und das Land der Hyperboreer werden also als falsche Ziele präsentiert, Naturgeheimnisse, welche die Menschen neugierig machen und sie davon abhalten, sich selbst zu erforschen und das eigentliche Ziel - das Leben im Jenseits - zu erkennen. Wenn der Dichter von den ,unschuldigsten und glücklichsten Menschen' spricht, denkt er nicht an die Bewohner der Insel Thule, wie Winfried Wehle irrtümlich glaubt,12 sondern nur an den anderen, für ihn inakzeptablen Mythos des Nordens, nämlich den der Hyperboreer, der zu seiner Zeit sehr bekannt war. 13 Beide Länder sind schwer lokalisierbar und irgendwo am nördlichen Rand der bekannten Welt zu suchen. Petrarca fragt sich, ob es glaubwürdig ist, daß es einen halbjährigen Tag und eine halbjährige Nacht auf der sagenhaften Insel Thule gibt, wie Plinius berichtet hatte, oder ob diese Eigenschaft lediglich dem Land der Hyperboreer zu12 Vgl. W. Wehle, Columbus' henneneutische Abenteuer; in: Das Columbus-Projekt, hrsg. von W. Wehle, München 1995, S. 153 ff. Petrarca identifiziert die Insel Thule nicht mit dem Land der Hyperboreer und auch nicht mit der vom Westen aus erreichbaren Insel in den Weiten des Meeres der Navigatio Sancti Brendani abbatis. Diese vom dichten Nebel umgebene Insel, reich an Quellen und Edelsteinen, ohne Wechsel der Jahreszeiten und ohne Unterschied zwischen Tag und Nacht, in der ewiges Licht herrscht, wurde als irdisches Paradies gedeutet. Petrarca bezieht sich aber in seinem Brief keineswegs auf mittelalterliche Quellen, sondern allein auf die klassischen Autoren, die über Thule geschrieben haben. 13 Auf der Mappa mundi des Abtes Ranulf Hygden (1360) sind die Hyperboreer als glückliches Volk erwähnt, das jenseits des Nordwindes lebt, keine Krankheit erleidet und den Freitod im Meer sucht (vgl. Kap. 1.3.).

2. Thule und das Land der Hyperboreer

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steht. Irdisches Glück verspricht nur das Land jenseits des Nordwindes und nicht die letzte Insel im Ozean, doch beide borealen Länder stellen für Petrarca eine Ablenkung vom richtigen Weg dar. In diesem Brief verurteilt Petrarca scharf die curiositas, 14 die Neugier. Er wertet den Wissensdrang für Themen wie Erdkunde als Laster ab. Für ihn ist es unvorstellbar, daß man sich auf die Reise macht, um die Korrektheit des geographischen Wissens der Autoren der Antike zu überprüfen. Er weiß im voraus, daß ihr Weltwissen unzulänglich und bedürftig war. Sein humanistischer Glaube an die vorchristlichen Autoren bringt nicht mit sich, daß er ihnen Unfehlbarkeit in allen Bereichen des Wissens (auch im geographischen Sinne) zuspricht, wie seine Vorgänger es taten, sondern lediglich ihrer Weisheit und ihren moralischen Werten huldigt. So glaubt Petrarca nicht an die Existenz eines glücklichen Volkes im hyperborealen Raum. Die geographischen Informationen, welche die römischen Autoren geben, müssen nicht wörtlich verstanden, sondern immer im Hinblick auf das Wesentliche, auf die Moral interpretiert werden. Am besten sucht man in ihren Texten die psychologischen und anthropologischen Wahrheiten, die ohnehin keinen Beweis brauchen, weil sie sich seiner Meinung nach mit den theologischen Wahrheiten des Christentums vereinbaren lassen. Wer sich mit der Geographie beschäftigt, macht für Petrarca etwas Müßiges. Wenn jemand in den Texten der Dichter nicht nach moralischen, sondern nach geographischen Wahrheiten sucht, benimmt er sich nach Meinung des Dichters kindisch, obwohl er selbst großes Interesse für die Kartographie seiner Zeit und die geographische Literatur zeigt. Der hyperboreale Norden, der ein Paradies im Widerspruch zum christlichen Glauben verspricht, ist pure Illusion. Dies ist Petrarcas Erkenntnis. Das irdische Paradies der Bibel, das für Petrarca im Gegensatz zum mythischen Land der Hyperboreer existiert, ist den Menschen nicht mehr zugänglich. Es wäre ein sündhaftes und verrücktes Wagnis, das Paradies mit der Absicht zu suchen, es physisch zu erreichen, egal ob man annimmt, daß es sich wie üblich im Osten befindet oder in der südlichen Hemisphäre (wie in In!, XXVI), im Westen (wie die insulae Jortunatae des Hl. Brendan) oder eben im Norden. Im vergeistigten Blick nach innen liegt die Wahrheit, im eigenen gottgeschaffenen Selbst. Petrarca stellt in seinem Brief einer realen Topographie eine spirituelle gegenüber. Für ihn ist die Topographie der Seele von Interesse, während die topographische Realität der borealen Welt ihn nicht anzieht - oder besser gesagt, ihn zuviel anzieht: Diese Neugier erkennt er als sündhaft. Petrarca erkennt die curiositas in sich und fühlt sich deswegen schuldig. Daher sagt er sich selbst, daß es keine würdige Beschäftigung ist, sich für den geographischen Norden zu interessieren, und die virtus allein im Vordergrund stehen soll. Er versucht aus diesem Grund, die alten Mythen über den äußersten Norden nüchtern zu betrachten: Kälte und 14 Die Grundhaltung der methodisch gesteuerten ,Neugier' ("curiositas") ist für Blumenberg eines der Kennzeichen der nachmittelalterlichen Weltanschauung, eines der entscheidenden Kriterien der im ausgehenden 15. Jahrhundert sich formierenden neuen Weltepoche. Petrarca ist davon noch ausgeschlossen. Siehe H. Blumenberg, Die Legimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966.

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11. Petrarca und der Norden

Finsternis werden in jenen Ländern in Wirklichkeit vorherrschen, es wird keine glücklichen Hyperboreer geben, denn das Glück für die Menschen ist allein in der inneren Beziehung zum Schöpfer zu finden. Curiositas und cupiditas gehören zusammen: Sie sind der dunkle Drang, der Leib und Seele der Menschen in Versuchung führt, mehr machen, mehr wissen zu wollen, als für sie gut ist. Dieser Drang gilt für Petrarca als verwerflich. Seine Jugendreise durch Europa im Jahre 1333 begründet er mit diesen sündhaften Neugier und ,Freude am Schauen' .15 Petrarcas Entdeckung der dokumentierten römischen Vergangenheit bedeutet nicht Wissensdrang oder Sehnsucht nach anderen Orten. Als Gründer der Frührenaissance entdeckt er nur die klassische Antike und ihr verschüttetes Erbe. Wegen seiner philologischen Begeisterung für die Vergangenheit gilt er als Begründer eines modemen Bewußtseins. Doch Petrarca versucht nicht, das Geheimnis des Ozeans zu enthüllen, das in seiner Epoche wie ein mysteriöses Rätsel beschrieben wird. Die dunklen Tiefen des Meeres, seine monströsen Fabelwesen, seine über die Wogen hinwegfegenden Stürme sind die charakteristischen Elemente, die angeführt werden, wenn die Seeleute ermahnt werden, sich nicht zu weit auf offene See hinauszuwagen, sondern sich immer dicht an die Küsten zu halten. Odysseus war in Dantes Comedia von der verführerischen Kraft des Ozeans und des Unbekannten ins Unheil gestürzt worden. Er hatte die Grenze der bekannten Geographie überschritten und den Ozean herausgefordert (In!, XXVI, 99: "Ma misi me per l' alto mare aperto"), in der Absicht, Kenntnis von neuen Ländern zu gewinnen, zu einem ,neuen Land' (In!, XXVI, 137: "nova terra") zu gelangen. Die Tragik der tollkühnen Reise des Odysseus lag darin, die Distanz zwischen Sehnsucht und realer Erfahrung nicht überbrücken zu können. 16 Petrarca macht sich dagegen nicht auf den Weg in den Norden, über den man vom Hörensagen Unglaubliches erfahren hat. Dieser Norden stellt für ihn eine illusorische Dimension dar, eine unnütze Neugier, die genauso sündhaft wie jede irdische Begierde und Sehnsucht und zwangsläufig zur Enttäuschung bestimmt ist. Thule und das Land der Hyperboreer sind öde und kalte Länder im geographischen Norden, die ihrer Mythen und ihres Ruhms in der Literatur nicht gerecht werden. Die Sehnsucht nach ihnen kann als error, als Irrfahrt und Irrtum auf einmal gedeutet werden.

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß bei Petrarca die Verlockungen der curiositas oft durch den Norden oder nördliche Gegenstände dargestellt sind. Das, was 15 Der Dichter deutet seine Motivation, eine Reise durch fremde Länder bis an die Ufer des Rheins zu unternehmen als ,Schaulust' (Farn., 1,4,1: "visendi studio") und ,jugendlichen Eifer' (Farn., 1,4, 1: "iuvenili ardore"). An einer anderen Stelle erwähnt er diese ,Schaulust' (Farn., XIII, 6, 23: "visendi ardore"). Auch in dem Brief an Sagremor di Pommiers aus dem Jahre 1367 (Sen. X, 1) ist von ,Schaulust' und ,jugendlicher Begeisterung' die Rede ("iuvenili ardore videndique cupidine "), die ihn nach Paris führten. In der Posteritati spricht Petrarca von einem "iuvenilis appetitus", der ihn durch Gallien und Deutschland trieb. 16 Vgl. G. Mazzotta, Colurnbus' Wagnis und das Konzept von Entdeckung in der Renaissance, in: Das Colurnbus-Projekt, hrsg. von W. Wehle, München 1995, S. 208 f.

2. Thule und das Land der Hyperboreer

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gesucht und angeschaut wird und den Menschen davon ablenkt, im Inneren den eigentlichen Weg zu Gott zu bestreiten, trägt auch in der Ventoux-Epistel (Fam., IV, 1) ,nordische' Konturen. 17 Die Bergbesteigung (" ascensio ") bedeutet hier weder eine modeme Begegnung mit der Natur, noch ist sie allegorisch als Weg des homo viator zu Gott und zur Tugend zu deuten. Sie wird aus ,Schaulust' für die herausragende Höhe des Gipfels unternommen (Fam., IV, 1, 1: "sola videndi insignem loei altitudinem cupiditate ductus, ascendi"). Die cupiditas videndi stellt die erste Stufe der Todsünde der superbia dar, so daß es ein Beweis von Hochmut ist, einen Gipfel aus ,Schaulust' erklimmen zu wollen. 18 Ein Gipfelaufstieg allein um des Naturerlebnisses willen, eine Wanderung getrieben von der Neugier, einen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen, ist für jene Zeit ein novum; genauso wie eine Reise in den Norden zu organisieren, um an den Küsten des Ozeans über die Lage der berühmten Insel Thule zu spekulieren. Petrarca fühlt sich wegen seiner ,Schaulust' schuldig und inszeniert die eigene Blindheit und Verstrickung im Irrtum, indem er zeigt, wie er sich um der sinnlichen Erfahrung willen zuerst der Natur als Landschaft (als ästhetischer Erscheinung) zuwendet. Diese Landschaft, die ihn neugierig macht, ist eine ,erschlossene Femlandschaft', wie Karlheinz Stierle betonte,19 die sinnliche Erfahrung des Unendlichen. Augustinus tritt aber als mahnende Stimme dem Dichter entgegen, der dieser gefährlichen ,Augenlust' verfallen ist. 20 Petrarca genießt die Aussicht der alpinen, ,nordischen' Umgegend (Fam., IV, 1, 18: "Alpes ipse rigentes ac nivose"), dann wendet er seine Aufmerksamkeit dem Buch der Confessiones des Hl. Augustinus zu, das er immer dabei hat. Er öffnet es und findet die Stelle des zehnten Buches, in welcher der Heilige über die Menschen spricht, die Berggipfel, Flüsse, Meeres- und Ozeanfluten zusammen mit dem Lauf der Sterne bewundern, und sich dabei selbst vergessen (Fam., IV, 1,27: "et eunt homines admirari alta montium et ingentes jluctus maris et latissimos lapsus jluminum et occeani ambitum et giros siderum, et relinquunt se ipsos"). Der Dichter muß sich nun über sich selbst ärgern, 17 VgI. A. Kablitz, Petrarcas Augustinismus und die Ecriture der Ventoux-Epistel, in: "Poetica", XXVI, 1994, S. 43. Der Ort, von dem aus Petrarca und sein Bruder losgehen, befindet sich nicht zufällig 'gen Norden' (Fam., IV, 1,6: "versus in boream"). 18 Vgl. B. Martinelli, Petrarca e il Ventoso, Bergamo 1977, S. 158 f. und A. Kablitz, Petrarcas Augustinismus. . . , a. a. 0., S. 38 f. Kablitz erinnert auch daran, daß der Berg im Mittelalter oft als Sinnbild des Hochmuts oder auch des Teufels, der am Ursprung der superbia steht, verstanden wird. 19 Vgl. K. StierIe, Petrarcas Landschaften, Köln 1979, S. 22. Stierie macht deutlich, daß die curiositas oder voluptas oculorum im Widerspruch zur asketischen Weltvemeinung steht, die Petrarca theoretisch akzeptiert, praktisch aber nicht umsetzen kann. Vgl. ebd., 25 ff. 20 Die Tatsache, daß sein Bruder Gherardo zielstrebig auf einern schwierigen Weg dem Gipfel entgegensteigt, er jedoch nach leichteren Wegen sucht und sich dabei mehrmals verirrt, bietet Petrarca Anlaß zu einern Selbstgespräch, in dem er die Interpretation der Bergbesteigung als symbolische Darstellung von unterschiedlichen Lebenswegen suggeriert. Der Lebensweg Gherardos ist direkter, gottgefälliger, während er sich im weltlich verhafteten Umherirren nur langsam dem Lebensziel nähert. Als er selbst den Gipfel erreicht, wartet sein Bruder schon. Doch ist der Gipfel des Ventoux - genau wie Thule - nicht das wahre Ziel.

4 Boccignone

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11. Petrarca und der Norden

weil er gewaltige irdische Landschaften bewundert hat (Fam., IV, 1, 28: " librum clausi, michimet quod nunc etiam terrestria mirarer"). Sein Wille, den Berg zu erklimmen, um den Blick von dort aus zu genießen, unterliegt dem Hang zu jenem Hochmut, der am Beginn aller Sündhaftigkeit der Menschen steht,21 ebenso wie der Wille, Thule zu erforschen oder - wie bei Dantes Odysseus - den Ozean zu überqueren, im Zeichen der superbia steht. Petrarca kehrt nach der Bergbesteigung nachdenklich und schweigend ins Tal zurück. Wie bei den Geheimnissen des Nordozeans gilt: Nicht in die Welt hinausschauen, sondern allein in sich selbst, weil Gott im Inneren des Menschen wohnt und nicht in den gewaltigen Naturphänomenen zu suchen ist, die höchstens die gierigen Augen befriedigen können. Wenn die Schöpfung für Petrarca eher Ablenkung und Sünde als Weg zum Schöpfer bedeutet, so kann der topographische Norden mit seinen klimatischen Besonderheiten wie dem Tag ohne Sonnenuntergang oder der sechsmonatigen Nacht nicht viel wert sein. Er hat nicht, wie bei Fazio degli Uberti, eine allegorische Bedeutung, er weist nicht auf moralische und spirituelle Wahrheiten hin, sondern ist nur eine verführerische Illusion. Sich diesem ,Norden' körperlich anzunähern, um das Land der glücklichen und unschuldigen Menschen zu suchen oder sich die Natur der Insel mit dem langen Tag anzuschauen, ist genauso sündhaft wie der Versuch, sich dem Himmel durch eine abenteuerliche Bergbesteigung zu nähern. Dies versuchten schon die Menschen in Babel und wurden deswegen bestraft. Der Mensch soll sich nicht mit dem Körper, sondern mit der Seele erheben: Durch die cognitio sui und die Erniedrigung des eigenen ,Ich' soll er den spirituellen Aufstieg zu Gott anstreben. 22 In der Ventoux-Epistel wie im Brief über Thule stellt Petrarca die Reise der Seele ins eigene Innere und zu Gott den Wanderungen des Körpers auf Erden gegenüber. Der Berggipfel, die Insel der Mitternachtssonne und das Land jenseits des Nordwindes lenken vom richtigen Weg ab und können höchstens die sündhafte curiositas befriedigen, weil sie letztendlich nur terrestria, Irdisches, sind. 3. Menschen, vom Weg der Sonne entfernt und von Natur aus gegen den Frieden, denen das Sterben nichts ausmacht

Petrarca bezweifelt die Existenz der mythischen Orte des äußersten Nordens (der Insel Thule und des Landes der Hyperboreer), Gegenstände einer müßigen Neugier, und erklärt sie für pure Illusion. Der Norden hat bei ihm keine allegorische Bedeutung mehr. Doch er konstruiert ,Nördlichkeit', um seine Träume von einer kulturellen und religiösen renovatio auszudrücken, die von Rom ausgehen soll. Der europäische Raum wird als ,nördlich' definiert, um das ,Barbarenturn ' der zeitgenössischen Kultur zu konnotieren. Sie soll Petrarca zufolge von den 21 22

V gl. A. Kablitz, Petrarcas Augustinismus. .. , a. a. 0., S. 53. Vgl. ebd., S. 59.

3. Menschen, vom Weg der Sonne entfernt

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studia humanitatis reformiert werden, wie damals die barbarischen Stämme des Nordens von den siegreichen Römern die Zivilisation bekamen.

In der Kanzone 0 aspeetata in eiel (R. vj., XXVIII), die wahrscheinlich 1333 oder Anfang 1334 nach den Vorbereitungen des französischen Königs Philipp VI. für einen Kreuzzug geschrieben wurde, teilt Petrarca den Kreuzrittern von jenseits der Alpen spezifische Attribute zu, die mit dem nordischen Klima ihrer Länder verbunden sind. Diese Kanzone gilt in der italienischen Dichtung als literarisches Vorbild für die Behauptung der Kriegslust und Todesverachtung der Nordländer, die so dargestellt werden, als ob sie aus einer anderen Welt kämen, in der die Sonne, die Italien erwärmt und erleuchtet, nie zu sehen ist. Obwohl die Christen aus dem Norden und die Italiener einen gemeinsamen Feind im Osten haben, stehen sie einander gegenüber und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer durch das Klima beeinflußten Beschaffenheit und ihrer Einstellung gegenüber Leben und Tod. Der Kreuzzug muß notwendigerweise von allen christlichen Völkern geführt werden, einschließlich der Nachfolger der Gallier und Germanen, das heißt der von Rom beherrschten Barbaren - laut Petrarca alle Völker des Nordens. Der Dichter verabscheut die ,Grausamkeit' und ,Wut' der Menschen im Norden (Y. 53: "tedesco furor"), doch er kann sich vorstellen, daß sie für Christus Seite an Seite mit Italienern kämpfen. Der Topos vom furor teutonieus (Luc., Phars., I, 255)23 wird hier verwendet. Mit "tedesco furore" bezieht sich Petrarca in den Trionji24 auf die Wut des germanischen Stammes der Teutonen (Tr. Farn., I, 110: ,,'1 tedesco furore"), spricht diese Eigenschaft aber allen Menschen zu, die jenseits der Alpen leben und folglich nicht direkt von den Römern abstammen. Im Rahmen eines Kreuzzuges kann diese ,Wut' des Nordens aber durchaus positive Folgen haben, denn die Soldaten, die aus dem kalten und dunklen Teil der Welt kommen, werden als Krieger von den ,feigen' Asiaten besonders gefürchtet. Der Norden - als Reich mit Eis und Schnee und vom Weg der Sonne entfernt beschrieben - wird als barbarisch gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu wird die Schönheit des eigenen Landes hervorgehoben und die Überlegenheit der römischen Kultur und der italienischen Nation entsprechend betont. Spezifische Naturphänomene des Nordens wie die Kälte, die Kürze der Tage, der Nebel und das Grau des Himmels werden übertrieben dargestellt, um dessen ,Alterität' gegenüber der eigenen vertrauten, romzentrierten Welt hervorzuheben. Darüber hinaus gelten die Nordvölker spätestens seit Cäsar25 als umso kriegstüchtiger, je weiter entfernt sie von der Zivilisation des mediterranen Zentralbereichs leben: Die Rauheit des Klimas wird von Petrarca verschärft, um die außergewöhnliche Tapferkeit der ,nördlichen' Christen zu inszenieren. Die typischen Naturphänomene, die zuge23 Vgl. C. Trzaska-Richter, Furor teutonicus. Das Römische Germanenbild in Politik und Propaganda von den Anfängen bis zum 2. Jahrhundert n. Chr., Diss., Trier 1991. 24 Alle Zitate aus den Trionfi (Triumphi) folgen der Ausgabe: F. Petrarca, Triumphi, hrsg. von M. Ariani, Milano 1988. 25 Vgl. C. Trzaska-Richter, Furor teutonicus ...• a. a. 0., S. 109.

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11. Petrarca und der Norden

spitzt werden, haben für Petrarca noch nichts Ansprechendes, Anziehendes oder gar Faszinierendes wie bei Tasso (vgl. Kap. VI). Petrarca hat hier auch im Sinn, sein Heimatland Italien mittels des düsteren Gegensatzes zu den nördlichen Zonen zu verherrlichen, auch wenn das eigentliche Feindbild aus den östlichen Völkern besteht. Die Nordländer gelten im Gegensatz zu Petrarcas sanftmütigeren Landsleuten als kriegslustige Verächter des Todes. Die Einheit von Christenheit und europäischer Welt geht nicht verloren, doch werden zwei Kategorien von Menschen innerhalb dieser differenziert: die wütenden nördlichen Christen und die Italiener, Erben der Römer. Zusammen grenzen sie sich von den ,nackten, ängstlichen und langsamen, feigen Heiden' im Osten ab, die Petrarca zufolge nicht in der Lage sind, das Schwert zu benutzen (Y. 46 - 60): Una parte dei mondo e che si giace mai sempre in ghiaccio et in gelate nevi tutta lontana dal camin dei sole: la sotto i giomi nubilosi et brevi, nemica naturalmente di pace, nasce una gente a cui il morir non dole. Questa se, piii devota che non sole, col tedesco furor la spada eigne, turchi, arabi et caldei, con tutti quei che speran nelli dei di qua dal mar che fa l'onde sanguigne, quanto sian da prezzar, conoscer dei: popolo ignudo paventoso e lento, che ferro mai non strigne, ma tutti colpi suoi commette al vento.

Es gibt also für Petrarca einen Teil der Welt, der immer unter tiefem, gefrorenem Schnee und Eis liegt und von dem Weg, auf dem die Sonne gleitet, vollständig abgeschnitten ist. So wie diese Region beschrieben wird, soll sie sich am Ende der Welt befinden, dort, wo die Sonne nie scheint. Es ist eine hyperbolische Übertreibung. Für die Kommentatoren Carducci und Ferrari handelt es sich dabei ohne Zweifel um Nordeuropa einschließlich Deutschland. 26 Dort, wo die Tage trüb und kurz sind, soll man Völkern begegnen, die eine Einheit bilden - es ist von "gente" im Singular die Rede - denn sie haben dieselben Merkmale: Sie sind von Natur aus gegen den Frieden, und der Tod bereitet ihnen überhaupt keine Schmerzen. Das Sterben macht also den Menschen im Norden, die ohnehin auf ein friedliches Zusammenleben keinen Wert legen, nichts aus. Carducci und Ferrari finden 26 Sie verweisen dafür auf Vergil (Georg., Il, 354 ff.: "iaeet aggeribus niveis infonnis et alto / terra gelu late septemque adsurgit in ulnas: / semper hyemes, semper spirantes frigora eaneri: / tum sol pallentes haud umquam diseutit umbras") und auf Lukan (Phars., IV, 106 ff.: "Sie mundi pars una iaeet, quam zona nivalis / perpetuaeque premunt hyemes; non sidera eaelo / ulla videt, steri/i non quidquam frigore gignit"). Vgl. Kommentar zu F. Petrarca, Le Rime, hrsg. von G. Carducei und S. Ferrari, Firenze 1984, S. 40 (Fußnote).

3. Menschen, vom Weg der Sonne entfernt

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an dieser Stelle Anspielungen auf klassische Stellen, die den Übermut nordischer Barbaren (einschließlich der Gallier) zum Ausdruck bringen, die sich ohne Reue in den Tod stürzen. 27 Zusätzlich können weitere Stellen bei klassischen Autoren gefunden werden, die daran erinnern, daß sich die Nordländer nicht vor dem Tod fürchten. Olaus Magnus in seiner summa des Nordens Historia de gentibus septentrionalium bezieht sich auf Plinius (Nat. hist., XXXV, 7), um zu behaupten, daß diejenigen, die unterhalb des Nordpols leben, glücklich dabei sind, sich in den Tod zu stürzen (Hist., III, 2). Bei ihm stellt dieses Merkmal jedoch etwas Positives dar, während es für Petrarca und seine Kommentatoren ein Beweis dafür ist, daß die Nordländer den Wert des Lebens nicht erkennen können. 28 In der Raumkonzeption Petrarcas bedeutet ,Norden' alle Regionen Europas, die sich nördlich von Italien befinden. Die Kommentatoren Carducci und Ferrari vertreten im 19. Jahrhundert dieselbe Ansicht und unterscheiden nicht zwischen Deutschland, Frankreich (die alte, barbarische Provinz "Gallia") und dem weiter nördlich gelegenen Rest Europas. Der ganze europäische Raum wird von Italien aus als ,nordisch' empfunden. Wenn all diese Völker, die jenseits der Alpen leben und hyperbolisch und polemisch in eine extrem kalte Gegend gerückt werden, um ihre vermeintliche angeborene Kriegslust zu betonen, am Kreuzzug teilnehmen, haben die Christen die Sicherheit, gegen die Muslime in Asien siegreich zu sein. Mit der ,deutschen Wut' ("tedesco furor") aller Nichtitaliener, die von den barbarischen Galliern und Germanen abstammen, kann man einen gerechten Krieg gewinnen. Solche Völker besitzen einen angeborenen Mut und eine natürliche, körperliche Stärke, eine Kraft, die man gegen die Ungläubigen gut gebrauchen kann. Ihre Abneigung gegenüber dem Frieden kann letztendlich zu einem positiven Ergebnis führen. Die Feinde des christlichen Glaubens - Türken, Araber und Chaldäer - werden als asiatische Feinde verstanden, die mit kriegerischen Christen aus den rauhen Ländern Nordeuropas nicht mithalten können, weil sie keinen Mut haben und nur - wie die Parten bei Lukan - aus einer gewissen Entfernung Pfeile werfen (Phars., VIII, 383 f.: "longe tendere nervos / et quo ferre velint pennittere vulnera ventis ,,).29 27 So zum Beispiel bei Horaz (Odi, IV, 14: "non paventis funera Galliae") und Lukan (Phars., I, 458: "populi quos despicit Arctos, / felices errore suo, quos, ille timorum / maximus, haud urget leti metus: indi ruendi / in ferrum mens prona viris"). Vgl. ebd., S. 48 (Fußnote). 28 Erst nach der Rezeption der Werke der schwedischen Brüder Johannes und Olaus Magnus und der Verbreitung der Gesta Danorum von Saxo wird die Todesverachtung der Völker des Nordens als eine Tugend aufgefaßt. So kann Petrarcas Motiv der Krieger, denen es nichts ausmacht zu sterben, von Orazio Ariosti und Tasso bearbeitet und positiv umgedeutet werden (vgl. Kap. Y.7. und Kap. VI.2.). 29 Nicht zufallig erinnert Petrarca in dieser Kanzone an die Kriege der Griechen gegen ihre asiatischen Feinde, die Perser (Y. 91-92: "Pon' mente al temerario ardir di Xerse, / che fece per calcare i nostri liti"). Ein uralter Topos kommt hier zur Geltung: Schon bei Herodot entsprachen die Auseinandersetzungen zwischen Europa und Asien den Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Barbaren. Bei Petrarca sind auf der Seite der Europäer nicht nur

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11. Petrarca und der Norden

Die militärische Stärke der europäischen Armee machen nicht die Nachfolger der einst tapferen Römer aus, sondern die schrecklichen Soldaten aus den dunkelsten und kältesten Gegenden. Das Motiv der Finsternis im Norden ist sehr wichtig und wird weiter aufgegriffen. Für Petrarca und die nachfolgenden Humanisten ist der Norden - topographisch wie metaphorisch - ein dunkler Raum, nicht ein heller. Auch bei Ariost ist nur von der Dunkelheit und nicht vom Licht des Nordens die Rede [vgl. Kap. II1.2.a)]. Die Mitternachtssonne Thules sei eine Illusion, meint Petrarca (vgl. Kap. 11.2.), und alle Italiener folgen ihm. Zwei Jahrhunderte müssen vergehen, bis Orazio Ariosti das Nordlicht entdeckt und poetisch beschreibt [vgl. Kap. Y.2.b)] und Torquato Tasso den Tag ohne Sonnenuntergang als Sinnbild des ewigen Lebens auffaßt [vgl. Kap. VI.5.c)]. Die italienischen Humanisten nach Petrarca, die in der Entfaltung der Renaissancekultur die Wiederbelebung der Antike und die Wiederauferstehung der Philosophie, der Wissenschaften und aller Künste, der Musik und der Dichtung sehen, bestimmen hingegen ihr Verhältnis zum Mittelalter und zum Norden jenseits der Alpen mittels der religiösen Antithese Licht-Finsternis. In diesem Zusammenhang befindet sich das Licht bei der römischen Zivilisation, die wiederbelebt wird, während die Finsternis des Nordens deren Verneinung darstellt. Petrarcas Nord-Diskurs macht Schule und gründet eine Tradition: Um ,Nördlichkeit' poetisch zu gestalten, muß man sich in Italien direkt auf ihn beziehen oder ihn gar wörtlich zitieren. Der Vers der Kanzone XXVIII, der die Abneigung der Nordländer gegen das friedliche Leben ausdrückt (Y. 50: "nemica naturalmente di pace"), wird von Ariost in seinen Orlando furioso so eingebaut, daß er zur ironischen Beschreibung aller nordischen Kreuzritter dient [vgl. Kap. III.2.a)]. Der Vers, in dem die totale Dunkelheit des nordischen Raumes behauptet wird (Y. 49: "tutta lontana dal camin deI sole"), kommt unverändert in Tassos Tragödie Re Torrismondo vor. Er wird neu kontextualisiert, so daß er zur Charakterisierung eines Reiseziels im äußersten Norden gebraucht wird [vgl. Kap. VI.4.b)]. Eine weitere Kanzone Petrarcas, welche die Tradition der Nord-Diskurse in der italienischen Dichtung stark geprägt hat, ist die berühmte Italia mia, in der beeindruckende Formeln vorkommen, die Italien als Erben des römischen Imperiums der wütenden nordischen Barbarei jenseits der Alpen gegenüberstellen.

4. Der Norden ist jenseits der Alpen: "vertU latina" versos "furor di lassu" In der Kanzone ltalia mia (R. v.j, CXXVIII), welche die "Stiftungsurkunde der ,italianita'" genannt wurde,30 weil sie alle einschlägigen Topoi enthält, die das Bepositive Merkmale zu verzeichnen, da Mangel an Disziplin, primitive Wut und Kriegslust die nordischen Christen charakterisieren. 30 Vgl. F. R. Hausmann, Skepsis, Zweifel oder Stolz. Italien, Deutschland und die ,italianita', in: "Italienisch", XXII, 2000/01, S. 11.

4. Der Norden ist jenseits der Alpen

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wußtsein der italienischen Nation in Abgrenzung zu den ,Barbaren' ausdrücken, konstruiert Petrarca ,Nördlichkeit'. Dieser Tenninus fungiert hier als Überbegriff für all diejenigen Attribute, die Petrarca dem Raum jenseits der Alpen zuspricht, um ihn als ,nördlich' zu definieren und dabei einen bestimmten ideologischen Zweck zu verfolgen. Dieser berühmte Texe' wurde infolge des Krieges für Parma (Winter 1344-45)32 geschrieben und 1357 umgearbeitet, das heißt zehn Jahre nach Cola di Rienzos Versuch, die römische Republik wieder auferstehen zu lassen. 33 Ausgangspunkt der Meditation war die Existenz deutscher Söldnerscharen, die im Dienste einheimischer Fürsten durch Italien zogen und die Bevölkerung terrorisierten. Petrarca appelliert an die italienischen Herrscher, einig zu sein und sich nicht einer fremden Militännacht zu bedienen. Der Gegensatz zwischen den deutschen Söldnern, Nachfolger von Barbaren wie den Kimbern und Teutonen und den von den Römern abstammenden Italienern ist abgrundtief: Petrarca drückt hier sein tiefes Gefühl für die kulturelle Überlegenheit der Italiener über alle anderen Nationen aus. Die italienische Identitätsfindung erfolgt positiv im Sinne eines ,Auserwähltseins' und negativ durch eine Abgrenzung vom grausamen, barbarischen Norden. Das Land Italien ist ein Ganzes, schön wie der Leib einer gutaussehenden Frau (Y. 3: "bel corpo"). Italien wurde von der Natur so begünstigt, daß es den schönsten Teil der ganzen Welt darstellt (Y. 56: "deI mondo la piu bella parte"). Seine außergewöhnliche, unvergleichbare Schönheit (Y. 18: "le belle contrade"; Y. 30: "i nostri dolci campi"; Y. 21: ,,'1 verde terreno") bezeugt, daß Italien das bevorzugte Land Jesu Christi ist (Y. 7 -9: "Rettor deI cielo, io chieggio / che la pieta che Ti condusse in terra / Ti volga al Tuo dilecto almo paese,,).34 Der Körper Italiens wird trotz der von den Barbaren verursachten Verletzungen weiterhin als ,schön' bezeichnet. Petrarcas Freund Luigi de' Marsili, der die Kanzone kommentiert, hebt diese Schönheit hervor ("il corpo d'ltalia appella bello per 10 dilettevole e fruttuoso terreno e le spesse cittadi e' fiumi e' monti e' laghi, che fanno Italia bellis31 Eine besonders wertvolle deutsche Übersetzung dieser Kanzone stammt von K. Stierle, Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs, München/Wien 1998, S. 143-150. 32 Im Jahre 1344, nach dem Tod von Simone da Correggio, dem Signore von Panna, war ein Streit zwischen seinen drei Brüdern um einen alten Vertrag über den Verkauf der Stadt an die Viscontis in Mailand entbrannt, der bald andere auswärtige Mächte auf den Plan gerufen hatte. In kürzester Zeit war Panna zum Brandherd der Konflikte in Norditalien geworden. Die Stadt wurde belagert und umkämpft. Petrarca entschloß sich daher zur Flucht, die ihn zunächst nach Bologna, dann nach Verona führte. 33 Die Kanzone ist nicht politisch in dem Sinne, daß der Autor realistisch nach Wegen für eine politische Lösung in Italien sucht. Der Dichter glaubt vielmehr, in der antiken Geschichte eine Interpretation der Gegenwart zu finden und versucht, die politischen Zustände zu reflektieren und die Realität zu überholen. Seinen Aufruf an die italienischen Regionalherrscher hält Petrarca selbst für vergeblich (Y. 1: "Italia mia, bencbe 'I parlar sia indamo"). Vgl. F. R. Hausmann, Skepsis, Zweifel oder Stolz. Italien, Deutschland und die ,italianita', a. a. 0., S. 12. 34 Italien bleibt für Petrarca sein Leben lang das Land, das von Gott auf besondere Art und Weise geliebt wird (Ep. metr., III, 24: "Salve cara Deo tellus").

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11. Petrarca und der Norden

sima,,)?5 Die Schönheit Italiens liegt in seiner Süße und Sanftheit. Es hat die Konturen der zärtlichen Mutter (Y. 85: "madre benigna et pia"). Doch ihr Leib wird von ,Barbaren' (V. 22: "barbarico sangue") zu Tode verletzt. 36 Italien sollte eine einzigartige Rolle spielen, weil beide Sitze der weltlichen und spirituellen Macht legitim Italien gehören. Luigi de' Marsili behauptet, daß Christus Italien mehr als seine Heimat Judäa liebte, da er beide Machtsitze in Italien verankerte. 37 Doch weder der Papst noch der Kaiser residieren in Italien, sondern verbleiben schändlicherweise jenseits der Alpen. Die Identitätsfindung Italiens erfolgt in Italia mia nicht nur positiv durch seine Schönheit und seine ideale religiöse und politische Rolle, sondern auch in negativer Abgrenzung zu allen Nichtitalienern, zu denjenigen, die von ,jenseits' der Alpen (Y. 78: "lassu") kommen. Petrarca ist der erste, der mit dem Pauschalurteil der Barbarei für alle "Oltramontani" den typischen Standpunkt der Humanisten vertritt. Die Söldnerscharen aus Deutschland werden als Nachfolger der Teutonen und Kimbern aufgefaßt. Sie standen für alle Volker, die den Römern fremd waren und aus einer unbekannten Region im Norden kamen, deren Küsten der allesumfassende Ozean berührte. Petrarca behauptet, sie seien ein wildes Volk ohne Gesetze, während die Italiener als sanft und zivilisiert dargestellt werden (Y. 33 - 35 und 39-45): Ben provide Natura al nostro stato, quando de I' Alpi scherrno pose fra noi et la tedesca rabbia; [... ] Or dentro ad una gabbia fiere selvagge et mansuete gregge s'annidan si, che sempre il miglior gerne; et questo del seme per piu dolor, dei popol senza legge: al qual, come si legge, Mario aperse si ' I fianco

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Die Alpen sollten das schöne Italien vor der ,deutschen Wut' schützen. Den Nachfolgern der germanischen Barbaren, die gegen die Römer kämpften, gehört die sprichwörtliche "rabbia", die sich hier nicht nur wie bei Dante (lnf, XXIX, 80-82) mit "scabbia", der Krankheit, die Italien infiziert hat, reimt (Y. 38: "ch'al corpo sano a procurato scabbia"), sondern auch mit "gabbia". Bei Petrarca kommt 35 L. de' Marsili, Comento a una canzone di Francesco Petrarca, Bologna 1968 (Repr. der Ausgabe hrsg. von G. Romagnoli, Bologna 1863), S. 9 f. 36 Hausmann betont, daß der Fremde, der Italien begehrt, gar zum Schänder, zum Vergewaltiger wird. Vgl. F. R. Hausmann, Skepsis, Zweifel oder Stolz. Italien, Deutschland und die ,italianita', a. a. 0., S. 13. Ganz anders wird es sich mit Tasso verhalten, der sich im Mondo creato für das verweichlichte und schwache Weib Italien echte harte Männer aus dem Norden wünscht [vgl. Kap. VI.5.e)]. 37 Vgl. ebd., S. 12.

4. Der Norden ist jenseits der Alpen

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dieselbe Kombination von sich reimenden Schlüsselwörtern vor ("rabbia": "gabbia"), die bei Fazio degli Uberti für die Barbarei der Nichtchristen und den Schrecken ihrer Länder verwendet wird (vgl. Kap. 1.2.).38 Nach Petrarca wird diese Reirnkombination in der italienischen Dichtung vor allem für Nord-Diskurse gebraucht, bis Tasso sie in der Gerusalemme conquistata für den Feind des Glaubens im Süden und nicht mehr für den gefahrlichen Norden verwendet [vgl. Kap. VI.5.e)]. Das bedrängte eigene Volk wird von Petrarca in seinem Selbstbewußtsein gestärkt, indem es mit einprägsamen Schlagworten den fremden Eindringlingen gegenübergestellt wird. Italien ist nicht nur eine schwer verwundete Frau, die die ,Wut' ("rabbia") der nordischen ,Barbaren' auf ihrem Körper spürt, sondern es ist auch ein Käfig ("gabbia"), in dem die ,wilden Raubtiere' aus dem Norden zusammen mit den ,zahmen Herden' der Italiener leben. Petrarca platziert unmittelbar jenseits der Alpen die Nachfolger der Teutonen und der Kimbern, die den klassischen Prototyp der nördlichen Barbarei darstellen. Sie waren die ersten, die nach Süden zogen, um Krieg gegen die Römer zu führen. Marius' Sieg über diese Völker wird zu einem großen symbolischen Ereignis. 39 In Italia mia sind die Männer aus dem Norden keine kraftvollen Helden, sondern lediglich ein "popol senza legge". Aus dem römischen Recht schöpfte Rom immer wieder seinen Anspruch, die ganze Erde zu beherrschen. Petrarca meint, daß nur die römische Zivilisation ein geordnetes Rechtssystem hervorgebracht habe, wogegen die anderen Völker keine richtigen Gesetze hätten und deshalb Barbaren seien. Nach Petrarcas Meinung vergießen die deutschen Söldner ohne einen edlen Grund unschuldiges Blut und verkaufen dabei ihre Seele (Y. 62: "che sparga 'I sangue et venda l'alma a prezzo"). Sie kämpfen nicht für einen würdigen Zweck, sondern scherzen mit dem Tode, weil sie das eigene Leben für wenig wert halten und das der anderen noch weniger. Dies sollten die Italiener, die Petrarca anspricht, wissen: Es wird ihnen einleuchten, sobald sie kurz nachdenken (Y. 65 - 67 und Y. 71- 73):

38 Das Wort "gabbia" kommt von cavea, Höhle, oder geschlossener und finsterer Ort, betont Francesco Alunno da Ferrara, der Vokabeln und Verse der italienischen Tradition sammelt. Vgl. F. Alunno da Ferrara, Lafabrica dei mondo, Venetia 1581, S. 44v. 39 Auch Boccaccio erwähnt in De casibus virorum illustrium (VI, 2) diesen Sieg. Dank der virtus der von Marius geführten römischen Soldaten konnte der großgewachsene König der Teutonen, Theotobocus, in Aquae Sextiae gefangengenommen werden. Die Frauen der geschlagenen Kimbern hätten auf jeden Fall keusch bleiben wollen. Da der General Marius es ihnen nicht erlauben wollte, brachten sie ihre Kinder und sich selbst um, um den Siegern lediglich ihre Leichen zu überlassen, schreibt Boccaccio. Die Frauen der Kimbern hatten es also vorgezogen, in den Tod zu gehen, anstatt sich den romanischen Siegern auszuliefern. Diese Information erwähnt Petrarca in dieser politischen Kanzone nicht, da es keinen Platz für irgendeine Tugend der ,Barbaren' in diesem Zusammenhang gibt. An einer anderen Stelle, in den Trionji, wird sich auch Petrarca an die Keuschheit der barbarischen Frauen erinnern (Tr: Pud., 140-141: "poi le tedesche che con aspra morte I servaron lor barbarica onestate"). Ariost wird mit diesem Topos der mutigen, keuschen Frauen aus dem Norden auf lustige und besonnene Art spielen [vgl. Kap. II1.2.b)].

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11. Petrarca und der Norden Ne v'accorgete anchor per tante prove delbavaricoinganno ch' alzando il dito colla morte scherza? [ ... ] Da la matina a terza di voi pensate, et vederete come tien caro altrui che tien se cosi viJe.

Der ,bavarische Trug' bezieht sich auf den Ursprung vieler Söldner aus Bayern, wie der berühmte Werner von Urslingen. Die Söldner opfern nicht ihr Leben für ein höheres Ziel, sondern denken lediglich an das Geld, das sie von den italienischen Fürsten bekommen. Deswegen sind sie bereit, ,den Finger hochzuheben' ("alzando il dito") und sich zu ergeben, ohne ihr Leben riskieren zu wollen. Sie nehmen den Tod unschuldiger Zivilisten in Kauf, nicht aber den eigenen. Die gierigen Nordländer haben weder Verständnis für den Wert des Lebens noch für den Sinn des Todes. Sie ,scherzen' mit dem Tode. 4o Aus der Antike überkommene Formeln und Nord-Diskurse leben infolge des Wütens der deutschen Söldnerscharen weiter. Ihre Wildheit, Streitlust und Grausamkeit werden in Zusammenhang mit der Abhärtung durch grimmige Kälte gebracht. Die barbarischen Eigenschaften der nordischen Völker werden durch das schlechte Klima verursacht, das sie zwingt, von Raub und Jagd zu leben. Die Angst der Italiener vor den gewalttätigen und wütenden Menschen von jenseits der Alpen ist für Petrarca letztendlich unbegründet: Ihrem "furor" kann man mit der alten disziplinierten Tapferkeit der Römer, das heißt mit "vertu" und "antiquo valore", Widerstand leisten. Die Nordländer haben es geschafft, die Nachfolger der ruhmvollen Römer zu betrügen; das ist aber für den Dichter nicht unvermeidlich, es ist kein Naturgesetz, das man einfach hinnehmen soll (Y. 74-80 und 93-96): Latin sangue gentile, sgombra da te queste dannose some; non far idolo un norne vano, senza soggetto: che 'I furor de lassu, gente ritrosa, vincerne d'inteJlecto, peccato e nostro, et non natural cosa. [... ] vertu contra furore prendera l'arrne, et fia 'I combatter corto: che I' antiquo valore ne l'itaJici cor' non anchor morto.

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Die Formel "vertu contra furore" (Y. 93) drückt mit den übrigen eindrucksvollen Antithesen der Kanzone den Gegensatz Italiener versus Nichtitaliener aus. Petrar40 An diese Stelle, in der vorn Scherzen mit dem Tode die Rede ist, wird sich Tasso erinnern, wenn er nordische Kreuzritter präsentieren will. Er wird sich Petrarcas Anspielungen bedienen, sie aber im Sinne mutiger Todesverachtung umdeuten (vgl. Kap. VI.2.).

4. Der Norden ist jenseits der Alpen

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cas Abwertung der nordischen Barbaren ist radikal: Ihnen erkennt er nicht einmal kriegerische Tapferkeit zu. Sie dürfen nicht als unbezwingbar angesehen werden: Sie können geschlagen werden, wie die Barbaren, von denen die lateinischen Historiker schreiben. Die deutschen Söldner sind keine hervorragenden Krieger, im Gegenteil, sie sollen wenig wert gegenüber den Erben der tapferen Römer sein. 41 Den Barbaren wird also auch die Kriegskunst abgesprochen. Die römische Geschichtsschreibung gibt Petrarca und Marsili reichlich Beispiele dafür. Schon den Namen von Cäsar zu erwähnen bedeutet, an die größten Siege der Römer über nördliche Barbaren zu erinnern, über "gallici" oder "tedeschi", wie Marsili erklärt, ohne die ersten von den zweiten zu unterscheiden. 42 Die disziplinierte Tapferkeit und das ,Blut edler Römer' (Y. 74: "Latin sangue gentile") stehen der wilden ,Wut' von ,dort oben' oder vom ,Norden' gegenüber (Y. 78: "furor di lassu").43 Carducci und Ferrari erklärten in ihrem Kommentar zur Kanzone Italia mia, daß "lassu" im Sinne von entferntem Land ("paese lontano") gebraucht werde und alle ,bestialischen Nordländer' damit gemeint seien. Sie kämen aus Gegenden, die zum Nordpol neigen und seien der Zivilisation und Kultur abgeneigt: "questi bestiali e furibondi settentrionali (di lassu, di verso il polo artico ... ), questa gente indocile, restia alla civiltil e alla coltura".44 Alle ,Barbaren' unterscheiden sich von den siegreichen Römern - und den leidenden italienern (Y. 89: "popolo doloroso") - gerade durch ihre feritas, ihre wilde Grau41 L. de' Marsili, Comento a una canzone di Francesco Petrarca, a. a. 0., S. 23: "cos1 fatta gente da poco non si dee torre per guerrieri, e questi inverso noi sono da poco, come appare nelle storie." 42 Vgl. ebd., S. 25. Nicht nur Gallier und Germanen werden verwechselt oder gleichgesetzt, indem sie als ,Barbaren' aus dem Norden verstanden werden, sondern auch Skythen und Goten. Während Kimbern und Teutonen die erste Bedrohung aus den nördlichen Regionen darstellen, die aber von den Römern noch abgewandt werden konnte, stehen Goten und Skythen flir die nordischen Barbaren, die den Verfall Roms herbeigeführt haben. So wundert es nicht, daß Boccaccio einen Führer der Goten aus Skythien kommen läßt, der seinen Soldaten verspricht, im Fall eines Sieges, "ex YtaliaJacturum Gothia" (De casibus, VIII, 14: "Radagasus Scithafuit origine"). Auch Biondo Flavio wird behaupten, daß die Goten oder Geten, die Rom zerstörten, ihren Ursprung im äußersten Norden gelegenen Skythien hatten. Ihre Merkmale seien dieselben wie die der Kimbern und Teutonen, nämlich extreme Grausamkeit und Todesbereitschaft. In einer späteren Epoche bedient man sich darüber hinaus des Namens der Goten, um alle nordischen Barbaren zu bezeichnen. So wird die herabsetzende Einschätzung der Goten in der italienischen Renaissance als Folge haben, daß die Kunst, die nicht den antiken, klassischen Formen entspricht, als ,gotisch' bezeichnet wird. 43 Marsili erklärt, daß die deutschen Barbaren mit Wut kämpfen; so sind sie nicht in der Lage, vernünftig zu handeln und zu gewinnen, während die Römer durch Beständigkeit charakterisiert sind, weshalb ihnen der Sieg gehört. "Ira", "furia", "furore" sind Synonyme, die Marsili flir die aggressive Kampfart der wilden Barbaren verwendet. Dagegen stehen "vertu" und "valore" für disziplinierte Kraft und Kriegskunst, die den zivilisierten Römern vorbehalten sind. Vgl. L. de' Marsili, Comento a una canzone di Francesco Petrarca, a. a. 0., S.38. 44 Kommentar zu F. Petrarca, Le Rime, hrsg. von G. Carducci und S. Ferrari, a. a. 0., S. 201 f. (Fußnote).

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11. Petrarca und der Norden

samkeit. Sie sind deswegen der Welt der wilden Tieren (Y. 40: "fiere selvagge") näher als der kultivierten Welt, zu der die Römer dank ihrer humanitas gehören.45 Marsili hebt in seinem Kommentar zu Italia mia eine Antithese hervor und spricht dabei von einem "colore rettorico, ehe si chiama contrario": Auf der einen Seite erwähnt der Dichter die öden und unfruchtbaren ,fremden Wüsten' Deutschlands (Y. 29: "deserti strani"),46 auf der anderen Seite die ,süßen Felder' Italiens (Y. 30: "dolci campi"). Deutschland gleicht einer Wüste, weil es anscheinend keine Früchte und keine zivilen Sitten gibt, während Italien durch seine Süße, Schönheit und hohe Zivilisation charakterisiert wird. Aus der Wüste strömen wütende und zerstörerische Barbaren, welche wie eine Sintflut die schönen, süßen und fruchtbaren Felder ,überschwemmen' (Y. 28 - 30: ,,0 diluvio raccolto / di ehe deserti strani, / per inondar i nostri dolci campi!"). Die Natur und die Landschaft eines Landes entsprechen dem Charakter seiner Bewohner: Ein Land, das als kalt und unfruchtbar oder ,nordisch' gilt, wird sofort als schrecklich und unangenehm abgetan, und es kann nur schreckliche Barbaren hervorbringen. ,Härte' hat für Petrarca noch keinen Wert. Schönheit, Süße und Sanftheit gehören Italien und stehen im Gegensatz zum Norden, genauso wie Disziplin, gemäßigte Kraft, Opferbereitschaft und Humanität typische römische Tugenden sind, die gegen den Norden verteidigt werden sollen. Die höhere lateinische Kultur ist mit der privilegierten Lage Italiens verbunden: Die Natur selbst zeigt durch begünstigte klimatische Bedingungen, welches Land Anspruch auf eine zentrale und leitende Rolle in der Welt haben soll. "Natura" steht für den Willen Gottes, betont Marsili. Gott selbst habe, als er die Welt erschuf, die Italiener zu ihrem Schutz durch die Alpen von den wütenden, räuberischen und wilden Deutschen trennen wollen, die als Barbaren wie Tiere in allen ihren Trieben seien.47 Dies hatte schon Plinius behauptet (Nat. hist., III, 19, 23: "Alpes ... Germaniam ab Italia summovent... veluti naturae providentia "), und Petrarca zieht diesen Topos auch an anderen Stellen heran (Fam., XI, 8, 31 und Fam., XVIII, 16, 19).48 45 Vgl. G. Paparelli, Feritas, humanitas, divinitas: le componenti dell'Umanesimo, Messina/Firenze 1960, S. 31-47 und passim. 46 L. de' Marsili, Comento a una canzone di Francesco Petrarca, a. a. 0., S. 19: ..diserti strani, del paese della Magna che pare un diserto senza frutti di terra e senza costumi ci viii e adorni." 47 Ebd., S. 20 f.: .. Natura, cioe Dio ordinatore delle cose naturali, provide bene utilmente al nostro stato quando nella creazione dei mondo puose scherrno difesa e paratio dell' Alpi fra noi d'Italia e la tedesca rabbia, cioe li tedeschi rabbiosi e furiosi come bestie: che ogni barbaro in passione d'ira e di subitezza e di golosit3 e di lussuria participa colle bestie, e simile in cupidigia ruberie e rapine". 48 Zu vollkommen verschiedenen Zeiten wird sich der Gelehrte aus Lecce, Scipione Ammirato, in seinen Discorsi sopra Comelio Tacito auf die Kanzone ltalia mia beziehen, um zu verneinen, daß die Alpen eine Sperre und ein Schutzwall für Italien gegen die Barbaren seien. Im Gegenteil, man solle die Kommunikationswege fördern und die Kontakte zwischen den Völkern erleichtern: .. Non conviene dunque in questo secondare il concetto di quel poeta, il qual disse haver la natura messo tra I'Italia eie provincie de' barbari 10 scherrno dei monti per non communicare gli uni con gli altri; anzi noi habbiamo con l'ingegno e con l'industria

4. Der Norden ist jenseits der Alpen

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Wie schon erwähnt, wurde diese Kanzone, die sich als erste Episode der nationalen Rhetorik der italienischen Geschichte verstehen läßt,49 im Laufe der italienischen Geistesgeschichte vielfältig rezipiert. 5o Machiavelli zitiert einige Verse (Y. 93 - 96), um die Italiener mit ihrer "vertu" und ihrem "antiquo valore" aufzufordern, sich von den ,barbarischen' Fremden, von Franzosen und Spaniern zu befreien, welche durch den "furore" gekennzeichnet sind (Il Principe, XXVI).51 Für Machiavelli prophezeien diese Verse den Sieg der Italiener und der "virtu italica" über die fremden Herrscher. Die poetische Konstruktion eines wütenden Barbarenturns, das von jenseits der Alpen Unglück über Italien bringt, wird beibehalten und findet auch in einem politischen Traktat Platz. ltalia mia gehört mit der anderen Kanzone, die den Norden als öde und rauhe Heimat der ,Wut' jenseits der Alpen konstruiert (R. v.J, XXVIII; vgl. Kap. 11.3.), zu den "canzoni gravi" Petrarcas, die Tasso exemplarisch für eine "lirica alta", die nicht die Liebe als Thema hat, hielt. 52 Der junge Leopardi sprach dafür von einer "lirica eloquente", das heißt, sie ist für ihn nicht sentimental, nicht pathetisch, nicht "affettuosa".53 In diesem erhabenen ad agevolare i difficili passaggi de' monti e delle valli e de' fiumi e de' mari per communicare runo con l'altro" (S. Ammirato, Discorsi sopra Comelio Tacito, Vinegia 1599, S. 277). Aber Scipione Ammirato schreibt in einer anderen Epoche und zählt schon zu den Autoren, denen ein gewisser ,Gotizismus' zugesprochen wird. Der Bezug auf Petrarcas Kanzone bezeugt die Wichtigkeit dieses poetischen Textes für das Verständnis der Beziehung Italiens zum restlichen Europa auch Jahrhunderte später. 49 Vgl. F. Gaeta, Sull'idea di Roma nell'Umanesimo e nel Rinascimento, in: "Studi Romani", XXV, 1977, S. 170. 50 Die Haltung Petrarcas wurde in dem vom Nationalstaatsgedanken erfaßten Italien während des Risorgimento ausgenutzt, politisiert und im Sinne einer Verherrlichung des Volksgeistes interpretiert. Petrarca diente unter anderen den Intellektuellen als Hauptautorität, die zu Beginn des ersten Weltkrieges die Rechtfertigung für den Kampf zwischen "latinita" und "germanesimo" suchten, auch wenn Croce versuchte, solche Begriffe als Mythen und Vorurteile zu entlarven. Nach Meinung ,politisch engagierter' Kommentatoren wie Vittorio Cian oder jener Literaten, die sich in den Dienst der Propaganda stellten wie Giulio Natali, drückte diese Kanzone das ewige Gefühl der Italiener gegen die Deutschen aus, die Überzeugung, daß die von den Römern abstammende italienische Kultur nicht von der germanischen Kultur überflutet werden dürfe (vgl. V. Ci an, 11 ,Iatin sangue gentile' e il ,juror di lassu' prima dei Petrarca, Cividale 1907 und G. Natali, Scrittori italiani antitedeschi, Campobasso 1917). Für Petrarca ging es aber nicht um zwei verschiedene Kulturen, einer römisch-italienischen und einer unterlegenen germanischen. Er stellte vielmehr Kultur und Unkultur, klassisches Erbe und Barbarei (blinde Wut, Gesetzlosigkeit, Unkenntnis der lateinischen Sprache) gegenüber. 51 Vgl. N. Machiavelli, Exhortatio ad capessendam ltaliam in libertatemque a barbaris vindicandam, in: Ders., Opere, Torino 1999, Bd. I (tomo 1), S. 386-400. "A ognuno puzza questo barbaro dominio!" lautet sein Kommentar: Allen Italienern ,stinkt' die barbarische Herrschaft (ebd. S. 400). 52 Vgl. A. Afribo, Gravita e piacevolezza dal Bembo al Tasso. Appunti da una querelle, in: Torquato Tasso e la cultura estense, hrsg. von G. Venturi, Firenze 1999, S. 429 f. 53 In einem Brief an Pietro Giordani schreibt Leopardi im Februar 1819: "Ma non meraviglia che l'Italia non abbia lirica, non avendo eloquenza, la quale necessaria alla lirica a segno che se qualcuno m'interrogasse qual composizione mi paia la piu eloquente fra le italiane, risponderei senza indugiare, le sole composizioni liriche italiane che si meritino questo

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11. Petrarca und der Norden

Kontext ist der poetische Norden in der italienischen Literatur entstanden und erfunden worden. Petrarcas Idee von Rom ist noch mit der Universalität des Imperiums und der katholischen Kirche verbunden. Für ihn ist die klassische römische Kultur die Kultur schlechthin, die einzig mögliche. Mit der Auferstehung der (christlichen) Antike erwartet er eine renovatio der Sitten und der Welt, auch im Sinne von millenaristischer Vision und politischem Utopismus. 54 Für ihn identifizieren sich Römerturn, lateinische Sprache und Kultur miteinander. 55 Darüber hinaus hat sein Humanismus einen spezifisch nationalen Charakter, indem er die Bindung an die Römer hervorhebt, die er als seine Landsleute ansieht. Humanitas, romanitas und christianitas hängen für ihn zusammen. Das hohe Gedankengut und der Geist der Römer stehen für ihn im Vordergrund und gehören den Italienern, welche die humanae litterae pflegen. Die Anderen sind daher ,Barbaren'. 56 Sein konstruierter ,Norden' als Gegensatz zum Mythos Rom bedeutet die Verneinung der humanistischen Werte. Vor diesem ideologischen Hintergrund stellt der Norden lediglich einen Mangel an Zivilisation und humanitas dar. Um einer ganz anderen Deutung des Nordischen in der italienischen Dichtung zu begegnen, muß man also so lange warten, bis sich ein neues Konzept von humanitas entwickelt, und dies geschieht erst nach der Verarbeitung der Entdeckungsreisen im 16. Jahrhundert, hauptsächlich mit Torquato Tasso.

norne, cire le tre canzoni del Petrarca, 0 aspettata in ciel, Spirto gentil, [talia mia". G. Leopardi, Tutte le opere, hrsg. von W. Binni, Firenze 1969, S. 1068. 54 V gl. F. Gaeta, Sull 'idea di Roma . .. , a. a. 0., S. 170. 55 Petrarca, der sicher französisch und provenzalisch sprechen konnte, entschuldigte sich 1360 in Paris vor dem französischen König und sagte in seiner oratio, er wolle in der Sprache seiner Väter reden, weil er die Sprache des Königs nicht lernen konnte und die Römer gewöhnt seien, nur den Ausländern zuzuhören, die auf Latein redeten. Petrarca, Botschafter der Visconti, hätte sicher französisch sprechen können, aber er wollte sich als Bote einer neuen Kultur präsentieren. Vgl. C. Dionisotti, Geografia e storia della letteratura italiana, Torino 1967, S. 145. 56 Wenn Petrarca über ,Barbaren' spricht, meint er oft die Ärzte, die seiner Meinung nach mit den Arabern - den ,orientalischen Barbaren' - beschäftigt waren und die klassische Kultur korrumpiert hatten. Die Studien im Bereich der Naturwissenschaften und der Physik scheinen ihm müßig zu sein. Nicht nur die Averroisten in Padua oder Bologna, sondern auch alle Logiker und Dialektiker aus Oxford, die Nominalisten oder Sophisten, sind für ihn senes pueri oder ,Barbaren'. Francesco Bruni wird sogar auf die englischen Namen vieler Gelehrter als Beweis der Barbarei hinweisen. Vgl. E. Garin, L'eta nuova. Ricerche di storia della cultura dal XII al XVI secolo, Milano 1969, S. 151 f.

111. Der Norden im Werk Ariosts 1. Topoi, Ironie und ,Nördlichkeit'

Das Bild des Nordens, das im Ritterroman Orlando furioso! auftaucht, steht noch im Einklang mit dem humanistischen Blick auf den Norden, der von Petrarca entwickelt wurde. Die im vorangegangenen Kapitel erwähnten Stellen der zwei Kanzonen, die den Norden thematisieren (R. v.J, XXVIII und CXXVIII, vgl. Kap. 11.2. und Kap. 11.3.), stellen eine poetische Topik zur Verfügung, die Ludovico Ariosto ohne Zweifel häufiger gebraucht. ,Nördlichkeit' wird erzeugt, indem man poetische Bilder und Motive - manchmal auch fertige Verse - übernimmt und umarbeitet. Die lyrische Tradition stellt Materialien zur Verfügung, die als Anklänge, Anspielungen, Zitate zerlegt und wieder zusammengesetzt werden können, genauso wie die imaginatio die Spuren des Wahrgenommenen zertrennen und neu mischen kann. Es ist bemerkenswert, daß diese Erzeugung von Nördlichkeit aus der hohen literarischen Tradition stammt, da nichts Vergleichbares in den populären cantari zu finden ist. Weder für Pu1ci noch für Boiardo ist der Norden ein Thema. Man verdankt Ariost die Einführung dieser Thematik aus der Lyrik in die Ritterepik. Die Bilder des Nordens in Ariosts Werk sind die Bilder der italienischen humanistischen Tradition, zu der er in einem höchst spannungs vollen Verhältnis steht. Diese Bilder bekommen darüber hinaus eine besondere Bedeutung durch Ariosts Ironie, dessen parodistische Intention die Fiktionalität der Literatur selbst zum Thema macht. Dadurch werden sie wesentlich interessanter. Ariost gibt ständig Hinweise darauf, daß seine Erzählungen - das heißt auch seine Schilderung des Nordens - nicht ernst zu nehmen sind. Nicht nur der vertraute Erzbischof Turpino als Quelle und Gewährsmann des Wahrheitsgehalts der dargestellten Geschichte ist diskreditiert, sondern auch alle übrigen Quellen erweisen sich als rein literarische auctoritates für sein freies poetisches Spiel, das keine historischen oder gar geographischen Wahrheiten zu liefern hat. Wahrend seine Schilderung des Nordens traditionell ist und auf den altbekannten Topoi basiert, besteht seine große Originalität in der ironischen Dekonstruktion seines eigenen Diskurses, der in seiner Fiktionalität entlarvt wird. 2 Die poetischen 1 L. Ariosto, Orlando furioso e Cinque canti, hrsg. von R. Cesarani und S. Zatti, 2 Bde, Torino 1997. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 2 Vgl. S. Zatti, II molo di Turpino: poesia e verita nel Furioso, in: Ders., 11 Furioso tra epos e romanzo, Lucca 1990, S. 173 - 202 und A. Kablitz, Dichtung und Wahrheit. Zur Legitimität der Finktion in der Poetologie des Cinquecento, in: Ritterepik der Renaissance. Akten

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III. Der Norden im Werk Ariosts

Bilder des Nordens sind nicht neu, aber es ist ihnen in ihrem sensus litteralis ausdrücklich jeglicher Wahrheitsanspruch entzogen. Jedoch beansprucht der Dichter für sich das Recht auf Fiktion ("fingere") im Namen einer höheren Wahrheit, die unter dem Text oder jenseits des Textes liegt. So wird auch in seinem Nord-Diskurs zwischen verschiedenen Ebenen zu unterscheiden sein. Ein Ritterroman, der sich mit einem Krieg der Christen gegen die Moslems beschäftigt, wird erwartungsgemäß den Feind im Süden ansiedeln, und der König Agramante, der die Armeen der Muslime führt, wird tatsächlich im Orlando furioso König des Südens, des Mittags, "re di Mezzogiomo" (XLI, 91, 6) genannt. Dementsprechend werden die Feinde des christlichen Glaubens südlich von Europa ,Barbaren' genannt (in den Cinque canti sind ,Barbaren' auch die noch nicht christianisierten Böhmen). Doch in dem an intertextuellen Bezügen und klassischen Zitaten besonders reichen Ritterroman Ariosts wird auch der Norden thematisiert, und zwar entweder als ein Raum, der sich, obwohl zu Europa gehörig, am Rande der christlichen Welt und des poetischen Diskurses befindet und spezielle Eigenschaften besitzt, oder als Konstrukt, das die von jenseits der Alpen kommende Gefahr für Italien ausdrückt, wobei ,Norden' sich auf alle fremden Mächte auf italienischem Boden bezieht. Mit der Analyse der intratextuellen Bezüge im Orlando furioso wird es möglich sein zu zeigen, daß die zwei topographischen Modelle miteinander verbunden sind. Man kann sie wie folgt zusammenfassen: 1. Das erste ist ein Viererschema. Die Welt des Ritterromans besteht zunächst aus einer christlichen und einer muslimischen Welt ("Pagania"), die durch Religionszugehörigkeiten unterschieden werden, aber trotzdem einige Gemeinsamkeiten besitzen, da beide Bestandteile der im Mittelpunkt des Diskurses stehenden Ritterwelt sind: Ihre Kämpfe sind der Stoff des Erzählens. Es gibt somit einen vertrauten Raum, in dem sich die Paladine Karls des Großen, "re Carlo imperator romano" (I, 1, 8), wie in ihrem eigenen Zuhause bewegen und dessen Schwerpunkt oder ,Gravitationszentrum ' die belagerte Stadt Paris ist, und einen südlicheren, nach Osten neigenden Raum, in dem die Moslems ihre Stützpunkte haben. Aus dem Orient kommen zahlreiche Könige, die gegen die Christen Europas (manchmal auch als westliches Reich gedeutet) kämpfen. Es eröffnen sich aber noch zwei weitere Räume, die immer am Rande der Tradition der romanzi oder gar von ihr ausgeschlossen geblieben waren. Nördlicher von dem vertrauten Schauplatz der Taten der Paladine leben besondere Völker, die zur Peripherie der christlichen Kultur gehören. Diese kaum bekannte Region der Welt, aus der Hilfe für die Christen kommen soll, besteht aus ultimae terrae am Rande der Zivilisation. Diese haben besondere Merkmale vorzuweisen, die genauer zu untersuchen sind. Südlich des von dem bekannten muslimischen Feind bewohnten Raums, der im Ritterroman in Spanien und an der Küste Afrikas angesiedelt ist, liegt wiederum am Rande ein des deutsch-italienischen Kolloquiums, Berlin 30. 3. - 2. 4. 1987, hrsg. von K. W. Hempfer, Stuttgart 1989, S. 77 -122, vor allem S. 77 f.

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I. Topoi, Ironie und ,Nördlichkeit'

Land, das eine Welt für sich darstellt, nämlich Äthiopien oder Nubien, das Ariost der christlichen Religion zuschreibt. Das Modell ist nicht nur topographisch zu verstehen, sondern auch als eine Art ,Chronotopos' im Sinne Bachtins. 3 Die räumlichen Merkmale werden erst durch die Zeit erfüllt, die nicht mit der historischen Zeit zu verwechseln ist, sondern die imaginäre Zeit des Ritterromans ist, die Zeit des Kampfes Karls des Großen gegen die Moslems in Europa. Die eigentlichen Daten der Christianisierung nördlicher europäischer Länder bleiben dabei unbeachtet. Ariost bemüht sich nicht, Anachronismen zu vermeiden. Parodie und Komik gelten als Strukturierungsprinzipien der Episoden, die diesem Schema folgen. Man könnte das Schema folgendermaßen zusammenfassen: Äußerster Norden (ultimae terrae) Christliche Ritter Muslimische Ritter Äußerster Süden (Äthiopien, Nubien, irdisches Paradies) [Zeit: fiktiver Anfang des 9. Jahrhunderts, Zeit der Ritterepik]

NORDEN

SÜDEN

2. Das zweite Modell basiert wieder auf einer Dichotomie zwischen Christen und Nichtchristen, konzentriert sich aber hauptsächlich auf eine zweite Dichotomie, die innerhalb des christlichen Weltteils auftritt, zwischen einem nördlichen und einem nichtnördlichen Raum (die Grenze bilden die Alpen). In dem nichtnördlichen Raum befindet sich der Dichter selbst, wenn er mit vollem Ernst Zwischenbemerkungen einschiebt und sich direkt an den Leser wendet. Dieser Raum ist geographisch mit Italien gleichzusetzen. Als Norden gilt der gesamte Raum, der sich jenseits der Alpen erstreckt. Im Osten liegen Jerusalem und Konstantinopel, die Städte, die von den Ungläubigen befreit werden sollen. In diese Richtung sollten die "Oltramontani" ihre sprichwörtliche ,Wut', den Inbegriff ihrer Nördlichkeit, auslassen. Auch dieses Modell ist gleichzeitig ein topographisches und ein zeitliches: Ariost bezieht sich auf seine Gegenwart, wenn er die Welt nach diesem Paradigma einteilt: WESTEN (Christliche Welt) Oltramontani Italien (Wir-Diskurs)

NORDEN NICHT-NORDEN [Zeit: Zeit des Dichters]

OSTEN (muslimische Herrschaft) Jerusalem, Konstantinopel

Außerhalb der zwei Modelle steht der Gegensatz Osten-Westen der Cinque canti, in denen der Kampf zweier Kulturen und zweier Religionen lediglich als Kampf zwischen Asien und Europa dargestellt wird, wobei Karl der Große als Kaiser des gesamten Westens präsentiert wird (Cinque canti, I, 47, 7: "e freni omai tutto il Ponente"; 11, 53, 8: "sacrato imperator fu di Ponente") und die Feen sich in Indien treffen, um etwas gegen alle westlichen Völker zu unternehmen (Cinque 3 Vgl. M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989, S. 7 ff.

5 Boccignone

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111. Der Norden im Werk Ariosts

canti, 1,23,4: "i populi tutti di Ponente"; I, 34, 3: "I'alto Impero occidental"). Das ist aber eine Ausnahme. In der Regel wird im Orlando furioso ,Nördlichkeit' nach den oben beschriebenen Modellen thematisiert, und diese Dimension spielt keine geringe Rolle. In beiden Modellen ist der Norden negativ semantisiert. Im ersten Modell ist das Negative durch die Ironie relativiert, im zweiten Modell jedoch nicht.

Es liegt auf der Hand, daß die Bilder des Nordens, die Ariost übernimmt und entwickelt, nichts mit der geographischen Realität zu tun haben. Man bedenke, daß die meisten Eigenschaften, die dazu dienen, die Völker aus Island und den übrigen ,unter dem Nordpol' gelegenen Inseln zu beschreiben, dieselben sind, die die "OItramontani" kennzeichnen, die bewaffnet von jenseits der Alpen kommen und Italien Unglück bringen. 2. Am Rande der Weit a) Die, Wut des Nordens'

Bevor zur Erläuterung des ersten Modells übergegangen wird, soll kurz darauf hingewiesen werden, daß bei Ariost und seinen Zeitgenossen (wie bei Petrarca) das rauhe Klima und die ,Häßlichkeit' der nördlichen Landschaft nicht nur für selbstverständlich gehalten werden, sondern prinzipiell mit der angeborenen kriegerischen Haltung und der instinktiven Grausamkeit der Menschen im Norden in Zusammenhang gebracht werden. Im Furioso, in dem der typische [oeus amoenus mehrmals beschrieben wird, kommt nur wenige Male ein öder [oeus terribilis vor, der eine ,Insel der Nördlichkeit' in dem vertrauten Raum sein könnte. Er wird einfach als "selva oscura" bezeichnet (11, 68, 4) oder etwas aufwendiger beschrieben, wie auch das Tal, in dem sich das erste Schloß von Atlante befindet (11, 41, 2 - 3 und 5 - 6: "per balze e per pendici orride e strane, / dove non via, dove sentier non era"; "in una valle inculta e fiera, / di ripe cinta e spaventose tane"). Eine winterliche Landschaft mit Wolken, kaltem Wind, Eis und Schnee kann von vornherein nicht schön sein und ist auch nie eine echte Naturlandschaft, sondern ist im Einklang mit der Tradition der Lyrik des 16. Jahrhunderts lediglich eine metaphorische Landschaft, die Gefühle der Traurigkeit, der Verzweiflung ausdrückt, wie in dem Moment, in dem Bradamante ohne ihren geliebten Ruggiero zurückbleibt (XLV, 38,1-3 und XLV, 39,1-4): Se 'I sol si scosta, e lascia i giomi brevi, quanto di bello avea la terra asconde; fremono i venti, e portan ghiacci e nievi [ ... ] Deh toma a me, mio sol, toma, e rimena la desiata dolce primavera! Sgombra i ghiacci e le nievi, e rasserena la mente mia si nubilosa e nera.

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Die Sonne entfernt sich an kurzen Tagen, die Erde verbirgt ihr reizendes Gewand, es heulen die Winde und bringen Eis und Schnee: Das ist die Veranschaulichung der Wehmut. Der Geliebte ist die Sonne, und ohne ihr Licht ist alles, was schön war, verschwunden. Es gibt noch keine ästhetische Sensibilität für die Schönheit des Eises und des Schnees, die nur als schneeweiße Haut einer Frau etwas Positives darstellen kann. Erst Olaus Magnus wird in Italien von der besonderen Schönheit des Eises und der Schneekristalle sprechen (Hist., I, 22). Bei Ariost hingegen ist der Winter nur eine Metapher für die Traurigkeit. In der Kanzone XXVIII hatte Petrarca das unbekannte Land der kriegerischen Christen aus dem Norden mit ähnlichen Worten erwähnt (vgl. Kap. 11.3.). Die wörtlichen Übereinstimmungen sollten klar machen, daß hier eine imaginäre nördliche Landschaft dichterisch artikuliert wird, die für eine bestimmte seelische Verfassung steht und sich zur Beschreibung eines Zustands der Trauer besonders eignet. Vor diesem Horizont ist eine positive Bewertung des Nordens im allgemeinen nicht zu erwarten. Und tatsächlich ist von positiven Eigenschaften der Nördlichkeit überhaupt keine Rede. Es wird hier von der Abwesenheit der Sonne ausgegangen, wie zum Beispiel in der Episode des Rinaldo in Schottland. Er entscheidet sich, die dunklen Wälder Schottlands zu meiden und die Tochter des Königs Ginevra vor jenem grausamen Gesetz (IV, 59, 1: "aspra legge di Scozia, empia e severa") zu retten, das den Tod aller unverheirateten Frauen vorsieht, die sich ihrem Geliebten hingegeben haben. In der Erzählung der Hofdame Dalinda, die ohne Absicht die Prinzessin in Schwierigkeiten gebracht hat, wird ein möglicher Grund für die Entfernung der hellen Sonnenstrahlen von dieser Region des Greuels geliefert: Die Sonne würde sich in ihren Kreisen jenem Land weniger nähern, weil sie sich weigert, ein solch grausames Volk anzuschauen (V, 5, 5 - 8): E se rotando il sole i chiari rai, qui men ch'all'altre region s'appressa, credo eh' a noi malvolentieri arrivi, percbe veder SI crudel gente schivi.

Diese Begründung für die Weigerung der Sonne, diese Region zu beleuchten und zu erwärmen, klingt paradox. Das behauptet Dalinda in ihrer Wut und in ihrer Trauer durch eine Umkehr des traditionellen Arguments, daß die Härte und die Grausamkeit der nördlichen Völker als eine Folge der Härte und der Rauheit des nördlichen Klimas zu deuten sind. Trotz der Umkehr bleibt aber die traditionelle Beziehung (Entfernung der Sonne, wenig Licht, Grausamkeiten und Greueltaten) aufrechterhalten. In einem einige Jahre später verfaßten Sonett von Pompeo della Barba4 steht zum Beispiel, daß dem "barbaro Scita", der den Menschen des Nor4 Das Sonett wurde als Vorwort für die italienische Übersetzung der Strix von Gianfrancesco Pico della Mirandola geschrieben. Siehe G. F. Pico della Mirandola, La strega ovvero degli inganni de' demoni tradotto in lingua toscana da Turino Turini, Milano 1864 (Reprint Bologna 1974), S. 13. Gian Francesco Pico wurde mit den bekanntesten Dichtem und Gelehr-

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III. Der Norden im Werk Ariosts

dens als solchen vertritt, sein grausamer und untreuer Geist ("l'animo fero") vom kalten Himmel seines Landes verliehen worden sei ("a cui la mente infida / die il freddo ciel,,).5 Die Wut und die Grausamkeit ("furore", "rabbia") als typische Eigenschaften des Nordens sind ebenfalls im Furioso so selbstverständlich, daß auch dem englischen Prinz Astolfo entschlüpft (VI, 34, 7 - 8): ver ponente io venia lungo la sabbia che deI settentr'ion sente la rabbia

während er erzählt, wie er der Zauberin Alcina in die Hände gefallen ist. In der Übertragung von Johann Diederich Gries ist diese ,Wut des Nordens' leider verlorengegangen, da nur von einem schwachen und erblassten ,Ungestüm des Nordwindes' die Rede ist. 6 Ariost hat sich aber nicht nur auf die Stärke des Windes bezogen: Der Norden ist im allgemeinen gefährlich und unangenehm. Alcinas gute Schwester Logistilla, die Tugend und Vernunft symbolisiert, empfiehlt daher dem Prinzen Astolfo, das gefrorene Meer des Nordens auf seiner Rückreise von Asien auf dem phantastischen, geflügelten Pferd "ippogrifo" zu meiden. Er solle lieber über Persien und Eritrea fliegen, anstatt über den nördlichen Ozean. Dieser sei immer von bösen und rauhen Winden erschüttert und in manchen Jahreszeiten so arm an Sonnenschein, daß einige Monate lang überhaupt keine Sonne scheine (XV, 12,5 - 8): che per que\ boreal pelago vada, che turban sempre iniqui venti e rei, e si, qualche stagion, pover di sole, che starne senza alcuni mesi suole.

Mit dem "ippogrifo" hat auch Ruggiero eine Rundreise gemacht: Er ist zuerst von Spanien nach Indien geflogen und kehrt dann durch Skythien und Sarmatien nach Europa zuriick. Er lernt Russen, Preußen und Pommern kennen, dann Polen, ten seiner Zeit im Orlando furioso erwähnt (XLVI, 17,2). Die lateinische Originalausgabe seines Traktates war im Jahr 1523 erschienen, um die Entscheidung des Grafen Gian Francesco Pico zu rechtfertigen, der nach den inquisitorischen Prozessen elf Menschen hatte verbrennen lassen, weil sie der Hexerei für schuldig befunden worden waren. Eine erste italienische Übersetzung des Dominikaners Leandro Alberti war schon in demselben Jahr erschienen. Über dreißig Jahre später entschied sich der Abt Turini, überzeugt von der Aktualität des Problems der Hexerei, das Werk noch einmal "in lingua toscana" zu übersetzen, und bat Pompeo della Barba ein Sonett zu schreiben, das dem Buch als Vorwort dienen sollte. 5 Ebd., S. 13: "Lugubri carte, a voi dogliose strida / Di miseria e d'orror non sia chi neghe, / Tristi lai, mesti accenti, atroci grida / Maggiori or piu I' antica eta non spieghe. /I AI piu barbaro Scita omai si pieghe / L'animo fero; a cui la mente infida / Die il freddo ciel, poi ch'el men reD ci affida / A cmde serpi, a velenose streghe. /I A che cercando gir verso Aquilone, / Di cmdo antropofago, 0 d'arimaspe, / 0 se piu feritade altrui s'ascrive? /I Se d'un mostro ciclope, oiestrigone / (ehe pasce il sangue uman) piu cmdel aspe / Nel nostro clima im mezzo Italia vive." 6 L. Ariosto, Der rasende Roland (Orlando furioso), in der Übertragung von J. D. Gries, München 1980, S. 122: "Ging westwärts unser Pfad längst jenen Fluren, / die oft des Nordwindes Ungestüm erfuhren".

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Ungarn und Germanen, das heißt alle Völker des schrecklichen, grausigen nördlichen Raums, dessen letztes Land ,,1' ultima Inghilterra" ist (X, 72): Ben che di Ruggier fosse ogni desire di ritomare a Bradamante presto; pur, gustato il piacer ch' avea di gire cercando il mondo, non resto per questo, ch'a1li Pollacchi, agli Ungari venire non volesse anco, alli Gerrnani, e al resto di quella boreale orrida terra: e venne al fin ne I'ultima Inghilterra. Im vagen ,rauhen Land des Nordens' trifft man in Ariosts Geographie die Polen, die Ungarn und die Deutschen samt anderer Völker, wenn man von Osten nach Westen fährt. Obwohl es Ruggieros innigstes Verlangen ist, schnell zu seiner Geliebten zurückzukehren, betrachtet er mit Vergnügen die Welt, auch die rauhen Länder und die äußersten nordischen Regionen. Die Bewunderung für die ,blonden, harten, ungebändigten und nie besiegten kalten Völker' im Norden, die Bernardo Tasso ein paar Jahrzehnte später in seinem Floridante zeigt,7 ist Ludovico Ariost fremd. Für ihn ist bis auf das weit entfernte England der ganze ,nördliche' Raum ,schrecklich'. Catull hatte unter anderem die Einwohner dieses Landes "ultimos Britannos" genannt (XI, 12), weil die Insel schon als nördliche Grenze der bekannten Welt in der Antike galt. Für Ariost hat sich im Prinzip nicht viel geändert. Die Lust und die Neugier, die Welt in ihrer Vielfältigkeit zu entdecken, bringt Ruggiero auch zu diesem letzten nördlichen Land, das wie der ganze Norden gleichwohl als schrecklich, grausig, "orrida" dargestellt wird: "ultima Inghilterra", wie ultima Thule. England ist das größte Land vor der mythischen Insel am Rand der nördlichen Welt. Der Dichter kann eine Beschreibung von den aus diesem Land kommenden Rittern anbieten. Sie stammen aus verschiedenen Orten und Regionen Englands, und die lange Auflistung nimmt zwölf ottave in Anspruch. Diese Ritter werden Karl dem Großen Hilfe bringen, da sie der christlichen Religion angehören. Sie werden noch von anderen nördlichen Völkern begleitet, die auch in dieser "boreale orrida terra" wohnen. 8 Diese Scharen werden folgendermaßen beschrieben (X, 88, 3 - 8): 7 Floridante auf dem "ippogrifo" läßt dieselben Länder und Völker hinter sich, aber ihre Beschreibung ist wesentlich positiver (Il Floridante, VIII, 43 -44: "Vola il caval securo, ove d'umana , Pianta vestigio non appare; , E dai monti Rifei mira la Tana, , Torcendo il suo camin, volgersi al mare,' E la 've (se non ela fama vana) , Alzo il magno Alessandro il sacro altare: 'Nasconder I'acque sue rimira il Reno,' E di popoli invitti e d'onde pieno. 11 Scorge i biondi Sicambri, i Cimbri, e i duri , Abitator d'Ercinia e la vicina , Gente, e que' tanto indomiti e securi, , un tempo a preda usati ed a rapina, , Vandali eGoti, e i non di fama oscuri , Che beon I'Istro e chi con lor confina, , Dachi, Boemi ed Ungari e Poloni, , E tutte quelle fredde nazloni"). Die Zitate folgen der Ausgabe: B. Tasso, 11 Floridante, hrsg. von M. Catalano, Torino 1931. 8 Das Schreckliche hat einen wichtigen Platz in der Kunst Ariosts. "Orrido" ist ein bedeutendes Adjektiv im Furioso. So ist der wahnsinnig gewordene Orlando schrecklich: "la chioma rabbuffata, orrida e mesta 'la barba folta, spaventosa e brutta" (XXIX, 60, 3 -4).

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111. Der Norden im Werk Ariosts Non da soccorso a Carlo solamente la terra inglese e la Scozia e l'Irianda; ma vien di Svezia e di Norvegia gente, da Tile, e fin da la remota Islanda: da ogni terra, insomma, ehe la giace, nirnica natura1mente di pace. 9

Nun gilt nicht mehr England, in dem es so viele Ritter mit bunten Emblemen gibt, als das letzte Land ("ultima"), sondern es wird Thule ("Tile") - zusammen mit dem am weitesten entfernten Island ("remota Islanda") - herangezogen. Ob Tile nun mit einer der Inseln Shetlands oder mit der Küste Norwegens zu identifizieren ist, ist nicht von Bedeutung. Diese mythische Insel darf natürlich nicht mehr mit Island gleichgesetzt werden: Sie ist als rein sprichwörtlicher Name für den äußersten nördlichen Teil der bewohnten Erde zu deuten. Auf jeden Fall ist jedes Land, das sich dort im Norden befindet, von Natur aus gegen den Frieden: "nimica naturalmente di pace". Petrarca gilt als absolutes sprachliches Vorbild, wenn die kriegerische Haltung der nordischen Völker zum Ausdruck gebracht werden muß. Der Vers aus der Kanzone ,,0 aspectata in ciel beata e bella" ist ohne jegliche Veränderung übernommen worden, von dem Vokalaustausch einmal abgesehen (R. v.j., XXVIII, 50: "Nemica naturalmente di pace,,).IO Die Völker des Nordens seien von Natur aus gegen den Frieden und für den Krieg; es handele sich um eine angeborene Eigenschaft, die mit dem nördlichen Klima verbunden sei. Petrarca hatte diese kriegerische und grausame Haltung gleich mit einer extremen Tapferkeit in Zusammenhang gebracht: Solche Leute hätten überhaupt keine Angst vor dem Tod, oder anders gesagt, ihnen mache es nichts aus zu sterben. Der Kontext der Kanzone hat auch eine gewisse Gemeinsamkeit mit dieser Stelle des Furioso, da es sich auch dort um eine Art Auflistung der Kräfte der Christen im Kampf gegen den Islam handelt. Ariost setzt aber die Beschreibung dieser für den Glauben kämpfenden nördlichen Menschen fort (X, 89): Sedici rnila sono, 0 poco manco, de le spelonche usciti e de le selve; hanno piloso il vi so, il petto, il fianco, e dossi e braccia e gambe, come belve. Intorno allo stendardo tutto bianco par ehe quel pian di lor lance s'inselve: COSt Moratto il porta, il capo loro, per dipingerlo poi di sangue Moro. 9 Sehr gelungen ist die Übersetzung der letzten Verse durch Gries, der auch den Ton der ottava wiedergegeben hat: ..Kurz, alle Völker aus dem rauhen Norden / An sich dem Frieden abgeneigte Horden". Siehe L. Ariosto, Der rasende Roland (Orlando furioso), in der Übertragung von J. D. Gries, a. a. 0., S. 227. IO Der Vers kommt auch im Epos Gyrone il cortese von Luigi Alamanni vor, aber er dient nun dem Lob mutiger Ritter und hat keine negative Bedeutung mehr (Gyrone, 111,21,2-4: ..11 Re Meliadusso, e '\ Greco audace / Vengon, ehe ciaschedun risembra un Marte / Nirnico natura1mente di pace"). Siehe L. Alamanni, Gyrone il cortese, Parigi 1548.

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Diese Leute kommen aus Höhlen und Wäldern. Nicht nur ihre Gesichter, sondern ihr ganzer Körper ist behaart, so daß sie wie Tiere aussehen. Der Dichter überzeichnet ironisch das Bild dieser Menschen, indem er alle behaarten Körperteile einzeln auflistet (Brust, Hüften, Schultern, Arme, Beine). Sie tragen eine weiße Flagge, die leer, ohne Bilder, Farben oder Embleme ist, weil diese V61ker noch keine ruhmreichen Taten hervorgebracht haben. Sie haben keine Geschichte, sie gehören noch ganz und gar zur wilden Natur. Diese Art und Weise, die nördlichen V61ker als unzivilisiert zu bezeichnen, war damals durchaus nicht unüblich, denn sie entsprach der Vorstellung der selbstbewußten italienischen Humanisten, die ihr Land als Heimat der humanitas sahen. 11 Ariost spielt mit dem Klischee, um den Leser zum Lachen zu bringen. Diese als ziemlich animalisch dargestellten V61ker sind schon zweifellos Teil des Christentums und befinden sich im Aufbruch, weil sie in den Krieg gegen die Sarazenen ziehen, mit deren Blut sie ihre Flagge färben wollen. Ariost meint, daß sie auf diese Art und Weise anfangen, Teil der zivilisierten Welt und der Geschichte zu werden. Der Dichter ignoriert das kulturelle Erbe der V61ker des Nordens. Auch Irland, "Ibernia fabulosa" (X, 92, 1) hat keine richtige Geschichte, ist aber zumindest wegen vieler Legenden bekannt. Immerhin verweist der Dichter auf die Grube des Hl. Patrick. Die sehr weit entfernten Länder des Nordens jedoch, "Svezia", "Norvegia", "Tile" und "Islanda", die überhaupt keine Kultur vorzuweisen hätten, werden alle zusammen in einen Topf geworfen. Sie gelten als besonders grausam oder gar von tierischer Natur. Obwohl sie sich bereit erklärt haben, an der Seite Karls des Großen gegen die Mohammedaner zu kämpfen, sind sie noch kein Bestandteil der Ritterwelt. Wenn vom christlichen Europa als Ganzes die Rede ist, werden sie nicht erwähnt. Zusammen mit den Vasallen des Kaisers kämpfen die Deutschen, die Bretonen, die Welschen und die Engländer ("l'ultima Inghilterra" als ,letztes Land' im Norden ist schon von anderen, weiter im Norden gelegenen Ländern, ersetzt worden). Es ist aber keine Rede von jenen Menschen, die in ihrer Nördlichkeit noch nicht der Zivilisation, sondern bloß der Natur angehören (XXVII, 29,5-7): ... i capitan carleschi stringon con Alamanni e con Britoni quei di Francia, d'Italia e d'Inghilterra

Es beginnen fürchterliche Kämpfe zwischen den Christen und den Muslimen aus dem Süden (XLI, 91, 6). Den christlichen Soldaten der Randländer im äußersten Norden wird eine Haltung zugeschrieben, die sie für den Krieg besonders geeignet macht. Ihre Kampfbereitschaft ist ihre ausgeprägte Eigenschaft, aber sie 11 Olaus Magnus wird sich verpflichtet fühlen, ein solches Bild der Menschen des Nordens zu bekämpfen. Er wird von den ,edlen wilden' Lappen sprechen, die unterhalb des Polarkreises leben und Pelze tragen. Von ihnen werde oft angenommen, sie seien überall behaart und tierischer Natur: Eine solche Meinung sei entweder Folge von Ignoranz oder eine Lüge von Völkern, die daran Gefallen finden, falsche Geschichten über extrem weit entfernt wohnende Menschen zu verbreiten (Hist., IV, 12).

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haben noch keine großen Taten vorzuweisen, da sie bis dahin in der Geschichte keine Rolle gespielt haben. Ihre Grausamkeit und Wildheit ist sprichwörtlich und mit der nördlichen Dunkelheit und dem rauhen Klima eng verbunden. Es sei darüber hinaus darauf hingewiesen, daß Ariost die Grausamkeit der Christen im allgemeinen nicht verschweigt: Nach dem Sieg in Biserta, der Stadt, die als Königin Afrikas gepriesen wurde, werden alle Christen als gierig, gewalttätig und ungerecht geschildert, die keinen Respekt vor Frauen und Kindern haben und von ihren Führern nicht davon abgehalten werden können, sich bei der Plünderung der Stadt brutal und bestialisch zu benehmen (XL, 34). Für humanitas gibt es wohl keinen Platz im Krieg, meint Ariost. b) Nördliche Tugenden: männliche Tapferkeit und weibliche Keuschheit

Die Härte der nördlichen Völker hatte in der Tradition vor Ariost (beispielhaft ist Petrarca) auch eine relativ positive Seite gehabt: Ihre Grausamkeit wurde sowohl als großer Mut als auch als kriegerische Tapferkeit interpretiert. So ließ sich die Härte der ,barbarischen' Frauen als lobenswerter Wunsch, ihre Keuschheit zu verteidigen, auslegen. Es ist interessant, wie Ariost mit diesem Motiv der typisch nordischen Tugenden umgeht. Die "remota Islanda" gilt als das äußerste Land im Norden und wird als ,verlorene Insel', "Isola Perduta", noch einmal erwähnt (XXXII, 51, 8). Nach den Worten ihrer Gesandten Ullania ist die Königin dieser Insel, die sich jenseits des Ozeans am Nordpol befindet (XXXII, 51, 8: "fin di la dal polo artico"), die schönste Frau der Welt. Aus diesem Grunde will sie den stärksten Ritter der Welt heiraten. Schon die Tatsache, daß eine ledige Frau Königin eines Reiches ist, dürfte als eine Anomalie erscheinen, die dem Gesetz der vertrauten ritterlichen Welt widerspricht, die aber innerhalb der nördlichen Welt ihren Sinn und ihre Tradition hat. Eine solche nordische und jungfräuliche Königin sendet keinen Botschafter nach Paris, sondern eine Botschafterin. Das Thema der Selbständigkeit und der wichtigen Rolle der Frauen im Norden wird auf diese Art und Weise behandelt. Zusammen mit der Botschafterin der isländischen Königin sind drei nördliche Könige unterwegs (XXXII, 54, 6 - 8: "re sono tutti ... / uno in Svezia, uno in Gotia, in Norvegia uno, / che pochi pari in armi hanno 0 nessuno,,).12 Auch in Boiardos Orlando innamorato waren sie zusammen, aber dort war der Norden als solcher 12 Die drei Reiche "Svezia", "Gotia" und "Norvegia" werden auch im Werk Tassos in einem völlig anderen Kontext auftauchen [vgl. Kap. VI.4.a) und VI.4.b)]. "Gotia" ist das Land der Götar. Pio Rajna verwechselte "Gotia" mit Schottland, da er nur Norwegen und Schweden als skandinavische Reiche kannte. Vgl. P. Rajna, Le fonti dell'Orlando furioso, Firenze 1975 (1 Aufl. 1876), S. 485.

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nicht thematisiert. Selbst die Könige von Irland, England ("Anglitera", "Ingletera"), Schottland ("Scocia") und Friesland ("Frixia") wurden nur kurz erwähnt, ohne diese Länder als nördlich zu bezeichnen oder auf konventionelle Bilder des Nordens zu verweisen. Im lnnamorato hatten deswegen die Könige der drei skandinavischen Reiche ("Gotia", "Norvega", "Sueza"), die zusammen mit dem Kaiser Rußlands auftraten und über deren Ursprung aus dem femen Norden nichts gesagt wurde, keine gesonderte Stellung und keine außerordentliche Bedeutung (OrZ. inn., I, X, 12, 2 - 3 und 5 - 7: "Vede la il forte Re de la Gotia / ehe Pandragon per norne era chiamato", "Vedi Lurcone, et il fier Santaria: / Il primo e di Norvega incoronato / Il secondo de Sueza,,).13 Im zweiten Buch des Orlando innamorato behauptete Boiardo, daß die Familie Aragons von den Goten abstamme und es nicht nötig sei, von den Goten zu erzählen, da sie auf der ganzen Welt berühmt seien und sogar die Erde und das Meer wüßten, wer sie seien. Von ihrem nördlichen Ursprung aber war keine Rede. Sie wurden auch nicht mit dem Reich "Gotia" in Zusammenhang gebracht (OrZ. inn., 11, XXIII, 75, 5 - 8):

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Et veraee quela opinione Che fo da' Gothi sua geneologia; Chi fosser quisti, gia non vi rispondo: La tera il sepe e ' I mar ehe gira in tondo.

Man würde vergeblich im Orlando innamorato weitersuchen. Im Furioso dagegen hat die Dimension der ,Nördlichkeit' ein anderes Gewicht. Die drei Könige der skandinavischen Länder "Svezia", "Gotia", "Norvegia" (XXXII, 54) sind hier als Verehrer der Königin der nördlichsten Insel Europas präsentiert. Wenn das ,verlorene' Island sich am Nordpol befindet (diese Insel stellt ja die äußerste Grenze der Welt im Norden dar), liegen die drei anderen Reiche zwar nicht sehr nahe an Island, doch auch nicht so weit entfernt. Dies bedeutet, daß sie nahe der nördlichen Grenze der Welt liegen und vom Rest der Welt getrennt sind. Der Leser wird nie die Namen der drei Könige erfahren. Sie bleiben anonym wie die Königin Islands selbst. Dies ist kein Zufall. Boiardo hatte sich wenigstens drei Namen ausgedacht. Der Grund für die Anonymität der nordischen Könige bei Ariost wird in den Erklärungen der isländischen Botschafterin deutlich, die daran erinnert, daß die Königin Heldentaten nicht hochschätzt, die in ihren nördlichen Ländern vollbracht wurden. Dieser Raum liegt außerhalb des Diskurses und außerhalb des Ruhms, den die Dichtung verleiht (XXXII, 55 und XXXII, 56, 3 -4): Questi tre, la eui terra non vieina, ma men lontana e all'Isola Perduta (detta eosf perehe quella marina da poehi naviganti eonosciuta), erano amanti, e son, de la regina, e a gara per moglier l'hanno voluta;

e

13 M. M. Boiardo, L'innamoramento di Orlando, in: Ders., Opere, tomo I, hrsg. von A. Tissoni Benvenuti und C. Montagnani, Milano / N apoli 1999. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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III. Der Norden im Werk Ariosts e per aggradir lei, eose fatt'hanno, ehe, fin ehe giri il ciel, dette saranno. [ ... ] "Ch'abbiate fatto prove (lor dir suole) in questi luoghi appresso, poeo istimo".

Die kriegerischen Tugenden haben keinen Sinn in einem Raum, der außerhalb des poetischen Diskurses liegt. Heldentaten, die bis zum Weitende erschallen, sind nicht in der Nähe der verlorenen Insel im Norden zu vollziehen: Selbst ihre Königin hält sie nicht für achtenswert. Schon im vierten canto wird etwas Ähnliches behauptet. Ein furchtbarer Seesturm hatte Rinaldo in Richtung Westen und dann in Richtung Norden ("contra I'Orse") bis nach Nordschottland, in den Wald Kaledoniens ("selva Calidonia"), gejagt. Dort sei besondere Tapferkeit vonnöten, um dem Tod zu entrinnen, da es, wie es sich gehört, eine besonders kriegerische Region sei, die gerade aus diesem Grund die stärksten Ritter aus Frankreich, Norwegen und Deutschland anziehe (IV, 51 und IV, 52, 1-6): Rinaldo I' altro e I' altro giomo se6rse, spinto dal vento, un gran spazio di mare, quando a ponente e quando contra I'Orse, ehe notte e df non eessa mai soffiare. Sopra la Seozia ultimamente sorse, dove la selva Calidonia appare, ehe spesso fra gli antiqui ombrosi eerri s' ode sonar di bellieosi ferri. Vanno per quella i eavalieri erranti, inc\iti in arme, di tutta Bretagna, e de' prossirni luoghi e de' distanti di Franeia, di Norvegia e de Lamagna. Chi non ha gran valor, non vada inanti; ehe dove eerea onor, morte guadagna.

Der Gefährlichkeit der Region stehe aber keine passende Belohnung gegenüber. In den schottischen Wäldern könne man zwar viele Abenteuer erleben, aber so wie diese Wälder düster und dunkel seien, blieben die in solchen Orten vollbrachten Taten ebenfalls im Dunkeln. Nur im Schatten alter Eichen halle das Echo von ritterlichen Duellen und Waffenspielen wider. Die Heldentaten, die nicht weitererzählt werden, bereiten keinen Ruhm und keine Ehre. Das Land wird als dunkler Gegenpart zu einer Welt präsentiert, in der es sich für Rinaldo und alle Helden des Furioso lohnt, mutige Taten zu vollbringen (IV, 56, 1-4): ... errando in quelli bosehi trovar potria strane aventure e molte: ma eome i luoghi, i fatti aneor son fosehi; ehe non se n'ha notizia le piu volte.

Derjenige, der Ehre sucht, findet in den Wäldern des trüben Schottland viele und außergewöhnliche Abenteuer und oft auch den Tod, aber nur selten verbreitet sich

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davon die Kunde. Ariost geht jedoch mit seiner beißenden Ironie weiter, indem er den aus der Dunkelheit kommenden Helden des Nordens in seiner Dichtung Platz verschafft, um ihre angeblich verkannten und vernachlässigten Tugenden zu bestreiten und schließlich ins Lächerliche zu ziehen. Diese Ritter, die im Einklang mit den traditionellen kriegerischen, männlichen Tugenden der nördlichen Völker so tapfer sein sollen, geben gegen Bradamante in der Episode der "Rocca di Tristano" eine klägliche Figur ab. Ariost fügte diese witzige Erzählung erst in der letzten Version des Furioso hinzu. Die HeIdin Bradamante ist mit der verzauberten Lanze ihres Vetters Astolfo bewaffnet, und jeder Ritter muß zwangsläufig fallen, wenn er von dieser Lanze berührt wird, selbst wenn er der Kriegsgott Mars wäre. Der Dichter macht sich mittels einer sehr niedrigen Sprachebene über die drei Könige lustig, die auf den Rücken fallen und in Wasser und Schlamm versinken (XXXII, 76,1-2 und 4-8): 11 re di Svezia, ehe primier si mosse, fu primier aneo a riverseiarsi al piano [ .. .]

Poi eorse il re di Gotia, e ritrovosse eoi piedi in aria al suo destrier lontano. Rimase il terzo sottosopra volto, ne I' aequa e nel pantan mezzo sepolto.

Ariost ist niemals so spöttisch gewesen, weder bei den anderen christlichen Rittern noch bei ihren islamischen Gegnern. Nur die drei Könige des Nordens verdienen diese ,bevorzugte Behandlung' seitens des Dichters. Sie sind auch die einzigen im ganzen Ritterroman, die einen königlichen Titel tragen und trotzdem nicht beim Namen genannt werden. Diese Stelle der Fallenden verstößt gegen die Konventionen des Epos, gerade weil es sich nicht um Pöbel, sondern um Könige handelt. Der erste, der sich bewegt, ist der erste, der zu Boden geworfen wird. Der König der Goten endet mit den Beinen in der Luft, weit entfernt von seinem Roß, während der Norweger mit dem Kopf nach unten im Sumpf versinkt. Alle drei erweisen sich als der Kälte nicht gewachsen und bleiben die ganze Nacht zähneklappernd halb im Schlamm begraben (XXXIII, 67, 3: "battendo i denti e calpestando il loto"). Wenn sie sich am Tag danach rächen wollen und bereit sind, gemäß dem Ehrenkodex ihrer Vorfahren entweder zu sterben oder zu siegen (XXXIII, 68, 1 - 2: "presti 0 di morire, 0 di vendetta / subito far deI ricevuto oltraggio"), wie es sich für nördliche Helden gehört, werden sie nach wiederholter Aufforderung zum Kampf erneut innerhalb einer Sekunde von Bradamante zu Boden geworfen und erniedrigt: (XXXIII, 69, 7 - 8: "abbasso l' asta, et a tre colpi in terra / li mando tutti; e qui fini la guerra"). Sie bleiben am Leben, da die Frau etwas Dringenderes zu tun hat, als mit ihnen zu kämpfen. Darüber hinaus müssen sie zu ihrem Entsetzen erfahren, daß sie von einer Frau besiegt wurden. Um sich selbst zu bestrafen, werden die drei Könige des Nordens zu Fuß gehen und ein ganzes Jahr lang keine Waffen tragen. Die vom beginnenden ,Gotizismus' hochgehaltene kriegerische Tradition der Goten wird vom Dichter verspottet.

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III. Der Norden im Werk Ariosts

Der Spott trifft aber auch Ullania, die Botschafterin der nördlichsten Königin Europas. Sie ist keineswegs eine kämpfende Walküre, die mit männlichem Mut kämpfen kann, im Gegenteil: Sie und ihre Begleiterinnen werden vom frauenfeindlichen Marganorre geschlagen. Anschließend werden ihre Kleider so verkürzt, daß sie vom Bauchnabel abwärts nackt sind und auf dem Boden sitzen müssen, um sich zu verstecken (XXXVII, 26, 5-8: "fin all'ombilico ha lor le gonne/scorciate non so chi poco cortese: / e per non saper meglio elle celarsi, / sedeano in terra, e non ardian levarsi"). Das Abschneiden der Kleider war aber im Mittelalter und auch zur Zeit Ariosts in der Regel nicht nur eine Art Beleidigung und Spott,14 sondern vor allem auch eine Strafe für unkeusche Frauen. Ullania und die anderen Isländerinnen bekommen später jede einen Waffenrock, um ihre "parti meno oneste" (XXXVII, 33, 3) zu bedecken. Der Topos der Keuschheit der nordischen Frauen (wie jeder andere Nord-Diskurs auch) wird von Ariost eben als literarisches Konstrukt entlarvt. Es ist wohl besser, die ,unanständigen' Körperteile ("parti meno oneste") zeigen zu müssen, als das Leben zu verlieren, wie er ohne Zögern am Ende der Episode behaupten wird (XXXVII, 113 - 114). Damit antwortet Ariost Petrarca und den von ihm gelobten germanischen Frauen, die für den Anstand ("onestate") ihr Leben opferten (Tr. Pud., 140-141: "poi le tedesche che con aspra morte / servaron lor barbarica onestate"). c) Ungeheuer, Monstren, Piraten

Ariost, der seinen humour in den selbstreferentiellen Mechanismen der hohen Literatur zum Ausdruck bringt, findet in der antiken und mittelalterlichen Vorstellung eines von Monstren und Ungeheuern bevölkerten Nordens eine weitere Möglichkeit, mit traditionellen Topoi zu spielen. Ganz selbstverständlich gilt der Norden auch im Orlando furioso als Ort der mirabilia und der Ungeheuer, aber die Fiktion des literarischen Diskurses wird erbarmungslos entlarvt, so daß der Dichter nichts von der Wirklichkeit als mimesis wiedergeben will, sondern sich nur mit der vorausgegangenen literarischen Tradition in Beziehung setzt. Das schon erwähnte Sonett, das der Arzt und Gelehrte Pompeo Della Barba für die Ausgabe des Werks des Grafen Gian Francesco Pico della Mirandola in der italienischen Übersetzung schrieb, enthält eine kurze Liste der klassischen Monstren, die noch Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Norden ("Aquilone") in Zusammenhang gebracht werden. 15 Im Sonett wird durch eine Steigerung die Vgl. P. Rajna, Lefonti dell'Orlando furioso, a. a. 0., S. 483 f. Siehe G. F. Pieo della Mirandola, La strega ovvero degli inganni de' demoni . .. , a. a. 0., S. 13: "AI piu barbaro Seita omai si pieghe / L'animo fero; a eui la mente infida / Die il freddo eiel, poi eh'el men reD ci affida / A erude serpi, a velenose streghe. /I A ehe eereando gir verso Aquilone, / Di erudo antropofago, 0 d'arimaspe, / 0 se piu feritade altrui s'aserive? /I Se d'un mostro eicIope, oiestrigone / (ehe pasee il sangue uman) piu erude! aspe / Nel nostro cIima im mezzo Italia vive." Der Skythe gilt manchmal aueh im Orlando furioso wie 14

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Empörung darüber ausgedrückt, daß im angenehmen Klima Italiens ("nel nostro clima") Wesen leben, die grausamer als alle Monstren des Nordens sind: Hexen. Durch eine rhetorische Frage, die das Pathos steigert, wird auf die grausamen mythischen Völker des Nordens, auf Anthropophagen und Arimaspen, und auf nicht erwähnte, womöglich noch grausamere Wesen des Nordens hingewiesen. Der Schrecken in jenen fernen Regionen sei zu erwarten, weil die Monstren, die dort leben, schon seit jeher bekannt sind und mit der Kälte des dortigen Himmels in logischer Verbindung stehen. Rauh und hart ("crudo") ist das Klima, extrem hart und rauh ist entsprechend der Geist der dort lebenden Menschen ("crudi" und "feri"). Aber das Schreckliche und Unerwartete kommt am Ende des Sonetts zum Ausdruck, mit der paradoxen Entdeckung, daß eine noch grausamere Schlange, nämlich die Hexerei, mitten in Italien lebt. Der Norden als Grenzwelt und unbekannter Raum ermöglicht Ariost, neue mirabilia aufzuzählen. Ihnen gegenüber stehen die traditionellen mirabilia im äußersten Süden. Dort sperrt Astolfo die Winde ein und führt die Nubier (XXXVIII, 39, 4: "gente si remota"), die Untertanen des Kaisers von Äthiopien, der die mythische Quelle des Nils besitzt, in den Kampf. Es gibt aber Unterschiede zwischen den Naturwundern in den südlichsten und den nördlichsten Randregionen der Welt. Im Süden findet man das irdische Paradies und auch die wertvollsten Waren, wie Parfüme und Edelsteine (XXXIII, 105, 7 - 8: "vengon 1e co se in somrna da quel canto, / che nei paesi nostri vaglion tanto"). Die im Süden lebenden Monstren gehören zur klassischen Mythologie, wie zum Beispiel die Harpyien. Ariost hingegen läßt seiner eigenen Vorstellungskraft freien Lauf in der Beschreibung der Wunderwesen im Norden. Er begnügt sich nicht mit den gryphes hyperborei der Tradition, sondern erfindet den wunderbaren "ippogrifo", indem er den mythischen Greif mit einer Stute kreuzen läßt. Dieses neue Flügelpferd kommt von jenseits der Riphäischen Berge und der gefrorenen Meere (IV, 18): Non efinto il des tri er, ma naturale, ch'una giumenta genero d'un grifo: simile al padre avea la piuma e I'ale, li piedi antenori, il capo e il grifo; in tutte I' altre membra parea quale era la madre, e chiamasi ippogrifo; che nei monti Rifei vengon, ma rari, molto di la dagli agghiacciati mari.

