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German Pages 270 Year 2020
Martha Brech Der komponierte Raum: Luigi Nonos »Prometeo, tragedia dellʼascolto«
Musik und Klangkultur | Band 48
Martha Brech (PD Dr.) ist Musikwissenschaftlerin und Tontechnikerin. Sie forscht und lehrt zum Thema elektroakustischer Musik an der Technischen Universität Berlin im Fachgebiet Audiokommunikation.
Martha Brech
Der komponierte Raum: Luigi Nonos »Prometeo, tragedia dell’ascolto«
Der Druck ist mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert.
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© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Brech, Schlenkermann, Vogt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5293-2 PDF-ISBN 978-3-8394-5293-6 https://doi.org/10.14361/9783839452936 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
INHALT Vorwort / Danksagung | 7 Einleitung
I Prometeo – Prometheus | 9 II Raum in der Musik / Raum im Prometeo | 11 III Musikalische Mittel in Raumkompositionen | 13 IV Zur Analyse der hörbaren klangräumlichen Beziehungen im Prometeo | 26 Analysen
Vorbemerkungen | 55 Analyse Prologo | 57 Analyse 1° Isola | 91 Analyse 2° Isola / 2° Isola a (Io – Prometeo) | 105 Analyse 2° Isola b) Hölderlin | 127 Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 133 Analyse Interludio 1° | 143 Analyse 3 voci a | 147 Analyse 3°–4°–5° Isola | 159 Analyse 3 voci b | 175 Analyse Interludio 2° | 179 Analyse Stasimo 2° | 182 Raum im Prometeo | 186 Werkstätten
Werkstatt Partiturgenese | 203 Werkstatt Rekonstruktion | 216 Werkstatt Libretto | 233 Referenzen
Abkürzungen | 259 Archivmaterial / Quellen | 259 Literatur und Notenausgaben | 259 Quellen der Abbildungen und Animationen | 264 Personen- und Sachregister | 265
Vorwort / Danksagung Wie macht sich Raum als komponiertes Element kenntlich und wie ist er mit musikwissenschaftlichen Mitteln zu erfassen? In der Neuen Musik ist Raum ein wichtiges Thema. Analysen von Raumkompositionen sind dagegen sehr selten, ganz besonders wenn darin auch elektroakustische Mittel einbezogen sind, denn komponierter Raum wird erst im Wechselspiel aus natürlich und elektroakustisch erzeugten Klängen mit der Akustik der Hörumgebung hörbar. Mit dem Forschungsprojekt zur Geschichte der Raumklangtechnologie und ihren Anwendungen in Kompositionen und Klangkunst in der Analogära ging ich dem ganzen Fragenkomplex nach. Im ersten Schritt waren die Geschichte der Raumklangtechnologie und ihr Einsatz in einzelnen Kompositionen das Thema. In diesem Band stehen nun kompositorische Raum-Konzepte und deren Umsetzung im Zentrum der Überlegungen, ganz besonders Luigi Nonos Prometeo, tragedia dell’ascolto. Untersucht wurde, wie Nono darin Raum komponiert und hörbar macht und ob Nono Raum als kompositorischen Parameter betrachtet. In ihrem Verlauf erwies sich die Arbeit als ein verschlungenes Unterfangen, das nur mit mehreren ungewöhnlichen Arbeitsschritten angegangen und am Ende mit ebenso ungewöhnlichen Mitteln dokumentiert werden konnte. Glücklicherweise hatte ich dabei UnterstützerInnen und HelferInnen, den ich hiermit herzlich danken möchte: Zuerst der DFG und ihren mit meinen Anträgen befassten MitarbeiterInnen und GutachterInnen, die den zweiten Teil des Forschungsprojektes fast vollständig finanzierte. Weiterhin allen MitarbeiterInnen in den Archiven: besonders dem Archivio Luigi Nono in Venedig, dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin und dem Photoarchiv des Teatro alla Scala in Mailand. Für informative Unterstützung und Gespräche danke ich Nuria Schönberg Nono, Alvise Vidolin und Erwin Roeboek. Meine Fachkollegen Ralph Paland und Michael Harenberg diskutierten mit mir die ersten Analyseergebnisse, und Karin Martensen las und redigierte auf fachlicher Ebene das Manuskript. Die Übersetzung der italienischen und alt-griechischen Librettoteile übernahmen Marie Potthoff und Charalampos Saitis, die sich beide mit viel Geduld auf Diskussionen der sprachlichen Feinheiten mit mir einließen. Fabian Zeidler setzte zum Schluss die Partiturbeispiele in lesbare Noten. Ohne die Mitarbeit von Anna-Lena Vogt und Jan Schlenkermann wäre das Manuskript nie möglich gewesen; ihnen gilt mein größter Dank. Anna-Lena Vogt programmierte das digitale 3-D-Modell nach den Zeichnungen von Renzo Piano und setzte die Musiker und Lautsprecher hinein. Jan Schlenkermann beschäftigte sich fast zwei Jahre damit, meine Analyseergebnisse darzustellen und bot seine großen informatischen Kenntnisse und unermüdliche Neugier auf, die graphischen Programme zu verstehen und notfalls auszutricksen, damit die zahlreichen Abbildungen und die Animationen in diesen Band gelangen konnten. Berlin, Mai 2020
Martha Brech
Einleitung
I P ROMETHEUS – P ROMETEO Luigi Nonos im Spätsommer 1985 in Mailand endgültig uraufgeführte Raumkomposition Prometeo, tragedia dell’ascolto ist eine Legende, die bis heute in Wiederaufführungen1 und CD-Produktionen2 lebt. Mit großer Musikerbesetzung und umfangreicher Live-Elektronik gehen Nono und Massimo Cacciari (Libretto) darin über 135 pausenfreie Minuten der mythischen Figur des Prometheus aus dessen eigener Perspektive nach. Sie zeigen seinen kämpferischen Charakter ebenso wie sein Wirken, das ihn zum Außenseiter werden lässt und zu einem sich nach dem Gesetz der Natur ständig Weiterentwickelnden und ewig Suchenden, der darin zum überzeitlichen Archetyp wird. In Cacciaris Libretto ist die Figur des Prometeo ein Kompositum aus den altgriechischen mythischen Gestalten Prometheus und Odysseus: gleichzeitig entfernt von der Zivilisation am Felsen fixiert und auf einer Reise, die ihn über fünf Inseln (»Isola«) genannte Stationen führt und von einem Prolog mit seiner ihm zugehörigen Genealogie und seinem Ausweg/Esodo/Exodus3 umrahmt ist. In der Komposition der Hörtragödie stellte Nono dieses Libretto aus zahlreichen antiken und modernen Texten um, fragmentierte und kontrastierte verschiedene Textebenen in seiner Musik, ordnete sie neu an und projizierte sie in den Raum. In der Interaktion der verschiedenen Textebenen und ihrer räumlichen und klanglichen Disposition wird deutlich, dass die Verbannung nur anfangs eine Strafe für Prometeo ist, denn am Ende der Reise lehnt er aus eigener, überlegter Entscheidung das Angebot zur Sesshaftigkeit ab und wird zum ewigen Wanderer. Er bleibt außerhalb der Gesellschaft, ihrer Zivilisation, ihrer Gesetze und folgt dem Naturgesetz des kontinuierlichen Wandels von Werden und Vergehen.
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Eine vollständige Liste liegt nicht vor; die Fondazione Luigi Nono gibt einige Aufführungen an (http://www.luiginono.it/en/works/prometeo-tragedia-dellascolto/ [12.8. 2019]), einige andere Aufführungen nennt Giulia Lazzarini 2014 (s.u.). Im Internet sind weitere Aufführungen recherchierbar. Die jüngste ist am 11.1.2019 als SACD bei Stradivarius erschienen (STR 37096). Skizze ALN 51.04.01/1 mit sechs Inseln (bei Jeschke 1997: ALN 51.07.01/1).
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Dieser kurze Abriss des Inhalts der Hörtragödie ist das Ergebnis der auf die räumlichen Aspekte des Prometeo gerichteten Analyse, um die es hier geht. Sie unterscheidet sich deutlich von vorher publizierten Analyseperspektiven, die auf die Strukturen und Konstruktionsregeln der Komposition und/oder auf die Bedeutung der von Cacciari und Nono verwendeten Textfragmente in deren ursprünglichen Kontext gerichtet sind. So untersuchte Lydia Jeschke etwa besonders den der Hörtragödie zugrundeliegenden Geschichtsbegriff4. Carola Nielinger-Vakil konzentrierte sich auf die Klanglogik, die den multiplen Textherkünfte und -gehalte zugrunde liegt und präsentierte erstmals auch grundlegende Aspekte des Raumklangs5. Pauline Driesen legte den Fokus auf die Konstruktion von Text-, Klang- und Raumstrukturen, die sie anhand einiger Skizzen Nonos für einen kurzen Ausschnitt aus Prometeo untersuchte6. In der hier vorgelegten Studie geht es dagegen um neue Bedeutungsaspekte im ganzen Prometeo, die bei der Analyse der Klangverhältnisse im Aufführungssaal sichtbar werden. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Raum im Prometeo eine wichtige Rolle spielt und die Komposition entscheidend mitträgt. Genauer gesagt: Raum ist darin ein zusätzlicher musikalischer Parameter, der wie jeder andere Klangparameter über die gesamte Komposition konstant in Bewegung ist. Nono hat die tragende Funktion des Raums schon in der Komposition angelegt, aber erst im Aufführungssaal realisiert, denn Raum entsteht in der Musik erst mit lokalisierbarem Klang, also im Moment seiner Hörbarkeit. Damit ist der Gegenstand der hier vorgenommenen Analyse das Hörbare, das auf der Basis verschiedener Quellen rekonstruierbar ist. Die Forschungsperspektive ist entsprechend auf die hörbaren Kompositionselemente im Aufführungssaal gerichtet: Klang, Text und ihre jeweilige Interaktion im Raum. Die von Cacciari und Nono zitierten Text- und Musikfragmente anderer Autoren (wie Hesiod, Aischylos, Hölderlin oder Benjamin u.a.) und Komponisten (wie Josquin, Dowland, Mahler, Schumann, Schönberg u.a.) werden in der hier vorliegenden Analyse unabhängig vom Kontext ihres Ursprungs gesehen – ungeachtet der plausiblen Ergebnisse von Jeschke, Nielinger-Vakil und Driesen u.a., denen zufolge Cacciari und Nono diese Fragmente mit Bedacht und in Hinblick auf den Prometeo wählten. Die Untersuchungsperspektive der hier vorliegenden Analyse richtet sich in die Komposition hinein. Die zitierten Fragmente werden deshalb nur im Kontext des Prometeo und in den darin komponierten Interaktionen im Raum betrachtet. Lediglich einige Hinweise zur Bedeutung von Personen und Begriffen werden hier noch angegeben.
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Lydia Jeschke: Prometeo. Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie, Stuttgart 1997. Carola Nielinger-Vakil: Luigi Nono, A Composer in Context, Cambridge 2015. Hier sind auch erstmals Angaben zur Raumdisposition der einzelnen Teile enthalten. Pauline Driesen: Denken in woorden, denken in tonen, in: Christel Stalpaert und Josef de Vos (Hg.): Dokumenta 2015, S. 128–178.
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Wie erwähnt, ist das Hörbare im Prometeo rekonstruierbar und in der Abfolge der wissenschaftlichen Arbeit stehen Rekonstruktionen vor der Analyse. In diesem Buch befinden sich die Dokumentationen der drei Rekonstruktionen als Werkstattkapitel aber nach dem umfangreichen Analysekapitel, das dieser Einleitung in die Klang-Raumthematik sowie ihrer Analyse und deren graphischer Darstellung folgt.
II RAUM IN DER MUSIK/RAUM IM PROMETEO In der Musik hat der Begriff ›Raum‹ mindestens zwei verschiedene Bedeutungen: So gibt es einerseits den Tonraum, der zwischen dem tiefsten und höchsten Ton liegt und dessen Komposition die Klangfarbe, Akkordschichtungen oder zugrunde liegende Skalenkonstruktionen betrifft. Andererseits gibt es den Raum, der Schallquellen (Instrumente, Sänger, Lautsprecher etc.) und Hörer umgibt, den Umgebungsraum, der die kompositorische Behandlung von Resonanzphänomenen und/oder in Distanz zueinander aufgestellter Schallquellen betrifft. Im Prometeo komponiert Nono beide Raumarten: So schichtet er Intervalle zu Klangfarben auf Basis komplexer Konstruktionsregeln7 – doch wenn er in den Skizzen den Begriff »spazio« [Raum] verwendet, handelt es sich immer um den Umgebungsraum, und der ist auch hier mit ›Raum‹ gemeint. In dem riesigen hölzernen Bau, den Renzo Piano nach den Wünschen Nonos bereits 1984 für die erste Uraufführung in Venedig plante und in der romanischen Kirche San Lorenzo errichten ließ, ist dieser Raumbegriff bereits enthalten. Der spektakuläre mehrstöckige Bau, der Arca8 genannt wurde, bot mit einer Grundfläche9 von 21,6 x 25,2 Metern Platz für Publikum und Musiker mit der Audio-Technik in getrennten Bereichen. Die etwa 420 Zuhörer waren am Boden platziert, die Musiker gruppenweise auf den dreistöckigen Laubengängen verteilt (Orchester in 4 gleich besetzte Gruppen geteilt, 5 Solosänger, 12 Choristen aller 4 Stimmfächer, 2 Sprecher, 3 Solostreicher, 3 Solobläser und als Perkussion eingesetzte Bleikristallgläser10, die alle von 2 Dirigenten geleitet wurden). Sie wa-
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Zum System der Intervallschichtungen im Prometeo vgl. Jeschke 1997 und NielingerVakil 2015. 8 Ital. für Bogen, Arche. Im Umlauf waren auch die Begriffe »Barca« (Schiff) und »Struttura« (Struktur, Bau). 9 Die Angaben beziehen sich auf die Rastergröße von 3,6 m im Bauplan. Die Gesamtgröße der Arca betrug 6 x 7 Raster mit zusätzlichem Rand. (Giulia Lazzarini: Luigi Nono: Spazio e composizione, Diss., Bologna 2014, S. 218f.; https://amsdottorato.unibo.it/6529/ [30.9.2019]). 10 Hans Peter Haller beschrieb den Einkauf der Gläser, den er zusammen mit Nono in Freiburg tätigte. Die Bleikristallgläser, die ursprünglich für Käseglocken produziert worden waren, erwiesen sich wegen ihres langen Nachklangs als günstiger für den Einsatz im Prometeo als Muranoglas. (Hans Peter Haller: Das Experimentalstudio der
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ren im Wechsel mit den 12 Lautsprechern platziert und wirkten wie kleine, isolierte Klanggruppen. 1985 in Mailand blieb es im Prinzip bei diesen Gruppierungen und Aufstellungen, nur die Arca wurde deutlich verändert aufgebaut und der Architektur des ehemaligen Lagerhauses angepasst. Sie war nun in zwei verschieden hohe und leicht gegeneinander verschobenen Teile aufgebaut, und in der Mitte befand sich ein große Spalt, der zu den großen und fast leeren Nebenräumen hin offen war11. Nach dorthin waren zwei Orchestergruppen verlegt, die auf verschieden hohen Podesten in unmittelbarer Nähe zur Arca spielten. Die Gesamtleitung hatten wieder Luigi Nono sowie die beiden Leiter der beteiligten elektronischen Studios Hans Peter Haller (Experimentalstudio des SWR Freiburg) und Alvise Vidolin (Centro di Sonologia Computazionale der Universität Padua). Gemeinsam mit ihren Assistenten war diese Regiegruppe am Boden der Arca platziert, genau auf der Höhe des Spalts und zugleich deutlich vom Publikum getrennt. Neben dem Regietisch im Zentrum der Arca spielte der Perkussionist. Abbildung 1: Blick von oben in die Arca in Mailand 1985; 3-D Modell programmiert von Anna-Lena Vogt.
Jede weitere Aufführung des Prometeo wurde – ohne die Arca – neu in den architektonischen und akustischen Gegebenheiten des Aufführungsraums eingerichtet12.
Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestrundfunks in Freiburg 1971–1989, BadenBaden 1995, Bd. 2, S. 164, 170–172. 11 Architekturzeichnung des Büros von Renzo Piano in Haller-Archiv AdK Berlin, Nr. 11. Auch der Aufbau in Venedig war bereits asymmetrisch, was Nonos Wünschen entsprach (vgl. Jeschke 1997, S. 183). 12 Räume und Musikeraufstellungen können extrem voneinander abweichen, wie ein Vergleich verschiedener Aufführungsskizzen ergibt. Lazzarini (2014) gibt mehrere Grundrisse und Aufstellungen von Prometeo-Aufführungen an, einzelne davon an nicht minder spektakulären Orten als in Venedig 1984 und Mailand 1985.
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Die Bedeutung des Umgebungsraums für den Prometeo ist daraus ablesbar, wie Nono den Raum komponierte. Welche klanglichen und kompositorischen Mittel er jedoch darin einsetzte, ist nur indirekt zu ermitteln: Die Noten und verbalen Zusätze der Partitur geben nur über einen Teil des in der Aufführung hörbaren Raumklangs Auskunft, und Nono hat sich nur indirekt oder in Andeutungen über seine räumlichen Kompositionsweisen geäußert, wobei er den Prometeo jedoch meist aussparte13. Auch in seinen zahlreichen Skizzen zum Raum im Prometeo fehlen Hinweise zur klanglichen Umsetzung14. Eine Annäherung an Nonos raumspezifische Kompositionskriterien und deren musikalische Mittel kann daher nur auf Umwegen in drei Schritten erfolgen. Im folgenden Kapitel wird sich zuerst der Blick auf einige herausragende elektroakustische und instrumentale Raumkompositionen anderer Komponisten vor dem Prometeo richten, die Nono kannte und deren Raum-Klang-Verhältnisse inzwischen erforscht sind. Im zweiten Schritt werden Nonos eigene raumklangliche Kompositionsweisen vor dem Prometeo im Mittelpunkt stehen und die letzte Station wird aus fachkundigen Beschreibungen des Raumklangs im Prometeo durch Dritte sein.
III Musikalische Mittel in Raumkompositionen 1) Raumkomposition in der Renaissance Heute gelten die venezianischen Cori spezzati der Renaissance als die früheste Raummusik in der europäischen Kunstmusik. Nono kannte sie seit seiner Kindheit; er setzte sich jedoch wohl erst später intensiv mit deren Kompositionsweisen auseinander. Die 1964 erschienene Untersuchung Paul Winters zum mehrchörigen Stil15 konnte er ohnehin erst nach seinen ersten Kompositionen mit
Jeschke (1997) bezieht sich auf die Aufführung 1988 in der Alten Oper in Frankfurt a.M. und zeigt deren Aufstellungsskizze. Nielinger-Vakil (2015, S. 236) arbeitete mit einer »mittleren Grundform«, die André Richard für Musiker- und Lautsprecherdisposition auf zwei vertikalen Ebenen gefunden hat und die als Ausgangspunkt für Anpassungen an ähnliche Säle dient. Hieraus ist ersichtlich, dass in vielen Teilen sogar Lautsprechernummerierungen seit der Uraufführung 1985 identisch blieben. 13 Matteo Nanni und Rainer Schmusch (Hg.): Incontri. Luigi Nono im Gespräch mit Enzo Restagno, Hofheim 2004. Das Thema ›Raum‹ in seinen Kompositionen wird dort mehrfach angesprochen; zudem sind weitere raumklangliche Themen wie verschiedene Elemente der venezianischen Mehrchörigkeit besonders in San Marco und moderne Elemente der Raumkomposition erwähnt. Das Gespräch über Prometeo (ebd., S. 110–112) berührt jedoch das Raum-Thema nur in Bezug auf die Aufstellung der Musiker in San Lorenzo/Venedig. 14 Vgl. hierzu das Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«. 15 Paul Winter: Der mehrchörige Stil: Historische Hinweise für die heutige Praxis, Frankfurt, London, New York 1964. Mit der »heutigen Praxis« meint Winter die mo-
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Raumanteil (Diario Polacco, 1958) gelesen haben. Dass er sich jedoch ausfürlich mit der Schrift auseinandersetzte, ist durch Paolo Dal Molin16 und Inken Meents17 belegt. In seiner Schrift untersucht Paul Winter verschiedene Arten der klanglichen Behandlung getrennter und weit entfernt voneinander aufgestellter Chöre, die sich seit Anfang des 15. Jahrhunderts bis etwa Mitte des 17. Jahrhunderts in sakralen und profanen Gesängen an verschiedenen Gegenden in Europa formiert hatten. Ab Anfang des 16. Jahrhunderts begründeten sie in Oberitalien einen eigenen Stil, bei dem die Chöre verbunden erschienen, indem sie melodische Floskeln nacheinander, dialogisierend oder gemeinsam sangen oder spielten. »Das Musizieren in getrennten Chören erfüllt den Raum mit hin und her flutenden Klängen. Ein neues Phänomen – der spannungserfüllte Klangraum – offenbart sich. Das Wechselspiel im Raum verteilter Klangzentren umfängt den Hörer und zwingt den Erstaunten in seinen Bann. Es veranlasst ihn, die aus allen Richtungen eindringenden Vorgänge aufzunehmen, zu ordnen, zum Gesamtbild zu verarbeiten, kurz: Musik in gesteigerter Intensität und persönlich aktiviert zu erleben. Dies bedeutet etwas Neues gegenüber der Gewohnheit, den Klang – und sei er auch in viele Stimmen geteilt – von einem Zentralpunkt her aufzunehmen: Der Raum kommt akustisch-ästhetisch als ein neues Element der Musik zur Geltung, tönend bewegter Raum.«18
Winter beschreibt weitere musikalische Mittel, mit denen diese Wirkungen erzielt wurden, darunter: Textverteilung und -dehnung an verschiedenen Orten19 und speziell in Venedig neben den bereits genannten Bezugnahmen im melodischen Bau auch die Differenzierung von Klangfarben und Registern auf demselben Bass-Fundament20 bzw. mit wenigen Harmoniewechseln21. Die Komponisten der geteilten Chöre auch in anderen europäischen Gebieten beachteten zudem die speziellen akustischen Verhältnisse der Aufführungsorte, besonders den
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derne Aufführung historischer Musik. Das Buch befindet sich mit Anstreichungen in Nonos Bibliothek. Paolo Dal Molin: »Der Kontrapunkt der Linien ist durch den Kontrapunkt der Klangflächen abgelöst«. I modelli policorali storici nella prospettiva di Luigi Nono, in: Schweizer Zeitschrift für Musikwissenschaft, Neue Serie 33 (2013), S. 213–238, hier: S. 228f. (Faksimile von zwei mit Nonos Anmerkungen versehenen Seiten aus Winter 1964 auf S. 229f.). Inken Meents: »A sonar e a cantar« – Eine venezianische‹ Anweisung in der Prometeo-Partitur?; in: Friedrich Geiger und Andreas Janke (Hg.): Venedig – Luigi Nono und die komponierte Stadt: Zur musikalischen Präsenz und diskursiven Funktion der Serenissima, Münster, New York 2015, S. 169–183, hier S. 169. Winter 1964, S. 7. Ebd., S. 13f. legt dies an einem Beispiel von Andrea Gabrieli (Venedig) dar. Ebd.,S. 18f. Winter beschreibt hier die Musik von Giovanni Gabrieli (Venedig), des Neffen und Nachfolgers von Andrea Gabrieli. Ebd., S. 15.
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Nachhall22, und berücksichtigten dies »in ihrer Schreibweise«23 oder steigerten die Dramatik durch Generalpausen, in denen der Nachhall zur Wirkung kam 24. Demnach waren bereits in der Renaissance eine Vielzahl verschiedener Klangelemente und musikalischer Mittel bekannt, die zur auditiven Gestaltung des Umgebungsraums herangezogen wurden. Sie lassen sich wie folgt klassifizieren: • kurze melodische Elemente, die von getrennten Chören in identischer oder
leicht variierter Form (z.B. Register25), gleichzeitig oder in zeitlicher Wechselwirkung gesungen wurden; • das gemeinsame harmonische Fundament, das es gegebenenfalls auch zuließ, die getrennten Chöre verschiedenes melodisches Material singen zu lassen26; • der von der Architektur des Aufführungsraums bestimmte Nachhall, der auf das Tempo der Melodik Einfluss nahm und sich als dramaturgisches Gestaltungselement in die Komposition einbeziehen ließ. 2) Musikalische Elemente zur Raumkomposition im 20. Jahrhundert In der Raummusik des 20. Jahrhunderts sind die musikalischen Mittel der Renaissance und des Frühbarock teilweise noch zu finden, doch greifen sie weniger stark ineinander. Dafür entstanden besonders mit elektroakustischen Mitteln27 oder deren Einfluss neue raumklangliche Elemente und Strukturen, die zugleich im zeitaktuellen musiktheoretischen und -ästhetischen Kontext stehen. Betrachtet werden hier zunächst die Raumkompositionen, die nicht von Nono stammen, ihm aber bekannt gewesen sein werden, weil er mit deren Komponisten in persönlichem Kontakt stand28.
22 Zentral in den Fußnoten 64 und 65, Winter 1964, S. 22. 23 Ebd., S. 57. Winter bezieht dies hier auf die Drosselung des Tempos bei langem Nachhall. 24 Ebd., S. 22f. und Fußnote 65, S. 22. 25 Ebd., S. 20f. für die mehrchörige Musik Giovanni Gabrielis als kadenzierte Phrasen auch in verschiedenen Klangfarben, wobei Winter die Aufstellung klangfarblich nach Registern differenziert. Die Zusammenstellung von Stimmgruppen in verschiedenen Chören hatte er schon bei Andrea Gabrieli, dem Onkel von Giavanni, beschrieben (ebd., S. 14). 26 Ebd., S. 19. 27 Die Differenzierung des Nachhalls, technisch und architektonisch erzeugbare Resonanzeffekte, Klangbewegungen (mit Phantomschallquellen oder mit Direktschall aus einer Serie von Lautsprechern), Ambiophonie, Kunstkopf-Stereophonie sowie frühe Formen von räumlicher Klangkunst sind die wesentlichen neuen technischen Möglichkeiten. 28 Nono kannte sicher Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, dem er 1985 Pour Pierre. Dell’azzurro silenzio, inequietum widmete, über die gemeinsam verbrachte Zeit in den Darmstädter Ferienkursen; ihre Musik hatte er analysiert (vgl. Jürg Stenzl:
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Besonders spektakulär sind kontinuierliche Klangbewegungen im Raum, die mit elektroakustischen Mitteln realisiert werden oder wurden. Im Poème électronique (1958) etwa, einer Gemeinschaftsproduktion von Le Corbusier und Edgar Varèse, war das Gebäude zugleich der Aufführungssaal und gleichzeitig Teil des Gesamtkunstwerks. In seinem Innern wurden parallele Klangstränge aus sehr unterschiedlichem Material, ohne gemeinsames Klang-Fundament und ohne Einbezug der natürlichen Raumakustik, gleichzeitig durch den Raum geführt. Sie verliefen auf jeweils eigenen, durch nah beieinanderliegende Lautsprecher definierten Klangbahnen. Gemeint sind damit u.a. kontinuierlich erscheinende Verläufe von Klängen im Raum, die die Trägheit menschlicher Sinnesorgane nutzen29: Ein Film etwa besteht aus einer Abfolge leicht in der Darstellung variierter Bilder. 24 Bilder pro Sekunde reichen aus, um den Zuschauern die Illusion eines zeitlich kontinuierlichen Verlaufs zu vermitteln. In der zeitlichen Auflösung hat das menschliche Gehör eine ähnliche Kapazität, doch eine regelmäßige Folge von 24 kurzen Einzeltönen (Klicks) würde als tiefer Ton gehört werden. Im Raum dagegen würde eine regelmäßige Folge an unterschiedlichen Orten erzeugter Töne den Verlauf einer Bewegung der Töne suggerieren, besonders wenn diese Orte nah beieinander stehen. Dieses in der Gestalttheorie formulierte Prinzip der räumlichen Nähe wird im Poème électronique mehrfach genutzt, wofür insgesamt ca. 400 Lautsprecher zur Verfügung standen. Die Klangwege verliefen meist von einem Lautsprecher zum nächsten, je nach Programm, und waren für das Publikum hörend durch die Kontinuität der Klänge und die Nähe der übertragenden Lautsprecher nachzuvollziehen30.
Luigi Nono, Reinbek 1987, S. 46; zur langjährigen Freundschaft mit Stockhausen und dem Lernen von Werner Meyer-Eppler, in: Nanni und Schmusch (Hg.) 2004, S. 57f.). Mit Iannis Xenakis war er über seine gemeinsame Zeit mit Hermann Scherchen befreundet (ebd.). Ob Nono Bernd Alois Zimmermann und dessen Requiem für einen jungen Dichter kannte, war nicht zu ermitteln, ist aber aufgrund seiner großen Verbundenheit zur Szene der deutschen Komponisten Neuer Musik wahrscheinlich. 29 Dieses Prinzip nutzte bereits Louis Le Prince 1888 mit seinen bewegten Bildern. 1923 wurde dies von den ersten Gestaltpsychologen (z.B. Max Wertheimer) als Wahrnehmungseffekt erforscht und als »Gesetzmäßigkeit« (S. 304) formuliert (Max Wertheimer: Untersuchungen zur Lehre der Gestalt II, in: Festschrift für Carl Stumpf, Psychologische Forschung Bd. 4, Berlin 1923, S. 301–350). Wertheimer zog für seine Experimente visuelle und auditive Stimuli heran. 30 Kees Tazelaar gibt verschiedene Quellen an; deren Angaben schwanken zwischen 350–450 Lautsprecher (ders.: On the Threshold of Beauty – Philips and the Origins of Music in the Netherlands 1925–1965, Rotterdam 2013, S. 159 und 282).
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Abbildung 2: Zeichnung der Bahnen für den Klang im Poème électronique
aus: Tazelaar 2013, Einlageblatt nach S. 153
Ein technisch weniger aufwändiges System zur Erzeugung von Klangbewegungen ist das bereits 1877 entdeckte Prinzip der Phantomschallquellen31, mit dem sich in der stereophonen Aufnahmetechnik ein differenziertes Panorama von Schallquellen zwischen zwei Lautsprechern darstellen lässt. 1951 wurde es von Pierre Schaeffer in dessen Performance-Instrument Pupitre d’espace erstmals zur Erzeugung von räumlichen Klangbewegungen verwendet und auch im Poème électronique kam es neben dem oben beschriebenen Verfahren zum Einsatz. Karlheinz Stockhausen brachte die Raumklangbewegung mit Phantomschallquellen 1960 als erster zur Perfektion: Im elektronischen Teil von Kontakte sind auf den vier Spuren des Magnetbandes bereits Klangbewegungen enthalten, die im Konzertsaal über vier Lautsprecher hörbar gemacht werden. Für die Produktion der räumlichen Klangbewegungen hatte Stockhausen den Rotationstisch entwickelt, einen Lautsprecher mit Trichteraufsatz zur exakten Abstrahlung des Klangs, der auf einem in beide Richtungen drehbaren Tisch montiert war. Der Klang des variabel drehbaren Tischs wurde mit vier Mikrophonen aufgenommen. So entstanden verschieden exakt geplante Rechts- und Linksdrehungen, und je nach Schaltung oder Aufstellung der Mikrophone auch andere Raumbewegungen wie die Z-Form oder sogenannte Flutungen, bei denen der Klang von einem Lautsprecher ausging und sich anschließend kontinuierlich im ganzen Raum ausbreitete. Die Realisationspartitur von Kontakte zeigt neben den im Raum bewegten Klängen auch unbewegte, stationäre Klänge. Stockhausen komponierte sie in mehreren Varianten: So können komplexe Klänge vollständig im Raum bewegen oder sich teilweise zur Rotation absetzen, während der andere Teil am Ursprungsort verbleibt32. Auf dem Weg durch den Raum können konti-
31 Martha Brech: Der hörbare Raum, Bielefeld 2015, S. 54–71. 32 Karlheinz Stockhausen: Kontakte, Realisationspartitur, Wien 1968, S. 27.
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nuierlich Variationen der Klänge zu hören sein33 oder nicht34. Dass die Klangbewegungen und die stationären Klänge für die Zuhörer gut wahrnehmbar sind, ist auf die gestalttheoretischen Prinzipien der guten Kontinuität und der FigurGrundabhebung zurückzuführen35. Auf diese Wahrnehmungsprinzipien setzte auch die elektroakustische Einrichtung des deutschen Kugel-Pavillons auf der Expo 1970 in Osaka (Japan). 50 Lautsprecher waren in regelmäßigen Abständen darin untergebracht und die Klänge konnten mit einer manuellen Steuerung nach dem PhantomschallquellenPrinzip dreidimensional bewegt werden36. Skizzen von Eberhard Großkopf, der für seine Produktion Dialectics37 einen von mehreren Kompositionsaufträgen erhielt, zeigen die verschieden verteilten sieben Klangschichten in den sieben vertikalen Lautsprecherringen des Pavillons. Jede Klangschicht bildet spezifische Muster auf der kombinierten horizontalen und vertikalen Ebene, die durch die direkte Nähe der diese Klangschicht übertragenden Lautsprecher entstehen. Großkopf hat in seinen Skizzen die spezifischen Muster mit Verbindungslinien versehen. Mehrere Skizzen zeigen unterschiedliche Bilder der Klangstränge; ob sie den Arbeitsverlauf des Komponisten darstellen oder den Klangverlauf in der Zeit, ist aus den erhaltenen Spurbändern allein nicht zu ermitteln38. Deutlich sichtbar ist dort aber, dass diese Muster sich von den umgebenden Klangschichten unterscheiden. Auch ohne Information zum zeitlichen Verlauf der Klangschichten kann man in den Skizzen das gestalttheoretische Prinzip der Ähnlichkeit und der guten Kontinuität im dreidimensionalen Raumklang erkennen. Bei etwa zeitgleich entstandenen Raumkompositionen für Live-Musiker werden ebenfalls Klang- oder Tonfolgen über mehrere Stationen im Aufführungssaal transportiert. In Gruppen (1957) für ein in drei Gruppen geteiltes und an verschiedenen Orten im Saal platziertes Orchester hat Stockhausen solche Raumbewegungen als Rechts- und Linksdrehungen der Einsätze komponiert, wie
33 Ebd., S. 26. 34 Ebd., S. 30. 35 Stockhausen komponierte für Kontakte auch eine Version mit zusätzlichem Schlagzeug und Klavier und ließ beide Versionen zu. Ob die raumklanglichen Eindrücke mit dem zusätzlichen Instrumentenpart verstärkt oder abgeschwächt werden, ist nicht absehbar. 36 Zu Bau und technischen Einrichtungen in Bezug auf den Raumklang vgl. Brech 2015, S. 222–233. 37 Eberhard Großkopf-Archiv, AdK-Berlin, Nr. 38; mehrere Skizzen mit unterschiedlichen Nummerierungsarten (alphanumerisch, lateinisch, arabisch). 38 Die im Archiv des Elektronischen Studios der TU Berlin erhaltenen Perfo-Bänder von Dialectics geben mehrere Versionen wieder. Sie waren zwar alle digitalisierbar, eine Dokumentation ist aber nicht vorhanden. Das größte Problem bestand darin, dass kein adäquates dreidimensionales Wiedergabe-Setting zur Verfügung stand oder mit einfachen Mitteln simulierbar war, das die 50 Lautsprecher des Kugelpavillons abbilden konnte.
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Pascal Decroupet analysierte39. Auch in Stockhausens Carré (1960) für vierfach geteiltes Orchester und 4-geteilten Chor treten solche Drehungen zutage. Sie sind nicht nur aufgrund von Einsätzen derselben Töne nacheinander an anderen Orten im Raum erkennbar, auch Klangparameter werden von der folgenden Orchestergruppe übernommen40. Da die Musikergruppen mit räumlicher Distanz voneinander platziert sind, ist die Klangbewegung des Klangmaterials und der Einsätze aber nur sprunghaft und nicht kontinuierlich. Im 1969 komponierte Iannis Xenakis in Persephassa für sechs Schlagzeuger sogar bruchlose Raumklangbewegungen, indem er Phantomschallquellen mit dem Decrescendo und Crescendo der Instrumente imitierte41. In diesen eindrucksvollen Stellen der Komposition wandert ein Klang über die sechs Schlagzeugstationen, während zugleich stationäre Klänge als ein zweiter Klangstrang hörbar sind. Die kontinuierliche Bewegung von Klang und die polyphone Bewegung verschiedener Klangstränge im Umgebungsraum ist eine Novität der Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gleichzeitig hörbaren stationären und unbeweglichen Klänge, die ihre Basis bilden, erinnern aber an die Cori spezzati, die auf einer gemeinsamen harmonischen Basis melodische Floskeln sprunghaft im Raum transportieren. Insofern sind beide Stile in Bezug auf die raumklanglichen Mittel ähnlich. Der kompositorische Umgang mit diesen Mitteln ist seit dem 20. Jahrhundert jedoch sehr verschieden. Das ist auch am Einbezug der natürlichen Raumakustik zu erkennen, die selten kompositorisch genutzt wird. Üblich ist es, entweder für moderne Konzertsäle mit geringen Nachhallwerten zu komponieren oder die natürlichen Resonanzen mit der Lautsprecherdisposition und/oder der akustischen Einrichtung im Saal zu limitieren oder zu umgehen42. Eine Ausnahme ist deshalb Bohor (1962) von Xenakis. Die 8-Kanal-Produktion, die eigentlich aus zwei identischen 4-Kanal-Spuren besteht, setzt einzig auf die natürliche Akustik des
39 Pascal Decroupet: Vom Finden zum Erfinden. Stockhausens Theorie von der »Musik im Raum« durch die Brille seiner Werke Gesang der Jünglinge, Gruppen, Kontakte und Carré betrachtet; in: Martha Brech und Ralph Paland (Hg.): Kompositionen für hörbaren Raum, Bielefeld 2015, S. 239–255; hier S. 243–247. 40 Ebd., S. 241–243. 41 Es ist denkbar, dass Pierre Boulez dies bereits 1958 in seiner Poésie pour Pouvoir versuchte. Photos der von ihm nach der Uraufführung in Donaueschingen zurückgezogenen Komposition belegen, dass die teilweise im Raum verteilten Musiker so eng beieinander platziert waren, dass eine Raumbewegung durch aufeinanderfolgende Einsätze möglich gewesen sein muss. Die Lautsprecher an der Decke, die die Klangbewegung später spiralförmig nach oben tragen sollten, sind aber sehr klein und weit auseinanderangebracht.(https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/bild_zoom/zoom.php?bestand=22287&id=1853104&gewaehlteSeite=05_0000432453_0001_5-4324531.png&screenbreite=1920&screenhoehe=1080 [4.1.2018]. Das Photo ist inzwischen nicht mehr online zugänglich.) 42 Das gilt besonders für das Poème électronique und den Kugelpavillon in Osaka 1970.
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Aufführungssaals, in dem sich die nach dem Granularsystem43 komponierten abstrakten metallischen Klänge im Nachhall entfalten44 und immersive Wirkungen erzielen. 3) Nonos Raumkompositionen bis zum Prometeo Schon die frühen Raumkompositionen Nonos zeigen eine Eigenständigkeit, die der seiner zeitgenössischen Kollegen in nichts nachsteht. In einem Gespräch mit Enzo Restagno45 erläuterte er seine kompositorische Herangehensweise an den Raum und sprach auch von seinen frühen Gesangskompositionen wie u.a. Ha venido, Canciones para Silvia (1960) und Sará dolce tacere (1960), worin einige Aspekte bisher noch nicht erkannt und/oder analysiert worden seien46. Die räumliche Entfernung der sieben Sopranistinnen in Ha venido etwa führe auf der Bühne dazu, »dass sich die Klänge bewegen, sich verfolgen, sich im Raum wieder zusammensetzen, als ob sie aus verschiedenen Quellen, von verschiedenen, voneinander weit entfernten Lautsprechern herkommen. In Sará dolce tacere klingen deutlich die beiden Choremporen der Kirche von San Marco an.«47 Die musikalischen Mittel zur Raumdarstellung sind in beiden Partituren auffindbar. Neben zeitversetzten Einsätzen (fast) identischen Klangmaterials an verschiedenen Orten sind in Ha venido48 etwa dynamische Differenzen in zwei oder mehr Stimmen als räumlich wirkend erkennbar49. Ganz fein verläuft die Klangbewegung in T. 88f. vom Tutti des Chores zum 5. und 6. Sopran, der den Ausklang motivisch weiterführt. In T. 93f. ist die dynamische Differenz eines Tutti noch feiner gestaltet: Sopran 1–3 werden zum Taktwechsel eine Stufe lauter – Sopran 4–6 singen dagegen ein Crescendo über zwei dynamische Stufen. In Sará 43 Xenakis entwickelte die Theorie von den kurzen »Grains« von etwa 25 ms Dauer, die zu längeren Einheiten synthetisiert werden, im Rahmen seiner Theorie zur stochastischen Musik (Grundlagen der stochastischen Musik, Gravesaner Blätter 1960, Heft 18, S. 61–83). In der Praxis stellte er sie aus kleinen Tonbandabschnitten von verschiedenen, aber nicht unähnlichen Ausgangsklängen her. Auch Diamorphoses (1958), seine Ein- und Ausgangsmusik des Poème électronique, ist so entstanden. 44 R. Kim: Iannis Xenakis, Bohor (1962), Masterpieces of 20th Century Multi-Channel Tape Music, Internetseite der Columbia University, New York (war: http://sites. music.columbia.edu/masterpieces/notes/xenakis/index.html); nun auf http://www. moz.ac.at/sem/lehre/lib/mat/text/xenakis-bohor/ [26.2.2020], jedoch ohne Angaben zum Autor. 45 Nanni und Schmusch (Hg.) 2004, vgl. FN 13. 46 Ebd., S. 51. 47 Ebd., S. 54. 48 Luigi Nono: »Ha venido«. Canciones para Silvia per soprano solo e coro di 6 soprani, Edition AV 6, Ars Viva, Mainz 1960. 49 Im Gespräch mit Restagno wies Nono auf deren Einsatz im Il canto sospeso (1956) hin, was jedoch wegen der räumlichen Nähe der Sänger in der Aufführung dazu führte, dass die lautere Stimme die leisere übertönte. Erst später habe er verstanden, dass sich ihm »in diesem Problem, ein Verfahren der Klangverräumlichung aufdrängte« (ebd., S. 51).
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dolce tacere50 ist es neben den genannten Mitteln auch die ungewöhnliche Aufstellung der in zwei Chöre geteilten acht Stimmen. In der Partitur ist ihre Disposition genau angegeben. Beide Chöre stehen A-förmig zueinander, wobei der erste Chor am Bühnenrand links mit dem Sopran beginnt und der diagonale Verlauf der Stimmen in der Reihenfolge Sopran, Alt, Tenor, Bass nach rechts zur Mitte geht. Der zweite Chor beginnt gegenüber dem Bass des ersten Chores wieder mit dem Sopran und verläuft diagonal in derselben Abfolge von der Mitte nach außen rechts51. Alle Stimmklassen stehen somit nicht nur voneinander entfernt, sondern auch niemals auf derselben Höhe, was den Trennungseffekt vergrößert haben wird. Damit ist es möglich, beide Chöre zwar weitgehend unterschiedliches Material singen zu lassen, zugleich aber auch Bezugnahmen im Material auf verschiedenen Ebenen darzustellen und die räumliche Distanz hörbar zu machen. Neben einfachen respondierenden Elementen können dies z.B. klangliche Aspekte sein, die teilweise identisch in beiden Chören sind (z.B. T. 18f. und T. 80f. mit fast identischer Struktur der verschiedenen Töne), differenzierte Klangbewegung über beide Chöre durch versetzte Einsätze (T. 27f.) oder Übernahmen bzw. gemeinsame Strukturen in beiden Chören (z.B. T. 82, T. 83, T. 84). Ein räumliches Element ist auch in den Textübernahmen über Chöre und Stimmen hinweg zu erkennen, die Nono in allen hier genannten Kompositionen der 1950er Jahre fast durchgängig praktizierte. Die Absicht, damit auch räumlich zu komponieren, drückte er zwar nicht explizit aus, sie ist aber implizit erkennbar: Wenn der Text unregelmäßig über beide Chöre verteilt ist, verläuft er über die räumliche Distanz zwischen ihnen. Ein Hörer, der sich auf den Text konzentriert – den Nono in jenen frühen Jahren immer unverändert und fortlaufend komponierte – nimmt diese räumlichen Sprünge wahr, und er würde gleichzeitig die dem Text zugeordneten Töne als Abfolge erleben. Massimo Mila zeigte dies 1960 für Il canto sospeso52, der allerdings selbst keine Raumkomposition ist. Da Nono im Prometeo mehrfach den Text über räumliche Distanzen verteilt, ist grundsätzlich denkbar, dass Text auch eine räumliche Funktion hat. Zu den Raumaspekten von Nonos 26 elektroakustischen Kompositionen, die zwischen 1960 und 1984 entstanden53, ist dagegen weniger bekannt. Nur die An-
50 Luigi Nono: Sará dolce tacere; canto per 8 Soli, Edition AV 5, Ars Viva, Mainz 1960. 51 Eine ähnliche Trennung der Musiker auf dem Podium ist in Diario Polacco (1958), Nonos erster expliziter Raumkomposition, verlangt. Allerdings geht es hier um die Aufstellung der vier gleichen Teile des Orchesters auf dem Podium. Nono disponiert sie als eigene Einheiten, von denen nur die Holzbläser in symmetrischer, A-förmiger Anordnung um eine gedachte Mittellinie eine Art Zickzacklinie auf einer Höhe bilden. 52 Massimo Mila: Nonos Weg zum ›Canto Sospeso‹, in: Jürg Stenzl (Hg.): Luigi Nono; Texte, Studien zu seiner Musik, Zürich 1975, S. 380–393. 53 Angaben nach: Folkmar Hein und Thomas Seelig: Internationale Dokumentation elektroakustischer Musik, Saarbrücken 1996, S. 245. Die Zahl entspricht den Angaben
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zahl der Spuren – gegebenenfalls in verschiedenen Fassungen – und die Besetzungen sowie in bereits herausgegebenen Druckfassungen (s.u.) sowie in einer früheren Quelle auch die verwendeten live-elektronischen Geräte54 sind angegeben. Gelegentlich sind allgemeine Hinweise zur Wechselwirkung von aufführenden Musikern und Live-Elektronik zu finden. So ist in der Konzertfassung von La fabbrica illuminata (1964) eine Quadrophonie-Disposition der Lautsprecher angegeben. Die Lautsprecher bilden ein Quadrat in den Ecken des Zuhörerbereichs, und vorne, etwas vorgerückt zwischen zwei Lautsprechern, ist die Sängerin platziert55. In dieser dritten elektroakustischen Komposition komponierte Nono erstmals einen Dialog zwischen Elektronik und Sängerin. Interaktionen gibt es in der 2010 erschienenen Partitur in der 1., 3. und 4. Episode, wobei in der 3. und 4. Episode auf dem Tonband auch Klänge von Gesangsstimmen enthalten sind56. Notiert ist dies nicht explizit: in der Partitur sind nur Zeitangaben und wenige Dynamikzeichen enthalten, die als Orientierung zu den Einsätzen der Sopranistin dienen. Auch macht Nono nur vage Angaben zum Verhältnis von Raum und Klang57, sodass man nur ahnen kann, dass teilweise ähnliche und/oder identische Klänge an verschiedenen Orten im Raum gleichzeitig (interagierend) oder nacheinander, also zeitlich versetzt, hörbar waren. In A floresta é jovem e cheja de vida (1966) möchte Nono die fünf LiveMusiker im Publikumsbereich platzieren, während die acht vorproduzierten elektronischen Spuren über vier Lautsprecher vor dem Publikum und vier Lautsprecher Publikumsbereich übertragen werden sollen. Musiker und Lautsprecherklänge interagieren somit58; die räumlichen Klangelemente sind allerdings ohne eine eingehende Analyse nicht absehbar. Dasselbe gilt für Y entonces comprendió (1970) für 6 Frauenstimmen, gemischten Chor, 4-kanaliges Tonband und Live-Elektronik (Frequenzumsetzer,
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auf der Seite des Archivio Luigi Nono: http://www.luiginono.it/en/works/ [26.2.2020]. Rainer Riehn: Chronologisches Werkverzeichnis, in: Luigi Nono, Musik-Konzepte 20, Juli 1981, S.113–115 enthält Geräteangaben für einige elektroakustische Kompositionen Nonos. Luigi Nono: La fabbrica illuminata per soprano e nastro magnetico a quattro piste (1964); Ricordi 2010, Nr. 139738. Hg. und Einführung: Luca Cossettini, S. XXXIII. Ebd., S. XXII. Nono hatte zuvor Improvisationen der Sängerin der Uraufführung, Carla Henius aufgezeichnet geschnitten und neu angeordnet. Weiterhin verwandte er Chorklänge, Industrieklänge und Interviews mit Arbeitern auf den 4 Spuren des Zuspielbandes. Nono schrieb: »l’esecuzione ideale è unicamente in uno spazio, con quattro gruppi di altoparlanti – corrispondenti alle quattro piste – disposti in modo da creare quattro fonti sonore distinte e non simmetriche, e la solista dal vivo: essa si sovrappone, come all’inizio, al coro, oppure, come nella parte centrale, a se stessa registrata sul nastro in modo da moltiplicarsi in diverse espressioni simultanee.« (http://www.luiginono.it/en/works/la-fabbrica-illuminata/ [26.2.2020]). http://www.luiginono.it/en/works/a-floresta-e-jovem-e-cheja-de-vida/ [26.2.2020].
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Filter und Ringmodulator)59 sowie für spätere Kompositionen Nonos, die auf Band aufgezeichnete und/oder live-elektronische Anteile enthalten. Auch hier sind keine Angaben zu einer speziellen Platzierung der Live-Musiker zu finden. Für Io, frammenteo dal Prometeo60 (1981), die thematische Vorläuferkomposition des Prometeo, sind 10 Lautsprecher in zwei horizontalen Ringen aus Lautsprechern angegeben: vier Lautsprecher an den Ecken des Podiums für die Musiker und sechs weitere an den Wänden des Saals. Zwischen beiden Lautsprecherringen ist Platz für das Publikum vorgesehen. Auf dem Podium mit der idealen Größe von 14 x 12 Metern sind ein 12-köpfiger Kammerchor aus je zwei hohen Sopranen, Mezzosopran, Alt, Tenor, Bariton und Bass in unregelmäßiger Zweiteilung sowie Bassflöte und Kontrabassklarinette platziert. Die liveelektronischen Geräte des Freiburger Studios, darunter das Unikat zur Raumklangsteuerung Halaphon61, variieren die Klänge der Musiker und verteilen die Varianten oder den Originalklang über die Lautsprecher gezielt in den Saal. Einige der Kompositionselemente sind ebenfalls im Prometeo von 1985 zu finden62. Dazu gehören die extrem genau notierte, meist leise Dynamik der Stimmen sowie die minutiös komponierten Klangfarben im Gesang und im Spiel der Bassflöte, die aus Artikulationsvarianten und Mikrotonalität bestehen. Weiterhin gibt es viele Fermaten, also Bereiche der Stille, als Kontrast zum Klang63. Ebenfalls wie im Prometeo legen sich im Verlauf der Komposition elektronisch erzeugte Varianten wechselnd über live gesungene Klangfarben und werden je nach Angaben der Partitur in den Raum projiziert. Die technischen Angaben der live-elektronischen Varianten sind in Io, frammento dal Prometeo jedoch getrennt abgebildet; nur die Aussteuerung ist in der Partitur angegeben, was eine Synchronisation und Raumanalyse erschwert. In Das atmende Klarsein (1980–1983) für Kammerchor, Bassflöte, LiveElektronik und ein kurzes, erst ganz am Ende eingesetztes Zuspielband sind die 6 Lautsprecher am Rand des Hörerbereichs disponiert. Wie bei Io, frammenteo dal Prometeo sind einige der Kompositionselemente im Prometeo wiederzufinden64. 59 Riehn 1981, S. 114. Frequenzumsetzer ist das deutsche Wort für Harmonizer. 60 Luigi Nono: Io, frammento dal Prometeo, hg. von André Richard und Marco Mazzolini, Mailand 2001. 61 Das Halaphon, von Hans Peter Haller und Peter Lawo für das Freiburger Experimentalstudio entwickelt, ist das bekannteste der Unikate dort. Es fügt sich in die dort vertretende Technologie ein, s. Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion« und Brech 2015, S. 241–250. 62 Besonders der Hölderlin-Teil des Prometeo ist bei den Sopranistinnen sehr ähnlich dem Hölderlin-Teil des frammento; Jeschke (1997, S. 216) erkennt auch im Stasimo 1° Ähnlichkeiten zum frammento. 63 Stille als Begriff thematisierte Nono erstmals im Streichquartett Fragmente–Stille, An Diotima (1980) im Titel und in der Musik. Elektronik ist hier nicht eingesetzt. 64 Jeschke 1997, S. 15–17 ermittelte für den Anfang des Prometeo (T. 1) ein »doppeltes Zitat«, das mit Mahlers 1. Symphonie beginnt und »wie ein Naturlaut« betitelt ist und zugleich dem Beginn von Das atmende Klarsein ähnelt. Die Fassung des Prometeo von 1984 endet noch mit der gesamten Komposition von Das atmende Klarsein.
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Auch die live-elektronischen Geräte des Freiburger Studios kamen zum Einsatz, doch ihre genaue Wirkung im Raum ist wieder nicht ohne vorherige Synchronisation analysierbar. Die zahlreichen und differenzierten Artikulationszeichen zeigen aber, dass Nono exakte Klangfarbenvarianten ebenso komponierte wie differenzierte Momente der Stille. Als Gemeinsamkeiten von Nonos Raumkompositionen lassen sich damit folgende sieben (Klang-) Elemente erkennen: • Die Lautsprecher sind überwiegend an den Wänden/Ecken im Raum platziert.
Im Lauf der Zeit steigt die Anzahl der Lautsprecher im Konzertsaal. • Live-Musiker und Lautsprecher sind vom Publikum getrennt aufgestellt und • • •
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(meist) nicht mit ihm vermischt. Klangliche Einheiten (melodisch, rhythmisch, klangfarblich) interagieren im Raum und/oder stehen miteinander im Dialog. Es gibt verschiedene Klangfarben/Klangqualitäten, die gleichzeitig und an verschiedenen Orten ertönen und sich nicht vermischen. In den live-elektronischen Kompositionen seit ca. 1980, als Nono im Experimentalstudio der Freiburger Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR zu arbeiten begann, kommen beim Einsatz des Halaphons auch kontinuierliche Klangbewegungen im Raum vor. Stille kann Teil der Komposition sein (seit 1980, Streichquartett, s. FN 63) und ist in jedem Raum mit Resonanzen bzw. Nachhall auch räumlich. Text spielt, sofern er Teil der Komposition ist, eine wichtige Rolle. Er kann auch räumlich wirken, z.B. wenn er identisch an verschiedenen Orten erklingt.
4) Beschreibungen des Raumklangs im Prometeo durch Dritte Für die Analyse der Raumaspekte im Prometeo sind die zuvor geschilderten oder ähnliche musikalische Elemente zu erwarten. Hinweise von Musikwissenschaftlern, die zeitweilig eng mit Nono beim Prometeo zusammenarbeiteten, ergänzen die bereits genannten Raumklangaspekte und heben die Nuancierung und Kontrastierung von Klängen als charakteristische kompositorische Elemente hervor. Jürg Stenzl etwa, ein Spezialist von Nonos Musik, schrieb schon in der Rezension zur ersten Uraufführung 1984 von den auf die Hörer gerichteten Raum- und Klangnuancen des Prometeo65. In der 1998 erschienenen Monographie zu Nono schreibt er: »Der Hörer erkennt bald, dass in Nonos Prometeo die herkömmliche Hierarchie der musikalischen Gestaltungsmittel weitgehend umgekehrt wird: Dominierten bisher Tonhöhe und Tondauer über die Bedeutung der Dynamik, der Klangfarbe und des Raums, so hat im Prometeo die durch die Live-Elektronik ermöglichte Bewegung des Klangs im Raum
65 Jürg Stenzl: Inseln in einem unbegrenzten Meer; Zur Uraufführung von Luigi Nonos Prometeo, in: Musiktexte, Nr. 6, 1984, S. 56.
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ebenso zentrale Bedeutung wie die Transformation des gesungenen und gespielten Klangs. Was Nono suchte, war nicht länger die dramatisch-expressive Geste, sondern die Nuance, die kaum wahrnehmbaren Veränderungen, den ›kleinsten Übergang‹ und dessen 66 expressive Kraft.«
Nonos Kontrastdramaturgie der früheren Kompositionen, so Stenzl weiter, sei im Prometeo jedoch nur in der ersten Hälfte zu entdecken. Klaus Kropfinger, der 1988 die Einrichtung des Prometeo im Berliner Kammermusiksaal intensiv begleitete67, führte 1991 den Gedanken des Kontrastierens auf der Ebene der Klangdarstellung auch für den Prometeo aus. In einem analytischen Artikel zu Nonos kompositorischem Schaffen beschrieb er es als auf Kontrasten basierend68, die sich zu einer Gesamtheit fügen69. Nono habe Kontraste auf vielen klanglichen und kompositorischen Ebenen sowie mehrdimensional komponiert und etwa Klangflächen ähnlichen Materials mit anderen kontrastiert70 sowie schon früh erstmals Klanginseln geformt, die später in Fragmente – Stille, An Diotima (1980) und im Prometeo essenziell wurden71. Einen Kontrast zu den Klängen bildet nach Kropfinger die Stille als klangräumlicher Gegensatz zu Klang und Nachhall72. »Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Klangs im Raum unterstützen die Kontrastwirkungen entscheidend«73, schreibt Kropfinger weiter und misst Stille und Nachhall die Funktion zu, die »räumliche Entfaltung des Klangs und deren Aufnahme durch den Hörer erst zu ermöglichen«74. Weitere raum-klangliche Zusammenhänge wie Klangbewegungen im Aufführungsraum75 oder live-elektronische Zusammenhänge behandelte Krop-
66 Jürg Stenzl 1998, S. 112. 67 Kropfinger in einem Brief an Nono, ALN K 89-06-19m. 68 Klaus Kropfinger: Kontrast und Klang zu Raum, in: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik Luigi Nonos, Studien zur Wertungsforschung Bd. 24, Wien, Graz 1991, S. 115-144. 69 Kropfinger setzt seinem Text ein Zitat von Heraklit voran, ein Autor, der Nono wichtig gewesen sei (Kropfinger 1991, Fußnote 1, S. 139): »Verbindungen: Ganzheiten und keine Ganzheiten, Zusammentretendes – Sichabsonderndes Zusammenklingendes – Auseinanderklingendes Somit aus allem eins wie aus einem alles« (ebd., S. 115). 70 Ebd., S. 125 zu Incontri (1955). 71 Ebd., S. 133 zu Diario Polacco (1958). Nono erzählte 1987 Enzo Restagno dazu: »Ich entdeckte mich selbst beim musikalischen Komponieren von Fragmenten aus vielen Tagebüchern, mit einer Technik – einem Denken –, die ich viel später in meinem Quartett Fragmente – Stille, an Diotima verwendete: nicht durch Addition, sondern durch Subtraktion, eben wie aus Tagebüchern genommen.« (in: Nanni und Schmusch (Hg.) 2004, S. 56). 72 Ebd., S. 134. Die letzten Seiten des Haupttextes (S. 139) widmet Kropfinger der Beschreibung des Prometeo und der dort enthaltenen Kontraste. 73 Ebd., S. 135. 74 Ebd. 75 Dies betrifft nur den Raum der Umgebung – tatsächlich argumentiert Kropfinger mit einem »mehrwertigen« Raumbegriff (ebd. S. 134), der auch »geistig« und zeitlich
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finger ausschließlich in Bezug auf die Partitur. Er verzichtete auch auf die Beschreibung seiner Hörerfahrung im sich nach oben weitenden, schalenförmigen Kammermusiksaals der Berliner Philharmonie, die Klanginteraktionen im Saal erschwerten76. Nach diesen Beschreibungen sind die tragenden hörbaren Elemente des Prometeo also Klangbewegungen im Raum, Klangnuancen, Kontraste auf vielen kompositorischen und klanglichen Ebenen sowie Stille und Nachhall. Die Liste der Raumklang-Elemente in Nonos Kompositionen erhält somit kleine Erweiterungen.
IV ZUR ANALYSE DER HÖRBAREN KLANGRÄUMLICHEN BEZIEHUNGEN IM PROMETEO 1) Vorbereitungen Die Analyse der hörbaren klangräumlichen Elemente und ihre Beziehungen zueinander erfordert ein angemessenes Analysesystem, das hier entwickelt werden soll. Hörbarkeit bedeutet Hören – und das ist ein im Wesentlichen kognitiver, aber zumeist unbewusst ablaufender Prozess, bei dem individuelle Wissensbasen aus Akustik, Psychoakustik, Technik und Hörerfahrungen aufgerufen werden. Das bewusst Gehörte ist damit schwer absehbar und kaum begrifflich zu fassen. Ausgangspunkt für das Analysesystem sollen daher die Hinweise von Stenzl und Kropfinger zu den neuartigen Klangaspekten im Prometeo sein: feine Klangvarianten und Klangkontraste im Raum. Sie können im Zusammenspiel der vorliegenden schriftlichen Materialien (Partitur mit schriftlichen Ein- und Aufzeichnungen einer Aufführung) ermittelt werden. Perspektivisch ist es somit auf die kompositorische Absicht bezogen und in diesem Punkt vergleichbar mit den üblichen notenbasierten Musikanalysen77. Vor der eigentlichen Analyse sind mehrere vorbereitende Arbeitsschritte erforderlich:
fern in »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« oder »mythisch« (beide ebd. S. 135) sein kann. 76 Bei der Aufführung des Prometeo 1988 in Berlin, die Kropfinger begleitete, waren die Musiker und die Lautsprecher mehr im Publikum als auf der Bühne platziert, doch die Architektur des Saales ließ keine reine »Außenaufstellung« zu: Klangbewegungen im Raum waren nach meiner eigenen Hörerfahrung bei der Generalprobe dort kaum wahrnehmbar. 77 Die praxisbezogene Hörbarkeit der Raumphänomene dagegen würde sich auf eine einzelne und konkrete Aufführung beziehen, die nur ein individueller Hörer an einem speziellen Platz perzipieren kann. Diese Analyseperspektive ist momentbezogen, nicht reproduzierbar und kann besonders mit Hinblick auf das zerklüftete Raumsetting des Prometeo nicht direkt übertragbar sein.
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a) Aufführungseinrichtung Voraussetzung für eine raumbezogene Analyse ist die Rekonstruktion einer Aufführungseinrichtung. Die Wahl fiel auf die Uraufführung der 2. Fassung in Mailand 1985. Nur sie wird bis heute wieder aufgeführt und es sind die meisten Dokumente zu dieser Aufführungsserie auch an verstreuten Orten öffentlich zugänglich78. Die wesentlichen Elemente der Rekonstruktion waren die Ermittlung: • der Dimension und der Aufstellung der Arca im Ansaldo-Gebäude, • der exakten Aufstellung der beteiligten Musiker, Sänger und Sprecher sowie
der Lautsprecher, falls nötig unter Einbezug der Nummerierung, • der eingesetzten live-elektronischen Geräte und Programme, besonders ihrer Funktionsweisen; die meisten waren Unikate aus dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR Freiburg (Freiburger Studio; Leiter: Hans Peter Haller) und des Centro di Sonologia Computazionale der Universität Padua (Padua; Leitung im Prometeo: Alvise Vidolin). Die Ergebnisse der Rekonstruktion wurden als 3-D Modell der Arca und der dort positionierten Musiker, Sänger, Sprecher, der Regie, der Technik und Lautsprecher dargestellt, das Anna-Lena Vogt programmierte (s. auch Abb. 1). Abbildung 3/1–3 sowie die Animation zeigen die Rekonstruktion der voll besetzten Arca. In der Animation sind jedoch zur besseren Sichtbarkeit die Säulen des AnsaldoGebäudes und die technischen Geräte im Arcaspalt ausgeblendet. Die Musikergruppen Musikergruppen und Lautsprecher sind farblich differenziert. In der Reihenfolge der Animation sind das: orange für den Chor, gelb für den GlasSpieler (dahinter die Tische für die live-elektronischen Geräte des Freiburger Studios, grau für die Lautsprecher, blau für die Orchestergruppen, türkis für die Solostreicher, rostrot für die Solobläser, violett für die Solosänger und grün für die Sprecher. Animation 1: Rundflug durch die Arca 1985 in Mailand Zum Ansehen der Animation klicken Sie bitte in den QR-Code oder scannen ihn mit einer QR-Scanner App.
78 Die Einzelheiten der Aufführungsrekonstruktion sind im Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion« dargestellt.
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Abbildung 3/1: Blick in die besetzte Arca, große Hälfte; zum Teil sichtbar Orchester 4 (außen); innen: 1. Stock: Solostreicher und Solobläser; 2. Stock: Solosänger; 3. Stock: Orchester 1; sichtbar sind auch einige Lautsprecher.
Abbildung 3/2: Blick auf die kleine Hälfte der Arca mit Orchester 2, Chor , Technik und Lautsprechern; in der Mitte unten: Regie und Glasspieler
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Abbildung 3/3: Blick auf die Seite der Arca; direkter Blick auf den Spalt und die beiden Sprecher im 1.Stock der großen Arcahälfte; unten außen: Orchester 3; in der Arca verteilte Lautsprecher
b) Synchronisation von live erzeugten und live-elektronisch variierten Klängen im Raum Auf die Rekonstruktion baut die zählzeit- oder taktweise vorgehende Synchronisation auf, bei der die in der Aufführungspartitur notierten Klänge der verteilt platzierten Musiker, Sänger und Sprecher und die technischen Aufzeichnungen zu den jeweiligen live-elektronischen Varianten zusammengeführt werden (s. dazu Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«). Ein wichtiger Teil dieser liveelektronischen Varianten sind ihre im Verlauf des Prometeo wechselnden räumlichen Darstellungen in der Arca, denn sie werden immer auf jeweils genau bestimmte Lautsprecher übertragen, sei es als ortsstabiler, statischer Klang oder als sich kontinuierlich fortbewegender Klangweg, der ebenfalls jeweils genau bestimmt ist und mit dem Halaphon ausgeführt wird. Die Synchronisation enthält damit zugleich den ersten Analyseschritt, weil die Klänge nicht nur in ihren verschiedenen Notationsformen synchronisiert, sondern auch in Bezug auf ihre Raumdarstellung differenziert werden. Ebenfalls in der Synchronisation enthalten ist ein erster vertiefter Einblick in die Partitur und ihre Besonderheiten. Die Ergebnisse der Synchronisation sind entsprechend weit gestreut: • Prometeo hat 9 Sätze, wovon einer dreifach unterteilt ist. Alle 11 Teile sind
unterschiedlich mit Musikern besetzt und mit jeweils verschiedenen live-
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elektronischen Varianten und Lautsprecherdispositionen versehen; sie sind damit raumklanglich eigenständig. Die Partitur besteht in allen Teilen aus einer Aneinanderreihung bzw. teilweise auch Überlagerung von Fragmenten, die mit Doppelstrichen voneinander getrennt sind. Häufig, aber nicht immer, enthalten Fragmente verschieden aufgebaute Klangfarbenfelder; aufeinander folgende Klangfarbenfelder können ähnlich gebaut sein, sind jedoch nie identisch. Der Anteil der Live-Elektronik am Prometeo ist erheblich und nur geringfügig niedriger als der notierte Anteil für die Musiker. Die Klänge der einzelnen Solisten- und Sängergruppen (Chor, Solosänger, Sprecher, Streicher, Bläser und Glas) sind praktisch ständig mit jeweils eigenen live-elektronischen Zusätzen versehen; relativ häufig sind dabei Geräte und ihre Funktionen kaskadiert. (Einzig die Geschwindigkeit der Halaphon-Klangwege und die Lautstärke der Lautsprecher sind nicht vollständig dokumentiert und waren daher nicht immer rekonstruierbar; insgesamt beträgt der rekonstruierbare Anteil der LiveElektronik etwa 90–95%.) Die live-elektronischen Klangvarianten stehen im engen Zusammenhang mit den jeweiligen Ursprungsklängen; auch wenn der Grad der Varianz schwankt sind keine vollständigen Verfremdungen erkennbar, die ein klangliches Eigenleben losgelöst vom Ursprungsklang führen. Es gibt nur in zwei der elf Teile live-elektronische Vermischungen von Ursprungsklängen, und raumklangliche Vermischungen gibt es gar nicht, da die disponierten Lautsprecher (zumeist zwei, aber auch mehr, ausnahmsweise nur einer) jeweils exklusiv für eine elektronische Klangvariante verwendet werden. Kurzfristige Überschneidungen in exakt definierten Klangwegen kommen jedoch gelegentlich vor. Die räumlichen Diffusionsorte ändern sich kontinuierlich: Zwar bleiben die Musiker, Sänger und Sprecher immer an ihrer Position, doch jeder Kompositionsteil hat eine spezifische Besetzung und Raumdisposition der LiveElektronik und der zugeordneten Lautsprecher, die gelegentlich auch innerhalb eines Kompositionsteils wechseln. Weiterhin verändern sich innerhalb eines Teils Besetzung und Dynamik entweder kontinuierlich von einer Zählzeit zur nächsten oder abrupt von einem kurzen, durch Doppelstrich getrennten Fragment-Abschnitt zum anderen, was den diffundierten Raumklang jeweils verändert. Im Prinzip ist der Raumklang in ständiger Bewegung. Die vier Orchestergruppen sind nicht mikrophoniert79; ihre Klänge bleiben daher live-elektronisch unvariiert. Klangbeziehungen zu den Klängen und Klangvarianten anderer Musiker sind dennoch vorhanden. Notierte Pausen und Fermaten mit genauen Zeitangaben, die in der Aufführungspartitur teilweise handschriftlich geändert sind, weisen auf deren Bedeutung im Prometeo. Eine komponierte räumliche Wirkung ist hier anzuneh-
79 Das jeweils eine Mikrophon für einen Musiker pro Orchestergruppe im Teil 1° Isola bildet eine Ausnahme.
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men – zumal die Einsätze der genau platzierten Musiker in der Partitur nicht mit Pausen umgeben sind. 80 • Das Libretto Cacciaris stellte Nono teilweise um : Er kontrastierte Textteile aus verschiedenen Librettoteilen miteinander, strich Zeilen und fügte neue hinzu. Die Textebenen des Librettos sind aber immer raumklanglich differenziert; hier spielt die Live-Elektronik eine besondere Rolle. 2) Analyse raumklanglicher Strukturen und klanglicher Beziehungen Im folgenden Analyseschritt geht es um die Frage der Ermittlung von Zusammenhängen im gesamten Klangraum in und um die Arca. Die Ergebnisse der Synchronisation zeigen zunächst nur verschiedene Orte, an denen Klang ertönt: Musiker, Sänger und Sprecher bilden teilweise nah beieinander stehende Gruppen; dasselbe gilt für die Zentrallautsprecher 9+10 (s.u. Abb. 4). Doch die anderen Gruppen und Lautsprecher sind jeweils mit deutlicher Distanz zueinander in der Arca platziert. Verglichen mit Musiker- und Lautsprecheraufstellungen in den anderen oben beschriebenen Raumkompositionen Nonos gibt es im Prometeo eine deutlich erhöhte Anzahl von Raumpositionen, zwischen denen identische oder nuancierte Klänge in zeitlicher Abfolge zum zusammenhängenden räumlichen Eindruck führen können. Die kontinuierlichen Halaphonwege sind solche zeitlichen Abfolgen von Klängen im Raum. Vorstellbar ist ebenso, dass Nono Klangelemente sprunghaft in dialogischer oder anderer raumgreifender Form in der Arca komponierte. Dies ist in der Synchronisation nicht ablesbar und muss aus der Partitur analysiert werden. Die Gesamtheit des Klangs in der Arca ist schwieriger einzuschätzen und zu analysieren. Die Synchronisierung ergab, dass gleichzeitig sehr verschiedene sowie ähnliche bis sehr ähnliche Klänge an verschiedenen Orten ertönen, deren Zusammenhang zunächst unklar ist: Bilden sie eine Gesamtheit mit wechselnden Klang-Orten oder sind Zusammenhänge nur in den nuancierten Klängen im Raum hörbar, während andere Klänge und ihre Nuancen kontrastierende Raumzusammenhänge bilden? Die zweite Alternative liefe auf eine räumliche Polyphonie der Klangzusammenhänge hinaus. Dafür würden Nonos allgemeine Interessenslage an der Raummusik sowie besonders die durchweg getrennt gehaltene Lautsprecherdisposition der live-elektronischen Varianten im Prometeo sprechen. Auch einige persönliche Aussagen von Experten zur Hörbarkeit von räumlichen Klangflächen und -skulpturen unterstützen diese Sichtweise81.
