Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper - Probengemeinschaften - theatrale Kreativität [1. Aufl.] 9783839412084

Dass das Theater eine soziale Kunstform ist, die nur zusammen mit anderen praktiziert und realisiert werden kann und bei

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German Pages 252 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Der kollektive Prozess des Theaters: Forschungsfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft
Chor-Körper
Theater als Chor
Chorisches Theater der neunziger Jahre
Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft
Theaterkollektive: Von der ‚Truppe 31‘ zur ‚Marthaler-Familie‘, von der Politisierung der 68er-Bewegung zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern
„Hineinhören in den Text, in die Figur, in den Schauspieler“: Probenarbeit mit Jossi Wieler
Lob des Stadt- und Staatstheaters? Über die Herstellung sozialer und ästhetischer Energie
Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der Praktischen Theaterwissenschaft
Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie
Literaturverzeichnis
Quellenangaben
Namensregister
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Der kollektive Prozess des Theaters: Chorkörper - Probengemeinschaften - theatrale Kreativität [1. Aufl.]
 9783839412084

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Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters

T h e a t e r | Band 13

2009-09-08 13-39-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 031b220310694150|(S.

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Hajo Kurzenberger (Prof. Dr. phil.) lehrte Praktische Theaterwissenschaft an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theater im 20. Jh., Chorisches Theater und Authentizität als Darstellungsform.

2009-09-08 13-39-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 031b220310694150|(S.

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Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität

2009-09-08 13-39-21 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 031b220310694150|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Andreas Hartmann: »Body-Check«, Projektsemester »Kollektiv-Körper«, Universität Hildesheim 2006 Lektorat: Verena Lobert, Hajo Kurzenberger Satz: Verena Lobert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1208-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum - 1208.p 220310694190

Inhalt

Vorwort 7 Der kollektive Prozess des Theaters: Forschungsfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft 9 Chor-Körper 39 Theater als Chor 69 Chorisches Theater der neunziger Jahre 89 Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft 103 Theaterkollektive: Von der ‚Truppe 31‘ zur ‚Marthaler-Familie‘, von der Politisierung der 68er-Bewegung zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern 131 „Hineinhören in den Text, in die Figur, in den Schauspieler“: Probenarbeit mit Jossi Wieler 157 Lob des Stadt- und Staatstheaters? Über die Herstellung sozialer und ästhetischer Energie 171

Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der Praktischen Theaterwissenschaft 181 Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie 203 Literaturverzeichnis 229 Quellenangaben 241 Namensregister 245

Vorwort Das Theater ist eine soziale Kunstform, die nur zusammen mit Anderen praktiziert werden kann. Theatermacher und Theaterzuschauer sind an ihr in unterschiedlichen Funktionen beteiligt. Die Bestimmung des Theaters als ‚kollektiver künstlerischer Prozess‘ verschiebt die gewohnte Wahrnehmung. In den Fokus genommen werden Herstellungs- und Rezeptionsvorgänge vor und während der Aufführung: Die Interaktionen der Probe, der Theaterorganisation, der Gruppen- und Ensemblebildung, deren gemeinsame Kreativität – aber auch Formsemantiken, die diesen Produktionsprozessen in der Aufführung einen besonderen theatralen Ausdruck geben: Der szenische Chor. All diesen kollektiven Theaterphänomenen gilt mein theaterpraktisches und theaterwissenschaftliches Interesse seit Jahren. Dieser Band versammelt daher Untersuchungen, die schon erschienen sind und solche, die neu geschrieben wurden, um das Thema in wichtigen Aspekten zu erweitern. Das Band, das diese Publikation im Innersten zusammenhält, ist eine vielfältige Theaterpraxis, an der der Verfasser an unterschiedlichen Produktionsorten der Freien Theaterszene, des Stadt- und Staatstheaters und jenen der Praktischen Theaterwissenschaft der Universität Hildesheim in verschiedenen Funktionen beteiligt war. Daraus erklärt sich auch der Perspektivwechsel, der verschiedene Theaterpraxen vergleichend zusammenbringt. Sichtbar werden dabei die Gleichzeitigkeit von dramatischen und postdramatischen Theaterformen, die Wechselwirkungen von Theaterpraxis und Theatertheorie oder der sich abzeichnende Paradigmenwechsel der Theaterwissenschaft von der Aufführungsanalyse zur Aufarbeitung unterschiedlicher Probenprozesse. Mein Dank gilt allen, von denen ich im kollektiven Prozess des Theaters lernen konnte, von Schauspielerinnen und Regisseuren, von Bühnenmusikern und Intendanten, von Licht- und Tonmeistern, von Bühnenbildnerinnen und Dramaturgen, nicht zuletzt von Studierenden und Lehrenden der Studiengänge „Szenische

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Der kollektive Prozess des Theaters Künste“ und „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ an der Universität Hildesheim. Besonders danke ich Prof. Dr. Hartwin Gromes für die lange, fruchtbare Zusammenarbeit und die kritischen Anmerkungen zu diesem Buch, Andreas Hartmann dafür, dass er die Hildesheimer Theaterpraxis mit genauem Blick und großer Begeisterung photografisch festgehalten hat, Frau Barthauer, die die meisten Texte getippt hat und Verena Lobert, die diesen Band gründlich und umsichtig für den Druck vorbereitet und gestaltet hat. Hajo Kurzenberger, Hildesheim im Oktober 2009

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Der kollektive Prozess des Theaters: Forschungsfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft T HEATER

ALS

„B IOTOP “

Halten Theatermacher Rückschau, ziehen sie die Summe ihrer Theaterarbeit, wollen sie das Zentrum ihres Tuns und des Theaters erfassen, reden sie meist nicht über einzelne Aufführungen, Regisseure oder Schauspieler. Sie versuchen die treibenden Kräfte, den kollektiven Prozess des Theaters zu bestimmen. So hat zum Beispiel der scheidende Intendant Wilfried Schulz im Resümeeband „schauspielhannover 2000 – 2009“ seinen Beitrag unter den Titel „Die Entscheider“ gestellt, in dem er behauptet und belegt, dass es im intendantenverantworteten Staatstheater nicht nur einen Entscheider gibt, sondern sehr, sehr viele, ohne deren unterschiedliche Kompetenzen und Entscheidungsfähigkeiten das „Kunstprodukt“ Aufführung nicht seine besondere Gestalt gewönne. Es gehe nicht darum, wer im Theater die strukturelle Macht innehabe, ebenso wenig, wer bei einer Theaterentscheidung Recht habe. „Es“ müsse „sich fügen, das eine zum anderen kommen“. „Theater ist ein Biotop, in dem jedes eine nachhaltig von jedem anderen abhängt“. Es ist nach Schulz’ Feststellung aber auch ein „kompliziertes Konstrukt, geprägt von vielen Entscheidungen und Entscheidern“. Hier tut sich ein erster, scheinbarer Widerspruch auf: Theater entsteht und Theater wird gemacht. Die Wissenschaft spricht von der Emergenz und der Intentionalität, die den Theaterprozess gemeinsam hervorbringen. Dass dieser aus dem Zusammenspiel vieler Kräfte und vieler Willen entsteht, ist allerdings nicht das vor allem Ausschlaggebende: „Die Qualität des Kunstprodukts, sprich des Theaterabends, bestimmt sich aus der Kreativität und der

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Der kollektive Prozess des Theaters Identifikation vieler“1. Entscheidend ist die gelungene Einlassung, die gemeinsame kreative Beteiligung an der sozialen Kunstform Theater. Der kollektive Prozess des Theaters ist kein Wert an sich. Es geht um sein Gelingen in sozialer und ästhetischer Hinsicht. Ein anderer Intendant, der ebenfalls zurückschauen kann, nämlich auf zehn erfolgreiche Jahre Burgtheater, Klaus Bachler, gebraucht für den Theaterprozess dieselbe Metapher wie sein hannoveranischer Kollege, nämlich die vom Biotop. Aber wo der eine eher zur Verklärung neigt, verfällt der andere in tiefe Depression: „Nirgends wird im Namen der Kunst soviel Machtmissbrauch betrieben wie am deutschsprachigen Theater.“ Darunter habe er „in diesen zehn Jahren sehr gelitten“, „denn das kann man als Theaterleiter nur teilweise kompensieren, weil man im Prozess ja nicht drinnen ist“. Theater, so Bachler, ist nur ein potentieller Freiraum der Kunst, in Wahrheit aber kein machtfreier Raum. Und der Kapitän des größten Flaggschiffes des deutschsprachigen Theaters sieht sich am Theaterprozess nur teilweise beteiligt. Er unterscheidet offenbar zwischen seinen Organisations-, Leitungs- und Konzeptionsanteilen und dem eigentlichen künstlerischen Prozess, den Proben für eine Aufführung. Dieser Phase des Theatermachens stellt er ein vernichtendes Zeugnis aus: „Es [das Theater, Anm. d. V.] ist im Sozialen gescheitert, weil es ein Biotop sein könnte und müsste, wo der gesellschaftliche Entwurf, der nicht lebbar ist, möglich sein müsste.“ Der „bessere Staat“ „im Staat“, also das Theater, bleibe Utopie.2 Man ist bei diesen Worten erinnert an die großen Ziele Wilhelm Meisters, der bei seiner theatralischen Sendung eine ideale Republik des Theaters, insbesondere für den Probenprozess entwirft, aber immer wieder auf dem Boden der schlechten Theaterverhältnisse landet. Zugleich stößt man hier auf ein strukturelles Moment der Theaterpsyche: Zwischen euphorischer Erwartung und Scheitern gibt es im Theater meist kein Drittes. Die Krise wie die Utopie, so ist festzuhalten, sind konstitutive, bewegende Teile des Theaterprozesses. Diese Doppelheit haben zwei ebenfalls erfolgreiche Intendanten, die ehemaligen Leiter des Zürcher Neumarkttheaters, Volker Hesse und Stephan Müller, im Auge, wenn sie ihre Bilanz ziehen

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Wilfried Schulz: „Die Entscheider“, in: Niedersächsisches Staatstheater Hannover GmbH, schauspielhannover (Hg.), schauspielhannover 20002009, Hannover 2009, S. 308f. Klaus Bachler: „Voilà c’est fini!“, in: Direktion Burgtheater (Hg.), nachspiel, Das Magazin des Wiener Burgtheaters Mai/Juni, 50 (2009), S. 3.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft über einen besonderen Theaterort und eine besondere Theaterarbeit, die nicht nur strukturell ein Gegenmodell darstellen zu den großen Staatstheatern. Das Theater Neumarkt stand und steht für theatrale Innovation und organisatorische Verschlankung, ist Gruppen- und Beteiligungstheater, das Intendantenduo im Ensemble nur primus inter pares. Hesse und Müller halten fest, das Ensemble sei „ein seltenes Wesen“. „Seiner Seltenheit oder Ausrottbarkeit entsprechend“ gäbe es „ein starkes Verlangen, es zu erhalten“. Hier wird nicht nur erneut der ökologische Kontext bemüht, sondern auch die Gefährdung thematisiert, dem ein Ensemble und der theatrale Prozess durchgehend ausgesetzt sind. Denn der gute Grund für seinen Artenschutz, so Hesse und Müller, sei: „Das Ensemble hebt im guten Fall, und an diesen denken wir, die Falle der Vereinzelung auf.“ Das ist die Voraussetzung für das Eigentliche: „Ein Ensemble schafft gegebenenfalls eine kreative Dynamik, eine Verschworenheit, eine Gründlichkeit des Befragens und der Selbstkritik, die jeden mitreißt oder manchmal umhaut“.3 Hervorgehoben wird die Janusköpfigkeit des kollektiven Theaterprozesses, sein energetisches Potential, das ebenso alle erfassen kann wie es Einzelne aus der Bahn wirft. „Die Falle der Vereinzelung“ meint offenbar ein Solistenverhalten und Konkurrenzdenken, das den theatralen Prozess nicht nur an Stadt- und Staatstheatern oft lähmt. Mit ihnen kommt im Theater jene Egomanie zum Zuge, die Schauspieler und Regisseure einerseits als theatrale Trieb- und Selbstdarstellungsenergie benötigen, die auf der anderen Seite aber auch die Produktivität des Prozesses zum Erliegen bringen kann. Hesse und Müller visieren deshalb, verhalten und enthusiastisch zugleich, eine „kreative Dynamik“ an, die vor allem in der Projektarbeit dieser Truppe zu außerordentlichen Ergebnissen geführt hat, etwa bei ihrem Welterfolg TOP DOGS, der unter Urs Widmers schriftstellerischer Mithilfe in kollektiver Probenarbeit und Kreativität entstand. Die emphatische Seite des Theaterprozesses, so die implizite Forderung und Erfahrung der beiden Spielleiter, muss mit der nüchternen zusammengehen. Emotionale Bindung und Gemeinsamkeit, „Verschworenheit“, korrespondieren mit analytischer Gründlichkeit und notwendiger Selbstkritik. Und selbst wenn diese glückliche Konstellation eintritt, die den produktiven, den kreativen Theaterprozess in Gang bringt und vorantreibt, gibt es zwei

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Volker Hesse/Stephan Müller: „Ensemble“, in: Das Beste kommt noch, Theater Neumarkt Zürich 1993-1999. Eine Hinterlassenschaft, Zürich 1999.

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Der kollektive Prozess des Theaters unterschiedliche Möglichkeiten seiner Wirkung: Der Prozess kann mitreißen oder Einzelne umhauen. Beides scheint notwendig für sein Gelingen. Und beides ist von den an ihm Beteiligten zu verkraften und kann ihnen offenbar auch neue Kraft geben. Der kollektive kreative Prozess des Theaters ist freilich nicht nur ein „seltenes“, sondern auch ein scheues Wesen. Er ist gefährdet und gefährlich. Von den Ensemblemitgliedern wird er meist dringlich herbeigewünscht und oft leichtfertig unterminiert. Zieht man Bilanz als Mitbegründer einer Praktischen Theaterwissenschaft, die Praxis und Theorie, Theatermachen und Theatererforschen zusammenführt als korrespondierend und sich aneinander reibend, verschieben sich zwar die Perspektiven, Ziele und Erkenntnisinteressen, aber im Zentrum bleibt als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft und als Methode des Theaterlernens der kollektive Prozess des Theaters. Ja, ihm gilt im theatralen Experimentierraum einer Universität gesteigerte Aufmerksamkeit, und zwar aus unterschiedlichen Gründen. Wo es nicht um die Ausbildung zum Schauspieler oder Regisseur geht und dennoch ambitioniert Theater gemacht wird, sind alle Theaterstudierenden formal gleich zu behandeln, um ihre jeweilige Besonderheit und Kompetenz in einem gemeinsamen Theaterprozess zu entdecken und wirksam machen zu können. Zum anderen ist das Experimentierfeld Theater innerhalb einer Universität vor allem dann fruchtbar, wenn man das Theater dort neu einzurichten versucht. Die universitären Voraussetzungen dafür sind günstig, weil theaterwidrig. Theaterarbeit und theatrale Prozesse vertragen sich nur schlecht mit den organisatorischen Abläufen innerhalb einer Universität. Die grundsätzliche Infragestellung künstlerischen Tuns an diesem Ort kommt hinzu. Wer forschende Theaterpraxis betreiben will, muss sich also etwas einfallen lassen. Er sucht Probenkonstellationen und Darstellungsaufgaben, die anderenorts, etwa im professionellen Theaterbetrieb, wenig sinnvoll und kaum durchführbar wären: Die Aufgabe zum Beispiel Theatertheorie szenisch zu verkörpern oder einen ‚ganzen Shakespeare‘, den SOMMERNACHTSTRAUM, in vier Produktionsgruppen mit je fünfzehn TeilnehmerInnen zu zerlegen, die sich während des Probenprozesses zu einer Aufführung zusammenfinden, welche das Stück ungewöhnlich proportioniert und akzentuiert, etwa durch Puck als einer zehnköpfigen Rock-Band. Oder ein Hildesheimer Ansatz schon zu Zeiten, als es das postdramatische chorische Theater noch nicht gab: Die Entdeckung und Anwendung unterschiedlicher chorischer Verfahren auf verschiedene

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Sujets, Stoffe und Figuren, um die Frage szenisch zu überprüfen, welche originären theatralen Verkörperungen es jenseits des psychologischen Figuren- und Einfühlungstheaters geben kann, und um dabei zugleich den szenischen Prozess als den einer Gruppe zu reflektieren, die im jeweiligen Chor ihre spezifische Formsemantik sucht. Nicht zuletzt sind es die medialen Entwicklungen, die den Theaterprozess hier neu beleben und bestimmen, etwa durch die Vorgabe und Setzung, dass alle technischen Medien theatertauglich, dass alle beteiligten Künste und Medien beim Theatermachen gleich zu behandeln und gleich zu gewichten sind. Oder aber eine Einzige wird zur Leit- und Primärkunst erhoben, die sonst nur die Begleitmusik spielt. Alle diese hier exemplarisch angeführten Darstellungsaufgaben stimulieren den kollektiven kreativen Prozess des Theaters, weil es für sie keine fertigen Lösungen und kaum Vorbilder gibt. Auch deshalb, weil sie unter der Prämisse stattfinden, dass Regie im herkömmlichen Sinne nicht tauglich wäre, alle Beteiligten in einen intensiven Prozess des Tuns und Beobachtens, des Theaterhandelns und des Theaterzuschauens zu verwickeln. Dieses grundlegende Wechselspiel, das den Theaterprozess strukturell bestimmt, trägt zudem entscheidend zur Selbsttätigkeit einer Gruppe bei. Deren Mitglieder sind von Studienbeginn an gefordert, die Probenbeschreibung und Probenauswertung so wichtig zu nehmen wie das Probenergebnis, das vor allem in den Übungen und Probierphasen der Projekte immer nur als vorläufiges betrachtet wird. Dazu verhelfen auch Aufgabenstellungen, die eine Szene in drei oder vier unterschiedlichen Lösungsvorschlägen variieren. Diese Probenvarianten erschließen den Beteiligten als Spieler und Zuschauer den theatralen Prozess als Möglichkeitsraum, in dem jede Szene auch einen ganz anderen Verlauf nehmen kann, in dem das Fragmentarische und das Präsentische des Theaters einen besonders hervorgehobenen Stellenwert haben. Vergleicht man das theatrale Tun an einer Universität mit dem des professionellen Theaters, schärfen sich die Analogien und Differenzen: Konstruktive Vorgaben strukturieren alle künstlerischen Theaterprozesse, selbst jene, die den Zufall zum kreativen Prinzip erheben. Diejenigen der Organisation unterscheiden sich freilich erheblich. Das professionelle deutschsprachige Theater hat in seiner historischen Entwicklung und Ausprägung als Stadt- und Staatstheater eine Fülle von Abläufen innerhalb einer hoch arbeitsteiligen Institution festgelegt, nicht selten bürokratisch zementiert, von den unterschiedlichen Zuständigkeiten für

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Der kollektive Prozess des Theaters ein Requisit bis zum prozess- und kunstwidrigen Schichtwechsel der Techniker. Ein Theater im theatralen Niemandsland einer Universität oder im finanziellen der Freien Theaterszene muss nicht nur künstlerisch, sondern auch organisatorisch jeweils neu etabliert werden, hat meist allein die festen Voraussetzungen von Probenräumen und technischem Gerät. Außerdem differiert es aufgrund seiner Zielsetzungen in seinen Proben- und Aufführungsformaten, die die szenischen Ergebnisse präformieren: Von der Übung über das Projekt zum theatralen Forschungslabor, von der chorischen Erzählung über die mediale Installation zur sitespecific-performance. Aber Theater, gleich an welchem Ort oder in welcher ästhetischen Ausformung, egal wie viele daran beteiligt und wie die besonderen Probenbedingungen sind, Theater entsteht nie nur aus voluntaristischen Akten Einzelner, wenngleich diese notwendig, aktivierend und nicht selten auch inspirierend für alle Beteiligten sind. Darstellungsrahmen und Darstellungsaufgaben werden meist von mehreren gesetzt und gestellt, um mit ihnen die Entwicklung des Unvorhersehbaren in Gang zu bringen. Gelungene theatrale Organisation als Teil der künstlerischen Strukturierung (etwa die Rollenbesetzung oder die Festlegung des medialen Sets) spekuliert auch immer auf das Unerwartete, das eintritt und sich ergibt. Sie kalkuliert mit dem Überraschenden und stimuliert im günstigen Fall die Geistesgegenwart aller, macht deren Arbeitsund Probenprozesse widersprüchlich lebendig: zielgerichtet und offen zugleich. Die personelle Verfasstheit dieses Prozesses, seine interaktive Anordnung und Konstellation können dabei ganz unterschiedlich sein. In traditionellen Stadt- und Staatstheatern ist sie meist hierarchisch. Der Regisseur als notwendiges Außen- und Zuschauerauge hat dort seine besondere Position im Probenprozess zu einer privilegierten ausgebaut – Stichwort Regietheater. In Gruppen mit flachen, sich im Probenverlauf erst ergebenden Hierarchien, wo die Selbsttätigkeit der Gruppe ausdrücklich, ja programmatisch gewollt ist, vertraut man den Kompetenzen und der Erfahrungsneugier aller beteiligten Partner. Organisatorische Direktiven und ästhetische Wirkungsstrategien werden dem ersten Modell zugeschrieben, dem zweiten eher die kreative Suchbewegung, die sich aus vielen persönlichen Quellen speist. Egal welches Modell präferiert wird – und es gibt unzählige Varianten und Mischungsverhältnisse innerhalb dieser Schematisierung – immer gilt: alles und alle sind miteinander verknüpft, Theater wird gesetzt und Theater entsteht. Es ist ebenso konstruktiver

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Akt Einzelner wie, meist gleichzeitig, sich ergebender Vollzug Vieler. Beide Handlungsformen umschließt der theatrale Prozess, aus beiden gewinnt er seine Bewegung: dass eines das andere anstößt, dass divergente Einzelinteressen einander reiben und stärken, zusammenfließen oder sich wechselseitig schwächen, blockieren oder transformieren bis sich eine ästhetische Konsensbildung ein- und herstellt, die Einzelnen, Vielen, allen akzeptabel scheint, mit der man sich identifizieren kann oder mit der man sich abfinden muss. In dieser Bedeutung einer lebendig widersprüchlichen Prozesseinheit, hier der Probenphase, macht das Bild vom Biotop Sinn. Diesen Prozess transparent zu halten und zu reflektieren, während er entsteht und Wirkungen entfaltet, ist im universitären Terrain eine wichtige Zielsetzung, im professionellen Theater nur selten schädlich. Die Probenarbeit diskursfähig zu machen, heißt zuallererst, das theatrale Tun, also die Herstellung eines Raumes, das Arrangieren einer Szene, die performativen Akte des Darstellens zu beobachten und zu beschreiben. Der permanente Wechsel von Spielen und Wahrnehmen, von Theatermachen und Theaterverbalisieren ist aber weit mehr als eine Lektion des Theaterlernens oder eine akademische Pflichtübung. Er ist strukturelle Voraussetzung und Garant, dass sich der theatrale Prozess, gleich an welchem Ort, bewegt, dass er sich verändert und dynamisiert. Nicht zufällig sehen Hesse und Müller die kreative Dynamik ebenso mit der „Gründlichkeit des Befragens und der Selbstkritik“ verknüpft wie mit der „Verschworenheit“4 der Gruppe, die sich ‚ihrer‘ theatralen Aufgabe hingibt. Wechselwirkungen und damit verbundene Dynamisierungen ergeben sich aber auch aus größeren Prozesseinheiten. Das Theaterbiotop der universitären Theaterpraxis, das in den Projekten des Projektsemesters für drei Monate entsteht, verlängert und verändert sich zum Beispiel in andere, benachbarte Theaterbereiche und -aufgabenstellungen: In die curricular vorgegebene Abschlussinszenierung Einzelner, die das erprobte Theatermachen in der Gruppe weiterführt oder verändert, ja möglicherweise konterkarrieren kann – etwa in einer Solo-Performance. Oder: Bei einer Produktion innerhalb der Freien Theaterszene vor Ort bewährt sich die Abwesenheit eines Regisseurs, vielleicht wird er aber auch bewusst installiert. Oder: Die gemeinsame Formensprache und das gemeinsam gewachsene Theaterverständnis stoßen auf andere Vorstellungen und auf Widerstand bei einer inter-

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V. Hesse/St. Müller: „Ensemble“, in: Das Beste kommt noch, 1999.

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Der kollektive Prozess des Theaters nationalen Ko-Produktion, die das von Studierenden konzeptionierte und geleitete Theaterfestival „transeuropa“ als Kernstück ihrer Festivalidee angesetzt hat. Alle diese unterschiedlichen miteinander vernetzten Darstellungsaufgaben und Produktionsräume ergeben interaktive Reibungen und Abläufe, die zwar durch einzelne Planungen an verschiedenen Orten in Gang gesetzt werden, aber nur begrenzt als Ganzes steuerbar sind. Sie würden ihre Kraft und den Eigensinn künstlerischer Praxis verlieren, wenn man sie durchrationalisieren wollte. Theaterpraktiker erleben sie als lebendigen Teil des Spiels Theater, dem Theaterwissenschaftler zeigen sie die mediale Verfasstheit und Komplexität des Theaters: den interaktiven kollektiven Prozess. Halten wir als erstes allgemeines Zwischenergebnis fest: Theatermachen ist Einlassung und Wechselwirkung vieler am Theaterprozess Beteiligter. Dieser Prozess ist labil und gefährdet, aber auch belebend und dynamisierend. Er hat unterschiedliche Phasen, die des Theaterprobens ist nur eine davon. In ihr wird Theater als Möglichkeitsraum erfahren und sichtbar, ebenso ist im Probenprozess das Fragmentarische und Präsentische des Theaters in gesteigerter Weise erlebbar. Eng mit dem Probenprozess verknüpft sind Prozesse der Organisation und des Konzeptionierens von Theater. Oft werden hier die Wechselwirkungen und Einflussnahmen ununterscheidbar. Die Anstrengung, den Theaterprozess in allen seinen Phasen transparent und darüber hinaus diskursfähig zu machen, ist nicht nur die Voraussetzung über ihn wissenschaftlich nachzudenken, sondern ist zuallererst eine Notwendigkeit, um ihn in Gang zu halten.