Durch die Anhäufung von scheinbar realistischen Details und die anscheinende Gewissenhaftigkeit schafft es der Dichter, einen humorvollen, paradoxen effet du im Sonett von Pompeo Della Barba, ganz nach klassischem Muster, als der nördlichste Mensch überhaupt. Die vier Grenzen der Welt sind in den Worten Marfisas, die aus dem im östlichen Teil der Erde gelegenen "estrema terra" kommt, "dal mar Indo alla Tirinzia foce, / dal bianco Scita all'Etiope adusto" (XXXVIII, 12, 3 - 4). Indien ist die östliche Grenze, die Säulen des Herkules stehen für die westliche Grenze der bewohnten Erde, der weiße Skythe lebt in der nördlichsten Region, der von der Sonne verbrannte Äthiopier in der südlichsten.

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reel zu erzeugen. 16 Er betont mit Nachdruck die Wirklichkeit eines Wesens, das sofort als reine Geburt der Phantasie des Dichters zu erkennen ist. Der "ippogrifo" wird lange beschrieben; seine Seltenheit, sein Ursprung aus den Reichen des Eismeeres und seine Gewohnheiten werden erläutert. Die Riphäischen Berge, die in der Antike als nördliche Grenze der bekannten Welt in Skythien situiert wurden, sind für Ariost gerade als äußerste nördliche Grenze mit dem Nordpol und dem Eismeer gleichzusetzen: Sie sind keine geographische Größen, sondern lediglich poetische Konstrukte, um mit vergnügtem Blick vermeintliche Naturwunder aufzuzählen. Der Dichter betont mehrmals, daß das Wundertier "ippogrifo" nicht die Schöpfung eines Magiers ist und nicht dazu bestimmt ist, mit der Auflösung des Zaubers wieder zu verschwinden, sondern eine seltene Naturerscheinung aus einer unbekannten Welt darstellt (IV, 19,7-8: "Non finzlon d'incanto, come il resto, / ma vero e natural si vedea questo"). Ariost kann sich erlauben, eine Fiktion seiner Phantasie als Naturschöpfung auszugeben, gerade indem er dieses imaginäre Geschöpf aus dem unerforschten und unbekannten Norden kommen läßt.

Der äußerste Norden ist oft wie ein leeres Blatt, das dem Dichter sehr viel Freiheit bietet und seiner Vorstellungskraft unendliche Wege eröffnet, nicht nur im Fall "ippogrifo". Wenn zum Beispiel Astolfo erzählt, wie er von der Zauberin Alcina verführt wurde, erwähnt er - mit der wohlgefälligen Zufriedenheit des Dichters selbst, der Bewunderung und Vergnügen bei seinem Publikum weckt - unsystematisch die Tiere und Untiere, die im nördlichen Ozean wohnen. Delphine schwimmen neben einem großen Thunfisch mit offenem Maul, Seekälber und Robben wachen zusammen mit Pottwalen auf. Leckere Fische wie Meerbrassen, Lachse, Barben und Karauschen sind neben den Wesen aus den mittelalterlichen Bestiarien (wie die schrecklichen Kraken und die Nachfolger des biblischen Leviathan aus den Abgründen) erwähnt. Unter den Bewohnern der tiefen Gewässer des Nordozeans werden vor allem Walfische als besonders monströse Ungeheuer hervorgehoben (VI, 36): Veloci vi correvano i delfini, vi venia a bocca aperta il grosso tonno; i capidogli coi vecchi marini vengon turbati dalloro pigro sonno; muli, salpe, salmoni e coracini nuotano a schiere in piu fretta che ponno; pistrici, fisiteri, orche e balene escon dei mar con monstruose schiene.

Die Erzählung von der Täuschung, nach welcher der Walfisch, der sich nicht bewegt, wie eine Insel aussieht, aber sich dann als lebendiges Wesen, besser noch als monstrum erweist, durch das die unzüchtige Fee Alcina den Ritter entführt, ist ein sehr bekanntes Motiv. Es kam schon in Boiardos Orlando innamorato vor (Ort. inn., 11, XIII, 58, 7 - 8: "E veramente a' riguardanti pare / un'isoletta posta a mezo 16

Vgl. S. Zatti, Il Furioso fra epos e rOTlUlnzo, Lucca 1990, S. 189.

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il mare"). Durch seine Größe und die Qualität seiner Haut täuscht das teuflische Tier zahlreiche Seeleute. Es versteckt sich in den Abgründen im Norden und taucht als Insel in einem von kleinen Inseln erfüllten Ozean hin und wieder auf, um die Menschen in den Tod zu führen. Diese Geschichte hat eine sehr alte Tradition und ist in allen wichtigen mittelalterlichen enzyklopädischen Werken wie dem Physiologus und dem Speculum naturae, als auch in der Reisebeschreibung des Hl. Brendan zu finden. Die "balena", von der Astolfo erzählt, ist der größte Walfisch, der je gesichtet wurde: Schon die Schultern, die aus den salzigen Wellen ragen, sind elf Schritte und höher. Alle erliegen demselben Irrtum, da keine Regung am Wal zu sehen ist. Sie glauben, es befände sich eine Insel vor ihnen, so weit entfernt ist ein Ende des Ungeheuers vom anderen. Dies ist ein klassisches Beispiel für einen erfolgreichen Topos über den Norden, den Olaus Magnus (Hist., XXII, 25-26) bestätigen und verbreiten wird (VI, 37): Veggiamo una balena, la maggiore ehe mai per tutto il mar veduta fosse: undeei passi e phi dimostra fuore de I' onde salse le spallaeeie grosse. Casehiamo tutti insieme in uno errore, pereh'era ferma e ehe mai non si seosse: eh' ella sia un' isoletta ci eredemo, eosf distante ha l' un da l' altro estremo.

Der Walfisch spielt eine noch größere Rolle in den Cinque canti, als sich in seinem Inneren Ruggiero und Astolfo treffen, nachdem sie auf Befehl der Fee Alcina verschluckt worden waren. Er wird mehrmals als schreckliches monstrum bezeichnet (Cinque canti, IV, 14, 1: "gran mostro"; IV, 15,4: "pesce orrendo"; IV, 39, 4: "mostro marin"; IV, 41, 7: "orribil pesce"). Das Innere des Untiers ist wie eine riesige dunkle Höhle, wie ein Grab oder gar wie die Hölle. Im Bauch des Walfisches erzählt Astolfo Geschichten, für die es im Orlando furioso keinen Platz gibt, die aber in der Finsternis des Körpers des nordischen Ungeheuers die ideale Bühne finden. Astolfo erzählt von seinem Versuch, Cinzia, die Frau eines Vasallen seines Vaters, zu rauben, und wie der Krieg der Dänen und der Friesen gegen die Engländer ausbrach. Frauenraub und blutige Kriege auf dem Wasser scheinen, wie der Wal selbst, typisch nordisch zu sein. Um zum Hauptwerk zurückzukommen, muss man darauf hinweisen, daß nicht nur der Walfisch ("balena"), sondern auch das andere verwandte nördliche Ungeheuer, der Schwertwal oder Orcawal, Protagonist einer Geschichte des Furioso ist. Pio Rajna hatte in seiner monumentalen Abhandlung diese Verwandtschaft der zwei im nördlichen Ozean lebenden Untiere übersehen. Bezüglich die "orca" der Insel Ebuda hatte er auf Boiardos "orco" verwiesen (ort. inn., III, 3, 27).17 Ariost hatte aber wahrscheinlich eine andere Vorstellung von diesem Untier, von dem er wußte, daß es im nordischen Ozean lebt genau wie die "balena", die seltsamen 17 Vgl. P. Rajna, Lefonti dell'Orlandojurioso, a. a. 0., S. 198.

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Seehunde und die übrigen großen Fische oder Ungeheuer, die er erwähnt. Daß Ariost solche Tiere nie gesehen hat und nicht genau wußte, wie sie in Wirklichkeit aussehen, ist klar. Er hatte sich jedoch ein eigenes Bild von ihnen gemacht 18 und brachte sie in Verbindung mit der ,Wut des Nordens', nicht mit dem schwer zu beschreibenden "orco" von Boiardo. Schauplatz der Grausamkeiten der "brutta orca" ist bei Ariost eine Insel, die sich im ,Meer des Nordens', westlich von Irland befindet (VIII, 51, 3-8): Nel mar di tramontana inver I'occaso, oltre I'Irlanda una isola si corca, Ebuda nominata; ove e rimaso il popul raro, poi che la brutta orca e l' altro marin gregge la distrusse, ch'in sua vendetta Proteo vi condusse.

Im Nordmeer liegt diese Insel - noch jenseits von Irland - in Richtung des Sonnenuntergangs. Der Dichter erklärt, daß wenig Volk dort übriggeblieben ist, seitdem Proteus den häßlichen Schwertwal und das andere ,Meervieh' auf die Insel hetzte, um sich zu rächen. Als Ruggiero am Ende des X. canto Angelica vor dem Orcawal rettet, erinnert das an die Erzählung Ovids (Met., IV, 663-764), in der Perseus Andromeda vor dem Meeresungeheuer rettet. Der Held ist besorgt, weil er glaubt, daß die große von dem Ungeheuer verursachte Welle seine kleinen Flügel an den Füßen naß machen könnte, und er dann nicht mehr fliegen könnte (Met., IV, 730). Ariost aber entwickelt dieses Motiv unter komischen Gesichtspunkten: Ruggiero sitzt auf dem "ippogrifo", dem nordischen Flügelpferd, und das Untier ist der Orcawal. Der Leser kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken, da die Beschreibung extrem hyperbolisch ist. Die Aufmerksamkeit ist nicht mehr auf den Kampf des Helden gegen das Ungeheuer gerichtet, sondern auf die literarische Konstruktion der ganzen Episode (X, 106): Si forte e1la nel mar batte la coda, che fa vicino al cielI' acqua inalzare; tal che non sa se l' ale in aria snoda, o pur se ' I suo destrier nuota nel mare. Gli espesso che disia trovarsi a proda; terne si l' ale inaffi all' ippogrifo, che se 10 sprazzo in tal modo ha a durare, che brami invano avere 0 zucca 0 schifo.

Ariost geht es darum, durch seine Ironie das literarische Spiel zu entlarven, die alten Klischees als solche darzustellen und zu entkräften. Die stilisierten Bilder des Nordens werden aufgegriffen und durch Übertreibung ins Lächerliche gewendet. Jedes Urteil über den Norden wird damit gleichzeitig relativiert. 18 Ariost beschreibt die "orca" folgendermaßen: "Altro non so che s'assimigli a questa, / ch'una gran massa che s'aggiri e torca; / ne forma ha d'animal, se non la testa, / c'ha gli occhi ei denti fuor, come di porca" (X, 101,3 -6).

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Die Verwüstung der Insel Ebuda, bei der es sich wahrscheinlich um eine der heutigen Hebriden handelt, wenn auch die Insel Ariosts eigentlich nur in seinem Werk existiert, wird von Schwertwalen, Seehunden und der ganzen ,Tierwelt des Meeres' verursacht (VIII, 54, 6: "l'orche e le foche, e tutto il marin gregge"). Genau wie in Schottland regiert hier ein König, der seiner Tochter nicht verzeihen kann, weil sie - angeblich oder tatsächlich - geliebt hat. Dort war ein strenges, grausames Gesetz in Kraft (IV, 59, 1: "legge empia e severa"), hier jedoch ist der König selbst strenger und grausamer als alle anderen (VIII, 53, 2: "piu d'ogni altro empio e severo"). Die Wiederkehr des Hendiadys "empio e severo" ist keineswegs zufällig: Die zwei Adjektive werden in derselben Kombination an zwei Stellen gebraucht, in denen ausdrücklich vom Norden gesprochen wird, um die Grausamkeit dieser entfernten Welt hervorzuheben. Auch in Ebuda ist ein grausames Gesetz in Kraft (VIII, 58, 4: "un'empia legge antica"), das besagt, daß das Ungeheuer "orca" jeden Tag mit einer Frau gefüttert werden soll, die von den Inselbewohnern aus fremden Ländern entführt wurde. Die Legende erklärt somit die Entstehung des in großem Maße und mit leichten und schnellen Schiffen organisierten Piratenturns. Die Piraten schwärmen an den Küsten mit Segel- und Ruderboten nach allen Seiten aus. Mit Schmeicheleien und Gold, aber vor allem mit Gewalt holen sie Frauen aus allen Ländern, die sie in Tünnen und Gefängnissen einsperren und später nackt an den Felsen über dem Ozean binden. 19 Dadurch wird der Eindruck erweckt, als gäbe es im Norden keinen Raum für Liebe und Erbarmen. Hinzu kommt, daß die Ungeheuer im Nordozean nur nach weiblichen Opfern verlangen. Schnelle und leichte Schiffe von Seeräubern bemühen sich auf diesen Gewässern, Frauen in ihre Gewalt zu bringen, um sie den Untieren zum Fressen zu geben. Die Dimension der Weiblichkeit hat - wie Liebe und Erbarmen - im Norden nichts zu suchen und wird daher geopfert. Vor diesem Hintergrund kann man auch die zweideutige Figur der Olimpia verstehen. Ariost fügte erst in der dritten Version des Orlando furioso die Episode Olimpias hinzu, die als Opfer für das Ungeheuer "smisurato mostro, orca marina" (X, 94, 3) nach Ebuda gebracht wird. Olimpia kann als typische Frau des Nordens gesehen werden: Sie ist nicht nur die nackte Frau am Felsen, die der Orcawal fressen will und die auf ihren Retter Orlando wartet, sondern sie ist auch die Frau, die den aufgezwungenen, gehaßten Bräutigam tötet und ihre Taten ohne Reue erzählt. Die Holländerin (IX, 22, 1- 2: "figliuola ... deI conte d'Oianda"), die sich in Bireno, den Herzog von Seeland (IX, 23, 1: "duca ... di Selandia") verliebt, verursacht den Krieg zwischen ihrem Vater und dem hochmütigen König von Friesland Cimosco (IX, 27, 5: "superbo re di Frisia"), dem Ariost die Verantwortung für die Erfindung der Hackenbüchse anlastet. Viele ihrer Taten ließen sich nicht auf eine Quelle zurückführen, meinte Rajna, der Olimpia als ein für ihn unlösbares Problem 19 Orl.fur., VIII, 60: "Van discorrendo tutta la marinal con fuste e grippi et altri legni loro, I e da lontana parte e da vicina I portan soJlevamento al lor martoro. I Molte donne han per forza e per rapina, I alc une per lusinghe, altre per oro; I e sempre da diverse regioni I n'hanno piene le torri e le prigioni."

6 Boccignone

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bezeichnete. 2o Im Kudrunlied wurde eine nicht-klassische Quelle für die Episode gefunden, die Ariost durch eine italienische Zusammenfassung kennengelernt haben soll?l In der grausamen Geschichte Olimpias kommen erstaunlich viele topographische Namen vor. Der Autor will im Leser den Eindruck erwecken, daß die außerordentlich grausame Geschichte nicht in den vertrauten Regionen spielt, in denen sich die Ritter Karls des Großen bewegen, sondern in einem entfernten Raum im harten und grausamen Norden. In der Risposta an Gian Battista Pigna hatte Giraldi Cinzio in dem "decoro" die besondere Eigenschaft von Ariosts Ritterroman erkannt, die es von allen anderen, ähnlichen Werken aus anderen Ländern unterschied. Ariost habe es abgelehnt, über Dinge zu schreiben, die der Majestät der italienischen Sprache und Nation nicht würdig seien, das heißt, alles was besonders grausam und häßlich sei, wie die Vergewaltigung einer Prinzessin oder die Untreue eines Ritters. Die privilegierte Position Italiens, das keine militärische oder politische Bedeutung mehr habe, sondern sich nur auf die Kultur und die Sprache stütze, bringe Ariost dazu, im Namen des "decoro" und der Majestät seines Landes und seiner Sprache alles, was zu grausam und barbarisch sei, abzulehnen. 22 Und tatsächlich ist der Versuch Astolfos, eine Frau zu rauben, zwar im vierten der Cinque canti enthalten, jedoch nicht im Hauptwerk. Die schöne, aus dem Norden kommende Olimpia, die ihren Mann tötet und davon berichtet, ist also die einzige Ausnahme gegen das Gesetz des italienischen "decoro". 3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen

Das zweite Modell, nach dem sich der Norden überall jenseits der Alpen erstreckt, kann an vielen Stellen nachgewiesen werden. Der nördliche und schlecht konnotierte, kalte und rauhe Raum fangt für Ariost nicht erst mit Thule, Irland oder Island an, während der Nordpol eher eine symbolische als eine reale Größe ist. Das zeigen die Terzinen seiner ersten Satire, in der er versucht, die Gründe für seine Weigerung darzulegen, seinem Herrn, dem Bischof von Eger Ippolito, nach Ungarn zu folgen (Satire, 1,34-39):23 20 Vgl. P. Rajna, Le fonti dell'Orlando furioso, a. a. 0., S. 209: "devo confessare con rossore di non aver ancora trovato la soluzione dei problema." 21 Vgl. S. M. Gilardino, Per una reinterpretazione dell'Olimpia ariostesca: i contributi della jilologia germanica, in: II Rinascimento. Aspetti e problemi attuali. Atti dei X Congresso deli' Associazione Intemazionale per gli Studi di Lingua e Letteratura Italiana, Belgrado 17-21 aprile 1979, hrsg. von V. Branca, C. Griggio, M. und E. Pecoraro, G. Pizzamiglio und E. Sequi, Firenze 1982, S. 429-444. 22 Vgl. G. Mazzacurati, II Rinascimento dei moderni. La crisi culturale dei XVI secolo e la negazione delle origini, Bologna 1985, S. 308. 23 L. Ariosto, Satire, in: Ders., Tutte le opere, hrsg. von C. Segre, Milano 1984, Bd. m. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen

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So mia natura come mal conviensi co' freddi vemi; e costa sotto il polo gli avete voi piu che in Italia intensi. E non mi nocerebbe il freddo solo; ma il caldo de le stuffe, ch'ho si infesto, che piu che da la peste me gli involo.

Schon Ungarn liegt für Ariost gerade unter dem Himmelspol ("sotto il polo")! Er kann die unerwünschte Reise vermeiden, indem er sagt, daß dieses Land sich in einem ,nördlich' zu bezeichnenden Raum befinde, der schon allein deswegen überaus negativ konnotiert ist. Er tut so, als ob eine solche Gegend seinem Wesen einfach nicht entspreche, weil der warme Wein, der dort in Unmengen getrunken wird, ihm wie Gift ist. Er erwähnt dabei auch die verschiedenen Eßgewohnheiten, die seiner Gesundheit schaden könnten, und die Gewürze, die er auf Rat seines Arztes nicht essen darf. Im Prinzip reicht es aber völlig aus, auf die ,Nördlichkeit' dieses Landes hinzuweisen, um seine Weigerung zu rechtfertigen, Italien in Richtung Ungarn zu verlassen. Und das gelingt Ariost einfach dadurch, daß er nicht nur die Kälte, sondern auch die Winde von den Riphäischen Bergen, die traditionell die nördliche Grenze der bekannten Welt darstellen, erwähnt. Der Dichter behauptet, er könne dort auf Grund dieser Winde sterben, da die nordische Bergkette sich sehr nah an Ungarn befindet (Satire, I, 43 - 45): ... come sorbir si dee l' aria che tien sempre in travaglio il fiato de le montagne prossime Rifee?

Mit diesem Motiv des Windes von den Riphäischen Bergen, die in der Antike irgendwo in Skythien vermutet wurden, ist die ,Nördlichkeit' Ungarns festgestellt. Einfacher und eindeutiger ist ,Nördlichkeit' in der Dichtung nicht zu erzeugen. Die "montagne Rifee" hatte schon Dante (Purg., XXVI, 43) wegen ihrer Kälte erwähnt. 24 Es ist klarzustellen, daß Ariost sich je nach Kontext auf unterschiedliche Gebiete bezieht, wenn er einen Raum oder einige Menschen aus verschiedenen Gründen als nördlich bezeichnet. Im Furioso können die eigentlichen Merkmale, die für nördlich erklärt und den Soldaten aus Thule und Island zugesprochen wurden, für alle ausländischen Mächte auf italienischem Boden gebraucht werden. Diese Eigenschaften sind in erster Linie die Grausamkeit von Menschen, die eher als Tiere zu beschreiben sind, keine Angst vor dem Tod haben, und, beeinflußt durch ihr rauhes Klima, den Krieg und nicht den Fr:ieden suchen. Sie kommen aus dunklen Höhlen und Wäldern, um die Italiener zu unterdrücken. Hier spricht der Dichter über seine Zeit, und die Ironie, mit der er solche Bilder bisher behandelt hatte, ist 24 Man konnte aber auch auf Vergil zurückgreifen (Georg., III, 381: "TaUs Hyperboreo septem subiecta trionis / gens effrena virum Riphaeo tunditur Euro H). Erst ein paar Jahrzehnte später werden diese Berge von den Landkarten endlich verschwinden und langsam wird auch in der Literatur ein anderer nördlicher Bezug zu suchen sein.

6"

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III. Der Norden im Werk Ariosts

nicht mehr vorhanden. In seinen historischen Analysen werden fast alle "Oltramontani" als grausame, bestialische Barbaren dargestellt, während die Ritterwelt des Furioso für eine Weile vergessen scheint. Der Grund dafür ist, daß es in erster Linie um den Schmerz und den Krieg seiner Gegenwart geht, nicht um die Heldentaten literarischer Figuren. In den Cinque canti kommt es besonders deutlich zum Ausdruck, daß der ganze Raum jenseits der Alpen als Ort der Barbarei zu verstehen ist (Cinque canti, I, 71, 7 - 8): Indi I' Alpe a sinistra apparea lunge, ch'ltalia invan da' barbari disgiunge

Diese Vorstellung ist schon bei Petrarca in der Kanzone CXXVIII vorhanden (vgl. Kap. IIA.), wie auch das Bewußtsein, daß die Italiener selbst an ihrem Unglück schuld seien. Die Alpen wären ein natürlicher Schutzwall gewesen, aber die Italiener selbst hätten oft genug die Barbaren gerufen oder hätten sich auf verschiedene Art und Weise schuldig gemacht. Für Ariost ist es eine gerechte Strafe Gottes, daß Italien mehrmals von ,Barbaren' aus dem Norden geplündert und zerstört wurde. Es handele sich dabei zwar um Tyrannen und Monstren, die aber nur mächtig geworden sind, weil die Sünden der Italiener zu groß waren, um verziehen zu werden. So verweist der Dichter auf die Tyrannen der römischen Zeit und auf die Barbaren der Zeit der Völkerwanderungen, als Gott Italien den Hunnen, Langobarden und Goten preisgab (XVII, 2, 7 - 8: "diede Italia a tempi men remoti / in preda agli Unni, ai Longobardi, ai Goti"). Das italienische Volk wird - wie in der Kanzone Petrarcas (R. v.J, CXXVIII, 40: "mansuete gregge") - als eine Herde Schafe dargestellt, die sofort als unglücklich und nutzlos bezeichnet wird, wobei die ungerechten Herrscher, welche ausländische Truppen bezahlen, wie wütende Wölfe sind. Die Ausländer, die in Italien herrschen oder kämpfen, sind aber noch gefräßiger und unersättlicher als die einheimischen Wölfe. Sie wurden als Söldner aus den Wlildem geholt, die sich jenseits der Alpen befinden (XVII, 3, 7 - 8 und XVII, 4, 1 - 4): ... a noi, greggi inutili e mal nati, ha dato per guardian lupi arrabbiati: a cui non par ch'abbi a bastar loro farne, ch'abbi illor ventre a capir tanta came; e chiaman lupi di piu ingorde brame da boschi oltramontani a divorame.

Die Horden von jenseits der Alpen überfallen die friedlichen, schwachen und verweichlichten Italiener, so wie gefährliche Wölfe ("lupi arrabbiati") über wehrlose Schafen herfallen. Ihr typisches Merkmal ist die rabies, "rabbia", die dem Norden im allgemeinen zugesprochen worden war (VI, 34, 7 - 8: "la sabbia / che deI settentri'on sente la rabbia"). Ariost behauptet, daß Gott all das, was die Barbaren an Leid und Verwüstung verursachen, zugelassen habe. Es werde jedoch nicht immer so sein, hofft der Dichter, der der Meinung ist, daß sein Volk wegen seiner zahlreichen und schweren

3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen

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Sünden von Völkern bestraft werde, die nicht besser oder tugendhafter als die Italiener seien. Der Ton an diesen Stellen ist keineswegs vergnügt und scherzhaft wie in den Beschreibungen der Soldaten aus dem äußersten Norden Europas, der witzigen behaarten homines silvestres, die sich den Paladinen anschließen. Der Dichter denkt an reale Kriege, die er zum Teil miterlebt hat, und erhofft sich, daß es wieder Frieden und Gerechtigkeit geben wird. Die Prophezeiung beginnt mit "Tempo verra": Es wird die Zeit kommen, in der die schwachen Italiener auf der Suche nach Beute in die Länder des Nordens gehen werden, allerdings unter der Voraussetzung, daß sie sich verändern und die alten Tugenden wiederfinden und die Menschen des Nordens ebenfalls so viel sündigen, daß der Zorn Gottes gegen sie ausbricht. Die Italiener werden Genugtuung bekommen, wenn sie die Gestade des Nordens einmal plündern werden. Gott wird so auch die Völker von jenseits der Alpen auf dieselbe Art und Weise bestrafen,z5 Was dem Dichter Sorgen bereitet, ist, daß die europäischen Länder immer Kriege führen, aber nicht gegen die Ungläubigen außerhalb Europas, sondern gegeneinander, um Macht zu erlangen. Ein Kreuzzug kommt fast nicht mehr in Frage, aber Kriege innerhalb der europäischen Grenzen sind alltäglich. Überall gibt es Krieg, nur nicht dort, wo es nötig wäre (XV, 99, 7 - 8: "L'Europa e in arme, e di far guerra agogna/in ogni parte, fuor ch'ove bisogna"). Die Christen sollten sich eigentlich bemühen, die Stadt zu befreien, in der Jesus lebte und die sich zur Zeit des Dichters fest in der Hand der islamischen ,Hunde' befindet (XVII, 73, 7 - 8: "ch' ora i superbi e miseri cristiani, / con biasmi lor, lasciano in man de' cani"). Die verschiedenen europäischen Mächte, das heißt alle "Oltramontani", die Ariost anspricht (XVII, 74, 1: "Voi, gente ispana, e voi, gente di Francia"; XVII, 74, 2: "e voi, Svizzeri"; XVII, 74, 3: "e voi, Tedeschi") versuchen sich gegeneinander zu behaupten, und das nicht selten auf Kosten des armen Italien, anstatt sich für den Glauben einzusetzen, und die ,unreinen' Türken und Renegaten zu bekämpfen, die den schönsten Teil der Welt besetzt haben (XVII, 75, 5 - 8): Perche Ierusalem non r'iavete, che tolto e stato a voi da' rinegati? Perche Constantinopoli edel mondo la miglior parte occupa il Turco immondo?

Italien wird als Königin präsentiert, die nun in die Sklaverei geraten ist und denjenigen Völkern dient, die nördlich von ihr leben und einmal ihre Untertanen waren. Italien gleicht aber auch einer stinkenden Kloake voller Sünde und Schande. 26 25 Orl. fur., XVII, 5: "Or Dio consente che noi sii'1ll puniti / da populi di noi forse peggiori, / per li multiplicati et infiniti / nostri nefandi, obbrobr'iosi errori. / Tempo verra ch'a depredar lor liti / andremo noi, se mai saren migliori, / e che i peccati lor giungano al segno, / che I' eterna Bonta muovano a sdegno." 26 Italien ist wie eingeschlafen, betrunken und berauscht, mit allen Lastern beladen, ganz in der Tradition der Invektive Dantes (Purg., VI, 76-78: "Ahi serva Italia, di dolore ostello, / nave sanza nocchiere in gran tempesta, / non donna di provincie, ma bordello!").

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III. Der Norden im Werk Ariosts

Nur die schwersten Sünden erlauben es zu erklären, wie es dazu kommen konnte, daß das Land, das einst die Welt beherrschte, nun der Gewalt aller grausamen Bestien aus dem Norden ausgeliefert ist (XVII, 76, 5 - 8):

o d' ogni vizio fetida sentina,

donni, Italia imbnaca, e non ti pesa ch' ora di questa gente, ora di queJla che gia serva ti fu, sei fatta anceJla?

Die Söldnertruppen aus der Schweiz kommen aus ihren Höhlen ("tane") heraus, gejagt entweder von der Furcht zu verhungern oder vom Wunsch, den Tod zu finden, der sie von der Not befreit?? Ihre ,Wut' wäre am richtigen Platz, wenn sie versuchen würden, die Türken aus Europa zu vertreiben. Da fande der "furor" der Schweizer ein geeignetes Ziel: Sie wären gesättigt oder würden zumindest mit größerer Ehre fallen. Die Frage eines neuen Kreuzzugs war damals offen: Spanier, Franzosen, Schweizer und Deutsche hätten Europa vor der Türkengefahr retten und dorthin fahren sollen, wo sie in würdiger Weise ihrem furor freien Lauf lassen können, anstatt das arme Land Italien zu zerstören (XVII, 77). Nicht nur die Schweizer verlassen ihre vermeintlichen Höhlen, um nach Italien zu gelangen und der Armut zu entkommen. Die Bereitschaft zu kämpfen und zu sterben, auch um des Kampfes willen, ohne edle Motive, ist ein typisches Merkmal für die Menschen des Nordens im allgemeinen. Dasselbe gilt so auch für die Deutschen (XVII, 78, 1-2: "Quel ch'a te dico, io dico al tuo vicino / tedesco ancor"). Ariost wendet sich mit einem Appell direkt an Leo X. (XVII, 79, 5: "Pastore", Schäfer), und fordert ihn auf, die Italiener / Schafe vor den Oltramontanil Wölfen zu schützen. Diese Abschweifung im Furioso nimmt sieben Oktaven in Anspruch (XVII, 73 - 79). Dasselbe Thema wird später erneut aufgegriffen, wenn die ausländischen Truppen, die Italien plündern, als ungerechte, grausame und gierige Harpyien dargestellt werden, die vielleicht gemäß des Willens Gottes alte Sünden der Italiener bestrafen. Doch das verblendete Italien, blind wegen seiner Laster und Fehler, wird zu streng bestraft, weil auch unschuldige Kinder und fromme Mütter zu leiden haben. Man kann diejenigen beschuldigen, die die für lange Zeit geschlossenen Höhlen öffneten: Hiermit sind die italienischen Herrscher gemeint, die die Besetzung durch ausländische Mächte und die Vermehrung von Söldnertruppen verursacht haben. Die "spelonche" sind dieselben "tane" der grausamen und unersättlichen Wölfe, der Barbaren von jenseits der Alpen, die wie echte gefräßige Untiere seit der Zeit der Völkerwanderungen mehrmals Italien überschwemmt und geplündert haben und nun wiederum Italien verpesten und verseuchen (XXXIV, 1 und XXXIV, 2, 1-4): 27 Nicht zufällig wird darauf hingewiesen, daß sich solche ,Bestien' oft den Tod wünschen. Die Menschen des Nordens sind bekanntlich immer bereit zu kämpfen und nehmen ohne große Bedenken den Tod in Kauf, nach den Worten Petrarcas macht es ihnen nichts aus zu sterben (R.v,f , XXVIII, 51: "una gente a cui il morir non dole"; vgl. Kap. 11.3.).

3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen

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Oh farne li ce, inique e fiere arpie ch'all'accecata Italia e d'error piena, per punir forse antique colpe e rie, in ogni mensa alto giudicio mena! Innocenti fanciulli e madri pie cascan di farne, e veggon ch'una cena di quei mostri rei tutto di vora cio che dei viver lor sostegno fOra. Troppo fallo chi le spelonche aperse, che gia molt' anni erano state chiuse; onde il fetore e I' ingordigia emerse, ch' ad arnmorbare Italia si diffuse.

Aus denselben "spelonche" waren die wilden behaarten Menschen aus Thule und den nördlichsten Regionen der Welt herausgekommen (X, 89, 2: "de le spelonche usciti e de le selve"). Nun werden alle bewaffnete Menschen von jenseits der Alpen als in Höhlen lebende wilde Tiere dargestellt. Das, was in der Beschreibung der geschichtslosen homines silvestres aus dem unbekannten äußersten Norden ein witziges Detail im Rahmen der ironischen Vernichtung aller heroischen und ritterlichen Werte war, ist an dieser Stelle sehr ernst gemeint und steht für die Brutalität der Krieger der Zeit des Dichters. Furor und rabiei 8 aus unzivilisierten Ländern breiten sich aus: "furor da paschi e mandre uscito" (XXVI, 44, 7) bezeichnet die Wut der Schweizer, an anderer Stelle "villan brutti" genannt (XXXIII, 43, 6): ein armes Volk, das mit seinem Vieh in den Bergen lebt. Die Schweizer sind oft wie Tiere dargestellt: Als sie zum Beispiel 1515 von Franz I. in Marignano besiegt werden, schreibt der Dichter, daß ihnen die Hörner gebrochen werden (XXXIII, 43, 3: "rompe a' Svizzeri le corna"), als ob sie Hörner wie ihr Vieh zu Hause besäßen. Es geht weiterhin um die Gefährlichkeit der Wölfe aus den Wlildern und Höhlen von jenseits der Alpen, die das sündhafte Volk Italiens, für das bald Rettung kommen soll, leiden lassen. Die Untreue der Schweizer Söldner, die letztendlich Ludovico il Moro den Franzosen auslieferten, wird auch erwähnt: "il perfido Svizzero" (XXXIII, 36, 5), "l'infedele Elvezio" (XXXIII, 42, 2). Derfuror oder rabies dieser Soldaten, die im Jahre 1512 sogar vom Papst Julius 11. zum Kampf gegen die Herzöge von Este gerufen wurden, ist wie ein Sturm, der von jenseits der Alpen hereinbricht (XXXIII, 41, 3 - 4: "e fa da' monti, a guisa di tempesta, / scendere in fretta una tedesca rabbia"). "Tedesca rabbia" bezeichnete schon bei Petrarca die Wut der Söldner (R. vj, CXXVIII, 35; vgl. Kap. 11.4.). Auch die Truppen von Kaiser Maximilian, die 1516 Mailand belagerten, werden kurz - wie bei Petrarca - als "furor tedesco" (XXXIII, 44, 4) betitelt. 28 "Furor" wird aber im Orlando furioso nicht nur gebraucht, um die Wut der barbarischen Soldaten aus dem Norden zu bezeichnen. Auch Orlandos Verrücktheit ist "furor". Selbst die dichterische Inspiration ist "furor" (III, 1, 5 - 6: "Molto maggiore di quel furor che suole / ben or convien ehe rni riscaldi il petto").

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III. Der Norden im Werk Ariosts

Einige "Oltramontani" waren manchmal aber auch Verbündete der Familie Este in Ferrara. Wie reagiert der Dichter, wenn er auf Ereignisse hinweist, an denen diejenigen Franzosen beteiligt sind, die mit Truppen der Este zusammen gekämpft haben? Wenn die Franzosen auf der Seite der Este kämpfen, werden diese nie GalIier ("Galli") genannt, was sie als Barbaren erscheinen ließe. Sie können aber trotzdem als besonders grausam dargestellt werden, wenn sie nach einem Sieg, zum Beispiel am 11. April 1512 in Ravenna, eine Stadt plündern. Man kann daher auch von einem "furor di Francia" (XXXIII, 46, 5) sprechen, genau wie bei den schweizerischen oder deutschen Truppen. Im Prinzip haben die Franzosen das Recht, nach Italien diesseits der Alpen zu kommen, wenn sie gegen einen noch grausameren Feind kämpfen, der Italien besetzt hält (XXXIII, 12,3 -4: "qualor d'ltalia la difesa prenda / incontra ogn'altro barbaro furore"), nicht aber wenn sie selbst die Absicht haben, Italien zu erobern (XXXIII, 12,5-6: "s'avvien ch'a danneggiarla scenda, / per pode il giogo e farsene signore"). Dies wird in den von Merlin geschaffenen Fresken der "Rocca di Tristano" bildlich erklärt. Italien ist das Land, das Petrarca als "il bel paese / ch' Appenin parte e'l mar circonda e I' Alpe" definiert hatte (R.v.j, CXLVI, 13-14). Da sind die Grenzen Italiens, die von den Franzosen und allen übrigen "OItramontani" respektiert werden sollten, wenn sie nicht Unrecht tun und sich schuldig machen wollen (XXXIII, 9, 6-8: "di molti guai / porra sua gente, s' entra ne la terra / ch' Apenin parte, e il mare e I' Alpe serra"). So werden die Franzosen immer scheitern, wenn sie mit böser Absicht - in diesem Fall des öfteren "Galli" genannt, um sie als Barbaren zu charakterisieren (XXXIII, 21,3 und XXXIII, 45, 3) - die Sperre der Alpen durchbrechen und die Berge überschreiten, um nach Italien zu kommen. Dieses Vorgehen wird meistens durch Ausdrücke wie "scender dai monti" (XXXIII, 21, 3) oder "Carlo ottavo, che discende / da I' Alpe" (XXXIII, 24, 1 - 2) wiedergeben. Die Zeit des Dichters ist eine Epoche, in der das niedergeschlagene Italien mit den in die Krise geratenen universalen Mächten der Kirche und des Reiches am meisten Hilfe braucht (XXXIII, 48, 6 - 8: "nel tempo che d' aiuto piu che mai /I' afflitta Italia, la Chiesa e I, Impero / contra ai barbari insulti avria mistiero"). ,Barbaren' sind in den Augen des friedlichen Dichters all diejenigen, die - aus Regionen nördlich von Italien kommend - Krieg führen. Diejenigen, von denen Ariost sich Frieden verspricht, sind für ihn weder ,Barbaren' noch ,Menschen des Nordens': Karl der V. gilt als der weiseste und gerechteste Kaiser der Welt nach Augustus (XV, 24, 7 - 8: "il piu saggio imperatore e giusto, / che sia stato 0 sara mai dopo Augusto"), und Ariost zitiert sogar den bekannten Vers vom Apostel Johannes (loh., X, 16: "Et flet unum ovile et unus pastor"): "sotto a questo imperatore / solo un ovile sia, solo un pastore" (XV, 26, 7 - 8), um den universellen Anspruch des Kaisers auszudrücken, weil er sich von ihm Frieden erhofft. Deshalb werden auch seine Generäle Francesco d' Avalos Marquis von Pescara und Alfonso d' Avalos Marquis von Vasto gelobt (XXVI, 52; XXXIII, 47 -48). Wenn Ariost in der dritten und endgültigen Fassung des Furioso einen Hinweis auf das Desaster des "Sacco di Roma" einfügt,29 dann macht er es nur, um das Leiden der Bevölke-

3. Unter dem Himmelspol und unmittelbar jenseits der Alpen

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rung zu bedauern. Von der nordischen Herkunft der Plünderer der Truppen Karls V. ist hingegen keine Rede. Ebenso bleibt unerwähnt, daß die Landsknechte als Anhänger der Refonnation mehrheitlich papstfeindlich waren. ,Nördlichkeit' wird in diesem Zusammenhang von Ariost nicht thematisiert, weil er an die Universalität des Kaisertums glaubt. Für ihn steht die Tatsache im Vordergrund, daß jeder Krieg schweres Leid verursacht. Sein Respekt gegenüber dem Kaiser erlaubt ihm in diesem Fall nicht, Konstruktionen des Nordens zu verwenden, denn alle NordBilder sind in seinem Werk - mit Ironie oder nicht - negativ konnotiert, ohne Ausnahme.

29 Ort. fur., XXXIII, 55, 1-4: "Vedete gli omicidii e le rapine I in ogni parte far Roma dolente; I e con incendi e strupri Je divine I e Je profane cose ire uguaJmente".

IV. Die Wende 1. Neue Informationen und neue Quellen: eine Neubewertung des Nordischen

Ein symbolisches Datum im Hinblick auf die Frage des Umgangs mit der Andersartigkeit der Anderen und der Einschätzung der Fremden ist das Jahr 1550, als auf der Konferenz von Vallidolid über die Frage debattiert wurde, in welchem Ausmaß sich die Indianer von den Europäern unterscheiden. Nicht zufällig findet in Italien zu der gleichen Zeit, also gegen Mitte des 16. Jahrhunderts, eine Wende in der Wahrnehmung Nordeuropas statt, eine Umwälzung, die bedeutsam wie die ,Kopernikanische Wende' sein dürfte und die nur nach der Verarbeitung des Kulturschocks infolge der Begegnung mit den Kulturen der neuentdeckten Kontinente möglich wurde. Die Grenzen der kulturellen Einheit ,Europa ' breiten sich für die Italiener aus, vor allem dank der Veröffentlichung wichtiger Werke wie zum Beispiel jener der schwedischen Brüder Johannes und Olaus Magnus zusammen mit den von Giovanni Battista Ramusio herausgegebenen Reisebeschreibungen. 1 Auf der einen Seite ist es die Rezeption dieser Quellen, die ein neues Bild Nordeuropas entstehen läßt, auf der anderen Seite sind es neue ästhetische Paradigmen, die eine Neubewertung des Nordischen ermöglichen. In der zweiten Hälfte des Cinquecento spielen das Finstere ("oscuro", "orrendo", "orrido"), das Wunderbare, Erstaunliche oder Fremdartige ("mirabile", "meraviglioso", "stupendo", "peregrino") gegen die restriktiven klassizistischen Regeln des decorum eine größere Rolle in der Kunst. 2 "Furore" und "bizzarria" sind Anzeigetermini dieses geistigen Klimas. 3 Bei einigen Autoren ist dieses Streben nach dem Erlesenen, Gesuchten, Ungewöhnlichen, Geheimnisvollen oder Eigenartigen besonders ausgeprägt und steht im Gegensatz zum Einfachen, Normativen und Allgemeingültigen des klassischen Ideals. In einer Ästhetik der "novita" und der "varieta,,4 setzt sich die Vorstellung eines besonderen Reizes oder Wertes des Fremdartigen, 1 Vgl. L. De Anna, Il mito dei Nord. Tradizioni classiche e medievali, Napoli 1994, S. 16. De Anna schreibt über den sogenannten ,Norden Europas': "Su di un piano culturale, questa regione dei mondo cessava di essere un alter orbis per diventare parte di quello, civile 0 ci vilizzato, di cui l'uomo occidentale era signore". 2 Der Begriff des decorum, bis zur Hälfte des 16. Jahrhunderts im Mittelpunkt, verliert nun an Bedeutung. Vgl. G. Mazzacurati, Il Rinascimento dei moderni. La crisi culturale dei XVI secolo e la negazione delle origini, Bologna 1985, S. 312. 3 Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento. ,/dea dei tempio' dell'arte nell'ultimo Cinquecento, Firenze 1971, S. 199. 4 Vgl. ebd., S. 86 ff. und S. 130 ff.

1. Neue Infonnationen und neue Quellen

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vom Landesüblichen oder vom Alltäglichen Abweichenden durch. 5 Der traditionelle locus amoenus erscheint nun oft als ein Ort der Versuchung und des trügerischen Genusses, der die Höllenfolter zur Folge hat, während die dunkleren Landschaften und die geheimnisvollen Grotten eine positivere Bedeutung gewinnen. Eine neue Sensibilität und Empfänglichkeit für das Nordische entsteht. In dieser Epoche verzieren Monstren und Grotesken viele Gärten, Brunnen und Wohnungen der Adligen und Mächtigen Italiens und die Zahl der Wunderkammern nimmt entschieden zu. 6 Der berühmte ,Park der Monstren' von Vicino Orsini ("Sacro Bosco di Bomarzo") - 1552 entstanden und Eugenio Battisti zufolge eine Art von ,Freilichtwunderkammer' - fordert die Leute auf einzutreten, die sonst auf der Suche nach erstaunlichen und erhabenen Wundern die weite Welt bereisen. Dort wird man Genuß an den monströsen exotischen Tieren und Ungeheuern finden: Voi che pel mondo gite errando vaghi di veder maraviglie alte e stupende venite qua, dove son faccie horrende, elefanti, leoni, orchi et draghi. 7

Das späte Cinquecento entdeckt nicht nur die besondere Schönheit des dunklen Waldes ("selva oscura") und die dunkle Höhle, die Grotte, als Umkehrung der klassischen Kuppel, 8 sondern auch die Faszination des Verborgenen, des Dämonischen und des Erhabenen und nicht zuletzt auch die Faszination des Nordischen. Zusammen mit der Änderung des ästhetischen Paradigmas erklären also weitere Entdeckungsreisen und vor allem die Verbreitung einiger wichtiger Quellen das Interesse für den Norden im Italien dieser Epoche. Die Geographia des Ptolemäus ist noch das Standardwerk auf dem geographischen Gebiet, aber sie wird rasch ergänzt, korrigiert, aktualisiert. Neue kosmographische und geographische summae werden von Weltkarten und Atlanten begleitet, vor allem aus Venedig und Rom. 9 Die tabulae modernae der Ptolemäusausgaben versuchen, die neuentdeckten Kontinente und den Norden Europas kartographisch darzustellen, und betonen die Lücken des geographischen Wissens in der Antike, so daß neue Vorstellungen über die Gebiete am Rande des Kontinents möglich werden. Auf einigen der neuen Karten steht nun die Schrift" Thile, insula olim ultima", die an die Beschränktheit der alten Welt erinnert. 10 5 Vgl. G. Weise, 'Maniera' und ,pellegrino': zwei Lieblingswörter der italienischen Literatur der Zeit des Manierismus, in: "Romanistisches Jahrbuch", XXI, 1950, S. 377 f. 6 Vgl. E. Battisti, L'Antirinascimento. Con una appendice di manoscritti inediti, Milano 1989 (1. Auf!. 1962), Bd. I, S. 124 f. Battisti erinnert an das Museum Barberini in Rom, in dem ein ,Drache' aufbewahrt wurde, der 1551 gefunden worden war. Zu den Grotesken vgl. auch C. Ossola, Autunno deI Rinascimento. .. , a. a. 0., S. 169 f. und S. 184 ff. 7 Vgl. ebd., S. 143. 8 Vgl. ebd., S. 207 ff. 9 1546 wird zum Beispiel in Rom die Karte der Nordsee von Georgius Lilius Ang1us veröffentlicht, auf der man die Archipele nördlich von Schottland sehen kann.

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IV. Die Wende

1548 wird der Kommentar von Sebastian Münster zur Geographia von Pietro Andrea Mattioli, einem Arzt aus Siena, ins Italienische übersetzt und in Venedig mit neuen Karten von Giacomo Gastaldi herausgegeben. Drei Auflagen erschienen davon in einem Jahr in Venedig und auch nach dem Zugriff der kirchlichen Zensur (1575) wird das Werk (Cosmographia universale . .. raeealta & purgata per gli Censari eeclesiastiei) weiterhin gedruckt. Der reformierte deutsche Theologe und Kosmograph besitzt im Italien der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine größere Autorität als die Autoren der Antike. II Der Übersetzer wendet sich an die Leser und begründet seine Entscheidung, das geographische Werk in die reine und würdevolle italienische Sprache ("candidissima lingua nostra Italiana") übertragen zu haben, mit der Absicht, das Wissen über die Welt für alle schönen und großmütigen Geister zugänglich zu machen ("a ciascuno gentile spirito che per generosita d'animo si diletti di voler sapere, che cosa sia questo mondo"). Das Interesse für die neuentdeckten Länder wird in dieser Epoche zu einer Mode. Dreizehn Jahre später ist es der mit Tasso befreundete Girolamo Ruscelli, der die Geagraphia ins Italienische übersetzt und mit zusätzlichen Aktualisierungen und weiteren neuen Karten in Venedig herausgibt (1561).12 Viele weitere neue geographische Werke und Karten werden verbreitet, die das Interesse von Gelehrten und Dichtem wekken. Das neue geographische Wissen über den Atlantik zwingt die Kulturträger dazu, ihr Weltbild zu revidieren. Auch die Reisen auf der Suche nach der Nordwestpassage nach Indien halten das Interesse wach: Die Horizonte der bekannten Welt werden in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den nördlichen Breiten entschieden erweitert. 13 Eine der Hauptquellen für die Frühgeschichte der Goten bleibt die Kompilation De origine aetibusque Getarum des Erzbischofs von Ravenna Jordanes, kurz 10 Vgl. L. De Anna, Le isole perdute e le isole ritrovate. Cristoforo Colombo, 1ile e Frislanda. Un problema nella storia dell' esplorazione nordatlantica, Turku 1993, S. 132. 11 Vgl. G. Costa, Le antichitii germaniche nella cultura italiana da Machiavelli a Vico, Napoli 1977, S. 55 f. Nach Münster nahm das Interesse an dem Werk des Ptolemäus sichtlich ab, da es als veraltet galt. Vgl. L. Bagrow, Die Geschichte der Kartographie, Berlin 1951, S. 71. 12 G. Ruscelli, Esposizioni et introduzioni universali.. . sopra tutta la Geografia di Tolomeo, Venetia 1561. 13 Die Expedition von 1553, finanziert von Händlern und Adligen aus London, wurde noch von Sebastiano Caboto organisiert. Man glaubte damals, daß der Nordozean auf einer Breite von 80° im Sommer wegen der Länge der Tage frei von Eis sei. Die Seeleute erwarteten ein mildes Klima, weil sie an die klimatische Theorie des Mathematikers Petrus Plancius glaubten, die besagte, daß die Temperatur bis zum Polarkreis niedriger werden würde, danach aber bis zum Nordpol wieder ansteigen würde. Sie waren daher überrascht, als sie merkten, daß das Meer nicht frei von Eis war, und erklärten sich die außerordentliche Kälte auch in den Sommermonaten mit der Nähe der asiatischen Kontinentmasse. Sir Hugh Willoughby starb bei der Kola-Halbinsel. 1555 wurde die Muscovy Company gegründet. Die Engländer versuchten aber bis 1580, dem Jahr des letzten Scheiterns, die Nordostpassage zum reichen Katai zu finden. Erst nach diesem Datum begannen sie, die Nordwestpassage zu suchen, während die Holländer mit Willem Barents weitere Expeditionen im Nordosten finanzierten.

1. Neue Infonnationen und neue Quellen

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Getica genannt (551 n. Chr.). Diese Quelle war bereits 1515 in Augsburg gedruckt worden und dann noch zweimal in Basel im Jahre 1531, aber erst nach der Veröffentlichung der Historia des Olaus gewinnt sie als wichtige und zuverlässige Quelle über den Norden an Bedeutung. In diesem Werk, das eine Zusammenfassung der verschollenen Geschichte des Cassiodorus ist, wird vom Ursprung der Goten aus der ,Werkstatt der Völker' oder dem ,Schoß der Nationen' im Norden berichtet (Get., 25: "Scandza insula quasi officina gentium" und" vagina nationum "). Die Goten seien von der Insel Scandza am Rande der bekannten Welt gekommen und hätten die Welthauptstadt Rom erobert. Die Tugenden dieses alten und weisen Volkes seien vor allem Männlichkeit und Mannhaftigkeit, Tapferkeit, Mut und Treue. Der König Theoderich und die Goten werden zu Garanten für die römischen civilitas und grenzen sich somit von den übrigen ,Barbaren' ab. Auch die sechzehn Bücher des monumentalen Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, das fast dreihundert Jahre nach der Niederschrift 1514 in Paris vom dänischen Humanisten Christiem Pedersen veröffentlicht wurde, kommen einige Jahrzehnte später auf den italienischen Markt. Saxo ist ein Beispiel von imitatio-aemulatio imperi romani im Norden, ein Beispiel für Olaus und Johannes Magnus, die das nordische Altertum, die großartige Vergangenheit und die Traditionen der Völker des Nordens rühmen wollen. Der Einfluß der beiden Brüder, die nach der Einführung der Reformation in Schweden ins Exil gehen und schließlich nach Italien gelangen, auf die italienische Literatur ist besonders groß. Vor allem Olaus Magnus, dessen Werk Tasso in vielerlei Hinsicht inspiriert, ist die große Autorität in Sachen ,Norden' ("cose di settentrione"). Sein Werk, ein regelrechtes ,Bilderbuch' und ,Lexikon' des Nordens, spielt eine sehr wichtige Rolle für die Rezeption der Geschichte und der Sitten der nordeuropäischen Völker sowie für die Entstehung eines gewissen ,Gotizismus' in der italienischen Kultur. 14 Andere wichtige Quellen sorgen in Italien für Faszination durch feme nördliche Länder. 1550 wird in Venedig eine italienische Übersetzung der Rerum moscovitarum commentarii von Sigmund von Heberstein (1486-1566) gedruckt, die später in der zweiten Ausgabe des zweiten Werkbandes von Ramusio (1574) erscheint. Das Buch ist mit einer Karte des Piemonteser Giacomo Gastaldi versehen, in der, der Beschreibung entsprechend, weder die Riphäischen Berge noch die Hyper14 Joseph Svennung hat im Jahre 1967 eine Studie über die Geschichte dieses Phänomens (,Gotizismus' oder ,Goticismus') veröffentlicht. Er sucht den Ursprung dieser Idee bei christlichen Autoritäten der Spätantike, die die Goten, unter deren Namen oft alle Gennanen verstanden wurden, in günstigem Lichte darstellten, obwohl ihre Heimatländer durch Goten verwüstet worden waren. Svennung stellt folgende Definition auf: ",Goticismus' ist die Vorstellung, daß die Goten, nachdem sie aus Skandinavien ausgewandert waren, sich fast die ganze bekannte Welt unterworfen und dann ansehnliche Gebiete Europas bevölkert haben; er ist ein Ausdruck des Respekts und der Bewunderung für das weltbezwingende Volk." Wenn man die obengenannte Definition akzeptiert, muß man Torquato Tasso eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Idee des Gotizismus zuerkennen. Ihm ist vielleicht das schönste poetische Zeugnis des Ruhms (und des Zerfalls) des gotischen Volks zu verdanken. Vgl. 1. Svennung, Zur Geschichte des Goticismus, Uppsala 1967, S. 1.

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IV. Die Wende

boreer zu sehen sind. Schon einige Jahrzehnte zuvor waren diese mythischen nördlichen Berge vom Polen Mattheus von Miechow (Tractatus de duabus Sannatiis) für nicht existent erklärt worden, aber erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird die Legende für immer zerstört. In diesen Jahren werden andere Karten verbreitet (zum Beispiel die von Sebastian Münster und Anton Wied), in denen man sich vergewissern kann, daß es diese Berge im Norden, wie sie sich die Autoren der Antike vorgestellt hatten, nicht gibt. Pier Francesco Giambullari bezieht sich in seiner Istoria dell'Europa (die wegen seines Todes im Jahre 1555 unvollendet blieb und erst 1566 veröffentlicht wurde) nicht mehr auf Plinius, sondern vor allem auf die Cosmographia von Sebastian Münster, um Skandinavien mit seinem Reichtum an Metallen, Fischen, Wild und den unzähligen kriegerischen Völkern zu beschreiben. Er kennt ebenso das Werk Regnorum Aquilonarium, Daniae, Sueciae, Norvagiae von Albert Krantz (Straßburg, 1545) und Jakob Zieglers Schrift Schondia (Frankfurt a. M., 1532). Beide sind in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien weitverbreitet. In solchen Werken befindet sich die Kulturscheide zum Land der Barbaren an den Grenzen zwischen Europa und Asien oder Skythien, aus dem auch die muslimischen Türken entsprungen sein sollen. Den nichtitalienischen Europäern werden keine barbarischen Eigenschaften mehr zugeschrieben. Das Konzept der humanitas als hohe Bildung und umfassende Kenntnis der Antike als einer exklusiv italienischen Eigenschaft ist nicht mehr aktuell. Im Norden Europas habe es eine ,andere Antike' gegeben, es habe Kultur noch vor der Gründung der Stadt Rom gegeben, darin sind sich all diese Autoren einig. Es gibt nun alternative Traditionen zu der römischen Gelehrsamkeit. Viele italienische Adlige versuchen wie die Spanier zu dieser Zeit, ihren germanischen Ursprung zu beweisen. Germanische Herrschaften sollen allen wichtigen Reichen Europas zugrunde liegen. Den Stammbaum der germanischen Völker, die als die grundlegenden Staatsgründer des christlichen Europa gelten, läßt man sogar auf Noah zurückgehen. Angebliche positive Eigenschaften der Menschen des Nordens, wie sie auch bei Saxo zu finden sind, wie der Mut, die Sittsamkeit und Schamhaftigkeit der nordischen Frauen, die Tapferkeit und das Heldentum der ruhmreichen Krieger, die natürliche Fruchtbarkeit und die Enthaltsamkeit oder Schlichtheit der germanischen Völker, werden in Italien rezipiert. Die Erzählung der Eroberung Roms zählt zu den glorreichen militärischen Leistungen der nordischen Goten. Ihre Grausamkeit wird relativiert, indem die gesamte Antike als ein heidnisches und grausames Zeitalter charakterisiert wird, während ihre Roheit mit der sittlichen Unverdorbenheit korreliert wird. Ihre Haltung gegenüber dem Tode wird nicht mehr als eine geringe Wertschätzung des Lebens verstanden, sondern als Mut, dem Tode entgegenzutreten, den Heldentod für sich zu wählen. Die Menschen des Nordens werden nicht mehr beschuldigt, mit dem Tod zu spielen, sondern sie werden bewundert, weil sie den Tod verachten, während die italiener der Gegenwart kriegsuntüchtig seien und keinen Heldenmut mehr hätten. Heroismus, Freiheitsdrang, Hingabe und Opferbereitschaft im Kampf werden den Nordländern gerade im Gegensatz zu den eigenen Landsleuten zugesprochen. Von

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Autoren wie Krantz und Ziegler erfahren die Italiener auch, welch wichtige Rolle die Piraterie in der Zivilisation der Wikinger spielte. Piraten seien auch Adlige und Königssöhne im Norden gewesen. 15 Was die vielen unglaublichen Wunder von Gewässern und Bergen ("molte co se maravigliose di acque e di monti") angeht, so meint der Historiker Giambullari, daß er sie lieber Saxo und den anderen Autoren des Nordens überlassen wolle. 16 Für die Dichter sind es dagegen gerade diese Wunder der nordischen Natur, die sie inspirieren, während die antiken Schriften über Nordeuropa nicht mehr die einzige Autorität sind, denn es sind von etlichen europäischen Historikern und Literaten neue Informationen zur Verfügung gestellt worden. Ein Teil der Istoriae des Historikers Paolo Giovio (1548) behandelt die entfernten Völker und enthält eine Descriptio Britanniae, Scotiae, Hybemiae et Orchadum. Federico Chabod zufolge sei schon in diesem Werk ein Hauch aus fernen Gestaden zu spüren, die bis dahin außerhalb des Interesses der italienischen Autoren geblieben waren und erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im Mittelpunkt vieler ethnographischer und geographischer Schriften stehen. Die klassischen Schemata der humanistischen Zivilisation und der Begriff der Barbarei seien schon bei Giovio in Frage gestellt worden. 17 Der Historiker hatte schon in einer früheren Schrift über die "Moschovia" (1525) die Fehler der antiken Autoren Strabo und Ptolemäus zum europäischen Norden korrigiert, indem er die Ryphei montes und die Hyperborei für fabulosi erklärt hatte. 18 Das kurze Werk Giovios wird nun in Venedig ins Italienische übersetzt (1545) und kommt dann im zweiten Band der Navigazioni et viaggi von Ramusio vor (1559). In der Descrizione di tutti i Paesi Bassi von Ludovico Guicciardini (1567) sind nordische Gelehrte die wichtigsten Autoritäten. Der Mathematiker und Kosmograph Rainer Gemma(Gemma Frisius), der mit Petrus Apian eine Cosmographia sive Descriptio universi Orbis geschrieben hatte, und Jacques de Meyer sind die neuen maßgebenden und angesehenen Autoren, auf die man sich beziehen kann, wenn man den Eindruck von Authentizität erwecken möchte. 19 Natürlich sind die IS P. F. Giambullari, Dell'istoria d'Europa, Torino 1869, Bd. 11, S. 126 f., zitiert in G. Costa, Le antichitii gennaniche. .. , a. a. 0., S. 58: "I popoli della Seondia ed i Norvegi massimamente, siceome i Dani vicini ad essi, eostumarono andar eorseggiando per la marina, e smontando talora in terra, predare ed ardere tutti i luoghi non bene atti a difendersi da loro eon le armi, od a rieompensarso eon grossa taglia. E pregiavansi tanto di questa eosa, parendo lor virtuosa e nobile, ehe ire, per farsi eorsali, rinunziavano molte volte i regni a' fratelli. E tenevasi molto piu onorato fra loro ehe andava predando i paesi altrui, ehe chi stava a reggere i propri; si eome largamente si pUD vedere non solamente in Sasso Grammatieo serittore dei Dani, ma in tutti quasi quegli altri, ehe serivono le storie delI' Alamagna e de' paesi di Tramontana." 16 Vgl. ebd., S. 58. 17 Vgl. F. Chabod, Scritti sul Rinascimento, Torino 1981 (1. Aufl. 1967), Bd. 11, S. 266 f. 18 P. Giovio, Pauli lovii Nuovocomensis libellus de legatione Basilii magni Principis Moschoviae ... , Romae 1525. 19 Vgl. G. Costa, Le antichitii gennaniche ... , a. a. 0., S. 65 f. und S. 72.

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IV. Die Wende

Zeugnisse der nördlichen Gelehrten gerade dann besonders aussagekräftig, wenn sie sich in Übereinstimmung mit antiken Überlieferungen befinden, wie im Fall der angeblichen Existenz der Meeresmenschen im nordischen Ozean, die sich mit der Tradition der Nereiden und der Tritonen vereinbaren läßt. Der Norden kann leichter rezipiert werden, wenn Parallelen mit der vertrauten Welt nachzuweisen sind. Der Geschichtsschreiber aus Venedig Paolo Paruta deutet in seinem Werk Della peifezione della vita politica (1579) die Keuschheit der germanischen Völker in

Nordeuropa als Zeichen von Stärke. Aber vor allem der Jesuit Giovanni Botero gibt in seinen Relazioni universali (1580) eine durchaus positive Darstellung der nordischen Völker. Er erkennt sogar bei den Inkas kulturelle Leistungen, die sie in vielerlei Hinsicht den Römern überlegen erscheinen lassen (Relazioni universali, parte prima, Bd. 11, III und IV)?O Die Menschen im Norden Europas sind keine ,Barbaren' mehr: Selbst diejenigen, die am äußersten Rande des Kontinents noch nicht christianisiert wurden, scheinen leichter für den, wahren Glauben' zu gewinnen zu sein als die Mohammedaner. Die Europäer des Mittelmeerraums entdecken nach dem Kontakt mit Kulturen in der ,neuen Welt' eine Verwandtschaft mit dem eigenen Norden, was ein Novum in ihrer Geschichte darstellt. Sie beginnen auch ernsthafter zu spekulieren, wie der Nordpol aussehen könnte. Der Kartograph Giacorno Gastaldi gibt 1562 seine mit selbstgezeichneten Karten versehenen Universale descrizione dei mondo heraus. 21 Am Nordpol ist eine riesige Insel zu sehen, wie man damals dachte. Gastaldis Freund Guillaume Postel stellte in der Tat auf diese Insel - ,unter dem besten Himmel', am Nordpol - den höchsten Berg auf Erden mit dem irdischen Paradies auf seiner Spitze. Nach der Sintflut waren seiner Meinung nach die Berge im Norden (" in Aquilonem ") die sichersten Orte gewesen, während das irdische Paradies selbst für Postel "locus aquilonaris" war. Die ersten Menschen hätten die Kälte dort leicht ertragen können, denn ihre Körper seien vollkommen gewesen. 22 In dieser Epoche der Rezeption oder gar Mode des Nordischen in Italien muß eine solche Theorie nicht allzu viel Aufsehen erregt haben. Auf jeden Fall wird der kalte Norden nicht mehr mit der Hölle in Verbindung gebracht.

20 Vgl. F. Chabod, /l Rinascimento, in: Ders., Questioni di storia modema, Milano 1947, S. 52. Der Historiker sieht in Boteros Äußerungen über die Kulturen anderer Kontinente das Zeichen einer großen kulturellen Wende: ,,11 che conduce ad una completa trasformazione di uno de' concetti piu caratteristici dei Rinascimento, che aveva in cio ripreso completamente la tradizione greco-romana, ripudiando quella medievale: il concetto cioe di "barbaro", nei sec. XIVe XVassunto ad indicare gli uomini che vivevano al di fuori di una ben specifica civilta, quella italiana-umanistica, ora invece assunto a designare solo coloro che vivono fuor della "dritta ragione" e quindi investito di un valore puramente razionale, e non piu storicamente determinato e fisso (G. Botero, Relazioni Universali, parte IV, I, III)." 21 G. Gastaldi, Universale Descrizione dei mondo, Venezia 1562. 22 Vgl. G. Postei, Cosmographicae disciplinae compendium, Basileae 1561, S. 24 f.

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Wenn Skandinavien im Laufe des 16. Jahrhunderts Teil einer ,europäischen Koine.23 wird, muß man das Hauptverdienst dem Schweden Olaus Magnus zuerkennen. Er vertritt mit größter Entschiedenheit als erster in Italien die Meinung, daß der nordische Erdteil eine eigene Würde besitzt und ihre partielle Alterität ein weiteres Zeugnis für die Güte und die vielfältige Schönheit der Schöpfung ist. 24 Selbst die extreme Kälte wird von Olaus als etwas Positives und Gesundes dargestellt, was bezeugt, wie gütig die Natur gegenüber den Menschen im Norden ist. 25 Noch vor der Veröffentlichung seines Hauptwerks läßt Olaus Magnus 26 1539 in Venedig eine große Carta marina, auch gothica genannt, drucken. 27 Diese Karte trägt einen Spruch aus dem Psalm XLVII (heute Psalm XLVIII, 3), nach dem der Herr seine Stadt in der Finsternis des Nordens gründete ("Magnus dominus in lateribus aquilonis fundavit civitatem suam U). Olaus hat also ein passendes bi23 V gl. L. De Anna, Mostri e alteritii in Olao Magno, in: I Jratelli Giovanni e Olao Magno. Opera e cultura tra due mondi, Atti dei Convegno Internazionale, Roma-Farfa, hrsg. von C. Santini, Roma 1999, S. 113: "questa parte dei continente sta divenendo a tutti gli effetti parte di una koine europea". 24 Vgl. ebd., S. 113: "Un Dio che, quando aveva creato quella parte dei mondo conosciuta come Settentrione, la aveva fatta non molto diversa da quella di cui Roma era stata capitale. La diversita, pur presente, non era, agli occhi di Olao, che un ulteriore elogio fatto alla bonta della Creazione." 25 Vgl. C. Frängsmyr, Olaus Magnus and the Nordic Climate, in: I Jratelli Giovanni e Olao Magno . .. , a. a. 0., S. 139 - 145. 26 Olaus Magnus wurde 1490 in Östergötland geboren. Nach dem Theologiestudium war er aus Anlaß einer Ablaßkollekte durch Nordschweden und Norwegen gereist. 1524 kam er nach Rom, um für seinen älteren Bruder Johannes die päpstliche Bestätigung der durch Gustav Wasa erfolgten Ernennung zum Erzbischof von Uppsala zu erwirken. In den nächsten Jahren war er mit seinem Bruder für Wasa in den Hansestädten und im Holland unterwegs. Als die Beziehung zum König, der die Lutheraner begünstigte, abkühlte, richteten sich die Brüder in Danzig unter dem Schutz von Sigismundus I. ein. Die Zeit in Danzig endete 1537 mit der Einberufung eines Konzils in Mantua, das wieder verschoben wurde. Die Brüder blieben als Gäste von Geronimo Quirino in Venedig, wo Olaus Magnus seine Carta marina drucken ließ. Nach dem Tode seines Bruders (1544) wurde er zum Erzbischof von Uppsala geweiht. Ab 1549 wohnte er als Verwalter der Brigittinnen bis zu seinem Tode im Jahre 1557 an der Piazza Famese in Rom. 27 Ein Exemplar der Carta marina wurde im Herbst 1962 der Universitätsbibliothek in Uppsala aus der Schweiz angeboten und wenig später erworben. Heute ist es in der Schausammlung der Bibliothek ausgestellt. In der Staatsbibliothek in München ist ein anderes, in Einzelblätter zerlegtes, Exemplar vorhanden. Eine phototypische Auflage davon ist erschienen: Olai Magni Gothi Carta Marina et descriptio septentrionalium terrarum ac mirabilium rerum in eis contentarum diligentissime elaborata, Anno Domini 1539 Veneciis, phototipice edita, Malmogiae in officina John Kroon, 1949. Vgl. auch E. R. Knauer, Die Carta Marina des Olaus Magnus von 1539. Ein kartographisches Meisterwerk und seine Wirkung, Göttingen 1981. Die Carta marina hatte einen sehr großen Einfluß auf die Kartenproduktion des späten 16. Jahrhunderts, wie Elfriede Regina Knauer dokumentiert hat. Bildliche Zitate sind in die Terza Loggia (oder Loggia della Cosmografia) des Vatikanischen Palastes und in die Kartendekoration der Sala dei Mappamondo im Palazzo Famese in Caprarola (1574) eingegangen.

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blisches Zitat gefunden, das den traditionellen und ,verbrauchten' Vers von Jesaia, nach dem der Satan seinen Sitz in den Norden gesetzt hatte (Jes., 14,14: "Ponam sedem meam in aquilonem "), zu neutralisieren vermag. Der Norden als Wohnsitz des Herrn und nicht des Teufels umfaßt mehrere ,nordische Länder' (Septentrionales Terrae), zu denen Olaus Magnus das heutige Friesland, Holland, England, Schottland mit den Orkneys und Hebriden, die Färöer-Inseln, Island, die Südspitze Grönlands, Norwegen, Schweden, Finnland, das Baltikum, Norddeutschland und Dänemark rechnet. Die Karte ist mit einem Begleittext versehen, dem der Autor im Juni und Juli des Jahres 1539 einen ausführlicheren italienischen ("Opera breve") und deutschen Kommentar folgen läßt. 1554 druckt Olaus dann die Geschichte aller Goten- und Svearkönige, die Historia de omnibus Gothorum Suenorumque regibus (1540) seines Bruders Johannes, die dann in Basel (1558) und Köln (1567) wieder gedruckt wird. Diesem Werk läßt Olaus seine eigene Historia de gentibus septentrionalibus folgen (1555). Zwei schwedische Geschichtsschreiber haben also den am längsten währenden Einfluß in Italien. Skandinavien wird somit zu einer großen Mode: Beide Werke der Brüder aus Uppsala werden rasch erneut gedruckt. Eine erste kurze italienische Fassung der Historia des Olaus, übersetzt von dem Florentiner Mönch Remigio Nannini, erscheint 1561 in Venedig 28 und gleich darauf wird die vollständige italienische Übersetzung herausgegeben, die genau dieselben 481 Kupferstichen der lateinischen Originalausgabe enthält. 29 Das Werk wird zu einem echten ,Bestseller' für die damalige Zeit. 30 Die Werke der schwedischen Brüder sind Auslöser für ein Umdenken bezüglich der Wahrnehmung des Nordens in Italien. Der Natürlichkeit, Schlichtheit, Sittlichkeit und Keuschheit der Menschen im Norden wird der unmoralische Luxus und der leere Pomp der Völker im Süden gegenübergestellt. Schon in der langen Praefatio des Werkes des Johannes Magnus stellt sein Bruder fest, daß die Völker des Nordens direkt von Noah abstammen 31 und mit der römisch-katholischen Kirche eng verbunden bleiben sollten, denn sie haben schon seit langer Zeit die Irrtümer und die Kultur der Dämonen zugunsten des wahren Glaubens verlassen (Historia Johannis Magni Gothi... , Praefatio: "cireiter annum salutis DCCCXVI exhortationibus inclinati, primum ab erroribus, & daemonum cultura gentes Saxonicas, atque Septentrionales ad veram Dei Opt. Max. cognitionem coelesti ac divino beneficio deduxerunt"). Es gibt für Johannes Magnus eine ,nordische Antike', die 28 Storia d'Glao Magno Arciveseovo d'Upsali de' eostumi de' popoli settentrionali. Tradotta per M. Remigio fiorentino. Dove s'ha piena notitia delle genti della Gottia, della Norvegia, della Suevia e di quelle ehe vivono sotto la tramontana, Vinegia 1561. 29 Historia delle genti et della natura delle eose settentrionali da Glao Magno descritta in XXII libri nuovamente tradotta in lingua toscana, Vinegia 1565. 30 Vgl. A. Perelli, Olaus Magnus' history and Torquato Tasso's Torrismondo, in: Tra testo e contesto. Studi di scandinavistica medievale, Eight International Saga Conference, Göteborg 11-17 agosto 1991, Roma 1994, S. 13. 31 Vgl. J. Magnus, Praefatio, in: Ders., Historia de omnibus Gothorum Suenorumque regibus, Romae 1554.

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viel älter als die römische ist (Historia Johannis Magni Gothi. .. , I, 3: "Septentrionalia regna J08 annis ante ltaliam habitatafuerunt"). Selbst Rom wurde letztendlich von den Goten aus dem Norden besiegt, kein grausames Volk, sondern einfach ein sehr tapferes (Historia Johannis Magni Gothi. .. , VI, 2: "Gothi Romanorum exercitum projligant"; XI, 2: "Gothi nulla iniuria Romanos affecerunt"; XII, 11: "Gothi a crudelitate alieni"; XIII, 3: "Gothi insignia lmperatoris capiunt"). Der biblische Spruch, nach dem der Satan seinen Sitz im Norden habe, wird durch den Hinweis auf die Bekehrung der nördlichen V6lker durch den gerechten König Erik relativiert. Der Norden sei schon zu dieser Zeit von der Tyrannei des Teufels befreit worden, daher lebten die Menschen im Norden bereits seit langer Zeit nicht mehr in der Finsternis (Historia Johannis Magni Gothi... , 1111, 31): Ericus regnabat, et leges condendo iusta decemebat: per ipsum facta est pax hominibus bonae voluntatis: per ipsum, immo in ipso populus gentium Septentrionalium, qui ambulabat in tenebris, vidit lucem magnam: denique per ipsum liberata est civitas Aquilonis ab illius tyrannide, qui dixit: Ponam sedem meam in Aquilonem, et similis ero Altissimo.

Es gibt keine Grenze, die eine ,nördliche Region' der Welt von einer südlichen trennt, sondern eine entscheidende kulturelle und religiöse Differenz grenzt den Westen vom Osten ab. Karelien stellt die Grenzregion dar, denn sie befindet sich zwischen den Goten und Schweden auf der einen Seite und den Moskowitern auf der anderen. Sie scheidet also ,unsere lateinische, europäische Welt', zu der Skandinavien wie Italien vollberechtigt gehört, von der ,anderen, griechischen, skythischen und asiatischen Welt' (Historia Johannis Magni Gothi. .. , Praefatio, V: "Care/ia: quae est confinis regio duarum maximorum principatuum, videlicet Suenum & Moscovitarum, Latinorum & Graecorum, Scandianorum & Scytharum Asianorum "). Die Gegenüberstellung von Europa und Asien, der christlichen Welt und den Ungläubigen, vertritt auch Olaus Magnus, der auf dieselbe Art und Weise für seinen tugendhaften ,europäischen Norden' wirbt. Sein Werk spielt eine noch wichtigere Rolle in der Wahrnehmung der Länder des Nordens in Italien als das Werk seines Bruders. Schon die Überschrift der Opera breve, die die Carta marina illustriert, zeigt, wie Olaus Magnus, der sich selbst "Olao Magno Gotho" nennt, dem Publikum den Stoff seines Werks präsentieren will: 32 Opera breve, la quale demonstra, e dechiara, overo da il modo facile de intendere la charta, over delle terre frigidissime di Settentrione: oltra il mare Gerrnanico, dove si contengono le cose mirabilissime de quelli paesi, fin'a quest'hora non conosciute, ne da Greci, ne da Latini.

Immer wieder betont Olaus, daß er sich mit der Geographie der nordischen Reiche beschäftigen will und über die sehr kalten Länder von "Settentrione" schreibt, die sich jenseits des Oceanum Germanicum befinden. Immer wieder bedient er sich Steigerungsformen, sowohl für die besondere Kälte ("frigidissime") als auch 32 o. Magnus, Opera breve, Vinegia 1539. Der Text ist anastatisch gedruckt in Anschluß an: H. Richter, Olaus Magnus Carta Marina 1539, Stockholm I Göteborg I Uppsala 1967.

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für all das, was dort so bewundernswert ist ("le cose mirabilissime de quelli paesi"). Mehrmals wiederholt er, daß alles, was er schreibt, sowohl den Griechen als auch den Römern völlig unbekannt geblieben ist. Er versteht sich wohl als der erste, der die unerforschte Welt am nördlichen Rand Europas den Kulturzentren der Zeit bekannt macht. Olaus Magnus bezieht sich dabei meist auf diejenigen klassischen Autoren, die auch von allen anderen europäischen Gelehrten zitiert werden, auf seinen Bruder oder auf Saxo Grammaticus, Albert Krantz (Chronica Regnorum Aquilonarium) und Irenicus (Exegesis Germaniae), die ihrerseits von der klassischen Kultur geprägt waren. Im Prinzip geht es ihm also darum, die nordische Kultur in der klassischen zu verankern und vor dem Hintergrund verschiedener klimatischer Bedingungen die Parallelen und Gemeinsamkeiten der Traditionen zu erörtern. Den Italienern wird somit ein Bilderbuch über die Länder des Nordens zur Verfügung gestellt, in dem er Folklore, Wissen aus der klassischen Tradition, aktuellere Informationen, mirabilia und direkte Erfahrungen ("fui et vidi") miteinander vermischt, immer mit dem Ziel, die Einheit aller Christen zu verfolgen. Die Geschichte des Nordens kann nun von den Gelehrten in Italien aufgenommen werden, weil sie von Olaus mittlerweile ,latinisiert' wurde. Der christliche Glaube gilt als das, was zwei verschiedene und voneinander unabhängige Traditionen verbindet. Olaus versucht, die nordischen Länder bekanntzumachen, um zu beweisen, wie stark das geeinte christliche Europa (in unitatem ecclesiae) im Krieg gegen das nichtchristliche Asien sein könnte. In der Widmung der Opera breve an den Venezianer Dogen Pietro Lando verspricht er diesem eine große Hilfe durch die zum Krieg bereiten Nordländer. Die Konstruktion des Nordens bei Olaus ist so kompliziert, die Mischung von Elementen so verwoben, daß es unmöglich ist, das Reale von der Imagination zu trennen. 33 Dem monströsen Bestiarium der antiken und mittelalterlichen Autoren gewährt Olaus Einlaß. Ganz im Sinne der sensus spiritualis der christlichen Tradition sieht der gelehrte Erzbischof in den Seeungeheuern (monstra marina, die meist der Walfamilie angehören) monströse Ausgeburten der Häresie oder wundersame Werke des Schöpfers. Er betont gleichwohl, daß der Norden eine eigene Schönheit besitzt, die anders als die der italienischen Landschaft ist. Er zitiert den Hl. Augustinus (De civitate Dei, XI, 22), um darauf hinzuweisen, daß nichts in der Natur zu verachten sei, selbst wenn der Zweck vieler Sachen vom Menschenverstand nicht erkannt werden könne. Viele Merkmale des Nordens, die den klassischen Schönheitsidealen nicht entsprechen, seien ein Zeichen der divina providentia: Sogar die Ungeheuer im Norden hätten ihre Existenzberechtigung und ihren Sinn. Unter Berufung auf das Prinzip varietas fastidium levat wird somit die Besonderheit des Nordens hervorgehoben und gepriesen (Hist., XXII, 22). 33 Seine Eiche (sylvestres onagri, alces) zum Beispiel sind reale und gleichzeitig phantastische Tiere, denn der Autor hat sie mit eigenen Augen gesehen und spricht ihnen doch Eigenschaften zu, die er wiederum in seinen Quellen gelesen hat und die nicht der Realität entsprechen, wie zum Beispiel, daß sie sich an Bäume stützen, um zu schlafen.

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Mit der Verherrlichung der nordischen Natur lobt Olaus aber auch seine Landsleute, vor allem die Goten der Vergangenheit. In der Historia de gentibus septentrionalibus sind die V61ker des Nordens permanent als einfach, schlicht, sittsam und tapfer dargestellt und den Italienern mit ihrer Liebe für Luxus und extrem raffiniertes Leben gegenübergestellt. Die Tugend der Menschen im Norden erlaube es ihnen nicht, nackte Frauen abzubilden. Je nördlicher, desto besser, scheint Olaus zu meinen. Er idealisiert die nicht vollkommen christianisierten Lappen, die kein Geld kennen und deswegen wie in einem goldenen Zeitalter leben. Olaus akzeptiert den Spruch nicht, daß das Böse aus dem Norden kommen wird (Jer., 1, 14: "Ab aquilo pandetur malum "). Seiner Meinung nach könnten dagegen viele neue Impulse, Disziplin und reine Sitten aus dem Norden kommen. Die passende biblische Stelle findet er bei Job, 37,22, in der vom Gold aus dem Norden die Rede ist. Für Olaus ist das Gold allegorisch zu verstehen, als Sinnbild für Tugend und Reinheit. Er wünscht sich eine moralische Erneuerung aus seinem nordischen Land, das sich eigentlich mit Gustav Wasa in die Reformation gestürzt hatte. Olaus glaubt nicht, daß die Annahme des Protestantismus in Skandinavien eine endgültige Entscheidung ist. Daher stellt er seine Landsleute als Anhänger der römischkatholischen Kirche den orthodoxen Russen gegenüber. Obwohl Schweden schließlich nicht zum Katholizismus zurückkehrte, übte Olaus' Darstellung der nördlichen Tugenden und der Reinheit der Sitten im Norden einen dauerhaften Einfluß auf die Literaten Italiens aus. Den Anhang, in dem er tabellarisch die Ähnlichkeit von einigen italienischen und lateinischen Vokabeln mit gotischen Vokabeln zeigt, versteht er als einen Beweis dafür, daß die Goten nicht aus Asien stammen, sondern - wie die Römer - aus Europa. Die Gemeinsamkeiten innerhalb der europäischen christlichen Welt werden damit noch einmal in Abgrenzung zu Asien betont, und die Voraussetzung für die Aufnahme des Nordens in die italienische Kultur ist vollbracht. Wenn man nun den langen alphabetisch geordneten Index rerum et Jactorum memorabilium, quae in praesenti De gentibus & rebus Sepentrionalibus volumine continentur durchblättert, der sowohl der lateinischen als auch der italienischen Ausgabe der Historia beigefügt ist, hat man eine vollständige Liste von Motiven, die von italienischen Dichtem aufgegriffen werden, eine regelrechte Topik, die zur Verfügung steht. Torquato Tasso und sein Freund Orazio Ariosti bedienen sich reichlich dieser Topik, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Als Beispiel seien einige Stichwörter genannt. Skandinavien wurde wegen seiner Größe und seiner besonderen Merkmale für eine ,andere Welt' gehalten ("Alter orbis Scandia insula vocata"). Dort sind verschiedene Reiche zu finden ("Regna aquilonaria distineta "). Die Natur dieser Welt des Nordens wird durch den Frost (" Terra in saxeam duritiem congelatur") und die Gewalt der Elemente (" TemperamentumJrigoris "; "Temporum contrarietates Jormidabiles ") als rauh, aber nicht als lebensfeindlich dargestellt. Es ist kalt ("Septentrio maiore Jrigore laborat, atque alienae nationes, & qua re "), vor allem in einigen Teilen ("Zona Jrigida "), aber es gibt dafür Wasser mit Fischen im Übermaß ("Aquarum abundantia ex nivibus"; "Piscium

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ubertas"); die Winde sind sehr stark, aber heilsam (" Ventus equitem prostemit"; "Venti in aquilone continui"; "Turbinis effectus mirabilis"; "Ventus septentrionalis saluberrimus "); der Frühling kommt spät, aber er kommt (" Ver floridum in aquilone tardatur"; "Terra clarescit"), und man freut sich sehr auf die Sonne, wenn man sich vom Winter verabschiedet ("Sol rediens in septentrione tripudijs excipitur"; "Ritus aquilonarium hyemis fugandae "). Phänomene wie Seestürme und Gewitter mit lautem Donnern (" Tonitrua portentosa in hyeme"; " Tonitrua durissima ab aquilone ") und Geräuschen, die aus überfluteten Höhlen zwischen Felsen ertönen (" Tempestas horrenda "; "Tempestas in mari"; "Tempestas tonitruis plenaformidabilis"; "Sonus vehemens infundo aquarum gignitur"; "Sonus vehementissimus in specu"; "Soni vehementi horror"; "Saxa velut muri sub aquis latent"; "Antra cavemosa sub aquis"), gewaltige Ströme mit Wasserfällen ("Torrentes rapidi"; "Aquae ex sublimiori loco cadentes, magnum sonum excitant") und Naturwunder wie drei Sonnen ("Soles tres apparuere") und Dämpfe aus der Erde (" Vapores in hyeme ac vere expelluntur") runden das Bild der nordischen Natur ab. Die Menschen im Norden werden als besonders tapfer, kriegerisch und widerstandsfähig beschrieben ("Septentrionales fortiter et audaciter pugnant"; "Septentrionales minus scribunt, ac fortius agunt"; "Suenos ac Gothi durissimi"), die in der Lage sind, perfekt zu schwimmen und im Wasser zu kämpfen (" Gothi ac Germani excellentiores potatores"; "Gothi in aquis praeliantur"). Unter den Nordländern weisen vor allem die Goten Kampfeslust auf (" Gothorum voluptas arma tractare"), aber alle verachten den Tod ("Mortis contemptores aquilonares"). Unter den Kampftechniken spielt das Bogenschießen eine überragende Rolle (" Gothi et Massagethae peritissimi sagittarii"), vor allem im äußersten Norden ("Sagittarum vis"; "Telorum in Biarmia acer usus"). Die Knochen der Toten auf dem Feld bieten ein erschreckendes Spektakel, das Eindringlinge davon abhält, sich in die Regionen des Nordens zu wagen ("Mortuorum ossa accedentes terrent"). Auch die Frauen tragen im Norden Waffen ("Sexus uterque in septentrione armatus") und werden von Kindheit an darin ausgebildet ("Foeminae acunabolis in armis educatae "). Als weiteres wichtiges Merkmal der nordischen Frauen wird ihre feste Keuschheit genannt ("Castimoniae rigor"; "Mos pudicarum mulierum"; "Virginum habitus pudicissimus"), die mit ihrer Kraft und Kriegsbereitschaft verbunden ist ("Pudica puella praedatrix"; "puella pugnans"; "Puellarum aquilonarium vis"), und manchmal auch mit der Piraterie (" Viros exercitio piratico Alvilda superat"). Die Sittsamkeit der Frauen verhindert nicht den Frauenraub ("Raptus virginum "), der im Norden manchmal mit der Ehe endet (" Connubium legale captivatae virginis principi conceditur"). Zu den antiken ,nordischen Tugenden' gehörte schon immer die Schlichtheit (" Simplicitas antiqua in aquilone "). Die nordische Welt hat nicht nur eine eigene Urgeschichte, die mit den griechischen Mythen Gemeinsamkeiten hat (" Gigantes septentrionales"), sondern auch eine eigene antike Kultur, bezeugt durch ein eigenes Alphabet, das älter als das römische sein soll ("Literae Aquilonarium antiquio-

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res Latinis "). Ruinen edler Burgen sind Zeugnisse einer ruhmreichen Vergangenheit ("Aranes olim nobilissima arx"). Aus dem Norden kommen viele Herrscher und Gründer von Königreichen ("Regna 34. ab aquilonaribus Jundata"), und die Goten herrschten sogar über Italien ("Gothi in ltalia dominabantur"). In vorchristlicher Zeit haben sie ihre Philosophien wie die Völker des Mittelmeers entwickelt ("Gothi excellentius sapientiae studuerunt"; "Gothi immortalitatem tenuere"; "Pythagorica philosophia"; "Salmoxis daemon Gothorum") und magisches Wissen gepflegt, das Hexen noch in der Gegenwart besitzen ("Striges"). Eigene Götter hatten die Völker im Norden vor der Einführung des Christentums auch, und sie widmeten ihnen große und schöne Tempel (" Templa idolorum"; "Templa magnificentissima "; "Templum auro splendidum "). Einige Bäume können im Norden nicht wachsen (" Vina nativa non sunt in aquilone "), aber dafür gibt es in größter Vielfalt andere Pflanzen und Fruchtbäume ("Arbores fructiferae in septentrione "; "Arborum diversitas in septentrione "). Darüber hinaus gibt es spezielle nordische Tiere wie die Wale, die wegen ihrer übermäßigen Größe mit Inseln verwechselt werden ("Balenarum magnitudo"; "Balena insula natans creditur"), und die schnellen Rentiere ("Rangiferi sylvestres & domestici"; "Velocitas mira rangiferorum"). Die Andersartigkeit des Nordens bietet letztendlich Vergnügen, nach dem Prinzip, daß Vielfalt die Langeweile vertreibt (" Varietas fastidium levat "). 3. Die Navigationi et viaggi von Ramusio. ,Unser Norden' und die andere Hemisphäre Die Werke der Brüder Olaus und Johannes Magnus haben zwar die größte Wirkung, aber auch andere Werke über die Länder am nördlichen Rande Europas werden in Italien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt. Der in Venedig tätige Giovanni Battista Ramusio, Diplomat und Bibliothekar, mit Andrea Navagero, Gerolamo Fracastoro, Pietro Bembo und vielen Gelehrten in ganz Europa befreundet, sammelt Reiseberichte auf italienisch und Übersetzungen von Werken über den Norden Europas, die nach seinem Tode im zweiten Sammelband Navigazioni et viaggi von seinem Sohn Paolo Ramusio herausgegeben werden (1559).34 Ramusios Übersetzung des Briefes aus Rußland von Albert Pigghe aus Kampen an Papst Adrian VI. und die 1545 erschienene italienische Version der Schrift des Historikers Paolo Giovio über Rußland sind darin enthalten. Die Legenden von Anthropophagen, Amazonen, Monstren und Wilden im Nordosten Europas sind für immer zerstört?5 In der Tat tragen die Herzöge der Moskowitern seit 1547 34 Der zweite Band über Nordeuropa kommt aufgrund eines Brands im Verlagshaus erst drei Jahre nach der Erscheinung des dritten Bandes über die neuentdeckte Welt heraus. 35 Innerhalb Europa gibt es laut aller Kosmographien der Zeit keine monströsen Völker mehr. Cynocephali, Monoculi und kopflose Menschen sind in Afrika in der Trogloditica regio zu finden, einäugige Arimaspen und Sciapoden, Astomaten und Pygmäen in verschiedenen

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einen königlichen Titel. Vor allem aber ist in dem zweiten Sammelband ein interessanter apokrypher Reisebericht enthalten: Viaggio dei magnifico messer Pietro

Quirino gentiluomo viniziano, nel quale, partito di Candia con malvagie per ponente {'anno 1431, incorre in uno orribile e spaventoso nauJragio, dei quale alta fine, con diversi accidenti campato, arriva nelta Norvegia e Svezia, regni settentrionali. 36 In diesem Reisebericht wird nicht nur von der ,Wut' des Meeres und der Winde im Norden ("la rabbia deI mare e dei venti", "il furor deI vento e deI mare") gesprochen, sondern vor allem von dem Licht und den langen Tagen im Sommer und von den wunderschönen schneeweißen Hermelinen, Vögeln und Bären, von der Naivität ("innocenzia", "purita") und Großzügigkeit der Menschen in den borealen Reichen Norwegen und Schweden. Immer wieder wird daran erinnert, daß diese Menschen nicht nur Christen sind, sondern zudem besonders fromm und sittsam. Sie seien bereit, Gott zu loben und sich bei Ihm zu bedanken, selbst wenn ein Angehöriger stirbt. Sie seien extrem genügsam, von Einfachheit geprägt, frei von Unzucht und Gier. Die Nacktheit erwecke keine Fleischeslust in einer so kalten Region, die für Lüsternheit nicht geeignet ist. Die Nordländer hätten deswegen für die eigenen Töchter nichts zu befürchten: Selbst die italienischen Gäste dürfen ohne Verdacht in demselben Raum mit den Frauen einer einheimischen Familie schlafen. Sie hätten in ihrer Reinheit und Unschuld keine Scham und keine Angst, auch wenn sie nackt zum Baden aus dem Haus gingen. In dieser idealisierten Welt wird auch der Autor zu einem unschuldigen kleinen Kind und der paradox klingende Schluß ist für ihn, daß der Norden wie ein Paradies sei. Das komme einer Schande für Italien gleich: "Veramente possiamo dire che dal di 3 febbraio 1431 insino alli 14 di maggio 1431, che sono giorni cento e uno, esser stati nel cerchio deI paradiso, ad obbrobrio e confusione de' paesi d'ltalia.,,37 In der zweiten Ausgabe des zweiten Bandes (1574) kommen noch die italienische Übersetzung der Rerum Moscovitarum Commentarii von Sigmund von Heberstein (Venedig 1550) und ein weiterer Text hinzu, den 1558 der Venezianer Nicolo Zeno als Bericht von einer im Jahre 1380 vermeintlich unternommenen Reise der Brüder Niccolo und Antonio Zeno hatte drucken lassen. Dem Werk ist eine Karte Nordeuropas beigelegt, die bis in das 18. Jahrhundert hinein als Vorlage für fast alle Kartographen dient. Der Titel des Reiseberichtes lautet: Delto scopri-

menta dell'isola Frislanda, Eslanda, Engrovelanda, Estotilanda et lcaria Jatto sotto il Polo Artico, da due Jratelli Zeni, Messer Nicolo il cavaliere e Messer Antonio, Libro uno, Con un disegno particolare di tutte le dette parti di tramontana

Regionen Asiens. Halbnackten, grausamen Menschenfressern begegnet man in der neuen Welt. Vgl. zum Beispiel: P. Apianus, Cosmographia ... , Coloniae Agrippinae 1574, S. 28 ff. 36 G. B. Ramusio, Navigazioni e viaggi, hrsg. von M. Milanesi, Torino 1994-2001, Bd. IV, S. 47 -98. Dieser Text wurde auch von Cesare De LoUis erwähnt. Vgl. C. De LoUis, Cervantes reazionario e altri scritti d'ispanistica, hrsg. von S. PeUegrini, Firenze 1947, S. 169 ff. 37 G. B. Ramusio, Navigazioni e viaggi, a. a. 0., Bd. IV, S. 94.

3. Die Navigationi et viaggi von Ramusio

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da lor scoperte. Dieser Text spricht mit Bewunderung von den reichen und dicht bevölkerten Ländern und Inseln im Norden. Diese seien zum Teil sehr fruchtbar, und es gäbe viele wunderschöne, reiche Städte und Burgen, in denen Latein gesprochen werde. Es wird von tapferen und gütigen Fürsten, von Kriegen und Entdeckungen in diesen Ländern berichtet. "Estotilanda" und "learia" könnten das heutige Neufundland sein, "Engrovelanda" Grönland, "Eslanda" oder "Estlanda" die Färöer-Inseln, während das rätselhafte "Frislanda" ("che e isola molto maggiore che Irlanda") und die vielen "Islande" Island und den Shetland-Inseln entsprechen könnten. Der dritte Band des Werks Navigationi et viaggi von Ramusio, der im Jahre 1556 vor dem zweiten erscheint, wird durch ein Vorwort von Giovanni Battista Ramusio selbst eingeleitet. Drei Jahre zuvor hatte er diese wichtige, seinem Freund Girolamo Fracastoro gewidmete Einleitung geschrieben?8 Er erinnert an den Mythos der Insel Atlantis, um zu zeigen, daß schon in ältester Zeit viele Menschen aus dem atlantischen Ozean ins Mittelmeer kamen. Es sei unvernünftig zu denken, es gäbe große Teile der Erde, der schönen "fabrica deI mondo", die unbewohnt und öde seien. Ramusio bringt die Entdeckung des vierten Teils der Welt mit der Entdeckung der bewohnten Länder in Nordeuropa und in den Regionen südlich des Äquators in Verbindung. In der Antike sei das geographische Wissen unzureichend gewesen. 39 Man habe deswegen nicht gewußt, daß auf der ganzen Erde - im Norden wie am Äquator - Menschen mit derselben Bequemlichkeit wie in der gemäßigten Zone lebten: ... siamo chiari come sotto la nostra Tramontana e sotto la linea deli' equinoziale vi siano abitatori, e che vivono cosi commodamente come fanno l'altre genti nel rimanente dei mondo, la qual cosa gli antichi negarono. 40

Ramusio findet, daß die Sonne einen wunderschönen und wunderlichen Effekt an den Polen und an der Linie des Äquators verursacht. Gott, "supremo e divino Fabricatore", habe alles mit höchster Kunst geschaffen und alles so gewollt, wie es ist: daß am Äquator die Tage und die Nächte immer zwölf Stunden dauern und daß in den Regionen, die den Pol als Zenit haben, ein sechs Monate andauernder Tag existiert (vom 25. März bis zum 8. September), so daß die Sonne alle zwölf Zeichen des Tierkreises in nur einem Tag und einer Nacht durchläuft. Für Ramusio ist die Tatsache etwas wirklich Erstaunliches und Wunderbares ("cosa veramente stupenda e meravigliosa"), daß, wenn ,wir' in Italien Sommer haben, die Menschen 38 G. B. Ramusio, Discorso di messer Gio. Battista Ramusio sopra il terzo volume delle Navigazioni e Viaggi nella parte dei mondo nuovo, in: Ders., Navigazioni e viaggi, a. a. 0., Bd. V,S.5-17. 39 Ramusio ist wie sein Freund Tommaso Giunti der Meinung, daß man nicht mehr Ptolomäus, Strabo oder Plinius lesen sollte, wenn man zuverlässiges geographisches Wissen sucht. Die Wende, die stattgefunden hat, ist klar, auch wenn Ramusio im Gegensatz zum mit Kopernikus befreundeten Girolamo Fracastoro noch am geozentrischen System festhält. Vgl. M. Milanesi, lntroduzione zu: G. B. Ramusio, Navigazioni e viaggi. .. , a. a. 0., S. XXXI ff. 40 G. B. Ramusio, Discorso di messer Gio. Battista Ramusio ... , a. a. 0., S. 7.

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IV. Die Wende

,unseres Nordens' den ,langen Tag' haben ("quando noi abbiamo la state, quelli che son sotto la nostra Tramontana hanno il giorno di detti sei mesi"), während, wenn ,wir' Winter haben, die ,lange Nacht' in ,unserem Norden' vorherrscht ("e quando e il verno presso di noi, sotto la nostra Tramontana e la notte di detti sei mesi"). Im Rahmen dieser Kosmographie ist der Norden ,unser', weil er zu derselben Erdhälfte wie Italien gehört, wobei die südliche Halbkugel, die Antarktis, die unbekannte und fremde Welt darstellt. Die lange Nacht im Norden Europas ist nicht mehr so erschreckend: Ramusio betont, die Finsternis sei nicht total. Die Menschen bräuchten sich nicht wie Maulwürfe unter der Erde zu verstecken, sondern würden immer mit einem bißchen Licht beschenkt und führten ein ganz normales Leben: ... la notte. La qua1e, aneorehe sia eosl lunga e di tanto spazio di tempo, non e pero di eontinue e oseurissime tenebre; ma il sole fa il suo eorso eon tal ordine ehe gli abitanti nella detta parte non eome talpe vivono sepolti sotto terra, ma eome l' altre ereature ehe sono sopra questo globo terreno vengono i1Juminate, SI ehe possono benissimo sostenersi e riparare la loro vita; percioehe il eorpo solare non dec1ina mai ... ma va di continuo girando attomo, SI ehe i suoi raggi, pereotendo il eielo, rappresentano a loro quella sorta di luee eh'abbiamo noi qui la state due ore avanti ehe 'I sole lievi. 41

Für Ramusio ist klar, daß die Menschen, die im Norden leben, für das dortige Klima geeignet sind: Ihnen wurde von Gott die richtige Körperbeschaffenheit geschenkt, die sie brauchen, um sich in ihrem Klima wohl zu fühlen. Gott, als "fattore di cosi bella e perfetta fabrica che sono i cieli, il sole e la luna", wolle nicht, daß der Lauf seiner Sonne umsonst ist. Daher erlaube er nicht, daß es Orte gibt, die ausschließlich von Meer, Eis und Schnee bedeckt sind. Überall auf der Erde müsse es Menschen geben, weil sie die höchsten Geschöpfe Gottes seien, in ihnen komme die Perfektion der Schöpfung zur Geltung. Ramusio verweist auf die Historia des Olaus Magnus, um Informationen über die unendlichen Völker "sotto la nostra Tramontana" zu erhalten, und drückt noch einmal seine Bewunderung für die Vielfalt ("varieta") der Welt aus. Eine solche Vielfalt erscheine dem kleinen menschlichen Geist unverständlich und rätselhaft; sie sei jedoch der Ausdruck einer höheren ewigen Harmonie. 42 Ramusio zufolge darf der Welt in ihrer Vielfalt nichts fehlen, sonst würde diese perfekte Harmonie in Chaos zusammenbrechen. Der Norden müsse so geschaffen sein, wie er eben ist, mit dem langen Tag und der langen Nacht. Die alten Philosophen hätten sich trotz ihres Wissens geirrt, als sie sich einen Norden vorgestellt haben, in dem es dem Menschen wegen der Kälte nicht möglich sei zu leben. Eine derartige Meinung sei eine Beleidigung gegenüber dem allwissenden Schöpfer ("perfetto maestro"). Der Begriff der sanften amoenitas eines Klimas, das weder Hitze und Dürre noch Kälte und Nässe kennt, greift in der Ebd., S. 7 f. Vgl. ebd., S. 9: "La qual varieta e fatta eon tanta armonia e eonsonanza, e eon una legge eosi immutabile e perpetua, ehe ogni pieciol punto ehe vi maneasse si dubiteria ehe tutti gli elementi si eonfondessero insieme e ritomassero nel primo eaos." 41

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3. Die Navigationi et viaggi von Ramusio

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zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu kurz. Die ganze Natur mit den außergewöhnlichsten Phänomenen erregt Verwunderung. Die Vorstellung der Perfektion der Erde als Gottes Schöpfung bringt es mit sich, daß jeder Teil der Erde an dieser Perfektion Anteil hat. Daher darf kein Ort der Erde wegen seiner Hitze oder seines Frosts als mangelhaft, unangenehm oder gar schlecht verurteilt werden: ... si conosca chiaramente quanto tutti gli antichi filosofi con le lor sapienze e gran speculazioni si siano ingannati, pensando che la fabrica di questo mondo, fatta in ogni sua parte con si mirabil disposizione e da cosi perfetto maestro, fosse la meta sotto il mare, difforme e guasta, e per il caldo e per il gielo inabitata. 43

Für Ramusio ist der Norden der eigenen Hemisphäre im großen und ganzen erforscht. Das einst Fremde, das Unheimliche sei zu etwas Bekanntem und Vertrautem geworden. Nun sei es wichtig, den anderen Teil der Welt zu entdecken, die Antarktis ("discoprir l'altra parte della terra verso l' Antartico,,).44 Dies wäre die größte und ruhmreichste Tat, die man sich überhaupt vorstellen kann ("veramente questa sarebbe la maggiore e piu gloriosa impresa che a1cuno imaginar si potesse"). Er verweist aber auch auf den gescheiterten Versuch Sebastiano Cabotos, den femen Orient durch das nördliche Meer zu erreichen, in der Annahme, es sei nicht immer vom Eis bedeckt. Das Unterfangen müsse man noch einmal versuchen. 45 Der Norden Europas sei zwar vertrauter geworden, aber es gäbe immer noch etwas zu entdecken und zu erforschen. In den Versen der Tragödie Medea von Seneca, die voraussagen, daß Thule nicht mehr das letzte Land der Welt sein wird, sieht Ramusio das Zeichen eines ,,furor poetico", einer prophetischen Inspiration. Seneca habe die Vorahnung der Entdeckung Amerikas und der Erweiterung der Horizonte der antiken Welt gehabt. Ramusio liefert den lateinischen Text und seine eigene italienische Übersetzung. In beiden Texten wird nicht, wie in den modemen Ausgaben, die Meeresgöttin Thetis erwähnt, sondern der Seemann Thyphis, wie in der Version des Kolumbus, der sich als Nachfolger von Thyphis verstand. 46 Auch Torquato Tasso denkt an Kolumbus als neuen Thyphis. Für beide, Ramusio und Tasso, ist die Weltgrenze der Antike nicht mehr gültig, denn sie ist überschritten worden. Das, was ein römischer Dichter nur ahnen konnte, sei nun Realität geworden, meint Ramusio. Die sagenhafte Insel "ultima Thule" hat damit letztendlich ihr Epitheton verloren: Sie befindet sich nicht mehr am Rande der Welt und hat deswegen ihre Funktion als Inbegriff der äußersten Nördlichkeit verloren. Andere unerreichte Ziele und metaphorische Räume stehen jedoch bereit: Wenn eine Grenze überschritten wird, soll eine weitere Grenze überschritten werden. Wenn der Norden gänzlich erforscht sein wird, wird man den Rest des Landes der Antipoden im Süden entdecken müssen. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. 45 Eine englische Expedition mit dieser Absicht scheiterte wegen der Kälte auf der KolaHalbinsel in demselben Jahr, in dem Ramusio seine Rede verfaßte. 46 Vgl. L. De Anna, Le isole perdute e le isole ritrovate... , a. a. 0., S. 130 f. 43

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IV. Die Wende

Ramusio ist mit seinen Ideen über die Vollkommenheit der Welt und die Notwendigkeit der Erforschung unseres Planeten nicht allein: In allen Kosmographien der Zeit wird festgestellt, daß jeder Teil des von Gott geschaffenen Weltbaus perfekt ist und darin die Gottheit des Schöpfers leuchtet. In jeder Kosmographie gehört die Nordhälfte der Erde zur eigenen Welt, wobei die Südhälfte als entgegengesetzter Teil des Planeten als der versteckte ,andere' Teil der Welt dargestellt wird. Der Mathematiker Francesco Barozzi, der seine Cosmographia in quattuor libri divisa (1585) dem Herzog von Urbino und Gönner Torquato Tassos Francesco Maria della Rovere widmet, macht es klar ("Alter. .. quem non videmus, Antarcticus nuncupatur, idest Arctico oppositus, quoniam in altera mundi parte... dicitur etiam respectu nostri Meridionalis,,).47 Barozzi faßt folgendermaßen die zwei Hemisphären zusammen: "Polus noster cur Arcticus, Septentrionalis Borealisque dicatur" und "Alter polus cur Antarcticus, Meridionalis, & Australis vocatur". Der Norden Europas kann vor diesem Hintergrund nicht mehr ein alter orbis sein, da die nördliche Hemisphäre dieselben einundzwanzig boreales imagines coelestes besitzt, während es eine südliche Hemisphäre gibt, die einen eigenen Pol und einen eigenen Himmel mit eigenen Sternen (fünfzehn imagines australes) hat. 48 Diesem Teil der Erde steht letztendlich der Name alter orbis zu. In der südlichen Hälfte der Welt leben die Antipoden, die Nacht erfahren, während ,bei uns' Tag ist, die Winter haben, während ,bei uns' Sommer ist. Das ist nun der Raum, der für Alterität steht. Dort ist alles gegensätzlich und umgekehrt ("Antipodes sive Antichtones sunt illi habentes unus versus alterum plantam pedum conversas & praeter horizontem nihil est commune, sed omnia opposita & est contrario . .. quando nobis meridies, illis est media nox,,).49 Die Menschen in diesem südlichen Teil der Welt haben außer dem Horizont nichts mit ,uns' gemeinsam. Doch eine Gemeinsamkeit bleibt: der Horizont eben, der nicht erlaubt, von einer absoluten Alterität zu sprechen. Auch der Kosmograph Barozzi betont wie Ramusio, daß kein Erdteil unbewohnbar sei, und stützt sich dabei auf die Autorität von Olaus Magnus. 50 Selbst der Nordwind hat positive Effekte: Er bringt Nahrung und Früchte. 51 Das aber konnten die alten Geographen nicht wissen, weil sie viele Länder, Klimazonen und Parallelen der modemen Kosmographie nicht kannten ("per terras Ptolemeo incognitas,,).52 Nicht mehr sieben, sondern siebenundvierzig Klimazonen kommen bei Barozzi in seiner aktualisierten tabula vor. Die letzten siebzehn, über Grönland hinaus, laufen durch "reliquas partes Gronlandiae & Engronae & Caronium Mare 47 F. Barozzi (Franciscus Barocius), Cosmographia in quattuor libros ... , Venetia 1585, S.53. 48 Vgl. ebd., S. 59 f. 49 Ebd., S. 193. 50 Vgl. ebd., S. 100. 51 Vgl. ebd., S. 117. 52 Vgl. ebd., S. 212.