80 Zur Genese des Librettos und des Prometeo als Ganzem vgl. das Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«. 81 Während eines Besuches des Nono-Archivs im September 2017 erzählten mir Nuria Schönberg-Nono, Alvise Vidolin und Erwin Roeboecks von wahrnehmbaren beweglichen Klangflächen, die aber stark von den jeweiligen Aufführungsräumen, den dortigen Einrichtungen und der eigenen Hörposition abzuhängen scheinen. Weitere dies-
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Doch wie diese Raumformen aus den nuancierten und kontrastierenden Klängen gehört werden können, benötigt eine Erklärung. Das theoretische Fundament für eine solche liefert wieder die von Wertheimer u.a. im frühen 20. Jahrhundert formulierte wahrnehmungspsychologische Gestalttheorie82, wenngleich nun in ihrer späteren und erweiterten Version. 1990 veröffentlichte Albert Bregman seine umfassende Studie, in der er die auditive Gestaltwahrnehmung als Szenenanalyse beschrieb. Er belegte mit zahlreichen eigenen empirischen musikpsychologischen Untersuchungen sowie solcher anderer Forscher, dass Gestaltbildung auch beim Hören stattfindet und auf einem komplexen Wechselspiel in der Wahrnehmung verschiedener Klangaspekte beruht83. Bregman verglich besonders Klangstimuli mit Hörresultaten und erkannte einen kognitiven Gruppierungsvorgang, bei dem zeitlich und/oder klangräumlich ähnliche Klänge zu auditiven Gestalten oder »auditory streams«84 strukturiert werden, die, einmal als zusammengehörig erkannt, stark von anderen Gestalten abgegrenzt empfunden werden (Gesetz der Figur-Grund-Abhebung). Weitere Ähnlichkeitskriterien betreffen: • die zeitliche Nähe von Klängen, die somit als Verlauf empfunden werden kön-
nen, • den parallelen Verlauf von Klängen oder Teilklängen (z.B. identischer Anfang
und Ende), • identische tonräumliche Bewegung, auch wenn zeitweilig ein anderer Klang
diese Verläufe überlagert, 85
• örtliche Übereinstimmung , • Zusammengehörigkeit als Abhebung gegenüber anderen Klanggestalten.
Bregman zufolge gibt es zahlreiche Basen für die auditive Gestaltbildung (»stream segregation«), die gleichzeitig miteinander kooperieren wie konkurrieren: »If different factors promote contradictory groupings of sounds, the winner will be the grouping with the most factors favouring it, or the grouping that favoured by the factors that the auditory system prefers to use.«86 Die Perzeption
82 83 84 85
86
bezügliche Erfahrungsberichte von Nono-Experten geschahen eher beiläufig und wurden nicht dokumentiert. Vgl. FN 29. Albert Bregman: Auditory Scene Analysis, Cambridge Mass. und London 1990 (1. Aufl.). Die Schrift wurde mit zahlreichen Wiederauflagen bis heute zum Klassiker. Terminus von Bregman für »Klanggestalten«. Die von Bregman herangezogenen Untersuchungen betreffen jedoch eher Lateralisierungen, weil sie immer per Kopfhörer an das rechte oder linke Ohr gegeben wurden (Bregman 1990, S. 73–82). Albert Bregman: Auditory Scene Analysis: hearing in complex environments, in: Stephen McAdams und Emanuel Bigand (Hg.): Thinking in Sound; the cognitive psychology of human audition, Oxford 1993, S. 10–36; hier S. 23. Zu Bregmans Zitat gehört sein Verweis auf sich selbst (= Bregmann 1990, S. 165–171; 218, 335).
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(Segregation) von Gestalten aus einem Umfeld sehr ähnlicher Klänge und Klangverläufe ist damit also nicht genau vorhersehbar und von individuellen Hörerfahrungen geprägt. Bei großen klanglichen Differenzen kann die Perzeption verschiedener Klanggestalten/Streams aber sehr wahrscheinlich werden, wenn kaum Ähnlichkeiten zwischen ihnen bestehen87. Das räumliche Hören behandelt Bregman in einem anderen Sinn als dem hier verwendeten. Alle von ihm herangezogenen Untersuchungsergebnisse beruhen auf Experimenten, bei denen die Versuchshörer Klangstimuli direkt über Kopfhörer präsentiert wurden88, sodass seine Ergebnisse zum Thema Raumhören in der Raumanalyse des Prometeo nicht brauchbar sind. Spezielle Forschungsergebnisse zur auditiven Wahrnehmung und Differenzierung flächenhafter oder dreidimensionaler Klanggestalten in Aufführungssituationen scheinen nicht zu existieren. Man kann also nur annehmen, dass die Prinzipien der Stereophonie, die etwa im Prinzip der Phantomschallquellen zum Tragen kommen (s.o.), auch für die Wahrnehmung räumlicher Klanggestalten zutrifft und eine räumliche Zusammengehörigkeit von fast identischen Klängen empfunden wird, die gleichzeitig an entfernten Orten hörbar sind. Denn bei der 2-kanaligen Stereophonie wird der Klang immer von beiden Lautsprechern übertragen, d.h. auch bei einer extrem lateralen Position würde der Lautsprecher auf der anderen Seite den Klang ebenfalls, wenn auch sehr leise, übertragen. Im mit 12 Lautsprechern ausgestatteten Prometeo wird dieses Prinzip mehrfach zur Erzeugung raumklanglicher Zusammenhänge genutzt und erweitert: • Die Halaphonwege sind in technischer Hinsicht immer zeitveränderliche Aus-
steuerungen des Klangs zwischen zwei Lautsprechern. Der Weg verläuft vom leiser werdenden Lautsprecher in Richtung des lauter werdenden Lautsprechers. • Die statischen live-elektronischen Varianten sind weit überwiegend auf mindestens zwei Lautsprechern zu hören und bilden aufgrund von Klangähnlichkeiten zum Original eine dreidimensionale Klangskulptur. Selten bildet der Originalklang mit einem Lautsprecher eine einfache räumliche Linie wie in der Stereophonie. Die Synchronisation ergab zudem, dass sich statische zwei- und dreidimensionale Raum-Klangschichten nicht überschneiden, sondern immer deutlich räumlich getrennt voneinander disponiert sind.
87 Vgl. Martha Brech: Analyse elektroakustischer Musik mit Hilfe von Sonagrammen, Frankfurt a.M. 1994 und dies. mit Anna-Lena Vogt und Jan Urbiks: Techno: Interaktion von Simplizität und Komplexität; in: Jan Hemming (Hg.): Das Populäre in der Musik; Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung 2017, Heidelberg u.a. 2019, S. 187–198. 88 Hier kommt es nach Bregman, der u.a. auch die Experimente von Diana Deutsch zitiert, zu verfälschender Wahrnehmung. Wenn etwa ein Testton an einem Ohr besser zur Testtonreihe am anderen Ohr passt, fügt er sich für den Hörer dort ein, was dem Gesetz der guten Fortsetzung (Wertheimer 1923, S. 324) entspricht.
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3) Hörbasiertes Raum-Analysesystem und analytisches Vorgehen im Prometeo Gegenstand der Analyse ist alles Hörbare im Raum der Arca und ihren Nebenräumen: Klang ebenso wie Stille (Pausen) und Textvortrag. a) Analysegraphiken Zur Notierung der räumlichen Klänge wurde ein graphisches Darstellungssystem auf der Basis des leicht senkrecht nach vorn gehobenen 3D-Modell der Arca von Anna-Lena Vogt entwickelt. Es bildet die nun durchsichtigen Böden, die Musiker, Sänger, Sprecher und die Lautsprecher ab (s. Abb. 4). Die jeweilig in einem gegebenen Abschnitt synchronisierten und analysierten akustischen Raumverhältnisse werden dort eingetragen: Die Dynamik der spielenden Musiker und Lautsprecher ist relativ dargestellt: tiefschwarz entspricht extremer Lautstärke, hellgrau sehr geringer. Die extreme Dynamik des Prometeo von ppppppp bis fffffff kann nicht absolut abgebildet werden. Die dynamischen Differenzen sind also nur immer nur auf die jeweilig behandelte Zeiteinheit und gegebenenfalls auf direkt darauffolgende Zeiteinheiten bezogen. Die folgende Prinzip-Darstellung und die Umsetzung aller weiteren bildlichen 3D-Graphiken meiner Analysen sowie die Animationen übernahm Jan Schlenkermann. Abbildung 4: Analysegraphik der Arca, reduziert auf die Musiker, Lautsprecher, Regie und live-elektronische Geräte. Die Außenlautsprecher näher an die Arca gebracht; die Böden durchsichtig dargestellt. Hier sind zunächst alle Musiker und Lautsprecher tiefschwarz dargestellt, was der höchsten Lautstärke entspricht. Die Eintragung der Musikergruppen dient nur der Orientierung; sie entfällt bei späteren Graphiken, ist aber dem zugehörigen Text zu entnehmen.
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b) Raum-Klang-Analyse Das Klanganalysesystem, das auf den von Bregman beschriebenen Gestaltkriterien der Ähnlichkeit oder des Kontrasts/der Differenz von Klängen beruht, folgt zugleich den Regeln der Stereophonie in Bezug auf die räumliche Ausbreitung. Ähnlichkeit und Kontrast von Klängen wurden aus den Klangparametern ermittelt, die nach der synchronisierten Partitur an den verschiedenen Plätzen in der Arca hörbar sind. Eingeschlossen sind demnach die Klänge der Musiker, Sänger und Sprecher sowie die live-elektronischen Varianten mit den zugehörigen Lautsprechern. Klang und zeitlicher Klangverlauf an einem Ort: • Besetzung der Musiker, Sänger, Sprecher und ihre spezifische Klangfar• • • • •
be/Artikulation/Spieltechnik (auch mit speziellen Notierungszeichen) Register und Klangverteilung im Spektrum (absolute Tonhöhe) Intervallstruktur/Schichtungen/Register Rhythmische Struktur des Klangs Dynamik/dynamischer Verlauf auch einzelner Klanganteile Spezifik der live-elektronischen Varianten (Harmonizer, Hall, Filter, Verzögerung, 4i-Einsatz zur Erzeugung von stetig umspielenden Mikrointervallen)
Klang und zeitlicher Klangverlauf an mehreren Orten: • statisch: Originalklangverlauf und live-elektronische Varianten auf definierten
Lautsprechern ohne Änderung • mobil: Originalklangverlauf an mehreren Orten der Arca und/oder live-elektronische Varianten auf wechselnden Lautsprechern Mit dem Vergleich der Parameter ergeben sich die Zuordnungen zu ähnlichen und kontrastierenden Klangzusammenhängen sowie ihrem räumlichen Verhalten. Ähnliche Klangzusammenhänge heißen in Anlehnung an Bregman »Klangschicht«; sie wird in ihren Grundcharakteristika beschrieben. Die Breite der Nuancierungen kann Teil dieser Beschreibung sein, besonders wenn sie zur Abgrenzung von kontrastierenden Klangschichten beitragen. Die Anzahl der gleichzeitig hörbaren Klangschichten ergibt sich aus dem Vergleich der Parameter. Da der Klang im Prometeo ständig wechselt und maximal über die Dauer eines Fragments von wenigen Takten einigermaßen stabil bleibt, ist der Vergleichsrahmen entsprechend kurz. Analysierbar sind mit der feinen Betrachtung Klangbeziehungen oder Klangabgrenzungen, die sich im Zeitverlauf bilden und deren räumliche Auswirkungen. Dies wird mit mehreren Beispielen schrittweise erläutert.
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ba) Ähnlichkeit Klangliche Ähnlichkeit kann – wie die anderen Raum-Klang-Phänomene auch – entweder in der Partitur als leichte Variante der Klänge für Musiker, Sänger oder Sprecher notiert sein oder sie ist in den geringfügigen live-elektronisch erzeugten Varianten zu erkennen. baa) Live-elektronische Varianten Grundsätzlich besteht Ähnlichkeit zwischen den Instrumentalklängen und ihren mittels Lautsprecher übertragenen live-elektronischen Varianten, ganz besonders, wenn sie nur geringfügig klanglich variiert sind (z.B. leichte Filter, Nachhall, Verzögerungen, Transpositionen). Im folgenden Beispiel (Abb. 5) ist der Klang des Chores ohne elektronische Zusätze auch auf den Mittenlautsprecher zu hören, was wegen der normalen, die Klänge nur leicht beeinflussenden Übertragungseigenschaften von Lautsprechern einer geringfügigen Klangvariante entspricht. Chorsänger und Lautsprecher bilden eine Klangschicht und erscheinen daher in der Graphik in derselben Hervorhebung. Abbildung 5: Chor und Lautsprecher 9+10, in: 3 voci b, S. 213, T. 10–14
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bab) Ähnlichkeiten bei Musikern Abbildung 6a: Partiturauszug und Graphik von: Prologo, T. 64, S. 15
Die vier Orchestergruppen sind nicht mikrophoniert und bleiben ohne live-elektronische Bearbeitungen. Ähnlichkeiten sind in der Partitur zu erkennen. In Abbildung 6a spielen die vier Orchestergruppen klangfarblich leicht verschiedenes Material. In der zur Abbildung 6a zugehörigen Graphik sind die Oktavierungen der 2. und 4. Violinen in Orchester 2+4 nicht abbildbar, auch die Flöte, die in Orchester 1+3 als Piccolo gesetzt ist, ist graphisch nicht zu differenzieren, was eine verbale Beschreibung erforderlich macht. Sichtbar ist aber, dass in Orchester 1+3 jeweils die Trompete spielt und in Orchester 2+4 die Posaune. Die Ähnlichkeiten zwischen den vier Orchestergruppen sind sehr hoch; daher bilden sie eine Klangschicht.
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Abbildung 6b zeigt sehr große Ähnlichkeiten in den Orchestergruppen 2+3, was zur Bildung einer Klangschicht führt. Diese ist in der Graphik dargestellt. Die geringfügigen rhythmischen und klanglichen Varianten können wieder nur verbal beschrieben werden. Abbildung 6b: Partiturausschnitt, Interludio 2°, T. 9
Abbildung 6b: Graphik, Interludio 2°, T. 9
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bb) Differenzen/Kontraste bba) Kontraste bei Musikern Klangdifferenzen sind ebenfalls in der Partitur erkennbar. Im folgenden Beispiel sind neben Klangkontrasten auch live-elektronische Varianten mit Raumwirkung herangezogen, sodass sie sich in der Graphik zwei Klangschichten differenzieren. Abbildung 7: Partiturausschnitt, 3 voci a, T. 21 S. 166
In der Partitur von Abbildung 7 sind zwei Klangschichten zu sehen. Die erste spielen die Violinen der vier Orchestergruppen mit sehr oder extrem hohen und langen Tönen, die in den einzelnen Orchestergruppen neben Übereinstimmungen auch Varianten aufweisen. Solo-Bassflöte und -Bassklarinette bilden die zweite Klangschicht im mittleren bis tiefen mit Register mit kürzeren und später einsetzenden Tönen.
In der folgenden Graphik von Abbildung 7 ist die Differenz der Klangschichten zusätzlich in den Klangorten der Musiker und den jeweils zugeordneten Lautsprechern erkennbar. Die Klangschicht der Solobläser und der liveelektronischen Variante auf LS 1 ähneln sich stark, was durch eine räumliche Verbindung und eine Schraffur dargestellt ist. Die Klangschicht der Orchesterviolinen ist zwar ebenfalls sehr ähnlich, doch die Orchestergruppen sind räumlich so verschieden platziert, dass eine graphische Verbindung nicht sinnvoll hergestellt werden kann. Alle Instrumente erhalten jedoch dieselbe Grundschraffur, um die Identität der Klangschicht zu markieren.
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Abbildung 7: Graphik, 3 voci a, T. 21 S. 166
bbb) Differenzen in elektronischen Varianten Gelegentlich kommen extreme elektronische Klangvarianten zum Einsatz, wie Hall mit überlangem Volumen und Nachhallzeit, Transposition über knapp zwei Oktaven und/oder Verzögerungen von mehreren Sekunden. Ob Hörer solche extremen Klangvarianten auf ihren Ursprungsort beziehen können oder als eigene, davon losgelöste Klanggestalt/Klangschicht mit ebenfalls eigener Räumlichkeit wahrnehmen, ist nicht prinzipiell vorherzusehen und soll daher im Kontext der satzweisen Darstellung der Analyseergebnisse für jeden Einzelfall untersucht und dargelegt werden. bc) Ähnlichkeiten und Differenzen im Raum: statische oder in sich bewegte und zeitliche Raumverläufe bca) Statische Raumflächen In den bisher angegebenen Beispielen wird es den Hörern möglich sein, Beziehungen zwischen Klängen zu erkennen und die elektronischen Klänge auf die Instrumentalklänge zurückzuführen. Die statisch am Ort verbleibenden Klänge, die auf einem oder mehreren Lautsprechern an verschiedenen Stellen über einen Zeitraum von mehreren Sekunden in der Arca hörbar sind, werden wohl zu einem flächenhaften oder skulpturalen Raumeindruck verschmelzen können. Wenn ein oder mehrere Lautsprecher in der Nähe der Musiker deren Klänge oder leichte Klangvarianten übertragen, wird sich eine zusammenhängende Klangfläche
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ergeben, die sich auch deutlich von anderen räumlichen Klangzusammenhängen abgrenzen wird. In Abbildung 8 ist die Klangfläche aus Chor und LS 9+10 daher mit einer gemeinsamen Schraffur versehen. Die klar umrissene Begrenzung ist beim Hören nicht vorhanden und den graphischen Möglichkeiten des Architekturprogramms geschuldet. Dennoch ist ein räumlicher Klangzusammenhang deutlich wahrnehmbar, sofern Hörer sich in der Nähe befinden. Aus größerer Entfernung können mit Aufmerksamkeit und Konzentration klangliche Zusammenhänge erfasst werden. Abbildung 8: Schraffur von 3 voci b, T. 10–14, S. 219, vgl. Abb. 5
Überschneidungen der bis zu dreidimensionalen und skulpturalen Klangschichten kommen nur selten vor, was Kontrastwirkungen getrennter Klangschichten unterstützt. Auch Lautstärkedifferenzen tragen zur Gestaltbildung zweier oder mehrerer Klangschichten bei, wie das folgenden Beispiel zeigt: Im Notenbild von Abbildung 9 sind drei Klangschichten zu sehen: Sprecher, Solobläser und die live-elektronisch tief transponierten, extrem lang verhallten Gläser spielen je eine Klangschicht. Solobläser und Gläser sind im Prologo immer zusammen hörbar. In der Graphik wurde dies berücksichtigt und die Schraffuren ähnlich gestaltet.
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Abbildung 9: Partiurausschnitt und Graphik, Prologo, T. 43, S. 10
Abbildung 9: Partiturausschnitt und Graphik, Prologo, T. 43, S. 10
bcb) Zeitliche Verläufe: im Raum bewegliche Klangverläufe und in sich bewegte Raumflächen In der Partitur sind die oben dargestellten statischen Raumflächen nur sehr selten über mehrere Takte hinaus stabil. Schon eine kleine dynamische Veränderung reicht, um die räumliche Klangskulptur zu variieren und gleichsam in sich selbst in Bewegung zu bringen. Leichte Besetzungsvarianten, hervorgerufen z.B. durch Pausen oder den Neueinsatz eines/r weiteren zur Gruppe gehörenden Instrumen-
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tes/Stimme haben ähnliche Wirkungen. Diese Mikrobewegungen zeigen keine Typik und entstehen aus der Komposition heraus in der jeweiligen Besetzung eines Teils. Klangverläufe im Raum sind sehr häufig und kommen in drei Typen vor: • Materialtransport zwischen den nicht mikrophonierten Orchestergruppen, • Halaphonweg bei mikrophonierten Instrumenten/Gesangsstimmen, • Mischformen: Klang- und Raumverläufe als variierende Zusammenhänge.
Orchestergruppen Zwischen den Orchestergruppen kommt es regelmäßig zu räumlichen Bewegungen des Klangmaterials. Meist geschieht dies als direkte zeitliche Abfolge von sehr ähnlichen Klangfragmenten in verschiedenen Orchestergruppen, sodass im Zeitverlauf verschiedene Raumfiguren wie Rechts- und Linksdrehungen, Kreuzoder Zickzackfiguren entstehen. Ihre klanglichen Übergänge zwischen den Orchestergruppen sind aber eher sprunghaft als fließend wie beim Halaphon, obwohl Nono (extrem selten) auch Phantomschallquellen komponierte (z.B. S. 14, T. 55). In den Graphiken sind diese Raumfiguren der Orchester, mit dickeren, kurzen Pfeilen in die jeweilige Richtung versehen, in denen die Klangelemente in zeitlicher und räumlicher Abfolge verlaufen; die letzte Station bleibt ohne Pfeil. Abbildung 10: Raumfigur der Orchestergruppen, Prologo, T. 85f., S. 20
Halaphonwege Die vom Halaphon erzeugten Klangwege verlaufen über die Lautsprecher und sind darin sowie in der Geschwindigkeit frei definierbar. Nono machte im Prometeo exzessiv Gebrauch von den Möglichkeiten und setzte das Halaphon in fast
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allen Teilen des Prometeo in immer anderen, auch parallel verlaufenden Klangwegen ein. Bis zu vier Halaphonwege kreuzen gleichzeitig mit verschiedenen Klängen in der Arca. In Abbildung 11 (2° Isola, T. 55) sind drei Raum-Klangschichten hörbar: Die Bassflöte mit pulsierendem, statischem Raumklang im tiefen Register; Soloviola und Solokontrabass mit leisen, sehr hohen Dauerklängen auf einem dreistufigen Halaphonweg und die Chorsänger mit Sprechgesang auf einem vierstufigen Halaphonweg. In der Graphik sind die Halaphonwege mit unterbrochenen Linien markiert, um ihren Verlauf in der Arca darzustellen; sie verlaufen in Pfeilrichtung. Dabei entsteht eine Unschärfe dadurch, dass die in sich bewegten Klangskulpturen nicht ebenfalls dargestellt sind, sondern statisch erscheinen. Eine exaktere visuelle Umsetzung der räumlichen Klangverläufe geben die Animationen, die für einige Abschnitte einzelner Teile vorliegen (vgl. Analysekapitel). Abbildung 11: Graphik, 2° Isola a (Io-Prometeo), T. 55, S. 115
Mischformen: Klang- und Raumverläufe als variierende Zusammenhänge Zwischen Klangverläufen und Raumklängen kann es zu verschiedenen Wechselbeziehungen kommen. In Abbildung 12 nähern sich die vier Klangschichten einander an:
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• 1. Klangschicht: Die Orchestergruppen (ab T. 37), jeweils besetzt mit Violi-
nen, Viola und Cello, spielen einzelne, lauter und kürzer werdende und von langen Pausen durchbrochene Akzente zunächst unisono »f« bzw. »c«, dann geteilt in Orchester 1+2 mit »h« und Orchester 3+4 mit »f«. Auffällig ist die Nähe zu den Tönen der 2. Klangschicht. • 2. Klangschicht: Solosänger (ab T. 36) und Chor (ab T. 37) singen gleichzeitig an zwei getrennten Orten sehr ähnliches Material in eigenen Stimmverläufen. • 3. Klangschicht: Die Solobläser (ab T. 36; nur Bassinstrumente) bilden eine Art in sich verwobene Klangschicht aus verschiedenen Klangverläufen. Besonders die Bassflöte ragt heraus, weil sie sich tonräumlich nah an den Sängern bewegt und ähnliche Klänge mit ihnen hat. • 4. Klangschicht: Glas (ab T. 37) »h«, live-elektronisch 23 Halbtöne tiefer transponiert zu »C« und sehr stark verhallt. Abbildung 12: Partiurausschnitt, Prologo, T. 36–39 (Auftakt von T. 35), S. 9
Zunächst sind die Klangschichten voneinander getrennt, ab Takt 38 kommt es zu Annäherungen zwischen ihnen: Am Ende von Takt 38 spielt die Bassflöte im Unisono-»c« mit den Sängern, die Tuba begibt sich kurz zum »h« und nimmt damit den Klang der Orchester 1+2 auf, die Bassklarinette dagegen taucht weiter
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in den Bassbereich ab und spielt dort am Ende »F«, das sich vom »h« gespielten und zum tief transponierten stark verhallten »C« des Glases gesellt: »H«, »C« und »F« sind die Töne der Sänger in Takt 39 bzw. nur der Tritonus »H«–»f«, der am Ende des Fragments steht. Somit ist zu beobachten, wie alle drei Klangschichten auf diese Töne zulaufen, in absoluter Tonhöhe, aber auch in (mehroktaviger) Distanz. Die klangliche Annäherung ab T. 38 kann man zweifach interpretieren, je nachdem, ob man (a) zählzeitweise oder (b) gesamt über die Takte 38f. vorgeht a) Ein Wechsel der Klänge ergibt verschiedene Zusammenhänge je nach Ton und absoluter Tonhöhe von Klangort zu Klangort. b) Es etabliert sich ein Klanggefüge im gesamten Raum der Arca, das zugleich den mittleren und unteren Frequenzbereich zusammenführt. Die Graphiken stellen dies in fünf Stationen dar, wobei die klanglichen Annäherungen im Tonraum wie immer nur verbal zu beschreiben sind. Da es nicht zu einer Verschmelzung zwischen den Klangschichten kommt, verändern sich die Schraffierungen der Klangschichten nicht. Abbildung 12/1: Graphik, Prologo, T. 36
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Abbildung 12/2: Prologo, T. 37
Abbildung 12/3: Prologo, T. 38, 1. Teil
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Abbildung 12/4: Prologo, T. 38, 2. Teil
Abbildung 12/5: Prologo, T. 39
c) Texte (im Raum) Text hat zwei verschiedene Eigenschaften: Er ist Klang, der als solcher Teil zusammen mit den anderen Klangschichten analysiert wird, und er ist sprachlicher Bedeutungsträger. Wie oben beschrieben, komponierte Nono Text immer variantenreich und unterschied dabei deutlich zwischen verständlich komponiertem
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und nicht verständlich komponiertem Text. In der Analyse sind somit über die Textgrundlage eines Kompositionsteils hinaus die verständlich komponierten Textteile von Interesse. Sie werden sowohl in Bezug auf ihre Interaktion mit der Raumklanglichkeit als auch auf ihre jeweilige Bedeutung sowie auf die Bedeutung in der Interaktion von Textebenen hin untersucht. Die Textuntersuchung bezieht sich daher auf das komponierte Libretto in der Partitur. Nono hat das Originallibretto, wie bereits erwähnt, in der Partitur in Anordnung und Ablauf variiert, einige Zeilen gestrichen und einige Zeilen neu hinzugefügt. Dies ist bisher nur in zwei reinen Text-Publikationen berücksichtigt89, sodass hier spezielles ein Kompositionslibretto erstellt werden musste (vgl. dazu »Werkstatt Libretto«). Text, soweit in die Kompositionsteile integriert, nimmt in der Analyse einen eigenen Abschnitt ein. Wenn möglich, finden die Resultate Eingang in die Raumgraphik, meist aber sind die Ergebnisse verbal dargestellt. In der Arca geht es besonders um die Fragen, wo Text erklingt und ob er für die Hörer verständlich komponiert ist90. Als nicht verständlich werden Textteile angesehen, die stumm in der Partitur gesetzt sind. Dies ist hauptsächlich in der 1° Isola der Fall; das Libretto hat hier den 1. Akt von Aischylos Der gefesselte Prometheus zu kurzen Dialogen zwischen Prometeo und Efesto (Hephaistos) reduziert, und die Partitur verteilt sie auf einzelne Solomusiker in den vier Orchestergruppen. Sie spielen dialogisch oder gleichzeitig an verschiedenen Orten. Weiterhin nicht verständlich dürften Textteile sein, bei denen jede Stimme der Chor- und/oder Solosänger gleichzeitig einen eigenen Text singt. Dies gilt auch für die Sprecher im Prologo, die fast immer jeweils andere Textteile parallel sprechen. Verständlich sind damit nur Textteile, die unisono gesungen oder gesprochen werden oder die einen gemeinsamen Verlauf in den Stimmen haben, ohne gleichzeitig von anderen Textteilen überlagert zu sein. Diese Art ›Texthoquetus‹
89 Das erste erschien 1987 im umfangreichen Programmbuch zur Aufführungsserie des Prometeo im Rahmen des »Festival d’automne à Paris 1987« (S. 181-195). Es wurde 1988 in Berlin wieder verwendet, wo der Prometeo als Teil des Komponistenportraits zur Aufführung kam (Klaus Kropfinger (Hg.): Komponistenportrait Luigi Nono, 38. Berliner Festwochen 88, Programmbuch, S. 13–27). Beide Programmbücher nennen Massimo Cacciari als Urheber. Enthalten sind in beiden Programmbüchern auch Angaben zu den Textebenen sowie einige von Nonos »lontano«-Angaben, die ebenso wenig zum Libretto gehören wie die Hinweise zur Besetzung und einige technische Details. Das zweite stammt von Klaus Pauler, der eine zeitgenaue Hörpartitur des Librettos zur CD-Produktion 2003 (col legno) verfasste, das auch in mehreren Sprachen übersetzt abgedruckt wurde. Es kann nicht mit der Partitur synchronisiert werden, da es statt Taktangaben Zeitangaben der Aufnahme enthält. 90 Die Frage, ob alle Hörer Italienisch, Alt-Griechisch und Deutsch verstehen, wird hier nicht weiter behandelt, zumal ›wichtige‹ deutsche Texte im Libretto auch ins Italienische übersetzt sind und Übersetzungen des ganzen Librettos im Programmheft schon 1984 in Venedig zur Verfügung standen – wenngleich nicht die komponierte Reihenfolge.
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komponierte Nono schon seit den 1950er Jahren (s.o.). Im Prometeo kommt er jedoch nicht nur an einem Ort, sondern auch raumübergreifend zwischen den Stimmen des Chores und der Solosänger vor. In Abbildung 13 ist im Notenbild die Entwicklung zu einem unisono gesprochenen bei den beiden nebeneinander stehenden Sprechern zu sehen, die in drei notierten Stufen sprechen. Sie haben zunächst einen eigenen, sich überlagernden und daher unverständlichem Textverlauf. Sie enden im unisono gesprochenen Wort „Zeus“. Abbildung 13: Prologo, T. 82–84, S. 19
Abbildung 14 zeigt einen verständlicher Texthoquetus der beiden nebeneinander stehenden Solosopranistinnen, die den Text »ins Ungewisse hinab« singen. Abbildung 14:Partiturausschnitt, 2° Isola b (Hölderlin), T. 106–109, S. 143
Ein raumübergreifender und gleichzeitig verständlicher Texthoquetus von Chor (T+B) mit dem Solotenor ist in Abbildung 15 im Notenbild sowie den zugehörigen Raum-Graphiken zu sehen; er ergibt die Zeile »dove dai monti« [wo am Berg]. Die Chorsopranistinnen und -altistinnen haben keinen Text und bilden die zweite Klangschicht91.
91 In der Analyse von 2° Isola a im 2. Kapitel ist diese 2. Klangschicht als Klangvariante dargestellt.
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Abbildung 15/1: Partiturausschnitt, 2° Isola a (Io–Prometeo), T. 130f , S. 129
Die Raumgraphiken ergibt ein differenzierteres Bild. Weil die Männerstimmen des Chores (T+B) mit »dove« beginnen (Abb. 15/2) und der Solotenor direkt an die Melodie anknüpft und sie fortführt, wird der Klang zugleich räumlich nach außen getragen (Abb. 15/3). Abbildung 15/1: Graphik, 2° Isola a (Io–Prometeo), T. 130 Anfang: Chor (S+A) mit Sprechstimm-Gesang und Chor (T+B): »Dove« ergeben zwei verschiedene Klangschichten mit unterschiedlicher Schraffur, die beide über LS 9+10 im Zentrum der Arca übertragen werden.
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Abb. 15/2: Graphik, 2° Isola a (Io–Prometeo), ab T. 130 Mitte tritt zum Raumklang des Chores der Solotenor auf LS 11+12 hinzu
Die Entscheidung, ob solche Text-Kompositionsformen verständlich sind oder nicht, ist in hohem Maß von dem gesamten Klangkontext abhängig: Spielen keine weiteren Musiker, spielen sie nur extrem leise an anderen Orten oder klingen ihre Texturen z.B. wegen langem Hall aus, wird man von einer Verständlichkeit der Texte auch im räumlichen Verlauf ausgehen können. Lautere parallele Klangfragmente an anderen Orten im Raum dürften die Verständlichkeit jedoch beeinträchtigen, auch wenn man annehmen kann, dass sich Hörer auf die gesungenen/gesprochenen Texte an einem Ort konzentrieren können und mithin ein gewisse Verständlichkeit der Texte gegeben sein wird. d) Stille im Raum Stille hat zwei klangliche Aspekte. Als Teil der Klangtextur erzeugt sie Spannungs- oder Entspannungswirkungen, während sie sich gleichzeitig im Raum als Raumresonanz bzw. Nachhall hörbar macht und somit gleichermaßen als raumklanglich wie klanglich zu verstehen ist: raumklanglich, weil es sich um Resonanzen des Raumes handelt, und klanglich, weil der vorherige Klang variiert und im Decrescendo hörbar bleibt. In der Akustik ist die Dauer des Nachhalls zwischen Ende des Originalklangs und dem Zeitpunkt definiert, an dem die Lautstärke um 60 dB minimiert ist. Diese Angabe ist relativ und zeigt das Verhältnis von Ausgangs- zum Endklang an. Für die extreme Dynamik im Prometeo ergibt sich daraus ein Paradox: Wenn der Ausgangsklang absolut gesehen leise klingt, ist der Endklang noch leiser; ist der Ausgangsklang hingegen sehr laut, könnte das Ende des Nachhalls noch über der Lautstärke eines sehr leisen Ausgangsklangs liegen. Die Wirkung der komponierten Stille ist somit vom Kontext der
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Partitur abhängig, was sie als Analysekriterium – besonders in der nur schätzbaren und variablen Akustik der Arca im Ansaldo-Gebäude – jedoch nicht ausschließt. Denn in Nonos Erfindung des Coro lontanissimo, der prominent am Anfang des Prometeo steht und mehrfach, auch in verschiedenen Teilen, vorkommt, sind Resonanzen die wichtigsten Klanganteile. Sie entstehen, weil stark verhallte und sehr langsam abklingende Klänge auf den Lautsprechern der Nebenräume abgespielt werden, dort eine natürliche Resonanzwirkung erhalten und als in sich nuancierter Gesamtklang über den Spalt in die Arca gelangen92. Nono hat also eindeutig Raum-Resonanzen im Prometeo komponiert, und es gilt zu analysieren, wie er es an anderen Stellen in der Partitur tat. Allerdings ist dies nur verbal und nicht graphisch darzustellen.
92 Haller 1995, Bd. 1, S. 91f.
Analysen
VORBEMERKUNGEN Im folgenden Analysekapitel werden die einzelnen Teile des Prometeo aus der Perspektive des Raumklangs analysiert. Teil der Analysen sind die Untersuchung der Textbeziehungen und die Gestaltung des Nachhalls/der Stille. Die einzelnen Teile in der Zählung Nonos sind: I Prologo II 1˚ Isola III 2˚ Isola: a) Io-Prometeo / b) Hölderlin / c) Stasimo 1˚ IV Interludio 1˚ V 3 voci a VI 3˚–4˚–5˚ Isola VII 3 voci b VIII Interludio 2˚ IX Stasimo 2˚ Die Darstellung der Analyse folgt einem fünfstufigen Schema: Nach einer kurzen Beschreibung der Charakteristika eines Teils folgt die Beschreibung der Analyse der kontrastierenden Klangschichten mit ihren zugehörigen notierten oder live-elektronischen Varianten in der jeweiligen Raumdisposition; die Kriterien zur Ermittlung von Kontrasten folgen der Darlegung in der Einleitung. Der vom Chor, den Solosängern und Sprechern vorgetragene verständliche Text wird im 2. Analyseschritt dargestellt. Pausen und Stillephasen, bilden den 3. Analyseschritt. Nach der Analyse eines Teils steht eine auf den jeweiligen Teil bezogene Zusammenfassung und Interpretation. Den Analysen der Teile des Prometeo folgt eine übergreifende Interpretation und abschließende Einschätzung zum Anteil des Raums an der gesamten Komposition. Eine gesetzte Partitur des Prometeo liegt noch nicht vor. Der Verlag Ricordi Mailand verleiht aber eine verkleinerte Reproduktion der Handschrift1. Sie ist
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https://www.ricordi.com/de-DE/Catalogue.aspx/details/450210 [8.1.2020], Katalognummer 133786.
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der Referenzpunkt der Analyse (s. dazu auch das Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«). Die Angaben der Taktzahlen in der Analyse beziehen sich immer auf das obere Zählsystem, sofern zwei Taktsysteme existieren (wie z.B. im Prologo). Das Kürzel »T.« steht für Takt. Abkürzungen wie »A«, »M« oder »E« stehen für Anfang, Mitte und Ende in einem Takt; sie werden nur verwendet, wenn die Angabe von genauen Zählzeiten unmöglich ist. Die live-elektronischen Klänge werden als Effekte beschrieben, die in Mailand 1985 verwendeten Geräte und Programme sind im Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion« aufgeführt und in ihren Funktionen dargestellt. Die in die Partitur von Haller eingetragenen Technikziffern beziehen sich auf die extern aufgezeichneten technischen Einstellungen der live-elektronischen Geräte und disponierten Lautsprecher und erscheinen in der Abkürzung »Ziff.«. Die resultierenden Klänge und Raumklangdispositionen sind in der Analyse beschrieben; Details dazu sind ebenfalls im Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion« zu finden. Weitere Abkürzungen sind in den Referenzen (S. 259) vermerkt. Die Raumklanganalyse folgt den im vorigen Kapitel dargelegten Wahrnehmungskriterien von der Gruppierung nach Ähnlichkeiten und Kontrasten. Das graphische Darstellungssystem bildet dies ab: Die Analysegraphiken betreffen hauptsächlich die Raum-Klang-Verhältnisse im Prometeo. Auch sie geben nicht den Klang als solchen, sondern nur die klanglichen Zusammenhänge und gegebenenfalls ihre Kontraste in der Arca und ihren Nebenräumen in relativen dynamischen Abstufungen (leise: grau bis laut: schwarz) wieder. Sie sind somit immer Transformationen des Auditiven ins Visuelle und die Darstellungen sind entsprechend beschränkt. Die speziellen Schraffierungen stellen insofern keine direkte Zugehörigkeit zu speziellen Klangfarben dar, sondern zeigen an, wie und wo Ähnlichkeiten oder Differenzen im Klang und dessen räumlicher Ausbreitung bestehen. Nur bei Klangstrukturen, die über mehrere Teile hinweg ähnlich sind oder sich fortführen, wurden auch ähnliche Schraffuren gewählt. Alle anderen sind willkürlich gewählt. Dasselbe gilt für die Farben der graphischen Animationen, die für ausgesuchte Raumklang-Strukturen und ihre Verläufe angefertigt wurden. Ihre sichtbaren Abgrenzungen entsprechen den Bedingungen der verwendeten Graphikprogramme – der Klangeindruck im Raum ist dagegen grenzenlos und deutlich anders: ausgehend von einer Schallquelle nimmt die Lautstärke in räumlicher Entfernung ab. Bei mehreren Schallquellen, die in den Graphiken und Animationen mit Flächenausbreitung dargestellt sind, ist der räumliche Hörbereich letztlich nicht genau vorhersehbar. Die 3D-Darstellungen sind daher nie Visualisierungen der Partitur, sondern nur die Visualisierungen der Analyseergebnisse, sei es als einzelnes 3D-Bild, in dem einige Zählzeiten der Klangentwicklung zusammengefasst sind, sei es als Folge von mehreren aufeinanderfolgenden 3D-Graphiken oder als Animation, die den Verlauf des Raumklangs farblich als Film wiedergibt.
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ANALYSE PROLOGO Der Prologo mit 210 Takten Umfang1 ist eine Einführung in die komplexe Thematik des Prometeo. Nono zog dazu den Prolog aus dem Libretto Cacciaris heran, der hauptsächlich aus einem Text des Hesiod zur antiken Götter-Genealogie besteht, stellte es mit einigen Änderungen2 um und mischte die ersten beiden Strophen der Maestro del Gioco-Textebene hinzu, die auf Walter Benjamins Fragment Über den Begriff der Geschichte beruhen und beide aus dessen 2. These stammen3. Alle Musiker, Sänger und Sprecher sind am Prologo beteiligt. Sie bilden verschiedene Klangschichten, je nach gruppierter Position in der Arca, den in der Partitur notierten Klängen, deren live-elektronischer Bearbeitung und Raumklangdisposition sowie für die Sänger auch der jeweils verwendeten Textgrundlage. Die einzelnen Klangschichten haben meist mehrtaktige Einsätze verschieden langer Dauer. Sie beginnen aus und enden in Stille – bezogen jedoch nur auf die Raumposition ihrer Musiker und die ihnen jeweils zugeordneten Lautsprecher. Denn es sind in der Arca meist mehrere Klangschichten gleichzeitig zu hören, deren Einsätze zu verschiedenen Zeiten beginnen und enden. Sie ergeben eine verwobene Textur unterschiedlicher Dichte, die sich in der Zeit kontinuierlich wandelt und schon deshalb sich ständig wandelnde Raumklänge erzeugt. Gelegentlich kommt es zu Brüchen und Neuanordnungen des Materials und des Raumklangs. Klangschichten und vertikale Struktur Der Prologo lässt sich grob in zwei ungleich lange Abschnitte mit jeweils zwei Basis-Raumklangdispositionen unterteilen: • Abschnitt 1: T. 1–150, Basis-Raumklangdisposition A und B • Abschnitt 2: T. 151–210, Basis-Raumklangdisposition B und C
Die Trennung der beiden Raumklangdispositionen im 1. Abschnitt verläuft entsprechend den unterschiedlichen Textgrundlagen. Die Sängergruppen singen da-
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In der Uraufführung in Mailand 1985 waren alle Takte nach Takt 210 gestrichen. Die Änderungen betreffen die Götternamen, von denen Nono einige strich und andere hinzufügte. Die erste These Benjamins ist im Titel Maestro del Gioco – Meister des Spiels repräsentiert. Darin geht es um eine Metapher des Weltbilds, für die Benjamin einen aus historischen Zeiten überlieferten, vermeintlich Schach spielenden Automaten in Form einer Puppe in türkischer Tracht beschreibt, der in Wirklichkeit von einem, über eine optische Illusion verborgenen, Zwerg bedient wird. Im Programmheft der ersten Prometeo-Version 1984 ist der Bezug auf Benjamin nur angedeutet. Jeschke (1997, S. 40–42) schreibt mehr zur poetischen Umsetzung des Textes von Benjamin durch Cacciari als Maestro del Gioco.
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rin jeweils anderes Klangmaterial mit einer eigenen live-elektronischen Bearbeitung und Lautsprecherdisposition. Sie sind wegen ihrer Doppelrolle im Zeitverlauf klar voneinander zu trennen: Der Raumdisposition A liegt die antike mythische Genealogie zugrunde, der Raumdisposition B die erste Strophe des Maestro del Gioco. Beide Raumklangdispositionen wechseln sich im 1. Abschnitt kontinuierlich ab. Im 2. Abschnitt sind die textierte Musik (2. Strophe des Maestro del Gioco) und die der Orchestergruppen zeit- und raumklanglich voneinander getrennt. Auch hier wechseln sich beide Raumklangdispositionen ab. Die Raumdispositionen von nur drei Klangschichten bleiben über den gesamten Prologo unverändert: • Die Sprecher (eine Frau und ein Mann) sind auf der rechten Seite der großen
Arcahälfte platziert; ihre Lautsprecher (LS 3+8) stehen in ihrer Nähe; • die Gläser werden zunächst sehr tief (fast 23 Halbtöne) transponiert, dann mit
großvolumigem (300000 m3) Hall von 15 Dauer versehen und auf die LS 5, 6, 7 übertragen; • die Solostreicher mit leicht gefilterten und auf zwei dreistufige Halaphonwege (LS 1, 3, 6 und LS 2, 8, 5) übertragenen Klängen. Die Solostreicher spielen als einzige Klangschicht über die Abschnittstrennung hinweg und bilden damit das verbindende Klangelement. Raumdisposition der Klangschichten in Abschnitt 1 Identisch über beide Basis-Raumdispositionen (A und B) des 1. Abschnitts bleiben die Klangschichten der: • drei Solobläser; der Originalklang wird auf den LS 4 übertragen und die leich-
te, mikrotonale Bearbeitung auf LS 2; • vier Orchestergruppen; sie spielen – abgesehen vom Anfang und zwei kleinen
Fragmenten ohne weitere Begleitung4 – eher kurze Fragmente; es sind meist Akzentuierungen, die gleichzeitig mit anderen Schichten ertönen, gelegentlich auch kurze Zwischenakzente oder lange Ausklänge. Nur zur Basis Raumdisposition A gehört damit der Chor im Arcaspalt, den Nono Coro lontanissimo nennt. Er erscheint auf den LS 9+11 im Original und auf LS 10+12 in starker live-elektronisch Bearbeitung: Zunächst werden die Klänge um 4 verzögert, dann die Männerstimmen einen Tritonus tiefer transponiert und der Gesamtklang mit großvolumigem Hall (300000 m3) von 10 Dauer versehen. Die Originalklänge und ihre Bearbeitungen sind also neben der Chorposition 4
Diese drei Fragmente ähneln einander (vgl. auch Klangdisposition D im 2. Abschnitt) in Bezug auf ihre reine Faktur und Klanggestalt. Im Kontext der anderen Klangschichten und ihren Raumdispositionen sind sie jedoch im 1. Abschnitt nur unauffällige Varianten des Raumklangs.
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auch im Zentrum der Arca und auf den Außenlautsprechern hörbar und markieren damit klangräumlich den Arcaspalt. Zusammen ergeben sie eine überlagerte, sehr hallreiche Klangmischung, die jedoch nur dann den tiefen Tritonus-Anteil enthält, wenn Nono die Männerstimmen auch einsetzt; dies ist jedoch nicht immer der Fall. Der Text der antiken mythischen Genealogie, der zur Basis-Raumklangdisposition A gehört, zur wird von den Sprechern (s.o.) und dem Chor übernommen. Während die wenig elektronisch variierten Sprecher ihre Textzeilen asynchron in drei notierten Tonhöhenstufen vortragen, singt der Chor nur einige zentrale Namen der antiken Götter. Abbildung 16: Prologo, Basis-Raumdisposition A
In der Basis-Raumklangdisposition B werden die Texte des Maestro del Gioco I von Chor und Solosängern vorgetragen. Obwohl räumlich weit getrennt in der Arca platziert, bilden sie eine gemeinsame Klangschicht, die mit dem Halaphon über einen schleifenartigen Weg in vier Stationen (LS 2, 8, 3, 6) geführt wird. Dabei handelt es sich zwar um einen Mischklang, doch da beide Sängergruppen meist sehr ähnliche, teilweise auch identische Klänge vortragen, entsteht kein gänzlicher neuer Klang bei der Mischung, sondern eine breitere räumliche Ausdehnung.
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Abbildung 17: Prologo Basis-Raumklangdisposition B
Klangliche Raumdarstellungen im Prologo Die räumlichen Grundformen erscheinen in der Komposition in Varianten; sie betreffen die Abfolge der Klangschichten, ihre Besetzung und ihre Dichte. Das Minium der Klangschichten zu einer Zeit beträgt eine (z.B. Coro lontanissimo in T. 1; nur Sprecher in T. 17–19 und T. 67–69; Orchestergruppen 3+4 in T. 97; Coro lontanissimo T. 107–111; Solobläser T. 136). Wenn alle Musiker, Sänger und Sprecher gleichzeitig aktiv sind, ist das Maximum von sechs überlagerten Klangschichten erreicht (z.B. 61f.; T. 123–1265). Die Raumdarstellung ist daher in ständiger Bewegung, was auch die klanglichen Zusammenhänge über verschiedene Orte (Klangskulpturen) betrifft. Im Prologo hat Nono diese und andere räumliche Wirkungen ganz exakt komponiert und dabei akustische und elektroakustische Klänge und Räumlichkeiten miteinander verbunden, wie schon am Beginn des ganzen Prometeo deutlich wird.
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Die Taktzählung im oberen System ist hier etwas unklar, weil zwischen den Takten 120–125 sieben Takte komponiert sind. Vermutlich erfolgte die Zählung versehentlich nach dem unteren System mit längeren Takten, sodass letztlich die Takte 123 und 124 je einen zusätzlichen Takt (a) erhalten.
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Anfang: T. 1 bis 32 Der Anfang des Prologo besteht raumklanglich hauptsächlich aus der Basis A. Das Ende in T. 32 ist bereits vom Beginn der Basis B überlagert, die in T. 28 einsetzt; die vier Takte 28–32 bilden also einen sich überlagernden bruchlosen Übergang, der ähnlich im Prologo noch häufiger vorkommen wird. Klanglich und räumlich fließend ist auch die sehr leise Eingangssequenz Takt 1–5: der Klang kommt scheinbar von außen in die Arca und entwickelt sich dort weiter, wie die Folge von vier Graphiken (Abb. 18), die Animation sowie die genaue verbale Beschreibung zeigen wird: Animation 2: Prologo T. 1–5 Darstellung in verschiedenen Gelb-Farbtönen nach Tonhöhe und Lautstärke. Zur detaillierten Klangbeschreibung s. Text zu den Graphiken.
Der Prologo beginnt mit dem unscharf verhallten Coro lontanissimo der Sopranund Altstimmen6 auf das Wort »Gaia«, dem Namen der Erdmutter. Die kurze Passage endet in einer lang gehaltenen Quinte (»d2«–»a2«), die sich im folgenden Pausentakt schon wegen der vier Sekunden Verzögerung und des langen Halls langsam in der Arca etabliert und nachklingt. Abbildung 18/1: Prologo, T. 1, S. 1
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Sie sind ein Zitat aus Nonos eigener Komposition Das atmende Klarsein, die wiederum Gustav Mahlers 1. Symphonie heranzieht. Vgl. Jeschke 1997, S. 15f. und deren Fußnote 4.
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Abbildung 18/2: Prologo, T. 2: Nachhall der Außen- und Zentrallautsprecher
In T. 3 (Abb. 18/3) übernehmen die Violinen der Orchestergruppen 1 und 3 je einen der Endtöne des Coro lontanissimo, wobei nur eine Violine den Endton exakt spielt und die anderen drei jeweils einen weiteren Viertelton darüber bzw. darunter7. Der letzte Ausklang des Coro lontanissimo sind noch im Arcaspalt zu hören. Abbildung 18/3: Prologo, T. 3-4M
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Die vier Violinen der Orchestergruppen spielen also jeweils einen Cluster aus Vierteltönen von einer Sekunde Ambitus. Orchestergruppe 1 spielt d2–e2 und Orchestergruppe 3 a2–g2.
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Nach 1,5 Takten setzen die Violinen der Orchestergruppen 2 und 4 ein und übernehmen den Klang (Orch. 2 von Orch. 1 und Orch. 4 von Orch. 3). Gleichzeitig wechseln die Violinen der Orchestergruppen 1 und 3 aber ihren ersten Klang: Orchester 1 spielt nun eine Oktave tiefer »d1« und die zugehörigen Vierteltöne, während Orchester 3 eine Oktave höher geht und »a3« und die zugehörigen Vierteltöne spielt. Die Intervalldistanz zwischen beiden Orchestergruppen entspricht damit zwei Oktaven + einer Quinte – was identisch ist mit der Summe der Intervalle zwischen den anderen Orchestergruppen, legt man die notierten Ausgangstöne des Coro lontanissimo zugrunde8. Abbildung 18/4: Prologo, T. 4M-5: Die Violinen der Orchestergruppen 2 und 4 übernehmen die Töne der Violinen aus den Orchestergruppen 1+3, die selbst zu oktavierten Tönen (höher und tiefer) wechseln.
Das Fragment der Orchestergruppen ist erst in T. 7 beendet. Ab T. 6 begeben sich die Orchestergruppen ins oktavierte Unisono – sieht man von einigen kleinen Varianten ab: Die Violinen spielen nun in Doppelgriffen die Quarten »a2«+»d3« mit den bereits bekannten mikrotonalen Varianten für jede einzelne Violine. Die Violen spielen unisono »d1«, die Celli »d« in VierteltonVariationen, und die Bässe spielen »d« (Orch. 2+3) + »es« (Orch. 1+4). Nono gibt für jeden Streichertyp eine andere Spieltechnik vor, die aber in allen Orchestergruppen jeweils dieselbe ist. In Orchester 2+4 sind zusätzlich Ottavinos mit »g4« (resp. einen Viertelton darüber) komponiert. In T. 6+7 fächert sich der
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Die notierten Mikrotöne, die Nono von Elektronik und natürlicher Saalakustik übernimmt, sind hier nicht enthalten – was Nonos gern geübter Praxis des Nicht-Eindeutigen Rechnung trägt.
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Klang also in den Tonraum, wobei die extreme Höhendistanz der Ottavinos bemerkenswert ist. Deutlich ist, dass Nono hier in nur sieben Takten beide Grundaspekte von ›Raum‹ im Prometeo komponiert hat, nämlich den Tonraum (Ambitus) genauso wie den Umgebungsraum der Arca und ihrer Nebenräume. Zugleich hat diese Introduktion eine dramaturgische Funktion: In der Arca nimmt nun die Hörtragödie ihren Lauf – und gelegentlich gibt es Bezüge zu den Außenräumen und ihrer Akustik. Mit T. 8 beginnt ein neues Fragment mit deutlichen Klangunterschieden zum vorangegangenen Material; es endet mit T. 11. Die Wiederaufnahme des ersten Klangmaterials (bis T. 7) in T. 12 geschieht kurz vor dem zweiten Einsatz des Coro lontanissimo und über ihn hinaus bis T. 16. Die vier Chorstimmen singen das Wort »generò« [gebar] und bilden je einen Tritonus in den Frauenstimmen (Alt: »cis1«, Sopran »g1«) und in den Männerstimmen (»fis«+»c«). Aus dem Klangmaterial der Orchestergruppen übernehmen sie dabei den Ton »cis«, das darin aber eher selten enthalten ist und nach dem Einsatz der Sänger in den Orchestergruppen nicht mehr vorkommt. Im weiteren Klangverlauf, der auch eine ortswechselnde Raumklangfigur (nacheinander Orch. 4+2 und Orch. 1+3) enthält, ist kein eindeutig zentraler Ton enthalten, auch nicht in Oktavierung: Das Klangmaterial hat sich im mittleren bis hohen Tonraum aufgefächert. Nach der Weiterführung und Auffächerung des Klangs in den vier Orchestergruppen setzen die beiden Sprecher ein und deklamieren mit jeweils eigenem Stimmverlauf die daher unverständliche mythische Genealogie. Sie beginnen bereits in T. 16 und wirken dadurch wie eine audiotechnische Einblendung unter den Orchestergruppen. Nach drei unbegleiteten Takten werden sie in T. 20 von den halaphonbewegten Solostreichern in einer neuen, dynamisch homogenen Klangschicht begleitet, bis der Coro lontanissiomo mit »Uranos« [Gott des Himmels, Sohn der Gaia] in T. 22f. die Sprecher ablöst. Wieder übernehmen die Orchestergruppen dessen Ton »cis2« in zwei bis drei kurzen Tönen, dieses Mal die Violinen, die Violen und, jeweils leicht zeitversetzt und in jeder Orchestergruppe unterschiedlich, die Flöten. Die deutlich tiefere dritte Klangschicht der mikrotonal variierten und ortsfixierten Solobläser beginnt am Ende des Coro lontanissimo mit dynamisch variierten Klängen: Crescendo und Decrescendo der einzelnen Instrumente sind gegeneinander versetzt; zugehörig sind gelegentlich Anschläge der stark tiefer transponierten und mit großem Hall versetzten Gläser. Da die Klangschichten nur jeweils mehrtaktige Fragmente sind spielen in T. 27 nurmehr die Solobläser und die Sprecher, die zwischen T. 25–30 den Vortrag der mythischen Genealogie fortsetzen. In T. 28 Abb. 19/1 folgt der erste Einsatz der Raumdisposition B und ihrer Maestro del Gioco I-Zuordnung. »Ascolta« [Höre], singt der ganze Chor und berührt mit seinem Halaphonweg die beiden Lautsprecher der Sprecher (LS 3+8), deren Einsatz T. 29 mitten im Fragment endet. Noch bis T. 31 werden ihre Klän-
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ge auch von den Orchestergruppen (alle Streicher mit identischen Tönen) in den Raum getragen und gleichzeitig kontrastiert von der Klangschicht der Solobläser und den Gläsern. Abbildung 19/1: Prologo, T. 28–31
Bereits unmittelbar nach Ende des Maestro del Gioco-Fragments in T. 31 beginnt in T. 32 ein kurzes Coro-lontanissimo-Fragment, das bis zum Anfang von T. 34 dauert und wieder vom Chor gesungen wird. In Abbildung 19/2 ist die drastische Änderung in der Raumdisposition des Chores zu sehen. Die tief transponierten und stark verhallten Gläser tragen zum neuen Raumklang bei. Nur noch das Spiel der kontrastierenden Schicht aus tiefen Solobläsern bleibt aus dem vorigen Fragment erhalten und bildet den Übergang zum in der Mitte von T. 34 wiedereinsetzenden Maestro del Gioco-Fragment (in Abb. 19/2 nicht mehr dargestellt).
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Abbildung 19/2: Prologo, T. 32f.
Prologo: T. 33 bis 150 Interaktionen zwischen instrumentalen Klangschichten Die beiden zuletzt beschriebenen Passagen sind typisch für den weiteren Verlauf des Prologo: Musiker und Sprecher bilden eigene Klangschichten mit spezifischen Raumdispositionen. Die Sänger (Soli und Chor) bilden eine Besonderheit, weil sie – textbezogen – zwei klar verschiedene Raumklangschichten produzieren, die kompositorisch und live-elektronisch getrennt sind. Der Chor singt nur die Zentralworte der mythischen Genealogie im Coro lontanissimo – doch den Maestro del Gioco I-Text singen Chor und Solosänger im weiteren Verlauf des Prologo gemeinsam. Ungeachtet ihrer getrennten Aufstellung in der Arca sind ihre Klänge in der live-elektronischer Behandlung und den Lautsprecherdispositionen des Halaphonwegs zusammengefasst. Die Bildung einer gemeinsamen Klangschicht ist auch kompositorisch erkennbar: Viele Stimmen verlaufen im Unisono, allerdings nie vollständig. An beiden Orten (Chor und Solosänger) sind in den Stimmverläufen immer auch Varianten erkennbar. Gelegentlich wird auch der Text nicht nur zwischen den Stimmen (Sopran, Alt, Tenor, Bass) an einer Position im Hoquetus hin- und hergeworfen, sondern auch zwischen den Stimmen an beiden Arcapositionen der Sängergruppen, sodass sich eine ortsübergreifende Klangschicht ergibt. Ein ähnlicher Effekt raumerweiternder Klanglichkeit wurde schon für T. 28–32 beschrieben: Kurzzeitig wird das Material einer
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Klangschicht an anderen Orten auch von anderen Musikern übernommen. Solche raumklanglichen Übernahmen komponierte Nono auch im weiteren Verlauf, z.B. in den meist kurzfristigen Interaktionen von Orchestergruppen und Solostreichern T. 75–77 bzw. als zeitversetzte Übernahmen T. 97f., T. 147–150. Die Interaktionen der Klangschichten (Solobläser, Gläser, Solosänger, Chor und Orchestergruppen) sind jedoch begrenzt. Es bleibt bei der Existenz verschiedener gleichzeitig hörbarer Klangschichten, wie sie etwa bereits in Abbildung 12 (s. Kapitel »Einleitung«) dargestellt wurden. Auch der exakt gleichzeitige Verlauf der Fragmente von Sprechern und Solobläsern in T. 52–56 scheint eher auf Klang- und Raumdifferenzen zu weisen als auf eine neue raumklangliche Kombination. Starke Ähnlichkeiten zu anderen Klangschichten, und damit neue KlangRaum-Kombinationen, sind daher relativ selten. Der fast identische Verlauf von Coro lontanissimo und Solobläsern in T. 137–139 ist daher eine Ausnahme. Da hier keine Orchestergruppen spielen, übernehmen die Solobläser offenbar deren Funktion aus den vorangegangenen ähnlichen Stellen, was auch an deren gänzlich anderem Klangmaterial in den flankierenden Takten 135 und 140 ablesbar ist. Für den kurzen Moment in den T. 137–139 ist daher eine Variante der bereits bekannten Raumklang-Konstellation zu hören. Auffällig sind weiterhin sehr kurzfristige und auf einen einzelnen Ton oder einen Klangparameter beschränkte klangliche Zusammenhänge, die gelegentlich gleichzeitig oder zeitversetzt zwischen zwei oder mehr unterschiedlichen Klangschichten erscheinen. Nimmt man Oktavversetzungen hinzu, sind solche Phänomene der entfernteren und kurzfristigen Ähnlichkeiten von ungefähr einer Zählzeit mehrfach zu beobachten9. Sie kommen in Einsätzen vor, die im letzten Takt eines anderen Fragments beginnen, womit sie den Übergang weicher gestalten10. Ob die Funktion dieser kurzen Klangübereinstimmungen in verschiedenen Schichten darin liegt, die fragmentarische und zerrissen erscheinende Gestalt des Prologo mit klanglichen Verbindungselementen zu versorgen, kann man vermuten – zumal solche klanglichen Verbindungen auch in textierten Stellen vor-
Z.B. T. 25: »cis« in der Bassklarinette zu Orchestergruppen »cis2« – hier auch schon T. 23f.; vorher Ende der Solostreicherschicht, die »cis3« in der Viola hat; T. 51f.: Solostreicher enden – die Orchestergruppen sind in T. 52 besetzt wie die Solostreicher, also Viola, Cello, Bass –; T. 38: »c1« in der Bassflöte zu »c1« in Solosopran, Soloalt und Choralt; T. 86: »d2« von Orchestergruppe 1 – Flöte, Trompete und Posaune »d« –, übernommen von Bassflöte »d2«, und Tuba »d« der Solobläser; T. 135f.: »es« in Solotenor und direkt anschließend T. 136 »es« in der Bassflöte. 10 Schroffe, harte Übergänge gibt es aber auch, z. B. T. 64, zu dem alle Orchestergruppen nach den Sängern (Chor und Soli) mit einem neuen Klang einsetzen, danach in T. 67 folgen, ebenfalls schroff einsetzend, die Sprecher. In T. 97 erzeugen die meisten Instrumente aus den Orchestergruppen 3+4 den nächsten harten Wechsel, dem ein Takt Stille folgt (zum Klangeffekt der Stille, s.u.).
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kommen, wo sie den Textgehalt in seiner fragmentierten Form unterstreichen und interpretieren11.
Text-Raum-Klang-Schichten, Verlauf und Interaktionen in allen Klangschichten Klangräumliche Differenzierungen von einzelnen Schichten sind bei den textierten Klangschichten herausragend: Den fortlaufenden Text der mythischen Genealogie übernehmen die Sprecher in einem zu ca. 99 % unsynchronen Vortrag. Einzelne zentrale Worte und Begriffe singt der Coro lontanissimo, und der Maestro del Gioco I-Text ist für alle Sänger ortsübergreifend komponiert. Zu beschreiben sind hier die Verläufe der einzelnen textierten Klangschichten in Bezug auf: • Textgehalt, Textvertonung/Klang und Raumzuordnung; • Interaktion jeder Schicht mit anderen Klang-/Textschichten; • Konstatierung von Besonderheiten im Verlauf und in der Interaktion mit allen
anderen Klangschichten. Mythische Genealogie (Sprecher) Der von Cacciari verfasste und hauptsächlich auf Hesiod bauende GenealogieTextteil ist relativ kurz und reicht für eine kontinuierliche Präsentation in den Takten 16–150 nicht aus. Nono lässt sie daher bis T. 84 einmal durchgehend in mehreren Fragmenten sprechen und anschließend in Variationen wiederholen. Im Fragment T. 101–106 haben die Sprecher nur die Verben vorzutragen, im Fragment T. 118–125 nur die Götternamen und im Fragment T. 137–146 die Adjektive. Die Klangvarianten betreffen Sprachhöhe (je drei Stufen), Lautstärke (Schwärzungsgrad) und Tempo (Buchstaben enger oder weiter gesetzt). Im weitgehend unsynchronen Vortrag ragen die synchron gesprochenen Wörter in den Varianten synchron, fast synchron oder ohne Überschneidung der an-
11 Hier ist schon eine Interaktion von untextierter und textierter Musik zu finden: In Takt 142 sind ein bis zwei weitere Orchesterfiguren zu erkennen, allerdings wohl mehr sehend in der Partitur als hörend, denn es handelt sich um ein komplexes DreierKlanggefüge, das Hella Melkert im Kontext von Nonos nuancierter Klanggestaltung beschreibt (Hella Melkert: »Far del silenzio cristallo«. Luigi Nono: Chorkompositionen aus »Prometeo«, Saarbrücken 2001, S. 145–148). Von den Solosängern übernommen, erklingen die Töne »es«, »e1«, »f2« in verschiedenen Instrumenten und Dynamiken von jeweils drei verschiedenen Orchestergruppen. Zu Anfang des Taktes wird dies sicher nicht hörbar sein – doch am Ende des Taktes sind die einzelnen Töne in den Orchestern 1 (Trompete), 4 (Horn), 2 (Posaune) nacheinander und jeweils lauter zu hören.
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deren Stimme heraus. Sie kommen nur im ersten vollständigen Durchlauf des erweiterten Hesiod-Fragments (bis T. 84) vor: • »Οὐρανὀν«[Uranos], T. 21 – leichte Stauchung der Frauenstimme, d.h. etwas
schnellerer Vortrag • »Φοίβην« [Phoibe], T. 29 – leichte Stauchung der Männerstimme • »Κρόνος« [Kronos], T. 46 – direkt aufeinander gesprochen: erst Männer-, dann
Frauenstimme; der Effekt ist eine Wiederholung • »Κλνμένην« [Klymene], T. 56 – Frauenstimme beginnt wenig früher • »Ιθαξ« [Ithax], T. 71 – vollständig synchron • »Ζεύς« [Zeus], T. 84 – vollständig synchron, wobei die vorherigen Worte »Nach dem Willen des Zeus« in T. 83 auch fast synchron gesprochen sind (s. Abbildung 14 im Kapitel »Einleitung) Abgesehen von diesen Ausnahmen, ist die Klangwirkung der Sprecher die eines Klangteppichs, eines häufig hörbaren aber unverständlichen Gemurmels, von dessen klang-dramaturgischer Funktion später noch zu sprechen sein wird. Allgemeine Interaktionen der Sprecherschicht zu den instrumentalen Schichten sind nicht zu erkennen. Mythische Genealogie (Coro lontanissimo) Die Ortszuordnung ist der in die Nebenräume der Arca verlängerte Spalt zwischen beiden Arcahälften. Es singt nur der Chor in verschiedener Besetzung die zentralen Worte der mythischen Genealogie (Hesiod) im Textunisono. Das sind: • • • • • • • • • •
»Γαῖα« [Gaia], T. 1 (Sopran und Alt) »ἐγείνατο« [gebar], T. 12–13 (Sopran und Alt) »Οὐρανὀν«[Uranos], T. 22–24 (Sopran und Alt) »δ᾽Οὔρεα«[die großen Berge], T. 32–34 (alle Stimmen) »Ωχεανὀν« [Okeanos], T. 46–48 (alle Stimmen) »᾽Ρεία« [Reia], T. 99–100 (alle Stimmen), darauf direkt folgend: »Κρόνος« [Kronos], T. 101–103 (alle Stimmen) »Ιαπεὀς« [Japetos], T. 106–108 (alle Stimmen), darauf direkt folgend: »Κλνμένην« [Klymene], T. 109–111 (alle Stimmen) »Προμηδἓα« [Prometeo], T. 137–139 (alle Stimmen)
Unabhängig von den absoluten Tonhöhen ist die Auswahl der Intervalle begrenzt: Primen, Oktaven und Quinten sind komponiert12, wobei der erste Einsatz
12 Nielinger-Vakil (2015, S. 226) bezieht sich auf eine im Original verlorene Skizze Nonos, die im Programmheft von 1984 (erste Fassung des Prometeo in Venedig) abgedruckt ist und eine Zuordnung von Intervallen zu Personengruppen (Götter, Menschen etc.) enthält.