P OSITIONSBESTIMMUNG

EINER

P RAKTISCHEN T HEATERWISSENSCHAFT

Was bisher als wissenswert und wissenschaftswürdig beschrieben wurde, stand lange Zeit auf der Tabuliste der Theaterwissenschaft oder wurde von ihr nicht wahrgenommen. Noch Ende der 80er Jahre hat ein so praxisnaher Theoretiker wie Hans-Thies Lehmann die „Intentionen der hervorbringenden Subjekte“ als unbrauchbare Kategorie der Aufführungsanalyse gebrandmarkt,5 andere haben befürchtet, die „auktorial geplante Darstellung“ schlage auf das Verständnis der Gegenstände durch und lege die

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Hans-Thies Lehmann: „Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse“, in: Zeitschrift für Semiotik, Bd. 11/1 (1989), S. 46.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Rangfolge der Bedeutungsproduktion fest.6 Seit das Theaterereignis und die Performativität in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind, das Prozesshafte und die Präsenz des Theaters gewürdigt wird, hat sich die Wahrnehmung und die wissenschaftliche Blickrichtung verändert: Aufführungen erscheinen der Theaterwissenschaft jetzt als angehaltene Probenprozesse, als eher zufällige Probenzwischenstände und nicht als szenisches Endprodukt, auf das Theaterpraktiker selbstverständlich hinarbeiten. Dieses steht theaterwissenschaftlich immer noch im Verdacht, einen für das Theater nicht angemessenen Werkbegriff zu bedienen. Vor allem die Regie ist dabei die Zielscheibe der Kritik und mit ihr eine Produktionsästhetik, die den Zuschauer durch Wirkungsstrategien und Bedeutungsfixierungen angeblich in den Griff nehmen will. Das „Kunstprodukt“ Aufführung, von dem Wilfried Schulz spricht, hat aber immer zwei Seiten der theatralen Produktivität: das „komplizierte Konstrukt“, das sich im kollektiven Theaterprozess herstellt und hergestellt wird und das, was am „Theaterabend“, also im Vollzug des Aufführungsereignisses geschieht. Hier sind Darsteller und Zuschauer die interaktiven Partner, und hier entfaltet sich ein neuer, von zum Teil anderen Parametern bestimmter kollektiver Theaterprozess als jener der Probenphase. Die Theaterwissenschaft hat dessen produktive Anteile in den letzten Jahren sehr ungleich gewichtet: Als Produzent der Aufführung wurde vor allem der Zuschauer entdeckt und gefeiert. Seine Wahrnehmungs-, Projektions- und Syntheseleistungen während der Aufführung sind gewiss nicht zu unterschätzen, auch nicht, dass bei allen Wiederholungen, die die Inszenierung festlegt, das Aufführungsereignis einmalig und nicht wiederholbar ist. Über der Hervorhebung von Performativität und Ereignishaftigkeit wurde aber leicht vergessen, wer das Spiel beginnt, dass es in der Regel geprobt und in der Darsteller-Zuschauer-Relation nur selten symmetrisch ist. Der Vorlauf des Probenprozesses bleibt in der Aufführung gegenwärtig, ja trägt entscheidend zur gelungenen Vergegenwärtigung zwischen Darstellern und Zuschauern im Aufführungsprozess bei. Formgebung ist nicht nur Disziplinierung, sondern, je nach Theaterästhetik und nach dem Grad der Offenheit und Kontingenz einer Inszenierung, Selektion, Hervorhebung, Intensivierung, sowohl der Materialität und Körperlichkeit als auch der mit ihr verbundenen Bedeutungskonstitution.

6

Jan Berg: Zur Geschichte und Theorie des spektatorischen Ereignisses, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1985, S. 30 f.

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Der kollektive Prozess des Theaters Die methodische Konsequenz einer Praktischen Theaterwissenschaft und einer forschenden Theaterpraxis ist es, den beschreibenden und analysierenden Beobachter auf beiden Seiten zu platzieren, auf jener der Produktion und auf jener der Rezeption. Er ist in wechselnden Funktionen Akteur und Betrachter. Dies könnte man freilich in anderem Sinne auch für den produktiven Zuschauer sagen. Hier aber ist es wörtlich gemeint: Als theatral Handelnder ist er in Organisations-, Konzeptions- und Probenprozesse verwickelt, als wacher, durch eigene Praxis sensibilisierter Zuschauer in den Aufführungsprozess. Das heißt, er nimmt an zwei unterschiedlichen Prozessphasen des kollektiven Theaterprozesses teil: am Prozess der Proben und am Prozess der Aufführung. Und er vollzieht damit zugleich den Wechsel von Handeln und Zuschauen, der vor allem den Probenprozess strukturiert und prägt, auch wissenschaftlich nach. Denn für die wissenschaftliche Tätigkeit ergeben sich hieraus zwei Formen teilnehmender Beobachtung. Sie sind nicht nur durch einen Wechsel der Perspektiven bestimmt, sondern auch durch unterschiedliche Artikulationsweisen: durch Diskurse der Theaterpraxis, die analytische Anteile haben, und Diskurse der Theatertheorie, die sich aus der Theaterpraxis herleiten und auf diese Einfluss nehmen.7 Was aber vor allem entscheidend ist: Praktische Theaterwissenschaft fokussiert Theater anders, weil die Erfahrung von Theater eine andere ist. Der kollektive Prozess des Theaters rückt mit seinen Organisations-, Proben- und Aufführungsphasen in den Mittelpunkt auch des wissenschaftlichen Interesses.

D ER

T HEATERPROZESS IM D ISKURS P RAKTISCHEN T HEATERWISSENSCHAFT

KOLLEKTIVE

DER

Chor-Körper Die deutlichste und sichtbarste szenische Ausformung des kollektiven Theaterprozesses ist zweifellos der theatrale Chor, aus dem die soziale Kunstform Theater entstanden ist. Er setzt vom europäischen Theateranfang an den gesellschaftlichen Kern des Theaters in Szene und ins Bild. Und dies in einer Vielheit und Vielfalt, in einer interaktiven Dynamik, die, wie hier gezeigt wird, nur selten gleichförmig ist. Im Theater der Protagonisten hingegen bleibt

7

Der letzte Artikel dieses Bandes „Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie“ (S. 203-227) reflektiert diese Wechselwirkung.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft diese eher verborgen. Sie wird dort nicht als theatrale Kraft der Gemeinsamkeit ausgestellt, sondern gemäß der Formel ‚acting is reacting‘ meist indirekt wirksam. Theater aber ist, das hat Einar Schleef am radikalsten behauptet und auf der Bühne verwirklicht, Chor: Als interaktiver Prozess in seiner Entstehung, als von Darstellern und Zuschauern gemeinsam geschaffenes Ereignis in der Aufführung, als zugespitzte Formgebung im chorischen Theater selbst. Immer ist mit ihr verbunden die theatral sichtbar gemachte Reflexion über das Verhältnis zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, auf die die Formsemantiken des Chors ganz unterschiedliche Antworten geben. Sie reichen von der Angewiesenheit des Einzelnen auf die Gruppe und von jener der Gemeinschaft auf den Einzelnen bis zur Einordnung, Formung, Anpassung vieler Einzelner, reichen von der Angst und Schutzgemeinschaft bis zur präpotenten Gang, was ein breites Spektrum zwischen ‚demokratischen‘ und ‚faschistischen‘ Chören eröffnet. Die verbindende Kraft des Chors kann seine Schönheit ausmachen oder sein Aggressions- und Zerstörungspotential entfalten. Der Chor kann die einzelnen Chormitglieder vergrößern oder verkleinern, in ihrer jeweiligen Besonderheit innerhalb der Gruppe hervorheben oder zum Verschwinden bringen. Die theatrale Form Chor ist nicht nur ein „unvergleichlich geschmeidiges Instrument“, wie Georg Steiner für den antiken Chor feststellt,8 sondern auch ein höchst ambigues, das gesellschaftliche Realitäten und soziale Möglichkeiten nicht zuletzt der postmodernen Gegenwart zu erforschen vermag. Das ist vielleicht mit ein Grund dafür, warum in einer Umbruchphase des Theaters, in welcher sich das Theater der Protagonisten und des Individuums auflöst und anders formiert, dem Chor auf der Bühne wichtige Bedeutung zukommt. Dieser Bedeutung tragen die drei Chor-Aufsätze Rechnung. Ihre unterschiedlichen Perspektivierungen der theatralen Form Chor folgen dem skizzierten Modell einer Praktischen Theaterwissenschaft. Der historische Blick von außen richtet sich zuallererst auf den Diskurs des antiken Chors, welchen die theatrale Praxis der letzten hundert Jahre in großer Vielfalt szenisch verwirklicht hat, und parallel dazu auf die Theoretisierung des Chors, wie sie von Friedrich Schiller und Friedrich Nietzsche bis Roland Barthes und Georg Steiner immer wieder neu artikuliert wurde. Aus dem Blickwinkel der Theaterpraxis und des Theaterprobierens werden

8

Georg Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1990, S. 208.

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Der kollektive Prozess des Theaters die heutigen Schwierigkeiten, ein Chor zu sein, werden die Mühen der nicht nur ästhetischen Konsensbildung erörtert, und zwar am antiken Exempel von Aischylos früher Tragödie DIE HIKETIDEN. Postdramatiche Chorformen der 90er Jahre zeigen dann den Chor als variables Verfahren, das heutige Theatermacher erproben, um unterschiedliche gesellschaftliche Sujets und Texte der Gegenwart formsemantisch wirksam zu machen. So kreuzen sich der wissenschaftliche Blick auf die chorische Aufführungsgeschichte und auf den Theoriediskurs des Chors, auf seine aktuellen Probenprobleme und auf eine gegenwärtige Theater- und Aufführungspraxis. Die Probendarstellung des Chorprojekts DIE HIKETIDEN zeigt darüber hinaus exemplarisch, was forschende Theaterpraxis fokussiert und was sie sichtbar machen kann. Chorarbeit geht über das normale Maß an sozialen und ästhetischen Interaktionen hinaus, das die Kollektivität des Produzierens und Spielens in vielen anderen Theaterformen auch ausmacht. Im Mittelpunkt steht hier in besonderer Weise der konstruktive Akt gemeinsamen Darstellens, eine theatrale Willensbildung, die entsteht und geplant ist, die entschieden wird und die sich ergibt. Sie stellt dem Einzelnen im Probenprozess eine doppelte Darstellungs- und Spielaufgabe: Er muss sich zugunsten eines zu findenden Gemeinsamen zurücknehmen und gleichzeitig in der Gegenbewegung mit allen und für alle präsent sein. Das Heraustreten aus dem Chor und das Zurücktreten in ihn, die Gemeinsamkeit des chorischen Tuns und Sprechens ist im universitären Probenkontext die Nagelprobe auf die Selbsttätigkeit einer Gruppe und zugleich die Reflexion ihres Zustandekommens. Solches Zusammenwirken ist zwar in einer griechischen Tragödie vorstrukturiert durch die Darstellungsaufgabe Chor, dieser hat aber in einer Gesellschaft, die Individualisierung propagiert und Gemeinschaft eher unterminiert, keinen realen Bezugspunkt, basiert auf keiner Lebenswirklichkeit. Zur wichtigen Theatererfahrung auf der Produktionsseite werden deshalb vor allem Übungen, die chorische Praxis vermitteln: Übungen, die die wechselseitige Aufmerksamkeit stimulieren und wachhalten, die rhythmische Gemeinsamkeit herstellen, die die Interaktion der Gruppe stärken, wenn die Einzelne deren Handeln verändert und das Handeln aller die Einzelne. In solcher Probenpraxis werden Tun und Geschehenlassen eins, entsteht eine plurale Form gegenseitiger Ein- und Wechselwirkung. Es ergibt sich die Subjektlosigkeit eines Geschehens, an dem viele Subjekte teilhaben.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Parallel und in gewisser Weise konträr dazu verläuft die eher theoretische ästhetische Willensbildung, die Auseinandersetzung mit dem Stoff, dem Thema, den heutigen Themen, die sich an die dramatische Vorgabe dieses ‚Frauen-Emanzipationsstücks‘ und seine szenische Transformation andocken lassen. Intentionalität und Entstehenlassen, analytischer Zugriff und kollektive Verkörperung wechseln sich ab und durchdringen sich. Sie entwickeln und reflektieren eine gemeinschaftliche Erfahrung, die zur theatralen Form Chor werden kann. Soziales und Ästhetisches sind hier nicht nur eng miteinander verknüpft, sondern sind aufeinander zwingend angewiesen. Probengemeinschaften Dort wo Probengemeinschaften sich als Theaterkollektive formieren, ist eben dieser Sachverhalt, ist das Bewusstsein einer sozialen Ästhetik ausgeprägt. Blickt man auf die Theaterkollektive seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, zeigt sich, dass sie mehr sind und mehr sein wollen als eine Organisationsform. Sie gehen von einer fundamentalen Erfahrung des Theatermachens, seiner strukturellen Grunddisposition aus und versuchen sie zu nutzen und zu stärken in der Selbsttätigkeit und Verantwortung aller Gruppenmitglieder. Immer geht es dabei um einen gesteigerten Grad der Einlassung, um eine umfassende Teilhabe des Einzelnen am gemeinsamen Theaterprozess. Aus einem Gegeneinander der Theaterkonkurrenz soll das Miteinander in der Arbeit werden. Das geht in der Regel über den gemeinsamen Sachbezug, also über die Darstellungsaufgabe, die man sich gestellt hat. Die gemeinsame schöpferische Selbstentfaltung im szenischen Produkt, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts immer wieder auf dem Programm der Theateravantgarde steht, bedarf freilich oft einer besonderen Legitimation und Stärkung. Für diese holt man sich in politisch bewegten Zeiten wie der Weimarer Republik oder der Nachachtundsechziger ideologische und programmatische Anschubhilfen, sucht man gesellschafts- und theaterpolitische Positionsbestimmungen und Begründungen, so etwa bei der ‚Truppe 31‘, bei der Berliner Schaubühne oder dem Schauspiel Frankfurt. Die Verfasstheit des Kollektivs, der Gruppe, des Teams kann aber auch sozialanthropologischen Interessen folgen wie etwa bei Peter Brook oder George Tabori, oder ganz pragmatischer Natur sein wie in vielen Stadt- und Staatstheaterproduktionen, wo der Regisseur mit ‚seinen‘ Schauspielern, mit ‚seinem Team‘ arbeiten will. Die Verfassung der Theaterkollektive oder

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Der kollektive Prozess des Theaters Theaterproduktionsgemeinschaften ist dabei höchst unterschiedlich, sie reicht von der privaten Probenabsprache untereinander bis zum basisdemokratischen Mitbestimmungsmodell eines ganzen Theaters. An Probengemeinschaften lässt sich vielerlei beobachten, was den kollektiven Theaterprozess ausmacht, etwa den fließenden Übergang von Theaterorganisation in Theaterästhetik, von Probenanordnung in theatralen Ausdruck. Sichtbar wird aber auch, wie sozialpsychologische Parameter die Theaterarbeit prägen, wie sich Hierarchien in einer Gruppe bilden oder zuvor festgelegte den Arbeitsprozess beleben oder blockieren können. Das Schauspiel Frankfurt, das in den 70ern getragen war von dem Anspruch, „wie kollektive Arbeitsmethoden in die Proben eingebracht werden“, scheiterte unter anderem an der Regie-Fixiertheit der Schauspieler, die, wie Peter Palitzsch, die wichtigste Führungsfigur, kritisch anmerkte, den „produktiven Kreislauf“ beim Probenprozess verhinderte.9 Hier gilt die generelle sozialwissenschaftliche Erkenntnis, dass Interaktionen „als wechselseitige Einwirkungen oder als wechselseitige Abhängigkeit“ betrachtet und wirksam werden können.10 Im kritisierten Fall zeigte sich offenbar eine einseitige Abhängigkeit. Gerade das Mitbestimmungsmodell Frankfurt macht deutlich, wie sehr Gruppenprozesse abhängig sind von ihrer Struktur, vom Status und der Funktion ihrer Mitglieder, vor allem aber von ihrer Größe, also der Anzahl der Beteiligten. Ein basisdemokratisiertes großes Stadttheater, das eher von ideologischen Gruppenzielen als von künstlerischen Zielsetzungen zusammengehalten wurde, konnte weder die individuellen Interessen Einzelner noch die emotionalen Bedürfnisse Vieler wirklich binden und zusammenbringen. Der kollektive Prozess, so ergibt sich aus der zeitlichen Distanz im Rückblick, war falsch organisiert. Das programmatisch verkündete Theaterkollektiv zerfiel in rivalisierende Gruppierungen. Wie man eine Gruppenidentität findet, die aus der Gruppe herauswächst und nicht von außen an sie herangetragen wird, hat zum Beispiel George Taboris „Theaterlabor“ in Bremen oder der „Kreis“ in Wien gezeigt. Die Zahl der Mitglieder, die Gruppenziele, die Regeln und die Themen, die sich die Gruppe gab, ‚stimmten‘.

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Peter Palitzsch, in: „Wie kollektive Arbeitsmethoden in die Proben einge-

bracht werden“, in: Jahressonderheft Theater heute 1974, S. 58. 10 Ernst D. Lantermann: Interaktionen. Person, Situation und Handlung, München 1980, S. 100.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Das Kollektiv war überschaubar, die einzelnen Mitglieder miteinander im direkten persönlichen Bezug, der Leiter der Gruppe kein Regie-Gigant, sondern eher ein theater- und weltweiser Guru, der in Abwandlung der Kantschen Maxime, jeden Einzelnen in der Gruppe so frei machen wollte, dass er und die anderen Recht haben. Doktrinäre oder gar bürokratische Verhaltensweisen, wie sie Delegations- und Mitbestimmungsmodelle leicht mit sich bringen, waren hier von vornherein ausgeschlossen. Freilich ist auch bei Theatergruppierungen wie jene George Taboris oder Jossi Wielers, die Freiräume und Nischen im durchstrukturierten Theaterbetrieb suchten und nutzen, nicht zu übersehen, dass diese Theaterkollektive zentrale Leitfiguren haben, selbst wenn diese, wie im Falle Tabori oder Wieler, sich als bestimmende Instanz soweit zurücknehmen, dass die Gruppe zuweilen meint, es ginge auch ohne sie. Die meisten Theaterkollektive sind angewiesen auf die Dialektik von Chorführer und Chor, brauchen, auch wenn sie sich als „Kreis“ verstehen und etikettieren, eine Zentralachse, die Orientierung gibt. An Theaterkollektiven lassen sich die Interaktionskategorien der Sozialwissenschaften nicht nur verifizieren, sondern exemplarisch studieren: unterschiedliche Phasen der Gruppenbildung, die Entwicklung von gemeinsamen Gruppennormen, die sogenannte Aufgabenorientierung und ihre Verwirklichung. Theaterkollektive sind, so zeigt der Vergleich zwischen der Schaubühne und dem Schauspiel Frankfurt, zwischen Taboris „Theaterlabor“, dem Wiener „Kreis“ oder den Marthaler- oder Wieler-Familien stark beeinflusst von ihrer institutionellen und strukturellen Basis. Kann das Theaterkollektiv gänzlich neu eingerichtet und eigen definiert werden wie an der Schaubühne Berlin? Oder ist es stadttheatermäßig vorstrukturiert wie am Schauspiel Frankfurt? Kann es sich von institutionellen Traditionen und Fixierungen gänzlich fernhalten und ein exterritoriales Experimentiergelände beziehen wie das „Theaterlabor“ am Staatstheater Bremen? Oder schafft sich die Gruppe eine halb private Nische wie die singende und pokulierende Marthaler- oder die gesprächssüchtige Wieler-Familie innerhalb eines der großen Häuser? Wichtig ist, neben der Zahl der Mitglieder, nicht zuletzt die Exklusivität der Gruppe und die exklusive Bindung an einen Ort und eine Person. Beides beeinflusst stark das ‚Wir-Gefühl‘, schafft ein Gruppenbewusstsein, das freilich meist labil bleibt und bleiben muss, weil sowohl die Dauer der Gruppe als auch die Zugehörigkeit zu ihr immer wieder in Frage stehen (müssen). Ebenso

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Der kollektive Prozess des Theaters die Gruppenziele, die zwischen der theatralen Effektivität eines Stadttheaterbetriebs und den emotionalen und intellektuellen Bedürfnissen der Gruppenmitglieder eingezwängt sein können, ja von solchen Widersprüchen zuweilen stranguliert werden wie seinerzeit im Schauspiel Frankfurt. Deutlich sichtbar wird an den sogenannten ‚leaders effektive‘, an Stein, Mnouchkine, Tabori, Wieler oder Marthaler, dass die Funktionstüchtigkeit des Theaterkollektivs wesentlich beeinflusst wird vom Führungsverhalten und vom Führungsstil der jeweiligen Chorführerinnen. Und selbstverständlich ist in allen Theaterkollektiven, mögen sie sich noch so egalitär gründen und verstehen, der Aspekt der sozialen Macht wirksam. Denn keine soziale Beziehung realisiert sich in einem machtfreien Raum. Soziale Macht ist aber auch im sozialen Modell Theater immer eine zweiseitige, interagierende Beziehung. Im „menschlichen Theater“ von Taboris „Kreis“11 oder Wielers Gesprächsrunde ist es eher die „Identifikationsmacht“, die Tabori und Wieler stärken und die Gruppe zugleich. Bei Stein liegt das Hauptgewicht eher auf der „Expertenmacht“, die er verkörpert und die von den Gründungsmitgliedern anerkannt und geschätzt wird, unter anderem weil diese durch sie künstlerisch weiter und zum Erfolg kommen. Beide Machttypen können sich, hat die Gruppe eine lange Lebenszeit, zur „Statusmacht“ verbinden und stärken.12 Bei Ariane Mnouchkine und ihrer Truppe, dem Théâtre du Soleil, das sich von Anfang an bis heute mit dem Begriff der „creation collective“ verbindet und schmückt, scheint dies der Fall zu sein. Wie sonst könnte dieses Kollektiv seine mehrfache Runderneuerung überleben und nach wie vor theatral in kollektivszenischer Weise auf der Bühne lebendig sein? Status- und Expertenmacht sind und bleiben aber auch im Spiel, wo es sich um kollektive Produktionen des Theaterlernens und des Theaterexperimentierens handelt wie an den Universitäten, die forschende Theaterpraxis betreiben. Freilich, je nach Organisationsform und Lehrintention kann der universitäre Raum ein besonderer Freiraum sein: Hier herrscht zum Beispiel kein Abliefer- und Premierentermindruck, jedenfalls nicht, wenn es sich um sogenannte Werkstattergebnisse handelt, hier entscheiden sich keine Theaterkarrieren. Hier wird zum Beispiel in der Hildesheimer Praktischen Theaterwissenschaft eine Methode des

11 George Tabori: „Für ein menschliches Theater“, in: Wend Kässens (Hg.), Der Spielmacher. Gespräche mit George Tabori, Berlin 2004, S. 28ff. 12 Helmut Crott: Soziale Interaktion und Gruppenprozesse, Stuttgart 1979, S.172ff.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Theatermachens verfolgt, die von Anfang an auf die Selbsttätigkeit von kleinen und größeren Gruppen setzt. Und hier begegnen sich die gemeinsam Forschenden, Spielleiter und Spieler, Lehrende und Lernende, auf fast gleicher Augenhöhe und in wechselnden Rollen, geht man davon aus, dass es beim Theatermachen und seinem kreativen Prozess kein richtig oder falsch gibt, allenfalls ein besser oder schlechter im Blick auf eine szenische Lösung, die aber jeweils empirisch und intersubjektiv überprüft werden kann und im Hinblick auf das sich immer wieder verändernde Darstellungsziel argumentativ zu begründen ist. Die Unterschiede, die in jeder Gruppe, die Theater produziert, wirksam werden und die Macht jenseits der strukturellen akkumulieren können, sind die Theatererfahrung und die Fähigkeit Einzelner, szenische Vorschläge zu machen oder zu realisieren, die ungewöhnlich, überraschend, innovativ sind, wobei alle Einzelleistungen wieder dem gemeinsamen Theaterprozess zugute kommen, in den sie integriert werden müssen. Theatrale Kreativität Letztlich geht es in allen Phasen und Formen des kollektiven Prozesses Theater, von der Organisation bis zur Aufführung, von den Proben bis zur Bewertung durch Zuschauer und Theaterkritik, um das kreative Potential, das aktiviert wird. Wie personelle und organisatorische Probleme angepackt und gelöst, szenische Entscheidungen vorbereitet und getroffen werden, Darstellungsleistungen hergestellt und beurteilt werden, misst sich am theatralen Ergebnis, das – so der implizite Konsens – nicht traditionell, konventionell oder standardisiert sein darf. Theater der Gegenwart hat, wie alle Künste, ‚innovativ‘ zu sein, hat mittels einer ungewöhnlichen theatralen Wirklichkeitskonstitution Realität zu erfassen, zu öffnen oder neu zu entwerfen. Es hat Darsteller und Zuschauer zu bereichern um Erfahrungen und Einsichten, die sinnlich sind, komplex in ihrer ästhetischen Organisation und in ihrer intellektuellen Reichweite. Künstlerisch ambitioniertes Gegenwartstheater will zu neuem Sehen und Hören Anlass geben, will Phantasie und Denken in Bewegung bringen. Solche Innovationsansprüche und solcher Kreativitätsdruck sind Probenprozessen immanent und meist verknüpft mit dem Streben nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Profilierung, die den Theater- und den Kunstbetrieb generell antreiben. Innovatives Theater wird explizit eingefordert, wo die Darstellungsaufgabe eigentlich als nicht lösbar gilt. Uraufführungen von Elfriede

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Der kollektive Prozess des Theaters Jelineks Texten zum Beispiel, die sich dem Theater anbieten und gleichzeitig verweigern, gehören zu dieser Kategorie. Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner, Musiker wollen oder müssen sie nachvollziehen und dabei zugleich neu erfinden. Das ist keine schlechte Ausgangsposition für den kreativen Prozess, der sich hier aus dem kollektiven ergeben soll. Jossi Wieler und seine Mannschaften haben sich diesem Wagnis wiederholt gestellt. Die Reflexion dieser Probenarbeit, die hier ausschnitt- und modellhaft zu beschreiben versucht wird, zeigt zuallererst, dass der kollektive Probenprozess als Gesprächsprozess begonnen und immer wieder als solcher wiederaufgenommen wird, zeigt, wie sehr sich dadurch die persönliche Einlassung aller Beteiligten auf Stoff und Thema steigert, zeigt, wie vorsichtig und unsicher sich alle bewegen, wenn es um die szenische Umsetzung geht, die hier eine Neufindung ist. Genauigkeit gegenüber dem Text, Sensibilität im Umgang miteinander, Unsicherheit in Bezug auf die neue theatrale Wirklichkeit, die entstehen soll, sind günstige Bedingungen für die theatrale Kreativität, wenn zugleich Übereinstimmung über die Probenziele und die ästhetischen Ansprüche hergestellt wird oder besteht. Diese sind bei theatererfahrenen, hochprofessionellen und neugierigen Darstellern eines Spitzenensembles über Jahre gewachsen. Sie wurden und werden in unterschiedlichen Proben- und Personenkonstellationen, etwa mit wechselnden Regisseuren, immer wieder verändert und überprüft. So entsteht ein kreativer Raum, der durch Nichtwissen und hohes Können, durch angehäufte Darstellungserfahrungen und momentane Zweifel geprägt ist. Und alle Beteiligten wissen und erleiden, dass nur ein Prozess, der labil, aufmerksam und immer gefährdet ist, sie gemeinsam zum Ziel bringen kann und dass dabei das Scheitern immer als Möglichkeit inbegriffen ist. Die Forderung des Regisseurs Jossi Wieler, auf Festlegungen im Probenprozess weitgehend zu verzichten, wird von den Darstellern deshalb nicht nur akzeptiert. Alle sind sich bewusst, dass dies allein die Voraussetzung und der Weg sein kann, dass Neues in der Darstellung entsteht und sich nicht nur Bekanntes oder schon begrifflich Vereinnahmtes auf der Bühne abspielt. Darstellungs- und Findungsnot sind die eine Seite, der spielerische Umgang damit die andere. Kreative Theaterprobenräume sind deshalb oft durch eine seltsame Mischung aus Ernsthaftigkeit und Unernst charakterisiert, durch das Wissen, dass sich eine ‚szenische Lösung‘ so schnell wieder verwerfen lässt, wie sie vielleicht nie zu finden sein wird. Und alle vertrauen dabei ebenso

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft auf Können und Erfahrung wie auf Zufall und Krise. Denn paradoxer Weise ist theatrale Kreativität auf beides angewiesen: auf eine sichere Könnerschaft, etwa die varianten Darstellungsmöglichkeiten der Schauspieler, und eine kluge Planung, etwa des Bühnenraums oder der Spielsituation, aber ebenso auch auf deren Unzulänglichkeit und Unbrauchbarkeit im Hinblick auf die genannten Darstellungsanforderungen. Blockaden, Schwierigkeiten, Brüche im Probengeschehen sind deshalb für den Probenprozess so notwendig wie sie aufschlussreich und erkenntnisträchtig für seine Reflexion sind. Ein Raumkonzept, das die Adressierung der Botenreden in Jossi Wielers/Elfriede Jelineks RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL) zum Problem machte, brachte dem Probenprozess, wie gezeigt wird, in die Krise und machte ihn produktiv zugleich, denn, wie es der Schauspieler André Jung formuliert, „Theater lebt aus sich selbst“, womit er meint, dass es sich ergibt und gleichsam selbsttätig korrigiert und fortentwickelt. Freilich nur dann, wenn zuvor schon eine soziale und ästhetische Konsensebene gefunden wurde, auf der alle stehen können. Das gilt auch für den Zufall, der im Probengeschehen eine wichtige Rolle hat. Er kann einem und dem ganzen Team eine richtige, wirkungsvolle, stimmige szenische Lösung in die Hand spielen, wenn man geistesgegenwärtig in der Lage ist, ihre produktive Bedeutung für die eigenen Darstellungsziele zu erkennen: Das Essen eines Apfels in einer Probenpause vergrößert sich in der anschließenden Probe zur szenischen Aktion des Essens und Fressens, die der Redeflut von RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL) einen aktionalen Subtext liefert und zugleich Jelineks Text auf der Ebene der theatralen Darstellung brisant neu formuliert. Im gänzlich anderen Probenterrain und bei ganz anderen Darstellungsvoraussetzungen und -zielen wie bei einer experimentellen Theaterarbeit innerhalb der Praktischen Theaterwissenschaft, sind Können und Defizite, Kompetenzen und Unsicherheiten ganz anders verteilt, aber in ihrer dialektischen Spannung ebenso Motor kreativer Proben- und Darstellungsprozesse. Die Wechselverhältnisse Planung und Krise, Zufall und Darstellungsabsicht bleiben zwar strukturell gleich, aber es sind ganz andere Größen im Spiel, die den Prozess antreiben, etwa die Vorgabe, die neuen technischen Medien zentral und primär für die Darstellung zu setzen und dabei die Theater- und Medientheorien als Antriebsaggregat zu nutzen, die den Probenprozess fordernd und provozierend aufmischen.