4. Eine Interpretation des Nordens

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Glaciale & Hyperboreos, aliasque sub polo Arctico terrae panes nondum satis cognitas".53 Es gibt also keine Länder mehr, die prinzipiell den Menschen unbekannt und versagt sind (terrae incognitae), sondern nur noch nicht genügend erforschte Gebiete (terrae nondum satis cognitae). Sie stehen zur Verfügung, um die tabula der Klimazonen zu vervollständigen, denn die ganze Erde gehört den Menschen. Für sie wurde letztendlich die machina mundi von Gott geschaffen. Sie haben daher das Recht und die Pflicht, diese wunderschöne Erde, die sich nach dem geozentrischen System noch im Zentrum des Kosmos befindet, zu entdecken, um die unendliche Macht und Weisheit Gottes zu erkennen. Ebenso haben sie das Recht und die Pflicht, sich der Erde zu bemächtigen, um als Krönung der Schöpfung mit Gottes Willen die gesamte Natur zu bezwingen und zu beherrschen.

4. Eine Interpretation des Nordens Die Bedeutung der Wende, die in Italien um die Mitte des 16. Jahrhunderts in bezug auf Nordeuropa stattfindet, läßt sich auch an der wichtigen Rolle nachvollziehen, die die skandinavischen Länder in den Beschreibungen Europas und der Erde übernehmen. In der enzyklopädischen Fabrica dei mondo von Francesco Alunno deI Bailo aus Ferrara,54 die nach eigenem Bekunden alle Vokabeln beinhalten soll, die notwendig sind, um alle möglichen Begriffe der Menschen auszudrücken und die ganze Schöpfung zu beschreiben, gibt es noch keinen Platz für die Regionen Nordeuropas und ihre spezifischen Naturphänomene. Sie sind gar nicht vertreten, als ob sie nicht existent wären. Alunno sammelt Vokabeln und Begriffe aus der poetischen Tradition Italiens und verspricht, die größte Vollständigkeit zu erreichen. Doch gibt es interessanterweise nichts ,Nordisches'. "Islanda" allein wird erwähnt und mit "Hirlanda isola, anticamente detta Hibernia,,55 verwechselt, die eine der vierunddreißig bekannten Provinzen Europas ist. 56 Francesco Alunno erinnert sich auch an "Thile" oder "Thule", von Petrarca gesucht und doch nicht gefunden (vgl. Kap. 11. 2.), wo es keine Nacht während der Sommersonnenwende und keinen Tag während der Wintersonnenwende gibt. 57 Ansonsten ignoriert er alle nördlichen Regionen, da er in seinen - vor allem poetischen Quellen nichts darüber findet. Seestürme und selbst die Piraterie werden nicht mit dem nördlichen Ozean, sondern mit Sizilien und dem Mittelmeer in ZusammenEbd., S. 221. Francesco Alunno da Ferrara, Lafabrica dei mondo ... nella quale si contengono le voci di Dante, dei Petrarca, dei Boccaccio, et d'altri buoni autori, mediante le quali si possono scrivendo isprimere tutti i concetti dell'huomo di qualunque cosa creata, Venetia 1581. Die erste Ausgabe trägt das Datum 1546. Das Werk hatte einen großen Erfolg und es folgten mehrere Ausgaben (1555, 1557, 1560, 1562, 1568, 1570, 1584). 55 V gl. ebd., S. 891. 56 Vgl. ebd., 111, 871, S. 113r. 57 Vgl. ebd., 111, 883, S. 123v und 111,891, S. 124r. 53

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IV. Die Wende

hang gebracht. 58 Der Norden spielt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch kaum eine Rolle. Ein ganz anderes Bild gewinnt man, wenn man eine andere fabrica dei mondo in Betracht zieht, die ein paar Jahre später geschrieben wurde. Während das nach Themen organisierte Wörterbuch von Francesco Alunno erneut gedruckt wurde, schrieb der Theologe Giovanni Lorenzo d' Anania seine L'universale fabrica dei mondo overo cosmografia, die den italienischen Lesern alle neuen Informationen über unbekannte Kontinente und fremde Kulturen zur Verfügung stellen sollte. Unter den sogenannten ,postillati barberiniani' in der Biblioteca Apostolica Vaticana ist dieser kosmographische Traktat in der dritten Ausgabe (Venedig 1582) - ex libris von dem Kloster der Hl. Brigitte in Rom - vorhanden, mit den eigenhändigen Randbemerkungen Torquato Tassos. 59 In diesem Werk, das in vier Sektionen geteilt ist, da mit der neuen Welt vier Kontinente beschrieben werden, spielt der Norden Europas eine große Rolle. Tassos dichte Randbemerkungen in der dem Norden gewidmeten Sektion beweisen die Bedeutung, die dieser Weltteil mit seinen wunderbaren Merkmalen für ihn hat. 60 Vor dem Sonett von Giulio Cesare Caracciolo, der Anania lobt, weil er die ganze Welt im Geiste bereist hat, über Thule hinaus und in beiden Hemisphären gewandert ist, kommen eine Biographie des Autors und eine sestina von Paolo Regio,61 die Caterina Sforza, Königin Polens, gewidmet ist und mit einer Beschreibung des Nordens beginnt: U. ver la Borea, ove si rado il Sole Scuopre suoi raggi, e 'I tempestoso mare Percuote intorno gli agghiacciati scogli

"Scogli" stellt eins der sechs wiederkehrenden Reimwörter dar und ist wie ein Schlagwort für den Begriff ,Norden'. Die Adjektive, die das Substantiv begleiten, sind "agghiacciati scogli", "duri scogli", "novi scogli", "alteri scogli", "eminenti scogli", "alpestri scogli". Reimwort ist auch "mare" ("tempestoso", "fiero", "aspro", "travagliato" und "gran mare"). Wenn man noch die "alti monti" betrachtet, merkt man, daß die meisten Elemente der nordischen Landschaft bei Tasso schon hier zu finden sind, zusammen mit der Feststellung, daß eine metaphorische Sonne (die schöne und lobenswerte Dame oder der wahre Gott, der christliche Glaube) den Norden beleuchtet und dabei erwärmt und blühen läßt: 58 Vgl. ebd., 111, 1034, S. 144 f. und 111, 754, S. 105r: "Corsale, lat. pirata, praedones maris, et cilix, a Cicilia, la dove i corsali hebbero origine, equello che ruba il mare". 59 G. L. d' Anania, L'universale fabrica dei mondo. .. , Venetia 1582. 60 Es gibt eine Studie von Bruno Basile über die Randbemerkungen Tassos zu diesem Werk, die leider zahlreiche Ungenauigkeiten, Mißverständnisse und vor allem ständige Verwechslungen zwischen dem Text von Giovanni Lorenzo d' Anania und Tassos Bemerkungen enthält. Die Schlußfolgerungen Basiles sind daher sehr fragwürdig. B. Basile, Sogni di terre lontane, in: Ders., Poeta melancholicus. Tradizione classica e foUia neU 'ultimo Tasso, Pisa 1984, S. 325-368. 61 Siehe G. L. d' Anania, L'universale fabrica dei mondo. .. , a. a. 0., S. 5v. und 6r. (Prohemio).

4. Eine Interpretation des Nordens

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Dunque qual fonnero leggiadra rima In dir di lei, ehe quasi un nuovo Sole Riscalda hor ben queJla gelata terra, E le rende tranquillo il fiero mare, A la cui chiara, e gloriosa lode Chinansi gli alti monti, e i duri scogli. [ ... ] .. . eh' alpestri scogli Ubbidienti rende al vero Sole Hor questo vago Sol, ehe 'n si gran mare

Fa gli scogli inverdir, fiorir la terra

e degno d'altra rima, e d'altra lode.

Anania bietet seinen Lesern wirklich aliam materiam,62 etwas, das weder die Griechen noch die Römer wußten und schrieben. Die Liste seiner Quellen macht es deutlich, da viele der erwähnten Autoren zu den "moderni" zählen und viele von ihnen selbst aus dem Norden kommen. Im "Prohemio al lettore" betont der Autor, daß der Ozean nicht die Erde umarmt, wie die Griechen glaubten, sondern umgekehrt: Aufgetauchtes Land umgibt die Meere, so daß der Ozean dem geschlossenen Mittelmeer gleicht. In der Antike wußte man das nicht, weil man nicht über Thule / Thile hinausgekommen war. Diese Bemerkung ist für Tasso entscheidend, und er notiert am Rande des Textes diese Stelle: 63 parte scoperta e maggiore deJl'oceano per giudicio de' modemi la terra aprendosi come un melo granato contiene in se come maggiore I'Oceano rendendolo mediterraneo, onde ne la sphera risulta un solo orbe et una sola ombra gli anti chi non conobbero oltre il grado sessantatre ove giace Thile

Auf der Erde kann es wohl keinen alter orbis mehr geben, notiert Tasso. Weder der Norden noch die südliche Hemisphäre ist nun eine ,andere Welt', denn es gibt nur eine einzige Welt. Der Ozean trennt nicht, sondern ist ein geschlossenes Meer, das alle verbindet. Für Anania hat diese Feststellung eine geographische und auch anthropologische Bedeutung, die für den Dichter eine große Tragweite hat. Diese Idee drückt Tasso poetisch in der Tragödie Re Torrismondo aus. Von den Menschen im Norden Europas behauptet Anania, sie seien zivilisiert, weil ihre Haut weiß ist, während die Menschen in den Regionen der neuen Welt, die sich auf demselben Breitenkreis befinden, entsprechend der Bronzefarbe ihrer Körper wild und barbarisch seien. Tasso unterstreicht diese Stelle: 64 ... si sente generalmente il freddo tanto piu grande, quanto piu si trascorre verso i poli: gli habitanti son civili, vivono sotto leggi, essendo di color bianco; se ben quei dei nuovo mondo, i quali ci rispondono per linea paraJlela, son di color bronzino chiaro, rozzi, & barbari ... 62 63 64

Vgl. ebd., S. 7v. (Prohernio). Vgl. ebd., S. 2Or. (Prohemio). Ebd., S. 25r. (Prohernio).

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IV. Die Wende

Anania beschreibt sorgfältig und detailliert die klimatischen Bedingungen im Norden, die langen Tage und die langen Nächte mit dem heitersten Himmel, und kritisiert zeitgenössische Theorien, nach denen die Wärme im Sommer im Norden unerträglich sei, weil die Sonne außergewöhnlich lange scheint oder die Luft so trübe sei, daß menschliches Leben nicht möglich ist. Von der ganzen Stelle notiert Tasso als Zusammenfassung: eontinua noUe ma lueida: aer queto e serenissimo

Selbst die lange boreale Nacht gilt nun als leuchtend, während die Luft als rein und durchsichtig beschrieben wird. Eine glänzende und wertvolle Unbeweglichkeit und Starrheit im winterlichen Norden faszinieren den Dichter Tasso. Das gesamte Europa mit seinen nördlichen Ländern ist laut dem Theologen und Kosmographen Giovanni Lorenzo d' Anania den übrigen Kontinenten kulturell überlegen und sieht wie ein Drache aus, der alle geistigen Schätze bewahrt, die einmal auf anderen Kontinenten entstanden waren: 65 E questa [Europa], se ben eede in grandezza all'altre due [Asia, Afriea], tuttavolta non resta, ehe non l'avanzi di diverse eose; eontenenendo infiniti popoli, senza manearvi eosa niuna, SI eome aneor fa in maesta d'imperio; essendo stata solamente in lei la vera Monarehia; et altresl in eeeellenza d'arti, e seienze, e d'altri maggiori doni; onde non e senza gran misterio, eh' ella ritenga nella figura I' imagine dei Drago guardando i tesori deli' animo dell'universo, ehe '1 voraee tempo, 0 maligno influsso de' pianeti non le togliesse dal mondo, eome h3 fatto nell' altre parti, dove hebbero prineipio ...

Tasso notiert am Rande "figura d'Europa; Drago" und zeigt mit einer senkrechten Linie links, daß die Stelle für ihn wichtig ist. In diesem Traktat findet er auch viele topographische Namen, die sich auf den Nordteil Europas beziehen und wesentlich zahlreicher als in der Historia von Olaus sind. Anania teilt den Raum, den wir heute oft als ,Nordeuropa ' bezeichnen, in zwei große Teile: "zona temperata" und "zona frigida" . Ihm zufolge erstrecken sich England, Schottland, die meisten Inseln im Nordozean und "Scandia" größtenteils in der gemäßigten Klimazone Europas, in der sich auch Italien befindet. Die Grenze zwischen den zwei großen Regionen Europas, der gemäßigten und der kalten, ,nordischen' im engeren Sinne, läuft also nicht weit vom Polarkreis. Tasso unterstreicht die Stelle mit der Auflistung aller Regionen, die der gemäßigten Klimazone angehören, und läßt ihnen die Länder der kälteren Klimazone folgen ("Drogio", "Estotilanda", "lcaria", "Frislanda", "Gronlandia", "Islanda", "isola della Calamita", "Finmarchia", "Scriffinia", "Lapponia", "Bothnia", "Biarmia", "Carelia"). Am Rande notiert er einige von diesen Regionen, die im kälteren Teil Europas liegen: 66 Isola d'Islanda e quella de la ealamita ne la parte gelida de la Scandia Biarrnia e Carelia poste nel estrema parte de la Scandia 65 66

Ebd., S. 2. Ebd., S. 2 (Tassos Randbemerkung).

4. Eine Interpretation des Nordens

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Tasso merkt sich in seinen postille vor allem die traditionellen mirabilia, die Anania erwähnt, und greift auf sie vor allem im Mondo creato zurück. Als der Theologe die Shetland-Inseln beschreibt, identifiziert er eine von diesen mit dem alten Thule und meint, daß seine Bewohner schön wie Engel, physisch gesund und moralisch rein seien. Dafür weist er auf den Mythos der glücklichen Hyperboreer hin, die keine Krankheiten kennen. Tasso merkt sich alles. Schon zuvor hatte er notiert, daß die Angeln "Angli, quasi angeli splendidi" seien;67 nun notiert er sich auch, daß diese Region von den Planeten wegen ihrer großen Distanz nicht beeinflußt wird: 68 [HitIandia] ... vogliono questa isola eBer Tile, l'ultima, ehe seppero gli antichi in queste parti: intomo di essa vi sono molte isolette, alle quali vanno di Scotia ogni anno aßai religiosi ad ammaestrar quelli isolani della nostra religione, i quali son cosl belli di volto, et semplici d'animo, ehe venendo in Scotia, sono ammirati come Angeli: quivi campano (perehe vi regna un'aere molto salutifero) i paesani generalmente sani cento anni, e piu, talche per questo gli diresti veramente Hiperborei, vivendo quasi una vita beata, senza troppo pensiero, in una simplicitli grande d'animo: e lungo tempo, non vi potendo tanto per loro distantia, i pianeti predominare: onde non v'e mai peste, ne morbo contagioso ...

Auf dieser engelhaften Insel, deren Bewohner Katholiken sind, sollen sich Früchte in Enten verwandeln. Die Legende ist nicht neu (vgl. Kap. 1.3.), aber der Nachdruck fallt hierauf, mit dem der Theologe betont, daß diese Vögel, die entweder von den Früchten oder vom Holz in den Wellen des Ozeans durch einen besonderen Himmelseinfluß gezeugt werden, während der Fastenzeit gegessen werden dürfen. Sie seien wie Fische, da sie wie diese ohne Beschmutzung durch den Samen in dem nicht verdammten Element des Wassers geboren seien. Eine solche Interpretation dieser Naturwunder macht diese Vögel und indirekt den ganzen vom Wasser umgebenen Ort durch die Abwesenheit von sexuellen Kontakten rein und unschuldig. Tasso unterstreicht die ganze Stelle: 69 .. . si veggono alcuni alberi a canto all'onde; i cui frutti, ehe sono simili alle pigne, cadendo sopra l'acqua, divengono tra poco tempo ucceIli conformi alle Anatre, i quali si mangiano (creandoli la natura contro natura, nell'eIemento dell'acqua, ehe non fu maledetto da Dio senza corrottione di seme) indifferentemente di quaresima, come pesci, da tutti, eBendo Catholici, li quali ucceIli, ehe gli Scozzesi chiamano slakis, alcuni han voluto, ehe naschino non dalla virtu di quei frutti, ma d'ogni legno putrido, e dall'Oceano, e particolare influsso celeste ...

Der sonderbare Himmel über der alten, an der Nordgrenze der bekannten Welt liegenden Insel Thule scheint nicht nur den Menschen ein langes Leben zu schenEbd., S. 7 (Tassos Randbemerkung). Ebd., S. 16. Tassos Bemerkungen lauten: "HitIanda", "i sole Scethlande", "Tile", "vita lunghissima 0 [= oltre] i cento anni", "Hiperborei", "i pianeti per la distanza non vi possono predominare" . 69 Ebd., S. 16. Tassos Randbemerkungen lauten: "alberi i cui frutti divengono ucceIli", "si mangiano come pesci la quaresima", "e sono Cattolici". 67 68

8 Boccignone

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IV. Die Wende

ken und sie vor Krankheiten zu bewahren, sondern sich auch auf das Wasser des Ozeans auszuwirken, so daß Naturwesen wie Vögel ohne die sonst notwendige Sexualität entstehen können. Tassos Randbemerkungen zu L'universale fabrica del mondo sind oft nur eine partielle Transkription des Textes von Anania. Sein Schweigen ist in manchen Fällen vielsagend. 7o Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Tasso die Stelle nicht unterstreicht, die auf die ,Nachtfinsternis' und ,Dunstnebel' der Häresien aus dem Norden ("oscure tenebre della notte", "ogni caligine che ci avviene dalle Settentrionali heresie") hindeutet, die durch den Kaiser des Landes im Osten (Österreich) bekämpft werden sollen. Er notiert zwar, "Austria dinota oriente", wie es im Text steht ("questo norne d' Austria, dinotante nellor' idioma Oriente"), ignoriert aber die Feststellung, daß die Häresien ,nordisch' ("Settentrionali") sind,71 ebensowie er sich nicht über die Wiedertäufer und ihr bitteres Ende äußert. 72 Ebbe und Flut im nordischen Ozean scheinen für den Dichter, der sich weigert, die geläufige Interpretation einer aJs dem Norden kommenden Gefahr für den Glauben zu akzeptieren, wichtiger zu sein. Die Welt sei wie ein einziges, großes, lebendiges Wesen, und Ebbe und Flut seien die Atembewegungen dieses großen Tieres. Dies weckt Tassos Interesse und wird daher notiert. 73 Der Satan soll seinen Sitz im Norden gewählt haben: Anania läßt sich diese Bemerkung oder dieses sehr bekannte und oft verwendete Bibelzitat nicht entgehen, wenn er über Martin Luther, ,im Norden geboren', schreibt: 74 Nacque dunque costui, regnando Massimiliano Imperatore, ad Islebio in queste parti Aquilonari, dove i Gentili fiBavano non senza occulto misterio ne i loro sacrificj gli occhi, forse per havervi posto la sedia il Demonio padre loro, essendo scacciato da! Cielo...

Tasso notiert lediglich den Namen des Ortes, in dem Luther geboren ist, will aber nicht dazu schreiben, daß sich dieser Ort im Norden ("parti Aquilonari") befindet. Er unterstreicht auch nicht, daß die Heiden nach Norden schauten, als sie ihre Riten feierten, wie Anania behauptet. Der Dichter weigert sich, den Norden mit dem Dämonischen und Häretischen zu verbinden. Er schreibt am Rande "Margherita madre di Lutero arnica deI Diavolo et concubina": 75 Die Häretiker folgen dem Teufel, das ist für Tasso klar, aber das hat in seinen Augen nichts mit dem Norden zu tun. Wenn Anania schreibt, daß die dänische Stadt "Colla" 70 Die deutschen Frauen sind Anania zufolge nicht schön, dafür aber keusch ("poco vaghe, ma sopra tutto caste"). Tasso nimmt aber nur das zweite Merkmal wahr und notiert lediglich: "germane caste". Vgl. ebd., S 57. 71 Vgl. ebd., S. 63. 72 Vgl. ebd., S. 66 f. 73 Ebd., S. 68 (Randbemerkung): "flusso, et reflusso de l'oceano". Ebd., S. 69 (Randbemerkungen): "opinioni dei flusso edel reflusso", "il mondo grand'animale", "l'acque crescono per la respirazione di questo grande animale". 74 Ebd., S. 71. 75 Ebd., S. 71 (Randbemerkung).

e

4. Eine Interpretation des Nordens

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schändlich ist, weil sich dort die nordischen Hexen treffen, die zahlreicher als andernorts sind: 76 ... Colla, ehe si narra, eome la noee di Benevento, infame, essendo un nido delle Streghe Settentrionali, lequali qui sono per tutto in maggior numero ehe altrove, ehe datesi al Demonio volontariamente, fanno mille maleficij ...

notiert Tasso nur "Colla infame per le streghe", keineswegs aber, daß es mehr Hexen im Norden als in anderen Regionen gibt. Der Dichter merkt sich vielmehr die Embleme des königlichen Hauses in Dänemark, wo sich die Gräber der Könige befinden, wie prächtig die Edelleute angezogen sind, wie reich das Land insgesamt ist. Tasso folgt Anania, wenn dieser die Besonderheiten jedes Landes hervorhebt, nicht aber, wenn er die Überlegenheit Italiens gegenüber nordischen Ländern in Europa behauptet. Geht es um die Korrektheit der deutschen Sprache, schreibt Anania, daß in Erfurt die reine und majestätische Sprache gepflegt wird, die keineswegs rauh und schrill wie die von den Leuten niedrigeren Standes ist. Tasso notiert dazu am Rande: "Erfordia in cui si attende a la polizia de la lingua germana".77 Geht es aber um Rom caput mundi, unter dem gütigsten Himmel ("Roma capo deI mondo, e signora delle genti", "sotto cosi benigno Cielo"),78 oder um die natürlichen Privilegien und das Primat Italiens, das wie eine schöne, über die Welt herrschende Frau dargestellt wird, ist der Dichter in seinen Randbemerkungen sehr zurückhaltend. Der lange Absatz bei Anania regt ihn nicht besonders an, nicht einmal die Behauptung, Italien sei wie das Herz der Welt: 79 [Italia] essenso situata (seeondo gli antichi) fra il quarto, et il quinto c1ima: per il ehe l'avvengono tante doti della natura d' ogni eosa, ehe eade all' humano desiderio, ehe si pub eon verita dire, non esser parte dell'universo, ehe non la eeda di lungi dandole in ogni caso il primato: onde la figurarono a1cuni Imperatori eon gran ragione in forma d' una donna, ehe sedeva eon uno seettro in mano sopra il mondo: alla qua1e le toeeb nell'universal maehina dei terrestre orbe eosi belluogo, ehe eon verita si pub affermare, elle sola eBer eomrnodata alla monarehia: eßendo nel maggior mondo, quasi il euore nel minore, e pereib I'avviene, ehe possa eon ogni prestezza soeeorrere per tutto nei bisogni, raffrenando nel Settentrione le furie de i Franeesi, gli empiti de' Germani, e le crudelta degli Ongheri [ ... ] sente l'aere tanto ameno ehe non ha invidia alla Spagna [ .. . ] e eustodita dall' Angelo Micheie, ehe non permette eome eustode dei paese, ehe vi s'adori generalmente Iddio altramente, ehe rieerea la verita istessa...

Tasso merkt sich nur: "ltalia situata fra il quarto ed il quinto c1ima" und "ltalia custodita da l'angel Micheie", notiert aber weder die vermeintliche italienische OrEbd., S. 74. Ebd., S. 69 (Randbemerkung). Ananias Stelle, vollständig von Tasso unterstrichen, lautet: ..et Erfordia, ivi s'attende nella politia della lingua loro, come a Fiorenza: la quale non ha quanto alla pronuntia quelle voci aspre, et stridolose, ehe vi si sentono, parlandosi da genti baBe, et plebee, anzi pare fra I' altre barbare, ehe habbia maesta, e deeoro veramente virile." 78 Ebd., S. 87. 79 Ebd., S. 78 f. 76

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IV. Die Wende

thodoxie dank dieses Schutzpatrons, noch das Recht Italiens auf die Monarchie und seine Fähigkeiten, die ,Wut der Franzosen', den ,Drang der Deutschen' und die ,Grausamkeit der Ungarn' zu bremsen und zu kontrollieren. Tasso unterstreicht, ohne die Franzosen zu beachten, lediglich "nel Settentrione le furie" und wird in seinem poetischen Werk zeigen, was er davon hält, wie er sich Sturm und Leidenschaft im Norden vorstellt. Er notiert einige Namen von Städten und flüssen in Italien, zeigt aber kein Interesse für jenes Lob, das Anania seinem Land schenkt. Für ihn sind Hexen und Monstren in Italien wie auch im Norden zu finden und er notiert sich "Mola, anticamente Formia horribile per li 1estrigoni",8o denkt an das Tor zur Hölle bei Neapel im Avemer See und vor allem an die Normannen auf italienischem Boden, denen er mehrere Randbemerkungen widmet. Tasso verleiht ihnen vor allem in der Gerusalemme conquistata eine große Bedeutung und weiß dabei: 81 Normandi nel proprio idioma dinota huomini settentrionali

Die Normannen haben sich selbst stolz als ,Menschen des Nordens' bezeichnet. Für Tasso hat diese Bezeichnung keine negative Konnotation mehr, so wie das Adjektiv ,Barbar' im Sinne von ,nicht Römer' oder ,primitiv', ,ursprünglich'. Das wird deutlich, als der Theologe Anania die Fischer aus den Äolien tadelt, die den Aberglauben vertreten, man solle während des Fischfangs nur Griechisch sprechen, um Erfolg zu haben. Er erkennt nur dem Hebräischen und wenigen anderen primitiven, barbarischen Sprachen eine besondere Wirkung zu, die etwas von der ursprünglichen Sprache Adams noch behalten durften, als Zeichen des verlorenen Zustands der Unschuld, wobei das Griechische eine Sprache sei, die als Gottesstrafe durch die Verwirrung in Babel entstanden ist. Es ist eine Epoche, in der europäische Gelehrte anfangen zu versuchen, durch Vergleiche die Verwandschaft der eigenen Nationalsprache mit der adamitischen zu beweisen. Tasso bemerkt dabei, daß einige antike ,barbarische' Vokabeln eine besondere Kraft haben: 82 Virtu dei nomi antichi Barbari

Im Gegensatz dazu wurde die griechische Sprache, entstanden als Ergebnis der Sprachverwirrung, zusätzlich von den Slawen verdorben und verseucht, notiert Tasso ("idioma greco corrotto da gli Schiavoni,,).83 Der Dichter hält es für wichtig Ebd., S. 105 (Randbemerkung). Ebd., S. 42 (Randbemerkung). 82 Ebd., S. 114 (Randbemerkung). Die Stelle Ananias lautet: "non si paria in altro idioma che nel Greco come parlavano anticamente, pensandosi, che in altra lingua non si farebbe bene la lor pesca; vana superstizione, e solito errore della plebe, poi che nelle lingue non esiste tanta virtu, che si possi fare simil'effetto; non negando pero, che in a\cuni nomi antichi Barbari non sia qua\che efficacia; ma cio non si dee credere nelle voci, che sono delle lingue della confusione, dateci in pena; ma si bene in a\cuno vocabolo dell'idioma Hebraico; nel quale forse permette Iddio, havendovi Adamo posto il norne a tutte le cose secondo natura, accio si mostri in qua\che segno 10 stato dell'innocentia". Tasso unterstreicht den Namen "Adamo". 83 Ebd., S. 142 (Randbemerkung). 80

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zu unterstreichen und zu notieren, daß die Griechen gegen die katholische Kirche rebellierten ("Grecia fu ribelle da la Chiesa Cattolica", "heresie de' Greci"),84 ignoriert aber die Stelle, in der Anania feststellt, daß die Griechen, bevor sie ,grob und flegelhaft' ("rozzi et zotichi") wurden, einmal wegen ihres Wissens über allen Nationen standen und berechtigterweise den Rest der Welt ,grob' und ,barbarisch' nannten. 85 Torquato Tasso weigert sich entschieden, an eine Antike zu glauben, in der die Griechen oder die Römer den restlichen Völkern kulturell überlegen waren. Seine immer sehr konsequenten Entscheidungen bei den Unterstreichungen und Randbemerkungen lassen keinen Zweifel daran. Er zeigt sich viel sensibler, wenn es darum geht, das Nordische mit positiven Merkmalen zu konturieren und gleichzeitig mit dem Bekannten zu vergleichen. Er notiert sich, daß die Ostsee ein geschlossenes Meer wie das Mittelmeer ist und keine Ebbe und Flut wie der Ozean kennt ("mar baltico un mediterraneo" , "il mar baltico non ha flusso 0 reflusso come l'Oceano,,).86 Doch hat dieses Meer des Nordens, in das Wasser aus zahlreichen großen Flüssen fließt, die reinen Seen weiter im Norden entspringen, eine Besonderheit: Sein Wasser ist wie lebendiges Wasser, so süß, daß man damit kochen kann. Tasso erinnernt sich an die Süße dieses aus dem Norden strömenden kristallklaren Wassers, als er im Mondo creato eine Metapher für Reinheit und Tugend sucht [v gl. Kap. VI.5 .c)]. Hier unterstreicht er die ganze Stelle:87 ... ha in oltre questo mare molto pescoso, con I' acqua tanto dolce, venendo la corrente dal suo Settentrione, dove sono molti laghi, et vi entrano grossi fiumi, che i nocchieri la usano per cocinarne, cosl come se fosse acqua vi va...

Anania vertritt manchmal noch die alte Auffassung, Skandinavien als nördlicher Teil der Welt sei ein alter orbis, von ,unserer Welt' getrennt. Er sagt es ausdrücklich, wenn er über das große Reich in Norwegen berichtet ("in questo Settentrional angolo, disgiunto dall'orbe nostro,,).88 Tasso, der sich sonst ziemlich alles über die skandinavischen Länder notiert, ignoriert diese konventionelle Bemerkung. Für ihn gibt es nur eine einzige Welt, wie in der Analyse der Chöre der Tragödie Re Torrismondo deutlich werden wird [vgl. Kap. VIA.c)]. Deswegen glaubt der Dichter nicht, daß es in Norwegen mit dem Regen herabfallende Ratten gibt,89 die Pest Ebd., S. 141 und S. 153 (Randbemerkungen). Vgl. ebd., S. 141. Anania schreibt unter anderem: "fiorendovi di fatta maniera gli studi delle scienze, e delle arti mecaniche, et liberali, che in questo avanzo tutte le nationi dei mondo, che essa chiamava ragionevolmente rozzo, e Barbaro; ma hora ch'ella eposta sotto il giogo, et flagello Turchesco, forse per la superbia dei suoi, et ostinazione, in che tanto tempo ha perseverato, essendosi dodici volte ribellata dalla Chiesa Catholica Romana, si vede oppreßa infelice con tanta ruina, et miseria... [ . . . ] hora sono rozzi, et zotichi". 86 Ebd., S. 161 (Randbemerkungen). 87 Ebd., S. 161. Tasso notiert am Rande zusammenfassend: "mare pescoso con I'acqua dolce per la copia de' laghi e de ' fiumi che c'entrano". 88 Ebd., S. 162. 89 Vgl. ebd., S. 162. Es sind die "Lember", die Anania beschreibt. Tasso notiert nichts und unterstreicht die Stelle nicht. 84 85

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IV. Die Wende

und Gestank verursachen. Er glaubt hingegen an die Geister und Dämonen im Norden, weil er diese überall auf der Erde sieht. 90 Die Parallelen zwischen Norden und bekannter Welt interessieren Tasso, das heißt die Verwandtschaften und gleichzeitig die feinen Unterschiede, die durch das Vergleichen zum Ausdruck kommen. Wie es Skylla und Charybdis im Mittelmeer gibt, so befinden sich zwei kleine Inseln vor der Küste Norwegens, die das Entsprechende im Norden darstellen, indem die Gefahr ähnlich ist, notiert Tasso ("isolette di Scafoon et Loofet ne la Norveggia fra le quali si corre pericolo simile a quello di Scilla, e di Charibdi,,).91 Die Ähnlichkeit steht für Tasso im Vordergrund. Die großen Steine, die im Norden zu finden sind, erinnern an die Pyramiden. Er schreibt am Rande: "sassi grandissimi simili ale piramidi e sepolchri dei giganti", neben "epitafi con lettere gotiche",92 wobei klar ist, daß der Norden etwas Eigenes durch sein eigenes Alphabet und seine eigene kulturelle Tradition anzubieten hat, das mit der klassischen Tradition vergleichbar und ebenbürtig ist. Tasso ,assimiliert' den Norden an das Vertraute, aber mit Respekt, ohne ihn unbedingt in alte Schemata ohne Korrekturen zu zwingen. Es mag wohl sein, daß die "Screningeri" wegen ihres Kleinwuchs fast wie Pygmäen erscheinen ("Screningeri hanno statura quasi di Pigmei"),93 sie sind aber keine Pygmäen, die schließlich im Norden gefunden wurden. Anania betont, daß sie sowohl im Sommer als auch im Winter in Höhlen hausen, Tasso aber nimmt diese Information nicht wahr, wie alle übrigen Bemerkungen über die Wildheit und Tierähnlichkeit der Menschen auf Grönland und im äußersten Norden. 94 Auf Grönland befindet sich ein Fluß mit heißem Wasser, notiert Tasso ("fiume d'acqua calda,,).95 Der Dichter notiert aber nicht, daß es dort im Sommer sehr heiß sein soll, wie Anania meint. 96 Nicht zu der kalten Zone der Welt, sondern zu der gemäßigten gehören die großen skandinavischen Königreiche. Das Land "Gothia" wird als ,göttliches Land' erwähnt, das den Menschen das angenehmste Leben verspricht und sich der besonderen Nähe der Sonne im Sommer erfreut: 97 Vgl. ebd., S. 164. Ebd., S. 164 (Randbemerkung). Tasso notiert oft die topographischen Namen ohne besondere Aufmerksamkeit, da es für ihn nicht auf die Korrektheit der Namen ankommt, sondern auf die Tatsache, daß der Norden Parallelen zur antiken und klassischen Welt vorzuweisen hat. So werden die Namen der zwei norwegischen Inseln (bei Anania "Scaffoon" und "Loffoet") zu "Scafoon" und ,,Loofet". 92 Ebd., S. 165 (Randbemerkungen). 93 Ebd., S. 179 (Randbemerkung). 94 Vgl.ebd.,S.178f. 95 Ebd., S. 178 (Randbemerkung). 96 Vgl. ebd., S. 179. Das Detail der Hitze aufgrund des andauernden Sonnenscheins in der kalten Klimazone im Sommer hätte Tassos Neugier wecken müssen. Der Dichter zeigt mit seinem Schweigen wahrscheinlich, daß er diese Theorie nicht akzeptiert, während er an die Wärme aus dem Inneren der Erde glaubt. 97 Ebd., S. 164. 90 91

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e

. .. Gothia, ehe gli un gran regno, con questo norne, ehe dinota paese Diyino per la gran doYizia delle cose non essendo parte in Europa, doye si yiya con minor prezzo, ehe in eßa, doye non ci appaiono d'estate le stelle, scorgendoYisi per la Yicinitil dei Sole all'Orizzonte una continua Aurora...

Die gesamte schmeichelhafte Beschreibung des Landes "Gothia" wird von Tasso unterstrichen, der sich dazu schon poetisch zusammenfassend anmerkt: "Ne la Gothia la estate e una continua Aurora", und auch "Aurora e non appaiono stelle".98 Für den Dichter ist dieses Land, an dessen Winter nicht erinnert wird, in ein sanftes morgendliches homogenes Licht getaucht. 99 Das Land "Suetia" hat als Merkmal, daß es sich um ein sehr großes Königreich handelt, größer als "Gothia" und "Norvegia" zusammen. Tasso notiert, daß die Schweden eigene Gesetze haben ("leggi proprie") und so wohlhabend sind, daß es keinen einzigen Bettler unter ihnen gibt ("Svezzesi ricchi e commodi fra quali non e huomo che mendichi,,).loo Die Meinung, die Menschen im Norden seien von der Natur schlecht behandelt und befanden sich in einer dürftigen Region der Welt, ist damit ausgeräumt. Darüber hinaus behauptet Anania von allen Nordländern, sie hätten ein schönes Gesicht: 101 I Finni [ ... ] di corpo sono alti, belli di yolto, come ogni altra gente Settentrionale

Tasso notiert es jedoch nicht. Wiederholt schreibt er am Rande, daß alle Tiere im Norden weiß sind oder diese Farbe im Winter annehmen, was für Schönheit in den kalten Ländern sorgt. Tassos Interesse für die Königreiche des Nordens überrascht nicht, wenn man an seine Poetik denkt, an sein neues Verständnis der humanitas, nicht mehr mit römischer Gelehrsamkeit verbunden. Er lebt wirklich schon in einer ,erweiterten' Welt. Kolumbus, der das Neue entdeckt hatte, suchte noch das Alte, nicht zuletzt das irdische Paradies. Für Tasso ist dagegen das ganze geographische und kosmographische Wissen der Antike unzureichend, das Konzept der humanitas der römischen Kultur ist ihm zu eng und das irdische Paradies für immer verloren. Kolumbus ist für ihn ein Held, gerade weil er die alte, enge Welt gesprengt hat. Deswegen inszeniert Tasso Kolumbus als die christliche Version von Dantes Odysseus und greift pointiert auf die Säulen des Herkules zurück, die Odysseus hinter sich gelassen hatte. Die Entdeckung Amerikas gilt als ein Ereignis, das die fabulösen Grenzziehungen der Antike für nichtig erklärt und erlaubt, Länder berühmt zu machen, die wie die nordischen immer unbekannt und namenlos geblieben waren, und Erdregionen ins Zentrum zu rücken, die immer vergessen an der Peripherie der vertrauten Welt geblieben waren. Kolumbus wird mit seinen Schiffen in Richtung eines ,neuen Pols' fahren (Ger. lib., XV, 32,1-2: "Tu piegherai, Colombo, a un nuovo polo I lontane si le fortunate antenne"). Mit einer Pro98 Ebd., S. 165 (Randbemerkungen). Unter anderem merkt sich der Dichter: "Donne de Gothi guerriere". In seiner Tragödie greift Tasso auf dieses Thema zurück [ygl. Kap. VI.4.b)]. 99 Ebd., S. 166 (Randbemerkungen). 100 Ebd., S. 168 (Randbemerkungen). 101 Ebd., S. 169.

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IV. Die Wende

phezeiung, die wie die Prophezeiung der Wiederauferstehung Italiens bei Ariost beginnt (Ort. fur., XVII, 5, 5: "Tempo verra"), drückt Tasso diese große Wende in der Geistesgeschichte aus, diese gewaltige Erweiterung des Horizonts (Ger. !ib., XV, 30,1-4): Tempo verra ehe fian d'Ereole i segni favola vile a i naviganti industri, e i mar riposti, or senza norne, e i regni ignoti aneor tra voi saranno illustri

v. Eine poetische summa des Nordens 1. Orazio Ariosti und sein nordisches Epos Alfeo: Imagination und furor

Ein Freund von Torquato Tasso hat uns ein Werk hinterlassen, das ein ,nordisches' Epos, gar eine echte summa der italienischen Vorstellungen über den Norden am Ende des 16. Jahrhunderts darstellt. Es handelt sich um Orazio Ariosto oder Ariosti (1555-1593), den Enkel Giulio Ariostos, der wiederum ein Bruder des berühmten Ludovico war. Das Epos, das einen moralischen und religiösen Anspruch hat ("poema morale e religioso"),l spielt zwischen Thule, weiteren verlorenen, utopischen Inseln und Norwegen. Man begegnet riesigen Seen und Sümpfen, reißenden Bächen und Wasserfällen, Stürmen, Fjorden und hohen schneebedeckten Bergen. Als erster beschreibt Ariosti phantasievoll das Nordlicht und erfindet eindrucksvolle nordische Mythen wie die Geschichte einer dänischen Sibylle oder des Flugs des Icarus zum Nordpol. Seeungeheuer, Geister, Zauberer und Dämonen wechseln einander ab, die wichtigsten Götter der altnordischen Tradition werden vorgestellt. Die Frauen treten als keusche und tapfere Kriegerinnen auf, die Männer als todes verachtende Helden und mutige Piraten. Obwohl er sich in seinem Epos mit Nordeuropa beschäftigte, verbrachte Orazio Ariosti sein ganzes Leben in Ferrara, wo er Kanoniker des Doms war. Mit Francesco Patrizi und Torquato Tasso war er eng befreundet. 2 Seine Randbemerkungen 1 G. Venturini, Saggi critici. Cinquecento minore: O. Ariosti, G. M. Verdizzotti e il loro influsso nella vita e nell'opera dei Tasso, Ravenna 1969, S. 61. Vor allem die ersten ottave von jedem canto beinhalten viele moralische Maxime. Venturini bringt den religiösen und moralischen Charakter des Epos mit der Kreuzzugsstimmung der Zeit in Verbindung, direkt vor der Schlacht von Lepanto. Vgl. ebd., S. 92. 2 Auch mit Annibale Romei und Ercole Cato, dem Botschafter von Alfons 11. und Übersetzer der Demonomanie des sorciers (1580) von Boden (Demonomania de gli stregoni, 1587) stand er in guter Beziehung. Das bedeutet, daß Orazio in Kontakt mit all jenen stand, die den Aristotelismus im Rückgriff auf Plato zu korrigieren versuchten, vor allem im Namen des ..furor poetico" und im Sinne einer Dämonologie (wie Tasso selbst in seinem Dialog II messaggiero). Vgl. S. Prandi, II ,Cortegiano' ferrarese. I Discorsi di Annibale Romei e la cultura nobiliare dei Cinquecento, Firenze 1990, S. 17 und S. 22. Orazio Ariosti war Mitglied der Accademia ferrarese, die am 21. Dezember 1567 von Iacopo Mazzoni und Annibale Pocaterra gegründet wurde. Die Eröffnungsrede wurde von Torquato Tasso gehalten. Orazio schrieb die Argomenti für die Ausgaben der Gerusalemme liberata, die in Parma und Casalmaggiore (1581) erschienen. Es gab aber auch Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen Torquato und Orazio: Letzterer schickte 1576 Tassos berühmte Kanzone für die brünette

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V. Eine poetische summa des Nordens

zu I romanzi ne' quali deLla poesia et dell'Ariosto si tratta (1554) von Gian Battista Pigna zeigen eine kritische Haltung gegenüber den strikten Regeln der aristotelischen Poetik. Für ihn muß der Stoff des Epos neu sein, um Erstaunen zu wecken. Dazu eignen sich vor allem entfernte, fremde Länder, in denen Ereignisse spielen dürfen, die nicht historisch, sondern vom Dichter erfunden wurden. 3 Wie Francesco Patrizi (DeLla diversita dei furori poetici, 1553), der sich in seiner Verteidigung der Poesie auf die platonische Theorie des dichterischen Wahnsinns bezog (Phaidros, 245a und 265b; Ion, 534),4 glaubte Ariosti, daß Dichtung nicht durch die Einhaltung der aristotelischen Regeln der Poetik ("opera manca e imperfetta,,)5 erzeugt werde, sondern allein durch die Erreichung der eigentlichen Ziele der Dichtkunst: Ergötzung ("diletto") und Nutzen ("giovamento") dank vieler Neuerungen und zahlreicher Erfindungen. 6 Eine solche Poetik der "nuove invenzioni" und "nuova meraviglia,,7 begründet die Begeisterung Ariostis für den Stoff ,Norden', der in der italienischen Literatur noch keine große Rolle gespielt hatte. Orazio Ariosti starb mit 38 Jahren am 19. April 1593, und sein Epos Alfeo, das er acht Jahre zuvor begonnen hatte und als nordisches Epos im Mittelpunkt unserer Untersuchungen steht, blieb unvollendet. Wahrscheinlich auch aus diesem Grund wurde sein Werk bis heute nicht ausreichend untersucht. Orazio Ariosti spielt als Magd der Gräfin von Scandiano nach Rom und behauptete, sie sei seine eigene. Tasso verharmloste das ganze Vorgehen als Scherz, aber als einige Blätter aus seinem Zimmer verschwanden, zweifelte er an seinem Freund Orazio. 3 Vgl. Benedetto Croce, Postille manoscritte di Orazio Ariosto ai ,Romanzi' dei Pigna, in: Ders., Aneddoti di varia letteratura, Bd. 11, Bari 1953, S. 15. Ariosti notiert unter anderem: "quasi crederei che colui fosse chiarnato indegnamente Poeta che da altri tolse la favola, da Aristotile chiarnata anima della Poesia, et nella quale eposto il fondarnento dell'irnitare; anzi che, se torra da altri la materia, si dira piu tosto che egli la narri, ch'egli la imiti"; ..il piacere sara maggiore quanto piu nova sara la favola" und ..facciasi avvenire in paesi dai nostri remoti". 4 Vgl. H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 452. 5 O. Ariosti, Risposte dei Signor Horatio Ariosto ad alcuni luoghi dei Dialogo dell 'epica poesia dei Signor C. Pellegrini, ne' quali si riprendeva l'Orlando Furioso dell'Ariosto, Ferrara, Cagnacini, 1585, nun in: G. Venturini, Orazio Ariosti e la polemica intomo aUa superiorita dei Tasso sull'Ariosto, Deputazione Provinciale Ferrarese di Storia Patria. Atti e Memorie, Serie Terza, Bd. XII, Ferrara 1972, S. 66. 6 Vgl. ebd., S. 70. Das Ziel der Dichtungskunst sei ..0 'I diletto 0 'I giovamento, 0 l'uno e l'altro insieme". 7 Vgl. ebd., S. 70: ..Ma chi portara piu diletto, colui che con una sola azione non avra molte novitii nel suo poema e in conseguente poco diletto e poca meraviglia, oppur colui che con varie e sempre nuove invenzioni dilettara sempre e sempre destara nuova meraviglia nel lettore?" Darüber hinaus lobt Ariosti Tasso aufgrund seiner Erfindungen und Neuerungen (ebd., S. 71): ..E pur nel Tasso abbiarno un mago naturale, abbiarno il caso tragico di Tancredi e Clorinda e v'abbiarno tutta la parte dell'incanto della selva; i quali tre capi e per esser fuori dei corso naturale e ordinario delle cose e per esser novi, poi che difficilmente si potra trovare esser stati introdotti ne i medesirni ne quasi simili da aicuno altro autore, crederei che non fossero dei tutto lontani dall' eccitar meraviglie in chi legge. "

1. Orazio Ariosti und sein nordisches Epos Alfeo

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Verwandter des großen Ludovico und als Freund Tassos in einigen Tasso-Biographien eine Rolle, selten aber als selbständiger Dichter. 8 In meiner Arbeit ist er dagegen nur als Autor wichtig. Er hatte mit Tasso gemeinsame poetische Interessen, und vor allem war er in der Lage, ein modemes episches Werk zu verfassen, das alle zeitgenössischen Vorstellungen über den Norden zusammenfaßt. Gleichzeitig werden wichtige moralische Themen im Sinne der gegenreformatorischen Stimmung behandelt. Warum konstruierte Ariosti in seinem anspruchsvollen Epos einen komplexen und eindrucksvollen Norden, der bis dahin kein vergleichbares Beispiel in der literarischen Tradition Italiens hatte? Antonella Perelli hat vor kurzer Zeit der Beziehung zwischen Orazio Ariosti und Olaus Magnus einen Aufsatz gewidmet, 9 in dem sie die große Verbreitung der Werke der schwedischen Brüder in Italien und vor allem in Ferrara betont und die große Freiheit des Dichters Ariosti hervorhebt, mit der er die Quellen behandelte. Sie glaubt, daß Ariosti auch die Carta marina oder Carta gotica vor Augen hatte, was sehr wahrscheinlich ist, und darüber hinaus das kurze geographische Werk von Giovanni Lorenzo d' Anania L'universale fabrica dei mondo, overo cosmografia (1576), das Tasso mit Sorgfalt kommentierte. Sicher kannte Ariosti auch die Karte, die dem 1558 von Francesco Marcolino veröffentlichten Bericht über die vermeintliche Reise der Brüder Zeno beigefügt war. Auf dieser Karte ist die Insel "Frislandia" abgebildet, die Olaus nicht kannte. Karten und Kosmographien waren gerade in Mode gekommen. In Ferrara war das Interesse daran sehr groß. Es ging einher mit der Begeisterung der Intellektuellen für die Literatur über Zauberei und Dämonen. Eine weitere Erklärung für die Vorliebe Ariostis für das ,Nordische' läßt sich finden, wenn man sein Gat8 Angelo Solerti, der zur Scuola storica gehörende Biograph Torquato Tassos, hatte 1887 in einem Artikel die Vermutung geäußert, Orazio Ariosti sei der begabte Junge, in den Tasso sich verliebt habe, wie dieser selbst in einem Brief an Luca Scalabrino im Dezember 1576 eingestanden hatte, ohne den Geliebten beim Namen zu nennen. Vgl. A. Solerti, Anche Torquato Tasso? in: "Giomale storico della letteratura italiana", III, 1887, S. 431-440. Vor kurzem hat Laura Benedetti gezeigt, wie diese Vermutung, die lange Zeit nicht wahrgenommen wurde, weil die Legende eines in Eleonora d'Este verliebten Tasso noch fortdauerte, dann plötzlich in den letzten Jahren für eine Tatsache gehalten wurde. Sie erwähnt die Tasso-Biographie von Pittorru (F. Pittorru, Torquato Tasso, l'uomo, il poeta, il cortigiano, Milano 1982), die ,Psychobiographie' von Giampieri (G. Giampieri, Torquato Tasso. Una psicobiografia, Firenze 1995) und den Roman von Ulivi (F. Ulivi, Torquato Tasso. L'anima e l'avventura, Casale Monferrato 1995), die alle davon ausgehen, daß Tasso und Orazio Ariosti eine Liebesbeziehung hatten, und fragt sich, warum gerade dieser Dichter - trotz des Mangels an sicheren Beweisen - für den Geliebten Tassos gehalten wurde. Die Kritikerin vermutet, daß auf diese Weise versucht wird, Ludovico Ariosto und Tasso zu versöhnen, die immer gegeneinander ausgespielt wurden. Dies sei nur durch den Großneffen Ludovicos möglich, da Tasso elf Jahre nach dem Tod des Autors von Orlando furioso geboren wurde. Vgl. L. Benedetti, L'amante di Orazio impazzi per Eleonora: avventure e sventure dei personaggio Tasso attraverso i secoli, in: "Italica", LXXV, 2,1998, S. 178-191. 9 A. Perelli, Olao Magno a Ferrara: l 'Alfeo di Orazio Ariosti, in: I Jratelli Giovanni e Olao Magno. Opera e cultura tra due mondi, Atti deI Convegno Intemazionale Roma/Farfa, hrsg. von C. Santini, Roma 1999, S. 209-244.

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V. Eine poetische summa des Nordens

tungsverständnis des Epos und seine Poetik des "furore" heranzieht. 1586 läßt Orazio Ariosti in Ferrara seine Schrift Difese dell'Orlando Furioso dell'Ariosto zusammen mit der Apologia Tassos veröffentlichen. 1O Er spricht sich gegen den Vergleich zwischen den Werken von Tasso und Ariost aus, die hinsichtlich des Stoffes und des Stils extrem unterschiedlich sind. Er selbst schreibt ein Mischepos, das etwas von der verwickelten Struktur des Ritterromans und etwas von der pseudohistorischen Realitätsdarstellung von Tassos Werk hat. In einem an Orazio Ariosti adressierten Brief schreibt Tasso, daß auch er wie sein Freund der Meinung sei, das Dichten sei letztendlich nur durch die Vorstellungskraft, durch die "virtu imaginatrice" möglich, deren Aktivität den Ausdruck des "furor poetico" rechtfertige (Lettere, 11 Nr. 94, vom 16. Januar 1577): 11 poetare non e operazione di intelletto separato, ne si pUD egli fare senza fantasmi; anzi, chi ha piu bisogno di fantasmi che '1 poeta? 0 qual fu mai buon poeta, in cui la virtu imaginatrice non fosse gagliarda? e che altro e il furor poetico che rapto, che l'imaginazione fa di noi?

Bekanntlich kam Tasso dann während seines Aufenthalts in Sant' Anna zu dem Schluß, seine vis imaginativa sei gestört. Dieselbe "imaginazione", die einen guten Dichter ausmache, könne Wahn und Krankheit bedeuten. 12 Die Vorstellungskraft bleibe aber mit dem poetischen furor eng verknüpft. Orazio Ariosti faßt den "furore poetico" als Inspiration des Dichters auf. Seine Auffassung stimmt mit der von Tasso, aber vor allem mit der von Mario Verdizzotti und Francesco Patrizi, überein. 13 Er glaubt an den "furore" als göttliche Eingebung, die mit dem "temperamento melancolico" eng verbunden sei. Wenn der Dichter begeistert, inspiriert, \0 Vgl. o. Ariosti, Difese dell 'Orlando Furioso dell 'Ariosto fatte dal Sig. Horatio Ariosto, in Apologia dei S. Torquato Tasso in difesa della sua Gierusalemme Liberata a gli Accademici della Crusca, con le accuse, e difese dell'Orlando Furioso dell'Ariosto... , Ferrara 1586. Ariosti akzeptiert die Normen der Poetik des Aristoteles, meint aber, sie seien flexibler, als es die strikten Aristoteliker glauben. Die Poetik sei nicht vollendet, daher könne man sich vorstellen, daß die Gattungen, die von ihm vorgesehen und theoretisiert wurden, mehrfach kombiniert werden können. Implizit habe Aristoteles auch die Mischgattungen vorgesehen, von denen er nicht direkt gesprochen hat. So spricht Orazio Ariosti von "narrativa d'attion illustre, d'attion non illustre, e d'attion illustre e non illustre insieme" (S. 204). So sei der Furioso seines Großonkels ein Epos des dritten Typus, und man könne auf keinen Fall von allen epischen Dichtem erwarten, daß sie die "unita della favola" einhalten (S. 207). Tasso war in dieser Hinsicht anderer Meinung und gegen die Idee eines "genere misto", deswegen antwortete er ihm mit dem Pamphlet Delle difJerenze poetiche (1587). 11 Alle Zitate aus Tassos Briefen folgen der Ausgabe: T. Tasso, Le Lettere, hrsg. von C. Guasti, Firenze 1852-1855,5 Bde. 12 Unter anderem sei auch seine "imaginazione" ein Grund für sein Unglück. In einem Brief an Ercole Rondinelli (Nr. 142,2. Januar 1581) schreibt Tasso, daß er seine Freiheit "per soverchio d'ira e d'imaginazione" und wegen anderer Fehler verloren habe. 13 Jochen Link hat sich in seiner 1971 an der Universität München erschienenen Dissertation Die Theorie des dichterischen Furore in der italienischen Renaissance mit der Definition von "furore" im Hinblick auf die problematische Beziehung der Dichtung zur Wahrheit vor allem bei Frachetta, Giacomini und Patrizi beschäftigt.

1. Orazio Ariosti und sein nordisches Epos Alfeo

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ergriffen sei, geschehe etwas Unerklärliches. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stand das Problem des "furore poetico" im Mittelpunkt vieler Dichtungstheorien. Während Petrarca das Wort "furore" noch fortwährend im Sinne von ,Wut' verwendet hatte, war schon kurze Zeit später der Gebrauch von Ausdrücken wie "divino furore" oder "furore poetico" als Inspirationsquelle üblich. 14 Zur Zeit Orazio Ariostis ist der Begriff des "furore poetico" oder "divino furore" jedenfalls von besonderer Wichtigkeit. 15 Besonders der in Ferrara tätige Philosoph Francesco Patrizi versucht, die aristotelischen Theorien der Poesie und die Lehre der Dichtung als "imitazione" zu widerlegen (La Deca lstoriale und La Deca Disputata mit dem Trimerone al Signor Torquato Tasso). Orazio Ariosti ist mit ihm eng befreundet. Ein anderer gemeinsamer Freund, Giovan Mario Verdizzotti, vertritt die Auffassung eines göttlichen "furore poetico", der in einige dazu geeignete Seelen eindringe (Genius, sive de furore poetico, 1575). Die Nachahmung liegt Patrizi zufolge nicht im Grundsätzlichen der Dichtung, sondern die Dichtung gründet in sich selbst und setzt sich aus vier Elementen zusammen: "arte", "natura", "sapienza" und "furore". Die überragende Rolle spiele der "furore", aber auch die "natura" sei von besonderer Wichtigkeit: Es geht um eine bestimmte Beschaffenheit, für die der "umore melanconico" kennzeichnend ist, der den Propheten und den Dichtern zugesprochen wird. Patrizi glaubt wie Giordano Bruno (Degli eroici furori, 1585), daß Regeln nur nachträgliche Auszüge einer Dichtungsart sind. 16 Die Dimension 14 Dies hing mit der Rezeption des platonischen Ion zusammen. In der Poetik von Angelo Poliziano hatte es auch Platz für einen oxymorischen "dulcis furor" gegeben. Vgl. ebd., S. 29 ff. 15 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gibt es eine weitere Entwicklung. Auf der einen Seite lehnt Ludovico Castelvetro den poetischen oder göttlichen furor ab, und es erscheinen die Schriften von Minturno (De poeta, 1559 und L'arte poetica, 1563) und von Leonardo Salviati (Trattato delta poetica, 1564), die die Notwendigkeit des Studiums und des Aneignens der "arte" betonen und von der Dichtung als "habito", als Neigung oder Beschaffenheit, sprechen, die durch die Beachtung von bestimmten Regeln und nicht durch eine Eingebung zustandekomme. Auf der anderen Seite erscheinen Werke wie der Ragionamenta delta poesia von Bernardo Tasso (1562), die zwar die Notwendigkeit der "arte" nicht verleugnen, aber gleichzeitig dem Dichter einen von Gott eingegebenen Furore zugestehen. Eine andere Position vertritt Lorenzo Giacomini: Die Dichtung sei ein Resultat der Kunst ("arte") und der Bemühung ("studio", "industria"), aber eine gewisse Neigung sei notwendig, und zwar ein "temperamento melancolico", nicht als Schwermut oder traurige Stimmung verstanden, sondern als mit dem Zorn ("collera") verbundene Beschaffenheit. Die melancholischen Seelen irren seiner Meinung nach nicht umher, sondern konzentrieren sich auf ein Objekt und können mit dem notwendigen Elan starke Vorstellungen ("fantasmi gagliardi") empfangen. Der "furore" zeigt etwas Neues, Unbekanntes. Er hat mit Überraschung zu tun und führt in einen Bereich, in dem die traditionellen Hilfsmittel keinen Ansatz finden. Vgl. ebd., S. 114 f. 16 Im Trimerone, der Torquato Tasso gewidmet ist, betont er, daß "poeta" keineswegs "imitatore" heiße, sondern seiner Etymologie nach "facitore" bedeute: jemand, der etwas, das zuerst nicht vorhanden war, zum Sein bringe. Der Dichter gebe durch diese Wendung zum Schaffen ("fare'" "creare") der unbestimmten, ungeordneten und formlosen Substanz

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V. Eine poetische summa des Nordens

der Empfanglichkeit für das Neue und die Offenheit für die Welt, die Orazio Ariosti mit Patrizi gemeinsam hat, ist besonders hervorzuheben. Ariosti gelingt es mit Hilfe der Kategorie des Neuen, dem Nordischen in der italienischen Literatur Platz zu schaffen. Für ihn wie für Patrizi soll die Dichtung in bezug auf den Stoff universal sein. Universalität bedeute Grenzenlosigkeit, also Offenheit für die vielfaltigen Erscheinungen der Welt. l ? Wichtig sei das Wagnis, sich dem Unbekannten zu stellen, und das setze die Fähigkeit voraus, sich für das Neue empfänglich zu zeigen. 18 Das poetische Werk Orazio Ariostis ist vor diesem Hintergrund eines engen Zusammenhangs zwischen Universalität und Furor-Poetik zu verstehen. Nicht zufällig bedient er sich des Schlüsselbegriffs der "divin furori", wenn er sich an seinen Großonkel als inspirierende Muse für sein ,nordisches Epos' wendet (I, 2, 1-4): Tu ch'in riva dei Po con chiara tromba cantasti, illustre spirto, armi ed amori, al mio stil, che per se poco rimbomba, comparti, prego, i tuo' divin furori.

Das Epos Alfeo blieb, wie schon gesagt, wegen des Todes des Autors unvollendet und wurde erst im Jahre 1982 von Giuseppe Venturini herausgegeben. 19 Für den Herausgeber handelt es sich um ein originelles Werk, das sich durch stilistische Experimente und außergewöhnliche Inhalte auszeichnet. 2o Seinen skandinavischen Lektüren (Olaus und Johannes Magnus, Saxo Grammaticus) habe der Dichter Ariosti - wie Tasso - nicht nur ein oberflächliches nordisches Kolorit entnommen, sondern die Einstellung zum Leben und zur Welt, den inneren Geist des Epos, das heißt die Idee, daß alle Helden nach den größten Siegen zu plötzlichem Fall, Elend, Zusammenbruch und Tod bestimmt sind. 21 Im Norden hätte der Dichter auch den Heroismus gefunden, während die traditionelle Ritterwelt zu seiner Zeit schon etwas für immer Abgeschlossenes gewesen sei. 22 eine Struktur. So könne auch etwas, das früher in der Dichtung keinen Platz hatte, zum Ausdruck kommen. Die Lehre der "imitazione" wird von Patrizi stark angegriffen, weil sie eine ganz andere Sicht von Dichtung voraussetzt. 17 Vgl. J. Link, Die Theorie des dichterischen Furore in der italienischen Renaissance, München 1971, S. 156 ff. 18 Vgl. ebd., S. 172. 19 O. Ariosti, L'Alfeo, hrsg. von G. Venturini, Ferrara 1982. Das eigenhändig verfaßte Manuskript befindet sich in der Bibliothek Ariostea in Ferrara (Ms. Classe I 177), zusammen mit den originalen Briefen von Giovan Mario Verdizzotti an Ariosti. Im 18. Jahrhundert wurden lediglich achtzehn Oktaven in einem Sammelband, Rime scelte de' poeti ferraresi (Ferrara, Pomarelli, 1713), veröffentlicht. 20 Vgl. G. Venturini, Saggi critici... , a. a. 0., S. 141 und S. 104 f. (Fußnote). Venturini spricht auch von Metaphern und Gleichnissen, die zu gewagt sind. Tasso traute aber seinem Freund Orazio zu,feliciter audax wie Horaz zu sein. V gl. ebd., S. 99 und S. 111. 21 Vgl. ebd., S. 77 (Fußnote) und S. 138. 22 Vgl. G. Venturini, Introduzione zu O. Ariosti, L'Alfeo, a. a. 0., S. 15.

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Die Geschichte von Alff und Alvilda ist in der Historia des Olaus Magnus (Hist., V, 18-19 und V, 27), in der Gothorum Suenorumque historia des Johannes Magnus (VII, 8 - 10) und auch in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (VII, 191) zu finden. Sie ist aber lediglich eine der vielen miteinander verstrickten Geschichten, aus denen das moderne Mischepos besteht. Viele andere Episoden, die sich mit der Hauptgeschichte verflechten, wurden von Ariosti selbst erfunden, mit der Absicht, alles ihm bekannte Nordische zusammenzuraffen. Das Epos, das zwischen Thule, Island, Norwegen und Schweden spielt, beinhaltet alle Merkmale, die in Italien mittlerweile zum Inbegriff des Nordens geworden waren. Die Namen der Personen stammen meistens aus der nordischen Tradition, wurden aber leicht verändert: Alvilda läßt sich besser als Alvida aussprechen (wie bei Tasso), Alff oder Alfus/ Alphus wird zu Alfeo?3 Die anderen Namen im Epos sind ähnliche Italianisierungen von den bereits latinisierten Namen der nördlichen Tradition, die Ariosti bei Saxo oder bei den Brüdern Olaus und Johannes Magnus fand. Der Alfeo kann als eine Art poetische summa des Nordens gedeutet werden, die dem italienischen Publikum zur Verfügung gestellt wird. Nordische Quellen und persönliche Vorstellungskraft müssen zu einem beeindruckenden und heroischen modernen Epos führen, das den Dichter als "facitore" und nicht nur als "imitatore" kennzeichnet. In seiner Konstruktion des Nordens steht nicht mehr die imitatio, sondern die inventio im Vordergrund. Die Regionen, die Ariosti beschreibt, sind in seinen Augen exotisch, weil das Klima sehr unterschiedlich von dem in Italien ist. Das Werk erzählt zwar von einer ,glühenden Liebe', die jedoch unter einem ,kalten Himmel' erlebt wird. Diesen Kontrast kündigt der Dichter in der ersten, unvollendeten ottava an, in der der Dichter sich der Kontraste der Wänne-Kälte Metaphorik bedient (I, 1, 1-4): Come di Scandia [Gothiaf4 sotto il freddo cielo ardesse per Alvida il dano Alfeo; e cio ehe, caldi d'amoroso zelo, di glonoso l'uno e l' altro feo ...

Von Anfang an ist spürbar, daß den zwei Protagonisten vergleichbare ruhmreiche Heldentaten zugetraut werden. Beide, Mann und Frau, stehen als Helden gleichwertig im Mittelpunkt. Diese Tatsache kann man nach dem kalten Klima als das zweite nordische Merkmal bezeichnen. Die Beschreibung der Landschaft, der Völker, der Kriegskunst und die Anhäufung von vielen weiteren Erscheinungen 23 Dieser Name ähnelt dem ursprünglichen, ist gleichzeitig klassisch und als Name des Flusses in Arkadia oder des Schäfers in der Altercazione von Lorenzo il Magnifico bekannt. Auch Ariost hatte von einem "dotto Alfeo", "medico e magD e pien d'astrologia" am Hofe Karls des Großen gesprochen (Orl.jur., XVIII, 174,2-4) 24 Den ursprünglichen Namen "Scandia" ersetzte Ariosti auf dem Manuskript durch "Gothia", vielleicht unter dem Einfluß von Tassos Re Torrismondo, das in denselben Jahren geschrieben wurde.

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V. Eine poetische summa des Nordens

lassen den Alfeo zu einer echten Ansammlung alles Nordischen in der italienischen Literatur werden, wie im folgenden erläutert wird.

2. Nordische Landschaften a) Stünne, Fjorde, Berge, Seen, Sümpfe und Wasseifälle

Bis auf wenige kleine Ausnahmen wie der zauberhafte und trügerische Ort, an dem die Zauberin Alcina lebt und der mit Kräutern wie Verbene und Raute, mit Lorbeer- und Olivenbäumen (X, 1) verziert ist, oder der Eden des ewigen Frühlings, ein {oeus amoenus, in dem die ,Wut' des Nordwindes nicht zu befürchten ist (X, 52, 8: "ne d'aquilone mai vi si terne l'ira"), sind die meisten Landschaften des Epos sicherlich als ,nordisch' zu bezeichnen. Der schöne Garten, die schöne Natur, die scheinbar etwas Paradiesisches an sich haben, können sehr gefährlich sein, meint der Dichter, wie eine überragende Schönheit im allgemeinen. In der Vorstellung der Zeit kann der Teufel mit schönen, verführerischen Trugbildern die Menschen in den Ruin treiben. Ebenso kann die menschliche Schönheit eine groBe Gefahr darstellen, da sie oft vergöttert wird (VII, 2 und XVI, 1- 3). Die nicht verzauberte und eher rauhe Natur der nördlichen Regionen gehört dagegen vollberechtigt zu der Schöpfung Gottes. Eine gewisse Sensibilität für Naturerscheinungen und Landschaften, die nicht gerade der poetischen Tradition angehören, kann man dem Dichter nicht absprechen. Das hängt auch mit der Überzeugung der Zeit, die Welt sei in allen ihren Teilen und in ihrer Vielfliltigkeit schön und perfekt, zusammen. Diese Auffassung kommt in den Worten Alcinas zum Ausdruck, die dem jungen Helden Isauro den Wissensspiegel mit den Bildern der Schöpfung und der Reiche des Jenseits zeigt (X, 13, 5 - 8): di tutto egli e '1 gran fabro, il quale assurne, d'ogni vigor d'ogni eccellenza pieno, con altissima guisa cio che spande per tutte le sue parti il mondo grande.

Gott ist der groBe Schmied, der groBe Schöpfer einer Welt, in der nicht nur Tag und Nacht aufeinanderfolgen, sondern auch rauhe und milde Länder, und in der doch alles zur perfekten Harmonie der Natur und zur Vollkommenheit des Kosmos beiträgt (X, 19-20). Dem Tag entspricht die südliche Hälfte der Welt, der Nacht die nördliche. Die eine kann nicht ohne die andere existieren. Wilde Wälder, Berge, gepflegte Orte, blumenreiche, sonnige Hügel, gewaltige Ströme und Bäche, ruhige Flüsse, tiefe Täler und angenehme Winde, liebliche Weizenfelder, Lorbeerbäume, Zedern und Myrten: Alle gehören vollberechtigt zur Schönheit der von Gott geschaffenen Natur (X, 26, 5 - 6: "boschi selvaggi e monti, e piagge culte, / e colli aprichi a la stagion fiorita"; X, 27, 1-2: "Rivi sonanti e rapidi torrenti, / e cheti fiumi con fiorite sponde"). Wenn die Regionen der sogenannten Aquilonaria regna sich von der antiken Welt unterscheiden, die einst von Rom beherrscht wurde, so

2. Nordische Landschaften

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ist das ein weiterer Beweis für die Güte und die Größe der Schöpfung. Das kalte Klima war doch schon von Ericus Olai (Chronica regni gothorum, 1470) und vor allem von Olaus Magnus als besonders gesund gepriesen worden. Es sei besonders geeignet, um harte und starke Soldaten hervorzubringen, und die Leute im Norden seien durchaus in der Lage, mit angeborener Weisheit das Beste aus der Kälte zu machen. 25 Ariosti versucht, die nordische Natur mit Hilfe der gesammelten Informationen und mit seiner Vorstellungskraft zu beschreiben: Sie ist eigenartig und dem italienischen Publikum nicht vertraut, aber sie muß in ihrer Andersartigkeit besonders faszinierend wirken und den Horizont der großen und schönen Welt erweitern. Wenn von der Rauheit des Klimas und von der Kraft der Elemente die Rede ist, ist dies auch der Versuch, eine neue Art von Schönheit vor Augen zu führen. Manchmal scheint der Dichter zu vergessen, daß einige Bäume in den Regionen, die er beschreibt, nicht wachsen können, wie zum Beispiel die Zypressen, die er in einen norwegischen Wald setzt (XV, 61, 8 und XV, 109, I). Auch in diesem Fall folgt er jedoch seiner nordischen Quelle Olaus Magnus, der von einigen im Norden wachsenden riesigen Wacholder gesprochen hatte, die wie Zypressen aussähen (Hist., XII, 6). Ariosti gibt sich alle Mühe, die Stimmung einer nordischen Landschaft wiederzugeben, und zwar nach den ihm zur Verfügung stehenden Informationen. 26 Wenn der Held Isauro mit seinem Gefolge den Tyrannen aus Nordmöre ("Normoria") mit seinen Leuten vertreibt und verfolgt, geschieht dies in einer Landschaft mit Wäldern und schroffen Abhängen (XI, 113, 8: "li caccieran per selve e per dirupi"). Doch ist dieses Land nördlich des Reiches Norwegen eindeutig ein schönes Land (XI, 114, 8: "bel regno"). An einer anderen Stelle wird das Gebiet Norwegens als "suol gentile" (XII, 58, 3) bezeichnet: Für die Norweger, die für ihre Heimat kämpfen, sind die Orte, in denen sie geboren sind, lieblich und schön. Bei Dante waren Wald, Wüste, schroffe Felsen und Abgründe in der Hölle zu finden, und sie hatten eine allegorische Bedeutung. Sie standen für die Sünden der Menschen und die Entfernung von Gott. Nun gehören die nordischen Landschaften ganz und gar der Erde, die von Gott geschaffen wurde. Die Folge ist eine neue Aufwertung des Nordens. Die Landschaften, die Olaus Magnus als typisch nordisch betrachtet hatte, regen die Phantasie Ariostis besonders an. Wilde hohe Berge mit dichten und undurchschaubaren Wäldern und schwierigen Wegen werden mit vielen Adjektiven beschrieben, die an einigen Stellen an Dantes Inferno erinnern (XIII, 33 - 34; XII, 39, 4-5: "pien di sterpi e bronchi rei, I per la costa deI monte incolto e fero"; XII, 31, 2: "la densa fronde e l'intricato calle"; XII, 31, 7: "in sei va opaca e spessa"). Mit 25 Über das nordische Klima bei Olaus vgl. C. Frängsmyr, Olaus Magnus and the nordic Climate, in: Ifratelli Giovanni e Olao Magno . .. , a. a. 0., S. 139-146. 26 Ariosti weiß zum Beispiel, daß die sommerlichen Nächte im Norden sehr kurz sind (XIV, 47, 1-4: "COS! ne la stagion che di poche ore / a noi le notti estivo cielo adduce, / quando un perpetuo rubicondo albore / a l'aer brun ne l'orizonte luce").

9 Boccignone

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V. Eine poetische summa des Nordens

zahlreichen Details wird auch der Paß zwischen Schweden und Norwegen, die sogenannte "Via Montana" in den Bergen an der Grenze der zwei Reiche, beschrieben (XII, 6). Beeindruckend ist das Toben des Meeres an den westlichen Küsten Norwegens (Il, 4, 7 - 8): vicino il mar, che di Norvegia freme occidental sovra le ri ve estreme.

Wenn die Zauberin Megista ins Land der Götar ("Gotia") zu Alvida fährt, wird ihre Reise so gut beschrieben, daß man ihren Weg genau verfolgen kann (III, 12, 3 - 8 und I1I, 13): EI' altissimo Hornilla, eterno albergo di ghiacci e nevi, mira a destra e scorre. E scorre illido, che palustre mergo si per gli inescrutabil fond' aborre. Alfine e 'I lido e 'I mare a dietro lassa e ne' terrestri campi a dentro passa. E I'Hetmarchia, non ignobil parte de la Norvegia, traversando fende: poi giunta al dosso, che la Gotia parte da la Norvegia, con sue balze orrende, usando piu che mai de la su' arte, i forrnidabili gioghi e monta e scende, dei gran Doffrini in men che non balena varcando la temuta alpestre schiera

Megista passiert die Region Hedmark ("Hetmarchia") und überquert die Bergkette der Dovrefjell, die auf der Carta milrina "Alpes Dofrini" genannt sind. Olaus zufolge trennten sie das Reich Norwegens vom gotisch-schwedischen Reich. Diese Berge seien sehr hoch, immer von Schnee bedeckt und wegen der häufigen Schneelawinen sehr gefährlich (Hist., Il, 14-15). Ariosti präsentiert sie als grauenvolle und furchterregende Reihe von Steilhängen ("balze orrende", "alpestre schiera"). Solche gewaltigen Berge werden jedoch von der einheimischen Zauberin problemlos bewältigt, buchstäblich überflogen. Während sie über diese Berge fliegt, hört sie unterirdische Geister lachen, die Ariosti wahrscheinlich von den Dämonen der Metalle bei Olaus übernommen hat (Hist., VI, 10).27 Das ganze dritte Buch der Historia de gentibus septentrionalibus ist dem abergläubischen Kult der Dämonen im Norden gewidmet. Für Ariosti gehören sie deswegen, zusammen mit verschiedenen Geistern, Schatten und Gespenstern, zum Inventar der nordischen Landschaft (III, 14):

27 Diese seien die schlimmsten Dämonen überhaupt, die viele Bergleute in den Minen eingesperrt haben und sie peinigen. Ihr Lachen drückt ihre Bosheit gegenüber den Menschen aus, die sie andauernd täuschen und betrügen. Letztendlich versuchen diese bösen Geister, die Menschen in den Tod zu führen.

2. Nordische Landschaften

BI

E sente nel passar grandi le risa dei demon, che sepolto a I'uso loro vivo alcun forse avean, ch'ivi recisa la terra, intese a trame argento od oro. Ma da quei monti gia tutta divisa, senza punto pigliar posa 0 ristoro, la Verrnelandia a costeggiar si pone, che tra lei si rimane e l' aquilone.

Nachdem die Zauberin Megista weiter nach Süden, entlang der Region Värmland ("Vermelandia"), gefahren ist, kommt sie zum See Vänern (zum See der Venus, Lacus Vener auf der Carta marina, erwähnt in Hist., 11, 18 und XX, 3), bei dem sich die schöne und berühmte Burg "Arane" (Aaranes, heute Ärnäs) befindet. Neben dieser gotischen Burg, in der die Tragödie Tassos spielt, erwähnt der Dichter auch "Scara" (Skara), obwohl diese Stadt Olaus zufolge die antike Hauptstadt des Reiches der Goten vor "Arane" war. Die alten Gräber, die sich in der nächsten Umgebung der berühmten Stadt befinden, stellen ein gewaltiges und gleichzeitig unheilvolles und betrübliches Bild dar (111, 15, 1- 6): Alfin riesce, Amor, sovra il gran lago, che da la bella tua madre s'appella; un angolo ne varca e 'I corso vago drizza ad Arane, rocca illustre e bella: lasciando Scara, u' con funesta imago piu d'una antica tomba il pian suggella

Arane und Scara waren von Olaus in demselben Kapitel behandelt worden (Hist., 11, 21). Beide Städte waren zur Zeit des Bischofs bereits Ruinen und somit Zeugen der ruhmreichen Vergangenheit und einer großartigen Blütezeit der Goten. Der seltsame Umstand, daß Alvida in Arane lebt (III, 15 -16) und ihre Eltern in Scara wohnen (III, 68), hat mit der Erwähnung der beiden Städte als zwei königliche Burgen bei Olaus zu tun. Man kann aber auch an den Brauch denken, heiratsfähige Prinzessinnen in einsamen Burgen oder Türmen einzusperren, um sie den Augen der Welt zu entziehen (Hist., V, 18). Scara gilt daher als der königliche Sitz der Goten, wogegen Arane nicht mehr als eine schöne, aber abgeschottete Burg ist (III, 69, I: "solinga rocca"). Obwohl auch in Norwegen einige Städte erwähnt werden ("Fisca" und "Nidrosia", das heißt Fauske und Nidaros), besteht dieses Land vor allem aus Bergen, Wäldern und Seen, die aufeinanderfolgen (XV, 25). Manchmal sind die Wälder besonders wild, dunkel und abschreckend, mit vielen verstrickten Dornbüschen, großen Buchen und versteckten, tiefen Höhlen (XV, 84). Alfeo verfolgt eine der Feen, die sich in ein Hirschweibchen verwandelt hat, in einem Wald dieser Art (XV, 84, 2-5): tra pruni inaccessibili eselvaggi, dov'e piu disusato il bosco orrendo, dov' e piu chi uso il varco ai cari raggi

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V. Eine poetische summa des Nordens

Die Reise der Zauberin nach Arane (III, 12-15) ist für die Forscherin Antonella Perelli eine der wenigen Stellen, die dem Leser den Eindruck vermitteln, sich in einer Landschaft zu befinden, die nicht die übliche Landschaft der italienischen Ritterepen darstellt. Sie versucht zu beweisen, daß es Orazio Ariosti besser liegt, klassisch-nordische Geschichten zu erfinden, als nordische Landschaften zu beschreiben? S Ihrer Meinung nach kommt die von Olaus als wild und eisig beschriebene Landschaft zu selten vor. Die Kämpfe fänden an Orten statt, in denen es keinen Schnee, kein Eis, keine Abgründe und keine großen Bewegungsschwierigkeiten gibt. Ariosti würde sich nur ab und zu daran erinnern, daß er ein besonderes Land, ein nordisches Land als Bühne für sein Epos gewählt hat. 29 Dieser Meinung kann man nicht zustimmen. Es gibt sehr viele Beschreibungen der nordischen Landschaft, die man darüber hinaus als poetisch gelungen bezeichnen kann. Man darf auch die Mittel des Dichters nicht überschätzen. Seinen Beschreibungen liegen keine persönlichen Beobachtungen zugrunde, sondern sie basieren ausschließlich auf literarischen Quellen. Wenn Antonella Perelli sich auf die Fahrt von Isauro und Antracio nach Nordmöre ("Normoria") bezieht, meint sie, daß sie zu schnell ihr Ziel erreichen (IX, 55):

E 'llor corso a levante, ma non dritto

SI ch' a sinistra alquanto ei non dec1ini; cosl de1 c1ima piu dal verno afflitto sempre acquistando, gli ultimi confini toccano alfin di Scandia; e qui traggitto fanno al suol dai pericoli marini: rimane a lor l' empia Cariddi a tergo con Heglanda, di gente illustre albergo.

Perellis Sicht könnte man positivistisch nennen. Sie verkennt, daß es sich um eine Stilisierung handelt. Nach ihrer Einschätzung hätte Ariosti bedeutende Stellen der Historia des Olaus, wie zum Beispiel die Stelle, an der von der gefährlichen Charibdis erzählt wird (Hist., 11, 7), zu einer reinen Auflistung von topographischen Namen reduziert. Dem Dichter wäre nicht bewußt gewesen, daß seine nordischen Paladine Schwierigkeiten zu überwinden hatten, die Aeneas, Orlando oder Goffredo unbekannt waren?O Diese Kritik jedoch ist ebenfalls schwer nachvollziehbar, weil Ariosti doch oft an die Regionen denkt, in denen sich die Geschichte abspielt, zumindest häufiger als sein Großonkel, der Rinaldo nach Schottland und Ruggiero und Orlando zu den Hebriden-Inseln geschickt hatte. Wahrscheinlich hat Perelli vergessen, daß die Protagonisten des Alfeo ihre Abenteuer im Spätsommer oder Anfang Herbst und nicht im Winter erleben. Daher liegt noch kein Schnee auf 28 Vgl. A. Pere11i, Olao Magno a Ferrara . .. , a. a. 0 ., S. 224: "Senza dubbio Ariosti appare piu abile nell'ideazione di queste storie c1assico-nordiche che nella ricostruzione degli ambienti". 29 Vgl. ebd., S. 225. 30 Vgl. ebd., S. 227 .

2. Nordische Landschaften

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der Erde, und es gibt auch kein Eis. Man muß darüber hinaus berücksichtigen, daß Länder des äußersten Nordens wie Lappland und Botten zwar erwähnt werden, nicht aber die Bühne für die erzählten Ereignisse sind. Man tut dem Dichter Unrecht, wenn man ihm vorwirft, zu wenig von Eis und Schnee gesprochen zu haben. Er hatte doch gerade bei Olaus gelesen, das Klima sei nicht immer so unerträglich kalt wie von den Italienern angenommen. Die Länder des Nordens hätten durchaus fruchtbare und fröhliche Sommermonate mit verhältnismäßig angenehmen Temperaturen. Im Sommer sei alles grün und man könne sogar unter freiem Himmel schlafen (Hist., XIV, 10 und XV, 10). Ariosti läßt seine Helden in dieser Jahreszeit auf See und in wasserreichen Flüssen kämpfen. Die Beschreibung von Sümpfen und Mooren ist sehr sorgfältig, zum Beispiel, wenn die Flucht des Diebes Gabanello mit dem Zauberpferd Celerino dargestellt wird. Das Pferd ist unsterblich und so leicht, daß es nicht im Sumpf versinkt (VI, 85). Die normalen Pferde Alvidas und Altamondas, die Gabanello verfolgen, sind schwerer, so daß die Frauen sich im Schlamm der Sumpfgebiete beschmutzen. Die ausführliche Beschreibung der "palude"(VI, 85 - 92), "fangosa strada" (VI, 88, 2), "pantano" (VI, 85, 6 und VI, 89,4) mit "limo" (VI, 87, 3; VI, 88, 8 und VI, 92, 2) und "fango" (VI, 85, 2 und VI, 91, 4) hat nichts Ironisches oder gar Herabwürdigendes für die Frauen, die sich in einem solchen Gebiet bewegen, sondern entspricht dem Versuch, eine ganz besondere Landschaft zu kreieren, die für den Dichter typisch nordisch ist (Hist., VIII, 24; X, 1; X, 17; XVII, 8 und XVII, 16 - 17). Der Norden wird durch ein ,Klima, das am meisten vom Winter geplagt ist' (IX, 55, 3: "clima piu dal verno afflitto") charakterisiert, um deutlich zu machen, daß Isauro und Antracio nach Nordosten fahren. Dort sind die letzten Grenzen Scandias. Die zwei Helden lassen die Region Helgeland ("Heglanda", Helgaland auf der Carta marina) und das Meer mit seinen Gefahren hinter sich, durchqueren einen Wald, erreichen die hohen Berge "Doffrin", rennen einen langen Fluß entlang (IX, 56) und kommen zu einem riesigen und lauten Wasserfall, in dem ein Junge mit leiser und wehleidiger Stimme wie ein sterbender Schwan ein melancholisches Lied singt (IX, 57 -58). Eine phantasiereichere Beschreibung der skandinavischen Landschaft ist von einem italienischen Dichter nicht zu erwarten: In wenigen ottave sind alle Elemente zusammengefaßt, die die Natur des Nordens ausmachen, von den Gefahren des Meeres bis hin zu den Wäldern mit Tannenbäumen (IX, 57, 3-4: "e l'augellin, che di cantar si pente, / letto d'un ramo in su l'abete fassi"), von den großen Bergen bis zu den Flüssen und Wasserfällen. Hinzu kommt der melancholische und klägliche Ton einer Schattenfigur aus dem Reich der Toten, die im Wasser wie ein anmutiger Schwan verführerisch auf die Helden wirkt und das Bild wie eine Art Filmmusik abrundet. Diese Figur ist sicher als ,nordisch' zu bezeichnen, denn Olaus Magnus behauptet, solche melancholischen und traurigen Geigenspieler seien nur im dunklen Wasser der Flüsse im Norden zu finden (Hist., XX, 20), so wie die bleichen Schatten oder Gespenster dieser Art zu der kältesten Region unter den sieben Sternen des Bären gehörten (Hist., III, 17 und III,22).

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V. Eine poetische summa des Nordens

Die Landschaften haben im Alfeo fast immer melancholische Konturen.31 Der wehmütige Aldano, der an seine verlorene Geliebte denkt und sich auf einer Klippe vor einer steilen Küste am Rande des höchsten Felsens eines Fjords befindet (VII, 135, 2: "I'alto scoglio"; VII, 136,2: "mesto ne la suprema rupe stava"), fragt sich, warum er noch am Leben ist, und erhält dann einen ausgetrockneten Zweig von einer Schwalbe, die lange geflogen ist und von seiner Geliebten erzählt. 32 Die trauernde Nymphe, die ihren geliebten Odrisio im Kampf verloren hat, bewegt sich weinend zwischen dunklen Tälern und schroffen Steilhängen und Schluchten (XV, 56, 6: "corse fra stranie balze"), die nicht nur Teil eines traditionellen locus terribilis sind, sondern auch die poetische Übersetzung von Stellen der Historia von Olaus (Hist., 11,31) auf der Suche nach Authentizität und der präzisen Wiedergabe der Natur des Nordens darstellen. Der Nebel ist im Alfeo, im Gegensatz zu den übrigen Epen, oft präsent. Als zum Beispiel Aldano dem Protagonisten Alfeo von seinem Versuch erzählt, den Liebhaber der Stiefmutter zu verfolgen, beteuert er, ein sehr dicker Nebel hinderte ihn am Sehen. Es handelt sich um einen Nebel, der nicht nur die Augen trifft, sondern auch das Atmen behindert. Es ist ein Dampf, der dicker als Rauch ist (I, 59, 4-5: "aer che si condensa a me vicino; / ch'a me poi giunto affanna gli occhi e 'I petto"; I, 60, 1-2: "nebbia folta / la qual piu aspra tuttavia s'ingrossa"). Dieser Nebel bringt ihn schließlich zum Einschlafen. Eine Nebelbank kann auch plötzlich kommen, dann ist es schwierig zu sagen, ob es ein natürliches Phänomen ist oder ob der dunkle Dampf mit Zauberworten hervorgerufen wurde (XVI, 27, 2 - 4: "sorger si vide un'improvvisa nebbia;lforse vapor, forse incantevol grido / fu che formolla"). Im Nebel, unter einem stumpfen, unreinen Himmel (XVI, 27, 8: "in cielo impuro") kann sich Gabanello vor den Feinden besser verstecken. Im dicken Nebel geschieht es sogar, daß zwei alliierte Armeen mit Wut gegeneinander kämpfen, ohne einander zu erkennen (XVI, 3l)!33 Zusammen mit anderen Elementen deutet die extrem häufige Präsenz des Nebels auf das gewagte Experiment des Dichters hin, in seinem Epos ,Nördlichkeit' poetisch zu konstruieren, wie kein anderer vor ihm es getan hat. Auch das tiefe Wasser, das durch hohe und felsige Berge dringt, ist eine Konstante. Wie bereits erwähnt, ist von Schnee und Eis nicht so häufig die Rede, da die Geschehnisse in einer verhältnismäßig warmen Jahreszeit stattfinden. Das Wasser dagegen spielt eine größere Rolle. Oft wird das Schwimmen der Protagonisten mit Details beschrieben: Aldano "rnentre un braccio scopre, asconde l'altro / ne men sott'acqua 31 Venturini schreibt: ,,11 paesaggio non e mai fine a se stesso [ ... ] vibra sempre deI sentimento dell'ignoto edel mistero, in cui si esalta Ia sua malinconia." G. Venturini, Saggi critici. .. , a. a. 0., S. 128. 32 Aldano kann die Sprache der Tiere verstehen wie Erik bei Olaus (Hist., III, 15). 33 Diese Gefahr war auch von Olaus Magnus erwähnt worden. Betrunkene Soldaten - im Nebel des Alkoholrausches sozusagen - würden manchmal gegen ihre eigenen Leute kämpfen (Hist., XIII, 39). In seinem dichterischen Werk verklärt und veredelt Ariosti oft seine Quelle.

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al nuoto e '1 piede scaltro" (VII, 155, 7 -8). In keinem anderen zeitgenössischen italienischen Epos schwimmen die Helden, wie sie es im Alfeo tun. Normalerweise bleiben die Ritter alle auf ihren Schiffen, und ins Wasser zu fallen heißt, den Kampf verloren zu haben. Im Orlando furioso kommt eine absolute Ausnahme vor, nämlich daß sich der wahnsinnig gewordene Orlando mit seinem Pferd ins Wasser wirft (Orl. fur., XXX, 11-13). Der Ritter versucht erfolglos, ein Boot zu erreichen. Der Tragweite seiner Tat ist er sich nicht bewußt. Das Pferd verliert dabei das Leben und Orlando schafft es nur deshalb, bis zur Küste Afrikas zu schwimmen, weil das Meer ruhig ist und Fortuna die Verrückten beschützt (XXX, 15, 1 - 2: "Ma la Fortuna, che dei pazzi ha cura / deI mar 10 trasse nel lito di Setta"). Sonst wäre der Paladin Orlando sicher gestorben, behauptet Orazios Großonkel, der scherzhaft die Mühe hervorhebt, mit der sich sein Held im Wasser bewegt (Orl.fur., XXX, 14,3-8) Mena le gambe e l'una e I'altra palma, e soffia, e I' onda spinge da la faccia. Era I' aria soave e il mare in calma: e ben vi bisogno piu che bonaccia; ch'ogni poco che 'I mar fosse piu soTto, restava il paladin ne I' acqua moTto. Orlando schafft es also letztendlich, mehr oder weniger zu schwimmen, aber dies ist keine lobenswerte Leistung, sondern vielmehr ein Zeichen seines Wahnsinns und seiner gewaltigen und nun völlig unnützen körperlichen Kraft. Das Schwimmen hängt mit anderen Taten des verrückten Ritters zusammen, die nichts mit Ritterlichkeit zu tun haben. Vom Kampf im Wasser ist im Orlando furioso selbstverständlich keine Rede. Der stärkste Held - der die Vernunft verloren hat kann sich kaum oder mehr schlecht als recht über Wasser halten, die anderen Ritter, Christen oder Muslime, meiden die Wellen, wie es sich gehört. Ganz anders ist es mit den Helden Orazios. Sie sind echte ,nordische' Soldaten, wie Olaus Magnus sie sich vorstellte: Sie können meisterhaft schwimmen und tauchen, selbst unter den schwierigsten Bedingungen (Hist., X, 22-29). Sie sind von Kindheit an darin geübt (Hist., X, 30-31). Diese Fähigkeit gehört sogar zu den wichtigsten Voraussetzungen, um im Norden als ein guter Kämpfer gelten zu können. Der Held Altosasso trotzt sogar einem Strudel. Wahrend einer Seeschlacht springt er ins Wasser und muß sich dann vor den Pfeilen der Feinde hüten (XIV, 144,1-4): Nel vasto gorgo il cavalier notando ora a destra si lancia or a mancina; quando si mostra tutto soTto, quando qual mergo sotto 'I flutto il capo inchina Altosasso schwimmt unverletzt bis ans Ufer und taucht dabei immer wieder wie der Vogel Säger seinen Kopf unter. Sein Name, der wie die Beschreibung eines Teils der norwegischen Landschaft klingt, gehört nicht der nordischen Tra-

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V. Eine poetische summa des Nordens

dition an, sondern ist eine Erfindung Ariostis: ,Hoherfels' wäre die passende Übersetzung. Er ist in seinem Land der Berge und des Wassers zuhause. Die vielen Feinde aus Thule, die mit Bogen schießen, können ihn nicht töten, weil er sich im Wasser so hervorragend bewegen kann. Wer schwimmen kann, kann oft sein Leben retten, hatte Olaus bemerkt (Hist., X, 22), und alle guten Soldaten müssen schwimmen können, selbst mit ihren Rüstungen (Hist., X, 23 - 25). Sogar die Pferde könnten im Norden gut schwimmen, und die Geschichte des norwegischen und des gotischen Volkes sei reich an Helden, die ausgezeichnete Schwimmer waren. Olaus hatte auch der Dürre Afrikas gerade den großen Reichtum des Nordens an Quellen und Wasser entgegengesetzt (Hist., 11, 32). Das Wasser scheint damit das natürliche Element der Nordmänner zu sein. Wie in der Kälte des Winters würden sich die Menschen des Nordens im Element Wasser besonders wohl fühlen. 34 Das Wasser in all seinen Formen - als Nebel, Regen, Schnee und Eis, als Wasserfall, Sumpf, Fluß, See, Meer, Ozean - gehört also Olaus Magnus zufolge zu den wichtigsten Merkmalen der nordischen Landschaft. Daher können die Menschen des Nordens besonders gut mit den Gewässern umgehen. Ihre Qualität als ausgezeichnete Schwimmer und Soldaten, die zu jeder Zeit auf hoher See und in Flüssen und Seen kämpfen können, drückt diese enge Beziehung zwischen den Menschen und ihrer Umgebung aus. Wenn man auch noch die Gleichnisse des Epos in die Betrachtungen einbezieht, stellt man fest, daß viele einen eindeutig ,nordischen' Charakter haben. 35 Die Krieger aus Thule, die im Kampf gegen die Norweger vordringen, sind wie eine Schar von fliegenden Vögeln im Herbst, die mit ihren Flügeln den Himmel verdunkeln und die Augen des Betrachters belasten. Der Himmel selbst ist schon schwer und bewölkt (XIII, 51, 3 -4: "allor che I'aria grave / e nubilosa fa l'ottavo mese"), wie in den meisten Beschreibungen des Epos. Der Schimmel, den Alfeo vom Hl. Paulus bekommt, ist weiß wie ein Hermelin (XIV, 44, 7: "bianco quant'esser puo bianco armellino,,)?6 Die unzähligen Pfeile, die während der Schlacht durch die Luft sausen, sind wie die aus einem kalten Himmel fallenden Schneeflocken (XIV, 64, 1- 3: "non tanto allor che 'I sol si tocca / co 'I capricorno ad imbiancare il mondo / neve da freddo cielo in terra fiocca"). Die imaginatio borealis Ariostis ist also auch auf der metaphorischen Ebene wirksam. Aldano und seine Leute, die sich voller Mut in den Kampf stürzen, sind wie ein gewaltiger, breiter Bach nach einem großen Regen (XIV, 89, 5 - 6: "tal scende 34 Vorn jungen Held Isauro wird sogar behauptet, er könne im Zyklus der Wiedergeburt als Fisch zur Welt kommen (IX, 103). 35 Venturini weist darauf hin, daß viele Gleichnisse im Alfeo mit dem Wasser (Ozean, Bäche und Flüsse) zu tun haben. Seiner Meinung nach sind sie die schönsten des Alfeo. Vgl. G. Venturini, Saggi critici, a. a. 0., S. 131 ff. 36 Olaus Magnus hatte wiederholt die Schönheit des weißen Fells des Hermelins hervorgehoben (Hist., XVIII, 10 und XVIII, 20-21).

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furioso ampio torrente, / dopo gran pioggia di piu rivi unito"; Hist., 11, 30) oder wie starker Wind, der in einer freien Landschaft ohne Hindernis wehen kann (XIV, 89, 7 - 8: "tal gran tratto soffiando ingombra il vento / se di monti non tocca impedimento"). Die Soldaten aus Thule fliehen vor Altosasso wie Vögel vor einer Gabelweihe oder wie Blätter, wenn der regenbringende Nordwind in der schwarzen Luft heult (XIV, 135,3 -4: ,,0 le pallide foglie allor che rugge / il piovoso aquilon per l'aria nera"). Die von Alfeo zurückgewiesene Magierin Megista ist in ihrer Wut gewaltiger als jeder Brand oder Wind, gewaltiger als der Blitz oder der reißende Strom eines Bergbaches (IV, 82, 1-4):

e

Eben ver che nulla fiamma 0 vento, non fiume alpestre 0 rapido torrente; non il fulmine stesso violento come allor la donna che sprezzar si sente

e

Der Bach aus den hohen Bergen, der als gewaltiger Strom fließt, kommt wie auch der Blitz ebenfalls im letzten Chor der ,nordischen' Tragödie Tassos vor (Torr., 3317: "E come alpestro e rapido torrente"; Torr., 3318-3320: "Come acceso baleno / In notturno sereno / ... 0 come stral repente"; vgl. Kap. VI.4.c). Die Bilder, die bei Tasso für die kurze Dauer und die vanitas des Lebens stehen, stellen aber für Ariosti lediglich die Wut und die Gewalt der Naturelemente im Norden dar. b) Das Nordlicht

Unter den Naturphänomenen, die nur in den Nordregionen auftreten und die der Dichter wie sein Publikum nur vom Hörensagen kennen, ist das Nordlicht. Es dürfte dies die erste italienische poetische Beschreibung des Nordlichtes sein, die Orazio Ariosti mitten in einen altbewährten {ocus amoenus setzt. Ihm scheint ein solches Phänomen so wundervoll zu sein, daß es in den Garten der Zauberin Megista paßt. Selbst der Däne Alfeo ist von dieser Erscheinung überrascht, die nicht als ein Naturphänomen vorgestellt wird, sondern als verführerischer Zauber. Vielleicht will der Dichter die Reaktion des italienischen Publikums vorwegnehmen, indem er die Überraschung des Protagonisten thematisiert. Zwei ottave nimmt sich Orazio Ariosti, um mit Bewunderung und Staunen die in der Luft strahlende und glanzvolle Lichtharmonie zu beschreiben. Sie ist eine leuchtende ,Triumphwolke', die sich aus dem äußersten Teil der Hemisphäre wie eine zweite Sonne abhebt, Wiese und Wald mit wunderbarem Licht erfüllt und sich wie ein Falke nach dem flug niederläßt (IV, 37 - 38): Lucida nube da I' estrema parte de I' emisfero balenando emerge, che, quasi un dupplicato sol, comparte immensa luce ne molt'aIto s'erge.

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V. Eine poetische summa des Nordens Or mentre Alfeo contempla e non sa I' arte, ch'iIIustra si quell'aer denso e terge, scende al prato la nube trionfale, come faIcon ch' e stato assai su I' ale. E trionfale eben, poi che scendendo I' aria di raggi e di concerti ingombra, e ' I prato e ' I bosco di splendor stupendo, spiegando '1 suo lucido velo, adombra. Tutta fiammeggia ben, ma pure ardendo n'avampa il centro si che paion ombra a lato a lui gli estrerni; e qui s' asconde I' armonia che per I' aria si diffonde.

Dieser Triumph des Lichtes war zuvor vom angenehmen Wind des Frühlings ("zefiro") vorbereitet worden, der den schrecklichen Nordwind ("borea") und alle Suizidgedanken Alfeos vertrieben hatte (IV, 34). Ariosti ist es gelungen, eine nordische Stimmung zu erzeugen, indem er auf ein bestimmtes Naturphänomen hinweist, das er zwar nicht persönlich beobachten konnte, von dem er jedoch wußte, daß es lediglich im Norden zu sehen ist. Seine poetische Beschreibung konstruiert er mit vielen Elementen, die er ebenfalls für typisch ,nordisch' hält. Die Metapher des Falken zum Beispiel ist nicht zufällig: Die Falken aus dem Norden und vor allem die norwegischen Falken waren besonders bekannt und geschätzt (Hist., XIX, 3-4). Das Phänomen wird ausdrücklich als Wunder (IV, 36, 5: "miracolo") bezeichnet. Es ist jedoch nicht eines der vielen Naturwunder, die die unendliche Macht Gottes veranschaulichen, sondern die Täuschung einer Magierin, der die Dämonen und die Winde gehorchen. Wenn das Licht verschwindet, bleibt ein unnatürlicher und verführerischer locus amoenus (IV, 40-42) mit allen topischen Elementen (schönen und bunten Blumen, Düften, Myrten- und Lorbeerbäumen, Wiesen und Wäldchen, usw.). Das Nordlicht erscheint wie glänzender Dampf (IV, 39, 2: "splendido vapore"), der die Falle der Liebe in dem wunderschönen zauberhaften Garten vorbereitet. Der Dichter versucht, seine Vorstellungen des Nordens dichterisch wertvoll zu gestalten, indem er - wie in diesem Fall - originelle Beschreibungen der nordischen Landschaft mit topischen Elementen kombiniert. Das magische Nordlicht verwandelt nach und nach einen schrecklichen und öden Ort in den traditionellen locus amoenus. Ariostis poetische Darstellung des Nordlichtes dürfte wie gesagt die erste der italienischen Literatur sein. Erst im 19. Jahrhundert wird das nordische Phänomen einen würdigen Platz in der italienischen Dichtung finden, und auch dann wird die "boreale aurora" oder "boreale alba" etwas Dämonisches und Zauberhaftes sein, das über die Naturphänomene hinausgeht. 37 37 Edoardo Giacomo Boner sammelte zahlreiche poetische Beschreibungen des Nordlichtes: von Leopardi, Varano, Casti, Aleardi, Pascoli und anderen. Vgl. E. G. Boner, Rijlessi

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Die Behauptung Antonella Perellis, die magischen Elemente des Alfeo seien dem Publikum vertraut und nicht spezifisch ,nordisch', wie Ariosti es sich wahrscheinlich vorgestellt hatte, ist nicht haltbar. 38 Die Zauberei im Epos Alfeo hat zweifelsohne nordische Konturen, um die sich der Dichter sehr bemüht und die den Unterschied zu anderen epischen Werken ausmachen. c) Thule, andere verlorene Inseln und der reine Nordpol

Das Epos Alfeo beginnt gleich nach der invocatio mit einem Seestunn, der den Protagonisten auf eine Insel verschlägt, die zu den Orkney-Inseln gehört. Hier begegnet er einem jungen Paar: Gesilda, Tochter des Königs von Nordmöre, und Aldano, Sohn des verstorbenen Königs von Norwegen. Letzterer erklärt, daß diese Inseln insgesamt dreißig - teilweise bewohnt teilweise unbewohnt - sind. Er betont, daß sie mit ihren Dienern die einzigen Bewohner der Insel sind, auf der Alfeo nun gelandet ist (I, 41, 7 - 8 und I, 42, 1-4): ... soli siam su l'isoletta, la quale una de I' Orcadi vien detta. Noi duo con pochi servi siam l'intero popolo ch'il paese in se rinchiude. Trenta l'Orcadi son, s'io n'odo il vero, altre abitate, altre di gent' ignude.