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mit dem Naturlaut-Akkord aus Mahlers 1. Symphonie eine Ausnahme bildet, die auf den Beginn beschränkt ist. Melodieverläufe sind nur selten zu erahnen; meistens singt jede Stimme des Chores lang anhaltende Töne, die nur durch Wortsilben des jeweiligen Textes rhythmisiert sind und synchron verlaufen. Besonderheiten sind nur in der Dynamik zu finden. Die meisten Einsätze des Coro lontanissimo sind sehr leise bis leise im Bereich von ppppp bis mp, wobei die Lautstärke im jeweiligen Fragment gleich bleibt. Einzig der Einsatz T. 101– 103 auf »Kronos« ist anders. Er beginnt mit p und steigert sich in T. 103 bei der Silbe »nos« bis zum f, es gibt hier also eine stufenförmige Steigerung der Lautstärke. Maestro del Gioco I (Chor und Solosänger) Die Passagen sind vergleichsweise melodischer und gelegentlich auch stärker rhythmisiert als die Coro lontanissimo-Einsätze. Auch melodische Läufe auf einer Silbe kommen vor, und es gibt einen größeren Intervallreichtum; neben Primen, Oktaven und Quinten also auch Sekunden, Terzen, Quarten, Sexten, Tritoni etc., besonders im späteren Verlauf. Die ortsübergreifenden Texturen für Chor und Solosänger sind somit klanglich und räumlich spezifisch. Nono hat die sieben Textzeilen des Maestro del Gioco I weitgehend unverändert und in der originalen Reihenfolge gelassen, fragmentierte sie aber auch in den Zeilen und wiederholt einige Stellen. Gleichzeitig setzte er den Text so, dass fast keine Textüberlagerungen in den Stimmen entstehen: • »Ascolta« [Höre] T. 28–31 (nur Chor) • »Ascolta« [Höre] T. 35–39 (Chor und Solosänger, je alle Stimmen; leicht ver-
schiedene Textverteilung bei Chor und Solosängern; Hoquetus am Ort) • »Non vibra qui ancora un soffio dell’aria che respirava il passato?« [schwingt
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hier nicht noch ein Lufthauch, der die Vergangenheit atmete?] T. 52–63 (Chor und Solosänger parallel; an beiden Orten ist der Text verständlich, aber im Hoquetus) »Ascolta; vibra qui und soffio respirava il passato?« [Höre, schwingt hier ein Hauch in der Luft, der die Vergangenheit atmete?] T. 72–85 (Chorsopran, Choralt und Solosänger in unterschiedlichen Anteilen; anfangs Textüberlagerung (»Ascolta«), später als verständlich gesetzter, ortsübergreifender Hoquetus »Ascolta, non restiste nell’eco la voce, la voce«, [Höre, überdauert nicht im Echo die Stimme, die Stimme] T. 88–96 (Chor und Solosänger in unterschiedlichen Anteilen, »Ascolta« verschieden, leichter Hoquetus für die anderen Worte) »di quelle ammutolite?« [jener Verstummten?] T. 113–119 (Chor ohne Bass und Solosänger; ortsübergreifender Hoquetus) »Ascolta … resiste … voce … eco … voce… come nel volto« [Höre … überdauert … Stimme … Echo … Stimme … wie im Gesicht] T. 123–131 (Chor und Solosänger alle Stimmen, Text sehr verteilt, überlagert und nur am Ort
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verständlich – er ist jedoch nicht an jedem Ort vollständig; melodisch eigene Verläufe am jeweiligen Ort) • »dell’amata quello di spose« [der Geliebten jenes der Gemahlinnen] T. 132– 135 (T. 132–T. 132M: nur Solosänger, alle Stimmen, ab da auch Chor: Sopran, Tenor, Bass; Hoquetus verständlich) • »mai conosciute?« [aber nie gekannt] T. 142–147 (Chor ab T. 143 und Solosänger ab T. 142; alle Stimmen, Hoquetus an getrennten Orten, aber fast gleichzeitig) Die Texte sind damit zumindest am jeweiligen Ort verständlich, wenn Hörer sich auf diesen Ort und den Text konzentrieren. Die ortsübergreifenden Texthoquetus-Stellen sind vermutlich zu erfassen, wenn nur wenig oder keiner instrumentaler Begleitung vorhanden ist. Doch gibt es auch zwei Passagen mit starken instrumentalen Überlagerungen: • Im Verlauf der Textpassage T. 72–85 gibt es z.B. unterschiedlich dichte Textu-
ren. Besonders dicht ist die Textur zwischen T. 77 und 80. Die Verständlichkeit des ortsübergreifenden Texthoquetus ist hier nur gegeben, wenn Hörer ihn bereits unmittelbar vorher bemerkt haben. Aber gleichzeitig ist sie eine leichte Neuanordnung von Text, der in Passagen zuvor (T. 72–76) schon verständlich gewesen war. • Die Texte in T. 121–128 sind stark mit anderen Klangschichten überlagert, was von ihrem Verstehen ablenkt. Hier fällt jedoch auf, dass Nono bereits vorher verwendete Worte wiederholen lässt und erst ab T. 129, die nur von den entfernten Orchestergruppen begleitet werden, neue Textstellen komponiert, die bis T. 135 vom Chor und den Solosängern vorgetragen werden. Alle anderen textierten Stellen sind kaum oder gar nicht klanglich überlagert, sodass man insgesamt schließen kann, dass Nono die Verständlichkeit der 1. Strophe des modernen Maestro del Gioco I-Textes wichtig war, während er die in Altgriechisch gehaltene mythische Genealogie auf einige Wörter beschränkte. Interaktion der Textschichten im Raum Trotz ihrer verschiedenen Thematiken und historischen Provenienzen, die in der Verschiedenheit des Klangs und der räumlichen Platzierung in der Arca abgebildet sind, lassen sich klare Beziehungen zwischen beiden Textebenen erkennen. Durch den zu den Maestro del Gioco I-Texten gehörenden Halaphonweg werden beide Textebenen raumklanglich miteinander verbunden: Ausgehend von einem Punkt zwischen den Choristen und den Solosängern (LS 2) verläuft er über beide Lautsprecher (LS 8+3) der Sprecher zurück zu fast demselben Ort (LS 6; im 2.
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Stock über LS 2). Diese räumliche Interaktion ist bei jedem Einsatz des Maestro del Gioco I-Textes zu hören. Die direkte In-Beziehung-Setzung beider Textebenen ist nicht nur abstrakt. Die Textpassage T. 52–63 des Chors und der Solosänger (Maestro del Gioco) interagiert auch auf der Bedeutungsebene der Texte mit der mythischen Genealogie der Sprecher, wenn sie nach dem Hauch in der Luft spüren, der die Vergangenheit atmet und dabei die Position der Lautsprecher der Sprecher berühren. Die Passage ist in den Abbildungen 20/1–4 und der zugehörigen Animation zu sehen. Animation 3: Prologo, T. 52-63 Mehrfarbige Darstellung mit gesungenen Texten
Abbildung 20/1: Prologo, T. 52, S. 13; der Text des Chores lautet: »Non« (von »non vibra qui« [schwingt hier nicht].
Analyse Prologo | 73
Abbildung 20/2: Prologo, T. 53f., S. 14. Soloalt und Solotenor treten zum Chor und bilden eine Raumverbindung zum dem Text »vibra qui«.
Abbildung 20/3: Prologo, T. 55f. Die Orchestergruppen spielen eine Linksdrehung, die anderen Klangschichten sind leiser als vorher; der Text der Chor- und Solosänger lautet: »ancora un soffio« [noch ein Hauch].
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Abbildung 20/4: Prologo, T. 57; nur die Sänger mit dem Text: »dell’« [von] sind komponiert. Die Gläser sind noch in ihrem langen Nachhall hörbar.
Abbildung 20/5: Prologo, T. 58f. Die Sänger singen den Text: »dell’ aria« [von Luft] leise zu den wechselnden Raumfiguren der Orchestergruppen (hier dargestellt als idealisierte Rechtsdrehung, s. auch Abb. 21 mit dem Partiturausschnitt für die Orchesterfiguren dieser Passage). Der letzte Nachhall der Gläser ist noch hörbar.
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Abbildung 20/6: Prologo, T. 60–63, S. 15. Chor und Solosänger in vollständiger Besetzung singen im Derescendo »che respirava il passato« [der die Vergangenheit atmete].
In einer weiteren Passage T. 72–85 mit leicht abgewandeltem Text (»Ascolta, vibra qui un soffio respirava il passato?« [»Höre, schwingt hier ein Hauch, der die Vergangenheit atmete?«]) wird sie in einem veränderten Klangumfeld variiert wiederholt. Interaktionen von Klang- und Textschichten Orchesterfiguren Die Musik der Orchestergruppen ist bis T. 150 meist eng an den Klangverlauf der Sänger angelehnt13, die Musiker spielen meistens in ihrem Rhythmus und mit ihren Tönen (oder einer Auswahl daraus). Entstehen dabei Raumfiguren, so kann häufig ein Zusammenhang mit dem jeweiligen Text der Sänger vermutet werde, wie etwa im Fragment T. 46–48. Nacheinander spielen die Orchestergruppen (Violinen und Viola) zunächst eine Linksdrehung, beginnend mit Orchester 3 (Abfolge 3, 2, 4, 1) auf »h« und sind damit mit dem Ton Coro lontanissimo (»Okeano«, der Gott der die Welt umgebenden Flüsse) identisch (Sopran und Alt; Tenor und Bass eine Oktave tiefer). Im Anschluss daran (T. 47) ist auf demselben Ton eine Rechtsdrehung in umgekehrter Reihenfolge komponiert (Orch. 1, 4, 2, 3), bevor der Chor auf einen anderen Ton wechselt.
13 Es gibt einige Ausnahmen am Anfang sowie in zwei kurzen Fragmenten für unbegleitete Orchestergruppen.
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Abbildung 21: Orchesterfiguren, Partiturausschnitt, Prologo, T. 55–59, S. 14f.
Die Orchesterfiguren zum Maestro del Gioco-Text der Passage von Abbildung 20/3+5 sind noch vielfältiger. Im Partiturausschnitt (Abb. 21) findet eine Rechtsdrehung in T. 55 (1, 4, 2, 3) statt und weitere Raumfiguren präsentieren identisches Material zeitversetzt. So ist in T. 59 eine Zickzackform zu entdecken (4, 1, 2, 3), in T. 58 mit leicht variiertem Klangmaterial eine längs-quer-Folge (zeitgleich Orch. 1 und 2, danach ebenfalls zeitgleich Orch. 3 und 4), während in T. 56 zwar die Einsätze der Orchestergruppen eine Raumfigur ergeben, doch die Töne sind dabei jeweils pro Orchestergruppe verschieden. Die räumlichen Drehungen verlaufen damit parallel zu den mehrfach ortsverständlichen Texten »Non vibra qui ancora un soffio dell’aria?« [Schwingt hier nicht noch ein Lufthauch, der die Verganheit atmete?] und dessen Halaphonweg. Ähnliche Orchesterfiguren finden sich in T. 74 (Linksdrehung mit identischem Material 3, 2, 4, 1) und T. 77 (Rechtsdrehung, nur Einsätze 1, 4, 2, 3) zum Maestro del Gioco I-Text. Zwischen den beiden Raumfiguren spielen die Orchestergruppen in T. 76 fast unisono identisches Material unterschiedlicher Dauer, was eine »Ausblend-Figur« nach links ergibt (1, 4, 2, 3). »Ascolta, vibra qui und soffio respirava il passato?« [schwingt hier ein Hauch, der die Vergangenheit atmete?], singen die beiden Sängergruppen ortsverständlich dazu. Eine weitere, hier sehr ausladende Linksdrehung ist in T. 85 zu beobachten, wieder zur selben Maestro del Gioco I-Textzeile (Orch. 1, 4, 2, 3,). Etwas weniger regelmäßig sind dagegen die Figuren in der Passage T. 100– 103 zum hier vergleichsweise laut singenden Coro lontanissimo »Kronos«: T. 100 ist unisono in allen Orchestergruppen (Viola und Cello), T. 101 (Blech und Holzbläser aller Orchestergruppen) ergibt eine Ausblend-Figur nach rechts
Analyse Prologo | 77
(Orch. 3, 2, 4, 1), in T. 102 zwei Schleifen-Figuren auf Zählzeit 1+2 in den Orchestern 3, 4, 1, 2 und auf Zählzeit 3+4 in den Orchestern 2, 1, 4, 3. In Takt 114 ist wieder eine längs-quer-Figur zum Maestro del Gioco I-Text (»di quelle ammutolite?« [jener Verstummten]) vorhanden (Orch. 3+4 in der 2. ZZ; Orch. 1+2 in der 4. Zählzeit), die in einem Unisono in der 4. Zählzeit endet, während in T. 115f. eine Rechtsdrehung komponiert ist (Orch. 1, 4, 2, 3). In den Takten 123, 124f. und 126 sind über einer weiteren Maestro del Gioco I-Passage (»Ascolta … resiste … voce … eco … voce … come nel volto«) erneut drei Orchesterfiguren zu finden: Rechtsdrehung (Orch. 1, 4, 2, 3), ausladende, leicht unregelmäßige Ausklangdrehung nach rechts (Orch. 1, 4, 2, 3) und unregelmäßige »Längs-quer«-Figur14 (Orch. 1 zu 2, zu 3+4). Die letzte derartige Orchesterfigur ist im Takt 147: Streng genommen findet die Zickzack-Figur (Orch. 1, 2, 3, 4) im fünften unbegleiteten Orchesterfragment statt, denn es ist als solches mit Doppelstrichen gekennzeichnet. Allerdings verläuft die Figur gleichzeitig mit dem ausklingenden letzten und dann nicht mehr textierten Maestro del Gioco I-Einsatz, führt deren Klänge fort und läuft dann als Ausblend-Figur in Rechtsdrehung (Orch. 1, 4, 2, 3) bis zur Mitte des Taktes 150. Schon die Vielzahl der Orchesterfiguren zeigt, dass sie beabsichtigt sind, zumal sie den zusätzlichen graphischen Einzeichnungen der möglichen HalaphonFiguren auf dem Technikblatt ALN 51.20.0315 entsprechen. Nono komponierte hier wohl aus, was mangels Mikrophonierung der Orchestergruppen nicht mit dem Halaphon raumbewegt werden konnte – und dazu nutzte er dynamische und klangfarbliche Mittel, die mit den live-elektroakustischen Mitteln nicht oder nur äußerst schwer herstellbar waren. Textbezüge scheinen zumindest an einigen Stellen beabsichtigt und illustrativ, wie bei »Okeanos« (T. 46ff.) mit den Kreisbewegungen16 oder »Kronos« (T. 101ff.), dem Gott der Zeit und der Zerstörung, die mit unregelmäßigen Raumklangbewegungen der Orchestergruppen begleitet werden. Die mehrfache Raumklangbewegung zur Frage nach dem in der Luft schwingenden und die Vergangenheit atmenden Hauch kann ebenfalls illustrativ verstanden werden. Die beiden weiteren Orchesterfiguren zu gesungenem Text (T. 114ff. und 123ff.) bleiben hingegen rätselhaft und stehen vielleicht im Kontext der Erzeugung von »Caos« und »Unruhe«, die Nono laut seinen Skizzen zum Prometeo komponieren wollte17.
14 Hier könnte man auch eine unregelmäßige Zickzack-Figur bzw. eine Hybridform aus Zickzack- und längs-quer-Figur erkennen. 15 Vgl. dazu auch das Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«. 16 In der antiken Ikonographie ist Okeanos hüfig als sich windende Schlage dargestellt. 17 ALN 51.14.04/13r sup; 51.16.01/06; 51.17.01/08; 51.17.01/10; 51.17.02/06; 51.18.04/24 syp + inf., 51.38.01/02 erscheint mehrfach das deutsche Wort »Unruhe«, seltener »Caos«; vgl. »Werkstatt Partiturgenese«. Möglicherweise meint Nono mit dem Begriff »Caos« auch den Urzustand der Welt nach dem antiken Mythos, die erst mit der Gaia und ihren Nachkommen Struktur erhält.
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Interaktion aller Klang- und Textschichten Nur einmal gibt es eine Interaktion aller Klang- und Textschichten: Ab T. 82 laufen Solosänger (Maestro del Gioco I) und die bis dahin unabhängig davon spielenden Solobläser klanglich nah aufeinander zu und spielen zunehmend fast identisches Klangmaterial. In T. 84 tritt der vollständige Chor hinzu, und der Gesamtklang wird komplex zu dem unisono gesprochenem »Zeus« und den letzten Silben des gesungenen »Passato« [Vergangenheit]. Bereits in T. 85 ist ein Wechsel der Textur und der Interaktionen erkennbar. Ob also dem Wort »Zeus« eine weiträumig besondere Bedeutung zukommt, wie sie schon im Unisono der Sprecher erkennbar ist, oder ob diese durch die gleichzeitige Zunahme an klanglicher Komplexität und sprachlicher Kontradiktion auf die Platzierung der Sprecher beschränkt bleibt, ist nicht eindeutig aus der Partitur heraus zu entscheiden. Vertikale Brüche: Die Orchestereinschübe und Stille/Pausen Neben der Verwebung von Klangschichten ähnlichen und verschiedenen Materials enthält der Prologo auch kurzfristige Brüche (z.B. T. 8–11). Sie sind weniger dramatisch als der Begriff andeutet, denn die Übergänge sind meist durch vorangehende Decrescendi oder Pausen von einer oder zwei Zählzeiten vorbereitet und daher weniger schroff. Auch kompositorische Maßnahmen wie in T. 11f. zählen dazu, in denen Orchester 1 das folgende neue Material in den letzten beiden Zählzeiten vorwegnimmt. Harte klangliche und raumklangliche Materialwechsel sind damit selten. Unmittelbare Anschlüsse sind in T. 42 auf 43, T. 51 auf 52, T. 66 auf 67, T. 96 auf 9718 zu erkennen, während mit Pausen abgegrenzte raumklangliche Neuansätze nur in T. 3 (T. 2 Pause), T. 64 (3 Zählzeiten Pause in T. 63 vor dem Orchestereinschub), nach T. 99 (T. 98 Pause) und T. 113 (Pause T. 112 bis 4. Zählzeit T. 113) vorkommen. Bedenkt man, dass die Pausen in T. 2 und 112 für den langen Ausklang eines Coro lontanissimo gesetzt sind, sind Stille erzeugende Pausen bis T. 150 also relativ kurz und sehr selten. Zu den Brüchen hinzugenommen werden hier die drei unbegleiteten Orchestereinschübe in T. 40f. (T. 40 Orch. 1; T. 41 Orch. 2); T. 64–66 (Orch. 1–4) und T. 97 (Orch. 3+4). Auch das Fragment T. 8–11 (Orch. 1–4), das sich in gewisser Weise von den Orchesterfragmenten unterscheidet, die es umgeben, scheint dazu zu gehören. Alle vier Orchestereinschübe19 sind sehr bis relativ kurz.
18 Zum Übergang T. 135 auf 136 s. FN 9. 19 Ein 5. Orchestereinschub T. 147–150 beginnt im Ausklang der Sänger T. 147. Das leise, sich langsam in einer Raumfigur ausblendende Fragment ist bei den Orchesterfiguren beschrieben.
Analyse Prologo | 79
Zusammenfassung erster Teil des Prologo bis T. 150 Mit Takt 150 ist in der Partitur und den technischen Aufzeichnungen eine Zäsur erreicht. Komposition und Raumklangdisposition erfahren anschließend eine deutliche Änderung, die sehr dichten Texturen aus verschiedenem Klangmaterial werden dünner und der Coro lontanissimo endet vollständig. Als RaumklangTextur war er bis T. 150 von großer Bedeutung. Als Solo am Anfang stehend, zog sein End-Intervall in die Arca ein. Damit begann ein Prozess, der endgültig mit T. 150 beendet ist. Die antike mythische Genealogie ist nun vorgestellt und die wichtigsten Personenkonstellationen der Hörtragödie erhielten raumklangliche Hervorhebungen durch den Coro lontanissimo und die Sprecher: • Gaia, die das Göttergeschlecht begründete (deshalb auch in T. 12f. »gebar«); • Ithax, ein früher Name für Prometheus, den Cacciari als dazu heranzieht, als
• • • • • •
Kombination von Prometheus und Odysseus die Figur des Prometeo für Nonos Komposition zu werden; Prometheus; Zeus, der Prometheus für seine Taten strafen wird; er ist zwar die mächtigste Figur in dem Spiel, ist aber nicht eindeutig als Zentralfigur komponiert. Ourea, Gott der Berge – also dem Ort, an den Prometheus gefesselt wird. Okeanos, Gott des Meeres, dem Element, in dem sich Odysseus bewegt Kronos, Unruhestifter nach Hesiod mit Reia Vater des Zeus, nach Aischylos jedoch Vater des Prometheus20. sowie weitere Mitglieder des antiken griechischen Göttergeschlechts, die im Verlauf der Hörtragödie aber nicht weiter thematisiert werden.
Mit dem Coro lontanissimo endet für den Prologo der Klang aus dem Arcaspalt, der von der Beschallung der Seitenräume in sie einging und dort mehrfach zu hören war. Das antike Drama ist in der Arca angekommen und wird dort von Cacciari und Nono in ihrem Sinn herangezogen und verändert. 2. Abschnitt: T. 151–210
21
Die Trennung in die beiden Basis-Raumklangdispositionen ist im 2. Abschnitt etwas anders als im 1. Abschnitt. Nur die C-Raumklangdisposition ist textiert. Vorgetragen wird nun die 2. Strophe der Maestro del Gioco-Textebene. 20 Als »Sohn des Kronos« spricht in der 2° Isola die Figur der Io Prometeo an. Dies entspricht zwar nicht der Genealogie bei Hesiod, aber dem Wortlaut der Tragödie des Aischylos (http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-gefesselte-prometheus-4499/3 [14.10. 2019]). Da Cacciari diese Io-Zeile im Libretto von 2° Isola verwandte und Nono sie auch komponierte, ist hier auch die Lesart der beiden modernen Autoren angegeben; sie entspricht übrigens auch der anderer antiker griechischer Quellen und ist keineswegs eine Erfindung von Cacciari. 21 Die Takte 211–218 sind in der Aufführungspartitur gestrichen.
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Die Basis-Raumklangdisposition D enthält nur Klänge der Orchestergruppen, die immer isoliert von den anderen Klangschichten spielen. Basis-Raumklangdisposition C Die Raumdispositionen der Gläser, der Sprecher und der Solostreicher bleiben aus dem 1. Abschnitt erhalten, wobei nur die Solostreicher in den 2. Abschnitt hineinspielen. Neu sind die folgenden Raumklangdispositionen: • Die Klänge der Solosoprane werden zuerst teilweise elektronisch mikrotonal
variiert (je etwa einen Viertelton um den Originalklang) und anschließend statisch in die Arca projiziert. Die mikrotonale Klangbearbeitung ist auf dem Lautsprecher 2 zu hören, während das Original auf Lautsprecher 4 liegt. Die klangliche und textliche Interaktion zwischen beiden Musikergruppen ist ähnlich wie im Maestro del Gioco I. Doch sind beide räumlich getrennt hörbar. • Der Chor erhält ebenfalls eine feste Lautsprecherdisposition mit LS 6. • Die Solobläser erhalten bei jedem Einsatz zwei Halaphonwege über je 4 Stationen, sodass in den Lautsprecherverläufen a) 1, 3, 5, 7, und b) 8, 6, 4, 2 alle Lautsprecher auf den Laubengängen der Arca beteiligt sind. Abbildung 22: Basis-Raumklangdisposition C
Analyse Prologo | 81
Basis-Raumklangdisposition D Abbildung 23: Basis-Raumklangdisposition D
Text-Raum-Klang-Schichten, Verlauf und Interaktionen in den Klangschichten Das Kompositionsprinzip der zeitlichen Überlagerung und Verschachtelung von einzelnen Stimmgruppen und Fragmenten bleibt in Raumdisposition C erhalten, sodass die Textur in der Partitur wieder unterschiedliche Dichten im Verlauf aufweist. Durch die Herausnahme der Orchestergruppen ist die maximale Dichte aus allen beteiligten Klangschichten (Solosängerinnen, Chor, Sprechern, Solostreichern und Solobläsern22) jedoch geringer als im 1. Abschnitt. Die maximale Dichte ist nur an zwei Stellen des 2. Abschnitts zu hören: gegen Ende des Prologo in T. 189–193 und – mit einer reduzierten Anzahl Solobläser, die zudem Pausen haben – in T. 206–210. Alle anderen Texturen sind weniger dicht geschichtet. Nur eine Klangschicht kommt im zweiten Teil und seinen 62 Takten viermal vor (T. 166 Solobläser, T. 177 Sprecher, T. 182 Solobläser23, T. 204f. Solobläser); im Vergleich mit den sieben Vorkommen einer Klangschicht im 150 Takte langen ersten Teil ist das häufig. Hinzu kommen drei Stellen, die nur mit den Sängern (Chor und Solosoprane) besetzt sind (T. 161–163, T. 198–201) bzw. Solobläser mit Glas (T. 175). Eine Textur mit zwei ohnehin sehr ähnlichen Stimmen an verschiedenen Orten gibt es im 1. Abschnitt nur einmal (T. 39 Chor und Solosänger). Das stützt den
22 Ohne Gläser wegen ihrer Streichungen in der Aufführungspartitur. 23 In T. 166 und T. 182 sind die Gläser in der Aufführungspartitur gestrichen.
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Eindruck einer vergleichsweise dünner geschichteten zweiten Prologo-Hälfte, zu dem auch mehrere Pausen (T. 188 vollständig) und zwei Generalpausen (vor und nach T. 202 je 5) beitragen. Die mitteldichte Textur in T. 177f. sei hier als Beispiel des Raumklangs im 2. Abschnitt ergänzend in Abbildung 24 dargestellt. Die Auswahl der Besetzung aus Solosängern, Chor, Sprechern und Solobläsern mit zwei vierstufigen Halaphonwegen geschah auch in Hinblick auf die im zweiten Teil relativ selten komponierten Solostreicher, deren Klänge in zwei dreistufigen Halaphonwegen durch die Arca kreuzen. Sie sind daher auch nur zweimal zusammen mit den Solobläsern zu hören (T. 151–157 und T. 189–196). Das Maximum von vier gleichzeitig in der Arca hörbaren Halaphonwegen und die damit verbundene Unruhe im Raum ist also ebenfalls selten und steht daher keinesfalls dem Eindruck der Rücknahme komplexer Klangschichtung im zweiten Teil des Prologo entgegen. Abbildung 24: Prologo, T. 177f., S. 41, mitteldichte Textur ohne Gläser und Solostreicher (s. Basis-Raumklangdisposition C)
Analyse Prologo | 83
Klangschichten und ihre Interaktionen Solobläser – Gläser – Sänger Wie in der ersten Hälfte des Prologo sind die Einsätze der Gläser eng mit denen der Solobläser verbunden, und wie vorher sind in der Aufführungspartitur bei schnelleren Rhythmen wieder Streichungen zu sehen. Raumklanglich sind beide Stimmgruppen aber wieder verschieden, wobei wegen der Halaphonwege der Solobläser nun noch deutlichere Differenzen zu erkennen sind. Die Solobläser übernehmen nun die Begleitung der Sänger. Diese unterscheidet sich jedoch deutlich von jener der Orchestergruppen im 1. Teil, denn die Solobläser begleiten nicht jeden Einsatz der Sänger und sie haben zudem längere eigenen Passagen, die über den Einsatz der Sänger hinausragen, ihnen vorangehen oder ganz unabhängig von ihnen sind. Die Solobläser jedoch führen nicht die Klänge der Sänger ein oder führen sie weiter, es sind lediglich einige klangliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten wie etwa Oktavierungen festzustellen, die häufiger an den Anfängen des gemeinsamen Spiels auftreten als im Verlauf eines Fragments. Längerfristige Übereinstimmungen oder gemeinsame Texturen von Solobläsern und Sängern gibt es daher nicht. Solostreicher Die Verläufe ihrer Halaphonwege sind dieselben wie zuvor. Die Dauer ihrer Fragmente ist ebenfalls wieder etwas länger als die der anderen Stimmgruppen – ihre Einsätze sind aber weniger. Nach dem Ende der Überleitung in T. 160 gibt es nur noch zwei weitere Einsätze: T. 189–195 und T. 206–212. Klangliche Interaktionen sind in keinem Einsatz festzustellen. Die Klangschicht der Solostreicher bleibt im 2. Teil des Prologo immer autark. Text-Raum-Klang-Interaktionen Maestro del Gioco II (Chor und Solosoprane) Cacciari hat eine eher düster wirkende Strophe geschrieben, indem er wieder Motive aus dem 2. These von Benjamins Textfragment aufgreift und sie mit Motiven aus dessen 9. These und eigenen Motiven vermischt24, sodass ein eigen-
24 Es geht dabei um den »Engel der Geschichte«, den Benjamin aus dem Bild Angelus Novus von Paul Klee ableitete und ihm das Wissen über die Zusammensetzung des Zerbrochenen zuordnete, das bei Benjamin noch der Wunsch danach ist (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: ders.: Sprache und Geschichte, Stuttgart 2015, Absatz IX, S. 146). Das »Schwingen der geheimen Einverständnisse« hat Benjamin den Gesichtern der Gemahlinnen und nie gekannten Geliebten zugeschrieben (ebd. S. 142), ebenso wie »die Schwache messianische Kraft«, die er den vorangegangenen »Geschlechtern« (ebd.), also den Ahnen, zuschreibt. Die Aufforderung »verliere sie nicht« stammt wohl von Cacciari.
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ständiges komplexes Motiv entstand, auf das Cacciari in seinem Libretto auch später nochmals zurückgreift. Nono komponierte den vollständigen Text ohne Umstellungen und Änderungen, aber nicht immer verständlich, was besonders daran liegt, dass die Chorsänger für die ersten drei Zeilen beim Singen die Hände meist gekreuzt über den Mund halten. Nono verwandte dafür in der Partitur ein multiples Kreuzzeichen, das wie ein um 90 ° gedrehtes Gitter aussieht und daher möglicherweise auch gespreizte Finger meint. Im Verlauf der Textpräsentation nimmt die Verwendung dieses Gitterzeichens ab. In der ersten Zeile (»Vibrano intese segrete« [es schwingen geheime Verabredungen]) T. 151–157 ist es jedoch für jeden Einsatz neu gesetzt und soll hier möglicherweise das Element des Geheimen klanglich illustrieren. Die Solosängerinnen singen den Text im leichten Hoquetus, was ihn ortsverständlich macht. Im 2. Einsatz der Sänger T. 159–165, der mit der ersten Hälfte der 2. Zeile textiert ist (»Si impigliano nell’ali«; [sie verfangen sich in den Flügeln]), ist das Gitterzeichen noch in T. 159, T. 162 und T. 163 gesetzt, immer wechselnd bei den Sängerinnen oder den Sängern. Die Solosoprane singen den Text dagegen durchgängig verständlich. Die gesamte Passage ist unbegleitet, was die Verständlichkeit des Textes unterstützt. Im 3. Einsatz mit der 2. Textzeile des 2. Verses (»dell’angelo« [des Engels]) T. 167–174 ist das Gitterzeichen nur noch kurz gültig. Wieder abwechselnd bei den Frauen- und Männerstimmen ist ab T. 168 explizit »senza mani« [ohne Hände] in die Partitur geschrieben. Die gesamte Passage ist nur von den (textunverständlichen) Sprechern begleitet, was ebenfalls die Textverständlichkeit zumindest bei den Solosängerinnen unterstützt. Die gesamte 2. Textzeile ist damit verständlich und hervorgehoben. Im darauf folgenden vierten Einsatz der Sänger wird die gesamte 3. Zeile (T. 177–181) zur Begleitung der Solobläser und der Gläser gesungen (»sanno comporre l’infranto« [sie wissen das Zerbrochene zusammenzufügen]). Das Gitterzeichen ist nur in T. 177f. gesetzt. Allerdings ist die Verständlichkeit der ganzen Zeile nicht gegeben, weil das Wort »Sanno« vom 1. Solosopran über die ersten beiden Takte gesungen wird, während der 2. Solosopran über den langen Vokal »a« ab Ende von T. 177 bis vor Beginn der Konsonanten Ende T. 178 schnell und in kurzen Noten das Wort »comporre« [zusammensetzen] singt. In T. 179E– T.181 singen beide Solosoprane unisono in Klang und Text das Wort »l’infranto« [das Zerbrochene]. Da der Chor allenfalls die Vokale singt und die Männerstimme am Ende von T. 180 die letzte Silbe im Textunisono, muss man davon ausgehen, dass Nono absichtsvoll nur das letzte Wort auch verständlich komponierte – zumal zu den begleitenden Solobläsern auch die Sprecher noch in den T. 177f. hörbar sind. Die 4. Textzeile »Questa debole forza c’è data« [diese schwache Kraft ist gegeben] lässt Nono verteilt und übereinander in verschiedenen Stimmen des Chores und der Solosängerinnen singen T. 189–192; die Wiederholung des Textes
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(ohne das 1. Wort) in T. 198–201 ist ähnlich. Das macht den Text an beiden Partiturstellen unverständlich. Die 5. Textzeile »non sperderla« [verliere sie nicht] T. 206–210 dagegen setzt Nono im Prinzip wieder verständlich, auch wenn die Solosängerinnen das erste »non« drei Mal singen und die Choristen diese Verdreifachung leicht variiert am Ende der Textzeile im Ausklang des ganzen Prologo (T. 209f.) singen. Die ganze Zeile ist an jedem Ort verständlich, aber nicht als ortsübergreifendes Unisono gehalten, d.h. verständlich im Chor T. 206–207 und bei den Solosängerinnen T. 207–208. Die begleitenden Solostreicher unterstützen die Verständlichkeit, da sie sehr leise spielen; erst ab T. 210 werden sie deutlich lauter und die Solobläser setzen ebenfalls laut ein. Textverständlichkeit der Sänger Im Unterschied zum 1. Teil hat Nono den Maestro del Gioco II-Text nicht immer verständlich komponiert. Abbildung 25 zeigt das letzte Fragment des Prologo, dessen Text sicher verständlich für die Hörer ist: • T. 151–157: »Vibrano intese segrete« [Es schwingen geheime Verabredungen] • T. 159–174: »Si impigliano nell’ali dell’angelo« [sie verfangen sich in den
Flügeln] • T. 206f.+207f.: »non sperderla« [verliere sie nicht]
Abbildung 25: Partiturauszug, T. 206–210, S. 47f.
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Die mythische Genealogie (Sprecher) Nono führt die strukturierte Textwiederholung fort, die er im 1. Abschnitt begonnen hat: Der bereits vollständig gesprochen Text wird weiter in einzelnen Worten wiederholt. Im Gegensatz zur ersten Hälfte sind die Worte der Sprecher jedoch nur einmal ansatzweise synchron, wenn die beiden verschieden schnell sprechenden Stimmen im letzten Takt des Prologo (T. 210) nur leicht verschoben auf dem Wort »Meerflut«25 enden. Alle weiteren Einsätze der Sprecher sind nicht synchron: T. 167–172: Götternamen von Gaia bis Prometheus T. 176f.: Verben, T. 177 Komposita aus Substantiven und Verben, T. 178: Götternamen T. 189–195: Götternamen oder Substantive und Adjektive (z.B. [goldbekränzte Phoibe, öde Meerflut] etc., am Ende T. 195: Sprecher: [Prometheus] + gleichzeitig Sprecherin: [listenreich beweglich]) • T. 206–210: weiter wie beim letzten Fragment-Ende, d.h. Götternamen und Adjektive sind auf beide Sprecher verteilt • • • •
Zwar ist die Verständlichkeit der Sprechertexte verschleiert, doch für jedes Fragment ist wieder ein eigenes Ordnungsprinzip erkennbar. Der Beginn der Komposita ab T. 176 aus Substantiv (Namen) und Verb oder Adjektiv interagiert wohl nicht zufällig mit der Textzeile der Sänger ab T. 177 (»sanno comporre l’infranto« [Sie wissen das Zerbrochene zusammenzusetzen] und scheint in Anbetracht von Nonos elaborierter Textarbeit wahrscheinlich. Zumal es sich um Zusammenfügungen im Sinne der Rückkehr zur originalen Form handelt. Bezogen auf den vollständigen Libretto-Text der mythischen Genealogie handelt es sich aber nur um erweiterte Bruchstücke. In der Interaktion beider Textelemente führte das Wissen um ein Zusammenfügen des Zerschlagenen also nicht zur vollständigen Rekonstruktion des Alten sondern »nur« zur Wiederverwendung des Brauchbaren. Vertikale Ereignisse: Die Orchestereinschübe und Stille Orchestereinschübe Es gibt drei Einschübe mit im Verlauf abnehmender Länge: T. 183–187, T. 196– 197, T. 202. Es handelt sich jeweils um Material, das keine Ähnlichkeiten zu den umgebenden Klängen aufweist, also eigenständig ist. Alle drei Einschübe sind raumrelevant.
25 Das dazugehörige Adjektiv »öde« ist in beiden Stimmen stark gegeneinander verschoben.
Analyse Prologo | 87
• T. 183–187: Es beginnen Orchester 3+4, über ihrem Ausklang in T. 185 setzen
Orchester 1+2 ein. Es gibt zumindest in Bezug auf die Klangorte eine Art Drehung, doch ist das übernommene Material weit transponiert und erscheint in anderen Instrumenten. • T. 196f.: Orchester 1+4 werden in T. 197 von Orchester 2+3 abgelöst, das Material ist nur leicht transponiert und hat gering veränderte Instrumentation. • T. 202: Oktaviertes Unisono in allen Orchestergruppen im Crescendo von pp zu sfff. Der gleichzeitige Beginn der Solotuba (decrescendo p zu pp) ist eigentlich eine Überlagerung durch die folgende Klangschicht, vergleichbar der in T. 147 im 1. Abschnitt. Doch die Tuba spielt sehr leise und beginnt erst nach dem Einsatz der viel dominanteren Orchestergruppen. Nicht nur das neue Material der drei Orchestereinschübe ist als Bruch zu verstehen, auch die umgebenden Pausen sind von Bedeutung. So steht ein Takt Pause (T. 188) nach dem sehr leisen Ausklang in T. 187, während vor und nach T. 202 in der Aufführungspartitur je mit einem handschriftlichen Eintrag am Kopf der Seite aus einer Fermate und dem Zusatz 5 (für 5Sekunden) versehen ist. Das grenzt den kurzen und schnellen Einschub deutlich ab, auch wenn T. 203 ohnehin als Generalpause gesetzt ist und die sehr leise Solotuba dafür sorgt, dass keine absolute Stille herrscht, wie dies in T. 189 und T. 201 der Fall ist. Damit bleiben die Elemente der Stille im 2. Teil des Prologo ähnlich überschaubar wie im ersten. Stille als Teil der Komposition Vollständige Stille gibt es im Prologo nur selten, aber viele Abstufungen von Pausen. Ob die Zeiten des Nicht-Spielens der einzelnen Musikergruppen an einem Ort als lokale Stillephasen wahrgenommen werden, kann man allenfalls für den Fall vermuten, dass Hörer ihre Aufmerksamkeit weiter auf den Ort richten, an dem kurz zuvor noch Musiker aktiv waren. Oder sie bemerken eher unbewusst, dass die »klingenden« Orte in der Arca nach dem Ende des Spiels einer Musikergruppe nun eine andere Gesamtform haben. Was Nono selbst anbelangt, so beabsichtigte er »silenzi tanti« [viel Stille bzw. viele Stillen] zu komponieren26 und Stimmverläufe aus der Stille heraus und später wieder in die Stille hinein zu führen27. Ein spezielles Zeichen dafür »o< >o« findet sich in den Skizzen28 und gelegentlich in der Partitur bei langen
26 ALN 51.18.02/03v, 04r. 27 ALN 51.17.01/02; nur verbal ausgeführt: »dal silenzio – nel silenzio – al silenzio« und »silenzi tanti«/01r und…/13r sup, ALN 51.17.02/03 syp ALN 51.18.04/01r, 51.18.02/03v. 28 ALN 51.06.04/01 »voci dal niente al niento« zusammen mit o< >o sowie ohne verbale Beschreibung in ALN 51.18.02/03v, 04r; die verbalen Zusätze »venti tanit eki tanti«
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Ausklängen der Sänger und (sehr selten) der Orchestergruppen. Da meistens andere Musikergruppen zur Zeit des Ausklangs noch aktiv sind, bleibt nur der Schluss, dass Nono hier die Stimmen tatsächlich in die Stille hinein führen wollte – ob er damit Stille auch als räumlich lokales Phänomen empfand, ist aber nicht klar erkennbar. Denn »viel Stille« oder »viele Stillen« kann auch die Anzahl ihrer Vorkommen meinen und nicht unbedingt ihre Differenzierung im Raum. Dass bei der Einrichtung aber Differenzierungen von Stille in Bezug auf den Nachhall der Arca vorgenommen wurden, zeigen die genauen Angaben zu den Generalpausen um T. 202. Sie stehen um einen lauten Ausbruch aller Orchestergruppen. Betrachtet man die Pausen von einem Takt oder drei Zählzeiten, so befinden sie sich meist am Ende leiserer Fragmente, deren Ausklänge in die Stille aber auch kürzer dauern als die eines sehr lauten Klangs wie T. 202. Man kann damit mehrere genau komponierte Stille-Momente erkennen, die auf der Wechselwirkung von Klang und Raum beruhen. Die Zeit des Ausklangs und sein spezifischer Klangverlauf, der auf dem vorangegangenen Klang und dessen akustischen Reflexionen in der Arca beruht, wird somit ebenso Teil der Komposition wie die Lautstärke eines einsetzenden Klangs aus der Stille. Stille existiert daher klanglich in Varianten, und »absolute Stille« ist eine davon. Zusammenfassung und Interpretation beider Abschnitte des Prologo Die Analyseergebnisse weisen auf die Textgebundenheit des Prologo. Die Teilung der Raumdisposition beruht einerseits auf der Verschiedenheit der beiden Maestro del Gioco-Strophen. Gleichzeitig stellt die mythische Genealogie nach Hesiod einen Zusammenhang her. Es gibt mehrere weitere klangliche und raumklangliche Aspekte, die einen Bezug zum Text herstellen und ihn damit ausdeuten, denn Nono hat verschiedene Abstufungen von Verständlichkeit des Textes und Raumbeziehungen zwischen den Textebenen komponiert. Die Verständlichkeit des komponierten Textes unterstreicht seine Bedeutung in der Hörtragödie. Nono setzte die wichtigsten handelnden und vorbereitend nötigen Personen des Prometeo so, dass sie im Coro lontanissimo oder bei den Sprechern über den 1. Teil verstreut verständlich erklingen: Gaia, Ithax, Prometheus, Zeus, Uranos, Okeanos, Kronos etc. Die wichtigen Namen und Begriffe komponierte Nono zusätzlich mit der Gestaltung der begleitenden Klangschichten, sei es, dass er sie verstummen lässt und damit ihre Verständlichkeit erhöht, oder Ähnlichkeiten zwischen ihnen herstellt, was entweder die Komplexität der Textur verringert und diese Stelle damit hervorhebt oder wie bei »Okenaos« und »Kronos« als raumklangliche Illustration des Charakters verstanden werden kann.
deuten hier aber auf den Verlauf von allgemeinen Klangdynamiken im Verhältnis zu Stille.
Analyse Prologo | 89
Die Verständlichkeit der ersten Maestro del Gioco-Strophe ist dagegen zwar ungewöhnlich gesetzt, weil Silben und Worte raumübergreifend abwechselnd verteilt sind, doch können Hörer den Sinnzusammenhang mit Konzentration und Aufmerksamkeit wahrnehmen. Sollte es ihnen nicht oder nur teilweise gelingen, den genauen Wortsinn zu erfassen, könnten sie ihn aus der räumlichen Annährung der Sängerklänge an die der Sprecher erschließen: Die Fragen nach dem Zusammenhang und den Verbindungen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit werden – bei Verzicht auf den Textgehalt – mit dem Halaphonweg klangräumlich illustriert. Dass mit dieser doppelten Hervorhebung zugleich ein zentrales Thema des Prometeo eröffnet wird, kann man ahnen. Es betrifft die Frage nach dem Stellenwert der Geschichte für die Moderne und die Gegenwart nicht nur auf abstrakter Ebene, wie Benjamin sie stellte, sondern auch auf individueller, persönlicher Ebene: Was bedeutet Geschichte im Allgemeinen und die des Prometheus im Besonderen für den Hörer des Prometeo29? Cacciaris und Nonos Absicht, die mythische Figur des Prometheus neu zu verstehen und nicht romantisch verklären zu wollen30, ist im Prologo noch nicht zu finden, deutet sich aber in der Kontrastierung der historischen und modernen Text an. Die Textverständlichkeit der 2. Strophe des Maestro del Gioco ist geringer als in der 1. Strophe, doch die wesentlichen Aussagen scheinen ebenfalls hörbar gesetzt zu sein – und werden in späteren Teilen des Prometeo wie einige andere aus der 2. Strophe wieder aufgenommen und dort ihre Wirkung entfalten. Der Halaphonweg stellt eine Interaktion zwischen den historisch und räumlich verschiedenen Textebenen her. An diesen Bruchstellen entstehen neue Bedeutungen und neuer Sinn, ohne dass die Zugehörigkeiten zu den jeweiligen Provenienzen und die dortigen Sinngehalte aufgegeben sind. An der genauen Komposition der Interaktionen zwischen den Fragmenten ist abzulesen, dass ihre Zusammenstellungen nicht nach dem Zufallsprinzip erfolgten, sondern exakt kalkuliert sind. Dieser Punkt wird in den Analysen der folgenden Teile weiter verfolgt. Nono komponierte den Raum in Form differenzierter Klangbeziehungen in der Arca und den Nebenräumen: als zeitliche Klangbewegung mit Transport von Klangmaterial an einen anderen Ort und als raumübergreifende Klangbeziehung sehr ähnlicher Klangverläufe. Ihre Vielzahl sowie die ständigen Wechsel der räumlichen Klangbeziehungen und der Klangschichtungen deuten darauf hin, 29 In den 1980er Jahren waren derartige Beziehungssetzungen zu den Klassikern der Literatur weit verbreitet, sodass Nono hier auch einen damals geläufigen Topos bediente. 30 Jeschke 1997, S. 23. Cacciari wies explizit auf den nicht-romantischen Charakter des Prometheus im Prometeo hin. Die Übersetzung findet der etwa um 1979 geschriebenen Bemerkung sich ebd. im Anhang S. 278f. Im Programmheft der 1. Fassung des Prometeo (1984, S. 17) wiederholte Cacciari dies. Bei der Abfassung des Librettos arbeiteten Nono und Cacciari eng zusammen (vgl. »Werkstatt Partiturgenese«), weshalb man annehmen kann, dass Nono dies genauso verstand.
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dass Nono den Raum als solchen komponierte und sich dabei aller möglichen Mittel, neuer elektroakustischer wie traditionell kompositorischer bediente. So scheint Raum indirekt in der Partitur Prometeo enthalten, auch wenn die mit den Textebenen verbundenen Raumklangdispositionen zunächst nur auf eine aufführungsbezogene Inszenierung weisen, da keine Einrichtungen in der Partitur genannt sind31. Obwohl der Tonraum hier nur am Rand behandelt wird, ist doch ein Aspekt bemerkenswert: Nono verwendet im Prologo den live-elektronisch erzeugten künstlichen Hall als rein tonräumliches Phänomen – dessen rein akustische Funktion, im natürlichen Umgebungsraum durch Reflexion an Decken, Wänden und Raumobjekten die Entfernung eines Schallerzeugers zum Hörer zu kennzeichnen, übernehmen nur die Musiker und Lautsprecher. Der live-elektronisch stark verhallte Coro lontanissimo sowie die ebenfalls stark verhallten und zudem tiefer transponierten Gläser entfalten ihre räumliche Wirkung in der Arca über die jeweils zugeordneten Lautsprecher. Weil die Gläser im Prologo immer mit den Solobläsern verbunden sind, diese aber keine eindeutige Zuordnung zu einer Textebene haben – im 1. Teil stellen sie hauptsächlich eine eigene Klangschicht dar und im 2. Teil begleiten sie nur teilweise die Sänger des Maestro del Gioco II – kann man den Klang des extremen Halls auch keiner Textschicht zuordnen. Ähnliches gilt für weitere Klangfarbenaspekte, wie die mikrotonale Auffächerung bei einzelnen Tönen oder Klängen besonders der Orchestergruppen, die gegeneinander verschobenen Pulse der Solobläser, die einen in sich bewegten Klang ergeben, der teilweise recht große Intervalle aufweist. Zwar komponierte Nono praktisch durchgehend im Prologo spezielle Klangfarben, die er als verbale und zeichenhafte spieltechnische Anweisungen oder in klanglichen Komposita darstellt, sowie mit elektroakustischen Zusätzen realisieren lässt, doch ein mit den Textebenen verknüpftes System ist darin nicht zu erkennen. Insofern ist die Passage der Chorsänger mit den vor dem Mund gekreuzten Händen im 2. Teil des Prologo wohl als klangliche Illustration der »geheimen Verabredungen« zu verstehen, die sich noch etwas weiter über die folgenden Textzeilen ziehen. Doch letztlich bleibt diese Klang-Text-Verknüpfung nur kurzeitig bestehen und ist insofern mit dem Halaphonweg der Sänger zu den Sprechern im 1. Teil des Prologo vergleichbar.
31 An den späteren Raumklangdispositionen bei Carola Nielinger-Vakil (2015, S. 241 für Prologo Teil 1 und S. 249 für Prologo Teil 2) ist zwar abzulesen, dass andere, zu dem jeweiligen Aufführungsraum passende Raumklangdispositionen existieren. Diese entsprechen jedoch der hier gefundenen Differenzierung. Sogar die meisten Lautsprechernummern sind identisch, auch wenn sie an anderen Stellen stehen als in der Arca.
Analyse 1° Isola | 91
ANALYSE 1° ISOLA Mit 1° Isola, der ersten Station auf Prometeos Reise, beginnt der Hauptteil der Hörtragödie. Ihre Textbasis sind der 1. Akt der antiken Tragödie Der gefesselte Prometheus von Aischylos und einige neue Zeilen von Cacciari. Der mit 262 Takten1 längste Teil des Prometeo ist strukturierter als der Prologo und für eine sehr reduzierte Besetzung komponiert. Nur die Orchestergruppen – aus denen je ein Solist herausragt –, die fast immer spielenden Solostreicher und der Chor mit kleinen Einwürfen bestreiten die gesamte 1° Isola. Es ist ein ruhiger Teil mit feinen Klangabstufungen im Raum, was die 1° Isola als Kontrast zum Prologo charakterisiert. Raumdisposition der Klangschichten Trotz der übersichtlichen Besetzung sind vier Basis-Raumdispositionen in der 1° Isola zu unterscheiden: • Basis-Raumdisposition A: 4 Orchestergruppen und Solostreicher • Basis-Raumdisposition B: Soloinstrumente der Orchestergruppen und Solo-
streicher • Basis-Raumdisposition C: Stille/Orchesterstille • Basis-Raumdisposition D: Mitologia (als Coro lontanissimo)
Basis-Raumdisposition A Sie besteht aus zwei Klangschichten: • Die vier unverstärkten und elektroakustisch unbearbeiteten Orchestergruppen. • Die Solostreicher, räumlich sehr komplex, sind fast immer präsent. Ihre Klän-
ge sind in der notierten Partitur überwiegend ähnlich denen der Orchestergruppen. In der live-elektronischen Bearbeitung werden sie im 4i-System (Padua) mikrotonal umspielt2 und im davon getrennten Signalweg des Freiburger Studios nach dem Durchlaufen der Sekundfilter 1–213 in zwei Signalwege für die elektroakustische Bearbeitung geteilt. Im ersten Signalweg wird der Klang zunächst 4″ verzögert und dann auf einen Halaphonweg mit der Abfolge 1
2
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Isola 1° endet T. 262 auf S. 103. Nach einem Doppelstrich schreibt Nono »Fine 1° Isola, Halde 6-5-85«. Die kurze Fortführung der Solostreicher-Schicht ist in der Aufführungspartitur gestrichen. Alvise Vidolin zufolge ging es dabei um die Erzeugung der »arco mobile«Anweisung für die gradlinig spielenden Solostreicher in der Partitur (Interview mit Alvise Vidolin am 11.9.2017 in den Räumen des Archivio Luigi Nono in Venedig und Vidolin 1997, S. 454). Die Zeile »4i« in der Partitur hat in Hallers Aufführungspartitur keinen Eintrag. Die Einstellungen der Filter sind nicht aufgezeichnet.
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1, 3, 5, 7 geleitet, der zweite Signalweg wird 8″ verzögert und verläuft über einen zweiten Halaphonweg mit den LS 8, 6, 4, 2. Der Zusatz »sehr langsam« steht unterhalb der Aufzeichnungen für den 2. Halaphonweg und deutet an, dass beide Halaphonwege in verschiedener Geschwindigkeit ablaufen, die damit die Klangschicht in der Arca noch variabler gestalten und zugleich zu ortsbegrenzenten Überlagerungseffekten führen. Abbildung 26: 1° Isola Basis-Raumdisposition A
Basis-Raumdisposition B Die Soloinstrumente der vier Orchestergruppen sind für: • Orchester 1+2 je eine Violine, • Orchester 3 Trompete, • Orchester 4 Horn.
Alle Soloinstrumente der Orchestergruppen werden unbearbeitet verstärkt und auf die Lautsprecher 2+5 in der Arca übertragen. Die sie begleitenden Einsätze der Solostreicher sind in der Aufführungspartitur oft, aber nicht immer gestrichen. Die Streichungen zeigen zwei Varianten: So gibt es Begleitungen, die im still textierten Solistenfragment wieder beginnen, oder solche, die das ganze Fragment hindurch andauern. Wegen der Verzögerungen in beiden Solostreicher-Strängen muss man davon ausgehen, dass die Halaphonwege noch bis zum Ende weitergehen und damit dennoch eine Weile die
Analyse 1° Isola | 93
stumm textierten Soloinstrumente der Orchestergruppen begleiten4. Die Streichungen führen also zunächst zur Reduktion der komplexen räumlichen Klangüberlagerungen und geben damit den Klängen der Solisten aus den Orchestergruppen mehr Gewicht. Abbildung 27: 1° Isola Basis-Raumdisposition B
Raumdisposition C 22 einzelne Takte (einmal als Doppeltakt) sind über die gesamte 1° Isola als Fragmente der Stille komponiert. Sie sind jeweils mit einem Doppelstrich von den vorangehenden oder folgenden Klangfragmenten der Orchestergruppen abgetrennt. Gelegentlich sind Fermaten hinzugefügt. Zur vollständigen Stille in der Arca kommt es an diesen 22 Stellen jedoch nie, da immer die dann relativ leisen Solostreicher spielen (es ist immer ein Decrescendo zur vorherigen Lautstärke angegeben) und ihre Halaphonwege hörbar bleiben (s.u. »Stille und Solostreicher«).
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Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Halaphonwege bei den Streichungen sofort verstummen – und selbst wenn sie es täten, blieben die »versetzten« Streichungen bzw. Neueinsätze der Solostreicher-Klangschicht. Dorothee Schabert, Tonmeisterin der CD-Aufnahme des SWR 2003, hat ebenfalls die Frage nach dem Weiterlaufen der elektronischen Klänge nach dem Verstummen der Originalstimmen gestellt, hier aber speziell für den Coro lontanissimo (Beiheft 2003, S. 18). Ihre Frage kann aber als exemplarisch für vergleichbare Stellen im Prometeo gelten.
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Basis-Raumdisposition D In den sechs Einsätzen ist der Chor, den Nono wieder Coro lontanissimo nennt, ist immer live-elektronisch bearbeitet und mit extremem Hall (Raumvolumen 300000 m3 und 20 Nachhallzeit) versehen. Er wird wieder auf die Lautsprecher 9–12 übertragen, fast alle Einsätze haben jedoch weitere Lautsprecherzuordnungen, die – mit einer Ausnahme – immer wechseln und von der live-elektronischen Verhallung ausgenommen sind. Nur der erste und der sechste Einsatz sind mit einigen Instrumente der Orchestergruppen zu hören. Die Klangschicht der Solostreicher ist dann immer gestrichen und dürfte nur noch in ihren Ausklängen zu hören sein. Abbildung 28: 1° Isola Basis-Raumdisposition D
Die vier Raumdispositionen sind also zumeist stark voneinander abgegrenzt. Ein reines Abwechseln ist damit nicht unbedingt verbunden, denn die Solostreicher und ihre Halaphonwege sind das verbindende Element zwischen den anderen Raum-Klang-Dispositionen (eine Ausnahme ist nur der erste Einsatz der Mitologia parallel zu zwei dünn besetzten Orchestergruppen und den Solostreichern T. 111f.). Klare Abgrenzungen bzw. Kontraste gibt es nur zwischen den Orchestergruppen, dem Spiel ihrer Soloinstrumente und dem Chor, und damit sehr selten. Denn das Spiel der Orchestergruppen ist dominant und verläuft meist über eine Serie von mehreren Fragmenten mit jeweils anderen Klängen, bis ein Fragment der Solisten oder des Chores sie ablöst. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf
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die Raumentwicklung der Klänge in den Fragmenten und ihre Interaktionen mit anders raumdisponierten Fragmenten. Raum-Klang-Entwicklung in den Orchestergruppen In den allermeisten Fällen sind die Orchestergruppen in den Fragmenten klanglich homogen. In diese Homogenität sind die Solostreicher einbezogen. Parallele Klangschichten mit deutlich anderem Material sind somit nicht vorhanden – wohl aber räumliche Bewegungen der Klänge, etwa so, wie sie bereits im Prologo zwischen den Orchestergruppen vorkamen. Auch verschiedene räumliche Dichtegrade waren dort schon zu beobachten – sie sind aber erst in 1° Isola besonders häufig. Gemeint sind damit einerseits die Dichte der Besetzung in einer Orchestergruppe (die meist mit denen in anderen, gleichzeitig oder kurz darauf spielenden Orchestergruppen korrespondiert) und andererseits die Anzahl der gleichzeitig spielenden Orchestergruppen überhaupt. Die minimale Anzahl der Instrumente pro Orchestergruppe liegt bei einem – nicht mikrophonierten – Instrument5, das räumlich auf den Ort des Live-Spiels beschränkt bleibt. So spielen alle Flöten in T. 56f. (Abb. 29) zunächst nacheinander (Reihenfolge: Orch. 1, 4, 2, 3), die Drehung eines Tons mit mikrotonaler Varianz (Sechzehntel-Ton) und am Ende von T. 57 gemeinsam. Abbildung 29: Notenbeispiel (T. 56f., S. 61)
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Die solistisch spielenden Instrumente der Orchestergruppen, pro Gruppe je eines, sind dagegen mikrophoniert und auch an anderen Orten in der Arca hörbar.
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Das Maximum der Dichte liegt im Spiel aller Instrumente in allen Orchestergruppen, und solche Maximaldichten gibt es häufiger als Minimaldichten. Meist spielen alle vollständigen Orchestergruppen gleichzeitig oder nur leicht versetzt. So erscheint die 1° Isola a hauptsächlich ein Teil minutiös auskomponierter Klangfarben zu sein, deren räumlicher Aspekt in feiner Tonhöhendifferenzierung zwischen den Orchestergruppen besteht wie im Beispiel von Abbildung 29. Es kommen aber auch deutlichere Klangdifferenzierungen wie Registerunterschiede zwischen den Instrumenten der Orchestergruppen vor, wobei die Varianten der Klangfarbe jedoch nie die Besetzung erreicht, wie etwa für den Prologo in Abbildung 6a (Kapitel »Einleitung«) dargestellt ist. Bei zeitlichem Versatz – mit den üblichen kleinen Varianten in Rhythmik, absoluter Tonhöhe etc. – entstehen verschiedene Raumfiguren, wie sie bereits im Prologo vorkamen. Eine neue Form stellen Mikro-Raumfiguren dar, die innerhalb einer Orchestergruppe entstehen wie in T. 59–64 (Abb. 30). Sie sind in allen vier Orchestergruppen verschieden und haben mittlere Dichte, weil sie nur von den Streichern (außer dem Bass) auf Quint-Doppelgriffen mit leichter Tonhöhendifferenz pro Orchestergruppe ausgeführt werden (Bereich »c«/»d«+ Quinte in verschiedenen Registern und leichten mikrotonalen bzw. Halbton-Varianten6). Orchestergruppen 1+4 sowie Orchestergruppen 2+3 spielen ähnliche Verläufe: In Orchester 2+3 beginnen beteiligte Instrumente, sie enden aber nacheinander. Viola und Cello des Orchester 3 enden zuerst in T. 61, während das Cello von Orchester 2 erst am Ende des Fragments (T. 64) ausklingt. Die Orchester 1+4 dagegen spielen jeweils eine ›wiederkehrende‹ Mikro-Raumfigur, die bei den 1. Violinen beginnt, jedes Instrument nacheinander durchläuft bis zum Cello und dann zu den 1. Violinen zurückkehrt. In Orchester 4 verläuft diese Mikro-Raumfigur bruchlos von T. 59 bis T. 62; in Orchester 1 dagegen gibt es nach dem Verlauf bis zum Cello in T. 60 eine Pause bis kurz vor Ende von T. 61, in dessen 4. Zählzeit der Rücklauf beginnt (Ende T. 62). Alle Celli unterstützen am Ende des Fragments ab Ende T. 63 bis T. 64 das Cello von Orchester 2, jeweils mit leichten mikrotonalen Varianten um den Ton »d1«. Auf diese Weise wird auch eine tonräumliche Bewegung hörbar, die von einem komplexen, wenige Register umfassenden Klang zu einem leicht klangfarblich ›umwölkten‹ Unisono verläuft. Animation 4: 1° Isola, T. 59-64 Mikro-Raumfiguren in den Orchestergruppen (Streicher) und der Klangschicht der Solostreicher mit zwei Halaphonwegen (vgl. Noten in Abb. 30, jedoch aus Platzgründen ohne Solstreicher)
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Die mikrotonale Auffächerung des Klangs ist recht weit, es kommen auch die QuintDoppelgriffe »as«+»es« der ersten Violinen zugleich mit »c«+»g« in den dritten Violinen vor. Der Quintklang der anderen Instrumente wird damit etwas ›umwölkt‹.
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Abbildung 30: Notenbeispiel T. 59–64, S. 62, Mikro-Raumfigur, Ausschnitt ohne die Klangschicht der Solostreicher
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Anders als man vermuten könnte, kommen in der 1° Isola ausgeprägte Raumfiguren der Orchestergruppen aber recht selten vor. Auffällig sind deshalb räumliche Übernahmen von Teilen eines komplexen Klangs. Im Allgemeinen variieren die Besetzungen der Orchestergruppen (und damit ihre Dichte) abschnittsweise, und nur selten sind große Unterschiede zwischen ihnen zu bemerken, wie in den Fragmenten T. 167–174 und T. 193ff., bei denen sich eine Teilung der Klangschicht nach Registern zeigt. Im zuerst genannten Fragment geschieht das ab T. 173, also fast am Ende des Fragments, während im zweiten Fragment (T. 193) schon zu Beginn die Aufspaltung erkennbar ist, denn alle Orchestergruppen spielen in anderen Registern. Allerdings spielen sie rhythmisch identisches Material, ohne Zeitversatz oder sonstige Varianten, sodass keine zweite und dritte Klangschicht entsteht, sondern eine räumlich ausgeführte Klangspaltung. Diese in den Raum projizierte Klangspaltung wird zwischen den beiden genannten Beispielfragmenten in zwei weiteren Fragmenten der Orchestergruppen langsam aufgebaut. Beide, T. 181–184 und 186–192, haben weniger hohe Klangdichten und weniger weit auseinander liegende Register; die verwendeten Töne sind in den vier Fragmenten teilweise identisch, ebenso wie die Rhythmik (lang anhaltende Töne). Ein ähnlich langer fragmentübergreifender Zusammenhang ist an anderen Stellen der 1° Isola nicht zu finden. Im Normalfall ist jedes Fragment klanglich deutlich verschieden. Auch wenn zwei Orchestergruppenfragmente aufeinander folgen, unterscheiden sie sich in mehreren Aspekten (Intervallgrößen, Mikrotonalität, Register, Klangfarben, spezifische Besetzung, Rhythmik etc.). Damit hat jedes Fragment eine eigene Textur und Klangcharakteristik, die sich auch räumlich auswirkt, ohne dass Raum als Klangparameter dominant wird. So liegt der Schwerpunkt der Orchestergruppen stärker im Klanglichen und Klangfarblichen. Da Nono nur wenige Anweisungen zur Spieltechnik gibt und auch nur wenige rhythmische Varianten komponierte, geht es offenbar nicht um eine große Bandbreite von verschiedenen Klangfarben, die auch in den Raum projiziert werden, sondern um feine Nuancen der (Mikro)Töne, Klangtexturen, Dichten, Register›breiten‹ und die wechselnde Dynamik – also Klangparameter, die eher dem Tonraum zuzurechnen sind. Die Klangschicht der Solostreicher Zum Umgebungsraum der Raumklangdisposition A tragen damit hauptsächlich die Solostreicher mit ihren beiden Halaphonwegen bei, die in zwei Geschwindigkeiten und leichten Zeitverschüben wegen der unterschiedlichen Verzögerungen durch die Arca kreuzen, sobald und so lange sie spielen. Obwohl einige der genannten Ausstreichungen der Solostreicherklänge in sehr geringem Maß auch die Begleitung der Orchestergruppen betrifft, sind beide doch klanglich und tonräumlich eng miteinander verbunden, denn die Streicher spielen immer mindestens einen Ton aus dem Material der Orchestergruppen. Häufiger aber sind mehrere identische oder oktavierte Töne von ihnen zu hören. Ihre Klangschicht scheint damit Teil der Homogenität der Klangschicht der Orchestergruppen zu
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sein, auch wenn die Solostreicher nicht die Rhythmen der Orchestergruppen spielen, sondern einen nur leicht rhythmisierten Orgelpunkt mit komplexen Klängen ausführen, der über mehrere Takte stabil bleibt (dabei Wiederholung der rhythmischen Muster). Kleine Abweichungen in der Übereinstimmung einzelner Töne zu den Orchestergruppen sind daher unausweichlich und gehören zu den üblichen Variantenbildungen in Nonos Kompositionsweise. Die Solostreicher verbreitern also meist die Klänge der Orchestergruppen in räumlicher Hinsicht. Seltener sind Differenzen in den Texturen von Solostreichern und Orchestergruppen, die mehrere Takte anhalten und nur sehr versteckte oder gar keine Tonübereinstimmungen mit den Orchestergruppen aufweisen. In T. 14 etwa beginnt ein komplexer Orgelpunkt, der in T. 22 leicht geändert wird und noch bis T. 27 anhält7. Er bleibt damit über vier Fragmente der Orchestergruppen (eines davon mit stummem Text der Solisten) fast gleich. Im ersten begleiteten Fragment der Orchestergruppen T. 14–21 sind identische oder nur mikrotonal variierte Töne oder Oktavierungen so vereinzelt, dass sie in der dichten Textur aller Orchestergruppen untergehen. Nur in T. 19 gibt es in allen vier Orchestergruppen mehrere Übereinstimmungen. Ab der durch die verzögerten Halaphonwege leicht verwischten Änderung des Orgelpunktes in T. 23 interagieren die Klänge des Orgelpunktes mit den Orchestersolisten, die ab T. 21 in Orchester 1+2 spielen, sowie auch mit der sehr dünnen Textur des folgenden Fragments für die Orchestergruppen. Insgesamt entsteht der Eindruck von zunächst zwei eher verschiedenen Klangschichten, die von T. 19–27 aufeinander zulaufen und am Ende miteinander verschmelzen. Eine Variante davon ist zwischen T. 44 und T. 49 zu beobachten. Hier geht der klanglich nicht ganz synchrone Orgelpunkt über mehr als zwei Fragmente der Orchestergruppen (T. 44–50). Er beginnt schon in der Mitte des Orchestersolisten-Fragments (T. 43f.), zu dem keine klangliche Übereinstimmung besteht, was auch für das folgende Fragment (T. 45) für sehr dünn besetzte Orchestergruppen in mittlerer und tiefer Tonlage der Fall ist. Starke klangliche Übereinstimmungen bestehen hingegen im folgenden Fragment der Orchestersolisten T. 46–49, das sich in Orchester 1+2 durch die besonders hohe Tonlage der beiden Violinen auszeichnet. Beide spielen mikrotonal variiertes »f3«–»fis3«. Die Viola der Solostreicher spielt in ähnlich hoher Tonlage, jedoch mit »h2« eine Quinte darunter. Die Töne der beiden anderen Orchestersolisten (Horn und Trompete in Orchester 3+4) »b1« und »h1« sind damit zugleich von der SoloViola oktaviert, während das Solo-Cello »f1« und »c1« spielt – dies erscheint wegen der mikrotonalen Varianten im Bereich einer (oktavierten) großen bzw. kleinen Sekunde zum »b1« und »h1« der beiden Orchestersolisten-Bläser wie eine weitere Tonvariante. Diese Art der Variantenbildung, deren Klang auf einen 7
Ab T. 23 gibt es dynamische Wechsel, zunächst von p auf ppp, und ab T. 123 (Mitte) sind zwei dynamische Pulse (crescendo-decrescendo zwischen ppp zu p) als Varianten des Klangs komponiert.
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eng gesetzten Cluster oder etwas weitere Auffächerung eines Tons hinausläuft, ist im Prometeo häufiger zu finden, z.B. auch in der zuvor beschriebenen Eingangssequenz des Prologo. Hier ist damit verbunden, dass beide Klangschichten einander sehr nah stehen. Das hat Folgen für den räumlichen Klang und bedeutet zugleich, dass die Solostreicher, statt mit den Orchestergruppen eine homogene Klangschicht zu bilden, dies nun mit den die stillen Texte ausführenden Orchestersolisten tun. Doch diese Phase bleibt recht kurz, weil die Solostreicher schon ab Ende T. 49, also vor Abschluss des stillen Textfragments, ganz andere Klänge in tieferer Tonlage spielen – und diesen Orgelpunkt über das nächste Orchestergruppen-Fragment beibehalten, in dessen Verlauf einige übereinstimmende Töne zu finden sind. Text-Raum-Klangschichten Textgrundlage der 1° Isola ist der 1. Akt von Aischylos Der gefesselte Prometheus, den Cacciari auf einen kurzen Dialog zwischen Efesto/Hephaistos und Prometeo/Prometheus reduziert und mit einer weitgehend neu verfassten, Mitologia genannten parallelen Textebene ergänzt hat. Der Stoff der antiken Tragödie bleibt nur in Grundzügen wiedererkennbar und ist völlig auf Prometeo zugeschnitten. So sind Prometeos Texte, die als erste beginnen, einzig auf ihn und die positive Wirkung seiner Taten für die unwissenden Menschen bezogen, denen er die Struktur ihrer Lebenswelt, den Acker- und Schiffsbau, die Mathematik und ihre Künste und Hilfen gab und ihre Träume, die Flüge, die Sitten und die Liebe brachte. Davon ungerührt, zeigt Efesto Prometeo die Qualen auf, die ihn in seiner von Zeus befohlenen Strafe erwarten. Nono komponierte diese Kurzfassung des Tragödiendialogs rein instrumental, also als stummen Text. Er steht zeilenweise in den Fragmenten, die den Solisten der Orchestergruppen zugeordnet sind – sei es eine einzelne Textzeile, sei es ein gleichzeitiger oder ein nur wenig gegeneinander verschobener Dialog. Eine feste Zuordnung zu dem jeweils einen Instrument einer Orchestergruppe gibt es aber nicht, und eine Regelmäßigkeit im Ablauf zwischen den Solisten der Orchestergruppen ist ebenfalls nicht zu erkennen. Zwei Textstellen sind sogar ganz still, d.h. auch ohne Zuordnung zu einem solistischen Spiel. Es fällt auf, dass Nono stillen Text nur für die sprachlichen Inhalte komponiert hat, die den Tragödientext des Aischylos betreffen, während er die gänzlich neuen MitologiaTexte vom Chor als Coro lontanissimo verständlich singen lässt. Er setzt aber, anders als im Libretto, erst in T. 111 ein, nachdem bereits etwas mehr als 40 % der 1° Isola von den Orchestergruppen, ihren Solisten und den Solostreichern (mit Halaphonwegen) gespielt worden sind.