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Der kollektive Prozess des Theaters HAMLET – NO SIGNAL ist ein signifikantes Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Theaterpraxis und Theatertheorie und für die Verlagerung der Darstellungselemente vom Menschen auf die technischen Maschinen. Für Theorien, Computer und Video sind die studentischen MacherInnen so gut gerüstet wie ihre Schauspielerkollegen an den Münchner Kammerspielen für transfigurative Darstellung. Und wo das Hauptinteresse und der Hauptakzent auf der Bedienung und den spielerischen Möglichkeiten der Technik liegt, ergibt sich so folgerichtig wie zufällig, dass in dieser Videoperformance ein unklarer Figuren- und Darstellerstatus herrscht. Sind die Performer Funktionäre der von ihnen benutzten und ausgestellten Technik, sind sie zurückgenommene Selbstdarsteller oder teilidentisch mit fiktiven Rollenfragmenten aus Shakespeares HAMLET? Die neueste postdramatische Theatertheorie bestärkt sie, diese Fragen offen zu lassen. So pendeln sie verunsichernd souverän zwischen verschiedenen Funktionen und Bedeutungen. Dafür brauchen sie nicht die figurativen Darstellungsqualitäten professioneller Schauspieler und sind dennoch im Stande, neues, innovatives Theater zu machen. Theatrale Kreativität und ihre Voraussetzung, so zeigen diese beiden konträren Beispiele aus ganz unterschiedlichen Theaterregionen, ist entscheidend abhängig von der jeweiligen Darstellungsaufgabe, dem ihr zu Grunde liegenden Theaterverständnis und den aus ihnen abgeleiteten theatralen Verfahren. Theatrale Kreativität entsteht und entfaltet sich aber auch in größeren Zusammenhängen, in miteinander verknüpften Phasen des kollektiven Theaterprozesses. Die Leitung, Organisation, künstlerische Planung und Realisierung eines Staatstheaters, das über Jahre in unzähligen Theaterveranstaltungen unterschiedlichster Formate sein Publikum findet und begeistert, ist eine Prozessleistung besonderer Art. Die Skizze über das „schauspielhannover“ zeigt, wie soziale und ästhetische Energien in Gang gebracht und wirksam werden. Beschrieben werden weit gespannte Interaktionsketten der Theaterorganisation, der Personalentscheidungen und der Konzeptionsarbeit, die kreative Probenprozesse und innovative Aufführungen erst ermöglichen. Auffällig ist, wie hier thematische und ästhetische Ansprüche und Überzeugungen, etwa in den sogenannten Projekten, Personenkonstellationen, die sich reiben und ergänzen, der Bezug zur Besonderheit der Stadt und jener zur nationalen und internationalen Theaterszene kalkuliert in ein Mischungsverhältnis gebracht werden, das die lebendige Wirkung des Theaters einer Stadt ergeben kann. Dieses

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft Netzwerk wird von Personen geknüpft und wird konzeptionell initiiert. Es ist erfolgsorientiert auch im Sinne wachsender Zuschauerzahlen, ohne die eigenen Ziele und die konkrete Utopie aus dem Auge zu lassen, immer wieder erneut eine eigene, alternative Öffentlichkeit herzustellen, die nicht im medialen Mainstream aufgeht. Soziale und ästhetische Energien freizumachen, ist Ziel jeder Theaterarbeit. Es sind die „Austausch- und Aneignungsprozesse“, auf die Stephen Greenblatt zum Beispiel in Shakespeares Werk aufmerksam machte.13 Der Begriff der sozialen und ästhetischen Energie ist deshalb so theatertauglich, weil er einfängt und hervorhebt, dass Theater Begegnung und Bewegung, gegenwärtiger Prozess und die dabei entstehende Kraft ist. Sie trägt das Theatergeschehen, den kollektiven Prozess des Theaters von der Organisation, den Proben- und Darstellungsvorgängen bis zum Theaterereignis der Aufführung, in dem das energetisch höchste Level das Wunschziel ist. So angemessen der Begriff der sozialen und ästhetischen Energie ist, so defizitär ist er auf der anderen Seite. Denn er zählt zu jenen Allgemeinbegriffen, auf die man sich schnell verständigen kann. Positiv gewendet: Er ist ein Hinweisschild, nicht zuletzt für die Theaterwissenschaft, ihn mit Anschauungen und Unterscheidungen zu füllen. Soziale und ästhetische Energie, die den kollektiven Prozess des Theaters tragen und in Bewegung halten, sind ein künftiges, weiter zu entwickelndes und zu konkretisierendes Forschungsfeld.

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Unlängst hat eine Tagung des Instituts für Medien und Theater der Universität Hildesheim das Forschungsfeld Probenprozess neu abgesteckt. „Chaos und Konzept: Poetiken des Probierens im Theater“ war Titel und Programm der von Jens Roselt und Melanie Hinz verantworteten Veranstaltung, die Theaterpraktiker mit Theaterwissenschaftlern ins gemeinsame Gespräch über Probenprozesse brachte: „Das zeitgenössische Theater in all seinen Facetten ist ohne Probe nicht denkbar. Von der Klassikerinszenierung im Stadttheater bis zur Performance

13 Ole Hruschka: „Hildesheim verhandelt mit Shakespeare: Die Freisetzung theatraler Energie im Projektsemester“, in: Ders. (Hg.), Shakespeare revisited. Theatrale Verfahren der Vergegenwärtigung eines Klassikers, Hildesheim/Zürich/New York 2009, S. 129 f.

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Der kollektive Prozess des Theaters im Off-Theater schaffen Proben die Grundbedingungen kreativer Theaterarbeit. Im Zusammenspiel mit Zeitdruck, Raumvorgaben und Erfindungsreichtum werden auf der Probe jene Prozesse in Gang gesetzt, welche die Ästhetik des Gegenwartstheaters erst möglich machen. Dabei ist die Praxis des Probierens an allgemeine gesellschaftliche und kulturelle Vorgänge gebunden und einem stetigen Wandel unterworfen. Mit anderen Worten: Wie im Theater gearbeitet wird, sagt etwas aus über die Gesellschaft, für die und in der Theater gemacht wird. Nicht nur die Inszenierung auf der Bühne, sondern auch die Verfahren und Techniken hinter der Bühne sind kulturelle Erzeugnisse. Probenarbeit avanciert so zum Modell für die Initiierung, Strukturierung und Koordinierung kreativer und kollektiver Prozesse schlechthin.“14

Misst man die erste Diskussionsrunde der Tagung an dieser programmatischen Vorgabe, insbesondere an der gesellschaftlichen Signifikanz der Probenvorgänge, ist nicht ohne Irritation festzustellen, dass das Paradigma der Regie und des Regisseurs nichts von seiner problematischen Faszination verloren hat. Regie wird zwar nicht mehr als „erhabene Dressur“ gefeiert,15 gilt aber offenbar immer noch als d i e kreative Instanz des Proben- und Theaterprozesses. Die Originalitätssucht des Kunst- und Theaterbetriebs ebenso wie die angebliche Notwendigkeit seiner Personalisierung mögen dies bewirken, vielleicht auch die nie wirklich in Frage gestellte Struktur der Stadt- und Staatstheater. Ihr absolutistisches Fundament hat sich offenbar allen Demokratisierungsversuchen erfolgreich widersetzt. Wertet man das Diskussionsergebnis der ersten Vortrags- und Gesprächsrunde „Probe aufs Exempel“ rein numerisch aus, ergab sich ein klares 4:1 zugunsten des dominanten bis autoritären Regietyps (Thalheimer, Wilson, Stemann, Castorf versus Wieler) bei Ausklammerung von Pollesch und Schlingensief, deren gepriesenes Kollektivethos mit ihren Selbstinszenierungen freilich in einem gewissen Kontrast stehen. Verblüffend und beunruhigend war die Selbstverständlichkeit, mit der Carl Hegemann, viele Jahre Chefdramaturg der stil- und gesellschaftsbildenden Berliner Volksbühne, feststellte, ein Regis-

14 Programmtext des Flyers „Chaos und Konzept: Poetiken des Probierens im Theater“, Tagung des Instituts für Medien und Theater der Stiftung Universität Hildesheim, 24.-26. April 2009. Die Vorträge der Tagung sind bisher noch nicht veröffentlicht. Einige wurden frei und ohne vorliegendes Typoskript gehalten. Deshalb können hier im Folgenden nur die Vortragenden und die jeweiligen Vortragstitel aufgeführt werden. Alle Zitate sind also Mitschriften, einige stammen aus den sich jeweils an die Vorträge anschließenden Diskussionsrunden. 15 Ole Hruschka: Theater von innen. Die Probe aus diskursanalytischer Sicht.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft seur – historisches Vorbild war wohl Frank Castorf – müsse im Probenprozess nicht begründen, was er wolle. Und er machte dafür die frühkindlichen Allmachtsphantasien geltend, die solches Tun bewirken und rechtfertigen.16 Die moderateren Varianten wie Thalheimer zum Beispiel ‚spielten‘ eher autoritäre Regie, um jenen Druck und jene Angst zu verbreiten, die die schauspielerische Routine zerstöre. Dem Ziel, eine produktive Situation für alle zu schaffen, sei fast jedes Mittel recht, allemal das der Regieverweigerung, das mit einem „Umkehrtrick“ Verantwortung an die Schauspieler zurückdelegiere, so John von Düffel.17 Ähnliches betreibt auch der Regiekollege Stemann. Zuallererst wird von ihm die Probier- und Spiellust kräftig angeheizt, indem alles im Probenraum Vorhandene und Arrangierte zum Spielmaterial gemacht wird, gestärkt und dynamisiert von den Schlagzeugkünsten des Spielleiters, um am Ende dann festzustellen, dass das „ja alles nicht gehe“ in Bezug auf die zu bearbeitende Darstellungsaufgabe, was das „Kindergeburtstagsangebot“ der Probe zur Krisenveranstaltung umfunktioniere, so Stegemann über Stemann.18 Das „Weichkneten“ der Schauspieler sei eine Probenmethode, die das Defizitäre positiv wendet. Jossi Wieler hingegen sei gesprächsintensiv darum bemüht, solche angeblich produktiven Turbulenzen gar nicht aufkommen zu lassen. Roselts zu Beginn der Tagung aufgestellte These: „Probe findet ihren Sinn darin, dass Krisen herbeigeführt werden“ hat also ihre Berechtigung;19 aber kennt auch die Ausnahme von der Regel, wenn Krisen eben entstehen und nicht kalkuliert herbeigeführt werden. Wo Stemann inszeniere, probiere Wieler nur, pointierte Stegemann den Vergleich. Aber auch das ergebe einen Umkehrschub. Wird das Inszenieren verweigert und damit nach konventionellem Verständnis die primäre Aufgabe der Regie, könne das zum Aufblühen oder zur totalen Überforderung der Schauspieler führen. Beides stimuliert Robert Wilson mit magischen Formeln wie zum Beispiel „mind is a muscle“, die er mantrahaft an die Darsteller richtet, wobei bei ihm der entscheidende Vorteil sei, dass er die Probe ohne Konzept beginnt

16 Carl Hegemann: Warum ich meistens lieber auf Proben gehe als in die Vorstellung (Castorf, Schlingensief, Pollesch). 17 John von Düffel: Michael Thalheimer – Das Bauchsystem. 18 Bernd Stegemann: Inszenieren oder probieren? Zur Probenarbeit von Nicolas Stemann. 19 Jens Roselt: Proben im Theater – Eine Einführung.

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Der kollektive Prozess des Theaters und sie choreografisch angeht gemäß seiner Maxime „je mechanischer je freier“.20 Was dieses holzschnittartig entworfene zeitgenössische Regiepanorama vor Augen führt: Regie und Regieführen haben immer eine höchst individuelle Prägung, wenngleich auch eine allgemeine soziale Dimension. Und die Methoden sind so unterschiedliche wie die Personen, die sie ausgedacht haben und praktizieren. Die Frage, die sich dabei fast automatisch und ohne falschen moralischen Unterton stellt, ist, wo die Partner und Mitspieler bleiben, auch, wer wen motiviert oder demotiviert. Es gibt offenbar kein allgemeines Erfolgsrezept, wie man eine produktive szenische Situation herstellt und wie man im Probenprozess zu einem gemeinsamen Interesse und einer gemeinsamen Ausdrucksform und Ästhetik kommt. Die Individualität der Partner, der Regisseure und der Schauspieler bestimmt und variiert das Probengeschehen, sie sorgt für seine Lebendigkeit und Kreativität. Implizit ist allen skizzierten Probensituationen der Aspekt der Macht. Er ist im Probenraum, so Hegemann, durch Widersprüche charakterisiert: Proben seien harmlos und in den Proben gehe es um alles. Proben sind von Durchsetzungsstrategien bestimmt und durch Anpassungsleistungen. Das führt die hier schon angestellten Überlegungen zu diesem Thema fort und vertieft sie. In der Tat sind Proben auf der einen Seite Freiräume, die von allen Beteiligten geschützt werden, weil in ihnen Privates und Intimes zur Sprache und Anschauung kommt. Zum anderen herrscht in ihnen Versagensangst und Konkurrenz, nicht zuletzt sind sie sozialpflichtig. Ästhetische Freiheit, Spiel- und Darstellungslust gehen mit existenziellem und gesellschaftlichem Druck Hand in Hand. Und die grundgesetzlich verbürgte freie Kunstausübung ist immer auch die Beweispflicht beruflicher Tauglichkeit. Letztere entscheidet über Erfolg und Misserfolg, denn Probenergebnisse werden bewertet, sie machen Karrieren oder lassen sie scheitern. Die Probe ist also auch immer eine strenge Prüfung, nicht nur im Sinne des Theaterdirektors Goethe, dessen kontrollierender und strafender Blick auf die Szene gerichtet war, dessen Stimme aus dem dunklen Zuschauerraum korrigierend eingriff, wie Annemarie Matzke am historischen Beispiel ausführte.21 In der Gegenwart

20 Jan Linders: „Allways Start With A Blank Book“. Phasenweises Proben mit Robert Wilson. 21 Annemarie Matzke: Testreihen und Prüfverfahren – Die Probe als Versuchsaufbau.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft taugt die Probe auch als „Katastrophenort“, wird sie zur Metapher eines Weltgefühls und einer Weltanschauung. „Theater ist die Katastrophe“ behauptet Hegemann, in der Probe gehe es um die Vermeidung der Blamage, deshalb das Sicherheitstraining des Probierens, und es gehe um den Ernstfall, den das Theater nicht nur simuliere, sondern das es sei. Verschiebt man den Fokus von den Personen zu den Strukturen und Verfahren wie im zweiten Tagungsteil, klingt alles viel weniger dramatisch: Hier bestätigt sich die Einschätzung von der Probe als vorläufiger Gemeinschaft, von der Probe als Versprechen und als Möglichkeitsraum, von den jeweils eigenen Regeln und Ritualen der Produktionsgruppe.22 Einen besonderen Akzent im Hinblick auf die kollektive Kreativität der Probe, der die hier vorgestellten Ergebnisse bestätigt und erweitert, setzte Kai van Eikels: Was kollektiv heiße, entscheide sich in der Improvisation, wichtig sei „das gemeinsam Durchgemachte“ und wie es fortwirke. Der Effekt des Neuen für die Gruppe steigere und festige sich in der „Kunst des Auswertens“, in der Weiterführung der Performance im Reden. Zuallererst aber ist die Kraft des Ungeplanten freizusetzen, ergibt die Spontanität auch einen enthierarchisierenden Effekt. Freie Dynamik des gemeinsamen Improvisierens und ihre „Begrenzung und Feststellung im Kreis des Beratens“ gehörten zusammen, um in jenen „ästhetischen Wertschöpfungsprozess“ hineinzugeraten, der zwischen Bekanntem und Fremdheit oszilliert. Denn der Kampf gegen die Gewohnheit beruhe auf der Gewohnheit, auch auf dem Wissen der Darsteller, mit dem sie improvisieren können. Eikels skizzierte also jenen Gegenentwurf zum Regietheater, der auch in diesem Buch durchgehend zur Debatte steht. Und er machte die „abschließende Funktion der Probe“ stark, die Totalisierung der Probensituation selbst, die konstitutiv sei „für den Energiekreislauf“.23 Dass die klaustrophobische Probensituation eine „zweite Innerlichkeit“ erzeugt, gilt freilich für Proben jedes Produktionstyps, sie ist, wie man aus Erfahrung weiß, kein Garant für produktive und sinnvolle Ergebnisse. Nicht selten führt die Abgeschlossenheit der Probensituation zwar zu gemeinsamen Überzeugungen oder zu einer auch zwischenmenschlich und atmosphärisch starken eigenen Welt. Aber die Selbstabschließung birgt immer auch

22 Patrick Primavesi: Den Ernstfall proben. Katastrophenvorbereitung im Theater. 23 Kai van Eikels: Der Abend, an dem wir unser Publikum kannten. Improvisieren zwischen Ereignisproduktion und Zusammenleben.

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Der kollektive Prozess des Theaters die Gefahr des Realitätsverlustes, der Verstarrtheit in gemeinsam erlebte und hergestellte theatrale Wirklichkeitsentwürfe. Ebenso wichtig wie der geschlossene Probenraum ist deshalb auch seine Öffnung nach außen. Dass die Probenbeteiligten sich selbst ins Probengeschehen, in die Improvisationen verwickeln lassen, sich ihnen hingeben und zugleich die dabei gemachten Erfahrungen reflektieren und ihre eigene Position ebenso wie die der anderen gründlich befragen, dass sie zugleich „Beobachter drinnen und draußen“ sind, hilft nicht zuletzt auch dem ästhetischen Mehrwert, wie schon mehrfach hier betont wurde. Probieren ist ja nicht nur ein „unverfügbares Geschehen“ in Gang zu setzen und zuzulassen, die „Wechselbezüglichkeit“ und „Intersonanz“ so zu stärken, dass das Geschehen „wie von selbst“ entscheidet, wie der Kulturphilosoph Rolf Elberfeld an „Handlungsformen jenseits von Aktiv und Passiv“ darlegte.24 Es ist genauso das ästhetische und weltanschauliche Kalkül, das Szenisches formt. „Probieren als Kunst des Weglassens“ betreibt, so Barbara Gronau, die „Einschränkung von Ausdrucksmitteln“.25 Peter Brook ist ein Meister dieser Ästhetik der Selbstbeschränkung und mit ihm viele Theatermacher, die ihre szenischen Ergebnisse immer wieder aufs Spiel setzen, sie zerstören, um sie neu zu erfinden oder zu finden. Denn das Vor- und Nachmachen, die „Nachahmung auf Probe“ gehört laut Melanie Hinz ebenfalls mit zum Probenspiel. Sie berichtete von einer mimetischen Recherche zum Thema „Rausch“, die zu einer Poetik des Wiederaufführens und der Transformation des an verschiedenen „Rausch“-Orten körperlich selbst Erlebten führte.26 Wiederholung und Neufindung, Reproduktion und Zerstörung gehören, so glaube ich, zu den metaphysischen Triebfedern des Theatermachens, ebenso wie die sisyphosartig vergebliche Bemühung, den ‚einmaligen Augenblick‘ wiederholen oder gar fixieren zu wollen. Über diese Dimension der Theaterproduktion lässt sich allenfalls spekulieren. Der Theaterwissenschaft geht es freilich in erster Linie darum, wie das Untersuchungsfeld ‚Probe‘ auch methodisch genau zu beackern ist. Die auf der Tagung praktizierten Methoden und die sich anschließende explizite Methodenreflexion lassen hoffen: Probenarbeit ist zugänglich, ist selektiv beschreib-

24 Rolf Elberfeld: Wie von selbst. Handlungsformen jenseits von Aktiv und Passiv. 25 Barbara Gronau: Hier wird nicht herumgefuchtelt – Probieren als Kunst des Weglassens. 26 Melanie Hinz: Von Kopien und Zitaten. Nachahmung auf der Probe.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft bar und wissenschaftlich abzusichern, etwa mittels Perspektivwechsel und seiner Reflexion, wie der eigene Beitrag über Jossi Wielers Probenarbeit zu zeigen versucht. Probenarbeit ist, wie Annemarie Matzke an verschiedenen Beispielen vorführte, häufig selbstreflexiv: Im Versuch, die Probenarbeit modellhaft zu objektivieren und zu archivieren, wie etwa am Berliner Ensemble zu Zeiten Brechts. Heutige Theatermacher denken und handeln oft intermedial, auch in der Probenarbeit. Sie filmen die Proben mit, suchen den gemeinsamen Blick auf das Videomaterial, was nicht nur die „Zwischenschaltung“ des filmischen Blicks ergebe und die Fokussierung des Zuschauerblicks, sondern auch die „Singularität des Regieblicks“ aufhebe, ihn gleichsam demokratisiere.27 Gefilmte Szenen werden aber auch für die Schauspieler, denen sie den Blick auf sich selbst ermöglichen, zur Ver- und Entfremdung, weil die Videobilder sie zeigen, wie sie sich selbst meist nicht sehen wollen. Die Filmkamera kann aber auch in den Händen von TheaterwissenschaftlerInnen und EthnographInnen aufschlussreiches Material liefern. Geesche Wartemann führte von Elisabeth Mohn gefilmte Zuschauerreaktionen von Kindern vor, die bei einer öffentlichen Probe im experimentellen Probierfeld des Kindertheaters entstanden, das sich ja verstärkt einer Dramaturgie des Publikums befleißigt, das die „Zwitterfigur“ der öffentlichen Probe ernst nimmt und für die weitergehende Probenarbeit nutzt. Die ethnologische Methode filmischer Beobachtung kann die Darsteller-Zuschauer-Relation fremd und neu ins wissenschaftliche Blickfeld rücken. Probenberichte verschiedenster Art und Provenienz, von der Anekdote bis zur Langzeitbeschreibung eines Theaters diskursanalytisch aufzuschlüsseln ist, wie Ole Hruschka zeigte, ein schon in anderen Wissenschaftsbereichen erprobtes und bewährtes Verfahren, das das Probengeschehen nicht nur auf der wissenschaftlichen Ebene diskussionsfähig macht, sondern es auch exemplarisch in einer Weise transparent machen kann, die der Aufführungsanalyse und ihren Methoden nicht nachstehen muss.28 So hat diese Tagung bestätigt, dass die Probe wissenschaftsfähig ist und auch gezeigt, welche Fragestellungen weiterzuverfolgen sich lohnen könnte. Dass auch die historische Fundierung des

27 A. Matzke: Testreihen und Prüfverfahren – Die Probe als Versuchsaufbau. 28 O. Hruschka: Theater von innen. Die Probe aus diskursanalytischer Sicht.

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Der kollektive Prozess des Theaters Themas vorankommt, zeigen nicht zuletzt zwei umfangreiche Untersuchungen, die den Proben- und Produktionsprozess und seine unterschiedlichen Formate und Formierungen theaterwissenschaftlich neu in den Blick nehmen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass beide Arbeiten auf dem Boden einer Angewandten und einer Praktischen Theaterwissenschaft entstanden sind, bei denen die Produktion und der Produktionsprozess als ein wichtiger Teil des Gesamtzusammenhangs Theater erfahren und reflektiert wird.29 Wolf-Dieter Ernst begreift in seiner Studie „Vorschrift und Affekt. Eine Diskursgeschichte der Schauspielausbildung zwischen 1870 und 1930“ Bildungsprozesse als Darstellungsprozesse, „Bildung im doppelten Sinn von Ausbildung und Herstellung“. Verschiedenste Diskurse, Schauspielprogrammatiken und Schauspielpraxen, Improvisationsanleitungen und Darstellungsaufgaben, Ausbildungsprotokolle und Bildungstheorien werden zusammengeführt und analytisch aufgearbeitet, um den Spielraum der Darstellung neu zu markieren und zu erweitern – hinein in die formierenden Produktionsbedingungen, hinein in Ausbildungsprozesse und Bildungsinstitutionen und die sie bestimmenden Normen. „Vorschrift und Affekt“ sind hier „Darstellungsgrößen, die nicht anthropologisch und technisch sondern rhetorisch aufeinander bezogen werden“. So wird der Prozess der Figurenfindung durch den Schauspieler als ein „energetischer Übertragungsprozess“ gesehen und gelesen, der sich nicht auf den schauspielerischen Darstellungsakt in der Aufführung begrenzen lässt, sondern sich ebenso in Vorlauf- und Rückkoppelungsprozessen wie Ausbildung, Probenarbeit oder der Mediengeschichte der Darstellung artikuliert und ausformt.30 „Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe“ ist Thema und Titel der Habilitationsschrift von Annemarie Matzke. Auch hier wird künstlerische Praxis untersucht, wird Theater als „organisationsbedürftige Kunstform“ gesehen, wird der Herstellungsprozess von Theater als analysierbar und durchschaubar verstanden, geht es „um eine ‚Entzauberung des Theaters‘ durch das Offenlegen der Konstruktion“. Matzke zeigt aber nicht nur wie

29 Die beiden VerfasserInnen Wolf-Dieter Ernst und Annemarie Matzke haben in Gießen Angewandte Theaterwissenschaft studiert und in Hildesheim Praktische Theaterwissenschaft gelehrt bzw. hier promoviert. 30 Wolf-Dieter Ernst: Vorschrift und Affekt. Eine Diskursgeschichte der Schauspielausbildung zwischen 1870 und 1930, Habilitationsschrift Ludwig-Maximilians-Universität München 2009, S. 36 ff.