Aldano behauptet, Alfeo sei der erste in sechs Jahren, der diese Insel erreichte. Ein Grund dafür sei die gefahrliche See mit ihren vielen Felsen, die deshalb von den Seeleuten gemieden werde. Desweiteren sei die Insel so gut wie unbekannt, weil sie von den übrigen Orkney-Inseln weit entfernt liege (I, 43), so daß ihre öden Gestaden (I, 100, 4: "deserte arene") nicht besucht werden?9 Diese Insel ist nicht boreali nella poesia italiana. Appunti, Messina 1905, S. 31 - 38. Foscolos Beschreibung des Nordlichtes auf Island in Le Grazie erregte seiner Meinung nach eher Schauder als Verwunderung. Die Morgenröte des Nordens wird bei Foscolo als Magie einer Erinnye, die sich in nach Schwefel riechenden Seen wäscht, gedeutet. Das unheilvolle Licht, das sich wie ein Brand im Himmelsgewölbe ausbreitet, wird von Foscolo sofort als Täuschung entlarvt: ..Finge perfida pria roseo splendore I E lei deluse appellano col vago I Norne di Boreale alba le genti" (Le Grazie, IV, 9-10). Das Zitat folgt der Ausgabe: U. Foscolo, Poesie e Carmi, hrsg. von F. Pagliai, G. Folena und M. Scotti, Firenze 1985. 38 Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 226: ..Piuttosto che porsi il problema di inserire verosimilmente i personaggi nell' ambiente, Ariosti preferisce pri vilegiare elementi magico-misterici, che dovrebbero essere specificamente nordici, ma che in realta risultano comunque farniliari tanto a lui quanto al suo pubblico." 39 Die Orkney-Inseln waren schon für Petrarca fast so gut wie Italien bekannt (Fam., m, I, 3: "Cum vero Britanniam et Hibemen cunctasque Orr:hades in occidentali occeano ad aquilonem ... partim visu partim assiduo commeantium testimonio non aliter pene quam ipsam Italiam aut Gallias nosceremus. .. "). Aus diesem Grund spricht Ariosti von einer Insel, die von den restlichen weit entfernt ist. Luigi Alamanni verweist auf die Länge der Sommertage, die Kürze der Wintertage und das Wüten des Nordwindes, als er die Orkney-Inseln

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V. Eine poetische summa des Nordens

eine Insel wie alle anderen: Sie ist abgelegen und einsam, vom Rest der Welt ignoriert und vergessen. Alle typischen Merkmale der Utopie sind hier vorhanden. Diese Insel (11, 41, 5: "isola romita") scheint daher am Ende der Welt zu liegen: Dort wurden die zwei jungen Verliebten Aldano und Gesilda von der Zauberin Megista versteckt, um sie von ihren Königreichen fernzuhalten, damit sie keinen Anspruch auf den Thron mehr haben. Hierbei sollen sie den Eindruck gewinnen, ein paradiesisches Leben zu führen, während sie mit dem Rest der Welt keinen Kontakt mehr haben. Die einsame Insel wird vom Autor mit einer in Wirklichkeit existenten Insel in der Nordsee identifiziert, bleibt jedoch für die italienische Leserschaft irreal und nicht lokalisierbar. In der Tat ist sie eine an der Grenze der Welt liegende ultima terra. Der geographisch belegbare Name der Inselgruppe, zu der sie gehören soll, macht sie nicht weniger mythisch. Während Alfeo ein Schiff baut, um die Insel zu verlassen, wird vom Meer um die Insel herum gesagt, es sei so weit von allen übrigen Meeren und bekannten Küsten entfernt, daß der Himmel die einzige Grenze zu sein scheint (11,98,3-4): Quel mar che d'ogni lido e si disgiunto, ch'altro confino aver ch'il ciel non pare.

"Quel mare" drückt durch das Demonstrativpronomen die Entfernung des Erzählers und seines Publikums von jener Welt aus, die beschrieben wird. Es sind immer Vorstellungen und Eindrücke aus der Ferne, die Ariosti einbringt. Er versucht selten, sich mit den Figuren seines Werks zu identifizieren, und läßt sie selten über ihre Welt, ihre Landschaft, ihre Geschichte sprechen. Er entwickelt keinen "Wir-Diskurs" über den Norden, wie es Tasso zu derselben Zeit in seiner Tragödie Re Torrismondo meisterhaft macht. Das ist ein großer Unterschied zwischen den beiden vom Norden faszinierten Dichtern und Freunden. Im Alfeo spricht Ariosti normalerweise selbst als Erzähler und präsentiert Geschichten aus einer anderen, seinem Publikum unbekannten Welt. Die Distanz zwischen den Protagonisten und dem Publikum wird ständig hervorgehoben. Verlassene Inseln sind ein geeigneter Schauplatz für Magie, Träume und Illusionen. Die verlorene, geschichtslose Insel an der Grenze der bekannten Welt wird jedoch letztendlich von den Protagonisten verlassen, um die eigenen Reiche zurückzuerobern. Somit kehren sie zur Geschichte zurück und entfliehen dem illusorischen Traum eines irdischen Paradieses auf einer Insel im Ozean. Andere entfernte Inseln, die an die Reise des Hl. Brendan erinnern, werden erwähnt: Viele von ihnen beherbergen unglaublich wertvolle Schätze, wie die Heimat des Piraten und Königssohnes Belambro, der von einer rätselhaften Insel zwischen Britannien beschreibt (Avarchide, 11, 106,5 - 8 und 11, 107, 1- 3: "Orcadi, ove il Sol, se 'I vemo aggrave, / In tai brevissim'hore ha il di ristretto, / Ch'a pena visto, si ripon tra rOnde, / Poscia all'estivo Ciel poco s'asconde. /I Stanno a guisa di Cerchio aggiunte insieme, / Pur d'assai poco mar fra lor distinte, / Ove piu l' Aquilone intomo gerne"). L. Alarnanni, Avarchide, Firenze 1570. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe.

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und Irland ("Bretagna" und "Ibemia") stammt (VIII, 92). Verborgene Schätze liegen Olaus zufolge auf dem Meeresboden, in zahlreichen wegen der Stärke des Nordwindes gesunkenen Schiffen (Rist., XII, 11). So viele von Wundem erfüllte Inseln sind in der borealen Welt vorhanden, daß es unmöglich ist, sie zu zählen, meint der schwedische Bischof (Rist., XIX, 37 - 38), und Ariosti läßt sich diese Anregung nicht entgehen. Geheimnisvoll ist das felsige und unfruchtbare Eiland, auf dem die Soldaten aus Thule und Island mit den Soldaten von den übrigen kleinen im Ozean verlorenen Inseln zusammentreffen. Dieser Ort hat etwas Gespenstisches: Die Insel kann im Winter unter den Wellen des stürmischen Meeres verschwinden, um wieder aufzutauchen, wenn der Wind abgeflaut ist (IX, 8, 1- 2 und IX, 8, 5 - 8): Giace a quei scogli un'isola di costa sterile in ogni parte e nuda terra [ ... ] Questa sommerge il flutto e tien nascosta qual volta orrido verno al mar fa guerra; ma come tace il vento e piana eI' onda sorta si mostra, ne piu '1 mar I'affonda.

Eine besondere Rolle unter den vielen verlorenen Inseln des Nordozeans spielt Thule ("Tile,,).4o Dieses Eiland hat die Funktion einer von der Welt getrennten ultima terra, die plötzlich aus ihrer Isolation herausbricht, um eine Rolle in der Geschichte der Menschheit zu spielen. "Thile" ist in Alamannis Avarchide ein ,schönes Reich' (Avarchide, XXIV, 122,6: "bel Regno") im äußersten Norden: An einigen Tagen geht die Sonne gar nicht auf, dafür scheint sie monatelang ununterbrochen. Die Ritter, die von dieser Insel kommen, sind die am besten bewaffneten, tragen die schönsten Fahnen und sind ihrem König treu (Avarchide, 11, 108, 1-4 und 11, 109, 5 - 8): Era il medesmo poi Signor di Thile, Qve piu varia il d!, perche non pare Giamai tal volta, e poi cangiando stile, 40 Johannes Magnus hatte die Insel "Tyle" mit der großen als Insel gedachten "Scandia" identifiziert (Historia Johannis Magni Gothi... , 1,4). Seiner Meinung nach hatte Prokop den Namen ThuIe oder Tyle aus einem Teil des Reiches Norwegen (" Tylemarchia, Tylensium patria ") entnommen. Auf der Carta marina seines Bruders gibt es aber westlich von den Küsten Norwegens, südlich von Island, zwischen Seeungeheuern und Schiffen in Not, eine ziemlich große Insel, die den Namen "Tile" trägt. In seiner Historia nennt OIaus jedoch Island "ultima nie" (Hist., 11,3). Auf anderen Karten, zum Beispiel auf den Karten, die der italienischen Ausgabe von Münsters Kommentar zur Geographie des Ptolemäus (1548) beigelegt sind, entspricht "Thyle" den heutigen Shetland-Inseln (Tabula Europae J), bzw. ist eine Verdoppelung Islands, die sich südöstlich von dem eigentlichen Island befindet. Städte wie Skalholten und Holen sind auf Thyle, während dieselben Städte mit den leicht veränderten Namen Scalholdin und Holensis auf "Islandia" vorkommen (Scholandia nova). Die Verwechslungen und Verwirrungen um Thule oder Thyle ändern aber nichts daran, daß diese Insel für eine Grenzregion der Erde steht.

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V. Eine poetische summa des Nordens Molti corsi di Luna aperto appare [ ... ] Hor' il suo vecchio Re 10 stuol seguia, Di fido, e vero amor I' anime punte; Eben sedici in segne hanno spiegate, Le piu vaghe di tutte, e meglio armate.

Im Alfeo stellt die Insel Thule ein Land für sich dar und nimmt auf gewisse Art und Weise den Platz der Inseln Island und Ebuda im Orlando furioso ein [vgl. Kap. III.2.c)]: Sie ist die am weitesten entfernte Insel und gleichzeitig der Schauplatz von Frauenopfern. Durch ein breites und nicht bewohntes Meer ist die Insel von der eigentlichen Welt getrennt (VIII, 11, 5 - 6: "Di Tile e deI gran mar che la disgiunge / dal mondo"; VIII, 19, 8: "questo inabitato mare"). Alterität, Fremdheit und Entfernung sind die Merkmale dieses Landes. Der Dichter stellt wiederholt diese Insel der eigenen und seinem Publikum vertrauten Welt entgegen. Die präzise Uhrzeit, zu der der Pirat Belambro mit seinen Leuten einen Hafen der Insel erstürmte, entspricht dem Sonnenuntergang der ,normalen' Welt, das heißt, der Welt des Dichters und seines Publikums. Wie es dort auf Thule selbst aussieht, ob es zu jenem Zeitpunkt noch Licht gibt, weiß der Dichter nicht so recht zu sagen. Um die Zeit zu bestimmen, nutzt Ariosti den Lauf der Sonne seiner italienischen Heimat und nicht der nordischen Welt (VIII, 21, 3 - 4: "Ma ne l'ora, ch'il sole al nostro mondo / cela cadendo illuminoso raggio"). Ein alter Mann aus Thule erzählt Alfeo, daß der König Hibernias eine sehr häßliche Tochter bekommen hatte. Die Königin hatte deswegen Venus gebeten, sie schöner zu machen (VII, 4 - 6). Daraufhin hatte die Göttin der Liebe tatsächlich den dritten Himmel verlassen, um nach Hibernia zu fliegen und den verrückten Wünschen der Königin nachzukommen (VII, 12,6-7: "non benefica voglia 0 pio costume, / ma pregar importun d'insane menti"). Das hatte für das Land unheilsame Konsequenzen. Die neue, unnatürliche Schönheit der Prinzessin Idalia, die direkt von der Göttin Venus verliehen worden war, hatte plötzlich in den kalten Ländern viele Herzen entflammen lassen (VII, 14, 3 - 4): molti allaccio d'amor per lei ffir colti ed avampär qui ne' paesi algenti.

Unter anderem seien ,brennende Gedanken' (VII, 14, 6: "pensieri ardenti") im Geist des ältesten Sohnes des Königs von Thule entstanden. Gerade auf der kältesten und abgelegensten Insel im Norden ist die Leidenschaft am stärksten. Leider war die wunderschöne Prinzessin dem Prinzen von Schottland versprochen worden. Aus dieser Leidenschaft heraus hatte der Prinz Thules Arpago eine abenteuerliche Entführung mit seiner Flotte unternommen. Der Frauenraub als Ergebnis einer unkontrollierbaren Leidenschaft: keine Seltenheit in der alten Zeit der borealen Länder. Orazio Ariosti weiß es aus seinen skandinavischen Quellen (Rist., V, 13 und X, 1). Er will Geschichten erfinden, die mit der am weitesten im Norden gelegenen Insel zusammenpassen: Auch die zwei Brüder Arpagos, Trasillo und

2. Nordische Landschaften

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Filastro, verlieben sich in die entführte Idalia. Gegen die Hitze der Lust kämpft die Kälte der Keuschheit (VII, 64, 1 - 2: "Ei ben contra '1 desio, che caldo ferve, / arrna di freddo gel la schiva mente"), die Olaus Magnus zufolge eine typische Eigenschaft der Nordländer ist (Hist., XIII, 42; XIII, 50; XIV, 2-4 und XX, 1). Die Liebe ist wie ein stürmisches Meer und der "furore" des Sturms ist eine Metapher für die Gefahr der Sinne (VII, 65, 3: "dei sensi il legno entra nel mar crudele" und VII, 65, 7 - 8: "Ei del furore al' orrida tempesta / condotto in alto gia preda si resta"). Der von Amor inspirierte "Furore" verwandelt Filastro in eine Art wildes Tier: Er wünscht sich daher den Tod der eigenen Brüder (VII, 67 - 68). Schließlich lassen alle drei ihre ,Wut' ("rabbia") aneinander aus. ,Je nördlicher desto leidenschaftlicher, heftiger, grausamer' könnte die Schlußfolgerung dieser Geschichte lauten. In einem schrecklichen Ende sterben auf der ultil1Ul Thule alle drei Brüder als Opfer des "amor" / "furor" (VII, 76). Die Entführung Idalias hat aber auch den Krieg ihres Vaters zusammen mit ihrem schottischen Verlobten gegen die nördlichste Insel verursacht. Der König von Thule ist aus Schmerz gestorben, aber nicht bevor er ein Gesetz erlassen hat, um den Tod der drei Söhne zu rächen. Ariosti kann nun die Menschenopfer oder besser gesagt, die Opfer von fremden Frauen einführen, wie im Fall Ebuda im Orlando furioso. Er reduziert jedoch die Gewalt gegen die Frauen auf ein Minimum, indem er sagt, dieses Opfer solle nur einmal bei jeder Krönung eines neuen Königs gebracht werden (VII, 84). Das seltene Menschenopfer ist für viele Inselbewohner schwer zu vollstrecken, obwohl sie Angst haben, einen alten Brauch aufzugeben, der von dem ersten und weisen König der Insel zur Rache der Söhne gestiftet wurde (VII, 85, 6-8: "la soma, a molti dura, / deI sacrificio uman, di cui paventa / troppo il popol lasciar l'usanza spenta"). Hier scheint das Volk der Insel Thule doch weniger barbarisch und blutdürstig als die Einwohner Ebudas bei Ariost. Der Brauch der Menschenopfer wird zwar als "furor empio" (VII, 98, 5) bezeichnet, ist aber wie eine alte Tradition, der sich die Menschen der Insel nur schwer entziehen können; und die lange Geschichte der gefährlichen und unnatürlichen Schönheit der Frau, die so viel Leid und Unglück verursacht hat, macht das Vorgehen der Bewohner Thules fast nachvollziehbar. Der neue König Canuto, der sich durch einen Zufall in der Zwangslage befindet, seine eigene Tochter Gesilda opfern zu müssen, erinnert an den biblischen Abraham. Seine ihm ergebene, schwarz gekleidete Tochter erklärt sich - mit erhabenem und feierlichem Ton - glücklich, durch die Hand des Vaters zum Tod geführt zu werden (VII, 94 - 95). Ganz anders war die Haltung der an einen Fels gebundenen nackten Angelica und Olimpia, die von den Piraten Ebudas dem Ungeheuer "Orca" zum Fressen preisgegeben worden waren. Diesmal ist es weder ein Seeungeheuer, das seine Opfer verlangt, noch ist es ein herzloser König, der den Anstoß gibt, sondern ein weiser, verwundeter König. Trauer und Verlust sind wie bei dem ,frauenfeindlichen' Marganorre des Furioso (Orl.fur., XXXVI-XXXVII) die Ursache für die Frauenopfer. Diesmal ist der Ton keineswegs lustig, sondern bitterernst. Die Gefahren der weiblichen Schönheit stehen im Vordergrund, während Orazio Ario-

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V. Eine poetische summa des Nordens

sti wie Olaus Magnus an der Weisheit der nordischen Völker festhält, obwohl sie Menschenopfer darbrachten (Hist., III, 7). Der König von Thule ist als König einer ganz besonderen Insel dargestellt. Er hat auf ihr Ordnung geschaffen, nicht nur, indem er die dort lebenden Monster getötet hat - wie Antonella Perelli bemerkt, um die Ähnlichkeiten zwischen diesem König und dem Herakles des klassischen Mythos zu unterstreichen41 - sondern auch, indem er dem Meer eine Grenze gesetzt, die Felder anbaufahig gemacht und die Luft vom bösen Licht gereinigt hat (VII, 81, 1- 6): Fu quel re saggio in vita; e che reggesse quest'isola di Tile il primo ei fue; ei la purgo da fere e 'I mar represse, ch' allagar vi solea le piagge sue, tal ch' i campi da poi I' aratro fesse ne piu I' aria infetto maligna lue

Man denke nur an die Vermischung von Luft, Meer und Erde auf der Insel Thule in der Beschreibung Pytheas. Es wird deutlich, daß sich diese Insel für Ariosti bereits als eine gewissermaßen geordnete, normale, fruchtbare und bewohnbare Insel darstellt, obwohl sie sich zuvor als letzte Insel im Norden aufgrund ihrer ganz besonderen Eigenschaften absonderte. Der König Canuto hält schließlich eine vehemente Rede gegen Ignoranz und Menschenopfer und eine Art Predigt im Namen des wahren, lebensspendenden Gottes (VII, 111 - 115), die an eine Stelle des Olaus erinnert (Hist., III, 7). Der alten Grausamkeit der nordischen Insel stehen neue Kräfte gegenüber. Die sinnlose Gewalt einiger Inselbewohner, die an der alten Tradition der Frauenopfer festhalten und schließlich gegeneinander mit blinder Wut kämpfen ("furore", "rabbia"), hat die Selbstzerstörung zur Folge (VII, 109, 1-4): Ma pur, continuando il suon, la rabbia ha si quei petti (oh meraviglia!) oppressi, ch'il gran furore, onde ciascuno arrabbia, li conduce a pugnar fra loro stessi.

Dies bedeutet aber nur einen Überrest von Barbarei und blinder Gewalt. Diese Szene erinnert an einen Abschnitt in der Historia des Olaus Magnus, in dem einige durch Zauber verblendete Soldaten gegen ihre eigenen Freunde kämpfen (Hist., III, 17). Dieselbe Stelle erwähnt auch Tasso im Dialog Il messaggiero (vgl. Kap. VI.3.).42 Den miteinander kämpfenden Bewohnern der Insel Thule stehen diejenigen gegenüber, die nur zu einem edlen Zweck kämpfen und die ,letzte Insel' der Welt aus ihrer barbarischen Isolation herausführen wollen. Die vernünftigen Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 236. Ariosti selbst deutet ein zweites Mal darauf hin, wenn er den selbstzerstörerischen Kampf zwischen den verbündeten Heeren von Belambro und Isauro beschreibt, der infolge eines plötzlichen Nebels und des Tricks von Gabanello ausgebrochen ist (XVI, 27 - 32). 41

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"Tilesi" gewinnen schließlich, und der gute, weise König Canuto führt sie zusammen mit den Bewohnern anderer Inseln in den Krieg gegen die unrechtmäßige Königin von Norwegen (VII, 133). Aus den weitentfernten Inseln des Ozeans im Nordwesten kommen Soldaten und Piraten, die für Canuto kämpfen. Alle, selbst die Isländer, werden praktisch immer als "Tilesi" bezeichnet, gerade weil die Insel Thule als der äußerste Erdteil gilt. Der norwegische Gabanello beklagt, daß es aus der letzten Insel hervorgekommene Menschen gewagt haben, Krieg gegen Norwegen zu führen (XVI, 34, 7 - 8): ... quei che da I' estrema Tile usciti, vennero a portar guerra ai nostri liti.

Isländer, Soldaten von den Färöer- und den übrigen Inseln werden von den Norwegern allesamt als Menschen der verlorenen Randinsel Thule herabgesetzt. Die böse Königin stellt sie als feige dar, um die eigenen Leute zu ermuntern. In ihrer Rede wird vor allem ihr Ursprung aus einer Randregion der Welt betont. Ein nordisches Reich mit einer eigenen Geschichte präsentiert sich selbst mit den Worten der Königin als keineswegs am Rande gelegen, sondern gerade als zentral gegenüber einer Insel, die vom Rest der Welt durch den Ozean abgeschnitten ist. Dieser weit entfernten Insel wird ein kaltes Klima zugesprochen, das die norwegische Königin anscheinend nicht für das eigene Land eingestehen will. Die Bewohner von Thule seien nur durch den Ozean geschützt, nicht aber durch die eigene Tapferkeit. Die Natur habe sie vom Rest der Welt wegen ihrer Unfähigkeit und Feigheit abgesondert, da sich die Menschen dort nicht gegen tapfere Nachbarn verteidigen könnten (XIV, 5): - Una gente - dicea - che da noi parte un infinito mare, una viI gente, che fuor che I'ocdm non have altr'arte d' assicurarsi nel suo cIima algente, cui natura cola pose in disparte pero ch' a nullo contrastar possente, or da I' isola sua portarne guerra osa, e niss uno un tanto orgoglio atterra?

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Die Königin appelliert an die Norweger, an ihren ruhmreichen Namen und an die großen Taten ihrer Vater und Vorfahren, die bei jeder Gelegenheit den Gefahren und Strapazen trotzten (XIV, 6). Die Leute aus Thule hätten nichts Vergleichbares entgegenzusetzen, da sie aus einer im Ozean verlorenen Insel kämen, von der lediglich der Name bekannt sei. Sie fügt noch hinzu, es sei unmöglich, daß ihr Stiefsohn Aldano mit Unterstützung von Leuten aus dieser Randinsel nach Norwegen zurückkehren wolle. Er hätte doch bei den Goten und den Schweden Hilfe finden können (XIV, 10). "Goti e Svezi" seien wie die Norweger ruhmreiche Völker des Nordens; sie hätten eine eigene Tradition, "Tile" dagegen hätte noch keine Helden hervorgebracht und sein Volk sei unbekannt. Für Ariosti ist die Geschichte des Königreiches Norwegen schon lange angebrochen. Ein Land, das schriftliche 10 Boccignone

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V. Eine poetische summa des Nordens

Dokumente seiner Vergangenheit besitzt, kann in die ,Kulturwelt' aufgenommen werden. Thule repräsentiert dagegen den wilden ,Norden' als natürlichen Raum, der sich bis dahin außerhalb der Welt der Kultur und der Tradition befand. Erst durch den im Epos erzählten Krieg kommt diese rätselhafte Insel mit der Geschichte in Berührung. Die räumliche Distanz zu den übrigen Ländern, die Isoliertheit durch den gefährlichen Ozean und nicht zuletzt die extreme Kälte des Klimas gehen mit der Marginalität und der Bedeutungslosigkeit einher, mit dem Mangel an Teilhabe an der gemeinsamen menschlichen Geschichte. Thule stellt den äußersten, beinahe ahistorischen ,Norden' dar, wie Island, Grönland und Lappland in der Historia von Olaus Magnus. Diesem ,Norden' steht das Land Norwegen gegenüber, das sich als Teil einer Welt versteht, in der Kriege geführt, Ereignisse schriftlich festgehalten und Eroberungs- und Erfolgsgeschichten tradiert werden. Nach der Ansprache der norwegischen Königin sind die Geister der Soldaten mit glühender Wut und edler Empörung erfüllt: Es sei unerhört, daß ein unbekanntes Volk von einer von der Welt abgeschlagenen Insel ("divisa dal mondo") es wagt, das Königreich Norwegen anzugreifen (XIV, 14,3-8): ma via piu v'eccito gli animi loro un sdegno generoso, un'ira ardente: troppo, ah troppo lor sembra oltr'il decoro che divisa dal mondo ignota gente si debba dir che la Norvegia assaglia, e che di provocarla osa in battaglia.

Auch der Norweger Odrisio, der sich für unverletzbar hält, weil er von einer der nordischen Nymphen geschützt wird, hat verachtende Worte für die Bewohner der Insel Thule. Sie seien nur in der Lage, Menschenopfer zu bringen und arme Frauen zu töten. Sie sollten sich hüten, ein kriegerisches Land wie Norwegen anzugreifen (XIV, 96, 5 - 8): Voi, solo usi a seguir in pompe sacre d' umana e feminil vittima l'orme, di provocar voi presumete in guerra gli abitator di bellicosa terra?

Diese Bemerkungen entsprechen der Gewohnheit, die eigenen Feinde vor dem Kampf zu beleidigen. Saxo und Olaus beschreiben sie als eine Tradition des Nordens. Interessanter ist aber, was Odrisio anschließend sagt. Er beschuldigt die Leute von Thule der Piraterie, wobei die Norweger stets bedacht wären, ihre Küsten von Piraten frei zu halten (XIV, 97, 1-4):

Gia con navi predar gli altrui paesi

non costumiamo noi, ma dai ladroni ben i nostri sogliam tener difesi senza curar di tempo 0 di stagioni

Diejenigen, die mit einer Art Euphemismus an mehreren Stellen als "corsari" vorgestellt worden waren, werden hier schonungslos "ladroni" genannt. Ein ,Nor-

2. Nordische Landschaften

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den', der aus vielen verlorenen Inseln besteht und am Rande der Welt liegt (durch die Insel Thule symbolisiert), ist einem ,Norden' gegenübergestellt, der aus größeren, reicheren und bekannteren Reichen besteht. Die Kriegskultur ist dieselbe, aber die Menschen in Norwegen fühlen sich eher als Teil der großen Welt im Vergleich zu den Einwohnern der Inseln im Ozean. Es ist kein Zufall, daß Ariosti fast immer von Thule spricht und nicht von Island. Thule wird als unwichtige äußerste Randinsel von den Feinden attackiert, weil sie eine Insel ist, von der es wirklich nichts zu berichten gibt. Sie ist eine verlorene Insel in dem Sinne, daß sie nicht im Ozean zu finden ist, sondern nur bei den Dichtem. Island liegt auf der Carta marina weit über Thule im Norden, aber es handelt sich um eine Insel, von der man schon viele Details und Informationen aus dem realen Leben gesammelt hat. Thule hingegen gehört ganz den Dichtem und eignet sich gut als Symbol der rätselhaften, unbekannten Seite der Welt. Bei der Beschreibung der Inseln, die nicht erforscht und von Seeleuten nie erreicht wurden, stehen dem Dichter und seiner Vorstellungskraft alle Möglichkeiten offen. Die große Zahl von kleinen Inseln im Nordmeer erlaubt nicht nur die Vermehrung von kleinen Reichen und Königen, die im Mittelpunkt vieler Geschichten stehen, sondern läßt auch die Möglichkeit zu, von unbekannten Ländern Wunderbares und Wünschenswertes zu berichten. Der Dichter kann sich vorstellen, daß man an äußerst entfernten Orten finden kann, was leider in der vertrauten Welt nicht vorhanden ist. Die Feme kann daher eine sehr positive Bedeutung bekommen. Bei der größten Entfernung von der bekannten Welt ist die vollkommenste Reinheit zu finden, wie es der Episode des Herzogs von Hälsingland ("Helsingia") zu entnehmen ist. Dieser Herzog wollte Grimone seine Tochter Avrilena nicht geben, weil die Zeichen des Himmels, die Sonne, die Sterne und der Flug der Vogel gegen ihn sprachen und er von seinem eigenen Vater aufgefordert worden war, sich nach diesen Zeichen zu richten (V, 33 - 36). Der Vetter Grimones erzählt der kampfsuchenden Alvida und ihrer gleichgesinnten Kusine Altamonda die ganze Geschichte vom Herzog aus Helsingia und läßt seinen Vater (durch eine direkte Rede in einer anderen direkten Rede) erklären, warum die Orakel der nordischen Reiche besonders zuverlässig sind: Helsingia befindet sich seinen Worten zufolge am Nordpol. Entweder stellte Gott fest, als er die Welt durch das Wasser des Ozeans umgab, daß die Menschen dort die Zeichen des Himmels verstehen konnten, oder dieses Privileg, die Zukunft durch die Beobachtung des Himmels voraussagen zu können, wurde den Menschen, die am Nordpol leben, vom ,reinen Nordpol' selbst ("puro il polo") erteilt. Der isolierte und unerreichbare Raum mache sie in der Tat würdiger und frommer als alle übrigen Menschen. Der Nordpol wird damit der Reinheit und Unschuld gleichgestellt, und gerade die Entfernung von den bewohnten Regionen der bekannten Welt macht ihn so rein und von Schuld und Bösem unberührt (V, 36, 3 - 8): o sia ch' allor ehe Dio reeinse il suolo d'aeque e die eerta forma al mondo incerto 10*

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V. Eine poetische summa des Nordens

si stabilisse: 0 sia ehe puro il polo e lungi d'ogni umano empio demerto gli abitatori suoi piu degni faeeia di saper que\ eh'il eiel porta 0 minaeeia.

Der Bezug zur Weltachse hatte schon lange aus dem Nordpol etwas Heiliges gemacht. Für Ariosti und seine Zeitgenossen ist der Nordpol, das Land der mythischen Hyperboreer, unerreichbar - aus welchem Grund auch immer. In der Kosmographie L'universale fabrica dei mondo von Giovanni Lorenzo d' Anania, die Ariosti gut kannte und Tasso mit eigenhändigen Randnotizen versah, werden nur einige mögliche Gründe dafür erwähnt (die vielen Algen, das Eismeer, die Nähe der "isola della Calamita", die es nicht erlaubt, den Kompaß zu benutzen, die Gewalt der Winde und Stürme, usw.). Ob Silber und Gold am Nordpol zu finden seien, stehe auch nicht fest. 43 Welche Schätze damit den Menschen vorenthalten würden, sei nun eine offene Frage. Am Nordpol könnte sich auch eine Insel befinden, die ein Berg sei und nie von den Menschen erreicht werden könne, meint Giovanni Lorenzo d' Anania. Man denke an den sehr hohen Berg des Fegefeuers Dantes, den Odysseus mit seinen Freunden vergeblich zu erreichen versuchte, weil aus ihm ein starker Wind kam, der das Boot sinken ließ (Inf, XXVI, 133-142). Der Nordpol bei Ariosti ist genauso eine "nova terra" (lnf., XXVI, 137) wie die in der anderen Hemisphäre sich befindende Insel des Fegefeuers, die den Weg zum Himmel bereitet. Der griechische Held kann sie nur von Weitem sehen, nicht aber erreichen. Somit bleibt der Nordpol eine Projektionsfläche für die unerfüllten Wünsche der Menschen, für ihre verzweifelte Sehnsucht nach einer unerreichbaren Reinheit und der verlorenen Unschuld.

3. Piraterie und verborgene Schätze Unerreichbar wie der Nordpol ist das Gold des Nordens, das nach den klassischen Mythen von den Greifen oder den Ameisen der Skythen bewacht wird (Hist., VI, 1- 3 und XIX, 27). Ariosti erwähnt in seinem Epos wiederholt die vermeintlichen im Norden verborgenen Schätze und bringt sie mit einem weiteren ,nordisehen' Element in Verbindung: der Piraterie. Die Geschichte von Alvida, die zu einer Piratenführerin wird, ist für den Schweden Olaus Magnus ein Beispiel für die Keuschheit und Kriegsbereitschaft der Frauen des Nordens (Hist., V, 18; V, 27 - 33; XIV, 4 und XV, 21). Im Epos des italienischen Dichters darf jedoch die HeIdin keine Führerin einer Piratenbande sein. Sie soll vielmehr eine abenteuerlustige, reisende Ritterin wie die HeIdinnen der italienischen Ritterromane sein. Dasselbe gilt auch für den Protagonisten Alfeo, der in der Historia de gentibus septentrionalibus selbst Pirat war: Als protochristlicher Held darf er wohl eine solche Laufbahn nicht einschlagen. 43 Vgl. G. L. d' Anania, L'universaie jabrica dei mondo overo Cosmografia ... , Venetia 1582, S. 181.

3. Piraterie und verborgene Schätze

149

Piraten spielen aber eine wichtige Rolle im Epos Alfeo, wie man dies von einer summa des Nordens erwarten kann. Von dem aus Lappland stammenden Lemurio, der das Reich Nordmöre usurpiert, wird behauptet, er habe seine ganze Jugend mit Rauben verbracht (XIV, 21, 3 - 4: "Lemurio, nato in Lappia, e che consunse / tutti a predare i piu verd'anni suoi"). In den abgelegenen und den Seeleuten wenig bekannten Fjorden des Nordens haben Piraten und Seeräuber ihren idealen Schauplatz. Aldano zum Beispiel, der auf der Suche nach seiner Gesilda ist, wird dort gefangengehalten (VII, 133, 7 - 8): pur de' corsari preda infra remoti scogli e non molto a' naviganti noti.

Das Meer zwischen den Felsen und den Bergen (VIII, 23, 2: "scoglioso mare") kommt sehr häufig als typischer Schauplatz der Taten der Piraten vor, so wie der Hinweis auf die schnellen und leichten Schiffe der Piraten mehnnals wiederholt wird (VIII, 23, 7: "rapidi legni"). Die Kampfmittel der Piraten sind riesige Steine, Pfeile und Feuer (VIII, 29). Ihre Schnelligkeit stellt einen großen Trumpf dar, da sie in der Lage sind, anzugreifen und sich sofort zurückzuziehen, um dann noch einmal an einer anderen, unerwarteten Stelle zuzuschlagen (VIII, 24, 1-4 und VIII, 25, 5 - 8): Gittate d'alto fan le gravi pietre qua rimaner sanguigne e la piu teste; ne men di se vuotando archi e faretre son l' acute saette ai fianchi infeste. [ . .. ] ludi spiegando largamente i suoi, urta i primi nemici, urta gli estremi: poi di novo gli aduna e fugge e riede, e da tutti s'invola e tutti fiede.

Die Nacht hilft den Seeräubern, die mit ihrem Beutel in der Dunkelheit verschwinden (VIII, 32). Die Seeschlachten werden stets mit besonderem Aufwand vom Dichter beschrieben, da er die Besonderheiten der Kriegsführung im Norden seinem Publikum vor Augen führen will. achten Buch sind fünfzig ottave einer Seeschlacht gewidmet (VIII, 21-70). Gegen Ende des Kampfs kommt es zu einem Duell zwischen Alfeo und dem Piraten Belambro, der sich schließlich für besiegt und kooperationsbereit erklärt (VIII, 84-85). Ein Pirat im Norden kann doch die größten Tugenden besitzten: Das ist die Entdeckung, die der Protagonist am Ende des Duells macht. Das ist auch für Ariostis Publikum eine Neuigkeit. Es ist eine Besonderheit des Nordens, hatte Olaus bemerkt, daß Edelleute sich der Piraterie widmeten. Sie seien deswegen keine Kriminelle, sondern mutige und würdige Helden (Hist., V, 27).

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Nach einem grausamen Krieg kann plötzlich Frieden herrschen, und die Wut erlischt (VIII, 86). Der Held Alfeo zeigt sich überrascht, als er erkennt, daß auch ein Seeräuber äußerst tugendhaft sein kann (VIII, 86, 1-2: "Stupisce Alfeo ch'uom

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V. Eine poetische summa des Nordens

predatore accolga/tanto in se di magnanima virtute"). Der Pirat Belambro verhält sich würdevoll und wird für seine Stärke und Tapferkeit von Alfeo vor dem König Thules gelobt, obwohl er so viele seiner Untertanen umgebracht hat. Er wird nicht länger Pirat ("corsaro"), sondern Ritter (VIII, 89, 2: "cavalier") und sogar ,neuer Mars' (VIII, 88, 6: "novo Marte") genannt. Belambro selbst sagt sehr deutlich, daß er sich nicht schämt, einst Piratenführer gewesen zu sein (VIII, 91, 2: "duce a' corsar"; VIII, 91, 6: "che non pero mi fa le guance rosse"). Er ist Pirat und gleichzeitig eine durchaus positive Figur. Er erzählt sein ganzes Leben und hat keine Hemmungen zu gestehen, wie er Pirat geworden ist (VIII, 93 - 109). Er wolle sich an dem bösen Mann rächen, der seine Schätze geraubt und versucht hätte, ihn als Kind zu ermorden. Deswegen hätte er die schöne Tochter seines Feindes geraubt,44 die während einer Seeschlacht ins Wasser gefallen und gestorben war. Um sich selbst zu bestrafen, hätte er sich entschieden, das schwierige und harte Leben eines Piraten zu führen (VIII, 106, 1 - 2: "D' ogni commerzio uman scevro disposi / menar mia vita con disagio e pena"). Piraten gelten als Helden wegen der Härte des Lebens, das sie führen. Belambro habe die Piraten dort in den unbewohnten Fjorden gesucht, wo sie sich versteckten (VIII, 106), um ihnen Grenzen zu setzen, innerhalb derer sie der Piraterie nachgehen, oder um der eigenen lobenswerten Machtlust nachzukommen. Auf jeden Fall verdient der Pirat wegen seiner kriegerischen Tugenden den Beifall eines jeden und darüber hinaus Bewunderung und Liebe. Die Geschichte des Piratenführers kommt einer Rechtfertigung oder Verharmlosung der Piraterie gleich (VIII, 107, 5 - 8 und VIII, 109, 1-4): Allora il core in me non si contenne, e di regger color l' assunto ei prese: o bramoso di me' tenerli a segno, ovago, come I'uso uman, di regno. [ ... ] Cosi paria Belambro; e 'n chi I'ascolta induce meraviglia ed amor desta; amor di lui ch'in alma saggia e colta si da virtu guerrier valore inesta

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Der Erzähler fügt sogar eine Erklärung für sein italienisches Publikum hinzu, in der er deutlich macht, daß die Piraterie ,in jenen fernen Reichen' des Nordens ("in quei regni") keine Schande ist, sondern sogar ein Verdienst. Selbst für Adlige und Königssöhne ist sie ein Zeichen von Stärke und Energie. Eine ähnliche Stelle ist - wie bereits erwähnt - bei Olaus zu finden, der schon zu seiner Zeit den Italienern erklären wollte, warum so viele hochwürdige Menschen des Nordens in die Seeräuberei verwickelt waren (Hist., V, 27). Ariosti, der noch einmal die eigentliche Ehrlichkeit und den Ehrsinn des Piraten Belambro betont (IX, 37, 1: "il leale"), macht hier nichts anderes, als die Stelle des Olaus zu übersetzen (IX, 37, 5 - 8): 44

Das Motiv des Frauenraubs kommt also noch ein weiteres Mal vor.

3. Piraterie und verborgene Schätze

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e pero ch'in quei regni anch'uom reale punto non sta di corseggiare in forse, dei duci ei si lodo non meno illustri di sangue e forti in terra e 'n mare industri.

Es ist nicht zu übersehen, daß Belambro seine Tätigkeit als Pirat weiter ausübt, auch nachdem er sich dem Heer des Königs Canuto zur Rückeroberung Norwegens und Nordmöres angeschlossen hat. Er erreicht mit Verspätung den großen Kampf am fluß, weil er mit den ersten Sonnenstrahlen wie gewöhnlich Beute gemacht hat (XIII, 2, 3-4: "co' primi rai, I poi che predato avea, com'e costume"). Diese Gewohnheiten Belambros scheinen jedoch moralisch nicht verwerflich zu sein und schaden seiner glanzvollen Figur keinesfalls. Er und seine Leute werden meistens "corsari" genannt: Schon der Name hat positivere Konnotationen als "pirati". Zusammen mit den Alliierten der vielen kleinen Inseln im Ozean machen sie während einer Belagerung Beute in den naheliegenden Orten (XIII, 60). Obwohl sie sich für gewöhnlich auf See aufhalten, haben viele von ihnen, wie auch diejenigen, die Animanegra aus einer Höhle herausziehen, feste Stützpunkte. Diese Stützpunkte sind Länder, die sie erobert haben und beherrschen (IX, 33, 2 - 3: "avendo i corsari or suo' compagni / gUi nella Frisia alcune genti dome"), so daß die nordischen Piraten kleine Herrscher und Fürsten und keineswegs heimatlose Räuber darstellen. Die Beute, oft sehr wertvolle Schätze, verstecken sie Johannes Magnus zufolge (Historia Johannis Magni Gothi... , III, 29) in großen und tiefen unterirdischen Höhlen. Die Beschreibung des Tunnels, in dem sich Animanegra wiederfindet (IX, 34), nachdem er zunächst in einem Turm eingesperrt war, erinnert an solche tiefen unterirdischen Höhlen. 45 Nach der klassischen Tradition ließ der Gott des Lichtes Apollon ihr Gold und ihre Schätze im Land der Hyperboreer jenseits des Nordwindes von Greifen bewachen. Man hatte also von jeher gedacht, Gold sei im Norden zu finden. Ariosti spricht von einem antiken Ruhm, demzufolge viel Gold in jenen unterirdischen Orten verborgen sei (IX, 35, 3 - 4: "per un' antica fama, che rimbomba, I che si celi molt'oro in quella sede").46 Verborgene Schätze (IX, 44, 2: "sepolti tesor") sind ebenfalls zu suchen, und die Piraten stellen sich ihren königlichen Anführern auch dafür zur Verfügung. Wer denkt dabei schon noch daran, 45 Olaus hatte von langen unterirdischen Labyrinthen mit wertvollen Metallen und Schätzen gesprochen, in denen oft Gefangene eingesperrt wurden (Bist., II, 20; VI, 3 - 5 und IX, 37), aber er hatte auch betont, daß bis dahin keine Goldminen im Norden gefunden worden waren (Bist., IV, 10 und VI, 12), obwohl in der Bibel steht, daß der Glanz des Goldes aus dem Norden kommt (Job, XXXVII, 22). Dieser Glanz sei daher metaphorisch zu verstehen und bedeute, daß Tugend und Reinheit im äußersten Norden zu finden seien (Bist. , VI, 12). 46 Deswegen lassen die Piraten einen von ihnen in einem Korb durch ein Loch in der Erde herunter. Wie aus der Hölle kommt aber Animanegra anstelle ihres Freundes zurück (IX, 36, 3 - 4: "squallido e di sembianza orrida oscura, / rabbuffato la barba e 'I crine incolto"). Er schließt sich den Seeräubern an, die von Alfeo mit einer ,anständigen' doppelten Mission beauftragt werden: das Reich Norwegen für den legitimen König Aldano und das Reich Nordmöre ("Normoria") für König Canuto zurückzuerobern.

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V. Eine poetische summa des Nordens

daß es sich um Räuber handelt? Die "corsari" des Nordens sind eigentlich ehrliche und vertrauenswürdige, tapfere Soldaten. Die Schätze, die der Usurpator in Nordmöre dem König Canuto weggenommen hat, sind seit alter Zeit in einer unterirdischen Höhle aufbewahrt, die sich unterhalb eines Turmes in einem festungsartig gesicherten Fels befindet (I, 65 und X, 17). Das Licht, das aus den Schätzen strahlt, ist erstaunlich hell und kann mit dem Licht der Sonne verglichen werden (X, 39): Zwei riesige Karfunkel leuchten wie hundert Fackeln (X, 40)! Der Schatz enthält auch riesige Statuen aus Gold und Edelsteinen, zusammen mit so vielen Goldmünzen, wie keine Wolke an Tropfen je geworfen hat (X, 41-43). Im Dunkel einer nördlichen Höhle findet man ein lebhaft glänzendes Licht, das die Finsternis durchbricht und den ganzen Ort in einen "luminoso loco" (X, 40, 2) verwandelt. Der Glanz des Goldes scheint, wie in der Bibel, aus dem Norden zu kommen.

4. Ikaros fliegt zum Nordpol. Altertum, Ruhm und Mythen des Nordens Über den Mythos des Goldes im Norden hinaus hat Orazio Ariosti weitere Mythen im Epos Alfeo verarbeitet. Für ihn besitzt der Norden ein altes kulturelles Erbe, das Geschichte und Mythen einschließt. Er bezieht sich dabei auf die Autorität der Brüder aus Uppsala Johannes und Olaus Magnus. Johannes hatte in seiner Geschichte der Goten behauptet, die Reiche des Nordens auf der großen Insel "Scandia", manchmal mit Skythien verwechselt, seien über hundert Jahre vor italien bewohnt gewesen (Historia Johannis Magni Gothi. .. , I, 3), da sich die Söhne Noahs nach der Sintflut dort niedergelassen hätten. Ihre Nachfolger seien die starken Hyperboreer oder Goten, das älteste Volk nach der Erneuerung der Menschheit, und das Runenalphabet sei vor dem lateinischen Alphabet entstanden, in einer Zeit, als die Römer noch sehr grob und primitiv gewesen seien (Historia Johannis Magni Gothi. .. , I, 7). An kulturellem Prestige und historischer Größe fehlt es den nordischen Völkern wohl nicht. Im Gegenteil, sie beanspruchen für sich in dieser Hinsicht eine Vorrangstellung. Der Italiener Orazio Ariosti geht nicht so weit, aber für ihn besteht doch kein Zweifel: Im Norden Europas, in den Regionen, in denen sein Epos spielt, gibt es zahlreiche Königreiche und Völker, die eine eigene ruhmreiche Geschichte haben. Selbst auf der Insel Island befinden sich königliche Städte (wie "Scaolda", das heißt Skalholt, Scalholdin auf der Carta mnrina) und Völker, die auf die eigene Vergangenheit stolz sind und die großen Taten ihrer Vorfahren nicht vergessen. Wie singende Schwäne (IX, 16, 3 - 4: "come spiegan talor note leggiadre / cigni canori in grazlosi modi") erinnern sie mit klangvollen Liedern an die edlen Taten der eigenen Landsleute, die auch in Steine und Felsen gemeißelt sind und damit ewig lebendig sein werden (IX, 15,3-4: "si terne invan che venga meno / quel ch'i suoi cittadin d'illustre fero"). Dasselbe gilt für das norwegische Volk: Der Kö-

4. Ikarus fliegt zum Nordpol

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nigspalast in Norwegen besitzt einen schönen Garten, der von Mauern umringt ist, mit zwei Logen, in denen alle edlen Taten der norwegischen Helden beschrieben sind. Dort befinden sich alle Gräber mit den Statuen der großen Könige Norwegens. In der Beschreibung werden Adjektive wie ,hoch' und ,edel' ("alto", "nobile") oder eine Litotes wie ,nicht dunkel' I ,nicht unbekannt' ("non oscuro") gebraucht. Wenn man an die Meinung des Großonkels des Dichters zu den obskuren und unbekannten Taten der Norweger, Schweden oder Schotten denkt [vgl. Kap. III.2.a)], stellt man fest, daß sich viel geändert hat, was die Vorstellung von Heroismus, Berühmtheit und Leistungen der Menschen des Nordens angeht (I, 77): E' quel giardin un ampio quadro cinto da due parti d'un alto e nobil muro; ma da que' lati, ove dal muro scinto, quinci due logge e quindi il fan sicuro. In una tutto quello appar distinto ch'i Norvegi fer mai di non oscuro; ne I' altra sono urne marmoree poste, e 'n lor dei re le ceneri composte.

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Auf eine große Vergangenheit kann nicht nur Norwegen stolz zurückblicken, sondern vor allem auch das Land der Goten. Die Prinzessin Alvida lernt in einem Zimmer der Burg, in der sie lebt, anhand von Wandmalereien die ganze Geschichte und die erinnerungs würdigen Taten der Amazonen kennen. Es handelt sich um Frauen ihres Volkes - oder ihres Blutes, nach dem Konzept der Zeit - (I1I, 41, 3 -4: "l'alte imprese I che fan deI sangue suo maggiore il pregio"), die nach Süden zogen und Asien eroberten. Die Geschichte der Amazonen mit ihrem nördlichen Ursprung hat Orazio Ariosti bei Olaus (Hist., V, 18 und V, 28-32), vor allem aber bei Johannes Magnus gelesen (Historia Johannis Magni Gothi... , 1,26-32), welchem er ziemlich genau in seiner poetischen Rekonstruktion folgt. Beric (I1I, 41, 6: "Berico il Goto e pur di sangue regio") kommt mit vielen Goten in das Land der Kimmerier, weil das große, kalte Land (I1I, 42, 3: "il gran paese algente") nicht geeignet ist, so viele Menschen zu ernähren. In dem Land der Kimmerier ist er der erste gotische König, der nicht in seinem ursprünglichen Land herrscht (III, 42, 8: "e 'I primo esterno re de' Goti farsi"). Einige Goten verlassen jedoch dieses Land, um sich weiter in Richtung fluß Termodoon zu begeben. Dort beginnen sie ihre Räuberkarriere, die aber nicht als etwas Negatives betrachtet wird, sondern als ein Beweis ihrer Stärke in der Kriegskunst gegenüber den benachbarten Völkern gilt (III, 45, 3-4: "volgean sovente ne' bisogni suoi I l'armi apredar i convicini regni"). Die feindseligen Nachbarn schaffen es, sie durch Hinterlistigkeit und Betrug zu vernichten. Die am Leben gebliebenen Frauen der Goten, die ihre Männer wegen des Trugs und nicht aufgrund der Tapferkeit der Feinde verloren haben (III, 46, 1- 2: "la frode I pil.! ehe 'I valor ostil spense i mariti"), entscheiden sich schließlich, einen Weiberstaat zu gründen, in der Erwartung, auf diese Weise einen unerhörten Ruhm zu erreichen (I1I, 46, 5: "aspirando a non udita lode"). Diese Frauen geben sich ohne Scham der Räuberei hin (III, 46,8: "predando intorno van

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V. Eine poetische summa des Nordens

senza ritegno"). Das läßt schon die künftigen Piratinnen ihres Volkes und überhaupt den ganzen Ruhm der nordischen V6lker erahnen, der immer eng mit der Piraterie und der Räuberei verbunden ist. Die Amazonen erobern Länder, vollbringen mannhafte Taten, verdienen den Ruhm, den Gott Mars als Vater zu haben. Die Königin Orythia wird wegen ihrer lebenslangen Jungfräulichkeit und ihrer Unbesiegbarkeit gepriesen. Sie habe Krieg nach Kleinasien gebracht und Städte gegründet wie Smyrna, die Heimatstadt Homers, und Ephesus mit dem der Göttin Diana gewidmeten Tempel (III, 51). Ariosti gelingt es mit diesem Kunstgriff, die gotische Tradition der griechischen ebenbürtig zu machen: Die Geschichte der Goten, in der die Frauen eine überragende Rolle spielen, ist mindestens so alt wie die der Griechen, oder genauer gesagt älter. Sogar der Dichter Homer hat es einer gotischen Frau zu verdanken, daß seine Heimatstadt überhaupt entstanden ist, und somit sind alle Griechen den Frauen des Nordens etwas schuldig. Auch die Geschichte von Herakles bei den Amazonen und den Sarmaten (Herodot, IV, 8 - 10) gibt dem Autor die Möglichkeit, klassische und nordische Traditionen zu verbinden. Herakles kam über das Meer der Kimmerier, von einem starken und mit Regen vermischten Wind getragen, zu dem Land der Sarmaten. Dort schlief er in einer Höhle ein, in der eine Frau wohnte, die ihre untere Körperhälfte in eine Viper verwandeln konnte. Diese Frau hielt den Helden in der Höhle gefangen und versprach ihm nur im Gegenzug für sexuelle Dienste die Freiheit (XII, 42-43). Nachdem sie von ihm schwanger geworden war, ließ sie ihn frei, aber verlangte von ihm für den gemeinsamen Sohn seine Rüstung (XII, 44). Herakles sarmatischer Sohn wurde groß und versuchte selbst, ruhmreiche Taten zu vollbringen. Um Monstren und Gottesfeinde zu töten, ging er nach Norden (XII, 46,5-8): penso di far dei sangue anch'ei lavacro e de' mostri e de l'alme a Dio rubelle; cosi verso aquilon drizzo ' 1 viaggio, dando dei suo valor mirabil saggio.

Um die eigenen kämpferischen Fähigkeiten zu erproben, muß man also nach Norden reisen. Dort finden sich die Herausforderungen, die ein Held braucht: "mostri" und Ungläubige. 47 Der sarmatische Sohn von Herakles war aber zu jung, 47 Die Figur des Epos Avarchide Viviana hatte schon in einem Gespräch mit Lancilotto deutlich gemacht, daß der Ritter weder nach Westen (wo die Sonne später untergeht) noch nach Osten (wo die Sonne früher aufgeht), noch nach Süden (wo die Sonne schöner leuchtet und mehr Wärme spendet) fahren soll, wenn er seine kämpferischen Fähigkeiten erproben will und auf der Suche nach ewigem Ruhm ist. Im sumpfigen Norden soll man also den Ruhm suchen (Avarchide, I, 91, 3-8 und 1,92,1-4: "Non della Luna i Monti, 0 dei Nilo I'onde, 10 (qual di Giove la Tebana prole) 1 La 've piu ch'a noi qui tardo s'asconde, 10 piu tosto, e piu bei si mostra il Sole, 1 0 dove scalda piu, convien cercare, 1 Volendovi co i merti etemo fare: 1 Perche in questo paese, e 'n questo loco, 1 In queste nostre parti ime, e palustri 1 V' e dato ad esser tal, che parran gioco 1 Quante altre antiche furo opere illustri").

4. Ikarus fliegt zum Nordpol

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sich mit den Riesen des Nordens zu messen, deswegen starb er in jungen Jahren und kam aus dem borealischen Land der Abenteuer nicht zurück (XII, 47). Ein weiteres Beispiel der klassischen Mythen, die Ariosti erneuert, indem er sie durch seine eigene Imagination, seine dichterische Phantasie und durch Anregungen aus einer nordischen Thematik und Tradition interpretiert und verändert, ist in der Erzählung der Magierin Megista zu finden. Sie führt eine Geschichte ein, die sie zur Unterhaltung vor dem Einschlafen für Aldano, Gesilda und Alfeo erzählt. Es handelt sich um die Geschichte der dänischen Sibylle. Antonella Perelli betont, daß diese Geschichte (11, 104-105) nicht von Olaus Magnus stammt. Sie erwähnt aber nichts von der Bedeutung, die diese Erfindung hat, sondern meint, daß dem Dichter Ariosti das erlaubt sei, was der Historiker Olaus trotz seiner Bemühungen, ständig Verbindungen zwischen seiner nordischen und der klassischen Welt zu finden, nicht wagen konnte. 48 Sibyllen gab es viele in verschiedenen Traditionen, aber nie wurde von einer dänischen Sibylle berichtet. Ariosti läßt sich etwas einfallen: Die persische Sibylle stamme ursprünglich aus dem Norden, aus Dänemark, sie sei aber lange gereist und schließlich in Persien gelandet. Das, was für die ruhmreichen Goten gilt (welche aus dem Land der Götar kamen und in so vielen weiter südlich liegenden Ländern wohnten), kann auch für eine Figur der klassischen Mythologie gelten. Die gegensätzliche Bewegung Süd-Nord findet man in der Legende des Herakles, der nach Norden reiste. Hier sind die beiden Bewegungen, von Norden nach Süden und umgekehrt, gleichzeitig vertreten, da die dänische Sibylle schließlich Persien verläßt, um in ihre Heimat zurückzukehren. Bevor von ihrer Gabe als Prophetinnen etwas erwähnt wird, werden die Sibyllen als Frauen präsentiert, die den körperlichen Genüssen extrem abgeneigt sind. Deswegen sei ihnen überhaupt die Gabe zueigen, die Zukunft vorauszusehen und in Erinnerung zu behalten (11, 104). Die Frauen des Nordens sind Olaus zufolge ebenso der Sinnlichkeit und dem Genuß abgeneigt. Daher kann sich der Dichter wohl vorstellen, daß eine keusche und strenge Sibylle aus dem Norden kommt. Megista wendet sich direkt an Alfeo und spricht von einer solchen wunderbaren Frau, die gerade aus seinem Reich kam und einen ,neuen Pol' suchte (11, 105): Una di queste, Alfeo, gia nel tuo regno naeque, ma in breve dei nativo suolo fastidita, d' errar feee disegno e eerear nove terre e novo polo. Seese vers' austro fin ehe giunse al segno, dove fa negro il sol tutto 10 stuolo; poi da Libia a l' Asia ella si volse, i vi lei Persia lungamente aeeolse.

Es ist interessant zu bemerken, daß die Möglichkeit berücksichtigt wird, daß man dem Ort gegenüber, an dem man geboren ist, abgeneigt oder dessen überdrüssig sein kann. Dann sucht man sich einen ,anderen Pol', einen Gegensatz, der 48

Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 222 f.

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durch Libyen im Sinne von Afrika dargestellt wird. Der dritte Teil der Welt, nach Europa und Afrika, ist Asien. Die Sibylle kommt tatsächlich nach Asien, das heißt, daß sie die ganze Welt kennengelernt hat. Sie wird "Persiana" genannt und lebt lange in Persien, doch im Alter packt sie das Heimweh (11, 106, 5 - 8): de la patria desir novo I' accese; ond'ella abbandonando i regni eoi, a destra ver l'occaso il camin tenne, infin che de' suo' Dani al lido venne.

Eine Sehnsucht nach der Heimat entflammt in der dänischen Sibylle, obwohl ihre Heimat kein liebliches und schönes Land ist. Die Sibylle sucht sich in Dänemark einen schrecklichen, dunklen Wald als Lebensort (11, 107, 5: "orrido ... bosco"), einen loeus terribilis, der die danteische Bezeichnung der "selva oscura" (11, 113, 3) verdient. Dort will sie die fröhlichen Tage des Sommers und die harten Tage des Winters verbringen (11, 107,8: "passa gli ispidi mesi e i mesi gai"). Nach ihrem Tod bleibt sie als reine Stimme, die ihren Dänen die Zukunft voraussagen kann. Die Dänen ihrerseits freuen sich über die große Ehre, die ihrer Heimat durch die Sibylle zuteil wird (11, 114, 7 - 8: "ciascun gode nel core / che la sua patria abbia si grand'onore"). Die Geschichte der dänischen Sibylle ist eingeführt worden, um das Orakel, das Alfeo betrifft, einzubinden. Sein Vater Sigare war in jenem Wald gewesen, um Nachrichten über das künftige Leben seines Sohnes zu bekommen. Merkwürdigerweise hat der Däne Sigare schwarze Haare (11, 118, 3: "i neri crini"). Noch merkwürdiger ist das Orakel selbst, das in einer nordischen Umgebung paradox klingt. In einern nordischen Land, in dem - wie Olaus berichtet (Hist., VII, 3) - der Krieg und die Waffen als die größten Werte gepriesen werden, sagt die Stimme der Sibylle, daß der Vater darauf achten soll, daß sein Sohn die Waffen meidet, um einer Gefangenschaft zu entgehen, die den Tod zur Folge hätte (Il, 121,5-8): "Abbi, 0 buon re - canto la voce - cura che non ami il bambin de I' armi il vanto; ch'indi a lui pende prigionia si forte che mai non n'uscira se non per morte".

Man denkt sofort an Achill. Für Giuseppe Venturini ist klar, daß das Orakel sich in jeglicher Hinsicht verwirklichen wird, obwohl der Vater Alfeos alles versucht, um dem entgegenzuwirken. Typisch nordisch sei - und es wird zum Teil im Laufe des Epos bewiesen - , daß alle Helden und Ritter ein schreckliches Ende finden. Nach großen Erfolgen kommen für alle die Misere und der plötzliche Tod. Orazio Ariosti hätte in der skandinavischen Erudition des Olaus nicht nur Elemente für ein nordisches Kolorit gefunden, sondern auch den Geist, der das ganze Epos beherrscht, das heißt die Vorstellung, daß jeder Ruhm instabil und prekär ist, daß jeder Heroismus den Tod nicht abwenden kann. 49 49

Vgl. G. Venturini,lntroduzione zu o. Ariosti, L'Alfeo, a. a. 0., S. 15.

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Olaus Magnus hatte tatsächlich von all seinen Helden des Nordens nicht nur die großen Taten, sondern auch deren Fall und Tod erzählt. Die meisten von ihnen seien nicht in einer Schlacht gefallen, wie es für sie wünschenswert gewesen wäre, sondern hatten einen gar unwürdigen Tod gefunden. In Gefangenschaft umzukommen wäre eine besonders schlimme Art zu sterben. Es sei ein Tod, der die Vögel und die Tiere trifft und eines Ritters nicht würdig ist, sagt die Stimme der Sibylle im dänischen Wald (11, 124, 1-2: "Muoiono i cavalier con l'arrni in mano, / eIe fere egli augelli in gabbia chiusi"). Die Stimme bedient sich des Wortes "gabbia", das an die Kombination "rabbia":"gabbia", die sehr oft mit der Beschreibung des Nordens zu tun hat, erinnert. Leider ist das Werk unvollendet, und ob Alfeo die Schande der Gefangenschaft tatsächlich kennenlernen wird, wie das Orakel vorausgesagt hat, ist nicht klar. Venturini ist davon ausgegangen, daß dies alles so geschehen soll, obwohl es widersprüchliche Andeutungen im Laufe des Epos gibt. Meiner Meinung nach ist es wahrscheinlicher, daß Ariosti wollte, daß genau das Gegenteil eintritt, um die Nichtigkeit der Stimme im Wald zu beweisen, die glaubt, ein menschliches Schicksal voraussagen zu können. Dem Heiden Sigare ist diese Stimme noch glaubwürdig erschienen, so wie es für die antiken Menschen des Nordens vor der Ausbreitung des Christentums üblich war, das zu glauben, was ihre Götzen und Nymphen über ihre Kinder voraussagten (Hist., III, 3 und III, 9). Aber der erste Christ Alfeo will diesem Aberglauben seinen Willen, seine Tugenden, seinen Mut entgegensetzen (11, 127). Er glaubt nicht an die Sibylle des Nordens, und gerade deshalb wird er die christliche Offenbarung und die direkte Hilfe des ,wahren Gottes' erhalten. Die nordische Sibylle ist eine Erfindung des Dichters aus Ferrara, aber sie gehört zu einer Art nordischem Olympus. Andere weibliche Gottheiten, die typisch für jene nordische Welt sind, die sich von der eigenen, vertrauten Welt in vielerlei Hinsicht unterscheidet, sind die fatales sorores von Olaus Magnus (Hist., III, 10), Nymphen besonderer Art. Diese "Fatal Sorelle" werden im ganzen Norden mit Hingabe angebetet und doch verlieben sie sich in Sterbliche: So liebt eine von ihnen den jungen Norweger Odrisio und versucht, ihn während des Kampfes zu schützen (XIV, 93, 1-4): Amato da una ninfa, e pur di quelle, ehe tutto I' aquilon devoto adora e sotto norne di Fatal Sorelle di saeri tempi e riti saeri onora

Im Norden hat es wohl vor der Ausbreitung des Christentums wie bei den Griechen und den Römern eine eigene Religion gegeben. Die nordischen Götter und Nymphen verdienen dieselbe Achtung und dieselbe Ächtung, die die Götter der antiken Zivilisationen am Mittelmeer verdienen. Eine eigene (heidnische) Religion ist das Zeichen für eine eigenständige Zivilisation, die es in Nord- wie Südeuropa gegeben hat. Mit der Offenbarung der einzig wahren Religion der Christen

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V. Eine poetische summa des Nordens

dürfen all diese Figuren nicht mehr angebetet werden. Sie können aber weiterhin als Symbole für bestimmte Werte, Tugenden oder Laster verstanden werden. Der hochmütige, von der bösen Nymphe geliebte Odrisio soll schließlich im Kampf sterben, während ein anderer - der Dichter Caliso - an seiner Stelle gerettet wird (XIV, 101-105). Ariosti weist darauf hin, daß die Musen auf dem Parnaß ihn lieben und sich um ihn Sorgen machen (XIV, 101, 7 - 8: "Caliso, amico di Parnaso al coro, / dolce cura ed amor di tutti loro"). Norwegen ist also nicht vorn Einflußbereich der Musen ausgeschlossen. Auch dort befinden sich Dichter, die den Helden nach ihrem Tod durch ihre Verse unsterbliches Leben schenken können (XIV, 102). Ariosti, der sich nicht immer auf die Brüder aus Uppsala bezieht, arbeitet mit großer Phantasie und Freiheit. Das zeigt sich, wenn er von der nordischen Mythologie berichten will. In dem Lied, das Alfeo in Megistas Garten hört, kreiert er einen neuen Mythos, indern er den alten Mythos des Ikarns neu interpretiert und seine Handlung von der im Mittelmeer liegenden Insel Kreta nach Nordeuropa verlegt, möglicherweise durch die Tatsache angeregt, daß eine Insel "Icaria" auf der Karte des Nicolo Zeno (vgl. Kap. IV.3.) südwestlich von Island verzeichnet war. Die anmutige Stimme, die den Mythos erzählt, könnte die Hölle oder die Abgründe in ein Paradies verwandeln (IV, 66, 7 - 8: "e voce umana 0 pur d' angelo udissi, / che paradiso potea far gli abissi"). Dies ist keine harmlose Emphasis, die paradox wird, sondern ein Hinweis darauf, daß die Welt in diesem Lied verdreht ist. Deswegen muß alles, was gesungen wird, als Verkehrung der Wahrheit in Lüge gedeutet werden, so schön und vernünftig die Stimme auch klingt. Unter diesem Vorbehalt kann man an die Mythen des Nordens herangehen. Zuerst erwähnt Ariosti die Giganten, die sich gegen die Götter des Himmels mit Hochmut erhoben hatten und dafür bestrafen wurden, wie Olaus bemerkte (Hist., V, 1) und wovon sich auch Tasso inspirieren ließ. Die melodiöse Stimme erzählt singend erlesene Geschichten, besondere Mythen, die nur die Gebildeten kennen (IV, 67): Questa, accordando al suono i colti carmi, prima il caso canto dei rei Giganti, ch' alzar, superbamente arditi, I' arrni per comandare ai fissi, ai lumi erranti; onde (oh, qual fia che contra i dei piu s' armi!) ebber flagello poi d'etemi pianti: che dei monti onde al eie! si fero varco ciascun di loro e in sempitemo carco. In Analogie zum ersten Mythos der rebellischen Giganten wird ein weiteres Beispiel für bestraften Hochmut erwähnt: die Geschichte des Ikarns, die an und für sich nichts mit dem Norden zu tun hat. An dieser Stelle läßt Ariosti seine Phantasie spielen. Es gelingt ihm, einen überzeugenden nordischen Ikarns zu gestalten, der nicht zur Sonne, sondern zu einern anderen unerreichbaren und verbotenen Ziel im Himmel will. Ikarns will zum Nordpol des Kosmos (IV, 68, 1-4):

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Ricordo poi dei folie Icaro il volo, l' audaee volo egli ineerati vanni; ehe mentre aspira temerario al polo, sommerso in mar soffre gli ultimi affanni.

In diesen Versen ("del folle Icaro il volo") steckt auch der "folle volo" des danteischen Odysseus (In!, XXVI, 125), der mit seinen Freunden die Ruder wie flügel benutzte. Der Dichter Ariosti konnte sich auch durch ein so großes Vorbild berechtigt fühlen, klassische Mythen in einen anderen Rahmen zu setzen, in eine erweiterte Welt, über die Säule des Herakles hinaus, in den großen Ozean. Der Mythos des Ikaros wird aber auch völlig neu interpretiert, da er mit der Aufforderung verbunden wird, immer nur das Einfache und das Angenehme zu schätzen, ein genußvolles und unbeschwertes Leben anzustreben und all das zu meiden, was Höheres bedeutet und mit Schwierigkeiten verbunden und damit nur durch Anstrengungen erreichbar ist. Die verführerische Stimme gibt eine falsche Lebensweisheit an: Sie lobt diejenigen, die auf dem Boden bleiben und alle steilen und mühsamen Wege meiden, während sie auf den Fall derjenigen warten, die gestiegen sind und sich erhoben haben (IV, 69 - 71). Dieses Lied soll Alfeo für die Liebe der Magierin Megista vorbereiten und ihm die schwer zu erreichende, keusche Alvida aus dem Sinne treiben. Genau das Gegenteil jedoch ist für den Autor und sein Publikum das Richtige und Würdige. Man soll sich immer nach etwas Höherem sehnen, man soll versuchen, sich zu erheben, den steilen Weg der Tugend und nicht den einfachen Weg der Sünde zu wählen, man soll an die hohen Werte denken und auf die niedrige Lust verzichten. Wenn man diese Zusammenhänge berücksichtigt, kommt man zu dem Schluß, daß der Nordpol als ein schwer erreichbares oder gar unerreichbares Ziel verstanden werden muß, aber den richtigen Weg zeigt. Der ,reine Nordpol' [vgl. Kap. Y.2.c)] gibt die Richtung, auf die man in seinem Leben hinarbeiten soll. Andere Mythen des Nordens werden von dem Dichter erfunden und mit den alten klassischen Mythen vermischt oder zeitlich verbunden. Im siebten Canto zum Beispiel erzählt der Greis, dem Alfeo begegnet, eine alte Geschichte, die in den heiligen annales seines Landes geschrieben steht: Sie spielt auf der Insel Hibemia zu derselben Zeit, in der Jupiter als Schwan Leda verführte (VII, 3). Weitere Mythen werden von Orazio Ariosti von Süden nach Norden verlegt. Wenn er von dem Pferd Celerino erzählt, das sich im Besitz des bösen Gabanello befindet, erfindet der Autor eine Geschichte, die eine ,Nordisierung' des Mythos Kirkes darstellt. Anklänge an Stellen des Olaus sind vorhanden, zum Beispiel, daß Pferde einen inneren Geist haben und mit ihrem Besitzer kommunizieren können (Hist., VIII, 17). Nordische Pferde zeichnen sich durch besondere Stärke und Ausdauer aus und können durch Wälder, Sümpfe und über hohe Berge gehen (Bist., XVII, 8). Das Interessanteste dabei ist aber die Anpassung des Mythos Kirkes (Ovid, Met., XIV, 346 ff.) an die nordischen Verhältnisse. Ariosti stellt sich vor, daß die Zauberin Kirke das Wunderpferd von ihrem Vater geschenkt bekam und es wiederum ihrem Liebhaber Pico schenkte (VI, 74). Nachdem sie den Geliebten in einen Vo-

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V. Eine poetische summa des Nordens

gel verwandelt hatte und dieser weggeflogen war, bereute sie es so sehr, daß sie sich nicht mehr in Italien aufhalten konnte. Die Magierin konnte es nicht mehr ertragen, auf italienischem Boden zu bleiben, an dem Ort, wo sie sich von ihrem Liebhaber getrennt hatte. Sie wollte nicht mehr in Italien leben und flüchtete mit ihrem Pferd nach Norden über die Donau nach Deutschland, wo ,der schöne Frühling später kommt', bis zu den Kimbern und jenseits des Nordmeeres zu den kalten Stränden Schwedens, bis zu einem See, in dem der weise "Salmosse" lebte (der Zalmoxis von Hist., III, 20). Die Neuheit dieser translatio der homerischen Zauberin, die Italien den Rücken kehrt und durch ganz Europa bis zu seinem äußersten nördlichen Rand reitet, ist nicht zu übersehen. 5o Nördlich von Schweden liegt ein Land, dessen Strände am Eismeer liegen (VI, 79, 6: "tin sui lidi cola deI mar di ghiaccio"), das das Ende der Welt darstellt. Dort regiert ein König, der sich der Hilfe eines Zaubers bedient, um das Zauberpferd Kirkes zu bekommen. Der äußerste Norden ist bekanntlich der Raum, in dem Magier und Zauberer ihr Zuhause haben (Hist., I, 1).

S. Wunder und Monstren im Norden a) Gespenster und Dämonen, ,innere Monstren' und Melancholie

Typisch für die Regionen des Nordens ist Olaus zufolge die Anzahl verschiedener Monstren, Wunder, Gespenster, Schatten, Geister, Hexen und so weiter, die auch andernorts anzutreffen sind, allerdings nicht in demselben Ausmaß (Hist., III, 11-12). Das heißt, daß diese Erscheinungen im allgemeinen nicht exklusiv, wohl aber sehr charakteristisch für den nördlichen Teil der Welt sind. Darüber hinaus haben sie im Norden spezielle Merkmale. Wunder und außerordentliche Erscheinungen, die ein Zeichen für eine schwierige Zeit, einen künftigen Krieg oder ein schicksalhaftes Jahr für das Land sind (XII, 96), tragen in Norwegen ,nordische' Konturen. Geheimnisvoller Waffenklang, Blitze aus heiterem Himmel, Heulen von Wölfen und Hunden des nachts in den Städten, Weinen der Götzen, bluttropfende Altäre häufen sich als unglückbringende Zeichen, während der kalte Nachthimmel sich wie Blut farbt (XII, 97): Risono d'arrni il cielo e, folgorando nel piu puro seren, percosse i tempi; alto ululär per le cittadi errando funesti lupi, e can notturni ed empi; 50 Nichts spricht hier vom Schrecken, nichts ist "orrido". Die Strände des Nordens sind lediglich kalt: "e poi ch'il core / penitenza dei fatto le rimorse, / non sostenendo piu la vista ultrice / degli italici campi, erro infelice. /I E sovra il buon destrier varcando vide / l'Illiria e due Pannonie; e I'Istro a tergo / lasciato, la Gerrnania, dove ride, / dove ha piu tardi primavera albergo. / Indi ai Cimbri ed al mar, che li divide / da piu gelide piagge, ella die 'I tergo. / Alfin di Svezia nel gran regno venne; quivi il rapido suo corso ritenne. /I Anzi nel lago si tuffo la dove / Salmosse il saggio era celarsi fama, / Salmosse che di frutti e d' erbe nove / sazia sol la famelica sua brama" (VI, 75, 5 - 8; VI, 76 und VI, 77, 1-4).

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fGr visti lacrimar gli idoli; e quando s'apprestavano sol ruine e scempi, sudar di sangue i sacri altari; e 'I cielo volger in sangue il suo notturno gelo.

Viele dieser Zeichen erinnern an zahlreiche Stellen bei Olaus; einige kommen auch in Tassos Tragödie vor ("sudar sangue", der blutgefarbte Himmel, die Blitze und der Waffenklang; vgl. Kap. VI.4.b). In erster Linie ist aber die Präsenz von zahlreichen Dämonen im Alfeo auffällig, die eine typische nordische Besonderheit darstellt. Ariosti spricht von den ,Dämonen der Metalle' (III, 14), die unter den Bergen zwischen Schweden und Norwegen leben, weil er bei Olaus von solchen Dämonen in Höhlen und Minen gelesen hat (Rist., VI, 10). Diese Dämonen betrügen und täuschen die Menschen und versuchen, sie in den Tod zu führen, schreibt Olaus. Ariosti erwähnt sie auch an anderen Stellen (IV, 21 ff.): Es sind Geister, Schatten, Gespenster, "stranie larve", die Alfeo abschrecken wollen. Für Antonella Perelli handelt es sich dabei um eine vielschichtige Tradition, die zu den Beschreibungen der Dämonen in der Gerusalemme liberata geführt hat. Sie vergißt aber die Besonderheit dieser nordischen "larve", das heißt ihren melancholischen Charakter und ihre Aufforderung zum Selbstmord. Es ist ein sehr wichtiges Thema, das Ariosti am Herzen liegt. 51 Antonella Perelli irrt sich außerdem, wenn sie beteuert, daß das Übernatürliche im Alfeo wenig Platz findet. 52 Abgesehen davon, daß es in Texten des 16. Jahrhunderts schwierig ist, das Übernatürliche vom Natürlichen zu unterscheiden, muß man sagen, daß die Forscherin hier etwas übersehen hat. Sie meint, daß Orazio Ariosti bald das nordische Pantheon vergißt und die Helden keine Götter brauchen, sondern höchstens mit Nymphen oder Zauberinnen zu tun haben. 53 Dem Dichter geht es aber gerade darum zu zeigen, wie die heidnische nordische Religion eine Ansammlung von lächerlichem und absurdem Aberglauben ist. Die Keuschheitsgelübde, die Alvida vor ihrer Göttin ablegt, wird sie zum Beispiel nicht erfüllen. Perelli zufolge machte Ariosti ebenfalls keinen Versuch, etwas christlich Übernatürliches wie Tasso aufzubauen. Warum denn auch? Hat Tasso so etwas mit den behilflichen Himmelsscharen des Gerusalemme kreiert, hat er dennoch nichts dergleichen in seiner nordischen Tragödie eingeführt. Im Gegenteil, dort ist nichts Christliches zu finden. Für Orazio Ariosti spielt sich alles in der Zeit unmittelbar vor der Christianisierung des Nordens ab. Der neue Glaube muß sich noch behaupten und wird erst mit dem Sieg Alfeos kommen. Die Wunder, die Ariosti erwähnt, sind vor allem aus der Ristoria de gentibus septentrionalium übernommen worden. 51 Ariosti fand in seiner Quelle Olaus auch Beispiele für ,lobenswerte' Suizide wie die der zwei befreundeten Könige Hading und Hunding (Hist., XIII, 33). Dennoch wollte er diese nordische Geschichte nicht übernehmen, die einer scharfen Verurteilung des Selbstmordes widersprach. 52 Vgl. Antonella Perelli, Olao Magno a Ferrara . .. , a. a. 0., S. 227: "nel complesso il soprannaturale non ha molto spazio nell'Alfeo". 53 Vgl. ebd., S. 228.

11 Boccignone

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V. Eine poetische summa des Nordens

Sie entstammen der nordischen Tradition und lassen sich besser als Werke der Dämonen denn als Werke der Engel aus dem christlichen Himmel interpretieren. Aldano, der dem Protagonisten erzählt, wie er auf die Insel kam, auf der er wie im Exil lebt, weil seine Stiefmutter das Reich Norwegen usurpiert hat, spricht von ,magischen Schatten' (1,47,8: "magiche larve"), die angeblich den Vater nach der zweiten Hochzeit bedrückten und damit seine Vaterliebe erkalten ließen. Auch die krankhafte Schwäche des Königs, die zum Tode führt, scheint eine Folge dieser "magiche larve" zu sein. Im Garten des norwegischen Königspalastes wird die Königin vom Schatten ihres Mannes überrascht. Es ist ein grausames Gespenst, eine "empia larva" (I, 82, 7), die die Königin in Angst und Schrecken versetzt, eine "cruda larva" (I, 84, 3), die in ihren Gedanken immer wieder auftaucht. Sie ist ein riesiger Schatten (I, 79. 5: "ombra improvisa"), der plötzlich mit den Augen voll Tränen und Blut und mit dem Zepter drohend aus der Urne herausspuckt (I, 7980). Die Besonderheit dieser nordischen, unheilvollen Schatten oder Gespenster stellt nicht nur ihre düstere und blutige Erscheinung dar. Sie sind Dämonen, die böse Scherze machen (IV, 49, 3: "gli oltraggi e l'onte"), um in den Tod, insbesondere in den Selbstmord zu treiben. Die Helden des Nordens fürchten sich traditionell nicht vor dem Tod. Ihnen können Angst oder Feigheit nicht vorgeworfen werden, aber ihr Fehler besteht darin, daß sie sich manchmal grundlos in den Tod stürzen. Diese schwere Sünde begehen sie, wenn sie von den Dämonen des Nordens in Versuchung geführt werden. Ganz andere Sünden begehen dagegen die Menschen im Süden, die von den sinnlichen Dämonen des Mittags durch Schmeicheleien verführt werden. Alle Täuschungen der Dämonen (" illusiones daemonum ") sind gleichermaßen trügerische Bilder (" imagines falsae "), sie unterscheiden sich aber in den kalten-dunklen und in den warmen-sonnigen Regionen der Erde. Dieser Umstand ist in jedem demonologischen Traktat der Zeit zu finden, wie auch in dem Werk über die Dämonen von Giovanni Lorenzo d' Anania, das Ariosti sehr gut gekannt haben soll.54 Viele Melancholiker im Norden haben nicht nur einen natürlichen Körpersaft im Übermaß, sondern sind zusätzlich oft von Dämonen geplagt, die in ihnen schreckliche, traurige und düstere Bilder hervorrufen ("horrendae ac tristes, causantur imaginationes [ ... J cogitationes turpes,,).55 Das heißt aber nicht, daß der Mensch sich nicht wehren kann. Er kann im Gegensatz zu den Dämonen auf Gottes Hilfe zählen, meinen die Traktatisten. Daher kann der Kampf zwischen Dämonen und Sterblichen nur mit dem Sieg der Menschen enden, wenn sie sich Gott anvertrauen. 56 Das Motiv der Versuchung durch die Dämonen aus dem Norden, die mit melancholischen Gedanken und düsteren Bildern die Menschen zur Verzweiflung bringen, wird von Ariosti mehrmals aufgegriffen. Im vierten canto irrt Alfeo in einem einsamen, dunklen, wilden Wald herum, bis er um die Mittagszeit (der Erzähler 54 55 56

Vgl. G. L. d' Anania, De Natura Daemonum libri lIIl, Venezia 1581, S. 38 und S. 118. Vgl. ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 34 (victoria hominis cum daemone).

5. Wunder und Monstren im Norden

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bezieht sich auf die eigene Welt, in der die Sonne zu sehen ist, um die Mittagsstunde zu bestimmen, in der die Dämonen die Menschen versuchen) einen sitzenden Mann sieht, der - nach der typischen Haltung des Melancholikers - sein trauriges Gesicht auf die Hand stützt. Es scheint Dimo zu sein, sein bester Freund, mit dem er bis zum äußersten und kältesten Norden fahren wollte. Alfeo hatte geglaubt, er sei im Meer ertrunken und würde ihn nun umarmen, wenn er nicht leerer Schatten wäre (IV, 7 und IV, 8, 3 - 8): Ma cOSl negro e 'I bosco e SI selvaggio egli occhi altrui di tanto orrore ingombra, ch'ammirar non si de' s'in suo viaggio trova la via di peregrini sgombra. Alfin ne I'ora che piu d'alto iI raggio vibrand'il sole a noi minor fa I'ombra, ecco agli occhi gli s'offre un uom ch'assiso sostenta con la destra il mesto viso. [

.. . ]

Dimo, ch'absorto egli penso dal mare nel suo crudel naufragio, esso 10 stima: Dimo, con cui proposto avea cercare de I' aquilone ogni piu freddo clima; caro a lui sovra quanti amici fidi seco di Dania abbandonaro i lidi.

Diese Erscheinung erweist sich als ein Dämonenscherz. Es ist einer der vielen bösen Streiche, die die Dämonen des Nordens, des Teils der Welt, in dem Satan seinen Sitz gehabt hatte, den Menschen spielen (Hist.• I1I, 22). Was Ariosti an den nördlichen Dämonen stark beeindruckt hat, ist der Umstand, daß sie die Menschen zur Verzweiflung bringen und sie oft in den Selbstmord treiben. Mit der Nördlichkeit, die er mit der Beschreibung von Naturphänomenen, Bräuchen, Traditionen und zum Norden gehörenden Gottheiten zu gestalten versucht, verbindet der Dichter eine besondere Gefahr für die Menschen, von externen oder inneren Geistern zum Wunsch des eigenen Todes gedrängt zu werden. Für die damalige Zeit war der Selbstmord die schwerste Sünde überhaupt. Alfeo ist zu entschuldigen, solange er von der wahren Religion noch keine Kunde hat. Die "stranie larve" und unbekannten Stimmen ("stranie voci"), die ihn abschrecken und zur Verzweiflung bringen wollen, haben mit ihm leichtes Spiel, bis ihm die Zauberin Megista mit dem Versprechen des Genusses im Leben seine düsteren, melancholischen Selbstmordgedanken übergangsweise vertreibt. In dem moralisch sinnerfüllten Raum des Waldes (IV, 19,7 - 8: "nel piu fosco / rientra ognor deI solitario bosco"), in dem er umherirrt und sich in der Finsternis verliert, wie der Verzweifelte in düstere Gedanken, in Irrsinn und Schrecken eintaucht, verbringt er eine Nacht (IV, 20 und IV, 21, 1-2): ehe quanto piu di svilupparsi tenta, tanto piu traviando egli s'intrica: che s' entra nel sentier, gli s' appresenta quando rio, quando macchia orrida antica; ll*

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V. Eine poetische summa des Nordens

e la luee, eh' omai dei tutto ha spenta la notte, ai peregrin sempre nemiea, tutta in tenebra volta a lui d' errore eresee materia co ' I suo foseo orrore. Erro tutta la notte e stranie larve e stranie voei I' infestaro spesso

Am folgenden Tag, der stark bewölkt ist (IV, 21, 7-8: "l'aer... / ... di nubi pieno"), entdeckt der Protagonist, daß der Boden überall von menschlichen Knochen bedeckt ist (IV, 22, 4: "d'ossa umane coperto appar quel suolo"). Olaus hatte von verstreuten menschlichen Knochen in Schweden gesprochen, die als ein Zeichen für die Stärke der Bewohner des Landes und als Mahnmal für die ausländischen Truppen zu verstehen seien (Hist., VII, 18). Hier sind die Reste von Menschenskeletten eine Täuschung der Dämonen des Nordens. Die Folge ist, daß Alfeo sich von einem unbekannten Schmerz niedergeschlagen fühlt. Er setzt sich daher wie jeder Melancholiker mit dem auf die Hand gestützten Kopf hin und schaut mit traurigem Gesichtsausdruck auf den Boden und die Leichen (IV, 23):

e

SI eh' assidersi in breve egli eostretto infra quell' ossa ed a I' afflitto viso far de la palma sospirando letto, da ineognito dolor vinto e eonquiso. Or mentre oppresso il eor, tristo I' aspetto, s'affanna, eeeo ferir il vento improviso ne I' ossa, ehe di nervi aridi aneora einte, al soffiar risuonano de I' ara.

Die Stimmen - Seufzen und Klagen, Weinen und Schreien - , die sich wegen des plötzlichen Windes aus den Skeletten erheben (der Wind spielt in der Beschreibung der Umgebung eine äußerst wichtige Rolle), stammen von Menschen, die in den Wellen des Ozeans ihr Leben verloren haben, Teufelsbesessene und heidnischen Gottheiten gewidmete Menschenopfer (IV, 24). Wenn man an einige Abschnitte der Historia von Olaus Magnus denkt (Hist., III und XVIII, 43), erkennt man diese Figuren wieder, die alle zweifellos als ,nordische' Personen bezeichnet werden können. Sie teilen Alfeo mit, daß Alvida ihn nie lieben wird (IV, 25 - 26), und fordern ihn ausdrücklich auf zu sterben (IV, 27, 7: "Mori"; IV, 28,1: "Mori"), um entweder den Friedenshafen im Tod zu erreichen oder - falls es Empfinden nach dem Tod noch gibt - wenigstens unter den leidenden Geistern Gesellschaft in seinem Schmerz zu finden (IV, 28, 7 - 8: "che gente avrai qui nel martir compagna, / e dolce ea chi si duol turba che piagna"). Ariosti sieht im trübsinnigen, bewölkten Himmel des Nordens die passenden unheilvollen Farben für eine Szene, die einem Triumph des Todes gleichkommt (IV, 29, 3: "il cielo tinto in color funesti e rei"; IV, 29, 7 - 8: "tanti inviti 0 son tanti acuti sproni / a far che deI morire uom s'abbandoni"). Eine erste, trügerische Hilfe bekommt der im Banne der Dämonen verzweifelte Alfeo (IV, 33, 3: "scherno de' demoni") von der Zauberin Megista, die den Winden

5. Wunder und Monstren im Norden

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Befehle erteilen kann. Der wilde Nordwind weht alle Knochen fort und vertreibt die Geister, bis Megista den angenehmen Südwind wehen läßt, um den Heroen auf die Liebe einzustimmen (IV, 31-34). Die Magierin stellt die Versuchung der Dämonen des Südens dar, die mit schmeichelhaften Tönen versuchen, den Menschen zur Unzucht zu bewegen, damit er das Heil seiner eigenen Seele vergißt. Der unheilvolle Suizidgedanke (IV, 34, 6: "sue voglie insane") ist zunächst abgewendet, doch schon wartet auf ihn eine andere Gefahr, die sich im Genußgarten der Zauberin mit allen ihren verführerischen Versuchungen konkretisiert (IV, 35-44). Dieser Lustgarten würde sich nicht viel von dem Garten A1cinas oder Armidas unterscheiden - den klassischen Myrthen und Lorbeeren hat Ariosti noch exotische Orangenbäume hinzugefügt (IV, 41) -, wenn es nicht die beeindruckende Beschreibung des Nordlichtes gäbe oder die mit magischen Worten unterrichteten Winde nicht am Tisch bedienten (IV, 63, 7 - 8: "serviano i venti a quella mensa; i venti / che trasser forse qui magici accenti"), die diesem Garten eine nordische Stimmung vermitteln. Das Idyll, in dem Megista lebt, ist traditionell. Aber die Macht der Magierin über die Winde, die sie in ihre Gewalt bringen kann, hat etwas Nordisches, wenn man bedenkt, daß der schwedische König Erik die Winde kontrollieren konnte, weil er mit den Dämonen seiner Region Kontakt hatte (Rist., III, 14) und die Zauberer der Finnen, die am nördlichsten Ende der Welt lebten, die Winde verkaufen konnten (Rist., III, 16). Die Magierin des Nordens verfügt berechtigterweise vor allem über die Winde. Sie kann fliegen und ohne Gefahr über See fahren, obschon viele andere Zauberkünste ihr nicht zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich hat Ariosti während der Beschreibung ihres verZauberten Gartens an den Garten auf der Spitze des Bergs Kinnekulle oder Kindaberg gedacht (Rist., 11, 22), der eine Insel von Genuß und Schönheit im Norden ist. Olaus hatte geschrieben, daß man den jungen Leuten nicht verraten dürfte, daß der Berg sich dort befände, weil der Genuß die Laster und die Sünden zur Folge hätte, während das rauhe und kalte Klima die Disziplin und die Reinheit förderte. Der Garten von Megista stellt die Versuchungen der südlichen Dämonen, die Verführung und Verlockungen der sinnlichen Liebe dar, wie alle Gärten der Magierinnen A1cina oder Armida bei Ariost und Tasso. Die Versuchungen der nordischen Dämonen sind dagegen eine Seltenheit in der italienischen Literatur. In der Episode der Versuchung Alfeos liegt der nordische Akzent in der Gefahr des Selbstmords des Protagonisten. Die Zauberin erklärt Alfeo, daß sie eingriff, um ihn nicht im Banne seiner Todesgedanken oder bösen Geister zu lassen (IV, 53, 2-3: "non fu legger la tema / che tuoi feroci spirti e si commossi / non t' adducesser ratti a l' ora estrema"), die von den unheilvollen Stimmen geweckt worden waren. Die listigen Dämonen hatten diese angsterregenden Stimmen aus Bösartigkeit hervorgerufen (IV, 54, 1 - 2: "Insidlosi demoni, per uso, / qui fan de' peregrin miseri scherni"). Megista betont, daß diese Dämonen in ihrer nordischen Heimat leben; in der direkten Rede kommt das seltene Lokaladverb "hier" ("qui") vor. Normalerweise wird der Norden vom Erzähler durch ein die Entfernung betonendes ,dort' ("la") präsentiert.

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V. Eine poetische summa des Nordens

Die Dämonen im Norden können die Sinne täuschen und die inneren Gedanken der Menschen trüben und mit Schrecken erfüllen (IV, 54, 5 - 6: "Da questi ogni tuo senso fu deluso / e d'orror pieni i tuoi pensieri interni"). Zum einen gibt es also einen äußeren Grund für die Verzweiflung vieler Menschen im Norden, nämlich die Präsenz der Dämonen, die üblicherweise versuchen, finstere Gedanken hervorzurufen, zum anderen gibt es einen inneren Grund, der vom äußeren verursacht, wenn auch nicht strikt determiniert ist, nämlich die melancholischen, lebensfeindlichen Gefühle der Menschen selbst, die schließlich in den Tod führen. In jedem Traktat der Dämonologie wird auch diese Verflechtung von inneren und äußeren Elementen der teuflischen Versuchung erläutert. Giovanni Lorenzo d' Anania faßt es folgendermaßen zusammen: Gott gab dem Teufel die Macht, den Menschen interne tentationibus suis anzugreifen, damit er sündigt. 57 Die Menschen sind nicht ohnmächtige Marionetten in der Hand der Dämonen, sondern können dem Teufel ihren persönlichen starken Willen entgegensetzen und mit Gottes Hilfe, wie Ariosti ausdrücklich schreibt, Widerstand leisten. Davon unberührt bleibt jedoch die Tatsache, daß die Dämonen der Melancholie im Norden leben und der Kampf gegen die eigenen Todesgedanken etwas schlechthin Nordisches ist. Nicht das Versprechen eines unbekümmerten Lebens, sondern göttliche Hilfe allein kann dieses Übel vom Heroen abwenden. Nachdem Alfeo die Liebesangebote der Zauberin abgelehnt hat, wird er in die vorherige Situation zurückversetzt: Der Himmel ist wieder bewölkt, auf dem Boden sind erneut die Knochen und Leichen verstreut (IV, 88). Von neuem packt ihn der ,unbekannte Schmerz' (IV, 89, 2: "ignoto duolo"); er hört wieder dieselben Schreie und Klagen. Diesmal erscheint ihm auch ein Ungeheuer, das eine Frau verfolgt (IV, 90). Obwohl er weiß, daß dies wahrscheinlich trügerische Figuren sind, die Dämonen geschaffen haben (IV, 91, 3: "fantasme diaboliche le stirna"), kann er schließlich nicht widerstehen, ihnen ins Wasser zu folgen, als er merkt, daß die hilferufende Frau wie seine Alvida aussieht (IV, 91-96). Ariosti hat bestimmt an die Episoden der Schlösser des Magiers Atlante im Orlando furioso (11, 41 - 44 und IV, 5) gedacht, aber er hat den geschlossenen Raum durch das bewegte Meer ersetzt. Alfeo riskiert, im Wasser wie in seinen Illusionen und in seinem Irrsinn zu versinken (V, 3, 8: "Alfeo ne l'acque e negli error sommerso"). Der wahre Gott, der den Menschen nicht nur die Flügel zum Erreichen des Himmels verleiht, sondern auch eine zusätzliche Hilfe mit seinen Gnadengaben ("grazie") anbietet, damit der Mensch den richtigen Weg einschlägt, rettet Alfeo, indem er den Hl. Paulus zu ihm schickt (V, 3). In der ersten ottava des fünften Canto erklärt der Dichter auch, daß die Monstren, die zur Melancholie führen, eigentlich ,innere Monstren' sind (V, I, 4: "mostri interni"), denen sich darüber hinaus die schwarzen bewaffneten Dämonen aus dem Reich des Todes oder die Dämonen der Küsten anschließen, die das menschliche Leben noch schwieriger und die göttliche Hilfe notwendiger machen. 57

Vgl. G. L. d' Anania, De Natura Daemonum libri lIII, a. a. 0., S. 47.

5. Wunder und Monstren im Norden

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Es ist interessant zu bemerken, daß die Dämonen, die in den nördlichen Ländern aktiv sind, aus der Tiefe der Erde oder aus dem Westen kommen, das heißt aus der Finsternis, aus der Dunkelheit, ganz nach den dämonologischen Theorien der damaligen Zeit (V, 1, 7 - 8: ,,0 da le piagge pur de l' occidente, / armata scorge uscir anco sovente!,,).58 Alfeo kann mit seiner Tapferkeit und seinem Mut dem wütenden Ozean standhalten. Er hat keine Angst vor dem Stunn, der Tod androht, da er sich als nordischer Held nicht vor dem Tod fürchtet (V, 6, 7 - 8 und V, 7, 1 - 2: "non pave il cavalier l'irata faccia / deI mar, bencM di morte ei 10 minaccia. I! Non pave, ch'altra volta in fero assalto / ebbe de I'ocdmo anco vittoria"). Er braucht aber unbedingt göttliche Hilfe, wenn es darum geht, die Gefahr der schrecklichen Sünde der Verzweiflung zu meiden, die durch die Seeungeheuer symbolisiert wird. Nach dem Anblick dieser Untiere, die auch sprachlich den Walen des Orlando furioso entsprechen (V, 9, 1: "moli orride e strane") und von einem dämonischen Wesen aus den dunklen Tiefen des Ozeans gerufen worden sind (V, 8, 7 - 8: "ei prende ad eccitar dai cupi fondi / tutti deI mare i vasti mostri immondi"), betet Alfeo und hofft, daß er himmlische Hilfe bekommen kann (V, 10, 1 - 2: "In questo ei spera, e di la su ben crede / ch'aver possa rimedio ogni suo male"). Diese neue Hoffnung, die sich im Herzen des heidnischen Ritters verbreitet, ist wie eine neue Warme (V, 10, 3: "e pieno il cor d'un novo caldo"). Der Hl. Paulus gibt Alfeo eine Mission, die sich auf dem Wasser abspielt: Die Gefahren stellen wieder die Felsen und die Tiefe des Meeres dar (V, 16,4: "non temer gia di scogli 0 cupo fondo"), vor allem aber die Seeungeheuer, die großartigen und riesigen Fische, die ein gewaltiges Schiff schlucken und den Helden Alfeo durchaus ängstigen können, auch wenn er sich vor dem Meer nicht fürchtet. Es sind dieselben Monstren des Ozeans, die Olaus auf seiner Carta marina eingezeichnet hatte und die Irrtümer und Sünden der Häretiker veranschaulichen sollten (Bist., XXI, 27). Das Schiff, auf dem sich Alfeo befindet, wird von einem schrecklichen und imposanten Wal angegriffen, der wie der biblische Leviathan Sinnbild der Macht des Bösen ist (Bist., XXI, 6-7). Der Held wird schließlich durch das von dem Hl. Paulus zur Verfügung gestellten Biberöl gerettet, das heißt mit einer Art Gegenzauber, der für die Gnade Gottes steht (V, 19 - 20). Der harte Kampf in den Wellen des nordischen Ozeans dauert neun Tage (V, 23, 5: "per nove d!") und drei ottave (V, 21-23). Die größte Probe hat Alfeo damit bestanden. Aber auch andere Helden müssen gegen die Dämonen der Melancholie kämpfen. Isauro und Antracio befinden sich auf dem Weg nach Norden zu den äußersten Grenzen Scandias in einer ähnlichen Gefahr. Versunken bis zur Brust in einem Fluß unterhalb eines Wasserfalls zeigt sich ein bleiches Schattenwesen, das mit lieblichem und wehmütigem Ton ein Lied singt, das einen in die Melancholie stürzen kann (IX, 58): 58

Vgl. ebd., S. 42.

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V. Eine poetische summa des Nordens Ed ecco infino al petto uscir da l' acque con lunga chioma e pallido sembiante un funesto garzone, il qual non tacque, scotendosi dal volto il crin stillante. Canto questi, e gia mai tanto non piacque cigno ch'al suo morir lugubre cante: ne men di flebil cigno ha flebil suono questi, onde piene ai due I'orecchie sono.

Wie schon im Fall der Versuchung Alfeos gibt Ariosti hier eine modeme (und nordische) Version des homerischen Mythos der Sirenen. Nicht der Wissensdurst richtet die Menschen zugrunde, sondern die geheimnisvolle, durch Dämonen aus dem Norden bewirkte Krankheit der Melancholie, die Ariosti wie sein Freund Tasso selbst zu erleiden glaubte. Der Junge, der in einer gespentischen Stimmung in den Wellen des Flusses singt, entstammt der Historia de gentibus septentrionalibus (Hist., XX, 20). In ihr ist von einem schwarzen Fluß in Finnland die Rede, in dem unheil bringende Erscheinungen melancholische und klagende Lieder singen und dabei Todesfälle ankündigen. In Ariostis Werk erlaubt die Präsenz zweier Männer, die richtige und die falsche Reaktion auf die Versuchung der Melancholie zu zeigen: Während Antracio dem unheimlichen Unmut verfällt (IX, 60, 5: "e co 'I ciglio si sta mesto e dimesso"), läßt sich Isauro von dem Gespenst nicht abschrecken. Die unverkennbaren Zeichen der Melancholie sind auf der Stirn und in den Augen des armen Antracios sichtbar. Vor einem verstörten und melancholischen Hintergrund bewegt sich der wehmütige Geist, der nicht mehr in der Lage ist, sich zu beherrschen und den Weg zur Heiterkeit zurückzufinden. Isauro betont, daß dieses geheimnisvolle Unheil zusammen mit dem menschlichen Gemüt auch die Luft und die Erde zu beeinträchtigen scheint, als er den melancholischen Freund nach dem Grund seiner Verstörung fragt (IX, 61, 4- 8): dimmi chi sia colui che par ch'annoi con suoi accenti dolorosi e soli aria e terra e te stesso, onde non puoi omai risorger da gravosa cura ch' a te medesmo ti sottragge e fura.

Antracio erklärt dem Freund, daß der klagende Junge (IX, 62, 3: "il flebile garzone") kein Mensch ist, sondern ein Gespenst (IX, 62, 5: "e larva"), das das ganze Land vergiften und seine Bewohner verstören kann (IX, 62, 6: "tutto il paese intorno ange e conturba"). Es ist nicht nur der Einzelne, der davon betroffen ist, sondern die gesamte umliegende Natur. Antracio fügt noch hinzu, daß die Stimme an sie im Besonderen gerichtet zu sein schien (IX, 63, 4: "e solo a noi parve sua voce intesa"). Das hätte zur Folge, daß ihre Mission ein schlechtes Ende haben würde. Der Melancholiker schweigt und läßt das Kinn auf die Brust sinken (IX; 63, 5: "Qui tace; e sovra il petto inchina 'I mento"), aber der starke Isauro, der auf seine Tugend zählt und von der Richtigkeit der Mission überzeugt ist, läßt sich nicht ent-

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mutigen. Er hat keine Angst vor solchen schrecklichen Landschaften und Erscheinungen, die einen zum Weinen bringen, im Gegenteil: Man kann sich über sie freuen, weil sie für den ungerechten Tyrannen des Landes ein schlechtes Omen sind (IX, 64-65). In Isauros Augen stellt der klagende Junge nicht die Seele eines Verstorbenen dar, die eine wahre Mitteilung zu überbringen hat, wie die Schatten des Berges Hekla in Island oder die übrigen bei Olaus Magnus erwähnten Schatten (Hist., 111,22 und XX, 20), sondern nur ein "mostro", das er fangen und beseitigen will (IX, 66, 3: "or or da me sera quel mostro preso"). Um es zu ergreifen, springt der Held ins Wasser und schwimmt meisterhaft dem Gespenst hinterher, bis es in den Wellen verschwindet (IX, 67 - 68). Die Tugend siegt über alle Versuchungen der wehmütigen Dämonen des Nordens, meint damit der Dichter. b) Seeungeheuer und Zauberei im Wasser

Der Alfeo ist Venturini zufolge das Epos des Meeres (,,1' Alfeo e il poema dei mare,,).59 Der Ozean begleitet von Anfang an das dramatische Geschehen und symbolisiert es gleichzeitig. 6o Tatsächlich sind schwimmende Helden oder im Wasser kämpfende Ritter sehr oft beschrieben. Der Ozean, die Seeungeheuer, die tiefen Fjorde, die Flüsse, Seen, Sümpfe, Bäche und Wasserfälle spielen eine sehr große Rolle. Man sollte auch darauf aufmerksam machen, daß fast alle Zaubereien, die im Epos erwähnt werden, im Wasser stattfinden. Isauro, der ohne Zögern nach dem Unglück voraussagenden matten Gespenst taucht, wagt sich in tiefe, dunkle Gewässer (IX, 70). Er taucht immer tiefer, bis er ein Blinklicht entdeckt, das wie ein Silbermond leuchtet und aus der Rinde einer verfaulenden Eiche kommt (IX, 72-73) und Isauros Weg in eine Höhle führt. Dort trifft er den alten Pythagoräer des Nordens Salmosse (Zalmoxis in Hist., III, 20), der die unterirdische Welt kennt. 61 Der Alte erklärt Isauro den Sinn der Versuchungen durch die Dämonen und Gespenster aus der Hölle, denen die Menschen auf Erden ausgeliefert sind: Die erste Sünde mußte nicht nur durch körperliche Krankheiten und Unannehmlichkeiten bestraft werden, sondern vor allem mußten die hochmütigen Geister der Menschen mit Schrecken, Angst, Wehmut und sonstigen geistigen Krankheiten erniedrigt werden. Für solche Krankheiten der Seele sind die Dämonen zuständig, die alle Elemente - Feuer, Luft, Wasser und Erde - verunreinigen können (IX, 94): Per questo a spaventar la mente umana e far di ghiaccio il suo fervido ardire, da la natura de le cose areana fe' di demon squadra nocente uscire: G. Venturini, Saggi critici. .. , a. a. 0., S. 98. Vgl. ebd., S. 135 (Fußnote). 61 Zalmoxis gilt als Pythagoräer des Nordens. Daher erklärt er Isauro die Lehre der Seelenwanderung (IX, 103 ff.). S9

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V. Eine poetische summa des Nordens ecco repente in apparenza vana subito nembo di fantasmi empire imperversando foco, aria, acqua e terra, ed al mondo portar spietata guerra.

Einer dieser Dämonen habe versucht, Isauro zu entmutigen und ihn zur Verzweiflung zu bringen, aber er konnte mit seiner Tugend und seinem Mut ("virtu") standhaft bleiben (IX, 97). Orazio Ariosti hatte wie seine Freunde in Ferrara und die Theologen jener Zeit an der Existenz der Dämonen keinen Zweifel. Ihnen wurden bestimmte Kräfte zugesprochen, denen aber die frommen Menschen mit dem eigenen freien Willen und der Hilfe Gottes entgegenwirken konnten. Magier und Hexen seien den Dämonen dankbar, weil sie mit ihrer Hilfe Schaden erzeugen oder eigene Vorteile gewinnen könnten. Die Zauberin Megista läßt sich zum Beispiel von Dämonen helfen, um zur Insel zu fahren, auf der sich Aldano befindet, und erreicht sie mit dem verzauberten Knochen eines Wals als Schiffsersatz (11, 7 und 11,8,5-8): In quella spiaggia ella un grand'osso ha scorto di balena, ch'a terra han spinto l'onde; di tai mostri, ond'hanno spesso il viso smorto, sanno i nocchier come quel mar abonde. Venir con questo ella disegna a porto, ne terne gia che tal naviglio affonde, che ben sapra con sue potenti note le mobil onde far dei tutto imrnote. gia d'aIcun segno ignoto e peregrino mistenosamente impressa l'have, e largamente aspersa de la rabbia che versa 'I can qualor d'agosto arrabbia.