Analyse 1° Isola | 101
Die Klangschicht der Orchestersolisten und stille Texte von Prometeo und Efesto Alle Orchestersolisten sind mikrophoniert und ihre Musik wird elektronisch unverändert auf die Lautsprecher 2+5 übertragen. Das verbreitert die räumliche Basis jedoch nur sehr wenig, weil beide Lautsprecher in der Nähe von Orchestern platziert sind: LS 5 bei Orchester 2 und LS 2 bei Orchester 4. Zudem sind in der Mailänder Aufführungspartitur einige Eintragungen zur Nutzung der Mikrophone (»mikro aperto«) gestrichen. Betroffen davon sind nur einige Einsätze der Orchestersolisten bis T. 98, ohne dass eine Regelmäßigkeit erkennbar wäre. Interessant ist das lange stiller-Text-Fragment T. 94–98, in dem ausnahmsweise eine Mischung aus geöffneten und geschlossenen Mikrophonen in der Aufführungspartitur abgebildet ist. Die Solisten aus Orchester 3+4 wurden in T. 94–96 demnach nicht auf die Lautsprecher übertragen, die Einsätze der Orchestersolisten in T. 96–98 hingegen schon. Der Grund dafür könnte in der raumklanglichen Varianz liegen, die für so ein ungewöhnlich langes Fragment benötigt wird. Allerdings ist das vorhergehende Fragment für Orchestersolisten noch länger ( T. 78– 84 = 7 Takte). Es ist wegen der versetzten Text-/Klang-Einsätze der beiden Figuren ähnlich gebaut, alle vier Orchestersolisten sind jedoch durchgehend verstärkt und daher auch während des gesamten Fragments auf den Lautsprechern 2+5 zu hören. Ein Textbezug ist im Fragment T. 96–98 daher zu vermuten, denn die nicht verstärkten und übertragenen Takte betreffen Text des Prometeo (in griechisch8, außer »Io« [ital.: ich] [›Ich‹ ersann große hilfreiche Techniken]), während die verstärkten und übertragenen Takte dem Efesto zugeordnet sind (»appasarai al baléno del sole« [Du wirst im Strahl der Sonne verwelken]). Auch wenn man den Textbezug annimmt und daraus ableitet, dass die Ausführung der Strafe des Zeus an Prometeo durch Efesto hervorgehoben werden soll, so kann man keine ähnlichen Bezüge in den anderen Einsätzen der Orchestersolisten erkennen. Weder sind die Solisten den Texten von Efesto oder Prometeo fest zugeordnet, noch sind deren Texte und damit die sie stumm spielenden Instrumente immer versetzt dargestellt, sodass zumindest temporäre Zuordnungen erkennbar wären. Wie die Orchestersolisten die Texte also in ihr Spiel einfließen ließen oder wie das in den sie umgebenden Fragmenten die Orchestergruppen vor- oder nachbereiteten, kann aus der Partitur und dem räumlichen Klang nicht ermittelt werden. Mitologia – Raum, Klang und Text Nono hat die sechs Einsätze der Mitologia als leisen (ppp) Coro lontanissimo großvolumigem Hall mit sehr langem Ausklang komponiert9, genau doppelt so
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Vgl. die Originalzeile in Kapitel »Werkstatt Libretto«. Im 4. Einsatz steht keine Dynamikangabe; das »ppp« der anderen Einsätze wurde somit interpoliert.
102 | Der komponierte Raum
lang wie dessen Ausklang im Prologo. In der 1° Isola ist der Raum jedoch erweitert, da außer den Lautsprechern des Zentrums und der Nebenräume der Arca weitere Lautsprecher an der Übertragung der Klänge beteiligt sind. Im Prinzip hat jeder Mitologia-Einsatz eine andere Variante. Nur der erste und der sechste Einsatz haben dieselbe Lautsprecherdisposition (LS 1, 3, 5, 8 zu Grunddisposition LS 9–12). Alle anderen Einsätze variieren bei den zusätzlichen Lautsprechern, wobei der 5. nur die Lautsprecher der Grunddisposition (LS 9–12) hat. Die Texte weichen erheblich von Aischylos Tragödie ab und sind, soweit Nono Cacciaris Libretto verwendet hat, auch weitgehend verständlich gesetzt10: • »Prometeo« (T. 111f.), alle Chorstimmen (LS 1, 3, 5, 8+9–12), dazu wenige
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Musiker der Orch. 1+2 sowie Solostreicher mit Halaphonweg, verständlich nur »Pro«; »questa speranza liberarsi dal dio?« [Diese Hoffnung, sich von Gott zu befreien], (T. 121f.) Sopran, Alt, Tenor (= S, A, T), LS 2, 4, 6, 7+9–12; nur »dio« verständlich; »sei como un nuovo signore« [Du bist wie ein neuer Herrscher], »sei« textlich überlagert, (T. 163–166), S, A, T; LS 5, 6+9–12; nur »signore« verständlich; »Ascolta« über: » [neidisch und schwierig], T. 175–180, alle Chorstimmen, LS 1, 2, 5, 6+9–12; nichts verständlich; »credi omnipotente il tuo fuoco?« [glaubst du, allmächtig sei dein Feuer?], anfangs Texthoquetus, T. 236–241, alle Chorstimmen, nur LS 9–12, nichts verständlich; »chiami verità stretta radura« [nennst Du eine enge Lichtung Wahrheit?], Anfang überlagert, T. 254f., alle Chorstimmen, LS 1, 3, 5, 8+9–12, dazu wenige Musiker der Orchester 1–4 sowie Solostreicher mit Halaphonweg, verständlich allenfalls »stretta« [eng].
Der klar ausgesprochene kritische Textgehalt gegenüber der Figur des Prometeo macht den Chor zur kommentierenden und moralischen Instanz. Diese Funktion hatte er in der antiken Tragödie aber erst seit Sophokles11, während in Aischylos Tragödie der Chor noch als Teil der Handlung und Dialogpartner fungierte. Im Prometeo dagegen übernimmt der Chor schon im Libretto eine eigene Textebene, die Cacciari darin parallel zu den Texten von Prometeo und Efesto anordnet. In einen Dialog zu Prometeo tritt der Chor jedoch nicht, er singt von entfernten Orten und ist insofern nicht Teil des Dialogs zwischen Prometeo und Efesto.
10 Nono strich im ersten Absatz die 2. Zeile (»vuoi dare ai mortali« [willst du den Sterblichen geben], den zweiten Absatz der Mitologia sowie ein Wort »quella« in der 1. Hälfte und die ganze 2. Hälfte des letzten Einsatzes, während er in den stummen Textpassagen auf Striche verzichtete. 11 Sophokles (ca. 497–406 v. Chr.) lebte jedoch deutlich nach Aischylos (525–456 v.Chr.). In der modernen Rezeption griechischer Tragödien wird dies generell als Rolle für den Chor verstanden.
Analyse 1° Isola | 103
Stille und Solostreicher Die Funktion der Anbindung und des Zusammenhalts übernehmen die Solostreicher auch über die 22 Stille-Fragmente (s. Basis-Raumdisposition C) hinweg, wenn sie dasselbe Material unverändert weiter spielen, das aber nie über die Lautstärke p hinausgeht (meist sind pp und ppp notiert). Mit ihnen laufen die verzögerten Halaphonwege weiter. Einzig während des Pausentakts T. 70 haben auch die Solostreicher einen Pausentakt, doch dürften die verzögerten Halaphonwege noch mit den vorherigen Klängen hörbar sein. Die nur bei den Mitologia-Coro-Takten stumme Klangschicht der Solostreicher zeichnet sich damit durchweg durch kurzfristige Antizipation oder Verlängerung von Material der Orchestergruppen bzw. Orchestersolisten aus, hauptsächlich durch die Homogenisierung des eigenen Klangmaterials mit denen der Orchestergruppen oder gegebenenfalls Orchestersolisten. In der Mailänder Aufführungspartitur sind jedoch einige Takte der Solostreicher durchkreuzt12. Ein System ist bei den Streichungen aber nicht zu erkennen, denn sie betrifft Stellen mit stiller Textierung ebenso wie die Begleitung der Orchestergruppen. Tendenziell sind aber mehr Striche im Anfangsteil der 1° Isola bis T. 141 zu finden13; anschließend spielen die Solostreicher bis T. 158 durchgehend und erfahren erst von T. 158–262, also am Schluss der 1° Isola, ihre letzte Streichung. Daraus ist einzig eine Wirkung in Bezug auf die Dichte der Gesamttextur zu erkennen, die bei den Orchestergruppen in der zweiten Hälfte der 1° Isola höher ist als im ersten Teil, und die damit gleichzeitig mit den unbegleiteten und daher sehr dünnen Mitologia-Einsätzen sowie den fast stillen Pausentakten kontrastiert. Zusammenfassung und Interpretation 1° Isola Die 1° Isola ist in ihrer homogen wirkenden Oberfläche klanglich strukturiert und räumlich differenziert, aber zugleich dynamisch deutlich reduzierter als der Prologo. Das ermöglicht es den Hörern, die minutiös differenzierten Klänge und ihre räumliche Ausbreitung genau nachzuvollziehen, so leise sie auch sein mögen. An den vielen leisen Stellen entsteht der Eindruck, man könnte hier von Abstufungen der Stille sprechen, die sich auch räumlich auswirken, selbst wenn absolute Stille nicht vorkommt. Die stillen Texte der Orchestersolisten passen zu dem ruhigen Charakter des 2. Teils des Prometeo ebenso wie die zum Teil verständlichen Mitologia-Texte, die in Übereinstimmung zum Prologo als Coro
12 Dass die Streichungen nicht in die später gedruckte Fassung übernommen wurden, spricht dafür, dass Nono sie prinzipiell für spätere Aufführungen erhalten wollte. 13 In T. 141 ist der letzte Strich zu sehen, anschließend ist nur noch das Wort »no« in roter Farbe über die Noten der Solostreicher geschrieben. Dies gilt vermutlich dem Einsatz des 4i-Systems, das die »arco mobile«-Eintragung – die mikrotonale Umspielung der Solostreicherklänge – hätte ausführen sollen. Viele »arco mobile«-Eintragungen sind in der 1° Isola mit roter Farbe ausgestrichen.
104 | Der komponierte Raum
lontanissimo gesungenen werden. Je nach Einsatz werden sie zwar zusätzlich in der Arca mit Lautsprechern übertragen, immer aber sind sie in den Nebenräumen und den Zentrallautsprechern hörbar und somit auf den Spalt der Arca konzentriert. Dass ihr Text, der gegen die Taten Prometeos Stellung bezieht, verständlich ist, hat sicher für den Gesamtkontext des Prometeo Bedeutung, ging es Nono und Cacciari doch um eine Sichtweise, die die Figur des Prometheus nicht romantisiert oder zum Helden verklärt, während die Texte Prometeos und Efestos möglicherweise als bekannt vorausgesetzt wurden. Insofern kann man die 1° Isola als einen Teil ansehen, der sich auf die dramatische Figur des Prometeo konzentriert.
Analyse 2° Isola a | 105
ANALYSE 2° ISOLA Nono legte 2° Isola dreiteilig mit alphanumerischer Differenzierung an: a) Io – Prometeo b) Hölderlin c) Stasimo 1° Das Libretto stellte er dazu um und nahm Änderungen daran vor. Die drei Subteile sind raumklanglich und in der Textvorlage eigenständig und kontrastieren in der Abfolge. 2° Isola a: Io – Prometeo Textgrundlage des 175 Takte umfassenden Anfangsteils ist der 2. Akt der Aischylos-Tragödie, der hier auf den Dialog zwischen Io und Prometeo reduziert ist. Er wird von den Sängersolisten und dem Chor in verschiedenen Besetzungen gesungen. Beide Figuren haben eine eigene Raumdisposition, weshalb es in ihrem Dialog zu schnellen Raum-Klang-Wechseln kommt. Als klangliche Besonderheit des Chores hat Nono häufig zwei Stimmgruppen als Sprechstimmen komponiert, kurzfristig sogar alle vier Chorstimmen gleichzeitig. Ihr Vorzeichen ist eine Gabel mit drei oder vier Zinken und die Notation besteht aus einer durchgezogenen und gestuften Linie wie in Abbildung 15 (Kapitel »Einleitung«). Sie treten immer zusammen mit normal notierten Chorstimmen auf und erfahren die live-elektronische Bearbeitung mit ihnen. Solostreicher, Solobläser und Orchestergruppen spielen die Begleitung der Sängergruppen und sind in verschiedenen Besetzungen und Schichtungen über ein Fragment oder wenige Takte, zu hören; auch rein instrumentale Takte ohne Sänger kommen vor. Diese Schichtungen werden gelegentlich durch kurze Einschübe der Orchestergruppen in Tutti-Besetzung oder auch von differenziert komponierter Stille unterbrochen. Daraus ergeben sich vier Basis-Raumdispositionen: A/1: Io mit instrumentaler Begleitung A/2: Prometeo mit instrumentaler Begleitung B: Orchestergruppen C: Stille Klangschichten in den Basis-Raumdispositionen A/1 und A/2 Die Klangschichten der Basis-Raumdisposition A gelten den Dialogpartnern Io und Prometeo sowie den sie begleitenden Bläser und Solostreicher. Gelegentlich treten sehr kurz die Orchestergruppen hinzu. Die Dialogpartner haben ähnliches
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Klangmaterial und sehr verschiedene Raumdarstellungen, sodass sich zwei Basis-Raumdispositionen A/1 und A/2 ergeben. A/1: Io Der Figur der Io sind die Frauenstimmen der Solisten, also beide Soprane und Altstimmen, sowie im Prinzip der gesamte Chor, also Frauen- und Männerstimmen, zugeordnet. Jeder Einsatz der Io zeigt jedoch wechselnde Besetzungen, besonders im Chor, der meist ohne die Bassstimmen besetzt ist1. Chor und Solistinnen sind in ihrer elektroakustischen Behandlung sehr verschieden: • Die Solosängerinnen erhalten eine Klangbearbeitung über zwei elektronische
Wege. Auf dem ersten werden mikrotonale Transpositionen (0:9,7–1:03) erzeugt und per Keyboard gesteuert. Auf dem zweiten werden größere Intervalle transponiert und ebenfalls mit dem Keyboard gesteuert. Hierzu sind absolute Tonhöhen an den jeweiligen Stellen der Aufführungspartitur geschrieben: 2 x »fis1« und »d2« (vor T. 3 und vor T. 21), »a1« T. 12, »g2« T. 108 und »fis1« T. 1512. Diese Transpositionen sind immer auf die jeweilige Tonhöhe der Solosängerinnen bezogen, die sich teilweise in der unmittelbaren Nähe von einer kleinen Sekunde befinden. Es geht hier also um auf- respektive abwärtsTranspositionen zur Erzeugung klanglicher Varianten und Auffächerungen3. In der Aufführungspartitur sind den Solosängerinnen die LS 1, 7, 8, 9+10 zugeordnet, wobei gelegentlich nicht alle Lautsprecher aus dieser Aufzählung in der Aufführungspartitur eingetragen sind. • Der Chor wird dagegen zunächst um einen Tritonus tiefer transponiert (Angabe 0,7 – das sind drei Ganztöne) und dann mit dem Halaphon nacheinander auf die LS 1, 5, 2, 6 geschickt, was im Prinzip einer idealisierten Umkreisung der eigenen Chorposition entspricht und damit nur auf einen begrenzten Ort in der Arca zutrifft. A/2: Prometeo Die Figur des Prometeo wird von Solotenor und Chor gesungen, wobei besonders die Männerstimmen und gelegentlich auch alle Chorstimmen dem Prometeo zugeordnet sind. Erkennbar ist die Zuordnung am Text, dem parallelen Einsatz
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Sie sind dann entweder nicht komponiert oder der Figur des Prometeo zugeordnet, gelegentlich aber auch der Figur der Io. In der Aufführungspartitur ist diese Differenzierung meist sehr genau anhand der elektronischen Bearbeitung zu erkennen. Hier gibt es bereits einen klaren Textbezug, da Io hier griechische Worte singt: 2x »Welches Land?«, 2x »Sohn des Kronos« (gemeint ist Prometheus) und einmal ein Ausruf (»Hu«); vgl. auch FN 20 im Kapitel »Analyse Prologo«. Der Klangeffekt kann nicht vollständig nachvollzogen werden, da die Zuordnung der Tonhöhen zum Keyboard nicht in den Quellen notiert ist.
Analyse 2° Isola a | 107
zum Solotenor und/oder der Lautsprecherzuordnung. Für den Solotenor sind dies immer die LS 11+12, die in den Nebenräumen der Arca unter der Decke platziert sind. Der zu Prometeo gehörige Chorpart ist dagegen unbearbeitet auf den Zentrumslautsprechern 9+10 zu hören. Instrumentale Klänge in der Basis-Raumdispositionen A Solobläser Über die gesamte 2° Isola spielen nur die Bassflöte und die Bassklarinette. Beide werden an verschiedenen Stellen der Partitur eingesetzt. Wie der Chor weisen sie verschiedenen Zugehörigkeiten auf und wechseln entsprechend ihr Klangmaterial. Im Unterschied zum Chor erfahren sie aber immer dieselbe live-elektronische Behandlung und Lautsprecherzuordnung. Sie ist komplex und verläuft in zwei Kanälen. So wird ein Kanal um 150 ms verzögert, gefiltert4 und auf LS 2 gelegt, während der andere nur um 220 ms verzögert wird und auf LS 4 disponiert ist. Die Zuordnungen der Solobläser zu den Figuren der Io und des Prometeo und ihre typischen Klangeigenschaften sind zu differenzieren: • Die Solobassflöte spielt häufig oktavierte Töne der Io-Solistinnen, die So-
lobassklarinette meist ähnliche Klänge, wenn sie gleichzeitig mit der Io-Figur spielt5. • Die Solobassklarinette spielt gelegentlich Töne des Solotenors (Prometeo), besonders wenn diesem kein Chor zugeordnet ist. Das verbreitert dessen Raumklang auf die LS 2+4. • An untextierten Stellen spielen beide Instrumente eine gemeinsame Klangschicht. Solostreicher Die Solostreicher spielen in extrem hoher Tonlage deutlich über den Klängen der Sänger und mit anderen Tönen. Sie bilden daher eine eigene, kontrastierende Klangschicht. Ihr Einsatz ist unabhängig von denen der dramatischen Figuren und weist keinerlei Bezug zu ihnen auf. Auch ihre Klangschicht ist komplex und wird auf zwei Schaltwegen bearbeitet: Ein Kanal wird mikrotonal höher transponiert (1:03), während der andere zunächst mikrotonal höher und tiefer (0:96 und 1:04) transponiert und danach mit extremem Hall (Volumen: 300000 m3 und 10– 20 Nachhallzeit) versehen wird. Beide Klangbearbeitungen werden zu einem Klanghybrid summiert auf den Halaphonweg der LS 1, 3, 5 übertragen.
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Haller gibt praktisch alle Filterwege an, aber wieder ohne Angaben zu Einstellungen. Dies bedeutet zugleich, dass sie nicht unbedingt genau die Töne des Chores spielen, wenn dieser Texte der Io singt.
108 | Der komponierte Raum
Begleitende Orchestergruppen In begleitender Funktion zu den Sängern sind die Orchestergruppen nur in T. 4, T. 21f. und T. 116 zu hören. In diesen Takten spielen die kontrastierenden Solostreicher nicht. Dennoch ersetzen die Orchestergruppen nicht die Solostreicher und ihre Funktion, denn sie haben ähnliche Klänge wie die Sänger. In weiteren vier Einsätzen spielen sie mit den Solobläsern und Solostreichern in einer Überleitungsfunktion (T. 41, T. 43, T. 48f. und T. 73). Das Material aller sieben Einsätze variiert. Auffällig ist aber die Konzentration auf die 1. Hälfte des IoPrometeo-Teils; alle anderen Einsätze sind in der Aufführungspartitur gestrichen. Sie bewirken an diesen Stellen eine kurzzeitige Verbreiterung der Klänge in der Arca, tragen aber kaum zu den Basisformen der Raumdispositionen in der 2° Isola bei. Vergleich der Basis-Raumdispositionen A/1 und A/2 Der spezifische Klangcharakter der Raumdisposition A besteht damit in einer Vielzahl von Klangvarianten in der dominierenden Klangschicht, die jeweils mit unterschiedlichen Raumdispositionen versehen sind. Abbildung 31 zeigt die Raumdisposition A/1 für die Sängergruppen der Io und Abbildung 32 die für Sängergruppen des Prometeo A/2 jeweils mit den zugehörigen Instrumentalbegleitungen und der kontrastierenden Klangschicht der Solostreicher. Abbildung 31: 2° Isola a, Basis-Raumdisposition A/1: Io mit instrumentaler Begleitung
Analyse 2° Isola a | 109
Abbildung 32: 2° Isola a, Basis-Raumdisposition A/2: Prometeo mit instrumenteller Begleitung
Basis-Raumdisposition B: Orchestergruppen Die beschriebenen isolierten Einsätze der Orchestergruppen in der 2° Isola unterbrechen den Verlauf der komplexen Klangtexturen mit eigenen Raumzugehörigkeiten und eigenen Klängen. Sieben solcher Einsätze mit einer Gesamtlänge von 13 Takten sind in der Aufführungspartitur erhalten (T. 26, T. 66, T. 78–81, T. 104, T. 107, T. 110, T. 124–127)6. Tendenziell befinden sich also mehr dieser Einschübe in der 2. Hälfte des Io-Prometeo-Teils7. Auffällig ist hier wie in den begleitenden Orchestergruppen-Einsätzen, dass fast immer die vier Orchestergruppen im – allenfalls leicht variierten – Unisono spielen. Raumfiguren kom-
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Alle anderen Einsätze sind in der Aufführungspartitur von Haller gestrichen, meist wurden diese Striche in der Druckfassung übernommen. Da die begleitenden Orchestergruppen-Einsätze in der A-Raumdisposition tendenziell in der 1. Hälfte von 2° Isola a liegen und die selbständigen Orchestergruppen (Raumdisposition B) in der 2. Hälfte, kann man vermuten, dass Nono die Klangschicht der Orchestergruppen als Ganzes in den Teil einwob und teilweise in die Klangumgebung einpasste. Diese Frage berührt die formale Kompositionsstruktur und ist aus der Perspektive der Raum-Klang-Beziehungen nicht wichtig. Allerdings würde hiermit der Hang Nonos bestätigt, im Prometeo Eindeutigkeiten zu vermeiden.
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men nur in Ansätzen vor und beschränken sich in T. 66, T. 104, T. 111 auf abwechselnde Einsätze von je zwei Orchestergruppen, während T. 107 nur die Orchestergruppen 1+2 spielen. Das Material ist fast homogen, da fünf Einsätze Akzente unterschiedlicher Länge enthalten und nur zwei auch rhythmisiert sind. Rein klanglich betrachtet, führen die Orchestergruppen das Material der vorhergehenden Fragmente fort und variieren es. So kann trotz der Pause zwischen beiden Klangfragmenten der Eindruck entstehen, als bewege sich die Klangschicht räumlich fort. Abbildung 33: Basis-Raumdisposition B
Basis-Raumdisposition C: Stille Stille ist deutlich häufiger als in den vorangehenden Teilen. Die Anzahl der über den ganzen Teil verteilt Pausen, Atemzeichen und Fermaten von einer Dauer über 1 erhebliche Ausmaße an. Interaktionen zwischen den Klangschichten Zwischen den meisten notierten und live-elektronisch bearbeiteten Stimmen gibt es, wie erwähnt, mehr oder weniger große Ähnlichkeiten. Klare Abgrenzungen der Klänge betreffen nur die Klangschicht der Solostreicher, die sich im Register, in den Tonhöhen und der extremen Verhallung sowie dem eigenen Halaphonweg durchgehend von den anderen Raum-Klang-Verläufen absetzt und sich ihnen gegenüber kontrastierend verhält. Es sind immer lang anhaltende Verläufe ohne rhythmische Struktur, die wie ein sehr hoch gelegter Orgelpunkt erschei-
Analyse 2° Isola a | 111
nen; dabei spielen besonders die Viola und das Cello gelegentlich extrem hohe Töne. In allen anderen Stimmen gibt es nur selten und nur sehr kurzfristig klangliche Kontraste untereinander. Damit gibt es im Raum eine große Bandbreite klanglicher Varianten, die auch die Dialoge von Prometeo und Io mit einschließen können. Im folgenden Beispiel (T. 7–14, S. 106f.) ist ein Verlauf enger und weiter Varianten zu beobachten, die zur Klangschicht der Solostreicher kontrastieren und zusammen in der Arca zu einem konstanten Wechsel der Raumdarstellungen führen. Die Beschreibung bezieht sich auf die einzelnen Graphiken der Abbildung 34 (S. 112–114) und Animation 5. • 34/1: In T. 7f. kontrastieren Solobassflöte mit einem Halbtoncluster •
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(»cis1«/»d1«) und Solostreicher. 34/2: In T. 9 übernimmt der dem Prometeo zugeordnete Chor im Alt und Tenor die Zentraltöne der Bassflöte (»d1«), während Sopran und Bass mit Sprechstimme agieren – und die Solobläser, ab der 2. Takthälfte mit Bassklarinette zur Bassflöte, zu anderen Tönen wechseln. Dennoch bilden ein Teil der Bassflötentöne (»d2«) mit den gesungenen Stimmen des Chores einen Halbtoncluster (»d1«+»d2«/»es2«) – und einen weiteren mit der Bassklarinette (»a«/»as«). 34/3: Verbindende Halbtoncluster und Oktavierungen sind in T. 10+11 in den zur Io gehörenden Solosängerinnen (je 2 Soprane und Alte) zu hören. 34/4: Ebenfalls verbindende Halbtoncluster sind beim mit »Prometeo« bezeichneten Solotenor und zum Prometeo gehörenden Chor (hier die Sprechstimme im Sopran und Alt) sowie den Solobläsern zu finden. 34/5: In T. 12 kommt es über dem Ausklang des Nachhalls der Solostreicher zu einer deutlichen Annäherung in den Solosängerstimmen (PrometeoSolotenor und Io-Solosängerinnen) im oktavierten »H«, das auch bei beiden Solobläsern vorkommt. Die räumliche Verbreiterung der weiblichen Solosängerstimmen verleiht der gemeinsamen Klangschicht eine besondere Bedeutung. Deutlich entfernter davon ist die Klangschicht des Chores, die nun im Halaphonweg um die eigene Position kreist – doch bildet das kurze »c2« des Soprans einen Halbtoncluster zu den Solosängerinnen, während das kurze »a1« der Altistinnen im Chor allenfalls einen Ganztoncluster dazu bildet und die Männerstimmen nun die Sprachklänge übernehmen. Die Übereinstimmungen zu den anderen Sängern und den Solobläsern sind also in Bezug auf die gleichzeitigen Töne und den taktübergreifenden Klangverlauf sehr gering. Der Chor bleibt hier jedoch eine entfernte Variante zu den anderen Stimmen, 34/6: da er nach einer Fermate im folgenden Fragment T. 13f. mit den Io- und Prometeo-Solisten in einen sehr ähnlichen Verlauf mündet und mit ihnen das Fragment beschließt.
112 | Der komponierte Raum
Animation 5: 2° Isola a, T. 7–14, S. 106f. Die Farben entsprechen den Zuordnungen zu den Klangschichten: Grün für die Solostreicher mit Halaphonwegen; violett für Solobläser und die Prometeo-SängerInnen; für die Io-SängerInnen ggf. mit Halaphonweg Abbildung 34/1: 2° Isola a, T. 7f.
Abbildung 34/2: 2° Isola a, T. 9
Analyse 2° Isola a | 113
Abbildung 34/3: 2° Isola a, T. 10
Abbildung 34/4: 2° Isola a, T. 11
114 | Der komponierte Raum
Abbildung 34/5: 2° Isola a, T. 12
Abbildung 34/6: 2° Isola a, T. 13f.
Die Homogenität der Klangschicht aus Sängergruppen (Chor, Io-Solistinnen und Prometeo-Solotenor), Solobläsern und begleitenden Orchestergruppen bleibt im Erlauf von 2° Isola a erhalten. Auch wenn sich Varianten gelegentlich voneinander entfernen, sind zumindest noch wenige Übereinstimmungen zwischen den
Analyse 2° Isola a | 115
Varianten zu finden. Ein Beispiel für die beginnende Abspaltung einer neuen Klangschicht wegen extrem geringer Ähnlichkeiten zwischen den Musikern der ist etwa die Passage T. 136ff., S. 130f. Die verschiedenen Klänge zwischen den Sängerstimmen, die in der zweiten Hälfte bisweilen offensichtlich werden, klingen zwar im selben Register wie alle anderen Musiker, sie weisen aber keine weiteren klanglichen Übereinstimmungen zu anderen Stimmen auf. Auffällig ist hier wie bei ähnlichen Stellen, dass Sie nur zu finden sind, wenn die Solostreicher nicht klingen (mehr s.u.). Zu einer dritten parallelen Klangschicht kommt es damit nicht.
Text-Raum-Klang-Schichten Mit der Beschränkung auf die Dialoge von Io und Prometeo aus der AischylosTragödie hat Nono Cacciaris Libretto deutlich abgewandelt8. Den Dialog selbst hat er zwar nur wenig umgestellt. Auffällig sind jedoch seine kleinen Veränderungen im Textteil der Io, die, wie die Teilung des Librettos an sich, auf eine etwas engere Anbindung an Aischylos Tragödie weisen. So entfällt Cacciaris kleines Wortspiel zu Beginn, das beiden Dialogpartnern die Silbe »io« zuweist, was ebenso den Namen der mythischen Gestalt Io meinen kann wie auf Griechisch den Ausruf »O weh!« oder auf Italienisch »ich« (in diesem Wortsinn wird es zentral in der 1° Isola von Prometeo im Dialog mit Efesto verwandt, s.o.). Nono schafft hier textliche Klarheit und verwendet diese Silbe nicht am Anfang und für Io nur in T. 36f., S. 111 und T. 159, S. 134, wo ihr Sinngehalt »Oh weh!« bedeutet. Am Anfang verwendet er nicht-sprachliche Ausrufe, die denen ähneln, die Aischylos im anfänglichen Monolog der Io einsetzte (»Hu« und »Oh«9). »Hu« und »Ha« macht Nono anfänglich daraus, später folgen »Ah«, »Ho«, »He« sowie »io« (s.o.), im Wechsel bis T. 159, also praktisch durchgängig bis kurz vor Ende des Io-Prometeo-Teils in T. 175. Prometeo verwendet »io« gar nicht in seinen Textpassagen. Der gesamte, stark verkürzte Dialog zwischen Io und Prometeo verteilt die Rollen klar und entsprechend der antiken Vorlage: Io beklagt ihre Qualen als Verfolgte und Opfer sexueller Gewalt durch Zeus und wünscht sich den Tod, während Prometeo ihre Situation erkennt, deren Verursachung dem Gott zuordnet und die weiteren Stationen auf ihrem Weg am Rande der zivilisierten Welt aufzählt. Dies ist das seherische Moment seiner Figur – der mythische Titan Prometheus kann im Gegensatz zu Zeus die Zukunft vohersagen – und zugleich
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Zur Ausgliederung des Hölderlin-Textes als b-Teil der 2° Isola s. dort resp. s.o. zur Gesamtanlage der 2° Isola. Diese Ausrufe stehen in der deutschen Übersetzung von Aischylos Der gefesselte Prometheus, Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-gefesselte-pro metheus-4499/3, S. 1 [14.10.19], sind also nicht notwendig dieselben des antiken griechischen Originals.
116 | Der komponierte Raum
ein weiterer Hinweis auf das Motiv des Wanderns und des Irrwegs, das Nono und Cacciari bereits in der Figur des Prometeo als Doppelgestalt in Verbindung mit Odysseus anlegt hatten. Hier wird das Reisen der antiken Vorlage entsprechend in der Figur der Io herausgestellt, wobei Nono aber Prometeo die Stationen der Reise aussprechen lässt, was das Motiv der Reise im Prinzip auch bei seiner Figur lässt. In der Raumdisposition ist die Dichotomie des Dialogs erkennbar. Im Klangverlauf erscheinen diese Unterschiede im Zusammenhang mit den Instrumentalstimmen und dem Chor häufig eher eingeebnet als herausgearbeitet. In weiteren Einsätzen beider Figuren gleichzeitig oder in direkter Abfolge sind in den meisten Fällen allenfalls weit gefasste Varianten erkennbar, wie in der Passage T. 30– 38, die zunächst von Prometeo (Tenorsolo, Chor und Raumklang) T. 30–36 gesungen und in T. 36 von Io (Chor, Solistinnen und Raumklang) abgelöst wird. Für den kurzen Moment der Überlappung singen der 2. Alt und der Solotenor denselben Ton »d1« – und die weitere Tonfolge der Io T. 36–38 zeigt oktavierte und einige um einen Halbton versetzte Töne des vorhergehenden PrometeoVerlaufs. Die Choristinnen wechseln ab T. 36 von den in Linien notierten und mit den gekreuzten Fingern vor dem Mund auszuführenden Prometeo-Sprach– klängen (bis T. 35) zu den Io-Ausrufen, die ebenfalls als Sprachklänge notiert sind10, und die Männerstimmen des Chores schweigen ab T. 36. Die klanglichen Unterschiede zwischen Io und Prometeo sind hier auf den Gesang in verschiedenen Registern beschränkt. Auch bei den meisten anderen gemeinsamen Takten sind nur leichte Varianten im Gesang von Io und Prometeo festzustellen. Auffällig sind daher die Unterschiede zwischen den Io- und Prometeo-Klängen in T. 119, doch sind sie räumlich verschleiert und ohnehin nur einen Takt lang vorhanden. Die Unterscheidbarkeit der Dialogpartner besteht damit im Text und seiner Verständlichkeit (s.u.) sowie den spezifischen Raumdispositionen der Figuren einschließlich ihrer live-elektronischen Klangbearbeitungen; nur im Halaphonweg des Io zugeordneten Chorteils wirkt er auffällig klangvariierend. Laut Aufführungspartitur ist die Zuordnung meist eindeutig: Singen der Solotenor (Prometeo) oder die Solosängerinnen allein, gehört das gleichzeitig hörbare Klangmaterial des Chores zu dieser Figur. Singen die Solisten der Io und des Prometeo aber gleichzeitig, werden die Eintragungen zur technischen Behandlung des Chores und damit seine Raumdisposition inkonsistent11, weil der Chor als Ganzes 10 Wie schon bei den Sprechern notierte Nono dies mit einer gabelförmigen SchlüsselFigur am Anfang der Zeilen resp. der Spracheinsätze – allerdings nutzt er sie nicht wie bei den Sprechern, denn die meisten Sprachklang-Einsätze sind mit Noten dargestellt, die in der Tonhöhe mit denen der zugehörigen Singstimmen übereinstimmen bzw. gelegentlich auch andere Tonhöhen exakt darstellen. Deshalb kann man wohl davon ausgehen, dass die Sprachklänge im Sprechgesang ausgeführt werden. 11 Nur in T. 21f. sind zwei Raumdispositionen für den Chor erkennbar. Wie sie wirklich ausgeführt wurden, ist unklar, weil der Wechsel auf die Io-Raumdisposition der Chorsängerinnen nur für einen kurzen Einsatz der Ausrufe in T. 21 gegolten haben kann,
Analyse 2° Isola a | 117
nur in einer Raumdisposition erscheint, obwohl er in getrenntem Stimmverlauf beide Figuren klanglich unterstützt12. So ist eine solche Chorpassage in T. 9–11 raumklanglich der Figur des Prometeo zugeordnet, obwohl ab T. 10 die Choristinnen ebenfalls Io-Klänge singen. Auch in T. 12, T. 18ff., T. 30ff., T. 51ff., T. 70ff., T. 74ff., T. 119 und T. 130ff. ist der Chor klanglich in beide Figuren geteilt, aber jeweils nur einer Raumdisposition zugeordnet, was die raumklangliche Differenzierung verwischt. In der Komposition und im Text sind keine Gründe dafür ersichtlich, sodass möglicherweise aus technischen Gründen keine raumklangliche Doppeldisposition des Chors möglich war und deshalb Entscheidungen zugunsten einer Raumdisposition erforderlich wurden. Immerhin aber überwiegen die eindeutigen Zuordnungen, da die Dialogtexte von Io und Prometeo in der Mehrzahl direkt nacheinander stattfinden und die Stimmen des Chores jeweils eindeutig der jeweiligen Solostimme des Prometeo oder der Io-Solistinnen zugeordnet sind und der Raumklang entsprechend wechselt. Beide Figuren haben parallele Verläufe von gesungenen und mit Sprechklang ausgeführten Anteilen, wobei die absoluten Stimmhöhen eher die jeweilige Person darstellen als ihr eigentlicher Stimmverlauf. Da Nono auch gelegentlich die Dialogteile auf andere Personen überträgt (T. 83–85 singt Io einen Text, der im Libretto für Prometeo vorgesehen ist (»l’asia entrerai« [du wirst Asien betreten]) oder Io und Prometeo ein kurzes Duett mit einer Prometeo-Zeile aus dem Libretto singen lässt (T. 111–116 [»geloso dio dal rito notturno« [eifersüchtiger Gott des nächtlichen Rituals]), ist auch die Überschneidung bei beiden dramatischen Figuren in der Partitur schwer überschaubar13. Die räumlichen Trennungen in der Arca sind dagegen perfekt. Zwar suggerieren die Grunddispositionen, dass Io-Solistinnen und der Prometeo-Solist (Tenor) sich die Zentrumslautsprecher teilen, doch in der Praxis sind keine Überschneidungen der Figuren an diesem Ort damit verbunden14, denn in der Aufführungspartitur ist die räumliche Präsenz der Io-Solistinnen variabel. Nur in rein auf die
da die weiteren Io-Einsätze bis T. 25 für den Chor mit Bleistift in der Aufführungspartitur mehrfach durchkreuzt, also gestrichen sind. Die Männerstimmen des Chores singen bis T. 22 weiter und sind seit T. 18 textlich und klangräumlich der PrometeoFigur zugeordnet. 12 Dies gilt auch für die Passage T. 5f., die in der Aufführungspartitur der Io-Figur raumklanglich zugeordnet ist, obwohl der Chor mit allen Stimmen ausschließlich Prometeo-Klänge und Texte singt. Es ist natürlich denkbar, dass es hier zu einem fehlerhaften Eintrag kam und diese Passage dem Prometeo-Raumklang zugeordnet war. 13 Die technischen Einzeichnungen und Lautsprecherzuordnungen in der Aufführungspartitur sind dagegen meist eindeutig. Es ist jedoch denkbar, dass die Vermischung der Zuordnungen erst in der Aufführung erfolgte und evtl. der technisch-räumlichen Nicht-Trennbarkeit des Chores bei gleichzeitig gesungenen Io- und Prometeo-Partien folgen. 14 Keine Regel ohne Ausnahme: In der Aufführungspartitur ist in T. 119 tatsächlich der Chor der Io zugeordnet, obwohl die Männerstimmen Text des Prometeo singen, und dieser verläuft den Halaphonweg; zugleich sind die Io-Solosängerinnen auf allen IoLautsprechern zu hören und der Solotenor erscheint nur auf den Außenlautsprechern.
118 | Der komponierte Raum
Figur der Io bezogenen Passagen kommt die Grunddisposition zum Einsatz. Handelt es sich jedoch um eine dialogische Passage, in der Prometeo und Io im Wechsel oder gleichzeitig singen, erscheint Prometeo auf den Außen- und Zentrumslautsprechern, während die Io der Solistinnen auf den ihr nächst gelegenen Lautsprecher 7 beschränkt ist und damit entsprechend nur noch sehr kleinen Raum einnimmt. Dieser wird bei der Unterstützung durch den Chor auch um dessen Halaphonweg erweitert. Im folgenden Beispiel (Abb. 35/1–6) ist dies für die Passage (T. 101–109; S. 124f.) aus sieben Fragmenten zu sehen. Wie an den jeweils beigefügten Textzeilen zu erkennen ist, nehmen Ios sehr laut an Prometeo vorgebrachten Bitten, ihre Qualen zu beenden, den größten Raum ein. Die schnellen und ausdruckstarken Raumwechsel in der Passage werden auch von den eigenständigen Orchestergruppen der Raumdisposition B hervorgerufen, die zweimal den Dialog von Io und Prometeo unterbrechen. Abbildung 35/1: 2° Isola a, T. 101f., S. 124: Io+ Prometeo: »placa mi mania« [besänftige mir den Wahnsinn]
Analyse 2° Isola a | 119
Abbildung 35/2: 2° Isola a, T. 103: Io-Solistinnen: »mania« [Wahnsinn] + Chor zu Prometeo: »del sole« [der Sonne]; der Io-Text des Chors wird hier in Prometeo-Raumdisposition dargestellt
Abbildung 35/3: 2° Isola a, T. 104: Orchestergruppen 1–4
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Abbildung 35/4 T. 105f.: Io-Solistinnen: »placa mi« [besänftige mir] + Io-Chor: O weh! (Schmerzensrufe)
Abbildung 35/5: 2° Isola a, T. 107: Orchestergruppen 1+2
Analyse 2° Isola a | 121
Abbildung 35/6: 2° Isola a, T. 108f.: Io-Solistinnen: [Sohn des Kronos] + Chorsängerinnen (Schmerzensrufe)
Texte und ihre Verständlichkeit Wie in den vorigen Teilen wird die Verständlichkeit der gesungenen Texte an der Texturdichte gemessen. Obwohl sie im Io-Prometeo-Teil etwas geringer ist als im Prologo und die Kontraste der gleichzeitig hörbaren Klangschichten bzw. -orte wegen der vielfachen Klangvarianten seltener vorhanden sind, haben sie doch genügend Ablenkungspotenzial, das die Konzentration auf den gesungenen Text verringern kann. In der folgenden Auflistung werden die nur wenig begleiteten Passagen als »ortsverständlich« bezeichnet, da sie am Ort der Sänger verständlich sind, die unbegleiteten Textpassagen werden dagegen werden »frei« oder »weitgehend frei« genannt. Verständlich gesetzt sind: • »τις γη« [welches Land] Io (T. 3–4), ortsverständlich • »il nume« [die Gottheit] Prometeo (T. 5f.), ortsverständlich • »sempre violento« [ist immer gewalttätig] Prometeo (T. 9–11), ortsverständlich • »τι γενος« [welches Volk] Io (T. 13–15) Solistinnen und Chor, frei • »ti caccia« [dich jagt] Prometeo (T. 18–20) Solotenor + Chor, ortsverständlich • »Κρονιε« [Sohn des Kronos] Io (T. 21f.) ortsverständlich • »Κρονιε«, Io, (T. 24f.) weitgehend frei • »terre inarrate« [ungepflügte Erde] Prometeo Tenor und Chor (T. 30–35), frei • Io-Ausrufe, Solistinnen und Chor (T. 36–38), frei • »τινα ϕω« [was sag ich] Io, Solistinnen und Chor (T. 45–47), weitgehend frei
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• »ardimi del fuoco« [verbrenne mich im Feuer] Io, Chor und Solistinnen nach-
einander (T. 51–53), weitgehend frei, aber unterschiedlich ortsverständlich • »sprofondami nella terra« [versenke mich in der Erde] Io, Solistinnen (T. 64), • • • • • • • • •
• • • • • • • • • • • • • •
ortsverständlich »mostri« [Ungeheuern] Io (T. 72), weitgehend frei, weil Orchestergruppen gestrichen »lascia« [lass] Prometeo (T. 74A-M), weitgehend frei »ma placa mi« [aber besänftige mir] Io (T. 74 E–77), frei »l’ Europa«, Prometeo (T. 82f.), ortsverständlich »l’Asia entrai« [betritt Asien] Io (T. 83–85), ortsverständlich »varca fiumi sonori« [übertrete tiefe Flüsse] Prometeo (T. 90f.), weitgehend frei »sferza violenta« [gewalttätige Geißel] Io, Solistinnen (T. 92f.), frei »va alle sorgenti« [geh zu den Quellen] Prometeo, Tenor und Chor, teilweise ortsübergreifend (T. 95–98) ortsverständlich »placa mi mania del sole incessante« [besänftige mir den Wahnsinn, unaufhörlich], Io+ teilweise Prometeo [der Sonne] (T. 99–103) meist Solistinnen, ortsverständlich »placa mi« [besänftige mir] Io (T. 105f.) Solistinnen, ortsverständlich »Κρονιε« [Sohn des Kronos] Io (T. 108f.) Solistinnen, ortsverständlich »geloso dio dal rito notturno« [eifersüchtiger Gott des nächtlichen Rituals] Io+Prometeo nacheinander, Solisten (T. 113f.), frei »placa mi« [besänftige mir] Io (T. 119), Solistinnen, ortsverständlich »dEtiope« [Äthiopien] Prometeo (T. 120f.), Chor, ortsverständlich »mi caccia folle« [mich jagt verrückte] Io, Solistinnen (T. 122f.), frei »dove dai monti il sacro fiume« [wo am heiligen Berg der Fluss] Prometeo, Chor und Tenor (T. 128–133) ortsübergreifend nacheinander, ortsverständlich »placa« [besänftige] Io, Solistinnen (T. 138f.) ortsverständlich »Canopo v’è« [wo Kanapos liegt] Prometeo (T. 142), ortsverständlich »violento« [gewalttätig] Io (T. 146f.), ortsverständlich »τις γη« [welches Land] Io, Chor und Solistinnen (T. 151–153) ortsverständlich »sventura di vivere« [Unglück zu leben] Io, Solistinnen (T. 155–159), ortsverständlich »Κρονιε« [Sohn des Kronos] Io, Solistinnen (T. 162f.), ortsverständlich »θνησκω« [ich sterbe] Io, Solistinnen (T. 167–170) ortsverständlich
An dieser Auflistung ist ersichtlich, dass hauptsächlich die Texte der Io verständlich sind. Die wenigen verständlichen Texte des Prometeo sind immer überlagert oder verlaufen nacheinander von Chor zu Solotenor; sie sind also schwerer verständlich als viele der völlig frei stehenden, d.h. unbegleiteten Texte der Io.
Analyse 2° Isola a | 123
Stille und ihre Gestaltung Nono hat zahlreiche Fermaten und Pausentakte mit über 1 Dauer komponiert: • a) Fermaten mit oder ohne Zeitangabe sowie Pausentakte vor und nach Frag-
menten • b) Fermaten mit oder ohne Zeitangabe in Fragmenten, gegebenenfalls auch als
Unterbrechungen in durchgehenden Klangverläufen a) Fermaten mit oder ohne Zeitangabe sowie Pausentakte vor und nach Fragmenten Die Angaben der Pausen und Fermaten folgt der Partitur und den zusätzlichen handschriftlichen Eintragungen, zu denen auch Streichungen gehören. In der folgende Liste sind sie nach der Folge von Fragmenten gruppiert. Zwischen ihnen steht jeweils eine graphische Lücke. Stillezeichen stehen demnach: • vor T. 10 • vor T. 13 • T. 27 ist still für eine Dauer von 5 (handschriftliche Eintragung); • T. 29 für 72 MM im 4/4-Takt, also von ca. 3,2 Dauer. Hier markieren die
Pausen T. 27 und 29 Anfang und Ende eines Fragments der beiden Solobläser. • T. 65, also vor dem Orchestereinschub T. 66, (Orch. 1+2 sowie 3+4 nachei-
nander als einzige Orchesterfigur) ist eine weitere handschriftliche Fermate mit 7 Dauer eingetragen. Die Dauer ist wohl auf den Ausklang der stark verhallten Streicher zurückzuführen, die im 2. Achtel von T. 64 enden; • T. 67 beginnt praktisch mit einer handschriftlich eingetragenen Fermate von 3, die wohl am Ende des T. 66 gesetzt ist, das ein Fragment für sich ist; • T. 73 Ende für die Orchestergruppen. • T. 81 in der 4. Zählzeit ist die Pause vor dem folgenden Fragment knapp über
1 lang; • T. 85 in der 4. Zählzeit dauert die Pause danach etwas unter 1; • T. 86 ist in der Aufführungspartitur gestrichen und mit »Pausa« bezeichnet.
Diese dürfte etwa 4,4 gedauert haben, sodass etwa 5 Pause zwischen dem folgenden Fragment in T. 87 stehen. • T. 94 ist das Orchesterfragment wieder gestrichen und mit »Pausa« ersetzt, die
bei absoluter Stille etwa 6 lang sein müsste. • T. 103 vor Io-Solosänger und Chor ca. 2
124 | Der komponierte Raum
• T. 104 – ein Orchestereinschub – ist vorher mit einer handschriftlichen Ferma-
te und 3 Dauer und danach mit 7 gekennzeichnet15. • T. 107, wieder ein Orchestereinschub, hat vorher 3 und nachher 5 dauernde
handschriftliche Fermaten16. • T. 110, der Orchestereinschub endet mit einer handschriftlichen Fermate von
7 Stille. • T. 116 am Fragment-Ende steht eine Fermate ohne Zeitangabe nach einem
Crescendo zu ff; das folgende Fragment ist völlig anders besetzt. Die unterschiedliche Dauer der Fermaten ist nur mit den vorangegangenen Lautstärken zu erklären: Leisen Fragment-Enden folgt eine kürzere Fermatendauer, lauten dagegen eine längere. Dies lässt nur den Schluss zu, dass Nono bei der Einrichtung des Prometeo in Mailand genau auf den Ausklang hörte und die Zeit der Pausen danach bemaß. Tatsächlich dürfte Stille nach leisen Tönen schneller eintreten als bei lauten Tönen. Die unterschiedliche Pausendauer nach T. 104 und T. 107 lässt sich dadurch erklären, dass im zweiten Orchestereinschub nur Orchester 1+2 am Ende fff spielen, während in T. 104 alle Orchestergruppen eingesetzt sind und auf fff enden. Die absolute Lautstärke in der Arca dürfte im 2. Orchestereinschub T. 107 leiser gewesen und Stille damit etwas früher eingetreten sein. Dies bedeutet zugleich, dass Nono sich in der Bemessung der Pausen nicht auf den physikalisch messbaren Nachhall bezog, dessen Ende markiert ist, wenn der Pegel des Schalls 60 dB unter dem Ausgangwert liegt und daher für alle Lautstärken gleich lang dauert17, sondern musikalische/klangliche Spannungsverhältnisse und ihre dramatischen Wirkungen komponierte18. b) Fermaten mit oder ohne Zeitangabe in Fragmenten, gegebenenfalls auch als Unterbrechungen in durchgehenden Klangverläufen: • Eine Fermate steht vor T. 7 nur für die Soloflöte und die Solostreicher. • Sogar vier Fermaten mit unterschiedlichen Zeiten finden sich in T. 8 für die
Solobassflöte. Die erste und dritte stehen zwischen Noten und sind zusätzlich mit einem Atemzeichen und einer Zeitangabe von 1 versehen, während die zweite und vierte über Noten stehen und 3 respektive 5 dauern sollen. Dies wird hier als zweimalige ortsbezogenen Stille von je 1 Dauer verstanden. Für die fortlaufend spielende Soloviola ist in der Partitur jedoch keine Fermate angegeben. Da sie ihre Klänge im T. 9 leicht ändert (die beiden anderen Solo15 Der folgende Takt 105 beginnt mit einer Pause von ca. 1,5 Dauer, die ggf. zu den 7 hinzukommen. 16 Evtl. auch gut 7, weil der folgende T. 108 mit einer Pause von gut 2 (= 30 MM pro Viertelnote) beginnt. 17 Differenzen gibt es aber in den verschiedenen Frequenzen eines komplexen Klangs. 18 Dies beschreibt auch Winter 1964, S. 22f.
Analyse 2° Isola a | 125
streicher bleiben gleich), kann man wohl davon ausgehen, dass sie länger spielte und mit dem veränderten Klang begann, als die Solobassflöte in der 1. Zählzeit von T. 9 pausierte. • Ähnlich sind die Klangverhältnisse vor T. 24, wo sich eine Fermate von 2
Dauer befindet. • Die Fermate von 5 Dauer über der einen Note der unbegleiteten Solosoprane
in T. 25 kann nur die Verlängerung des Tons bedeuten (es folgen 5 am Ende des Fragments (s.o.). • In T. 32 steht ein Atemzeichen von 1 Dauer im Fragment und gilt für den bis
T. 35 unbegleiteten Chor (Prometeo). • In T. 33 steht ein Atemzeichen zu einer Fermate ohne Zeitangabe. • In T. 76 sind 3 für eine Fermate mit Atemzeichen vor der 2. Zählzeit für den
sonst unbegleiteten Io-Chor und Solisten angegeben. • Atemzeichen ohne Dauerangaben stehen in T. 88, 89 und 97. Alle haben keine
Auswirkungen auf andere Stimmen, da diese erst später einsetzen. • T. 122: Die Fermate ohne Dauerangabe steht über einer Pause in dem unbe-
gleiteten Taktteil der Solosängerinnen (Io). • T. 138: 2 dauert die mit einem Atemzeichen versehene Fermate nach einem
Ton in der Mitte des Taktes über den an dieser Stelle wieder unbegleiteten Solosängerinnen (Io). • T. 168 ist als ganzer eine Pause für die Io-Solosängerinnen und die Solostreicher, deren live-elektronischer Nachklang zusammen mit Nachhall die Stille gestaltet. Innerhalb von Fragmenten hat Nono also Unterbrechungen komponiert, die als Nachhall räumlich wirken. Fast immer unterbrechen diese Stellen kurzzeitig die Gesangspartien, sodass hier neben dem Nachhall auch ein dramatischer Effekt bezogen auf den Text intendiert gewesen sein könnte.
Zusammenfassung und Interpretation Wie schon zuvor beschrieben, ist die Vielfalt der Klangvarianten in der dominanten Klangschicht aus den Solosängern, dem Chor, den beiden Solobläsern und den begleitenden Orchestergruppen das wesentliche klangliche Charakteristikum der 2° Isola a. Umso deutlicher fallen die räumlichen Unterschiede zwischen den beiden Dialogpartnern sowie den Solobläsern und besonders den Einschüben der Orchester-Tutti ins Gewicht. 2° Isola a ist daher ein Teil des Prometeo mit starker räumlicher Komponente. Dazu gehört letztlich auch die Stille, die erstmals
126 | Der komponierte Raum
im Prometeo explizit, spezifisch und variantenreich komponiert ist. Sie umfasst verschieden lange, auch abgebrochene Nachhallausklänge ebenso wie absolute Stille. Räumlich ist dabei der Nachhall an sich, der eine Resonanzreaktion der Arca und des sie umgebenden Ansaldo-Gebäudes ist. Ob darüber hinaus die Position der Musiker, deren Klänge enden und ausklingen, eine Rolle für die Hörer spielt, kann nur vermutet werden. Ihre Konzentration und Aufmerksamkeit der Hörer könnte mehr auf die spielenden und ausklingenden Musikerpositionen gerichtet sein als auf andere spezielle Punkte in der Arca. Nur die häufig, aber nicht durchgängig spielenden Solostreicher mit ihrem kurzen dreistufigen Halaphonweg bilden einen parallelen klanglichen Kontrast. In dieser Funktion sind sie den Mitologia-Einsätzen der 1° Isola ähnlich; auch ihre starke Verhallung erinnert an diese Klangschicht, die jedoch anders als die Solostreicher-Klangschicht der 2° Isola a zugleich aus dem Arcaspalt kam und in der Arca wechselnde Positionen einnahm. Die Ähnlichkeit beider kontrastierender Klangschichten ist also begrenzt. Ähnlichkeit und Kontrast fallen auch bei der Konzentration auf die Figuren in beiden Isole auf: Der Io-Prometeo-Subteil der 2° Isola ist wegen der größeren Textverständlichkeit der Io deutlich auf sie konzentriert – so wie die Konzentration der 1° Isola eher auf Prometeo gerichtet war. Auch wenn der stille Dialog zwischen Prometeo und Efesto stattfand, sprach der Mitologia-Coro ausschließlich Prometeo an. In diesem Sinn ergeben beide Teile eine Ausgewogenheit zwischen männlicher und weiblicher Figur. Beide sind der göttlichen Willkür ausgeliefert und Außenseiter am Rand der zivilisierten Welt, wo zumindest Io ruhelos umherstreift, während Prometeo dies nur in Gedanken kann. Auch klanglich sind Kontraste zur 1° Isola festzustellen, denn die 2° Isola a hat eine ähnlich verwobene Textur wie der Prologo, selbst wenn die Ähnlichkeit der Klänge die Textur weniger kontrastreich macht. Zudem ist die Textur in 2° Isola a weniger dicht als der 2. Teil des Prologo, sodass die kontinuierliche Ausdünnung vom 1. Teil des Prologo zu dessen 2. Teil und nun zur 2° Isola auffällt.
Analyse 2° Isola b | 127
ANALYSE 2° ISOLA B) HÖLDERLIN 2° Isola b) Hölderlin besteht hauptsächlich aus der Mitologia-Ebene des Cacciari-Librettos, die ihrerseits die leicht bearbeitete letzte Strophe des Schicksalslieds aus Friedrich Hölderlins Hyperion ist und auf Deutsch vorgetragen wird. Im 3. Drittel1 tritt ein kurzer Zusatz in italienischer Sprache hinzu, der auf Pindars 6. Nemeïscher Ode aufbaut. Über die gesamte Dauer von schnellen (MM = 72) 196 Takten, die ohne Tempowechsel auskommen, ist die 2° Isola b nur spärlich besetzt. Die beiden Sopranistinnen und die beiden Solobläser (Bassflöte und Bassklarinette) sind aus dem vorangegangenen 2° Isola a-Teil übernommen und bilden den a- und c-Abschnitt. Zwischen T. 120 und T. 148 treten die beiden Sprecher im c-Abschnitt als neues Klangelement hinzu. Daher kommt der b-Teil der 2° Isola auch mit zwei Raumdispositionen aus: • Raumdisposition Abschnitt A + C: T. 1–119 + T. 150–196 • Raumdisposition Abschnitt B: T. 120–148
Klangschichten Solosoprane (T. 1–196) Beide Sängerinnen werden leicht unterschiedlich elektronisch bearbeitet. Der Klang des 1. Soprans wird mit 4 Verzögerung auf einen Halaphonweg der LS 1, 3, 5, 7 geschickt, der des 2. Soprans um 8 verzögert und auf einen anderen Halaphonweg mit den LS 2, 4, 6, 82 gegeben. Beide Halaphonwege verlaufen langsam, aber in verschiedenen Tempi und überlappen sich3. Die Auswirkung auf die Klänge der Sängerinnen ist beträchtlich, da sich nur an ihrer Position die meist identischen oder ähnlichen (d. h. sehr nah beieinanderliegenden, nur selten über eine große Terz differierenden) Töne mischen. In der Arca dagegen trennen sich beide Stimmen räumlich und zeitlich4. Auch der stark artikulierte Text, der schon an der Position der Sängerinnen in Verlauf und Dynamik gegeneinander verschoben ist, trennt sich weiter in der Arca auf. Ob es möglich ist den Text auf den jeweils eigenen die Arca kreuzenden Halaphonwegen der beiden Stimmen zu verfolgen, kann nur vermutet werden (zur inhaltlichen Textverständlichkeit s.u.).
1 2
3
4
Ab T. 120 von 180 Takten. Haller gibt immer die Reihenfolge des Halaphonweges an, sodass hier die beiden Wege nicht gegenläufig nach der ungeraden bzw. geraden Nummer der Lautsprecher verlaufen, wie bisher üblich. Haller schreibt in den technischen Aufzeichnungen »langsam überlapp. 8 2 Tempi«, was in Bezug auf die Ziffer 8 nicht ganz verständlich ist (AdK Berlin, Haller Archiv Nr. 174). Vidolin (1997, S. 453) beschreibt den Effekt als die Entstehung eines virtuellen, obsessiven und hypnotischen Chors.
128 | Der komponierte Raum
Im 3. Abschnitt C singen beide Sopranistinnen nur leicht variierte Tonverläufe auf den von Cacciari erweiterten Text aus Pindars 6. Nemeïscher Ode in fast perfektem Textunisono, sodass dieser wohl ortsverständlich ist. Bassflöte und Bassklarinette (T. 1–196) Die Klänge beider Instrumente werden zusammen, aber zweiteilig elektronisch behandelt. Unverändert erscheinen sie auf den LS 1+4; die zweite Klangbehandlung wird mit einer invertierten Vocoder-Schaltung vorgenommen, die auf den LS 2+7 hörbar ist5. Bei dieser relativ starken Klangvariation geht es um einen komplexen elektronischen Prozess auf Basis der Originalklänge: Beide Instrumente spielen in unterschiedlichen Registern, wobei die Bassflöte im Violinschlüssel und die Bassklarinette im Bassschlüssel notiert ist. Charakteristisch für beide sind kurze dynamische Pulse (z.B. p – f – p) von meist einem, selten auch zwei Takten Dauer, die ab ca. T. 45 deutlich lauter werden (max. fff). Bis ungefähr T. 175 dominieren stärkere dynamische Pulse über mehrere dynamische Stufen (von p zu fff oder p zu ff) von einem bis höchstens zwei Takten Dauer. Beide Blasinstrumente spielen diese Pulse häufiger gegeneinander verschoben als gleichzeitig, was eine ineinander verwebte dynamische Struktur aus verschiedenen Tonhöhen ergibt – sofern die Klänge im Original bleiben, also am Entstehungsort und in den von dort deutlich entfernten LS 1+4. Die mit dem invertierten Vocoder modifizierten Klänge auf den LS 2+7 stellen gleichzeitig eine starke Vermischung und Verfremdung der Klänge beider Instrumente dar, zu denen auch die verschobenen dynamischen Pulse beitragen. Diese Klangmodifikation verläuft in einem komplexen Prozess, bei dem zunächst ein Ausgangsklang in dünnen Frequenzbändern6 gefiltert wird. Jedes Frequenzband ist dann auch durch seine Lautstärke definiert. In einer normalen Vocoderschaltung würden diese Filterergebnisse auf den zu steuernden Klang übertragen und dessen Charakter damit modifiziert. Hier werden die Filterergebnisse aber invertiert, also umgekehrt, indem die Lautstärke des tiefsten Frequenzbandes zur Steuerung des höchsten Frequenzbands des zu steuernden Klangs verwendet wird, das des zweittiefsten Ausgangsfrequenzbandes auf das zweithöchste des zu steuernden Klangs etc. Die besonders tiefen Ausgangsklänge der Bassklarinette führen somit zur Anhebung und Gestaltung der hohen Bassflötenklänge bzw. modifizieren die hohen Flötenklänge die tiefen Bassklarinettenklänge. Die genaue Schaltung ist nicht eindeutig
5
6
Die Angabe entspricht den externen technischen Aufzeichnungen Hallers. Eine minimale Variante der Lautsprecherangaben ist in der Aufführungspartitur am Fuß der S. 133 verzeichnet, also nicht direkt eingetragen, und namentlich »Alvise« zugeordnet. Demnach wäre der unveränderte Klang dem Lautsprecher 1 und die mit dem invertierten Vocoder bearbeiteten Klänge der Solobläser auf die LS 2, 4, 7 gegeben worden. Alvise Vidolin (1997, S. 453) macht in seiner Klangbeschreibung aber keine Angaben zu den Lautsprechern. Eingesetzt werden hier die Sekundfilter, eine Eigenentwicklung des Freiburger Studios, mit 48 Frequenzbändern.
Analyse 2° Isola b | 129
rekonstruierbar7. An den LS 2+7 ist letztlich ein stark veränderter Klang zu hören, der noch leicht an die Originalklänge erinnert und sich zugleich von den Klängen der Sopranistinnen und der beiden Sprecher sowie deren Raumverhalten absetzt. So lange die Solobläser die Sängerinnen und gegebenenfalls die Sprecher begleiten, bleibt ihre Lautstärke relativ gleich (fff-Pulse bis T. 180). Bis zum Ende des b-Teils der 2° Isola (Mitologia/Hölderlin) in T. 196 spielen sie ein aus Pulsen bestehendes Decrescendo und enden auf pppp. Abbildung 36: 2° Isola b Abschnitt A + C (mittellautes Halaphon)
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Hallers Angaben zufolge (AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 174 und am Seitenende der Aufführungspartitur ebd. Nr. 8, S. 133) lautet die Reihenfolge »Flöte + Bassklarinette« vor dem Schaltweg zum invertierten Vocoder; das bedeutet, dass die Klänge der Bassflöte analysiert werden und invertiert den Bassklarinettenklang modifizieren. Die bestätigt Jeschke (1997, S. 227), die die technischen Aufzeichnungen des Freiburger Studio-Ingenieurs Rudolf Strauß von der Frankfurter Prometeo-Aufführung 1987 auswerten konnte. Vidolin (1997, S. 453) beschreibt dagegen, dass die Bassklarinette den Klang der Bassflöte modifiziert, was wiederum von Nielinger-Vakil (2015, S. 269) bestätigt wird, die mit der technischen Grunddisposition von André Richard arbeitete. Die technischen Aufzeichnungen aus den ersten Jahren weisen also auf die Bassflöte als steuerndes Instrument des invertierten Vocoders, der die Klänge der Bassklarinette modifiziert – und so erscheinen auf den Lautsprechern stark basslastige Klänge, die sich eindeutig von der Klangschicht der Solosopranistinnen absetzen.
130 | Der komponierte Raum
Sprecher (T. 120–148; Abschnitt C) Beide Sprecher bleiben elektronisch unbearbeitet. Ihnen wird – im Unterschied zu Hallers separaten Technikaufzeichnungen – in der Aufführungspartitur nur der LS 8 zugeordnet als derjenige, der in ihrer unmittelbaren Nähe steht. In ihrem relativ kurzen Einsatz von T. 120 bis 148 sprechen sie den Hölderlin-Text erneut, wobei sie sich meist überlagern und nur wenige Worte unisono sprechen. Abbildung 37: 2° Isola b Abschnitt B (mittellautes Halaphon)
Interaktionen zwischen den Klangschichten Alle Klangschichten agieren eigenständig. Zwischen den Solosopranen und der im Violinschlüssel notierten Bassflöte besteht eine gewisse Nähe bis ungefähr T. 45, da beide im Anfangsteil im selben Register musizieren und häufig nah beieinanderliegende Töne (große Sekunde) spielen. Weil Solobläser und Solosoprane räumlich relativ nah beieinander positioniert sind, könnten an dem verbundenen Ort Interaktionen zwischen beiden Klangschichten stattfinden und Cluster gehört werden, an den Lautsprecherpositionen wegen der Zeitverzögerungen und der kontinuierlichen Klangbewegungen der Sängerinnenstimmen aber wahrscheinlich nicht. Damit bleiben die zwei bzw. drei Klangschichten raumklanglich getrennt voneinander. Wegen der anhaltenden Stabilität aller Klangschichten sind auch keine wesentlichen Raumklangvarianten erkennbar. Der Mitologia-/HölderlinTeil erweist sich damit als fast monolithisch mit übereinstimmendem Verlauf al-
Analyse 2° Isola b | 131
ler drei Klangschichten: Einem leisen Beginn folgt eine lange relativ laute Phase, zu der ab T. 120 eine weitere Klangschicht tritt, die nur bis T. 149 anhält. Ab T. 181 spielen die beiden Solobläser einen Ausklang und enden sehr leise8. Texte und ihre Verständlichkeit Der deutschen Hölderlin-Text wird von den Sopranistinnen und den Sprechern getrennt voneinander präsentiert – jedoch jeweils nicht unisono sondern gegenseitig überlagert, sodass die Verständlichkeit an beiden Orten jeweils deutlich eingeschränkt ist. Wie schon im Prologo deuten synchrone Aussprachen/gesungene Textstellen und andere Hervorhebungsformen auf eine besondere Bedeutung der entsprechenden Worte hin. Solche für Hörer verständlichen Worte gibt es auch in diesem Teil. Dies sind bei den Solosopranistinnen, die in der ersten Hälfte Hölderlins Text in kleinen wiederholten Abschnitten singen: • • • • • • • • • • • • • •
T. 20: »gegeben«, nur Sopran 1, 2. Sopran: Pause T. 26: »zu ruhn« (insgesamt 3x, beim 3. Mal synchron und unisono) T. 31: »Stätte« (synchron, später noch leicht überlagert) T. 44: »zu ruhn« (synchron) T. 53: »es fallen« (synchron, weitgehend Sekundabstand) T. 56f.: »schwinden« (Hoquetus) T. 61: »Menschen« (kanonisch, aber jeweils frei und im selben Ton) T. 64f.: »blindlings« (synchron und unisono) T. 69f.: »Klippe« (unisono) T. 74f.: »Menschen« (synchron und unisono) T. 95: »Wasser« (synchron und unisono) T. 97–99: »von Klippe zu Klippe« (meist Hoquetus) T. 106–111: »Ins Ungewisse« (Hoquetus) T. 112:»hinab« (synchron und unison mit 1 x Umspielung/Verschub)
In der Wiederholung der Sprecher sind weniger synchrone Stellen zu finden: • T. 134ff.: »wie Wasser« und illustrativ gesetzt d.h. verschoben »von Klippe zu
Klippe« • T. 145: »blindlings« • T. 148 = Ende: »hinab«
8
Eine umfassende Analyse mit historischen Herleitungen und Darstellung der Schichtungen des 2° Isola b Hölderlin-Teils verfasste Jeschke (1997, S. 212ff.). Raum ist dabei aber kein Analyseparameter.
132 | Der komponierte Raum
Der italienische Text auf Grundlage der 6. Nemeïschen Ode von Pindar, den die Sopranistinnen von T. 128 bis T. 180 sehr lang gedehnt singen, ist dagegen vollständig zu verstehen, weil beide Stimmverläufe nur leichte Varianten aufweisen, also fast unisono sind: »Ma una dell’Uomo, una del Dio, la stirpe del Dio, fratelli infelici« [Doch eines des Menschen, eines des Gottes, das Geschlecht des Gottes, unglückliche Brüder]. Zusammenfassung und Interpretation Mit seiner stillelosen, monolithischen Struktur und den klaren raumklanglichen Strukturen seiner Klangschichten weist der 2° Isola b) Hölderlin-Teil spezifische raumklangliche Eigenschaften auf, die spürbar zum vorangegangenen Teil kontrastieren – wie das in der Abfolge aller anderen Teile ebenfalls schon zu erkennen war. Zur Spezialität des Teils gehören die drei (meist aber nur zwei) parallelen Klangschichten, die rein klanglich allenfalls an den Positionen der Sopranistinnen und der Solobläser Zusammenhänge aufweisen. Bezogen auf die Klänge in der gesamten Arca bedeutet das, dass praktisch keine klanglichen Übereinstimmungen bestehen. Der Zusammenhang der Klangschichten der Sprecher und Sängerinnen ist damit auf den Text beschränkt, was den Text und seine Bedeutung zum zentralen Aspekt des Hölderlin-/Mitologia-Teils macht. Es fällt besonders auf, dass die verständlichen Worte und Teilsätze zur Kurzfassung des Gedichtes werden, wenn man sie zusammenhängend liest. Zusammen mit dem vollständig verständlichen und erweiterten Pindar-Zitat9 erhält der gesamte Text der 2° Isola b seine Bedeutung. Demnach sind Menschen und Götter gleichermaßen an das Schicksal gebunden. Ruhelos und ohne Möglichkeit des eigenen Zutuns schwinden sie, fallen sie ins Ungewisse.
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Die Worte »fratelli infelice« [unglückliche Brüder] sucht man in Pindars 6. Nemeïscher Ode vergeblich.
Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 133
ANALYSE 2° ISOLA C/STASIMO 1° Stasimon bezeichnet eine Form des Chorlieds in der antiken Tragödie. Das Stasimo 1° im Prometeo setzte Cacciari nach der zweiten, der Io gewidmeten Insel und verwandte dazu Auszüge aus Euripides 4. Stasimon der Alkeste1. Für den c-Teil der 2° Isola mit dem Zusatz Stasimo 1° komponierte Nono aber – mit einer Ausnahme2 – daraus nur die italienischen Textteile3 für alle Sänger (Chor und Solisten), ergänzt nur durch die vier Orchestergruppen in einem vergleichsweise kurzen Satz von 64 Takten. Der Kontrast zum vorhergehenden monolithischen Teil ist erheblich: Die Musikergruppen treten in wechselnden Zusammensetzungen, Abfolgen und mit deutlich unterscheidbaren Klangschichten auf, die jeweils mit unterschiedlichen Raumdispositionen verknüpft sind. So kommt es auch zu häufigen Wechseln in der Raumdarstellung. Alle Klangschichten weisen schnelle und teilweise extreme Dynamikwechsel auf. Wieder sind Fermaten bzw. Pausen von einem Takt Länge Gestaltungsmittel der (räumlichen) Stille. Klangschichten Sänger Chor und Solosänger bilden immer eine gemeinsame Klangschicht, sie sind aber nicht immer gleichzeitig besetzt und erfahren zudem jeweils eine eigene (minimale) live-elektronische Behandlung. In der Arca nehmen sie verschieden Orte ein. • Die Solisten bleiben technisch unmodifiziert und werden auf den Lautspre-
chern 3+4 in der Arca rechts abgebildet (T. 36f.). • Der Chor wird immer mikrotonal variiert (je ca. einen Viertelton auf- oder ab-
wärts). • Leise Klänge (pp) erscheinen auf den Lautsprechern 9–12, also im Spalt der
Arca. Laute Klänge (ff) sind auf den Lautsprechern 1, 2, 5+6 in der Arca links hörbar (u. a. T. 47–50). Die drei mittellauten Stellen (p in T. 2–5 und T. 9f. sowie mf+f in T. 15–17) sind in der Aufführungspartitur nicht klar zugeordnet4 und wurden entsprechend der mehrheitlichen Dynamik zugeordnet5.
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Vgl. Jeschke 1997, S. 103. Es handelt sich um ein griechisches Wort »Αιδωσ« [Scham] unter den italienischen Textzeilen des Librettos, das Nono beibehält. Die beiden griechischen Textzeilen komponierte Nono erst im Interludio 1°. Für T. 2–5 sind in der Aufführungspartitur keine Lautsprecher angegeben. Die gesamte Passage ist für den Chor in einfachem piano (p), sodass die Zuordnung für die ppRaumdisposition vermutet wird. T. 9f. ist »L tutt 3+4« vermerkt, was den Chor und die Solisten auf die den Solisten zugeordneten Lautsprecher setzt. T. 15–17 sind LS 3+4 explizit für die Solisten angegeben; aufgrund der höheren Lautstärke insgesamt (die Dynamik wechselt von mf zu
134 | Der komponierte Raum
Orchestergruppen Teilweise abrupte Raum-Klangwechsel finden auch in der Abfolge von Orchesterfragmenten statt. Anders als in der Aufführungspartitur von Haller angegeben, scheint es doch keine Mikrophonierung der Orchestersolisten gegeben zu haben6. Ihr Material ist in drei eigenständige Klangschichten zu unterscheiden; zwei davon haben keine begleitende Funktion: • Kurze und schnelle (meist MM = 152, seltener langsamere) Fragmente, in de-
nen kurze Akzente zu spielen sind (Beispiel T. 1). • Etwas längere, 2–3 Takte umfassenden Fragmente, die den Titel »ricordo
lontanissimo« tragen, aus langen Klängen bestehen und deutlich langsameres Tempo haben. Sie sind gelegentlich von einer rhythmischen zweiten Klangschicht leicht kontrastiert (Beispiel T. 6–8), die leichte Ähnlichkeiten zur ersten Klangschicht zeigt. Wenn die Orchestergruppen die Sänger begleiten, passen sie sich deren Klangschicht an und spielen enger oder etwas weiter variierend deren Material (u.a. Beispiel T. 2–5). Interaktionen zwischen den Klangschichten Wirkliche Interaktionen zwischen den Klangschichten sind selten und nur kurzfristig; es dominiert die zuvor beschriebene fragmentweise Anpassung. Die verschiedenen Materialschichten kehren jeweils wieder und sind trotz der üblichen Klang- und Besetzungsvariationen eindeutig auf die drei Grundcharaktere zurückführbar. Es gibt insofern nur ständige bruchhafte Wechsel in Klang und Raumklang. Abfolgen der Raumklänge Grunddispositionen der Raumklänge sind nicht zu finden. Die schnellen Wechsel der Raumdispositionen sollen hier deshalb mit drei graphischen Beispielen von Abfolgen in der Komposition sowie einem Einzelfragment für die getrennte Raumdisposition der Sängergruppen dargestellt werden.
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f zu mf und endet über decrescendo in Takt 17 pp) erscheint die Raumdisposition der Innenlautsprecher wahrscheinlich. Hallers technische Aufzeichnungen sind teilweise widersprüchlich, deshalb wurde hier nach der sinnvollsten Lösung gesucht. Diese entspricht auch den Angaben Nielinger-Vakils (2015, S. 271), dort ist von den unklaren Stellen jedoch nicht die Rede. Zwar sind dort einige Instrumente rot umkreist, doch sind keine Lautsprecher angegeben – und in Hallers technischen Aufzeichnungen sind die diesbezüglichen Angaben durchgestrichen. Halaphonwege und Orchesterfiguren kommen nicht vor.
Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 135
1. Beispiel: T. 1–8 Drei Fragmente mit verschiedenen Raumdispositionen folgen aufeinander: • Takt 1 (Abbildung 38/1) beginnt mit einem sehr lauten Klang (ff–sfff, fff–sffff
in Orch. 1) in den Orchestergruppen, jeweils von einer leicht variierenden Auswahl Streicher und Bläser ausgeführt. 6–9 Instrumente spielen in jeder Orchestergruppe. • Takt 2–5 (Abbildung 38/2): Das Fragment für Orchestergruppen und Chor ist sehr leise gehalten und unterscheidet sich in klanglicher Hinsicht deutlich. Nur noch drei Instrumente spielen in jeder Orchestergruppe, meist andere als in Takt 1. Die meisten ihrer Töne werden im auch im Chor (ggf. oktaviert) gesungen. Ihre Lautstärke ist ein einfaches piano (p), das den Lautsprechern des Arcaspalts zugerechnet wird (s.o.). • Takt 6–8 (Abbildung 38/3) ist ein neues und extrem leises (ppppp) Klangfragment für die Orchestergruppen 3+4. Nono betitelte es »a) [Ricordo lontanissimo]«. Zu den insgesamt vier Ricordo-lontanissimo-Stellen s.u. »Zusammenfassung und Interpretation«). Abbildung 38/1: 2° Isola c/Stasiomo 1°, T. 1, S. 147
136 | Der komponierte Raum
Abbildung 38/2: 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 2–5, S. 147
Abbildung 38/3: 2° Isola c/Stasiomo 1°, T. 6–8, S. 147
Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 137
2. Beispiel: Ein Fragment (T. 36f.) Hier singen Chor und Solosänger gemeinsam und a capella. Abbildung 39 zeigt die klare räumliche Trennung zwischen beiden Sängergruppen. Abbildung 39: 2° Isola c/Stasimo 1° (T. 36f.)
3. Beispiel: zwei Fragmente (T. 47–50) In nur einem Fragment kommt es dank der stark wechselnden Dynamik des Chors zu mehr Raumdispositionen als eigentlichen Klangwechseln: In T. 47–49 für Chor und alle Orchestergruppen in verschiedener Besetzung und in einer Klangschicht wechselt die Raumausbreitung schnell. Ein Raum-Klangwechsel für die Orchestergruppen erfolgt erst in T. 50: • T. 47: Der Chor singt sehr leise (ppp) und ist daher auf den Lautsprechern im
Arcaspalt zu hören. • T. 48E: In der letzten Zählzeit + 3-Fermate singt der Chor fff und ist daher auf den Innenlautsprechern der Arca disponiert. • T. 49: Der Chor wechselt zu pppp und daher wieder auf die Raumdisposition im Arcaspalt. • T. 50: Die Orchestergruppen mit einem eintaktigen Ricordo lontanissimoFragment.
138 | Der komponierte Raum
Abbildung 40/1: 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 47–48A
Abbildung 40/2: 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 48E
Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 139
Abbildung 40/3: 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 49
Abbildung 40/4: 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 50
140 | Der komponierte Raum
Die Klangschichten bleiben also für sich weitgehend homogen und ohne auffällige gleichzeitige Kontraste; sie wechseln nur im Zeitverlauf. Raumwechsel sind daher sehr häufig. Text-Raum-Klangschichten Trotz der Homogenität der gleichzeitig hörbaren Klangschichten erscheinen sie in unterschiedlichen Dichten, und die Texte der Sänger sind nur teilweise verständlich gesetzt. Nono überlagert den größten Teil der Strophen und lässt einzelne Zeile für eine oder maximal zwei Stimmgruppen im Chor und in den Solostimmen ausführen, sodass jede Verständlichkeit ausgeschlossen ist. Nur wenige Wörter setzt er textsynchron oder unisono: • • • • • • • •
»la placa« [besänftigt sie], T. 15–17, Chor und Solistinnen mf – f – ppp »la placa« [besänftigt sie] T. 19–22, Chor p – fff – pp – o »la piega« [beugt sie] T. 30–34, Solistinnen pp – p – mf – ff –o »ignora« [sie ignoriert] T. 36f., Chor und Solisten ppppp »αιδωσ« [Scham] T. 39f., Chor pppp »inacessa« [unerreichbar] T. 44–49, Chor p – f – p – ff – ppp – fff – pppp »ha« [hält sie] T. 51, Chor und Solisten ff »la cima« [den Gipfel] T. 55–63, Chor Wechsel pp (lang) kurze f+sff
Stille und Pausen Aufgeführt werden nur Stillephasen und Pausen, die länger dauern als einen halben Takt und/oder eine Sekunde (1): • • • • • • • • • • • • •
2. Hälfte T. 1: ca. 2 Pause nach sffff T. 14: (1 Takt = ca. 4) nach ppppp T. 18: (1 Takt = ca. 4) nach ppp vor T. 20: Atemzeichen (im Fragment) in T. 21: Atemzeichen und Fermate T. 22: Pause 6 (nach pp) vor (von ppppp) und nach T. 29 (von ppp) je 3 Fermaten vor T. 35: 5 Fermate, danach 3 Fermate (T. 35 f–fff) zugleich, »senza pausa« nach T. 37: (ppppp) 3 Fermate T. 38: beginnt mit 3 Fermate und 2 Pause; er endet mit 3 Fermaten (von p) nach T. 40: (pppp): 7 Fermate7 nach T. 41: steht ein Atemzeichen nach T. 43: (sff) 7 Fermate
7
Vor T. 41 ist erneut eine 7 Fermate gesetzt. Da es sich um einen Seitenwechsel handelt, ist wohl nicht von einer Doppelung auszugehen.
Analyse 2° Isola c/Stasimo 1° | 141
• vor T. 45: (pp, im Fragment) 3 Fermate • nach T. 48: auf dem letzten Klang 3 Fermate (fff, im Fragment) und Atemzei• • • • •
chen am Ende nach T. 49: Atemzeichen mit Fermate in und nach T. 51: je 4pro Fermate (beide hervorgehoben nach fff) nach T. 52: (pp) einfache Fermate im Fragment T. 54: 1 Takt Pause, d.h. 8 (nach ppp) T. 64 = letzter Takt 7 Fermate
Gemessen an der Gesamtlänge des Stasimo 1°-Teils gibt es also wieder viele Stillephasen. Sie trennen häufig Fragmente voneinander, stehen aber auch in Fragmenten. Die Differenzierung der Stille ergibt sich aus den Kontrasten zur vorherigen Lautstärke; hier erweist sich ihre Differenzierung und die exakte Komposition ihrer Räumlichkeit in Bezug auf den Nachklang (Resonanz) und »echte« Stille. Die scheinbar widersprüchliche Angabe von 3 Fermate mit »senza Pausa« ist erklärbar mit zwei Handschriften: Die Angabe 3 in der Druckfassung der Aufführungspartitur stammt eindeutig nicht von Nono8 und ist wohl Resultat von Aufführungserfahrungen mit der Akustik der Arca. Zusammenfassung und Interpretation Das Stasimo 1° ist ein eher ruhiger Teil, auffällig wechselhaft nur in Bezug auf die Raumdarstellung. Sein abschließender Charakter in seiner Funktion als Stasimon und Ende der 2° Isola wird schon daran deutlich, dass es keine räumliche Klangbewegung gibt. Ricordo lontanissimo-Fragmente Rückgriffe auf eine wiederkehrende Klangschicht der vorigen Teile sind in den vier Ricordo lontanissimo-Fragmenten hörbar. Zum Ursprung dieser Fragmente sind in der musikwissenschaftlichen Literatur verschiedene Theorien zu finden; alle setzten sie in sehr weiträumig verschachtelte Zusammenhänge9. Aus der hier verfolgten Perspektive der Hörwahrnehmung ergibt sich nunmehr ein neuer und näherliegender Bezugspunkt: Er liegt bei den Klangschichten der Solostreicher in den vorangegangenen Teilen, die hier – extrem verkürzt – in den Orchestergruppen erscheinen. Unrhythmisierte lange Klänge spielen die Solostreicher in zunächst recht tiefen, dann aber zunehmend höheren bis extrem hohen Registern
8 9
Die zweite Handschrift ist mehrfach in der Druckfassung zu sehen, wer sie ausführte, ist nicht vermerkt. Jeschke 1997, S. 124–142; Hella Melkert: Luigi Nono. Chorkompositionen aus »Prometeo«, Saarbrücken 2001, S. 180–183 und Nielinger-Vakil 2015, S. 275–28. Alle drei Autorinnen verknüpfen die Ricordo lontanissimi-Stellen des Stasimo 1° mit anderen Stellen aus Prometeo 1984, 1985 und den Fragmenten Io. Prometeo (1980), Zitaten aus Schumanns »Manfred-Akkord« und anderem Klangmaterial.
142 | Der komponierte Raum
in mehreren Teilen des Prometeo. Im Stasimo 1° übernehmen dies mehrere Instrumente aus jeder Orchestergruppe, die jeweils mit Varianten oder anderem Material an anderem Ort begleitet werden: • Ricordo lontanissimo in zwei Teilen T. 6–8 und T. 11–13: Orchester 4 in sehr
hohem Register, dazu im mittleren Register Orchester 3 • Ricordo lontanissimo T. 23f.: T. 23 neues Material Orchester 1, T. 24 Orches-
ter 2 mit Solostreicher-Schicht • Ricordo lontanissimo T. 50: (s. Abb. 40/4) alle Orchestergruppen spielen recht tiefe Register • Ricordo lontanissimo T. 52f.: T. 52 tiefere Register in allen Orchestergruppen, T. 53 gemischte Register in allen Orchestergruppen, dabei je ein Instrument in sehr hohem Register Es entspricht Nonos Kompositionsweise im Prometeo, Töne zwischen Instrumenten auszutauschen oder die Besetzung der Soloinstrumente im folgenden Einsatz der Orchestergruppen zunächst aufzunehmen. Damit schafft er klangliche Varianten oder Verbindungen über Orte und Teile hinaus. Und so ging Nono scheinbar auch hier vor. Die von den genannten Autorinnen hergestellten tiefen semantischen Verbindungen dienen demnach dem über das Hörbare hinausgehenden Verständnis, was ebenso Nonos Kompositionsweise im Prometeo entspricht wie seine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz, die sich aus den zahlreichen Ebenen des Prometeo und ihren Verknüpfungen ergeben. Zu Text und Stille Die verständlichen Texte bleiben rätselhaft, denn es ist unklar, auf wen sich die femininen Formulierungen beziehen. Der Hölderlin-Teil steht zwischen dem IoPrometeo-Teil, die textlichen Bezüge im Ursprungslibretto sind gestrichen und ein anderes Subjekt im femininen Genus ist nicht vorhanden. Also bleibt nur die Beachtung der gesamten dreiteiligen 2° Isola: Das fehlende feminine Subjekt kann dann nur Io sein, die, obwohl Götter und Menschen doch unglücklich schicksalsgebunden ins Ungewisse hinabfallen, ihren Wünschen gemäß besänftigt, aber auch gebeugt und die Scham ignorierend unerreichbar den Gipfel hält. Die großen Dynamiksprünge beim Wort »unerreicht« deuten hier wohl auf Ios Anstrengung, jedenfalls wenn man denn die Musik illustrativ auffassen möchte und noch ihr Gehetztsein und ihre tödliche Erschöpfung in Erinnerung hat. Somit erreicht sie am leise gesungenen Gipfel keine Position der Erhabenheit sondern der letzten Rettung, was den Widerspruch zum Fallen ins Ungewisse abmildert. Die komponierte Stille kann hier in keine weitere interpretative Beziehung gesetzt werden, sie trägt aber sicher zur Atmosphäre der Ruhe bei, die die 2° Isola c/Stasimo 1° auszeichnet.
Analyse Interludio 1° | 143
ANALYSE INTERLUDIO 1° Das durchweg langsame (MM = 30) und sehr leise (pppppp) Interludio 1° für Soloalt und Solobläser kontrastiert wieder zu seinem Vorgängerteil. Nono komponierte die 62 Takte auf verschiedene Textfragmente des Librettos von Cacciari. Neben dem zuvor gestrichenen Anfangsteil des Mitologia Coro (Stasimo 1°) sind es die 4. und 5. Strophe des Maestro del Gioco, die Nono in Teilsätzen getrennt und ineinander verschachtelt hat. Klangschichten/Klangräumlichkeit In der Arca liegen die Platzierungen der Soloaltistin und der Solobläser vergleichsweise nah beieinander. Die Nähe betrifft auch die Klangverläufe und das Register, sodass Interaktionen am Ort entstehen, sei es bei den Musikern oder den Lautsprechern (s.u.). Zudem fand Nono eine ungewöhnliche Form der Raumklanglichkeit. Exklusiv für das Interludio 1° ist auch der völlige Verzicht auf live-elektronische Bearbeitung der Klänge. Sie werden alle lediglich verstärkt und per Lautsprecher in die Arca und gegebenenfalls auch in die Nebenräume gespielt. Soloalt Die Stimme der sehr leise singenden Soloaltistin (pppppp) ist stationär auf alle Lautsprecher (1–12) disponiert und dabei vermutlich etwas lauter ausgesteuert (pppp)1. Solobläser Auch die Bläser bleiben klanglich unbearbeitet, werden aber differenziert in der Arca disponiert und sehr leise ausgesteuert: • LS 1 als stationärer Klang, hier spielen beide Solobläser gleichzeitig • Halaphonweg a) LS 1, 5, 6, 7 • Halaphonweg b) LS 4, 5, 6, 8
Beide Halaphonwege überschneiden sich also, Haller schreibt »langsam überlappend«2. Auffallend an der gesamten Raumdisposition ist die Konzentration der Lautsprecherklänge beider Musikergruppen auf der linken Seite der Arca in der Nähe des Chores, während LS 2, 3, 9, 10, 11+12 nur mit Klängen der Soloaltistin belegt sind.
1 2
Nach Hallers technischen Aufzeichnungen (AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 174) ist das jedoch nicht ganz eindeutig. Ebd.
144 | Der komponierte Raum
Abbildung 41: Interludio 1° Raumdisposition
In der Arca wird der Klang live-elektronisch differenziert, der am Ort seiner Erzeugung wegen der räumlichen Nähe der Soloaltistin und den beiden Solobläsern eine einzige in sich verwobene Klangschicht ist: Fast immer begleitet einer der Solobläser den Soloalt in dem Sinne, dass das Blasinstrument leichte Variationen (z.B. kleine Pausen, etwas länger anhaltende Töne über dem Sängerrhythmus etc.) oder dieselben Töne und Rhythmen, also unisono spielt. Die beiden anderen Solobläser haben gleichzeitig eigene Klangverläufe und/oder pausieren, sodass die Schicht der Solobläser aus wechselnden Einsätzen besteht und nie vollständig pausiert. Eine rhythmische Grundfigur aus Sechzehntel mit angebundener halber Note bestimmt in verschiedenen Variationen den gesamten Teil. Der Klangverlauf in den einzelnen Stimmen hat einen geringen Ambitus und umfasst pro Einsatz nur ca. 1 Sekunde, ist aber meist nur eine Prime. Jedes Instrument/jede Stimme hat eigene Klangeinsätze und Pausen, was dazu führt, dass ein gemeinsames Spiel aller Musiker ausgesprochen selten ist (T. 22, T. 27f., T. 32 [nur über eine Achtelnote], T. 55, T. 60 [nur über eine Achtelnote]). Der gesamte Ambitus ist maximal eine None (»es«–»f1«) über den ganzen Teil. Im Vergleich zu den anderen Teilen mit ihren teilweise extremen Höhen und Tiefen ist dieser Teil also klanglich sehr eng gesetzt und ist rhythmisch vergleichbar eng begrenzt. Stille ist nicht komponiert. Ungewöhnlich ist das Ende des Teils, denn die letzten drei Zählzeiten von T. 62 singt die Soloaltistin a capella.
Analyse Interludio 1° | 145
Interaktionen zwischen den beiden Klangschichten Auffällig sind intervallische Interaktionen: zwischen den eng zusammenliegenden Klangschichten ergeben sich gelegentlich Cluster von einer großen oder kleinen Sekunde. Auch etwas größere Intervallschichtungen kommen vor – etwa bei der Verwebung der Stimmverläufe der Altistin und eines Blasinstruments, meist der Flöte, die dann höhere Töne zu produzieren hat als die Altistin. Das Intervall kann bis zu einer Quart betragen (T. 33), liegt aber eher im Sekundbereich (T. 13, T. 21, T. 22). Eine andere Form der Verwebung besteht im abwechselnden Spiel von Sängerin und Blasinstrument. Hier kommt auch zweimal ein Tritonus vor (T. 18, T. 28), aber auch die Aufnahme des Tons (T. 12) oder dessen Weiterführung (T. 29, T. 39, T. 34 im Abstand einer kleinen Sekunde). Text-Raum-Klangschichten Da die Soloaltistin auf allen Lautsprechern zu hören ist, sollte sie an allen Plätzen trotz der geringen Lautstärke ihres Gesangs hörbar sein. Damit wäre auch der Text verständlich, zumal Nono die Konsonanten immer hervorhebt und überartikulieren lässt. Allerdings hat Nono die verwendeten Texte der verschiedenen Librettoteile in Halbsätze geteilt und sie im Ablauf vermischt, wobei er auch auf die Vertonung einiger Worte verzichtet. Die folgende Liste enthält vertonte Worte und Satzteile sowie solche, die Nono nicht vertonte, aber in die Partitur schrieb3: »Non sperdala« [verliere sie nicht] T. 2–4 »και πλειστων« [und mit vielen] T. 7–9 »questa« [diese/welche] T. 10–12 »debole messianische Kraft« [schwache messianische Kraft], T. 15–18 »αψαμενοσ λογων« [Lehren habe ich mich befasst] T. 19–22+24f. »non a noi soli« [nicht an uns allein] T. 27–30 (gestrichen: apparentiene) »κρεισσον« [mächtiger] T. 32f. »resiste … l’eco« [überdauert im Echo], T. 38–41 (gestrichen: nelle voci) »… silenzi trascorsi« [vergangenen Stillen] T. 44–47 (gestrichen: dei) »ουδεν« [nichts] T. 50–52 »… attimo« [Augenblick] T. 54–55 (gestrichen: cosi questa debole forza soregge quest’) • »Αναγκας ηυρον« [als Ananke fand ich] T. 59–62 • • • • • • • • • • •
Die verständlichen Worte sind damit überwiegend italienische Textteile, die zum größten Teil schon in den vorangegangenen Teilen des Prometeo zu hören gewe-
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Einige Worte und Satzteile des Librettos hat Nono damit nicht berücksichtigt. Sie sind hier nicht angegeben.
146 | Der komponierte Raum
sen waren4, einige davon sogar mehrfach. Nur die letzten vier Zeilen (9–12) bestehen aus bisher nicht verwendeten Worten. Neu ist auch eine griechische Textzeile, die übersetzt lautet: »und mit vielen Lehren habe ich mich befasst, mächtiger nichts als Ananke fand ich«. Den Zusammenhang dürften Hörer mit griechischer Sprachkenntnis erfasst haben – und konnten damit das in der Ananke personifizierte Schicksal als größte Macht identifizieren. Zusammenfassung und Interpretation Die Betrachtung der Lautsprecherdisposition ergibt eine deutlich geringere Präsenz der Solobläser gegenüber dem Soloalt. Nur ein Lautsprecher (LS 1) überträgt die Klänge der Solobläser konstant, die anderen (LS 2–8) sind immer nur temporär im Verlauf des Halaphonwegs aktiv, während die Stimme der Altistin auf allen Lautsprechern (LS 1–12) zu hören ist. Dass die Lautsprecherdisposition trotz der klanglichen Nähe eine räumliche ›Lücke‹ lässt, die die Schicht der Altistin frei stehen lässt, kann eigentlich nur mit der Absicht Nonos erklärt werden, die Verständlichkeit der Texte zu garantieren – so weit das bei der extrem geringen Lautstärke möglich ist. Damit rücken die verständlichen Worte in den Mittelpunkt. Auffällig daran ist, dass ihre Abfolge keinen eigenen Sinn ergibt. Nono hat scheinbar einfach jeweils die Zeilen aus dem antiken griechischen und dem Vers aus Cacciaris modernen Text abwechselnd gesetzt. Die Erklärung dafür könnte in Jürg Stenzls Hinweis zu finden sein, wonach Nono das Interludio 1° als Achse und Nadelöhr zu den nachfolgenden Teilen des »neuen Prometheus« bezeichnet hatte5. Darin – das sei kurz vor Beginn von deren Analyse vorweggenommen – erweiterten Nono und Cacciari die bisherige Thematik auf Basis der antiken und modernen Texte und führten sie mit ihrer eigenen Perspektive fort. Die Metapher »Nadelöhr« wäre dann in dem engen Ambitus und im gemeinsamen Tonraum aller Musiker zu finden, während die Metapher »Achse« in der Trennung der (vermutlich zentralen) Worte aus den vorangegangenen Teilen des Prometeo und den nachfolgenden Teilen dargestellt ist. Das Interludio 1°wird demnach zum Bindeglied zwischen beiden, wegen ihrer unterschiedlichen Länge nicht symmetrisch angelegten, Hauptteilen (vgl. Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«).
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Eine Ausnahme bildet in der 4. Zeile das von Nono bisher nicht verwendete deutsche attributive Adjektiv »messianische«. Es stammt aus dem Originaltext von Benjamin (s. Kapitel »Analyse Prologo«) und steht dort als »schwache messianische Kraft« (Benjamin 2015, II, S. 142). Cacciari hat hier also lediglich das Zitat vollständig verwendet, das er vorher schon gekürzt verwendet hat. Jürg Stenzl, 1998, S. 111. Stenzl gibt aber keinen Hinweis darauf, wo Nono dies geäußert hat. Denkbar ist, dass dies in dem persönlichen Gespräch zwischen ihm und Nono im Oktober 1984 in Freiburg gewesen ist, in dem beide die ›Schwachstellen‹ der Prometeo-Version von 1984 besprachen (ALN 51.68.02/01).
Analyse 3 voci a | 147
ANALYSE 3 VOCI A Drei Stimmen – drei Strophen: am Ausgang des ›Nadelöhrs‹ komponierte Nono die 7.-9. Strophe des Maestro del Gioco in drei verschiedenen »akustischen Ebenen«1, die jeweils spezifisch live-elektronisch und teilweise stark verfremdet überlagert werden und klar getrennte räumliche Zuordnungen haben: Solosänger, Violinen der Orchestergruppen und Euphonium (der Solobläser). Hinzu kommt eine intermittierende Klangschicht der beiden anderen Solobläser mit wenigen kurzen Fragmenten, und gelegentlich spielen auch die Gläser. Raumdisposition/Klangschichten 3 voci a ist ein kompakter Teil mit 139 Takten; zwei seiner Klangschichten sind praktisch kontinuierlich hörbar. So gibt es nur eine grundständige Raumdisposition der Klangschichten, die aber im Verlauf des Teils entsprechend der musikalischen Einsätze erscheint. Klangschicht 1: Solosänger Die Singstimmen haben drei unterschiedliche Stimmverläufe für Sopran, Alt und Tenor. Die gesamte Solosänger-Klangschicht wird live-elektronisch um 5 verzögert und stationär mit den LS 2, 4, 6, 8 übertragen. Ihr Spezifikum ist die Konzentration auf das mittlere Register des Tonraums sowie gelegentlich Achtelnoten, die durch die Verzögerung in der live-elektronischen Variante quasi verdoppelt werden. Die Dynamik verläuft zwischen ppppp und mf, ungeachtet der Dichteunterschiede bei den Intervallschichtungen der drei Singstimmen, die immer oberhalb einer Sekunde liegen. Wie bisher im Prometeo üblich, ist der Textverlauf unisono, vokal-unterlegt oder im Hoquetus. Hinzu kommen einige stumme Worte. Klangschicht 2: Violinen der Orchestergruppen Sie spielen durchgehende lange und hohe Töne und bleiben ohne elektronische Behandlung. Dynamik und Besetzungsdichte steigen im Verlauf von 3 voci a an und später wieder ab. Klangschicht 3: Euphonium Das Euphonium spielt im Original relativ leise, lang andauernde und unrhythmisierte Doppelgriffe (Quint), deren Tonhöhe gelegentlich wechselt. Diese Klänge werden komplex bearbeitet und dafür in zwei Klangwege (a+b) getrennt: 1
Nono schreibt auf S. 164 der Partitur: »Non unificali 3 piani acustici diversi: a) i 3 soli: fare […; nicht lesbar: electroni?], b) Euphonium, c) archi sempre pppp«.
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a) Transpositionen in tiefere Frequenzen in zwei Schaltwegen: 1.) Absenkung – eine Quinte 2.) Absenkung – 2 Quinten (= None) Beide Transpositionen werden 4 verzögert und mit dem Halaphon auf den Weg LS 8, 6, 4, 2 gegeben. b) Der unbearbeitete Klang wird nach einer Verzögerung von 8 mit dem Halaphon auf den Lautsprecherweg LS 1, 3, 5, 7 gegeben. Beide Halaphonwege werden langsam und überlappend mit 80 % Lautstärke ausgeführt. Abbildung 42: 3 voci a, T. 8f. (S. 165)
Intermittierende Klangschicht: Solobassflöte und Solobassklarinette Bassklarinette und Bassflöte spielen nur neun Fragmente, die jeweils 1–6 Takte dauern (meist drei Takte); ihre Klänge sind unverändert auf LS 1 zu hören2. 7 der 9 Einsätze sind ganz oder teilweise mit »ricordo eco lontana« betitelt und bestehen jeweils aus langen pulshaften Einzelklängen.
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Die Angaben folgen den expliziten Aufzeichnungen der Aufführungspartitur; Hallers externe technische Aufzeichnungen sind teilweise etwas anders.
Analyse 3 voci a | 149
Gläser Die Gläser spielen nur, wenn auch die Sänger einen Einsatz haben, allerdings nicht bei jedem der Sängereinsätze. Sie werden stark live-elektronisch bearbeitet: fast 2 Oktaven (ca. 23 Halbtöne = 1 Oktave + große Septime) tiefer transponiert, mit einem Extremhall (300000 m3 Raumvolumen) von 15 Dauer versehen und anschließend stationär auf die LS 9, 10, 11, 12, also in den Arcaspalt, übertragen3. Klanglich gehören sie daher zum Euphonium (vgl. Animation 6). Abbildung 43: 3 voci a, T. 110, S. 179
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In der Aufführungspartitur ist keine Einzeichnung vorhanden – und Hallers technischen Aufzeichnungen (AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 174) sind widersprüchlich. Ein rot gezeichneter Strich, der auf dem linken Blatt beginnt und mit angefügtem schwarzem Kugelschreiberstrich sowie einem Pfeil in Hallers externen Aufzeichnungen auf dem rechten Blatt endet, weist darauf, dass auch die Violinen der Orchestergruppen mit einem Extremhall von 15 Dauer zu versehen sind. Da die Orchestergruppen aber nur mit einem Mikrophon pro Orchester ausgestattet waren, ist das schwer vorstellbar. Die weiteren Einzeichnungen Hallers mit schwarzem Kugelschreiber deuten darauf, dass zumindest einmal probiert und geplant gewesen sein könnte, die Schicht der Violinen mit der Klangschicht der Gläser zu verbinden. Der genaue Verlauf der Schaltwege und Eintragungen ergibt jedoch nur einen Sinn in Kombination mit einer definitiv gestrichenen Schaltung. Am wahrscheinlichsten scheint daher, dass der Extremhall von 15 Dauer nur die Gläser betrifft. Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, dass auf dem Deckblatt von Hallers externen 3 voci a-Einstellungen mit den wichtigsten technischen Einstellungen die Mikrophone der Violinen nicht aufgeführt sind.
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Klangschichten und ihre Interaktionen im Verlauf Die drei von Nono genannten akustischen Ebenen der Sänger, der Orchesterviolinen und des Euphoniums sind auch klanglich voneinander getrennt: Violinen – sehr hohes Register und konstante Lautstärke pppp; Euphonium – sehr tiefes Register und große, kontinuierlich verlaufende Dynamikwechsel; Sänger – mittleres Register und leichte Dynamik von ppppp bis mf. Interaktionen finden nur in Bezug auf den dynamischen Verlauf der elektronisch bearbeiteten EuphoniumKlangschicht statt und sind auf die instrumentalen Schichten beschränkt. Euphonium Das Euphonium spielt fast kontinuierlich. Denn obwohl es mehr Pausentakte hat als die Schicht der Sänger und auch die genau zeitangegebenen Fermaten einhält, ist sein Klang wegen der langen Verzögerungen bis auf zwei Ausnahmen4 über die Halaphonwege zu hören, wenn das Euphonium selbst nicht spielt – und umgekehrt. nach der Fermate oder den Pausentakten beginnen die Halaphonwege der elektronisch stark verfremdeten und nun extrem geräuschhaften und sehr tiefen Klänge5 erst mit den angegebenen Verzögerungen. Über den gesamten Verlauf bilden sich daher raumklangliche Varianten. Die intermittierende Klangschicht der Bassflöte und der Bassklarinette passt sich am Anfang der Dynamik der elektronischen Euphoniumsschicht an. Dynamikverlauf des Euphoniums Zu Beginn ist in der Partitur ppppp für das Euphonium angegeben (T. 4). Der nächste Eintrag »p« ist mit Bleistift in T. 17 in das System des Euphoniums eingetragen. Der folgende Eintrag des kontinuierlichen Dynamikverlaufs steht mit Bleistift am Kopf der Aufführungspartitur (=AP und ist durchgehend mit langzeitlichen Crescendo- und Decrescendo-Linien dargestellt)6. Er wurde auf die Partiturausgabe übertragen und verläuft dort S. 168–181. Ohne genaue Angabe zur Lautstärke verläuft die Dynamik (ab T. 29, S. 168) schnell zu sehr hoher Lautstärke (ffff mit Bezeichnung »massimo«, T. 40, S. 169). In T. 50 (S. 171) ist fffff angegeben. Diese Lautstärkeangabe erscheint letztmalig über T. 64 (S. 173). Bis Takt T. 74 (S. 174) verläuft ein Decrescendo zu ff, das bis T. 78 (S. 175) stabil bleibt und dann weitergeht: T. 84 (S. 175) ist ein einfaches Forte (f) erreicht, T. 90 (S. 176) mf, T. 98 (S. 177) p, T. 105 (S. 178) pp, T. 112 (S. 179) ppp, T. 126 (S. 181) ppppp. Bis T. 135 wird das Euphonium noch spielen, wobei ab T. 127 zunehmend Pausen vorkommen. Es ist also ein langsamer Prozess des
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6
S.u. Abschnitt: Stille und Fermaten. Der Bezug ist nicht in den technischen Aufzeichnungen Hallers angegeben, sondern wird im Vergleich mit der Freiburger CD-Aufnahme (Col legno 2003) sowie Klangund Verlaufsbeschreibungen von Nielinger-Vakil (2015, S. 290f.) deutlich. AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 8.
Analyse 3 voci a | 151
Ausblendens bis 3 voci a in T. 139 endet. Alle instrumentalen Klangschichten sind diesem Dynamikverlauf spezifisch angepasst. Violinen der Orchestergruppen Die Violinen der Orchestergruppen spielen kontinuierlich und immer sehr leise (ppppp). Ihre Besetzungsdichte steigt entlang der Lautstärkezunahme der elektronischen Euphoniumsschicht. Bis T. 35 steigt die Zahl der Streicher auf 9 Violinen, die an wechselnden Orten und in wechselnder Auswahl bis T. 67 (S. 173) spielen. Dann beginnt parallel zur abnehmenden Lautstärke der elektronischen Euphoniumsschicht auch der Abbau der Verdichtung bei den Orchesterviolinen. In der räumlichen Präsenz ist das Spiel der Orchesterviolinen unregelmäßig. Gelegentlich hat eine Orchestergruppe keinen Einsatz und es gibt abwechselndes Spiel über längere Taktabschnitte, ähnlich den Orchesterfiguren. Die Violinen spielen immer Töne im sehr hohen und allerhöchsten Register und fast immer in zwei verschiedenen Oktaven, was den Klang voller macht, wenn die beiden Oktaven an einem Ort erklingen. Das ist jedoch nicht immer der Fall, es treten mithin an verschiedenen Orten jeweils andere Oktaven auf, was den ›vollen‹ hohen Klang räumlich spaltet und die Klangfarben als solche räumlich beweglich hält. In Abbildung 44 von T. 39–41 sowie in der Animation 6 von T. 41–46 sind solche Wechsel enthalten. Abbildung 44: 3 voci a, T. 39–41
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Der Wechsel der Violinen in den vier Orchestergruppen ist in Animation 6 genauer abgebildet. Das Crescendo von sehr lauter (ffff) zur extrem hoher Lautstärke (fffff) in der Klangschicht des Euphoniums ist in den größer werdenden braunen Kugeln der Halaphonwege abgebildet und die räumliche Wirkung ist unruhiges Kreisen in der Arca sichtbar. In diesem Ausschnitt von 3 voci a ist die klangliche Dominanz der Euphoniumsschicht unverkennbar. Dies führt nicht zu einer vollständigen Überlagerung der beiden anderen, sich weniger räumlich ändernden Klangschichten der leise singenden (p bis ppp) Solosänger (blau) und der sehr leise spielenden Violinen der Orchestergruppen (gelb). Für die sehr tief transponierten, aber nur leise nachhallenden Gläser wurde wegen der programmbedingten farblichen Überlagerungen darauf verzichtet, eine graphische Verbindung zwischen den LS 9–12 der Gläser herzustellen. Stattdessen sind die Lautsprecher etwas stärker eingefärbt. Animation 6: 3 voci a, T. 41-46
Bassflöte und Bassklarinette – Ricordo eco lontano Die Lautstärken der Einsätze von Bassflöte und der Bassklarinette wurden ebenfalls nachträglich erhöht und mit Farb- oder Bleistift in die Partitur eingezeichnet. T. 52–54 ist ff für sie eingezeichnet, T. 65–67 fff in Überschreibung von ppp, T. 75–79 ist die neue Dynamik ff und mf für die beiden Pulsverläufe, T. 84f. nur noch mf, T. 90f. mp. In diesen Bereichen geht die Lautstärke niemals über die der elektronischen Euphoniumsklänge hinaus. Bedenkt man, dass diese aber über zwei Halaphonwege verlaufen, wird klar, dass die Bassflöten- und Bassklarinettenklänge zunehmend deutlicher und dominanter im gesamten Klangbild werden und T. 108–110, wie bereits in der Partitur notiert, die stärkste Klangschicht sind, weil zu diesem Zeitpunkt die Schicht der Orchesterviolinen bereits sehr ausgedünnt ist. Trotz der nur vereinzelten Einsätze der Klangschicht ist ein Verlauf über den ganzen Teil hinweg feststellbar. Er beginnt mit dem anfänglichen Cluster von einer kleinen Sekunde, der sich im Verlauf von 3 voci a zu verschiedenen größeren Intervallen und verschiedenen Klangfarben ausweitet, die wie zuvor besonders für die Bassflöte, gelegentlich aber auch für die Bassklarinette, nur unklar definiert sind. In den sieben Ricordo eco lontana-Fragmenten sind Bezugspunkte einerseits zu den Solobläser-Pulsen der vorherigen Teile (z.B. 2° Isola a) und andererseits in der direkten Abfolge der Fragmente feststellbar. Anfangs geht es um Quart- und besonders Quintklänge als Doppelklänge beider Solobläser (T. 15f.), später um eine kleine Septime zwischen beiden (T. 34) und in Takt 52–54, dem 3° Ricordo eco lontana um kleine Sekunden-Cluster von beiden Solobläsern. Die kleine Sekunden-Cluster spielte vor dem 2° Ricordo eco lontana Takt 32–34
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schon die Bassflöte allein, in Takt 52–54 kommt also die Bassklarinette hinzu. Der weitere Verlauf der Klangschicht der beiden Solobläser ist ähnlich: sofern ein neues Intervall gespielt wird, bezieht sich das folgende Ricordo eco lontanaFragment darauf. Die folgende Serie aus drei Graphiken zeigt (Abbildungen 45/1–3: 3 voci a, T. 52–54, S. 171) zeigt die Stelle in 3 voci a, an der das Euphonium für einen Moment aussetzt. Nur noch dessen zwei Halaphonwege bleiben über T. 52 erhalten, weil sie mit 4resp. Verzögerung noch etwas nachklingen und nacheinander enden7. Sie überblenden damit leicht den Ricordo eco lontano-Einsatz der Bassflöte und -klarinette, die im folgenden Fragment T. 53f. zunehmend in den Vordergrund treten. Abbildung 45/1: 3 voci a, T. 52
7
Dies ist aus dem Tempo von MM = 30 für die beiden Fragmente T. 52 und T. 53f. errechnet.
154 | Der komponierte Raum
Abbildung 45/2: 3 voci a, T. 53
Abbildung 45/3: 3 voci a, T. 54
Insgesamt werden die recht kurzen, nicht durchlaufenden Fragmente der beiden Solobläser zu einer eigenständigen Klangschicht, die sich gelegentlich mit dem Einsatz der Sänger abwechselt, ohne dass eine Regelmäßigkeit und damit eine Interaktion daraus ableitbar wären.
Analyse 3 voci a | 155
Text der Sänger-Klangschicht Der Text der Sänger ist durchgehend ortsverständlich. Zwar hat Cacciari die 7.– 9. Strophe des Maestro del Gioco wohl weitgehend selbst verfasst, doch er nahm darin auch einige Begriffe aus Benjamins Text auf und führte sie in neuen Gedankengängen fort. Davon wiederum verwandte Nono einige Zeilen und baute sie zu einem fortlaufenden Text um, der immer ortsverständlich bei den Solosängern ist und wegen der statischen Übertragung vermutlich auch an den Lautsprecherorten. Sie singen immer sehr leise, von ppppp bis maximal mf, wobei die sehr leisen Takte überwiegen, auch während der extrem lauten Takte des Euphoniums.
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»Ascolta« [Höre] T. 1–3 »Cogli quest’attimo« [Ergreife diesen Augenblick] T. 4–8 »Balena un istante« [er blitzt einen Moment lang auf] T. 9–11 »Un batter del ciglio« [einen Wimpernschlag] T. 12–15 »Un istante«8 [einen Moment] T. 16–20 »Non dire dell’ieri« [Sprich nicht von Gestern] T. 22–25 »Oggi il sole lancia il laccio del alba« [heute wirft die Sonne das Band des Morgenrots] T. 26–33 »Oggi … sole … alba«9 [heute … Sonne … Morgenrot] T. 35–38 »Qui vibrano intense segrete« [hier schwingen geheime Verabredungen], T. 39–46 »Al colmo del pericolo« [auf dem Gipfel der Gefahr] T. 48–51 »… Deserto« [Wüste] T. 53f. still davor: »al centro del« [im Zentrum der] »stendi le ali« [breite die Flügel aus] T. 55–58 »…intesa segreta« [geheime Verabredung] T. 59–62, still davor: »fache il fiato l’…« [mach, dass das Band] »trascini« [mitreißt] T. 62–64 »irrompono angeli … a volte … angeli« [Es dringen Engel ein … manchmal … Engel] T. 68–77 »… cristallo …« [Kristall] T. 81f. | still: »nel …« [in das] »del mattino« [des Morgens] T. 87–91 »battono ali di porpora« [sie schlagen mit purpurnen Flügeln] T. 92–99 »… misura del tempo si colma« [erfüllt sich das Maß der Zeit] T. 100–107 | still: »qui« [hier] »Ascolta« [höre] dreimal gesungen, T. 112–123
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Nono schreibt dazu: »Eco« [Echo], an den Noten ist ein solches aber nicht erkennbar. Nono schreibt »Eco« [Echo]am Beginn des Fragments.
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Stille und Fermaten An vielen, aber nicht allen Fragmentgrenzen sind Fermaten mit genauen Zeitangaben gesetzt, einige davon sind genau über dem letzten Ton der Sänger, andere über einem Atemzeichen. Einige Fermaten befinden sich innerhalb von Takten. Anders als in den vorangegangenen Teilen des Prometeo sind aber keine Fermaten über den Noten der parallelen Klangschichten gesetzt, sodass möglicherweise die Fermaten nur den Sängern gelten und die anderen Musiker länger spielen: • • • • • • • • • • • •
T. 1f.: 3, 1, 5, 2 in Textverlauf a capella »ascolta« T. 9: 5 über Note T. 25: 3 an Fragmentgrenze T. 38: 3 an Fragmentgrenze T. 54; 5 an Fragmentgrenze (Pause für Euphonium und Geräuschschicht) T. 58: einfache Fermate über Note und 2 an Fragmentgrenze T. 62: 3 in Takt an Textgrenze T. 74: 1 mit Atemzeichen an Taktgrenze (erst ca. 2 nach der Fermate endet der Halaphonweg der Geräuschschicht/Euphonium) T. 89: 7 über Note T. 95: 2 an Fragmentgrenze T. 99: 5 an Fragmentgrenze T. 115: 2 an Fragmentgrenze
Wegen der langen Verzögerungen und Nachhallzeiten der live-elektronischen Varianten kommt es aber wohl nie zu Momenten absoluter Stille. Zusammenfassung und Interpretation Die drei namensgebenden Stimmen des 3 voci a-Teils, Sänger10, Euphonium und die Violinen der Orchestergruppen werden durch die intermittierende Klangschicht der Bassflöte und der Bassklarinette ergänzt. Diese Klangschicht ist mit ihren neun Einsätzen ebenfalls an der Zahl 3 orientiert (3 x 3= 9) und verweist in den Ricordo-eco-lontana-Fragmenten auf vorhergehende Teile des Prometeo. Auch die Klangschicht der Streicher weist starke Ähnlichkeiten zu vorhergehenden Teilen des Prometeo auf und ist als eine Weiterführung der OrgelpunktKlangschicht zu erkennen, die seit dem Prologo immer wieder – in Varianten – komponiert war. Hier erscheint sie in extrem hoher Tonlage sowie im Raum und ist in der Klangdichte und der Färbung zwar variabel, aber praktisch durchgehend hörbar. Ihre extrem hohe Tonlage scheint das akustische Warnsignal zu sein, das die Thematik der Gefahr im Text (s.o.) illustriert11, so wie Nono dies
10 Ihrerseits in drei Stimmhöhen Sopran, Alt und Tenor komponiert. 11 Z.B. »am Gipfel der Gefahr«, T. 48–51.
Analyse 3 voci a | 157
theoretisch fundierte. Insofern reichte ihm die Ortsverständlichkeit der Solosänger offenbar aus. An anderen Stellen sind solche Klangillustrationen bzw. Klanginterpretation des Textes ebenfalls auffindbar, wie etwa die im Vergleich zu den umgebenden Takten ungewöhnlich schnelle, deutlich lautere und rhythmischere Komposition des Wortes »balena« [blitzt auf] in T. 9. Weitere den Text interpretierende leichte Dynamikunterschiede (z. B. crescendo auf »sole« [Sonne] T. 27f.) oder illustrative Stimmverteilungen wie der Texthoquetus auf »irrompono« [brechen ein] in T. 68f. unterstreichen die besondere Rolle des Textes zumindest für die Klangschicht der Sänger. Die interpretative Funktion der Klangschicht des Euphoniums und dessen tief transponierter und geschichteter elektronischer Bearbeitung ist dagegen nicht unmittelbar aus dem komponierten Libretto ablesbar. Nono scheint stattdessen gleichzeitig das Ende der Aischylos-Tragödie und Benjamins 9. These klanglich zu illustrieren: Die antike Tragödie endet im Untergang der Welt: Ein »mächtiges Tosen in der Luft; Erdbeben«12 ist kurz vor dem Ende notiert und Prometheus kommentiert dies in seinem letzten Monolog, bevor auch sein Felsen im Abgrund verschwindet. »… Es erbebet die Erd, und es zuckt und es zischt wild, Blitz auf Blitz, sein Flammengeschoß, aufwirbeln den Staub Windstöße; daher rast allseits Sturm…«13. Benjamins 9. These ist noch präziser: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und ist so stark, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, 14 was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Fasst man die geräuschhafte elektronische Euphonium-Schichtung als Sturm auf, der pausenlos durch 3 voci a fegt, dabei die Erinnerung zertrümmert und sie durcheinander wirbelt wie die sieben Ricordo eco lontano-Stellen der beiden So-
12 http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-gefesselte-prometheus-4499/3 [28.10.2019]. 13 Ebd. 14 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte; in: ders.: Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 2015, S. 146. Auch Nielinger-Vakil zieht diese Parallele und bezeichnet die stark geräuschhaften elektronischen Schichtklänge des Euphoniums als »Sturm«, zitiert aber nur Benjamins 9. These. Erinnert sei hier, dass im zweiten Vers des Maestro del Gioco bereits davon die Rede war, dass Engel das Zerschlagenen zusammenzufügen wissen (vgl. Prologo).
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lobläser, wäre diese Klangschicht illustrativ zu verstehen. Sie ist der zentralen Thematik des 3 voci a-Teils aber nur unterlegt, und Nonos Textauswahl, -neuanordnung und -komposition baut darauf auf, wenn sie fordert, die Flügel im Moment höchster Gefahr auszubreiten und sich von den geheimen Verabredungen mitreißen zu lassen. Der Text, den die Sänger in den lautesten Phasen des Sturms (vor T. 30–64) vortragen, lautet in übersetzter Abfolge der komponierten Worte: »Heute wirft die Sonne das Band des Morgenrots. Hier schwingen geheime Verabredungen. Auf dem Gipfel der Gefahr, der Wüste, breite die Flügel aus; [die] geheime Verabredung reißt [Dich] mit.« Das Thema des sich-Fortbewegens ist neu für die Figur des Prometeo und steht hier in Verbindung mit Aktivität: Der Sturm reißt nur mit selbst ausgebreiteten Flügeln mit. Und mit dem sich abschwächenden Sturm beginnt keineswegs eine idyllische Zeit im friedlichen Morgenrot, denn auch das ist durch gelegentliche Störung durch Engel gekennzeichnet. Es sind aktive, aggressive Figuren, die mit purpurnen Flügeln schlagen und sich damit völlig gegensätzlich zum getriebenen, schockstarren Angelus Novus in Benjamins Text verhalten. Der aggressive Moment ist zeitlos (»es erfüllt sich das Maß der Zeit«, T. 100–107), wiederholt sich, ist ewig. Im Aspekt der Wiederholung und der Endlosigkeit ist die aggressive Störung mit der Strafe des Prometheus vergleichbar. Nonos und Cacciaris Prometeo-Figur ist aber bei aller Abhängigkeit von äußeren Angriffen durch Engel mit purpurnen Flügeln oder das Schicksal nicht vollkommen zu Inaktivität verurteilt: Auf dem Höhepunkt der Gefahr, der Wüste, ist das Ausbreiten der Flügel seine aktive Handlung – ganz hilflos den stärkeren Mächten ist Prometeo daher nicht ausgeliefert. Die Aktivität des Prometeo, das Ausbreiten der Flügel, ist zugleich ein Akt des Widerstands wie des Weiterkommens. Erst mit den gegen den Sturm gebreiteten Flügeln wird er von ihm fortgetragen und entkommt ihm und seiner Verwüstung (Ricordo eco lontano-Fragmente). Diese Fortbewegung ist zwar lebensrettend im Gegensatz zum Stillstand, aber nicht gefahrlos. Am Ende erweist sich also der Text zusammen mit der klanglichen Deutung in allen Klangschichten als tragend.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 159
ANALYSE 3°–4°–5° ISOLA In diesem 226 Takte umfassenden Teil des Prometeo kommt wieder das ganze Ensemble zum Einsatz – allerdings selten im Tutti, sondern meist in zurückgenommener, wenig dichter klanglicher Textur und in vielen feinen raumklanglichen Differenzierungen. Spieltechnisch und live-elektronisch ist die 3°–4°–5°Isola deutlich herausfordernder als alle anderen Teile des Prometeo. Die hier erstmals eingesetzte live-elektronische Klangsynthese der Gate-Steuerungen erfordert einen extrem hohen Technikaufwand und gleichzeitig besondere Leistungen der Musiker, die als steuernde Instrumente mit ihrer Lautstärke den Klang der gesteuerten Instrumente gestalten. Am Ende dieser Verkettung wird der resultierende Klang in die Arca übertragen, während der steuernde Klang am Ort bleibt1. In Cacciaris Libretto sind die 3°, 4° und 5° Isola einzelne, unverbundene Teile, die jeweils aus mehreren parallelen Textebenen bestehen. Für 3°–4°–5° Isola fragmentierte Nono die Texte nicht nur, er ordnete sie auch zu diesem einen Teil vollständig neu an, wobei er so häufig wie nie zuvor Zeilen strich2 und wieder stumme Texte verwandte3. Die resultierende Abfolge der Fragmente ist unregelmäßig, denn Nono reihte auch Fragmente aus einer Insel aneinander und hob dabei die ursprüngliche Reihung auf. In dieser Anordnung ist jedoch ein fortlaufender Sinn zu erkennen, der nicht nur aus dem Kontrast der Textebenen entsteht, wie es etwa im Prologo der Fall ist. Dieser Eindruck wird durch die häufige, aber zugleich wenig spezifische raumklangliche Trennung der einzelnen Textherkünfte und -ebenen verstärkt: Es gibt zwar zu jeder der drei Isole Spezifika in Bezug auf Besetzung, Komposition und Raumklang, doch im Verlauf der insgesamt 26 Technikziffern für die 3°–4°– 5° Isola erweisen sie sich nicht als exklusiv, weil mehrfach Raum- und Klangaspekte anderer Isole übernommen werden. Es findet also auf der raumklanglichen Ebene eine teilweise Nivellierung der Kontraste statt. Raumklangliche Kontraste stellen jedoch immer die textlosen Eco lontano-Fragmente des Chors und (meist) der Orchestergruppen dar. Die folgende Bezifferung und die Taktzahlen beziehen sich auf die Angaben in der Aufführungspartitur, wo jedoch mehrfach einige Takte fehlen (vgl. Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«). Die Angaben der Technikziffern (Ziff.) folgen Hallers technischen Aufzeichnungen respektive der ermittelten Konkordanz.
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Zur weiteren Information s.u. (Pust- und Bogengeräusch sowie Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«. Dies wird im Kapitel »Werkstatt Libretto« genauer dargelegt. Gelegentlich gibt Nono ganze Textzeilen und deren Ursprungs-Isola an, komponierte aber nur einige Worte für die Sänger.
160 | Der komponierte Raum
Grundformen der Raumdisposition Um der Nivellierung der raumklanglichen Differenzen gerecht zu werden, werden hier für die Isole gestufte Angaben zur Grunddisposition gemacht und zu den Spezifika auch die relativ häufigen oder seltenen Übernahmen aus anderen Isole genannt. Die graphische Darstellung gilt jeweils einem ausgewählten Fragment. 3° Isola Besetzung Solosängerinnen (SSAA) Solobläser Solostreicher Orchestergruppen In allen elf Einsätzen der 3° Isola kommen Gate-Steuerungen zum Einsatz, bei denen Soloinstrumente die Dynamik der Sänger steuern, gelegentlich auch zusätzlich ein anderes Instrument, was selbst nicht steuert (in Ziff. 39: T. 71–71; Ziff. 41: T. 111–118; Ziff. 50: T. 213–220; Ziff. 54: T. 259–262). Nur in Ziff. 41 wird der gesteuerte Klang mit dem Halaphon in die Arca getragen, hier sogar mit zwei verschiedenen parallelen Zickzack-Wegen, die jeweils von den Klängen eines steuernden und zwei gesteuerten Musikern (Stimme + Instrument) ausgeführt werden. Solosängerinnen und Solomusiker spielen überwiegend im mittleren Register, mit wechselnder rhythmischer Struktur4 und nur einmal kommen Pust- und Streichgeräusche (s.u.) vor (Ziff. 35: T. 36–41); sie werden hier aber nicht zur Gate-Steuerung eingesetzt. Die statischen Klängen der Orchestergruppen – sehr lange Töne der Streicher und eines Blasinstruments hauptsächlich im hohen Frequenzbereich – sind nicht nur eine variierte Fortsetzung aus dem 3 voci a-Teil, sondern auch eine Variation der Orgelpunkt-Klangschicht, die im Prologo erstmals erschien. Die anderen sieben Einsätze der gesteuerten Klänge in der 3° Isola werden nur statisch über Lautsprecher in die Arca projiziert. Dabei kommt es ebenso zu zahlreichen Varianten wie bei der Wahl der steuernden Instrumente und gesteuerten Sänger: alle Solostreicher und Solobläser steuern die Stimmen der Sängerinnen einzeln oder in 2er-Verbindung. Es scheint, als würden Kombinationen von steuernden und gesteuerten Musikern einzeln durchgegangen wie in doppelter oder gleichzeitiger Kombination. Die »Raumbilder« der verwendeten Lautsprecher sind ebenfalls vielfältig variiert, nur zweimal sind Doppelungen in der Lautsprecherdisposition zu entdecken: Ziff. 35 (T. 36–41) und 46 (T. 187f.) bzw. 39 (T. 71–71) und 54 (T. 259–262) sind identisch – allerdings werden sie jeweils mit verschiedenen Klangkombinationen bespielt. 4
Es gibt Fragmente mit überwiegend längeren Tönen und solche mit vielen Viertelund Achtelnoten.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 161
Eine Klassifikation aller Raumbilder ist nur grob beschreibend möglich: Es gibt Rundumbilder, bei denen Lautsprecher auf jeder Seite der Arca aktiv sind, Lateralisierungen in der Arca, bei denen nur Lautsprecher einer Seite oder Ecke hörbar sind, sowie die schon bekannte Achsenbespielung der LS 9–12. Ungewöhnlich, also bis dahin im Prometeo nie vorgekommen, ist die isolierte Verwendung des LS 11. Abbildung 46: 3° Isola, T. 27/36–41 (Ziff. 35) S. 185
4° Isola Besetzung Solosänger (SSAAT) Solobläser Solostreicher Zum Klangcharakter der neun 4° Isola Fragment-Einsätzen mit 14 Technikziffern gehören in der Partitur als Striche dargestellte Noten; sie sind sehr häufig5. Verstehen kann man darunter leise Pustgeräusche der Solobläser oder Bogenge-
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Insgesamt notiert Nono zehnmal Strichnotation in der 4° Isola, während in 3° und 5° Isola nur je einmal mit Strichnotationen gesteuert wird; dort jeweils in der Mischform.
162 | Der komponierte Raum
räusche der Solostreicher6. Die in der normalen Notenschrift notierten Klänge der Solosänger und Solomusiker befinden sich im mittleren Register und haben verglichen mit 3° Isola in ihren Klängen allenfalls einen leicht weiteren Ambitus. Sie sind meist relativ lang (ganze Noten), doch kommen auch kleinere Werte und Pausen in einzelnen Zeilen vor. Statische Raumprojektionen der modifizierten Klänge kommen achtmal vor, die weiteren sechs Raumdispositionen enthalten auch Halaphonwege. Auffällig ist die regelmäßige Form dieser Halaphonwege: sie sind fast immer dieselben beiden Verläufe; nur Ziff. 37 hat einen einzelnen Halaphonweg. Die statischen Raumformen dagegen sind immer verschieden und können wie die Raumbilder in 3° Isola klassifiziert werden. In der 4° Isola überwiegen jedoch Lateralisierungen wie in Abbildung 47, während Rundum- und Achsenbespielung nur je einmal vorkommen. Ein weiteres Mal kommt eine TeilAchsenbespielung in Ziff. 37 vor, also dort, wo ein nur einzelner Halaphonweg notiert ist. Eine absolute Ausnahme ist der Einsatz des Harmonizers zur mikrotonalen Umspielung (0:96/1:04) von Sopran 1 und Alt 1 in Ziff. 40, der an keiner anderen Stelle von 3°–4°–5° Isola eingetragen ist. Abbildung 47: 4° Isola, T. 55–61 (Ziff. 38), S. 187
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Vgl. Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 163
5° Isola Besetzung Solosänger (SSAAT) in Sprechgesang mit vier Höhenstufen Solobläser (Piccoloflöte in sehr hohem Register und Tuba im eigenen hohen Register) 1 x Solostreicher in Strichnotation (T. 250–258) In allen neun Fragment-Einsätzen mit drei teilweise wiederkehrenden Technikziffern (55, 56, 57, davon Ziff. 56 siebenmal und Ziff. 55 und 57 je einmal) ist je ein Halaphonweg für die Klänge der Solobläser notiert. Der somit für die 5° Isola charakteristische Halaphonweg der Ziff. 56 über LS 1, 3, 5, 8, kommt auch in der 3° Isola (Ziff. 41: T. 104/111–118) und 4° Isola (Ziff. 42, 45, 49, 51) vor, während der Halaphonweg der Ziff. 57 auch in Ziff. 37 (4° Isola) verwendet ist. Abbildung 48: 5° Isola, T. 66 – 69, (Ziff. 56), S. 189
Eco lontano (dal Prologo) Besetzung Chor, immer textlos und LS 6, 11, 12 sowie weitere, wechselnde Lautsprecher in der Arca Orchestergruppen (teilweise mit Raumfiguren) Chor und Orchestergruppen spielen im mittleren Register mit wechselnder Rhythmik und Dynamik. Wie immer gibt es leichte Besetzungsvariationen in den
164 | Der komponierte Raum
insgesamt sieben Einsätzen, die keine Technikziffer haben, aber in der Aufführungspartitur und in Hallers technischen Aufzeichnungen speziell eingetragen sind. Die Lautsprecherdisposition für den Chor in T. 62–65 ist um die LS 8+9 erweitert. Die ersten sechs Einsätze sind mit »eco lontano (dal Prologo)« betitelt und alphanumerisch (a–f) differenziert7. Der siebente Einsatz trägt keinen Titel, unterscheidet sich musikalisch und raumklanglich aber kaum von den Vorgängern. Die Orchestergruppen spielen ähnliche Akzente wie im Stasimo 1°. Der Zusatz »dal Prologo« kann wegen der Lautsprecherdispositionen (vgl. Abb. 49) und der Chorklänge wohl auf den Coro lontanissimo bezogen werden, auch wenn hier in der 3°–4°–5° Isola raumklangliche Varianten vorliegen und der Chor textlos bleibt und scheinbar ohne extremen live-elektronischen Hall auskommt. Abbildung 49: Eco lontano T. 101–103, (ohne Ziff.), S. 193
Alle drei Isole und die Eco lontano-Einsätze haben also jeweils typische Klangeigenschaften, ohne dass alle klanglichen Spezifika eines Typus exklusiv wären. Es gibt immer mindestens einen weiteren Raumklangtypus, der ebenfalls einen der Charakteristika. Interessant sind darüber hinaus die seit dem Prologo »durchlaufenden« Klangbezüge bei den Orchestergruppen der 3° Isola8 und die explizi-
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Der 1. und 6. Einsatz des Eco lontano sind mit Bleistift in der Aufführungspartitur gestrichen, es ist also möglich, dass sie in Mailand 1985 nicht aufgeführt wurden – für die Aufführung sprechen aber neben dem Erhalt der Takte in der Druckfassung auch die Eintragungen der Lautsprecherdisposition in Hallers Handschrift. Diese Klangbezüge betreffen mehrere Teile des Prometeo, was später in der zusammenfassenden Interpretation noch thematisiert werden wird.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 165
ten Rückgriffe auf den Prologo, die Nono für (fast) alle Eco lontano-Stellen angibt. Text-Raum-Klang-Schichten Cacciaris Libretto ordnet die 3°, 4° und 5° Isola in je zwei bis drei parallelen Textebenen an, die Nono in der Komposition genau zitiert. Allerdings sind diese Unterschiede zwischen den Textebenen einer Isola, wie erwähnt, kompositorisch und raumklanglich nivelliert. Es sind keine spezifischen räumlichen oder klanglichen Zuordnungen zu einer Textebene erkennbar. Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die direkten Text-Klang-Bezüge in Nonos Libretto-Bearbeitung. Unabhängig davon, ob der Text verständlich komponiert ist oder nicht, soll er zunächst als Ganzes betrachtet werden. Zur Unterscheidung von den verständlichen Texten wird er in indirekter Rede dargestellt. Die Isole in Cacciaris Libretto haben eigenen Thematiken9: • Die 3° Isola enthält eine Erklärung des Reisenden und Andeutungen zu seinem
Wunsch sich niederzulassen. • In der 4° Isola thematisiert der Reisende das Sesshafts-Sein, die eigene Stärke
und die Vergangenheit sowie die Ambivalenz in Bezug auf eine Weiterreise. • Die 5° Isola enthält zwei Inhaltstränge: Einer befasst sich mit rechtsphilosophi-
schen Überlegungen zum Gesetz des Zeus als Gegensatz zum Nomos, das dem transienten Charakter des Lebens entsprechende allgemeine Naturgesetz. Der andere behandelt die Notwendigkeit des ständigen Weitergehens. Nono setzt im Kompositionslibretto (vgl. Kapitel »Werkstatt Libretto«) den Text so, dass er ständig zwischen den Isole springt, sodass es scheint, als hielte Prometeo einen inneren Dialog mit sich selbst. Darin wägt er das Sesshaft-Werden gegen das Weitergehen ab und fällt am Ende, nach den oben erwähnten rechtsphilosophischen Überlegungen, die Entscheidung für das Weitergehen. Er akzeptiert damit das Leben als Prozess des konstanten Wandels. Text-Raum-Klang-Beziehungen Die 3° Isola-Texte betreffen das Sesshaft-Werden und Bezüge zur antiken Götterwelt – insofern sind die statisch in den Raum projizierten Klänge illustrativ: Das Sesshaft-Werden ist verbunden mit der Akzeptanz der antiken Götterwelt und deren Recht, das Prometeo brach, als er das Feuer stahl und den Menschen übergab. Warum Ziff. 41 (T. 111–118) mit dem Text »heilige Stadt, bedeutendes Athen« als einziger der 3°-Isola-Texte mit Halaphon ausgeführt wird, kann nur im Kontext interpretiert werden (s.u. Interpretation).
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Vgl. auch Kapitel »Werkstatt Libretto«.
166 | Der komponierte Raum
Die 4°-Isola-Texte sind gemischt in Bezug auf die Frage des SesshaftWerdens oder eines erneuten Aufbruchs und entsprechend gemischt ist auch der Raumklang: Von 14 komponierten Fragmenten sind acht statisch (Ziff. 31: T. 1– 8; drei Fragmente in Folge Ziff. 32–34: T.15–26; Ziff. 36: T. 45–49; Ziff. 38: T. 55–61; Ziff. 40: T. 75/76–94; Ziff. 47: T. 189–191) und sechs mit Halaphon: (Ziff. 37: T. 50–54; 42: T. 119–12310; 45: T. 165–171; 49: T. 205–212; 51: T. 231–234; Ziff. 52: T. 235–247). Auffällig ist die Häufung der statisch in die Arca projizierten Klänge zu Beginn des Teils 3°–4°–5° Isola und mit dem Halaphon raumbewegte Klänge ab Mitte dieses Teils. Dies entspricht dem Verlauf des Textgehalts. Die Absicht des Reisenden, sich ein Haus und einen Ochsen zu beschaffen (Ziff. 31: T. 1–8), bleibt raumklanglich statisch und ist eine illustrative raumklangliche Umsetzung des Textes. Die Aufzählung der Gefahren auf dem Meer durch Winde und Strömungen (Ziff. 40: T. 75/76–94) im statischen Raumklang ist dagegen eine Interpretation des Textes, ebenso wie Ziff. 38: T. 55–61, worin die Stimme Gottes aus dem offenen Blau zum Pflügen und Jäten ruft. Der raumklanglich statisch umgesetzte Text der Ziffern 32–34 (T. 15–26), die sich auf das Heldentum auf dem Meer und die mögliche Ankunft einer Muse und einer Frau beziehen, kann ebenfalls auf die damit verbundene Sesshaftigkeit bezogen werden. Dass jedoch die Untröstlichkeit beim Aufsteigen vom Grund des Meeres (Ziff. 36: T. 45–49) raumklanglich statisch bleibt, erscheint ebenso rätselhaft wie die Verwendung eines Halaphonwegs beim darauffolgenden Text zum Weinen des Sohnes und der Aufforderung, auf die stumme Seele zu hören (Ziff. 37: T. 50–54). Denkbar ist aber eine psychologische Interpretation, die eine ambivalente Ratlosigkeit und Unruhe angesichts der beschriebenen Situation erkennt. In der Raumklanglichkeit der Ziff. 42 (T. 119–123), die für eine Kombination aus Text der 4° Isola (T. 119–121) und der 3° Isola (T. 122f.) besteht und die beide mit einem Halaphonweg in der Arca umgesetzt sind, ist die Situation deutlich weniger ambivalent, zumindest wenn man spätere Raumklang-TextBeziehungen betrachtet. Hier könnte es sich um die Verdeutlichung des Textgehalts handeln, denn auch später werden Begriffe aus dem semantischen Bereich der Ferne, des Himmels und der Sterne mit einem Halaphonweg illustriert, was sich hier für zwei Takte aber kaum entfalten bzw. technisch realisieren lässt. Alle folgenden Raumklangprojektionen sind wieder etwas einfacher zuzuordnen. Die Flucht vor der göttlichen Furie (Ziff. 45: T. 157/165–171) ist illustrativ mit einem Halaphonweg dargestellt. Der Hinweis dagegen, das Boot unbrauchbar zu machen und es als Schutz vor dem Regen und der nachfolgenden Fäulnis zu
10 In dieser Ziffer sind zwei kurze Fragmente aus 3° und 4° Isola verbunden.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 167
durchlöchern11, bleibt raumklanglich statisch (Ziff. 47: T. 189–191). Der Engel als Ansprechpartner für Prometeos Erinnerungen – aus denen der Sturm ihn zuvor ja geblasen hat – ist wieder mit einem Halaphonweg versehen (Ziff. 49: T. 205–212). Auch die Feststellung, dass nur Prometeo allein die Ferne ertrüge (Ziff. 51: T. 231–234; Abb. 50/1) ist mit einem Halaphonweg verbunden. Doch er solle noch warten, heißt es im folgenden Fragment, was wohl auch Prometeos Unbesiegbarkeit in der Wüste des Meeres mit bedenkt (Ziff. 52: T. 235–247; Abb. 50/2). Dass hier wieder nur statische und auf eine Fläche der Arca reduzierte Raumklänge hörbar sind, ist wohl der Aufforderung zu warten geschuldet. Und dass Nono die Unbesiegbarkeit auf der Wüste des Meeres nicht in einem Halaphonweg spiegelt, ist darauf zurückzuführen, dass nach dem letzten Texteinsatz der 4° Isola die 3°–4°–5° Isola noch weitergeht. Abbildung 50/1: Ziff. 51 T. 230–234, S. 208f. Text der Solosänger: »Tu solo supporti lontana« [Du allein erträgst die Ferne]
11 Nono setzt hier nur einzelne Worte um, im Originallibretto handelt es sich um die Aufforderung, das Boot kieloben zu legen und ein Loch als Ablauf für den Regen zu bohren, damit das Holz nicht fault.