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Forschungfeld einer Praktischen Theaterwissenschaft materialreich und fruchtbar das Thema ist und in welcher Weise das Theater selbst Probenprozesse thematisiert und darstellt. Sie fundiert und erweitert den Probenprozess vor allem in zwei Richtungen: „Arbeit am Theater“ fragt nach der Spezifik künstlerischer Arbeit und liest sie auf der Folie des Verständnisses gesellschaftlicher Arbeit. Zum anderen zeigt ihre Diskursanalyse der Probe, was im Sprechen über Probenvorgänge hervorgehoben und ausgeblendet wird, was die Begründer wichtiger Probendiskurse, etwa Goethe, Stanislawski oder Brecht als ihre Praxis und als ihr Verständnis von Theater favorisieren und verbal durchsetzen. Wichtig wird in dieser Untersuchung die historische Dimension des Themas. „Die These dieser Untersuchung ist, dass sich um 1800 die Vorstellung des Theaters als etwas zu Erarbeitendem entwickelt“, was, wie dargestellt wird, die Probenpraxis der Folgezeit verändert bis hin zu den selbstreflexiven Formen der Probe als Experiment oder „bewusst kalkuliertes Krisenszenario“ etwa bei Heiner Müller.31

31 Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Habilitationsschrift Freie Universität Berlin 2008, S. 7f./17/314.

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Chor-Körper Die Körperlichkeit des antiken Chors, dem zentralen Organ und „dominierende[n] Kraftzentrum“1 der griechischen Tragödie, ist, so stellt man erstaunt fest, im literatur- und kulturgeschichtlichen Diskurs der europäischen Moderne seit dem 18. Jahrhundert eine durchgehende Größe und eine fortwirkende Herausforderung an die Interpreten. Das gilt für Lessing bis George Steiner, von Schiller bis Roland Barthes, von Nietzsche bis Einar Schleef. Im theatralen Diskurs ist der Chor-Körper vor allem in den letzten 25 Jahren eine der wichtigsten innovativen Kräfte. Das gilt für die Altmeister der europäischen Theaterszene Max Reinhardt, Ariane Mnouchkine und Peter Stein, die Chor-Protagonisten der neunziger Jahre Schleef oder Marthaler, aber auch für die theatrale deutschsprachige Gegenwart, für Regisseure wie Nübling oder Stemann. Die Chor-Vielfalt und -Varianz der Genannten ist freilich nicht über einen Leisten zu schlagen, aber sie wirft ein neues Licht auch auf den antiken Chor und seine Körperlichkeit. Beide Chor-Diskurse, den essayistisch-philologischen und den theaterpraktischen ineinander und wechselseitig zu spiegeln, soll hier versucht werden. Dieser Versuch scheint vor allem deshalb erfolgversprechend, weil das Vergleichskriterium in der Tat die Körperlichkeit des Chores darstellt. Dass diese keine feste Größe ist, sondern eine Fülle von unterschiedlichen Aspektierungen und Körperbildern umfasst, muss man wohl kaum hervorheben. Was Chor-Körper bedeuten könnte, die Körperlichkeit und Leibhaftigkeit des Chores, seine raumgreifende und raumschaffende Funktion, seine mimetische, also vor allem körperliche Leistung bei der Vermittlung und Darstellung des mythischen Geschehens in den Tragödien, soll hier in gebotener Kürze skizziert werden. Freilich, weder der theatrale noch der kulturtheoretische Diskurs verlaufen widerspruchsfrei oder sind gar stromlinienförmig. Im

1

Joachim Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993, S. 70.

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Der kollektive Prozess des Theaters Gegenteil, durchgehend und immer wieder neu wird der alte Chor totgesagt: „Nun ist der Chor das, was von der griechischen Tragödie vollständig untergegangen ist“, konstatiert Roland Barthes in seinem emphatischen Essay über „Die Macht der antiken Tragödie“ 1953.2 Der kunstliberale und höchst theatersinnige Kritikergeist Friedrich Luft, der wichtigste Theaterrezensent der fünfziger und sechziger Jahre in Berlin, schickt den Chor anlässlich einer Aufführung von DIE TROERINNEN geradezu angewidert in den Theaterorkus: „Sprech-Chor, sage man was man will, ist gegen die Natur des Ausdrucks und Barbarei“.3 „Die Crux moderner Aufführungen der griechischen Tragödie“4 sei der Chor, summiert auch der Kenner und Liebhaber des antiken Theaters Siegfried Melchinger mit Blick auf die deutsche und griechische Szene Anfang der sechziger Jahre. Die Kritikergeneration danach formuliert ihren Chor-Alptraum noch eine Stufe pointenseliger und schärfer: „Er ist das Schreckgespenst unzähliger Antiken-Inszenierungen“,5 „ein Alptraum, seit Kindestagen! Herren, schwitzend unter Pappmasken. Damen, wallend in attischen Nachthemden, Stadttheater in Gips und auf Kothurnen. Und dann die kaum weniger trostlose Antiversion: Chorherren im Smoking, Chordamen im Partykleid, die Tragödie im Konversationskostümchen angeblich von heute.“6 Und selbst in jüngsten chorfreundlichen theaterwissenschaftlichen Untersuchungen, die schon im Aufwind des chorischen Theaters der neunziger Jahre geschrieben sind, bleibt es bei fundamentalen Zweifeln. Nicht zuletzt „durch seinen Sonderstatus“ sei „der antike Tragödienchor dem gegenwärtigen Theater fremd“.7 Mag ein psychologisches und illusionistisches Theaterkonzept, ein Theater der großen Schauspieler und Menschendarsteller den Chor befremdlich finden oder gar verteufeln. Ein Theater der Gegenwart, das sich dem Nicht-Psychologischen, dem Prä- und Post-

2

Roland Barthes: „Die Macht der antiken Tragödie“, in: Jean-Loup Riviere

3

(Hg.), Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin. Schriften zum Theater, Berlin 2001, S. 52f. Friedrich Luft: „Euripides/Matthias Braun ‚Die Troerinnen‘ Schiller Thea-

4

ter“, in: Henning Rischbieter (Hg.), Berliner Theater 1945-1961, Hannover 1961, S. 311. Siegfried Melchinger: „Die Nymphen von Epidauros“, in: Theater heute 9

5 6 7

(1963), S. 22. Peter von Becker: „Der Tanz der Tragödie“, in: Theater heute 6 (1991), S. 3. Benjamin Henrichs: „Könige der Luft“, in: Die Zeit, 06.11.1992, S. 57. Detlev Baur: „Chor und Theater“, in: Poetica: Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 29 (1997), S. 47.

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Chor-Körper dramatischen, dem nur Performativen zuwendet, entdeckt im Chor, wie hier u. a. zu zeigen ist, alte und neue Möglichkeiten der Darstellung. Sie lädt den Chor-Körper nicht nur energetisch neu auf, sondern nutzt ihn als ein theatrales Medium vielfältiger und differenter Wirksamkeit und Bedeutung.

D IE K ÖRPERLICHKEIT

DES

C HORS

IM

T HEORIEDISKURS

Der Weg in diese körperliche Gegenwart des Chores hat viele Stationen der Theoretisierung und eine Vielfalt szenischer Realisierungen, aber einen deutlich erkennbaren Ausgangspunkt: die Körperlichkeit des Chores ist in den Texten der antiken Tragödie selbst festgeschrieben. „Tragisches Klagen“ umfasst deutlich erkennbare „threnetische Bauelemente“8, die visuell und akustisch, dramaturgisch und atmosphärisch in szenische Erscheinung und Wirkung treten. Die „Lust am Aussprechen des Qualvollen“, „der Selbstgenuss des Schmerzes“9 ist dabei vor allem, wie Hans-Thies Lehmann akzentuiert hat, an die physische Präsenz der Stimme gebunden. Sie kann sich, worauf Wolfgang Schadewaldt schon in den Sechzigern mit Blick auf die Aufgaben der szenischen Transformation der antiken Texte nachdrücklich hingewiesen hat, in einer „Stufenleiter“ der Ausrufe modulieren, vom „pheu“, dem „mildesten Ausdruck der Erregung“ bis zum „fast tierischen Schmerzenslaut“ „i-uh“.10 Freilich, es sind genau geordnete Klang-Zeichen jenes elementaren „urtümlich blutigen Zeremoniells“, das – so Schadewaldt – „zu einer Ekstase des Leidens und der Selbstzerfleischung“11 aufsteigen kann. Dass der antike Schauspieler dabei aufgrund seiner Maske „gleichsam Körper und Stimme ohne Gesicht“12 ist, gilt in einem doppelten und varianten Sinne auch für den antiken Chor. Er ist ein Körper aus vielen Körpern, er vereint oder vereinzelt die Stimmen Vieler. Wie er die Stimme zum klagenden Tönen und die Affekte in körperliche Bewegungen brachte, davon haben wir keine Überlieferung und Anschauung, haben wir nur Theorie und Etymologie. Die von Aristoteles in seiner Poetik für die Tragödien-Darstellung 8

Markus Schauer: Tragisches Klagen. Form und Funktion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides, Tübingen 2002, S. 27.

9

Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 41. 10 Wolfgang Schadewaldt: Antikes Drama auf dem Theater heute, Pfullingen 1970, S. 25. 11 Ebd. S. 26. 12 H.-Th. Lehmann: Theater und Mythos, S. 36.

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Der kollektive Prozess des Theaters geltend gemachte Mimesis ist freilich nicht nur aus heutiger Sicht eine performative Mimesis, die aus einer oralen Darstellungskultur kommt, der das sinnlich Unkontrollierbare noch nicht ausgetrieben ist. Und das Bedeutungszentrum des Begriffs Mimesis liegt, wie Koller philologisch genau hergeleitet hat, im Tanz: „Mimeisthai heißt primär: durch Tanz zur Darstellung bringen“.13 Auf dieser Basis werden die Darstellung des Chores und die TragödienDichtung für den antiken Zuschauer zu dem die Affekte aufwühlenden, die Körper erfassenden Ereignis. Auf der Ebene des Dargestellten hilft den Nachgeborenen über viele Jahrhunderte nur die Imagination und die Sehnsucht nach einem ganz anderen Theater, wie es den „Alten“ zur Verfügung stand. Diderot z. B. inszeniert geradezu exzessiv körperlich auf seiner Stage of Mind den Chor der Furien aus der ORESTIE: „Hier wendet sich Orest mit seinen Klagen an die Göttin. Dort toben die Furien, sie gehen, sie kommen, sie laufen [...] Sie umringen ihn, und schreyen, und knirschen vor Wuth und schütteln die Fackeln. Welcher Augenblick des Schreckens und des Mitleids, die Bitte und das Winseln des Unglückseligen zugleich mit dem Geschrey und dem fürchterlichen Toben grausamer Wesen, die ihn aufsuchen, zu vernehmen! Wann werden wir jemals auf unserem Theater so etwas ausführen können?“14

Die ersten ernsthaften Versuche, die antike Tragödie wiederzubeleben, unternehmen die Verehrer vor allem der Sophokleischen Tragödie Schiller und Goethe.15 Und will man dem Schauspieler Iffland Glauben schenken, auch mit theatralem Erfolg: „Die Chöre...senkten wie ein Wetter sich über das Land“16, berichtet er von der Berliner Aufführung der BRAUT VON MESSINA, in der der Dramatiker Schiller es unternahm, den Chor zu neuem Leben und zu neuer Wirksamkeit auf der Bühne der Klassik zu erwecken. Für seinen Erfolg in geschilderter meteorologischer Stärke kenne ich keine weiteren Belege. Die Reflexion allerdings, die 13 Hermann Koller: Die Mimesis der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954, S. 119. 14 Diderot zitiert nach: Siegfried Melchinger: „Aischylos auf der Bühne der Neuzeit“, in: Hildebrecht Hommel (Hg.), Wege zu Aischylos, Darmstadt 1974, S. 449f. 15 Vgl. Stuart Atkins: „Gestalt als Gehalt in Schillers ‚Braut von Messina‘“, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33. Jahrgang (1959), S. 563. 16 Iffland zitiert nach: Wolfgang Schadewaldt: „Antikes und Modernes in Schillers ‚Braut von Messina‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 287.

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Chor-Körper Schiller dem antiken Chor, nicht zuletzt seiner Körperlichkeit, widmet, trägt bis in die Gegenwart. Schiller fasst die veränderten Bedingungen des Chores in der Moderne analytisch scharf: „Die moderne gemeine Welt“, die der Dichter mittels Chor „in die alte poetische“ verwandeln will, ist gekennzeichnet durch Abstraktion, durch abnehmende Unmittelbarkeit, durch den Verlust einer direkten, sinnlich zu erlebenden Öffentlichkeit: „Die Schrift hat das lebendige Wort verdrängt, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist [...] zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt.“ Wo der Chor „nicht mehr aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens“ folgt, kein „natürliches Organ“ sein kann, wo Abstraktion und Psychologie die neuen Götter sind, bedarf es des Chores als „Kunstorgan“. Dem „Indifferenzpunkt des Ideellen und Sinnlichen“, den das Poetische laut Schiller anzuvisieren hat, dient der Chor in doppelter, in ambiger Funktion. Er ermöglicht dem Dramatiker, „den engen Kreis der Handlung“ zu verlassen, große „Resultate des Lebens“, also Lebensweisheit auszusprechen, und damit den Zuschauer nicht völlig der blinden Gewalt der dargestellten Affekte auszuliefern. Der Idealist Schiller achtet also sorgsam darauf, dass der Chor dem Zuschauer die ästhetische Freiheit sichert und ihn nicht untergehen lässt im Strudel der sinnlichen Eindrücke und heftigen „Passion[en]“. Der Theatermann Schiller weiß um die Dialektik und die theatrale Notwendigkeit, die Sinnlichkeit und den „Sturm der Affekte“ zuallererst zu entfachen, um ästhetische Freiheit gewinnen zu können. Die Körperlichkeit des Chores steht also vor der idealistischen Zielsetzung mit allem zu Gebote stehenden physischen Gewicht: „Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff; aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert.“ Die sinnliche Macht, die mit der Reflexion des Chores einhergeht, ist – so Schiller – die „sinnliche Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen“.17 Schillers dialektisches Modell chorischer Bewegtheit, einer körperlich-reflexiven Doppelheit und Dynamik, bleibt (zumindest) für den deutschen Chor-Diskurs bestimmend: Nietzsche hat es in eine Formsemantik des Dionysischen und Apollinischen Prinzips, die in der Tragödie zum Tragen komme, verwandelt, nicht ohne

17 Friedrich Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie (1803)“, in: Klaus Hammer (Hg.), Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 478ff.

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Der kollektive Prozess des Theaters Schiller die gebührende Referenz zu erweisen. „Der Bund zwischen Mensch und Mensch“, zwischen Zivilisation und Natur, den der „Zauber des Dionysischen“ wieder zusammenschließt, nimmt den menschheitsumschlingenden Jubel der Hymne „An die Freude“ nicht nur zitierend auf. Der Chor, so Nietzsche Schiller weiter schreibend und hinter sich lassend, „ist eine lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er [...] das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Kulturmensch“. „Der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft – er sieht sich zum Satyr verzaubert“.18 So wird der Chor, freilich in einer imaginären Version der tanzenden Satyrn, die als angeblich „natürliches Phänomen“ vom historisch späteren Tragödienchor nachgeahmt werde, zu Nietzsches Sehnsucht- und Zauberformel gegen müde Zivilisation und für die unverstellte Kraft des Lebens. Ähnlich vitalistische Ansprüche werden uns in Schleefs ChorProgrammatik wieder begegnen und in der kunstvoll eingeübten Präsenz seiner Sprech- und Körperchöre. Doch bei aller Kohärenz des Diskurses, es heißt auf der Hut zu sein vor vorschneller Festlegung und Vereinheitlichung. Welche Fülle von Chor-Funktionen hat nicht die altphilologische, die literatur- und theaterwissenschaftliche Forschung aufgezeigt: der Chor als aktiv Handelnder und als Zuschauer, der vom Tragödien-Geschehen affiziert, ihm staunend ausgeliefert ist oder kritisch distanziert begegnet; der Chor als Vertreter der Polis, also der Öffentlichkeit, der Chor als Kommentator, ja als Sprachrohr des Dichters; der Chor als Hort der Frömmigkeit oder als Meister des politischen Kalküls, schwankend zwischen lauer Lebensweisheit und religiöser Tiefe. Nicht zu vergessen seine theatralen und dramaturgischen Funktionen, die den Blick und die Aufmerksamkeit des Zuschauers lenken, ja ihn zu seiner Verlängerung, zu seinem Medium schlechthin machen, intellektuell wie körperlich. Fest steht also allein der Wandel, die proteische Gestalt des Chores. „Flexibel und multifunktional“19 ist der Chor ein „unvergleichlich geschmeidiges Instrument“.20 18 Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: Karl Schlechter (Hg.), Friedrich Nietzsche. Werke in sechs Bänden, München/Wien 1980, S. 24/49f. 19 Günther Erken: „Regietheater und griechische Tragödie“, in: Hellmut Flashar (Hg.), Tragödie. Idee und Transformation, Stuttgart/Leipzig 1997, S. 381. 20 Georg Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, München 1990, S. 208.

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Chor-Körper Jüngste und gegenwärtige szenische Chorpraxis lassen physisch erfahren und leibhaftig ahnen, was die Körperwirklichkeit des antiken Chores gewesen sein könnte und bewirkt haben mag. Moderne und gegenwärtige Chorformen zeigen aber auch umso deutlicher, was uns und den modernen Chor von der Antike trennt. In sechs exemplarischen Stationen will ich verschiedene Chorformen und mit ihnen einen Weg beschreiben, den eine jeweils spezifische Körperlichkeit vorgibt, die der Chor bestimmt und nutzt.

A KTION

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Den Chor als Masse, bewegt durch eine „Dramaturgie der Massen“21, erprobt Max Reinhardt erstmals im König Ödipus 1910. Er wählt dafür einen Raum, der die „Dynamik der Menge“22 zur Anschauung und Geltung bringt, den Zirkus Schumann in Berlin. Dass es ihm dabei „nicht um eine äußerliche Kopie des antiken Theaters“ gehe, betont Reinhardt nachdrücklich in „Das Theater der Fünftausend“. Aber er sieht die gewählte Theaterform doch vor allem als großangelegten Versuch, „ob es gelingen könnte, die Dimensionen wieder zu schaffen, mit denen die großen Wirkungen des antiken Theaters so eng verknüpft waren“.23 Nicht nur seine wiederholten Inszenierungen antiker Tragödien, vor allem der ORESTIE, sondern auch die bauliche Transformation dieses Theaterkonzepts durch den Umbau des Zirkus Schumann zum Großen Schauspielhaus, bestätigen dessen theatralen Erfolg. Die zeitgenössischen Berichte geben in der Regel Kunde von der bewirkten szenischen Überwältigung: Ein Doppelchor, mit 22 Solisten und über 500 sogenannten Statisten stürmte im ÖDIPUS „aus der Mitte des halbdunklen Zuschauerraumes [...] in die helle Orchestra“24. Zwei chorische Gruppen in gleichsam „abgestufter Nähe“ zum Publikum und damit kalkuliert abgestuften „Sogeffekt“.25 Denn darum ging es Reinhardt: „Dass Bühne und Zuschauerraum zwei voneinander getrennte Reiche sind, muss aus21 Vgl. Walther Lohmeyer: Die Dramaturgie der Massen, Berlin/Leipzig 1913. 22 Detlev Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen 1998, S. 238. 23 Max Reinhardt: „Das Theater der Fünftausend (1911)“, in: Manfred Brauneck (Hg.), Klassiker der Schauspielregie, Reinbek 1988, S. 138. 24 S. Melchinger: „Aischylos auf der Bühne der Neuzeit“, in: H. Hommel 1974, S. 446. 25 D. Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts, S. 238.

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Der kollektive Prozess des Theaters gemerzt werden.“ Zuschauer und Darsteller waren mittels der Chöre zur Einheit zu verschmelzen, durch eine Choreographie, die den „Massenchor gleichsam aus dem Massenpublikum hervorwachsen ließ“.26 Das dynamisch aktive Moment dieser Chorbildung, der Ausdehnung und Verräumlichung der Chorkörper in eine bisher nicht gekannte Totalität, pointiert der Dichter Rudolf Borchert, indem er die traditionelle theatrale Intentionalität geradezu umkehrt: „Die Menge ist hier nicht zugelassen, sondern sie ist hier Herr: sie wird hier nicht von der Bühne her gebildet, sondern sie gestaltet diese Bühne“.27 Abb. 1: Max Reinhardt: KÖNIG ÖDIPUS, Berlin 1910

Gab es schon unter den Zeitgenossen kritische Zweifel an der „archaischen Wucht“ dieser Chor-Realisation, wenn man etwa von der „Vermassung“ der Tragödie sprach28, so hat der faschistische Chorgebrauch den unbefangenen Blick auf Reinhardts „Theater der Fünftausend“ geradezu verstellt. Makabre tragische Ironie: Der von den Nazis Vertriebene erscheint unfreiwillig als Wegbereiter einer Ästhetik, die den Chor zur formierten Masse macht, ihn durch Marschrhythmen gleichschaltet und ihn missbraucht als Staffage und Resonanzboden des Führerprotagonisten. Der orgiastische Dunst des „Theaters der Fünftausend“ verzieht sich allerdings sofort, betrachtet man allein Reinhardts Kunst- und Regiewille, z. B. seinen dialektischen Umgang mit 26 S. Melchinger: „Aischylos auf der Bühne der Neuzeit“, in H. Hommel (Hg.) 1974, S. 466f. 27 Ders.: „Die Nymphen von Epidauros“, in: Theater heute 9 (1963), S. 22. 28 Vgl. Ders.: „Aischylos auf der Bühne der Neuzeit“, in H. Hommel (Hg.) 1974, S. 467.

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Chor-Körper dem Raum: „Leere und Stille inmitten der Zuschauerrunde ist ebenso rasch erzeugt wie Bewegtheit und Aktion einer Menge“, schreibt ein Rezensent der ORESTIE von 1919.29 Und die Massengeste, aufgelöst in „hunderterlei kleine Gesten und Gebärden“30, ist ebenso sorgfaltig abgestuft, entwickelt und gesteigert wie die Klang- und Wortwirkung der Teilchöre, die zeit- und raumversetzt das Publikum artistisch vereinnahmen. Berthold Held, dem Reinhardt das Einüben der Chöre und damit einen wichtigen Teil der „Massenregie“ anvertraut hat, reflektiert die Vielfalt der Möglichkeiten chorischer Gegenwart im Raum: dessen plastische Gliederung in den Gruppierungen, die optische Modellierung durch das Licht und vor allem die klanglich musikalische. Und er besteht zuallererst auf der jeweiligen Besonderheit der Stück- und Darstellungsaufgabe, die die sogenannte „Massenregie“ zur besonderen Anschauung bringen muss. Ein „Klagelaut aus vierhundert Kehlen“ mag hier angemessen sein, dort ist das „Leid vieler Einzelner“31 im klanglichen Ausdruck gefordert. Im Ödipus etwa entsprechen die Wirkungen der Einzelstimmen und die „orchestralen Wirkungen“, die der Chor erzeugt, den Gegenspielern Kreon und Chor. Letzterer verschlingt schließlich vier verschiedene Stimmführungen, viermaliges unisono in „Vierfalt“, wie der Kritiker Julius Bab schreibt, „zu einem musikalisch abgetönten Ensemble, in dem Differenzierung und straffe Kraft zugleich waren.“32 Kunstverstand und Technik sind die Grundlagen der chorischen Performativität. Sie bringen die Worte und Sätze in Schwingung und Raumbewegung, die alle vor Ort erfassen. So wird der Chor hier nicht nur „Instrument zur allerwuchtigsten theatralen Akzentsetzung“, sondern auch fluides Medium, das alle vor allem körperlich beteiligt. „Die Grundzüge des Schauspielers Reinhardt: die mimische Detail-Phantasie und die dumpf-elementare Ausbruchskraft“ vervielfachen sich in seinen Massenchören, die überfließen ins Zuschauer-Zirkus-Rund.33 Freilich liegt darin auch die chorische Ambiguität. Wer sich als Regisseur mit der chorischen Masse einlässt, sie formt und damit stärkt, spekuliert und rechnet, wie Reinhardt es formuliert 29 Stefan Großmann: „Vossische Zeitung, 29./30.12.1919“, in: Günther Rühle (Hg.), Theater der Republik, Frankfurt a. M. 1967, S. 178. 30 Julius Bab: „Reinhardts Chorregie“, in: Die Schaubühne 24/25 (1909), S. 669. 31 Berthold Held: „Massenregie“, in: Knut Boesner/Renata Vatkova (Hg.), Max Reinhardt in Berlin, Berlin 1984, S. 182. 32 J. Bab: „Reinhardts Chorregie“, in: Die Schaubühne 24/25 (1909), S. 670. 33 Ebd. 671.

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Der kollektive Prozess des Theaters hat, mit „ungeahnte(n) anonyme(n) Wirkungen“.34 Er betreibt eine erregende, bedrohliche, kräftesteigernde und kräfteverschwendende performative Praxis. Sie mag Rhythmus und körperliche Erregtheit längst vergangener Kulthandlungen und antiker Festkultur im theatralen Raum erlebbar machen. Sie kann jedoch deren verbindende, deren soziale Kraft nicht zurück erobern. Das soziale Ereignis bleibt hier ein ästhetisches, ganz im Sinne Nietzsches und seiner Sicht der attischen Tragödie, von der er glaubt, „dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publikum und Chor gab: denn alles ist nur ein großer erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn“, denn ein „Publikum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt.“ Sie wähnten sich „in gesättigtem Hinschauen selbst als Choreuten“.35

G EOMETRISIERTE K ÖRPERLICHKEIT , „ THEATRALISCHE L ANDSCHAFT “ (S ELLNER ) Dass solche Verschmelzungsphantasien reale politische Gestalt angenommen haben, nicht nur ästhetische Formation blieben, hat die Massenregie der Nazis bis zum tödlichen Ende auf dem fehlenden Gewissen. Das deutsche Nachkriegstheater reagiert auf die chorische Erfahrung einer verblendeten oder verführten Kriegsgeneration. Der Chor auf der Bühne steht jetzt still. Genauer gesagt: Er wird zum Element eines Raumes, in dem Gestik und Wort dem Konzept eines sogenannten „instrumentale[n] Theater[s]“ dienen. Dieses macht sich auf die Suche nach dem Ort und „Wesen des Menschen“36, fernab von Psychologie und Naturalismus, konzentriert auf das sogenannte Eigentliche. Sellners und Mertz’ Antiken-Inszenierungen sind Raumplastiken, sind „theatralische Landschaft.“ Hier gelten die strengen Gesetze der Stilisierung und Abstraktion. Der Chor ist geometrisierte Körperlichkeit, den allenfalls „zeremoniöses Schreiten“37, „getanzte Liturgie“38 auf der Suche nach Kern und Wahrheit der Existenz bewegt.