Olaus Magnus hatte darauf hingewiesen, daß der Seemagier Holler Walknochen als Schiff benutzte, nachdem er sie mit magischen Sprüchen verzaubert hatte (Bist., III, 18). Torquato Tasso erinnert sich während der Abfassung des Dialogs 11 messaggiero mit Staunen an diesen Magier (vgl. Kap. VI.3.). Ariosti führt an dieser Stelle ein neues Element ein, indem er nicht von Zauberworten berichtet, sondern von Schmierereien mit dem Speichel eines an Tollwut ("rabbia") erkrankten Hundes, der den Knochen auf Wasser haltbar und fahrbereit machen soll. Woher hat er dieses Detail? Olaus schreibt an einer Stelle von dem Speichel eines wilden Hundes, der eine Verletzung heilt (Bist., V, 12), aber Ariosti erfindet das Detail des tollwütigen Hundes. Er hat das Wort "rabbia" in Erinnerung, das so oft in der poetischen Tradition mit dem Norden in Zusammenhang steht und die sprichwörtliche ,Wut' des Nordens ausdrückt - bei Fazio degli Uberti bis hin zu seinem Großonkel Ludovico. Ariosti will dieses sinntragende Wort gerade an dieser Stelle verwenden, in der es um die monströsen Ungeheuer des Nordozeans und um die Zauber in solchen kalten Gewässern geht. An dem Punkt, an dem Aldano erzählt, daß Gesilda auf der Orkney-Insel wie in einem dunklen Käfig oder Gefängnis lebt, seitdem

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wütende Feinde ihrem Vater das Reich weggenommen haben, reimen sich die zwei vorbelasteten Schlüsselwörter (I, 65, 3 - 6): eome eolei eh'j) suo stato sereno fu costretta a mutare in seura gabbia: eh' il padre suo, ehe gill ' I natio terreno tor si vedea da la nimiea rabbia

"Gabbia" reimt sich mit "rabbia" auch dort, wo Alfeo versucht, die Zauberin Megista zu überzeugen, Gesilda und Aldano zu erlauben, die Insel zu verlassen. Er werde selbst ein Schiff bauen, damit sie von der einsamen Insel fliehen können, die wie ein Käfig ist, auch wenn die zwei dort zusammen sein können. Die Zauberin soll die Wut des wilden Windes und der Wellen des Ozeans (wie bei Olaus, Hist., XII, 17 -18, beschrieben) besänftigen, damit sie endlich die bewohnten Küsten erreichen und die menschenleere Welt hinter sich lassen können (11, 93): - Sia mio - rispose Alfeo - questo travaglio, eh'io spero ben, dove propizia i' t'abbia, per quel che ne' fabrillavori i' vaglio, ehe noi tosto uscirem da questa gabbia. Ma tua eura sera, mentr'io travaglio, d'andar pensando il modo ond'ogni rabbia eosl sia tolta al fero vento, a l' onde, eh' andiam sieuri a l' abitate sponde. -

Die ,Wut' des nördlichen stürmischen Ozeans (,,rabbia") wird nicht bezweifelt. Jedes Land im äußersten Norden ist wie ein Käfig ("gabbia"), selbst wenn es die paradiesischen Züge jener Insel besitzt, auf der sich die zwei Liebenden befinden. Die Zauberin Megista kann Winde und Wellen in ihre Gewalt bringen, das heißt, sie kann mit Hilfe der nordischen Dämonen die Wut des Nordens kurz unterbinden und mit dem Knochen des Wals, des nordischen Ungeheuers par eccelIence, die Nordsee überqueren. Die Beschreibung des Sonnenuntergangs auf dem Ozean, der Abscheu und Angst erregt, ist besonders beeindruckend, vor allem weil der Dichter behauptet, die Sonne könnte etwas früher als sonst am Horizont verschwunden sein, weil sie keine Zauberlieder hören wollte. Die langen Nächte im Norden wären folglich mit dem Ausüben der Zauberei eng verbunden und sogar von der Zauberei verursacht (11, 10): S' era ne l' ocean tuffato intanto, laseiando 'I mondo in preda a I'ombra j) sole, forse per non udir magieo canto, sferzati i suoi destrier piu ehe non sole; e quel gran mar, eh'a sovra ogn'altro il vanto, giunto a quelle tenebre mute e sole, metter ribrezzo 0 pur d'alta paura potea eolmare ogn'anima sicura.

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V. Eine poetische summa des Nordens

Megista kann die ,Wut des Nordens' kontrollieren, indem sie das Meer und die Winde beherrscht, doch erweist sie sich ohnmächtig, wenn sie versucht, die Liebe Alfeos zu gewinnen. Sie hat zwar die Möglichkeit, sich direkt mit Proteus zu unterhalten, der für alle Ungeheuer des Ozeans zuständig ist, und kann von ihm Alfeos Geheimnisse erfahren (11, 75 - 78), aber sie kann keineswegs das Geschehen steuern oder gar menschliche Gefühle kontrollieren. Die Zauberei spielt eine wichtige Rolle in Ariostis Epos. Doch es geht ihm darum, die Freiheit des menschlichen Willens zu betonen. Sogar der Protagonist Alfeo vertraut sich, bevor er große Taten vollbringt, der Macht von Zauberworten an, um das Untier, das Alvida beschützt, zu betäuben und zu vergiften (III, 22, 4: "e vincer spera con veleni e carmi"). Dies ist jedoch eine Jugendsünde, die er teuer bezahlen muß. Die Zauberei, die fast immer mit dem flüssigen Element des Wassers zu tun hat, erweckt nicht unbedingt immer Angst und Schrecken, manchmal ist sie schlicht und einfach poetisch und hat die Aufgabe, Verwunderung und Bewunderung beim Publikum zu erwecken. Es handelt sich dabei um die Beschreibung von kuriosen Phänomenen, die Ariosti aus der Historia des Olaus kannte und deswegen für typisch nordisch hielt. Ein Beispiel dafür - ganz in der Tradition der mirabilia oder eines angenehmen Exotismus, der Erstaunen erregt - ist die Beschreibung des Fischfangs durch Lieder vor den Inseln bei Thule (IX, 24). Der Dichter durfte, wie der Bischof von Uppsala eine Generation zuvor (Hist., XX, 12), daran glauben, daß es durchaus möglich sei, Fische durch Magiekenntnisse und musikalische Begabungen ködern zu können. Mit schönen Liedern und lieblichen Klängen, anstatt mit Netzen, fischen die Bewohner der letzten Inseln der Welt. Der Nordozean wimmelt von Fischen und gigantischen Meerestieren, wie den monströsen Walen, denen Olaus eine wichtige Rolle zuerkannt hatte. In seinem Wir-Diskurs hatte er über die Seeungeheuer aus seiner eigenen nördlichen Welt gesprochen, die den Italienern unbekannt geblieben waren. Er hatte jedoch hinzugefügt, daß es selbst den Bewohnern seines nördlichen Landes nicht erlaubt sei, die letzte Grenze der Welt im Norden zu suchen, den Ort, an dem die Wale ihre Schlupfwinkel haben, dort, wo der Ozean den Horizont berührt (Hist., XXI, 25). Der Erzähler Ariosti wendet sich an sein Publikum mit einer anderen Einstellung: Nicht nur die äußerste nördliche Grenze der Welt, wo die geheimnisvollen Fische groß wie Berge ihre Verstecke haben, sondern auch eine große Region im Norden Europas ist unbekannt und unerreichbar. Er spricht immer von nordischen Gebieten wie von entfernten Regionen der Welt, die dem Publikum völlig fremd sind und die er selbst nur vom Hörensagen kennt. Deswegen kommen häufig Ausdrücke wie "in quella spiaggia", "quel mar" oder "in que' paesi" vor. Die Demonstrativpronomina sind Pronomina der Entfernung und nicht der Proximität. Wenn etwas Vertrauliches ins Spiel kommt, wie zum Beispiel eine Nymphe ("ninfa"), dann erweist sie sich sofort als etwas anderes, als etwas, das man vor einem klassischen Hintergrund erwartet hätte: als eine besondere Fee, deren Existenz nur in einer fremden, nordischen Welt gerechtfertigt ist. Die Nymphe verwandelt sich in einen furchtbaren, mit Morgenstern bewaffneten Riesen

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(XV, 74-76), der sich wiederum in einen kampfeslustigen Drachen verwandelt (XV, 77, 7 - 8): si ritira gigante e toma drago, via piii ehe prima di battaglia vago.

Die schrecklichen Verwandlungen der Fee erinnern an die unendlichen Gestalten, die die Riesentochter Hagberta bei Olaus (Hist., III, 15) annehmen konnte. Sie diente als Beispiel für die Ausbreitung der bösen Mächte und der Hexenwerke im Norden. Giganten und Drachen sind unheilvolle Wesen, die mit der nordischen Hexerei in Zusammenhang gebracht werden. Ein Drache ist auch der Wächter Alvidas im Epos Alfeo. Jenen Drachen hatte Alfeo mit List umgebracht, nun will er ein ähnliches Untier mit dem Schwert töten. Die in einen Drachen verwandelte böse Fee kann ihm nach einer erneuten Verwandlung in ein Hirschweibchen entfliehen. Alfeo verfolgt sie, bis er zu ihrem Marmortempel gelangt, der sich in einer natürlichen Höhle befindet. Dort halten sich die drei harten, imposanten und majestätischen Feen oder Göttinnen auf, die Olaus zufolge (Hist., III, 10) von allen V6lkern des Nordens angebetet wurden (XV, 87, 1-4): In tre sedi marmoree in alto assise, con fera maesta d'occhi grifagni, con spazio egual quivi fra lor divise si stan le donne con aspetti magni.

Der Ort wird vom Dichter, der ihn mit den Augen Alfeos betrachtet, als "venerabil chiesa" (XV, 86,2) bezeichnet. Die drei fatales sorores, "Fatali Sorelle, eterni numi" (XV, 92, 2), stellen die alte heidnische Religion der nordischen V6lker Europas dar, das heißt das gefährliche dämonische Heidentum. Letztendlich sehen sie wie Monstren aus, und Alfeo nimmt keine Rücksicht mehr, sondern läßt seiner Wut ("furor") freien Lauf, um das Land von solch monströsen Götzen zu befreien (XV, 95, 1-4): Il cavalier, ch'omai ne piii per dive, ne per donne ha costor, ma sol per mostri, qui gia non si risparmia 0 non prescrive meta al furor ch'a voglia sua non giostri

Eine von ihnen greift Alfeo mit einer Fackel an, die zweite stürzt sich mit zwei pfeifenden Schlangen auf ihn, die eine dreifache Zunge haben (XV, 94). Er kämpft also mit seinem Schwert gegen Monstren bzw. Dämonen, nicht gegen Frauen. Sie lassen sich zwar nicht wie Menschen durch das Schwert verletzen, aber die Lorbeerkränze auf den blonden Köpfen der falschen Göttinnen (XV, 97) und das gesamte Palmen-, Zypressen- und Siegeslorbeerlaub in der Tempelhöhle brennen (XV, 98 - 99). Um ins Freie zu gelangen, verwandeln sich die gottlosen Schwestern (XV, 100, 2: "empie sorelle") wie die furchtbare Hagberta des Olaus in hundert verschiedene monströse Gestalten (XV, 101, 7 - 8): in cento strani mostri, in forme cento ognuna si trasmuta in un momento.

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V. Eine poetische summa des Nordens

Doch der Held, der eine Offenbarung der echten Religion erfahren hat, kann ohne Angst gegen diese Monstren vorgehen. Die Vielfalt der Gestalten, die die lügnerischen Götzen annehmen können, steht für die Vielfalt der häretischen Ideen im Gegensatz zu der einzigen Wahrheit. Wenn die Personifizierungen der Irrtümer ihre ursprüngliche weibliche und herrliche Figur wieder annehmen und sich bittend dem Held zuwenden, bleibt Alfeo unerbittlich und bringt sie dazu, einen Schwur abzulegen, daß sie keine Opfer mehr annehmen werden, die dem wahren Gott vorbehalten sind (XV, 104). Sie sollen auch aufhören, den Menschen auf der Erde und auf dem Meer Schaden zuzufügen (XV, 105). Im Namen der Dämonen der Unterwelt leisten die monströsen Feen, die entthronten und entmachteten, elenden Göttinnen des Nordens (XV, 106, 6: "quelle tapine deita") schließlich ihren Schwur. Sie machen Platz für den Kult des einzigen wahren Gottes im Norden Europas (XV, 107,2-3: "cosi disponsi al vero culto / gia d'un sol vero Dio"). Eine der entmachteten Feen macht Alfeo noch eine Prophezeihung: Sie weissagt ihm, daß er den Krieg zwar gewinnen wird, sein Schicksal aber trotzdem unglücklich sein wird. Sein eigenes Leben wird er verachten und sich daraufhin ins weite Meer stürzen (XV, 111, 7 - 8: "avrai ricorso / a I' ampio mar per ultimo soccorso"). Alfeo wird ein Suizid aus Verzweiflung prophezeit. Er beweint innerlich sein Schicksal mit der typischen Haltung des Melancholikers, das heißt das Kinn auf die Brust gelegt (XV, 112, 3 -4: "internamente piagne / gia '1 suo futuro male a capo chino"), und überlegt, daß nur ein einziger Grund ihn dazu bringen könnte, sich den Tod zu wünschen: ein starker Haß seiner geliebten Alvida ihm gegenüber. Ariosti will hier noch einmal das Motiv der Selbsttötung ansprechen. Ob der Dichter wirklich Alfeo ins Meer springen lassen wollte, damit sein Epos mit dem Suizid des Protagonisten endet, ist aber nicht klar. Für den Herausgeber des Epos Giuseppe Venturini gibt es keinen Zweifel daran. Er kommt wegen dieser Prophezeiung der bösen Nymphe zu dem Schluß, daß Alfeo von Alvida zuerst geliebt und dann gehaßt wird und sich schließlich aus diesem Grund umbringt. 62 Diese Interpretation ist aber sehr fragwürdig, weil die Weissagungen der Feen wie der Gespenster nicht ernstzunehmen sind. Darüber hinaus gibt es Widersprüche: Die Stimme der dänischen Sibylle im Wald sagt für Alfeo einen Tod im Gefängnis voraus. Im Rahmen des Epos sind diese Stimmen verführerische Dämonen und stellen die Gefahr der Verzweiflung dar, indem sie den Helden Scheitern, Niederlagen und falsche Ereignisse voraussagen, gerade um sie in den Selbstmord zu treiben. Ich gehe eher davon aus, daß Ariosti zeigen wollte, wie der positive Held Alfeo mit Hilfe des Hl. Paulus, der ihn zweimal rettet, dieser furchtbaren Versuchung widerstehen kann, die in der nordischen Welt so allgegenwärtig ist. Der Held soll über 62 Vgl. G. Venturini, Saggi critici. .. , a. a. 0., S. 29 (Fußnote) und S. 40 ff. An einer anderen Stelle läßt Venturini verlauten, daß hinter Alfeo die historische Figur von Olaf I Tryggveson verborgen sein soll, der viele Norweger taufen ließ und sich nach der verlorenen Svolderschlacht von seinem Schiff ins Meer stürzte. Vgl. ebd., S. 69 (Fußnote). Vielleicht glaubt Venturini deswegen fest daran, daß Ariosti dieses Ende gewählt hätte, wenn er sein Werk fertiggeschrieben hätte.

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der altnordischen Tradition stehen, für die es zu jenem Zeitpunkt noch keine christlichen Werte gibt und die den Tod im Kampf oder den Freitod als einzige würdige Art und Weise zu sterben vorsieht, wie die Stimmen selbst bezeugen (11, 123, 8: "chi pugnando more"). Im übrigen weiß Ariosti durch Olaus, daß selbst nach der Christianisierung der nordischen Völker der Tod im Kampf die ruhmvollste Art zu sterben bleibt (Bist., XV, 26). In einer der wenigen ernstzunehmenden Vorwegnahmen im Epos Alfeo, nämlich derjenigen, die vom Erzähler direkt und nicht von Dämonen gemacht werden, heißt es, daß Alfeo und Alvida mit einer wahrhaftigen und heiligen Liebe verbunden sein werden, nachdem sie gegeneinander gekämpft haben (XIII, 53, 5 - 8): In questo di prineipio ebbe il feliee sdegno ehe d'ambi fu quasi omicida; feliee: quando oeeaslon di pace fu poi loro, e d'amor santo e verace.

Die Hochzeit zwischen der Gotin Alvida und dem Dänen Alfeo war von Ariosti sicher vorgesehen. Olaus hatte darüber berichtet (Bist., V, 27). Ein komplettes Scheitern Alfeos nach der Christianisierung Norwegens wäre sehr seltsam. Das Ziel, das an vielen Stellen des Epos durchblickt, nämlich eine nordische, tugendhafte christliche Welt zu errichten, wie sie bei Olaus nicht nur gelegentlich dargestellt wird, wäre damit nicht erreicht worden. Wir hätten einen Rückfall in die vorchristliche nordische Welt, in ,Barbarei und Heidentum', wie Venturini selbst zugibt,63 und die ganze Geschichte Alfeos und seiner Eroberung Norwegens wäre umsonst. Das traue ich Ariosti nicht so recht zu. Er ist ja von der altnordischen Tradition als solche fasziniert, aber er versucht, in seiner Stadt Ferrara, in einer nun durch und durch gegenreforrnatorisch beeinflußten Stimmung, ein religiös bedeutendes Epos zu schreiben. Sein Protagonist hat stets eine Vorbildfunktion. Für männliche Tapferkeit und Kriegsbereitschaft hegt Orazio Ariosti eine echte Bewunderung, für Suizid aber hat er kein Verständnis. Ich kann mir schwer vorstellen, daß der Kanoniker Ariosti, der sich an Dichtung ergötzte, seinen einzigen vollkommenen Helden fallen lassen wollte, indem dieser sich wie andere, nichtchristliehe Helden des Nordens den Tod wünschte und ihn im Meer fand. Diese Frage . aber muß man letztendlich offen lassen, da Ariosti den Schluß des Epos aufgrund seines vorzeitigen Todes nie schreiben konnte. Anstatt wie Venturini zu versuchen, anhand der verschiedenen unglaubwürdigen Prophezeiungen der Dämonen und der eigenen Phantasie das Ende des Epos zu rekonstruieren, würde ich mich darauf beschränken, den offenen Schluß der Geschichte zu akzeptieren. Die Bedeutung des Werkes wird dadurch nicht gemindert: Alfeo bleibt eine zwar unvollständige, unvollkommene, aber mit moralischen Ansprüchen bedeutsame summa des Nordens für das Italien des 16. Jahrhunderts. 63 Vgl. G. Venturini, Saggi critici...• a. a. 0., S. 50: "Perde il controllo delle sue passioni, ehe la reeente eonversione non ha domato deI tutto, e in un rigurgito di barbarie e di paganesimo soceombe."

V. Eine poetische summa des Nordens

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6. Nordische Frauen: keusch und kriegerisch, tapfer und männlich

Alvida verkörpert in der Vorstellung des Autors die vollkommene nordische Frau. Obwohl ihr Charakter etwas Neues in der Geschichte der Gattung darstellt,64 ist ihre außergewöhnliche Schönheit keine Überraschung. Sie ist nicht auf der ganzen Welt berühmt, sondern in dem alter orbis des Nordens (Hist., IV, 4 und XIV, Praefatio), in dem sie lebt. Ihre Schönheit läßt daher den ganzen Norden sprechen (III, 25, 5 - 8): ... la fama intorno a molte miglia vien che di sua belta canti e favelle: ne Gotia n' empia sol, ma sonar oda tutt' il settentnon sua chiara loda.

Eine Änderung, die Ariosti in die Geschichte der Alvilda bei Olaus eingeführt hat, oder besser gesagt eine Art Zensur, stellt der Umstand dar, daß es keine gescheiterten Verehrer der Prinzessin Alvida gibt, die unabhängig ihres Standes so übermütig sind, sie zu begehren und deswegen gefoltert und ermordet werden. Es paßt nicht zum Bild eines guten Gotenkönigs, die Liebenden der Tochter köpfen zu lassen und deren blutende Köpfe aufzupfählen, wie Olaus es beschrieben hatte (Hist., V, 18). Die nordische Tradition ist für die italienischen Dichter und ihr Publikum doch manchmal zu hart und grausam und muß entsprechend zensiert oder gemildert werden. Der Dichter zieht es vor, daß die gefährliche Schlange, die die schöne Jungfrau Alvida beschützt, die Männer umbringt, wenn jene scheitern sollten, sie zuvor zu töten. Es ist klar, daß die Männer ihre Stärke unter größter Gefahr beweisen sollen. Bei Olaus gab es übrigens zwei Schlangen oder Drachen, während Ariosti - Johannes Magnus folgend - von einer einzigen Schlange spricht, (III, 30, 5 - 8): Or se cio de' seguire, un crudel angue dovra prima restar morto e distrutto, che de la rocca difensore atroce ai peregrin fino a la morte noce.

Die Schlange ist aber nicht eine normale, wenn auch gigantische Schlange, sondern ist ein monstrum, ein Mischwesen, ein Drache. Der Dichter erklärt, daß sie mit ihren Flügeln zappelt, nachdem sie von Alfeo vergiftet wurde (III, 33, 4: "guizzando in giro e dibattendo l'ale"). Der Erzähler Ariosti gibt seinem Publikum die Erklärung für die Präsenz solcher Ungeheuer bei den Prinzessinnen des Nordens: Es ist ein Brauch von jenen weit entfernten Ländern, Monstren und Giganten als Wachter zu halten, um den Mut und die Tapferkeit ("valore") der Männer auf die Probe zu stellen, die eine Prinzessin heiraten möchten. Das klingt unheimlich wegen der Monstren, läßt aber gleichzeitig die Männer des Nordens besonders tapfer, mutig und stark wirken, während die edlen Frauen des Nordens fast unerreichbar zu sein scheinen (III, 31, 1 - 4): 64

Vgl. ebd., S. 53.

6. Nordische Frauen

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e

Perche di que' paesi antica usanza a le vergin real di feri mostri e di giganti lor munir la stanza, perch'ogni amante il suo valor poi mostri.

Alfeo schafft es, die Schlange zu töten, aber auf eine unwürdige Weise: mit Zauberworten und Giften. In Ariostis Quellen dagegen hatte der Held mit einem Speer und einem Schwert die zwei Untiere umgebracht. Dies war eine richtige Heldentat, die ihm die Hand der Prinzessin gerechterweise hätte bringen sollen. In unserem Epos aber ist es anders: Als Alfeo erlaubt wird, der sonst immer verschleierten Alvida ins Gesicht zu sehen, wird er von ihr abgewiesen, weil er "poca virtu" (III, 35, 6) gezeigt hat und ein unwürdiges, faules Leben führt (III, 35, 7: "quell'ozio indegno"). Die "virtu" ist fast immer dem "ozio" entgegengestellt. Es gibt zwei Möglichkeiten: zum einen ein gefährliches, kriegerisches und ruhmreiches Leben und zum anderen ein feiges, friedliches und bequemes Leben. Für die Frauen lauten die Alternativen: entweder ruhmreiche Taten und kriegerische Tugenden in Zusammenhang mit Jungfräulichkeit (III, 66, 7: "guerriera virtu" und III, 66, 8: "verginita"), das heißt "guerra e negozio" (III, 67, 3), oder die niedrige Faulheit, aus der die Liebe entsteht (III, 67, 2: "l'ozio viI, d'amor padre verace"). Gegenüber einem Liebhaber, der schlau und einfallsreich ist, aber den einfachsten Weg sucht, um sein Ziel zu erreichen, und kein Blut vergißt, empfindet die Jungfrau des Nordens zuerst nur Abscheu, und weder Bitten noch Schönheit, Höflichkeit oder andere Tugenden können sie erweichen (III, 34, 7 - 8): ne prego ne belta ne gentilezza, ma stassi invitta ne la sua durezza.

Der Prinz von Dänemark reist beschämt und verzweifelt (III, 37, 2: "mezzo tra disperato e vergognoso") nach Hause zurück, mit der festen Absicht, seine "virtu" zu beweisen und der Prinzessin würdig zu werden. An dieser Stelle greift Ariosti ein, um die Härte und Grausamkeit der Menschen im Norden zu korrigieren: Als Alfeo abfahrt, spürt Alvida Gefühle der Reue, macht sich Vorwürfe und bezeichnet sich selbst als grausam (III, 37, 8: "si turba e se troppo crudele appella"). Dieses ,Erschüttertsein ' der Frau ist etwas, das in der Quelle des Olaus nicht vorkommt. Ariostis Alvida kann sogar Gefühle der Liebe für einen feigen, aber gutaussehenden und höflichen Königssohn spüren, der in sie verliebt ist. Olaus' Alvida dagegen wurde von ihrer Mutter gerügt, weil sie zu schnell von der Schönheit eines Mannes angetan war, obwohl dieser immerhin tatsächlich seine vorhandene "virtu" mit Speer und Schwert bewiesen hatte und ihm keine Feigheit vorzuwerfen war (Rist., V, 18). Nach der plötzlichen Abreise ihres Verehrers bereut Ariostis Alvida, ihn beleidigt zu haben. Sie macht sich sogar Sorgen um ihn, als sie hört, daß der schöne Däne sich ohne die Unterstützung des Vaters auf Nordreise begeben hat, um Aben12 Boccignone

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V. Eine poetische summa des Nordens

teuer in den entferntesten, unbekannten, eisbedeckten Regionen am Pol zu erfahren (III, 38, 5 - 8): con pochi, occulto, il suo natio paese aveva lasciato a cio per lui si squadre tutto 'I piu freddo e piu riposto suolo, ch'ignoto agghiacci sotto l'alto polo.

Ariosti will nicht übertreiben und Alvida in eine Art liebende und in Liebeskummer vergehende Erminia verwandeln; sie soll schließlich noch eine harte Kriegerin werden, die mit ihrer Kusine mit Wut und Blutdurst in dem Wunsch nach Rache kämpft (XII, 15, 7 - 8: "solo mostran furor; e sol s'alletta / rabbia di sangue in loro e di vendetta"). Deshalb dauert das sanfte Gefühl der Liebe Alvidas für Alfeo nur ein paar Tage (III, 39, 1- 2: "questo suo tenero affetto / rimase in lei sopito in pochi giorni"). Wie bereits erwähnt stellt Alvida für Ariosti den Prototyp der nordischen Frauen dar: Von Anfang an war sie entschlossen, sich nicht einfach ihrem Liebenden zu ergeben, sondern von ihm den Beweis zu verlangen, daß er stark und tapfer, mutig und heroisch ist. Erst wenn sein Ruhm überall verbreitet ist, wird sie ihn lieben. So versteht es zumindest der verliebte Protagonist Alfeo. Das Zögern, sich zu ergeben, ist eine allgemeine Tugend aller Jungfrauen und überall erwünscht. Daß die Frau inzwischen versucht, selbst dieselben Taten zu vollbringen und ihre eigene kriegerische Stärke ("virtu") unter Beweis zu stellen, ist eine Besonderheit, die nur im Norden vorkommt. Ein Mann wird zunächst von der Frau seiner Träume abgelehnt, weil er nicht genug ruhmreiche Taten vollbracht hat. Diese Reaktion ist üblich, sie kommt auch im Rinaldo von Tasso vor, in dem der Junge durch eine Ablehnung am Anfang des Epos den Drang spürt, sich im Kampf zu bewähren. Daß aber die Frau selbst die Stelle des unwürdigen Mannes einnimmt, das entspricht nicht der Tradition der Gattung, das ist etwas Neues, das für das italienische Publikum das ,Nordische' ausmacht. Die Frau, die nach Meinung ihres Verehrers gerecht und nicht grausam (11, 38, 1 - 2: "giusta" und nicht "crudele") und daher irgendwann zu erobern ist, entscheidet sich, selbst die Waffen zu tragen. Ihr erscheint die Magierin Megista, die sich als das mit Schwert und Lanze bewaffnete Gespenst der Königin der Amazonen Orithya ("Orizia") ausgibt, um sie zur Bewahrung der Jungfräulichkeit und zur Kriegsübung zu bewegen. In der Erzählung der Brüder Johannes und Olaus war es die Mutter der Prinzessin, die von ihr verlangte, sie solle sich nicht sofort ergeben und ihre Scham verlieren, da die alten HeIdinnen des Nordens immer die pudicitia mehr als das Leben liebten. Ariosti hat die Geschichte verkompliziert, indem er die Figur der Zauberin erfunden hat, die selbst in den Protagonisten verliebt ist und deswegen die Konkurrentin Alvida aus dem Weg schaffen will, indem sie sie an das Beispiel der keuschen und kriegsbereiten Frauen ihres Volks erinnert. Die Amazonen seien gotische Frauen gewesen, die ihr als Vorbild dienen sollten (III, 17). Johannes (Historia Johannis Magni Gothi. .. , I, 27 - 32) und Olaus Magnus (Hist., V, 28) hatten anhand von Justinus, Orosius und Jordanes gezeigt, daß die Amazonen ursprünglich nicht aus Skythien

6. Nordische Frauen

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stammten, sondern aus der Heimat der Goten in Skandinavien. Nach ihrer Umsiedlung nach Skythien seien sie aber irrtümlich für skythische Frauen gehalten worden. Sie hätten nach dem Tod der eigenen Männer die Entscheidung getroffen, die weibliche Gemütsweichheit im Tausch für die männliche Härte abzulegen, auf alle Vergnügungen zu verzichten und sich dem Krieg zuzuwenden. Jagd, Blutvergießen, Kriegsführung und Verzicht auf Liebe und Küsse galten für sie als Rezept gegen die Verweichlichung, damit die eigene gotische virtus bewahrt werden konnte. Erfolg im Krieg und Keuschheit gehörten bei den Amazonen aus dem Norden, echten Töchtern des Kriegsgottes Mars, zusammen (Hist., V, 30): Sie erlaubten den Frauen, ihren Ruhmgedanken zu folgen, ohne daß Liebe und unwürdige Gedanken sie schwächen könnten (III, 20): Vissi guerriera al mondo e del mio regno certo il confine dilatai con l' arrni; ma che non men de I' arrni al mio disegno la mia verginita giovasse parrni: scevra per lei d' ogni pensiero indegno potei serbar ognor mia mente e starrni a' magnanimi miei pensieri intenta, ch' amor non femmi in lor seguir mai lenta.

So ein Plädoyer für die Abneigung gegen die Liebe und für das ausschließliche Streben nach dem kriegerischen Ruhm gibt es weder bei Marfisa noch bei Clorinda. Diese Härte ist etwas, das für Ariosti typisch nordisch ist: Die Beispiele dafür waren in der Historia des Olaus in großer Anzahl zu finden. Die verliebte Zauberin, die angemessene Worte sucht, um sich wie die Amazonenkönigin aus dem Norden auszudrücken, spricht von "glori'osa fama" (III, 21,1) und "nobilitate" (III, 21,4), die einzig in der Jungfräulichkeit liegen, da den Frauen keine andere Ehre so viel wert ist (III, 21, 7-8: "ogn'altr'onore / deI verginale assai resta minore"), wie auch Olaus Magnus in demselben Zusammenhang betont hatte (Hist., V, 33). Alvida, "deI re Sivardo unica figlia" (III, 25, 1), die die Erscheinung für einen bedeutenden Traum hält, entscheidet sich, den Weg des Krieges einzuschlagen und ihre Jungfräulichkeit für immer zu bewahren, wie die vorbildliche Königin, deren Taten in einem Zimmer der Burg in Arane abgebildet sind. Ihre Absichten werden durch Metaphern ausgedrückt, die mit Warme und Kälte zu tun haben. Sie gibt sich selbst das Versprechen, ihr Herz kalt zu halten. Ihre Leidenschaft und Begeisterung für den Krieg und den Ruhm lassen sie entflammen. Vor dem Hintergrund des kalten Klimas wärmt die kriegerische "virtu" die Gedanken und die Seelen wie die Sonne auf, während der Mut in ihrem Herzen kocht und ihr Gesicht glüht (III, 68, 1-4 und III, 74, 1-2): ella, da poi ch' il sole ardente de la virtute i suo' pensieri scalda, di COSI angusto albergo omai si pente; e di peregrinar I' anima ha calda. [ ... )

COSI

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V. Eine poetische summa des Nordens Cosl ragiona, e per l' accesa faccia ben traluce l' ardir che nel cor bolle

Diese Frau, kalt gegenüber der Liebe und heiß auf den Kampf, fährt nach Scara, wo ihre Eltern leben, und tritt ihnen, obwohl diese sich gewünscht hatten, einen Mann für sie zu finden und von ihr Großkinder zu bekommen, mit dem Argument entgegen, daß ihr Wunsch, Jungfrau zu bleiben, sicher würdiger sei, als eine Familie zu gründen. Ihre Eltern hätten daher kein Recht, sich diesem edlen Wunsch in den Weg zu stellen (III, 70, 3 - 4: "or se volta io mi scopro a fin piu degno, / sarete a torto al mio pensier nimici"). Olaus hatte die Einwilligung der Eltern, ihre Töchter als Piratinnen und Kriegerinnen von Zuhause wegfahren zu lassen, damit erklärt, daß ihr edler Grund darin bestünde, ihre Keuschheit bewahren und den Übermut der Giganten bestrafen zu wollen (Hist., V, 30). Deswegen tritt Alvida so sicher auf und behauptet, daß ihre Gedanken dem Willen des Himmels entsprechen (III, 70, 7: "ne gia, cred'io, senza voler deI cielo"). Sie verfolgt den Ruhm ("gloria"), indem sie der männlichen Tapferkeit im Krieg nacheifert (III, 71: "virtu con l'armi", "emula deI valor viril"). Bei Ariosti kommt das Streben der Frauen des Nordens wie bei Olaus immer einer Nachahmung der Männer gleich. Ihre körperliche Schönheit unterscheidet die Frauen von den Männern. Doch wollen sie immer wieder zeigen, daß sie den Männern ebenbürtig und gleichwertig sind, indem sie wie Männer kämpfen können. Ihr Ruhm scheint lediglich darin zu bestehen, ihre Weiblichkeit niederlegen und verleugnen zu können. Sie stellen sich den Männern gleich, indem sie mit derselben Tapferkeit Krieg führen und Piraterie betreiben. Nach Alvidas Meinung gibt ihr das Kriegführen die Möglichkeit, den Weg der Tugend (III, 73, 5: "la strada di virtu") zu beschreiten. Ariosti fügt hinzu, sie wolle ein feierliches Keuschheitsgelübde ablegen (III, 72, 7: "far di castita solenne voto"). Von dieser Absicht hatte Olaus nie gesprochen, lediglich von dem Vorhaben vieler heroischer Frauen, keusch zu bleiben und mutig zu kämpfen. Vermutlich hat Ariosti das Gelübde aus zwei Gründen eingeführt: zum einen, um die nordischen Götter im Tempel zu präsentieren, zum anderen, um ihre Unechtheit zu betonen und damit die Nichtigkeit der Gelübde selbst, die Alvida in der Fortsetzung des Epos wahrscheinlich nicht eingehalten hätte. Olaus hatte in seiner Erzählung der Geschichte von Alf und Alvilda den Widerspruch übersehen, daß eine Prinzessin, die für immer Jungfrau zu bleiben geschworen hatte (Hist., V, 18), schließlich trotzdem den Dänenprinzen heiratet und eine Tochter bekommt (Hist., V, 27). Bei ihm schien diese Hochzeit nachvollziehbar und auf jeden Fall nicht moralisch verwerflich zu sein. Die kurze Geschichte von Olaus wird aber von Ariosti überarbeitet und mit vielen neuen Details angereichert. Er meint zum Beispiel, daß es für die Eltern Alvidas sehr hart gewesen sein muß, die Tochter auf Abenteuerreise fahren zu lassen. Hier schaltet sich der italienische Erzähler ein, der seinem italienischen Publikum erläutern muß, wie so etwas überhaupt möglich ist. Er gibt die übliche Erklärung: Man darf sich über Alvidas Handeln nicht wundem, denn viele Frauen dort ("in

6. Nordische Frauen

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que' paesi") in den Ländern des Nordens erlangten im Krieg Ruhm, so unglaublich es auch sein mag. Wenn man bedenkt, daß die Amazonen als gotische Frauen identifiziert worden sind, bleibt von den kämpfenden Jungfrauen der klassischen Tradition wenig übrig, das nicht dem Norden zuzuschreiben ist. Die vergilische Camilla ist gegenüber den zahlreichen Frauen ("le donne spesse"), die im Norden um ihren Ruhm kämpfen, sicher nicht besonders bedeutsam. Das, was in der vertrauten Welt des Erzählers und seines Publikums für unmöglich gehalten wird, nämlich die Existenz von Frauen, die Abenteuer weit weg von ihrer Heimat auf hoher See suchen, ist nun in dem epischen Norden eine unumstößliche Tatsache (III, 75):

e

Ne meraviglia gia che prevalesse agli affetti patemi il suo pregare, eh' in que' paesi fiir le don ne spesse che si fer guerreggiando illustri e chiare: onde quantunque un duro insulto Iesse al eor de' padri il primo suo parlare, pur de la gloria de la figlia vaghi, restaro al suo voler contenti e paghi.

Ariostis Alvida hat etwas entschieden Nordisches in ihrer Hartnäckigkeit, Ruhm mit Waffen erlangen zu wollen. Auch ihre Eltern sehnen sich nach dem Ruhm ihrer Tochter, wie es sich ,in jenen Ländern' des Nordens gehört. Die Figur Alvidas wird dem italienischen Publikum ein wenig näher gebracht, indem der Dichter sie beim Trösten ihrer traurigen Eltern beschreibt, die kurz zuvor noch als durchaus zufrieden mit ihrer Entscheidung dargestellt worden waren. Der Dichter scheint selbst von der Fremdheit einer solchen Entscheidung erstaunt zu sein und versucht, die volle Zustimmung der Eltern für die Kampfeslust der eigenen Tochter zu relativieren. Alvida legt im Gegensatz zur Heidin von Olaus vor der Abreise ein feierliches Keuschheitsgelübde ab (III, 76, 5 - 8): Intanto a consolar I' animo afflitto deI padre e de la madre, eIla pur volta a fare appareeehiare i riti saeri perch' a la castitate il cor consacri.

e

Im wunderschönen leuchtenden und mit Edelsteinen verzierten Tempel bei Scara (II1, 77 - 79), der an den Tempel in Uppsala erinnert (His!., III, 5), verspricht Alvida feierlich, ihre Jungfräulichkeit ewig zu bewahren. Dort befinden sich die riesigen Statuen der drei nordischen Götter: "Toro" (Thor), "Otino" (Odin) und "Friga" (Frey und Frigga), deren Beschreibung mit der Darstellung bei Olaus übereinstimmt (His!.• III, 3). Der Kriegsgott Otino ist mit Mars gleichzusetzen. Friga stellt wie Venus die Göttin der Liebe und des Genusses dar, aber sie ist mit Schwert und Bogen bewaffnet, da die Frauen im Norden Kriegerinnen sind, wie Olaus betont hatte. Liebe und Krieg sind daher nicht getrennt: Liebe erwirbt man, wenn man genug Mut im Kampf bewiesen hat. Alfeo selbst macht es deutlich, wenn er behauptet, daß die einzige Möglichkeit, die Liebe einer starken und stolzen Frau

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V. Eine poetische sumfTUl des Nordens

wie Alvida zu verdienen, darin besteht, den Ruf eines starken Mannes zu haben, der im Kampf gegen die Piraten zu erlangen ist (VIII, 34, 4: "e solo ammira il titolo di forte!"). Die Liebe stellt im Norden keine sanfte Macht dar, die die Geister der Goten und Gotinnen von Gewalt abhält, sondern bedeutet lediglich Fruchtbarkeit und Zeugungskraft oder auch reine Lust, die gleichzeitig Gewaltlust ist. Es ergibt sich eine seltsame göttliche Triade: der starke Toro/Jupiter, den Ariostis Publikum sich wahrscheinlich wegen seines Namens als Stier vorstellte, der wütende Otino / Mars und eine schwer bewaffnete männliche Venus, die keineswegs den Mars in ihren Schoß aufnehmen könnte, um ihn zu besänftigen. 65 Das ist die Besonderheit der heidnischen Götter des Nordens, dessen Frauen Olaus zufolge (Hist., V, 30) mehr Lust auf Blut als auf Küsse haben (III, 79, 7 - 8 und II1, 80): immenso simulacro in seggio d'oro quel tempio ingombra ed nomato Toro. A destra ed a sinistra Otino e Friga si veggono di lui statue minori: imperio ha I'un d'ogni guerriera briga, diva I' altra dei vezzi e degli amori. Quel che con I' armi i popoli castiga, armato manifesta i suoi furori: ma da Friga aveder con arco e spada che le donne guerriere ha la contrada.

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Die keusche Alvida wird ehrenvoll präsentiert: Sie geht, stolz auf ihre Keuschheit, eingehüllt in ein weißes Gewand aus Seeseide (III, 82, 2- 3: "in sacra vesta / che bianca fino al pie scendea di bisso") und mit einer reinen Fackel in der Hand, zum Tempel (III, 82, 6-7: "alteramente onesta / con pura face in mano al tempio scende"). Der Dichter, auf der Suche nach der passenden Pflanze, die die Keuschheit symbolisiert, denkt sofort an den Lorbeer, der aber leider im Norden nicht wächst, wie Olaus bemerkt hatte (Hist., VIII, 14). Trotzdem setzt er einen Lorbeerkranz auf den blonden Kopf seiner Alvida (II1, 82,4: "cinta di casto allor la bionda testa"), da er keine andere Pflanze zur Verfügung hat. Vor dem Tempel hatte der Dichter von zwei fremden, unbekannten Bäumen gesprochen (III, 79, 1: "Due stranie piante con ignota fronde"), um die Andersartigkeit des femen Landes zu betonen. Wenn es aber darum geht, die schöne jungfräuliche Protagonistin zu beschreiben, werden alle poetischen Topoi wieder wirksam, und der "casto alloro" von Daphne und Laura scheint unersetzlich zu sein. So revolutionär und unkonventionell ist Ariosti wohl nicht, um in der Lage zu sein, einen Kranz aus unbekannten ,nordischen' Blättern auf den Kopf seiner HeIdin zu setzen. Er wagt es nicht, zuviel über Regionen zu berichten, die er gar nicht kennt. Seine Vorstellungen basieren auf der als vertrauenswürdige Quelle empfundenen Historia des Olaus Magnus. Wenn der schwedische Bischof zu wenige Details angibt oder sich in be65 Ein Triumph der Liebesgöttin Venus über den Kriegsgott Mars wie in der Teseida von Giovanni Boccaccio (I, 125 ff.), der als Ergebnis die Verwandlung der Amazonen in süße und scham volle, anmutende und friedliche Jungfrauen hat, ist hier unmöglich.

6. Nordische Frauen

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zug auf bestimmte Themen nicht ausreichend äußert, phantasiert Ariosti - aber nur bis zu einer gewissen Grenze. So schreibt er, daß Alvida auf verschiedene Art und Weise, ,wie es bei ihnen üblich ist', gereinigt wird (III, 83, 2: "lustrata in varie guise al modo loro"), aber es bleibt dem Publikum überlassen, wie man sich diese Reinigungsriten der Goten vorzustellen hat. Hauptsache ist zu wissen, daß es dort im Norden andere Bräuche gibt. Die Besonderheit der nordischen, mit Bogen und Schwert bewaffneten Venus, die nicht nur Liebe, sondern auch Krieg fordert, hebt Alvida selbst während ihres Schwurs hervor (III, 86): Tu, Friga, benebe da quei diletti io m' allontani a ehe preposta sei, per questo non voler ch'io meno aspetti da te favor ehe da quest' altri dei. Porti areo e spada tu: feri e saetti, non pur euri gli amori egli imenei; pero dei tutto a te non mi eontendo benehe vergine i' stia, s' a I' armi attendo. Das Gelübde wird sich als null und nichtig erweisen, sagt der Erzähler voraus, und es ist richtig so, da die Götter der Goten falsche Götzen sind (III, 87, 7 - 8: "e dritto eben che siano i voti vani / ch'altri fa inanzi a' dei falsi e profani"). Der Wunsch der gotischen Frauen, Ehre und Ruhm durch die Kriegskunst zu erlangen, wird jedoch vom Dichter gewürdigt. Alvida und ihre Kusine Altamonda, Prinzessin aus Värmland ("Vermelandia"), werden beide von der wahren Liebe zur "virtu" geleitet, die nicht schlichtweg mit der weiblichen Keuschheit identifiziert wird, sondern auch mit der männlichen Tugend der kriegerischen Tapferkeit. Das macht Sinn in einer Epoche, in der weibliche Züge mit Schwäche und Schlappheit verbunden werden, männliche Eigenschaften aber mit wünschenswerter Härte und lobenswertem Mut. Die Merkmale der Männlichkeit bedeuten im Epos Alfeo, auch wenn sie Frauen charakterisieren, etwas Positives (III, 91, 3 - 8): Vaghe ambe d'aequistar eon l'armi il vanto, voglion eh' iI travagliar sia 'I lor diletto: se 'n van le valorose e loro a canto va un amor di virtu vero e perfetto, eh'indivisibilmente l'aecompagna ne la gloria gia mai se ne seompagna. Alvida und Altamonda werden als starke Frauen gepriesen (V, 80, 7: "donne forti"). Dafür, daß sie ihre weibliche Natur verleugnen und sich dafür Ruhm und Ehre versprochen haben, die normalerweise den Männern vorbehalten sind, verdienen sie die Bewunderung des Dichters. Die Protagonistin bringt im Duell den bösen Grimone um, der Avrilena zwingen wollte, ihn zu heiraten. Diese Figur kommt bei Olaus als Riese vor, der die norwegische Prinzessin Thorilda haben wollte und sie deswegen auf ein Duell herausgefordert hatte (Hist., V, 10). Im ita-

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V. Eine poetische summa des Nordens

lienischen Epos verteidigt sich die begehrte Frau aber nicht selbst, sondern eine andere Frau (Alvida), als Mann verkleidet, tritt auf. Dies macht es möglich, daß Avrilena sich in Alvida verliebt (VI, 8 - 22). Antonella Perelli glaubt, diese Episode sei auf die Episode von Fiordispina und Bradamante (Orl. fur., XXV, 26-46) zurückzuführen. 66 Das stimmt aber nur zum Teil: Alvida versucht, nicht als Frau erkannt zu werden (VI, 36), und bringt damit ihr Leben in Gefahr, wogegen es für Bradamante kein Problem ist, sich sofort als Frau zu offenbaren. Ein weiterer großer Unterschied ist, daß Ariosti zwar an eine Frau glauben kann, die sich als Mann verkleidet und folglich auch für einen Mann gehalten wird (nur das lange Haar macht den Unterschied, VI, 58, 1: "quellungo crine"), er aber nie auf die Idee käme, ein Mann des Nordens könnte sich als Frau verkleiden und dabei glaubwürdig erscheinen, wie es bei Bradamantes Zwillingsbruder Ricciardetto im Furioso und bei anderen klassischen Helden wie zum Beispiel Achill der Fall ist. Zu männlich und der Verweichlichung abgeneigt sind die Menschen des Nordens, um sich vorzustellen, daß Männer für Frauen gehalten werden könnten. Das weibliche Geschlecht kann im Norden vertuscht und verleugnet werden, nicht aber das männliche. Nach der Entdeckung von Alvidas Geschlecht verliebt sich Avrilenas Bruder Ramiro in sie, in eine Frau, die sich bis dahin nur durch ihre männliche Stärke ausgezeichnet hat. Die Liebe des Nordschwedens Ramiro zur Piratin Alvida wird mit den Worten des Dolce Stil Novo angedeutet, indem ein Vers aus der Rede der Francesca da Rimini (Inj, V, 100: "Amor, ch'al cor gentil ratto s'apprende") in einem radikal neuen Kontext gebraucht wird (VI, 62, 7 - 8): Ne paia breve il tempo in ch'ei si rende, ch'amore a cor gentil ratto s'apprende.

Für eine Liebe im Sinne des Dolce Stil Novo oder der zärtlichen und gleichzeitig sündhaften Leidenschaft einer Francesca da Rimini gibt es aber im Norden keinen Platz. Das Zitat erzeugt eine totale Verfremdung: Eine solche Liebe hat überhaupt keine Zukunft, und kein Vers im Sinne von "Amor, ch'a nullo amato amar perdona" (Inj, V, 103) folgt. Die harte Alvida fährt ohne jegliche Bedenken fort, und der verliebte Mann versucht überhaupt nicht, sie zurückzuhalten. Die höfische Liebe scheint im Norden unmöglich zu sein. Höchstens eine geeignete Hochzeit zwischen einer edlen Frau wie Avrilena und einem starken Mann wie Scarino kann auf Wunsch der kriegerischen Frau und mit Hilfe der Familienangehörigen stattfinden (VI, 68 - 69). Von Liebe zwischen den beiden ist aber keine Rede. Wie bei OJaus (Hist., XIV, 4-5) geht es lediglich um eine nüztliche eheliche Verbindung, die helfen soll, weitere Kriege im Norden zu vermeiden. Die beeindruckendste Geschichte einer starken und stolzen nordischen Jungfrau, die den Männern im Krieg nacheifert, ist die der norwegischen Gauna, die sich buchstäblich in einen Mann verwandelt, mit Bart und allem, was dazu gehört (XII, 98). Diese Art Groteske 67 ist keineswegs mit ironischem oder lustigem Ton 66

Vgl. A. Perelli, Olaa Magna a Ferrara ... , a. a. 0., S. 234.

6. Nordische Frauen

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beschrieben, im Gegenteil. Es handelt sich um ein ,edles Wunder', genauso wie die Frau edel und lobenswert ist (XII, 98, 7 - 8: "ehe per gran nobiltade illustre splende, I e illustre ancora un tal prodigio rende"). Ariost hatte in der Episode von Ricciardetto und Fiordispina an einen jungen Mann gedacht, der sich aus Liebe als Frau verkleidet. Hier dagegen zeigt sich eine junge Frau, die die eigene Weiblichkeit - die sonst Angst und Schwäche bedeutet - im Namen der harten männlichen Tapferkeit verleugnet. Es handelt sich nicht mehr um eine Verkleidung mit dem Ziel, Liebe zu gewinnen, sondern um eine echte Metamorphose, um dem männlichen Ideal zu entsprechen. Ariosti hat aus den Hinweisen seiner nordischen Quellen extreme Konsequenzen gezogen: Johannes und Olaus Magnus hatten ja von Alvilda und vielen anderen kämpfenden Frauen berichtet, sie würden die weiblichen Gewänder und den weiblichen Geist ablegen, um die männliche Kühnheit zu übernehmen und dem Heer zu folgen. Nach den weiblichen Gewändern und dem weiblichen Geist lehnt nun eine norwegische Frau auch ihren weiblichen Körper ab. Die heroischen und martialischen Werte,68 die der Autor vennittelt, kommen hier zum Ausdruck (XII, 103,1-6): Con lor si mette in schiera e piu non pave deI fremito de I' arrni e dei destrieri, ne sembra a lei l'usbergo 0 I' elmo grave, ne piu alberga timor ne' suoi pensieri: ne I' abbattersi in lei e poi soave, che move ardita crudi assalti e feri

Als Gauna I Gauno nach einer schlimmen Verletzung vor Schmerzen stöhnt, stellt der Dichter fest, daß nicht alles Weibliche an ihr verschwunden ist, selbst wenn sie nun den Körper eines Mannes besitzt (XII, 106, 3 -4: "perch'il corpo si mutasse, ancora/tutto da lei il feminil non cede"). Man kann hier von einem ausgeprägten Kult der Männlichkeit sprechen. Die echten Männer des Nordens stöhnen nicht vor Schmerzen, sondern sterben stolz auf ihren heroischen Tod, lautlos, ohne jegliche Schwäche zu zeigen. Sie sterben mit einem Lächeln auf dem Gesicht, schreibt Olaus Magnus (Hist., XV, 16 - 17). Ein kleiner Unterschied zwischen Männern und Frauen bleibt wohl auch im Norden bestehen: Die Frauen sind fast so stark und mutig wie die Männer, ein kleiner Mangel ist bei ihnen aber doch noch zu verzeichnen. Deshalb ist die Last der Regierung und der Kriegsführung für die Königin Norwegens schwerer, als es sonst für einen König wäre (XIV, 2_3).69 In ihrer Rede vor den Soldaten versucht die 67 Venturini betont die Vorliebe Ariostis für das Groteske, auch in der Beschreibung von Toten und Verwundeten. Vgl. G. Venturini, Saggi critici... , a. a. 0., S. 73 (Fußnote). 68 Es überrascht auch nicht, daß Orazio Ariosti selbst nach seinem Tode in einer lobenden Kanzone "il Marte" genannt wurde. Vgl. ebd., S. 139 (Fußnote). 69 In der Historia des Olaus begegnet man der Piratin Rusla, die gegen ihren Bruder um den Thron Norwegens kämpft (Hist., V, 27). Sie kommt in demselben Kapitel vor, in dem die

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norwegische Königin mit Vorsicht und im Bewußtsein ihrer eigenen Minderwertigkeit, ihre Landsleute zu beruhigen, indem sie vorsichtig behauptet, daß auch männliche Gedanken in ihrem weiblichen Körper Platz haben können (XIV, 7, 1-4): Gia non vorrei ehe, percM donna i' sia, fosser gli spirti meno in voi guerrieri; ch'in questa feminil sembianza mia forse nascondo anch'io maschi pensieri.

Für den Krieg sind ja nicht nur männliche Kräfte, sondern auch männliche Gedanken vonnöten. Die nordischen Frauen, die Krieg führen wollen, müssen sie haben und es beweisen.

7. Krieger des Nordens und Barbarei Italiens Ariosti greift nicht nur für die Charakterisierung seiner weiblichen Figuren auf nordische Quellen zurück. Auch die männlichen Helden seines Epos haben eindeutige ,nordische' Konturen. In der Beschreibung der Seeschlacht zwischen Alfeos Heer und Belambros Piraten ist Ariosti in vielen Details durch die Historia des Olaus inspiriert worden, zum Beispiel bei der Finte, bei der Belambro so tut, als ob er seine Schiffe in die eine Richtung führen würde, obwohl er in eine andere Richtung steuert, oder bei dessen Androhung, die Schiffe des Feindes in Brand zu setzen. Auch die Beschreibung von einem Regen von Lanzen, Speeren und Pfeilen, die auf die Schiffe der Feinde niederprasseln (VIII, 25 - 29 und VIII, 71), erinnert an die Historia (X, 4 und X, 12-14). Antonella Perelli betont die Unterschiede, indem sie schreibt, daß die Rolle der Helden gegenüber der Armee viel bedeutender bei Ariosti ist als bei Olaus. 7o Das stimmt natürlich, aber es hat mit der literarischen Gattung zu tun: Ein Epos ist nicht wie ein Traktat oder ein Lexikon über den Norden! Die Beschreibungen der Schlachten bei Olaus sind dazu da, um die Andersartigkeit des Krieges unter bestimmten ,nordischen' Bedingungen zu erläutern. Er kennt auch viele Helden, die allerdings in anderen Kapiteln seines Werks vorkommen, nämlich dort, wo er über die nordische Mythologie und Geschichte berichtet. Wenn er sich mit den militärischen Techniken der nordischen Völker beschäftigt, ist es unnötig, die Taten von großen Helden hervorzuheben. Ganz anders ist es bei Ariosti. Er hat anonymen Armeen sogar zuviel Platz eingeräumt, wenn man bedenkt, daß er ein episches Werk verfaßt hat. Die langdauernde Schlacht im Fluß vom zwölften canto, in der viele nicht genannte Soldaten gegeneinander kämpfen, ist etwas Besonderes. Olaus Magnus hatte geschrieben, daß die meisten Kämpfe im Norden neben Flüssen stattfanden Begegnung von Alff und Alvilda erzählt wird. Wahrscheinlich hat diese Figur Ariosti inspiriert. Im Epos Alfeo usurpiert eine Frau den Thron Norwegens und stellt ihre Machtansprüche gegen ihren Stiefsohn. 70 Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 242.

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(Rist., IX, 6). Antonella Perelli interpretiert das Nicht-Vorhandensein neuer Feuerwaffen mit dem Versuch Ariostis, die Kriegsbereitschaft seiner Helden als ,unschuldig' zu deuten. Es handele sich dabei - kurz vor der letzten Illusion Don Quijotes - um ein unbewußtes nostalgisches Fabeln ("inconscio favoleggiare nostalgicO,,).71 Perelli erinnert deswegen an den Orlando furioso, in dem Ariost einen Hinweis auf die Entdeckung der Hachsenbüchse gegeben hatte, um solche Kriegsmittel zu verdammen (Orl. fur., XI, 21 ff.). Das, was sich Ludovico in seinen Ausschweifungen leisten konnte, kann und will Orazio nicht tun. Er mag keine witzigen Anachronismen. Orazio Ariosti versucht vielmehr, einen alten, ruhmreichen, ritterlichen und martialischen Norden zu dichten. Für Bombarden, Hachsenbüchsen oder sonstige Feuerwaffen gibt es verständlicherweise keinen Platz. Mit einer gewissen Nostalgie schaut er auf eine von kriegerischen Tugenden regierte Welt, die in der Gegenwart Italiens nicht zu finden ist. Sie wird in der Vergangenheit und in einem unbekannten Land weit entfernt im Norden gesucht. Die Krieger aus den nördlichen Ländern sind Mustersoldaten: Ihnen fehlt es weder an Mut noch an Selbsthingabe und Entschloßenheit. Die längste Beschreibung nordischer Krieger findet sich im neunten canto. Der Piratenführer Belambro stellt sich mit seinen Leuten auf die Seite des Königs Canuto für die Rückeroberung Norwegens. Die Krieger, auf die er zählen kann, werden mittels einer langen Auflistung präsentiert, die für die epische Gattung üblich und doch aufgrund des nordischen Akzents hier besonders faszinierend ist. Mit prächtigen und bewaffneten Schiffen (IX, 6, 6: "d'armate navi, in vista assai pompose") kommen sie aus entfernten Reichen und marschieren über eine felsige und karge Insel, die im Winter durch gewaltige Stürme überflutet wird, während sie im Sommer und bei schönem Wetter wieder auftaucht (IX, 8). Die Krieger werden mit vielen Merkmalen der klimatischen Bedingungen und der Landschaft ihrer Länder beschrieben. Das rauhe Klima und das harte Umfeld machen die Menschen stark und widerstandsfähig. Die erste Gruppe, die vorgestellt wird, ist die Armee, die von Onosandro aus der isländischen Region "Valtifera" ("Valtiflier" im Traktat von Giovanni Lorenzo d' Anania) geführt wird. 72 Ihre Heimat wird zunächst beschrieben, deren Eigenschaften viel über den Charakter ihrer Bewohner aussagen können. Vor allem die Präsenz eines schrecklichen Windes, der einen Ritter auf einem Pferd zu Fall bringen kann (Rist., I, 10 und VII, 23),73 und die Abwesenheit der Sonne für einige Tage im Winter werden betont. Die Angst, die Sonne könnte Vgl. ebd., S. 243. Die Mehrheit der Soldaten, die gegen Norwegen kämpfen, kommt aus Island. Ariosti bezieht sich daher logischerweise auf Informationen bei Olaus, die Island betreffen. Antonella Perelli verwechselt die Krieger aus Thule mit ihren isländischen Verbündeten und behauptet schließlich, daß Ariosti scheinbar die zwei Inseln gleichgesetzt habe. Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 238. Im Gegenteil: Der Dichter hält "Tile" und "Islanda" auseinander, die Interpretin nicht. 73 Auf der Insel "Islandia" auf der Carta marina des Olaus ist ein Ritter auf einem Roß abgebildet, der im Begriff ist zu fallen, weil der Wind Circius stark weht (dargestellt als Kopf, der aus Nordwesten pustet). 71

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nicht mehr aufgehen und die Erde somit in eine ewige Nacht verfallen, bringt die Menschen Islands dazu, auf den Gipfeln der hohen Berge in banger Erwartung nach der Wiederkehr der Sonne zu suchen und sie mit Opfern und Liedern zu beschwören. Die Musik spielt Olaus zufolge eine sehr große Rolle im Norden, denn die Menschen der borealen Länder drücken ihre Gefühle durch Gesang und Musik aus (Hist., XV, 28). Das Eis und die Winde der Heimat haben diese Menschen aus Island so hart und für die Klagen unempfindlich gemacht (so hart wie das Eis, so taub gegenüber Schmerzensschreien wie der Wind), daß sie dem Anführer auch in den schwierigsten Kämpfen den Sieg versprechen (IX, 10- 11): Onosandro, ecco, il prima in mostra adduce 10 stuol ch'in Valtifera egli ha raccolto, dove ha spesso il cavallo il vento truce co '1 cavaliero a terra in un convolto: questo '1 paese, in cui privi di luce per piu di de I'inverno il sol sepolto tien gli abitanti; e fa temergli ch' esso no 'Ilasci alfin d'eterna notte oppresso.

e

E pero di spiare han per costume dagli alti gioghi il suo ritorno; e 'ntanto ans! allettare il suo divino lume con sacrifici e lusingar co 'I canto. Con queste genti il duce lor presume riportar d'ogni dubbia impresa il vanto: cosi indurolli il ghiaccio e i patri venti co '1 su' essempio li fan sordi ai lamenti.

Die Widerstandsfähigkeit und Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen dieser nordischen Krieger sind nur eine Folge der schwierigen klimatischen Bedingungen und nicht - wie für die Goten bei Olaus - der extrem harten Erziehung, die wiederholte, lebensgefährliche Schläge und die Aussetzung auf Eis und Feuer vorsah (Hist., VIII, 7). Ariosti hat auch in diesem Fall die grausamsten Details seiner Quelle ignoriert und die positiveren Eigenschaften und Einzelheiten hervorgehoben. Die allgemeine Freude im Norden über das Wiederkehren der Sonne im Sommer wird auch bei Olaus betont (Hist., XV, 8). Ariosti konnte sich einem solchen poetischen Motiv nicht entziehen, ebenso wie er das interessante Detail des Raubs der Lämmer durch die weißen Raben (Hist., IV, 15) nicht ignoriert, wenn er auf die "Holeni" (Holar, Holensis auf der Carta marina) zu sprechen kommt (IX, 12, 3 - 8): ricchi di pascoli e poveri di greggi bencM n'abbin sovente i carnpi pieni: ch' i corvi, il cui candor vien che pareggi le nevi intatte, quivi i prati ameni rendono di ria strage ognor funesti, cosi vi son co 'I becco agli agni infesti.

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Noch eindrucksvoller ist die Beschreibung des Heklaberges. Der Vulkan kocht, ist aber gleichzeitig von Eis bedeckt. Er beherbergt eine unendliche Menge von toten Seelen, die in jener Grube inmitten der eisigen Kälte von Hitze gepeinigt werden. Olaus berichtet von toten Menschen, Geistern oder Schatten, die sich als lebendige Menschen zeigen und mit den Einwohnern der Gegend in Kontakt treten (Hist., 11,2-3). Stärker und kampfeslustiger als alle übrigen Krieger sind diejenigen, die aus dieser Gegend stammen, denn sie kennen die Zukunft und können sich des Sieges sicher sein, da sie mit den Geistern des als Fegefeuer dienenden Vulkans ins Gespräch kommen (IX, 13 -14): BaIdiforte il feroee, un piu feroce eampo raeeoglie al suo standardo intorno, ehe di la dove agghiaeeia e dove euoee il mont'HecJa seguillo a suon di corno: novo Etna, ai flor co 'I gelD in eima nuoee quel monte, ardendo al pie la notte e '1 giorno, e l'ardor ehe da lui si versa e fama eh'affliga d'alme immensa turba e grama. Van piu d'aItri sieuri a quell'impresa eostor, ehe gia 'I buon esito ne sanno: pereM di mezzo a la lor flamma aeeesa sopra '1 futuro lor responsi danno i tormentati spirti ivi; e non pesa lor, beneM involti in quel eocente affanno, mostrarsi e, heneM sian di vita privi, ne l'aspetto e negli atti, uomini vivi.

Den Kriegern aus der Gegend des größten Vulkans Islands folgen die mutigen und nach Ruhm strebenden Krieger Marcomisos aus "Scaolda" (Skalholt, Scalholdin auf der Carta marina), die anmutig wie singende Schwäne, die sich im Flug erstrecken und sich neben einem Fluß niedersetzen, mit wunderschönen Stimmen Loblieder auf den eigenen Anführer singen. Das Adjektiv "fero", das diesem Volk beigegeben ist, bekommt durch diese Metapher eine neue Bedeutung: Nichts Grausames oder Bedrohliches zeigt sich in ihrem Aussehen, nur lobenswerte, disziplinierte Tapferkeit, die es ihnen schon in der Vergangenheit erlaubt hat, große Taten zu vollbringen, die in Steine und Felsen eingraviert sind. Damit sind die Bewohner dieser Region Islands in die Geschichte eingegangen. Diese erinnerungswürdigen Taten bilden auch das Traditionsgut der heimatlichen Lieder und werden somit an die folgenden Generationen weitergegeben (IX, 15-16): Vien Mareomiso poi ehe tiene a freno de la real Seaolda il popol fero; dove si terne invan ehe venga meno quel eh'i suoi eittadin d'illustre rero:

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V. Eine poetische summa des Nordens che, ne le rupi inciso, il tutto a pieno odi tra lor sonar con grido altero; ebene da gente vaga si di gloria attende il duce lor certa vittoria. Ivan costoro in ben disposte squadre cantando il capitano e le sue lodi, come spiegan talor note leggiadre cigni canori in grazlosi modi; ne genti in vista minacciose ed adre, ma schiera, che per I' aria il gozzo snodi, la diresti d'augei, che per costume scenda satolla ad un vicino fiume.

Die Schwäne sind aus vielen Gründen ,nordische' Vogel. Olaus schreibt in der Historia de gentibus septentrionalium, daß die Schwäne in den Fluten der borealen Gewässer zu finden sind und durch dunkle Wolken und Schneeflecken fliegen. Die weißen, eleganten Vögel kündigen mit ihrer Abreise einen kalten Winter an, der die Nordländer mit Freude erfüllt. Ariosti läßt sich den Zauber der fliegenden Vogel mit dem langen Hals, der ihren Gesang süßer und melodiöser machen soll (Hist.. XIX, 15), nicht entgehen (IX, 16,6: "schiera, che per l'aria il gozzo snodi"). Aber vor allem singen die Schwäne, wenn sie sterben. Nicht aus Traurigkeit, sondern aus Freude, daß ihr Leben ein Ende hat, schreibt Olaus (Hist., XIX, 15-16), der im Gegensatz zu P1inius an den schönen Gesang der weißen Vögel im Augenblick des Todes glaubt. Dieses fröhliche Akzeptieren des Endes haben die Schwäne mit den Menschen im äußersten Norden gemeinsam, die angeblich immer bereit sind, sich vom Leben, das sie eher als Last empfinden (Hist .• IV, 8), mit Heiterkeit zu verabschieden. Von den Kriegern aus "Helisberga" (Hellisbjarg, nicht auf der Carta marina von Olaus verzeichnet, aber in dem Traktat von Giovanni Lorenzo d' Anania erwähnt) werden die Kampfmiuel beschrieben: gefährliche Speere, die sie mit starkem Arm aus der Feme werfen können, und zwei Schwerter, die sie gleichzeitig in beiden Händen tragen, wenn sie sich im Nahkampf befinden (IX, 17). Die Menschen aus Hafnarfjöröur und Isafjöröur (Hanafiord und Isafiord auf der Carta marina), "Hanfordi" und "Isafordi" genannt, sind gemeinsam erwähnt. Erstere werden mit dem Fluß der Heimat in Verbindung gebracht, der so oft zufriert, letztere werden dagegen als diejenigen erwähnt, die ihre Häuser auf dem Eis im vom Schnee dominierten Winter bauen. Deswegen freuen sie sich über die Kälte (IX, 18,3-8): i primi usi a vedere asciutto spesso il patrio fiume ad una sola face egli altri a fabricare, allor ch' oppresso tutto il paese da le nevi giace, su ' I gelo i tetti; e far dei freddo festa, ch'a lor magioni il fondamento appresta.

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Dem Dichter wie dem Publikum muß die Freude der "Isafordi" an Kälte und Eis besonders erstaunlich und fast unverständlich erscheinen. Olaus Magnus aber ist Zeuge, daß Häuser und Festungen im Norden auf dem Eis und aus Eis gebaut werden (Hist., X, 18; X, 25; X, 29 und XII, 10-12) und man sich aus diesem Grund an der Kälte erfreuen kann (Hist., XII, 10-13). Laut Olaus können die Nordländer gleichzeitig gegen das Wüten der Natur und gegen den Feind kämpfen und halten diejenigen, die sich wegen der extremen Kälte beschweren, für verweichlicht und verweiblicht (Hist., XI, 28). Es ist ein Naturgesetz, daß man für das Klima des Landes, in dem man geboren wurde, am besten geeignet ist (Hist., XVII, Praefatio). So darf es nicht verwundern, daß die Menschen im Norden die Kälte mögen. Für die Italiener soll es sich wirklich um eine ,andere Welt' handeln. Die Auflistung der Krieger aus Island und weiteren Inseln ist so angelegt, daß die Gruppen, die vorgestellt werden, für Italiener immer ,fremder' werden. Nicht zufällig werden am Ende die Krieger aus "Bondano" präsentiert, die als Barbaren dargestellt werden. "Bondano" ist nach dem Traktat von Giovanni Lorenzo d' Anania eine Stadt auf der Insel "Frislanda". Diese Insel, deren Haupstadt auch "Frislanda" heißen soll, wird auf den Karten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts südlich von Is1and verzeichnet und geht auf den Bericht von Nicolo Zeno zurück, dessen Reise sich in den Meeresstraßen und auf den Inseln des Archipels der Färöer abgespielt haben soll. Man kann "Frislanda" eine Phantom-Insel nennen,74 das heißt ein Fantasiegebilde, in das Bestandteile früherer Karten aus verschiedenen Zeiten und Informationen verschiedener Herkunft eingeflossen sind. Diese geheimnisvolle Insel ist ein Fall doppelter Verwechslung: In den Quellen jener Zeit wird die Geographie der Färöer-Inseln mit den Umrissen von Island verbunden. "Frislanda" existiert also nur im Reich der menschlichen imaginatio. Ariosti fühlt sich berechtigt, die Menschen von dieser rätselhaften "Frislanda" oder "Frisilanda" mit der größten Freiheit zu beschreiben. Er spricht von einer dort herrschenden barbarischen Sitte, Frauen gemeinsam zu besitzen. In seinen Augen unterscheidet solch ein schrecklicher Brauch diese Bewohner einer unbekannten Insel im weiten Ozean von der zivilisierten Welt. Ihrer Barbarei entspricht aber eine große Kampfbereitschaft, die sie im Kontext des Krieges als sehr wertvoll erscheinen läßt (IX, 19, 1-6): Spiegan dietro costor l' insegna quelli che Bondano lasciaro ove han communi, dei bel viver civil troppo rubelli, le mogli, e di pieta vera digiuni; ma spirti non han meno in guerra felli, che barbarie da lor nel cor s' aduni

Mit den Kriegern aus "Bondano" marschieren die Leute aus "Sorano" und aus "Frisilanda", das heißt aus einer weiteren Stadt und aus der Hauptstadt der geheim74 Vgl. D. S. Johnson, Fata morgana der Meere. Die verschwundenen Inseln des Atlantiks, München/Zürich 1999, S. 99-124.

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nisvollen Insel, wie es in dem geographischen Traktat von Giovanni Lorenzo d' Anania erklärt ist. 75 Diese Völker kennen in ihrer Heimat eine angenehme Jahreszeit, sind aber im Winter gezwungen, sich in dunklen unterirdischen Höhlen (Bist., VII, 23) mit wenigen Milchprodukten zu begnügen, wie die wilden Menschen im äußersten Norden Schwedens bei Olaus (Bist., IV, 3). Es ist interessant zu bemerken, daß ihre Armut für den Dichter ein Beweis für das Elend der Menschen gegenüber Gott im allgemeinen ist. Auf keinen Fall dürfen die Menschen die Grenzen überschreiten, die ihnen gesetzt sind (IX, 20, 3 - 8): A la stagione, in cui par ch'il suol rida, ambi han tra' greggi lor cibo e bevanda; ma quando in Capri corno il sol s'annida, negli antri son perpetua lor vivanda frutti di puro latte aspersi. Oh, parca nostra natural e ci ha chi il segno varca?

Mitten in der Auflistung der Krieger des Nordens, die aus einer kargen und harten Welt kommen und in ihrer Genügsamkeit ihre kriegerischen Tugenden und ihre Sehnsucht nach Ruhm bewahrt haben, findet sich eine vehemente Anklage Italiens, das beschuldigt wird, das Land der Gier, des Luxus, des Übermaßes und der Barbarei zu sein. "Virtu" im Sinne von Widerstandsfähigkeit und militärischer Tapferkeit in Verbindung mit Selbsthingabe ist nicht mehr zu finden in einem Land, dessen Bewohner sich faul im Bett herumwälzen und nur Luxus und Geld zu schätzen wissen (IX, 21): La gola al sonno, a I' ozi'ose piume piu ch'agli affanni marzi'ali invita; misera ltalia, nullo averso nume ha I' antica virtu in te sbandita; ti nocque e noce il barbaro costume onde sei fatta al bere, allusso ardita: quinci i soldati tuoi fan sua vittoria la preda e schivi omai sembran di gloria.

Die harte Invektive gegen Italien als solche ist keine Neuheit, aber der Vorwurf barbarischer Sitten ist etwas Neues. Ariost hatte auf Laster, Faulheit und Rausch hingewiesen (vgl. Kap. 111.3.), wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, die verdorbenen Sitten der Italiener als ,barbarisch' zu bezeichnen. Italien der Barbarei zu beschuldigen ist etwas Unerhörtes, und es fällt auf, daß es in einem Epos geschieht, in dem die traditionellen ,Barbaren', das heißt die Menschen des Nordens, die Protagonisten sind. Venturini bemängelt dabei den Ausdruck eines "sentimento di italianita" des Autors. 76 Die ottava der Verdammung Italiens steht wie eingeklammert da: Der Dichter fährt sofort mit der Auflistung der Armeen des Nordens fort, und zwar mit der 75 76

Vgl. Giovanni Lorenzo d' Anania, L'universalejabrica dei mondo, a. a. 0., S. 180. Vgl. G. Venturini, Saggi critici... , a. a. 0., S. 90.

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Erwähnung von würdigen, echten Kriegern, die die entsetzliche Verweichlichung der Italiener noch stärker hervorhebt. Es sind die Bogenschützen von den FäröerInseln (IX, 22, 1: "Quei che I'isola Fare arcieri esperti", auch auf der Cana marina als einzige Insel Fare verzeichnet). Olaus Magnus hatte in mehreren Kapiteln seiner Historia de gentibus septentrionalium die Vorzüglichkeit der Bogenschützen der nördlichen Länder betont (Hist., XV, 1-6). Es folgen die Krieger von drei Inseln in der Nähe von Thule, die es gewohnt sind, nicht mit Netzen Fische zu fangen, sondern sie mit meisterhaften Zauberliedern anzulocken (IX, 24, 5 - 8): Ne pescan costor per ogni senD ed invece di reti usano carrni, usano suoni e con maestro canto n' allettan d' ogni sorte in ogni canto.

Diese Soldaten sehen wie furchtbare Seeungeheuer aus, Monstren, die vom salzigen Ozean ausgespuckt wurden, denn sie haben - wie es für die Menschen aus dem äußersten Norden typisch ist (Hist., IX, 14) - ihre Helme, Schilder und Waffen mit dem Gerippe und den spitzen Zähnen der riesigen Fische des Ozeans verziert (IX, 25): E dal pescare in cosi nova forma tranno il vitto non pur, ma l'arrni ancora tal che di salsi mostri una gran torma li diresti, ch'il mar sponesse fuora: cosi i teschi ed il cuoio ognun n'informa d'elmi e d'usberghi ad uso e l'aste infiora crudelmente de' loro acuti denti, sovra ogni me' temprato acciar pungenti.

Die stacheligen Waffen und Rüstungen der Soldaten von den verlorenen Inseln im Norden sind härter und schärfer als Stahl. Die Nordländer sind für Ariosti Krieger aus Eisen: Seine glaubwürdigste Quelle über den Norden betont ständig diese Härte (Hist., XX, 25 und XX, 27). Diejenigen, die von den Inseln des breiten nordischen Ozeans kommen, sollen etwas mit den seltsamen Kreaturen gemeinsam haben, die durch die vom Wind verursachte Mischung von verschiedenen Samenzellen in den Abgründen und Wellen des Ozeans entstehen (Hist., XXI, Praefatio). Unzählige Fische und Ungeheuer wuchern im Meer bei Island, das für Ariosti und sein Publikum geheimnisvoll ist. Olaus zufolge bauen die Isländer mit den Knochen von Fischen, die in Italien nie gesehen wurden, sogar Häuser (Hist., XXI, 4). Der mit Fischresten ausgerüstete Audiface, der Anführer der Krieger von der Insel "Vette"77, bewegt sich wie ein Otter im Wasser (XII, 80) und erscheint wie ein "mostro", das vom Ozean in seinem großen Schoß genährt wird (XII, 81, 1-2: "E ben apparve allor mostro verace I di quei che nutre il mar ne l'ampio grembo"). Er 77 Diese Insel, die "Vitta", "Vettio" oder "Vectis" in den Karten und Traktaten jener Zeit genannt wird, soll der heutigen Isle of Wight entsprechen. Luigi Alamanni nennt sie auch "Vette" (Avarchide, 11,49, 1).

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versucht, seine Leute anzufeuern, indem er an sie als mutige Seeleute und Bezwinger der ozeanischen Ungeheuer appelliert (XII, 79, 1- 2): Or quei non sete piu che ne l'immenso vasto ocdlll soglion pugnar coi mostri?

Die erschreckende Erscheinung der Soldaten von den kleinen Inseln im Nordozean erinnert an die Rüstungen der Kimbern, die wie wilde Tiere aussehen wollten, um die Feinde zu ängstigen. Ihnen wird von Tasso, zusammen mit der von ihnen ausgelösten Furcht, eine besondere Schönheit zugesprochen (vgl. Kap. VI.3.). Die Gewalt und der Krieg haben eine eigene Ästhetik, für die Orazio Ariosti noch mehr als sein Freund Tasso empfänglich ist. 78 Aus dem Norden Schottlands (IX, 28, 1: "Ne l'alta Calidonia") stammt der junge Isauro, der dem Dichter zufolge wegen seiner großen Taten nicht weniger berühmt als Romolus und Temistokles ist (IX, 29). Er wurde im Wald auf der Flucht geboren. Der Dichter betont ausdrücklich, daß der Vater Isauros aus leidenschaftlicher Liebe eine Frau raubte (IX, 28, 4) und das Kind, Frucht eines Raubes, unter den Bäumen eines dunklen Waldes zur Welt kam. All das hatte eine außergewöhnlich starke Persönlichkeit des Jungen zur Folge, ein großes Maß an jenem "valore", den das italienische Land schon seit langem nicht mehr kennt (IX, 29, 1- 4): Eben mostra il fanciul co 'I suo valore quanto di spirti generosi abondi alma prodotta da fervente amore, alma nata di furto infra le frondi.

Im Norden waren die stärksten Edelleute es gewohnt, Jungfrauen zu rauben, bevor sie sie heirateten, wie Olaus ohne jegliche Kritik vermerkt hatte (Hist., X, 1; XIV, 4 und XIV, 9). Ariosti übernimmt dieses Motiv nicht mit Empörung, sondern mit Bewunderung für den Mut, den solche abenteuerlustigen und todesmutigen Prinzen des Nordens damit zeigten. Isauro ist ein Held, der beweist, wie stark die Seele eines Kindes ist, das nach einem Raub aus Leidenschaft geboren wurde. Dank seines außergewöhnlichen "valor" (IX, 47 -48) wird ihm eine spezielle Mission in Nordmöre erteilt. Seine lobenswerte Kriegsbereitschaft wird als gerechte Wut (IX, 48, 8: "giust'ire") gewertet. Die Behauptung, daß er nur dann zufrieden sei, wenn er mit Lanzen und Schwertern kämpfen kann, stellt einen Beweis seiner außergewöhnlichen Weisheit dar und kommt einem großen Lob gleich (IX, 47, 1-4): Giovinetto real, d'accorgimento qual non presumeresti in quella etade, che solo a pien si chiama allor contento ch' ei si trova pugnar tra lance e spade 78 Die Zwerge oder Pygmäen aus Grönland (Hist., 11, 4) passen nicht in dieses Bild der großen und kräftigen Helden des Nordens. Vielleicht werden sie aus diesem Grunde nie von Ariosti erwähnt, obwohl sie theoretisch Teil der Armeen Thules, Islands und der übrigen Inseln des Nordozeans hätten sein können.

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Isauro verkörpert den perfekten Helden, der von Kirke schließlich auch noch einen Trank bekommt, der ihn unverletzlich und mutiger macht, das heißt "piu fero" (X, 65, 5), wobei das Adjektiv nicht im Sinne von wild, animalisch und grausam zu verstehen ist, sondern im Sinne von kühn und heftig im Kampf. Wenn er später in Nordmöre eine Verschwörung gegen den Tyrannen des Landes organisiert,79 für die auch gefälschte Briefe vorbereitet werden sollen, wird er ohne Bedenken vom Dichter auch für seine Schlauheit gelobt, die der Gerechtigkeit dient (X, 62 - 66). Auch der Betrug könne letztendlich zu einem guten Zweck begangen werden, meint der Dichter, der seine Bewunderung für Isauro nicht in Frage stellt: Der mutige und einfallsreiche Junge bleibt immer sich selbst treu, "troppo negli atti e ne l'andar feroce" (XI, 83, 4), und ist bereit, das Schwert mit Blut zu färben (XI, 82, 1- 2: "si bel disegno, si aHa speranza / d'insaguinar tant'utilmente i ferri"), den Tod zu geben oder zu empfangen (XI, 90, 7 - 8: "son forte / non meno a sostener ch'a dar la morte"). Sein Missionsgefährte Antracio wird mit ihm zusammen die Macht der unwiderstehlichen Wut, die "ira", "rabbia", "furore" der nordischen Krieger unter Beweis stellen (X, 95, 5 - 7: "il porta un'ira / che sorger tuttavolta in lui non cessa, / ebro e nel suo furore omai felice"; und X, 100). Olaus Magnus hatte behauptet, die Menschen aus dem Norden seien wegen ihres wilden Wütens ("Juror") wie Furien der Hölle und daher fast immer siegreich (Hist., X, 17). Ariosti glaubt der Darstellung des schwedischen Bischofs, der die martialischen Werte der nordischen Gesellschaften betont. Seine zwei Helden Isauro und Antracio begeistern die Untertanen für den harten Mars (X, 98, 4: "si veniano infiammando al duro Marte") und führen eine Rebellion gegen den Tyrannen. Eine fragwürdige Figur in der Autlistung der nordischen Krieger könnte "Carchesio il bevitor" sein, der Mars und Bacchus gleichsam dient und es für ein ungerechtes Naturgesetz hält, daß es nicht überall Weinberge gibt. Bei Weinmangel findet er sich damit ab, andere nicht näher bestimmte Getränke zu sich nehmen zu müssen (IX, 30).80 Es fällt an dieser Stelle jedoch kein einziges Wort, das Entsetzen oder Empörung seitens des Dichters verrät. Im Gegenteil: Der Leser erfährt, daß der Weinkonsum im Norden zwangsläufig geringer ist als in Italien, dem die Natur ein wärmeres Klima und noch dazu Weinberge geschenkt hat. Es seien gerade die korrupten Italiener, die sich dem Trinken wie dem Luxus ergeben hätten, meint der Dichter (IX, 21, 6), der glaubt, in den rauhen ursprünglichen Nordkriegern die echten, gesunden Männer gefunden zu haben. Alle Menschen von den Inseln des Nordens, die dem ehemaligen Piratenführer Belambro zur Verfügung stehen, sind auserlesene Krieger (IX, 31, 3: "I' eletta 79 Die Notwendigkeit, die Tyrannen zu stürzen, ist ein wiederkehrendes Motiv im Werk des Olaus (Hist., X, 16), das Ariosti für sein Epos übernommen hat (IX, 100-101). 80 Olaus Magnus erklärt, daß Wein in den Norden importiert und dort geschätzt wird, die Menschen aber mehr Bier und andere Getränke wie Honigwein und Met trinken (Hist., XIII, 19 und XlII, 22-23).

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gente") mit unglaublichem Mut. Sie fürchten sich nicht vor dem Ozean und seinen Stürmen. Vor allem aber haben sie keine Angst vor dem Tod, oder besser gesagt, sie sind so souverän im Umgang mit dem Tod, daß sie sich darüber lustig machen können. Sie können lachend dem Tod entgegentreten (IX, 31, 5 - 6):

.. . e

ognuno ardente a I'armi e prende ognun la morte in riso

Dasselbe behauptet Tasso von den Kreuzrittern aus den ,nordischen' Gebieten der Donau und des Rheins (vgl. Kap. VI.2.). Olaus Magnus hatte auf P1inius (Nat. hist., XXXV, 7) und Lukan (Phars., I, 458-462) verwiesen, um zu bezeugen, daß diese Eigenschaft, sich ohne Angst und sogar mit Freude auf dem Schlachtfeld in den Tod zu stürzen, typisch für die Völker aus dem äußersten Norden sei (Hist., III, 2 und XV, 16-17). Dieser Mut sei ein Ergebnis des kalten Klimas und des positiven Einflusses des Nordhimmels, der Sterne in der Konstellation des Bären (Hist., XV, 17). Dieses Motiv der Todesverachtung kommt im Alfeo ein weiteres Mal zum Ausdruck, wenn die Krieger von Thule und Island den Norwegern gegenüberstehen. Beide Völker halten das eigene Leben nicht mehr für wichtig, wenn sie empört und wütend sind. In der Historia de gentibus septentrionalibus kann man lesen, daß die Männer des Nordens die schönen und wertvollen Waffen mehr als das Leben schätzen (Hist., VII, 3). Ariostis Helden schätzen ebenfalls das Leben gering und nehmen deswegen keine Rücksicht. Sie haben nur eines im Sinn: Die Feinde erbarmungslos zu vernichten (XII, 58, 5 - 8): Questi sono i due popoli ch'a vile, mentre su la fiumana ardon di sdegno, sembrano aver cOSl la vita, e fanno spietatamente SI l' un l' altro danno.

Für den Dichter unterscheiden sich die nordischen Völker vom eigenen italienischen Volk nicht aufgrund einiger unwichtiger Sitten und Bräuche, sondern aufgrund ihrer Einstellung gegenüber Leben und Tod. In jener ,nordischen Aeneis', die das Epos Avarchide des Luigi Alamanni darstellt, steht diese Haltung ausdrücklich mit einem trüben und kalten Himmel im Zusammenhang. Kein Krieger des Nordens soll versuchen, sein eigenes Leben zu retten, denn der Tod in jungen Jahren ist wünschenswert, und es gibt keine Hochachtung für denjenigen, der in Frieden altert, dem das Leben wie eine Last ist, sagt der Königssohn Heretto von den Orkney-Inseln (Avarchide, V, 44): E ehe la sotto il fosco e freddo Cielo Dell'Orcadi, il terren nostro natio, Non si terne di morte il crudo gielo, Ma di pigra vilta l' effetto rio; Non s'honora chi in pace cangio il pelo, Ma chi con I' arme in man giovin morio; Folie errore iI salvar la vita in sorte, Che ti sia grave poi, piu ch'altra morte.

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Das epische Werk Alamannis wurde von Tasso und Ariosti wegen seiner pedantisch homerischen Struktur kritisiert, aber mehnnals von ihnen mit Aufmerksamkeit gelesen, wahrscheinlich gerade im Hinblick auf alle ,nordischen' Anregungen, die es bot. Die martialischen und heroischen Motive vor dem Hintergrund eines trüben und kalten Himmels mit dem Thema des wünschenswerten Todes im Kampf in der Jugend, der einem friedlichen, langen Leben vorzuziehen ist, werden von Ariosti aufgegriffen. Im Alfeo zeigen die Norweger nur einmal vor Alfeo Angst, als sie flüchten und eine Brücke zerstören, um nicht verfolgt zu werden (XII, 62-63, wie in Rist., IX, 7). Wenn aber einer von ihnen den Feinden in die Hände fallt, finden sie ihren Mut wieder und kämpfen in den Fluten des Flusses mit der üblichen angeborenen Todesverachtung weiter (XII, 68). Alle Krieger des Nordens, sowohl die Heere von den verlorenen Ozeaninseln als auch die Norweger, wollen im Kampf ihren angeborenen Mut (XII, 69, 4: "quel vero valor che seco nacque") beweisen. Viele stürzen und sterben auf verschiedene Art und Weise unter Wasser oder während sie wieder auftauchen (XII, 71). Der Tod in den Wellen des Ozeans während einer Seeschlacht oder in einem gewaltigen Strom während eines Kampfes scheint das Schicksal aller nordischen Krieger zu sein, deren Blut sich mit dem Wasser vermischt, bis sie sich für immer ,vom Tageslicht verabschiedet haben'. Nach jeder heroischen Tat kommt das plötzliche Ende. Der norwegische Führer Sillaro zum Beispiel wird zuerst als ein zweiter Mars bezeichnet, der mit beiden Händen kämpft und somit mit zwei Speeren gleichzeitig drohen und töten kann (XII, 7273). Kurz darauf aber muß er fallen. Viele Helden bringen hundert Feinde um, müssen aber gleich darauf in demselben Kampf im Fluß ihr Leben lassen, wie die Heroen der nordischen Tradition in der Ristoria des Olaus, die nie ein gewaltloses Ende erfahren. Der schwedische Bischof bringt dem italienischen Dichter nicht nur bei, daß die Helden im Norden mit höchster Tapferkeit kämpfen und dennoch meist ein unglückliches Schicksal erleiden, sondern auch, daß sie mit schlauer List und Tricks die Kriege gewinnen (Rist., X, 9). Ariosti führt deswegen die Figur des listigen Norwegers Orinello ein, der keine Verachtung, sondern Bewunderung verdient, wenn er bereit ist, die Feinde zu betrügen, um seine Heimat zu verteidigen. Allein die Tatsache, daß ihn die Unternehmung das Leben kosten könnte, ist für den Dichter ein Beweis dafür, daß er ein großes Herz hat (XIII, 61, 3 -4: "fenno, qual uom ch'in sen gran core annide, / 0 d'ordir frodi 0 ehe sua vita pera"). Orinello aus Fauske ("Fisca") versucht, seinem Vaterland zu helfen, indem er die Krieger von Thule und Island betrügt, die als Eroberer mit schwerbewaffneten Schiffen nach Norwegen gekommen sind. Der Betrug besteht darin, daß er von einer Art Orakelspruch spricht, nach dem es für die Norweger besser wäre, die Waffen niederzulegen und auf den Kampf zu verzichten. Aber gerade das Gegenteil plant er mit seinen Landsleuten. Die einzige Rede im gesamten Epos für den Frieden ist nicht ernst gemeint, sondern lediglich ein Trick im Rahmen eines Krieges, der als Verteidigung des eigenen Landes gegen die Eindringlinge verstanden wird. Ein Nor-

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weger spricht von Kapitulation, um Niederlage und Tod zu vermeiden, und meint, man solle den Arm des Kriegsgottes entwaffnen. Für das italienische Publikum mag es unglaubwürdig klingen, denn die Menschen des Nordens sollen ja die ,Söhne des Mars' sein (Hist., XV, 32) und der Kriegsgott soll sein Zuhause im Norden haben (Hist, IX, Praefatio und III, 3). Den Nordländern wird überhaupt kein Friedenswunsch zugetraut, noch weniger der Wunsch nach einem unwürdigen Frieden mit dem Verzicht auf Selbstverteidigung (XIII, 74, 5 - 8): felice chi depor gli aspri costumi sapra di Marte e disarmar la mano; eh' il piu sicuro, in questa guerra ria, sera colui ehe meno armato fia.

Es sind Friedenswörter, die eine ganz andere Auffassung vertuschen sollen. Aus dem Mund eines Norwegers klingen sie für das italienische Publikum sofort unglaubwürdig. Orinello verspricht den Feinden, ihnen seine Stadt zu überlassen, die von der Haupstadt des Reiches "Nidrosia" ("Nidrosia metropol" auf der Carta marina, heute Nidaros) nicht weit entfernt liegt (XIII, 86). Die Norweger sind aber - wie alle anderen V6lker aus dem Norden Europas - traditionell gegen den Frieden [vgl. Kap. 11.3. und Kap. III.2.a)] und keine Feiglinge. Und so ist von Anfang an klar, daß es sich um eine Falle handelt. Die Norweger bestehen nach Ariosti aus fünf V6lkern unter fünf Königen: Sie stammen aus "Sologia" (Sognog), "Hetmarchia" (Hedmark), "Tilemarchia" (Telemark),81 "Totena" und "Bircaria" (auf der Carta marina als Domus Bircarorum verzeichnet). Alle diese topographischen Namen konnte Ariosti schnell in dem Traktat L'universale fabrica dei mondo nachschauen. Je nördlicher desto mutiger und todesverachtender, denkt dabei der Dichter, der aus einer Region im Norden Norwegens die tapfersten Verbündeten kommen läßt. Die Krieger aus dem äußersten Norden, vom Rand der Welt, heißen die ,Verlorenen' ("Perduti") und geben gerne jederzeit ihr Leben, sobald es ihnen von ihrem Anführer befohlen wird. Das Leben, das allen übrigen Menschen am meisten bedeutet, ist ihnen nicht viel wert. Sie fürchten sich nicht, weder vor Stürmen oder Winden noch vor dem Tod (XIV, 17,4-7 und XIV, 18,5 -8): la squadra de' Perduti ancora avia: prodiga della vita, e questa luce e diposta a lassar quando ehe sia, sol ehe I' accenni lor chi lor comanda [ ... ] si poco ognun di lor la morte pave non ch'i perigli di tempeste 0 venti: si vile sembra a lor la cara vita ch'e sovra ogn'altra cosa a l'uom gradita. 81 Der König aus "Tilemarchia" heißt Ditamondo (XIV, 15, 8). Möglicherweise erweist Ariosti somit Fazio degli Uberti seine Ehrerbietung.

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Kein anderes Volk kann Soldaten vom Schlage der ,Verlorenen' stellen (XIV, 19). Sie sind - wie die von Guelfo geführten Kreuzritter bei Tasso - jederzeit bereit, ihr Leben zu opfern, wenn der Anführer es von ihnen verlangt (vgl. Kap. VI.2.). Wenn ihre norwegischen Verbündeten ins Schwanken kommen und sich fast der Flucht hingeben möchten, drohen ihnen die "Perduti" und verletzen sie, damit sie den Kampf nicht verlassen können (XIV, 108). Neben diesen unglaublich mutigen Menschen des äußersten Nordens kämpfen diejenigen, die sich wie im Flug bewegen (XIV, 19, 8: "che vanno a volo"): Es sind die "Finmarchi" (aus Finnmark im Norden Norwegens), die auf dem eisigen Schnee schnell rutschen, überallhin gelangen und auch tausend Meilen an einern Tag zurücklegen können (XIV, 20): Su l' indurate nevi, onde cotanto quasi ad ognor quel freddo cIima abonda, sdrucciolan si c'han d'ogni volo il vanto Finmarchi, e qual con arco e qual con fionda assagliono ora questo ora quel canto; chiuso luogo non ch'a lor s'asconda, c'han de I'andar I'arbitrio edel ritomo su' loro strisci mille miglia al giorno.

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Ariosti ist in der Beschreibung der "Finmarchi" Olaus Magnus gefolgt (Hist., I, 2) und unterscheidet sie - wie Olaus - von den Menschen aus "Lappia" (XIV, 21).82 Dem italienischen Dichter scheinen Stärke, Tapferkeit und die seltsame Art, sich pfeilschnell in einer Schneelandschaft zu bewegen, durchaus positive Eigenschaften zu sein. Diese positiven Figuren aus dem Norden sind die faszinierenden Helden einer unbekannten Welt. Ihr außergewöhnlicher Mut und ihre besondere Kriegskunst sind bewundernswert. Das Gefühl der pietas hat in den nordischen Kämpfen keinen Platz, denn es ist gefährlich, den Feind am Leben zu lassen, wenn man weiß, daß er sich sicher rächen wird, sobald es ihm möglich ist (Hist., VIII, 34 und IX, 18).83 "Pieta" bedeutet für die Krieger des Nordens eine Schwäche, die vermieden werden muß, genau wie die Furcht vor dem Feind, die eine große Schande ist. Im Alfeo erinnert der wütende Isländer Baldiforte seine Mitstreiter daran (XIV, 74). Bevor er sich mit furchtbarer Wut (XIV, 76, 2: "con furore terribile") in die Menge wirft, fordert er die Leute vorn Heklaberg auf, sich nicht von solchen Gefühlen wie pietas oder Furcht packen zu lassen, sondern sich lediglich darauf zu konzentrieren, ein Meer aus Blut zu erschaffen (XIV, 75, 7 - 8): 82 Antonella Perelli hält "Finmarchi" und "Lapponi" nicht auseinander. Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 241. 83 Der schwedische Bischof glaubt nicht, daß es sinnvoll ist, mit dem Feind Erbarmen zu haben. Vor allem glaubt er nicht, daß die Menschen irgendwann aufbören werden, Kriege zu führen. Vor allem im Norden wird es seiner Meinung nach immer Kriege geben (Hist., IX, Praefatio) .

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V. Eine poetische summa des Nordens non tema, non pieta, per dio, vi prenda, solo a far qui di sangue un mar s'attenda.

Die Episode vom alten Norweger Ansio, der während des Kampfes nach seinem Sohn sucht und von Baldiforte mit Wut und Spott umgebracht wird, könnte man als Verneinung der pietas deuten, wenn es je pietas gegeben hat. Ein großer Held, der an der Seite des Protagonisten kämpft, zeigt kein Verständnis für Vaterliebe und kein Respekt gegenüber dem Alter. Der Wunsch, ein langes Leben zu führen, gehört sich nicht für einen Mann dieser Völker. Olaus Magnus behauptet, die Nordländer hätten Achtung vor ihren Alten (Hist., IV, 16). Dies darf aber nicht für die nordische Gesellschaft vor der Einführung des christlichen Glaubens gelten, meint der Dichter. In der Tat schreibt Olaus auch, daß es im Norden in alter Zeit eine Schande war, wegen einer Krankheit und nicht im Kampf zu sterben (Hist., V, 9). Im heidnischen Norden sollen die Vater also nicht alt werden, sondern im Krieg mit Ruhm und Glanz in der Blüte ihrer Jahre sterben. Das war schon von Heretto in Alamannis Avarchide deutlich gemacht worden (Avarchide, V, 44, 5 -6: "Non s'honora chi in pace cangio il pelo, / Ma chi con l'arme in man giovin morio"). Ariostis Baldiforte setzt aber noch einen drauf: Die Älteren seien schwach und nicht für den Krieg geeignet, daher störten sie mit ihrem unnützen Leben Himmel und Erde. Nur die Feigen könnten ein hohes Alter erreichen, meint der Isländer, der keinen Vater mehr hat und den alten Norweger Ansio für lebensunwürdig hält. Mit dem Morgenstern erschlägt er ihn pietätlos (XIV, 85, 3 - 8; XIV, 86 und XIV, 87, 1- 2): cosi pregava: - Le minacce e l'ire deh, frena invitto e glori'oso duce; deh, non voler, per dio farmi morire! E s'al tuo padre il sole ancor riluce, per lui ti prego, a me perdona, e 'I tiglio non abbia per tua man dal mondo essiglio. - Padre non ho - risponde il tier - ch' ei volle morir piu tosto glor'ioso in guerra che con vecchiezza neghittosa e molle noiar il ciel di se, gravar la terra. E tu apregar pe 'I figlio tuo sei folie, e la tua mente per amar troppo erra, che meno assai d'illustre morte uom deve prezzar la gioventu, la vita breve. Qui dunque giaci di tai colpe reo, per eta, per vilta di vita indegno.

Der Mangel an pietas ist keineswegs nur ein Merkmal Baldifortes, sondern kennzeichnet alle Krieger auf beiden Seiten. Selbst die positivsten Figuren wie zum Beispiel der junge Aldano haben keine Bedenken und fühlen sich wohl, wenn sie sich mit ihren Leuten auf ein grausames Blutbad vorbereiten (XIV, 89, 1 - 2: "Pero con detti audaci a la sua gente / asparger sangue fa un crudele invito"). Sie gehören einer heroischen Gesellschaft an, die nur Stärke, Jugend und Ruhm zu

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schätzen weiß. Die Männer nennen sich selbst Feinde des Friedens, wie der arrogante Norweger Odrisio, der sein Land als "bellicosa terra" bezeichnet (XIV, 96, 8) und die Feinde danach fragt, wie sie es wagen konnten, ein so kriegerisches Volk wie das seine zu reizen (XIV, 98, 1-4): Quale folIe pensier, qual dio, qual stella vi spire, di venire a queste arene? e nazlon di paee ognor rubella attizzar? Quale in voi s'alletta or spene?

"Nazlon di pace ognor rubella" ist die Umschreibung des berühmten Verses Petrarcas "nimica naturalmente di pace" (R. v.j., XXVIII, 50). Hier aber klingt dieser Vers wie ein Kompliment, das Odrisio seinen Landsleuten macht. Er betont, daß sie im Winter nie aufhören, ihre Küsten zu verteidigen und Krieg zu führen, weil jeder gefrorene See oder fluß sich wie ein fester Boden ausgezeichnet für den Zug bewaffneter Männer eignet (XIV, 97, 5 - 8): eh' a noi non toglie il verno, in strani mesi, seorrer per tutto qui le regloni; ne 'Ilago 0 '1 fiume e men sieuro suolo ehe' I teITeno sodo al nostro armato stuDio.

Der Winter lähmt vielleicht das Leben in Italien, nicht aber im Norden, obwohl er dort härter und kälter ist. Im Norden ist der Winter sogar willkommen, denn wenn das Wasser friert, nimmt die Bewegungsfreiheit der Krieger zu. Keine Jahreszeit bedeutet für die nordischen Bewohner eine Pause im Kriegsleben. Nur die Art des Kampfs ändert sich. Olaus Magnus betont mit Bewunderung dieses typische Merkmal der nordischen Völker, immer für den Kampf bereit zu sein, unabhängig von den klimatischen Bedingungen. Laut Olaus kämpfen die Nordländer auch im Fall eines Hagelschauers oder eines Regenfalls, sowie im See- und Schneesturm und in der Finsternis der Nacht (Hist., VII, 5). Die Kriegs- und Rachelust kennt also im Norden überhaupt keine Grenze. Darüber hinaus eignet sich die rauhe nordische Natur, Kriege zu führen (Hist., VII, 12 und VII, 18), und selten gibt es im Norden Frieden (Hist., VIII, 19). Der Norweger Ildibrando behauptet im Alfeo von sich selbst, er sei ständig gierig nach Krieg (XV, 64, 2: "a me che son di guerra avido ognora"). Alvida und Altamonda, die für die Norweger kämpfen, sind grausame und furchtbare Frauen (XIV, 114, 1: "fere e tremende") und vertreten dieselbe Kriegsethik wie ihre männlichen Kollegen. Unter den vielen erbarmunglosen Kriegern im Norden gibt es eine einzige Ausnahme: den Protagonisten, der durch seinen Namen dem Epos den Titel verleiht. Alfeo ist der einzige, dem ein frommes Gemüt (XV, 28, 6: "mente pia") zugesprochen wird. Das überrascht nicht: Denn nur ihm hat sich der Hl. Paulus offenbart. Alfeo teilt zwar mit seinen nordischen Verbündeten und Feinden die Wut (XV, 29, 1: "pien di rabbia"), durch die reichlich Blut fließt. Er aber kann als einziger ein frommes Gefühl von Dankbarkeit gegenüber dem hilfsbereiten Hl. Paulus empfinden und zeigt sich nicht stolz darauf, erbarmungslos zu sein.

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v. Eine poetische summa des Nordens

Die alte Zivilisation des Nordens hat eine gewisse Würde, gewisse heroische Werte, die die Basis für eine moralische Weiterentwicklung bilden, die mit der Christianisierung stattfindet. Die pietas gehört zum christlichen Glauben, meint der Dichter. Nur die Botschaft Christi kann die tapferen Heldenvölker Nordeuropas in eine vollkommene menschliche Kultur verwandeln. Der Zusammenschluß ihrer martialischen Tugenden und ihrer Schlichtheit mit der christlichen Botschaft ergibt ein ideales Bild vom perfekten (kampfbereiten) Christen. Dem Luxus und den Sünden des Fleisches schon von Natur aus abgeneigt, kann der Mensch des Nordens nach Annahme des wahren Glaubens für die Ziele der Religion kämpfen. Der christianisierte Nordländer bleibt extrem streng und mutig, doch gilt er nicht mehr als grausam und erbarmungslos. Auch der Bischof Olaus Magnus - in der Hoffnung, die lutherischen Ideen könnten aus seinem ,reinen Norden' entfernt werden - hatte den nordischen Christ als besonders tapfer und tugendhaft beschrieben (Hist., XVI, 16; XVI, 20). Der Däne Alfeo stellt letztendlich ein Produkt der Phantasie des Dichters und der Interpretation literarischer Quellen dar. Er wird den italienischen Zeitgenossen als Vorbild präsentiert. Aus alten Zeiten und weit entfernten Ländern kommen Beispiele für einen ideellen Typ von christlichem Held, der in der eigenen Gegenwart nicht zu finden ist. 8. Nordischer Himmel, kein nordisches Schicksal

Ariosti scheut sich nicht, in seinem nordischen Epos Themen zu behandeln, die mit den moralischen Debatten der gegenreformatorischen Stimmung seiner Zeit eng verbunden sind. Ein Thema zum Beispiel ist die Frage nach dem freien Willen der Menschen, der stärker als der Einfluß der Gestirne ist. Die Naturphänomene und das, was man Schicksal nennt, haben keine Macht über die Menschen und ihren freien Willen. Einige religiöse Themen nehmen im Alfeo eine besondere Stellung ein. Viele Andeutungen im Verlauf des Epos machen dem Leser klar, daß die Welt des Nordens noch heidnisch ist, aber unmittelbar vor der Annahme des christlichen Glaubens steht. Wenn Alvida ihr Keuschheitsgelübde ablegt, zeigt der Dichter seine Bewunderung für die Entscheidung als solche, merkt aber schließlich, daß das Gelübde nicht erfüllt werden wird, weil die Götter der altnordischen Religion falsche Gottheiten sind. Höchstens als Dämonen können sie verstanden werden (III, 87, 7-8): e dritto e ben ehe siano i voti vani eh' altri fa inanzi a' dei falsi e profani.

Das Thema des gesamten Epos ist eigentlich ein Krieg, der die Annahme des Christentums in Norwegen zur Folge hat und zur Vorbereitung für den Eintritt der nordischen Welt in die christliche Ökumene dient. Die Rolle des Alfeo ist eigentlich die des Gerechten, der eine Offenbarung erlebt und seine Landsleute von dem Aberglauben an Götzen und ,Nymphen' befreit (XV, 104-108). Man kann daher

8. Nordischer Himmel, kein nordisches Schicksal

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Antonella Perelli kaum zustimmen, wenn sie schreibt, daß Ariosti nicht das Problem der Evangelisierung des Nordens im Auge hat,84 sondern mehr an den politischen und historischen Geschehnissen in Dänemark, Norwegen und Schweden interessiert ist als an religiösen Fragen. 85 Gerade das Gegenteil trifft zu: Ariosti denkt nicht so sehr an die historischen und politischen Ereignisse, die er im übrigen nicht so gut kennt und daher nicht in der Lage ist, sie wiederzugeben. Er weiß lediglich, daß Norwegen schon lange kein unabhängiges Königreich mehr ist, sondern unter der Krone Dänemarks steht. Deshalb kann die Eroberung Norwegens durch einen dänischen Prinzen den Stoff für ein Epos bilden. Das Werk ist unvollendet, und es ist schwer zu sagen, wie sich der Dichter den Schluß vorgestellt hatte. Der moralische Charakter des Epos steht jedoch fest. In den meisten Anfängen der canti beschäftigt sich der Dichter mit religiösen oder moralischen Themen, die in der Zeit der Gegenreformation sehr aktuell waren und für besonders wichtig gehalten wurden. Der Hl. Paulus (nicht beim Namen genannt, aber identifiziert anhand der Erzählung seines Lebens und seiner Seereisen in V, 13 _16),86 der als Missionar des Evangeliums allen Völkern bekannt ist, erscheint Alfeo zweimal, um ihm zu helfen (V, 11 ff. und XIV, 42 ff.). Der Apostel spielt - entgegen der Meinung Perellis87 eine wichtige Rolle, gerade im ideologischen Sinne und nicht nur als Deus ex machina, der Alfeo aus Schwierigkeiten heraushilft. Er gibt Alfeo den benötigten "olio di castoro", mit dem er sich gegen den monströsen Leviathan oder Riesenfisch verteidigen kann (wie bei Olaus, Hist., XXI, 32), und hilft ihm, seine Gefährten wiederzufinden, die Orinello gefolgt waren (XIV, 42 ff.). Vor allem aber erklärt er ihm, daß er nur dem einen Gott vertrauen kann. Ein anderes aktuelles religiöses Thema ist die Debatte über die Existenz des Fegefeuers, das Ariosti als zeitbegrenzten Aufenthalt der Seelen in der Hölle darlegt (X, 43). Die moralischen Einleitungen aller canti behandeln Themen wie den Wunsch nach Ruhm großmütiger Herzen (IV, 1- 2), die Unausweichlichkeit der Bestrafung durch Gott (VI, 1-2), die Notwendigkeit, sich mit wenig zu begnügen (VII, 1), die Gefährlichkeit der menschlichen Schönheit, die vergöttert wird (VII, 2 und XVI, 1-3), die göttliche providentia (IX, 1-3) und die Unzuverlässigkeit der fortuna, vor allem im Krieg (XV, 1). Das wichtigste religiöse Thema ist aber die umstrittene Frage des freien menschlichen Willens, den die Protestanten verneinten. Ariosti betont, ganz nach dem 84 Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 228: ,,Accantonato sembra il problema deli' evangelizzazione dei Nord, affrontato da Olao un po' in tutto il corso deli' Historia. " 85 Vgl. ebd., S. 231. 86 Olaus Magnus erwähnt Paulus als den Heiligen, der den Menschen des Nordens zeigte, wie sie mit schädlichen Ratten und Mäusen umgehen sollen, um sich von ihnen zu befreien. Die von dem Heiligen vermittelten wirksamen Gesten und Worte seien dann von Generation zu Generation weitergegeben worden (Hist., XVII, 20). 87 Vgl. A. Perelli, Olao Magno a Ferrara ... , a. a. 0., S. 230.