168 | Der komponierte Raum
Abbildung 50/2: Ziff. 52, T. 235–247 Text der Solosänger: »Attendi – e sei nel deserto del mare invincibile« [Und wartest – und bist in der Wüste des Meeres unbesiegbar]
Die neun Abschnitte der 5° Isola sind ausnahmslos mit Halaphonwegen disponiert; wieder gibt es einige eindeutige Korrelationen von Text und Raumklang und solche, die eine Interpretation benötigen bzw. unklar bleiben. Da die Bezifferung der 5° Isola- Abschnitte von denen der 3° und 4° Isola abweicht und nicht fortlaufend ist, kann die Angabe nur in Taktzahlen erfolgen 12. Textmotive der Bewegung und des Wandels sowie indirekte Hinweise darauf sind in sechs Abschnitten zu finden. Es geht darin aber nicht um eine räumliche oder zeitliche Bewegung, sondern um den Begriff des Wandels, der Grenzüberschreitung und der inneren Entwicklung, die die Figur des Prometeo betrifft. Der letzte Abschnitt der 5° Isola gleicht einem konstanten Wandel: • T. 9–13: Sturm verfängt sich in meinen Flügeln • T. 66–69: etwas dringt ein, was das Feuer trägt • T. 124–130: Hinwegsetzen, Wiederherstellen, Erhalten der Geduld in der Ru-
helosigkeit etc. • T. 192–199: Gehen ist die Wahrheit des Azur (Blau) und die kommenden
schlechten Zeiten 12 Näheres im Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 169
• T. 222–226: verwunderte Selbstbeobachtung, Widerhall, Wahrheit der blauen
Stille • T. 250–257 und mit klarem Bezug auf die vorangehenden Worte der 3° Isola:
»festa … tragedia« [Fest … Tragödie] (T. 248f.): »che si libera … opera e trapassa« [die sich in dir befreit, fortschreitet und verlässt, begreift und verwandelt, das ist Wunder, fortschreitet, sieht, verwandelt, verlässt und begreift, wirkt und vergeht] Der Abschnitt Takt 222–226 trägt kein direktes Motiv der Bewegung oder des Wandels in sich und wurde wegen des textlichen Zusammenhangs von »Blau« und der in ihm befindlichen »Wahrheit« sowie der Stille zugeordnet. Diese Kombination ist im vorhergehenden Abschnitt der 5° Isola (T. 192–199) ebenso zu finden wie in der 3° und 4° Isola (s.o.), wo sie ebenfalls mit Halaphonwegen ausgeführt werden. Die drei übrigen 5° Isola-Fragmente erfordern eine weitergehende Interpretation. Thema ist hier immer die Rechtsphilosophie: • T. 95–101: Es wäre ein Wunder, wenn die Offenbarung des Feuers, also Pro-
metheus’ Rechtsbruch, zum Gesetz würde. • T. 138–141: Das Wunder, entfernt von Dike (der Göttin der Gerechtigkeit in der antiken griechischen Mythologie) • T. 149–153: Nomos (als das natürliche Gesetz) sei ohne Dike, also Ekdike – verlassen von Dike. Mit der Überlegung, dass Dike, Tochter des Zeus, die Gerechtigkeit in dessen Sinne walten lässt und ihrem Vater die Überschreitung seines Gesetzes anzeigt, wird verständlich, dass Nomos, das natürliche Gesetz, Ek-Dike [frei von Dike] ist13. Aus diesem Bedeutungszusammenhang ist die Verwendung der Halaphonwege aber nur erklärbar, wenn man ihre Anwendung als interpretierend und nicht als illustrativ versteht: Würde das Wunder der Einsetzung des Naturgesetzes Wirklichkeit, wäre dies ein Wandel – der Einsatz der Halaphonwege bezieht sich somit auf die Utopie. Somit wird eine komplexe Regel erkennbar, die dem Text eine spezifische Klanglichkeit je nach Herkunft aus dem Ursprungslibretto zuweist und räumliche Varianten nach dem Textgehalt einzelner Zeilen disponiert. Alle im weitesten Sinn transitiven Textelemente (Bewegung, Wandel etc.) werden mit einem Halaphonweg in die Arca projiziert, während alle auf das Bleiben gerichteten Textzeilen statisch in den Raum übertragen werden. 13 Hier sei an den Grundkonflikt des Prometheus-Mythos erinnert: Prometheus erhält die Strafe der Verbannung, weil er gegen das Gesetz des Zeus verstoßen hat und den Menschen das Feuer übergab.
170 | Der komponierte Raum
Auch bei den ständig wechselnden statischen Raumdispositionen deuten sich Raum-Text-Bezüge auf der Basis einzelner Textzeilen an. Die Wechsel in den statischen Raumbildern finden ungeachtet der Text-Fragmentgrenzen von Technikziffer zu Technikziffer statt, also gelegentlich auch innerhalb von Textfragmenten sowie natürlich in der komponierten direkten Abfolge der 3° und 4° Isola-Fragmente, sodass zumindest theoretisch fließende Raumbewegungen in der Abfolge von Technikziffern entstehen können. Die räumlichen Lateralisierungen jedoch, die in der 4° Isola entstehen, weil hier keine Orchestergruppen spielen, scheinen keine Textbezüge zu haben bzw. konnte keine Regel dazu analysiert werden. Eine letzte raumklangliche Besonderheit der 3°–4°–5°–Isola ist die variierte Einbeziehung der Arcaspalt-Lautsprecher 9–12, deren Raumfigur hier stark aufgelöst in den 3° und 4° Isola vorkommt. Besonders häufig ist der Einbezug von LS 11. In den Ziff. 31 (4° Isola), Ziff. 32 (4° Isola), Ziff. 35 (3° Isola), Ziff. 40 (4° Isola) und Ziff. 48 (3° Isola) ist er nur mit anderen Innenlautsprechern der Arca disponiert, und in Ziff. 37 (4° Isola), Ziff. 39 (3° Isola) und Ziff. 50 (3° Isola) auch zusammen mit den Zentrallautsprechern. Besondere Textbezüge sind nicht damit verbunden, sodass man davon ausgehen muss, dass die LS 9–11 nur die hörbaren Positionen erweitern. Dass die Wahl dabei auf den LS 11 fiel, ist wohl damit zu erklären, dass er weiter von den aufführenden Musikern entfernt platziert ist als LS 12 und deshalb benutzt wird, um weitere Lateralisierungen auszuschließen. Die Erweiterung der Klangposition gilt auch für den Einsatz der Zentrallautsprecher zusammen mit andern Innenlautsprechern und ohne Verwendung der Zentrallautsprecher 9+10 in Ziff. 34 (4° Isola) und Ziff. 36 (4° Isola), ebenso wie in den Ziff. 43 (3° Isola), Ziff. 44 (3° Isola) und Ziff. 54 (3° Isola), in denen die LS 11+12 zusammen disponiert sind. In Ziff. 43 klingen beide zusammen mit den zwei Innenlautsprechern LS 1+4 und – nach einem Einsatz in der 5° Isola (T. 149–153) – in Ziff. 44 sind sogar die LS 9–12 zusammen mit LS 4+8 zu hören, in Ziff. 54 nur die LS 9–12. Die Verwendung der schon bekannten Lautsprecherreihen im Arcaspalt (LS 9–12) unterscheidet sich aber in den Ziff. 43 und Ziff. 54 klanglich, da hier kein Extremhall verwendet wird und zudem weitere Lautsprecher involviert sind. Der Textgehalt dieser Ziffern ist nicht unmittelbar auf diese spezielle Disposition zu beziehen. Einzig in Ziff. 54, die nur mit den LS 9–12 und ohne Extremhall disponiert ist, weist der Text auf den Grundkonflikt der Tragödie: »kein Gott wird dir das Feuer entreißen«. Denkbar ist aber auch, dass in der offensichtlich beabsichtigten Vielzahl der Raumvarianten keine weitere mehr ohne Einbeziehung beider Außenlautsprecher möglich war. Die ohne Text komponierten Eco lontano (dal Prologo)-Fragmente enthalten grundständig ebenfalls eine Variante der Arcaspalt-Disposition. Die Verbindung zum Coro lontanissiomo des Prologo mit den LS 6 und 9–12 ist deutlich.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 171
Verständlicher Text Die verständlich komponierten Worte und Zeilen geben diese Neuanordnung recht gut wieder14. Die in Klammern gesetzten Textstellen aus dem Ursprungslibretto folgen Nonos Angaben in der Partitur. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
T. 1f.: »Prometeo« (I, 4° Isola) T. 6f.: »Ali si impiglia« [sich in meinen Flügeln verfängt] (Prometeo, 5° Isola) T. 17f.: »se ti …eroe« [wenn Dir … Held] 2 x (I, 4° Isola) T. 45ff.: »non più a consolare« [nichts ist mehr zu trösten] – …solare aber überdeckt, d.h. evtl. ist nur »nichts ist mehr« zu verstehen (II, 4° Isola) T. 50: »pianto« [das Weinen] (II, 4° Isola) T. 58 »mettiti« [beginne] (III, 4° Isola) T. 66: »che« [dass] (Mitologia, 5° Isola) T. 71f.: »vedo, vedi« [ich sehe, du siehst] (Mitologia und Prometeo, 3° Isola) T. 75: »Bora« [kalter Fallwind] (III, 4° Isola) T. 81: »le stelle« [die Sterne] (I, 4° Isola) T. 92: »ponto« [Pontos] (III, 4° Isola) T. 94: »ma che« [aber dass] (Mitologia, 5° Isola) T. 97: »divenga« [wird sein] (Mitologia, 5° Isola) T. 98: »miracolo« [Wunder] (Mitologia, 5° Isola) T. 119: »le tue parole« [deine Worte] (II, 4° Isola) T. 121: »nel suo silenzio« [in seinem Stille] [nur teilweise frei] (II, 4° Isola) T. 124: »trasgredire« [übertreten] (Mitologia, 5° Isola) T. 125: »rifondare« [wieder begründen] (Mitologia, 5° Isola) T. 126: »altre« [andere] (Mitologia, 5° Isola) T. 126f.:»nell’in« [in] (Prometeo, 5° Isola) T. 128f.: »unserer« [la nostra] (Prometeo, 5° Isola) T. 130: »resista« [standhält] (Prometeo, 5° Isola) T. 138: »ecco« [genau das] (Mitologia, 5° Isola) T. 141: »Dike« (Mitologia, 5° Isola) T. 145ff.: »qui crescero il (narci)sso« [hier werde ich (Narzi)ssen wachsen lassen] (Prometeo, 3° Isola) T. 149ff.: »Nomos vi sia, Ekdika, abbandonato da Dike« [Gesetz sei frei von Dike verlassen von Dike] (Mitologia, 5° Isola) T. 165ff.: »fuggendo la furia selvaggia« [auf der Flucht/fliehend vor dem wilden]« (III, 4° Isola) T. 192ff.: »ma andare sia verità dell’azzurro« [aber Gehen sei die Wahrheit des Blauen] (Mitologia, 5° Isola) T. 203: »d’azzurro« [des Blauen] (Prometeo, 3° Isola) T. 205ff.: »delle memorie« [von der Erinnerung] (II, 4° Isola)
14 Das vollständige Libretto für 3°–4°–5° Isola ist in »Werkstatt Libretto« zu finden.
172 | Der komponierte Raum
• T. 213ff.: »qui dirai da un altare con Zeus« [hier wirst Du vor dem Altar mit • • • • • • • • • •
Zeus sprechen]« (Mitologia, 3° Isola) T. 225: »dell’azzurro silenzio« [der blauen Stille] (Prometeo, 5° Isola) T. 231: »tu« [du] (I, 4° Isola) T. 235: »attendi« [wartest] (III, 4° Isola) T. 239ff.: »nel deserto del mare« [in der Wüste des Meeres] (I, 4° Isola) T. 244ff.: »invincibile« [unbesiegbar] (SSAA unisono) (I, 4° Isola) T. 248f.: »festa e tragedia« [Fest und Tragödie] (Prometeo, 3° Isola) T. 250f.: »che … libera in te« [die sich in Dir befreit] (Prometeo, 5° Isola) T. 252: »procede« [fortschreitet] (Prometeo, 5° Isola) T. 257: »trapassa« [vergeht] (Prometeo, 5° Isola) T. 259ff.: »nessun dio potrà questo fuoco sottrarmi« [und kein Gott kann mir {das} Feuer entreißen]15 (Mitologia und Prometeo, 3° Isola)
Obwohl Nono nur Auszüge des Textes verständlich komponierte, geben die verständlichen Textteile augenscheinlich die ›Irrfahrt‹ über die Isole wieder. Dennoch ist auffällig, dass die Textzeilen der 3° Isola, die vom Sesshaft-Werden handeln und hauptsächlich am Anfang des Teils stehen, unverständlich komponiert sind. Ähnlich wie in 2° Isola a, bei der Nono die verständlichen Zeilen und Wort des Dialogs von Io und Prometeo in der Mehrzahl vom Anteil der Io komponiert, hebt er in 3°–4°–5° Isola Textanteile hervor, die vom Gehen, und ständiger Bewegung, dem Werden und Vergehen, der Unüberwindbarkeit, der Stille und dem Blau handeln und die Begründung eines gerechten Gesetzes ansprechen. Stille – Pausen Fermaten mit definierten Pausendauern sind in Eco-lontano-Einsätzen komponiert, aber auf Einsätze beschränkt, bei denen sich Chor und Orchestergruppen abwechseln und nicht unisono spielen. Häufig sind dann 3 Pause bei einer Fermate notiert. Die 7 Sekunden in Takt 64 für den Chor sind eine Ausnahme. Die in der Partitur enthaltenen Pausentakte am Ende von allen Einsätzen der 5° Isola, sind schon in der Druckfassung teilweise gestrichen. Weitere Striche sind offenbar in den Proben vorgenommen worden – durchgestrichen oder ab T. 185 mit einem Symbol aus Klammer und Pfeil die Takte mit Noten scheinbar in den Pausen-Takt vorgezogen. Ganz eindeutig ist dies aber nicht aus Nonos Einzeichnung zu erkennen. Insofern könnten in der zweiten Hälfte des Teils mehr Pausen vorkommen als in der ersten Hälfte. Insgesamt gibt es aber weniger Pausen als in anderen Teilen des Prometeo, und ihre Gestaltung ist einförmig.
15 Nicht alle Worte sind gleich gut verständlich, aber es gibt nur sehr leicht Überschneidungen in T. 261 bei »dieses Feuer« [questo fuoco], sodass der Text erschließbar bleibt: Das Feuer ist ohnehin eines der wichtigsten Motive im Prometeo, egal in welcher Überlieferung.
Analyse 3°–4°–5° Isola | 173
Ob dies mit den Ausklängen in Beziehung steht, kann aufgrund der wenigen Dynamikangaben in 3°–4°–5°–Isola nicht ermittelt werden. Zusammenfassung und Interpretation Wie in allen bisher analysierten Teilen des Prometeo sind auch in 3°–4°–5° Isola Fragmente verschiedener Librettoteile im Verlauf abwechselnd in die Partitur gesetzt. Kompositorisch betrachtet ist die Disposition des Raumklangs mit Bezug auf die jeweilige Textebene des Ursprunglibrettos daher immer eine Abwechslung, wie zugleich die reine textliche Abfolge einen wortsprachlichen Sinn ergibt. In keiner der vorausgehenden Teile ist der Wechsel der Klänge im Raum jedoch so häufig, vielseitig und in den Kontrasten gelegentlich auch schroff. Nirgendwo anders ist der Textbezug zur Raumdisposition so deutlich auf die Grundfrage des Prometeo zugeschnitten: Gehen oder Bleiben? Die Raumdarstellung von (fast) jedem Textelement entspricht scheinbar dessen Sinngehalt – auch wenn hier nicht alle Text-Raumklang-Fragmente dargestellt und auch nicht immer schlüssige Erklärungen gefunden werden konnten. Immerhin ist die Partitur von 3°–4°–5° Isola äußerst unübersichtlich16; es fehlen darin wohl viele Dynamikangaben, und auch die Konkordanz der Technikziffern mit den technischen Angaben ist an einigen Stellen nur interpolierbar (s. Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«). Insofern muss hier einiges unklar bleiben. Gleichwohl wird aber deutlich, dass Nono in 3°–4°–5° Isola seine Perspektive auf die Figur des Prometeo darlegt und ihr einen Charakter sowie ein Lebensziel gibt, das weit über den antiken Stoff und dessen spätere Interpretationen hinausgeht. Prometeo ist nicht mehr der sich selbst für die Menschen opfernde Heilsbringer oder reiner Opponent des Zeus. Nur noch der Aspekt des Lebens außerhalb der Gesellschaft ist aus diesem Teil der antiken Mythologie übrig geblieben, und die an Odysseus Fahrt von Inseln zu Insel angelegte metaphorische Reise des Prometeo in Cacciaris Libretto wird von Nono zu einer abwägenden Entscheidungsfindung umgestellt. Prometeo ist zum nachdenklichen Individuum geworden; seine Reise gleicht einer Suche, die nicht gradlinig verläuft sondern in Widersprüchen. Pro und Kontra seiner Grundfrage wägt Prometeo ab, bis er am Ende die Entscheidung für das Weiterziehen und gegen das Sesshaft-Werden fällt. Es sind die – verständlich komponierten – »Tränen des Sohns« die für das Bleiben und die Sicherheit im heimischen Umfeld sprechen, ebenso wie das »Pflanzen von Narzissen«, die sinnbildlich für das Ende der Reise stehen und zugleich den Ort zu definieren scheinen, an dem Dike, das Recht des Zeus gilt (s.o. verständlicher Text, Zeilen T. 138–14ff.). Doch Prometeo sucht das andere (T. 126); »Gesetz sei frei von Dike« (T. 149ff.), was nur bedeuten kann, dass er 16 Auch in den Aufführungen von Prometeo nach 1985 scheint die Unübersichtlichkeit nicht beseitigt worden zu sein. So fehlen bei Nielinger-Vakil nur für diesen Teil 3°– 4°–5° Isola Angaben zu den später entwickelten Raumdispositionen.
174 | Der komponierte Raum
auch die Sesshaftigkeit ausschlagen muss. Er wählt stattdessen die unbequeme und konstant wechselhafte Lebensform und mit ihr das Blau der Freiheit und der Stille, gute wie tragische Zeiten, Gehen und Flucht. In der Wüste des Meeres, dem genauen Gegenteil von kultiviertem, beackertem Land, ist er unbesiegbar. »Kein Gott kann mir das Feuer entreißen« heiß es am Ende (T. 259ff.). Das Feuer ist nun zum Symbol der Lebensenergie in ihm selbst geworden.
Analyse 3 voci b | 175
Analyse 3 voci b Der kurze und stark konstruktivistisch gebaute Teil ist für Chor a capella und Live-Elektronik auf die Strophen X, XI und XII des Maestro del Gioco im Ursprungslibretto komponiert. Die 87 Takte bestehen aus drei Fragmentklassen, die sich in einigen, aber nicht in allen Klangelementen deutlich voneinander unterscheiden. Mehrere Kompositionselemente orientieren sich an der Zahl 3, wie etwa die drei Strophen des Originallibrettos. Wieder bezieht Nono hier die von ihm verwendeten Texte explizit auf die jeweilige Strophe. Jeder Strophe sind ein Tempo und eine feste Lautstärke zugeordnet und die jeweilige Kombination wird auch raumklanglich unterschiedlich fortgeführt1. Daraus ergeben sich die drei Fragmentklassen: 1. Texte aus Strophe X • Tempo: MM = 30 • Lautstärke: ppp • Technikziffer: 58 – LS 6, 11+12 statisch
Abbildung 51: 3 voci b, Fragmentklasse 1
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Die Technikziffern entstammen der Partitur; in den technischen Aufzeichnungen Hallers sind sie jedoch anders nummeriert und dazu nicht ganz klar in Bezug auf die Lautsprecherdisposition. Nach der Regel, dass die Eintragungen in der Aufführungspartitur die Endfassung für die Konzerte in Mailand 1985 darstellen, steht aber nur eine Lautsprecherdisposition in Frage, diese lässt sich in den Aufzeichnungen Hallers gut rekonstruieren.
176 | Der komponierte Raum
2. Texte aus Strophe XI • Tempo: MM = 60 • Lautstärke: p • Technikziffer: 59 – LS 9+10
Abbildung 52: 3 voci b, Fragmentklasse 2
3. Texte aus Strophe XII • Tempo: MM = 120 • Lautstärke: fff 2 • Technikziffer: 60 – LS 1, 3, 5, 8
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Die Rekonstruktion der Lautsprecher (s. FN 1) erfolgt nach den technischen Aufzeichnungen Hallers, dort sind LS 1, 3, 5, 8 als statische Darstellung angegeben und mit der Zahl 120 verknüpft, die sich nur auf das Tempo beziehen kann. Der dort ebenfalls dargestellte handgesteuerte Halaphonweg für »(60)« ist in der Partitur nicht angegeben und wird daher nicht für die Analyse herangezogen.
Analyse 3 voci b | 177
Abbildung 53: 3 voci b, Fragmentklasse 3
Die Zahl 3 ist somit Konstruktionselement für die Anzahl der Strophen und Fragmentklassen, und ihr Vielfaches ist in jeder Tempoangabe enthalten. Hier kommt sogar das zusätzliche Konstruktionselement, die Verdoppelung von einer zur anderen Fragmentklasse, zum Einsatz (30–60–120). Ein weiteres konstruktives Element ist die Anzahl der Einsätze pro Strophe, die die Serie 5, 6, 7 ergibt, weil Nono auch Fragmente einer Klasse aneinanderreiht: X: 5 XI: 7 XII: 6 Verschleiert wird die auf der Zahl 3 beruhende Konstruktion durch die unregelmäßige Reihung sowie durch die Ununterscheidbarkeit der Tonhöhen und Intervallbeziehungen zwischen den Fragmentklassen. Auch der Zusatz des Anfangsfragments zu »Ascolta« gehört zu den verwschleiernden Elementen. Nono fügte es zum Originallibretto hinzu und weist damit auf vorhergehende Teile des Prometeo, in denen die Aufforderung »Ascolta« mehrfach zu hören ist. Dies gilt etwa für das Ende von 3 voci b, wo »Ascoltali«, das aus Strophe XII stammt und entsprechend in 120er Tempo sowie sehr laut erklingt (T. 82–84). Es wird anschließend wiederholt, mit »Ascolta« überlagert, und ist als 30er Fragmentklasse komponiert (T. 85–87). Ebenso ist das zusätzliche Fragment am Anfang als Bindeglied zu den anderen Teilen zu verstehen: lässt man es weg und zählt die oben genannte Reihe zusammen, erhält man 18 Fragmente, d.h. wieder eine durch 3 teilbare Zahl.
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Das für alle Fragmentklassen einheitliche Element der tonalen Klanglichkeit setzt die Entwicklung zur Reduktion verwendeter Intervalle fort, die schon über mehrere Vorgängerteile anhält. Neben einigen Sekunden, Septen und Quarten dominieren Oktaven den Zusammenklang. Im Stimmverlauf ist sehr selten auch der eine oder andere Tritonus zu finden, nicht unbedingt offen hörbar wie in Takt 2f. (hier durch 3 Viertelpausen getrennt), sondern versteckt, d.h. parallel zu einer anderen Stimme, die einen Quintverlauf singt, sodass der Tritonus nur kurzfristig hörbar ist (T. 18 und T. 61). Text-Raum-Klang-Schichten Die klanglich durchsichtige Chortextur ist aus textlicher Perspektive eher unverständlich gesetzt, sehr häufig lässt Nono die Stimmen die Silbe eines Wortes gleichzeitig singen. Nur wenige Worte notiert er verständlich: • • • • • • • • • • • •
T. 1–4: »Ascolta« [Höre] T. 10: »noi« [uns] T. 11: »data« [ist gegeben] jedoch Tenor anders als unisono S+A T. 14: »forza« [Kraft] T. 22: »porre« [verharren, festlegen] T. 25f.: »la vuota« [die Leere] T. 31–33: »attimo« [Augenblick] T. 38: »still« (deutsch im Original) T. 49–51: »felici« [glückliche] T. 62f.: »segreta« [geheim] T. 76–80: »questa debole forza« [diese schwache Kraft] T. 82–87: »Ascoltali« [hör ihr zu] 2 x, diff. Tempo
Stille und Pausen Der bisherige Maßstab für Pausen von ungefähr einem Takt Dauer wird wegen der dünneren Textur und der reduzierten Raumpräsenz von 3 voci b verkürzt, denn es ist absehbar, dass absolute Stille eher eintritt und somit länger anhalten wird. Tatsächlich gibt es nur zwei Generalpausen von einem Takt Länge (T. 15 und T. 81), aber achtmal sind Generalpausen von etwa einem halben Takt oder mehr notiert (T. 3, T. 13, T. 21, T. 24, T. 34, T. 46, T. 59, T. 66). Zusammenfassung und Interpretation Die verständlichen Worte entsprechen größtenteils bereits bekannten verständlichen Worten aus vorangehenden Teilen. Sie kommen, wie »Ascolta« [Höre], sehr häufig oder »geheim« – meist in Verbindung mit dem »Schwingen geheimer Verabredungen« sowie »uns ist schwache Kraft gegeben« – als zusammenhängender Satz oder in einzelnen Worten schon seit dem Prologo vor. »Still«
Analyse 3 voci b | 179
oder »Stillsetzung«, immer als deutsche Worte verwendet, sind seit dem Interludio 1° mehrfach verwendet und »attimo« [Augenblick] seit 3 voci a. Erstmalig verwendet sind nur die Worte »porre« [verharren]« und »la vuolta« [die Leere]« sowie das davon getrennte und isoliert stehende »felici« [glückliche]«. Wie bisher stellen die verständlich gesetzten Worte die zentralen Begriffe des Teils dar, wenn auch die Aussage des gesamten von Nono in die Partitur komponierten Textes der Strophen X–XII aus dem Maestro del Gioco in der dort angesprochenen gegensätzlichen oder widersprüchlichen Metaphorik von ausgesprochen poetischer Kraft ist (vgl. Kapitel »Werkstatt Libretto«). Ein zusammenhängender Sinn ist aus den wie zusammengewürfelt wirkenden Textzeilen aber nicht abzuleiten. Auch die analytische Untrennbarkeit der Klangorganisation lässt sich nicht interpretieren, wohl aber die räumlichen Klangdispositionen. Es fällt hier auf, dass die Außenlautsprecher zusammen mit einem Lautsprecher in Arcaspaltnähe, die Zentrumslautsprecher oder nur vier Innenlautsprecher in den drei RaumKlang-Grundformen jeweils zusammen mit der Position des Chores hörbar sind. Insgesamt ist also sehr wenig Klang in der Arca und dort eher in der Nähe des Arcaspalts disponiert, was den Eindruck des Rückzugs erweckt.
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Analyse Interludio 2° Das kurze, nur 51 Takte umfassende Interludio 2° ist der einzige Teil des Prometeo ohne Textgrundlage, d. h. weder gesungener noch stiller Text ist vorhanden. Es spielen die tief klingenden Instrumente der Orchestergruppen (Cello, Kontrabass, Bassklarinette, Horn, Posaune) und wie üblich tief transponiertes und wohl auch lang nachklingendes Glas, das auf den LS 1, 5 und 7 disponiert ist1. Der ganze Teil ist durchgängig sehr leise, die Dynamikangaben bewegen sich für die Mehrzahl der Takte zwischen pp (nur für Einsätze einzelner Instrumente) und ppppppp. Über den gesamten Verlauf ist eine Reduktion der Lautstärke festzustellen, die aber nicht kontinuierlich verläuft. Ausnahmen sind nur die kurzen f-/mp-Sechzehntel in T. 27 und 28 (pro Takt ein Akzent) sowie die Klangbewegung in T. 43–47, die für die vier Orchestergruppen mit je 2–3 Instrumenten einen Crescendo-decrescendo-Verlauf von pppp – p – pppp vorsieht. Dies ist insofern ein typischer Verlauf für das Interludio 2°, als dass dieser Teil hauptsächlich aus solchen Pulsen besteht, also mehrtaktigen, pulsartig verlaufenden Elementen, die dynamisch und/oder in der wechselnden Besetzung dargestellt sind. Raumklanglich fällt auf, dass die Instrumente einer Orchestergruppe meist im Unisono oder oktaviert spielen, nicht jede Orchestergruppe spielt jedoch immer denselben Ton. Im Verlauf des Interludio 2° kommt dies zunehmend vor, doch gibt es dabei sehr häufig mikrotonale Varianten, sei es in einer Orchestergruppe oder zwischen den Orchestergruppen. Somit entstehen keine Orchesterfiguren, bei denen das (fast) identische Klangmaterial im Raum wandert2, sondern Schwebungen – innerhalb einer Orchestergruppe ebenso wie in der Interaktion der Klänge mehrerer Orchestergruppen (z.B. T. 35–40). Dafür, dass dies auch Nonos Absicht war, spricht sein Eintrag am Anfang des Teils »Suono fermo, non vibrane« [»stehender Klang, nicht vibrieren«]3. Filigrane Klangereignisse, wie sie etwa auch Morton Feldman im Trio für Violine, Cello und Klavier (1980) komponierte, erfordern sehr ruhige Klangumgebungen, die die Konzentration der Hörer ermöglichen – genau diese kompo1
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Hallers technische Aufzeichnungen sind nicht eindeutig. Die ›offizielle‹, mit rotem Filzstift vorgenommene Seitenzählung »18« enthält einen Eintrag für die LS 1, 5, 7 für die Gläser. Erhalten ist ein weiterer Eintrag mit Angaben zu denselben Lautsprechern, nachdem die inzwischen übliche live-elektronische Behandlung der Gläser mit Transposition um 23 Halbtöne und 15 Extremhall (300000 m3) für Infernal 1 durchlaufen ist. Die Angaben auf der linken Seite neben der Seite 18 zu »Infernal« 9+10 sind an keiner Stelle aufgelöst und werden hier nicht beachtet. Diese Einschätzung stützt Nielinger-Vakil (2015, S. 311) »… the resonant low drone oft h three glass bells (transmitted as before, through loudspeakers L1, L5, L7« – wobei sogar ihre Angabe zu den Ziffern der Lautsprecher mit den Angaben in der Aufführungspartitur übereinstimmt. Der Begriff »low drone« enthält auch den Hinweis auf den langen Ausklang des Extremhalls, der ebenfalls vorher immer in der elektronischen Bearbeitung der Gläser enthalten war. Wobei, wie immer, kurze Ausnahmen vorkommen (T. 8, T. 16, T. 27). Gedruckte Partitur S. 217, AP S. 192.
Analyse Interludio 2° | 181
nierte Nono hier. Ob die dynamische Entwicklung des Verlaufs dies in der Arca zuließ, kann nicht sicher eingeschätzt werden, es scheint aber möglich, zumal dieser Klangzusammenhang eine 1,5 Takte dauernde Pause folgt. Abbildung 54: Basis Raumdisposition Interludio 2°
Stille Im Prinzip sind die Einsätze der Orchestergruppen miteinander verwoben, was Generalpausen und Stille selten macht. Sie kommen nur fünfmal vor: T. 15 (ganzer Takt, T. 26f. (4 Zählzeiten = 1 Takt), T. 31 (2 Zählzeiten), T. 41f. (s.o. 6 Zählzeiten) sowie am Ende T. 51, der vollständig als Pause notiert ist. Interpretation Das Interludio 2° ist ein echtes Zwischenspiel. Nicht nur, dass es rein instrumental gesetzt ist und zwischen zwei Gesangsteilen steht, es ist zugleich ein Übergang von geringer Textur zu noch geringerer Textur, wie sie m abschließenden Stasimon 2° vorherrschen wird. Räumlich ist Klang nur in der Arca vorhanden. Die Außenlautsprecher und die Zentrallautsprecher sind nicht disponiert, die Innenlautsprecher letztlich nur in geringem Umfang, sodass eine Rücknahme der Räumlichkeit im Vergleich zu 3 voci b erkennbar ist.
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ANALYSE STASIMO 2° Dem Finalteil des Prometeo liegt das Stasimo 2° mit dem Titel »Mitologia – Coro Nomos« des Originallibrettos zugrunde, das Nono mit einigen Strichen und wenigen zusätzlichen Wörtern versah. Es ist für Solosänger, Solostreicher und Solobläser über alle 104 Takte durchgängig textverständlich komponiert. Alle Stimmgruppen bilden einen einförmigen, aber mehrstimmigen Klangverlauf mittlerer Tonlage, in dem – gelegentlich mit einem gleichzeitig hörbaren Halbtoncluster auch zum Tritonus umspielte – Quinten und Oktaven den Zusammenklang wie den Verlauf dominieren; andere Intervalle kommen seltener vor. Auch raumklanglich gibt es kaum Differenzierung, denn beide Klangschichten unterscheiden sich nur wenig voneinander: a) Die Solostreicher bilden eine eigene Raumklangschicht, die elektronisch unbearbeitet mit LS 8 in die Arca projiziert wird. b) Die Solosänger und Solobläser bilden die zweite Klangschicht. Sie wird in drei verschiedenen Schaltwegen live-elektronisch bearbeitet: • mit 3 Verzögerung wird die Klangschicht von LS 10 übertragen, • mit 6 Verzögerung wird die Klangschicht von LS 12 übertragen, 1 • beide Verzögerungen werden zusammen verhallt und von LS 9+11 übertragen. Abbildung 55: Stasimo 2°, Basis Raumdisposition
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Es fehlen Angaben zu den Einstellungen des Halls in den technischen Aufzeichnungen Hallers; eindeutig aber ist Hall für die Solosänger und Solobläser vermerkt.
Analyse Stasimo 2° | 183
Die raumklangliche Basisform erscheint bis T. 98. Wenn die Solostreicher oder die Solobläser pausieren, sind Varianten bzw. Reduktionen hörbar. Wegen der Verzögerungen im live-elektronischen Klangbearbeitungsweg für die Solosänger und Solobläser ist diese Klangschicht fast immer präsent, denn gemeinsame Pausen gibt es nur über wenige Zählzeiten, die sich nicht zu 6 Dauer summieren lassen und damit unter dem Wert der maximalen live-elektronischen Verzögerung liegen. Klanglich nähern sich alle Musiker einander an – selten und kurzfristig (maximal zwei Takte) sind die orgelpunktartigen Klänge bei den Solostreichern in sehr hohen und mittleren Tonlagen zu hören (z.B. T. 46, T. 53–55, T. 76f., T. 96, T. 98). Der Kontrast zu den Klängen anderer Musiker ist dabei selten, d.h. es gibt geringfügige oder gar keine Kontraste. Offenbar findet eine Angleichung der Klänge aller Musiker statt. Eine auffällige raumklangliche Variante ist am Ende (T. 99–104) zu bemerken. Hier sind nur die Solosänger zu hören, deren Textur zunehmend ausdünnt, bis Sopran 2 »fis1« und der Tenor das oktavierte »h«, also zusammen in einer Quinte und verhallt im Arcaspalt enden. Abbildung 56: Ende Stasimo 2°, T. 104, S. 242
Vorbereitet wird diese Raumdisposition im Fragment T. 96–98, in dem die Solostreicher und Solobläser ihren letzten Einsatz haben. Beide Solistengruppen spielen die Töne »e« und »b«, also einen Tritonus, den die Sänger in T. 98 übernehmen – wenn auch nur teilweise, da nur der Alt 1 den Ton »b1« singt, während für den Sopran 2 »h1« in der Partitur steht. Das ergibt einen Halbtoncluster sowie ein unklares Intervall zwischen Tritonus und Quinte in allen Stimmen, denn die
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beiden verbliebenen Solostreicher Viola und Cello spielen denselben Klang (die Viola spielt die Quinte als Doppelgriff). Animation 7, Stasimo 2°, T 96–104 Alle Musiker in gelb, der dunklere Farbton steht für ein kurzfristig tieferes Register, vgl. Animation 1 (Prologo)
Text Nono behält den Titel »Mitologia – Coro Nomos« in der Partitur, die folgenden Textzeilen enthalten einige Änderungen und sind immer verständlich ohne Unterbrechung komponiert, sodass hier auf die Angabe der Taktzählung verzichtet wird: • • • • • • • • • • • • • • • •
πολλων ονοματων μορϕη μια [das Gesetz trägt viele Namen in einer Gestalt] »è divisio primaeva« [ist Ur-Teilung] »è l’irrompere« [ist das Eindringen] »il governare« [das Beherrschen] »il trasgredire« [das Überschreiten] »il rifondare« [das Wiederherstellen] »è l’abbattere« [und das Zerstören] »il difendere« [das Verteidigen] »è ciò che nel cerchio del fuoco rivela« [und das, was im Ring des Feuers entsteht] »apre molteplici vie« [öffnet verschiedene Leben] »chiede a noi di destare l’infranto« [bittet uns, das Zerbrochene aufzuwecken] »di rinnovare silenzi« [die Stillen zu erneuern] »trasforma« [verwandelt] »ricorda« [erinnert] »balena« [blitzt auf] »e nel deserto invincibile« [und ist in der Wüste unbesiegbar]
Stille Komponierte Stille gibt es nicht. Da sehr häufig Text oder instrumentale Tonverläufe über Fragmentgrenzen hinausreichen, scheint hier absehbar, dass diese keine Pause nach sich ziehen können. Allerdings gibt es zwischen Silben gelegentlich Pausen, sodass das Wort getrennt erscheint. Eine ähnliche Wirkung dürften die Fermaten auf Tönen haben, die aber selten vorkommen und dabei nicht immer auch den Text betreffen. Ob die seltenen Dehnungen des Textes sein Verständnis behindern oder beim Hörer Spannung erzeugen, ist nicht entscheidbar.
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Interpretation Der vertonte Text beschreibt Nomos, das natürliche Gesetz, und seine dynamischen Eigenschaften und verwendet zugleich eine Reihe der Begriffe, die bereits vorher besonders im Maestro del Gioco und dem neu formulierten Prologo und den Isole 3–4 thematisiert waren. Nomos ist dem Text zufolge ein umfassendes ›Gesetz des Lebens‹ als ständiger Prozess des Wandels, das Entstehen, Entdecken, Vergehen, Zerstören, Verteidigen, Wiederherstellen, Erinnern und Erneuern etc. umfasst. Aus diesem Kontext fallen die erste italienische und die letzte Zeile heraus: Ur-Teilung ist nirgends vorher genannt, könnte aber im Kontext des Konfliktes zwischen Prometheus und Zeus so verstanden werden, dass damit die Weitergabe des Feuers an die Menschen gemeint ist: Wissen und Techniken sollen für alle zugänglich sein, und nicht nur für den exklusiven Kreis der Götter. Angesprochen wäre damit die Vorstellung einer urzeitlichen Welt, in der alles gleich aufgeteilt wurde. Die letzte Zeile dagegen war schon in der 3°–4°–5° Isola (T. 239–247) als Unbesiegbarkeit in der Wüste des Meeres angesprochen. Die scheinbare Verkürzung hier ist ein Zitat aus Schönbergs Moses und Aron-Fragment, das Nono damit vorher schon im Prometeo als Anker setzte. Es dient ihm als zusätzlicher Bezugspunkt für den ›Schlussstein‹ des Prometeo, der nun auch hörbar und nachvollziehbar ist, weil er in Beziehung zur konstanten Fortbewegung der PrometeoOdysseus-Figur steht. Gleichzeitig dürfte es Experten unter den Hörern möglich sein, unmittelbar eine Parallele zu Schönbergs Oper zu ziehen, deren Gegenstand in direktem Bezug zum Prometeo steht. Schönberg behandelt darin den Exodus des Volkes Israel aus dem ägyptischen Exil. Während der Wanderung ins gelobte Land kommt es zur Einsetzung eines neuen Gesetzes2, das das alte Gesetz der ägyptischen Knechtschaft ablöst und ersetzt. Esodo – Exodus nannte Nono bereits in den frühen Skizzen das Ende des Prometeo. Hier verwendet er es als Metapher für das Gehen und Voranschreiten als Voraussetzung des Naturgesetztes. Rekursiv ist daher auch der Raumklang – mit der für Nono typischen Variation. So beginnt die klangliche Belebung der Arca im Prologo mit einer Quinte (»d2«–»a2«, T. 2), die von den Chorsängerinnen in der Arca und als Coro lontanissimo mit Extremhall vom Arcaspalt ausgeht. Diese Quinte übernahmen die Violinen der Orchestergruppen. Nun, am Ende des Prometeo im Stasimo 2°, sind es die Solostreicher, die zuerst enden, indem sie mit den Solosängern aus einem Tritonus eine Quinte vorbereiten, mit der die Solosänger schließlich im Arcaspalt enden. Eine eindeutige Aussage ist damit nicht verknüpft, denn man kann daraus ebenso eine geschlossene Form erkennen, wie im Raumklangverlauf eine Spiegelung des Fortbewegens: Von außen kommt der Klang in die Arca, und dorthin geht er zurück.
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Moses empfängt die Zehn Gebote direkt von Gott.
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RAUM IM PROMETEO Nono hat im Prometeo nicht nur jeden der elf Teile (einschließlich der Subteile von 2° Isola) anders besetzt und komponiert, auch die Raumdisposition der Klänge unterscheidet sich in jedem der Sätze. In ihrer direkten Abfolge kommt es immer zu raumklanglichen Kontrasten zwischen den Teilen. Innerhalb der einzelnen Teile ist ein konstanter Wandel der Raumklanglichkeit festzustellen, die an der unterschiedlichen Besetzung, am kompositorischen Satz und den darauf beruhenden live-elektronischen Bearbeitungen und zugehörigen Lautsprecherpositionen ablesbar ist. Es entstehen dabei Klangbewegungen im Raum, hervorgerufen durch Halaphonwege über verschiedenen Lautsprecherpositionen oder über den Transport von Klangmaterial zwischen den Musikergruppen, besonders den Orchestergruppen oder statisch anmutenden, meist dreidimensionale Klangzusammenhänge. Der konstante raumklangliche Wandel ist in jedem Teil anders komponiert. In eher monolithisch gesetzten Teilen ist er geringer als in Teilen mit mehreren parallelen und/oder abwechselnden Klangschichten. Aber raumklangliche Bewegung ist immer vorhanden, selbst wenn es ›nur‹ um dynamische Bewegungen oder das Ein- oder Aussetzen einzelner Stimmen einer ortsbezogenen Stimmgruppe geht. Die zahlreichen Klangfarben an den verschiedenen Orten sind als räumliche Zusammenhänge und Differenzen in der Arca hörbar, und es bilden sich mit ihnen raumbewegliche Klangskulpturen und -schichten im Zeitverlauf oder es senken sich verschieden lange und örtlich differenzierte Stillen in ihr hinab, die vom kurzen Nachhall bis zur – seltenen – absoluten Stille reichen. Der Umgebungsraum ist somit auf verschiedene Weise gestaltet und virtuos komponiert. Es stellt sich trotz der jeweils einzigartigen Raumklanglichkeit der Teile auch die Frage, ob Raumdispositionen von Klängen in ihrer Funktionalität aufzuschlüsseln sind und ob darunter nicht doch auch übergeordnete klangliche Raumdarstellungen zu finden sind. Immerhin ergab die Analyse, dass der Anfang und das Ende des Prometeo klanglich und räumlich einen – leicht idealisierten – rekursiven Verlauf darstellen (s. Analyse Stasimo 2°): Von den Seitenräumen dringt zu Beginn des Prometeo der Klang in den Raum, markiert die Mittenebene der Arca und kehrt ganz am Ende in die Seitenräume zurück. Eine Symmetrie ist darin nicht enthalten, denn gleichzeitig ist aus musikalischer Sicht ein gerichteter Verlauf hörbar, der in mehreren dicht miteinander verwebten und gleichzeitig hörbaren Klangschichten beginnt und kontinuierlich bis zum Ende in der Textur ausdünnt. Wieder zeigt sich die Uneindeutigkeit im Prometeo, die man aber auch ein Spannungsfeld aus Gleichzeitigkeit von Wandel und Wiederkehr verstehen kann. Beide Elemente, Veränderung und Wiederkehr, treten auch immer wieder zutage, wie die Untersuchung der übergeordneten Raum-KlangZusammenhänge und der Funktionen der allgemeinen Mittel des Raumklangs im Prometeo zeigt.
Raum im Prometeo | 187
Übergeordnete Klang-Raum-Elemente im Prometeo Raum-Klang-Kombinationen, die mehrfach im Prometeo vorkommen, sind selten. Sie erscheinen nicht als Wiederholungen, sondern immer in leichten Varianten. Zwei Formen sind zu finden: a) die orgelpunktartigen langen Klänge der (Solo-)Streicher und b) die Raumklangdisposition des Arcaspalts. Beide voneinander unabhängige Raum-Klang-Dispositionen setzen im Prologo ein und erscheinen mehrfach, aber nicht durchgängig im Prometeo. a) Orgelpunktartige Klänge und ihre Varianten In jedem Teil sind neue und dort spezifische Varianten gesetzt. Einen generellen Besetzungswechsel gibt es aber nur einmal in der Abfolge der Teile: Vom Prologo bis zur 2° Isola a spielen die Solostreicher diese Klänge, von 2° Isola c /Stasimo 1° bis zum letzten Einsatz in 3° Isola übernehmen sie die Streicher der Orchestergruppen und in der 5° Isola die Solobläser: • Im Prologo werden die Solostreicher nur leicht gefiltert auf zwei verschiedene
dreistufige Halaphonwege geschickt. Sie spielen wechselnd in meist mittlerer bis tiefer und selten auch in hoher Tonlage. Ihre Klangschicht ist nicht durchgängig zu hören, aber in langen und fragmentübergreifenden Einsätzen. Innerhalb des Prologo ist ihre Funktion nicht klar ersichtlich und scheint wechselhaft, wegen der größeren Länge der Fragmente der Solostreicher ist einzig die Verbindungsfunktion im Ablauf deutlich. Anbindungen an andere Klangschichten durch identische oder oktavierte Töne kommen ebenso vor wie andere Töne in derselben oder anderer Tonlage. • In der 1° Isola erhalten die tiefen bis hohen Klänge der Solostreicher eine komplexe live-elektronische Bearbeitung, und mit 4 und 8 Sekunden Verzögerung werden zwei verschiedene vierstufige, alle Lautsprecher in der Arca ansprechende Halaphonwege ausgeführt. Die orgelpunktartigen Klänge überlagern sich damit im Raum. Die Töne entsprechen praktisch immer denen der Orchestergruppen, sodass sie zusammen eine homogene Klangschicht bilden: Der Klang der Solostreicher wirkt im ganzen Raum und weitet die punktuelle und statische Räumlichkeit der Orchestergruppen. • In 2° Isola a, dem Io-Prometeo-Teil, spielen die Solostreicher in extrem hoher Tonlage. Sie werden elektronisch leicht mikrotonal variiert und mit extremem Hall versehen auf einen einzigen, die Arca durchquerenden dreistufigen Halaphonweg geschickt. Meist handelt es sich um längere, fragmentübergreifende Abschnitte mit eigenem, zu den anderen Klangschichten kontrastierendem Material und eigenständigem Verlauf, die aber nur unregelmäßig zu hören sind.
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• In 2° Isola c/Stasimo 1° erscheinen die orgelpunktartigen Klänge erstmals in
den Orchestergruppen – jedoch nur in den vier kurzen Ricordo lontanissimoFragmenten. • In 3 voci a spielen die Violinen der Orchestergruppen in extrem hoher Tonlage. Bis auf die ersten drei und letzten zehn Takte, die beide a capella den Solosängern vorbehalten sind, spielen sie durchgehend ihre an Warnsignale erinnernde Klangschicht, die deutlich mit der tief transponierten Schicht des Euphoniums kontrastiert. • In der 3° und 5° Isola des Verbund-Teils 3°–4°–5° Isola sind die orgelpunktartigen Klänge letztmalig in allen zugehörigen Fragmenten zu hören. Beide Isole sind mit verschiedenen Varianten der orgelpunktartigen Klänge versehen. In 3° Isola spielen die Orchestergruppen, meist die Streicher und selten auch der eine oder andere Bläser, in sehr hoher Tonlage. Es sind immer alle vier Orchestergruppen beteiligt, sodass ihr Klang in der ganzen Arca präsent ist. In 5° Isola übernehmen die drei Solobläser den Part, und zwar mit der Piccoloflöte, dem Ottavino und der relativ hoch spielenden Tuba. Sie spielen daher eine ausgeprägte Variante der mit Pausen oder Rhythmisierungen unterbrochenen orgelpunktartigen Klänge, die zudem in einem weiten Ambitus aus sehr hohen Klängen in Kombination mit deutlich tieferen besteht. Sie verlaufen über einen vierstufigen zickzackförmigen Halaphonweg in der Arca1. Kontext und Bezüge zum Libretto Im Vergleich treten verschiedene Funktionen der orgelpunktartigen Klänge zutage: dem Prologo und der 1° Isola verleihen sie raumklangliche Stabilität und Zusammenhang – wobei dies im Prologo, dem chaotischen Charakter des Teils entsprechend, geringer ausfällt als in der 1° Isola. In der 2° Isola a wandelt sich die Funktion der orgelpunktartigen Klänge. Sie stehen zwar in derselben Besetzung wie die 1° Isola, nämlich in dem die ganze Arca kreuzenden Halaphonweg und den meist fragmentübergreifenden Einsätzen, doch die Ausführung in den sehr und extrem hohen Registern suggeriert eine unspezifische Gefahr, ein Aspekt, der in späteren Teilen wieder aufgenommen werden wird. Zugleich weist die live-elektronische Bearbeitung der orgelpunktartigen Klänge, besonders die extrem starke Verhallung, auf eine Verbindung zum Coro lontanissimo im Arcaspalt, eine Raum-Klang-Disposition, die später noch zu betrachten sein wird (s.u. Arcaspalt). Die Klangschicht der Solostreicher ist hier unabhängig von den anderen und kommt nur unregelmäßig zum Einsatz, sodass sie für den gesamten Klangzusammenhang entsprechend wenig Stabilität entfalten kann. In 2° Isola c/Stasimo 1° ist die Ausführung im Register gemischt in dem Sinn, dass sowohl extrem hohe Ausführungen vorkommen wie solche in tieferen
1
Er verläuft gelegentlich über andere Lautsprecher, hält aber die Form (vgl. Kapitel »Analyse 3°–4°–5° Isola«).
Raum im Prometeo | 189
Registern, was den Ricordo lontanissimo-Gedanken illustriert (s. Kapitel »Analyse 2° Isola c/Stasimo 1°«). Die ständig präsente ›Gefahrensituation‹ in 3 voci a, charakterisiert mittels der orgelpunktartigen Klänge der Orchesterviolinen, ist in der Analyse dieses Teils bereits dargestellt worden. Die Textbezüge und Einsätze der orgelpunktartigen Klänge in den 3°- und 5° Isola-Fragmenten sind verschieden. In 3° Isola komponierte Nono nur Texte, die auf das Sesshaft-Werden, die Akzeptanz der Götterwelt und ihrer Gesetze verweisen. Thematisiert ist also eine stabile Statik. Die sehr hohe bis extrem hohe Tonlage der orgelpunktartigen Klänge weist jedoch gleichzeitig auf das Element der Warnung vor Gefahr. Diese Kombination ist in Bezug auf den von Nono in seinen späten Kompositionen häufig verwendeten Topos des Wanderers durchaus als Warnung vor den Gefahren der unbeweglichen Stabilität zu verstehen. Die Betrachtung der mit starken Varianten der orgelpunktartigen Klänge versehenen Fragmente der 5° Isola stützt den Gedankengang: Das dort thematisierte Transiente, das den Wunsch nach Änderung der Gesetze des Zeus hin zum Naturgesetz ebenso enthält wie die Philosophie des Wanderns und des allgemeinen Wandels, ist nun von einer regelmäßig wechselhaften Klangschicht unterlegt. Offenbar hat Nono die orgelpunktartigen Klänge entsprechend dem Bedeutungszusammenhang variiert. Damit entstand ein Feld klanglicher Varianten, das einer mathematischen Menge gleicht. Es unterscheidet sich von semantischen Bedeutungsfeldern sprachlicher Begriffe insofern, als dass Nono hier drei verschiedene sprachliche Begriffe miteinander kombinierte: Stabilität, Wechselhaftigkeit/Änderung und Gefahr. b) Raumklang des Arcaspalts und Bezüge zum Libretto Der Arcaspalt steht in direkter Verbindung zu den Nebenräumen. Klänge, die über die dort platzierten LS 11+12 gespielt werden, tragen als Additiv deren natürliche Akustik mit sich, wenn sie in der Arca hörbar werden. Zusammen mit den Zentrallautsprechern 9+10 bilden sie eine spezielle raumklangliche Form. Im Prometeo ist sie häufig disponiert und kommt in fast allen Teilen vor; ausgenommen sind nur 2° Isola b) Hölderlin und Interludio 2°. Für die neun Teile mit Arcaspalt-Disposition stellt sich die Frage, ob in Klang und Funktion trotz verschiedener Varianten Übereinstimmungen feststellbar sind. Die folgende Liste enthält deshalb auch den im Arcaspalt disponierten Text. Er wird hier jedoch nur dann vollständig zitiert, wenn dies in den Analysen noch nicht oder dort in einem anderen Zusammenhang geschah. Bereits in den Analysen hinreichend zitierte Textteile werden hier nur zusammengefasst: • Im ersten Abschnitt des Prologo ist der Arcaspalt immer zu den stark verhall-
ten und verzögerten Klangschichten des Coro lontanissimo disponiert, der die für die Tragödie wichtigen Götter und zugehörigen Begriffe nennt. Insgesamt ist er dort zehnmal zu hören – textverständlich ist er aber wohl nur beim Chor
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in der Arca. Allerdings ist der klangliche Bezug zwischen Sängern und dem Arcaspalt deutlich. In 1° Isola bilden die sechs Mitologia-Fragmente des wieder extrem elektronisch verhallten und verzögerten Coro lontanissimo eine Erweiterung der Arcaspalt-Disposition in die Arca hinein und erscheinen darin in sehr wechselhafter Ausformung. Die den Prometeo ermahnenden und kritisierenden Texte sind unbegleitet und ortsverständlich in der Arca. Ohne bedeutende elektronische Klangzusätze ist der Arcaspalt in 2° Isola a disponiert. Jedoch kommt er nur sehr selten in genau dieser Form vor, da die Solisten für Io (beide Sopran- und Alt-Solosängerinnen) und Prometeo (Solotenor) fast immer vom Chor und dessen eigenen, wechselnden Raum-KlangDispositionen in der Arca (darunter ein Halaphonweg) unterstützt werden. Den Eintragungen der Aufführungspartitur zufolge kommt die Arcaspalt-Disposition jedoch mehrfach im Part des vom Chor unterstützten Prometeo vor, wobei der Solotenor auf den Außenlautsprechern 11+12 disponiert ist, wie es dessen Standard-Disposition in 2° Isola a vorsieht, und der Chor dann immer auf die Zentrumslautsprecher 9+10 reduziert ist. Insgesamt neun Einsätze sind in dieser Konstellation in den Arcaspalt disponiert, wobei nur ein Einsatz ohne instrumentale Begleitung bleibt: In T. 30–35 singt Prometeo »terre inarrate« [ungepflügte Erde]. Die Mehrzahl der fünf Einsätze (T. 18–20, T. 82–85, T. 90f., T. 95–98, T. 130–133) ist nur von den Solobläsern begleitet, deren feste LS 2, 4 und 6 sehr nah am Arcaspalt liegen. Zwei Einsätze (T. 60–62; T. 120f.) werden von den Solostreichern in sehr hoher Tonlage begleitet, die einen Arca-übergreifenden 3-stufigen Halaphonweg ausführen. Ein weiterer Einsatz (T. 142) wird sowohl von den Solostreichern als auch den Solobläsern begleitet. Alle Texte des Prometeo in der Arcaspalt-Disposition beziehen sich auf die Flucht der Io und ihren zukünftigen Weg am Rand der zivilisierten Welt sind bis auf einzelne Worte verständlich gesetzt: – dich jagt (T. 18–20) – ungepflügte Erde (T. 30–35) – die Skythen ihre Wagen ziehen (T. 60–62) – Europa (T. 82) – Übertrete tiefe Flüsse (T. 90f.) – Geh zu den Quellen (T. 95–98) – Äthiopiens (T. 120f.) – Wo am heiligen Berg der Fluss entspringt (T. 130–133) – Wo Kanopos liegt (T. 142) Im Stasimo 1° ist eine leicht in die Arca hinein erweiterte Raum-KlangDisposition des Arcaspalts in den leisen Teilen (pp) zu finden, während die lauten Teile (ff) nur über die meisten Innen-Lautsprecher der Arca übertragen werden. Im Arcaspalt sind nur unverhallte Texte zu hören, die auf antike Traditionen weisen; sie sind teilweise miteinander überlagert: – Weder die Stimme des Orpheus (T. 2–5 und T. 9f.)
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– Noch Verzauberung (T. 2–5 und T. 9f.) – Noch Heilmittel der Phoibe (T. 2–5 und T. 9f.) – Weder Altar, noch Statuen (T. 25– 28) – Noch blutiges Opfer (T. 25– 28) – Oder das Eisen der Kalibe (T. 25– 28) – Sie kennt keine (T. 36f.) – Scham (T. 39f.) – unerreichbar hält sie (wechselnd zwischen Arcaspalt und ArcaInnenraum) – den Gipfel (T. 55f.) Im Interludio 1° dagegen wird die Altsolistin auf alle Lautsprecher (LS 1-12) übertragen, weshalb der Arcaspalt (LS 9–12) nicht mit anderen Raum-KlangDispositionen kontrastiert. In 3 voci a klingen die extrem verhallten und sehr tief transponierten Gläser im Arcaspalt, auch ganz genau dort, weil der Glasspieler in der Mitte der Arca, platziert ist. Gleichzeitig bilden die Gläser zusammen mit zwei Solobläsern eine kontrastierende und intermittierende Klangschicht zu den »tre voci [drei Stimmen] aus Solosängern, Euphonium und Violinen der Orchestergruppen. Etwas erweitert und zugleich auf die Außenlautsprecher reduziert ist hingegen die Chordisposition in 3°–4°–5° Isola, die generell auf die LS 6, 11 und 12 übertragen wird. Es handelt sich dabei um die sieben eingeschobenen textlosen Abschnitte des von den Orchesterstreichern begleiteten Chores, die (mit Ausnahme des letzten) alle mit »eco lontano (dal Prologo)« betitelt sind. Die sehr leisen (ppp) und langsamen MM = 30-Fragmente in 3 voci b sind ebenfalls mit den LS 6, 11 und 12 disponiert, die mittellauten (p) und mittelschnellen ♩=60-Fragmente hingegen werden auf die Zentrallautsprecher 9+10 übertragen, während die sehr lauten (fff) und sehr schnellen MM = 120Fragmente ausschließlich über vier Arca-Lautsprecher (LS 1, 3, 5+8) zu hören sind. Die Texte der MM = 30-Fragmente haben jedoch eine deutlich andere Thematik als die bisher genannten Texte der Klänge im Arcaspalt, die von räumlicher wie zeitlicher Ferne sowie von konstanter Bewegung und Wandel handeln: – Höre – In Stille zu verharren – Die dauerhafte Leere – Eine schwache Kraft ist dem Gedanken gegeben: Stillsetzung – Glückliche Momente – Aber es reicht, um herauszusprengen – Hör ihr/ihnen zu Im Stasimo 2° sind die Solosänger und Solobläser durchgehend ebenfalls verhallt und verzögert im Arcaspalt disponiert. Der Text des Finales, der das Gesetz des Wandels und des Wiederkehrenden, die Unbesiegbarkeit in der Bewegung und die Erneuerung von Stille feiert, ist durchgehend in der Arca ortsver-
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ständlich bei den Solosängern. Wie im Prologo sind die klanglichen Bezüge zum Arcaspalt deutlich, zumal die Solobläser keine Kontraste spielen. Der Vergleich ergibt, dass meisten Arcaspalt-Dispositionen thematisch im Zusammenhang mit Distanzen stehen, sei diese nun historisch/zeitlich gemeint oder räumlich. Meist sind es aber historische Entfernungen wie im Coro lontanissimo des Prologo und der 1° Isola sowie im textlosen Einsatz in der 5° Isola. Die ähnlich stark verhallten Gläser in 3 voci a stehen klanglich in diesem Zusammenhang. Ohne live-elektronischen Hall bleibt der antike Textanteil in Stasimo 1°, und die gleichfalls nicht mit Hall versehenen Texte des Prometeo in 2° Isola a handeln, wie erwähnt, von räumlicher Entfernung. Die Texte im Arcaspalt in 3 voci b eröffnen ein neues Themenfeld, das auf den ersten Blick nicht mit räumlichen oder zeitlichen Entfernungen in Einklang zu bringen ist: Das »Verharren in Stille«, »die dauerhafte Leere«, »die Stillsetzung«, der vom »schwachen Gedanken« hervorgerufene »glückliche Moment«, der »reicht … um herauszusprengen«2. Die Disposition dieser eher rätselhaften Zeilen im für den Prometeo so herausragenden Arcaspalt wird jedoch im Stasimo 2° aufgelöst, dessen Text vollständig dort disponiert ist. Zu dem darin proklamierten natürlichen Gesetz und seinen dynamischen Eigenschaften gehören das »Erinnern«, das »Erneuern« und das »Wiederherstellen«3; alle drei Begriffe setzten den Kontakt zum historisch Entfernten voraus. Man könnte daher annehmen, dass die Zeilen von 3 voci b im Arcaspalt auf die Öffnung der Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit zielen, sodass der Austausch zwischen ihnen und damit die dynamischen Prozesse des natürlichen Gesetzes möglich werden. Mittel des Raumklangs Andere Mittel und Effekte des Raumklangs im Prometeo entfalten spezifische Wirkungen nur im Rahmen einzelner Teile und sind auch nur auf diese zu beziehen, auch wenn sie als Raumklang erzeugende Mittel im gesamten Prometeo vorkommen. Die Frage ist daher, in welcher Funktion sie in einzelnen Teilen agieren und ob sich daraus teilübergreifende Einsatzweisen einzelner Raumklangmittel ableiten lassen. Die wichtigsten des Prometeo sind: • a) Bewegungen/Dehnungen, • b) statische Raumpunkte/Flächen, • c) Raumresonanzen, Hall und ihr Verhältnis zu Stille.
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Zitate aus dem Libretto von 3 voci b; s. Kapitel »Analyse 3 voci b« oder »Werkstatt Libretto«. Zitate aus dem Libretto von Stasimo 2°; s. Kapitel »Analyse Stasimo 2°« oder »Werkstatt Libretto«.
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a) Bewegungen/Dehnungen In dieser Kategorie geht es um verschiedene räumliche Klangverläufe. Dazu zählen die kontinuierlich verlaufenden Halaphonwege, die eher ›sprunghaften‹ Orchesterfiguren sowie Ausdehnungen von Klängen in der Raumfläche, die bei Übernahmen von Klängen an andere Musikerpositionen entstehen. Halaphonwege Schon im Prologo waren Halaphonwege mit zwei verschiedenen Funktionen belegt: • textbezogene und ihn figurativ ausdeutende Raumbewegungen zwischen den
Sängern der Benjamin-Texte und den Sprechern der mythischen antiken Genealogie, • die Arca durchlaufende Halaphonwege als Darstellung der Unruhe bzw. des Chaos, die Nono in seinen Skizzen mehrfach notierte4 – wobei diese auch durch die vielen parallelen Klangschichten erzeugt wurden. In den folgenden Teilen des Prometeo kommen Textausdeutungen und reine Unruhe-Faktoren in den zahlreichen Halaphonwegen seltener vor. Häufiger scheinen die Halaphonwege den Text der jeweiligen Teile zu illustrieren oder sie verbinden räumlich oder zeitlich getrennte Klänge: • In 1° Isola dienen die beiden verschiedenen, aber gleichzeitig ablaufenden und
alle Innen-Lautsprecher der Arca berührenden Halaphonwege mit den Basisklängen der verschieden verzögerten Solostreicher der räumlichen Klanganbindung. • In 2° Isola a ist nur der die Io begleitende Chor mit einem 4-stufigen Halaphonweg belegt, was ihren Irrweg auf der Flucht vor der Bremse5 illustrieren könnte, während der dreistufige Halaphonweg der extrem verhallten und eine eigene Klangschicht bildenden Solostreicher keine direkte Funktion erkennen lässt. • In 2° Isola b) Hölderlin lebt der Signal- und Halaphonweg der 1° Isola in leichten Tempovariationen wieder auf, dieses Mal aber mit den Stimmen der beiden Solosoprane. Eine räumliche Anbindung ergibt dies hier aber nicht, weil die gleichzeitig hörbare Klangschicht der Solobläser zu jener der Sängerinnen kontrastiert. Daher erscheinen beide Halaphonwege wie die Illustration
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Vgl. die Kapitel »Analyse Prologo« und »Werkstatt Partiturgenese«. Das deutsche Wort »Unruhe« verwandte Nono häufiger als »Caos«, vielleicht weil er damit nicht nur das Chaos als Urzustand der Welt vor der Geburt der Götter meinte. Es ist die Strafe der Io, die Hera, die Gattin des Zeus, ihr für dessen Nachstellung auferlegte.
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eines Irrwegs, den der Hölderlin-Text für die Menschen als Fallen ins Ungewisse beschreibt. • Im Interludio 1° werden wieder zwei parallele vierstufige Halaphonwege gleichzeitig für die Klänge der Solobläser ausgeführt, aber die räumlichen Stationen sind neu. Nur sechs Innen-Lautsprecher berühren beide Halaphonwege, zwei Lautsprecher übertragen also Stationen beider Wege, während die Soloaltistin gleichzeitig auf allen 12 Lautsprechern zu hören ist. Mehr als die Funktion raumklanglicher Kontraste ist für die Halaphonwege hier nicht ableitbar, zumal der Text der Altistin nichts von einer Bewegung oder einer ähnlichen Thematik erzählt. • In 3 voci a verläuft die verdichtete Klangschicht des Euphoniums über eine Variante der beiden vierstufigen Halaphonwege (vgl. 1° und 2° Isola). Der elektronische Anteil entwickelt das in der Analyse beschriebene ›Eigenleben‹, das die ganze Arca im Innern zeitweise vollständig dominiert und als ganze Klangschicht interpretative Funktion erfüllt (s. Interpretation in Kapitel »Analyse 3 voci a«). • Die Halaphonwege in 3°–4°–5° Isola sind wechselhaft wie die stationären Raumklänge. Wie in der Analyse beschrieben, kommen sie hauptsächlich dann zum Einsatz, wenn es um die Themen Aufbruch und Bewegung geht, was ihnen interpretative Funktion verleiht. ›Sprunghafte‹ Klangwege in den Orchestergruppen Der Materialtransport zwischen den Orchestergruppen kann verschiedene Formen annehmen: Rechts- oder Linksdrehungen, Kreuzform oder Zickzack sind mehrfach vollständig, manchmal auch nur teilweise komponiert. Dies wurde bereits in der Einleitung thematisiert; im Lauf der Analyse kam noch die Form der Mikro-Raumfigur hinzu, die Nono gelegentlich ausführt, wie in der 1° Isola, T. 59–63 für eine Orchestergruppe (s. Kapitel »Anaylse 1° Isola«). Geradezu exzessiv ist die Zahl der Raumfiguren der Orchestergruppen im Prologo, wo sie teils illustrativ eingesetzt sind, meist aber nur zu der von Nono gewünschten Unruhe beitragen (s. Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«). In der 1° Isola, wo die Orchestergruppen die dominante Klangschicht bilden, findet man sie dagegen seltener, und kaum noch sind sie in 2° Isola a zu hören. Erst in 3°–4°–5° Isola scheinen sie wieder auf. Weil sie nur die 3° Isola begleiten, sind sie bei Weitem nicht so ausgeprägt wie am Anfang des Prometeo. Selbst in den Eco lontano (dal Prologo)-Begleitungen des Chors ist nur eine Raumfigur komponiert (d-Einsatz Eco lontano, T. 132f.). Dehnungen des Klangs im Raum Der Unterschied zu den Drehungen oder anderen Raumbewegungen ist die räumliche Erweiterung von Klängen im Raum. Der Klang wandert nicht nur fort, sondern bleibt weiterhin stabil am Ursprungsort. In den bereits beschriebenen Orchesterfiguren sind einige solcher Dehnungen enthalten, etwa in Einsätzen nacheinander (s. Kapitel »Analyse 1° Isola«). Auch an anderen Stellen kommen in
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den Orchestergruppen sehr kurzfristige räumliche Dehnungen vor. Sie scheinen keine explizite dramatische Funktion zu erfüllen, halten aber den Klang bei dynamischen Wechseln in der Arca in Bewegung. Deutlich großflächiger sind die Klangübernahmen der Solistengruppen untereinander oder zu/von den Orchestergruppen bzw. bei Erhöhung der übertragenden Lautsprecher. Letzteres macht sich besonders in 2° Isola a an einigen Stellen bemerkbar, wenn die Klänge der Io sprunghaft von einem (LS 7) auf mehrere Lautsprecher (LS 1, 7, 8, 9, 10) übergehen und damit die Arca dominieren. Dies kommt mehrfach vor, und zwar mit einer Ausnahme (T. 92f.) immer, wenn zugleich die Prometeo-Figur (Solotenor: sechsmal oder Chor einmal) singt. Die räumliche Dehnung entspricht mithin der dramatischen Situation. Nachdem zunächst der meist leise singende Prometeo/Solotenor und dessen entfernte Raumdisposition in den Nebenräumen der Arca (LS 11+12) hörbar war, dominiert wieder die weite klangliche Raumausbreitung der Io/Solosängerinnen. Die temporäre Rücknahme ist wohl auch der klanglichen Eigenart der 2° Isola geschuldet, die nur den Solostreichern eine eigene Klangschicht zubilligt. Alle anderen Musiker und Sänger spielen und singen immer nur Varianten einer Klangschicht, obwohl sie klanglich und räumlich eindeutig den dramatischen Figuren Io und Prometeo zuzuordnen sind. Dies könnte man, wenn man nicht genau die Klangvarianten hörend verfolgt, auch als ständigen Wechsel der räumlichen Klangausbreitung respektive der Dehnungen verstehen. Ein solcher Zwiespalt besteht nicht in 2° Isolac/Stasimo 1°, denn dort sind die Klangvarianten der Orchestergruppen deutlich enger an die Töne des Chores bzw. der Solosänger gebunden, sofern sie zusammen auftreten. Einbezogen ist auch die Dynamik, denn mit ihren pulsartigen Wechseln dehnt oder verengt sich der Raum: längs in der Achse bei leisen Klängen (ggf. auch längs und rechtslastig quer wie in T. 25–28, wenn Chor, Solosänger und Orchestergruppen gemeinsam spielen), linkslastig quer oder rechtslastig quer mit dem ›Ring‹6 aus Orchestergruppen bei lauten Klängen (vgl. Analyse 2° Isola c/Stasimo 1°, T. 48–50). Eine dramatische Funktion ist aus diesem wechselnden Raumausbreitungen aber nicht direkt abzuleiten. In 3 voci b kann man die 3 Raumzustände ebenfalls als, wenn auch abrupten, Dehnungswechsel verstehen. b) Statische Raumformen und Raumflächen Im Unterschied zu den raumbeweglichen Klangformen bleiben die statischen Klangpunkte oder Klangflächen in ihrer räumlichen Form unbeweglich und bilden mit vorhergehenden oder nachfolgenden Fragmenten auch keine übergeord-
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Wenn alle Orchestergruppen gleichzeitig spielen, entsteht der Eindruck eines Rings aus fast identischen Tönen, der die Arca umfasst – auch wenn dieser ›Ring‹ in der Aufführung in Mailand 1985 wegen der Platzierung der Orchester 3+4 etwas außerhalb der Arca nicht ganz perfekt erscheint.