34 M. Reinhardt: „Das Theater der Fünftausend“, in: M. Brauneck (Hg.) 1988, S. 139. 35 F. Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: K. Schlechter (Hg.) 1980, S. 50. 36 Gustav Rudolf Sellner/Werner Wien: Theatralische Landschaft, Bremen 1962, S. 38/27. 37 G. Erken: „Regietheater und griechische Tragödie“, in: H. Flashar (Hg.) 1997, S. 381. 38 G. R. Sellner/W. Wien: Theatralische Landschaft, S. 66.

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Chor-Körper Abb. 2: Gustav Rudolf Sellner: KÖNIG ÖDIPUS, Darmstadt 1952

Auch hier formuliert das chorische Theater Zeitgeist: Mit aufgelösten Wänden und abstrakten Formelementen im gleichbleibenden Licht will man sich der Ursprünge unserer Kultur versichern. Die Theatermacher suchen nach dem Zweiten Weltkrieg ratlos und hoffnungsvoll nach Bildern, die den Schrecken bannen: „Hier [in der antiken Tragödie, Anm. d. V.] entsprach die Größe der Bilder der Größe der Leiden, derer, die wir ertragen, und derer, die wir verursacht hatten“.39 Chorische Erstarrung und chorische Feierlichkeit, stilisierte Bewegung und genau geordnetes ChorArrangement sind in dieser Nachkriegszeit offenbar wirksam und glaubhaft, weil ein den zu bewältigenden Problemen angemessenes Körperbild. Dass sich aus diesen Inszenierungen später jene Chor-Normen und Chor-Klischees einer antiken Klassik entwickelt haben, die eingangs attackiert wurden, ist Sellner oder auch Orff sicher nicht anzulasten.

39 G. R. Sellner/W. Wien: Theatralische Landschaft, S. 27.

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Der kollektive Prozess des Theaters

S UCHBEWEGUNG

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G EDANKENRAUM , „P LEUREUSEN " (S TEIN )

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Nicht immer liegt der Zeit- und Gesellschaftsbezug der Wiederund Neuentdeckung der griechischen Tragödie so auf der Hand und wird so deutlich ausgesprochen. Fast 20 Jahre später nähert sich ein Theater, das sich als marxistisch fundiert versteht, der antiken Tragödie, als gäbe es einen unbekannten Kontinent neu zu entdecken, als müsste jedes Wort, besonders die der Chortexte, genauestens untersucht und gewendet werden, um ihnen Fremdheit und Nähe gleichermaßen abzulauschen. Peter Stein und sein Kollektiv, der Chorführer und sein Ensemblechor scheinen vor allem durch ein Interesse bewegt: die exakte Archäologie des antiken Theatertextes zu betreiben. Wie verträgt sich derartige theatrale Philologie mit der Gestaltung des Chor-Körpers? Peter Iden beschreibt ihn so: „Dann wird der Chor hörbar und man sieht seine Sprecher, alte Männer in grauen Alltagskleidern, mal stehen sie wie eine Gruppe zusammen, sitzen um einen Tisch, später treibt es sie auseinander, sie tasten sich durch die Reihen der Zuschauer, halten Kontakt miteinander über die Köpfe der Sitzenden hinweg oder verfallen ins Selbstgespräch, die Männer sind Gruppe und sie sind Einzelne, sie reden wie mit einer Stimme, aber ihre Stimmen trennen sich auch voneinander, es entstehen komplizierte Satztexturen, Geflechte aus Wörtern, voller Überlagerungen und Irritationen, Verstärkungen und Momenten eines Abgleitens in Altmänner-Gesabber.“40

Unterziehen wir den Chor-Körper, diesen Chor der Alten, einer ersten typologischen Bestimmung, so wird deutlich: Steins Chor ist keine kompakte Masse, er ist filigran und fragil, porös und durchlässig, eher wackelig und gebrechlich auf den Beinen als potent und mächtig, eher verstreut als geschlossen in seinen Formationen. Und dieser Chor ist erkennbar situativ: Mit Stableuchten sucht er sich seinen Weg in den Raum, Beratungstisch und Büroleuchten geben ihm einen markierten Versammlungsort. Aber dieser Chor ist auch identifizier- und wiedererkennbar: eine palavernde Altmännerrunde auf einer südländischen Piazza. Das rückt ihn dem Zuschauer näher. Dessen Verhältnis zum Chor ist räumlich ungewöhnlich und unbequem, denn die Zuschauer lagern auf flachen Stufen, die wie zu einem Hügel ansteigen, im selben Raum, in dem sich der Chor 40 Peter Iden, in: Schaubühne. Am Halleschen Ufer. Am Lehniner Platz 1962-1987, Berlin 1987, S. 279.

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Chor-Körper bewegt. Sie schauen eher von unten zu ihm auf als auf ihn herab. Aber sie sind ihm bzw. einzelnen Figuren des Chores immer wieder nachbarschaftlich nahe. Deren doppeltes Geschäft ist dem Zuschauer eher fremd: Die Choreuten sind als Darsteller dabei, Sinn und Tiefsinn des Aischyleischen Denkens zu ergründen, als Figuren der ORESTIE sich Orientierung zu verschaffen in der Ungewissheit der Lage nach Trojas Fall und Agamemnons Rückkehr. Stein macht nämlich aus der philologischen Not der ,richtigen‘ Übersetzung eine theatrale Tugend: eine Suchbewegung des Chores nicht nur im Gedankenraum. „Die Chorlieder werden nämlich meist vom Chor nicht unisono gesprochen, sondern dialogisch, so dass die verschiedenen Übersetzungsvorschläge für ein griechisches Wort oder einen Satz von je verschiedenen Personen wie unterschiedliche, leicht nuancierte Meinungen gesprochen werden, das Ganze weniger dicht erscheint.“41

Abb. 3: Peter Stein: DIE ORESTIE, Berlin 1980

Dieser Chor betreibt nicht nur „nachhallende[s] Nachdenken“42, er geht im buchstäblichen Sinne den Gedanken nach, in Schritt und Bewegung, in Haltung und Ton. Er ist jenseits einer exzessiven Körperlichkeit, die in den achtziger und neunziger Jahren als

41 Martin Schmidt/Franzjosef Schuh: „Bericht über die Aufführung der Orestie des Aischylos durch die Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin“, in: Hephaistos: new approaches in classical archeology and related fields, Bd. 3 (1981), S. 133. 42 Ebd. S. 138.

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Der kollektive Prozess des Theaters Körpertheater plakatiert wurde, der empirische Beleg für Steins Behauptung anlässlich seiner Moskauer ORESTIE, „dass ein Gedanke, auf ein Ziel gerichtet, sämtliche Körperteile, sämtliche physischen und psychischen Reaktionen ausrichtet, versträngt, auf einen Weg setzt und Ruhe bringt“43. Die Kraft des Chores aus der Ruhe der gedanklichen und körperlichen Anspannung setzt Stein vor allem im Chor der Alten frei. Abb. 4: Peter Stein: DIE ORESTIE, Moskau 1994

An den Chören der Frauen (Chor der Frauen des Hauses, Chor der Erinyen) macht Stein und der Zuschauer eine andere Entdeckung: Chorische Emotionalität wird dort zum Problem, wo sie sich nicht allein auf die Rationalisierung der Emotionen verlassen kann, die in den, so Stein, „extrem kopfige(n)“44 griechischen Tragödien vertextet sind. Deutsche und russische Schauspielerinnen sind zunächst auf sich allein gestellt, wo es um die Erfüllung eines Klagerituals geht, für das der Antike rituelle Formen zur Verfügung standen, die in ihrer Lebenswirklichkeit Sitz und Funktion hatten. In der theatralen Gegenwart helfen deren Rekonstruktion wenig, denn was wäre zu rekonstruieren. Die qualitative Differenz der weiblichen Chöre in der Berliner und Moskauer Inszenierung ergeben sich also vor allem aus soziokulturellen, mental- und körpergeschichtlichen Unterschieden, 43 Peter Stein: „Das Nichtverstehen aushalten“, in: Dagmar und Jochen Hahn (Hg.), Aischylos, München 1994, S. 57. 44 Ebd.

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Chor-Körper weniger aus dem schauspieltechnischen Rüstzeug der Darsteller. Die Stanislawski-Fragen der russischen Schauspielerinnen „Zu wem sagen wir das?“ oder „Warum sagen wir das?“ sind europäische Standards. Different zur deutschen aber ist die Körperlichkeit und Emotionalität der Russinnen, die Stein sicher sein lässt, „die in dem Stück vorgegebenen Emotionen tatsächlich direkt umzusetzen“. „Es gibt keine Schauspieler außer den russischen, die sich so unglaublich rührend anfassen können! Und diese Art von Feinfühligkeit und realem Durchformen – was die Hände machen an den Körpern, wechselseitig – wo gibt es sowas?“45 Steins Lizenz an die Chorfrauen, „soviel Emo rein zu pumpen, wie sie wollen“, in die Reden, Gedanken und Körperhaltungen des Chors, ist also keine Anweisung an eine psychohydraulische Individualtechnik der Schauspielerinnen. Stein vertraut auf basale Voraussetzungen der russischen Sozialisation und Kultur. Seine lakonische Antwort auf all die Begründungsfragen der russischen Choreutinnen lautet: Sie seien eben „Pleureusen“. „Ihr seid dafür bezahlt. Ihr seid Trauerfrauen, deswegen weint man halt. So wie's das heute überall noch gibt.“46 Die Behauptung zeigt provokativ scharf, welcher Chor-Körper uns heute nicht mehr zur Verfügung steht: nämlich der rituell-religiös geformte. Dass der Regisseur den russischen Frauenchor dennoch zum anrührenden chorischen Erfolg brachte, verdankt er der Tatsache, die in der Rede von der russischen Seele Klischee geworden ist, die sich in der Aufführung im psycho-physischen Wechselspiel der Hände und Körper ausdrucksvoll und lebendig, von Stein zu Recht bewundert, optisch ausformt.

T ANZ -

UND

A UGEN -K ÖRPER (M NOUCHKINE )

„Die Tragödie tanzt, das Theater fliegt“47 war der Jubelruf des Kritikers Benjamin Henrichs zehn Jahre später, in den der Rezensenten-Chor damals fast unisono einstimmte. Gefeiert wurde Ariane Mnouchkines und des Théâtre du Soleils Atriden-Inszenierung. Und vor allem ihr Auftakt, wenn der Jubel-Fanchor der jungen Frauen, der die zum Trojanischen Krieg bereiten Krieger bestaunen und feiern will, in Aulis eintrifft. In der Tat: „Mit Luftsprüngen wie

45 P. Stein: „Das Nichtverstehen aushalten“, in: D./J. Hahn (Hg.) 1994, S. 57ff. 46 Ebd. S. 60/63. 47 Benjamin Henrichs: „Die Tragödie tanzt, das Theater fliegt“, in: Die Zeit, 07.12.1990.

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Der kollektive Prozess des Theaters für die Peking-Oper. Mit federleicht rasenden Tänzen wie für eine indisch-orientalische Operette“48 erstürmt dieser Mädchenchor die Szene, angetrieben von der noch rasenderen Musik Jean-Jacques Lemêtres. Die Wieder- und Neugeburt der antiken Tragödie aus dem Tanz- und Musikrepertoire der Weltkultur? Oder doch ein „Folklore-Abend“, wie ein einsamer Kritiker mäkelte? Er hat freilich unrecht mit seiner Behauptung, die große Regisseurin demonstriere hier, dass sie das Theater der Welt und seine Traditionen kennt, die östlichen Schauspieltechniken beherrscht und dabei „konsequent die eigenen Wurzeln“49 leugnet. Ariane Mnouchkine verfolgt ein ganz anderes Ziel, wenn sie ihre Figuren in bunt-exotische Kostüme steckt und im ungewohnten Rhythmus tanzen lässt. Sie macht die antike Tragödie mit diesen Theaterformen fremd, rückt das blutige Geschehen erst einmal weg vom Zuschauer, freilich in der Absicht, für dieses neue Gegenwart zu gewinnen.50 Und sie sucht dabei nicht allein den vordergründigen Effekt eines mitreißenden Tanzspektakels, sondern eine scheinbar paradoxe These in theatrale Präsenz zu verwandeln: „Ich glaube, die Griechen konnten den Schmerz singend und tanzend ausdrücken und damit eine Anrufung des Todes zum Ausdruck bringen. [...] Wir arbeiten an Schrecken und Verzückung. Das ist für mich ein Kernstück der antiken Tragödie.“51 Ariane Mnouchkine ist den Beleg für diese Behauptung theatral nicht schuldig geblieben. Und sie hat all die tiefen und tiefsinnigen Einsichten ihrer Übersetzerin und Dramaturgin Helene Cixous im Programmheft, der Chor verkörpere „la passion des passions“52, er sei der Seismograph unserer Körper-Seele, der Körper des Chores werde vom Lauf der Opfer und Sieger zertrampelt, bestätigt und doch in reine Oberfläche und schier körperlose Leichtigkeit verwandelt. Das konnte gelingen, weil die Regisseurin die Tiefe dieser Einsichten nicht beweisen wollte. Gleichsam auf gleicher Augenhöhe mit ihren tanzenden Chor-Frauen, ebenso unschuldig und naiv staunend wie sie, gibt Mnouchkine sich der Situation 48 B. Henrichs: „Die Tragödie tanzt [...]“, in: Die Zeit, 07.12.1990. 49 Bernd C. Sucher: „Iphigenie auf Bali“, in: Süddeutsche Zeitung, 10.12.1990. 50 Vgl. Anton Bierl: Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne. Theoretische Konzeptionen und ihre szenische Realisierung, Stuttgart 1999, S. 55f. 51 Ariane Mnouchkine: „Wir arbeiten an Schrecken und Verzückung", in: Theater heute 6 (1991), S. 9. 52 Helene Cixous: „La Communion des Douleurs“, in: Théâtre du Soleil (Hg.), Les Atrides, Paris 1990.

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Chor-Körper und dem Geschehen der Tragödie hin, um genau so wie ihr Chor zu Tode zu erschrecken über das, was in Aulis und später in Argos geschieht. Abb. 5: Ariane Mnouchkine: LES ATRIDES/IPHIGENIE, Paris 1990

Allerdings, dieser Mädchenchor ist der Seismograph unterschiedlichster Impressionen und Zustände. Er lässt sich immer wieder ganz auf die momentane Situation ein, ist Spielball des Geschehens und vergrößernder Fokus der Ereignisse zugleich: „Entfesselter Begrüßungstanz“53 bei der Ankunft Iphigenies, getanzter Blutrausch zusammen mit der kindlichen Märtyrerin beim Fest ihrer Schlachtung. Hier ist der Chor ebenso Kunstmittel wie das schiere Gegenteil. Sicher: „Rausch und Technik, Ekstase und Handwerk sind eins“54 – aber zu welchem Zweck? Um die Zuschauer zu fesseln, sie in Bann zu schlagen, sie teilhaben zu lassen an Verzückung und Schrecken. „Die Tragödie tanzt – und wir sind der Chor.“55 Um dieses Ziel zu erreichen, hat Ariane Mnouchkine zwei Einsichten konsequent befolgt, d. h. theatral umgesetzt. Die erste, eine dramaturgische: „Der Chor spricht ständig zu den Zuschauern.“ Das tut er in Mnouchkines les artrides, auch wenn er nur schaut und tanzt und den Text durchgehend einer einzigen Chorführerin 53 B. Henrichs: „Die Tragödie tanzt [...]“, in: Die Zeit, 07.12.1990. 54 Gerhard Stadelmaier: „Tanz im Atridenblut“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.1990, S. 29. 55 B. Henrichs: „Die Tragödie tanzt, [...]“, in: Die Zeit, 07.12.1990.

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Der kollektive Prozess des Theaters und Vortänzerin überlässt. Der zweite Grundsatz, der ein Grundgestus des Spiels ist: „Schaut, wie gut ich die Gefühle meiner Figuren zeigen kann.“56 Er gehört zum Reglement der fernöstlichen Schauspielkultur, das Mnouchkine für ihre Inszenierungen nutzt. So dient hier die Schminkmaske nicht dazu, das menschliche Gesicht zu verstecken, sondern um die Mimik zu betonen, jedes „Zucken der Augenbraue“57 zu verstärken. Die Aufführung ist dank dieser Maxime auch ein Augenfest: ein „Schauspiel der Blicke“, ein „Theater des unaufhörlichen Schauens und Staunens.“58 Zwischenfazit: Mnouchkines ChorKörper besteht aus präzise bewegten und deshalb bewegenden Tanz-Körpern und aus einem offenen Schauen, aus AugenKörpern also, die ins helle Licht setzen, was die Seele und Körper bewegt. In der Tat: „Mnouchkine macht die rituelle und psychodynamische Dimension des Chor-Tanzes der Tragödie wieder erlebbar.“59 Das öffnet und vergegenwärtigt eine Seite der griechischen Tragödie, die das Theater der Innerlichkeit, das psychologische Theater in der Tradition des 18. Jahrhunderts, eher verdeckt als zugänglich gemacht hat. Seecks Feststellung, die Griechen betrachteten ihre Tragödie erstaunlich unsentimental, fern von „metaphysischem Selbstmitleid“ und „larmoyanter Selbstgefälligkeit“60, lässt sich szenisch verwirklichen, gibt man sich wie Mnouchkine und ihr Ensemble ganz dem theatralen Augenblick und der sichtbaren Oberfläche der Reaktionen hin. In die Tiefe des Gefühls herabzutauchen, wie ein Diamantensucher, tauge für das schauspielerische Geschäft – so Mnouchkine – nur, wenn man den Edelstein schleife und zum Funkeln bringe. Verkörperung des Gefühls heißt im Théâtre du Soleil, es im Äußeren und im Augenblick sichtbar zu machen und leuchten zu lassen. Den Augenblick theatral einzukreisen, ihn chorisch zu konzentrieren und damit zu vergrößern, schafft die Wirkungsbedingungen für „Schrecken und Verzückung“. Im Gegeneinander unterschiedlicher, herausgehobener Augenblicke, in der ,reinen‘ und gesteigerten Gegenwart des chorischen Spiels wird die Vergänglichkeit

56 A. Mnouchkine: „Wir arbeiten an Schrecken und Verzückung“, in: Theater heute 6 (1991), S. 10. 57 Ebd. S. 9. 58 Benjamin Henrichs: „Könige der Luft “, in: Die Zeit, 06.11.1992. 59 A. Bierl: Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne, S. 62. 60 Gustav Adolf Seeck: „Die griechische Tragödie“, in: Ernst Vogt (Hg.), Griechische Literatur, Wiesbaden 1981, S. 175.

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Chor-Körper um so intensiver erfahrbar, kommt eine „Anrufung des Todes“61 zur kollektiv kathartischen Wirkung. Sie ist nicht nur Befreiung, sondern auch „Geschenk“. „Die Freude, welche aus dem Bejahen der Notwendigkeit des Leidens“62 entsteht, ist bei Mnouchkine und ihrer Truppe eine doppelte. Die Augenlust des Zuschauers am Chor und die Verzückung der Figuren im Chor stürzen in jene Schrecken, die die tragödienspezifische Lust der Katharsis, also körperliche Erleichterung und Befreiung hervorbringt. Schon die vier hier vorgestellten Chor-Variationen, die von Reinhardt, Sellner, Stein und Mnouchkine, zeigen: Der chorische Diskurs der Theaterpraxis bringt eine künstlerische Vielfalt und Eigenart der Chorformen zur theatralen Evidenz, die den imaginären Raum der antiken Tragödie in der Moderne und damit unsere Erfahrungen und Vorstellungen vom antiken Chor differenzierend erweitert.

C HOR

ALS ENERGETISCHER

S PRECH -K ÖRPER (S CHLEEF )

Mit Einar Schleef erwächst dem deutschen Theater in den neunziger Jahren ein Meister und Chefideologe des chorischen Theaters. Von ihm wird die chorische Tradition nicht nur weiter geführt und um seine Version bereichert. Schleef bündelt sie und macht sie zu einer eigenen Theaterform. Theater ist Chor. Theater ist Chor als energetische Einheit, als Skulptur der Körper, als den Raum definierende und meist beherrschende Bewegung und Aktion, als „Droge“63, wie Schleef selbst sagt. Vor allem aber ist dieser Chor Sprech-Körper: Viele sprechen gleichzeitig in stimmlich rhythmischer, in musikalisch komplexer Dynamik.64 Das heißt zugleich, diese chorische Form steht nicht mehr, wie die vorgeführten Beispiele, im Dienst traditioneller Repräsentation einer Handlung, im Wechselbezug zu einem dramatischen Geschehen

61 A. Mnouchkine: „Wir arbeiten an Schrecken und Verzückung", in: Theater heute, 6 (1991), S. 8f. 62 Alessandro Pellegrini: „Theater und Chor“, in: Maske und Kothurn: internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft Bd. 1/1 (1955), S. 274. 63 Einar Schleef: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997, S. 7. 64 Vgl. Ulrike Haß: „Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks „Ein Sportstück“ am Burgtheater durch Einar Schleef“, in: Erika Fischer-Lichte/Christel Weiler/Doris Kolesch (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 79. Vgl. auch: David Roesner: Musik mit den ,Mitteln der Bühne' – Aufführungsanalyse mit den Mitteln der Musik, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 114f.

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Der kollektive Prozess des Theaters der Protagonisten. Der Chor erzeugt sich im Sprechen selbst als Totalität, ist (beinahe) ausschließlich theatrale Eigenrealität, die sich auf der Bühne selbstbewusst darstellt und behauptet, sich dem Zuschauer offensiv konfrontiert und ihn überwältigt. Schleef kehrt eine zweieinhalbtausendjährige Theatergeschichte geradezu um: Sein prädramatisches chorisches Theater macht, wie er programmatisch formuliert, die Diskreditierung des Pathos rückgängig, um die „Verweichlichung und Dekadenz des bürgerlichen Theaters“65 aufzuheben. Damit ist freilich auch ein dialektisches Prinzip in Frage gestellt, das im theoretischen Diskurs unterschiedlich, aber durchgehend von Schiller bis Roland Barthes geltend gemacht wird: die Doppelheit von Logos und Pathos, die in der antiken Tragödie sich wechselseitig steigernd wirksam werden. Die Klarheit forensisch geschulter rhetorischer Rede und Argumentation steht dort ja häufig im Spannungsverhältnis zur poetisch kalkulierten Dunkelheit gerade der lyrische Chöre, wo Sprache, metrisch und rhythmisch dynamisiert, nicht nur eine Körperlichkeit des Sprechens, sondern auch der leiblichen Geste erzeugt. Insofern sind Schleefs Chor-Verwirklichungen, die gleichsam an den Signifikanten-Ketten der Sprache rütteln, die linguistische Ordnung subversiv unterminieren, in einer gewissen, sagen wir, wahrscheinlichen Nähe zu den Sprechsuggestionen des antiken Chors. Abb. 6: Einar Schleef: EIN SPORTSTÜCK, Wien 1998

65 E. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 275.

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Chor-Körper Die griechische Tragödie ist aber auch „Sprachgewalt“66 in einem anderen Sinn: Sie ist gerade in der Rede der Protagonisten aufs klare und deutliche Wort gestellt, ist dort oft auch abstrakter Wort- und Gedankenraum. Freilich, so Schadewaldt, das „Wort der Tragödie ist faktisches Wort“, das „tut und handelt“67. Steins orestie hat diesen Gedanken- und Handlungsvollzug verdeutlichend in Szene gesetzt. Sie haben seine Inszenierung so bestimmt, dass auch seine Chor-Version bei aller Körperlichkeit des Gedankens doch eher im Bereich des Logos verblieb, sein PathosGewinn der Emotionalität der russischen Choreutinnen geschuldet war und sich gleichsam im soziokulturell Habituellen dieser Chor-Frauen erschöpfte. Mnouchkine hat die Visualität und Beweglichkeit nicht nur der Chöre extrem gesteigert. Sie hat damit das Performative und offen Artistische als Basis der antiken Darstellung szenisch bewiesen. Hier war der Chor nicht „beherrschende(s) Wort“, das die Tragödie nach Roland Barthes zu einer „begriffenen Notwendigkeit“68 macht. „Der Tanz der Tragödie“69 war die erfahrene, körperlich sichtbare Notwendigkeit des antiken Dramas. Damit ist die von dem griechischen Regisseur Minotis an die moderne Theaterpraxis gestellte Frage „Pathos und Logos – wie bringen wir beides zusammen?“70 nicht obsolet. Der theatrale Zeitgeist wird sie jeweils anders beantworten und dafür unterschiedliche szenische Lösungen präsentieren. Der Zugewinn der letzten Jahre im Bereich des Pathos ist unübersehbar.

D AS ‚V OLK ‘

ALS CHORISCHER

H ELD (L ÖSCH )

Leiden und Leidenschaft, Affekt und Ausdruck bewegen und charakterisieren in ganz besonderer Weise das Chortheater Volker Löschs, das derzeit Furore macht. Es ist im doppelten Sinn der Anwendungsfall des Schleefschen Chortheaters. Denn die Löschschen Chöre werden einstudiert von Bernd Freytag, einem Choreuten Schleefs, der bei ihm, wie er sagt, „überzeugt und überzeugend“ skandieren lernte, der in „Reihen, Ketten, losen Forma-

66 G. A. Seeck: „Die griechische Tragödie“, in: E. Vogt (Hg.) 1981, S. 148. 67 W. Schadewaldt: Antikes Drama auf dem Theater heute, S. 36. 68 R. Barthes: „Die Macht der antiken Tragödie“, in: J.-L. Riviere (Hg.) 2001, S. 52. 69 P. v. Becker: „Der Tanz der Tragödie“, in: Theater heute 6 (1991), S. 1. 70 S. Melchinger: „Die Nymphen von Epidauros“, in: Theater heute 9 (1963), S. 25.