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katholischen Glauben, daß der menschliche Wille stärker als der Einfluß der Gestirne ist. Die Naturphänomene und das, was man Schicksal nennt, haben keine Macht über die Menschen, sagt die Zauberin Megista, die ein Plädoyer für die Freiheit der Menschen hält, an statt über die Macht der Zauberei und der Astrologie zu sprechen. Der Dichter wendet sich praktisch selbst seinem Publikum zu und kümmert sich nicht um die Plausibilität und Schlüssigkeit der Figur Megista. Die Magierin drückt sich folgendermaßen aus, wenn sie versucht, die Königin Norwegens zu trösten, der das Gespenst ihres verstorbenen Mannes erschienen ist (1,90,5-8;1,91 und I, 92, 1-2): - Ben pon co '1 suo girar le stelle e '1 sole far le stagion qua giu fosche 0 serene, ed a' mortali addurre or piogge or venti, ma gia non pon turbar l'umane menti. ehe di piu degna e di piu nobil massa queste I'eterna providenza fonna che non equella, onde qua giu s'ammassa ci ch'il moto del cielo e 'Ilume infonna. Anzi il cielo d' assai vince e trapassa di nobiltit la nostra umana fonna; e mal ponno aguagliarsi 0 luna 0 stelle a quel sol che le nostre alme fa belle. Parlo COSt perche tu sappia quanta sia debol contra il voler nostro il fato

Die Sonne tragen die Menschen in sich, und diese Sonne leuchtet stärker als der Stern Sonne am Himmel. Regen, Winde, dunkle Tage, all das, was mit einem nordischen Himmel verbunden ist, kann die Menschenseelen nicht betrüben, wenn sie sich dagegen wehren. Die Bewegungen des Himmels und der Sonne, die den Norden aus ihrem Weg ausschließt, zählen nicht, weil die Seelen der Menschen aus einem anderen Stoff bestehen, der viel edler ist. So will die "eterna providenza", daß die menschliche Seele so edel und nobel ist, daß die kosmologischen Einflüsse und die klimatischen Differenzen keine entscheidende Rolle spielen. Unter einem ,nordischen Himmel' geboren zu sein hat nicht unbedingt ein ,nordisches Schicksal' zur Folge. Hier spricht der Kanoniker Ariosti und nicht die Zauberin. Die Melancholie bringenden Dämonen des Nordens können die Menschen versuchen und zum Selbstmord verführen, aber die Sterblichen haben genug Kraft, um sich mit Hilfe Gottes zu verteidigen und sich dem trüben Schicksal jener dunklen Regionen zu entziehen. Den zweiten canto beginnt der Dichter mit einer weiteren Bemerkung über die "divina providenza" (11, 1, I) und den Sinn der menschlichen Freiheit, der darin liegt, Gott und den Mitmenschen zu dienen (11, 3, I - 2: "Serviam, che de la nostra Iibertate / il verace uso e servitu verace"). Der Protagonist Alfeo greift das Thema wieder auf, indem er versucht, sich selbst zu ermutigen, große Taten zu vollbringen, um die Liebe Alvidas zu verdienen. Der Akzent ist immer auf die "virtu"

8. Nordischer Himmel, kein nordisches Schicksal

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gelegt, und sein Glück oder Unglück, ob nun sein Herz trist oder selig sein wird, das alles liegt ausschließlich in seinen Händen (11, 38, 5 - 6: "Dunque e posto in mia man l'assenzio e 'I mele, / per me lieto il mio core e tristo fia") und keineswegs in den Himmelszeichen. "Virtu" kann "Fortuna" letztendlich überwinden, schreibt Ariosti (XII, 2, 7: "Cede a Virtu Fortuna"). Sein Freund Torquato Tasso fragt sich zur selben Zeit in seiner nordischen Tragödie: "Che non Ieee a Virtu?" (Torr., 2733). Ariosti glaubt im Gegensatz zu Tasso fest an die Möglichkeit der Überwindung und schreibt ein Epos, das dies zum Ausdruck bringen soll. Im Alfeo kommt nicht nur der alte Topos eines starken und gesunden Nordens und eines verweichlichten, dekadenten Südens zum Tragen. Die klimatische Theorie selbst wird in Frage gestellt, indem man auf den freien Willen der Menschen setzt. Der Einfluß des kalten nordischen Himmels (mit der spezifischen Gefahr der Wehmut) wird nicht verneint, doch die menschliche Freiheit steht im Vordergrund. Es gibt kein unausweichliches ,nordisches Schicksal' für die Menschen der borealen Länder. Mit Gottes Hilfe können sie gegen die Dämonen des Nordens kämpfen und gewinnen.

VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos 1. Die Erweiterung des Horizonts

In Hinsicht auf die wichtige Rolle, die die Dimension der ,Nördlichkeit' im poetischen Werk Torquato Tassos spielt, kann man ohne Vorbehalt mit Hugo Friedrich behaupten, daß dieser Dichter "lyrisches Neuland geöffnet und die italienische Poesie zu einem Ton befähigt hat, den sie vorher nicht zu singen vermochte - oder nicht singen wollte".1 Mit seinem Streben nach immer neu abgewandelten Hell-Dunkel-Kontrasten und dem Wechsel zwischen Licht und Schatten in seiner Dichtung zeigt sich Tasso für die Faszination des Nordens wie kein anderer vor ihm empfänglich. Für das Auge dieses Dichters wird auch das Fürchterliche, das Grausame und das Unheimliche zum faszinierenden Reiz. 2 Diese Dimensionen mit ihrer Suggestivkraft werden zusammen mit dem, was man mit ,Norden' verbindet, weder aus der Dichtung verbannt, noch spielen sie eine kleine Rolle: Sie rücken in den Vordergrund. Tassos Landschaften erscheinen als Medium seelischer Schwingung; deswegen lassen sich konstruierte ,bewegte nordische Landschaften' sehr gut als Sinnbilder des unruhigen menschlichen Lebens deuten. Im Rahmen seines Begriffs von Poesie ordnet die Dichtkunst die Überfülle des weltlichen wie himmlischen Geschehens nach dem musikähnlichen Prinzip der harmonischen Kontraste: Das Zusammenspiel von Licht und Dunkelheit, Eis und Feuer, Tag und Nacht läßt sich in einem fiktiven Norden am deutlichsten konstruieren. Tassos Neuerungen veranlassen ihn zu keiner Absage an die Tradition, er will nicht ältere Autoren übertrumpfen, wie es in der barocken Dichtung der Fall sein wird, doch wenn seine Verse im Wortlaut einer Vorlage folgen, ergeben sie oft durch eine Umkehrung einen gegenteiligen Sinn. Mit solchen Mitteln gelingt ihm eine ,Einführung des Nordens' in die italienische Literatur, die einen großen Wendepunkt und eine Erweiterung des poetischen Horizonts darstellt. 2. Die tapferen Kreuzritter aus dem Norden in der Gerusalemme liberata

Wenn man die durchaus positive Einstellung Tassos gegenüber dem Norden betrachtet, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Ursachen einer solchen I 2

H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 413. Vgl. ebd., S. 414 f.

2. Die tapferen Kreuzritter aus dem Norden in der Gerusalemme liberata

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unkonventionellen Haltung, die oft in einer wahren Bewunderung des Nordischen mündet. Ein Beweggrund ist in seiner Poetik, in seinem Verständnis von Dichtung und von der Gattung des Heldenepos zu finden. Das Ziel der Dichtung liegt für diesen Dichter, der sich so sehr nach der "aura popolare" sehnt, im "diletto": Das große Publikum muß Gefallen an einem Heldenepos finden. Antike und modeme Autoren müssen gelichermaßen nachgeahmt werden, und die Vielfalt ("varieta") ist mindestens so wichtig wie die Einheit des Epos ("unita"). Eine berühmte Seite der Discorsi dei poema eroico verweist auf die Notwendigkeit des Abwechslungsreichturns, anstatt, wie es oft der Fall ist, einseitig das Streben nach der Einheit zu betonen. Für sein Epos braucht Tasso Walder und Berge ("selve e monti") ebenso wie Felder und Wiesen, Eis und Schnee ("ghiacci e nevi"), ebenso wie Blumen und Früchte, Schrecken und Öde ("solitudine e orrori"), ebenso wie Häuser und Städte. Alles, was in der Welt zu finden ist, habe Sinn und Zweck oder diene zur Verzierung. Der Dichter sei Gott dem Schöpfer ähnlich, weil auch er in seinem Werk eine kleine Welt schafft, die aus verschiedenen Teilen besteht. All diese Teile mit ihren Kontrasten und in ihrer Vielfalt stellen eine Harmonie dar, die der Harmonie der Schöpfung entspricht. Daher gehöre nicht allein das Schöne der Dichtung, sondern auch das Schreckliche. 3 Eine weitere Ursache für die positive Einstellung gegenüber den Völkern des Nordens zur Zeit Tassos ist in der historischen Situation zu finden. Im 16. Jahrhundert ist die Idee eines Kreuzzuges des christlichen Europa gegen die Ungläubigen im Orient sehr populär. Die Polarisierung betrifft den christlichen Westen und den islamischen Osten, dargestellt als zwei unversöhnliche Kulturen, die gegeneinan3 T. Tasso, Discorsi dell'arte poetica edel poema eroico, hrsg. von L. Poma, Bari 1964, Bd. 11, S. 5 und S. 139 f.: "Novo sara quel poema in eui nova sara la testura dei nodi, nove le soluzioni, novi gli episodi ehe per entro vi saranno trasposti, aneoraehe la materia sia notissima e da altri prima trattata. [ . . . ] ... peroehe, SI eome in questo mirabile magisterio di Dio, ehe mondo si ehiama, e 'I eielo si vede sparso 0 distinto di tanta varieta di stelle, e, diseendendo poi giu di regione in regione, l' aria e 'I mare pieni di ueeelli e di pesci, e la terra albergatriee di tanti animali eosi feroei eome mansueti, nella quale e ruseelli e fonti e laghi e prati e campagne e selve e monti sogliamo rimirare, e qui frutti e fiori, Ja ghiaeei e nevi, qui abitazioni e eulture, la solitudine e orrori; eon tutto eio uno e il mondo ehe tante e si diverse eose nel suo grembo rinehiude, una la forma e l' essenza sua, uno il nodo dal quale sono le sue parti eon discorde eoneordia insieme eongiunte e eollegate; e non maneando nulla in lui, nulla pero vi e ehe non serva alla neeessita 0 aB' omamento; eosi parimente giudieo ehe da eeeellente poeta (il quale non per altro edetto divino se non perehe, al supremo Artefiee nelle sue operazioni assomigliandosi, della sua divinita viene a parteeipare) un poema formar si possa nel quale, quasi un pieciolo mondo, qui si leggano ordinanze di essereiti, qui battaglie terrestri e navali, qui espugnazioni di citta, seararnueee e duelli, qui giostre, qui deserizioni di farne e di sete, qui tempeste, qui ineendi, qui prodigii; la si trovino eoneilii eelesti e infemali, la si veggiano sedizioni, la diseordie, la errori, la venture, la ineanti, la opere di erudelta, di audacia, di eortesia, di generosita, Ja avvenimenti d' arnore or feliei, or infeliei, or lieti, or eompassionevoli; ma ehe nondimeno uno sia il poema ehe tanta varieta di materie eontegna, una la forma e l'anima sua, e ehe tutte queste eose sieno di maniera eomposte ehe I'una I'altra riguardi, l' una all' altra eorrisponda, l' una dall' altra 0 neeessariamente 0 verosimilmente dependa, si ehe una sola parte 0 tolta via 0 mutata di sito, il tutto distrugga. "

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der kämpfen. Die Unterschiede entlang der Achse Nord-Süd innerhalb der christlichen Welt werden dabei für unwichtig gehalten. Die Vorstellung eines Kampfes zwischen einem Europa, in dem kulturelle Homogenität und Einigkeit herrschen, und einem islamischen Feind im Osten ist dabei nicht neu: Schon 1464 hatte Pius 11. erfolglos versucht, einen heiligen Krieg gegen die Türken zu organisieren, indem er an die Einheit der Christen und Europäer appellierte. In demselben Jahr hatte Benedetto Accolti, der als eine Quelle für Tassos Gerusalemme liberata gilt, mit der Historia Gotefridi zum Heiligen Krieg gegen die Türken aufgerufen. Jedoch erst als der Kreuzzuggedanke im 16. Jahrhundert an politischer Aktualität gewann, erzielte sein Appell größere Beachtung, wie die zahlreich erschienenen Übersetzungen belegen. 4 Die Türkenkriege in der frühen Neuzeit gehen mit der Wiederbelebung der Kreuzzugsidee am Ende des 16. Jahrhunderts einher, obwohl die Eroberung des Heiligen Landes kein realpolitisches Ziel mehr ist. Schon nach dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 waren die Kreuzzugsbestrebungen umgewidmet worden,5 und der Bezug auf die mittelalterlichen Kreuzzüge, insbesondere auf den Erfolg von 1099 und auf die ,Befreiung Jerusalems', spielt nun eine bedeutende Rolle in der überkonfessionellen Propaganda eines heiligen Krieges gegen die Türken. Der protestantische Norden rückt in den Hintergrund, wenn es um die gemeinsame Verteidigung der Christen geht. 6 Selbst die Reformation und die christliche Glaubensspaltung hatten zur Wiederbelebung der Kreuzzugsidee beigetragen. Der Papst hatte am 2. März 1571 denjenigen die Vergebung aller Sünden versprochen, die am heiligen Krieg teilnehmen würden. Gottfried von Bouillon bot sich als retrospektives Leitbild und Integrati4 Vgl. L. Schmugge, Die Kreuzzüge aus der Sicht humanistischer Geschichtsschreiber; Basel/Frankfurt a. M. 1987, S. 13. 5 V gl. H. E. Mayer, Bibliographie zur Geschichte der Kreuzzüge, Hannover 1960, S. XIX. 6 Tasso ist keineswegs unempfanglich für eine solche Propaganda, wenn er seine Gerusalemme liberata in dem von Herzog Alfons 11. regierten Ferrara schreibt. Kaiser Maximilian 11. hatte mit der finanziellen und militärischen Hilfe seines italienischen Schwagers Alfons 11. gerechnet, als er im Jahre 1565 gegen die Türken in Ungam gerüstet hatte. Die Beiträge Ferraras zu den Kosten des Türkenkrieges waren beträchtlich gewesen und hatten vielen Ferrareser Familien den finanziellen Ruin gebracht. Alfons 11. selbst hatte an dem Feldzug persönlich teilnehmen wollen, um Ruhm zu erwerben und sich das Ansehen eines Kreuzritters in der Nachfolge von Gottfried von BoulIion zu verleihen. Obwohl der Türkenkrieg nicht erfolgreich gewesen war, leitete sich die Widmung der Gerusalemme liberata an Herzog Alfons "emulo di Goffredo" als Führer eines künftigen Kreuzzuges gegen die Türken von dessen persönlicher Teilnahme an Kaiser Maximilians Türkenkrieg her. Auch nach dem Sieg bei Lepanto, den die von Pius V. ins Leben gerufene "Lega Santa" Spaniens mit Venedig 1571 errungen hatte, dauerte die militärische Bedrohung der Türken fort. Sieben Jahre später verlor der König Portugals Sebastian gegen die Türken, und 1585 kam es zum Frieden zwischen den Spaniern und den Osmanen: Der status quo wurde bestätigt. Die Idee eines Kreuzzuges blieb aber bestehen. Vgl. A. Aurnhammer, Torquato Tasso im deutschen Barock, Tübingen 1994, S. 13 f. und F. Cardini, Torquato Tasso e la crociata, in: Torquato Tasso e la cultura estense, hrsg. von G. Venturi, Firenze 1999, Bd. 11, S. 615 -623.

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onsfigur an, das besonders geeignet war, um das uneinige - katholische und protestantische, südliche und nördliche - Europa in Hinblick auf den gemeinsamen heidnischen Feind zu innerem Frieden zu ennahnen. Die Gerusalemme liberata erhält in diesem Sinne eine ideologische und gar politische Bedeutung.? Als die Kurie versuchte, die Christenheit über Konfessionsgrenzen hinweg zu einer militärischen Aktion gegen die Türken zu bewegen, schrieb Tasso die Neufassung seines Kreuzzugsepos, Gerusalemme conquistata (1593), in der er noch stärker als in der Gerusalemme liberata die Wichtigkeit der Einheit aller Christen betonte. Die Conquistata, die dem Kardinal und Papstnepoten Cinzio Aldobrandini gewidmet ist, paßte perfekt zu der neuen politischen Stimmung. Die Konfessionsunterschiede innerhalb Europas mußten verschwiegen werden, um den Eindruck der Geschlossenheit der Christen zu erwecken. Die Kreuzritter aus dem Norden sind in der Liberata ausnahmslos Vertreter der homogenen, christlichen westlichen Kultur, die versucht, sich gegen den Feind im Osten zu behaupten. Lateinische und gennanische Welt gehören zusammen. Sie sind vereint, wie es in der Familie von Tassos Gönner exemplarisch geschehen ist. Wenn auch der Ursprung der Familie Este lateinisch ist, so gibt es trotzdem einen deutschen Zweig. Tasso lobt in seiner Auflistung aller christlichen Kräfte Guelfo, den Sohn eines Italieners und einer deutschen Frau, der lateinisches und gennanisches Blut in sich trägt und über die Regionen der Donau und des Rheins herrscht (1,41,2-8): uom ch'a l'alta fortuna agguaglia il merto: conta costui per genitor latino de gli avi Estensi un lungo ordine e certo. Ma german di cognome e di domino, ne la gran casa de' Guelfoni e inserto: regge Carinzia, e presso l'Istro e 'I Reno cio che i prischi Suevi e Reti avieno.

Guelfo führt Leute aus seinen gennanischen Herrschaftsgebieten mit sich, die sich nicht fürchten, dem Tod entgegenzutreten, wenn er den Befehl erteilt. Diese Eigenschaft gilt in der italienischen Literatur seit Petrarca als typisch für die nördlichen Völker (I, 42, 3 -4) Quindi gente traea che prende a schemo d'andar contra la morte, ov'ei comandi

Tasso denkt natürlich an die Leute, die von Petrarca als diejenigen dargestellt wurden, die weit weg von dem Weg der Sonne lebten. Sie seien in einem Teil der Erde geboren, der immer unter Eis und Schnee liege, "una gente a cui il morir non dole" (R. v.f, XXVIII, 51), wie im dritten Kapitel dieser Studie geschildert wurde. Tasso erwähnt aber nur diese besondere Eigenschaft, daß sie sich nicht vor dem 7 V gl. A. Buck, Tassos ,Befreites Jerusalem', in: Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973-1980, hrsg. von B. Gutthmüller, Wiesbaden 1981, S. 180-192, bes. S. 181.

14 Boccignone

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Tod fürchten, 8 wobei er andere Anregungen Petrarcas an dieser Stelle nicht akzeptiert. Er spricht zum Beispiel nicht über den angeborenen Willen solcher Menschen, immer Krieg zu führen und immer gegen den Frieden zu sein. Weder erinnert er an das schreckliche Klima und an die kurzen trüben Tage mit wenig Licht, noch nennt er ihren Eifer "furor". Im Gegenteil: Er verwandelt eine an sich negative Eigenschaft, die mit angeborener Streitlust und Grausamkeit zu tun hat, in ein sehr positives Merkmal, indem er hinzufügt, daß diese Soldaten aus dem Norden sich nicht vor dem Tod fürchten, wenn ihr Führer es von ihnen verlangt. Bei Petrarca durfte der Übermut nur im Hinblick auf einen gerechten Krieg positive Folgen haben. Für Tasso dagegen handelt es sich um eine Eigenschaft, die in jeder Hinsicht lobenswert ist: Es handele sich um Todesverachtung, die mit diszipliniertem Mut und Hingabe verbunden ist. Das heißt, daß Tasso beim Petrarkischen Diskurs nicht nur auswählt, sondern auch kontaminiert und umdeutet. In diesem Fall zitiert er nicht treu "a cui il morir non dole", sondern kontaminiert diesen Vers mit einem anderen Vers aus der Kanzone [talia mia, in dem es um den Söldner geht, der "colla morte scherza" (R. v.j, CXXVIII, 67). Unabhängig von der Bedeutung des Verses im Kontext der Lyrik, der wahrscheinlich auf die Gewohnheit der Söldner, den Kampf nicht ernst zu nehmen und lediglich an ihren Sold zu denken, anspielt, interessiert Tasso die Idee des Scherzens mit dem Tod. "Scherza" wird durch eine Paronomasie oder etymologische Figur zu "scherno". Tasso versteht darunter, daß der Tod von mutigen und tapferen Kriegern verhöhnt werde, denn er mache ihnen keine Angst. Durch die Kontamination der beiden Petrarkischen Stellen kommt Tasso zu dem Ergebnis, daß die nördlichen Krieger so mutig seien, daß sie den Tod verspotten können. Alle negativen Konnotationen, die bei Petrarca vorhanden waren, von der Grausamkeit bis zur Untreue der Kämpfer, sind nun ausgeräumt. Daß diese schmeichelhaft dargestellten Soldaten als Menschen des Nordens zu deuten sind, zeigt auch die Fortsetzung ihrer Beschreibung: Sie erwärmen sich im Winter in geheizten Zimmern und laden sich gegenseitig zu fröhlichen Banketten ein. Es sind wieder zwei Topoi, die die nördlichen Menschen betreffen. Auch Ariost hatte in seiner ersten Satire auf diese Gewohnheiten hingewiesen, sich an den "stuffe" zu erwärmen und Wein "a inviti" in fröhlicher Gesellschaft zu trinken (vgl. Kap. 111.3.). In der Auflistung der Kreuzritter von Tasso sind jedoch alle lächerlichen und weniger schmeichelhaften Töne verschwunden. Von der unerträglichen Kälte ist keine Rede mehr; dafür rücken die angenehmen, gemütlichen und warmen Häuser, in denen die Menschen im Winter Zuflucht finden, in den Vordergrund (I, 42, 5 - 6): usa a temprar ne' ealdi alberghi il verno, e eelebrar eon lieti inviti i prandi.

8 In der Gerusalemme conquistata wird dieses Motiv noch stärker hervorgehoben (Ger. conq., 1,45,3-4: "Quindi gente ei traea ehe morte sprezza,/e non terne ineontrarla, ov'ei eomande").

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In der ersten kurzen Fassung des Epos (Gierusalemme, 98)9 hatte Tasso noch an die Kälte der Region erinnert und ausdrücklich von den "tiepide stufe" gesprochen, an denen die Leute tranken ("le colme tazze") und damit den ganzen Tag verloren ("consumaro il giorno"). In der endgültigen Fassung ist aber alles, was zum Teil negativ konnotiert war, korrigiert worden. Es soll kein Eindruck von Zeitverschwendung erweckt werden, sondern es wird festlich gefeiert. Die Aufzählung der christlichen Mächte, die einen gemeinsamen europäischen Kampf gegen den Islam führen, der das eigentliche Barbarenturn repräsentiert, wird fortgeführt, indem der Dichter sich in Richtung Norden bewegt. Er kommt auf die Flamen zu sprechen, die durch eine lange Paraphrase definiert werden, die eine ganze ottava beansprucht, wobei sie in dem Gierusalemme überhaupt nicht erwähnt worden waren. Nach dem gängigen Wissen über die Gebiete der Niederlande wird vor allem auf die Überschwemmungen der Flüsse und auf die Gefahr hingewiesen, die von dem stürmischen Ozean ausgeht (I, 43): Seguia la gente poi candida e bionda che tra i Franchi e i Gerrnani e 'I mar si giace, ove la Mosa ed ove il Reno inonda, terra di biade e d' animai ferace; egli insulani lor, che d'alta sponda riparo fansi a l' ocean vorace: I' oceano che non pur le merci e i legni, ma intere inghiotte le cittadi e i regni.

Man könnte die Behauptung, daß der Ozean ganze Städte, ja sogar Reiche verschlucke, eine Hyperbel nennen. Wir haben es aber auch mit einem literarischen Topos über den nordischen Ozean zu tun. Noch interessanter ist die Beschreibung dieses Volkes als schneeweiß und blond: Die Farben des kanonischen Modells der Schönheit werden hier in einem militärischen Kontext gebraucht, um die äußere Erscheinung einer ganzen Gruppe zu beschreiben. Diese Farben sind normalerweise im Orlando furioso und in der gesamten lyrischen und epischen Tradition das Vorrecht der schönen Frauen, seien sie aus China (Angelica), aus Afrika (Clorinda) oder sonst irgendwoher. Die Adjektive "candida e bionda" stehen für unbestreitbare Schönheit schlechthin. Weder Petrarca noch Ariost erwähnen solche Merkmale - die mehr symbolisch als realistisch zu deuten sind - wenn sie über Soldaten aus Nordeuropa sprechen. Von der Blondheit und der Hellhäutigkeit der nordischen Menschen war bei ihnen keine Rede. Tasso scheint der erste zu sein, der sich dieses poetischen Topos der Farben der Schönheit bemächtigt, um ihn auf die Menschen des Nordens zu übertragen. Damit erreicht er eine neue positive Bewertung des Nordens. lo 9 T. Tasso, Il Gierusalemme, hrsg. von G. Caretti, Parma 1993. Alle Zitate aus dem Gierusalemme folgen dieser Ausgabe, die den Reprint des Ms. Urb-Lat 413 und die Transkription des Textes anbietet. 10 In der Conquistata betont Tasso, daß diese Soldaten mit Gold geschmückt sind und mit Gold verzierte Kleider tragen. Der Vers "D'or cinge il collo, e d'or gli abiti verga" (Ger.

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Den Flamen folgt in der Auflistung der christlichen Armeen die zahlenmäßig größere Gruppe der Briten (I, 44, 3: "Maggiore alquanto e 10 squadron britanno"), die Bogenschützen sind und Leute mit sich bringen, die noch weiter nördlich leben (I, 44, 5 - 8): Sono gl'Inglesi sagittari, ed hanno gente con lor ch'e piu vi ci na al polo: questi da I' alte selve irsuti manda la divisa dal mondo ultima Irlanda.

Die Leute, die aus dem äußersten Norden kommen, das heißt, die dem Nordpol am nächsten leben, sind für ihn die Irländer. Tasso ignoriert zur Zeit der Abfassung der Gerusalemme liberata die neuen Informationen über weitere Länder in Nordeuropa, die er später in anderen Werken sehr ernst nehmen wird. Zu diesem Zeitpunkt bezieht er sich lediglich auf die Tradition, die fast nichts über Skandinavien zu berichten hat und Irland und Thule oder Island als die Inseln betrachtet, die sich am Rande der Ökumene befinden, wie es in allen mappae mundi zu sehen ist. Es muß immer ein ,Grenzland' im Norden geben, damit keine unbevölkerten, weißen Flecken entstehen. Für Tasso kommen keine Kreuzritter aus Ländern, die weiter nördlich lokalisiert sind, so müssen die typischen ,nordischen' Eigenschaften den Irländern zugeschrieben werden, da sie in die Peripherie der Ökumene gesetzt wurden. Deswegen wird von den Irländern behauptet, daß sie aus tiefen Wäldern kämen ("da l'aHe selve") und behaart und stachelig seien ("irsuti"). Ihre Insel sei die letzte Insel, die von der bekannten Welt getrennt sei ("divisa dal mondo"). Es fällt gleich auf, daß die "ultima Irlanda" den Platz der mythischen Insel Thule einund deswegen genommen hat (Verg., Georg., I, 30: "Tibi serviat ultima Thule als äußerste Grenze der Welt und Inbegriff des Nordens dient. Was sich darüber hinaus befindet, ist unbekannt. H

),

Ariost hatte einmal über die "ultima Inghilterra" (Or/. fur., X, 72) gesprochen. Abgesehen von der schrecklichen Insel "Ebuda" im Nordozean hatte er viele verschiedene Länder des Nordens ("Svezia", "Norvegia", "Tile" und die "remota Islanda") unsystematisch zusammengefaßt. Ihre Bewohner seien alle aus Höhlen ("spelonche") und Wäldern ("selve") herausgekommen und sähen wie wilde Tiere aus, da ihr ganzer Körper behaart sei [Or/. fur., X, 88-89; vgl. Kap. III.2.a)]. Für Tasso aber ist alles ganz anders: Die Iren als nördlichste Menschen überhaupt kommen zwar aus Wäldern ("selve") - in dem Gierusalemme (90) kamen sie auch aus rauhen Bergen ("aspri monti") - , aber nicht aus Höhlen. Man kann wohl annehmen, daß sie wie überall auf der Welt Häuser bauen. Es ist bemerkenswert, daß Tasso auf das imaginäre Thule / Tile verzichtet und Irland als letzte Insel der Welt nennt, die er als real existent kennt. Im ersten Fragment Il Gierusalemme war die mythische Insel neben "Ebuda" noch da. Von England hatte der Dichter sogar behauptet, es sei von wilden Leuten ("fiera gente") conq., I, 48, 1) ersetzt den Vers der Liberata "Seguia la gente poi candida e bionda" (Ger. Ub., I, 43, 1). Die Schönheit dieser Kreuzritter geht dennoch nicht verloren.

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bevölkert, die sich sehr von allen übrigen Völkern im Aussehen und in den Sitten unterschieden, weil das Land durch den stürmischen Ozean vom Rest der Welt getrennt worden sei (Gierusalemme, 89, 3 - 8 und 90, 5 - 8): segue Odoardo, a eui eommesso ha il freno l'inglese re de la sua fiera gente: gente ehe ' I mar co 'I proeelloso seno ha dal mondo divisa, e differente la feo natura ed inveeehiata usanza d'abiti, di eostumi e di sembianza. [ ... ] ... d'arehi e di fionde armati e einti di pelle ferina, da gli aspri monti e da le selve manda Ebuda e Tile e la rimota Irlanda.

Die wilden Menschen Ariosts, die den Tieren ähneln, weil sie Haare auf Brust, Hüften, Schultern, Armen und Beinen haben, werden im Gierusalemme als "cinti di pelle ferina" bezeichnet. Es ist klar, daß sie Kleider aus Pelz statt aus weichen Stoffen tragen. In der endgültigen Fassung reicht das Adjektiv "irsuti" aus, das durch die Anastrophe fast verschwindet. Für ein ausdrucksvolles Adjektiv wie "fiera" gibt es jedoch keinen Platz mehr. Kein einziges Volk, das christliche Krieger zur Verfügung stellt, und sei es auch aus dem äußersten Norden, wird erniedrigt, herabgesetzt oder gar als tierisch dargestellt. Selbst der Hinweis auf die Andersartigkeit der Sitten, der Gewohnheiten und des äußeren Erscheinungsbild dieser Menschen, die von der ,eigentlichen Welt' durch das Meer getrennt seien, unterbleibt in der Gerusalemme liberata. England, "dal mondo divisa", überträgt diese Eigenschaft auf die benachbarte Insel, "la divisa dal mondo ultima Irlanda": Das ist die einzige Spur, die von einer halben ottava bleibt, die sich damit beschäftigte, die Andersartigkeit eines nördlichen Landes gegenüber der eigentlichen Welt darzustellen. An einer anderen Stelle erwähnt Tasso drei Ritter aus Schottland, Britannien und Irland: Ebeardo, Ridolfo und Rosmondo (VII, 67,5 - 6): un di Seozia, un d'Irianda, ed un britanno, teITe ehe parte il mar dal nostro mondo

Die Entfernung solcher Länder zu Italien wird nicht verschwiegen: Sie sind von ,unserer Welt' durch das Meer getrennt. Es wird damit implizit das bestätigt, was die antiken Autoren schon immer gedacht haben: daß es jenseits des Meeres eine andere Welt gibt, eine Welt für sich. In den Worten Tassos aber klingt diese Behauptung wie eine sehr große Chance, neue, entfernte und faszinierende Welten entdecken zu können. Es ist keineswegs der Versuch, eine fremde oder gegensätzliche Welt zu verwerfen. Die Nähe zum Nordpol hat als Folge, daß die Menschen dieser borealen Regionen von Natur aus rauhe und tapfere Krieger sind. Deswegen betont Tasso in der Gerusalemme conquistata mit Nachdruck, daß sich Irland unter dem Einfluß des

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Nordpols befindet: Diese Insel ist nicht mehr nur "piu vicina al polo" als England, sondern "piu soggetta al polo". Sie soll also in größerem Maße an ,Nördlichkeit' teilhaben. Irland ist nicht mehr "ultima" wie Thule, die letzte bekannte Insel, sondern ist "estrema", am äußersten nördlichen Rande der Welt. Darüber hinaus kann es nichts mehr geben. Der Dichter weiß genau, daß diese geographische Information nicht korrekt ist, aber ihm geht es darum, die Irländer als die mutigsten und stärksten Kreuzritter darzustellen. Sie sollen also ,nordischer' als alle übrigen nordischen Soldaten sein (Ger. conq., 49, 5 - 8): Sono gl' Inglesi sagittari, ed hanno gente con lor ch'e piu soggetta al polo; questi da l' alte selve irsuti manda la divisa dal mondo estrema Irlanda.

Diese nicht vertrauten Regionen der Erde, die nicht zu ,unserer' Welt gehören, sind unter dem ,Nordpol' lokalisiert. Der Ausdruck "sotto il polo" klingt bei Tasso - im Rahmen seiner Poetik der Vielfalt - durchaus positiv und faszinierend. Sehr unterschiedliche geographische Erdteile werden unter den Nordpol gesetzt, da es Tasso nicht darum geht, geographisch präzise Beschreibungen zu geben, sondern eine phantastische Topographie des Nordens zu schaffen. Unter dem Nordpol befanden sich zum Beispiel die Regionen, die dem Reich des jungen und mutigen Dänenprinz Sveno gehörten. Es sollte daher keine Überraschung sein, daß Sveno und seine extrem nordischen Truppen ohne Angst dem Tod entgegentraten und ihr Leben opferten (I, 68, 7 - 8): prence e de' Dani, e mena un grande stuolo sin da i paesi sottoposti al polo.

,Unter dem Pol' befanden sich auch Regionen, die noch zum europäischen Kontinent gehören. Für Tasso sind die Nationalitätsbezeichnungen "tedesco" und "dano" austauschbar (VIII, 43, I), und in seinen Augen erstreckt sich die Polarregion bis zu den heutigen Landesgrenzen Deutschlands. Es kommt darauf an, ob es in seinen Diskurs paßt, ein Land als ,nördlich' zu bezeichnen, was nicht mit einer negativen Bewertung verbunden ist, im Gegenteil. Im Fall der Soldaten, die Sveno mit sich führt, bedeutet ihr Ursprung aus der Region des Nordpols, daß sie stark und tapfer sind. Die äußersten Regionen im Norden werden nicht mit topographischen Namen bezeichnet, sondern werden eigentlich nur als extrem nördlich definiert, indem man sie unter dem Himmelspol situiert. Das gilt schon als Garantie dafür, daß solche Truppen besonders kräftig sind und den Tod verachten. Bereits das Gebiet um den Rhein wird an einer Stelle als nahe dem Nordpol hervorgehoben. Dieser Fluß gilt schon als extrem nördlich, weil das Wasser im Winter friert. Mit einer Hyperbel behauptet der Dichter, daß sich dieser Fluß neben dem Nordpol befindet. Dante hatte in einer Gleichung das wie Glas aussehende Eis des zugefrorenen Flusses in der tiefsten Hölle mit der Donau und mit dem ,unter dem kalten Himmel' fließenden Don in Zusammenhang gebracht (lnf, XXXII, 23 - 28: "e sotto i piedi un lago che per gelo / avea di vetro e non d'acqua sembiante. / Non

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fece al corso suo si grosso velo / di verno la Danoia in Osterlicchi, / ne Tanai la sotto il freddo cielo"). Bei Tasso hat der Rhein, der im Winter zufriert, nichts Höllisches. Die boreale Welt scheint hier die Phantasie des Dichters in eine andere Richtung zu lenken: In einer Gleichung beschreibt er die besondere Schönheit der Mädchen, die mit Schlittschuhen sicher über das Eis gleiten. Durch seine poetische Erinnerungskraft und womöglich unbewußt greift er auf die "villana" der oben erwähnten Beschreibung des gefrorenen Sees Cocito bei Dante zurück (lnf, XXXII, 33) und verwandelt sie in anmutige und schnelle "villanelle" (XIV, 34, 1-4): Si eome soglion la vieino al polo, s'avien ehe 'I vemo i fiumi agghiaeei e indure, eorrer su 'I Ren le villanelle a stuolo eon lunghi strisci, e sdrueeiolar see ure

Einige nördliche Völker, die sich nach Ariost noch am Rande der Geschichte befanden und keine besonderen Leistungen hervorgebracht hatten, so daß ihre Soldaten leere, weiße Fahnen trugen, wie zum Beispiel das norwegische Volk, haben in Tassos epischem Werk dagegen schon eine lange und ruhmreiche Tradition vorzuweisen. Gernando ist "nato di re norvegi / che scettri vanta e titoli e corone" (I, 54, 3 - 4). Man denke nun an die haarigen Wilden aus Norwegen im Furioso und an den lächerlichen König Norwegens, der mit seinen skandinavischen ,Kollegen' wiederholt in den Schlamm geworfen wird. Die unterschiedliche Haltung Ariosts und Tassos gegenüber den skandinavischen Königreichen ist auffallend. Tasso nimmt die Idee von nördlichen Heldenvölkern ernst. Mannestum und Tapferkeit der Helden des Nordens stehen für ihn außer Frage: Nur der Hochmut kann diese großen Tugenden relativieren (III, 40, 2-4: "e Gernando, il fratel deI re Norvegio; / non ha la terra uom phi superbo alcuno, / questo sol de' suoi fatti oscura il pregio"). In der Auseinandersetzung zwischen Rinaldo und Gemando wird betont, daß der Italiener nur auf seine eigenen Leistungen setzt, während der Norweger stolz auf die lange Tradition seiner Vorfahren ist. Der Italiener bezieht sich nicht auf die ehrenvolle Geschichte seiner Familie, obwohl auch er viele edle Vorfahren hat. Sein nördlicher Rivale legt dagegen seinen Stolz gerade auf das Erbe seines erfolgreichen und berühmten königlichen Geschlechts, das schon viele Regionen der Erde unter seine Herrschaft gebracht habe (V, 16, 1-4):

e

Seeso Gemando da' gran re norvegi, ehe di molte provincie ebber l'impero; e le tante corone e' scettri regi e dei padre e de gli avi il fanno altero.

Tasso kann nicht vermeiden, Gernando, der unter dem Einfluß eines Dämonen gegen den Protagonisten Rinaldo auftritt, als "barbaro signor" (V, 17, I) zu verdammen. Das ist aber eine absolute Ausnahme. Die Größe und Würde der christlichen Reiche des Nordens wird keineswegs angezweifelt. Die Schuld des Norwegers sei lediglich der Wille, die Helden nach der Größe ihres Territoriums zu

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

bewerten. In den Augen des Prinzen eines großen und starken Reiches im Norden ist der Italiener Rinaldo folglich wenig wert (V, 19, 7 - 8: "signor d'indegno stato / signor che ne la serva Italia e nato!"). Italien ist immer noch "la serva Italia", wie zur Zeit Dantes. Italien hat keine politische oder militärische Größe, ist ein ,unwürdiger Staat'. Eventuell können einzelne Italiener persönliche Tugenden besitzen, aber die mächtigen Reiche liegen nördlicher, meint Tasso, der die Stichhaltigkeit der Vorwürfe des Norwegers anerkennt. Italien ist nun wirklich eine Sklavin geworden - nicht nur im Bewußtsein selbstkritischer Italiener, die ihre Vergangenheit kennen, sondern auch in den Augen aller nordischen Könige, die sich auf edle und ruhmreiche Vorfahren berufen können und inzwischen ihre Macht in Europa gefestigt haben. Die negative Figur des norwegischen Prinzen Gernando könnte man als Beweis für eine Kritik des Dichters am ungerechtfertigten Stolz der Mächtigen im Norden gegen das arme Italien verstehen. Man sollte aber vielmehr von einem Minderwertigkeitskomplex sprechen: Der Dichter drückt die Ängste und die Enttäuschungen eines Landes aus, das sich mißachtet fühlt, obwohl es einmal die gesamte bekannte Welt beherrschte. Italien soll sich mit der Größe der Vergangenheit begnügen. Das Gefühl der Minderwertigkeit der Italiener gegenüber den anderen Europäern kommt auch in der Episode der Rebellion Argillanos zum Ausdruck. Argillano, während eines Traumes von der Furie Aletto getäuscht und von "furor", "rabbia" und "veneno" erfüllt (VIII, 62, 4 und 6), verursacht die Rebellion aller Italiener gegen den Armeeführer ("il Franco") und seine Leute, die für den vermeintlichen Tod Rinaldos verantwortlich gemacht werden. In seinen von Wut beflügelten Worten werden die Franken zu Barbaren und Tyrannen. Sie seien treulos, gierig nach Gold und blutdürstig und darüber hinaus neidisch auf den "valore latino", der den Italienern vorbehalten sei (VIII, 63, 5 - 8; 64, 3 - 4 und 67, 7 - 8): - Dunque un popol0 barbaro e tiranno, ehe non prezza ragion, ehe fe non serba, ehe non fu mai di sangue e d'or satollo, ne terra 'I freno in boeea e 'I giogo al eollo? [ ... ]

... arder di sdegno potra da qui a mill'anni Italia e Roma. [ ... ] Deh! Chi non sa quanto al valor latino portin Goffredo invidia e Baldovino? Die Meinung, die Italiener besäßen eigentümliche Tugenden, einen eigenen unvergleichlichen "valor latino", der von ihren römischen Vorfahren stamme, vertritt Tasso nicht mehr. Er bedient sich eines Ausdrucks Petrarcas, ist aber von seinem Vorbild weiter denn je entfernt. Petrarca hatte den "valor latino" dem nordischen "furor" gegenübergestellt (vgl. Kap. 1104.). Tasso übernimmt dieses Motiv der Tradition, um es zu verurteilen. Der Begriff "valor latino" kommt in der Rede eines wütenden und neidischen Menschen vor, der unter dem Einfluß eines Dämonen

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steht, in einer Rede, die von einer Furie inspiriert wurde und selbst im Zeichen des "furor" und der "rabbia" steht. Das alte Modell der Interpretation der eigenen Geschichte und der eigenen Zeit wird damit von Tasso kritisiert. Alte Paradigmen sind in seinem Werk schon relativiert worden, wie auch der Begriff der Barbarei. lI Man kann behaupten, daß die Dimension der Nördlichkeit bei Tasso immer positiv semantisiert wird, obwohl er sich der sprachlichen Mittel der Tradition bedient, die immer ,nordfeindlich ' gewesen war. Er schafft dies, in dem er einige Charakteristika wegfallen läßt, die sich nicht umdeuten lassen, und gleichzeitig andere Charakteristika hervorhebt, die eine positive Bedeutung bekommen können, wie zum Beispiel die Tapferkeit und die Stärke der nordischen Männer im Kampf. Es ist interessant zu bemerken, daß in der Gerusalemme liberata der positiven Darstellung der Christen aus dem Norden ein abwertendes Urteil der Griechen gegenübersteht. Im Kreuzzug der westlichen Zivilisation gegen den Osten tendieren die Griechen schon nach Osten, obwohl sie theoretisch zum christlichen Lager gehören sollten. Für Tasso kämpfen Europa und Asien, aber Griechenland liegt irgend wie dazwischen. Der Dichter zeigt sich daher extrem streng diesem Land gegenüber: Das faule und feige Griechenland hätte zu Recht seine Freiheit verloren (1,51,3-8): ... or non avesti tu, Grecia, quelle guerre a te vicine? E pur quasi a spettacolo sedesti, lenta aspettando de' grand'atti il fine. Or, se tu se' vii serva, eil tuo servaggio (non ti lagnar) giustizia, e non oltraggio.

Nach der bitteren Verurteilung der Griechen - ihr Kaiser ist ,,'1 greco imperator fallace" (I, 69, 1) - wird weiter der Mut der europäischen Kreuzritter gepriesen, die an der Kampagne teilnehmen. Unbesiegte Helden, Schrecken Asiens und Blitze des Mars (I, 52, 3 -4: "invitti eroi", "terror de l' Asia e folgori di Marte") sind die Helden der Franken sowie die Soldaten aus England und Norwegen. Die Menschen aus dem Norden gehören vollberechtigt zum echten christlichen Europa. 11 Vgl. zum Beispiel das Sonett 530 für die Hochzeit der Herzogin Barbara, in dem das arme und schmerzgeplagte Italien, das von den Barbaren schon in Brand gesetzt wurde, nun den ,barbarischen' Namen der Herzogin von jenseits der Alpen ehrt. Von einer ,barbarischen' Frau - wegen ihres Namens und ihres Ursprungs - erwarten die Italiener einen Thronfolger, der über die Grenzen der antiken Welt hinaus geht. Der Dichter behauptet in der Kanzone 1221, wegen Barbara den "barbaro norne" zu lieben. Es ist nicht nur ein Wortspiel, eine modische agudeza. Für Tasso hat der Begriff "barbaro" tatsächlich seine alte negative Bedeutung verloren. Er weist in der Gerusalemme liberata erstens darauf hin, daß der Vorwurf der Barbarei gegenseitig ist. Daher wird auch der Standpunkt der Feinde vertreten: Goffredo ist "barbaro tiranno" (IX, 10, 6) in den Augen des Arabers Araspe. Zweitens benutzt Tasso das Adjektiv "barbaro" im Sinne von "nicht Grieche" und "nicht Römer" mit neutraler Bedeutung. "Barbari" sind für ihn alle christlichen Völker, die nicht zur Tradition des Mittelmeeres gehören, ohne daß damit ein abwertendes Urteil gegen sie ausgesprochen wird.

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Im Gegensatz zu den faulen und treulosen Griechen können sie die Feinde in Asien erschrecken. 12 Tasso glaubt an die klassische Klimatheorie, die unter anderem besagt, je härter und lebensfeindlicher das Land sei, desto stärker seien die Krieger, die es hervorbringt; je schöner und fruchtbarer das Land sei, desto weniger kräftig und kriegerisch seien seine Bewohner. Deswegen kommen die nördlichsten Völker so gut weg, während die Soldaten aus den heutigen französischen Städten Amboise, Blesse und Tours so weich seien, daß sie überhaupt keine Strapazen aushalten könnten (I, 62, 3 - 6):

e

Non gente robusta 0 faticosa, se ben tutta di ferro eIla riluce. La terra molle, lieta e dilettosa, simili a se gli abitator produce.

Wenn das Land "molle" ist, werden dementsprechend auch die Menschen weich sein, meint der Dichter. Die echten kriegerischen Tugenden sind den harten Menschen der Regionen mit härteren klimatischen Bedingungen vorbehalten. 13 Nach der Klimatheorie finden sich unabhängig von der geographischen Lage die Kälte und die Härte des Nordens in der bergigen Landschaft wieder. Es ist daher keine Überraschung, daß die Schweizer als Gebirgsbewohner besonders stark und tapfer sind (I, 63, 3 - 8): seimila Elvezi, audace e fera plebe, da gli alpini castelli avea raccolto, ehe' I ferro uso a far soIchi, a franger glebe, in nove forme e in piu degne opre ha volto; e con la man, che guardo rozzi armenti, par ch' i regni sfidar nulla paventi.

Selbst die Grobheit der Schweizer wird bei Tasso zu einer Tugend: Kräftige Bauern aus den Bergen hätten keine Angst, ganze Reiche herauszufordern, nachdem sie aus dem Eisen ihrer Werkzeuge Waffen für den gerechten Krieg geschmiedet hätten. Diese Leute kämen aus Burgen in den Bergen ("alpini castelli") 12 Der Kreuzzug als Krieg zwischen Europa und Asien wird in der Conquistata noch stärker betont, sowie die Gemeinsamkeiten aller europäischen Kreuzritter und die Nähe des gleichgültigen Griechenland zu Asien (Ger. conq., I, 72, 3 -4: ,,0 gran colpa! 0 vergogna! o Grecia, avesti I quelle guerre ne I' Asia a te vicine"). 13 Seipio Gentili bestätigt, daß die tapfersten Soldaten aus den rauhen und unfruchtbaren Ländern kommen und kommentiert Tassos Verse (I, 62, 5 - 6: "La terra molle, lieta e dilettosa I simili a se gli abitator produce") folgenderweise: ..Sententia verissima, e da tutti gli anti chi scrittori ceIebrata. E di qui avviene, che una terra fertile, e buona, patisce sempre mutationi degli habitatori. E pero queI gran Ciro (appresso Herodoto) essorta gli suoi Persi a non volere abbandonare il paese natio, sterile, & horrido, per habitare paese ameno, e fertile. Overo apparecchiatevi (die'egli) di non essere piu signori, ma servi: perche non e proprio d'una medesima terra di produrre frutti eccellentissimi, & huomini valorosi." T. Tasso, La GerusaLemme liberata di Torquato Tasso, con Le annotationi di Scipion Gentili, e di Giulio Guastavini, et Li argomenti di Oratio Ariosti, Genova 1617, S. 5.

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und keineswegs aus Höhlen und Wäldern wie bei Ariost, der die Grausamkeit der schweizerischen Söldner in Italien bedauerte. Ihre Treue wird auch nicht bezweifelt. In der Gerusalemme liberata sind die Schweizer Teil einer vereinten kämpfenden Christenheit, die ihren Mut und ihre Härte zu schätzen weiß. Nach der Klimatheorie sollten die Bewohner des schönen Italien keine besonderen kriegerischen Eigenschaften besitzen. Hier wird allerdings eine Ausnahme gemacht, vor allem im Namen der Ehre der Vorfahren (I, 64, 6: "il prisco onor degli avi"). Luigi Tonelli hatte sich im Jahre 1935 gefragt, ob die Gerusalemme liberata auch als ein nationales Epos ("poema nazionale") zu verstehen sei. 14 Natürlich seien viele europäische Nationen in den Kreuzzug involviert, und der Ritterführer sei letztendlich ein Franzose, aber Tonelli glaubte, im Lob an Camillo patriotische Bemerkungen gefunden zu haben (I, 64, 5 - 8): lieto ch' a tanta impresa il Ciel sortillo, ove rinovi il prisco onor degli avi, o mostri almen, ch' a la virtli latina o nulla manca, 0 sol la disciplina.

Die "virtu latina", Synonym des "valor latino", ist doch immer noch ein Begriff. Sie muß aber noch bewiesen werden, und diese angeblich spezielle Form von Tapferkeit bei den Italienern wird auch wegen des Mangels an Disziplin angeprangert. Im Gierusalemme lautete die Stelle folgendermaßen (Gierusalemme, 99): lieto ch' a tanta impresa il ciel sortillo, ove co ' 1 sangue altrui le macchie lavi nostre e di Roma 0 degnamente almenD apra cadendo a nobil morte il seno.

Da war noch keine Rede von der "virtil latina", sondern lediglich von den ,Flekken' Italiens und Roms, die ihre Ehre schon lange verloren hätten. Die ottava, die die unvergleichbare Stärke der italienischen Soldaten, begleitet von einem "orrido fragor d'armi sonanti" (Gierusalemme, 100), zum Ausdruck bringen sollte, wurde dann vom Dichter selbst einfach gestrichen. Kriegerische Tapferkeit paßt mit dem italienischen Geist nicht so recht zusammen, meint der Dichter. Sie ist eine eher nordische Tugend. Es ist nicht zu bestreiten, daß beide Helden, Rinaldo und Tancredi, Italiener sind. Aber den kriegerischen Mut besitzen diese einzelnen italienischen Führer, die sich vom Rest ihres Volkes abheben, nur ausnahmsweise. Die Soldaten, die Tancredi folgen, sind ihrem Führer nicht gewachsen, da sie aus schönen und fruchtbaren Regionen kommen (I, 49, 6-8): lasciar le piagge di Campagna amene, pompa maggior de la natura, e i colli che vagheggia il Tirren fertili e molli. 14

Vgl. L. Tonelli, Torquato Tasso, Torino 1935, S. 159.

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Dem Liebreiz, der Anmut und der Fruchtbarkeit des Landes entspricht ein Mangel an kriegerischen Eigenschaften. "Molli" sind die Hügel wie die Menschen. Die Landschaft wird damit gelobt, die Soldaten aber getadelt. 15 Wenn es um die Zeit der Völkerwanderungen geht, ist für Tasso die römische Zivilisation der Tradition der Goten überlegen. Aurelio d'Este wird ganz nach der phantastischen historischen Konstruktion der lstoria de' principi d'Este von Giambattista Nicolucci, genannt il Pigna, als der einzige Verteidiger des Römertums gegen die Goten Alarichs dargestellt (XVII, 67, 7 - 8 und XVII, 68): Poscia, quando ripassa il varco noto, a gli inviti d'Onorio, il fero goto, e quando sembra che piu avampi e ferva di barbarico incendio Italia tutta, e quando Roma, prigioniera e serva, sin dal profondo terne esser destrutta, mostra ch' Aurelio in liberta conserva la gente sotto al suo scettro ridutta. Mostragli poi Foresto che s'oppone a l'unno regnator de l' Aquilone.

Es handelt sich um die Beschreibung des Schildes, das der Magier von Ascalona Rinaldo gibt, um ihm die Taten seiner Vorfahren vor Augen zu führen. Es folgt die Prophezeiung der ruhmreichen Taten der Nachkommen der Este, um den Helden aufzufordern, den Weg der Tugend zu nehmen. Da scheint das alte Modell der Interpretation der italienischen Geschichte zur Geltung zu kommen: Auf der einen Seite steht Rom, ganz Italien, eine Zivilisation in Gefahr, auf der anderen Seite stehen die gewaltbereiten Völker, die Barbarei, Alarich, der wilde Gote, der alles in Schutt und Asche legt (XVII, 67). Dieses Modell des Kampfes um die Verteidigung einer edlen Kultur vor der blinden Grausamkeit der Barbarei wird noch deutlicher in der Gegenüberstellung des italienischen Helden Foresto und Attilas, des ,Herrschers des Nordens' ("regnator de I' Aquilone"), der der Tradition nach mit den Augen eines Drachens und dem Gesicht eines Hundes dargestellt wird. Seine Grausamkeit macht aus ihm ein Untier, das keine menschliche Stimme kennt (XVII, 69, 1-4: "Ben si conosce al volto Attila il fello, / che con occhi di drago ei par che guati, / ed ha faccia di cane, ed a vedello / dirai che ringhi e udir credi i latrati"). Attila als monströser König des Nordens stellt den Gegenpart zur geordneten römischen und christlichen Kultur dar. Nur an dieser Stelle wird der Norden 15 ToneIli - der erklären wollte, wie die Befreiung Jerusalems die Befreiung der "serva Italia" symbolisieren sollte - hatte eine "forte vena di italianita" in dem ,Europäismus ' der Gernsalemme liberata gesehen. Es ist eine verzerrte Auslegung, die die positive Bewertung der kriegerischen Tugenden der nordischen Völker übersieht und die Bewunderung für einzelne italienische Helden übertreibt. Heute kann man getrost behaupten, daß Tasso die Kreuzritter aus dem Norden ohne Vorbehalte bewundert, obschon er nicht immer den weit verbreiteten ,Gotizismus' der Heraldik des 16. Jahrhunderts akzeptiert, nach dem viele Familien des italienischen Adels gotischer Abstammung seien. Vgl ebd., S. 160.

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negativ semantisiert. Nur an dieser Stelle wird der schreckliche Nordostwind erwähnt, der als Begriff vorbelastet ist. Tasso versucht an dieser Stelle nicht, die negativen Konnotationen zu korrigieren, sondern bekräftigt sie. Es ist kein Zufall, daß Attila zur Zeit Tassos genau wie die Türken beschrieben wird: Sie wurden auch als monströse Hunde aus dem Reich des Nordwindes dargestellt. Die italienische Ehre soll sich gegen einen solchen Feind behaupten. Der "italico onor" (XVII, 70,4) wird nun gepriesen, der von den Mitgliedern der Familie im Laufe der Zeit gegen Alanen, Herulen, Langobarden, Goten und dessen König "crudo Totila" (XVII, 72, 7 - 8) bewiesen wurde. Dieses Modell des Gegensatzes zwischen der römischen Kultur und den barbarischen Volkern gilt aber lediglich für die Zeit der sogenannten Volkerwanderung und ist keine historiographische Kategorie, die spätere Epochen, gar die Zeit des Dichters erklären kann, wenn man nicht die Barbaren mit den Türken und die Römer mit allen Europäern gleichsetzt. Alberto d'Este habe unter den Germanen und dort im Sieg über die Dänen seine Tapferkeit gezeigt, so daß Otto I. ihn als Schwiegersohn haben wollte (XVII, 76). Ugone d'Este habe für den Kaiser Otto III. gekämpft: Seine Repression der Römer sei eine Heldentat gewesen (XVII, 76, 5-6: "Ugon, quel ch'a' Romani / fiaccar le corna impetuoso pote")! Es fällt auf, daß den Römern die Hörner gebrochen werden. Dieser Ausdruck wurde immer für vermeintlich barbarische, wilde, nordische Volker gebraucht (vgl. Kap. 111.3.). Die Rebellen gegen Otto III. in Rom werden von Tasso schlicht als "Romani" bezeichnet, und das ist das Überraschende. Für Tasso ist der "valor latino", der gute ,römische Samen', nicht unbedingt mit der Stadt Rom verbunden, sondern er kann in einem anderen Boden wachsen, er kann durch eine translatio nach Norden gebracht werden (XVII, 79, 7 - 8): e 'I buon germe roman con destro fato

e ne' campi bavarici traslato.

So wächst der Baum der Familie Este in Deutschland ("la gran Germania") bis zum Himmel. Der Magier von Ascalona, der in die Zukunft schauen kann, verspricht Rinaldo die an Helden reichste Nachkommenschaft (XVII, 89, 3-6): Non fu mai greca 0 barbara 0 latina progenie, in questo 0 nel buon tempo antico, ricca di tanti eroi quanti destina a te chiari nepoti il Cielo amico

Hier ist klar, daß das Wort "barbara" keine Abwertung beinhaltet, sondern lediglich die Volker bezeichnet, die nicht zur griechischen oder römischen Tradition gehören, sich aber mit ihnen auf derselben Stufe befinden und genauso viele Helden vorzuweisen haben. Die Welt der Antike ist schon durch eine ,nördliche Antike' ergänzt worden. So würde es, um der Familie Este zu schmeicheln, nicht ausreichen, größere Helden als diejenigen der Griechen und Römer zu versprechen, sondern es müssen auch die Helden des nordischen oder barbarischen Geschlechts ("progenie barbara") erwähnt werden. Das Lob auf Alfonso 11. folgt unmittelbar mit dem Wunsch, er wolle einen Kreuzzug gegen die Türken unternehmen. Da

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

wird deutlich, daß Tasso die Türken für ein Volk hält, das ungerecht, ungläubig und vor allem weniger edel und zivilisiert als die christlichen europäischen Völker ist (XVII, 93): Oh s'avenisse mai che contra gli empi che tutte infesteran le terre e i mari, e de la pace in quei miseri tempi daran le leggi a i popoli piu chiari, duce se 'n gisse a vendicare i tempi da lor distrutti e i lor violati altari, qual ei giusta faria grave vendetta su 'I gran tiranno e su l'iniqua setta!

Noch einmal konzentriert sich Tasso auf den Kampf des christlichen Europa gegen den Islam, oft als Asien gefaßt (XVI, 32, 2). In seinem Werk gibt es keine einzige Anspielung auf die Häresie aus dem Norden, die den römischen Katholizismus gefährden könnte. Es wäre in der GerusaLemme liberata durchaus möglich gewesen, die christlichen Ritter aus Nordeuropa in ein nachteiliges Licht zu rücken. Tasso hätte sie ohne Mühe als besonders grausam und wild darstellen können. Er hatte dafür fertige Formeln und poetische Vorbilder wie Petrarca zur Verfügung. Doch entschied er sich für eine durchaus positive Semantisierung der Nördlichkeit und tat alles, um die traditionellen Motive umzudeuten oder zu neutralisieren. Jedesmal, wenn er auf bestimmte Diskurse über den Norden zurückgriff, um seinen eigenen Nord-Diskurs zu gestalten, entschied sich Tasso für eine positivere Interpretation der literarischen Topoi, im Namen der Einheit Europas. 3. Imagination, Wunder, Monstren und Schönheit des Nordens in den Dialoghi Im Hinblick auf die Faszination, die der unbekannte Norden, vor allem als Welt der mirabiLia und des Zaubers, auf Tasso ausübt, und auf das Interesse, das diese entfernte Welt als Möglichkeit der Entfaltung der dichterischen Freiheit in ihm weckt, ist es wichtig, einige seiner Dialoge zu analysieren. In den DiaLoghi l6 kommt die Ästhetik des Dichters zum Ausdruck. Schon im Dialog II Nijol? kann man feststellen, daß es für Tasso eine größere Welt als die der Antike gibt. Bereits im Dialog Il Fomo overo de La nobilta, der chronologisch der erste der Dialoge ist 16 T. Tasso, Dialoghi, kritische Ausgabe hrsg. von E. Raimondi, Firenze 1958, 3 Bde, 4 tomi. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 17 Der Dialog trug am Anfang den Titel Il Gonzaga overo dei piacere onesto. Er wurde 1580 begonnen, konnte aber nie in Einverständnis mit dem Autor veröffentlicht werden (1583 wurde er von Vasalini in der Parte tena der Rime e Prose gedruckt). 1582 veränderte Tasso den Text radikal und widmete ihn Ferrante Gonzaga mit dem Titel Jl Nifo overo dei piacere.

3. Schönheit des Nordens in den Dialoghi

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(begonnen 1578 und 1581 von Perin in Vicenza gedruckt), hatte Tasso die Goten als ,Weltbezwinger' ("vincitori del mondo") bezeichnet (Il Fomo, 94). "Nobili" waren in der Antike die Römer, weil sie von den Trojanern abstammten. Nun seien die Spanier "nobili", weil sie die Goten, die die ganze Welt besiegten, als Vorfahren haben. Von den Goten oder von anderen germanischen Völkern abzustammen ist keineswegs eine Schande, im Gegenteil. Viele adlige Familien in Spanien und Italien gingen auf germanische Vorfahren zurück. Antonio deI Forno bemerkt zu Beginn des Dialogs, der nach seinem Namen betitelt ist, daß in Oberitalien viele Menschen eine sehr helle Haut haben, genau wie die Gallier, die Langobarden und die übrigen Völker, von denen sie abstammen (li Fomo, 3: "Ma in questa regione ancora gli uomini e le donne ci nascono assai bianchi: e in cio noi somigliamo i Galli Cisalpini e i Longobardi egli altri popoli da' quali deriviamo"). Viele italiener stammen also von nördlichen Völkern ab und sind stolz darauf. Sie verdanken ihren nordischen Vorfahren die schöne helle Haut. Tasso betitelt die Völker des Nordens nie als Barbaren. Im Nifo nennt Agostin Nifo, wenn es um die Möglichkeit und Gerechtigkeit einer Herrschaft der Barbaren geht, als Beispiele für barbarische Völker bedeutsamerweise die Tataren, die Äthiopier und die Inder, aber keine germanischen Stämme (ll Nifo, 126). Die Barbaren sollten gehorchen, solange sie Barbaren sind, aber es sei durchaus möglich, daß ihre zivilisierten Feinde ihre "virtu" verlieren, die dann wiederum Besitz der einstigen Barbaren würde. Dann wäre ihre Macht gerecht. Man wird zwangsläufig an den Zerfall des Römischen Reiches erinnert, der in einer Zeit der moralischen Krise durch tapfere Barbaren verursacht wurde. Tasso scheint belegen zu wollen, daß die Herrschaft der Goten nach dem Sieg gegen die Römer gerecht war. Der "onesto piacere", der im Mittelpunkt der Diskussion des Dialogs Il Nifo steht, ist der Wunsch, weltlichen Ruhm zu erlangen. Agostin Sessa erinnert an die Helden des antiken Rom, die bereit waren, ihr Leben für das Vaterland zu opfern und damit Ruhm zu erlangen. Er betont aber zugleich, daß der weltliche Ruhm zur Zeit Scipios nicht so groß war wie zum derzeitigen Augenblick, weil so viele Nationen und so viele Regionen der Welt noch nicht bekannt waren. Tassos Stolz über die größer gewordene Welt seiner Zeit, die sich nicht mehr in den Grenzen der antiken Welt befindet, kommt hier zum Ausdruck. Der Ruhm geht nun über die Grenzen der antiken Welt hinaus (Il Nifo, 178): ... ma allora, oltre che non tante nazioni e tante regioni eran conosciute quante sono ora, non era fra loro quel commerzio che si vede essere, si che la fama degli uornini illustri molto ha piu larghi ora i confini di quel ch'avesse negli antichi secoli. Schon in der ersten Fassung des Dialogs hatte Tasso, dem in Sant' Anna kaum Bücher zur Verfügung standen, gezeigt, daß er den schwedischen Autor Olaus Magnus in Erinnerung hatte. Wenn Agostin Sessa mit Cesare Gonzaga über die Kraft bestimmter Kräuter diskutiert, die die Menschen zwar nicht in Tiere verwandeln können, aber bewirken, daß sie sich vorstellen, sich in Tiere verwandelt zu haben, nennt er neben Vergil Olaus und Giovan Francesco Pico della Mirandola als Auto-

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ritäten. In dem ersten Manuskript ist diese Stelle noch nicht vorhanden. Sie erscheint aber schon in der Vasalini-Ausgabe (Il Gonzaga, 141): Ma non solo al senso allegorico avendo riguardo, Virgilio chiama l'erbe possenti, ma propriamente anco parlando puo dar1e questo aggiunto, perch'elle sono piene di mille occulte propriet8, le quali, appropriate in tempo opportuno a soggetto convenevole, posson fare mirabiJi effetti: e io ho letto nell'Historie di Gotia d'Olao Magno che gli uomini si trasformano in lupi; e in quel libro ancora che 'I signor Giovan Francesco Pico, nobiJissimo ed eruditissimo signore, scrisse delle streghe, ho letto, dico, alcuna cosa delle trasformazioni, le quali bench'io creda che realmente non si facciano, credo nondimeno che si possano fare unguenti 0 bevande le quali siano possenti a stordir l'uomo in guisa ch'egli s'imagini d'esser converso in bestia, come ne' sogni parimente puo imaginarselo.

Bei Olaus hatte Tasso gelesen, daß einige Menschen Wölfe werden konnten (Hist., XVIII, 46-47). Er glaubt, daß das durch die Kraft der Imagination ("virtu imaginatrice") geschehen könne. Dieses Vorstellungsvermögen könne phantastische Bilder erschaffen, indem es göttliche mit menschlichen und wahrnehmbare mit unsichtbaren Elementen zusammenbringt (11 Gonzaga, 161: "sempre piena di fantasmi, compone le cose divine con l'umane e le sensibili con l'intellegibili"). Der von Tasso erwähnte Giovan Francesco Pico della Mirandola, Autor des Dialogs Strix über die Hexerei, hatte auch ein Werk über die Imagination verfaßt (De imaginatione, 1501). Er vertrat gegen Pietro Bembo die Meinung, daß die Kunst über die imitatio der Natur hinausgehen sollte. Tasso spendet diesem Autor, der die imaginatio über die imitatio gestellt hatte und in den sogenannten "Antirinascimento" verbannt wurde,18 ein großes Lob. Tasso geht es darum, mit der Imagination, die vor allem dem Dichter zusteht, eine Welt der Kunst zu schaffen. Oft handelt es sich bei ihm um eine deutliche imaginatio borealis. Der Dialog, in dem die Faszination des Nordens auf Tasso stärker zum Ausdruck kommt, ist Il Messaggiero. Er wurde noch während des Aufenthaltes in Sant' Anna (1580) für Vincenzo Gonzaga geschrieben, dem Tasso später auch seine ,nördliche' Tragödie widmete. 19 Ezio Raimondi hat in Appendice die erste Fassung mit den ersten Korrekturen veröffentlicht, die in einem Manuskript in Udine erhalten sind. 18 Vgl. G. Costa, Jl subLime e iL grottesco in Gianfrancesco Pico della MirandoLa, in: Ders., Jl sublime e La magia da Dante a Tasso, Napoli 1994, S. 83 - 10 I. Das Werk De imaginatione wurde in deutscher Übersetzung veröffentlicht: Gianfrancesco Pico della Mirandola, Über die Vorstellung/De imaginatione, hrsg. und übersetzt von E. Kessler, München 1997 (1. Aufl. 1984). 19 Ende des Jahres 1582 wurde der Dialog von Bernardo Giunti zusammen mit anderen Werken des Dichters ohne dessen Einwilligung in Venedig veröffentlicht. Tasso beschwerte sich und schrieb, daß er die Absicht hätte, die Texte zu korrigieren und zu verbessern. Eine neue Fassung des Dialogs schickte er dann an Scipione Gonzaga nach Rom, der ihn an Vincenzo in Mantua weiterleitete. Vier Jahre später, nach der Befreiung aus dem Irrenhaus, wollte der Dichter den Text, von dem er keine Kopie behalten hatte, zurückhaben, um ihn weiter bearbeiten zu können. Das Buch von Giunti trägt am Rande viele zusätzliche Korrekturen des Autors aus den Jahren 1586-1587, als er das Werk des Olaus Magnus verlangte, um seine Tragödie umzuschreiben.

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Somit ist es möglich, diese Version mit der späteren zu vergleichen?O Nur in der letzten Fassung des Dialogs erwähnt Tasso die Wunder des Nordens. Es eröffnet sich eine Welt des Zaubers, die gewisse Ähnlichkeiten mit der mythischen Welt der Antike hat, aber ein ganz anderes Klima aufweist. Der Geist, der dem Dichter erscheint, beweist die Existenz von Hexen und Magiern. Es gibt dafür Geschichten, die nicht bezweifelt werden können. Einige findet man in der Heiligen Schrift oder bei den alten Philosophen, aber der größte Teil der angegebenen Zeugen stammt aus der nördlichen Tradition, aus den "cose di Settentrione", wie die Geschichten von Ragnar und Gorm (Hist., III, 12) oder die Erwähnung der Finnen, die den Seeleuten Wind verkaufen (Hist., III, 16). Diese Berichte lassen Tasso staunen (Il messaggiero, 59-60): ehe dir de le cose di Settentrione? Non hai tu letto che Regnero, re di Svezia, a guisa d'uno altro Ercole perseguitato da la matrigna, combatte con uno essercito di larve e di fantasmi notturni? E Gormone, similmente re, guerreggio con un greggie di ferocissimi mostri oltre la Biarrnia in luoghi privi d'ogni luce e per oscurissime tenebre terribili e spaventosi. E qua1e maggior maraviglia di quella d'Erico, tutto che la narrazione ne rechi tanto spavento? Aveva costui un cappello e, dovunque il rivolgeva, subitamente da quella parte spirava il vento desiderato: laonde da l'avenimento fu chiamato il cappello ventoso; i Finni il vendono a' mercanti che sono impediti dal tempo contrario: laonde non ci debbiam piu tanto meravigliar de le favole d'Omero ne le quali Eolo il rinchiude ne gli otri.

e

Im Vergleich der Stellen bei Olaus und bei Tasso, an denen von Ericus und seinem ,Windhut' berichtet wird (Hist., III, 14), hat Carlo Ossola einen wesentlichen Unterschied festgestellt: Olaus betont die Wirkung der Dämonen, Tassos Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das Wunderbare ("maggior maraviglia") als solches. 21 Guido Baldassarri, der diesen Abschnitt ("grande giunta delle cose di Settentrione") analysiert hat, bemerkte, daß der Norden für Tasso einen ,Traumraum' darstellt ("spazio di sogno"), in dem gegen alle Erwartungen teuflische Schrecken keinen so großen Platz einnehmen?2 Bilder und Träume zu schaffen gehöre zu Tassos existentiellem Zustand, es sei seine poetische Berufung. Der Norden sei dabei wie ein riesiger Behälter von unendlichen wunderbaren imagines, wobei die Empörung und der Schrecken des Olaus Magnus in Erinnerung an die Hexen, die Magier und den Aberglauben des Nordens (Hist., III) fast verschwunden seien. Das Unbekannte wirkt auf Tasso eher faszinierend als angsterregend. Baldassarri zitiert an dieser Stelle ein Madrigal, das seiner Meinung nach eine große thematische Affinität mit dem Dialog Il Messaggiero hat (Rime, 1166)23: 20 In der ersten Fassung waren verschiedene nichtorthodoxe Lehren vertreten, die dann vom Autor selbst zensiert wurden. Vgl. S. Prandi, I tre tempi deUa dialogistica tassiana, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. I, S. 297 - 308. 21 Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento. ,Idea dei tempio' dell'arte neU 'ultimo Cinquecento, Firenze 1971, S. 210 f. 22 Vgl. G. Baldassarri, Fra ,Dialogo' e ,Noctumales adnotationes'; prolegomeni aUa lettura dei ,Messaggiero', in: "La Rassegna della Letteratura Italiana", LXXVI, 1972, S. 265293.

15 Boccignone

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos Fabbrieator notturno di speranze e di sogni, non so que1 eh'io mi cerchi 0 pure agogni. Ma, s' a' raggi talor di luee vera si dilegua Parnaso, e eon Perseo Pegaso eh' aperse altrui eol piede il ehiaro fonte, e Sfinge e la Chimera e eon Edippo aneor Bellorofonte, veggio in altra montag na un vivo Lauro splender in guisa di piropo e d'auro.

Mit dem Licht der Sonne verschwindet auch all das, was mit dem klassischen Erbe verbunden ist. Alle Mythen und alle heiligen Werte der Dichtung wird der Dichter nicht mehr auf dem Parnaß, sondern auf einem anderen Berg ("altra montagna") suchen, mit dem eine neue Tradition und eine neue Dichtung entstehen werden. Tasso hat eine ,Nachterfahrung' hinter sich. Die klassische Tradition reicht offensichtlich nicht mehr aus. Deswegen verdient ein alter König von Schweden an der oben zitierten Stelle des Dialogs, an die Seite des Herkules gestellt zu werden. Der Schwede vollbrachte in weit entfernten und unbekannten Regionen vergleichbare Taten. Tasso dienen oft die nördlichen Mythen als Gegenbeweis für die Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit der klassischen Mythen Homers, die er unter einem magischen Gesichtspunkt interpretiert. Es ist eine echte Umkehrung des traditionellen Standpunkts, der den Einklang mit den klassischen Mythen betonte und von der Glaubwürdigkeit der antiken Autoren ausging, um gewisse nördliche Erzählungen als wahr zu präsentieren. 24 Tasso zufolge sollte man beispielsweise nun an die Geschichte des Eolus, der die Winde einsperrt, glauben, gerade weil man die Geschichte des Windhutes des Ericus nicht bezweifeln kann! Die Wunder des Nordens, die die Existenz der Magier bezeugen, wie zum Beispiel die Geschichten von Hagberta und Hading (Hist., III, 15) oder die des Seemagiers, der den Ozean auf einem Walknoehen überquerte, und die des mit der Magie vertrauten Piraten Oddi (Hist., III, 18) oder die von Gilbert und Kettil (Hist., III, 20), sind wiederum der Historia de gentibus septentrionalibus entnommen, das heißt aus dem zum Teil latinisierten Norden des Olaus Magnus. Daher ist es kein Wunder, wenn die Hölle das Reich von Pluto ist (Il messaggiero, 61-64): Agberta, figliuola dei gigante Vagnosto, per arte magica soleva trasformarsi in tutte le forme: e alcuna volta pareva ehe toeeasse il eie10 eon la fronte, alcuna altra, rannichiandosi, diveniva di picciolissima statura, e si eredeva ehe potesse tirar giu il eielo, sospender 23 T. Tasso, Le Rime, hrsg. von B. Basile, Roma 1994, 2 Bde. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. 24 Vgl. G. Costa, Le antichita germaniche nella cultura italiana da Machiavelli a Vico, Napoli 1977, S. 119: "le spaventose leggende germaniehe diventano la eontroprova delle leggende c1assiehe, ehe il poeta interpretava in chiave magiea, eon un interessante capovolgimento della prospettiva tradizionale."

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la terra, indurare i fonti, intenerire i monti, portar le navi sopra le stelle, precipitar gli dei ne I'abisso, estinguere il sole, illuminar I'inferno. Da un'altra maga Adingo re fu condotto sotto terra, egli furono mostrati i regni de I'inferno e i mostri ehe fanno la guardia a la reggia di Plutone. Taccio di Gruttunna, la quale acceco i difensori d' Almerico in guisa ehe volsero l' armi contra se stessi, non altrimenti ehe facessero i guerrieri usciti da' seminati denti dei serpente. Taccio le pentole riversate, commune instrumento di tutte le maghe. Taccio il mago marino, ehe passava l' oceano usando a1cune ossa incantate in vece di nave, ne superava piu tardi gli impedimenti de I'acque ch'altri faccia con le vele e co' venti. Ne ti riduco a mente Oddone, ehe fu mago e corsale similmente, e piu noceva a' nemici con I'arte magica ehe con quella d'andare in corso, ne ti ricordo Otino, vecchissimo oltre tutti gli altri incantatori, il quale condusse e ricondusse schernito il re Adingo per I'altissime onde de1 grossissimo mare; ne ti vo' ragionare di Gilberto, ehe fu legato da Catillo suo maestro. Ma non posso tacer di Nerone, il qua1e desidero di saper I'arte magica per poter a gli dei comandare com'a gli uomini signoreggiava: nondimeno non pote imparar I'arte dei mago Tiridate, quantunque gli avesse assegnato un regno.

Der Geist, der sich mit dem Dichter im Dialog unterhält, erweckt am Ende dieser langen Liste von Wundem Zweifel daran, daß die Autoren, die über die Geschichte des Nordens geschrieben haben, allgemein anerkannt werden könnten (11 messaggiero, 65): Ma tu peraventura non presterai credenza a scrittore ehe non sia conferrnato dal comune parere de le genti: onde io non ti conforto a credere di lui se non quel ehe ti detta la ragione.

In der ersten Fassung betraf derselbe Zweifel die Geschichtsschreibung im allgemeinen und nicht die Geschichtsschreibung über den Norden, da sie noch außer Betracht blieb. Die Geschichte Roms sei auf jeden Fall unbezweifelbar und genauso voll mit wunderbaren Ereignissen, die die Existenz der Magier und Hexen (und der Dämonen und Geister) beweisen. Tasso findet aber in der Geschichtsschreibung der Antike nicht so viele Beispiele wie bei Olaus. Die Wunder in der Geschichte Roms, die er bei Plutarch und Valerius Maximus bezeugt findet und auflistet, bedeuten, trotz gegensätzlicher Beteuerung, fast nichts gegenüber der Zauberwelt im Norden. Die sprechenden Statuen von Iuno und Fortuna und die rätselhaften mahnenden Stimmen, die erwähnt werden, scheinen ziemlich unzulänglich zu sein, wenn man an die zahlreichen Wunder des Nordens denkt, die er gerade beschrieben hat. Tasso erwähnt noch eine Schlange (11 messaggiero, 66: "Quel serpente ehe d'Epidauro e dal tempio di Esculapio segui volontariamente i legati de' Romani sino aRoma, ove giunto libero la citta da la peste") und zwei weiße Pferde, die in kürzester Zeit die Nachricht vom Tode des Königs von Mazedonien überbrachten (li messaggiero, 69). Die nordischen Wundergeschichten sind aber zweifelsohne vielfältiger und aufregender. Tasso glaubt zwar an die Dämonen "sostanze corporee, ragionevoli, atte apatire e immortali" (Il messaggiero, 161), akzeptiert aber nicht alle Wundergeschichten, 15*

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die tradiert worden sind, weder die der klassischen Antike, noch die der nördlichen Tradition. In der ersten Fassung des Dialogs hatte sich der Dichter für die Unmöglichkeit der Existenz von Zwittern ausgesprochen die von einem Menschen und einem Tier gezeugt würden ("cio che si dice deI minotauro, de' centauri e de le sirene, estimo io invenzion de' poeti"). Solche Schöpfungen seien lediglich Erfindungen der Dichter. In der Bearbeitung des Textes werden auch Legenden aus dem Norden, wie die des Ulff (Hist., XVIII, 30) hinzugefügt (Il messaggiero, 169): ... ne presto maggior credenza ... a quel ehe si legge ne l' istorie de le cose di Settentrione, ch'Ulfone, padre di Nugillo, da cui son derivati i re di Dania, fosse generato d'un orso.

Als der Geist verschwindet, erkennt der Dichter, daß er eine Art mystische Erfahrung gehabt hat (Il messaggiero, 262: "ma io, riscotendomi, m'accorsi che ne l' alta mia imaginatione aveva filosofato non altramente che gli uomini contemplativi sogliano ne la lor contemplazione"). Tassos Reflexion über die Schönheit im Dialog Il Mintumo macht deutlich, daß er sich von der Andersartigkeit des Nordens sehr angezogen fühlte. Er schließt in den Begriff der "bellezza" auch die Eigenschaften des Erhabenen ("sublime") ein. Seine Ästhetik sieht auch die ,Schönheit des Unschönen' vor. In dem Dialog diskutieren Antonio Minturno und Geronimo Ruscelli. Letzterer ist der Meinung, daß die Schönheit oft mit der Furcht und dem Schrecken verbunden sei, und bringt als Beispiel dafür die Schilder der Kimbern mit den Mäulern von Bären, Wölfen, Löwen und Wildschweinen, die von den modemen Armeen imitiert werden sollten (Il Mintumo, 13): ... molte volte la bellezze de I'arme e de I'imprese e congiunta co '1 terrore; laonde io vorrei ch'i nostri esserciti fossero simili a quelli de' Cimbri, i quali, come si legge in Plutarco, portavano negli scudi orsi, lupi, leoni, cinghiali e altri animali feroci: laonde somigliavano uno essercito di fiere armate da la natura medesima a spavento de' nemici. Tanto importa per mio giudicio il terrore de l'armi congiunto con la bellezza.

Die von den Römern besiegten Kimbern waren von Petrarca - in seiner berühmten Kanzone Italia mia (vgl. Kap. 1104.) - als Vertreter aller Barbaren des Nordens gedeutet worden. Bei Tasso geht es dagegen um die besondere, schreckenerregende Schönheit ihrer Kriegsrüstungen. Minturno zeigt sich überrascht, daß Ruscelli Schönheit auch in den Armeen finden kann und nicht nur in den Gärten und in den mit Marmorskulpturen und Bildern verzierten Palästen, die sich im eigenen hügeligen und fruchtbaren Land befinden. Er denkt dabei nicht an die Kimbern, aber an den Krieg und an die Armeen ihrer Zeit, wenn er vom Glitzern des Stahls, vom Rauch und Widerhall der Artillerie spricht (Il Mintumo, 14): 10 credeva ehe voi non ricercaste la bellezza, de la qual sete si vago, ne gli esserciti e fra 10 splendore de l'acciaio e il fumo e il rimbombo de I'artigliarie, ma piu tosto ne' giardini e ne' palagi ornati di marmi e di pitture, i quali si veggono in questa fertilissima piaggia e in questi amenissimi colli, in cui peraventura non si contempla alcuna imagine cosi bene scolpita 0 dipinta come son quelle c'ha formate la natura medesima.

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Die Antwort Ruscellis ist erhellend (Il Minturno, 15): La natura ha voluto dare i suoi angeli al suo paradiso .. . [ .. . ) Ma io cercava la bellezza in tutte le cose e in molte: pero ho creduta di trovarla negli alloggiamenti e fra I'imprese de' cavalieri.

Die schönen Gärten sind zwar wie ein Paradies, aber Ruscelli sucht ,Schönheit' in allen Dingen und glaubt, er habe sie auch in den Heldentaten und in den Unterkünften der Ritter gefunden. Schon 1548 hatte Paolo Pino in seinem Dialogo di pittura betont, daß Italien als Garten der Welt ("giardino deI mondo") zu genießen sei, aber die Abbildungen seiner Landschaften nicht schöner als die wilden Landschaften der "Oltramontani" seien. Die Kunst könne auch den Regen, den Schnee und den Nebel schön erscheinen lassen?S In der Zeit der Formulierung des "meraviglioso", der sowohl für die Malerei als auch für die Literatur gilt (ut pictura poesis!), hat die Schönheit mit Vielfalt ("varieta") zu tun. Mit den Emblemen wird auch Platz für die Kuriositäten und das Monströse geschaffen. Tasso erinnert daran, daß Ruscelli in seinem Buch über den Furioso Schönheit auch in dem Wahnsinn des Orlando gesehen hatte, "quando egli cosl lordo e pieno di brutture e orribile e spaventoso ne l'aspetto apparve a' suoi compagni" (11 Minturno, 16). Was ist Schönheit, und aus welchem Grunde werden einige schreckliche, grauenvolle und monströse Figuren wie zum Beispiel der Walfisch und der Schwertwal als schön empfunden? Diese Fragen stellt Minturno (Il Minturno, 18). Es ist interessant, daß Tasso als Beispiele für jene an sich unschönen Dinge, die doch ,schön' werden können, zwei geheimnisvolle Tiere auswählt, die im Ozean des Nordens leben ("la balena e l'orca") und in der Carta marina des Olaus tatsächlich als riesige Monstren dargestellt sind. Mit diesen zwei ,nordischen' Beispielen will Tasso die rätselhafte Schönheit des Unschönen deutlich machen (Il Minturno, 23): Nondimeno io non vi domandava una statua de la bellezza, ma quel che sia la bellezza, la qual puo far belle l' altre cose non belle, come la balena e l' orca.

Die Schönheit, sagt Ruscelli, sei wie eine Jungfrau, die alles mit ihrer Anwesenheit und Nähe schön machen könne. ,Schön' könnten deswegen die unterschiedlichsten Dinge sein, nicht nur die Tränen und der Schmerz aus Liebe zu dieser Jungfrau, sondern auch der Tod. Bei Petrarca schien der Tod auf Lauras Gesicht schön zu sein (Tr. Mort. , I, 172: "morte bella parea nel suo bel viso"); hier ist er tatsächlich schön, wie all die Wunden, die man aus Liebe zur Schönheit erträgt. Wälder, Berge und selbst dunkle Höhlen ("spelunche") haben das Recht, neben den Flüssen, den Quellen und den Gärten als Ausdruck der Schönheit der Natur zu stehen (Il Minturno, 23): 25 Vgl. M. Pozzi, Appunti sul ,Dialogo di pittura' di Paolo Pino, in: Regards sur la Renaissance italienne. Melanges de Litterature offerts aPaul Larivaille, hrsg. von M. Piejius, Nanterre 1998, S. 383 - 398 und C. Ossola, Autunno dei Rinascimento. .. , a. a. 0 ., S. 250.

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La bellezza ela bella vergine ehe fa belli i pensieri e l'invenzioni dei poema, belli isospiri, belle le laerime, i dolori e le passioni arnorose, bella aneora la morte e le ferite ehe per lei si sostengono, bella I' aria, la terra, i tiurni, i fonti, i giardini, le selve, le valli, i monti, le spelunehe e tutto eiD ehe le s'appressa: e a guisa dei sole illustra eon la sua luee tutte le eose vieine.

Schönheit sei etwas Wunderbares und Göttliches, das ein Staunen und ein unglaubliches Gefühl der Freude hervorrufe (Il Mintumo, 24: "un non so che di meraviglioso e di divino che n'empie di stupore e di piacere incredibile"). Angenommen, daß all das, was gefällt, schön ist, dann muß die Schönheit extrem vielfältig sein, meint Minturno. Das Schöne sei wie ein Chamäleon, das alle Farben annimmt (Il Mintumo, 51: "Pero il bello sara trasmutabile, e a guisa di camaleonte prendera diversi colori, diverse forme e diverse imagini e apparenze,,).26 Was ist aber schön an sich, schön für alle? Die Menschen könnten mit ihren Sinnesorganen nicht einschätzen, was schön ist und was nicht. Echte Schönheit sei nicht auf der Erde vorhanden, wo alles veränderlich und sterblich ist. Tasso, der schließlich die Schönheit nicht in den körperlichen Formen zu erkennen glaubt, sondern in den Seelen, die zur himmlischen patria zurückkehren sollen, kann keine genaue Definition der ,Schönheit an sich' geben. Der Dialog bietet keine fertige Formel an. Schönheit sei weder als "decoro", noch als "armonia" oder "proporzione" zu deuten. Sie könne überhaupt nicht definiert werden. Wenn sich Schönheit nicht mehr mit "proporzione" oder "splendore" gleichsetzen läßt, kann man sich nicht mehr auf den traditionellen Maßstab ("canone delle bellezze") verlassen. Giovanni Pozzi hat erläutert, wie der petrarkische Kanon schon in der Liebeslyrik Torquato Tassos revolutioniert wurde. 27 Durch Tassos Erfahrung wurde das "poetabile" erstmals entschieden erweitert. Damit bereitet er den Lyrikern des 17. Jahrhunderts den Weg. Die echte ewige und göttliche Schönheit bleibt für Tasso ein "non so ehe", ein arcanum, wie der saneta sanctorum hinter dem Schleier des Tempels. Schließlich nennen die Menschen, die sich diesseits des Schleiers befinden, all das, was ihre Sinne lockt und Gefühle hervorruft, ,schön'. 28 Die Schönheit als solche bleibt für 26 Carlo Ossola betont, daß die Schönheit, die sich ständig verändert, keineswegs ewig sein kann. Die irdische Schönheit entspricht nicht mehr dem göttlichen Archetypus, sondern ist wie Finsternis gegenüber der ewigen Schönheit. Vgl. C. Ossola, L'autunno dei Rinascimento. .. , a. a. 0., S. 145. 27 Vgl. G. Pozzi, Temi, topoi, stereotipi, in: La Letteratura Einaudi, Torino 1984, Bd. m, 1: Leforme dei testo. Teoria e poesia, S. 391-436, vor allem S. 428 ff. 28 Il Mintumo, 70: "e quantunque io non nieghi ella sia un non so che d'eterno e di divino, non so perD que1 che sia, perche, si potesse detinirsi, potrebbe aver termine; ma la bellezza de l' anima peraventura non patisce d' esser descritta 0 circoscritta dal1uoco, dal tempo, da la materia 0 da le parole, e 'I ricercame piii oltra e peraventura ardire e presunzione 0 fede troppo animosa e simile a quella di coloro che, passando dentro al velo dei tempio, entrano in sancta sanctorum. lvi si conosce, ivi si contempla, ivi solarnente si pUD sapere quel che ella sia; ma noi altri fuor dei velo andiarno rimirando le colonne e le travi di cedro e di cipresso

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die Menschen unerreichbar. Sie können aber das Schöne auf der Erde erfahren, welches äußerst vielfältig ist. In einem Carlo Gesualdo gewidmeten Madrigal ist dieses Schöne auf Erden so vielförmig, daß es mit dem Proteus verglichen werden kann (Rime, 470): Quasi Proteo novello, in varie forme si trasmuta il bello: or sembra luna, or sole, or la vermiglia aurora, or ninfa in mare, 0 qui Pomona 0 Flora; or ne le rose ed or ne le viole, ora avvien che si miri nel color de' giacinti 0 de' zaffiri; or vento pare, or fiamma, or neve 0 gelo; e pur co'l gelD infiamma.

Feuer und Kälte ("gelo") sind für Tasso gleichermaßen schön. Das petrarkische Oxymoron wird in einer wichtigen Behauptung der eigenen Ästhetik gebraucht. Selbst die Kälte sei schön und entflamme die Herzen. Man könne sich auch in die Kälte verlieben. Ebenso kann das Schöne für Tasso in der dunklen Nacht zu suchen sein. 29 Die Schönheit der unkonventionellen nordischen Landschaften der Tragödie Re Torrismondo ist damit begründet. Auch in dem letzten Dialog Il conte overo de l'imprese (1594), der die Liebe Tassos zu Emblemen und Sinnbildern beweist, findet man Andeutungen auf die besondere Schönheit des Nordens. Kurz vor Beginn des Dialogs hatte Tasso ein Werk über die Geschichte der Stadt Augsburg ("de le cose d' Augusta e de' Reti e de' Vindelici") erhalten, das ein Geschenk des Autors selbst ("il signor Marco Velsero") war. 30 Hier wird Olaus Magnus neben Plinius zitiert, weil er von Tritonen und Sirenen geschrieben hat (Il conte, 93). Der Forestiero Napolitano, der den Dichter selbst verkörpert, sagt über die möglichen Themen für Embleme, daß sie neu und fremd ("forme nuove e pellegrine") sein müssen, um Bewunderung und Erwartungen hervorzurufen; vertraute Figuren seien uninteressant. Die Elche und Wisente der tiefen Wälder im Norden, genauso wie die geheimnisvollen Wundertiere Äthiopiens, wären dafür sehr geeignet (Il conte, 140): Nondimeno noi ricerchiamo figure riguardevoli e forme nuove e pellegrine, perche le communi e le domestiche e quelle che assai spesso ci si parano davanti non muovono di se meraviglia ed aspettazione di saper piu oltre. Penetraremo dunque ne le profonde selve di odorifero, gli archi . .. chiamando bello quel ch'appare, 0 che pare piu tosto e lusinga i nostri sentimenti" . 29 Siehe auch Rime, 268: "Come sia Proteo 0 mago, / il bello si trasforma e cangia imago: / or si fa bianco or nero / in duo begli occhi, or mansueto or fero; / or in vaghi zaffiri / fa con Amor soavi e lieti giri; / or s' imperla or s' inostra, / or ne le rose ed or ne le viole / d' un bel viso ei si mostra, / or stella somiglia, or luna, or sole; / talor per gran ventura / egli par il Silenzio a notte oscura." 30 Vgl. E. Raimondi, Introduzione zu T. Tasso, Dialoghi, a. a. 0., Bd. I, S. 67.

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Germania a ricercar de l'a1ce edel bonaso edel bisonte, d'Etiopia la manticora e la catoblepa e I'altre si fatte?

0

pur ne le solitudini d' Africa e

Als der Gesprächspartner noch Zweifel hat ("Di queste non ho inteso ne letto giamai che si facesse impresa alcuna"), antwortet der Forestiero Napolitano/ Tasso, daß es auf jeden Fall möglich wäre, aus entfernten Bildern der Randzonen der Welt Embleme ("imprese") zu machen (li conte, 141: "Potrebbono peraventura farsi, e a noi basta d'aver ritrovati i luoghi"). Er erinnert dabei auch an den Delphin und den Walfisch im Nordozean. Der Dichter selbst ist wie die erwähnte Krake ("polpo"): "innamorato di gente straniera". Der von der Krake inspirierte Spruch "peregrinus amor" (II conte, 187) ist für die Poetik Tassos geeignet. Derselbe Forestiero Napolitano /Tasso hatte auch im Dialog Il Malpiglio overo de la corte (1585, gedruckt im Jahre 1587) Giovanlorenzo Malpiglio daran erinnert, daß der Hof ein Zusammentreffen verschiedener Nationen im Zeichen der Güte und Höflichkeit darstelle, die wie verschiedene Bäume seien, von denen vor allem die fremden, exotischen ("peregrini") geschätzt werden (Il Malpiglio, 66): Anzi piu tosto I' affabilita dei principe dovrebbe confortarvi, il quale non dee far differenza fra le diverse nazioni, e se pur la fa giamai, e simile a I'agricoltore, il quale, avendo piantato ben mille maniere d'alberi, fa maggiore stima de' peregrini.

Der Hof der Este war besonders offen: Schon Ercole 11. hatte viele Höflinge und Musiker aus ganz Europa eingeladen. Das heißt, viele "peregrini" lebten tatsächlich am Hof in Ferrara. Die Liebe zum Fremden und Auserlesenen hat aber bei Tasso auch einen sehr persönlichen Charakter. Wie kann man dabei vergessen, daß Tasso schon in den Discorsi delI' arte poetica "parole non comuni, ma peregrine" für den erhabenen Stil suchte? "Peregrino" als Gegensatz zu gemein, üblich, gewöhnlich, hat bei ihm immer eine sehr positive Konnotation und ist mit der Dimension des "meraviglioso" verbunden.31 Wenn jede "impresa" unbedingt bewundernswert sein soll, muß der Herzog dem Forestiero Napolitano zustimmen, daß nur das Unbekannte, das heißt die Neuheit, das Gefühl der Bewunderung hervorruft (Il conte, 245: "la novita fa maravigliare altrui"). Die Werke der Natur sind dabei bewundernswerter als die Bauwerke der Menschen (Il conte, 250): .. . in tutte I'opere de la natura ... e nascosto qua1che segno meraviglioso; laonde non e si picciolo animale che non possa muovere maraviglia, ma de l' opere artificiose non avviene forse il medesimo.

Das Gefühl der "meraviglia" wird also durch die Werke der Natur hervorgerufen. Im Gegensatz zur Natur steht die von den Menschen gestiftete Kultur. Hier kann man verstehen, wie Tasso von den besonderen, ihm nicht bekannten Natur31 .. Peregrino/pellegrino" gilt auch als Modewort, zusammen mit "maniera", der Epoche des Manierismus. Vgl. zu diesem Thema den alten Artikel von G. Weise, ,Maniera' und ,pellegrino ': zwei Lieblingswörter der italienischen Literatur der Zeit des Manierismus, in: "Romanistisches Jahrbuch", XXI, 1950, S. 321-403 und E. Raimondi, Per la nozione di manierismo letterario, in: Ders., Rinascimento inquieto, Torino 1999, S. 219-251.

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erscheinungen des Nordens fasziniert werden konnte. Er hatte keine unmittelbare Erfahrung mit solchen Naturphänomenen, sondern hatte nur von ihnen gelesen. Seine Sehnsucht nach dem Wunder, nach dem Bewundernswerten, Geheimnisvollen und Erhabenen machte ihn für die besondere ,Schönheit' der nördlichen Landschaften empfänglich. Für Tasso, der Skandinavien durch Olaus Magnus kannte, war diese Welt weiterhin eine terra incognita, die sich besonders für die Konstruktionen der poetischen Phantasie eignen sollte. Diese Welt sei ein idealer Ort für die Entwürfe seiner Vorstellungskraft. Gustavo Costa nennt Skandinavien eine Art ,gelobtes Land' der Poesie ("la terra promessa della poesia,,)32 für den späten Tasso. Der Horizont der italienischen Dichtung hat sich mit ihm und seiner Sehnsucht nach dem Fremden, Unbekannten und dem Nordischen entschieden erweitert.

4. Kreation und Negation von Nördlichkeit a) Eine ,nordische' Tragödie

Die Bedeutung der Tragödie Re Torrismondo läßt sich an ihrer Originalität und an dem enormen Einfluß, den sie auf die Nachfolger ausübte, bemessen. Marco Ariani zufolge stellt das Erscheinungsjahr der Tragödie (1587) einen Wendepunkt in der Geschichte der Gattung dar ("il 1587 e una data-spartiacque,,).33 Für den Interpreten befindet sich Tasso in seiner Experimentierlust zwischen einem ,korrosiven tragischen Manierismus' und einer ,unwiderstehlichen klassizistischen Wut' ("un manierismo tragico corrosivo", "in preda a irresistibili furori classicistici"). Vor allem die Beschreibung trüber Landschaften und der dunkle Ton der Tragödie, das heißt ihr "notturnismo", haben von jeher die Leser beeindruckt. Man sprach von präbarocker, manieristischer Kunst, die der klassizistischen Ästhetik eines Scaligero entgegenzusetzen ist. Groß ist bei Tasso die Sehnsucht nach dem Gefühl der Verwunderung, der "meraviglia". Für ihn sind gerade die Dinge interessant, die weit entfernt und verloren ("perduto", "remoto" sind Schlüsselwörter) oder erschreckend und abartig sind. In der Gerusalemme liberata ist dieser Umstand in der Darstellung der Dämonen zu finden, in der Tragödie Re Torrismondo dagegen in der Schilderung des Nordens. Tassos Poetik ist nicht mehr mit der Poetik der Hochrenaissance ("pieno Rinascimento") identifizierbar, auch weil das Natürliche und das Übernatürliche ineinander übergehen. Die Natur wird nun als freier Impuls und kapriziöse Macht, die durch die Magie beherrscht werden kann, dargestellt. 34 Wenn man den Manierismus als antiklassisches Phänomen versteht, als Geschmackskategorie, die sich gegen den Klassizismus erhebt, kann man zweifellos G. Costa, Le antichita germaniche. .. , a. a. 0., S. 120. Vgl. M. Ariani, Il discorso perplesso: "par/ar disgiunto" e "ars oratoria" nel ,Torrismondo' di Torquato Tasso, in: "Paradigma", III, 1980, S. 51-90. 34 Die Magie ist aber auch Teil der Natur im Verständnis der Zeit, wie bei Della Porta, Magia naturalia, sive de miraculis rerum naturalium (1558). 32 33

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vom Manierismus Tassos sprechen. In seiner ,nordischen' Tragödie findet man das beste Beispiel dafür. Tasso erlaubt sich, den extravaganten Norden in die Literatur einzuführen. Er sucht dabei eher die wunderbare Erhabenheit und die Vielfalt, die "maesta meravigliosa" und die "varieta", als den "decoro", höchstes Ziel der Vertreter einer orthodoxen, klassizistischen Poetik. Tasso allein ist es gelungen, im Italien des 16. Jahrhunderts einen kunstvollen poetischen Ausdruck für den Norden zu finden. Seine Quellen sind bekanntlich die Werke, die im Italien jener Zeit als die Lexika des Nordens galten: Saxo Grammaticus und Olaus Magnus. Zwischen Sommer und Herbst 1586 schreibt Tasso an Ascanio Mori, daß er für seine Tragödie unbedingt einige Bücher braucht, die er in zwei oder drei Tagen zurückgeben will (LeItere, Nr. 632: "avrei bisogno di Sassone grammatico e di Olao Magno; e renderei l'uno e l'altro fra due 0 tre giorni"). Torquato kannte diese Werke schon, die er noch einmal einsehen wollte, um seine nördliche Tragödie zu beenden. Ob Tasso die editio princeps von Saxo (Paris 1514) oder die Ausgabe aus Frankfurt (1576) zur Hand hatte, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall bekam er nun das Werk des Olaus, das er schließlich behalten wollte, weil es sowohl für eine weitere nordische Tragödie nach Beendigung des Torrismondo notwendig sei, als auch für andere Projekte, die er im Sinne hatte (Lettere, Nr. 643: ,,'llibro m'e necessario per questa, e per un'altra tragedia, e per altre rnie composizioni fatte e da fare"). Das Werk des Olaus hatte Tasso schon viele Jahre zuvor kennengelernt. 35 Er benötigte es aber erneut: nicht nur für die Tragödie Torrismondo, die er begonnen hatte, sondern auch für eine weitere, geplante Tragödie und andere Werke, die er zu jenem Zeitpunkt umarbeitete oder neu schreiben wollte. Die zweite Trägodie wurde nie geschrieben, aber es ist bemerkenswert, daß der Dichter die Geschichte der nordischen Völker des Schweden Olaus für eine noch nicht erschöpfte Inspirationsquelle hielt. Was faszinierte Tasso an den imagines boreales, die Olaus dem italienischen Publikum zur Verfügung gestellt hatte? Konnte man jene Diskurse vom Norden dichten? Und warum waren sie für die tragische Dichtung so geeignet? Zum Teil gibt Tasso selbst in den Discorsi sul poema eroico eine Antwort auf diese Fragen (Discorsi, 11, S. 109): 35 Wer der "gentiluomo", ein gewisser "messer Bernardino" war, der das Buch zur Verfügung gestellt hatte, ist unbekannt. Die Forscher sind sich auch nicht einig, ob es sich um die lateinische Historia oder um die im Jahre 1565 in Venedig erschienene italienische Ausgabe handelte. M. A. Gurovskij sprach in einem in russischer Sprache erschienenen Artikel ("Bulletin de I'Academie de I'URSS", Classe de Sciences Sociales, 1931, S. 249-257) von einem Exemplar der lateinischen Historia mit Randbemerkungen von Tassos Hand, das sich in der Bibliothek Saltykov-Scedrin in St. Petersburg befunden haben soll. Der Artikel wurde ins Italienische übersetzt und erschien in: "Studi tassiani", XXXIII, 1985, S. 110-119, gleich nach dem Artikel von G. Baldassarri, Postillati tassiani a Leningrado, in: "Studi tassiani", XXXIII, 1985, S. 107 -109. Die Annahme von Gurovskij wurde bis jetzt weder bestätigt noch widerlegt.

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Dee dunque il poeta schivar gli argomenti finti, massimamente se finge esser avvenuta alcuna cosa in paese vicino e conosciuto, e fra nazione amica, perche fra' popoli lontani e ne' paesi incogniti possiam finger molte cose di leggieri senza toglier di autorita alla favola. Pero di Gotia e di Norveggia e di Suevia e d'Islanda 0 delle Indie Orientali 0 di paesi di nuovo ritrovati nel vastissimo Oceano oltre le Colonne d'Ercole si dee prender la materia de si fatti poemi.