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nete Raumbewegung wie Dehnungen. Die Analysen haben gezeigt, dass diese raumklangliche Unbeweglichkeit nie über einen ganzen Teil anhält: Auch Klangschichten, die über mehrere Fragmente verlaufen, werden kurzfristig unterbrochen, und selbst bei langen elektronisch erzeugten Nachklängen (Hall, Verzögerungen) wandelt sich die Fläche kurzzeitig, weil die Instrumente in den notierten Pausen aussetzen. Im Innern der statischen Raumformen jedoch sind ständige Wechsel zu hören, die von Besetzungsänderungen, Dynamikwechseln sowie Ton- und Rhythmusvarianten der Klangschichten stammen. Ebenso wie die Raumklangbewegungen sind die statischen Raumformen hauptsächlich spezifisch für jeden Teil des Prometeo, was an den Lautsprecherdispositionen in den Analysen abzulesen ist. Teilübergreifende Raumformen für eine Instrumentengruppe sind dagegen selten. Die Sprecher etwa sind immer auf den sie umgebenden LS 3+8 zu hören, doch sie treten nur im Prologo und 2° Isola b) Hölderlin auf. Bei anderen Musikergruppen sind Wiederholungen einer Raumdisposition mit denselben oder sehr ähnlichen Klängen extrem selten. Nur in entfernteren Teilen bzw. nach längerer Zeit treten sie auf, was ein erinnerndes Hören erschwert. So sind die Solobläser zusammen mit den LS 2+4 im Prologo (nur im 1. Abschnitt) und in 2° Isola a disponiert7, die Gläser mit ihren extrem tief transponierten und extrem lang verhallten Klängen erscheinen mit den LS 5, 6, 7 im Prologo und in Interludio 2°. In 3 voci a sind sie dagegen mit denselben Klängen im Arcaspalt disponiert, was in Bezug auf den Klang hier bereits diskutiert wurde. Der zu Prometeo gehörende Chor mit den LS 9+10 in 2° Isola a erscheint in derselben Disposition wieder in 3 voci b, was nicht nur sehr entfernt ist, sondern beide Male auf andere Zusammenhänge verweist. Übergeordnete Bedeutungen sind aus den Raumdispositionen daher nicht erkennbar. Insofern scheint eine späte Wiederholung derselben statischen Raumform von Nono beabsichtigt zu sein. Der Vergleich der Anteile von Raumklangbewegungen und statischen Raumformen im Prometeo ergibt, dass jeder Teil beide Gattungen enthält. Auch wenn statische Raumformen zu überwiegen scheinen, sind Raumklangbewegungen nicht bedeutend seltener. Besonders in den dichteren Anfangsteilen sind mehrere verschiedene, teilweise auch parallele Halaphonwege vorhanden. Gleichzeitig sind auch Orchesterfiguren komponiert wie im Prologo. Mit der Abnahme der Texturdichte nehmen auch statische Raumformen wie räumliche Klangbewegungen ab. Erstmals ohne Halaphon kommt 2° Isola c/Stasimo 1° aus, die aber die genannten Dehnungen enthält. Auch die drei letzten Teile 3 voci b, Interludio 2° und Stasimo 2° sind ohne Halaphonwege disponiert. Doch kann man 3 voci b wegen des kontinuierlichen Wechsels der statischen Raumfiguren des7
Zusammen mit LS 1 sind Soloklarinette und Soloflöte in 3 voci a disponiert und mit starker klanglicher Verfremdung in einigen Fragmenten der nachfolgenden 3°–4°–5° Isola.
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selben Musikers und desselben Materials, das nur noch die Dynamik wechselt, auch als kontinuierlichen Wandel der Dehnungen verstehen, während Interludio 2° definitiv kleine Figuren der Orchestergruppen und das Stasimo 2° spätestens am Ende eine Klangbewegung aus der Arca in die Nebenräume enthält. c) Raumresonanzen, Hall und ihr Verhältnis zu Stille Raumresonanzen und Hall bilden eine neue Raum-Klang-Kategorie, deren Raum-Charakter sich deutlich von den beiden vorher abgehandelten RaumklangDispositionen und ihrer Umgebungsgestaltung unterscheidet. Raumresonanzen sind hörbares Resultat von akustischen Reaktionen der spezifischen architektonischen Umgebung auf den Klang, wobei neben den absoluten Größen auch das relative Verhältnis von Schallquelle(n) und Hörer(n) zu den architektonischen Umgebungselementen eine Rolle spielt. Die akustischen Umgebungsreaktionen erscheinen dem Hörer als Additiv zum Originalklang8 – womit die Schwelle vom Umgebungsraum zum Tonraum erreicht, vielleicht auch überschritten ist, wenn sich der Klangcharakter deutlich verändert. Nono nutzt und überschreitet diese Schwelle, wenn er beim Coro lontanissimo einen künstlich erzeugten und extrem unnatürlichen Hall zusammen mit leichten Transpositionen auf den Originalklang anwendet und ihn in den natürlichen Hallraum der Nebenräume der Arca übertragen lässt. Der zusätzlich mit natürlichem Nachhall versehene Gesamtklang erreicht über den Arcaspalt die Hörer. Nono verwendet diesen Coro lontanissimo-Effekt mehrfach, meist für den Chor, einmal auch für den Hall. Im Prometeo ist das die komplexeste Art, natürliche und elektronische Resonanzen zu komponieren – aber bei Weitem nicht die einzige. Rein elektronisch erzeugt und ohne natürliche Resonanzen sind etwa die Kombinationen aus extrem tiefer transponierten und extrem verhallten Klängen der Gläser im Prologo und Interludio 2°. Wieder kann man wohl die extreme Verhallung als Zeichen von sehr weiter Entfernung und/oder historischer Verbindung verstehen. Die Einsätze der stark verhallten Klänge in der Arca am Anfang und kurz vor Ende des Prometeo unterstützen demnach den dramatischen Verlauf: Zunächst etablieren sie den von außen kommenden Klang und im Stasimo 2° bereiten sie dessen Weggang vor. Die nächste Variante setzt Nono als häufigste ein: die Nutzung der natürlichen Resonanzen im Nachhall. Die so gestaltete Stille bzw. die Pausen im Prometeo zeigen deutlich, dass Stille bzw. die Gestaltung des Nachhalls ebenso Teil des Prometeo ist wie der direkte Raumklang. Auffallend ist das Aufkommen der Stillephasen, denn im Gegensatz zu den Raumklangbewegungen und den statischen Raumformen kommen sie nicht in jedem Teil vor. In drei Teilen sind keine Stille- und Nachhallphasen9 vorhanden: 2° Isola b) Hölderlin, Interludio 1° und
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Sofern die reflektierenden Umgebungselemente nicht so weit entfernt sind, dass es zum Echo kommt. Damit arbeitete Nono jedoch nicht im Prometeo. Gemeint sind Tutti-Pausen über mehrere Zählzeiten.
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Stasimo 2° kommen ohne sie aus, wobei die Textur in den letzten beiden Teilen ohnehin sehr dünn ist und die Musiker tendenziell sehr leise spielen oder singen, sodass Nachhall hier kaum hörbar wäre. 2° Isola b) Hölderlin ist dagegen klanglich monolithisch angelegt, was Nachhall- und Stillephasen ausschließt. Die raumakustischen Verhältnisse in Mailand sind nicht genau bekannt – dennoch kann man anhand der hier vorgenommenen Analysen abschätzen, dass es relativ selten zu absoluter Stille in der Arca kam und der Nachhall zu verschiedenen Momenten durch neuen Klang häufiger unterbrochen wird. Die sonst übliche Unterscheidung zwischen Klang und Nichtklang erweitert Nono im Prometeo also zu einem dynamischen Kontinuum, das mit extrem lautem Klang beginnt, über verschiedene dynamische Abstufungen bis zu extrem leisem Klang verläuft und dann übergangslos zu den nachhallenden Klängen bis zur absoluten Stille reicht. Qualitativ betrachtet, wächst im Verlauf des Prometeo der Anteil der Stilleund Nachhallphasen. Mitbedacht ist hierbei die Relativität von Stille und Klang im Raum. Je leiser die von den Musikern gespielten Klänge, desto schwieriger ist es für Hörer, den Nachhall wahrzunehmen. Auch die Textur aller komponierten Klangschichten, ihre Dynamik und der Gesamtumfang eines Teils spielen dabei eine Rolle, dass im Verlauf des Prometeo die absolute Anzahl der Stille- und Nachhallphasen kürzer wird. Bis zu einem bestimmten Maß nähern sich Klang und Stille/Nachhall also einander an. Doch der Prometeo endet wohl nicht in vollständiger Stille. Zu deutlich entfernt sich am Ende (Stasimo 2°) der Klang in die Nebenräume der Arca und gerät damit außer Hörweite des Publikums. Auch der Text deutet darauf hin, dass die Handlung nicht endet, sondern weitergehen wird. Somit gibt es im Verlauf des Prometeo kurze Momente absoluter Stille, an dessen Ende ist absolute Stille jedoch zwiespältig einzuschätzen. Wenn man Stille als Phänomen betrachtet und mit dem Text in Verbindung bringt, eröffnet sich eine neue Verstehensvariante. Immerhin kommt das Wort »Stille« allein oder als Kompositum ab dem Interludio 1° mehrfach im Libretto vor, also ab dem Drehpunkt des Prometeo: Interludio 1°: vergangene Stillen 4° Isola: Deine Worte in seiner Stille 5° Isola: Wahrheit der blauen Stille 3 voci b: In Stille zu verharren STILLSETZUNG [sic. dt. im Original] Aus der Stille einen Kristall bilden • Stasimo 2°: Die Stillen zu erneuern • • • •
Stille ist demnach ein positiv besetzter Zustand der Ruhe, der nichts mit Verstummen oder Unbeweglichkeit gemein hat. Das zeigt der Kontext: Im Stasimo 2° wird das Prinzip des Wandelns und Erneuerns im Naturgesetz gepriesen, während »blau/azurro«, das in der 5° Isola zur »blauen Stille« verschmolzen ist,
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als allein stehender Begriff ebenfalls mehrfach im Libretto vorkommt. Dort steht es für die Farbe des Himmels und des Meeres: wo das Blau sich öffnet (4° Isola), tausend blaue Segel (3° Isola), die Wahrheit des Blauen (5° Isola). Alle vier Einsätze von »blau« stehen vor der Wortfolge »blaue Stille« der 5° Isola, was das Verständnis von Stille als Element der Offenheit, der Reise und Bewegung unterstützt – ein Begriffsfeld mithin, das im Prometeo durchweg positiv besetzt ist. Das erklärt, warum Nono Stille als Abstufungen des Nachhalls kompositorisch gestaltet hat und eröffnet vielleicht auch ein Verständnis dafür, warum absolute Stille gelegentlich im Verlauf der Aufführung in Mailand vorgekommen sein wird – wenn auch nicht text- und klangsynchron. So kann auch das Wegbewegen des Klangs aus der Arca am Ende des Prometeo verstanden werden: Die Stille ist Element der Bewegung, die ins Offene führt. Sie ist aber wiederkehrend und endlos, wie der Prometeo als Ganzes nahelegt – nicht nur am Schluss. Fazit Somit erweist sich Prometeo als der ewig Suchende, der Erfinder und Helfer, der ungeachtet der Gefahren wandernd am Rand bzw. außerhalb der Gesellschaft und ihrer Zivilisation lebt. Seine Verbannung erhält er aus eigenen Stücken aufrecht. Dort ist er frei und unbesiegbar, und er kann nach den natürlichen Gesetzen des Werdens und Vergehens leben. Auch wenn es am Ende den Anschein hat, ist die Figur des Prometeo tatsächlich kein romantischer Held10 gemäß dem Typus des einsamen Rebells. Denn Rebellentum erfordert direkten und kontinuierlichen Kontakt zur Gegenseite – es mag zwar einsame Rebellen geben, aber keine isolierten und gänzliche unbeachteten. Prometeo dagegen durchläuft bei Nono einen längeren – und wie es scheint auch schmerzhaften oder zumindest anstrengenden – Prozess der Entscheidung für das Weitergehen ins Ungewisse. Ob ihn das am Ende wieder in die Gesellschaft führen wird, bleibt unklar und auch, ob er dort willkommen wäre, denn immerhin beurteilte der Mitologia-Chor schon in der 1° Isola Prometeo Eigenlob als Wohltäter für die Menschen ausgesprochen kritisch. Damit ist die Figur des Prometeo wohl auch nicht als ambivalentes Wesen zu verstehen, das zwischen Zivilisation und Wildnis wechselt, als ein Fährtenleser etwa, als ein zu Heilungszwecken mit der Geisterwelt in Kontakt stehender Schamane, als ein kulturbringender Trickster wie Till Eulenspiegel oder als ein Abbild der mittelalterlichen literarischen Figur des Moriz von Crâun11 etc. In den
10 Vgl. Kapitel »Analyse Prologo«; Cacciari stattete seinen Prometeo explizit nicht mit romantischen Zügen aus (vgl. Jeschke 1997, S. 23). Ausgeschlossen auch ist das christlich geprägte Verständnis von Prometheus als eines Erlösers, der den Menschen dient und dabei untergeht, selbst wenn weder Nono noch Cacciari davon sprechen. 11 Verserzählung aus dem frühen 13. Jahrhundert, erstmals schriftlich im Ambraser Heldenbuch (16. Jh.) überliefert. Meine moderne Ausgabe: Ulrich Pretzel (Hg.), Tübin-
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strukturalistischen Diskursen der 1980er Jahre waren grenzüberschreitende Figuren häufig Thema12; dasselbe gilt für Diskussionen dualer und getrennter Strukturen, wie sie z.B. Claude Lévi-Strauss13 oder Edmund Leach14 beschrieben haben. Sowohl bei Aischylos als auch bei Nono und Cacciari ist der gefesselte Prometheus/Prometeo eine Figur, die getrennt von der Zivilisation lebt und nicht (mehr) mit ihr in Verbindung steht15. Für die Frage nach der Aufführungssituation der Raumkomposition Prometeo, tragedia dell’ascolto ist diese Überlegung wichtig: Immerhin erlebt das Publikum in der Arca die Aufführung von allen Seiten und von mehreren Stockwerken aus. Es liegt zumindest aus der heutigen Perspektive im Jahr 2020 nah, nach einer möglichen immersiven Wirkung der Aufführung zu fragen, deren frühe Formen der Erfahrungsästhetik in den 1980er Jahren von Philosophen wie Wolfgang Welsch, Gernot Böhme und Rüdiger Bubner16 beobachtet und wenig später beschrieben wurden. »Ascolta/Höre« – dieser häufig wiederkehrende Appell Nonos erweckt zwar den Anschein, doch den vorliegenden Analyseergebnissen zu Raumaspekten und Text zufolge deutet nichts darauf hin, dass Nono auf immersive Wirkungen im Prometeo zielte. Vielmehr müssen Hörer aufmerksam und mit dem Verstand wahrnehmen, und das distanziert sie zugleich vom musikalischen Geschehen. Auch die Grenze zwischen Publikum und Musikern wird nicht verwischt. Im Gegenteil bilden die Laubengänge, der Arcaspalt und die Nebenräume eine Bühne, die vom Publikumsbereich deutlich abgegrenzt ist.
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gen 1973. Der Held der Geschichte wird am Ende zu einem »irren Hund« (vgl. FN 16), weil er seinen gesamten Besitz verschenkt und anschließend die Regeln der Gesellschaft bricht. Z.B. auch im Film Stalker (1979) von Andrej Tarkowskij, den Nono sehr schätzte. Claude Lévi-Strauss hat als Ethnologe und Soziologe in fast allen seinen Büchern den dualen Strukturalismus untersucht, besonders deutlich in: Der Weg der Masken, Frankfurt a.M. 1977. Edmund Leach (Kultur und Kommunikation, Frankfurt a. M. 1978) untersuchte besonders kulturelle Riten und Handlungsweisen in ihren abgrenzenden Funktionen. Vergleichbar etwa den »irren Hunden«, die Fritz Kramer in seinem gleichnamigen Aufsatz in Kursbuch Nr. 65 (Spielregeln, 1981, S. 1–8) beschreibt. Im Kontext der Konstruktion der Arca ist auch mehrfach vom spätmittelalterlichen Narrenschiff die Rede, z.B. Jeschke 1997 (S. 181 und S. 206) und Nono berief sich dazu gern auf Sebastian Brants Narrenschiff von 1494 (Restagno 2004, S. 68), wobei im Kommentar auf Nonos Missverständnis des Textes hingewiesen wird (ebd., S. 156). Tatsächlich ist Brants Moralsatire als Ablehnung jeglichen Narrentums zu verstehen, denn er beschreibt Verhaltensweisen als dumm und närrisch – gleichwohl definieren seine Beschreibungen indirekt das nicht-närrische, also akzeptable Verhalten (moderne Ausgabe u.a. bei Reclam Stuttgart). Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990; Gernot Böhme: Atmosphäre, Frankfurt am Main 1995; Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main, 1989. Alle drei Philosophen beschäftigen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Verhältnis von Wahrnehmendem und Kunst bzw. der auf die Wahrnehmung gerichteten Gestaltung von Umgebungen. Von Immersion ist noch nicht die Rede – doch ist eine Vorstufe davon inhärent.
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Zwischen diesen getrennten Bereichen findet dennoch – im besten Fall – Interaktion statt. Die Musik an den wechselnden Klangorten und in den verschiedenen Klangschichten übt auch in ihrer Durchsichtigkeit eine suggestive Wirkung auf die Hörer aus und zieht sie in ihren Bann, sofern man dem mehrfachen Aufruf folgt und aktiv, aufmerksam und wach auf die Musik und ihre räumlichen Aspekte hört sowie am besten auch die verschiedenen Texte des Librettos versteht. Nonos Prometeo stellt hohe Ansprüche an die Hörer. Sie werden noch höher, wenn man die Vielzahl der kompositorischen, klanglichen und textlichen Quellen und Zitate bedenkt, die Nono zusammen mit Cacciari den Studien von Lydia Jeschke, Klaus Pauler, Pauline Driesen und Carola Nielinger-Vakil u.a. zufolge in den Prometeo aufgenommen hat. Die in diesen Untersuchungen vorgetragenen Ergebnisse zum Prometeo waren für die in diesem Buch vorgenommene Analyse der Raumaspekte wichtig, obwohl sie sich nicht immer mit den hier aufgefundenen Zusammenhängen decken, weil sie andere Schwerpunkte setzen und/oder in eine andere Verstehensrichtung weisen. Die damit einhergehende Widersprüchlichkeit liegt im Prometeo selbst: Nono hat darin mehrdeutig komponiert, absichtlich verschiedene Aspekte gleichzeitig und/oder unscharf ausgedrückt, um damit den Hörern verschiedene Perspektiven und Zugangsweisen zu ermöglichen. Natürlich lässt jede gute Kunst viele Verstehensweisen zu, anders als andere Künstler hat Nono dies scheinbar bewusst mit komponiert. Dies ist ein weiteres Resultat der hier vorgestellten Analyse, die einen Überblick über die Klangverhältnisse im ganzen Prometeo gab und deren Zusammenhänge mit den Texten sowie die sich im Zusammenspiel ergebenden Bedeutungen vorstellte. Dass noch Fragen und detaillierte Einblicke in einzelne Raumaspekte offen bleiben, versteht sich schon wegen des Umfangs und der Komplexität des Prometeo von selbst. Denkbar erscheint daher auch, dass sich hier genannte Aspekte vertiefen und erweitern oder aber als weniger bedeutend herausstellen können, besonders wenn man nach weiteren Kontexten und Bedeutungszusammenhängen im Prometeo sucht. Einige davon schienen schon im Lauf dieser Analyse auf, doch sie wurden hier nicht weiter verfolgt, weil sie von der Frage wegführten, wie Nono den Raum komponierte und welchen Stellenwert er im Prometeo einnimmt. Diese Frage kann hier grob beantwortet werden: Die Vielzahl der virtuos komponierten hörbaren Raumklangvarianten deutet auf einen sehr hohen Stellenwert des Raums im Prometeo. Nono verwandte hierfür Kompositionsweisen, von denen einige seit der Zeit der cori spezzati in der Renaissance gebräuchlich waren, während andere nur mit den technischen Mitteln des 20. Jahrhunderts realisierbar sind oder sie zur Voraussetzung haben. Einige davon hat Nono in Zusammenarbeit mit Haller und Vidolin auch speziell für den Prometeo entwickelt und erfunden. Er baute dabei auch auf seine jahrelangen Erfahrungen in der Komposition von akustischer und elektroakustischer Raummusik auf. Für den Prometeo kann man also sagen, dass Nono Raum nicht nur früh in seine Kompo-
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sitionskonzepte einbezogen und ihn komponiert hat, er hat ihn darin auch mit anderen Kompositionselementen und mit dem Text des Librettos verwoben und zum gleichwertigen Kompositionsparameter gemacht.
Werkstätten
WERKSTATT PARTITURGENESE Über den Beginn von Nonos Arbeiten am Prometeo gibt es verschiedenen Angaben. Sicher lässt sich der Anfang der Zusammenarbeit zwischen ihm und Massimo Cacciari zur gemeinsamen Entwicklung des Stoffs auf das Jahr 1978 datieren1. Eine Vielzahl von bearbeiteten Manuskriptseiten, Briefen und Erläuterungen zwischen beiden ist im Archivio Luigi Nono erhalten2. Schon von Anfang an war die Verbindung des Prometheus aus der Tragödie des Aischylos mit weiteren antiken mythischen Gestalten und Texten inklusive der zusammen mit Cacciari erfundenen, aus Prometheus und Odysseus bestehenden Doppelgestalt und die Herausarbeitung spezifischer handelnder Charaktere geplant. Sie waren in sechs inselartigen, einzelnen Charakteren zugeordneten Episoden sowie einem »Wanderer« gewidmeten, als Esodo = Exodus bezeichneten Schlussteil angeordnet3 und sollten mit Texten von Friedrich Hölderlin, Arnold Schönberg und Walter Benjamin kontrastiert werden4. Über eine Reihe dokumentierter und teilweise fundamentaler Änderungen zog sich die Abfassung des Librettos bis zum 25.12.1982 hin, als Massimo Cacciari seine handschriftliche Fassung abschloss5. Obwohl Nono seine Skizzen nur sehr selten datierte, gibt es Hinweise darauf, dass er schon vor Abschluss des Librettos mit der Komposition begann, denn einige Notenskizzen zeigen Texte aus früheren Fassungen des Librettos6. Es existieren zudem verschiedene Grobverläufe und Besetzungen von Instrumenten (z.B. verschiedene Saxophone7) und Stimmen (z.B. 3 Altstimmen für die Person
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ALN 51.03.05/01. Unter den Systemnummern ALN 51.03 – 51.07. ALN 51.04.01/20; es handelt sich dabei um die häufig abgedruckte Skizzenversion in der Handschrift Massimo Cacciaris. Die Änderungen der zitierten Texte und Ansätze werden hier nicht berücksichtigt. Datierung auf dem Original ALN 51.08.02/02r. U.a. einige Blätter von ALN 51.17.17/01-08 sowie ALN 51.17.01/01r, mit dem Hinweis auf György Kurtágs Heimatlos, das in den frühen Skizzen eine Rolle spielte, später jedoch nicht mehr. ALN 51.04.01/06.
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der »Io8), dazu Bühnenskizzen mit Guckkastenform9 sowie verschiedene Hinweise auf erhaltene Charaktere wie den Wanderer10 und musikalische Elemente wie die Stille11, Klangfarbenbeziehungen12, Rhythmen13, Formverläufe14, konstruktive Modelle15 sowie einige Namen von Komponisten früherer Epochen16. Sie deuten auf den Plan einer konventionellen Oper mit festen Stimmzuordnungen für die auftretenden Personen, zugleich aber auch auf die Verwendung raumklanglicher Elemente wie verschiedene Echos17, elektronisch erzeugte Raumklänge18 und Klangcharaktere wie Unruhe und Chaos19 zusammen mit einer räumlichen Klangbewegung20. Gerade die letzte, dargestellt mit einem skizzierten Kreis, deutet darauf, dass Nono bereits mit dem Halaphon des Freiburger Experimentalstudios vertraut war21, das er in der letzten Fassung des Prometeo 1985 exzessiv, variantenreich und dreidimensional nutzte. Auf dem Weg zu dieser Fassung kam es jedoch bereits kurz nach Übergabe des Librettos (25.12.1982) zu einer neuen Konzeption. »Altra Pensionero Prometeo Nuovo Da cui cogci l’eternitá [in roter Farbe] Frammento Distruggi Decostruzione [in schwarzer Farbe]«22 8 ALN 51.14.03/03. 9 ALN 51.14.02/02. 10 ALN 51.14.03/03; hier ist der Wanderercharakter der Person der Io zugeschrieben (was ihrer Rolle bei Aischylos entspricht) sowie in ALN 51.16.02/01 ohne Zuordnung und ALN 51.16.02/18inf. im Prologo. 11 ALN 51.15.02/03. 12 ALN 51.16.02/02. 13 ALN 51.16.02/06 und …/10ff. Hier wie bei den anderen Archivsigeln bedeutet »…/«, dass nur die Blattnummer eine andere ist und zum vorher genannten Sigel gehört. 14 ALN 51.16.01/08ff. 15 Wie Rhythmus-Reihen in ALN 51.16.02/02; aber auch die Orientierung an der Zahl 3 gehört dazu, die sich u. a. in ALN 51.18.03/03 findet, oder indirekt in Differenzierungen zu finden ist. 16 U.a. »Josquin« (ALN 51.15. 02/04 und 51.18.03/01 und…/03), »Dowland« (ALN 51.17.01/06 sup+inf und ALN 51.18.03/03). 17 ALN 51.17.09 und 51.17.02. 18 »Atmo« schreibt Nono etwa in ALN 51.17.12/01, und nutzt damit Rundfunksprache für Hintergrundklänge/Raumklänge. 19 ALN 51.14.04/01r und…/13r sup: Nono weist die Unruhe im Prologo hier vermutlich der Technik zu; später nennt er im Prologo »Caos« (ALN 51.18.04/01r) und »Massima Unruhe« sogar in ALN 51.18.02/03v sowie in 51.17.02/03 syp: dort im Titel: »Prologo Spazio Tutto« (blau und grün übereinander, danach rechts: »Caos, Unruhe Blau kleiner; »Unruhe max« grün, um blau). 20 ALN 51.17.11/05r sx. 21 Laut Hans Peter Haller war Nono erstmals im Dezember 1980 im Freiburger Experimentalstudio (ders.: Das Experimentalstudio der Heinrich Strobel-Stiftung des Südwestfunks Freiburg 1971–1989, Bd. 2, Baden-Baden 1995, S. 116). Im Frühjahr 1981 begann Nono dort zu arbeiten und zu komponieren. 22 ALN 51.18.01/01.
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beginnt Nono seine Überlegungen dazu. Die Fragmentierung betrifft hier speziell das Libretto, denn die Komposition war zu dem Zeitpunkt zwar weit vorangeschritten, aber noch nicht bei einer Partiturskizze angekommen. Erste Überlegungen des Neuansatzes finden sich in einem Skizzenblock zu verschiedenen, besonders aber räumlichen Aspekten dieses Nuovo Prometeo23, dessen früheste Datierung aus dem März 1983 stammt24. Der neue Prometeo Der »Neue Prometeo« ist eine umfassende Neuanordnung des Prometeo, die sowohl das Libretto als auch den Kompositionsansatz betrifft. So fragmentierte Nono den Text Cacciaris, der in der Ursprungsfassung klar zwischen der Bearbeitung und Erweiterung der Prometheus-Tragödie von Aischylos auf fünf Inseln und dem dialogischen Stil einerseits und andererseits der Bearbeitung von Walter Benjamins Reflexionen zum Geschichtsbegriff25 unterscheidet. Die Fragmente aus beiden Teilen vermischte Nono miteinander. Sie bilden nun durch ihre nahe Anordnung zueinander einen Kontrast oder ergänzen sich thematisch. In jedem Fall kommt es dabei zu neuen, über den eigentlichen Text des Librettos hinausgehenden Sinnzusammenhängen. Dieses Prinzip ist in fast allen Teilen des »Neuen Prometeo« und in seinen beiden Fassungen wirksam. Mit der Fragmentierung der Textteile und ihre Umgestaltung ging die Neuanordnung des gesamten Prometeo einher, obwohl Nono die Titel der meisten Kompositionsteile beibehielt oder ihre Herkunft aus dem Original des Librettos angab. Erhalten blieb auch die Grundidee der fünf Inseln, doch bestehen auch sie aus textlichen Gemengen und sind teilweise komplett miteinander vermischt (3°–4°–5° Isola bilden einen Teil), und zu den beiden Stasima treten zwei Interludien26. Jedes der von Nono neu geformten Teile hat eine spezifische Thematik und einen eigenen dramatischen Verlauf. Insgesamt strich er aber nur wenige Zeilen und fügte einige neu hinzu. Der komplexe Stoff an sich bleibt gleich, Nono stellte ihn nur deutlich anders dar, wobei die im ursprünglichen Libretto noch erkennbaren verschiedenen Charaktere nun weniger deutlich vorhanden sind. Auch die opernhaf-
23 Gelegentlich wird die Prometeo-Fassung von 1985 als »neuer Prometeo« bezeichnet, dieser ist hier aber nicht gemeint, sondern der Neuansatz, der zu den Fassungen von 1984 und 1985 führte. 24 ALN 51.18.02/01-22. Auf dem Blatt …/02 sind neben März 1983 weitere Datierungen notiert, etwa 11. April 1983, Freiburg oder »Santiago 5-10-1983«. Eine letzte Datierung auf dem 15. Blatt des Konvoluts nennt den 25.11.1983 Halde (= Ort des Freiburger Experimentalstudios in dieser Zeit). Die Häufung der Datierungen ist, wie oben erwähnt, absolut ungewöhnlich für Nono. 25 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, erstmals veröffentlicht in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, Frankfurt a.M. 1974 (hier zitiert in der Ausgabe Stuttgart 2015). Cacciari verdichtete und erweiterte die 18 Thesen Benjamins auf 12 strophenartige Abschnitte. 26 Die genaue Anordnung der Teile ist im Kapitel »Werkstatt Libretto« dargestellt.
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ten Züge der ersten Kompositionsskizzen sind kaum noch erkennbar. Die Komposition als ganze entsteht, wie es scheint, in einem kursorischen Prozess, bei dem Nono Fäden aufnimmt, sie fallen lässt und wieder aufnimmt und zugleich sein Denken und Komponieren in diesem Prozess verklart und schärft. Die systematische Anordnung der Skizzenbücher im Archiv und die wenigen Datierungen machen eine genaue Verfolgung von Nonos Arbeit aber sehr schwer. Herausragend für beide Fassungen des »Neuen Prometeo« sind die Stärkung und der Ausbau der räumlichen Komponente. Sie machen sich ebenso an der zunehmenden Anzahl der Skizzen zu Raumklangbewegungen kenntlich27 wie in den Aufzeichnungen zu den Versuchen im Freiburger Experimentalstudio28 und zu den Raumdispositionen der Musiker und der Technik29. Viele der Skizzen lassen erkennen, dass als Aufführungsraum San Lorenzo, eine aufgelassene Kirche in Venedig vorgesehen war, denn Nono teilte in seinen Skizzen den rechteckigen Raum häufig in zwei ungleiche Teile mit einem geraden Strich, der in der Mitte zu einer kleinen Zickzacklinie wird30. Unschwer ist darin der Lettner zu erkennen, der nicht ganz in der Mitte von San Lorenzo steht: ein riesiges barockes Sandsteingebilde, das fast bis zur Decke reicht. Später skizzierte Nono auch mehrfach die runden oder oben gerundeten charakteristischen Fenster von San Lorenzo. Obwohl die meisten Skizzen zur Raumaufstellung ebenfalls nicht datiert sind, lassen sie sich doch differenzieren. Die Raumzeichnungen auf den Blättern mit niedrigen Blattnummern31 sind meist zweidimensionale, rechteckige Draufsichten. Die Raumaufteilungen variieren in den Skizzen, auch die der Lautsprecheraufstellungen im Raum32. Gelegentlich deuten Kreisgebilde auf den geplanten Einsatz des Halaphons33 und farbige Striche oder Bögen auf Bewegungen von Sängern34 oder körperlose Raumklangbewegungen. Sogar Stillebewegungen hat
27 Bereits in der zweiten Archivnummer, die dem »Neuen Prometeo« zugerechnet werden kann, ALN 51.18.02, sind mehr Kreisbewegungen zu entdecken, die auf Halaphonkreise weisen, als zuvor. Auch eine gegenläufige Kreisbewegung ist dort zu finden (…/05v06 und …/07v08). 28 Z.B. in den Konvoluten ALN 51.20.01 (nur Technik) und ALN 51.20.02 (Musiker und Technik) dokumentiert. 29 ALN 51.20.03. Hier enthalten ist auch ein von Hans Peter Haller verfasstes, mit der Maschine geschriebenes Skript zu den technischen Geräten und ihren Funktionsweisen im Experimentalstudio, das auf den 9.2.1984 datiert (…/01-04) sowie eine Kurzfassung »Programmi per Gigi« vom 9.4.1984 (…/23), s.u. 30 Zahlreiche Skizzen in ALN 51.35–38 deuten dies auf verschiedene Weise an. 31 Die ersten Archivierungsnummern des Archivio Luigi Nono folgen einer systematischen Ordnung, die letzten nach dem »/« sind die jeweiligen Blattnummern; weil sie häufig aus vorgebundenen Blöcken stammen, weist die Höhe der Blattnummern auf die Reihenfolge der Entstehung: Blätter mit niedrigen Nummern entstanden vor jenen mit hohen Nummern. 32 ALN 51.36.01/02 und …/04 enthalten u.a. technische Lautsprechersymbole. 33 Z.B. ALN 51.35.01/21v,22. 34 Z.B. ALN 51.35.01/08.
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Nono in einer Skizze ausgeführt35: In einer Raum-Skizze zum Prologo zeichnete er schwarze Halbkreis- und Strichsymbole mit dem Titel »Unruhe, vari gradi«, die nach dem Stadium »Massimo« von roten Halbkreis- und strichförmigen Pfeilen dargestellten »silenzi vari« abgelöst werden. Stille ist ebenso räumlich und in der Zeit beweglich wie der Klang36. Die Entwicklung des dreidimensionalen Klangraums für den Prometeo Wann Nono ganz genau begann, den Klang auch vertikal im Raum darzustellen, ist ebenfalls nicht exakt zu ermitteln. Vermutlich stehen einige noch sehr unspezifische dreidimensionale Klangskizzen, die Nono in einer »aufgeklappten« dreiseitigen Darstellung von San Lorenzo als vertikale Linienverläufe zeichnete37, am Anfang seiner Überlegungen, auch wenn sie nicht in der Skizze mit zwei- und dreidimensionalen Raumdarstellungen von San Lorenzo enthalten sind, die Nono offenbar für einen Termin mit Renzo Piano am 24.1.1984 anfertigte38. Dieses Blatt enthält auf der rechten Seite eine vertikale Darstellung von San Lorenzo39, die in sechs alphanumerisch gekennzeichnete Ebenen unterteilt ist, wobei Ebene A unter einem leicht kuppelförmigen Dach angesiedelt ist und die anderen Ebenen, getrennt durch gestrichelte Linien, in regelmäßigem Abstand darunter. Nur die Ebene F ist etwas anders gestaltet, da sie eine genaue Höhenangabe von 3 m enthält und durch eine gerade Linie von der Ebene E ge-
35 ALN 51.38.01/02 die Stadien der zunehmende Unruhe sind in mehreren kleinen Skizzen auf dem Blatt dargestellt. 36 Auf ALN 51.38.01/05 sind weiterhin »silenzi truncanti« dargestellt: durch schwarze, dicke Striche abgeschnittene im Raum bewegte Stillepfeile, die Nono auch mit »massimo dispersione = spazi« (in grüner Farbe) beschreibt. Die räumliche Wirkung von Stille ist auch in einigen Skizzen enthalten, die mir Alvise Vidolin freundlicherweise im Oktober 2017 zuschickte. 37 ALN 51.36.01/09 zeigt eine solche aufgeklappte dreiseitige Darstellung von San Lorenzo, hier sind verschieden hoch Lautsprechersymbole zu sehen, scheinbar sind vertikale Ebenen gedacht. Deutlich später scheint dagegen der auf ALN 51.38.02/27infdx sichtbare farbige Verlauf, der anscheinend in 3 von 6 Ebenen wechselt; zusätzlich sind den 5 Inseln hier »a varia altezza e percorsi vari« zugeschrieben. Lydia Jeschke zeigt eine ähnliche Skizze Nonos in einem Brief an Piano vom 13.3.1984 als Faksimile (Jeschke 1997, S. 184). Es handelt sich dabei um ALN 51.04.03/01. 38 ALN 51.35.01/20,21r. Genaue Datierung »Martedì [Dienstag] 24-1-84«. Die ersten Skizzen von Renzo Piano bestätigen dieses Datum, mit 1/1984 sind 2 Zeichnungen in Pro-rp_40 archiviert . (http://www.fondazionerenzopiano.org/project/82/prometeomusica...; der Zugriff ist inzwischen nicht mehr möglich). Allerdings scheint Renzo Piano sich bereits ab April 1983 näher mit San Lorenzo beschäftigt zu haben; einen handschriftlichen Grundriss mit dem Datum bildet Giulia Lazzarini 2014, S. 152f. ab. 39 Auf der rechten Seite sind »Aussparungen« des sich nach oben hin verjüngenden Lettners zu erkennen.
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trennt ist. Auf diesem Boden sind in einem Kasten acht Sitzschalen zu sehen40. Die rechte Seite enthält oben das Datum und neben dem Namen Renzo Piano einige Stichworte, darunter »Narrenschiff« (orig. auf Deutsch) und »5 szeni; 5 colori« sowie zwei weitere kleine Skizzen mit rechteckigen Aufsichten auf San Lorenzo (die obere mit asymmetrischer a- und b-Unterteilung, die untere mit einer Verteilung der fünf Inseln darin), die der frühen Skizze von Cacciari ähnelt bzw. einer undatierten Skizze Nonos weitgehend entspricht41. Nur kurz nach dem Termin mit Nono waren die ersten Architekturzeichnungen der Arca, einem an eine Schiffskonstruktion erinnernden Holzbau, fertig. Die Zeichnung der Fassade von San Lorenzo entstand am 17.2.198442. Der erste Entwurf Renzo Pianos für die Holzkonstruktion der Arca stammt vom 5.3.1984 und trägt den Titel »The Crazy Ship«43. Der Querschnitt zeigt einen im Kirchenschiff von San Lorenzo aufgestellten hölzernen Innenbau mit deutlich geringeren Ausmaßen. Er umschließt den Lettner und steht mehrere Meter über dem Boden von San Lorenzo auf Stelzen. Am Boden der Arca sind Sitzplätze für Zuhörer eingezeichnet. An den Seiten sind drei Ebenen mit Laubengängen geplant, teilweise mit konkaven Wänden, die untereinander durch gebogene Treppen verbunden sind: Plätze für die Musiker und Sänger. Das obere Ende des Innenbaus befindet sich etwa am unteren Rand des zum hohen Runddach führenden breiten Stuckfrieses. Auch an den Seiten ist noch viel Platz bis zu den Wänden der alten Kirche. Von den in Nonos Skizze dargestellten sechs Ebenen befinden sich also vier im Innenbau (Boden und drei Ebenen auf den Laubengängen), während Ebene F vom Boden San Lorenzos bis zum Boden des Innenraums reicht und sich Ebene A oberhalb des Innenbaus befindet. Alles ist also ganz so, wie Nono es gewünscht hatte. Zusätzlich hat Piano zwei Lautsprecher auf Ebene F, E und C platziert, und auf Ebene B sowie außerhalb des Innenbaus einige Projektoren, wohl für die Lichtinstallation von Emilio Vedova, dargestellt44. Doch dabei blieb es nicht. Besonders die symmetrische Anordnung um den Lettner entsprach nicht Nonos Wünschen45. Die symmetrische Anordnung der Arca um den Lettner wird 40 Ganz offenbar sind die Zuhörerplätz zwar auf der Ebene E angesiedelt, zugleich aber klar von den Ebenen getrennt. Szene und Hörer verschmelzen damit nicht miteinander, sondern existieren parallel zueinander. 41 ALN 51.38.02/08inf+sup; in der Skizze sind den 5 Inseln Farben zugeordnet und bestimmte Charaktere bzw. Abschnitte. Nur die 2. Insel ist dem kleineren Halbraum zugeordnet, und die 3. und 5. Insel befinden sich genau auf der Grenze; es handelt sich also auch hier um eine ausgewogene Raumverteilung. 42 Im Haller-Archiv der AdK Berlin, Nr. 06a. Die Datierung auf der Webseite der Fondazione Renzo Piano für einen Plan der Arca ist mit »1/84« datiert und die Zeichnung des leeren Raums von San Lorenzo mit 1983–84 (http://www.fondazionerenzo piano.org/project/82/prometeo-musical-space/drawings/ [letzter Zugriff Mai 2017; leider ist diese Webseite inzwischen verändert]. 43 AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 11. 44 Längs- und Querschnitt in: Daidalos 15 (1985), S. 87. 45 Lazzarini 2014, S. 156 bildet ein Photo des Modells der Arca mit asymmetrischer Raumteilung ab, Zeichnungen aus der Werkstatt Pianos, datiert im Mai 1984, stellen
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in späteren Zeichnungen zu der von Nono immer dargestellten Asymmetrie des Raums (s.o.), die wie im Originalbau durch den Lettner vollständig quer geteilt ist und aus einem etwas größeren und einem etwas kleineren Halbbau besteht. Mit der Konkretisierung der Pläne für die Arca und ihre vertikalen Ebenen entstanden eine Vielzahl von Skizzen zur Aufstellung der Musiker und Lautsprecher. Schon die bereits zitierten Pläne Pianos enthalten bewegliche Musiker z.B. auf Treppen, doch von Nono selbst sind nur Andeutungen skizziert. Ein Blatt enthält aber zumindest Angaben zu den vier fest im Raum platzierten Orchestergruppen und die mit den Kompositionsabschnitten wechselnden Spielorte einiger Solisten46. Die vier Orchestergruppen sind dabei auf drei Ebenen zu finden, und sie sind asymmetrisch in beiden Arcahälften platziert. Für die Platzierung der Lautsprecher gibt es verschiedene Pläne. Sie stammen ebenso von Nono selbst wie von Hans Peter Haller. In Konkretisierung seiner ersten einfachen Vorstellungen skizzierte Nono einige Ideen in zweidimensionaler Aufsicht47. Im Querschnittformat existiert eine hochkomplexe Lautsprecherdisposition, die innerhalb und außerhalb der Arca und auf fünf Ebenen Lautsprecher vorsieht – zugleich mit den vorgestellten Innenhängungen aber auch nicht sehr realistisch wirkt48. Deutlich ausgearbeiteter sind die Skizzen Hans Peter Hallers, der offenbar verschiedene Dispositionen entwickelte bzw. die Ideen Nonos umarbeitete. So zeigt eine roh gezeichnete Aufsicht49 die aus technischen Gründen symmetrische Lautsprecheranordnung in einem zweigeteilten Raum. Die meisten Lautsprecher befinden sich auf den Außenwänden, je einer pro Raumhälfte befindet sich außen und ist vom Innenraum weg gerichtet. Je ein weiterer Lautsprecher pro Raumhälfte ist in der Mitte des Halbraums und in der Mitte des ganzen Raums positioniert, aber jeweils in die Mitte des Halbraums gerichtet. Eine andere, klarer ausgearbeitete Skizze50 zeigt zwei Raumumrisse als Aufsicht. Alle Lautsprecher befinden sich parallel zum Lettner. Im äußeren Umriss an den Wänden sind je zwei Lautsprecher in jeder Raumhälfte gezeichnet. Im inneren Raum sind je vier Lautsprecher auf den Lettner gerichtet, je drei befinden sich in der Mitte der Raumhälfte und je einer, gerichtet an die gegenüberliegende Wand, sind am Lettner gezeichnet. Obwohl hier sehr wahrscheinlich die Umrisse der Arca gemeint scheinen, deutet diese Aufstellung noch nicht auf die spätere Anordnung der Lautsprecher und Musiker auf den übereinanderliegenden Laubengängen. Mög-
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dies ebenfalls dar, ebd. S. 173. Die Entstehung der Arca ist von Giulia Lazzarini (2014, Kap. 2.6, S. 146–182) bestens dokumentiert und aufgearbeitet. Zur Frage der Asymmetrie vgl. auch Jeschke 1997, S. 183. ALN 51.35.02/02. Der Plan der wandernden Musiker scheiterte aber nach Jeschke an den beim Gehen in der Holzkonstruktion entstehenden Geräuschen (Jeschke 1997, S. 196). Haller beschreibt dagegen, dass Nono keine szenische Aktion im Prometeo wünschte (Haller 1997; Bd. 2, S. 159, S. 162 und S. 170f.). ALN 51.36.01/13 und …/14. ALN 51.36.01.15. ALN 51.36.01/17. ALN 51.36.01/19.
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licherweise reflektieren sie die Ergebnisse von Nonos Raumklangversuchen mit Musikern und verschiedenen technischen Geräten (u.a. Halaphon) 1983 in Freiburg, die u.a. Kreisformen51 und Klangbewegungen von außen nach innen52 gewidmet waren. Da sie mit denselben Farben und offenbar auch mit denselben Stiften gezeichnet sind, wie die folgende, auf die Arca weisende Skizze, ist ihre Datierung auf 1984 wahrscheinlich, doch ihre Funktion bleibt unklar. Jene folgende, dritte Skizze Hallers zeigt einen Querschnitt von San Lorenzo und der Arca, bei dem die Lautsprecher auf insgesamt vier Ebenen am Rand montiert sind. Je zwei befinden sich am inneren Rand der Arca auf zwei Ebenen, zwei in der Mitte (Lettner) (je einer pro Raumhälfte) und zwei unter der Arca (FEbene)53. Auf der obersten Ebene sind je zwei Lautsprecher außen an der Arca montiert; sie strahlen nach oben an die kuppelartig gebogene Decke, die den Schall in die Arca reflektiert. Somit sind hier alle sechs Ebenen auch als Klangorte repräsentiert. Spezifiziert wird das in einer weiteren Querschnitt-Skizze Hallers von der Arca in San Lorenzo (Abb. 58 im Kapitel »Werkstatt Rekonstruktion«), die mögliche Lautsprecherpositionen und davon ausgehende Klangwege darstellt54. Sie zeigt deutlicher als die anderen Raumskizzen Hallers, dass beide Räume im Prometeo akustisch genutzt werden sollten: das Innere der Arca mit ihren horizontal und vertikal variierten Klangorten, die mit Musikern, Sängern und Sprechern sowie mit Lautsprechern besetzt waren, und der verbleibende Raum von San Lorenzo, der sowohl als Positionsort von Lautsprechern wie als Reflexionsfläche für den Schall diente. Die meisten Skizzen zur dreidimensionalen Musikeraufstellung und Beschallung stehen somit eng mit der Planung und dem Bau der Arca durch Renzo Piano in Zusammenhang und entstanden nach dem Januar 1984. Vom 9.2.1984 datiert eine vierseitige Darstellung »Für ›Prometeo‹«55, in der Haller die technischen Geräte des Freiburger Studios und ihre Klangmöglichkeiten auflistet und abstrakt beschreibt. Um den 27.2.1984 herum fanden weitere Technik- und Raumklangproben Nonos, auch mit Musikern, in Freiburg satt56. Am 9.4.1984 verfasste Haller zwei weitere Blätter »Programmi per Gigi«57, die knapp, aber viel anschaulicher als vorher die Klangeffekte der Studiogeräte auflisten und teilweise mit kleinen Skizzen veranschaulichen. Nono datierte seine Eintragungen darauf mit »25-5-1984« und vermerkt in derselben Zeile dazu »3°4°5°«, was wohl auf die entsprechenden Isola-Teile der Komposition verweist, bei denen Nono mit GateSteuerungen experimentierte. Zusammen mit den unter späteren Ordnungsnum51 52 53 54 55 56
ALN 51.20.02/15, datiert 11.4.1983. ALN 51.20.02/27r, datiert 5.5.1983. ALN 51.36.01/18r. Haller 1995, Bd. 2, S. 163. ALN 51.20.03/01-04. Datum auf ALN 51.20.03/05 in der Handschrift Hallers; die weiteren Skizzen des Konvoluts bis …/17, das ebenfalls dieses Datum trägt, werden ebenfalls zu diesem Termin entstanden sein. 57 ALN 51.20.03/23 und …/24. »Gigi« ist eine Kurzform für Luigi.
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mern archivierten Versuchen in Padua mit dem 4i-System58 entsteht der Eindruck, dass Nono vier Monate vor der Uraufführung noch vor dem Abschluss seiner Kompositionsarbeit am Prometeo stand59. In welcher Art und in welchem Umfang Nono einen Gesamtplan zum Raumklang und zu den Raumklangbewegungen verfolgte, ist nicht in den Skizzen enthalten. Ihm war aus eigener Erfahrung wohl selbst klar, dass diese Punkte allenfalls ansatzweise vorauszusehen waren und letztlich erst im konkreten Raum – hier San Lorenzo und die dort installierte Arca – eingerichtet werden konnten. Immerhin bestand der Raum auch akustisch gesehen aus mehreren Teilen: zwei asymmetrischen Arca-Hälften um den Lettner, mit eigenen akustischen Eigenschaften und eigener Beschallung auf mehreren Ebenen, die ihrerseits mittels der konkaven Seitenwände über ortsspezifische Reflexionsflächen verfügten, sowie dem Raum von San Lorenzo, der die Arca umgab und ebenfalls ganz eigene akustische Eigenschaften aufwies. Für die Proben waren gut vier Wochen vor der Uraufführung eingeplant, und neben zahlreichen von Haller anschaulich beschriebenen Anfangsproblemen wurde auch eine Aufführungsversion erarbeitet. Was allein die Lautsprecherpositionen anbelangt, so sind anhand von Photos und mündlichen Hinweisen deutliche Unterschiede zu den Skizzen festzustellen: So nutzte ausschließlich Alvise Vidolin die Lautsprecher unter dem Boden der Arca mit seinem 4i-System60. Die Außenlautsprecher sind auf Photos nicht dokumentiert und damit nur von Haller ausführlich in seiner Beschreibung des Coro lontanissimo beschrieben61. Auch die Positionen der Lautsprecher sind nicht vollständig mit Photos dokumentiert, doch es fällt auf, dass die sichtbaren Lautsprecher nicht regelmäßig in der Arca verteilt waren – was auf die akustischen Verhältnisse in der Arca bzw. in San Lorenzo ebenso weisen kann wie auf die Momentsituation im Verlauf der akustischen Einrichtung, die prozesshaft verlief62. Die Positionen der Solomusiker und Solosänger sowie des Chores sind weitgehend unklar. Nur die vier Orchestergruppen sind auf den Photos immer gleich positioniert. Unsymmetrisch, aber in fast gleichem Abstand sind jeder der vier Raumseiten eine bzw. jeder der Arcahälften zwei Orchestergruppen zugeteilt.
58 ALN 51.20.03/29–37; undatiert, aber vermutlich später als die Haller-Skizzen (s.o.). 59 Haller zufolge hatte Nono die Partitur nur im Kopf, als er mit ihm und Piano über die akustische Planung in San Lorenzo sprach (Haller 1995, Bd. 2, S. 159). 60 Alvise Vidolin in einem persönlichen Gespräch im Archivio Luigi Nono in Venedig am 11.9.2017. Nach Angaben von Haller (1995, Bd. 2, S. 172) waren es 6 Lautsprecher. 61 Es handelt sich dabei um einen räumlichen Effekt aus extrem langem, künstlichem Hall, der über die Außenlautsprecher und in Verbindung mit dem natürlichen Hall langsam in die Arca eindringt (vgl. Haller 1995, Bd. 1, S. 91f. und Bd. 2, S. 174 in indirekter Beschreibung der Halleffekte, die von außen in die Arca eingehen). 62 Haller 1995, Bd. 2, S. 172.
212 | Der komponierte Raum
Am 25.9.1984 wurde in der Arca von San Lorenzo in Venedig die erste Fassung des Prometeo uraufgeführt und an den folgenden vier Abenden bis zum 29.9.1984 wiederholt. Mailand 1985 Genau ein Jahr später, am 25.9.1985, fand die Uraufführung der 2., stark veränderten Version des Prometeo in Mailand statt. Es folgten weitere fünf Aufführungen in den Tagen danach. Ungefähr 80 % der Noten habe er neu geschrieben in der 2. Version, berichtete Nono später63, was zwar nicht unbedingt mit einer völligen Neufassung gleichzusetzen ist, wie ein oberflächlicher Vergleich beider Versionen64 ergab, doch scheinen erhebliche Unterschiede hörbar gewesen zu sein65. Bereits kurz nach den Aufführungen in Venedig 1984 hatte Nono mit der Neufassung des Prometeo begonnen. Den Datierungen einiger Notizen zufolge befand er sich zwischen dem 23. und 25.10.1984 in Halde/Freiburg zur Weiterarbeit und besprach sich dort auch »mit Stenzl«66 die Kritikpunkte an der 1. Version des Prometeo. Profunde Änderungen, auch im Ablauf der Komposition, sind besonders am Ende festzustellen: In Venedig war dies noch das atmende Klarsein, das Nono kurz zuvor beendet hatte – in Mailand steht ein eigener Teil, das Stasimo 2°, das Nono am Ende mit »Freiburg-Halde-Venezia 1984« datiert67. Die anderen Teile, sofern sie Daten tragen, wurden bis zum Mail 1985 abgefasst und entstanden damit parallel zu den Plänen der Aufführung in Mailand und der Aufstellung der Arca in der dortigen Örtlichkeit des Ansaldo-Warenlagers. Nach Lazzarini korrespondierten Claudio Abbado und Nono über die Suche nach einem akustisch geeigneten Aufführungsort in Mailand bereits im Dezember 1984, und im März 1985 berichtete Nono seinem Freund von der Planung, die Arca zu zerteilen und dabei einen Kanal in der Mitte zu lassen68.
63 Nono in einem Brief an Carlo Fontana (ALN, carteggi, Fontana/C*d; zit. Nach Lazzarini 2014, S. 201, FN 4. Lazzarini bildet die dort enthaltenen Raumskizzen ab. 64 Beide Aufführungspartituren befinden sich in der AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 2 = 1. Version 1984 und ebd. Nr. 8 = 2. Version 1985. 65 So Christoph Bitter, Redakteur im SWR, in einem Brief vom 16.10.1985, (in: ALN, carteggi/Bitter/C 85-10-16d), der Nono zur Fertigstellung des Prometeo in Mailand gratulierte, zugleich aber wohl die Fassung von 1984 in besserer Erinnerung hatte. 66 Datierter Hinweis auf ALN 51.68.02/01. 67 Aufführungspartitur S. 212 /Taschenpartitur S. 242. 68 Lazzarini 2014, S. 202f. Zitat des Briefes vom 25.3.1985 an Abbado, S. 203, FN 12 (ALN, carteggi, Abbado/C 85-03-28d).
Werkstatt Partiturgenese | 213
Die Partitur 1985 Sofern die anderen Partiturteile datiert sind, wurden sie erst 1985 abgeschlossen: der Prologo am 29.4.1985 in Halde, Schauinsland69 und 1° Isola am 6.5.198570. Die hier notierten Orte belegen, dass Nono den Abschluss der Komposition eng an Experimente im Freiburger Studio anlehnte. Tatsächlich schrieb er auf den Kopfseiten jedes Teils meist genaue Anweisungen zum Einsatz der elektroakustischen Klangtechnik, darunter auch solche zum Einsatz des Halaphons. Dieses war jedoch in der Mailänder Aufführung wohl schon ein neueres, bedeutend optimiertes Gerät als noch in der Aufführung von San Lorenzo. So war das neue Halaphon 4 mit seiner digitalen Steuerung effizienter als das in Venedig verwendete Halaphon 371, es besaß aber weniger Ausgänge; unabhängig davon war die Gesamtzahl der Lautsprecher in Mailand 1985 geringer als im Vorjahr72. Ob Nono dies wusste und berücksichtigte, ist nicht sicher, denn nur Haller und seine technischen Mitarbeiter bedienten die Geräte des Freiburger Experimentalstudios und kannten deren Details73. Nono notierte entsprechend auch keine technischen Hinweise zum Halaphoneinsatz, sondern nur Raumbewegungsformen, die Haller auch in die Nono gewidmeten Listen eingetragen hat: zwei Kreise, die in verschiedene Richtungen gehen, eine Acht und eine mit Fragezeichen versehene Kreuzform74. Schon auf Seite 1 der Partitur (Prologo) gibt Nono zwei Kreise für die Streicher und je einen für den Chor und die Bläser an, in der 2° Isola a75 nennt er Halaphon für Io und 1–2 Kreise für die Streicher, in 2° Isola b) Hölderlin für die beiden Solosopranstimmen »2 Halaphon lontani tempi diversi«76 und sogar »3 diversi Halaphon« für die Bläser im Interludio 1°, neben einem weiteren Halaphon für den Soloalt77 usw. Dies sind nur einige von Nonos technischen Einträgen; es gibt zahlreiche weitere für das Halaphon ebenso wie für alle anderen Geräte. Offensichtlich hatte Nono sehr genaue Vorstellungen zum und Erfahrungen mit dem Technikeinsatz und den spezifisch gewünschten
69 Aufführungspartitur S. 30/Taschenpartitur S. 50. Schauinsland war der damalige Ort des Experimentalstudios Freiburg. 70 Aufführungspartitur S. 83/Taschenpartitur S. 103. 71 Vgl. Brech 2015, S. 247f. Die Angaben dort stammen von Haller 1995, Bd. 1, S. 86. Die Mitglieder des Experimentalstudios des SWR in Freiburg sprechen heute von 8 Ausgängen, die dem Halaphon 4 zur Verfügung standen, während das Halaphon 3 16 Ausgänge hatte (mündl. Auskünfte von Joachim Haas im Februar 2013 und von Rudi Strauß am 13.6.2013; beide sind/waren Toningenieure des Freiburger Experimentalstudios). 72 Zahlen ermittelt aus den technischen Aufzeichnungen von Haller (AdK Berlin, HallerArchiv Nr. 170 und Nr. 174). Ob hier die geringere Anzahl der Ausgänge des Halaphons 4 (s.o.) von Bedeutung war, ist unklar. 73 Brech 2015, S. 243, FN 134. 74 In ALN 51.20.03/23 (»Programmi per Gigi«, S. 1; s.o.). 75 S. 85 Aufführungspartitur/S. 105 Taschenpartitur. 76 S. 118 Aufführungspartitur/S. 132 Taschenpartitur. 77 S. 136 Aufführungspartitur/S. 159 Taschenpartitur.
214 | Der komponierte Raum
Gerätefunktionen. Doch zeigen die Aufführungsdaten in den Aufzeichnungen Hallers, dass man Nonos Eintragungen nicht immer folgte. Auch einige Notenteile in der Partitur hielten den Proben für die Uraufführung nicht stand und wurden gestrichen78. Dabei handelte es sich niemals um große Abschnitte, sondern meist nur um einige Takte, besonders an Enden von Teilen, oder Streichungen einiger Takte bei einzelnen Stimmgruppen. Ganz offensichtlich wurde in den Proben zur Aufführung in Mailand die im wörtlichen Sinne angemessene Fassung des Prometeo gefunden – und dass einige Striche in der gedruckten handschriftlichen Version übernommen wurden und andere nicht, deutet darauf, dass Nono die Situation in Mailand berücksichtigte, ebenso wie er mit kritischen Augen und Ohren seine Komposition betrachtete und Unnötiges gänzlich strich. Somit blieb es in der Uraufführung der 2. Version des Prometeo bei dem Aufbau aus neun Teilen, einer davon (III) mit drei Subteilungen: I Prologo II 1˚ Isola III 2˚ Isola: a) Io–Prometeo / b) Hölderlin / c) Stasimo 1˚ IV Interludio 1˚ V 3 voci a VI 3°–4°–5° Isola VII 3 voci b VIII Interludio 2˚ IX Stasimo 2˚ Alle Teile sind musikalisch unterschiedlich gestaltet und weisen schon im Notenbild jeweils eigene Besetzungs- und Klangcharakteristika auf. Gemeinsam ist ihnen Nonos spezifische Kompositionsweise der Anordnung von Fragmenten, die mit Doppelstrichen im Notenbild voneinander getrennt sind und meist nur wenige Takte dauern. Gelegentlich folgen sehr ähnliche Klangfragmente aufeinander, meist aber bleibt es bei kurztaktigen Einsätzen einzelner Stimmen oder Stimmgruppen. Die Anordnung der Fragmente in der Partitur scheint spezifisch für jeden der Teile zu sein und wird in der Analyse zu untersuchen sein. In dieser recht hohen Anzahl Teile mit unregelmäßigem Ablauf sind mehrere Substrukturierungen erkennbar, die jede für sich plausibel ist. Jürg Stenzl etwa verwies auf Nonos eigene Aussage, wonach das Interludio 1° ein Nadelöhr sei, mit dem ein neuer Abschnitt beginne. Es setze sich musikalisch von den vorherigen Teilen ab, weil es gering besetzt, lückenhaft verwebt, am untersten Rand der Hörschwelle und räumlich fast nicht differenziert sei79. Demnach gliedert sich
78 Einige der Streichungen sind noch in der Taschenpartitur zu sehen, andere nur in der Aufführungspartitur. Zur 3. Gruppe der nicht übernommenen Streichungen in Haller Aufführungspartitur s.u. 79 Stenzl 1998, S. 111f.
Werkstatt Partiturgenese | 215
der Prometeo in drei und sechs Teile und ist damit asymmetrisch im Verhältnis 1:2. Lydia Jeschke dagegen fand eine andere Struktur im Ablauf der Teile80. Sie definierte zunächst drei Anfangsteile: Prologo, 1° Isola und 2° Isola mit Hölderlin und erkannte eine darauf folgende Spiegelform mit je drei Teilen um die Mitte der 3°–4°–5° Isola: Stasimo 1˚ Interludio 1˚ 3 voci a 3˚–4˚–5˚ Isola 3 voci b Interludio 2˚ Stasimo 2˚ Auffällig an beiden Strukturierungen ist die jeweilige Häufung von 3erAnordnungen, die es in der Analyse weiter zu beobachten gilt, ebenso wie den Aspekt des Uneindeutigen, der sich aus der Plausibilität beider Strukturierungstheorien ergibt.
80 Jeschke 1997, S. 96. Jeschke erkennt darin insgesamt die zweiteilige Form des aristotelischen Dramas.
216 | Der komponierte Raum
WERKSTATT REKONSTRUKTION Die 2. Version des Prometeo wurde am 25.9.1985 in Mailand im AnsaldoGebäude, einem alten Lagerhaus mit fünf Wiederholungen uraufgeführt1. Zur Analyse der Raumanteile muss eine der inzwischen zahlreichen Raumeinrichtungen des Prometeo rekonstruiert werden. Wegen der besten öffentlich zugänglichen Quellenlage fiel die Wahl der Aufführung zur genauen raumklanglichen Rekonstruktion auf die 2. Version des Prometeo in Mailand. Mehrere Archive halten hierzu Material bereit, das für eine Rekonstruktion aber noch zusammengesetzt und, weil es nicht vollständig ist, mit weiteren Informationen aus verschiedenen Quellen ergänzt werden muss. Diese Rekonstruktion wird im Folgenden in mehreren Schritten dargelegt. Vorbereitungen und Genese der Einrichtung in Mailand Im Dezember 1984, also zwei Monate nach Beginn der Neukonzeption des Prometeo (s. Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«), war als neuer Aufführungsort des Prometeo das Ansaldo-Gebäude in Mailand gefunden worden. Im März 1985 berichtete Nono seinem Freund Abbado von der Planung, die Arca zu zerteilen, dabei einen Kanal in der Mitte zu lassen und 700–800 Zuhörern Platz darin zu bieten2. Zu diesem Zeitpunkt entstanden auch die ersten Skizzen zur Aufstellung der Arca in Mailand. Schon die erste grobe Zeichnung, die Nono am 21.5.1985 in einem Brief an Abbado schickte, enthält die wesentlichen Neuerungen3: Die Arca sollte nicht nur in der Länge in zwei ungleich große Hälften geteilt und mit einem Spalt von einer Rasterlänge4 aufgebaut, sondern die beiden Teile auch in derselben Dimension gegeneinander verschoben werden. Zu dieser Asymmetrie kam ein weiteres Element hinzu: Vorgesehen war, nur den größeren Teil der Arca in voller Höhe aufzubauen und den kleineren Teil um eine Ebene zu verkürzen. In den Zeichnungen aus dem Büro Renzo Pianos, z.B. vom 31.7.19855, ist dies maßstabsgerecht dargestellt; dort sind auch 200 zusätzliche Zuhörerplätze außerhalb der Arca geplant6. Nono hat offenbar stark mit den Raummöglichkeiten im Ansaldo-Gebäude gearbeitet und mehrfach neue Pläne zum Aufbau der Arca und der Platzierung der Musiker darin entwickelt. Abbado etwa skizzierte
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4 5 6
Weitere Aufführungsdaten waren am 26., 27., 29.9. und 1. und 2. 10. 1985. Lazzarini 2014, S. 202f. Zitat des Briefes vom 25.3.1985 an Abbado, S. 203, FN 12 (ALN, carteggi, Abbado/C 85-03-28d). ALN Abbado/C 85-05-21d. Die Zeichnung aus dem Büro Renzo Pianos vom 14.5.1985 enthält dagegen noch einen quadratischen Aufbau der Arca, allerdings mit 610 Plätzen statt 400 in Venedig. (Plan 41a, v. 14.5.1985, AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 11). Lazzarini 2014 enthält weitere Zeichnungen Pianos mit Zuhörerplätzen außerhalb der Arca. Pianos Architekturpläne orientieren die Arca an Rastern von ca. 3,6 m Seitenlänge. Zeichnung 41c in: AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 11. Zeichnung 41a, ebd. Sie wurde später nicht realisiert.
Werkstatt Rekonstruktion | 217
er im oben genannten Brief die vier Orchestergruppen im Spalt der Arca. In einer undatierten Skizze an Renzo Piano7, die bereits Andeutungen der späteren Aufstellungen der Orchestergruppen enthält, fokussiert er explizit auf die drei verschiedenen akustischen Räume, die sich bei der Aufstellung der Arca im Ansaldo ergeben sollten. Tatsächlich bestand der Lagerraum aus verschieden großen und verschieden hohen Räumen, die Nono offenbar akustisch nutzen wollte. Der Bau unterschied sich deutlich von San Lorenzo. Die maximale Höhe war sehr viel geringer, sodass die Arca nur ohne Stelzen auf dem Boden stehen konnte. Photos belegen die niedrigere Decke in einem Teil des Hauptraumes; sie ist wohl der Grund dafür, dass die kleinere Arcahälfte um ein Stockwerk kleiner ist als die große8. Gleichzeitig waren in dem vergleichsweise flachen Bau die natürlichen Resonanzen deutlich anders als in San Lorenzo, sodass Nono sie nun offenbar aus den Seitenräumen von Ansaldo beziehen wollte, die zugleich Nebenräume der Arca waren. Im Prinzip blieben also die natürlichen akustischen Elemente erhalten, mit denen Nono arbeitete, auch wenn leichte Differenzen ihrer Ursprungsorte zu erkennen sind. Mit vergleichbar leichten Abweichungen (vgl. Kapitel »Werkstatt Partiturgenese«) blieben auch die elektroakustischen Mittel des Freiburger Experimentalstudios und des Paduaner 4i-Systems erhalten. Nono hatte seine Experimente mit beiden Systemen so weit getrieben9, dass er Angaben zu den Einsätzen der technischen Geräte in die Partitur schrieb. So weit die Theorie. Doch die akustische Einrichtung vor Ort erbrachte andere Ergebnisse. Die Eintragungen von Haller in der Aufführungspartitur, die er in extern genau aufschlüsselte10 weichen überwiegend von Nonos dort notierten Vorgaben11 darin ab. Daher wurden Hallers Einzeichnungen zu einer wichtigen Quelle bei der Rekonstruktion. Rekonstruktion der Aufführung in Mailand 1985 und ihre Quellen Die Rekonstruktion der Aufführung besteht aus mehreren Teilen: • Aufstellung der Arca im Ansaldo-Gebäude • Aufstellung der Musiker und Lautsprecher und ihre Zuordnung zur Komposi-
tion/Partitur 7 8
Faksimile in: Lazzarini 2014, S. 208. Auf dem Photo 63609LMD des Archivio La Scala in Mailand sichtbar. Auf diesem Foto ist auch die niedrigere Decke über der kleineren Arcahälfte zu sehen. 9 Aufzeichnungen aus den Freiburger Experimenten sind in dem Konvolut ALN 51.68.01 erhalten; die Blätter sind zwischen 23. und 15.10.1985 datiert. Blätter zur Entstehung der 1° Isola sind in ALN 51.71.02/01-24 vom Dezember 1984 in Halde archiviert und auch andere Teile des Prometeo sind mit der Ortsangabe Halde oder Schauinsland (dem Ort des Freiburger Studios) laut Partitur beendet worden. 10 AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 174. 11 AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 8.
218 | Der komponierte Raum
• Verwendung der elektroakustischen Geräte und ihre Einstellungen pro Kom-
positionsabschnitt • Komposition/Partitur in Mailand
Aufstellung der Arca im Ansaldo-Gebäude Neben der bereits dargelegten Genese gibt es für die endgültige Aufstellung der Arca im Ansaldo mehrere Quellen. Zum einen die wohl letzte Fassung der Zeichnungen aus dem Büro Renzo Pianos in vertikalen Darstellungen und Draufsichten sowie verschiedene Photos, die den Aufbau bestätigen. Pläne der Arca in Mailand sind im Haller-Archiv erhalten12, von Renzo Piano veröffentlicht13 bzw. von Lydia Jeschke abgedruckt14 und sogar zusammen mit rekonstruierten 3DModellen in den Publikationen von Susana Moreno Soriano15 und Giulia Lazzarini16 wiedergegeben. Zeichnungen des gesamten Ansaldo-Gebäudes zusammen mit der Arca in der letzten Planung sind jedoch nicht zu finden. Eine ungefähre Vorstellung des Gesamtraums geben die vielen Photos auf der Webseite des Archivs des Teatro alla Scala in Mailand17. In der Summe reichen die genannten Quellen aus, um die Aufstellung der Arca im Ansaldo-Gebäude zu rekonstruieren. Für die Rekonstruktion des Gebäudes selbst dagegen lässt sich daraus lediglich eine Vorstellung zu den Nebenräumen und ihren Resonanzqualitäten entwickeln. Das Material genügt auch, um die Aufstellung der Musiker und der Lautsprecher zu rekonstruieren – nicht aber, um die exakten akustischen Qualitäten der Resonanzen und Reflexionen zu ermitteln, weil keine Angaben zur teilweise verglasten Deckenkonstruktion18 vorhanden und die gemischten, verbauten Materialien des gesamten Ansaldo-Gebäudes sowie deren akustische Eigenschaften unbekannt sind.