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Der kollektive Prozess des Theaters tionen“ stand, der „rannte, lief, stand, robbte“ bis er seine eigene Sprache im Chor wiederfand: „Chor geworden konnte ich allmählich Chöre bilden“. Chor-Coach Freytag hat dem Regisseur Lösch schon in seiner Dresdner Inszenierung der ORESTIE jene Wirkungen verschafft, die dieser auf dem Theater gerne anpeilt: „Die Protagonistenrolle hat der Chor in der Orestie. Wir wollen, dass die Bürger aus Argos die Bürger aus Dresden sind“, sagt Lösch und nennt als Begründung „das klare Profil“, das eine solche „soziale Authentizität“ dem Chor verschaffe. Aus dem ästhetischen, dem theatralen Chor-Körper Schleefs wird hier der soziale Chor-Körper, ein Chor der gesellschaftlich Geächteten und Kaltgestellten. Freytag und Lösch gewinnen aus diesem Konzept aber auch ihr Erfolgsrezept: Auf der Bühne machen sie sozial Deklassierte mittels Chor theatral potent. Im bürgerlichen Zuschauerraum erzielen sie damit erstaunliche Betroffenheitswirkungen. Die ‚Herrschenden‘ provozieren sie mit kalkulierten Tabubrüchen zu Eingriff und Zensur (so in Dresden, wo ihnen ein Aufführungsverbot der Hauptmannschen WEBER gelang und in Hamburg, wo es einstweilige Verfügungen gegen die Verlesung einiger der reichsten Hamburger gab) was zu guter letzt aus dem Theater- einen veritablen Medienskandal werden lässt. In dieser sich wiederholenden Abfolge funktioniert Löschs Wirkungs-Erfolgs-Schema, das freilich immer die politische Notwendigkeit solchen Tuns als Schautafel vor sich herträgt: „Wir haben ein Potential von Menschen auf der Bühne, die Zeit und Intelligenz dafür hätten, Politik zu machen. Sie könnten Einspruch erheben. Aber sie spielen in unserer Demokratie keine Rolle. Wo bleibt die Kraft, die wir in den Proben erleben, die Wucht, die drinsteckt in so einem Chor, wo bleibt das auf der Straße? Wir haben 6 Millionen Menschen ohne Arbeit in einer Gesellschaft, die Arbeit zum Fetisch erhoben hat, die den Arbeitsbegriff feiert, wie er nie gefeiert wurde.“71

Dabei ist Lösch nicht nur der derzeit geschickteste Wirkungsluntenleger des deutschen Theaters, sondern auch ein Eklektiker, der weiß, mit welchen Verfahren man das explosivste theatrale Gemisch herstellen kann. Denn neben den chorischen Wirkungen nutzt er Authentizitätseffekte, die vor allem das Freie Theater in den letzten 30 Jahren entdeckt und entwickelt hat. Realitätsimporte in das Theater der Kunst haben inzwischen Hochkonjunk71 Volker Lösch, in: Programmheft „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“, Schauspielhaus Hamburg 2008.

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Chor-Körper tur. Lösch setzt auf ihre gesteigerte Variante: Er macht sie chorisch scharf. Ausgangspunkt ist sowohl bei der Dresdner ORESTIE und DIE WEBER als auch im Hamburger MARAT die Entwicklung authentischer Textfragmente, die dann dem Stück implantiert oder konfrontiert werden. Am Anfang der Chorarbeit stehen Fragenkataloge zur sozialen und privaten Situation der Chormitglieder.72 Wie eine von ihnen bei einer Hamburger Publikumsdiskussion berichtet, sind „Aufsätze zu schreiben“, die auch „genau kontrolliert“ und eingefordert werden. Im nächsten Schritt bearbeiten Lösch und seine DramaturgInnen die authentischen Texte der Choreuten, nach Löschs Aussage freilich immer so, dass dies eine „Fassung ergibt“, „die alle mittragen“. Das ist das Credo dieser chorischen Basisdemokratie, und der Glaube an die ‚gemeinsame Aussage‘ wiederum Teil der erzielten Wirkung. Sie ist bei Lösch zumindest energetisch immer beeindruckend, in ihrer Darstellungs- und Mitteilungsqualität freilich ist sie sehr unterschiedlich. Im Hamburger MARAT gibt es zunächst einen chorischen Prolog der 25 Hartz IV-Empfänger, die für die Aufführung als Chor gecastet wurden. Er zeigt zuallererst deren Hervortreten vor den Vorhang, den Schritt in die Öffentlichkeit, ihr Heraustreten aus der Anonymität ins Licht des Theaters. Es ist ein Auftritt, der sich in wechselnden Formationen gruppiert und addiert – vom ZweierChor bis zu Tutti-Chören. Dabei bündeln sich die Stimmen von vielen Einzelnen, die ihr jeweiliges Schicksal zu jenem aller Beteiligten machen, ohne dass dabei ihre Besonderheit verloren ginge. Sie berichten über große und kleine Probleme, über Alkoholleiden und Depression, über Alltagsnöte wie die Erhöhung der Nudelpreise bei Aldi oder den Sprung im Brillenglas, für dessen Ersatz kein Geld vorhanden ist. Sie sprechen über Selbstmordversuche und Psychiatrieaufenthalt, von ihrem Versuch, sich vom Selbstmitleid zu befreien und dem Stolz, sich nicht aufgegeben zu haben. Der Wechsel der Stimmungen und Probleme korrespondiert mit dem Wechsel der Töne und Haltungen, einem Sprechen, das laut und leise ist, rhythmisch gegliedert oder vielstimmig übereinander geschichtet. Die Kunstfertigkeit des Chors schafft ästhe-

72 Vgl. Stefanie Riedner: Das Volks als Held in Gerhart Hauptmanns „Die Weber“ und in ihrer szenischen Adaption durch Volker Lösch (Staatsschauspiel Dresden 2004), Diplomarbeit Universität Hildesheim 2008, S.44

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Der kollektive Prozess des Theaters tische Distanz, bewahrt Spieler und Zuschauer vor weichen Gefühlen und falschen Glaubensbekenntnissen. Die objektivierende Darstellungsform verleiht diesem Auftakt menschliche Würde und Vielfalt. Kaum ist der Chor aber im fiktiven Politspiel des zweiten Teils, für das der Weisssche MARAT/SADE eher Anlass und Vorwand als Zentrum ist, ändert sich die Chorqualität. In eine riesige Gummizelle mit einem Aldi-Lidl-Logo gesperrt verliert der Chor seine Autonomie. Der vor allem performative Körperchor, der sich in diesem Sperrbezirk des Konsums auszutoben hat, wird durch unsichtbare Regiehand zum symbolischen Chor, dessen Eindeutigkeit nicht nur im neuen Einheitskostüm sichtbar wird: Er darf sich in übergestreiften roten Müllsäcken selbst entsorgen, muss Sozialaerobic treiben unter Anleitung eines systemkonformen Animateurs, gibt zum revolutionären Maratschen Vordergrund einen Chor der Bettlerstatisten oder der Heißhungrigen, die ganze Brotlaibe verschlingen müssen. Jetzt ist der Chor Demonstrations- und Kommentarmasse für die Regie, die ihn mit Wahlplakaten und Konsumgütern aus dem Bühnenhimmel beglückt oder in anlehnender Huldigung an Schleefs SPORTSTÜCK-Inszenierung einen 1-2-3-4-Faustkampfchor vertanzen lässt. Abb. 7: Volker Lösch: MARAT, WAS IST AUS UNSERER REVOLUTION GEWORDEN, Hamburg 2008

Zum bösen Schluss gießen sich die Chormitglieder eimerweise Blut übers eigene Haupt. Als triefende Opfer ihres gesellschaftlichen Martyriums setzen sie an zur berühmt-berüchtigten Auf-

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Chor-Körper zählung der 25 reichsten Hamburger Bürger, exekutieren sie chorisch kunstvoll deren Vermögenslisten aus dem Managermagazin Spezial 2008, inklusive der Nummern jener, die per einstweiliger Verfügung sich von der Verlesung ausgeschlossen haben. Das Publikum dankt ihnen die szenische unterstellte Opferhasstirade aufs Kapital und seine Besitzer mit ergriffenem bis tosendem Beifall. Dem Chor der Hartz IV-Empfänger gelingt, wovon Nietzsche träumte, die Verschmelzung von Spielern und Zuschauern im gemeinsamen Taumel, allerdings nur in der antikapitalistisch trivialen Variante. So siegt an diesem Theaterabend in gemeinsamer Wechsel-Empathie das Gute, die Moral. Freilich, so ist zu vermuten, nur für begrenzte Zeit in den Mauern des ehrwürdigen Hamburger Schauspielhauses. Außerhalb, auf dem Bahnhofsvorplatz, wird das „noch ganz benommene“73 Publikum kaum einen der dort vorzufindenden Hartz IV-Empfänger zum Nachtheaterbesuch beim Edelitaliener einladen.

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Kehren wir zurück zur Energie des Chors, die ihn zum Kraftzentrum aller chorischen Theaterformen macht. Eine verlässliche Größe für Praktiker und Theoretiker des Chors ist dabei der Rhythmus. Schon Schiller hatte „die Macht der antiken Tragödie“74 an diesem Punkt verortet: Die „sinnlich mächtige Masse, welche durch ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert“, entsteht aus der „sinnlichen Macht des Rhythmus“.75 Hat ihn die deutsche Klassik vor allem in ihre Versformen gebannt und in der Sprache wirksam gemacht, hat Nietzsche ihn in der Projektion der dithyrambisch beflügelten Satyrn als kulturkritische Vision vor Augen, gewinnt er in der Moderne und Postmoderne zunehmend an szenischer Realität und Wirksamkeit. In den sechziger Jahren hat Benno Besson bei seiner legendären ÖDIPUS-Inszenierung unter Anleitung afrikanischer Partner und deren Erfahrungen mit Ritualtänzen „die Funktion des Rhythmus als etwas, das Individuen zusammenführt“ erkannt: so bedeute ein Chor von zehn Schauspielern „eine Kraft, die viel stärker

73 Zuschauerzitat aus dem Publikumsgespräch nach der Aufführung am 13.05.2009, Schauspielhaus Hamburg. 74 R. Barthes: „Die Macht der antiken Tragödie“, in: J.-L. Riviere (Hg.) 2001, S. 40. 75 F. Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: K. Hammer (Hg.) 1968, S. 479.

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Der kollektive Prozess des Theaters ist als die Summe der Teile“.76 Für heutige Regisseure ist dieser Sachverhalt theatral selbstverständlich und ins alltägliche szenische Kalkül genommen. Sebastian Nübling, der mit I FURIOSI und EDWARD II zwei körperlich und musikalisch hochartistische Chor-Inszenierungen jenseits der antiken Tragödie realisiert hat, führt die „energetische Intensität“ und das „hohe emotionale Niveau“ des Chores ganz selbstverständlich auf den Rhythmus und seine praktische Handhabung in Übungen und Aufführungen zurück: „Verbindendes Element zwischen Individuum und Gruppe ist der Rhythmus“.77 Aus ihm entsteht szenisch konkret die energeia, die Körper und Seele in Gang bringt. Der Rhythmus verwandelt das Theater in den „Raum einer augenblicklichen dynamischen Bewegung“.78 Er wird aber auch zur sinnstiftenden, weil verbindenden Kraft zwischen den ChorMitgliedern.79 Zudem hat der Rhythmus entscheidenden Anteil an dem, was George Steiner „die semiotische Totalität des Chors“ nennt. Die „ganze Skala geistigen und körperlichen Ausdrucks“80 –Worte, Mimik, Geste, Gesang und Tanz werden rhythmisch zusammengeführt und gestärkt, aber auch differenziert und kontrastiert. Das ist mehr als nur formale Organisation. Es bedeutet, was Nietzsche, Schleef und Steiner ganz ähnlich artikulieren und favorisieren: den „Rückzug [...] aus der Individuation, den Heimlichkeiten und der Rationalität des Wortes“.81 Und entsprechend heißt es bei Nietzsche: „Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung all seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt.“ Die neue Welt der Symbole, die Nietzsche für nötig hält, ist die ganze „leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde“.82

76 Gespräch mit Benno Besson und Karl-Heinz Müller, in: Dieter Kranz (Hg.), Berliner Theater, Berlin 1990, S. 126. 77 Sebastian Nübling: „Chorisches Spiel I und II“, in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim 1998, S. 63f./83. 78 W. Schadewaldt: Antikes Drama auf dem Theater heute, S. 41. 79 Vgl. David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Tübingen 2003, S. 161ff./183ff. 80 G. Steiner: Die Antigonen, S. 313. 81 Ebd. S. 209. 82 F. Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in: K. Schlechter 1980, S. 28.

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Chor-Körper Das scheint nahezu übergangslos und unvermittelt anzuschließen an Theorie-Diskurse, aus denen sich die Theaterwissenschaft versorgt. „Nach Kristeva ist der Rhythmus zentrales Element der Semiotisierung des Symbolischen“, stellt Miriam Dreysse Passos de Carvalho fest und appliziert diese Theorieposition, nach der die vorsprachlichen Triebenergien sich in die symbolische Ordnung einschreiben, auf Schleefs chorischen „KunstKörper“, in dem „widerstreitende Rhythmen“ die „Spannung zwischen (symbolischer) Kontrolle und ihrer (semiotischen) Revolutionierung“83 zum Ausdruck bringen. Freilich, darin steckt nicht nur bei Schleef die „Ambivalenz von lustvoller Anverwandlung und aggressiver Fremdheit“84 im chorischen Umgang mit dem Text, die, wie ein Schleefscher Choreut85 formuliert, die Sprecher umstülpe. Chor-Körper schaffen Klangräume und konstituieren einen spezifischen Körperraum. Ihr „Spacing“ und ihre „Syntheseleistung“86, wie die Raumsoziologen sagen, geschieht nicht zuletzt durch rhythmische Relationierung und Bindung. Die rhythmische Bindung der einzelnen Menschenkörper zum Chor-Körper macht „Leiblichkeit als Grundmodus“ menschlicher Existenz in besonderer Konzentration und Stärke auf dem Theater erfahrbar. Merleau-Ponty geht generell von einer „präreflexiv gegebenen ,Zwischenleiblichkeit (intercorporéité)‘“ aus und meint damit das psychophysische Feld, das zwischenmenschliche Beziehungen und Begegnungen erst ermöglicht. „Zwischenleibliche Resonanz“ ist das Beziehungs- und Kräftefeld des Chores. Und sie fungiert hier in einer speziellen Version: als „mimetische Resonanz“. Das meint, sie beruht „auf der erlebten Ähnlichkeit, die der Leib zum Leib des ändern herstellt“: über Mit-Leiden, über Bewegungsanmutungen, über „Einleibungen“.87 Mimetische Einleibung ist freilich nicht auf die Choreuten beschränkt. Auch der Zuschauer wird, was schon Nietzsche gefeiert hat, über den mimetischen Prozess zum Chor. Reinhardts „Theater der Fünftausend“ ist eine der möglichen theaterpraktischen Varianten, die diesen Vorgang nutzen. Wiederum befördert der 83 Miriam Dreysse Passos de Carvalho: Die Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs, Frankfurt a. M. 1999, S. 156f. 84 D. Roesner: Theater als Musik, S. 219. 85 Bernd Freytag in: „Die Orestie des Aischylos“, Staatsschauspiel Dresden (Hg.), Programmheft Spielzeit 2003/2004, S. 14. 86 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S.158ff. 87 Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart 2000, S. 64/20/246f.

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Der kollektive Prozess des Theaters Rhythmus die mimetische körperliche Übertragung (was übrigens schon der simpelste, der Marschrhythmus, jedem erfahrbar macht). So kann man die Formulierung vom antiken Chor „als höchst geschmeidiges Element“88 verlängernd präzisieren: Der Chor ist ein höchst variables theatrales Medium, das alle Anwesenden vor Ort räumlich einbinden und körperlich beteiligen kann. Er ist in der Tat „eine Art Zugbrücke“89 die mit metrischen und choreographischen Mitteln die Zuschauer physisch affiziert und ins Spiel zieht, die Nähe aber auch wiederum jederzeit in Distanz verwandeln kann. Seine strukturelle Doppelheit, seine mögliche Ambiguität hat Schiller im folgenden Satz nachgebildet: „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung.“90 Der heutige, der prä- oder postdramatische Chor, scheint dem Chorischen eine neue Qualität hinzuzufügen. Er ist nicht nur die Attacke auf traditionelle und vertraute Darstellungsnormen eines psychologischen Protagonistentheaters. Er stellt auch tradierte Körper- und Gesellschaftsbilder in ein neues, fremdes Licht. Die überkommenen Vorstellungen zum Beispiel von der Einheit und Ganzheit des einzelnen Körpers, seine Abgeschlossenheit und Konsistenz, die der Ideologie vom autonomen Individuum korrespondiert, haben in den letzten Jahren vor allem bildende Künstlerinnen in Frage gestellt. „Zergliederung“ und Fragmentierung des Abgebildeten, Veränderungen, ja Verstümmelungen des eigenen Körpers waren das ästhetische Untersuchungsprogramm. Von besonderem Interesse sind dabei die „Bruchstellen“91, so als wollte man genauestens prüfen, was es mit der körperlichen Verdinglichung unserer Tage auf sich hat, so in der Body-Art seit den 70er Jahren bei Valie Export, Marina Abramovic oder Orlan. Das Theater, so mein Deutungsvorschlag, reagiert im selben gesellschaftlichen Kontext mit dem chorischen Zusammenschluss vieler Körper, mit dem Chor-Körper. Er ist und bedeutet Ausdehnung, Vergrößerung, Erweiterung. Er kann dabei fragil oder massiv, durchlässig oder kompakt, starr oder dynamisch sein. Im Chor und mittels Chor wird der Körper als offenes und geschlossenes System erlebt, als fluides und festes Medium sicht- und erfahrbar. Der Vergrößerung durch den Chor steht wiederum die Verklein-

88 G. Steiner: Die Antigonen, S. 208. 89 Ebd. 90 F. Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, in: K. Hammer (Hg.) 1968, S. 480. 91 M. Löw: Raumsoziologie, S. 115.

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Chor-Körper erung, die Minimierung, die Konzentration des Chores auf einen Punkt gegenüber: Bündelung und gemeinsame Fokussierung, metrische Organisation und symbolische Disziplinierung schaffen gemeinsame Energie, erhöhen die Präsenz. Deswegen, aber auch wegen der damit verbundenen Ordnung, sind Chöre zuweilen auch bedrohlich und furchterregend. Chorische Kunst-Körper suchen deshalb die Mobilität, ihre Veränderbarkeit und Dynamik im Raum. Deshalb ist Rhythmisierung und Musikalisierung nicht nur Zutat und Voraussetzung. Sie ist die Essenz des modernen Chores. Klang- und rhythmische Vielfalt, musikalische Komplexität sind die belebenden, ja zuweilen subversiven Gegenkräfte zur starren Formation und rigiden Disziplinierung von Körpern. Sie realisieren, gleichsam nebenbei, auch die utopische Dimension chorischer Gemeinschaft, die freilich auf der Bühne nicht nur in der Gegenwart, sondern wohl auch schon in der Antike verwirklicht wurde.

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Theater als Chor Das Thema Theater als Chor ist aus der wissenschaftlichen und praktischen Beschäftigung mit dem Theater an der Hochschule entstanden. Ich beziehe mich dabei speziell auf ein dreisemestriges Projekt, das die szenische Erarbeitung einer antiken Tragödie zum Gegenstand und Ziel hatte: DIE HIKETIDEN des Aischylos. Generell will ich an diesem Beispiel zeigen, warum die Beschäftigung mit einem Chorstück als Reflexion über die soziale Kunstform Theater wichtig, ja, mit Blick auf die gegenwärtige Theatersituation mir notwendig erscheint. Gefragt wird nach Bedingungen von Theater, vor allem danach, was die soziale Interaktion auf dem Theater ausmacht und inwiefern sie im Chorstück in besonderer und zugespitzter Weise zutage tritt. Dabei ist zu klären, ob Chöre für uns heute überhaupt noch möglich sind und wenn ja, in welcher Form. Dies kann sowohl am szenischen Ergebnis auf der Bühne als auch am Entstehungsprozess, also dem Probenvorgang, sichtbar und geprüft werden. Dabei geht es mir um die Theaterpraxis einer Praktischen Theaterwissenschaft am Beispiel einer griechischen Tragödie und um ein Modell, das das bestehende Theater herausfordern kann. Dass das gegenwärtige Theater in der Krise ist, kann nicht damit beantwortet werden, eben dies sei ein Zeichen seiner Lebendigkeit und außerdem sei Krise geradezu ein Kriterium des Theaters selbst. Schaut man auf das deutsche Stadt- und Staatstheater, so ist häufig ein Missverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis zu konstatieren. Das sog. szenische Aufbrechen der Klassiker ist inzwischen oft Konvention oder solistischer Profilierungsversuch der Regisseure, der nicht immer zu neuen Einsichten über Vergangenes oder die eigene Gegenwart verhilft. Aber auch der hoffnungsfrohe Aufbruch des Freien Theaters Ende der siebziger Jahre, seine Negierung des Stadttheatersystems und des Literaturtheaters ist zum Stillstand gekommen. Die Entdeckung und Erprobung der performativen Möglichkeiten des Theaters, seiner ‚Körper- und Bildersprachen‘ wurde zunehmend zum Selbstzweck. Auf der Strecke geblieben sind brisante Themen

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Der kollektive Prozess des Theaters und Sujets, ist die Auseinandersetzung mit dem Publikum und der Gesellschaft. Hier wie dort wird sichtbar, dass es kein überzeugendes, gemeinsames Verständnis vom Sinn des Theaters gibt. Undeutlich ist, für wen oder gegen was man spielt, worüber und mit wem man am Theaterabend in einen Dialog treten will. Die Hamburger Dramaturgin Stefanie Carp schreibt im Vorschauheft für die Spielzeit 95/96 des Deutschen Schauspielhauses: „Das Theater hat keinen Entwurf. Es kann auch nicht ersatzweise einen herritualisieren. Es kann zeigen, wie es ist: das Disparate [...] Alles andere ist eine abstrakte Behauptung, durch keine Erfahrung konkretisiert. ‚Die alten Stücke gehen nicht mehr, aber die neuen auch nicht‘“.1

Summarisch lässt sich sagen: Sowohl die organisatorische als auch die inhaltliche Verfassung des gegenwärtigen Theaters zeigt, dass die soziale Interaktion, auf der Theater basiert, häufig gestört ist, und zwar auf vielen Ebenen: auf der zwischen Theatermachern und Publikum, Theater und politischer Öffentlichkeit, vor allem aber innerhalb des Theaters und seines Produktionsvorganges selbst. Eben dies macht es sinnvoll, über die sozialen, die dialogischen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Theaters mit Hilfe und anhand eigener Theaterpraxis nachzudenken. Zu überprüfen ist, ob Theater aus dem Austausch der Spieler entsteht und möglich ist, ob die gemeinsame Interaktion Licht auf den Vorgang des Theaterspielens werfen kann und damit zugleich die im Stück gestellten Fragen erhellt. Dass dies am Beispiel einer antiken Tragödie versucht wurde, sollte nicht als Zuflucht zum Klassisch-Bewährten missverstanden werden. Es gab dafür verschiedene Gründe, zunächst einen ganz pragmatischen: Wo Gleichheit und Gleichberechtigung formale Voraussetzungen des Theaterlernens und Theaterspielens sind und nicht die Leistung des Einzelnen im Vordergrund steht, liegt es nahe, sich chorischer Formen zu bedienen, sie zu erproben und zu untersuchen. Die Ausgangsbedingung, keine Schauspieler für das herkömmliche Theater auszubilden, öffnet und schärft den Blick für das, was Theaterspiel als soziale Kunstform charakterisiert: Die Kollektivität des Produzierens und Spielens, die Wahrnehmung, Erfahrung und Aktivierung des Spielers und Spielpartners im „zwischenmenschlichen Bezug“.2 1 2

Stefanie Carp: „Die Stunde Null oder die Kunst des Servierens“, in: Schauspielhaus Magazin Nr. 8, Spielzeit 95/96, Hamburg 1996, S. 9. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt 1963, S. 14.

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Theater als Chor Dieser zwischenmenschliche Bezug, den Peter Szondi in seiner Definition des Dramas als Kern des Dramatischen festgehalten hat, mag im modernen Drama in Frage gestellt sein und in der postdramatischen Theaterästhetik als überholt gelten. Theaterpraktisch ist und bleibt er Zentrum des realisierten Spiels. Jedes zur rechten Zeit gegebene Stichwort, jede gemeinsam getroffene und von den Spielern eingehaltene Verabredung belegt dies ganz konkret und verweist darauf, dass soziale Übereinkünfte, die der Spieler mit seinen Mitspielern eingegangen ist, erst die Plattform schaffen, auf der die Freiheit des Spiels und die Freiheit des Einzelnen im Spiel möglich wird. Diese Tatsache wird im Theater der Protagonisten – und als solches versteht sich das etablierte Theater ja noch immer – durch verschiedene Bedingungen geschmälert. Schon die Ausbildung des Schauspielschülers hat vor allem die Einzelleistung im Blick und zum Ziel. Das Rollenstudium soll den Absolventen am Ende instand setzen, sich mit einer meist auf Einzelfiguren beschränkten Vorsprechnummer das begehrte Engagement zu verschaffen. In seiner kritischen Bestandsaufnahme des westdeutschen Theaters hat Jürgen Hofmann, wie ich finde, zutreffend beschrieben, welches Selbstverständnis das Theater der Protagonisten bis heute prägt. Ein Theater, das den Schauspieler „als außergewöhnliche Persönlichkeit ‚serviert‘“, ihm aufgrund der gespielten Einzelrollen, ihrer psychischen Vielfalt und Komplexität den Status zumindest „fiktiver Prominenz“ verleihe, verleitet ihn zu der Annahme, sich als „einzigartiges Individuum“ fühlen zu können oder zu müssen. Ein Theaterbetrieb, in dem sich zumindest äußerlich, von der Kostümbildnerei bis zur Werbung, alles um den Darsteller dreht, behauptet eine „Zentralität“ des einzelnen Schauspielers, die die skizzierten sozialen Grundbedingungen des Theaterspielens schwächt oder vergessen macht. Verschärft wird diese Tatsache durch die Konkurrenz, die den Theateralltag noch entschiedener und offenkundiger prägt als die ihn umgebende soziale Wirklichkeit. „Der Zwang zum Übertreffen des Mitspielers bzw. RollenMitbewerbers und der Hang zum Erspielen des Erfolgs durch die Überwältigung des Zuschauers gehen als latente Disposition in die Aufführung ein.“3 Beides führt oft zur Schwächung oder gar Missachtung der gemeinsamen Sache und Spielaufgabe, die von allen Mitspielern, den Darstellern von Haupt-, Neben- und Randfiguren getragen sein muss, soll sie als Ganzes gelingen.

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Jürgen Hofmann: Kritisches Handbuch des westdeutschen Theaters, Berlin 1981, S. 207ff./S. 216.