Aus der Poetik des "verisimile" ergibt sich als Notwendigkeit, die fabula des Epos und der Tragödie in unbekannten Regionen und bei weit entfernten Völkern zu lokalisieren. Die räumliche Entfernung, die sich mit zeitlicher Unbestimmtheit verbindet, ist eine Voraussetzung, um Geschichten und Ereignisse dank der poetischen Vorstellungskraft zu erfinden ("fingere"), ohne daß die fabula an Glaubwürdigkeit verliert. Die Handlung, die in unbekannten Ländern spielt, wird für wahr gehalten, obwohl sie Ausgeburt der freien Phantasie des Dichters ist, der sich wiederum dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit verpflichtet fühlt. Großartige Ereignisse mit adligen Personen als Protagonisten wären in Italien nicht ignoriert worden, wenn sie tatsächlich in der Geschichte eines benachbarten Volkes geschehen wären. Eine nicht-tradierte Geschichte, die in solchen Ländern spielte, würde sich gleich als erfunden verraten. Ganz anders aber ist es in den neu entdeckten Ländern Amerikas und in Skandinavien: Dort kann man aus geheimnisvollen und unbekannten Traditionen schöpfen, und der Dichter kann, ohne Angst, ,ertappt' zu werden, seine eigenen Vorstellungen einbringen. Der Norden als unbekanntes Gebiet gibt also dem Dichter eine große Freiheit. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen dem Torrismondo und der Rosmunda von Giovanni Rucellai, der schon 1516 ,barbarische' Personen in einer "tragedia regolare" eingeführt hatte. Rucellai hatte eine Episode der Geschichte der in Italien lebenden Langobarden aus dem Werk des Paolus Diaconus dramatisiert, während Tasso den Norden Europas als geheimnisvollen Raum wählt, um seiner dichterischen Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen. Tasso läßt sich von den Geschichtsschreibern des Nordens lediglich inspirieren. Er versteht sich immer als "emulo" und nicht als "imitatore" der antiken Autoren. Seine ,nordische' Tragödie ist sein eigener Beitrag, mit dem er an der aristotelischen Debatte über die Tragödie36 teilnehmen will. Es ist der Versuch, eine ,perfekte' Tragödie nach allen Regeln der klassischen Gattung und doch mit einer kühnen und neuen fabula zu schreiben. 37 Hinter der Maske des Aristotelismus 38 macht er seine 36 Die wichtigsten Etappen der Rezeption der Poetik des Aristoteles sind: die lateinische Übertragung von Giorgio Valla (1498), die bei Aldo Manuzio in Venedig erschienene Ausgabe des griechischen Textes (1508) und die von Alessandro Pazzi de' Medici besorgte zweisprachige griechisch-lateinische Edition. Gegen die lahrhundertmitte setzte mit Pietro Maggi, Francesco Robortello und Bartolomeo Lombardi die Arbeit der Kommentatoren ein, zunächst auf lateinisch, dann mit Lodovico Castelvetro (Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta, Wien 1570) auch auf italienisch. 37 Vgl. G. Getto, Dal Galealto al Torrismondo, in: Ders., lnterpretazione dei Tasso, Napoli 1951, S. 205 f. Unter dem Einfluß des Theaters Senecas hatte sich in der Tragödie des Cinquecento (Giovan Battista Giraldi Cinzio hatte 1543 in seinem Discorso ovvero lette ra

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persönliche Poetik in bezug auf die Trauerspiele deutlich, wie er es auch in den Discorsi dei poema eroico mit Hinweis auf den Text des Pseudo-Demetrius Phalereus tut. 39 Tassos erster Versuch, eine im Norden spielende Tragödie zu schreiben, wird nonnalerweise auf die Zeit zwischen 1573 und 1574 datiert, obwohl diese vom Biographen Serassi vorgeschlagene Datierung nicht bewiesen werden kann. Die erste Fassung in "endecasillabi sciolti" blieb auf jeden Fall vorerst unvollendet. Sie trug den Titel Galealto Re di Norvegia (tragedia non finita) und wurde ohne Einverständnis des Autors im Jahre 1582 in dem zweiten Teil der Rime veröffentlicht. Erst nach seinem siebenjährigen Aufenthalt im Sant' Anna-Irrenhaus nahm er die Geschichte wieder auf und brachte im Dezember 1586 seine Arbeit zu Ende: Re Torrismondo war der neue Titel, und der Verleger Giulio Guastavini lobte Tasso für die präzise Einhaltung der aristotelischen Regeln. 4o Die neue Tragödie, die als eine "sehr gewagte Verbindung zwischen einem nordischen Sagenstoff und einer Idee der klassischen Antike,,41 bezeichnet wurde, ist leider nie vollständig ins Deutsche übersetzt worden. 42 Sie ist dem Herzog von Mantua und Monferrato Vincenzo I. gewidmet, der sich um die Freilassung des Dichters bemüht hatte. Die Widmung, die auf den 18. September 1587 datiert ist, zeigt, was für ein Gattungsverständnis der Tragödie Torquato Tasso hatte. Fragen nach dem Sinn der Auswahl eines nordischen Stoffes lassen sich damit zum Teil auch beantworten. Am Anfang der Widmung steht eine allgemeine These zum Charakter der Tragödie als Gattung: Sie ist "gravissimo componimento", aber auch "affettuosissimo" und für ein jugendliches Publikum besonders ansprechend. 43 intomo al comporre delle commedie e delle tragedie Seneca über die griechischen Tragiker gestellt) ein gewisser Hang zum Makabren durchgesetzt (wie auch bei Sperone Speroni und Muzio Manfredi zu sehen ist), verbunden mit der Sehnsucht nach dem Exotischen und einer morbiden Rührseligkeit. 38 Vgl. D. lavitch, Dietro la maschera dell'aristotelismo: innovazioni teoriche nei discorsi deli 'arte poetica, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. 11, S. 523 - 533. 39 T. Tasso, Discorsi, a. a. 0., Bd. 11, S. 105: "E se gravissima la tragedia, niun'altra avrebbe maggior bisogno che la sua soverchia severita fosse temperata con la piacevolezza d'amore [ .. . ]. Laonde Demetrio Falereo nellibro suo De l'elocuzione scrisse che niuna cosa fa piu graziose le tragedie dell'amore." 40 Alle Zitate, sowohl aus der Tragedia non finita als auch aus dem Re Torrismondo stammen aus der Ausgabe: T. Tasso, Re Torrismondo, hrsg. von V. Martignone, Parma 1993. Der Text des Fragments basiert auf dem Reprint von Aldo Manuzio dem Jüngeren (Venedig 1583), während der Text des Torrismondo auf der zweiten Ausgabe von Comino Ventura (Bergamo 1587) grundet. Der Dichter zeigte sich mit allen Ausgaben unzufrieden, karn aber nicht dazu, die Tragödie nach erneuten Korrekturen mit anderen Werken in großem Format drucken zu lassen. 41 H. Wagner, Tasso und die nordische Heldensage, in: "Euphorion", VI, 1899, S. 2. 42 Siehe Appendix, Katalog der Tasso-Editionen und -Übersetzungen im deutschsprachigen Raum, in: A. Aurnhammer, Torquato Tasso im deutschen Barock, Tübingen 1994, S.365-389. 43 Vgl. T. Tasso, Re Torrismondo, hrsg. von V. Martignone, a. a. 0 ., S. 3.

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Der Stil der Tragödie ist erhaben, aber die tragische gravitas wird durch die Sentimentalität gemildert. In den Discorsi sul poema eroico bestätigt und präzisiert Tasso dieses Theoretisieren, indem er erklärt, daß die Tragödie durch das Furchtbare und das Bemitleidenswürdige Schrecken und Mitleid gleichzeitig hervorrufen muß, wobei die Annehmlichkeit der Liebe ihre Strenge mildem sollte. 44 In der Widmung des Torrismondo wird die Tragödie mit Verweis auf Aristoteles als die höchste und perfekte Gattung dargestellt, von der Tasso selbst ein durchaus aristotelisch- formell perfektes Exemplar anbieten will ("la tragedia per giudizio di Aristotele ne l'esser perfetto supera ciascun altro"; "A V. Altezza dunque, ch'e perfettissimo principe, dedico e consacro questo perfettissimo poema"). Dem Herzog wünscht Tasso eine Art Katharsis und Glück und Wohlstand, während alle Sorgen und jedes Unglück, die durch Nebel, Wolken und Schatten metaphorisiert sind, in den grauenvollen, von Ungeheuern und Geistern bewohnten äußersten Norden verbannt werden sollen: E piaeeia a Dio di seaeciar lontano da la sua easa ogni infelicita, ogni tempesta, ogni nube, ogni nebbia, ogni ombra di nemiea fortuna 0 di fortunoso avenimento, spargendolo non dico in Gozia, 0 in Norvegia, 0 'n Suezia, ma fra gli ultimi Biarmi, e fra i mostri e le fiere e le nottume larve di quella orrida regione, dove sei mesi de I' anno sono tenebre di perpetua notte. 45

Die Regionen, die zitiert werden, befinden sich am Rande der bewohnten Erde und gefährlich nahe an der äußersten Grenze der Welt. Der extreme Norden ist das Unbekannte und das Reich der Monstren und Alpträume. Dorthin kommt alles, was man verdrängen oder beseitigen will. Das besondere Merkmal dieser "orrida" Region, in der die Menschen zusammen mit wilden Tieren, Geistern und Schatten leben, ist die Finsternis der sechs Monate andauernden Nacht. Schon Tacitus hatte über die Gefahr "horridi et ignoti maris (Germ., 3) berichtet: "orrido/a" Genes Wort kommt übrigens in der Sprache Petrarcas kein einziges Mal vor) wird für Tasso zum geläufigsten Adjektiv, um die Landschaft des Nordens zu charakterisieren. Es ist beinahe ein terminus tecnicus, der in der Gerusalemme liberata immer mit der dämonischen Dimension verbunden ist. Obwohl die geographischen Kenntnisse enorm gewachsen sind (oder gerade deswegen?), kann man im Norden am Ende des 16. Jahrhunderts noch eine geheimnisvolle Region der Finsternis am Ende der Welt finden. Die mittelalterlichen Kommentatoren des Buches Jeremia (XXXI, 8: "Ecce ego adducam eos de terra aquilonis/ Et congregabo eos ab extremis terme H) sahen darin die Versprechung einer universalen Erlösung. Auch der Norden, äußerste Grenze der Menschheit und der Hoffnung, sollte schließlich erlöst werden. So wird bei Tasso der am weitesten entfernte "Settentrione" das letzte H

44 Vgl. T. Tasso, Discorsi, a. a. 0., Bd. 11, S. 102: "Muovono I'azioni tragiehe I'orrore e la eompassione, e dove manehi il miserabile e 10 spaventoso, non sono piii tragiehe" und S. 105: "E se gravissima e la tragedia, niun'altra avrebbe maggior bisogno ehe la sua soverehia severita fosse temperata eon la piaeevolezza d'amore." 45 T. Tasso, Re Torrismondo. hrsg. von V. Martignone, a. a. 0., S. 5 f.

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Gebiet, das man mit dem eigenen Ruhm erreichen kann, das heißt auch die letzte Herausforderung, das letzte Ziel: ... ma se le poesie ancora hanno la rea e la buona sorte, come alcuno ha creduto, questa essendo di mia divenuta sua, pub sperare lieta e felice mutazione, e fama perpetua, ed onore, e riputazione fra gli altri componimenti, perehe la memoria de la cortesia di V. Altezza sia immortale, ed intesa e divolgata per varie lingue ne le piu lontane parti dei Settentrione.

b) Vom Galealto zum Torrismondo: eine literarische ,Nordisierung' auf der Suche nach dem Erhabenen Jacques Goudet versuchte, in einem im Jahr 1966 erschienenen Aufsatz zu verdeutlichen, daß, obwohl Tasso in der Beschreibung der Sitten und Bräuche der nordischen Völker der Historia de gentibus septentrionalibus von Olaus Magnus folgt, sich die Handlung der Tragödie Re Torrismondo eher auf das Werk von Johannes Magnus zurückführen läßt. 46 Obwohl es keinen Torrismondo gegeben hatte, der eine ähnliche Geschichte wie der Protagonist des Dramas erlebt hatte,47 war Tasso von Torismundus, dem vierunddreißigsten exterior rex der Goten, fasziniert. Er sei ein König gewesen, der, nachdem er in seinem Volk viele Hoffnungen geweckt hatte, verfrüht starb. Das hatte nach Johannes Magnus den Ruin eines ganzen Volkes zur Folge gehabt. Dieses Schicksal bildete den anregenden Stoff für eine Tragödie, den Tasso mit größter Freiheit und Phantasie bearbeiten konnte. So übernahm Tasso auch den Namen des Sohnes von Torismundus, Geremundus (Germondo).48 Goudet hat auch die Geschichte der Tragödie mit der Episode des Enricus disertus und Alvilda, Prinzessin von Norwegen, bei Johannes Magnus verglichen und mehrere Gemeinsamkeiten gefunden. 49 Davon unberührt aber bleibt, daß die fabula des Torrismondo vor allem Ausgeburt der Vorstellungskraft des Dichters ist. 50 46 Vgl. J. Goudet, Johannes et Olaus Magnus et l'intrigue de 'Il re Torrismondo', in: "Revue des etudes italiennes", XII, 1966, S. 61-67. 47 Vgl. ebd., S. 61-67. 48 Vgl. ebd., S. 63. Goudet schreibt: "l'independance fantastique du Tasse est grande: il accueille les suggestions, les developpe, les melange, les telescope". 49 Vgl. ebd., S. 64 ff. 50 Das erste Fragment der Tragödie des Nordens Torquato Tassos kann man folgendermaßen zusammenfassen: Galealto, König von Norwegen, wirbt anstelle seines Freundes Torrindo beim schwedischen König um die Prinzessin Alvida in der geheimen Absicht, sie dann Torrindo zu übergeben. Letzterer kann es nicht selbst tun, weil er mit Alvidas Vater verfeindet ist. Das für die nördlichen Sagen typische Thema der Brautwerbung wird so von Tasso interpretiert und wiedergegeben. Während der Reise nach Norwegen bricht ein heftiger Sturm aus, Galealto und Alvida werden in einen femen Hafen getrieben und verbringen eine Nacht zusammen. Das Mädchen, das sich für Galealtos künftige Frau hält, zeigt ihm ihre Liebe. Von der Leidenschaft getrieben verführt er sie, wodurch er sein Versprechen gegenüber dem Freund nicht einhalten kann. Eine Notlösung könnte gefunden werden, wenn Rosmonda,

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Tasso, der sich nicht lediglich als imitator rerum, sondern als artifex versteht, läßt sich zwar von den Geschichtsschreibern Olaus und Johannes Magnus anregen, ist aber nicht auf der Suche nach der historischen, sondern nach der universellen, psychologischen Wahrheit. 5l Der nördliche Diskurs, den Tasso entwickelt, setzt sich in diesem Rahmen fort. Die Originalität des Torrismondo liegt darin, daß die Anerkennung für die Protagonistin Alvida ein Betrug ist. Ihre Haltung ist eine Neuerung im Hinblick auf die klassische Tragödie. 52 Die neuere Kritik zu Tassos einziger Tragödie eröffnete Giosue Carducci 1894 mit einem Beitrag in der Nuova Antologia, dessen erster Satz lautete: "Sie ist kein Wunder" ("Non e un portento"),53 und doch war die Tragödie Re Torrismondo zu Galealtos Schwester, die genauso schön wie Alvida ist, der Hochzeit mit Torrindo zustimmte. Rosmonda aber will Jungfrau bleiben. Dennoch läßt sie sich schließlich von der Königinmutter zur Hochzeit überreden. An diesem Punkt hörte Tasso einmal auf. Die Protagonisten der Tragedia non finita wurden dann umbenannt: Galealto, König von Norwegen, wurde zu Torrismondo, "re di Gotia", und Torrindo wurde zu Germondo, "re di Suezia" (etwas nördlicher des Reiches "Gotia"). Die Protagonistinnen Alvida und Rosmonda behalten in der endgültigen Fassung ihre Namen: Die erste erinnert an die Alvilda der Geschichten der Brüder Olaus und Johannes Magnus, die zweite an die Rosmunda der ,barbarischen' Tragödie Rucellais. Alvida ist aber nun Prinzessin von Norwegen und Rosmonda lebt diesmal in Gotland mit ihrem vermeintlichen Bruder Torrismondo. Die neuen Rollen lassen die langen Reisen auf See realistischer erscheinen. In der vollendeten Tragödie ist der schwedische Germondo mit dem König von Norwegen verfeindet, weil er während eines Turniers seinen Sohn (und Bruder Alvidas) getötet hat. Torrismondo verführt Alvida, wodurch er sein Versprechen gegenüber dem Freund Germondo nicht mehr einhalten kann. Würde Rosmonda der Hochzeit mit Germondo zustimmen und Germondo den Tausch akzeptieren, könnte Torrismondo seine Alvida, die ihn leidenschaftlich liebt, weiter bei sich behalten. Rosmonda jedoch möchte lieber als Amazone leben. Sie weiß, daß sie nicht die wahre Schwester von Torrismondo ist, und möchte Jungfrau bleiben, auch um ein Gelübde ihrer leiblichen Mutter zu erfüllen. Später wird auch Torrismondo - durch einen Boten - erfahren, daß in Wahrheit Alvida und nicht Rosmonda seine Schwester ist: Die zwei wurden von Torrismondos Vater vertauscht, weil ein Orakel ihm prophezeit hatte, er habe von seiner Tochter Unglück für seinen Sohn zu erwarten. Alvida, deren Name ursprünglich Rosmonda war, wurde noch als Kind von Piraten entführt und dem König von Norwegen gebracht, der ihr den Namen seiner verstorbenen Tochter Alvida gab und sie als Tochter erzog. Das alles will Alvida aber nicht glauben. Die Originalität der Tragödie liegt darin, daß die Agnition (Anerkennung) für die Protagonistin ein Betrug ist: Sie denkt, daß Torrismondo alles erfunden hat, um sie loszuwerden, und glaubt, er wolle sie aus Gründen der Staatsräson dem König von Schweden überlassen. Zutiefst verletzt begeht sie Selbstmord. Ihr verliebter Bruder Torrismondo folgt ihr kurz darauf in den Tod. 5l Vgl. M. Di Capua, Torrismondo e Hamlet, due "eroi" del dramma moderno, in: "Esperienze letterarie", XXIII, 3, S. 53. Zu Tassos Neuerungen gegenüber der Poetik des Aristoteles im Hinblick auf die Tragödie vgl. C. Musumarra, Il ,Re Torrismondo' di Torquato Tasso e il superamento della tragedia cinquecentesca. in: Ders., La poesia tragica italiana nel Rinascimento, Firenze 1972, S. 137 -163. 52 Es wurde lange nicht bemerkt, welche Folgen diese merkwürdige Haltung hat. Vgl. zu diesem Thema P. Mastrocola, Tasso e la teoria della tragedia, in: Torquato Tasso e l'Universitd, hrsg. von W. Moretti und L. Pepe, Firenze 1997, S. 284-288. 53 G. Carducci, Il Torrismando, in: Ders., L'Ariosto e il Tasso, Edizione Nazionale delle Opere, XIV, Bologna 1962, S. 305 - 350.

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seiner Zeit ein großer Erfolg, denn sie erlebte in weniger als fünf Monaten zwölf Auflagen. Aufgeführt wurde sie aber nur zweimal, 1618 im Teatro Olimpico in Verona und 1697 im Teatro San Luca in Venedig. Es wurde sogar - trotz der gegensätzlichen Beteuerungen des Dichters54 - angenommen, Tasso hätte die Tragödie zum lesen und nicht für die Szene geschrieben. Genau das Gegenteil ist aber von Marzia Pieri55 überzeugend bewiesen worden: Re Torrismondo, ein Werk von höchstem Anspruch ("opera di prima grandezza"), wurde für die Bühne verfaßt ("un testo nato per la rappresentazione"). Im Banne des abwertenden Urteils Carduccis, der nur einzelne Szenen und vor allem den Schlußchor schätzte, stand die Mehrzahl der nachfolgenden Interpreten bis mindestens Mitte der siebziger Jahre. 56 Auch Giovanni Getto, der 1951 Re Torrismondo mit der ersten, Fragment gebliebenen Fassung im Rahmen einer critica delle varianti d'autore verglich, blieb im Prinzip derselben Meinung. In den letzten Jahren ist das Interesse für die Tragödie größer geworden, und die meisten Kritiker sind sich einig, daß der Torrismondo die originellste und schönste Tragödie des 16. Jahrhunderts ist. Sie verzichtet auf jegliche Maschinerie und baut lediglich auf einen lyrischen, erhabenen Stil, auf die Darstellung einer unkonventionellen, geheimnisvollen, nordischen Welt. In der Literaturkritik gilt sie als die Tragödie des Kontrasts zwischen Freundschaft und Liebe: Im Namen der Freundschaft,57 die durch gemeinsame Reisen und gefährliche Abenteuer entstanden ist, begeht Galealto / Torrismondo die erste Sünde: Er lügt Alvida und ihren Vater an, um die Frau für seinen Freund zu werben. Re Torrismondo ist auch die Tragödie der unmöglichen Liebe: Die Leidenschaft wird von Anfang an als "furor" bezeichnet und als Sünde erlebt, noch vor der Erkenntnis, daß Alvida und Torrismondo Geschwister sind. Die stürmische Leidenschaft zwingt sie, sich zu lieben; Alvida ist schuldig, weil sie vor der Hochzeit geliebt hat, Torrismondo, weil er die Frau verführt hat, um die er für seinen Freund und nicht für sich selbst geworben hatte. Das Motiv der inzestuösen Geschwister fand Tasso in der Tragödie seines ehemaligen Lehrers in Padua Sperone Speroni, Canace e Macareo (1542), aber er wollte, daß der Inzest nicht bewußt geschieht. Re Torrismondo ist aber in erster Linie eine ,nordische' Tragödie, die erste der italienischen Literaturgeschichte. Tasso ist der erste Dichter, der seine Tragödie 54 Vgl. den Brief an Luca Scalabrino vom 4. Dezember 1586 in: Torquato Tasso, Lettere, hrsg. von C. Guasti, Bd. III, Napoli 1857, S. 95. 55 Vgl. M. Pieri, Interpretazione teatraie dei ,Torrismondo', in: "La Rassegna della Letteratura Italiana", XC, serie VIII, 3, 1986, S. 397 -413. 56 Raffaello Ramat zum Beispiel nannte den Torrismondo "tragedia sbagliata" und sprach von einem "episodio fondamentale nella storia dei "suicidio poetico" dei Tasso". Vgl. R. Ramat, II Re Torrismondo, in: AA. VV. Torquato Tasso, Milano 1957, S. 365. 57 Getto meinte aber, daß das Gefühl der Freundschaft Tasso grundSätzlich fremd sei ("L'amicizia e fondamentalmente un sentimento estraneo al Tasso, che non esce mai dalla sua solitudine"). Deswegen könne er dieses Gefühl nicht überzeugend ausdrücken. Vgl. G. Getto, Interpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 245.

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bewußt in Nordeuropa spielen läßt, und man kann mit Gewißheit sagen, daß dies keine unbedeutende Neuerung ist. Für Raffaello Ramat war es der Versuch, ganz in Einklang mit dem Geist der Renaissance, der modemen Welt klassische Würde zu verleihen, aber letztendlich sei diese Tragödie nur ein Beispiel von dekadentem Klassizismus ("classicismo decadente"), interessant an sich, aber erfolglos. 58 Ganz anderer Meinung sind die modemen Interpreten, die ihre Aufmerksamkeit mehr auf die bewußt konstruierte nördliche Stimmung der Tragödie gelenkt haben. Die Phantasie des Dichters wird durch dunkle Landschaften erregt, die eine symbolische Dimension haben, da sie den trübseligen inneren Landschaften der Menschen entsprechen. 59 Tasso, der seine Tragödie ja nach dem klassischen Kanon der Antike zu verfassen sucht, ist sich der Neuheit des Stoffes bewußt, den er präsentiert. Ettore Paratore verstand den Torrismondo als Höhepunkt des Kults der geographischen Erudition und des Exotismus, der mit Giambattista Giraldi Cinzio begonnen hatte. 6o Zwar hatte Jahrzehnte vor Torquato Tasso Giraldi Cinzio in Ferrara die "tragedia regolare" reforrniert,61 indem er unter anderem fabulae aus der Tradition der Ritterromane (oder gar erfundene, "finte") für seine Dramen ausgesucht hatte. Giraldi Cinzio hatte auch einige seiner Tragödien "con lieto fine" in England, Irland oder Österreich spielen lassen (Antivalomeni "in Londra ", Arrenopia "in Limerico, citta nobile d'Hibernia", Epitia "in Ispruche, citta de la Magna"), aber er hatte keineswegs die Besonderheiten der Landschaft oder der Sitten dieser Völker hervorgehoben oder sie als ,nordisch' präsentiert. Im Gegenteil, er hatte diese entfernten, unbekannten Regionen der Welt nicht charakterisiert und genauso wie Ägypten oder Persien behandelt. Bei Giraldi kann man von oberflächlichem Exotismus sprechen, bei Tasso auf keinen Fall. Ihm ist klar, daß eine Neuerung der Tragödie durch die Einführung von erfundenen Personen und unkonventionellen Stoffen nicht erreicht werden kann, wenn dann die antiken Griechen zu pedantisch nachVgl. R. Ramat, Lettura dei Tasso minore, Firenze 1953, S. 113. Die Geographie der Tragödie Galealto zeichnet sich sofort durch ihre Besonderheit aus. Giovanni Getto stellte die nordische, trübe und nebelige Landschaft Tassos den meist sonnigen mediterranen Ländern und dem zauberhaften femen Orient Ariosts gegenüber. Vgl. G. Getto, Interpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 213. 60 Vgl. E. Paratore, Nuove prospettive sull'influsso dei teatro classico nel '500, in: AA.VV., Il teatro classico italiano nel '500, Atti dei Convegno, Roma 9-10 febbraio 1969, Roma 1971, S. 40. Zum Schluß der Orbecche rechtfertigte der Dichter seine Entscheidung, eine Tragödie mit neuem Stoff und neuen Namen zu schreiben: "Ne mi dei men pregiar perch'io sia nata I da cosa nuova, e non da istoria antica, I che chi con occhio dritto il ver riguarda, I vedra che senza alcun biasmo lece I che da nuova materia, e novi nomi I nasca nuova tragedia" (ebd., S. 45). 61 Vgl. C. Musumarra, La riforma giraldiana e l'Orbecche, in: Ders., La poesia tragica italiana nel Rinascimento, a. a. 0., S. 93 - 111. Raffaello Ramat verweist nicht nur auf Giraldi, sondern auch auf andere Dramen mit ritterlichem Stoff: Guidoccios Mathilda, Zinanos Almerigo und De Cesaris Romilda. Vgl. R. Ramat, Il Re Torrismondo, in: AA. VV., Torquato Tasso, Milano 1957, S. 386. 58

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geahmt werden. Das Ziel der Kritik Tassos ist wahrscheinlich Giraldi Cinzio, der sich für seine Tragödien fiktive Namen und exotische Rahmen ausgesucht hatte und doch in der Verflechtung der Struktur dem griechischen Muster zu treu gewesen war. So hatte die Tragödie sowohl die "auttorita", die die historischen Berichte mit sich bringen, als auch die "novita", die Neuigkeit, verloren. Tasso möchte aber diesen Fehler nicht begehen: Mit seinem Torrismondo möchte er etwas Neues schaffen und gleichzeitig einen Stoff präsentieren, der historisch glaubwürdig erscheint; er möchte für sein Werk sowohl die "auttorita" als auch die "novita".62 Im Re Torrismondo ist die Dimension des Exotismus vorhanden, erscheint hier jedoch nicht oberflächlich. Sie hat bei Tasso wichtige Folgen und eine tiefere Bedeutung, die zu analysieren ist. 63 Mit dem altnordischen Stoff entscheidet sich Tasso, eine Gechichte zu erzählen, die nicht nur außerhalb der klassischen Welt spielt, sondern auch außerhalb der christlichen Welt. Das bedeutet eine entschiedene Erweiterung des Horizonts und führt letztendlich zu einem neuen Verständnis des Begriffs der humanitas. Schon der Titel Galealto Re di Norvegia (Tragedia non finita) muß zu seiner Zeit eine besondere Stimmung evoziert haben, da Norwegen als unbekanntes nördliches Land in den Ländern am Mittelmeer als Synonym für Finsternis galt. 64 Das Gefühl für die nördliche Natur ist im Galealto noch ziemlich vage, aber mit dem Torrismondo gelingt es Tasso, der nördlichen Landschaft genauere Konturen zu geben. Die Toponomastik wird reicher: Er verwendet "Arana" (Y. 99) statt allgemein "Suezia", den Hafen von "Calarma" (Y. 104) statt ,die Häfen Norwegens', während der König von "Gotia" nicht mehr ,aus seinem Reich', sondern aus "Olma" (Y. 146) kommt. 65 Die Namen sind nicht unbedingt korrekt - Calarma oder Talarma soll eine falsche Abschreibung der eigenen Randbemerkung sein66 - aber sie dienen trotzdem dazu, unbekannte und bis dahin namenlose Länder zu veredeln 62 T. Tasso, Discorsi, a. a. 0., Bd. I, S. 5 - 6: "novo non potra dirsi quel poema in eui finte sian le persone e finto I'argomento, quando pero il poeta l'avviluppi e distrighi in quel modo ehe da altri prima sia stato annodato e diseiolto; e tale per avventura e aIcuna moderna tragedia, in eui la materia e i nomi son finti, ma 'I groppo eeosi tessuto e eosi snodato eome presso gli antichi Greei si ritrova, si ehe non vi e l' auttorita ehe porta seeo I'historia, ne la novitli ehe par ehe reehi la finzione." 63 Vgl. G. Da Pozzo, DaU' ,Aminta' al,Torrismondo': manierismo costruttivo e coerenza tragica, in: AA. VV., Dal Rinaldo aUa Gerusalemme: il testo, la favola, Atti deI Convegno Internazionale di Studi "Torquato Tasso quattro seeoli dopo", Sorrento, 17-19 novembre 1994, hrsg. von D. Della Terza, Sorrento 1997, S. 85. 64 Vgl. G. Getto, Interpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 214. Getto verweist auf A. Castro, Noruega sfmbolo de la oscuridad, in: "Revista de filologia espafiola", VI, 1919, S. 184-186 und L. Spitzer, La Norvege comme symbole de l'obscurite, in: "Revista de filologia espafiola", IX, 1922, S. 316-317. 65 Vgl. Tragedia non finita, 76,86 und 137. 66 Vgl. B. Basile, Un decennio di studi tassiani (1970 -1080). Poesia, retorica e filologia, in: "Lettere Italiane", XXXIII, 1981, S. 418 (Fußnote).

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und die Stimmung des weit entfernten Nordens zu erwecken. 67 Die sogenannte couleur locale nimmt somit an Stärke zu. Die Umschreibung und die Vollendung der Tragödie ist ein Prozeß, den man ,literarische Nordisierung' nennen könnte. Die Beispiele dafür sind zahlreich. Eines ist schon in der ersten Szene des Galealto zu finden, die wie eine pathetische ouverture die Tragödie in medias res beginnen ließ, da es keinen Prolog gab. Nachdem Alvida behauptet hatte, sie könne nicht sagen, wovor sie eigentlich Angst habe (Tragedia nonfinita, 27-28: "Quel ch'io tema non so. Tem'ombre e sogni / E un non so che d'orrendo e d'infelice"), erzählte sie der Amme, welch schreckliche Alpträume sie in der Nacht davor gehabt hatte. Unter anderem erinnerte Alvida an die inzestuösen Geschichten der Antike (Tragedia non finita, 38-43): ... e quanti lessi Mai ne I' istorie, 0 in favolose carte, Miseri avvenimenti e sozzi amori, Tutti s'offrono a me. Fedra e Giocasta Gl'interrotti riposi a me perturba, Agita me Canace

In der endgültigen Fassung will Tasso auf die klassischen tragischen Figuren von Frauen, die sich liebend schuldig gemacht haben, verzichten. Sie werden durch die Königinnen der Goten ersetzt oder besser gesagt, durch die Steingräber dieser ,edlen Königinnen' des Nordens, aus denen ein Riese herauszukommen scheint (Y. 42-45): Or da le tombe antiehe, ove sepolte L' alte regine fur di questo regno, U seir gran simolacro e gran rimbombo Quasi d'un gran gigante

Alvida ist durch imaginationes malae erschüttert. Ihre Krankheit ist dieselbe wie die des Dichters, das heißt der vitium corruptae imaginationis, die Melancholie. In derselben Rede erzählte die Prinzessin im Galealto, wie sie sich in den Junge verliebt hatte, und darüber hinaus, wie sie während der Seereise von einem Sturm überrascht wurden, wie sie Zuflucht fanden und sich noch vor der Ankunft im Reich des Bräutigams liebten. In der zweiten Fassung fügt aber der Dichter ein bedeutendes Element hinzu: Alvida verliebt sich in Torrismondo, König "de' fieri Goti" (Y. 64) und die Verlobung folgt. Sie hätte sich aber gar nicht mit ihm verloben dürfen, da sie ihrem Vater feierlich versprochen hat, nur den Mann zu heiraten, der zuvor den Tod ihres Bruders gerächt haben würde. Tasso wollte diese Änderung, um die Liebe Alvidas von Anfang an als schuldig bezeichnen zu können, ohne die inzestuösen Geschichten der Antike als Suggestion zu erwähnen, aber vor allem um das Thema der Fehde (Y. 73: "aspra vendetta"), die eine so große Rolle in seinen nördlichen Quellen spielte, einzuführen. 67 16*

Vgl. G. Getto,/nterpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 213 f.

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Es bleibt zu bemerken, daß die Fehde nicht ausbricht. Wenn man mit dem Vergleich der zwei Abfassungen der Tragödie fortfährt, stellt man fest, daß Tasso seinen Text eindeutig und auf verschiedene Art und Weise zu ,nordisieren' versucht, die grausamsten Elemente, die er einbringt, jedoch sofort relativiert werden. Somit wird der nordische Raum nicht mehr als hart und grausam oder gar ,barbarisch' dargestellt, sondern als ein Raum, in dem es große Veränderungen gegenüber der Vergangenheit gegeben hat. Mit der ,Nordisierung' des Textes versucht Tasso gleichzeitig, die ,Besänftigung' des Nordens zu erreichen. Im Galealto wurden die Reisen der Freunde Galealto und Torrindo folgendermaßen beschrieben (Tragedia non finita, 307 -312): Seeo i Tartari erranti e i Mosehi i' vidi Abitator de' paludosi eampi, Gli uni Sarmati egli altri, e i Rossi egli Unni, E de la gran Gennania i monti e i lidi, E in somma ogni paese ehe si giaeeia Soggetto a i sette gelidi Trioni.

In der endgültigen Fassung Re Torrismondo geht es aber weiter (Y. 349-354): Seeo a I' estremo gli ultimi Biarmi Vidi tomando, e quel si lungo giomo A eui sueeede poi si lunga notte, Ed altre parti de la terra algente ehe giaeeia a' sette gelidi Trioni Tutta lontana da 'I eammin de 'I sole.

Die ,Nordisierung' des Textes ist hier eindeutig: Die Protagonisten sehen nicht nur die umherziehenden Tataren, die die sumpfigen Felder bewohnen, die Sarrnaten, die Russen, die Hunnen und die Berge und Strände des großen Deutschland. Bei der Rückkehr aus den äußersten Regionen der Welt treffen sie auf die letzten "Biarrni" im Norden, und es wird auf die sechsmonatige Licht- und Dunkelheitszeit verwiesen, indem man von jenem langen Tag redet, dem dann eine lange Nacht folgt. Auch andere Teile des frostigen Landes, das ,unter den sieben eisigen Thronen' liegt, werden erwähnt. Tasso schreibt seine Tragödie erfolgreich um. Nach Gettos Meinung hat er hier die Beschreibung der extrem nördlichen Landschaft perfektioniert. 68 Das Interessante dabei ist aber, daß er es nicht durch persönliche Beobachtungen erreicht hat, sondern lediglich durch literarische Echos. Den letzten Vers - "tutta lontana da 'I camrnin deI sole" (alles sehr weit entfernt von dem Weg der Sonne) - hat er von Petrarca ohne jegliche Veränderung übernommen (R. v.J, XXVIII, 48; vgl. Kap. 11.3.). Raffaele Manica hat bemerkt, daß das Theater mit Tasso lyrisch wird ("il teatro si fa lirico"). Dieser Prozeß, die Sprache Petrarcas für dramatische Texte zu gebrauchen, sei durchaus bedeutsam ("portare Petrarca a teatro e operazione lin68

G. Getto, lnterpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 217.

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guisticamente significativa,,).69 Noch interessanter ist die Tatsache, daß Tasso es schafft, durch Petrarldsche Zitate und Anspielungen seine Tragödie zu ,nordisieren'. Viele weitere Beispiele für die ,literarische Nordisierung', die Tasso vollzogen hat, können gefunden werden. Torrismondo, der sich wegen seiner Schuld vor seinen Mitmenschen in einer Höhle verstecken möchte, spricht nicht mehr von einem "speco" in dem "Caucaso gelato" (Tragedia non finita, 218 - 219), sondern von einer "rupe" oder einem "antro / Riposto e fosco d'iperborei monti" (Y. 260-261) und von einer von Piraten bewohnten "orrida spelunca" (Y. 262). A1vida, die sich im Galealto wie zarter Reif auf einem sonnigen Hügel verzehrte (Tragedia non finita, 110-111: "mi struggo / come tenera brina in colle aprico"), ist in der zweiten Fassung als zarter Schnee beschrieben (Y. 124). Die literarische Metapher ist genauso traditionell, paßt aber besser zu der gesamten nördlichen Stimmung der Tragödie. Auch die Episode des Sturms bekommt erst im Torrismondo eindeutig nördliche Züge, während sie in der ersten Fassung (Tragedia non finita, 487 -496) noch eine Imitation Vergils (Aen., I, 81 ff.) war. Fortuna und das widrige Schicksal, mit der Liebe verschworen, rufen einen starken Wind hervor, der Regen mit sich bringt, Hagel und blinde, nur mit schwachem Licht und grauenvollen Blitzen vermischte Finsternis. Der Wind bringt die Wellen durcheinander, zerstreut die Schiffe in dem unermeßlichen Schoß des Meeres und treibt das Schiff mit Galealto und Alvida gegen den Strand. In der ersten Fassung reichen ein paar Verse, um die Stimmung des Sturms zu evozieren. Im Torrismondo dagegen beschreibt Tasso den Sturm in 55 Versen (Y. 501-556). Echos aus Seneca und Dante, zusammen mit mehreren amplijicationes und variationes, werden hinzugefügt. Der Wind wird ,Tyrann des Meeres' genannt (Y. 506: "deI mar violento empio tiranno"), die Verben, die seine Aktion beschreiben, vermehren sich (Y. 505-507: "che quanto a caso incontra intorno avolge, / Gira, contorce, svelle, inalza e porta / e poi sommerge"). Es werden die Winde aus den vier Himmelsrichtungen (Y. 510: "ed Aquilone ed Austro"; Y. 512: "E Zefiro con Euro urtossi in giostra") anstatt des einen Windes erwähnt (Tragedia non finita, 488: "fiero turbo"). Der Dichter führt auch Ungeheuer ein, die an die Untiere der Carta marina von Olaus Magnus erinnern (V. 525 - 526: "Ed apparver notando i fieri mostri / Con varie forme"), und dazu riesige Baumstämme, die während der vergangenen Stürme umgefallen sind und im Wasser verfaulen (Y. 532 - 533: "le travi smisurate, e sovra / Il mar sorgenti in piu terribil forma"; vgl. Hist., II, 10). Darüber hinaus erinnert der Dichter an die in der Carta marina gezeichnete "Horrenda Caribdis" (Y. 542: "l'empia Caribdi") und an die gefährlichen Felsen, die sich unter dem Wasserspiegel befinden (Y. 535: "ciechi sassi") und so von den Seeleuten nicht gesehen werden können (Hist., II, 27). Wälder und Höhlen, tiefe Täler und Abgründe sind nach Olaus im Ozean des Nordens zu finden (Y. 522 - 524: "voragini s' aprir, valli e caverne; / E tra l' ac69 R. Manica, Su ,Aminta' e ,Torrismondo', in: "Italianistica", XXIV, 1995, S. 417. Für die übernommenen Verse aus den R. vf vgl. auch C. Incanti, Dal Galealto al Torrismondo, in: "Mi sure critiche", VIII, 1978, S. 102 f.

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que apparir foreste e selve / Orribilmente, e tenebrosi abissi"). Der Sturm gleicht einer unerwarteten Nacht, die das Sinnbild der Hölle ist (Y. 516 - 517: "Una improvisa nacque orribil notte, / Che quasi parve un spaventoso inferno"). Schließlich läßt Tasso die Protagonisten Zuflucht in einem Hafen finden, der die Form eines Kriegshelms hat und vor Winden und Stürmen schützt, aber in dem viel Blut vergossen wurde (V. 550-553), wie Olaus berichtet (Hist., 11, 27). Ein interessantes Detail sind die Hochgebirge, die immer schneebedeckt und deshalb weiß sind (Y. 537 -538: "a le basi di montagne alpestri, / Sempre canute"), wo das Meer brüllt und tost, während jede große Welle die andere schlägt und sie in weißen Schaum verwandelt. Donadoni hatte kein Verständnis für die ausführliche Beschreibung des Sturmes gehabt: Sie sei völlig absurd, psychologisch nicht akzeptabel, weil es nicht zu erwarten ist, daß Torrismondo mit seinem schrecklichen Schuldgefühl über das Meer und den Himmel redet. 70 Wenn man von dem Versuch Tassos absieht, Nördlichkeit dichterisch zu gestalten, könnte man vielleicht Donadoni Recht geben. Wenn es aber, wie ich denke, wirklich darum geht, eine nördliche Stimmung zu erzeugen, dann hat Tasso das Ziel meisterhaft erreicht. Ein anderes Beispiel für die ,literarische Nordisierung,71, die in dem Übergang von der Tragedia non finita zum Torrismondo stattfindet, ist in dem neuen Charakter der Rosmonda zu finden. Im Galealto wünschte sie sich ein Leben in Einsamkeit, sie wollte als Jungfrau in einem Kloster in Ruhe leben, weit entfernt von der weltlichen Pracht.72 Sie beklagte sich, zu viel von jener Befleckung um sich herum zu haben, die die Seele behindert, und wollte in die bescheidene Armut einer Zelle fliehen. Sie dachte an die kleine Nonne, die früher als die Morgenröte wach ist und den ewigen Herrn besingt und lobpreist, wenn die heiligen Glocken klingen. Alles das ist aber im Torrismondo nicht mehr zu finden. Giovanni Getto konnte nicht überzeugend erklären, was mit ihr geschah und warum diese Stelle in der endgültigen Fassung so radikal verändert wurde. Er bedauerte, daß das jungfräuliche Profil Rosmondas in der vollendeten Version verlorengegangen war ("E si edetto di Rosmonda edel suo profilo verginale, che tutta70 E. Donadoni, Torquato Tasso. Saggio critico, Firenze 1963 (1 Aufl. 1928), S. 402: ..quella descrizione non potrebbe essere piu fuori di luogo, non potrebbe essere piu assurda, psicologicamente, piu repugnante all'atteggiamento di chi e per narrare un proprio enorme misfatto, e non puo che essere raccolto tutto in esso." 71 SeIbst die ewig weißen Hochgebirge gibt es schon bei Seneca (Phaed., 7 - 8: "colIes / semper canos nive Rhiphaea "). 72 Tragedia non finita, 925 - 933 und 944 - 951: ..10, che da la Fortuna a1zata fui / A quella altezza ehe piu iI mondo ammira, / E son detta di re figlia e sorella, / Quanto ho intorno, ohime, di quella macchia / Ed impedisce un'a1ma! Oh, come lieta / Da gli agi miei, da 'Ilusso e da' diporti, / Da questo regal fasto e da le pompe / De' sublimi palagi, io fuggirei / A I'umil povem di casta cella!"; ..La monacella al suon di sacre squille / Desta previen I'aurora, ed umilmente / Canta le lodi dei Signore eterno;/ Poscia in onesti studi e ' n bei diporti / Con le vergini sue sacre compagne / Trapassa I'ore, insin che '1 suon divoto / La richiami di novo a' sacri offici / Oh quanto invidio lor si dolce vita!".

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via nella tragedia finita si sciupa per dar luogo a tratti piu incerti,,).73 Giuseppe Venturini, der das Werk von Tassos Freund Orazio Ariosti untersucht hat, kommt dagegen zu einem ganz anderen Ergebnis: Tasso habe beschlossen, seine Tragödie in der Zeit vor der Christianisierung der nordischen Völker spielen zu lassen,14 so wie Orazio Ariosti sein Epos Alfeo. Die Ursprünglichkeit der nordischen Völker werde somit besser bewahrt. Tatsächlich will Rosmonda in der letzten Fassung der Tragödie nicht mehr Nonne werden, sondern einfach ,frei wie ein Vogel' sein (Y. 1040: "come augel libero e sciolto"). Diese drückt sich in einem sehr erhabenen Stil aus. Sie behauptet nicht mehr, von Fortuna auf jene Höhe gehoben worden zu sein, die die Welt am meisten bewundert, sondern spricht von der ,günstigen Brise der edlen Fortuna' (Y. 1033: "D'alta Fortuna aura seconda"), die sie auf die ,erhabenste Höhe' gehoben (Y. 1034: "alzo ne la sublime altezza") und ,in den Schoß der würdigsten Herberge der unbesiegten und glorreichen Könige' gelegt hat (V. 1035 -1036: "E mi ripose nel piu degno albergo / De' regi invitti e gloriosi in grembo"). Im Gespräch mit der Königinmutter erklärt sie, daß sie nicht gegen die Hochzeit ist, weil sie den Schwierigkeiten, die mit der Ehe verbunden sind, entkommen will. Ein edlerer und reinerer Wunsch ziehe sie zum jungfräulichen Leben hin. Eigentlich hätte sie sich ein Leben als Kriegerin gewünscht. Sie weiß, daß die Amazonen aus ihrem berühmten und kalten Land kamen (Hist., V, 28 - 33), und obwohl es nicht mehr möglich ist, wie in der Vergangenheit Kriege zu führen, will sie zumindest als Jägerin leben. Die erste Fassung der Tragödie blieb nicht deswegen unvollendet, weil die Zustimmung Rosmondas zur Hochzeit psychologisch unbegründet war, wie Getto vermutet hatte. Venturini weist zurecht darauf hin, daß die Motivation der Zustimmung auch im Re Torrismondo dieselbe bleibt: Rosmonda will ihrem Bruder und ihrer Mutter gehorchen. 75 Der Dichter hat aber eine wesentliche Veränderung eingeführt, indem er die Bilder eines Klosters verschwinden ließ, um Platz für geeignetere Vorstellungen eines jungfräulichen Lebens im heidnischen Norden zu schaffen. Die Zelle des Klosters (Tragedia non finita, 933: "casta cella") wird zu einem abgelegenen und einsamen Ort mitten in der Natur (Y. 1041: "verde chiostro"; V. 1302: "solitaria chiostra"), und die Nonne in spe wird zu einer kriegerischen nordischen Amazone. Die Zeiten der wahren kämpfenden Frauen sind jedoch vorbei. Rosmonda kann weder ihre Haare durch einen glänzenden Helm bedecken noch einen Schild, der wie reines Silber durch das Licht des Mondes aussieht, tragen. Sie kann nicht mit der einen Hand ein großes Roß bremsen und mit der anderen das Schwert und den Speer schwingen, wie es in der alten Zeit wilde Frauen aus ihrem kalten und G. Getto, Interpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 245. Vgl. G. Venturini, 11 "Torrismondo", in: Ders., Saggi critici. Cinquecento minore: O. Ariosti, G. M. Verdizzotti e illoro influsso nella vita e neU 'opera dei Tasso, Ravenna 1969, S. 146 f. 75 Vgl. ebd., S. 147. 73

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berühmten Land gewöhnlich taten, die Krieg gegen weit entfernte Reiche führten. Dennoch wird sie als Nachfolgerin der antiken Kriegerinnen auf der Jagd pfeile werfen und Bogen schießen. Sie wird ungebunden leben ähnlich einem freien Hirschweibchen in einer einsamen Rodung und nicht wie ein einzelner Ochse in einem schlecht beackerten Feld?6 Rosmonda wird in eine nordische Jägerin verwandelt, und das geschieht durch eine Sprache, die sich nicht von der lyrischen Tradition abkoppelt (man denke nur an die "libera cerva", und auch "chiostra" gibt es bei Petrarca, R. v.j, CXCII, 8: "ombrosa chiostra"). Viele für die nordischen Völker typische Bräuche, die Olaus Magnus in seiner Historia beschrieb, kommen nur im Torrismondo vor, weil sie erst in der Fortsetzung des Fragments erscheinen, und zwar nach der zweiten Szene des zweiten Aktes, nachdem Rosmonda trotz ihres Widerwillens der Hochzeit zugestimmt hatte. Folgendermaßen werden die Spiele beschrieben, die man für die Hochzeit organisieren würde: Die Ritter würden nach den Traditionen des Landes (Hist., I, 23) eine riesige Schneeburg - ein großes und hohes Schloß aus kaltem und hartem Schnee mit einer Mauer ringsum, einer Befestigung und vier stolzen Türmen - bauen, die sie dann verteidigen oder angreifen (Y. 1385 -1393): Ora a voi, eavalieri, a voi mi volgo, Gioveni arditi. Altri sublime ed alto Drizzi un caste! di fredda neve e salda, E 'I coroni di mura intomo intomo. Faccian le sue difese, e faccian quattro Ne' quattro lati suoi torri superbe, E da candida mole insegna negra Dispiegandosi a I' aure al ciel s' inalzi, E vi sia chi 'I difenda e chi I' assalga.

Andere Spiele, die auch von Olaus Magnus beschrieben wurden (Hist., XV, 23), sind das Rennen von pfeilschnellen Rossen und nordischen Tieren auf Eis und Schnee und der Schwert- und Feuertanz (dort, wo inmitten der extremen Kälte ein Feuer aus Fichtenholz flackert, knistert und prasselt, sollen sich die Jungen in einer großen Runde um das Lagerfeuer drehen, bis der letzte in die lodende Flamme fällt, nachdem die Kette auseinander gebrochen ist). Die Tiere aus dem Norden, deren Namen nicht erwähnt werden, haben ganz besondere Eigenschaften: Sie sind nun gezähmt, waren aber einmal wild; sie haben ein großes, langes 76 Torr., 1285 - 1303: "Ma piu nobil desio, piu casto zelo / Me de la vita virginale invoglia. / Ed a me gioveria lanciare i dardi / Tal volta in caccia, e saettar con I' arco, / E premer co' miei gridi i passi e 'I corso / Di spumante cinghiale, e tronco il capo / Portario in vece di famosa palma, / Poiehe non posso il crin d'e!mo lucente / Coprirmi in guerra, e sostener 10 scudo / Che luna somiglio di puro argento, / Con una man frenando alto destriero, / E con l'altra vibrar la spada e l'asta, / Come un tempo solean feroci donne / Che da questa famosa e fredda terra / Gia mosser guerra a' piu lontani regni. / Ma se tanto sperare a me non Ieee, / Almen somigliero, sciolta vivendo, / Libera cerva in solitaria chiostra, / Non bue disgiunto in male arato campo".

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und knorriges Geweih und können im Rennen die Winde und den Lufthauch besiegen (Y. 1425 -1440): Ed altri salti arrnato al suon di tromba

o di piva canora, or presto or tardi,

Facendo risonar nel vario salto Le spade insieme, e sfavillar percosse. Altri dove in gran freddo il foco accenso De gli abeti riluce, e stride, e scoppia, Con lungo giro intorno a lui si volga, Si ehe l'estremo caggia in viva fiamma, Rotta quella catena, e poi risorto Da' compagni s'inalzi in alto seggio. Altri la dove il giel s' indura estringe Condurra i suoi destrieri quasi volanti. Ed altri a prova su 'I nevoso ghiaccio Spinga or domite fere, e gia selvagge, C'hanno si lunghe e si ramose corna, E vincer ponno al corso i venti e I' aura.

Auch diese Stelle, an der Torrismondo mit Angst und Besorgnis auf Germondo wartet und dabei so viele für die Nordländer typische Spiele beschreibt, entsprach für Donadoni durchaus nicht der psychologischen Wahrheit. Die Beschreibung der vielfältigsten und neuesten Spielen sei ein leeres Gerede. 77 Aber noch einmal geht es für den Dichter darum, die ganze Tragödie zu ,nordisieren', und das ist möglich, indem er Anregungen aus dem Werk des Olaus nutzt und eine poetische Überset zung des für ihn und für sein Publikum typisch Nordischen anfertigt. Die Spiele sind nicht absolut neu, wie Donadoni glaubte, sondern kommen aus dem Norden und müssen aufgelistet und beschrieben werden, damit ein vollständiges Bild dieses unbekannten Raums entstehen kann. An diesen Stellen kann man sehen, wie Tasso arbeitet, wenn er ,Nördlichkeit' erzeugen will. Ein weiteres Beispiel für den Versuch Tassos, ,nördliche' Dichtung zu erzeugen, ist in der langen Rede des schwedischen Königs zu finden. Germondo bekennt mit mehreren Hyperbeln seine Freundschaft zu Torrismondo (Y. 1641-1655): ... Dal freddo Carro Mover prima vedrem Vulturno ed Austro, E spirar Borea da I' ardenti arene, E 'I sol fara I' occaso in Oriente, E sorgera da la famosa Calpe E da I' altra sublime alta colonna, Ed illustrar d' Atlante il prima raggio Vedrassi il crine e la superba fronte, 77 E. Donadoni, Torquato Tasso ... , a. a. 0., S. 402: "col terrore e collo smarrimento ehe ha nell'animo alla prossima venuta di Germondo, e contro ogni verita psicologica ehe Torrismondo pensi a bandire pubbliche feste, e, soprattutto, ehe spenda circa un centinaio di versi a enumerare e a descrivere i piu varii e nuovi giochi."

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos EI' ocean nel salso ed ampio grembo Dara I' albergo oltre il costume a I' Orse, E torneranno i fiumi a' larghi fonti, E i gran mostri deI mare in cima a' faggi Si vedran gir volando, 0 sopra a gli olmi, E co' pesci albergar ne I'acqua i cervi, pria che tanta amicizia io tuffi in Lete

Diese höchst stilisierte Rede und der durch maßlose Rhetorik gesteigerte Ausdruck der Freundschaft ist nicht bloß absurdes, leeres Gerede, wie Eugenio Donadoni glaubte. Er wollte die Tragödie als "opera di un ex-poeta" abtun. 78 Es handelt sich hier um adynata von ganz besonderer Art, die Tasso in seiner dichterischen Freiheit kreiert. Das Durcheinander der Himmelsrichtungen wird als adynaton präsentiert. Der Verwechslung des Nordens mit dem Süden (durch das Blasen des Nordwindes und des Südwindes in die falsche Richtung) entspricht die Verwechslung des Westens mit dem Osten (durch den umgekehrten Weg der Sonne im Himmel). Im weiten Ozean werden die Sterne des Nordens versinken, die sonst immer über der Horizontlinie bleiben. Auch die Fische und die Seeungeheuer bezeugen, daß Tasso sich bemüht, ,nordische adynata' zu bilden. Marco Ariani spricht von einer nordischen Emblematik von ausgeprägter ikonischer Wirksamkeit ("emblematica ,nordica' di prepotente icasticita iconica,,).79 Die declamatio Germondos mit dem intensiven Gebrauch des adynaton hat mit dem Streben nach der gravitas, nach einem "parlar grande", nach einem genus sublime und vehemens zu tun, ebenso wie an anderen Stellen der Gebrauch des Oximoron, vor allem in dem topischen metaphorischen Feld aus der petrarkischen Tradition der Kälte / Frost ("gelo") und Wärme/Feuer ("calore", "fuoco").so Der Landschaft des Torrismondo ,romantische Züge' zuzusprechen ist nicht korrekt. Doch haben viele Interpreten der nördlichen Natur dieser Tragödie, mit dem Kontrast zwischen extrem hohen Bergen und dunklen, tiefen Tälern, Eis und Schnee, Wind und Nebel, riesigen Seen und Sümpfen, Gewässern und abgelegenen Inseln, wild und zugleich melancholisch, solche ,romantischen Züge' zugesprochen. sl Wichtig ist aber, daß man das betont, was zu Tassos Zeit als ,nordisch' galt Vgl. ebd., S. 402 und S. 412. Vgl. M. Ariani, li discorso perpiesso: 'parlar disgiunto e ,ars oratoria' nei Torrismondo di Torquato Tasso, in: ,,Paradigma", 111, 1980, S. 67. 80 Vgl. E. Minesi, Osservazioni sui linguaggio dei ,Torrismondo', in: "Studi tassiani", XXVIII, 1980, S. 77. 81 Ezio Raimondi kommentierte den Versuch vieler Literaturkritiker, Tasso als Präromantiker zu definieren, mit der Bemerkung, Tasso sei gerade einer von jenen Dichtem, die die Anachronismen fördern ("e uno di quei poeti che favoriscono gli anacronismi"). E. Raimondi, Rinascimento inquieto, a. a. 0., S. 75. Der angenommene Romantizismus Tassos ist nach Ferruccio Ulivi als das antiklassizistische Phänomen des Manierismus zu deuten: ,,11 cosi detto ,,romanticismo" tassiano (a volerne parlare) si avvera nell'attimo in cui il poeta sfugge alle maglie della costrizione estetica, morale, stilistica deI sistema rinascimentale, e si abbandona a un'inquietudine e ad un "disordine" dove sembra gia d'intravedere le forme piu 78

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(und der Text des Olaus ist eine summa dafür), und nicht das, was für den heutigen Leser in einer gewissen Art ,nordisch' klingt. Das Interesse Tassos für die Landschaft des Nordens ist sicher nicht vergleichbar mit der Liebe der romantischen Dichter. Es ist bemerkenswert, daß Tasso auf den traditionellen loeus amoenus zurückgreift, wenn es ihm tatsächlich darum geht, die Schönheit der Natur darzustellen, zum Beispiel, wenn Rosmonda die Höhle der Nymphen (fatales sorores bei Olaus Magnus) beschreibt. Hier bemüht er sich überhaupt nicht um die Beachtung des Wahrscheinlichen (Y. 2318 - 2327): Appresso un antro ehe molte sedi ha di polito sasso, E di pumiee rara oseure eelle, Dentro non sol, ma bei teatro e tempio, E tra pendenti rupi alte eolonne, Ombroso, venerabile, seereto. Ma lieto il fanno I' erbe, e lieto i fonti, E I' edere seguaei e i pini, e i faggi, Tessendo i rami e le perpetue fronde, Si eh'entrar non vi possa il ealdo raggio.

Carducci mochte diese Stelle, weil sie seinem klassisch orientierten Geschmack entsprach, aber es ist bedeutsam, wie dieser schattige loeus amoenus zur gesamten Stimmung der Tragödie in Widerspruch steht, vor allem dort, wo gesagt wird, daß das immergrüne Laub der Bäume, die ihre Zweige verflechten, den warmen Sonnenstrahl nicht eindringen läßt (Y. 2327: "Si ch'entrar non vi possa il caldo raggio"), das heißt, die Höhle vor der Hitze schützt. Tasso hatte wahrscheinlich einen Vers von Ovid in Erinnerung (Her., XII, 67 -68: "Est nemus et pieeis etfrondibus illicis atrum; / Va illue ralJiis solis adire lieet") und scheute sich nicht, ihn in einem Text zu verwenden, der ohnehin voll klassischer Echos ist, vor allem Vergils und Ovids. Parallel zum Prozeß der ,literarischen Nordisierung' der Tragödie verläuft eine Prozedur des Umschreibens im Sinne einer Hebung des Stils. 82 Der Stil des Torrismondo ist mehrfach erhabener als der vom Galealto: ,ihr' ("voi") ersetzt ,du' ("tu"), um ein einfaches Beispiel zu nennen. Die Amme nannte Alvida ,Tochter und Herrin' oder sogar ,meine Seele' (Tragedia non finita, I und 112: "figlia e signora mia", "Alvida, anima mia"), in der zweiten Fassung aber nur ,Königin' oder ,große Königin' (Y. 125: "Regina"; V. 1: "alta Regina"). Wenn Galealto über seinen Vater sciolte dei gusto barocco." F. Ulivi, 11 manierisma dei Tasso e altri studi, Firenze 1966, S. 259 f. 82 Marco Ariani identifiziert den Stil der ganzen Tragödie, fortwährend durchdrungen von dem Gefühl des Dilemmas, mit dem rhetorischen abruptum semwnis genus, der auch die Ungewissheiten der alltäglichen Rede wiedergeben kann, als ein "parlar disgiunto". Der Stil des Trauerspiels ist auch semw sublimis, soll aber weniger erhaben ("meno magnifieo") als der Stil des Epos sein und auch manchmal im Rahmen der medietas bleiben. Vgl. M. Ariani, 11 discorso perplesso . .. , a. a. 0 ., S. 69.

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sprach, sagte er ,lieber Vater' (Tragedia non finita, 296: "caro padre"), Torrismondo spricht ihn als ,edler Vater' (Y. 335: "nobil padre") an. Die Adjektive "alto" und "sublime", die groß, edel, erhaben bedeuten, kommen immer häufiger vor. So war Torindos Haus von dem Boten als ,Heim' (Tragedia nonfinita, 815: "magione") oder metonymisch als ,Mauer' (Tragedia non finita, 832: "mura") bezeichnet worden, im Torrismondo aber geht es um die ,goldene Herberge' (Y. 922: "l'aurato albergo") und den ,berühmten edlen Königspalast' (Y. 935: "la famosa e nobil reggia"). Der Prozeß der ,Nordisierung' und der Hebung des Stils laufen also parallel. Der Versuch, das Nordische zu konturieren, oder, wenn man so will, die Suche nach dem Nordischen bedeutet für Tasso primär die Suche nach dem Erhabenen. 83 c) Die Chöre des Torrismondo: der Norden vom alter orbis zum Paradigma unserer (einzigen) Welt Es ist interessant, den Prozeß zu untersuchen, durch den Tasso eine entfernte Gegenwelt in einen Ort verwandelt, in dem für die ganze Menschheit paradigmatische Ereignisse geschehen. Das wird am deutlichsten, wenn man die fünf Chöre der Tragödie in ihrer Entwicklung analysiert. Die traditionellen mirabilia sind schon in der Widmung der Tragödie in einen Raum verlagert worden, der sich weiter nach Norden erstreckt ("Biarmia"). Die fiktive Geschichte der Goten als nördliches Volk soll dagegen ein Diskurs über den Menschen sein. Es wird sich gleich herausstellen, daß der Norden kein geographischer Raum ist. Die Dimension der Nördlichkeit wird dagegen profiliert, um eine neue, erweiterte Anthropologie auszudrücken, die über die klassische humanistische Anthropologie hinausgeht. Die Chöre, für die der Dichter die Kanzone als metrische Form wählt, bedeuten eine merkliche Hebung des Stils. Alle Interpreten sind sich einig, daß der fünfte und letzte, der übrigens aus einer Ballade und nicht aus einer Kanzone besteht, von herausragender ästhetischer Qualität ist. Meines Erachtens muß aber der letzte Chor von Giovanni Getto als das ,Lied der verlorenen Illusion' bezeichnet ("canto della spenta illusione"),84 durch den die ganze Tragödie gerettet wird ("si redime l'intera tragedia,,)85 - mit den anderen vier in Zusammenhang gebracht werden. Sie sind Lieder, die die edelsten menschlichen Illusionen, die nobelsten, aber zum Scheitern bestimmten Werte zum Ausdruck bringen. 83 Vgl. G. Da Pozzo, FomUJ allusiva e scenario della mente nel teatro tassiano, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. 111, S. 878 und E. Minesi, Osservazioni sul linguaggio dei ,Torrismondo', a. a. 0., S. 78 f. und S. 90-101. Minesi listet die Wörter auf, die aus Tassos Sicht das "sublime" und das Nordische ausmachen: Sie sind verbunden mit dem ,Unbekannten' ("Ignoto"), wie "celato", "riposto", "segreto", "occulto", "intemo", "incerto" USW. , mit dem ,Dunklen' ("Oscurita"), mit der ,Höhle' ("Antro") und mit der ,Einsamkeit' ("Solitudine"). Die nordische Landschaft, rauh und lebensfeindlich, ist Spiegel der tragischen conditio humana. 84 G. Getto, lnterpretazione dei Tasso, a. a. 0 ., S. 248. 85 Ebd., S. 249.

4. Kreation und Negation von Nördlichkeit

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Die Chöre des Torrismondo sind Lieder der Schönheit und des Lichtes im Dunkel des Nordens, die ein unvergleichliches Spiel des chiaroscuro ergeben. Der Chor des fünften Aktes ist dagegen wie ein Triumph des Todes, der erst durch den Kontrast mit den Lebensillusionen, die in den anderen Chören gepriesen wurden, seine tragische Kraft bekommt. Den ersten zwei Chören wird die Aufgabe zuteil, im erhabensten Stil das Selbstbild von den Menschen auszudrücken, die das Bewußtsein haben, immer am Rande der traditionellen klassischen Kultur (und außerhalb der Grenzen des Diskurses, wenn nicht als Objekt der abjectio) gelebt zu haben. Sie können aber mit Stolz ihre eigene Antike und ihre militärischen Siege der klassischen Welt entgegenstellen, die sie nie wahrgenommen hat. Zuerst wird vor allem die Andersartigkeit der nördlichen, bis dahin unbekannten Welt gegenüber der lateinischen Welt hervorgehoben. Diese Welt profiliert sich in ihren besonderen Merkmalen und behauptet sich, indem bestimmte, ihr zugeteilte negative Züge nach und nach abgebaut werden, bis sie keine Gegenwelt mehr darstellt, sondern Teil der einzigen menschlichen Geschichte und schließlich Paradigma der conditio humana wird. Die erste Stanze des ersten Chors (827 - 842) ist ein Loblied auf die Sapientia, die Göttin, die stark und ruhmreich im Krieg ist und doch den Frieden liebt und Weisheit und Zivilisation spendet (Y. 835 - 836: ,,0 Dea possente e gloriosa in guerra / Ch'ami ed orni la pace, e lei difendi"). Sie wurde noch nicht im Norden verehrt, aber nun wird sie aufgefordert, das kalte und gefrorene Land nicht zu verachten (Y. 838: "Fai beata I'algente e fredda terra"), in dem der schreckliche Mars geboren ist (Y. 841- 842: "Non sdegnar questa parte, / Perche nato vi sia I' orrido Marte"). Sie möge in dieses Land kommen und das Reich verlassen, dessen Macht nicht mehr im natürlichen Zentrum ausgeübt wird. Rom ist nicht mehr Zentrum der Macht und gerechte Herrin der Welt. Tasso drückt hier poetisch die Idee des translatio imperii aus, die wie eine translatio sapientiae ist: Das Reich Rom "vaneggia ed erra" (Y. 839), und die Göttin der Gerechtigkeit wird die ewige Stadt verlassen und in den Norden gehen. Traditionell ist Mars ("I' orrido Marte") der Gott, der am meisten von den kriegerischen nördlichen Völkern verehrt wird. Durch die interpretatio romana des Jordanes war der Gott Odin (Wotan) dem Mars gleichgestellt worden (Getica, 22 und 44 ff.), von dem behauptet wurde, er sei im Land der Goten geboren. 86 Olaus Magnus hatte in seiner Historia (Hist., III, 3) auch auf Jordanes verwiesen, um zu beweisen, daß die Gleichstellung des nördlichen Kriegsgottes mit dem klassischen Mars berechtigt sei. Man könne mit Recht behaupten, Mars sei bei den Goten geboren, weil diese die Meister der Kriegskunst in ganz Europa seien und dem Gott immer menschliches Blut geopfert hatten. Der Vers des Vergil (Aen., III, 35), in dem Mars als Pater Gradivus erwähnt wird: "Pater Gradivus, dux Geticis arvis", war von Olaus als "Pater Gradivus, dux Geticis armis" zitiert worden. Olaus ging wie alle seine Zeitgenossen davon aus, daß die Geten mit den Goten zu identifizieren seien und Mars der wichtigste Gott dieses Volkes sei. 86

Vgl. J. Svennung, Skandinavien bei Plinius und Ptolemaios, Uppsala 1974, S. 216.

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Tasso beschreibt den Kriegsgott beim Feldzug mit seinem Kriegswagen auf dem Eis (V. 844: "Sovra l'adamantino e duro smalto") und auf den Bergen (typische Merkmale seiner dichterisch konstruierten nördlichen Landschaft), die seinetwegen blutgefärbt sind (Y. 846: "E fa vermigli i monti e 'I giel sanguigno"), während die Göttin der Weisheit, die einmal in Rom gelebt und nun kein Zuhause mehr hat, in den Norden gerufen wird. Im Norden wird sie einen Tempel bekommen, genau wie sie einmal in Rom ihren Sitz hatte. Sie wird angebetet werden und die Grausamkeiten des Krieges, den Schrecken und den Furor, bannen. Das nördliche, kalte und immer dem Krieg gewidmete Land der Goten wird die Stelle des verschwundenen Reiches Roms übernehmen, indem es der Sapientia Raum verschafft (V. 855 - 858). Tasso - ganz im Sinne des Gotizismus der Brüder Olaus und Johannes Magnus - nennt das nördliche Volk der Goten im Dialog Il Fomo overo de La nobiLta (vgl. Kap. VI.3.) "vincitori deI mondo": Sie haben Rom besiegt, das einst die Herrscherin der Welt war. Die Goten sind jenes tapfere Volk (Y. 867: "noi siamo la valorosa antica gente"), das auf eine lange Geschichte zurückblicken kann und schreckliche Spuren in Rom hinterlassen hat (Y. 868 - 869: "Onde orribil vestigio anco riserba / Roma"). Auch Byzanz, das Tasso zufolge das Römische Reich usurpiert, hat wegen des gotischen Volks leiden müssen, dessen Ruhm im Osten wie im Westen größer ist als einst der Ruhm der römischen Sieger. Die Goten stellen sich selbst über die Römer, weil ihr Ruhm ("fama") und ihre Tapferkeit ("virtu") noch aktuell und lebendig sind (Y. 873 - 874: "del nostro sangue / lvi la fama e la virtu non langue"). Dieses unbesiegte Volk, das schon lange an die Stelle der alten Römer getreten ist, wird mit seinem König (V. 864: "invitta reggia") in Zukunft auch den Frieden pflegen, wie die Römer es getan haben, verspricht der Chor. Tasso stellt sich vor, daß ein nördliches Volk nicht unbedingt immer von Natur aus gegen den Frieden sein soll, wie es bei Petrarca und Ariost zu lesen ist [vgl. Kap. 11.3. und Kap. III.2.a)]. Nachdem der Chor das Volk der Goten, ohne es beim Namen zu nennen, als Sieger über Rom und als tapferes Geschlecht, dessen Ruhm sich auf der ganzen Welt verbreitet, gepriesen hat, wird betont, daß dieses Volk aus dem Norden kommt. Der Chor drückt sich in der ersten Person aus: Das ruhmreiche Volk aus dem Norden spricht über sich selbst. Tasso hat die Vorstellung eines von den Menschen des Nordens konstruierten Selbstbildes: Sie treten der griechisch-römischen Tradition gegenüber und präsentieren sich als konkurrierende Kultur, die trotz der klimatischen Differenzen sehr viele Ähnlichkeiten vorweisen kann. Der Norden wird durch eine poetische Paraphrase zweier Naturphänomene beschrieben: Es ist ein Raum, in dem der Nordwind hallt und die dreifache und blasse Sonne den Tag kurz erhellt. 87 Die Griechen kannten dieses Naturphänomen, das sie parhelion nannten, 87 Das Phänomen der Lichtbrechung der Sonne durch das Eis in den kalten Ländern war schon von Seneca (Nat. Quaest., I, 11) beschrieben worden und wurde auch von Olaus Magnus erwähnt (Hist., I, 17 -18), der den Leser daran erinnert, daß drei Monde und drei

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aber im Norden sind vielfache parhelia zu sehen: Tasso betont auch hier den Unterschied und die Besonderheit der nördlichen Erscheinung, indem er die Knappheit des Lichtes hervorhebt. Dank Saxo Grammaticus und Olaus Magnus, der dem Thema ein ganzes Buch widmete, weiß der Dichter, daß es auch in der nördlichen Tradition Riesen gegeben hatte, die er neben die mythologischen Figuren der klassischen Antike stellt. Die klimatischen Bedingungen sind verschieden, aber die Geschichte der Zivilisationen hat dieselbe Würde und ist daher vergleichbar. Die nördlichen Völker haben eine eigene wertvolle Antike. Der ,Wir-Diskurs', der mit dem dramatischen Charakter der Tragödie als Gattung verbunden ist,88 erlaubt einem italienischen Dichter, fiktive aemulatorische Selbstbilder vom Norden zu konstruieren. Tasso kann dank seiner schöpferischen Einbildungskraft einen ,nördlichen' Standpunkt wählen (Y. 875 - 886): E 'n questo cIima ov' Aquilon rimbomba, E eon tre soli impallidisee il giomo, Oi fare oltraggio e seomo Al eiel tentär poggiando altri giganti. E monte aggiunto a monte, e tomba atomba, Alte ruine, e seogli in mar sonanti A folgori tonanti, Son opre degne aneor di ehiara tromba. O'altri Oivi altri figli i regni nostri Reggeano un tempo, altre famose palme Ebber le nobili alme, E que' che gia domar serpenti e mostri.

Die Riesen der nördlichen Tradition sind ,andere Riesen', ebenso wie die Götter und deren Kinder, die in einer mythischen Zeit die Reiche des Nordens regierten, ,andere' sind. Auch die Helden, die gegen Drachen und Monstren gekämpft haben, und die Siege, die sie gefeiert haben, sind ,andere'. Der Norden ist ein alter orbis, wie Plinius die Scadinavia insula kurz bezeichnet hatte (und Olaus Magnus betont es mehrmals), ein mundus alter (Apul., Met., 11,24). "Altro" ist das Schlüsselwort, das einerseits die Andersartigkeit der Tradition des Nordens gegenüber der klassischen Tradition ("altro" im Sinne von ,anders'), andererseits die Vergleichbarkeit zweier einander entsprechenden Traditionen ("altro" im Sinne von ,ein weiterer', ,noch einer') ausdrückt. Der Norden präsentiert sich als ein anderer Horizont, ,eine andere Welt', genau wie die Landschaft des Mondes in der berühmten Szene des Furioso (Orl.fur., XXXIV, 72,1-3):

Sonnen im Jahre 1490, als er geboren wurde, zu sehen waren. Zwei oder drei Sonnen seien keine seltene Erscheinung in dem Land der Goten. 88 Vgl. T. Tasso, Discorsi, a. a. 0., Bd. 11, S. 42: .. nella tragedia non parIa mai il poeta, ma sempre eoloro ehe sono introdotti agenti e operanti . .. ".

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos Altri fiumi, altri laghi, altre campagne sono la SU, che non so qui tra noi altri piani, altre valli, altre montagne

Für Tasso ist die ,andere Welt' des Nordens keineswegs ohne Geschichte und Tradition: Der gotische König Torrismondo, der tapfer und gleichzeitig gerecht ist, besitzt die goldene Sieges beute des Westens und sein edles Geschlecht zählt schon hundert Vorfahren (Y. 872-874: "De l'auree spoglie d'Occidente onusti / Cento avi suoi vetusti / Puo numerare, e di gran padre e figlio"). Alle V61ker sollen sich vor ihm fürchten: Vom äußersten Norden, noch nördlicher als das Land der Goten (Y. 904: "l'ultima Tile"), bis zum äußersten Süden (Y. 904: "le remote arene"), hin bis zu den am wenigsten zivilisierten V61kern (Y. 905: "la piu rozza turba") und zu all denen, die die Goten behindern wollen, wo immer sie auch seien (V. 906: "E s'altri a noi contrasta 0 noi perturba"). Im letzten Vers der fünften Stanze kommt "noi" zweimal vor. Der Charakter des ,Wir-Diskurses' ist besonders stark betont. Mit dem Schluß der Kanzone kommt noch einmal die Andersartigkeit des Nordens gegenüber der klassischen Welt zum Ausdruck, die aber keine Unterlegenheit bedeutet. Im Norden wächst der Baum der Göttin der Weisheit zwar nicht, aber der König kann ihr eine andere, verschiedene und doch genauso glückliche und ehrwürdige Pflanze weihen. Der Dichter hat vermieden, die römischen Namen der Götter zu verwenden. Die Göttin wird "Sapienza", "Dea", "Diva", aber nie "Minerva" genannt, so wie ihr Vater als "Padre eterno" und nicht als "Giove" erwähnt wird. Die nördlichen Gottheiten werden vermutlich andere Namen haben, aber sie lassen sich mit den klassischen Göttern identifizieren, wenn man ihre wesentlichen Eigenschaften betrachtet. "Marte" bildet eine besondere Ausnahme: als Kriegsgott hat er sein Zuhause schon immer im Norden gehabt. Ganz anders verhält es sich mit der weiblichen Gottheit der Weisheit, die erst noch in das kalte Land kommen soll. Sie wird unter anderem mit dem Versprechen gerufen, daß für ihr Symbol, den Olivenbaum, der im rauhen nördlichen Klima nicht gedeihen kann, ein ehrwürdiger Ersatz gefunden werden kann, so daß man sie auch im Norden verehren wird. Das, was zuerst durch eine schöne amplijicatio als ein echter Mangel dargestellt wird (Y. 907 - 909):

o Diva, i rami sacri Tranquilla oliva a te non erge 0 spande, Ne si tesson di lei varie ghirlande, wird durch eine verstärkte adversative Konjunktion ("ma pur") zu einer würdigen Alternative (Y. 910-912), die den Triumph der Weisheit im kriegerischen Norden ermöglicht: Ma pur altra in sua vece il re consacri Alma e felice pianta; Tu sgombra i nostri errori, 0 saggia, 0 santa.

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Nachdem sich die im Norden lebenden Goten dank ihrer Siege im Krieg über die Römer gestellt haben, nehmen sie für sich auch die Sapientia mit der notwendigen Anpassung, die ihr rauhes Klima verlangt, in Anspruch. Im zweiten Chor werden die natürlichen Tugenden gepriesen, die die Völker des Nordens, im besonderen die nördlichen Frauen, charakterisieren (Y. 1457 -1465). Der Hintergrund besteht wieder aus den Leitmotiven der Kälte und Rauheit des Klimas (V. 1463: "Tra I'altissime nevi e '1 duro gelo") und der kriegerischen Haltung der Menschen des Nordens (Y. 1464: "E tra gli scudi e I'aste"). Doch in dem Land, das von tiefen Schnee schichten und Eis bedeckt und von dem Weg der Sonne so weit entfernt ist, daß diese deswegen wie verblaßt erscheint, sind die Sonnenstrahlen trotzdem nie so weit oder so blaß, daß sie die Tugenden dieses Volks nicht erhellen könnten (Y. 1494 -1499): Se per le vie distorte Da questa alma cittade il Sol disgiunge, Correndo intomo, i suoi destrieri aversi, Non turbato 0 lunge Tanto giamai, ch'i raggi in noi conversi, Non miri di valor pregi diversi.

e

Die Entfernung der Sonne und die Andersartigkeit dieser anderen Welt bedeuten keineswegs, wie man vermuten könnte, daß keine Tugend oder "valore" vorhanden ist. Wenn man sich an Dalinda erinnert, die die Entfernung der hellen Sonnenstrahlen von der nördlichen Region, in der sie lebt, als Folge der Grausamkeit ihrer Nation interpretiert und deswegen über die Weigerung der Sonne, diese Region zu beleuchten und zu erwärmen, spricht [Orl.jur., V, 5, 5-8; vgl. Kap. III.2.a)], kann man die oben zitierte Stelle als indirekte polemische Antwort auf Ariost und die ganze Tradition verstehen. Im dunklen Norden ist nicht nur Grausamkeit, sondern auch Tugend zu finden. Vor allem die weiblichen Tugenden der Keuschheit und der Sittsamkeit werden hervorgehoben (Y. 1460: ,,1' opre saggie e caste"; Y. 1461: "parlar che I'Onesta conservi"), die in dem Werk des Olaus Magnus wiederholt als typisch für die nördlichen Frauen interpretiert worden waren, indem er die Schlichtheit der Heidinnen der nordischen Geschichte gegen die Eitelkeit der Frauen in Italien und in Venedig ausgespielt hatte. Der Chor stimmt ein Lob auf Rosmonda an, die als keusche Jägerin leben möchte. In ihrem Land hat es sowohl in alten als auch modemen Zeiten viele Beispiele von Frauen gegeben, die ein sittsames und starkes Herz hatten (Y. 1493: "Ebbero insieme il cor pudico e forte"). Olaus Magnus hatte Orosius und Jordanes als Autoritäten zitiert, um zu beweisen, daß die Amazonen eigentlich ursprünglich gotische, nach Südosten ausgewanderte Frauen seien (Hist., V, 28 - 32). Die Frauen der Goten seien die ersten kämpfenden Frauen überhaupt. Sie seien manchmal mutiger und stärker als Männer und bevorzugten das kriegerische Leben gegenüber den Bequemlichkeiten und der Liebe. Ihre kriegerische Haltung sei aber immer von einem edlen Grund verursacht, nämlich von dem Willen, ihre Jungfräulichkeit zu schützen. Olaus Magnus erinnerte an viele Autoren, die Beweise der Gewalt, des Mutes und der Keuschheit der ger17 Boccignone

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

manischen Frauen geliefert hatten. Dieses Motiv ist sehr geläufig (vgl. Kap. Y.6.) und ist ebenfalls bei Petrarca zu finden: "poi le tedesche che con aspra morte / servaron lor barbarica onestate" (Tr. Pud., 140-141). Bei Tasso ist von ,barbarisch' keine Rede mehr, sondern es geht lediglich um "Onesta".89 Die keusche Rosmonda ist mit einer klassischen Amazone vergleichbar, doch unterscheidet sie sich von den klassischen HeIdinnen wie Hyppolite, weil sie keine Liebe empfindet und deswegen von keinem Mann gefangengenommen werden kann (Y. 1480-1482: "Ma se questa e guerrera, / Chi fara di sue spoglie unqua trofeo? /0 chi potra condurla avinta 0 presa?"). Noch einmal werden die nördliche und die klassische Tradition als gleichwertig betrachtet, sie unterscheiden sich aber auch gleichzeitig: Die besondere Härte und Unbesiegbarkeit der nordischen Amazonen, die Priorität haben, machen den Unterschied aus. Die Frauen des Nordens, dieser ,anderen Welt', zeigen eine besondere Hartnäckigkeit und Grausamkeit in der Verteidigung ihrer Keuschheit, die den klassischen Amazonen fehlt. Und doch, nachdem der Wille Rosmondas, ein jungfräuliches Leben zu führen, gelobt wurde, wird in dem congedo der Kanzone der Wunsch ausgedrückt, daß die - selbst keusche - Königinmutter (Y. 1500: "casta madre") mit ihren Bitten (Y. 1501: "casti preghi") ihre Tochter zur Hochzeit überreden kann. In dieser Situation der Gefahr soll die Tugend des nördlichen Volkes noch stärker leuchten (Y. 1505: "E piu nel dubbio alta virtu risplenda"). Diese wurde aber während des gesamten Chors mit der Keuschheit und dem starken Herzen einer Amazone identifiziert, die in ihrer besonders harten nördlichen Variante überhaupt keine Liebe empfindet. Deswegen wirkt der Schluß wie eine Korrektur, die die gerade thematisierte Nördlichkeit nivelliert und verschwinden läßt. Die kalte und dunkle Welt des Nordens, die selbst eine lange Geschichte und unzählige Helden und HeIdinnen kennt und in der Weisheit, Tugend und Liebe über die kriegerische Tapferkeit hinaus vorhanden sind, wird von nun an nicht mehr einer anderen, bekannteren Welt gegenübergestellt. Der Prozeß der Annäherung ist vollbracht: Die Goten werden nicht mehr von sich selbst sprechen oder versuchen, ihren Ruhm und ihre Tugenden vor dem Hintergrund ihrer ganz besonderen Landschaft zu behaupten. Die letzten Chöre thematisieren keine Nördlichkeit mehr, weil die Personen der Tragödie schon Paradigmen für die gesamte Menschheit und deren Scheitern geworden sind. Schon mit dem dritten Chor, einer Invokation an die Liebe ("Amore"), sie solle nicht gegen die Freundschaft ("Amicizia") antreten, ist der Unterschied zwischen der Welt des Nordens und der klassischen Welt aufgehoben. Die Darstellung des Amor ist überhaupt nicht klassisch: Er kämpft wie ein Ritter gegen seinen Erz89 Auch an einer anderen Stelle der Tragödie wird die sprichwörtliche Keuschheit der Frauen des Nordens, die schon mehrfach literarischen Niederschlag gefunden hatte, erwähnt. Alvida sagt, daß sie kein Schwert im Bett braucht, das sie von ihrem Mann trennt (Y. 159161: "Ne mi bisogna ancor pungente ferro I ehe nelletto divida i nostri amori lei soverchi diletti"), wie viele nördliche Frauen Olaus Magnus zufolge gehandelt haben (Hist., XIV, 4).

4. Kreation und Negation von Nördlichkeit

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feind, den Haß. Die wiederholte Anapher von "altro / altre / altre / altre / altra" stellt nicht mehr die klassische und die nördliche Welt einander gegenüber, sondern bringt den platonischen Gegensatz eines wahrnehmbaren und eines transzendenten Universums zum Ausdruck. Im ersten Chor ging es um den Ruhm und die Siege der nordischen Goten, die "altri", "altre" als der Ruhm und die Siege Roms und der klassischen Antike waren. Jetzt geht es durch eine erneute Steigerung um ,einen anderen Ruhm', um ,einen anderen Sieg', um ,einen anderen Glanz', aber nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel. Der Triumph der Liebe - ohne Wut und ohne Verhöhnung - findet nämlich im Himmel statt, während in allen Teilen der Erde, im Norden wie im Süden, der Triumph den Siegern blutiger Kriege zusteht(Y.1945-1954): Altro e, che non riluce agli occhi nostri, Piu sereno splendore, Altre forme piu belle Di sollucente e di serene stelle. Altre vittorie in regno alto e supemo, Altre palme tu pregi, ehe spoglie sanguinose, 0 vinti regi, Altra gloria, senza ira e senza schemo. Amore invitto in guerra, Perche non vinci e non trionfi in terra?

Wieso gewinnt die Liebe, absolute Siegerin im Himmel gegen den Haß, nicht auch auf der Erde? Viele sorgenvolle Fragen zeigen, daß Zorn und Hochmut auf der Erde maßgebend sind, daß eigentlich Schmerz und Leid die Lage bestimmen. Warum kann die Liebe sie nicht bannen, wenn kein Mensch und kein Gott sich der Liebe erwehren kann? Der "Furore", der traditionell mit den kriegerischen V6lkern des Nordens verbunden ist, sollte von "Amore" durch seinen "valor sublime" (Y. 1976) gebändigt und angekettet werden (Y. 1968: "Catenato il Furore, e quasi estinto"), doch ist keine Zuversicht zu spüren. Die Imperative haben etwas Schmerzhaftes und bewirken ein Gefühl der Unsicherheit. Es wird beteuert, daß die Liebe stärker als ihr Feind ist, daß der Tag über die Nacht siegt und das Licht die Schatten vertreibt (Y. 1983 - 1984: "Contra fera Discordia, Amor, contendi, / Come luce con l'ombra"). In einer so düsteren Landschaft wie der des Torrismondo wirkt dieser Verweis aber eher wie eine beunruhigende Anmerkung. Der erste und der zweite Chor eröffneten den Blick auf eine nördliche Welt, die sich durch die Hervorhebung des eigenen Ruhms (dank der kriegerischen männlichen Tapferkeit) und der eigenen Tugenden (dank der Sittsamkeit und Keuschheit der Frauen) als gleichwertig (wenn nicht überlegen!) gegenüber der klassischen Welt präsentierte. Der dritte Chor kennt den Gegensatz klassische-nördliche Welt nicht mehr, sondern stellt diese schmerzvolle irdische Welt (unabhängig von der Himmelsrichtung) der idealen, transzendenten, von der Liebe beherrschten Welt gegenüber. Der Norden, der zuerst als ,andere Welt' thematisiert wurde, gehört jetzt zu einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit, die eine Geschichte des 17*

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Leidens ist. So gibt es auch im vierten Chor keine Unterscheidung mehr zwischen nördlichem und südlichem Raum. Die Grenzlinie läuft dagegen zwischen Himmel und Erde. Der Chor preist nicht den Ruhm eines Geschlechtes oder die Tugend eines Volkes, sondern stellt Überlegungen über das universelle Los der Sterbenden an, fragt nach dem Einfluß der Sterne auf Menschen und Ereignisse, fragt weiter nach dem Sinn und der Macht des "valor" (Y. 2724) oder der "umana Virtu" (Y. 2729) gegen die Schläge des widrigen Schicksals. Dieser vierte Chor ist ein prägnanter Ausdruck des Verständnisses der humanitas Torquato Tassos, der zwar aristokratisch gesinnt war, aber der "Virtu" keine klimatischen oder kulturellen Grenzen setzte. Die Frage ist, ob die Menschen dem Schicksal ausgeliefert sind oder durch ihre "virtu" das Los herausfordern können. Der Himmel stellt jetzt die ,andere Welt' gegenüber der einzigen von Menschen bewohnten irdischen Welt dar. Gibt es im Himmel Haß und Liebe, Monstren und Tiere, erbarmungslose und unbarmherzige Wesen, die Leiden und Tod verursachen (Y. 2704 - 2709)? Die Bewegungen der Sterne wecken in den Menschen Ängste und Schrecken: Sind es die Konstellationen, die alles bestimmen? Oder zieren sie lediglich den Himmel und machen die Welt schöner (Y. 2709-2717)? Der Chor befindet sich zwar weiterhin dort, wo die Welt gefriert und vereist

(Y. 2722: "Qui dove il mondo agghiaccia"), aber nach den borealen Konstellationen (Y. 2719: "Leon, Tauro, Serpente, Orse ceIesti"), die wie gefährliche Wesen drohen, werden auch die südlichen Konstellationen erwähnt (Y. 2723: "E gran

Centauro, ed Orione armato"), die genauso bedrohlich sind.

Die menschliche "Virtu" ist eine göttliche Gabe, sie ist über den Sternen geboren und wohnt in den Herzen der Menschen (Y. 2731-2732: "Sovra le stelle eccelse / nata, e scesa nel core, albergo felse"). Tasso ist es wichtig zu betonen, daß sie sowohl in den kalten als auch in den warmen Ländern zu finden ist. Der Norden als der Ort, an dem der Wind Borea die Flüsse gefrieren läßt (Y. 2734: "Ja, dove Borea i fiumi indura"), wird in Zusammenhang mit dem heißen Süden thematisiert (Y. 2738: "dove ardente sol l'arene accende"), um die gesamte Menschheit zu umfassen. Norden und Süden sind als äußerste Grenzen der Welt verstanden, um die Einheit der conditio humana zum Ausdruck zu bringen. Der Nebel, die Dunkelheit, die Wälder und alle Gefahren der Winde, der Felsen, der stürmischen Meere des Nordens sind neben die Hitze des Südens gestellt: Beide wenig angenehme Klimazonen schaden der "Virtu" nicht (Y. 2739: "Non la bruma 0 l'ardor Virtute offende"), die in der Lage sein sollte, sich durchzusetzen. 9o Der Chor, der die Spannung zwischen Himmel und Erde zum Thema hat, endet mit einer Schlußstrophe, die in diese Struktur perfekt paßt: Die "Virtu" als himm90 Torr., 2739-2745 und 2748-2751: "Non la bruma 0 l'ardor Virtute offende, ! Non ferro, 0 fiamma, 0 venti, 0 rupi averse, ! 0 duri seogli a lei far ponno oltraggio, ! Perehe navi sommerse! Siano, ed altre disperse, ! Mandi proeella infesta al gran viaggio, ! E 'n eiel s'estingua ogni lueente raggio."; "Virtu non laseia in terra; 0 pur ne l'onde,! Guado intentato o pas so, ! Od oeeulta latebra, 0 ealle ineerto.! A lei s'apre la selva e 'I duro sasso".

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lische Gabe, die allen Gefahren widersteht, taucht in die Hölle hinab und kehrt in den Himmel zurück (Y. 2763 - 2765): Virtu scende a l'Inferno, Passa Stige secura, ed Acheronte, Nonche I'orrido bosco 0 I'erto monte.

Dieser Vers faßt die typischen Merkmale der nordischen Landschaft zusammen, wie sie Tasso konstruiert: "l'orrido bosco 0 l'erto monte". Wenn schon die Hölle kein Hindernis für die "Virtu" darstellt, so auch nicht der schreckliche Wald oder der steile Berg. Beide Elemente werden der Hölle sehr nahe gerückt. Das ist die Wirkung eines scheinbar unbedeutenden Verses, der mit "nonche" anfängt: Auch im Norden kann die von Gott geschenkte "Virtu" herrschen, in einem symbolischen Raum nämlich, der etwas mit der Hölle gemeinsam hat, ganz nach der danteischen Vorstellung einer höllischen Landschaft, die in der äußersten Tiefe aus schroffen Felsen und einem gefrorenen, vereisten See besteht. Der von den Interpreten viel gepriesene fünfte Chor kann in seiner Bedeutung erst in der Wechselwirkung mit den vorangehenden Chören verstanden werden. Er ist eine Ballade, deren erster Vers identisch mit dem letzten ist (Y. 3308 und 3328: "Ahi lagrime, ahi dolore"). Alle Werte, die in den ersten vier Chören propagiert und gefeiert wurden, sind hier verneint: Der Frieden, der in dem ersten Chor für das kriegerische und ruhmreiche Volk der Goten gewünscht war, bringt das Ende des mächtigen Reiches, das durch Kriege groß geworden war (Y. 3313 - 3314: "ogni possente regno / in pace cadde al fin, se crebbe in guerra"); die Sonnenstrahlen, die im zweiten Chor trotz der Entfernung der Sonne die Tugenden des nördlichen Volkes erhellten, verdunkeln und verschwinden im Winter, wie jeder Ruhm seinen Glanz verliert (Y. 3315-3316: "E, come raggio il verno, imbruna e more / Gloria d'altrui splendore"). Jede Ehre ist wie eine verblühte Blume, Triumphe und Siege lassen lediglich Trauer und Klage zurück, weder die Liebe noch die Freundschaft, die im dritten Chor gerühmt wurden, können helfen oder Trost spenden. Die Metaphern, die die Vergänglichkeit alles Irdischen ausdrükken, sind traditionell und stehen gleichzeitig im Einklang mit der gesamten nördlichen Stimmung der Tragödie: das Eis, das schmilzt (Y. 3311: "Come giel che si strugge"), der Bach aus den hohen Bergen, der als gewaltiger Strom fließt (Y. 3317: "E come alpestro e rapido torrente") und der Blitz, der für einen Augenblick eine heitere Nacht erleuchtet (Y. 3318-3319: "Come acceso baleno / In notturno sereno"; 3320: ,,0 come stral repente"). Die vanitas, die Meditation über Zerfall und Tod, ist das Kennzeichen des Barocks, sowie umbra, turnus, Pfeifenrauch und Seifenblase, die wiederkehrenden Motive der Emblembücher der Jesuiten sind. 91 In dieser lyrischen Klage sind aber auch viele Echos aus den Rerum 91 Bruno Basile sieht in den Versen dieses Chors eine Prophezeiung des dumpfen Seicento: "nulla di simile si legge in tutta la nostra letteratura, neppure scomodando il cupo Seicento, che in questi versi e profetizzato. Versi senza catarsi, sinuosi e sdrucciolevoIi. che filtrano. giungendo allettore. dai fastigi di una meditazione dove convivono quietismo lugubre

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

vulgarium Jragmenta und aus den Trionfi Petrarcas92 zu erkennen. Diese Meditation über die Vergänglichkeit des Lebens betrifft nicht ein nördliches Volk oder das Geschlecht des Königs der Goten, sondern alle Menschen. 93 Je erfolgreicher und ehrenvoller die Goten als Weltbezwinger dargestellt wurden, desto schwerer ist der Zusammenbruch, der Verfall und das Scheitern aller Werte. Auch in der Gerusalemme liberata wurde das Urteil des Dichters über die Geschichte und das universale vom Leiden dominierte Schicksal der Menschen einem ,Fremden' anvertraut. Tasso als genialer Dichter einer Übergangszeit, in der eine neue Idee der Welt entwickelt wird, hatte Solimano, einen Nichtchristen, gewählt, um die Tragik der humana peregrinatio (Ger. !ib., XX, 73, 6: "l'aspra tragedia de 10 stato umano") zum Ausdruck zu bringen. 94 Nun sind es Personen aus einer nördlichen, nichtklassischen und selten in der Dichtung dargestellten Umgebung, die im Mittelpunkt des Diskurses stehen und den Weltschmerz und die conditio humana repräsentieren, nachdem sie in die gemeinsame menschliche Geschichte aufgenommen worden sind. Und das ist die besondere Neuheit der Tragödie Re Torrismondo. 95

5. Der Norden im religiösen Epos Le sette giornate dei mondo creato a) Der perfekte Weltbau und die Schönheit der Vielfalt

Die letzte Station der poetischen Karriere des Dichters Tasso bildet das "poema sacro" Le sette giomate dei mondo creato,96 das 1592 in Neapel begonnen, 1594 e gele di tomba." B. Basile, Introduzione zu T. Tasso, Aminta, Il Re Torrismondo, Il Mondo creato, Roma 1999, S. XXVI. 92 Vercingetorige Martignone zitiert verschiedene Stellen Petrarcas in seiner Ausgabe der Tragödie. Vgl. T. Tasso, 11 re Torrismondo, hrsg. von V. Martignone, a. a. 0., S. 244 ff. Als Beispiel kann man hier auf R.v,f, CCLXXII, 1: ,,La vita fugge, et non s'arresta un'ora" und auf Tr. Et., 47: "di queste alpestro e rapide torrente" verweisen. 93 Aldo Maria Morace sah in dem Verschwinden des Reiches "Gotia" von der europäischen Karte in dem Trauerspiel eine Anspielung auf die Auflösung des Herzogtums von Ferrara, die sich 1598 mit dem Tod des kinderlosen Alfons H. vollzog. Vgl. A. M. Morace, Sulla riscrittura della Tragedia non finita, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. III, S.1055. 94 Vgl. E. Ardissino, ,L'aspra tragedia'. Poesia e sacro in Torquato Tasso, Firenze 1996, S.7. 95 Hugo Friedrich unterstreicht den Gedanken Tassos, daß im gemeinsamen Unheil alle Gegensätze und Gegner geeint sind. Im Schlußchor der Tragödie sieht Friedrich "in einer dunklen, stockenden und doch unendlichen Melodie" den Gesang "der HinfaIligkeit des Irdischen". Vgl. H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, a. a. 0., S. 481. 96 T. Tasso, Il mondo creato, kritische Ausgabe hrsg. von G. Petrocchi, Firenze 1951. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Für Bruno Basile handelt es sich im Mondo creato um eine poetische fabrica dei mondo, von der die historische Dimension verbannt ist. Es sei ein Gebet, das nach der Erfahrung des Nichts im Torrismondo zustandekomme. Vgl. B. Basile, Introduzione zu T. Tasso, Aminta, Il Re Torrismondo, Il Mondo creato, a. a. 0., S. XXVII.

5. Der Norden im religiösen Epos Le sette giomate dei mondo creato

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vollendet und 1607 postum in Viterbo bei Discepolo veröffentlicht wurde. Das Werk, in dem Tasso die ganze Natur anhand der biblischen Schöpfungsgeschichte lyrisch schildert, besteht aus über 8800 "endecasillabi sciolti".97 In der wichtigen Rolle, die der Norden in diesem Werk spielt (sowie im nördlichen Rahmen der Tragödie Re Torrismondo), hat Cesare De Lollis eine Vorwegnahme entdeckt: Erst im 17. Jahrhundert erhalten die sonst immer vergessenen nördlichen Länder mehr Aufmerksamkeit in der italienischen Literatur. 98 Das Werk läßt sich aber auch in die Epoche der Spätrenaissance einordnen, deren beeindruckendste Eigenschaft die Anhäufung von Motiven ist, die über die klassischen Grenzen und deren Ordnung und Maß hinausgehen. Die neue Sensibilität des sogenannten "Autunno dei Rinascimento" ist weniger wählerisch und viel neugieriger als die Sensibilität der Renaissance und bereitet den Weg für eine neue Epoche, in der nicht mehr nur das Gute, das Symmetrische und Proportionierte als schön gilt99 und deshalb dem Nordischen mehr Platz eingeräumt wird. Tassos Poetik kann man als eine Poetik des "chiaroscuro" bezeichnen: Im Norden findet er sowohl die Schatten als auch das helle Licht, das heißt die Kontraste, die seiner Meinung nach die erhabene Kunst ausmachen. Es ist auch eine Poetik der Überschreitung der Grenzen, der Sehnsucht nach dem Fremden und dem Verborgenen. Sein bewegter, stürmischer, heller, reiner, unerreichbarer, metaphorischer Norden in den Versen des Mondo creato ist eindrucksvoll. Giovanni Getto verstand, welch große Neuerung das Epos der Schöpfung in dieser Hinsicht bedeutete, obwohl er keine vollkommene Poesie ("compiuta poesia") im Mondo creato finden konnte. 1oo Deshalb zitierte er einen Kommentar Giuseppe Ungarettis, in dem der Dichter meinte, daß Galilei eigentlich hätte verstehen müssen, daß sich das Wort Tassos wie die Erde nach seinem System drehte, daß das Wort Tassos wie ein Schiff sei, das mit großer Lust auf Abenteuer im atlantischen Wind sein Segel setzte. 101 Tassos Dichtung ist die Dichtung einer größer gewordenen Welt, deren Mittelpunkt nicht mehr selbstverständlich ist. Die bewegte, stürmische Natur des Nordens bezeugt die allumfassende, kosmische, bewegte Harmonie, die gewaltige Vielfalt der Welt, die Größe und die Allmacht des Schöpfers. Die angebliche Reinheit und Süße der nordischen Gewässer stehen für Tugend, so daß der Weg der Fische nach Norden den Weg der Menschen auf der Suche nach dem Guten und dem Geistigen symbolisieren soll, während die riesigen Walfische im äußersten borealen Raum auf die menschlichen Grenzen und 97 Dieses Metrum war schon von Trissino für den Heldenstoff und von Rucellai und Alamanni für den didaskalischen Stoff benutzt worden. 98 Vgl. C. De Lollis, Cervantes reazionario e altri scritti d'ispanistica, hrsg. von S. Pellegrini, Firenze 1947, S. 162 f. 99 Vgl. G. Getto, Immagini e problemi di letteratura italiana, Milano 1966, S. 205 f. und C. Ossola, Autunno dei Rinascimento . .. , a. a. 0., S. 5 ff. 100 Vgl. G. Getto,lnterpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 374. 101 Vgl. ebd., S. 375.

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die Unerreichbarkeit des Glücks auf dieser Erde hindeuten. Es gibt für Tasso eine Natur im Norden, die die Menschen nicht brauchen können und die doch einen tiefen Sinn hat, denn sie kann auf etwas hinweisen, das mit den Augen nicht wahrnehmbar ist. Der Norden wird letztlich im Mondo creato als urtümliche Kraftquelle für das verweichlichte Italien und als Sinnbild gesunder Männlichkeit aufgefaßt. Tasso beansprucht in seinem religiösen Epos ausdrücklich, eine Kunst zu schaffen, die nicht allen zugänglich ist (VI, 1233 - 1234: ,,tingo, e fingendo di piacer m'ingegno / a gli alti ingegni"). Er vergleicht seine Dichtung mit der Malerei: Nicht nur mit Farben und Licht (VI, 1230: "colori e lumi") wird gearbeitet, sondern auch mit Schatten (VI, 1232: "ombre di poesia"). Sein Werk ist kein Gemälde, aber die Dunkelheit spielt eine ebenso große Rolle wie das Licht, der Schrecken ist genauso vertreten wie andere, angenehmere Gefühle, die Nacht hat ihren Platz neben der Darstellung des Tages, und der Norden gewinnt an Interesse neben der Beschreibung sonnigerer Regionen der Erde. Nichts darf als ,unpoetisch' verurteilt werden. Schon in seiner früheren Schrift über die Unterschiede zwischen Italien und Frankreich 102 hatte Tasso diese Poetik des "chiaroscuro" angesprochen: Italien war damals als besonders schön beschrieben worden mit Hinweis darauf, daß die Schönheit eines Landes aus der Vielfältigkeit und aus dem Kontrast der verschiedenen Landschaften entstehe. Selbst die Alpen mit ihrer Unfruchtbarkeit und Härte könnten ausgesprochen angenehm erscheinen (Lettera dalla Francia, 36: "la sterilita e rigidezza dell' Alpi, facendone paragone alla vaghezza de gli altri spettacoli, suole molte fiate riuscire piacevolissima"), so wie die Schatten in der Malerei die hellen Farben betonten und leuchten ließen (Lettera dalla Francia, 37: "Ne per altro la pittura, saggia imitatrice della natura, mescola I' ombra a i colori, se non perehe con la comparazion di questo oscuro i colori maggiorrnente si spicchino, e appaiano piu vivaci e piu rilevati"). 103 Auf der Suche nach der reizenden Vielfalt und in der Auflistung der unendlichen Geschöpfe der Welt entdeckt Tasso auch das, was immer vergessen oder nur am Rande des Diskurses erwähnt wurde. Mit seinen "ombre di poesia" beschreibt er die ganze Welt sowohl mit ihren hellen als auch ihren dunklen Seiten. Deswegen scheint sein Werk ein gigantisches Mosaik zu sein. Sein Gefühl der Bewunderung für die Quantität und Qualität der Geschöpfe ist so stark, daß er fast überwältigt wird. Es überrascht nicht, daß die Nomenklatur des Mondo creato so reich ist: 102 Vgl. T. Tasso, Lettera dalla Francia, hrsg. von G. Caretti, Ferrara/Roma 1995. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. Der Text ist auch als Lettera a Ercole de' Contrari bekannt. Deswegen wurde er mit Tassos Briefen in einem corpus überliefert, obwohl er eher eine Abhandlung ("discorso") darstellt. 103 Amedeo Quondam hat betont, daß Tasso zugeben muß, daß die Vielfalt ("varieta") mehr Genuß als die Einheit ("unita") bereitet, weil der Zweck der Dichtkunst für ihn in dem "diletto" selbst liegt. Vgl. A. Quondam, ,Sta notte mi sono svegliato con questo verso in bocca'. Tasso, Controriforma e classicismo, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. 11, S. 546 f.

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Botanik, Zoologie, Geographie, das ganze Wissen jener Zeit, auch das aus den Lapidarien und Bestiarien des Mittelalters, ist hier zusammengetragen. In dieser Art von Enzyklopädie, die das ganze wahrnehmbare Universum enthalten soll, in dem Überfluß und dem Schwall von Namen, Farben, Formen darf auch das Schreckliche und das Monströse, das Dunkle oder Trübe nicht fehlen. Als Tasso die Schlangen beschreibt, merkt er gleich an, daß auch der Maler furchtbare Untiere und schreckliche Wesen schafft und versucht, sie möglichst der Wahrheit entsprechend wiederzugeben. Sie rufen Schrecken hervor, so wie Leichen, aber sie wecken gleichzeitig einen ästhetischen Genuß bei denjenigen, die diese besondere Art der Kunst verstehen können (VI, 1222-1235): Come il pittor che de le membra estinte il pallor, 10 squallor dipinge, ed oma di colori di morte essangue aspetto, parte ci aggiunge orride fere e mostri spaventosi, e gli fa sembianti al vero, ma dove il vero di spavento ingombra, de le pinte sembianze il falso inganno altrui diletta e 'I magistero adorno; COSt con questi miei colori e lumi di poetico stil, con queste insieme ombre di poesia, terribil forme fingo, e fingendo di piacer m'ingegno a gli alti ingegni, e dal profondo orrore trar quel diletto che i piu saggi appaghi.

Selbst bei Aristoteles konnte Tasso lesen, daß einige Dinge, wie widerliche und abscheuliche Tiere oder Leichname, die uns in der Wirklichkeit anekeln, uns, wenn sie in der Kunst abgebildet werden, umso mehr gefallen, je naturgetreuer sie sind (Poetik, 1448b). Daniel lavitch hat deutlich gemacht, daß Tasso Interesse daran hatte, die Maske des Aristotelismus zu tragen, den Eindruck zu erwecken, er wolle der Poetik des Aristoteles folgen und lediglich eine Erweiterung dieser Poetik anstreben, während er viele Neuerungen einführte, indem er sich der Lücken und der Widersprüche dieser Poetik bediente. 104 In Wirklichkeit folgte Tasso dem ästhetischen Neoplatonismus seiner Zeit: Nicht die Naturgabe allein und auch nicht das erlernbare technische Können, sondern erst die Verbindung beider mit der göttlichen Begeisterung, mit dem ,Musenwahnsinn " würden den Dichter ausmachen (Ion, 534C).lOS 104 V gl. D. Javitch, Dietro la maschera dell' aristotelismo: innovazioni teoriche nei discorsi dell'arte poetica, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. 11, S. 523-533. Tasso bemüht sich immer, seine literarischen Neuerungen traditionell zu verankern. Sein Verhältnis zur Tradition ist souverän-selektiv. Sein Überlieferungsbegriff im Sinne überbietender Nachahmung von Musterautoren ist zukunftsträchtig und wird ein Grundsatz des Barockstils. 105 Dieser Neoplatonismus geht auch in die Richtung des ,kunstvollen Häßlichen' ("brutto artistico"), wie schon Getto bemerkt hatte. Vgl. G. Getto, lnterpretazione dei Tasso, a. a. 0., S.371.