12 AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 11 enthält zahlreiche Pläne der Arca in Mailand 1985 und Venedig 1984. 13 Auf der Webseite der Fondazione Renzo Piano (http://www.fondazionerenzopiano. org/it/project/spazio-musicale-per-lopera-prima-prometeo/) sind seit dem Herbst 2017 keine Pläne mehr enthalten, aber einige Photos der Arca in Mailand 1985. 14 Jeschke 1997, S. 186. 15 Susana Moreno Soriano: Arquitectura y Música en el Siglo XX, Barcelona 2008, Kapitel: El Arca de Prometeo, S. 113–150. 16 Lazzarini 2014, S. 206f. Zu sehen ist hier auch die auf einer Seite des AnsaldoGebäudes vorhandene niedrigere Decke. Hier ist nur die Zeichnung ohne die später fallengelassene Planung mit Zuhörersitzen außerhalb der Arca angegeben. 17 http://www.teatroallascala.org/archivio/foto.aspx?uid=7727775c-fe21-4f14-a525d571011a4a85&page=1&id_allest=8162&id_evento=&id_fotografia=344715&type=f otografie&lang=en-US&codice= [13.8.2019]. Das Archiv des Teatro alla Scala verschickte später auch Photos mit höherer Auflösung (s.u.). 18 Z.B. auf dem Photo 63609LMD des Archivio La Scala, Mailand, sichtbar. Auf diesem Photo ist auch die niedrigere Decke über der kleineren Arcahälfte zu sehen.
Werkstatt Rekonstruktion | 219
Aufstellung der Musiker und der Lautsprecher und ihre Zuordnung zur Komposition/Partitur Die Aufstellung der Musiker wurde letztlich aus den oben genannten Photos19 und einer Skizze von Haller ermittelt20. Die Platzierung der Orchestergruppen richtete sich in der Rekonstruktion nach den Angaben Nonos. In einem Skizzenblatt zur räumlichen Aufstellung der Solisten in den verschiedenen Teilen der 1. Version des Prometeo in Venedig21 hat er die vier Orchestergruppen nummeriert. So stehen sich Orchester 1 und 2 diagonal gegenüber (je auf einer der unteren Ebenen), während Orchester 3 und 4 auf der obersten Ebene platziert sind und einander ebenfalls gegenüberstehen22, was eine Linksdrehung in der Zählung 1–4 ergibt23. Dies wurde für die Aufführung in Mailand übernommen. Die Nummerierung der Lautsprecher war schwieriger zu ermitteln, da die oben genannte farbige Skizze Hallers die Lautsprecher der unteren Ebene mit lateinischen Zahlen (I–IV) und auf der oberen Ebene mit arabischen Zahlen (1–4) bezeichnet und die Lautsprecher im Zentrum die Nummern 9 und 10 tragen, während diejenigen außerhalb der Arca nicht nummeriert sind. Dagegen nummeriert er in seinen technischen Aufzeichnungen die Lautsprecher durchgehend mit lateinischen Zahlen (1–12). Auf einer weiteren Skizze Hallers ist dies so gehandhabt, dass alle Lautsprecher lateinische Zahlen tragen, aber ähnlich der zuvor genannte Skizze umlaufend 1–4 auf der unteren Ebene und 5–8 auf der oberen Ebene24. Diese Nummerierung und ihre Rechtsdrehung25 wurde hier übernommen, während für die unproblematische Nummerierung der Lautsprecher im
19 Aufschluss gaben hier die Photos aus dem Archiv des Teatro alla Scala mit den Nummern: 63610LMD, 63613LMD, 63617LMD, 134164LMN, 134175LMN, 134180LMN, deren besonderer Wert darin besteht, dass die meisten davon auch das Publikum zeigen; damit sind die Lautsprecherpositionen die endgültigen. 20 In AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 170 aufbewahrt und auch auf http://www.hphaller.homepage.t-online.de/heft2.html Abb. 27 [13.8.2019] zu sehen; Haller gibt dort allerdings fälschlich Alvise Vidolin als Urheber der Skizze an, denn er signierte sie selbst und die eingetragene Handschrift ist auch die seine. Vermutlich hat Alvise Vidolin aber das Grundraster gezeichnet (es befindet sich ein solches noch leeres Raster im o. g. Konvolut) und/oder Informationen an Haller gegeben. 21 ALN 51.35.02/02. 22 Dass es sich hier um die Orchestergruppen handeln muss, ist an den vergleichsweise größeren Fläche zu erkennen und daran, dass sie an denselben Positionen bleiben, denn nur die Solisten sollten sich anfangs in der Arca bewegen. 23 Die Zählung nach links hat Nono auch in die Partitur geschrieben, denn die Anordnung der Akkoladen für die Orchestergruppen ist immer von oben nach unten: 1–4–2– 3. Eine Unschärfe ist lediglich darin erkennbar, dass Nono meistens, aber nicht immer die Orchestergruppe 1 oben anordnet, es gibt auch Varianten mit dessen Position links, unten oder rechts (z.B. Orchester 1 an der rechten Seite und 4 oben etc: 51.30./06 inf. auf einer Skizze). Die Linksdrehung bleibt aber immer erhalten. 24 Im Konvolut AdK Berlin, Haller-Archiv Nr. 170. Die Ebenen sind darauf nur farblich (schwarz und blau) differenziert, scheinbar befinden sich die Lautsprecher aber auf einer Linie. 25 In der Arca nummerierte Haller die Lautsprecher immer in Rechtsdrehung.
220 | Der komponierte Raum
Zentrum (9+10) aus der farbigen Skizze übernommen wurde. Diese hat aber keine Nummerierung für die Süd- und Nordlautsprecher in den Nebenräumen26, sodass auf die Nummerierung für die Frankfurter Aufführung 1987 und alle folgenden Aufführungen zurückgriffen wurde, die die Lautsprecher 11+12 weit außen platzieren. Eine Besonderheit ist der Lautsprecher 4 in der hier vorgenommenen Rekonstruktion, für den es keinen photographischen Beleg gibt. Der farbigen Skizze entsprechend, die sich als Vorbild für die Aufführungsaufstellung erwiesen hat, wurde er an der kurzen Arcaseite gegenüber den Geräten aus Freiburg platziert. Keine Nummer trägt hingegen ein Standlautsprecher in einem Außenraum, der von Alvise Vidolin für die Klänge seines 4i-Systems genutzt wurde, als Ersatz für die Positionen unter dem Boden der Arca in Venedig27. Abbildung 57: Aufstellung der Musiker und Lautsprecher in der Arca in Mailand 1985, die Lautsprecher 11 und 12 sind zur leichteren Darstellung näher an die Wände der Arca gerückt, der Standlautsprecher für das 4i-System ist nicht zu sehen. Ferner wurden die Bauteile der Arca auf ein Mindestmaß reduziert und die Böden durchsichtig dargestellt. Vgl. die Abbildungen 1 und 3a–c, die maßstabgerechten Graphiken im Kapitel »Einleitung«.
26 Ihre Existenz ist auf einem Photo der Mailänder Uraufführung dokumentiert (134175LMN, Archiv des Teatro alla Scala, Mailand) und wurde von Alvise Vidolin im persönlichen Gespräch bestätigt (am 11.9. 2017 in den Räumen des Archivio Luigi Nono in Venedig). 27 Gespräch mit Alvise Vidolin ebd.
Werkstatt Rekonstruktion | 221
Besetzung 12 Lautsprecherpositionen 4 Orchester mit je: 4 Violinen 1 Viola 1 Cello 1 Kontrabass 1 Flöte 1 Klarinette (B) 1 Fagott 1 Trompete (C) 1 Horn (F) 1 Posaune Chor: je 3 Sopran, Alt, Tenor, Bass Solistengruppen 3 Solostreicher: 1 Viola, 1 Cello, 1 Kontrabass 3 Solobläser: 1 Bassflöte (Wechsel auch zu Flöte und Piccolo) 1 Bassklarinette (Wechsel auch zu Klarinette (B) und Piccoloklarinette (Es) 1 Posaune (Wechsel auch zu Tuba und Euphonium) Gläser (spezielle Bleigläser als Schlagwerk) 5 Solosänger: 2 Soprane, 1 Mezzosopran, 1 Alt, 1 Tenor 2 Sprecher: ein Sprecher und eine Sprecherin28 Live-Elektronik Technische Ein- und Aufzeichnungen Haller dokumentierte die Schaltwege und Einstellungen der elektroakustischen Geräte aus dem Freiburger Experimentalstudio während der Proben in Mailand auf zahlreichen DIN-A5-Blättern29 und zeichnete alle Einsätze farbig in sein Exemplar der Aufführungspartitur30. Zusammen mit den Handbüchern der in Freiburg benutzten externen Geräte, wie dem »Infernal« und dem »Publison«31,
28 Aufstellung nach dem Besetzungszettel in Mailand 1985 in: AdK Berlin, HallerArchiv, Nr. 388. Darauf sind auch die Namen der Künstler enthalten. 29 AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 174. Zahlreiche Streichungen und Überschreibungen sind dort ebenfalls erhalten. 30 AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 8. 31 Aus dem Freiburger Experimentalstudio wurden dafür drei digitale Multifunktionsgeräte der französischen Firma Publison mit den Typbezeichnungen 89 und 90 für Mailand disponiert (AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 170; DIN A 3-Blatt, datiert v. 7.5.1985); beide Typen trugen herstellerseitig den Titel »Infernal Machine«, sodass nicht ganz klar ist, welchen Typ Haller meinte, wenn in seinen Aufzeichnungen »Infernal« oder »Publison« steht. Beide Geräte unterschieden sich besonders in der Bedienoberfläche des Gerätes. Das Handbuch des Publison 90, mir von eigener Arbeit
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und einem digitalen Hallgerät32 lassen sich daraus die Art und Spezifik der elektroakustischen Klänge und der Verlauf der Halaphonwege (aus der Abfolge der Lautsprechernummern 1–12) ermitteln. In Zweifelsfällen können die Eintragungen Nonos in der Partitur ebenso herangezogen werden wie auch die ›mittlere Grundform‹ der Aufstellung aus der Darstellung Nielinger-Vakils 2015. Dort sind viele Halaphon-Verläufe und Lautsprecher-Dispositionen ähnlich wiedergegeben wie in Hallers technischen Aufzeichnungen, wenngleich die Aufstellung der Lautsprecher variiert. Live-elektronische Geräte in Mailand33 und ihre Klangwirkungen Mit den live-elektronischen Geräten können die von den Musikern erzeugten Klänge variiert, verfremdet, zeitlich verzögert und/oder im Raum bewegt werden. Grundsätzlich sind die Klangwirkungen nur über Lautsprecher hörbar, sodass immer zwei Klänge in der Arca wahrnehmbar sind: die originalen Klänge der Musiker, Sänger und Sprecher und gegebenenfalls deren Übertragung per Lautsprecher sowie die von den live-elektronischen Geräten erzeugten Verfremdungen und Klangvarianten über die jeweilig angegebenen Lautsprecher, die sich in der Arca bzw. in den Nebenräumen befanden. Nono betrachtete die live-elektronischen Geräte als Teil des gesamten Instrumentariums und ihrer Musiker, weshalb er sie auch sichtbar in der Arca, am Rand der untersten Ebene, platzieren ließ (direkt unterhalb des ersten Laubengangs). Sekundfilter (Eigenentwicklung für das Freiburger Studio) Gemeint ist eine Vielzahl von Einzelfiltern in einer sogenannten Filterbank. Jeder Filter hat eine Bandbreite von einer Sekunde34. Sie ermöglichen die Klangfilterung und damit die Veränderung der Klangfarbe im Filterbereich (lauter, leiser). Somit kann im Sekundabstand die Filterung der Originalklänge vorgenommen werden, was eine extrem präzise Klangumgestaltung ermöglicht. Vocoder (Herkunft unklar) Mit dem Vocoder kann man die Klangcharakteristik eines Instrumentes mit der eines anderen überlagern, was zu einem Mischklang aus beiden führt. Das geschieht mit der möglichst feinen spektralen Analyse eines Eingangsklangs (z.B. mit Sekundfiltern) und der Übertragung oder Vermischung der ermittelten Fre-
im Elektronischen Studio der TU Berlin aus dem Jahr 1985 bekannt, fand ich im Internet als PDF für die Version von 1987; besonders für die Harmonizerfunktion reichte dies aus. 32 Laut o.g. DIN A3-Blatt von EMT ohne Typangabe. Hallers Einzeichnungen reichen zur Definition des Halls aus. 33 Nach der Liste in: AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 170; DIN A 3- Blatt, datiert v. 7.5.1985. 34 Vgl. Haller 1995, Bd.1, S. 58f.
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quenzbänder und ihrer jeweiligen Lautstärke auf einen anderen Klang. Die Übertragung kann entweder auf dieselben Frequenzbänder erfolgen oder in Invertierung. Bei der invertierten Schaltung werden die Werte der analysierten Frequenzbänder in andere Frequenzbänder übertragen: die Werte des niedrigsten Frequenzbands in das höchste, die des zweitniedrigsten zum zweithöchsten etc., während die Werte des höchsten Frequenzbandes in das niedrigste Frequenzband übertragen werden etc., sodass die mittleren Frequenzbänder weniger stark verschoben werden35. Die Klangwirkung ist in beiden Fällen stark verfremdend, denn in der Normalschaltung werden im Prinzip beide Klänge miteinander vermischt, während in der invertierten Schaltung weniger direkte Wiedererkennung der beiden vermischten Klänge möglich ist. Gate (Eigenentwicklung für das Freiburger Studio) Gates sind das Herzstück des Freiburger Experimentalstudios und können vielfältig eingesetzt werden. Im Prinzip handelt es sich dabei um Verstärker, die in ihrer Verstärkungswirkung von einem anderen Signal gesteuert werden. Im Prometeo werden Gates für das Halaphon (s.u.) und für die gegenseitige Steuerung von Musikern im Teil 3°–4°–5° Isola in zahlreichen Varianten eingesetzt. Harmonizer (Fremdgeräte: »Publison« und »Infernal«) Hier geht es um die Transposition der Klänge mit digitalen Mitteln. Bis zu zwei Oktaven jeweils in den oberen oder unteren Frequenzbereich können die oben genannten Geräte bewältigen. Im Prometeo kommen mikrotonale Transpositionen ebenso vor wie die extreme Transposition von zwei Oktaven. Ein zusätzliches Keyboard wurde gelegentlich eingesetzt, um weitere mikrotonale Variationen wie Vibrato zu erzeugen. Hall (Fremdgeräte der Firma EMT, »Infernal«, »Publison«) Alle Geräte erzeugen den Hall mit digitalen Mitteln. Hall wird im Prometeo ebenso als Ergänzung von räumlicher Differenzierung wie als Mittel klanglicher Differenzierung angewendet. Daher sind verschieden große Raumvolumina und Halldauern in Hallers Aufzeichnungen zu finden. Zeitverzögerung (Eigenentwicklung für das Freiburger Studio oder Fremdgeräte »Infernal« und »Publison«) Mit diesen Geräten lassen sich Klänge verspätet wiedergeben. Eine Eigenentwicklung aus dem Freiburger Studio sind die beiden analogen Bandverzögerer, 35 Haller gibt auf seiner Webseite mehrere Feinvariationen der Invertierung für Io, Frammento dal Prometeo von Nono an (http://www.hp-haller.homepage.t-online.de/ heft1.html, [4.4.2020]), das 1981 entstand und uraufgeführt wurde. Derartige Feinvariationen gibt er aber nicht für die Prometeo-Aufführungen an; mit Invertierung wird er in seinen technischen Aufzeichnungen also sehr wahrscheinlich die einfache Invertierung gemeint haben.
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die Klänge auf Tonband aufzeichnen und nach einer einstellbaren Zeit wieder abspielen. Dass die Geräte in Mailand verwendet wurden, belegen Photos. In den Aufzeichnungen von Haller sind gelegentlich »v.B.« oder »h.B.« zu lesen, was in der Rundfunk-Fachsprache »vor Band« oder »hinter Band«36 bedeutet und auf den Versatz zwischen dem Aufnahme- und Wiedergabekopf bei analogen Tonbandgeräten in professionellen Tonstudios verweist37. In Mailand kamen gelegentlich auch die Fremdgeräte zum Einsatz. Halaphon (Eigenentwicklung des Freiburger Studios) Das Halaphon diente zur Realisierung mehrstufiger Klangwege. Ihr Verlauf geht von Lautsprecher zu Lautsprecher im Verfahren der Phantomschallquellen, das im Prinzip wie Stereophonie funktioniert: Ein Klang wandert von einem zum anderen Lautsprecher, indem die Lautstärke zwischen beiden variiert wird. Der Bewegungseindruck entsteht, wenn die Lautstärke des ersten Lautsprechers geringer wird und zugleich die des zweiten Lautsprechers ansteigt. Abbildung 58: Prinzipienzeichnung der Halaphonwege in der Arca in Venedig 1984. Die gestrichelten Linien mit den kleinen Pfeilen zeigen einen möglichen, sehr verschlungenen Klangweg.
aus: Haller 1995, Bd. 2, S. 163
36 Haller schreibt das in seinen technischen Aufzeichnungen für Stasimo 2° aus. 37 Der Zwischenraum beider Tonköpfe wurde ermöglichte die exakte Bestimmung der Verzögerungsdauer.
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Im Halaphon wird dies mit niedrigfrequenten Tongeneratoren produziert, die entsprechend der Frequenz Einfluss auf die Geschwindigkeit des bewegten Klangs haben. Je nach klanglichem Bedarf können verschiedene Wellenformen als Steuerfrequenzen für die untereinander koordinierten Gates verwendet werden. Mehrstufige und komplexe Wege entstanden in der Arca in der jeweiligen Abfolge der Lautsprechernummern nach demselben Prinzip der Phantomschallquellen. Durch die Aufstellung in mehreren Ebenen konnten auch Zickzack und andere komplizierte Bewegungen realisiert werden, die Haller aber immer als »Kreise« bezeichnete, wohl weil er das erste Halaphon für die Realisierung von Kreisbewegungen entwickelt hatte. Die Geschwindigkeit der Klangbewegung kann den kompositorischen Anforderungen und den räumlichen Gegebenheiten gemäß variiert werden. Außerdem können bei Bedarf damit auch zeitgleich mehrere verschiedene Klangwege gleichzeitig in verschiedenen Geschwindigkeiten dargestellt werden. Das Halaphon war das spektakulärste Gerät des Freiburger Studios und ist eine Entwicklung von Hans Peter Haller und Peter Lawo. Es wurde im Lauf der Jahre in mehreren Versionen weiterentwickelt und ausgebaut. Für die Aufführung in Mailand kam wohl das neue Halaphon 4 zum Einsatz, das mit digitaler Steuerung funktionierte und von Peter Frei entwickelt wurde38. Das 4i-Live-Computermusiksystem der Universität Padua In den frühen 1980er Jahren entwickelte Giuseppe di Giugno, Mitentwickler des 4X-Systems des IRCAM, das 4i-System für live-elektronische Klangsynthese am Centro di Sonologia Computazionale in Padua. Für die Aufführung des Prometeo entstanden mindestens zwei Programme zur Klangbearbeitung, PEATA und Inter239, die jeweils verschiedene klangliche Funktionen hatten. So ging es in PEATA um die Erzeugung von den Originalklang umspielenden Intervallen (»suono mobile«), in Inter2 wohl um die Erzeugung impulshafter Klangzusätze, denen man Zerbrochenes und Zerstörungen anhören sollte40. Aufzeichnungen und Beschreibungen zum Einsatz des 4i-Systems existieren leider nur für die erste Fassung des Prometeo (1984, Venedig)41. Vidolin berichtete in einem persönlichen Gespräch, dass das 4i-System 1985 hauptsächlich für die 1° Isola das PEATA-Programm zum Einsatz kam42 und damit seltener als
38 Zur Geschichte des Halaphons vgl. Brech 2015, S. 241–248. 39 Sylviane Sapir und Alvise Vidolin: Interazioni fra tempo e gesto, in: Quaderno Laboratorio Permanente per l’Informatica Musicale della Biennale di Venezia (LIMB) 1985, S. 25–33. 40 In handschriftlichen Aufzeichnungen Alvise Vidolins, die er mir freundlicherweise in einer Mail vom 4.10.2017 als Scans zur Verfügung stellte. 41 Neben den schon genannten auch Alvise Vidolin: Interazioni con il Mezzo Elettronico, in:, Venedig 1984 (= Programmbuch für Prometeo), S. 47–53. 42 Dies ist in der Aufführungspartitur durch Eintragungen in Vidolins Handschrift dokumentiert. Auch an anderen Stellen der Aufführungspartitur sind Eintragungen von Vidolin zu finden. Die von ihm überreichten Kopien seiner handschriftlichen Eintra-
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1984. Vidolin nutzte wieder ein eigenes Verstärker- und Lautsprechersystem und war damit unabhängig vom Freiburger System. Es befand sich in Mailand 1985 im Außenbereich der Arca43; auf einem Photo ist auch ein zusätzlicher Lautsprecher zu erkennen, der nicht zum Freiburger System passt. Ob auf der anderen Außenseite (2. Nebenraum) ebenfalls ein Lautsprecher vorhanden war, ist anhand der aufgefundenen Archivalien nicht zu ermitteln. Synchronisation der einzelnen Teile aus der Aufführungspartitur und den technischen Aufzeichnungen Die Aufführungspartitur enthält verschiedene Einzeichnungen, zumeist, aber nicht immer, in der Handschrift Hallers. Einige betreffen die Noten für die LiveMusiker. So sind gelegentlich einige Stimmen oder ganze Takte, meist mit Bleistift, gestrichen. Einige Striche wurden in der Taschenpartitur übernommen, andere nicht. Da hier die Aufführung in Mailand rekonstruiert wurde und denkbar ist, dass einige der Striche nur für die Aufführung in Mailand vorgenommen wurden, sind alle Striche übernommen worden. Gelegentlich sind neben den Strichen auch verbale Eintragungen wie »no« in Rot vorgenommen. Auch dies ist als Strich verstanden worden. Die weitaus meisten Einzeichnungen betreffen die Live-Elektronik. Sie können klassifiziert werden in: • rot umrandete Ziffern, die auf die externen technischen Aufzeichnungen Hal• • •
•
lers verweisen44, farbliche Markierungen in Strichform bei den live-elektronisch behandelten Instrumenten und Stimmen, taktgenau über den Einsatz hinweg, zu den Strichen gleichfarbige Ziffern zu Einsatzbeginn (meist), die auf die jeweils verwendeten Lautsprecher verweisen, Buchstabe »H«, gleichfarbig und quadratisch umrandet, deutet er auf den Halaphoneinsatz; gelegentlich ist die Abfolge des Halaphonwegs in den Nummern der Lautsprecher angegeben, Bleistifteintragungen zu technischen Schaltungen oder verbale Zusätze zum Technikeinsatz.
Bei Hallers technischen Aufzeichnungen handelt es sich um handschriftliche Notate der Probenarbeit; eine Reinschrift war nicht zu finden. Sie sind in der Abfol-
gungen für weitere Einsätze des 4i-Systems im Prologo, der 2° Isola und der 5° Isola lassen sich aber damit nicht synchronisieren. Gespräch mit Vidolin 11.9.2917 in den Räumen des Archivio Luigi Nono in Venedig. 43 In Venedig 1984 konnte Alvise Vidolin seine Lautsprecher unter der Arca platzieren; er betrieb sie auch in Venedig schon unabhängig vom Freiburger System (Vidolin im Gespräch am 11.9.2017 in Venedig). 44 AdK Berlin, Haller-Archiv, Nr. 174.
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ge der Teile des Prometeo angeordnet. Für jeden Teil sind zunächst die speziellen Geräteeinstellungen notiert, darauf folgen die genauen Angaben zu den rot umrandeten Ziffern in der Aufführungspartitur, die hier immer »Technikziffern« heißen. Insgesamt gibt es 63 dieser Technikziffern. Sie weisen jeweils auf neue Geräte bzw. deren Einstellungen und die dabei verwendeten Lautsprecher. Das betrifft feste Lautsprecherzuordnungen ebenso wie die Abfolge von Lautsprechern als Halaphonweg. Angaben zur exakten Geschwindigkeit der Halaphonwege sind jedoch nicht notiert, gelegentlich sind relative Angaben vorhanden, etwa wenn Nono zwei Geschwindigkeiten von zwei Halaphonwegen eines Klangs in der Arca hören wollte. Generell ergaben sich bei der Synchronisation der einzelnen Teile nur geringfügige Probleme. Widersprüchliche Angaben der handschriftlichen Eintragungen in der Aufführungspartitur und in den technischen Aufzeichnungen wurden zugunsten der Eintragungen in der Aufführungspartitur entschieden: Sie ist taktgenau und zeigt auch kurzfristige Streichungen und Varianten in den Lautsprecherdispositionen, die über die rot umrandeten Technikziffern hinausgehen. Dies ist im Teil 3°–4°–5° Isola jedoch anders, in mehrfacher Hinsicht fällt er aus dem Rahmen und wird deshalb im Folgenden speziell dokumentiert. 3°–4°–5° Isola: Teilgenese der Partitur und Synchronisation mit den technischen Aufzeichnungen Hallers Schon die Änderungen, die Nono für die Fassung des Prometeo von 1985 am Ursprungslibretto vornahm, sind in diesem Teil umfangreicher als in anderen Teilen. Die im Ursprungslibretto abgegrenzten Isole 3°, 4° und 5° mit ihren verschiedenen Textebenen schmolz Nono zu einer zusammen (s. Analyse und Aufführungslibretto). Die Partitur und die Live-Elektronik-Aufzeichnungen enthalten weitere für den Prometeo ungewöhnliche Aspekte. Dem chaotischen Zustand der (Aufführungs-)Partitur und den technischen Aufzeichnungen zufolge muss die musikalische und technische Ausführung außerordentlich schwierig und langwierig gewesen sein. Beide sind mit Strichen durchsetzt. In der Druckfassung der Partitur fehlen 41 Takte45, die sich als Lü-
45 Sie sind in der Druckfassung in Doppelnummerierungen aus fremder Hand notiert. Vorhanden sind damit: T. 1–26 T. 36–69 T. 71–74 T. 76–94 T. 96–104 T. 112–143 T. 145–153 T. 155–156 T. 165–176 T. 185–265.
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cken in der Taktzählung niederschlagen. Die Gesamtzahl der komponierten Takte beträgt damit 226, wobei die unklaren, mit Bleistift vorgenommenen Striche in der Aufführungspartitur, die in der Druckfassung dennoch erscheinen, nicht mitgezählt sind. Der Zustand der technischen Aufzeichnungen entspricht dem der Aufführungspartitur. Zur Rekonstruktion der Geräteeinstellungen und ihren Lautsprecherzuordnungen bedurfte es weiterer Überlegungen46. Zu den 26 nummerierten technischen Einstellungen kommen noch unnummerierte hinzu, die nur die textlosen Eco lontano-Stellen betreffen. Sie sind in der Partitur immer mit den Lautsprechern 6, 11, 12 angegeben (einmal zusätzlich mit 8+9), eine Raumklang-Disposition, die sich immer von der vorigen und nachfolgenden absetzt. Zusammen mit einigen Wiederholungen von Technikziffern kommt es somit zu 39 wechselnden Raumklangdispositionen in der 3°–4°–5° Isola. Die 3°–4°–5° Isola ist für Musiker und Techniker gleichermaßen extrem anspruchsvoll, nicht nur wegen der ständigen Wechsel im Raumklang. Nono setzte hier die Gates des Freiburger Studios ein, um die Musiker sich gegenseitig im Klang steuern zu lassen. Das steuernde Instrument wirkt dabei in seiner jeweiligen Lautstärke unmittelbar auf die Lautstärke des gesteuerten Instruments ein. Dies bedeutet, dass der Musiker des steuernden Instruments starken Einfluss auf den übertragenen Klang des gesteuerten Instrumentes hat. Ein leichtes Vibrato etwa wäre auch im gesteuerten Klang hörbar, ebenso wie crescendo, decrescendo und weitere Lautstärkeschwankungen des steuernden Instruments. Zugleich verliert damit der Musiker des gesteuerten Instruments teilweise den Einfluss auf die Klanggestaltung. Dasselbe gilt für den Klangregisseur: Besonders in Einstellungen mit Thresholds, also Begrenzungen, bei denen die Steuerungen überhaupt wirksam werden, ist in der Live-Situation gegebenenfalls schwer zu entscheiden, wo welche Person eingreifen muss, um die geprobten Klänge auch zu hören.
46 Die Konkordanz der Technikeinstellungen zu den Ziffern in der Aufführungspartitur erwies sich für 3°–4°–5° Isola als extrem schwierig, da Hallers Aufzeichnungen für diesen Teil von Strichen, Übermalungen, Neueinträgen, Umbezifferungen, gemischter Farbgebung und widersprüchlichen Angaben durchsetzt sind. Am Ende ließ sich aber eine durchgehende und sinnvolle Bezifferung rekonstruieren. Einbezogen war dabei auch die Annahme, dass es zu wenigen kleinen Fehlern bei den Eintragungen gekommen sein muss. Sie führten zu einer Fehlbezifferung in beiden Aufzeichnungssystemen (Partitur – Hallers technische Aufzeichnungen) und setzen sich dort jeweils bis zum Ende des Prometeo fort, sodass sehr wahrscheinlich ist, dass Haller die Bezifferung der 5°-Isola-Einsätze nur in der Aufführungspartitur an einer Stelle (S. 184) aufgezeichnet hat, sie aber weder vollständig im Rest der Partitur noch in seinen technischen Aufzeichnungen korrigierte. Führt man sie selbst durch, werden auch die technischen Eintragungen der folgenden Teile 3 voci b und Stasimo 2° in den Verlauf der Technikziffern eingebunden (Interludio 2° hat keine Live-Elektronik) – wobei es aber bei der fehlerhaften Kongruenz der Ziffern in beiden Aufzeichnungssystemen bleibt. Die Zuordnungen zu den anderen Teilen sind schon wegen der nur wenigen Technikziffern (drei für 3 voci b und eine für Stasimo 2°) völlig unproblematisch zuzuordnen.
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Klangmischungen mit den Gates und ihre Raumdispositionen Die Raumwirkung der Klangverbindungen aus zwei originalen Ausgangsklängen (steuernder und gesteuerter Musiker) und dem modifizierten Klang aus dem Lautsprecher, der statisch oder als Halaphonwege in der Arca erklingt, ist nicht unmittelbar abzusehen. Man muss etwas tiefer gehen, um Nonos Notation für die steuernden Instrumente zu verstehen und um sich die Produktionsweise der Gatesteuerungen und ihrer Klangresultate vorstellen zu können. Nach Lydia Jeschke und Pauline Driesen47 hat Nono die steuernden Instrumente mit einer speziellen Strichnotation notiert. Bei jeder steuernden Stimme verläuft sie über die ganze Notenzeile. Was aussieht wie ein merkwürdiger, ungerader Glissando-Verlauf, ist damit wohl nur ein dynamischer Verlauf, der die gesteuerten Stimmen (von Sängern und/oder Instrumentalisten) modifizieren soll. Das ist allerdings eine Vermutung, denn Nono gibt keine schriftliche Darstellung der Spielweisen in der Partitur und verzichtet auch auf Dynamikangaben. Hinzu kommt, dass auf beiden CD-Produktionen die Klänge der Strichnotationen nicht hörbar sind, wohl aber deren dynamischer Einfluss auf die von ihnen gesteuerten Stimmen48. Über die Angaben von Jeschke und Driesen sowie nach Hallers technischen Aufzeichnungen hinaus hat Nono aber auch traditionelle Notationen für steuernde Instrumente komponiert, die exakte Tonhöhen in dynamisch pulsartig gestalteten Einzeltönen oder kleinen motivartigen Strukturen angeben. Die klangliche Wirkung bei längeren oder kürzeren dynamischen Pulsen aus einem Ton ist eine durchgängige dynamische Gestaltung der gesteuerten Stimme, was bei motivartigen Strukturen zu einer Rhythmisierung wird. Die Steuerungen mit normaler Notation kommen in 3°–4°–5° Isola etwas seltener vor als die Steuerungen mit Strichnotation. Ihr auffälliges Merkmal besteht darin, dass sie sehr ähnlich bis fast identische synchrone Tonverläufe aufweisen wie die von ihnen gesteuerten Stimmen. Den raumklanglichen Effekt kann man sich nun vorstellen: Es gibt große Ähnlichkeiten an verschiedenen Orten der Arca, die aus den originalen Stimmverläufen und den gesteuerten statisch zugeordneten Lautsprechern oder als Halaphonweg hörbaren Klangvarianten bestehen – und diese Klangvarianten sind ohne die räumliche Komponente auch in den beiden CD-Produktionen sehr deutlich hörbar.
47 Jeschke 1997, S. 199f. und Driesen 2015, S. 22 (mit Bezug auf die Aufführungspartitur von Alvise Vidolin). Beide Autorinnen geben Abbildungen verschiedener Takte der 3°–4°–5° Isola bei. Driesen gibt die Technikziffer 37 (T. 50ff.) an, nennt dort aber andere Lautsprecher und Halaphonwege als sie in Hallers technischen Aufzeichnungen notiert sind. 48 Col legno 2003 WWE 2SACD 20605 (Dir.: Peter Hirsch) und EMI 1995 CRMCD 1039 (Dir.: Ingo Metzmacher). Denkbar ist natürlich, dass deren Dynamik stark verstärkt wird, um sie zur Steuerung einzusetzen. Darauf deuten auch die relativ geringen Dynamikschwankungen – aber ganz tonlos wird dies nicht möglich sein.
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Somit sind zwei sehr verschiedene Raumklang-Szenarien denkbar: • Folgt man den CD-Produktionen mit ihrer technisch bedingten eingeschränk-
ten Dynamik und für den Prometeo praktisch nicht-existenten RaumklangDarstellung, so handelt es sich bei der 3°–4°–5° Isola um einen sehr gesangsbetonten Teil, dessen Sänger in der Dynamik gelegentlich von Instrumenten gesteuert werden und deren Texte sehr häufig verstehbar sind (sofern Text nicht übereinander geschichtet ist), weil nur geringe klangliche Varianten und sehr wenig begleitende instrumentale Klänge ihre Verständlichkeit behindern. • Das andere räumliche Klangszenario setzt darauf, dass die strichnotierten Klänge etwas deutlicher hörbar sind als in den CD-Produktionen – auch wenn ihre genauen Klänge zunächst unklar bleiben. Dafür sprechen mehrere Punkte: – Die dynamische Steuerung der Sänger und der anderen Musiker beruht auf dem Spiel der steuernden Instrumente, d.h. sie produzieren zur Steuerung mikrophonübertragbaren Klang. Die Lautstärke kann dabei wohl auch sehr leise sein, denn Gates sind aus technischer Sicht nur Verstärker (s.o.), die auf leise Klänge eingestellt gewesen sein können. Im Prometeo kommen auch in anderen Teilen extrem leise, an der Wahrnehmungsschwelle liegende Klänge vor, sodass man grundsätzlich von der beabsichtigten Hörbarkeit der leisen Steuerklänge ausgehen kann. – Nono komponierte über die gesamte 3°–4°–5° Isola weitaus häufiger Strichnotierungen für die Soloinstrumentalisten, die nicht zur Steuerung anderer Stimmen verwendet wurden49. Nicht selten betrifft dies sechs verschiedene Stimmen gleichzeitig, die drei normal notierten Stimmen gegenüberstehen. Wenn Nono zur Zeit der Komposition geplant hätte, sie auch zur Steuerung zu nutzen, wären die »überflüssigen« Strichnotationen im Lauf der Proben wohl herausgenommen worden, so wie andere Stellen auch. Darauf deutet aber nichts hin. Also muss man davon ausgehen, dass die Strichnotationen alle 1985 in Mailand instrumental ausgeführt wurden und damit hörbar waren. – In diesem Zusammenhang ist auch ein rein technisches Argument angebracht: Dynamikvarianten lassen sich völlig unhörbar mit einem Regler am Mischpult steuern, mit etwas Übung auch fast so synchron wie mit instrumenteller Steuerung. Reine Unhörbarkeit der steuernden Instrumente kann also aus technischer Sicht nicht Nonos Absicht gewesen sein. Für die rekonstruierte Aufführung kann man daher wohl davon ausgehen, dass die steuernden Instrumente ebenso hörbar waren wie die Klänge der Instrumente,
49 Insgesamt gibt es 12 strichnotierte Abschnitte aus Einzelfragmenten oder kombinierten Fragmenten einer Isola. Zehn davon haben Strichnotationen für steuernde und nicht steuernde Instrumente – nur zwei sind ausschließlich für steuernde Instrumente strichnotiert. Auch hier gilt also die Konstruktionsregel von Regel und Ausnahme, die in der ganzen 3°–4°–5° Isola zu finden ist.
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die Strichnotationen spielten, ohne zur Steuerung der Dynamik anderer Instrumente eingesetzt zu sein. Offen ist damit noch die Frage der Klangqualität der sehr oder extrem leisen strichnotierten Instrumentalklänge. Dazu kann man nur eine Vermutung anstellen, die auf dem Fakt beruht, dass Nono in der 3°–4°–5° Isola gelegentlich (in den 5° Isola-Fragmenten) für die Sänger Sprechgesang notierte, allerdings nie an Stellen, an denen er Strichnotation verwandte (3° und 4° Isola-Fragmente). Im Hinblick auf die klangliche Nivellierung der Kontraste durch Angleichung in diesem Teil kann man annehmen, dass die leicht geräuschhafte Klanglichkeit in den 5° Isola-Fragmenten ihr Pendant in den leisen, nicht tonhöhenorientierten Strichnotationen der 3° und 4° Isola gefunden hat. Dann könnten die leisen strichnotierten Klänge geräuschhaftes Pusten der Solosänger oder Saitenkratzen der Solostreicher gewesen sein, Klangelemente mithin, die in der klangfarbenorientierten Neuen Musik zusammen mit anderen »Instrumentengeräuschen« wie Klappen- und Ventilbewegungen, Klopfen auf Resonanzkästen etc. üblich sind50. Für die Analyse bildete diese Vermutung die Arbeitsgrundlage. Auch die Frage der Hörbarkeit der leisen geräuschhaften Klänge sowie der Wahrnehmbarkeit von Klangzusammenhängen, zu denen sie beitragen, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Nur für normalnotierte Steuerklänge kann als sicher gelten, dass die Zusammenhänge zu den Klängen des gesteuerten Instrumenten oder der gesteuerten Stimme und dem resultierenden Klang auf dem Lautsprecher wahrgenommen werden können. Nicht steuernde leise geräuschhafte Klänge bleiben am Ort, sofern Hörer nicht zu weit entfernt sitzen. Für sehr leise geräuschhafte Steuerklänge, ihre gesteuerten und die resultierenden Klänge kann man aber wieder nur vermuten, dass sie als ähnlich empfunden werden und eine Raumgestalt bilden. Auch diese Vermutung bildet die Arbeitsgrundlage für die Analyse.
50 Dass diese leisen geräuschhaften Klänge auf den CD-Produktionen des Prometeo zumindest in der einfachen Stereo-Wiedergabe nicht hörbar sind, könnte mit der Aufnahmesituation zusammenhängen. Im Bereich der klassischen und Neuen Musik wird meist mit entfernteren Mikrophonpositionen gearbeitet, um die natürlich Akustik mit aufzunehmen. Das dürfte beim Prometeo ebenfalls nötig gewesen sein – doch sehr leise Klänge können dabei untergehen.
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WERKSTATT LIBRETTO Nono hat das ihm zugeeignete Libretto von Massimo Cacciari fragmentiert und bearbeitet: Abschnitte oder Zeilen umgestellt und auch neue Teile entwickelt, Striche ausgeführt und wenige Zeilen an verschiedenen Stellen hinzugefügt. Diese Bearbeitung ist Teil der Komposition und geht in die Raumkomposition ein. Deshalb ist hier das vollständige Libretto in der komponierten Fassung angefügt und in Deutsch übersetzt. Es folgt der Partitur sowie den hier vertretenen Ansatz der Verständlichkeit und differenziert zwischen verständlich komponiertem, nicht verständlich komponiertem und stumm komponiertem Text. Nicht komponierte Textteile sind nicht aufgenommen; gelegentlich sind die Ebenendifferenzierungen des Originals aufgehoben. Die Übersetzung entstand mit der Unterstützung von Marie Potthoff (italienische Textteile) und Charalampos Saitis (alt-griechische Textteile), wobei auch die Übersetzungen von Klaus Pauler1, Matthias Vogt2 und die u.a. von A. und H. Küngelgen3 herangezogen wurden. In der reinen Übersetzung waren verschiedene textliche Beziehungsebenen zu beachten. So basiert z.B. der Maestro del Gioco Teil des Librettos anfangs auf Walter Benjamins Geschichtsthesen, doch Massimo Cacciari präsentiert sie in italienischer Übersetzung. Hier wurde nah am Original zurück-übersetzt, um die von dort stammenden Motive, die Cacciari später wieder aufnimmt und weiterträgt, zu erhalten.
Erläuterungen zur Textgestalt: Die Originaltexte und ihre Übersetzungen befinden sich auf derselben Höhe über zwei Seiten. Beim Lesen des E-Books wechseln Sie bitte auf den „zwei-SeitenModus“. Linke Buchseite: Originalsprachen – rechte Buchseite: deutsche Übersetzung Schriftvarianten: Normal: Libretto-Text Fett: verständlich komponierter Text {…}: stummer, nicht gesungener oder nicht komponierter Text in der Partitur
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Klaus Pauler: Hörpartitur von Prometeo, tragedia dell’ascolto, in: Beiheft zur CDProduktion col legno 2003. Vgl. Jeschke 1997, S. 265, wo die Übersetzung des Original-Librettos von Matthias Vogt angehängt ist. In: Klaus Kropfinger (Hg.): Komponistenportrait Luigi Nono, 38. Berliner Festwochen 88, Programmbuch, S. 13-27.
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LIBRETTO (ORIGINALSPRACHEN)
I. PROLOGO Γαῖα δἐ τοι πρῶτον μἐγείνατο Οὐρανὀν ἀστερόενθ γεἰνατο δ᾽Οὔρεα μαχρά ἤ δἐ χαἰ ἀτρύγετον πέλαγος τέχεν αύτἀε ἔπειτα Οὐρανῶ εύνηθεῖσα τέχ᾽Ωχεανὀν βαθνίνην Κοῖόν τε Κρῖόν θ᾽ Υπερίονά τ᾽ Ιαπετόν τε Θείαν τε ᾽Ρείαν τε Θέμιν τε Μνημοςύνην τε Φοίβην τε χρυσοστέφανον Τηθύν τ᾽ ἐρατεινήν τούς δἐ μέθ᾽ όπλότατος γένετο Κρόνος άγχυλομἠτης παίδων᾽ χούρην δ᾽ ν ᾽Ιαπεὀς χαλλίσφνρον Ωχεαμίνη ἠγάγετο Κλνμένην ή δέ οί Ἄτλαντα χρατερόφρονα γείνατο παῖδα ποιχίλον αἰολόμητιν Επιμηφέα Ιθαξ πολντέχνου Τηθύος ἔχγονα χοὐδἐν τοὐτων ὄ τι μἠ Ζεύς Chor
Sprecher (verständlich)
Maestro del Gioco I
Γαῖα ἐγείνατο (generò) Οὐρανὀν Οὐρανὀν Φοίβην Ascolta δ᾽Οὔρεα Ascolta Κρόνος Ωχεανὀν
Κλνμένην Ιθαξ
Ζεύς
non vibra qui ancora un soffio dell’aria che respirava il passato? Ascolta vibra qui un soffio respirava il passato Ascolta Non resiste nell’eco la voce… la voce
᾽Ρεία, Κρόνος Ιαπεὀς, Κλνμένην di quelle ammutolite? Ascolta…resiste… voce… eco… voce…
Werkstatt Libretto | 235
LIBRETTO ÜBERSETZUNG
I. PROLOGO Gaia gebahr zuerst den sternenbedeckten Uranos, Sie gebar die weiten Berge und das unbestellbare Meer Danach mit Uranos gebettet, gebar sie Okeanos, voll wilder Strudel, Koios und Krios und Hyperion und Japetos und Theia und Reia und Themis und Mnemosyne und Phoibe und die goldbekränzte liebliche Thetys. Als jüngster wurde der unaufrichtige Kronos geboren, das fürchterlichste der Kinder. Japetos vermählte sich mit der zarfüßige Okeaniden Klymene. Sie gebar den furchtlosen Atlas, den Menoiton, Epimetheus, Prometheus, den listenreichen Ithaker, die Abkömmlinge der klugen Thetys Alles geschah nach dem Willen des Zeus Chor
Sprecher (verständlich)
Maestro del Gioco I
Gaia gebar Uranos Uranos Phoibe Höre die großen Berge Höre Kronos Okeanos
Klymene Ithax
Zeus
Schwingt hier nicht noch ein Lufthauch, der die Vergangenheit atmete? Höre schwingt hier ein Hauch, der die Vergangenheit atmete? Höre Überdauert nicht im Echo die Stimme … die Stimme
Reia, Kronos Japetos, Klymene jener Verstummten? Höre… überdauert … Stimme …Echo …Stimme
236 | Der komponierte Raum
{Come nel} volto dell’amata quello di spose Προμηδἓα mai (3x) conosciute? Maestro del Gioco II Vibrano intese segrete Si impigliano nell’ali dell’Angelo Sanno {comporre} l’infranto Questa debole forza c’è {data}. c’è data debole forza Non sperderla Πελαγος
II. 1° ISOLA Prometeo {Sappi: Pur vedendo non vedevano pur udendo non udivano}
Efesto
{gli uomini effimeri} {larve di sogno sotto terra abitavano come formiche} {finché io mostrai loro aurora e tramonto} {Te, figlio di Teti inchioderò} {Io piegai al giogo le bestie tormentai per loro la Terra inventai i cocchi del mare}
Werkstatt Libretto | 237
{wie im} Gesicht der Geliebten Jenes der Gemahlinnen, Prometeo aber (3x) nie gekannt? Maestro del Gioco II Es schwingen geheime Verabredungen4 sie verfangen sich in den Flügeln des Engels. Sie wissen das Zerbrochene {zusammenzusetzen} Diese schwache Kraft ist {gegeben} Gegeben ist schwache Kraft Verliere sie nicht. (öde) Meerflut
II. 1° ISOLA Prometeo {Wisse: nur sehend, sahen sie nicht nur hörend, hörten sie nicht}
Efesto
{die vergänglichen Menschen} {eingehüllt im Traum wohnten sie unter der Erde wie Ameisen} {bis ich ihnen die Morgenröte und die Abenddämmerung zeigte} {Dich, Sohn der Thetys, werde ich fesseln} {Ich zwang die Tiere ins Joch quälte mit ihnen die Erde erfand die Wagen des Meeres} 4
Die Übersetzung folgt der Formulierung von Benjamin (2015, S. 142), auch wenn die Übersetzung „tief Verborgenes“ lauten würde (vgl. dazu die letzten Zeilen von 3 voci b).
238 | Der komponierte Raum
{Te, con nodi indistricabili} {Io e il numero trovai} {Te, a questa roccia immobile} {Io οιας τεχνας τε και πορους εμησαμην} {Tu appassirai al baléno del sole Mitologia-Coro Prometeo questa speranza liberarsi dal dio? {Io spiegai i sogni} {i voli} {Te roderà la pena omnipresente} {sei come un nuovo signore} Ascolta (2x) + [neidisch und schwierig?] {Sappi: difficile a placare è il cuore di Zeus dispernsatore di casi} {Io spiegai i sogni i voli le voci} {i presagi gli incontri i costumi}
Werkstatt Libretto | 239
{Dich, mit unentwirrbaren Knoten} {Ich erfand auch die Zahl} {Dich, an diesem unbeweglichen Felsen} {Ich Ersann große hilfreiche Techniken} {Du wirst im Strahl der Sonne verwelken} Mitologia-Coro Prometeo Diese Hoffnung, sich von Gott zu befreien? {Ich deutete die Träume} {das Fliegen} {Dich wird die ewige Strafe verzehren} Du bist wie ein neuer Herrscher Höre (2x) neidisch und schwierig? {Wisse: Schwer ist das Herz des Zeus zu beschwichtigen dem Spender der Schicksale} {Ich erklärte die Träume, das Fliegen, die Stimme} {die Weissagungen, die Begegnungen, die Bräuche}
240 | Der komponierte Raum
{l’amore} Credi omnipotente il tuo fuoco? Chiami erità stretta radura
III. 2° ISOLA A) ΙΩ – PROMETEO Io τις γη [welches Land?] (Hu, Ha) Hu! τι γενος [welches Volk?]
Prometeo
il Nume [Gottheit, göttl. Wille] sempre violento ti caccia
Κρονιε (2x) (Ha, Hu) terre inarrate Ah… ιω ιω, Ha, Hu τινα ϕω … + Hu, Ha (Chor) ardimi nel fuoco, (Ha, Hu)
dove in case di giunco) carri vagli sciti
Sprofondami nella terra (He, Ha) dammi cibo ai mostri Lascia Ma placa mi (ιω ιω) L’ Europa L’Asia entrerai
L’ Europa
Varca fiumi sonori Sferza violenta va alle sorgenti
Werkstatt Libretto | 241
{die Liebe} Glaubst Du, allmächtig sei Dein Feuer? Nennst du eine enge Lichtung Wahrheit?
III. 2° ISOLA A) ΙO – PROMETEO Io Welches Land? (Hu, Ha)
Hu! Welches Volk?
Prometeo
die göttliche Macht Ist immer gewalttätig dich jagt
Sohn des Kronos (2x) (Ha, Hu) ungepflügte Erde Ah… oh weh, Ha, Hu Was sag ich Ha, Hu
wo in Binsen-Hütten
Verbrenne mich im Feuer
die Skythen ihre Wagen ziehen
versenke mich in der Erde gib mich den Ungeheuern zum Fraß Lass Aber besänftige mir (oh weh, oh weh) Europa
Europa
Du wirst Asien betreten Übertrete tiefe Flüsse Gewalttätige Geißel Geh zu den Quellen
242 | Der komponierte Raum
placa mi mania del sole incessante placa mi (Hi, Hu) Κρονιε dio geloso geloso dio dal rito notturno placa mi mi caccia folle
sigue le rive d’Etiope
dove dai monti sacro il Fiume s’abbatte bufera divina placa
Sempre violento (Ho, He) τις γη Sventura di vivere Κρονιε θνησκω 2x
2° ISOLA B) HÖLDERLIN Doch uns ist gegeben auf keiner Stätte zu ruhn… (3x) es schwinden es fallen die leidenden Menschen blindlings wie Wasser von Klippe zu Klippe
Canopo v’è amare nozze
Werkstatt Libretto | 243
Besänftige mir den Wahnsinn der Sonne unaufhörlich besänftige mir (Hu, Ha) Sohn des Kronos Eifersüchtiger Gott Eifersüchtiger Gott des nächtlichen Rituals Besänftige mir folge den Flüssen Äthiopiens mich jagt verrückte (assilo; nicht in AP) Wo am heiligen Berg der Fluss entspringt Göttlichen Sturm besänftige
Immer gewalttätig (Ho, He) Welches Land? Unglück zu leben Sohn des Kronos Ich sterbe (2x)
2° ISOLA B) HÖLDERLIN Doch uns ist gegeben auf keiner Stätte zu ruhn… (3x) es schwinden es fallen die leidenden Menschen blindlings wie Wasser von Klippe zu Klippe
Wo Kanopos liegt bittere Hochzeit
244 | Der komponierte Raum
ins Ungewisse hinab… Una dell’Uomo Una del Dio la stirpe Del Dio fratelli infelici
2° ISOLA C / STASIMO 1° Né voce d’Orfeo Né incantamen[to] Né rimedio di Febo Orfeo tracio Febo la Placa La placa Né altare né statue Né sanguinante offerta Né il ferro calibe La piega Ignora Αιδωσ [Scham] Inacessa Ha la cima
Werkstatt Libretto | 245
ins Ungewisse hinab… Eines des Menschen Eines des Gotts Das Geschlecht des Gottes Unglückliche Brüder
2° ISOLA C / STASIMO 1° Weder die Stimme des Orpheus Noch Verzauberung Noch Heilmittel der Phoibe Orpheus Trakien Phoibe Besänftigt sie Besänftigt sie Weder Altar, noch Statuen Noch blutiges Opfer Oder das Eisen der Chalybes Beugt sie Sie ignoriert Scham Unerreichbar steht sie am Gipfel
246 | Der komponierte Raum
IV. INTERLUDIO 1° Non sperdala και πλειστων questa debole messianische Kraft αψαμενοσ λογων Non a noi soli κρεισσον {come} resiste {nelle voci} l’eco {dei} silenzi trascorsi ουδεν {cosi quelle debole forza soregge quest’} attimo {κρεισσον (ουδεν, s.o.)} Αναγκας ηυρον
V. 3 VOCI A Ascolta Cogli quest’ attimo Balena un istante Un batter del ciglio Un istante Non dire dell’ieri Oggi il sole lancia il laccio dell’ alba Oggi… sole … alba Qui vibrano intese segrete Al colmo del pericolo Al centro del deserto Stendi le ali {Fà che il fiato l’} intesa segreta trascini Irrompono angeli A volte Angeli
Werkstatt Libretto | 247
IV. INTERLUDIO 1° Verliere sie nicht und mit vielen diese schwache messianische Kraft Lehren habe ich mich befasst Nicht an uns allein Doch mächtiger {wie} im Echo {in den Stimmen} überdauert {den} vergangenen Stillen nichts {so unterstützt diese schwache Kraft} den Augenblick als Ananke fand ich
V. 3 VOCI A Höre Ergreife diesen Augenblick er blitzt einen Moment lang auf einen Wimpernschlag einen Moment Sprich nicht von Gestern Heute wirft die Sonne das Band des Morgenrots Heute … Sonne … Morgenrot Hier schwingen geheime Verabredungen Auf dem Gipfel der Gefahr Im Zentrum der Wüste Breite die Flügel aus {Mach dass das Band der} geheimen Verabredung mitreißt Es dringen Engel Manchmal Engel
248 | Der komponierte Raum
{nel} cristallo del mattino battono ali di porpora {qui} la misura del tempo si colma Ascolta 3x
VI. 3°–4°–5° ISOLA 3° Isola
4° Isola
5° Isola
Prometeo Alla fine è il tuo nostros una casa provedi e un bove Poni mente, che una tempesta spiri, che nelle mie ali si impiglia Se ti è dato essere eroe, eroe Solo del mare lo puoi Vieni musa / e una donna alla fine è il mio nóstros Prometeo, fai ora ritorno non più a consolare {sopraggiugni al} pianto del figlio {sali dal fondo del mare} alcoltane l’anima muta ti grida la voce del dio dove é aperto l’azzuro mettiti arare …schiva la brina… nociva che vi sia chi si irrompe e reca il fuoco questo da sé si comprende vedo sonora vedi fulgida
Werkstatt Libretto | 249
in das Kristall des Morgens sie schlagen mit purpurnen Flügeln {Hier} erfüllt sich das Maß der Zeit Höre (3x)
VI. 3°–4°–5° ISOLA 3° Isola
4° Isola
5° Isola
Prometeo Zuende ist Deine Fahrt Ein Haus kauf’ Dir und einen Ochsen Bedenke, dass ein Sturm weht, der sich in meinen Flügeln verfängt Wenn es dir gegeben ist ein Held zu sein, ein Held Nur auf dem Meer vermagst Du es Komm Muse und eine Frau Zuende ist meine Fahrt Prometeo, kehre jetzt zurück Nichts ist mehr zu trösten {dringst in} das Weinen deines Sohnes {steig vom Meeresgrund auf} höre die stumme Seele Dich ruft Gottes Stimme Wo das Blau sie öffnet Beginne zu Pflügen … Weiche dem schädlichen Raureif aus Dass es etwas gibt, das eindringt und Feuer entfacht, versteht sich von selbst
Ich sehe das Klingende Du siehst das Glänzende
250 | Der komponierte Raum
Bora sul mare Si leva e imperversa Le stelle ti serran la mano al timone Ascoltami poi: navi non spingere nei gorghi del ponto ma che il fuoco riveli e che il rivelare divenga legge questo è miracolo città divina Atene famosa Le tue parole Nel suo silenzio Qui crescerai Un albero trasgredire via sia rifondare altre legge, che nell’ inquietum sempre duri la nostra pazienza la nostra attesa resista Ecco il miracolo Lontano da Δικη [Dike] Questo è miracolo Qui crescero il narcisso Nomos vi sia Ekdika Abbandonato da Δικη che l’Asia ignora il croco irridato fuggendo la furia selvaggia di Orione tirale a secco Inseguirà sul mare il suo remo repidi Nereidi
Werkstatt Libretto | 251
Bora (d.i. kalter Fallwind) auf dem Meer erhebt sich und tobt Die Sterne führen deine Hand am Ruder Höre mir zu: Lenk das Schiff nicht In die Strömungen des Pontos aber dass Du das Feuer offenbarst und das Offenbaren Gesetz sein wird Dies ist ein Wunder Heilige Stadt Bedeutendes Athen Deine Worte In seiner Stille Hier wist Du einen Baum Wachsen lassen übertreten hieße, ein anderes Gesetz wieder begründen. Dass in der Unruhe sich unsere Geduld immer erhält unser Warten standhält Das ist Wunder Fern von Dike (Zeus’ Recht) Das ist Wunder Hier werde ich Narzissen wachsen lassen Gesetz sei frei von Dike, Verlassen von Dike Dass Asien ignoriert, den farbenreichen Krokus Auf der Flucht vor der wilden Furie des Orion Zieh ans Trockene Wird mit seinem Ruder auf dem Meer die schnellen Nereiden verfolgen
252 | Der komponierte Raum
chiglia … foro non marcisca … piogga Ma… andare sia verità del azzurro (sia) … rivedersi Verranno cattive nottate cadranno… sarò stanco sarà il mio remo sul mare mille vele d’azzurro delle memorie il cumulo di all’ angelo Qui dirai da un altare con Zeus riguadarsi stupiti risonare, verità dell’azzurro silenzio Tu solo supporti lontana E attendi e sei nel deserto del mare invincibile festa… tragedia che si libera in te procede e abbandona comprende e trasforma questo è miracolo procede guarda trasforma abbadona e comprende opera e trapassa
nessun dio potrà (questo fuoco) sottrarmi
Werkstatt Libretto | 253
Der Kiel …die Bohrung… der Regen… verrottet nicht Aber … Gehen Sei die Wahrheit des Blauen Sei… sich wiederzusehen Es werden schlechte Nächte kommen, sie werden fallen Ich werde müde sein Das wird mein Ruder auf dem Meer sein Tausend blaue Segel Von der Fülle der Erinnerung(en) Sag dem Engel Hier wirst Du vor dem Altar mit Zeus sprechen Sich verwundert betrachten Wiederhallen Wahrheit der blauen Stille Du allein erträgst die Ferne Und wartest Und bist in der Wüste des Meeres unbesiegbar Fest … Tragödie Die sich in Dir befreit Fortschreitet und verlässt Begreift und verwandelt Das ist Wunder fortschreitet, sieht, verwandelt verlässt und begreift wirkt und vergeht kein Gott wird dir (das Feuer) entreißen können
254 | Der komponierte Raum
VII. 3 VOCI B Ascolta Nel deserto lode alla terra A noi è data la debole forza Ma basta per far saltare un’epoca Dal corso della storia Di porre in silenzio La vuota durata Ascolta quest’ attimo Una debole forza è data al pensiero: Stillsetzung Attendono il pensiero occasioni Un opera dal movimento delle opere Instanti felici Far del silenzio cristallo Colmo di eventi Tremendi dice l’intesa segreta Basta per far saltare Una vita dalla sua epoca Un volto dal lutto dei passanti Un fiato segreto un’ intesa profonda {dice l’intesa segreta} Questa debole forza Ascoltali (2. Mal verständlich)
VIII. INTERLUDIO 2° Instrumental und ohne Text
Werkstatt Libretto | 255
VII. 3 VOCI B Höre In der Wüste lobe die Erde Uns ist schwache Kraft gegeben Aber es reicht, um eine Epoche Im Verlauf der Geschichte zu sprengen In Stille zu verharren Die dauerhafte Leere Höre diesen Augenblick Eine schwache Kraft ist dem Gedanken gegeben: Stillsetzung Sie erwarten Gelegenheiten für den Gedanken Eine Handlung aus dem Lauf der Handlungen Glückliche Momente Aus der Stille einen Kristall bilden Erfüllt von Ereignissen Furchtbar, sagt die geheime Verabredung Es reicht, um ein Leben aus einer Epoche zu sprengen ein Antlitz des Leids der Vorübergehenden ein heimlicher Atemzug und eine starke Tiefe {sagt die geheime Verabredung} diese schwache Kraft Hör ihr/ihnen zu (2x)
VIII. INTERLUDIO 2° [Instrumental und ohne Text]
256 | Der komponierte Raum
IX. STASIMO 2° Mitologia – Coro –Nomos πολλων ονοματων μορϕη μια è divisio primaeva è l’irrompere il governare il trasgredire il rifondare è l’abbattere il difendere è ciò che nel cerchio del fuoco rivela … apre molteplici vie chiede a noi di destare l’infranto di rinnovare silenzi trasforma ricorda balea e nel deserto invincibile
Werkstatt Libretto | 257
IX. STASIMO 2° Mitilogia – Coro – Nomos Das Gesetz trägt viele Namen in einer Gestalt ist Ur-Teilung ist das Eindringen das Beherrschen das Überschreiten das Wiederherstellen und das Zerstören das Verteidigen und das, was im Ring des Feuers entsteht öffnet verschiedene Leben bittet uns, das Zerbrochene aufzuwecken die Stillen zu erneuern verwandelt und erinnert blitzt auf und ist in der Wüste unbesiegbar
Referenzen
Abkürzungen AP: Aufführungspartitur LS [Nummer]: Lautsprecher mit Nummer MM: Metronomangabe pro Viertelnote Orch: Orchester(gruppe) mit Nummer Prometeo: Prometeo, tragedia dell’ascolto T.: Taktzahl nach der Partitur A: Taktanfang M: Taktmitte E. Taktende Ziff.: Technikziffer in der Partitur und den technischen Aufzeichnungen ZZ: Zählzeit im Takt
Archivmaterial / Quellen • AdK Berlin: Archiv der Akademie der Künste Berlin, darin:
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Großkopf-Archiv Haller-Archiv Archivio Luigi Nono, Venedig (ALN) Archivio la Scala: Archiv des Teatro alla Scala, Mailand Archivio Fonazione Renzo Piano, Genua (Zugriff über das Internet bis 2017) Hans Peter Haller: Dokumentation der eigenen Schriften und Arbeiten, http://www.hp-haller.homepage.t-online.de/ [9.4.2020] Photos aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg (Zugriff über das Internet bis 2018)
Literatur und Notenausgaben »Festival d’automne à Paris 1987«: Luigi Nono – Programmbuch Paris 1987 Abbado, Claudio: My silent friend: remembering Luigi Nono, in: Contemporary Music Review, 18:1, 1999, S. 3–5
260 | Der komponierte Raum
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264 | Der komponierte Raum
Zehelein, Klaus: Luigi Nonos »Prometeo«; Darstellungsprobleme, in: Kolleritsch, Otto (Hg.): Die Musik Luigi Nonos, Studien zur Wertungsforschung Bd. 24, Wien, Graz 1991, S. 63–74
Quellen der Abbildungen und Animationen • Abb. 2: Zeichnung der Bahnen für den Klang im Poème électronique aus
Tazelaar 2013, nach S. 153 • Abb. 58: aus Haller 1995, Bd. 2, S. 163 • Noten: Abb. 6a und 6b, Abb. 7, Abb. 9, Abb. 12–15, Abb. 21, Abb. 25, Abb.
29, Abb. 30 aus der handschriftlichen Partitur von Luigi Nono; Notensatz: Fabian Zeidler • Alle weiteren Abbildungen und Animationen: Programmierung der Arca in 3D: Anna-Lena Vogt Graphische Gestaltung und Animation: Jan Schlenkermann Analysen, Endfassungen der Graphiken und Animationen: Martha Brech
Referenzen | 265
Personen- und Sachregister Aischylos 10, 49, 79, 91, 100, 102, 105, 115, 157, 200, 203–205, 260 (Der gefesselte) Prometheus 9, 49, 79, 91, 100, 115, 157, 200, 205, 259 Benjamin, Walter 10, 57, 83, 89, 146, 155, 157f., 193, 203, 205, 233, 237, 260 Boulez, Pierre 15, 19, Poesie pour pouvoir 19 Bregman, Albert 32f., 35, 260 Cacciari, Massimo 9f., 31, 49, 57, 68, 79, 83f., 89, 91, 100, 102, 104, 115f., 127f. 133, 143, 146, 155, 158f., 165, 173, 199–201, 203, 205, 208, 233, 260 Cori spezzati 13, 19, 201 Gabrieli, Andrea 14f. Gabrieli Giovanni 14f. Gestalt, -theorie, -wahrnehmung 16, 18, 32–35 Großkopf, Eberhard 18, 259 Dialectics 18 Haller, Hans Peter 11f., 23, 56, 107, 109, 127, 129f., 134, 143, 201, 206, 209–213, 217–219, 221, 223–226, 259, 261 Halaphon s. Nono, Prometeo, live-elektronische Geräte Hesiod 10, 57, 68f., 79, 88 Hölderlin, Friedrich 10, 127, 203, 261 (s.a. Nono, Prometeo, Teile) Hyperion, Schicksalslied 127 Lawo, Peter 23, 225
Mahler, Gustav 10 1. Symphonie 23, 61, 70 Nono, Luigi A floresta é jovem e cheja de vida 22 Das atmende Klarsein 23, 61, 212, 261, 262 Diario polacco 14, 21, 25, 262 Fragmente – Stille, An Diotima 25 Ha venido 20, 262 Il canto sospeso 20f., 262 Io, frammento dal Prometeo 23, 223, 225 La fabbricca illuminata 22, 262 Prometeo, tragedia dell’ascolto Figuren und der Hörtragödie Io 105–126, 142, 190 Efesto / Hephaistos 49, 100– 104, 115, 126, 236–240 Prometeo / Prometheus 9, 49, 69, 79, 86, 88f., 91, 100– 104, 105–126, 156–158, 165, 167–169, 171–173, 185, 190, 192, 195f., 199f., 235–240, 240–243, 248–253 Prometeo-Odysseus 9, 79, 116, 173, 185, 203 Zeus 50, 69, 78f., 88, 100f. 115, 165, 169, 172f., 185, 189, 193, 235, 238f., 251– 253 Live-elektronische Geräte 4i-System 35, 91, 103, 211, 217, 220, 225f., 263 Gates 223, 225, 228, 229–231 Halaphon, fast immer den Analysen, einführend: 23f., 29–33, 43f., 224f. Hallgerät, einführend 223 Harmonizer, einführend 223
266 | Der komponierte Raum
Sekundfilter, einführend 222 Transposition, s. Harmonizer Vocoder, einführend 222f. Zeitverzögerer, einführend 223f. Teile Prologo 37, 41–43, 45–50, 55f., 57–90, 91, 95f., 100, 102f., 106, 121, 126, 131, 146, 156f., 159f., 163–165, 170, 178, 185, 187–189, 191–194, 196f., 199, 204, 207, 213–215, 226, 234–237 1° Isola 30, 49, 54, 56, 91– 104, 115, 126, 187f., 190, 192–194, 199, 213–215, 217, 225, 236–241 2° Isola a 44, 50–52, 54f., 105-126, 127, 152, 172, 187f, 190, 192–196, 213f. 240–243 2° Isola b 50, 127–132, 189, 193, 196, 198, 213, 242–245 2° Isola c / Stasimo 1° 133– 142, 187–189, 195f. 244f. Interludio 1° 54, 133, 143– 146, 191, 194, 197f., 213– 215, 246f. 3 voci a 39f., 54, 147–158, 160, 179, 188f., 191f., 194, 196, 214f., 246–249 3°-4°-5° Isola 159–174, 185, 187–189, 191f., 194, 196, 198f., 205, 210, 214, 223, 226–231, 248–253 3 voci b 36, 41, 55, 175–179, 181, 191f., 195f., 198, 214f., 228, 237, 254f. Interludio 2° 38, 55, 180f., 189, 196f., 214f., 228, 254f. Stasimo 2° 55, 182–185, 186, 191f., 196–198, 212, 214f., 224, 228, 256f.
tragende Text-, Klang- und Raumelemente (Auswahl) Arca fast überall, spezifiziert: einführend, Bau 11–13, 208–212, 212, 216f. Besetzung, Graphik 11–13, 27–29, 219–221 Besetzung, Analyseskizze 34, 220 Arcaspalt 27, 58f., 62, 79, 126, 135, 137, 149, 170, 179, 183, 185, 187–192, 196f., 200 Coro lontanissimo 53, 58, 60– 70, 75f., 78f., 88, 90f., 93f. 100f., 164, 185, 188–190, 192, 197, 211 Eco lontano 152f., 157f., 159, 163–165, 170, 172, 191, 194, 228 Engel 83f., 155, 157f., 167, 237, 247, 253 Maestro del Gioco, s. a. Benjamin 57–59, 64–66, 68, 70–72, 76–80, 83, 85, 88– 90, 143, 147, 155, 157, 175, 179, 185, 233 Schwache (messianische) Kraft 83f., 145f., 178f., 191, 237, 246f., 255 Wüste (des Meeres) 155, 158, 167f., 172, 174, 184f., 247, 253, 255, 257 Sará dolce tacere 20f., 262 Y entonces comprendió 22, 262 Phantomschallquelle 15, 17–19, 33, 43, 224f. Piano, Renzo 11f., 207–211, 216– 217, 259, 262 Arca, s. Nono, Prometeo Pindar 127f., 131f., 262
Referenzen | 267
Schaeffer, Pierre 17 Pupitre d’espace 17 Schönberg, Arnold 10, 31, 185, 203 Stereophonie (s.a. Phantomschallquelle) 15, 33, 35, 224 Stockhausen, Karlheinz 15–19, 260 Carré 19 Gruppen 18 Kontakte 17, 263 Rotationstisch 17 Varèse, Edgar 16 Poème Élecronique 16f
Vidolin, Alvise 12, 27, 91, 127– 129, 201, 207, 211, 219f., 225f., 229, 260 Wertheimer, Max 16, 32f., 263 Winter, Paul 13–15, 124, 263 Xenakis, Iannis 16, 19f., 261, 263 Bohor 19 Diamorphoses 20 Persephassa 19
Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)
Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7
Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)
Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6
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