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Der kollektive Prozess des Theaters Die Dramaturgie, die Machart, die Hierarchie der klas-sischen Dramen, die ja bis heute einen großen Teil der StadttheaterSpielpläne bestimmen, hat diese Dominanz des Protagonisten mit hervorgebracht und gefördert. Das Theater der Protagonisten hat seine Herkunft und Entsprechung im Drama der Protagonisten, wie es sich seit der Renaissance herausgebildet hat. Freilich auch dort, wo die außergewöhnlichen Individuen aufeinandertreffen, extrem widersprüchliche Positionen Einzelner gegeneinander ins Feld geführt werden, sich Figuren widersprechen oder gar befehden, geht dies nur auf der Basis des gemeinsamen Spiels. Der Gegner auf der fiktiven Ebene des Stückes ist und bleibt der Partner auf der darstellenden Ebene des Spiels. Selbst extreme Vereinzelung kann nur durch Gemeinsamkeit hergestellt und sichtbar gemacht werden, ja, auch die Katastrophe des einzelnen ist ein konstruktiver Akt gemeinsamer Darstellung. Nur wenn der Protagonist dem mitspielenden Antagonisten Platz und Raum gibt, ihm Reaktion und Widerspruch ermöglicht, ihn durch Wahrnehmung und Aufmerksamkeit in Szene setzt und ins Spiel bringt, kann sich Theaterspiel entfalten. Das gilt selbst für Formen des postdramatischen Theaters, wo die Performer eher die direkte Konfrontation mit dem Publikum suchen als den Partner- und Figurenbezug auf der Bühne. In diesem ausgeweiteten Sinn enthält Theaterspiel also immer Chorisches. Die Tatsache freilich, dass auf dem Theater nichts allein und ohne den anderen geht, berechtigt noch nicht, vom Chor in einem spezifischen Sinn zu sprechen. Vom Chor sprechen wir in der Regel erst dann, wenn die Gleichgerichtetheit des Tuns vieler Personen für alle sinnfällig wird, sichtbar für Schauspieler und Zuschauer, wenn gemeinsames Tun zur Form der Darstellung auf dem Theater wird. Das ist, wie wir wissen, im antiken Theater der Griechen in besonderer und herausragender Weise der Fall. Hier hat die Gemeinschaft das Individuum, der Chor den Protagonisten hervorgebracht. Und dieses Theater, seine Tragödien und Komödien, haben dieses Verhältnis immer wieder neu, in tradierten Stoffen und wechselnden Figuren und Gruppenkonstellationen, zur Anschauung gebracht und damit szenisch reflektiert. Der Protagonist ist hier nicht ohne Chor denkbar, sowie umgekehrt der Chor ohne Protagonist seine Eigenheit nicht entfalten und zeigen könnte. Die Entscheidung, heute ein antikes Stück, eine griechische Tragödie oder Komödie zu spielen, sie szenisch zu vergegenwärtigen, ist also nicht nur die Entscheidung für ein bestimmtes Sujet

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Theater als Chor oder Thema, das im Stück zur Sprache kommt und dargestellt wird, sondern enthält vor allem die Absicht und Spielaufgabe, über das Verhältnis Protagonist/Chor, über das von Individuum und Gemeinschaft szenisch nachzudenken. Hier beginnen freilich auch die Probleme, die den Reiz und die Anstrengung dieser Aufgabe ausmachen. Wenn Schiller in seiner Vorrede zur BRAUT VON MESSINA, wo er über den Gebrauch des Chors in der Tragödie reflektiert, feststellt, „der neuere Dichter findet den Chor nicht mehr in der Natur“, der Chor folge ihm nicht mehr wie in der alten Tragödie „aus der poetischen Gestalt des wirklichen Lebens“, so hat er damit auch die grundlegenden Schwierigkeiten benannt, heute ein Chor zu sein. Verkürzt und pointiert gesagt: Heute gehen einzelne Individuen den Chor ein, ohne das Fundament einer gemeinsamen Lebensform und Begründung zu haben. Ist der Chor der Antike sichtbarer Ausdruck religiöser Bindung und politischer Gemeinschaft, so kann er in der Moderne nur noch, wie Schiller sagt, „Kunstorgan“4 sein, ein gewolltes Konstrukt also. Als solches hat ihn Schiller verstanden und eingesetzt, aber nicht zu neuem Leben erweckt. Der Umgang mit dem Chor der griechischen Tragödie auf der aktuellen Theaterszene hat häufig zu ähnlichen Ergebnissen geführt: „Im westdeutschen Theater sind die Chöre in den sechziger Jahren aus den Aufführungen der Griechen-Stücke verschwunden, als die Einsicht sich durchsetzte, daß deren starke Formvorgaben allenfalls noch von einer einzelnen, den Chor vertretenden Person mit Leben erfüllt werden könnte, nicht aber (wie noch bei Sellner) von großen Gruppen, die über eine hohle Künstlichkeit kaum hinauskommen.“5

Kann der Chor als Einheit Vieler, und nicht geschrumpft auf einen Einzelnen, mit Leben erfüllt werden und wie kann er das? Die theoretische und spielpraktische Auseinandersetzung mit den HIKETIDEN des Aischylos hat sich von Anfang an an dieser Frage gerieben. Im Protokoll einer Konzeptionsdiskussion heißt es:

4

Friedrich Schiller: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“

5

(1803), in: Klaus Hammer (Hg.), Dramaturgische Schriften des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 478. Peter Iden: „Chorisches Kunstgebrüll, ‚Die Mütter‘ – Einar Schleefs Griechen-Montage gescheitert“, in: Frankfurter Rundschau, 24.02.1986. Das ändert sich erst im Theater der neunziger Jahre, wie im folgenden Beitrag: „Chorisches Theater der Neunziger Jahre“ dargestellt wird.

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Der kollektive Prozess des Theaters „Wie ist ein Chor überhaupt möglich? Ist er uns überhaupt möglich? Die Gebundenheit, das heißt Religiosität eines Chores ist unserer Lebensart fremd. Wenn wir nicht dressierte Frauen zeigen wollen, die etwas tun, was sie sonst nie tun würden, müssen wir einen Weg finden, auch zu zeigen, was für Schwierigkeiten es bereitet, ein Chor zu sein.“6

Die Schwierigkeiten, die es heute bereitet, ein Chor zu sein, sind – das hat sich in den Proben deutlich gezeigt – in der Tat beträchtlich. Nur mühsam tastet sich das Individuum heute zurück zum Chor. Gerade deshalb ist dieser Weg voller Entdeckungen und Erfahrungen. Die Schwierigkeiten sind aber nicht nur spielpraktischer, sondern vor allem auch historischer Art. Chöre begegnen uns in der Moderne eher in missbräuchlicher Form: als formierte Massen im Marschrhythmus, als gleichgeschaltete Meute, die die Verantwortlichkeit des Einzelnen außer Kraft setzt. Chor ist oft das Terrain der Mitläufer und Trittbrettfahrer oder ein Raum für Allmachtsphantasien und blinde Gewalt. Chor kennen wir als Staffage und Resonanzboden der Führerprotagonisten, er kann Gleichmacherei und Erstarrung bedeuten, den Einzelnen als Teilchen funktionalisieren, so wie das Siegfried Kracauer am Beispiel der Tillergirls, jener beineschwingenden Revuetruppe der 20er Jahre, in seinem Essay DAS ORNAMENT DER MASSE beschrieben hat.7 Damit ist abgesteckt, was ein Chor heute nicht sein sollte: weder unisono noch unimental, und schon gar nicht blind und verantwortungslos machend. Das Heraus- und Hervortreten des Einzelnen aus dem Chor, sein Zurücktreten in den Chor zeigen szenisch vielleicht am anschaulichsten, wie ein heutiger Chor sein kann und seine Mitglieder seine Einheit und Eigenheit erfahren und reflektieren. „Das Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv, das in der chorischen Arbeit sichtbar werden soll“8 – so die Forderung eines anderen Konzeptionsprotokolls – gewinnt in diesem Vorgang szenisch deutliche Gestalt. Denn es geht dabei um die Bedingungen und Kriterien, ‚Ich‘ und ‚Wir‘ zu sagen, ‚Ich‘ und ‚Wir‘ zu sein. Der Chor wird in seiner individualitätsstiftenden, der Einzelne in seiner gemeinschaftsbildenden Kraft sichtbar. Nehmen wir als Beispiel die erste Begegnung zwischen Pelasgos, dem König von Argos, und den Hiketiden. Die HIKETIDEN das sind 6

Unveröffentlichtes Protokoll vom 04.07.1986.

7

Vgl. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt 1963, S. 50ff. Unveröffentlichtes Protokoll vom 06.06.1986.

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Theater als Chor Danaos mit seinen fünfzig Töchtern, genannt die Danaiden, und deren Mägde. Sie alle sind „Schutzflehende“ und suchen Asyl in der griechischen Stadt Argos, aus der einst ihre Ur-Ahnin Io, verfolgt von der Begierde des Zeus und Heras Eifersucht, nach Ägypten floh. Die Frauen sind auf der Flucht von Ägypten nach Argos, auf der Flucht vor der drohenden Zwangsheirat mit den fünfzig Söhnen ihres Oheims Aigyptos. Das Ziel ihrer Flucht ist die Aufnahme in Argos, der Heimat ihrer Ahnin Io. Durch ihre Schutzbitte gerät Pelasgos, der König von Argos, in einen ausweglosen Konflikt: Gewährt er den Danaiden Schutz, so droht unweigerlich der Krieg mit den Aigyptossöhnen, verwehrt er jedoch die Aufnahme der Schutzsuchenden, so verstößt er gegen das von den Göttern geheiligte Asylrecht. Abb. 8: DIE HIKETIDEN DES AISCHYLOS, Hildesheim 1987

Wir sehen die jungen Frauen bei der ersten Begegnung mit Pelasgos in exterritorialem Gelände, im wörtlichen und übertragenen Sinne auf der Suche nach einem neuen Ort. Es ist die Situation des Sich-neu-Definierens und -Findens. Ihr augenblicklicher Status ist ungeklärt, sie irren zwischen den Welten. Aus den alten Bindungen und Rechtsordnungen sind sie geflohen, doch vor der Stadt ist kein Ort, nirgends. Der Mensch zählt nach antiker Vorstellung nur, wenn er zur Gemeinschaft einer Stadt gehört oder als Fremder deren Schutz und Gastrecht genießt. Der entschei-

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Der kollektive Prozess des Theaters dende Augenblick ihrer langen Flucht ist also gekommen, als ihnen Pelasgos, der Herrscher der Stadt, gegenübertritt. Die Hildesheimer Aufführung zeigte den Chor hier zunächst, wie er ängstlich Deckung und Schutz sucht, sich spontan der Konfrontation und der Selbstbehauptung entziehen will. Jede versteckt sich hinter jeder, die Wand im Rücken stabilisiert fast zwangsweise die Gruppe, der Chor ist zunächst und zuallererst eine Angst- und Schutzgemeinschaft. Der König fragt nach der Herkunft und der Identität der Frauen. Wer gibt die Antwort? Keine will es tun. Eine Einzelne wird vorgeschoben, der Chor drückt sie aus der Masse heraus, exponiert sie fast gewaltsam als ‚Ich‘. Offenbar wird: Es ist gefährlich, Ich zu sein, schwierig, vor einem König, einem Publikum zu sprechen. Das Individuum ist herausgehoben, isoliert, den Blicken der Betrachter ausgesetzt. Es ist aber nicht nur die Geburt eines Protagonisten aus dem Chor, die hier sichtbar wird. Auch die Geburt der einzelnen Schauspielerin, der schwierige erste Schritt, darzustellen und zu spielen, ist vergegenwärtigt. Was auf der Ebene des Dargestellten innerhalb der fiktiven Geschichte geschieht, kann auf der Ebene der Darstellung ‚mitgespielt‘ werden, wie es in der Theatersprache heißt: Die Unsicherheit und Schwierigkeit, sich auszudrücken, sich gestisch und sprachlich einem anderen, vielen anderen verständlich zu machen. Zugleich zeigt sich im Rücken und in Anlehnung an die Vorgeschobene, welche Möglichkeiten die Chorführerin dem Chor eröffnet. Sie macht ihn stark, er wiederum verstärkt sie, indem er ihre Gesten imitiert, verwandelt, erweitert, vergrößert. In ihrem Schutz und im Schutz des Kollektivs wird jede Einzelne plötzlich wagemutig, man probiert etwas aus, was man allein nicht getan hätte. Aus dem ängstlichen Haufen wird hier erstmals, zumindest punktuell, eine selbstbewusste, offensive Gruppe. Der Chor als schützender Spielraum, als Verstärker, der kollektive Energien freimachen kann und spüren lässt, der den Einzelnen ermutigt und freisetzt, so ist er auch heute noch erfahr- und darstellbar. Wechsel der Chorführerin, nächste Stufe der Auseinandersetzung des Chors mit dem König: Ein schneller Blickkontakt zwischen den Danaiden, man verständigt sich wortlos untereinander, wählt die Sprecherin aus. So bestärkt, kann die Ausgeguckte sich ganz anders gegenüber dem Frager in Position bringen. Sie steht und spricht stellvertretend, wenn sie Pelasgos den geforderten Identitätsausweis mit den Belegen der Io-Geschichte liefert, und die Stimmen der anderen sprechen in und mit ihr. Nicht nur als Echo, indem sie einzelne Worte und Namen wiederholend verstär-

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Theater als Chor ken und beglaubigen. Der Chor eilt der Chorführerin auch einmal voraus, schützt sie, übernimmt die Führung des Gesprächs. Dann hat sie wieder das Sagen. Und schon löst die Nächste sie ab. Diese exponiert sich ganz eigenständig. Der Impuls, hervorzutreten, die gemeinsame Sache in die Hand zu nehmen, kommt deutlich aus ihr selber. Sie prescht allein vor, die anderen folgen in ihrem Sog. Erst bevor sie zu sprechen beginnt, vergewissert sie sich der Gruppe im Rücken, dann wählt und setzt sie, zunächst eher bedächtig, ihre Worte. Sie ist sich ihrer Verantwortung für alle bewusst. Erst Pelasgos’ bohrendes Nachsetzen „Verwehrt es Haß? Verwehrt es frommes Recht?“ bringt sie in Rage und zum verbalen Schlagabtausch. Die Forderung „Nie liefre mich Aigytossöhnen aus“9 ist heraus. Die gestische Aktion, ein Teil des Kopfschmuckes wird von ihr auf dem Altar abgelegt, ihre letzte Bekräftigung, die die Nachfolgerinnen noch einmal in der Wiederholung der Aktion unterstreichen. Was zeigt dieser kurze szenische Ausschnitt? Dreimal exponiert sich eine einzelne Figur, dreimal definiert sich ihr Verhältnis im und zum Chor anders. Individuum sein, Ich-Sagen entwickelt, geschieht und differenziert sich in der Beziehung zu anderen, und zwar jeweils neu, auch in derselben sich verändernden Situation. Ich-Sagen, heißt aber offenbar auch immer, eine Rolle übernehmen und spielen, die die anderen mitbestimmen, die aber auch umgekehrt die anderen definiert, ihnen Rollen abfordert oder zuweist. Spätestens hier löst die Aufführung und ein modernes Bewusstsein die feste antike Form auf: „Die strenge Gliederung in Chorführerin und Chorpassagen ist weitgehend aufgegeben, bzw. neu festgelegt. Es gibt wechselnde Chorführerinnen, die als „Danaide“ oder „Magd“ vermerkt sind. Die Kennzeichnung „Chor“ meint den Chor aller Frauen, d.h. der Danaiden und ihrer Mägde“10, heißt es im Vorspann zu der von der Dramaturgiegruppe erarbeiteten Textfassung. Damit ist freilich nur sehr äußerlich beschrieben, worum es geht. Gezeigt wird in der Aufführung: Das Heraustreten aus dem Chor folgt keiner Regel, keinem Schema. Chorführerin kann jede sein. Und das meint in diesem Chor: Wann und wo jemand Ich sagt, ist die Entscheidung derjenigen, die es tut, die heraustritt, eine Entscheidung freilich, die nie völlig losgelöst ist von der Gruppe, zu der man gehört, in der man sei-

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Der Hildesheimer Textfassung ‚die hiketiden des aischylos‘ liegt die Übersetzung von Ernst Buschor zugrunde, Hildesheim 1987, S. 18. 10 Hildesheimer Textfassung ‚die hiketiden des aischylos‘, S. 2

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Der kollektive Prozess des Theaters nen Platz hat oder ihn finden muss. Dasselbe gilt für den umgekehrten Vorgang. Auch das Zurück- und Eintreten in den Chor, das Wir-Sagen, ist keine Zwangsverpflichtung, sondern entspringt dem Willen und der Entscheidung Einzelner. Ein solcher Chor ist kein formiertes Kollektiv, keine dressierte Formation, keine geschlossene Einheit, die feierlich über die Bühne schreitet. Dieser Chor hat zwar Kontur, aber keine Starre. Er ist Bewegung, fließt, ist Übergang, Wechsel der Positionen und Gruppierungen. Abb. 9: DIE HIKETIDEN DES AISCHYLOS, Hildesheim 1987

Zu sehen ist in dieser Aufführung also vor allem ein Chor aus spezifischen Einzelnen, ein Chor, der die Abweichungen und Unterschiede seiner Mitglieder nicht nur zulässt, sondern will und als Reichtum zeigt, der Unterschiede zwischen den Figuren frei spielt und die Eigentümlichkeit der einzelnen Spielerin sichtbar macht. Einzelne laufen voraus, Einzelne laufen hinterher, Einzelne sondern sich ab, Einzelne treten heraus, Einzelne stiften an, Einzelne nehmen die Sache in die Hand, Einzelne gehen auf Distanz usw. Und dennoch gibt es auf der weiten Szene keine Einzelnen als nur Versprengte und Disparate. Dieser Chor hat ein Gravitationszentrum, das die Einzelnen immer wieder zusammenbringt und zusammenführt, in wechselnden Konstellationen, Gruppierungen, Fraktionen und auch als geschlossenes Ganzes. Einzelne stimmen zu und ein, Einzelne stützen Einzelne, Einzelne

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Theater als Chor wenden sich einander zu, heben einander auf, spielen miteinander und so weiter. Auf der Ebene der fiktiven Geschichte ist der Konsenspunkt leicht auszumachen: Alle Danaiden wissen, was sie nicht wollen: die Heirat mit den verhassten Männern. Alle, Mägde und Danaiden, wollen, müssen in die Stadt, denn nur dort ist Sicherheit vor den Verfolgern. Der Konsenspunkt der Spielerinnen allerdings ist schwerer auszumachen, wird nur sichtbar in der Streuung der Reaktionen, die offenbar eine Mitte haben, ein gemeinsames Maß kennen. Denn nur weil es ein solches Maß gibt, wird überhaupt Individuelles erkennbar, wobei das Maß die Gemeinsamkeit der verschiedenen individuellen Reaktionen ist. ‚Jede verschieden mit erkennbaren Gemeinsamkeiten‘ – ‚Der Chor als Einheit der vielen einzelnen Verschiedenen‘ – das wäre die Formel, die dieser Chor auf der Szene mit Leben erfüllt und die diesem Chor seine Lebendigkeit gibt. Diese Formel hat freilich eine Kehrseite, die sich in der Aufführung nicht direkt und für alle sichtbar abbildet. Gemeinsamkeit und Gleichgerichtetheit herzustellen, die von vielen Individuen getragen wird, ist ein komplizierter Prozess. In der folgenden Beschreibung und Reflexion der Probenarbeit erhält das Herausund Zurücktreten der Einzelnen aus dem und in den Chor eine ganz andere als die geschilderte Bedeutung. Petra Mallwitz, eine Projektteilnehmerin, schreibt: „In der ersten Probenzeit schien der Chor eher die Eigenarten der einzelnen zu verstärken. Selbstbewusste nahmen die Chance, im Mittelpunkt einer großen Gruppe zu stehen besonders gerne wahr, stillere wurden unter den kritischen Augen und Ohren von so vielen noch stiller. Um zu Wort zu kommen, musste gekämpft werden, denn die Redezeit war auf dreißig Personen verteilt, und wer nicht gerne kämpft, verzichtete auf den Kommentar oder macht sich erst gar keine Gedanken zu dem beredeten Problem und zog sich zurück. So entstand die Gruppe der mehr oder weniger Distanzierten, die gleichzeitig auch die weniger dominanten Personen für den Chor waren. Ein Chor verführt die einen zur Abgabe von Eigenverantwortung, die anderen dazu, den ganzen Probenablauf selbst in die Hand zu nehmen. Es entstanden Konflikte.“11

Die ideale Forderung, dass der Chor seinen Weg, seine Gemeinsamkeit selbst und aus eigener Kraft finden muss, hat der Pro11 Petra Mallwitz: „Plötzlich riecht jede nach Chanel Nr. 5“, in: Institut für Ästhetische Erziehung und Kulturpädagogik Hildesheim (Hg.), ‚die hiketiden des aischylos‘, Materialien zu einem Theaterprojekt des Studiengangs Kulturpädagogik, Hildesheim 1987, S. 54.

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Der kollektive Prozess des Theaters benprozess nur teilweise eingelöst. Meinungen von Einzelnen gingen verloren oder artikulierten sich gleich gar nicht. Statt einer Norm und Regelbildung, die aus der Gruppe selbst entsteht, gab es immer auch die helfende, stützende, fördernde, fordernde Anweisung von außen. Die Anweisung, ‚gemeinsam zu sein‘, ist freilich wenig hilfreich, wenn man weiß, dass nur die Befriedigung jeder Einzelnen, ihre individuelle Betroffenheit und Identifikation mit der gemeinsamen Unternehmung das Spiel und damit das Stück tragen können, ihm zur Lebendigkeit verhelfen. Die in einem Konzeptionsprotokoll zitierte Behauptung „Man kann ein Chor sein, wenn man etwas zusammen will“12 mag richtig sein, nur: Was wollte man zusammen? Schon bald zeigte sich, dass die Erwartungen und Ansprüche an das Projekt divergierten, die Einschätzung darüber, was Theaterspielen ausmacht, was man einem Publikum in der Aufführung mit diesem Stück zeigen und mitteilen will, wie viel Zeit und Anstrengung man dafür verwenden soll und aufbringen kann. Erste Erfahrungen, was ein Chor sein kann und was ihn im Positiven charakterisiert, vermittelten jene Übungen, die wir dem Schweizer Regisseur Stephan Müller verdanken, Übungen, die die chorische Wahrnehmungsfähigkeit der Spielpartner fördern, aber auch jeden Teilnehmer auf Anhieb spüren lassen, was Müller „die Kraft des Clans“ nennt. Noch einmal zitiere ich aus der Beschreibung von Petra Mallwitz: „Ganz einfache Übungen waren eine Hilfe, ein Gefühl für die Gruppe zu entwickeln, jede einzelne in jeder Probe neu zu entdecken und einzubeziehen: Die Spieler stehen im Kreis und konzentrieren sich nicht auf eine Person, sondern jede nimmt jede mit der Gruppe und alle Vorgänge durch den sog. ‚Horizontblick‘ wahr. (Hier geht es darum, nach der Regel ‚Jeder achtet auf jeden, außer auf sich selbst‘ sich einen wachen Blick für alle Vorgänge in einer Gruppe zu schaffen). Übungsbeispiel: Von einer Spielerin wird ein einfacher Rhythmus geklatscht, den alle klatschend aufnehmen und der dann von einer anderen Spielerin variiert wird, was wiederum die Gruppe veranlaßt, den Klatschrhythmus dieser Variation anzupassen. Das Klatschspiel bereitet in vereinfachter Form auf das Wesen des Chors vor. Eine einzelne Person kann aus der Gruppe hervortreten, bekommt für kurze Zeit die Hauptaufmerksamkeit, wird dann wieder in der Menge aufgenommen und von ihr unterstützt. Es gehört einiger Mut dazu, die Gruppe mit einem anderen Klatschrhythmus bzw. mit einem anderen Verhalten zu konfrontieren, deshalb hat sich der Chor ständig in voller Konzentration zu befinden. Man muß sich darauf verlassen können, daß jede Aktion eine Reaktion im Chor auslöst und zugleich Einfluß auf jede einzelne nimmt. So soll auch die Person, die mit etwas Eige-

12 Unveröffentlichtes Protokoll vom 04.07.1986.

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Theater als Chor nem hervortritt, darauf achten, daß der Chor für eine Veränderung bereit ist. Ungeduldige sind gefordert, abzuwarten, bis auch die Letzte soweit ist, Ängstliche sind gefordert, sich lauter und deutlicher als im Gespräch zu zweit Gehör zu verschaffen, besonders Mutige sind gefordert, die Gruppe nicht zu tyrannisieren, sondern sich zurückzunehmen und vorsichtig auszuprobieren, wie weit der Chor gehen will.“13

In dem eben beschriebenen Übungsablauf ist das Wechselspiel zwischen Einzelner und Gruppe, das Finden eines gemeinsamen Weges idealtypisch verwirklicht und für alle erfahrbar. Die Gleichgerichtetheit der Personen ergibt sich nicht durch einen Regiewillen, nicht durch eine von außen vorgegebene Verabredung oder Norm. Übereinkünfte entstehen, sie werden nicht gesetzt. Auf den szenischen Chor im Stück, auf das chorische Verhalten in sehr unterschiedlichen Spielsituationen ist dieses Modell allerdings nicht ohne weiteres übertragbar. Die Spielaufgabe dort ist komplizierter, analytisch gebrochen, d.h. durch einen reflektierten und fortwährend reflektierenden Darstellungs- und Interpretationswillen beeinflusst. Improvisatorische Erkundungen einer Szene fördern zwar viele Entdeckungen und Spielmöglichkeiten zutage, ergeben aber von sich aus keine für alle Mitspieler einsichtigen und von ihnen einzuhaltenden Übereinkünfte und schon gar nicht eine akzentuierte szenische Interpretation. Die Darstellung bedarf einer Ordnung, die nicht von selbst entsteht. Viele Faktoren sind zu koordinieren und zusammenzuführen: Der Interpretations- und Gestaltungsanspruch, den das Stück stellt, die Gestaltungs- und Interpretationsideen bzw. -willen, auf die die Spieler sich einigen, die Spielmöglichkeiten und -bedürfnisse, die die Darsteller mitbringen, die Spielbedingungen, die sich durch einen Raum ergeben usw. Auch dieses generelle Theaterproblem verschärft sich im Chorstück. Übereinkünfte sind nicht nur von allen zu treffen und zu tragen, sondern müssen auch von allen eingehalten und gespielt werden. Wie aber legt man dreißig Individuen auf eine Haltung oder Geste oder Reaktion fest, ohne dabei Regiediktat oder -dressur walten zu lassen? Wir können ja nicht wie die Griechen der Antike auf Darstellungskonventionen bauen, die allen bekannt und vertraut sind, auf einen Gestenkanon zum Beispiel, der im Alltag und auf dem Theater die Ausdrucksformen für Freude, Schmerz, Klage, Hohn, verbindlich regelt. Das bedeutet, 13 P. Mallwitz: "Plötzlich riecht jede nach Chanel Nr. 5", in: Institut für Ästhetische Erziehung Hildesheim (Hg.) 1987, S. 54.