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Tasso fühlte sich in seinem Verständnis der Dichtung als Malerei und Abbildung der Welt (ut pictura poesis) berechtigt, schreckliche Formen zu erfinden und darzustellen (VI, 1232 - 1233: "terribil forme / fingo") . Bei der poetischen Mimesis handelt es sich keinesfalls um eine genaue Wiedergabe einzelner Gegebenheiten, sondern um Transzendierung des Partikularen ins Allgemeine. Der Dichter kann sich dank seiner Imagination alles das vorstellen, was in der Natur möglich ist und von der Norm stark abweicht. Er kann Dinge abbilden, die er mit seinem Intellekt und nicht mit seinen leiblichen Augen sieht. Im Mondo creato ist schon der barocke pädagogische Hedonismus zu finden, mit dem man docere, prodesse und gleichzeitig delectare will. Darüber hinaus bedeutet die Suche nach dem Wunderbaren und dem Erstaunlichen in einer Epoche großer Entdeckungen und intellektueller Wagnisse auch das Brechen von Regeln, die in der Vergangenheit galten. Gefallen an seiner Kunst werden deswegen nur die höchsten Geister und die Weisesten finden können. Es sind wenige, die Freude und ästhetischen Genuß (VI, 1235: "diletto") am tiefsten Schrecken (VI, 1234: "profondo orrore") empfinden. An dieser Stelle wird die Poetik von Tassos letztem Werk zusammengefaßt. Interessant ist dabei die Tatsache, daß höchster und tiefster Schrecken für den Dichter vor allem im Norden zu finden ist, zusammen mit dem hellsten blendenden Licht. Tasso sucht den ,Genuß ' in den kontrastreichen nordischen Landschaften mit dem Bewußtsein, eine innovative, ,avantgardistische' Kunst zu schaffen. 106 Tasso gibt dem Schrecklichen und dem Nordischen Raum in seiner Dichtung, weil er glaubt, daß sie einen Platz im unergründlichen Plan Gottes hätten. Er gehört einer Zivilisation an, die nicht mehr mit der weisen Nutznießung eines geordneten Kosmos beschäftigt ist, sondern unruhig danach strebt, über die üblichen Horizonte hinaus neue Formen und neue Wesen zu suchen. \07 Die Natur ist nun ewig in Bewegung, jede Form verwandelt sich in eine andere. Sie ist in ihrer unendlichen Vielfalt ein Geheimnis, das der Mensch nicht in Besitz nehmen, sondern lediglich bewundern und bestaunen kann. \08 Die Beschreibungen der Wunder des Kosmos dienen dazu, die von der Vorsehung (providentia) bestimmte Ordnung der Schöpfung zu zeigen, 109 zu der auch der Norden mit seinen eigenen Naturphänomenen gehört. Die Gerüchte über nördliche Naturerscheinungen gelangen bis nach Italien, behauptet Tasso, der diese wunderbaren Phänomene auf sich wirken läßt, um die 106 Giovanni Getto bemerkte hierzu: "Ora anche questo lato della natura, earatterizzato da aspetti sconvolti e ripugnanti, sembra meritare una considerazione autonoma, riposata e seria, e il brutto di natura par quasi proclamare, in anticipo di due secoli sui romantici, il suo diritto ad assurgere al mondo dell' arte, e sia pure giustifieandosi con ragioni diverse da quelle deI romanticismo, quali i1 "diletto" ehe il magistero adorno proeura, e insieme il gusto deI portentoso edel meraviglioso." (Ebd., S. 372). 107 Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento .. . , a. a. 0 ., S. 249. 108 Vgl. ebd., S. 256. 109 Vgl. G. Jori, Le forme della creazione. Sullafortuna dei "Mondo creato " (secoli XVII e XVIII), Firenze 1995, S. 22.

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Höhe der erhabenen Dichtung zu erreichen, ebenso wie er auf der Suche nach dem Erhabenen ein nordisches Szenario für seine Tragödie wählt. 110 Der Reiz des Halbsichtbaren, fast Verborgenen, schwach oder schief Beleuchteten 111 zusammen mit seinem Verständnis des Erhabenen ("sublimita" oder "magnificenza") machen ihn für die Faszination nördlicher Länder besonders empfänglich. Andrea Battistini und Ezio Raimondi haben im Hinblick auf Tasso von einem ,modemen Erhabenen' ("un sublime moderno") und von einem ,ketzerischen Klassizismus' ("classicismo fatto di eresia") gesprochen. 112 Seine Rhetorik der gravitas und des "parlar grande e magnifico" hat Tasso unter dem Einfluß von De elocutione des Pseudo-Demetrius Phalereus entwickelt. 113 Vielleicht stand Tasso auch indirekt unter dem Einfluß des Pseudo-Longinus. 1I4 In seinem großen Werk über die Schöpfung zeigt er seine phantastische Überschwenglichkeit: Für ihn entspricht die Suche nach dem Erhabenen der Bedeutung der inventio und imaginatio in der Kunst. Das Wunderbare ("mirabile") und das Verborgene ("recondito") spielen eine zentrale Rolle. Im Herbst der Renaissance verzeichnet man generell eine radikale Erweiterung des ästhetischen Kanons. Die Erscheinungen der Welt werden vorbehaltlos akzeptiert, während die übertriebene Ornamentik den Willen bezeugt, die Unendlichkeit der von Gott geschaffenen Formen zu lieben. Alle Formen werden einschließlich der letzten Abartigkeiten, Unregelmäßigkeiten und Abweichungen rehabilitiert. Alle Erscheinungen finden 110 Vgl. G. Da Pozzo, Forma allusiva e scenario della mente nel teatro tassiano, in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. II, S. 878. III Vgl. U. Leo, Torquato Tasso. Studien zur Vorgeschichte des Secentismo, Bem 1951, S.63. 112 A. Battistini und E. Raimondi, Retoriche e poetiche dominanti, in: La Letteratura Einaudi, Torino 1984, Bd. II, tomo I, S. 93. 113 Dieses Werk war von Pietro degli Angeli von Barga, genannt Bargeo, einem der vier "revisori romani" der Gerusalemme, wiederentdeckt und übersetzt worden. Man weiß aus Tassos Briefen (Lettere, Nr. 75 und 77), daß er das Buch mit dem Kommentar von Pietro Vettori, das nun in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrt wird (Starnp. Barb. Cr. Tass. 18), zu Beginn des Sommers 1576 nochmals las und mit Randbemerkungen versah. 114 Gustavo Costa hat erklärt, daß es unmöglich ist, den direkten Einfluß des Pseudo-Longinus auf Tasso zu beweisen, dessen Theorien aber durch rhetorische, theologische und magisch-hermetische Texte auf Tasso gewirkt haben sollen. Vgl. G. Costa, Un annoso problema: Tasso e il sublime, in: "Rivista di Estetica", XXVII, 1987, S. 49-63. Das Traktat De sublimi generi dicendi wurde auf jeden Fall von Robortello ins Lateinische übersetzt und erschien 1555 in Venedig bei Paolo Manuzio. Es beeinflußte vor allem den in Ferrara tätigen Francesco Patrizi. Vgl. B. Weinberg, Translations and Commentaries of Longinus, ,On the Sublime', to 1600: A Bibliography, in: "Modem Philology", XLVII, S. 145 -151 und Ders., A History of Literary Criticism in the 1talian Renaissance, Chicago 1974, Bd. I, S. 188-190; Bd. II, S. 765 - 786. Gustavo Costa, der die Geschichte des Begriffs "sublime" nicht mit der Rezeption des Pseudo-Longinus identifizieren will, hat betont, daß das "sublime" bei Tasso oft durch die Bewunderung von Naturerscheinungen - die mysteriöse Kehrseite der Natur, in der unerklärliche Kräfte wirken - erreicht wird. Vgl. G. Costa, La sublimita ermetica dei Tasso, in: Ders., II sublime e la magia da Dante a Tasso, Napoli 1994, S. 126-147, vor allem S.137.

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einen Platz in der Kunst und werden inventarisiert: Die Tierwelt oder die Natur als Schöpferin von unendlichen lebendigen Formen, die bis dahin aus der Kunst verbannt waren, brechen massiv ein. Tassos Vorliebe für Bilder aus dem fremden Norden ist verständlich und gleichzeitig bemerkenswert in einer Zeit, in der Pampa und Wüste, felsige Küsten, chinesische Pagoden, wilde exotische Tiere und Giganten den Bereich des Darstellbaren sprengen, der zuvor aristokratisch und auswählend war. 115 Nun bewegt sich Tasso in einer enorm ausgeweiteten Welt, die in ihrer Vielfalt die Sinne berauscht. In der anderen Hemisphäre, wie auch im nordischen Ozean, können Tiere von der Natur hervorgebracht und genährt werden, die in der kleinen Welt des Dichters und seiner Leser wie Monstren erscheinen (V, 295 - 300), doch kommen alle Geschöpfe ausnahmslos von Gott. Die Schöpfung als Werk Gottes enthält auch Zeichen des Mysteriums, des Unverständlichen; das monstrum gehört der Natur mit ihren Gesetzen, 116 gehört zum perfekten Weltbau. Warum die Dimension der Nördlichkeit im Mondo creato eine überragende Rolle spielt, entnehmen wir dem Werk selbst, da Tasso hier zu mehreren expliziten Erklärungen seiner Poetik kommt (III, 1446-1449): Ma pur troppo '1 parlar s'avanza e cresce, e ne gli aperti e smisurati campi de la terra edel mar confine 0 freno non trova al corso; ond'ei disperso, errante per le cose minute andria vagando

Die alten Grenzen der Welt sind laut Tasso überschritten worden. Daher gelten für ihn auch die traditionellen Grenzen der Dichtung nicht mehr. Der Dichter kann umherschweifen und sich dabei für alle kleinsten oder vergessenen Geschöpfe des großen Gottes interessieren. Weder Grenzen auf der Erde noch auf dem Meer können ihn aufhalten, keinerlei Regeln dürfen ihn einschränken. Die "deserti campi" Petrarcas (R.v.j, XXXV, 1), die der Dichter mit seinen Schritten messen konnte (R. v.j, XXXV, 2: "vo mesurando a passi tardi et lenti"), sind nun "aperti e smisurati campi" geworden, unermeßliche Gebiete, die der Dichter bereisen kann, ohne je ihre letzten Grenzen zu erreichen. Er bewegt sich in der weiten Welt fort, von einem Ding zum anderen, von einer Erscheinung zur nächsten, getrieben vom Gefühl der Bewunderung für all diese "cose minute". Das Spektakel der Vielfalt der Welt fasziniert Tasso, der in seinen langen Beschreibungen sein Gefühl der "meraviglia" wiedergibt. Es ist die Schönheit des Universums, 115 Rom lebt in der gegenreformatorischen Zeit von blendender Spektakularität, von dem Zusarnrnenschluß der Künste und dem Triumph der Imagination. Die Welt ist durch die Künste in ihrer Vielfalt entdeckt. Man kann die Haltung der Katholiken nach dem Trienter Konzil mit der Fülle an Bildern als den Gegenpol zu den Absichten der Bilderstürmer deuten. 116 Vgl. L. De Anna, Mostri e alterita in Olao Magno, in: I fratelli Giovanni e Olao Magno. Opera e cultura tra due mondi, Atti dei Convegno Internazionale, Roma-Farfa, hrsg. von C. Santini, Roma 1999, S. 105.

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die er bewundert (VI, 1592: "creato adorno mondo") und zu welcher er sagt (VI, 1596-1598): . .. io m' avvolgea bramoso e vago di tante meraviglie aparte aparte, tutte cercando e rimirando intorno

Immer wieder wird die Welt mit dem Adjektiv "adorno" umschrieben, das über die Bedeutung des deutschen Wortes ,verziert' oder ,geschmückt' hinausgeht. Jedes kleine Geschöpf trägt zur gesamten Schönheit der von Gott geschaffenen Welt bei, jeder Erdteil, jede Region, jedes Naturphänomen bezeugt die Größe und die Macht Gottes, die sich vor allem in den außergewöhnlichsten Geschöpfen zeigen. Nicht die Menschen mit ihren Sinnen können über die Schönheit der Schöpfung urteilen, sondern allein das undurchschaubare und unergründliche Urteil Gottes, der alles so gewollt hat, wie es ist. So erscheint der Ozean im Norden, der oft Angst und Schrecken erregt, nun als gut und schön (I1I, 747 -751): Ma non in questa guisa 0 bello, 0 caro fu il sembiante dei mare al Re celeste: ne qui de la belta giudice e il senso ma la ragion de la mirabile opra nel giudicio divino e bella e piace

Alles, was die menschlichen Sinne nicht sofort als ,schön' empfinden und nicht dem eigenen Verständnis von Normalität entspricht, interessiert den Dichter Tasso besonders. Gott als ,ewiger Meister' (V, 29: "mastro eterno") läßt keinen einzigen Raum und keine Klimazone der Welt öde und leer, sondern füllt die ganze Erde mit unzähligen Wesen (V, 26 - 28: "non vi lascio spazio ne clima / di vasta solitudine e dolente, / ne di perpetuo orrore incolto ed ermo"). Die Bewohner der Erde sind für Tasso gerade dann besonders faszinierend, wenn sie in fernen, unbekannten Ländern leben und noch nie gesehen wurden: Das allzu Vertraute und das Alltägliche wirken vulgär und banal, das Fremde gilt als anziehend. Das Barbarische ist in dieser Welt, die ihr Zentrum nicht mehr in Rom oder im Mittelmeer hat, fast verschwunden. Höchstens die ganz Fremden, diejenigen, die die Südhalbkugel bewohnen, die Antipoden - ohne besondere Abwertung, nur als Zeichen der Alterität - können ,Barbaren' genannt werden: Sie leben dort unter einem anderen Himmel und sehen andere Sterne, die vertrauten Konstellationen des großen und kleinen Wagens oder des Bären sind ihnen unbekannt (VI, 314-315: "barbare genti / . .. a cui sparito eil Carro e l'Orsa,,).1J7 Tasso geht in seiner Beschreibung des europäischen Nordens im Mondo creato davon aus, daß diese Welt unbekannt und weit entfernt ist. Obwohl die Darstellung der nordischen Natur zum Teil der Schilderung des Torrismondo ähnelt und einige 117 Diese Stelle zitiert auch Carlo Ossola im Hinblick auf die Meinung der Zeitgenossen Tassos über die Menschen der TIerra Nueva. Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento. .. , a. a. 0 ., S. 250.

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"endecasillabi" fast unverändert wiederverwendet werden, gibt es, was die Semantisierung des Nordens angeht, einen großen Unterschied zwischen den zwei Werken. Dieser liegt in den verschiedenen Gattungen: dramatische Dichtung auf der einen Seite, eine Art religiöses Epos auf der anderen. Die Tragödie spielt in einem als nördlich bezeichneten Raum und verleiht damit den Menschen des Nordens eine fiktive Stimme. Der Erzähler im Mondo creato ist dagegen nicht im Norden lokalisiert. So bleiben die Tiere des Nordens, wie zum Beispiel das schnelle Rentier, ,unserer Welt' verborgen. Von ihnen hat man durch ,ihre ewige Berühmtheit' Kunde. Man hat sie vor dem geistigen Auge präsent, wie auch die Tiere aus der wärmsten Zone der Welt (VI, 1567 -1573): Veggio ehe fra le nevi e I' alto ghiaecio il rangifero, oeeulto al nostro mondo, Porta eorrendo le veloci rote. Veggio mille altri, e ne I' algente zona e 'n quella ehe piu ferve e piu s'infiamrna, qui non visti animai, ma ehiari e conti per lungo grido di perpetua fama.

Den Norden betrachtet man im Mondo creato von einem südlichen Gesichtspunkt aus, aus der Ferne. Das fiktive, gewagte Spiel der Tragödie, in der ein imaginäres Selbstbild des Nordens konstruiert worden war, ist nicht mehr möglich. Doch gerade deswegen ist die Faszination des Fremden hier wirksamer denn je. Die örtlichen Adverbien verdeutlichen es: ,dort' ("la") befindet sich die nordische Welt, nicht mehr ,hier' ("qui") wie in den Chören des Torrismondo. Daher sind alle nordischen Tiere ,unseren Sinnen' nicht bekannt (III, 464: "ignoti a' nostri sensi"). Man kennt sie höchstens vom Hörensagen, hat sie aber nie mit eigenen Augen gesehen. Ebenfalls sind Städte und Völker im Norden, wie die in der südlichen Hemisphäre, unbekannt (III, 473: "ignote genti"). Aus dieser Ferne erklärt sich die Faszination, die sie ausüben. Sie sind Zeugen einer großen, erstaunlichen Welt, über die man keinen einfachen Überblick gewinnen kann. Das Ferne, das Unbekannte, das Rätselhafte und Geheimnisvolle dienen dazu, nach dem Erhabenen zu streben und die Größe des Schöpfers und seine unergründliche Weisheit in der unendlichen Vielfalt der Naturerscheinungen eines perfekten Weltbaus zu zeigen. b) Der stürmische Norden als Sinnbild des menschlichen Lebens

Im Mondo creato kommen die ästhetischen Muster des erhabenen Stils vor allem in der Beschreibung nordischer Landschaften zur Geltung: Die Höhen und Tiefen werden betont, ebenso wie die übermäßige Größe. Breit und unendlich ("larghi"; "smisurati campi") sind die Felder, rauh und spitz ("aspri") die Berge, tief die Seen und die Sümpfe ("alte"). Diese Landschaften stehen entschieden im Gegensatz zur petrarkischen Landschaft mit ihrem schönen Hügel ("bel colle"), mit dem kleinen

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Berg ("monte") und den einsamen Feldern ("deserti campi"). Eine wilde und stürmische Natur inspiriert Torquato Tasso mehr als ein traditioneller locus amoenus. 118 Seestürme, gewaltige Ströme und Wasserfälle, schnelle und trübe Bäche beschreibt Tasso sorgfältig und mit größter Bewunderung (III, 105 -108): e correvano al chin dei seno alpestre de gli aspri monti i rapidi torrenti, e con rimbombo impetuoso a1 corso precipitando gian le torbide onde

Der Wortschatz, dessen Tasso sich bedient, ist derselbe wie der seiner Tragödie (vgl. Kap. VI.4.b) und VI.4.c); Torr., 44: "gran rimbombo"; Torr., 3317: "E come alpestro e rapido torrente"). Auch der ,Furor' des Sturms im Norden kommt in ähnlicher Weise wieder vor, mit der Darstellung von riesigen Bergen aus schäumendem Wasser, die sich bis zum Himmel erheben (Torr., 519-520: "E s'inalzar al ciel bianchi e spumantilMille gran monti di volubile onda"). Die Geschwindigkeit und die Kraft des Seesturms stehen dabei im Vordergrund (III, 345 - 348):

e

quando agitato piu fra tuoni e lampi dal gran furor de' procellosi spirti, e volge al lido, e fino al cielo innalza gran monti d'onda rapidi e spumanti

Das Thema der Gewässer, die mit ihrer Unbeständigkeit Sinnbild des Fließens der Zeit und des Vergehens des Lebens sind, wird im Barock oft wiederkehren. Das Gefühl für die Vergänglichkeit alles Irdischen prägt Tassos letztes Werk besonders und hat oft die Konturen des heraklitischen Stroms eines Flusses. Das Wasser spielt deswegen eine große Rolle im MOMo creato, zusammen mit dem Licht: Wunderbares Licht spiegelt sich bei der Beschreibung des Phänomens von Ebbe und Flut im Wasser wider (III, 160-185). Die Gewässer (11,54: "vaghe, rare, sottili e preste e snelle") befinden sich, wie die ganze Natur, ständig in Bewegung und nie in idyllischer Stille. Wie dem stürmischen Ozean kommt dem Wald eine besondere Bedeutung in der Beschreibung der Natur des Nordens zu. Er erzeugt Schrecken ("orrore") mit seinen dichten grünen Bäumen, deren Zweige dicht verwoben sind (III, 1149-1150): iboschi verdeggiar con denso orrore di folte piante e d' intricati rami

Die Wälder selbst sind nicht in einer Momentaufnahme festgehalten, sondern haben ein eigenes Leben, eine eigene Bewegung, die durch ein Verb ("verdeggiar") ausgedrückt wird. Tasso begnügt sich nicht mit der Beschreibung des grünen Äußeren der Wälder: Sie müssen lebendig sein und sozusagen ,atmen'. Auch der Himmel ist in ständiger Bewegung, mit Zeichen überfüllt, trüb, finster, bedrohlich, rot, leuchtend und stürmisch (IV, 1176 - 1177: "Spesso in turbata vista 118

Vgl. G. Getto, lnterpretazione dei Tasso, a. a. 0., S. 369 ff.

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anunzia il cielo / venti e procelle e tempestosa pioggia"; IV, 1182-1183: "Rosseggiando il cielo / gia si contrista, onde sara tempesta"). Tasso beschreibt den trüben Himmel mit dicken Wolken, welche die Sonne verdecken, so daß sie wie durch eine Glasscheibe blutgefärbt aussieht. Ein weiteres Phänomen, nämlich eine dreifache Sonne, die im antiken Rom vorgekommen sein soll, erscheine nun lediglich - und das sehr häufig - im frostigen Norden (IV, 1184-1194): E queste avien, quando si move il sole per entro fosca e tenebrosa nube de l'aer denso e 'mpuro, onde traluce, quasi per colorato e grosso vetro. Pero sanguigno, quasi involto ei sembra, o quando intorno al sol si gira e volge gemino sole, e pur tre soli insieme fan di se spaventosa e fiera mostra, si come vida gia I' antica Roma, ed ora a' nostri tempi avien sovente la sotto i sette gelidi Trioni.

Das Phänomen der drei Sonnen ist für Tasso ein typisches Merkmal der nordischen Natur, das Erstaunen hervorruft. Im Rinaldo war diese Erscheinung ein Zeichen für die Gewalt der Zauberei gegen die Naturgesetze (Rinaldo, XII, 75, "ciel ch'appaia di tre soli adorno"), aber in der nach den Lektüren des Olaus geschriebenen Tragödie Re Torrismondo ist es ein natürliches Phänomen geworden, das in der faszinierenden, entfernten Welt des Nordwindes oft in Erscheinung tritt [Torr., 875 - 876: "E 'n questo clima ov' Aquilon rimbomba, / E con tre soli impallidisce il giorno"; vgl. Kap. VIA.c)]. In der Historia de gentibus septentrionalibus behauptet Olaus Magnus, es seien oft drei Sonnen im Norden zu sehen (Hist., I, 17), und Tasso folgt seiner Autorität. Tasso glaubt auch an die besondere Dichte der Himmelszeichen im Norden und lobt den dort lebenden Seemann, der sie interpretieren kann. In diesem Zusammenhang kommt er zur Beschreibung des Nordlichtes, das aber in dem Augenblick des ,sich Auflösens' festgehalten wird und nicht in seiner Entstehung wie bei Orazio Ariosti [vgl. Kap. V.2.b)]. Das Nordlicht ist hier ein von Gott gesetztes Zeichen der Natur, damit die Seeleute wissen, wie sie mit dem Meer und dem Wetter umgehen sollen. Das hat nichts mit Magie zu tun und ist auch nicht erschreckend, wie Edoardo Giacomo Boner gemeint hat, der die drei Sonnen mit dem Nordlicht verwechselt hat. 119 Als Wolkenkrone dargestellt, kann dieses Licht sich von selbst auflösen und damit einen heiteren Himmel und ein ruhiges Meer versprechen; es kündigt aber oft Wind an, wenn sich der Rand an einer Seite bricht (IV, 1208 - 1218): Ma i vari segni in cieI via piu distingue ne' regni d' Aquilon, canuto e scaltro per lunga esperienza iI buon nocchiero. 119

VgI. E. G. Boner, Riflessi boreali nella poesia italiana. Appunti, Messina 1905, S. 32.

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E se giamai quella ehe il sol eireonda, nebilosa eorona, 0 I' auree stelle, in se medesma si dilegua e eade, quasi egualmente al suo sparir s'attende un plaeido sereno e '1 mar tranquillo. Ma quando ad una parte ella si frange, da quella, onde si rompe il bei eontesto de I' aerea eorona, attende il vento.

Das Nordlicht kann ebenso gewaltsame Stürme voraussagen, die wie Kriege von Geistern auf See und im Himmel zu deuten sind. Doch auch in diesem Fall ist das Licht ein Zeichen Gottes und kein Teufelswerk (IV, 1219-1225): Se da piu parti ella si squareia e solve, naseono da piu lati i feri spirti quasi repente, e fan eontesa e guerra in cielo e 'n mar, eh'e tempestoso eampo delle sonore e torbide proeelle. Ma questi segni fa eostanti e vari I' alto voler di lui, ehe move il tutto.

Das chiaroscuro ist in der Beschreibung des nordischen, stürmischen Himmels mit dem Spiel der Elemente und dem Zusammenwirken von Sonne, Wolken und Nordlicht sehr effektvoll. Erhabene Dichtung ist erreicht. Tasso wünscht sich aber Stille. Warum also die Beschreibung des Sturmes? Weil unser irdisches Leben durch einen Sturm metaphorisiert wird, antwortet der Dichter, der Gott um ein Himmelszeichen der Heiterkeit und der Ruhe bittet (IV, 1226-1229): Coslli piaeeia a noi pace tranquilla mostrar da l'alto, e disgombrar d'intomo quel ehe sovrasta minaeeioso e grave a questa vita proeellosa e ' neerta.

Der Norden mit seinen gewaltigen Stürmen eignet sich also zur Darstellung des unsicheren und unruhigen menschlichen Lebens. Die ständige Unruhe der menschlichen Seele (VII, 128: "E l'uomo in se non ha quiete 0 pace") wird von Tasso ausdrücklich mit der unsteten Bewegung aller Naturelemente in Verbindung gebracht. Feuer, Luft, Wasser und selbst Erde, die oft bebt, Städte verschwinden läßt, Berge spaltet und die blinden Abgründe des Ozeans zeigt, befinden sich in unaufhörlicher und heftiger Bewegung. Alle Elemente der konstruierten nordischen Naturlandschaft Tassos, die einer Seelenlandschaft entspricht, sind hier vorhanden (VII, 129-142): Non han quiete in se gli egri mortali, ned opra di natura in se riposa. Ma gira il foco nel perpetuo eorso del eiel sempre inquieto e sempre vago, I' aria agitata da eontrari venti 18 Boccignone

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eda se stessa ognor di visa e sparsa,

I' acqua trascorre e senza pace ondeggia. E questa, ch'a noi par gravosa e ferrna, terrestre mole ancor si scote e crolla da' fondamenti, e ruinose atterra le cittadi e le terre eguali a' monti, e i monti istessi, e scissa il petto e 'I grembo, talor ne le voragini profonde scopre i regni di Pluto e i ciechi abissi e l'ultima ruina altrui minaccia.

Die Unmöglichkeit der Ruhe für den Menschen und für all die Elemente auf Erden ist der sichere Hinweis für die Notwendigkeit, sich an den Schöpfer zu wenden, der allein ewigen Frieden und Ruhe anzubieten hat (VII, 144-145: "Ma nel suo creator pace e riposo I han le create cose"). Es gibt keine einzige erstarrte nordische Landschaft im Mondo creato: Auch dort, wo immer Schnee liegt, gießt der kalte Nordwind Frost aus (III, 452-453: "Aquilone algente I versa mai sempre le pruine e 'I gelo"). Die nordische Natur, die figura des menschlichen Lebens ist, wird stets in reger Bewegung beschrieben und besitzt immer die Konturen des Erhabenen und des Erstaunlichen. Die Ufer der riesigen nördlichen Seen sind gleichzeitig "superbe" und "orride". "Superbo" und "orrido" ist auch der Ozean im Norden. Die zwei Adjektive sind Schlüßelwörter, bezeichnen die nordische Landschaft und stehen oft miteinander in Verbindung. "Orrido" allein würde an das Monströse des Grotesken 120 oder an das Böse und Dämonische l2l erinnern, aber kombiniert mit "superbo" bekommt es eine positivere Bedeutung in Richtung des Gewaltigen und Erhabenen. Andere übliche Adjektive des "stile magnifico" drücken die Größe ("larghi campi", "ampissimi stagni"), die Tiefe ("nel profondo letto", "alte paludi") oder die unendliche Dauer ("perpetua neve") aus. Das Weiß oder Schneeweiß, auch durch Verben ausgedrückt ("candido", "biancheggia"), stellt die dominante Farbe dar, zusammen mit der leuchtenden durchsichtigen Farbe des Eises, das wie reines Kristall oder wie Diamanten erscheint ("lucente adamantino smalto,,).122 120 Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento. .. , a. a. 0., S. 195. 121 Vgl. zum Beispiel Ger. lib., IX, 15: "Ma gia distendon l'ombre orrido velo / che di

rossi vapor si sparge e tigne; / la terra in vece del notturno gelo / bagna rugiade tepide e sanguigne; / s'empie di mostri e di prodigi il cielo, / s'odon fremendo errar larve maligne: / voto Pluton gli abissi, e la sua notte / tutta verso da le tartaree grotte". "Orrido" ist ein Adjektiv, das Tasso meistens für den Winter ("orrido vemo"), den starken Wind ("orrido turbo"), den Frost ("orrido gelo"), den hohen Berg ("orrido monte"), die Nacht ("orrido velo") oder den Kriegsgott Mars ("orrido Marte") verwendet. Das heißt, daß dieses Adjektiv meistens mit weiteren ,nordischen' Elementen vorkommt. 122 Marco Casubol0, der die Semiotik der Farben in der Epik Tassos analysiert hat, hat die religiöse Bedeutung dieser Farbgebung betont und in diesem Zusammenhang sogar von einer Metaphysik des Lichtes gesprochen. Vgl. M. Casubolo, Semiotica e lessico dei colore neil'epica tassiana, in: Torquato Tasso e ia cultura estense, a. a. 0., Bd. 11, S. 777.

5. Der Norden im religiösen Epos Le sette giamate dei manda creato

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Die typisch nordischen Tiere, deren Namen nicht genannt werden, da sie den Italienern unbekannt sind, werden auch mit den oben erwähnten Adjektiven beschrieben: Ihre Stirn ist "alta e superba", während sie auf dem gefrorenen See rennen (I1I, 452-475): si eome la, dove Aquilone algente versa mai sempre le pruine e 'I gelD e i larghi eampi e gli aspri monti agghiaecia, che son canuti di perpetua neve. lvi, eome la fama a noi divulga, sono ampissimi stagni, e nel profondo letto, e fra le superbe orride rive, quasi emule deI mar alte paIudi; e in gel eonverse, anzi indurate e strette, quasi in lueente adamantino smalto, de le veloci rote il eorso e 'I pondo sostengon dei gravoso ed ampio carro ehe gli animali ignoti a' nostri sensi soglion tirar, la fronte alta e superba di piu ramose armati e lunghe eorna, facendo lunga strada al grave plaustro la 've dianzi correa spaImata nave. Ma di tutti maggior candido JagD la sotto i sette gelidi Trioni biancheggia, e quasi eguale al mare Ircano molte ha d'intorno a le sue algenti sponde citta, provincie, regni, ignote genti, popoli barbaresehi; e questi a cacci van per le rive, che gli augei volanti o su per I' onde e dentro a I' onde istesse cercan l'umida preda e 'I cibo usato de gli animai squamosi e de gli alati.

Wie in seiner Tragödie erwähnt Tasso die Region Botten ("Botnia") und "i piu lontani ed ultimi Biarrni" (I1I, 480) als die letzten im äußersten Norden lebenden Menschen [vgl. Kap. VI.4.a)]. Zur Zeit der Abfassung der Gerusalemme liberata waren es noch die Iren, die das letzte Land der Welt ("ultima Irlanda") bewohnten (vgl. Kap. VI.2.). Nun aber hat Tasso mehr Informationen über Nordeuropa und will es der Leserschaft beweisen. Er setzt - OIaus Magnus folgend - die nördliche Grenze der bekannten Welt bei der Küste der Perm (Beormas, "Biarmi") an der Mündung der Dwina am Weißen Meer im russischen Lappland und erwähnt als besonderes Merkmal der nördlichen Region "Botnia" den wunderbaren Reichtum an Fischen (III, 479: "Botnia pescosa"), die in riesigen Seen zwischen ,eisigen, schauderhaften Bergen' (I1I, 481: "que' suoi gelati orridi monti") leben. Unter den zahlreichen großen Seen im Norden erwähnt Tasso den See der Venus (Rist., 11, 19: "Vener lacus"), wie Orazio Ariosti in seinem Epos Alfeo (vgl. Kap. 5.2.1). Ein See, der den Namen der Göttin der Liebe trägt, soll besonders IS*

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

,dichtungstauglich ' sein. Er wird als ,nordischer' See präsentiert, indem der Dichter betont, daß er sich unter der Konstellation des Bären erstreckt. Vierundzwanzig Flüsse fließen in ihn, behauptet der Dichter, indem er sich auf Olaus bezieht, während ein einziger fluß mit ohrenbetäubendem Lärm aus ihm herausströmt und das ,klingende Meer' erreicht. Im See befinden sich Inseln, auf denen dem Herrn des Himmels gewidmete Kirchen stehen. Der einzig wahre Gott wird in jenen Regionen des Nordens mit frommem Kult ("pietoso culto") angebetet, meint der Dichter, der damit auf den christlichen Glauben jener V6lker verweist, die Olaus zufolge (Hist., VIII, 34 und IX, 16) vor der Christianisierung keine pietas kannten (III, 485 - 495): Ne di Venere illago in altra parte, ehe sotto l' Orse si dilata e spande, e nel suo spazioso e largo seno per ventiquattro porte i fiumi aeeoglie, eh'entrano in lui; ma solo aperto un vareo laseia al preeipitoso uscir de l' aeque, ehe per sassoso ea11e al mar sonante eorrono, e 'I suono i suoi vieini assorda. Ei molti aeeoglie ne I' ondoso grembo isole e tempi saeri al Re eeleste, in eui s' adora eon pietoso eulto.

Zwei weitere Seen werden genannt, die Olaus in seinem Werk beschrieben hatte (Hist., 11, 19: "Vether" und "Meler"). Sie sind wie Meere für den Dichter, da ihre Gewässer keineswegs ruhig sind. Die gewaltsame Bewegung des Wassers klingt dem Donnern eines Gewitters oder einem Waffengetöse im Krieg ähnlich. In wenigen Versen kommt der Blitz ("fulmine") zweimal vor, zusammen mit dem entsprechenden Verb "fulminare". Ebenfalls zweimal gibt es den Donner ("tuono"), auch mit dem davon abgeleiteten Verb "tonar". Die Beschreibung eines nordischen Sees mit reißendem Strom kommt also der Beschreibung eines heftigen Gewitters und eines gewaltigen militärischen Sturms gegen eine Stadt gleich. Mit eindrucksvollen Gleichnissen behauptet der Dichter, daß die Naturerscheinungen im Norden mit ihren eigenartigen Geräuschen und Farben - das Wasser blitzt wie glänzendes Eisen - an Kampfszenen erinnern (III, 496-504): Quivi illago di Melce aneo vi stagna fra 'I Regno di Suezia e quel de' Goti. Quel di Vetere appresso ivi mareggia, e di fulmine il tuono, 0 di meta110 imitator dei fulmine, rassembra eon que1 de I'aeque, a110r ehe d'alto il eorso move preeipitando: onde sovente tonar diresti e fulminare il ferro, ehe I' alte mura impetuoso atterra.

Das fließende Wasser als Sinnbild des Lebens läßt nun den Schluß zu, daß das menschliche Dasein ein ständiger Kampf ist.

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Gewaltige Seen sind in allen Ländern des Nordens zu finden: Einen eigenen See hat auch das Königreich Norwegen (Hist., XXI, 43). Ein Naturwunder stellt die riesige Schlange dar, die in den Wellen des Sees lebt und Schrecken hervorruft (III,508-51O): Ha 'I regno di Norvegia il propio lago, ehe 'n veee di prodigio in sen si nutre orrido, spaventoso, empio serpente.

Alle Länder im Norden haben mit mirabilia erfüllte Seen, in denen es nie stilles Wasser gibt. Der See, der in England Erstaunen weckt, ist jener, der wie der nordische Ozean Ebbe und Flut kennt, sich aber asynchron dazu verhält. Auch in Schottland findet man etwas Wunderbares: Dort befindet sich ein tiefer Sumpf, dessen Wasser sich gerade bei Windstille und heiterem Himmel auf unerklärliche Art und Weise autbauscht (III, 511 - 523): L'ha quel d'Ibemia, ov'uom languente ed egro non puo staneo spirar 10 spirto e I'alma, se quinei non e tratto. E fra' Britanni si vede un JagD, ehe pur seema e eresee eon ordine eontrario al mar sonoro: in eui, quando egli eala, illago inonda, ma I' onde a se raeeoglie e toma indietro, quando piu ferve I'oeean superbo. Ha Seozia il Tazio di famoso grido, e la maravigliosa alta palude, ehe quando piu sereno e puro il cielo, ne si movon per l' aria 0 venti od aure, si gonfia, non so eome, e I' onde aeeresee.

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Diese geheimnisvolle und wunderbare nordische Natur, in der die Bewegung des Wassers eine überragende Rolle spielt, ist weit entfernt von der schönen, stillen und idyllischen Natur, die Vasari eine Generation zuvor genoß. Nun sind es der schnelle Blitz, der den Himmel erhellt, der unruhige See und der rauschende Wasserfall, die Staunen erwecken l23 und für Tasso das stürmische irdische Leben aller Menschen am besten darstellen. c) Der Weg in den Norden auf der Suche

nach süßen und reinen Gewässern

Die Gewässer des Nordens erweisen sich nicht nur als bewegter und reicher, sondern auch als reiner und süßer als die übrigen. Die stummen Fische wissen das und schwimmen gen Norden auf der Suche nach dieser kalten, durchsichtigen und hellen Reinheit. Die Menschen sollten ebenfalls handeln, sich auf die Reise 123

Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento... , a. a. 0., S. 149 f.

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machen, die Trübheit hinter sich lassen und nach diesem symbolischen ,Norden' suchen. Die kristallklaren borealen Gewässer dienen metaphorisch zur Erläuterung der Bedeutung moralischer Reinheit und Wahrhaftigkeit (V, 540-547): ... Odi la voce, ascolta dei muto pesce le parole eidetti. Perche ci paria quasi il moto e I' opre, onde a peregrinar l' invita e desta, ed a lasciar torbito flutto amaro, cercando in altra parte acque piu dolci ne' regni d' Aquilone, ove riscalda men co' suoi raggi il sol. ..

Die Fische, die ,Pilger' genannt werden (V, 531: "i peregrini") und eifrig Richtung Norden schwimmen (V, 523 - 524: "frettolosi e pronti / Verso il settentrion han volto il corso"), gehorchen damit einem Naturgesetz, einem ewigen göttlichen Befehl, gegen welchen die Menschen oft verstoßen (V, 534 - 536: "Non fa contesa a la divina legge / Ubidiente '1 pesce, e lei contrasta / l'uomo, indamo ritroso e ribellante"). Diejenigen, die nicht gegen das göttliche Gesetz rebellieren wollen, müssen Tasso zufolge in Richtung der Königreiche des Nordens aufbrechen ("ne' regni d' Aquilone"), ebenso wie die gehorsamen Fische als Pilger dort hinschwimmen, wo das Wasser sauber und süß ist. Es ist eine metaphorische Reise auf der Suche nach Tugend und Reinheit, indem man sich einem göttlichen Gesetz unterwirft und sich als fügsam und folgsam gegenüber dem Schöpfer erweist. Tasso macht dies deutlich, wenn er schreibt, daß die nach Norden schwimmenden Fische uns Menschen als Beispiel dienen sollen (V, 615: "e ci giova de' pesci ancor l'essempio"). Die Aufforderung, dem Fisch auf seinem Weg der Läuterung zu folgen, ist eindringlich: Dreimal wiederholt Tasso die Formel "uom, tu sei pesce" (V, 617; V, 633; V, 638) und betont darüber hinaus, man solle aufpassen, nicht in trüben Gewässern zu versinken (V, 644-646): Se pesce sei, fuor de le torbide onde surgi sublime, e '1 tempestoso flutto non ti somrnerga...

Der metaphorische Norden ist hier ein richtungweisendes Ziel. Die Allegorie der hellen, reinen, frischen und süßen Gewässer des Nordens, die die Fische anziehen, fand Tasso auch bei Olaus (Hist., XXI, 40), der sich wiederum auf Ambrosius bezogen hatte (Hexameron, V, 10, 26 - 30). Diese Sehnsucht nach Reinheit und Unschuld, metaphorisiert durch die borealen Gewässer, drückt sich manchmal auch als Sehnsucht nach einem Tag ohne Sonnenuntergang aus, nach einem unendlichen Licht. Lediglich im äußersten Norden ist ein ,Tag ohne Abend', der eigentlich zum Paradies gehört, möglich (Hist., XXII, 6), ein Licht ohne Schatten (I, 642-643: "la qual non corre faticosa al vespro, / non ha sera, 0 confin di fosco 0 d'ombra").

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Der Norden als Ziel darf nicht mit einer geographischen Größe verwechselt werden. Die erhabenen nordischen Landschaften, die eiskalten Berge oder die fremden Gestade und der tiefe Ozean im wörtlichen Sinne stellen das Bewundernswerte dar, das nur Abenteuerlustige unruhig suchen. Dieser ,physische' Norden als exotisches, kurioses, fremdes Land kann keine Erlösung versprechen, sondern nur den neugierigen Geistern eine oberflächliche Freude bereiten. Die Wunder der Natur im Norden sollen hingegen die Menschen dazu bringen nachzudenken. Der Mensch soll nach einem metaphorischen Nordpol, nach dem Himmel streben. Der symbolische Norden ist für Tasso nicht da, um einfach den Wunsch der Schaulustigen nach dem Neuen zu befriedigen. In der 1587 geschriebenen Kanzone Alla beatissima Vergine in Loreto macht er es deutlich: Die frostigen Berge, die fremden Küsten und das tiefe Meer (Rime, 1654,54-55: "i piu gelidi monti e i salsi lidi / peregrini cercaste e '1 mar profondo"), das heißt die wunderbaren Naturerscheinungen seines konstruierten Nordens werden zusammen mit den großen Bauwerken der Antike der himmlischen Bescheidenheit (Rime, 1654, 65: "umilta celeste") des Hauses Mariae in Loreto gegenübergestellt. Nur letzteres ist ein echtes Wunder (Rime, 1654, 59: "miracolo") ohne Vergleich. Der büßende Christ, der in Loreto die Gottesmutter Maria anbetet, muß nicht nur zugeben, daß die Werke der Antike aus Hochmut entstanden sind, sondern auch, daß die verlockenden, extremen und erhabenen Naturphänomene des Nordens nur die irdischen Sinne befriedigen und daher Objekt eines falschen oder unwürdigen Verlangens sind. Der Betende, der sich ausschließlich nach dem Himmel sehnen soll, identifiziert die Wunder der Natur im Norden mit den Objekten einer irdischen Abenteuerlust. Im Mondo creato bezieht sich der Dichter schließlich nie auf eine geographische, sondern immer nur auf eine metaphorische Dimension.

d) Das gefrorene Meer, wo die Walfische hausen

Der metaphorische Norden stellt im Mondo creato auch die Unerreichbarkeit des menschlichen Zieles auf Erden und den Hinweis auf die Notwendigkeit dar, das Glück und die Ruhe letztendlich im Himmel zu suchen. Tasso erwähnt zu diesem Zweck die geheimnisvollen Riesen des nordischen Ozeans und seine unbekannten, nie gesehenen Verstecke. Die Wale sind wegen ihrer übermäßigen Größe etwas Besonderes: In der Gegenwart bringt die Natur keine mit Vernunft ausgestatteten Riesen mehr hervor, sondern lediglich diese Riesentiere, die zur Erniedrigung des menschlichen Stolzes dienen sollen. Elefanten und Walfische werden von der Natur weiterhin gezeugt, ohne daß sie es bereut: Tasso zitiert an dieser Stelle Dante (In!, XXXI, 52-53: "E s'ella d'elefanti e di balene / non si pente"). Als Geschöpfe Gottes sind die Wale gut und wecken in den Menschen Schrecken und Angst mit ihrem außerordentlichen Aussehen, um ihnen damit eine Lektion in Demut und Bewußtsein der eigenen Grenzen zu erteilen. Tasso erwähnt beide große Tiere, die im äußersten Süden und im äußersten Norden leben, beschreibt jedoch nur die nordischen Ungeheuer, die wie Berge und Inseln erscheinen und nicht, wie

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

die übrigen Tiere auf Erden, für die Menschen geschaffen wurden, sondern lediglich als Zeichen der Allmacht Gottes (V, 553-575): Ma ricerchiam perch'i giganti altieri piu la natura non produce, e figlia la terra pregna de I' orribil parto. Ma d'elefanti ancora e di balene non si ripente. E se fatture ed opre son pur de la divina etema destra, son buone, e buone fur da lei prodotte; che le produsse grandi, a' monti alpestri ed a l'isole eguali; e '1 nostro orgoglio volle abbassare, e dame alto spavento con quel si monstruoso e fiero aspetto, e con la smisurata orribil mole. Pero che Dio quando creo primiero tanti animali, e si distinti e vari e d'opere e di moto e di sembianti, altri a servime gli produsse in terra per uso umano e ubedienti al nostro placido impero, e talor grave ed aspro. Per sua grandezza e per sua gloria ancora alcuni altri produsse, e 'n lor dimostra quella, che fa gran cose, arte divina, e divina virtu, che presso e lunge piu e men chiaramente altrui risplende.

Der nordische Riese, der Walfisch, ist also hier nicht figura Satans, des Lügners und Betrügers, der während des Schlafs für eine Insel gehalten wird und dann die Menschen mit sich in die Abgründe des Ozeans reißt. 124 Der Walfisch ist hier vielmehr einfach nicht verfügbar. Seine Bedeutung in der gesamten Schöpfung hat nichts mit dem Nutzen zu tun, den die Menschen aus den ,normalen' Tieren ziehen. Das Ungeheuer des Ozeans, welches im äußersten, unerreichbaren Norden sein Zuhause hat und nach der biblischen Erzählung Jona schluckte (V, 594-595: "Ne favola e quel Giona in mar sommerso, / ed inghiottito dal vorace mostro"), ist also nicht da, um den Menschen zu dienen, sondern spielt eine sonderbare Rolle im Plan Gottes. Gerade in ihrer Unverfügbarkeit liegt der Sinn solcher rätselhafter Wesen. Ihnen teilte die Natur einen Lebensraum zu, der als unüberschreitbare Grenze für die Menschen gelten soll, das weite mare congelatum, in dem es keine Inseln mehr gibt oder besser gesagt keine Inseln, die von den Seeleuten zu erreichen sind. Die Walfische, die sich wie Berge erheben, leben in der Tat in einem 124 Der Walfisch, der für eine Insel gehalten wird, findet sich sowohl in der Geschichte des Seemanns Sindbad als auch in der Legende des Hl. Brendan und den meisten mittelalterlichen Bestiarien. Auch Olaus Magnus erwähnt diese Legende, der er vollen Glauben schenkt, und bezieht sich dabei auf den Hexameron (V, 11) des Heiligen Ambrosius (Hist., XXI, 25: "Balena insula natans creditur").

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verbotenen Raum, in jenem Meer, das nicht zu bereisen ist, das immer unerreichbar und den Menschen unbekannt bleiben wird (V, 489 - 504): Conobber prima le balene e I' orche illoco che natura a lor prescrisse, e 'I preparato pasto, e 'I mar profondo d'isole desolato ollre i paesi abitati occupar, dove non resta d' a1cuna parte piu la stabil terra, dove piu non appare 0 lido 0 monte, dove arar non si ponno i vasti campi d'innavigabil mare, ove non giunse, spiando nove genti e novi regni, e nova gloria, il navigante audace. Ove non prisca sloria, 0 vecchia fama, non ardir, non pensiero umano ed alto dei folie immaginar la nave approda. Ma quel medesimo ignoto immenso mare ingombrar la balene eguali a' monti

Der Topos der Unerreichbarkeit der Walfischverstecke, der hier zur Geltung kommt, findet sich auch bei Olaus Magnus, der an sie ebenfalls als den Bergen ähnelnd erinnert (Bist., XXI, 25). Dort, wo es kein Ufer mehr gibt, keine Insel, auf die der Mensch seinen Fuß setzen kann, breitet sich das letzte Meer aus, das von einem mutigen Seemann auf der Suche nach einem größeren Ruhm nie erreicht worden ist. Die gewagte Suche nach dem Neuen, seien es ,neue Völker' oder ,neue Königreiche', findet im letzten Meer im Norden ein Ende. Dort, wo die Walfische hausen, kommen die Schiffe nicht hin. Selbst die menschliche Imagination gelangt nicht dorthin. Dieser metaphorische Norden steht für eine letzte, unüberwindbare Grenze. Jeglicher menschliche Gedanke, sei er auch so tiefgründig oder gewagt wie nur möglich, kann also eine unbesiegbare und unerforschbare letzte terra incognita nicht durchdringen. Die Wissenschaft der Zeit erklärte, daß der Nordpol wahrscheinlich nie erreicht werden könne. 125 Dem Wagnis der neugierigen Menschen ist wohl eine Grenze auf dieser Welt gesetzt. Für Tasso stellt dieser Ort, der weder von Geschichte, noch von Ruhm, noch von menschlichen Gedanken und Imagination berührt werden kann, keine materielle, sondern eine intellektuelle Grenze dar. Dies wird deutlich, wenn man diese Stelle mit anderen Teilen des Mondo creato in Zusammenhang bringt, in denen der Dichter nochmals die menschlichen intellektuellen Grenzen betont: Das menschliche Denken oder Wissen sei wie die Sicht eines Nachtvogels, dessen Augen in der Dunkelheit sehen, aber vor dem Licht der Sonne wie krank und blind sind, als ob Finsternis herrschte. 126 125 Vgl. die Zusammenfassung der verschiedensten Theorien in G. L. D' Anania, L'universalefabrica dei mondo, Venetia 1582, S. 181. 126 Mondo creato, V, 1229-1237: ..E come gli occhi de l'augel notturno / sian somiglianti ad uom, che tutto intenda / d'umana sapienza a' vani studi? / Perehe di quello in tenebroso orrore / la vista e forte, e poscia ha lumi infermi / la dove il solle tenebre disperda. / cosi di

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

Das wahre Licht könne als Finsternis erscheinen, die Finsternis als trügerisches Licht. Der metaphorische äußerste Norden stellt in seiner Unerreichbarkeit die reine, durchsichtige, perfekte Wahrheit dar, das wahre, ewige Licht, das die Richtung weist, aber nicht zu greifen ist. Für den Dichter ist dagegen das trügerische Tageslicht der Wahrheit, die hochmütige und erbärmliche Menschen zu besitzen glauben, - ohne göttliches Licht - dunkel und trüb. Sie ist wie ein in Sand geschriebenes Wort, das in der Dämmerung eines kurzen Tages von den Wellen und dem Wind weggewischt wird. Die Schwäche der menschlichen sapientia und imaginatio wird auch in diesem Fall durch ,nordische' Elemente ausgedrückt: durch ,den kurzen Tag' und das Zusammenwirken von Meer und Wind. 12? Einige Zeitgenossen Tassos nahmen für sich in Anspruch, in der Groteske alles darstellen zu können, was man sich nur vorstellen kann, ohne der Imagination irgendeine Grenze einzuräumen. 128 Bei Tasso ist dies anders: Das "folie immaginar" (V, 502) bedeutet das unerlaubte Wagnis, das an den "folie volo" des Odysseus bei Dante (In!, XXVI, 125) erinnert. Eine zu weit getriebene imaginatio borealis auf den Spuren der Walfische im gefrorenen Meer ist eine Sünde des Geistes, eine Verrücktheit, ein unerlaubter Wunsch, der zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist. Schon Gianfrancesco Pico della Mirandola hatte die Übel, die dem Menschen aus einer fehlgeleiteten Phantasie erwachsen könnten, ergründet und das Seelenvermögen der Vorstellungskraft als eine Quelle menschlicher Gefährdung geschildert. 129 Die "imaginatione" oder "fantasia" war im Verständnis der Zeit eng mit der Wahrnehmung der Sinne verbunden: Sie konnte in Abwesenheit Objekte abbilden und kombinieren, die von den Sinnen wahrgenommen worden waren. Sie hatte darüber hinaus eine eigene Kraft, etwas Reales zu bewirken, wie zum Beispiel die Geburt von monstra zu verursachen. Tasso selbst hatte diese Wirkung der Imagination in der Geschichte der schönen Clorinda - weiß trotz ihrer beiden schwarzen äthiopischen Eltern - gezeigt (Ger. lib., XII, 21-25). Die Mutter habe das Bild einer weißen Frau lange angeschaut und sich das Bild durch ihre imaginatio so stark eingeprägt, daß sich das Merkmal des imaginierten Objektes in den Körper des Kindes ebenfalls einprägte, wie die medizinische Wissenschaft der Zeit glaubte. 130 questi appare acuto ingegno ! nel vano contemplar , ma in vera luce !Ia debil mente imbruna e tutta adombra." 127 Mondo creato, VI, 812-818: "E non s'avvede la superba mente / de gli orgogliosi e miseri mortali, ! che in polve scritta ed in minuta arena !Ia verita che trova umano ingegno ! senza lume divin, che l'alme illustra, ! onde ne l'imbrunir d'un breve giorno / la si porta e disperde il mare e 'I turbo." 128 Vgl. C. Ossola, Autunno dei Rinascimento, a. a. 0., S. 196 f., vor allem in Hinblick auf Giovan Paolo Lomazzo. 129 Tasso wußte, daß seine "imaginazione" krank war, kannte deren Gefahren und litt darunter. Vgl. B. Basile, Poeta melancholicus. Tradizione classica e foUia neU 'ultimo Tasso, Pisa 1984, S. 29 ff. und S. 59 ff.

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Die imaginatio bleibt trotz ihrer Kraft ein niedrigeres Seelenvennögen als der Intellekt, der ohne jegliche Anregung durch die Sinnesorgane etwas erfassen kann. So wird man Tasso nicht des Widerspruchs beschuldigen dürfen, wenn er behauptet, der Mensch könne nicht mit der Imagination das Eismeer und die Verstecke der Walfische im Norden erreichen, aber er könne die ganze Erde, einschließlich des äußersten Nordens wie der unteren Hemisphäre, mit dem Intellekt als Einheit erfassen. Wenn der Mensch dank seiner Imagination äußere Dinge abbildet und verknüpft, aber nicht jedes Geheimnis durchschauen kann (und das gefrorene Meer mit den dort lebenden Walfischen ist ein Bild davon), so kann er doch mit seiner Seele durch die Kontemplation die ganze Erde als eine Einheit begreifen und so einen erreichbaren Norden von "Finmarchi" und "ultimi Biarmi" und sogar den anderen Pol und das ganze Universum vor dem geistigen Auge haben (VII, 40-56): ... si toglie il velo de la terra interposta, e 'n Dio mirando scorge nel suo gran lume il mondo accolto, ehe divien quasi angusto a l'alma accesa, ehe fuor dei mondo rapta, e nulla adombra i popoli co' regni a' Imni interni. ta1che ne' gradi lor disposti intorno sol contemplando, il pellegrino ingegno scopre i Finmarchi egli ultimi Biarmi, e scopre insieme gli Etiopi e gli Indi. E d'un lato gli appare il freddo Carro e 'I pigro Arturo, e pur nel tempo istesso altro polo, altri lumi insieme ei scorge. Non perehe il mondo a lui s'accorci e stringa, ma perehe la sua mente in Dio s'avanza, e divien ampia si ch'a lei soggetto l'universo in un guardo accoglie emira.

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Das, was dem "folle immaginar" des hochmütigen Menschen, der nach dem eigenen Ruhm strebt, unmöglich ist, nämlich die nördliche Grenze zu überschreiten, ist nun dem "pensier sublime" (VII, 60), dem ,,rapido pensiero" (VII, 38) oder dem "pellegrino ingegno" (VII, 47) erlaubt, weil es sich um die Seele handelt, die sich in Gott vertieft und von ihm das Licht bekommt, um klar zu sehen. Der Intellekt kann auch das aufnehmen, was die Augen nie gesehen haben. Tasso glaubte stolz an seine Genialität, die seiner Meinung nach mit dem poetischen Furor und selbst mit seiner melancholischen Krankheit verbunden war, denn er hatte den platonischen Dialog Ion in der Übersetzung von Marsilius Ficinus gelesen. 13l Sogar das irdische Paradies, das in einem fremden Land mit einem ungewöhnlichen 130 Vgl. R. Varese, Clorinda nata dalla ,imaginatione', in: Torquato Tasso e la cultura estense, a. a. 0., Bd. 11, S. 801-814. 131 Vgl. B. Basile, Poeta melancholicus... , S. 15 ff. und S. 30 ff.

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Klima zu suchen sein soll, ist dem inneren Auge des Intellektes durch die Eingebung Gottes nicht mehr entzogen (VII, 61 - 65): Ricerca pur dove il cultor eterno il paradiso a maraviglia adorno facesse, e 'n quale istranio ignoto cIima fiorisser le felici e nove piante, quando pria fu creato il padre Adamo.

Es ist möglich, daß Tasso wie sein Zeitgenosse Postel sich vorstellen konnte, das irdische Paradies auf die Spitze eines Bergs auf der Insel am Nordpol zu setzen. Auch Gerhard Mercator hatte in seiner Polarkarte von 1595 diese Insel am Nordpol mit dem Kommentar "Haec insula optima est et saluberrima totius septentrionis" versehenP2 Auf jeden Fall setzt Tasso im Norden mit dem gefrorenen Meer eine symbolische Grenze für die Menschheit: das für immer verlorene irdische Paradies oder das mysterium, das physisch nicht zu erreichen ist und von den menschlichen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Tacitus hatte dieses nördlich der Suionen liegende, träge und nahezu unbewegte Meer als Grenze der Welt bestimmt. Solch ein Meer begrenze den Erdkreis ringsum und schließe ihn ein, da der letzte Schein der schon sinkenden Sonne bis zum Wiederaufgang anhalte, und zwar so hell, daß er die Sterne überstrahle. Dort liege - und Tacitus meinte, die Kunde sei wahr - das Ende der Welt. 133 Nun ist das eisbedeckte, träge Meer des Nordens, in dem sich die Walfische verstecken, wieder das Ende der Welt, aber nicht der physischen Welt. Es steht metaphorisch für die Grenze der menschlichen Möglichkeiten. Nur wenn der Mensch sich auf den Weg zu Gott macht und über die irdische Welt hinausgeht, kann er diese unsäglichen Regionen jenseits jeder menschlichen Grenze erreichen und das, was damit symbolisiert wird, begreifen. e) Der wilde (männliche) Norden und das weiche (weibliche) Italien

Nach der Feststellung, daß der heimische Feigenbaum durch das Pfropfen des wilden Feigenbaums veredelt und dadurch stärker wird, fragt sich Tasso im Mondo creato, was dieses Geheimnis der Natur für Italien bedeuten soll. Er gelangt zu einem bemerkenswerten Schluß: Vom Norden, den ,schrecklichen Bergen' ("orridi monti") und den wildesten Orten in äußerster Feme kommen die nötige Härte und Vgl. L. Bagrow, Die Geschichte der Kartographie, Berlin 1951, Abb. Nr. 96. Tacitus, Germania, 45, 1: .. Trans Suionas aliud mare, pigrum ac prope inmotum, quo cingi claudique terrarum orbem hinc fides, quod extremus cadentis iam solis fulgor in ortus edurat adeo clarus ut sidera hebetet; sonum insuper emergentis audiri formasque equorum et radios capitis adspici persuasio dicit. Jl[uc usque et - fama vera - tantum natura". Die Zitate folgen der Ausgabe hrsg. von J. PeITet, Paris 1949. 132

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Männlichkeit, die nicht erlauben werden, daß Italien sich in die vollkommene Verweichlichung stürzt. Nordische Ausländer bringen in das weiche, schwache und kranke Italien "virtu" und Beständigkeit, entweder durch eheliche Verbindungen und Nachwuchs oder wenigstens durch das Vorbild, das sie geben können. Wildheit, Schrecken, Härte und Rauheit aus dem Norden heißen eigentlich Kraft und Gesundheit für ein scheinbar in Frieden lebendes und doch unbewußt im Innern verwundetes und kränkelndes Land wie Italien, dessen "tenero" oder gar "morbido" gefestigt werden soll (III, 1362-1374): Qual di natura e questo oseuro enigma? Forse in tal modo ella e'insegna e mostra ehe da gli strani aneora a noi eongiunti virtu s'aequista a le buone opre, e fenna eostanza. Adunque Italia omai rimiri, Italia aneor languente, aneora infenna, via piu ehe 'n guerra, in neghitosa pace, ehe I'interno suo mal non vede 0 sente; miri gli orridi monti, e 'n loeo alpestre cerchi la gente orribile e selvaggia: quinei il tenero suo, ehe langue e eade, anzi il morbido suo eonfenni e 'nduri per unione 0 per essempio almeno.

Kein Norden im geographischen Sinne, sondern ein ,moralischer' Norden wird nun gesucht, der Tasso zufolge im allgemeinen auch in bergigen Landschaften zu finden ist, überall dort, wo das Leben wegen der klimatischen Bedingungen sehr hart ist. Tasso hatte schon in der Auflistung der Kreuzritter im ersten Canto der Gerusalemme liberata deutlich gemacht, daß er nach der traditionellen Klimatheorie die Menschen aus den rauhen Ländern für mutig und stark und die Leute aus den fruchtbaren und schönen Ländern für schwach und weich hielt (vgl. Kap. VI.2.). Auch im Rinaldo hatte der Dichter erwähnt, daß aus den "orridi monti deI ge1ato Scita" (Rinaldo, IV, 8, 6) die Menschen mit den härtesten Herzen kämen (Rinaldo, IV, 8, 3: "i piu duri petti"). Sie wären selbst ,weich' geworden, wenn sie den Liebeszug Rinaldos hätten sehen können, wie es der junge Tasso mit einer Hyperbel ausgedrückt hatte. Nun dagegen ist die Härte gefragt. Die Schönheit des Landes selbst ist für Italien zum Verhängnis geworden und eine der Ursachen seiner schweren moralischen Krise. Ein kraftloses Land ist für den Dichter wie ein Mann, der sich durch die Versuchungen der Genüsse und eines müßigen Lebens in ein Weib verwandelt hat. Damit hat er das robuste Herz abgelegt, das die Natur den Männern geschenkt hat. So ehrenwert die Verwandlung einer kämpferischen Frau in einen Mann in Ariostis Alfeo ist (vgl. Kap. y'6.), so schändlich ist an dieser Stelle die Metamorphose eines harten Mannes in eine schwache und müßige Frau (III, 1375 - 1383):

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos Ma in niun peggior modo e piu spiaeente traligna, e perde la robusta pianta il suo vigor e la sua prima forza, s'egli adivien, eome sovente ineontra, ehe in femina di masehio egli si eangi. E quinci I'uomo aneor si guardi e sehivi d'ammollir, quasi donna, il eor robusto ehe natura gli die, tra i vezzi egli agi, per ozio, per diletto 0 per lusinga.

Es ist interessant zu bemerken, daß Verweichlichung und Entartung nicht das Ergebnis der Mischung von verschiedenen Völkern sind, sondern eher die Folge von Degeneration und Verfall, der gerade durch den Mangel an einer bereichernden Mischung entsteht. Hier liegt der Unterschied der Vorstellung Tassos gegenüber jener des Tacitus und vieler deutscher Humanisten, denen zufolge gerade die Autochtonie und die ,Rassenreinheit' 134 der Germanen ihre Stärke und Unverdorbenheit ausmachten. Tasso glaubt nicht, daß die Einheit physischer Art oder die Tatsache, daß sie vom Strom der Kultur unberührt blieben, die Menschen des Nordens erstarken läßt, sondern das Klima und die natürlichen Begebenheiten allein sie rauh, kraftvoll und gesund machen. Tasso idealisiert naturhafte Völker nicht, die angeblich keinen Anteil an der Kulturdiffusion haben und daher ein gesundes Leben führen und eine gewisse ,Barbarenfreiheit' genießen. Bei ihm ist die Polarität von Geschichte und Natur wie bei Tacitus nicht zu finden, denn er erkennt selbst den nordischen Völkern eine ehrenhafte Geschichte zu. Seine harten Helden, die Italien vor dem Verfall retten können, sind keine primitiven Barbaren. Ihre große Kraftquelle entstammt nicht ihrer Primitivität, sondern ihrer mit der rauhen Landesnatur verbundenen kämpferischen Haltung, die für Tasso ein Synonym für echte Männlichkeit darstellt. Es wird nicht explizit ausgedrückt, aber sowohl die Bedeutung, die Tasso der Mischung von Völkern beimißt, als auch die Metaphorik der Veredelung, des gelungenen Pfropfens, lassen verstehen, daß Tasso an einen für alle gewinnbringenden Austausch denkt: Die ,weichen' Italiener, die allein gelassen verfallen und in die Verdorbenheit geraten, werden in der Lage sein, die extreme Härte der kraftvollen Nordmänner zu mildem und zu mäßigen. 135 134 Tacitus, Germania, 4, 1: "lpse eorum onpinionibus accedo, qui Germaniae populos nullis alUs aliarum nationum conubiis infectos propriam et sinceram et tantum sui similem gentem extitisse arbitrantur: .. 135 Vgl. Lettera dalla Francia, 31: "gli uomini ehe albergano ne' luoghi piaeevoli e piani sono non diro imbelli, ma mansueti e pacifiei, egli altri abitatori de' monti hanno natura robusta e bellieosa; egli uni egli altri, quando siano vieini fra loro, danno e rieevono vieendevolmente alcuni benefici: perehe questi porgono aiuto d'armi e di forze, quelli di vettovagHe e d'industria d'arti, e di civilta di eostumi, di maniera ehe eongiungendosi la mansuetudine eon la ferocita, viene a farsene un maraviglioso temperamento ... ".

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Tacitus hatte in der Vorstellung der kriegerischen Germanen, die als stark, elementar, urtümlich, jähzornig und frei galten, das Medium für Zeitkritik gefunden. Bei den Germanen würde noch die virtus zählen, die in Rom und Italien vernachlässigt würde. Tasso geht weiter und wünscht sich, im Namen der virtus - nun aber "virtu ... ale buone opre" (III, 1365) - die Vereinigung ("unione") mit dem wilden und rauhen Volk, das in schwierigen klimatischen Bedingungen geboren wurde: Der Norden soll schließlich das schöne Land Italien befruchten und vor seiner inneren Krankheit retten. Die Metaphorik der Umpflanzung wird in der letzten Dichtung Tassos oft verwendet, um die Bewegung der Menschen von Norden nach Süden oder umgekehrt auszudrücken, wie in der Erklärung von Guelfos Ursprung, der dem Geschlecht d'Este angehört und über die Regionen an Rhein und Donau herrscht (Ger. conq., I, 44, 5 - 6: "ma come si traslata abete, 0 pino, / ne l' alta stirpe e de' Guelfoni inserto"). Vor allem die christlichen Normannen in Süditalien sind für Tasso das schönste Beispiel für die gelungene ,Umpflanzung' eines kraftvollen nordischen Volkes, das heißt eines guten Samens in einen fruchtbaren Boden und ein günstiges Klima (Ger. conq., VI, 20): E com'arbor traslata in nobil parte, al' aure fresche, a' tepidi splendori, alza il crine e le braccia intorno sparte, spiegando verdi fronde e frutta e fiori, ehe 'I sol gli splende amico e Giove e Marte: COSt fra le vittorie e fra gli onori di peregrina stirpe i pregi accrebbe la bella ltalia, a cui tant' ella debbe.

Italien ist also dem fremden Geschlecht der Normannen etwas schuldig, dient aber mit seinem schönen Klima seinerseits zur Veredelung des nordischen Volkes. Der späte Tasso, der Olaus gut kennt, stellt sich das Ursprungsland der Normannen als eine Erdregion vor, die besonders kalt ist und aus einer Halbinsel mit drei Königreichen besteht, auf drei Seiten vom Meer umgeben und auf der vierten unbegrenzt. Nördlich dieser Insel breitet sich noch immer eine terra incognita aus (Ger. conq., VI, 17, 1-4): Essi ancor sin la 've il mar circonda tre regni estremi de la fredda terra, fuor ch'una parte, ehe l'instabil onda non cinge, e muro non circonda e serra

Die drei Länder, die auch in der Tragödie erwähnt werden ("Gothia", "Suetia" und "Norvegia"), gelten also hier als die letzten Königreiche der bekannten, zivilisierten Welt ("tre regni estremi"), wobei das Adjektiv "estremo / a" in der Neufassung der Gerusalemme das traditionelle, vergilische "ultimo/a" ersetzt hat (Ger.

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

conq., 1,49, 8: "la divisa dal mondo estrema Irlanda"). "Estremo" ist auch das Adjektiv, das Tassos Freund Orazio Ariosti in seinem nordischen Epos Alfeo für die Inseln und Länder im äußersten Norden gebraucht. Der gegenseitige Einfluß ist sicher nicht auszuschließen. Aus allen drei ,letzten' skandinavischen Ländern stammen für Tasso die Normannen, die nach Italien kommen, nachdem sie die Normandie erobert hatten. Er glaubt, daß sie zuerst "Norvegi", dann "Normandi" genannt wurden (Ger. conq., VI, 17: "possenti in arme, e gloriosi e grandi, / detti Norvegi prima e poi Normandi"), und ihre Verdienste und ruhmreichen Taten sollen in allen Buchten des Ozeans bekannt sein (Ger. conq., VI, 36, 3 -4: "quanto l'Ocdmo i seni estende, / son de' miei gran Normandi i merti illustri"). Das Mittelmeer erscheint nun wie ein kleines geschlossenes Meer gegenüber dem breiteren Ozean, der mehrere Länder berührt. Der Ruhm mißt sich also am Ozean und nicht mehr am Mittelmeer.

Die Glorifizierung der Normannen ist eine Neuerung der GerusaLemme conquistata und paßt in das gesamte Konzept vom ruhmreichen, heroischen Norden des späten Tasso, der an eine durchaus positive transLatio gentis von Nord- nach Südeuropa denkt. 136 Im Mondo creato haben wir es mit einer Polarität Nord-Süd zu tun, die einer Polarität Mann-Frau, Stärke-Schwäche, Härte-Weichheit, StrengeSanftheit entspricht. In der Vereinigung dieser entgegengesetzten Merkmale ist letztendlich eine gegenseitige Bereicherung zu erkennen. Die alte Klimatheorie, nach der die Merkmale der Völker mit der Natur des Landes zusammenhängen, ist im übrigen in diesen Jahren sehr verbreitet: Man denke an Jean Bodin in Frankreich (De La republique, 1576), an Paolo Paruta (Delta perJezione delta vita poLitica, 1579), der den Unterschied zwischen dem Menschen des kalten Nordens (mutig, stark, sittlich) und dem Menschen des warmen Orients (feige, faul und unkeusch) skizziert, oder an Giovanni Botero (Delta rag ion di stato, 1589), der an die Komplementarität der Eigenschaften der Menschen des Nordens mit denen der Menschen des Südens glaubt. 137 136 Der Held Tancredi ist in der Conquistata "gloria d'Italia e dei valor normando" (Ger. conq., VII, 28, 4). Domenico Bonini kommentiert folgendermaßen: "Tancredi supera l'angusta rivendicazione nazionalistica divenendo a un tempo gloria della latinita e vanto della barbarie (valor normando), il miglior prodotto insomma dell' incontro dei due mondi che in quella civilta contano." Siehe D. Bonini, Gerusalemme Conquistata e Gerusalemme Liberata, Neuchatel1973, S. 109. 137 Vgl. G. Botero, Della ragion di stato, con tre libri Delle cause della grandezza delle citto, due Aggiunte e un Discorso sulla popolazione di Roma, hrsg. von L. Firpo, Torino 1948. Die Menschen des Nordens haben bei Botero Eigenschaften, die zum Teil von Tacitus (den Botero manchmal ausdrücklich zitiert) den Germanen zuerkannt worden waren: Sie sind groß und stark, mutig und ehrlich, keusch und fröhlich, neigen zur Trinksucht. Von den verschiedenen Säften haben sie in starkem Maße Blut. Im Süden sind dagegen die Menschen weniger tapfer, dafür aber schlau, listig und fähig, etwas vorzutäuschen. Die Melancholie gilt bei ihm noch als eine Eigenschaft der Menschen im Süden. Das "animo grande" scheint bei Botero die größte Tugend der nordischen Völker zu sein, was ihm zufolge wiederum ein Nachteil sein könnte, denn "animo grande" oder "gran cuore" bedeute eine unmäßige Liebe zur Freiheit, was die Ursache für die Verneinung der Autorität der römischen Kirche und für

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Tasso beschäftigt sich im Unterschied zu Botero weder mit den Ideen der Reformation im Norden noch mit der vermeintlichen Überbevölkerung in den nördlichen Regionen Europas. Ihn interessiert lediglich der Norden als Kraftquelle für ein als verdorben und verweichlicht empfundenes Italien der Gegenwart. Vor allem in der letzten Phase seines Schaffens betont er diese Notwendigkeit. Man kann eine Entwicklung in seinen Vorstellungen im Hinblick auf die Bereicherung Italiens durch die Härte des Nordens feststellen. Die klimatische Theorie akzeptierte Tasso im wesentlichen schon in einer ersten Phase, wie in seiner früheren Schrift über seine Reise nach Paris (Lette ra dalla Francia) deutlich wird. Er behauptete, die Suche nach einem Ort, an dem es möglich sei, einen perfekten Staat zu gründen, hätte für ihn zur Folge gehabt, daß die Orte im Gebirge wegen der ursprünglichen Kraft der Menschen zu bevorzugen seien, während die Städte am Meer durch den Kontakt mit fremden Völkern in der Reinheit ihrer Sitten beeinträchtigt wurden. Beim Betrachten der "co se naturali" (Luft und Boden) betonte er im Hinblick auf die Folgen, die sie auf die Menschen und deren Charakter haben, die berühmte natürliche Unterscheidung zwischen Menschen des Nordens und des Südens: Die Menschen, die in südlichgelegenen Regionen geboren werden, seien von brillantem Geist, aber feige und schwach und für die Gefahren und die Anstrengungen des Krieges ungeeignet, weil sie wenig Blut haben. Tasso meinte, sie seien von Natur aus so beschaffen, aber dank der Disziplin könne sich viel ändern. Deswegen gäbe es selbst in den südlichen Regionen sehr gute Soldaten, wie zum Beispiel die Karthager. Die Regionen, die im Norden liegen, brächten Menschen hervor, die viel essen und viel Blut haben und deshalb kräftig und kriegerisch seien, jedoch einen groben und stumpfsinnigen Geist hätten. Die Physiker begründeten diese Folgen mit der schlechten Zusammensetzung der Luft und mit dem Überfluß an Wärme oder Kälte. 138 Tasso glaubte an eine Zone in der Mitte, die von ,Südlichkeit' und ,Nördlichkeit' profitiere und in der ein Gleichgewicht zwischen Mut und Kraft auf der einen Seite und Klugheit und intellektueller Begabung auf der anderen herrsche. In seiner die Akzeptanz der Ideen der Reformation unter den nördlichen Völkern sei, die gerne ein geistliches Oberhaupt nach ihren Wünschen hätten (Della ragian di stata, 11, V). Die Menschen im Norden galten von Natur aus als keuscher als die des Südens, aber der Norden, aus dem die Völker hervorgegangen seien, die das römische Reich zerstörten, wurde schon immer wegen seines ungenügend fruchtbaren Bodens als überbevölkert empfunden und als Ursprungsland von Auswanderern gesehen (Della ragian di stata, VIII, IV). 138 Lettera dalla Francia, 10-11: "gli uomini che nascono ne' paesi che soggiacciono al mezzogiorno, se ben vagliono d'ingegno, avendo poca quantita di sangue sono timidi e deboli einetti alli pericoli e alle fatiche della guerra: dico naturalmente, perche so bene quanta possa la disciplina, e che in virtu di lei, ovunque nasce uomo, nasce soldato, onde in queste istesse provincie australi sono stati buonissimi soldati, come i cartaginesi. Le regioni, all'incontro, che sono sottoposte al settentrione, producono gli uomini di gran nodrimento e di molto sangue, e pero robusti e guerrieri, ma di spirito grossi e ottusi, e d'ingegno stupido e poco disposto alla speculazione e agli uffici della civilta; ed i fisici recano le cagioni di questi effetti al mal temperamento dell'aria, e all'eccesso dei caldo edel freddo." 19 Boccignone

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Schrift über Frankreich und Italien dachte er dabei an Griechenland und Italien als Regionen, die in der Mitte zwischen dem nördlichen und dem südlichen Raum liegen: Dort seien die Menschen schlau und gleichzeitig mutig. Es ist bemerkenswert, daß Tasso eine gewisse Nördlichkeit Italiens gegenüber Griechenland betonte, die eine leichte Minderwertigkeit der lateinischen Kultur gegenüber der griechischen mit sich brachte. Diese Nördlichkeit rechtfertigte aber auch den größeren Erfolg der Römer und Italiener in der Kriegstechnik und in der Staatskunst bezüglich Besonnenheit und Größe (Lettera dalla Francia, 11): Ma le regioni di mezzo, per la temperie deli' aria, fanno gli uomini non deboli e paurosi, eome quelle di mezzogiomo, ne temerari e d'ingegno rozzo e materiale, eome le settentrionali, ma eon nobile meseolamento prudenti, e forti di mano e d'ingegno, e al filosofare disposti. E tali sono, sopra tutte le provineie dei nostro mondo, la Grecia e l'Italia, se pero l'esperienza, eonfermata dalla ragione, non si riprova. E eome ehe l'una e l'altra sia stata madre di uomini in ogni maniera di liberale essereizio eeeellenti, i greci nondimeno, ehe piu piegano verso il mezzodf, hanno superato di sottilezza d'intelletto nelle diseipline e neUe arti; e gl' italiani, ehe sono piu volti alla tramontana, sono stati superiori di prudenza e di generosita neUi studi militari e eittadinesehi.

Das Wesen der Italiener hielt Tasso in einer ersten Phase für ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen ,Nördlichkeit' und ,Südlichkeit'. Wegen der Zusammensetzung der Luft ihres gemäßigten Landes seien sie weder schwach noch ängstlich wie die Menschen im Süden, noch tollkühn und von grobem und stumpfsinnigem Geist wie die im Norden, sondern besonnen und stark in Körper und Geist, geeignet für die Philosophie. Er meinte aber schon damals, diese Erkenntnis bleibe so, soweit die Erfahrung, die durch die Vernunft bestätigt wurde, nicht widerlegt würde. Er räumte also die Möglichkeit ein, die klassische Klimatheorie widerlegen zu können, wenn es zu neuen Erkentnissen kommen sollte ("se pero l' esperienza, confermata dalla ragione, non si riprova"). Frankreich sei gegenüber Italien ein ,nördliches' Land, weiter von der zentralen, gemäßigten Zone entfernt und eher zu einem der beiden Extreme neigend, und dementsprechend seien die Menschen dort, gerade weil sie nach Norden tendieren, eher wild und grausam und weniger für die Kultur und das zivile Leben geeignet. Es komme vor allem auf die Qualität des Himmels an, der die Menschen beeinflußt, und nicht nur auf die Temperatur der Luft. Der wechselhafte Himmel Frankreichs war in seinen Augen nicht so gut wie der Himmel Italiens. Der junge Tasso glaubte wie Petrarca (vgl. Kap. 11.4.), Italien habe einen sehr starken Schutzwall in Richtung Norden, die Alpen, die das Land vor der ,Überschwemmung' durch fremde Völker schützen könnten. Das Problem sei aber, daß die Italiener die Fremden selbst einluden (Lettera dalla Francia, 29: "assai sicura sarebbe da' diluvi de' popoli stranieri, s'ella medesima non aprisse e spianasse loro le strade"). Der späte Tasso, mit dem Manda creata beschäftigt, hat seine Meinung über die Präsenz von Ausländern aus dem Norden und ihren Einfluß auf Italien geändert. Nun wünscht sich Tasso ausdrücklich die Mischung mit den Fremden, um die Rettung Italiens aus seinem verdorbenen und kränkelnden Leben zu erreichen.

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Es stimmt für ihn noch, daß sich dort, wo es keine Berge gibt, die Menschen meistens durch Friedlichkeit und Sanftheit auszeichneten, während die Menschen in den Gebirgen kräftig und kriegerisch seien, aber die Bewertung der kriegerischen Haltung ist nun eine andere. Ein Beispiel für die Kampfkraft der Leute aus den Bergen waren in der früheren Schrift die Schweizer, die seit der Zeit Cäsars immer stark und mutig gewesen seien. Die Italiener selbst seien wegen der vielen Gebirge auf italienischem Boden schließlich mutiger und kriegerischer als die feigen Franzosen aus der flachen Ebene, hatte der junge Tasso gemeint. In den letzten Jahren hält Tasso, der Europa im Blick hat, dagegen Italien für ein ,südliches' Land und die Italiener für ein extrem den typischen südlichen Lastern verfallenes Volk. Der junge Tasso sprach noch von der Überlegenheit der italienischen Architektur und Bildhauerei und glaubte an die Besonderheit der Lage Italiens, eines Landes, das Afrika drohend gegenüberstand und leicht den Weg nach Asien finden konnte, eines Landes, das, wie es schien, von Natur aus zur Beherrschung des Universums bestimmt war. Er befürchtete dabei, als derjenige kritisiert zu werden, der zu viel Liebe für seine Heimat empfindet und deswegen nicht objektiv urteilen kann. Er meinte damals, daß die meisten Menschen eher dazu neigen, die fremden Sachen ("le pellegrine") zu überschätzen und die eigenen zu verachten. Schon zu Tassos Zeiten war eine gewisse Zuneigung für das Fremde ("pellegrino" kann sowohl mit ,fremd' als auch mit ,schön' übersetzt werden) und für das, was von jenseits der Alpen kam, verbreitet, so daß der Dichter sich rechtfertigen mußte, als er Italien gegenüber einem anderen europäischen Land zum Teil positiv hervorhob. Im Mondo creato dagegen betont Tasso nicht mehr die Vorteile seines Landes, sondern wünscht sich für Italien das Beste aus der Fremde und der Feme. Der Dichter hat keine Angst mehr vor der Barbarei aus dem Norden, weil die Barbarei sich in seiner eurozentrischen Welt in den anderen Kontinenten befindet,139 und kann in der nördlichen Herkunft einer Herzogin sogar einen Grund für eine Huldigung finden, indem er sie für die Kälte ihres Herzens über die Huldigungstopik hinaus preist. 140 Die Barbarei, die Wildheit, die Wut, der Furor des Nordens sind auch durch eine ,Umpflanzung' in den Süden in andere Kontinente gelangt. Die Gefahr des Ozeans und die Wut des Windes (Ger. conq., IV, 4, 4: "il furor dei vento infido") betreffen für Tasso nun die Seeleute, die fremde Länder - unter einem unbekannten Pol (Ger. conq., IV, 4, 3: "sotto ignoto polo") - in der südlichen Hemisphäre der Erde entdecken wollen. Die "rabbia" entspricht in der Conquistata nicht mehr der ,Wut des Nordens' ("rabbia deI settentrione") wie bei Ariost und seinen Vorgängern 139 Tasso glaubt an die Mission des Geschlechts der Habsburger gegen die ,barbarischen' Nationen außerhalb Europas. Vgl. A. Aurnhammer, Torquato Tasso im deutschen Barock, a. a. 0., S. 10. 140 Vgl. ebd., S. 26. 1578 lernte Tasso die Herzogin Dorothea von Braunschweig-Calenberg persönlich kennen, die mit ihrem Mann Erich 11. von Braunschweig 1583 erneut zu Gast in Ferrara war. Für sie schrieb er ein Huldigungssonett (Rime, 914).

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VI. Der Norden im Werk Torquato Tassos

[vgl. Kap. 11.3.; Kap. 1104. und Kap. III.2.a)], sondern der ,Wut Afrikas'. Es ist "dispietata rabbia" (Ger. conq., XVIII, 34, 4), "spietata rabbia" (Ger. conq., XX, 99, 1) und charakterisiert die Muslime, die als nicht vertrauenswürdig und wütend wie wilde Tiere dargestellt werden. Das traditionelle Reimwort "gabbia", das in der Liberata niemals vorkam, reimt in der Conquistata dreimal mit dieser nun afrikanischen "rabbia" (Ger. conq., 1,29, 4-6; XVIII, 34,4-5; XX, 99, 1-3: "rabbia": "gabbia"). Nun ist es der Grieche, nicht der Mensch aus dem Norden, der die Christen wie gefangen ("in gabbia") hält (Ger. conq., 1,29,4-6): fra' regni d' Asia e I' afrieana rabbia: ove nel Greeo non eonvien ehe speri, ehe gia ci tenne quasi augelli in gabbia

Tasso fürchtet sich nun vor dem Süden und schaut besorgt auf sein Land Italien, das droht, zu ,südlich' zu werden. Die Gefahren sind klar: Verdorbenheit, Unsittlichkeit, Verweiblichung. Vom heroischen Menschen des Nordens, der eine goldene Mähne wie der blonde Apoll (Ger. conq. , III, 22,6: "d'or le chiome") und eine Haut weiß wie Milch hat (Ger. conq., III, 22, 8: "di latte il collo"), erwartet Tasso nur Gutes. Er soll nach Italien kommen und dabei das schöne Land und das angenehme Klima genießen, um seine Kraft und seinen Mut zu spenden. Die Bereicherung wird dann gegenseitig sein: In der Begegnung von ,Nördlichkeit' und ,Südlichkeit' erreicht man das gewünschte Gleichgewicht zwischen Strenge und Sanftheit. Vom christlichen Kontinent will man sowohl die Grausamkeit als auch die Weichheit verbannen. Weder männliche noch weibliche Eigenschaften werden in Europa bemängelt werden, wenn sich Norden und Süden gegenseitig befruchten.

Schlußbetrachtung Erklärtes Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Konstruktion und Transformation von Nord-Bildern in der italienischen Dichtung vom 14. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zu analysieren. Es hat sich gezeigt, daß italienische Dichter aus verschiedenen Gründen ,Nördlichkeit' konstruieren. In allen Fällen handelt sich nicht um geographische Orte, sondern um Räume, die Träger von symbolischen, allgemeinen Werten oder ,Unwerten' sind. Fundamentale Motive werden wiederholt und konstituieren eine Art poetische Topik des Nordens, die sich nur langsam durch neue Kontextualisierungen entwickelt. Die Dichter reflektieren unter anderem die eigene Geschichte, die gewöhnlich als Verfall nach der glorreichen Vergangenheit des römischen Reiches verstanden wird. Als Kontrastierung zur eigenen Identität wird der ,Norden' stilisiert. Der ,Norden' als ,andere Welt' kann aber auch andere Funktionen haben. Er ist ein ,fremder Raum', der aus der Ferne mit den Mitteln der poetischen Phantasie konstruiert wird, und gilt als freies Territorium, Projektionsfläche und Sinnträger für unterschiedliche Werte, Ängste und Sehnsüchte. Im ersten Kapitel wurde die imaginäre Weltreise von Fazio degli Uberti untersucht. In ihr begegnet man einem heidnischen, dunklen und kalten nördlichen Raum, der als Sinnbild der Sünde, des Unglaubens und der Verdammung konzipiert ist. Die Allegorie ist in Fazios Werk dominant, so haben auch bestimmte Merkmale des hellen Nordens im christlichen Okzident - wie die Farbe Weiß moralische Implikationen. Reinheit und Unschuld werden durch die mirabilia und die paradiesischen Züge einiger Inseln im Nordozean allegorisiert. Die ,Wut' (,,rabbia") des Nordens wird nicht nur dem nicht christianisierten Nordosten Europas zugesprochen, sondern ist auch in allen übrigen Weltgegenden - im Osten wie im Süden - zu finden, die nicht dem christlichen Glauben folgen. Die Religionszugehörigkeit ist in der Interpretation des Raumes entscheidend. Im zweiten Kapitel wurde gezeigt, wie die noch von Fazio degli Uberti vertretene mittelalterliche Sicht des Nordens von Petrarca verworfen wurde. Petrarca behauptet programmatisch, daß er nicht daran glaubt, daß es glückliche Menschen jenseits des nordischen Windes gibt und es nicht wichtig ist, die Lage der rätselhaften Insel Thule mit Mitternachtssonne und angrenzendem Eismeer zu kennen. Für ihn haben diese Länder am Ende der Welt keine allegorische Bedeutung mehr, sie sind nur Orte, die man ungerechterweise mit Glück verbindet, die jedoch in der Realität öde und enttäuschend sind, sofern sie überhaupt existieren. Als weit entfernte Gegenden sind sie lediglich Illusionen. Sie werden von Neugierigen gesucht, die sich mit der Erdkunde beschäftigen wollen, während sie sich selbst und das eigentliche Ziel vergessen.

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Schlußbetrachtung

Petrarca ist nicht an der Suche nach den unbekannten Ländern im Norden interessiert. Dennoch konstruiert er ,Nördlichkeit' und wird dabei zum Vorbild für alle weiteren Dichter. Er zieht eine kategorische Grenze zwischen Italien als Erben der römischen Zivilisation und dem Rest Europas als Ort der Barbarei und begründet damit die humanistische Sicht des Nordens. Die Abneigung der Italiener gegen die Menschen, die aus den Ländern jenseits der Alpen kommen ("Oltramontani"), ist mit dem Mythos Rom verbunden, der Stadt, die auferstehen soll. Nun ist die ,Wut' ("rabbia" oder "furor") ein spezifisches Merkmal der nordischen ,Barbaren', der die italienische "vertu" und "antiquo valore" entgegengesetzt werden. Die Alpen bezeichnet Petrarca als Schutzwall gegen die Wut des gesamten transalpinen Europa, und ,Nördlichkeit' wird hier in der Kategorie der Verwerfung konzeptualisiert: Sie wird mit wildem Wüten und barbarischer Grausamkeit gleichgesetzt, gegenüber welcher das ,sanfte römische Blut' ("latin sangue gentile") der erniedrigten und unterdrückten Italiener steht. Das negative Fremdbild vom Norden stabilisiert das Selbstbild. Petrarca gibt auch das literarische Vorbild für die Beschreibung der Völker aus Nordeuropa, die als Christen zusammen mit Italienern gegen den im Osten oder im Süden ansässigen Feind des Glaubens kämpfen sollten. Die Grausamkeit der Menschen im Norden wird verabscheut und gleichzeitig als Mut und Tapferkeit gepriesen. Das Motiv besagt, daß die Menschen des Nordens sich nicht vor dem Tod fürchten oder es ihnen nichts ausmacht zu sterben ("una gente a cui il morir non dole") und sie von Natur aus gegen den Frieden und für den Krieg sind ("nemica naturalmente di pace"). Sie kommen aus einer Region der Welt, die immer von Eis und Schnee bedeckt ("si giace / mai sempre in ghiaccio et in gelate nevi") und extrem weit vom Weg der Sonne entfernt ist ("tutta lontana dal camin deI sole"). All die Kreuzritter, die von jenseits der Alpen kommen, kämpfen mit der nordischen ,Wut', die die Italiener nicht kennen. Ihre Grausamkeit hängt mit dem Klima ihres kalten Landes zusammen. Diese Motive - oder sogar ganze Verse - kommen neu kontextualisiert im OrZando furioso und in der GerusaZemme liberata vor. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht das Werk Ariosts, der die Nordthematik in die Ritterepik einführt. Hier [,mt die Ironie auf, mit der traditionelle petrarkische Bilder behandelt werden. Durch die Ironie kann die negative Semantisierung des Nordens - als dunkler Raum am Rande der christlichen Welt und des poetischen Diskurses - relativiert werden. Der Autor selbst gibt durch lustige Hyperbolik und zugespitzte Beschreibungen Hinweise darauf, daß seine Schilderungen des Nordens, die auf altbekannten Topoi basieren, als literarisches Spiel zu verstehen sind: Seine parodistische Intention macht die Fiktionalität der Literatur selbst zum Thema. Ariost ist jedoch bitterernst, wenn er die Söldner seiner Zeit als ,Barbaren' darstellt. Bei ihm findet man noch die humanistische Dichotomie zwischen einem nördlichen barbarischen und einem nichtnördlichen Raum, wobei die Alpen weiterhin die Grenze bilden. Der Norden ist also bei Ariost wie auch bei Petrarca ein Konstrukt, das die von jenseits der Alpen kommende Gefahr für Italien ausdrückt. Entfernung der Sonne, eisiger Frost, Wut und Grausamkeit der Geister

Schlußbetrachtung

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("furore", "rabbia") sind in Ariosts literarisch konstruierten Darstellungen von ,Nördlichkeit' als Selbstverständlichkeiten präsentiert. Der ,kalte Himmel' des Nordens kann nur Schlechtes bringen. Von positiven Eigenschaften des Nordens ist bei Ariost und seinen Zeitgenossen wie bei Petrarca keine Rede. Wer den Respekt des Dichters verdient und positiv porträtiert werden soll, wie Karl V. und seine Generäle, darf daher nicht als 'nordisch' definiert werden. Die Idee des ,Gotizismus' kommt inzwischen nach Italien: Die Goten werden gepriesen, weil sie die Römer besiegt haben. Ariost scheint sich aber darüber lustig zu machen. In seiner Welt klassischer Eleganz bleibt kein Raum für eine positive Bewertung des Nordischen. Wie im vierten Kapitel gezeigt wurde, tritt eine positive Bewertung des Nordischen erst Mitte des 16. Jahrhunderts auf. Mit der Veröffentlichung der Werke der Brüder Johannes und Olaus Magnus (1554-1555) und der Reiseberichte von Ramusio kommt ein ,nordischer Hauch' nach Italien, so daß man von einer ,Wende' sprechen kann. Bei einigen Dichtem wie Torquato Tasso und seinem Freund Orazio Ariosti findet man eine gewisse Begeisterung für die Exotik und die Andersartigkeit des Nordens, vor allem im Namen des ästhetischen Genusses, den die Vielfalt ("varieta") mit sich bringt. Die zahlreichen Kosmographien der Zeit, in denen die Vollkommenheit der Schöpfung mit der Weltbejahung einhergeht, erlauben es nicht mehr, das nordische Klima als unschön zu bezeichnen. Die ,Barbaren' werden nicht mehr in Nordeuropa, sondern in den anderen Kontinenten angesiedelt. In der neuen Welt ist man in Kontakt mit Völkern gekommen, deren Alterität als ausgeprägter als die der europäischen Nationen empfunden wird. Darüber hinaus gibt es für Johannes Magnus keine bedeutsame Grenze, die eine ,nördliche Region' der Welt von einer südlicheren trennt, sondern nur noch eine entscheidende kulturelle und religiöse Differenz, die den Westen vom Osten abgrenzt. Der Norden bedeutet für Italien keine Bedrohung mehr, denn man hat sich mit der Fremdherrschaft abgefunden: Kaiser Karl V. wird nicht mehr als Fremder empfunden. Die Vorstellung, der Ozean bilde die unüberschreitbare äußere Begrenzung im Norden wie im Westen, gibt es nicht mehr: Der Ozean wird nun als ein geschlossenes Meer verstanden, das alle Kontinente verbindet. Das alte Ptolemäische Weltbild wird abgelöst, und ein neues Welt- und Selbstbewußtsein der Menschheit wird ermöglicht. Wie von Seneca vorausgesagt, hat sich der Ozean geöffnet und der Erdkreis sich weit aufgetan, so daß Thule nicht mehr wie einst als letztes Land gilt. Die traditionell negativen Nord-Bilder werden kritisiert, neutralisiert oder für nichtig erklärt: Der biblische Spruch, nach dem der Satan seinen Sitz im Norden habe (Jes., 14, 14), wird von Johannes Magnus durch den Hinweis auf die Bekehrung der nördlichen Völker ausdrücklich relativiert. Der Norden sei schon zu dieser Zeit von der Tyrannei des Teufels befreit, daher lebten die Menschen im Norden bereits lange Zeit nicht mehr in der Finsternis. Olaus Magnus stellt sogar ein Bilderbuch über die Länder des Nordens zur Verfügung und will anhand dessen beweisen, wie stark das geeinigte christliche

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Schlußbetrachtung

Europa im Krieg gegen Asien (als nichtchristlicher Kontinent) auftreten könnte. Mehrmals wiederholt er, daß alles, was er schreibt, sowohl den Griechen als auch den Römern völlig unbekannt blieb. Gleichwohl betont er, daß die nordische Natur eine eigene ,Schönheit besitzt, anders als die der italienischen Landschaft. Viele Merkmale des Nordens, die den klassischen Schönheitsidealen nicht entsprechen, sind für ihn ein Zeichen der divina providentia. Unter Berufung auf das Prinzip varietas fastidium levat wird die Besonderheit des Nordens hervorgehoben und gepriesen. Mit der Verherrlichung der nordischen Natur lobt Olaus aber auch seine Landsleute, vor allem die Goten aus der Vergangenheit. In seiner Historia sind die Völker des Nordens ständig als einfach, schlicht, sittsam und tapfer dargestellt. Die Gemeinsamkeiten innerhalb der europäischen christlichen Welt werden in Abgrenzung zu Asien betont. Somit wird die Aufnahme Nordeuropas in die italienische Kultur vorbereitet. Olaus Magnus ist es auch, der ein Reservoir von Motiven zur Verfügung stellt, die in der Folgezeit von italienischen Dichtem aufgegriffen werden. Torquato Tasso und sein Freund Orazio Ariosti bedienen sich reichlich dieser Topik, wenn auch auf verschiedene Art und Weise. Die Natur dieser ,anderen Welt' des Nordens wird durch den Frost und die Gewalt der Elemente als rauh, nicht aber als lebensfeindlich dargestellt. Die Winde sind sehr stark, aber heilsam. Der Frühling kommt spät, aber er kommt, und man freut sich sehr über die Sonne. Phänomene wie Seestürme und Gewitter mit lautem Donnern und Geräuschen, die aus überfluteten Höhlen in Felsen kommen, gewaltige Ströme mit Wasserfällen und Naturwunder wie drei Sonnen und Dämpfe aus der Erde runden das Bild der nordischen Natur ab. Die Nordländer verachten den Tod. Auch die Frauen - stark und keusch tragen Waffen. Die nordische Welt hat nicht nur eine eigene Urgeschichte und ruhmreiche Vergangenheit, sondern auch eine eigene Mythologie und ein eigenes Alphabet, das für älter als das römische gehalten wird. Das unvollendete Epos Alfeo von Ariosts Großneffen und engem Freund Tassos Orazio Ariosti wurde im fünften Kapitel in Hinblick auf die Nordthematik analysiert. Der Dichter, angeregt durch das Werk des Olaus, hat eine regelrechte summa des Nordens hinterlassen. Sein mit moralischen Ansprüchen geschriebenes Epos, das zwischen Thule, Island und Norwegen spielt, enthält alle Merkmale, die den Inbegriff des Nordens zu seiner Zeit in Italien bilden: Landschaften mit hohen Bergen, engen Tälern, großen und zahlreichen Seen, Felsen, Höhlen und gewaltigen Flüssen, Piraterie und Schlachten auf dem Meer, Wunder und Magie, Schatten und Geister, Dämonen der Melancholie, mutige und keusche Amazonen. Die imaginäre Zeit meint die Epoche unmittelbar vor der Christianisierung Norwegens. Ariostis Werk ist ein Beweis für das am Ende des 16. Jahrhunderts einsetzende große Interesse am Norden: In seiner Dichtung kommt die Faszination am Borealen zum Vorschein. Er rezipiert nordische Quellen und arbeitet mit der eigenen Phantasie. So erfindet er beeindruckende ,nordische' Geschichten und Mythen wie die der dänischen Sibylle oder die des Ikarns, der zum Nordpol fliegen wollte.

Schlußbetrachtung

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Es wurde gezeigt, wie einige dauerhafte Bilder des Nordens mit den neuen historischen und vor allem ästhetischen Bedingungen eine positivere Bewertung erfahren: Ariost konnte weder das Heldentum im Norden loben, noch eine ästhetische Bewertung des Nordischen geben, aber Ariosti schenkt den martialischen Werten mehr Gewicht und zeigt sich sensibel für die besondere Schönheit und Erhabenheit des Nordens. Im sechsten Kapitel wurden die verschiedenen Konstruktionen von ,Nördlichkeif in Tassos Gesamtwerk untersucht. Die Reizbarkeit durch das Verborgene, das schwach Beleuchtete, das Fremde und Geheimnisvolle macht ihn für die Faszination nördlicher Länder besonders empfänglich. Tasso mit seiner Suche nach der Vielfalt ("varieta") als ästhetischem Prinzip und seiner Konstruktion des Nordens führt eine große Wende herbei. In seinem Dialog über die Schönheit betont er, welche Faszination aus der Darstellung der Wildheit und Rauheit in der Kunst entstehen kann. In seinem Meisterwerk werden bestimmte Topoi, wie zum Beispiel die Todesverachtung der Krieger aus den borealen Ländern, aufgegriffen und positiv umgedeutet. ,Nördlichkeit' zu konstruieren heißt für Tasso, das Unstete und Stürmische darzustellen, die das menschliche Leben auf Erden ausmachen. Besonders wichtig zeigt sich in dieser Hinsicht die Tragödie Re Torrismondo, die in den letzten Jahren von den meisten Interpreten als die schönste und originellste des 16. Jahrhunderts betrachtet wurde, denn sie verzichtet auf jegliche Maschinerie und baut lediglich auf einem lyrischen, erhabenen Stil und der Darstellung einer unkonventionellen, geheimnisvollen, nordischen Welt auf. Diese Tragödie hat die Leser schon immer durch die Beschreibung düsterer Landschaften und den dunklen Ton beeindruckt. Der Dichter, mehr artifex als imitator rerum, konstruiert bewußt einen symbolischen, nordischen Raum, um universelle, psychologische Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen. Der Nebel, die Wolken, die Schatten und Geister des äußersten Nordens versinnbildlichen in der Widmung der Tragödie alles Unglück und alle Sorgen, die verbannt werden sollen. Nördliche Landschaften haben bei Tasso grundsätzlich eine symbolische Dimension, entsprechen sie doch den trübseligen innerlichen Landschaften der menschlichen Seelen, stehen für das Ende aller menschlichen Illusionen oder stellen die Sehnsucht nach Reinheit dar. Der äußerste Norden ist für Tasso auch die letzte Grenze, die man mit dem eigenen Ruhm erreichen möchte, die letzte, extreme Herausforderung und auch das letzte Ziel, faszinierend und gefährlich zugleich. Um den Norden besser zu konturieren, schreibt der Dichter das erste Fragment der Tragödie um und vollbringt so einen Prozeß, den man ,literarische Nordisierung' nennen könnte, denn er perfektioniert die Beschreibung der nordischen Landschaft nicht durch persönliche Beobachtungen, sondern allein durch literarische Anspielungen oder Zitate. Die grausamsten Elemente, die Tasso in seine Tragödie einbezieht, wie zum Beispiel die Fehde, werden sofort wieder negiert. Mit der 'Nordisierung' des Textes versucht Tasso gleichzeitig, den von ihm selbst

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Schlußbetrachtung

konstruierten Norden sanfter erscheinen zu lassen. Parallel zum Prozeß der ,Nordisierung' verläuft auch eine Prozedur des Umschreibens im Sinne einer Hebung des Stils, will er doch das "sublime" auf diese Weise erreichen. Schließlich verwandelt Tasso den Norden, der zuerst als eine entfernte Gegenwelt dargestellt wird, in einen Ort, an dem für die ganze Menschheit paradigmatische Ereignisse geschehen. Der ,Norden' als ,andere Welt' oder ,Woanders' im Gegensatz zur vertrauten Welt hört damit auf zu existieren, denn die Gemeinsamkeiten aller Menschen unabhängig von ihren unterschiedlichen Kulturen und Traditionen rücken in den Vordergrund. ,Nördlichkeit' wird also zuerst konstruiert und dann verneint, um eine neue, erweiterte Anthropologie zum Ausdruck zu bringen, die über die klassische humanistische hinausgeht. Die Andersartigkeit der nichtlateinischen, nördlichen Welt wird zuerst hervorgehoben, dann aber werden alle ihr zugeteilten negativen Züge relativiert oder gar abgebaut, bis diese nordische Welt Teil der allgemeinen Geschichte und schließlich Paradigma des menschlichen Daseins geworden ist. Einen ,kalten Himmel' des Nordens gibt es nicht mehr: Ein einziger Himmel überragt alle Menschen auf Erden. Der Exotismus ist bei Tasso nie oberflächlich: Mit dem altnordischen Stoff entschließt er sich, eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur außerhalb der klassischen, sondern auch außerhalb der christlichen Welt spielt, um damit eine beachtliche Erweiterung des Horizontes zu bewirken. Dies hat ein radikal neues Verständnis von humanitas, eine neue Weltanschauung zur Folge. Mit seinem NordDiskurs bringt Tasso sein Verständnis vom Menschen als leidendes und begrenztes Wesen zum Ausdruck. Tassos Poetik kann man in bezug auf den Norden als eine Poetik des chiaroscuro bezeichnen: Er findet im Norden sowohl den Schatten als auch das Licht, die Kontraste, die seiner Ansicht nach erhabene Kunst ausmachen. So wie in der Malerei die Schatten die hellen Farben hervorheben und leuchten lassen, benötigt der Dichter zwingend neben den hellen auch die dunklen Seiten der Welt. Das wird vor allem im Epos der Schöpfung Mondo creato deutlich, in dem die nordische Natur eine bedeutsame Rolle spielt. Die Konstruktion des metaphorischen Nordens ist in diesem Werk besonders kompliziert, so daß man von einem bewegten und stürmischen Norden, von einem hellen und reinen, von einem unerreichbaren und verbotenen, von einem ursprünglichen und kraftvollen Norden sprechen kann. Die wilde und stürmische Natur des Nordens zeugt von der gewaltigen Vielfalt der Welt und der Weisheit und Größe des Schöpfers, ist aber mit ihrer Unbeständigkeit vor allem Sinnbild des unruhigen irdischen Lebens. Die nordische Natur befindet sich für den Dichter immer hektisch in Bewegung und besitzt die Konturen des Erhabenen und des Erstaunlichen. Die Reinheit, Frische und Süße der nordischen Gewässer stehen für Tugend und Unschuld. So symbolisiert etwa der Weg der Fische nach Norden die Suche nach dem Guten. Der Tag ohne Abend und Sonnenuntergang im borealen Raum drückt die Sehnsucht nach ewigem Leben aus, das nur im Jenseits möglich ist. Der unerreichbare Raum, der den Walfischen allein vorbehalten ist. deutet auf die menschlichen Grenzen und auf die Unerreichbarkeit des vollkommenen Glücks auf Erden hin.

Schlußbetrachtung

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Die traditionelle Insel ultima Thule ("Tile") gilt in Tassos letzten Werken nicht mehr als das letzte Land im Norden. Vielmehr stellt die auf der Westseite des Urals zum Eismeer gelegene Landschaft Bjarmland ("Biarmia") das letzte Land am nördlichsten Rand der Welt dar. Jenseits dieses Landes liegt das unpassierbare Meer, das Reich der unheimlichen Walfische, das die letzte unüberschreitbare Grenze darstellt. Der harte und rauhe Norden kann auch als Sinnbild gesunder Männlichkeit und urtümliche Kraftquelle für ein verdorbenes und verweichlichtes Italien aufgefaßt werden, wobei sich die traditionelle ,Wut' ("rabbia") des Nordens in den afrikanischen Süden verlagert. Im Mondo creato befindet sich die erzählende Stimme im Unterschied zum Torrismondo nicht im Norden. Die boreale Welt betrachtet man aus der Feme. Sie stellt das Unbekannte und Rätselhafte dar. Sie bezeugt, daß die Schöpfung unbegreiflich ist: Man kann keinen einfachen Überblick über sie gewinnen. Wenn man das gesamte Werk Tassos in Hinblick auf die Nord-Thematik analysiert, kommt man zu dem Ergebnis, daß er der erste Dichter ist, der so zahlreiche, komplexe und widersprüchliche Konstruktionen von ,Nördlichkeit' entwickelt, ebenso wie er der erste ist, der den ,Norden' poetisch inszeniert, um die damit verbundenen Vorstellungen im Sinne eines universalen Menschheitsethos zu korrigieren. Der ,Norden' ist einerseits das Fremde und Unbekannte, andererseits das Verbotene und Unerreichbare, das absolut Reine, die Quelle aller Kraft, die äußerste Grenze der Welt und der Menschheit, oder es gibt ihn gar nicht, weder jenseits der Alpen, noch am Ende der Welt. Der ,Norden' wird über alle Maßen idealisiert und überhöht, so daß jeder reale Bezug ihn geradezu zerstören würde. Den konstruierten ,Norden' Tassos gibt es nicht auf dieser Erde, sondern nur außerhalb der erfahrbaren Welt. Am Ende der nordischen Tragödie Re Torrismondo sind die Goten einfach Menschen. Und es gibt keinen ,Norden' mehr, wenn alle Menschen dasselbe Schicksal teilen.

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