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Der kollektive Prozess des Theaters alle diese Darstellungselemente müssen erst gefunden und verbindlich werden. Und jede Geste und noch mehr jeder szenische Ablauf bietet eine unendliche Zahl von Realisierungsmöglichkeiten. Das gestische Material zu erfinden (wobei in einigen Fällen auch auf antike Vorbilder zurückgegriffen wurde), ein gestisches Zeichensystem verbindlich zu machen, war ein langwieriger Prozess des Vorschlagens, Auswählens, Übernehmens, Einübens, um schließlich die Freiheit des Spiels zu gewinnen. Szenische Chorarbeit, so zeigte sich deutlich, ist immer von einem Zuviel an Chaos oder einem Zuviel an Ordnung bedroht, je nachdem, ob zu viele Einzelwillen oder nur ein einzelner Wille bestimmend werden wollen. Ein gemeinschaftliches Leben zu entdecken und zu schaffen, ist die Voraussetzung und der Nährboden für die Bildung eines chorischen Bewusstseins. Das gemeinschaftliche Leben, das eine Theaterproduktion in ihrem Vorbereitungs- und Realisierungsprozess entstehen lässt, ist im Vergleich zu einer Lebensform, die alle in vielen Bereichen bindet, bescheiden, aber doch ausreichend, um die sozialisierten Disparaten, die wir alle sind, für eine kurze Zeit und in einem kleinen Raum zu sozialisierten Sozialisierten zu machen. Dazu verhilft nicht zuletzt das aufgeführte Spiel, der gelungene Dialog zwischen Spielern und Zuschauern am Aufführungsabend. Das Bewusstsein, ein Chor zu sein, stellte sich nach Aussage vieler Spielerinnen erst in dieser späten Phase ein. Das resultiert nicht nur aus der abendlichen Erfahrung, dass das Spiel nur dann gut und erfolgreich ist, wenn es gemeinsam gelingt, und zwar auf der Basis gemeinsamer Übereinkünfte, diese beachtend und sie zugleich vergessen machend. Erfahrbar, wenngleich vielleicht nicht jeder Spielerin bewusst, wird in dem Augenblick, wo das Ergebnis langer und schwieriger gemeinsamer Willensbildung auf die Außenwelt trifft, noch etwas anderes: Der Zugewinn und die Überlegenheit, die in der szenischen Mitteilung liegt, gemeinsam etwas für andere darzustellen. Diese auf die Spiel- und Zuschauerpartner bezogene Souveränität ist nicht zu verwechseln mit jenen unreflektierten Allmachtsphantasien, die der Chor, bleibt er unreflektiert und nur affektiv, bei seinen Mitgliedern freisetzen kann. Gemeint ist jene gewachsene chorische Gemeinsamkeit, die einen Bewusstseins- und Spielraum eröffnet und geschaffen hat, der Varianten kennt und den beteiligten Spielerinnen und Spielern Wahlmöglichkeiten freistellt. In ihm gilt eben nicht nur: ‚Ich m u s s so sein wie alle Anderen‘, sondern auch die Möglichkeit: ‚Ich k a n n so sein wie alle Anderen‘, oder:

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Theater als Chor ‚Ich w i l l so sein wie alle anderen‘, aber auch: ‚Ich will so sein wie k e i n e An d e r e‘, oder: ‚Ich k a n n so sein wie k e i n e A n d e r e‘. Zusammenwirken, das sich bildet, so hat das Projektbeispiel gezeigt, ist der Gegenstand, das Thema, über das sich zu verständigen, der Theatervorgang selber ist. Die Schwierigkeiten des Individuums, sich auszusprechen, auf dem Theater Ich zu sagen und zu sein, sind damit nicht behoben, aber in einem Verständigungsprozess vergegenwärtigt, reflektiert und fruchtbar gemacht, der es ermöglicht, sich auf der Bühne auch anderen glaubwürdig mitzuteilen. Damit ist das dialogische Prinzip des Theaters nicht einfach restauriert und als gültig behauptet, sondern im Spiel gewinnt es seine Kraft und damit neue Gültigkeit. Dort, wo die Verständigung, der Dialog über die gemeinsame Sache des Theaterspielens gelingt, unter den besonderen Umständen und an einem bestimmten Ort, wird auch die theatralische Mitteilung möglich und betreffend. Dies ist kein Dialog, der a priori behauptet, dass er die Welt bedeute, wie der im klassisch-idealistischen Drama, sondern ein Dialog vor Ort, der sich die Möglichkeiten des Sprechens erst schaffen muss in der Artikulation und Reflexion der eigenen Vorstellungen und Absichten, herausgefordert und stimuliert von einem Stück und seiner Form. Zwei Ergebnisse, die das szenische Erproben des antiken Chors und das Nachdenken über die chorische Form erbracht haben, möchte ich zum Schluss über das Projektbeispiel hinaus erweitern und zwar mit Blick auf die jüngste Theatergeschichte und mit Blick auf die aktuelle Theaterszene. Ein heutiger Chor, so war das Resultat der beschriebenen Aufführung der HIKETIDEN des Aischylos, ist die sichtbare Einheit der vielen einzelnen Verschiedenen. Um diese Einheit herzustellen und ihre individuelle Vielfalt lebendig werden zu lassen, bedarf es einer gemeinsamen szenischen Willensbildung. Diese ist schwierig herzustellen. Chorisches Theater macht auf besondere Weise deutlich, dass das Gelingen der sozialen Kunstform Theater abhängt von den gemeinschaftsbildenden und Individualität ermöglichenden Vorausund Zielsetzungen, unter denen sie stattfindet. Zu diesen Voraussetzungen zählen zuallererst die organisatorischen und strukturellen Bedingungen des Theatermachens. Als man Anfang der 70er Jahre daran ging, die soziale Kunstform Theater wiederzuentdecken, zu überdenken und zu organisieren, als Mitbestimmungsmodelle entworfen und erprobt wurden, stand nicht zufällig die Rolle des Regisseurs, des Über-Protagonisten im

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Der kollektive Prozess des Theaters Protagonistentheater, im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die Schauspieler verlangten damals, nicht weiter hinter der Phantasie der Regisseure herlaufen zu müssen. Sie wollten mitdenken, wissen, warum sie etwas zusammen mit anderen auf der Bühne machten. Wie man die „vitale Einbildungskraft“ des Regisseurs „soziabel“ machen könne, ob die „Diktatur der Regisseure“ nicht in eine „Diktatur der Basis“ umzuschlagen drohe, wie man das Gleichheitsprinzip zur Geltung bringe ohne egalisierende Nivellierung individueller Fähigkeiten, wie der Regisseur zum Mitarbeiter werde, der das Ensemblespiel entfalten helfe, ein Wechselspiel zwischen verschiedenen Fähigkeiten und Funktionen im Arbeitsprozess erreichbar sei, das waren die heftig bewegenden Fragen.14 Dies sind entscheidende Fragen geblieben, auch wenn sie heute an den Stadt- und Staatstheatern nur selten gestellt werden. Die Theaterarbeit der Berliner Schaubühne und des Pariser Théâtre du Soleil haben vor allem in der Anfangszeit eingelöst, was man sich von der Beteiligung aller am Theaterprozess erhofft hatte. Die größere Verantwortung der Mitwirkenden für das Ganze wurde als besondere Qualität in den Aufführungen sichtbar. Die SOMMERGÄSTE-Aufführung der Schaubühne z.B. stellte „die Figuren nicht einzeln vor“, sondern baute „sie aus einer Totalen gleichzeitig auf'“15, und artikulierte damit vielstimmig die Lebenssituation einer kleinbürgerlichen Gruppe im Russland des beginnenden Jahrhunderts, in einer Art „Realismus, der sich eher aus dem Diskurs als aus der Psychologie der einzelnen Figuren entwickelt“16, wie Botho Strauß und Peter Stein im Programmheft formulieren. Vertiefte Einlassung und kritische Gemeinsamkeit gelang an diesem Theater nicht zuletzt aufgrund des hohen Standes eines gemeinsam angeeigneten Vorwissens über Stück und Konzeption, wie die zahlreichen Probenprotokolle belegen. Das Kollektiv, der Chor, war aber auch hier auf verschiedene Chorführer und Chorführerinnen angewiesen. Die produktive Dialektik, dass dieser ihn, er aber wiederum diesen stark macht, gilt dabei 14 Gerd Loschütz/Horst Laube (Hg.): War da was? Theaterarbeit und Mitbestimmung am Schauspiel Frankfurt 1972-1980, Frankfurt a. M. 1980, S. 232ff.: „Das Regisseursbild muß verändert werden. Er ist nicht mehr der einsame Konzeptionserfinder, sondern Kontrolleur über und Förderer von seinen Phantasien und der der Schauspieler“, lautet ein Postulat im Vollversammlungsprotokoll des Schauspiel Frankfurt vom 22.10.1974. 15 Peter lden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979, München 1979, S. 184. 16 Peter Stein/Botho Strauß, in: Die Schaubühne am Halleschen Ufer (Hg.), Programmheft „Sommergäste nach Gorki“ 1974, S. 1.

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Theater als Chor nicht nur für Peter Stein oder Ariane Mnouchkine und deren gesteigerte Fähigkeiten als Anstifter, Anreger, Argumentierer, Beobachter und szenische Vermittler. Das Kollektiv hat auch dem einzelnen Schauspieler neue Stärke und Überzeugungskraft verschafft, es hat alle Schauspieler, auch die in den sog. Nebenrollen, profiliert und sichtbar gemacht. Ariane Mnouchkines Behauptung, jeder, der auf die Bühne komme, spiele für diesen Augenblick die Hauptrolle, blieb nicht ideologisches Postulat, sondern es war zu sehen, wie „die Reichen die übrigen mitziehen“, die „creation collective“ das Spiel und alle Spieler getragen hat.17 Chorisches Bewusstsein in diesem weitgefassten Sinne verändert also nicht nur den Arbeitsprozess, indem es sich bildet, sondern wird gerade darin wirksam, dass es unmittelbar in die Spielweise, Machart, die Dramaturgie und Ästhetik der gemeinsam entwickelten Aufführungskonzepte eingreift. Dies gilt in einer jeweils ganz spezifischen Weise auch für einige der wichtigsten Theatermacher der aktuellen Theaterszene, etwa für Christoph Marthaler und Jossi Wieler. Auffällig ist nicht nur, dass sie Texte zum Ausgangspunkt ihrer Aufführungen machen, die keine Protagonisten oder Dramaturgien im klassisch traditionellen Sinne haben. Das Signet und Gütezeichen ihrer Inszenierungen ist die „Ensemble-Kunst“, ist das Zusammenspiel der Schauspieler und Schauspielerinnen, das bei Marthaler immer wieder in mehrstimmigen musikalischen Chören gipfelt. Beide Theatermacher setzen bei der Probenarbeit auf „den Dialog zwischen allen“, aufs Zuhören, statt auf die Regieanweisung. „Manchmal saß ich nur da und habe zwei Stunden zugehört“18, berichtet Jossi Wieler, zugehört, wie sich sechs Schauspielerinnen mit dem Zitatenschatz deutschen Geistes und deutschen Ungeistes herumschlugen, den Elfriede Jelinek zum monologischen Redestrom WOLKEN.HEIM. montiert hat. Das Thema dieses Monologs ist das ‚Wir‘ der Deutschen. Dieses wird auf der Szene, also auf der Ebene der Darstellung, nicht nur rastlos in einer verbalen Suchbewegung mit Zitaten Hölderlins, Hegels, Kleists oder Heideggers umkreist. Es kommt szenisch-theatralisch auch in ganz unterschiedlichen Varianten des Chorischen zur Anschauung: 17 Ruth Henry: „Was Ariane träumt und was sie tut. Ein Gespräch mit der französischen Regisseurin Ariane Mnouchkine“, in: Frankfurter Rundschau, 01.09.1984. 18 Jossi Wieler im Gespräch mit Michael Merschmeier und Franz Wille: „Die Inszenatoren des Jahres: „‚Da hat der Furz von Faust nicht gezündet‘, Gespräch mit den Regisseuren des Jahres, Christoph Marthaler und Jossi Wieler“, in: Jahrbuch Theater heute 1994, S. 22ff.

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Der kollektive Prozess des Theaters Die Fliegerwitwen Friedrichs, Hermanns, Karls und Wilhelms, die Töchter Dietrichs und Heinrichs sprechen in Jossi Wielers Inszenierung von WOLKEN.HEIM. chorisch uniform („Wir sind hier.“ „Wir sind wir“), sie singen unisono gemeinsam (z.B. „Wir fliegen durch silberne Weiten“), sie verfertigen mit vielen Einzelstimmen einen Monolog, der der eigenen individuellen und kollektiven Identität auf die Spur kommen will, sie spalten sich in Chor und Protagonistin bzw. Antagonistin, wenn Dietrichs Tochter das gemeinsame Bewusstsein der anderen Frauen mit RAF-Zitaten attackiert. Chorische Formen und chorische Vielfalt also bringen deutsche Vergangenheit in guter aufklärerischer Tradition zur Kenntlichkeit, zeigen aber auch, wie unsicher und Ich-schwach, wie instabil und bedroht das ‚Wir-Gefühl‘ und die beschworene kollektive Identität sind. Christoph Marthaler wiederum versammelt seine TheaterFamilie, so seine Charakterisierung, zunächst nur, um gemeinsam Lieder zu singen. Das sei nicht nur die beste Art, sich kennenzulernen, sondern auch aufeinander zu hören. Das Zuhören und Aufeinander-Hören ist das Erfolgsgeheimnis seiner Inszenierungen. Wenn Marthaler über das gemeinsame Singen feststellt, das sei „das Interessanteste, man arbeitet noch nicht wirklich, obwohl unglaublich viel entsteht“, dann feiert er damit weder ein harmonistisches Gruppengefühl noch das Wunder des kreativen Kollektivs. Denn – so Marthaler – mehrstimmig singen, „das ist ein harter Drill, bis wirklich ein Chor entsteht“. Der Dialog zwischen allen Beteiligten, Übung und Reflexion dessen, was man gemeinsam tut, bestimmen den Arbeitsprozess und bestimmen damit wiederum das ästhetische Produkt, das Thema und die Form der Aufführung. „Irgendwann merkt man, daß die Leute im Grunde Autisten sind und gar nichts Gemeinsames machen können.“19 Von diesem Autismus und der Sehnsucht, ihm zu entkommen, ihn zu überwinden, handeln viele von Marthalers Inszenierungen: Von isolierten, vor sich hindämmernden Menschen in Wartesälen, Kneipen, Asylen – Menschen, die sich abrupt und immer nur kurzfristig vereinen in Chorgesängen, in denen alle und alles zusammenstimmen. Der Chor als ‚Einheit der Vielen‘ hat auf dieser Folie des Dargestellten freilich eine andere, eine hoffnungslose und zugleich sehnsuchtsvolle Bedeutung. Chorisches Singen überbrückt und füllt die Leere zwischen den Einzelnen, die hier ganz Vereinzelte

19 Ch. Marthaler im Gespräch mit M. Merschmeier/F. Wille: „Die Inszenatoren des Jahres...“, in: Jahrbuch Theater heute 1994, S. 24/26.

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Theater als Chor sind. „In der Ödnis“ entsteht nur punktuell „die große Schönheit“, von der Marthalers Dramaturgin schwärmt.20 Marthalers Autisten bleiben in der Regel unerlöst. Der gemeinsame Gesang verhallt und mit ihm seine vielstimmige Harmonie. Der dargestellte Chor bleibt hier folgenlos: Er vermittelt weder Ich-Stärke, noch führt er zu jener verbindenden Gemeinsamkeit, die soziale Konsequenzen hat. „Wir sind so fröhlich beisammen und haben uns alle so lieb“, dieses innige deutsche Volkslied gelingt und klingt in Marthalers WURZELFAUST eben nur als Reminiszenz, als rückwärtsgewandte Sehnsucht. Freilich, die Erinnerungsräume, die chorisch singend mit solchen Kulturzitaten geöffnet werden, haben vor allem und zuallererst die Leuchtkraft des Augenblicks: gemeinsames Singen, chorisches Gelingen stellen ihn her. Das ist heute, in sogenannten postmodernen Zeiten, offenbar die stärkste Utopie, die das Theaterspiel, das Theater als Chor, zum Klingen bringen kann.

20 Vgl. Stefanie Carp: „Marthaler/Faust“, in: Schauspielhaus Magazin Nr. 1, Spielzeit 93/94, Hamburg 1993, S. 8.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre Das Theater der neunziger Jahre scheint eine ‚Wiederbelebung chorischer Theaterformen‘ zu betreiben. Ich denke zum Beispiel an Inszenierungen Christoph Marthalers, Bob Wilsons, Jossi Wielers, Thirza Brunkens, Stephan Müllers, Volker Hesses, Einar Schleefs oder Frank Castorfs. Doch mit guten Gründen und historischen Belegen lässt sich fragen, ob es sich hierbei tatsächlich um eine Reanimation des antiken Chors handelt. Die Untersuchung Detlev Baurs „Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts“ zeigt, in welcher Konstanz und in welcher Formenvielfalt sich das theatrale Mittel Chor bis in die Gegenwart auf dem Theater hält und umformt, von Goethes Chören in FAUST II, über unterschiedlichste Inszenierungsvarianten antiker Chöre bis zum Kontrollchor des Brechtschen Lehrstücks oder dem Agitationschor des Weiss’schen MARAT/SADE.1 Zu erweitern wäre dieses eher literarisch orientierte chorische Spektrum um theatrale chorische Formen, die sich in unserer Theatertradition bis heute einiger Beliebtheit erfreuen: die musikalischen Chöre der Oper, der Operette oder des Musicals, die Bewegungschöre des klassischen Balletts, des Tanztheaters oder der Revue. Schließlich sind nicht zu vergessen die Chorformen des Alltags: Männerchöre, Kirchenchöre, Fußballchöre, Pop- und Technoformationen usw. Trotz dieser kompakten chorischen Erblast scheint es berechtigt, das chorische Theater als ein Spezifikum des Theaters der neunziger Jahre hervorzuheben. Nicht nur die Statistik der zitierten oder zusätzlich aufzählbaren Regisseure spricht dafür, sondern vor allem der hinzugewonnene Reichtum neuer chorischer Formen: die vehementen Sprechchöre Schleefs, die repetitiven Bewegungschöre Fabres, die Figurenserien Marthalers oder Wilsons, die chorischen Gruppen- und Ensembleformationen Jossi Wielers, Stephan Müllers oder Volker Hesses. Die Formel ‚Wiederbelebung chorischer Theaterformen‘ ist freilich damit noch nicht bestätigt. Denn sie will doch offenbar er1

Detlev Baur: Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor, Tübingen 1999.

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Der kollektive Prozess des Theaters innern an den Ursprung des abendländischen Theaters, an die spezifische Theaterform der Antike, in deren Genese und Entwicklung der Chor den Protagonisten hervorgebracht hat, in der der Protagonist dem Chor gegenübergestellt wurde. Dieser dialektische Sonderstatus des Chors, aber auch die Geschlossenheit der Gruppe ‚Chor‘, die kaum Individuelles zulässt und hervorhebt, schließlich seine eher passive Rolle und reflexive Funktion als Betrachter und Kommentator, die nur selten durchbrochen wird, um den Chor zeitweilig oder im besonderen Fall als Akteur in Szene zu setzen – diese Chor-Formation im strengen Formkanon des antiken griechischen Theaters ist heutigem Bewusstsein und moderner Lebensform fremd und daher kaum zu neuem Leben zu erwecken. Die vermeintliche ‚Wiederbelebung chorischer Theaterformen‘ ist also eher als Neubestimmung zu beschreiben, freilich eine Neubestimmung des Chorischen, die das „Prä-Dramatische“ des Chors im Auge hat und vor allem auch seine seit der Antike wichtige formsemantische Seite: Der Chor bringt zur Anschauung und reflektiert das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft.2 Im Vorgriff auf das, was hier an drei Beispielen beschrieben werden soll, ließe sich zugespitzt behaupten: Das innovative Theater der neunziger Jahre ist nicht nur, aber wesentlich chorisches Theater. Chorisches Theater treibt voran und formuliert szenisch neu, was im postmodernen ästhetischen Koordinatensystem als „postmedial“3, „postdramatisch“4 und „postfigural“5 plakatiert wurde. Was heißt das und worum geht es dabei? Zunächst einmal: obsolet wird eine dramatische Form, die sich bis heute von Aristoteles her schreibt und begreifen lässt. Aufgegeben wird ein Theater der Protagonisten zugunsten einer oder mehrerer Gruppen. Hinfällig wird das dramatische Prinzip der Verkörperung von Einzelfiguren und der Identifikation mit ihnen zugunsten von Formen, die ein mehr oder weniger anti-psychologisches Spiel auf dem Theater anpeilen, die das Theater befreien von tradierten Darstellungszielen, die da sind: nachgeahmte Welten und Wahr-

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Hans-Thies Lehmann: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart 1991, S. 2.

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Vgl. Dietmar Kamper: Bildstörungen. Im Orbit des Imaginären, Stuttgart 1994. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S.

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13. Guido Hiß: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse, Berlin 1993, S. 76.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre scheinlichkeiten, psychologische Begründung und Wahrheitssuche, Handlungsstringenz und Werkgeschlossenheit. Ein solcher Befreiungsschlag macht ästhetisch nur Sinn als Suchbewegung, die die Wirklichkeit theatral neu begreifen, anders selektieren und auf bisher nicht gewohnte Weise darstellen und erfahrbar machen will. Das Geschehen auf der Bühne wird folglich in anderer Weise strukturiert und hierarchisiert. Es ist nicht mehr oder vor allem an der Figuren- und Menschendarstellung orientiert, sondern fokussiert oft gleichzeitig auch andere, nur zum Teil personale Darstellungsmittel, zum Beispiel Bewegungsabläufe, mediale Bilder, rhythmisierte Klänge. Das führt zu neuen Formen der szenischen Narration, schafft neue figurale Muster der theatralen Wirklichkeitskonstitution – eines davon ist das Chorische. Warum diese Such- und Formbewegung in Gang gekommen ist, warum sie zunehmend akzelerierend tradierte Formen zerstört oder wendet, neue erprobt, setzt und behauptet, lässt sich nicht mit wenigen Sätzen beantworten. Das Etikett „postmedial“ verweist allerdings auf eine Rahmenbedingung, die immer wieder und zu Recht genannt wird, wenn es um die gegenwärtigen ästhetischen Veränderungen geht: Unsere Wahrnehmungs- und Produktionsweisen sind „medial konditioniert“.6 Diesem Basissatz von Hans-Thies Lehmann wird wohl kaum jemand widersprechen. Um mit ihm eine erste Probe aufs Exempel zu machen: Chorisches Theater kann, ja muss man auch sehen als Gegenentwurf zu einem standardisierten Protagonistentheater, wie es uns auf der Basis einer trivialen Gefühls- und Einfühlungsästhetik im Fernsehen täglich serviert wird. Den skizzierten Problemaufriss will ich an drei Inszenierungen konkretisieren: an TOP DOGS (in der Theater-heute-Jahresumfrage „Stück des Jahres ‘97“), WOLKEN.HEIM. (in Jossi Wielers Uraufführungsinszenierung „Aufführung des Jahres ‘94“), und EIN SPORTSTÜCK („Aufführung des Jahres ‘98“ in Einar Schleefs Burgtheater-Version). Chorisches Theater findet sich in der Züricher Aufführung von TOP DOGS, penibel gerechnet, nur am Rande, dafür aber signifikant und besonders aufschlussreich für eine nicht nur formimmanente Begründung dieser Theaterform. Volker Hesse und Urs Widmer, Regisseur und Autor, bezeichnen TOP DOGS gerne als ein

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Hans-Thies Lehmann: „Ästhetik. Eine Kolumne. Fülle, Leere“, in: Merkur 5 (1995), S. 432.

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Der kollektive Prozess des Theaters modernes „Königsdrama“.7 „Top Dogs“, das sind verantwortliche Wirtschaftsmanager, die sich im Stück in einem sogenannten Outplacement-Büro als Arbeitslose wiederfinden. Sieht man die ehemalige Stellung der Figuren und damit ihre Fallhöhe als Gattungskriterium heran, stimmt der Königsdrama-Vergleich. Betrachtet man das Stück und seine Thematik als Ganzes, ist er irreführend. Denn es wird in ihm keineswegs das Scheitern von Managern bei ihrem unternehmerischen Tun vorgeführt, auch nicht wie und mit welchen Interessen sie mit- und gegeneinander koalieren oder konkurrieren, bei ihren Geschäften unterliegen oder gewinnen. Gezeigt wird vielmehr, wie die Top-Opfer einer kapitalistischen Marktwirtschaft mit zweifelhaften Erfolgsaussichten wieder marktfit gemacht werden sollen. Das Stück ist also in guter Schweizer Tradition eher einer „Dramaturgie der Opfer“ (Friedrich Dürrenmatt) zuzurechnen als einem Geschichtsdrama der entscheidungsmächtigen Individuen. In Wahrheit aber ist es ein Chorstück, auch wenn nur zwei Szenen eindeutig chorisch sind. Denn nicht nur gibt es ein ‚Wir-Gefühl‘ im OutplacementBüro.8 Auch die Berufssozialisation der Manager, die jetzt zu Psycho-Gesprächen im Kreis hocken, ist analog bis gleichgeschaltet: Alle sind abgerichtet auf ein reibungsloses Funktionieren in ihrem Job, alle erfüllen die geforderten Rollenmuster nicht nur im gemeinsamen „Dress-Code“.9 All das zeigt, dass die ehemalige „Machtlogik“ absoluter Herrscher durch die „Marktlogik“ der unsichtbaren Regenten abgelöst ist, wie es der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Simon Grand formuliert hat.10 Aufregend im doppelten Sinn wird die Inszenierung aber erst durch die Art und Weise, „wie die Wiederaufbereitung der Gescheiterten zum Business“11 gezeigt wird. Denn die Psychotrainer des Outplacement-Büros betreiben dieses Recycling u.a. mit Rollenspielen, die den seelisch anästhesierten Managern ihre Ge-

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8 9

Vgl. Urs Widmer: „Feldforschung im Lande des Managements“, in: Ders./Theater Neumarkt Zürich (Hg.), „Top Dogs“ Entstehung - Hintergründe - Materialien, Zürich 1997, S. 43-53. Ders.: „Top Dogs, Nachteile eines engen Berufsbildes bei Führungskräften“, in: du 5 (1997), S. 57. Ders.: „Feldforschung im Lande des Managements“, in: Ders./Theater Neumarkt Zürich (Hg.), „Top Dogs“ 1997, S. 50. Nina Toepfer: „Gegenwart und Gegenwelten: Neumarkt. Eine Erfolgsgeschichte“, in: Ebd. S. 76.

10 Simon Grand: „Der Markt am Neumarkt. Das Theater aus ökonomischer Sicht“, in: Ebd, S. 88. 11 Ebd. S. 90.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre fühlswelt und damit ein Stück Individualität jenseits der Rollenmuster zurückgeben bzw. dazu gewinnen sollen. Freilich nicht als Eigenwert der Person, sondern zu Zwecken einer Wiedereingliederung und Stärkung ihrer marktwirtschaftlichen Effizienz. Die persönliche, private Seite ist nur Wirtschaftsressource, Regenerationsraum, um das weitere Funktionieren der Top-Funktionäre zu sichern. Individualisierung ist hier eine ökonomische Strategie zur erneuten Einpassung. Schlagender kann die Abschaffung des Individuums als entfaltete Persönlichkeit im klassischen Sinne nicht demonstriert werden. Und folgerichtig fällt damit der Protagonist als Kategorie des Dramas. Die „Marktlogik“ hat ihn ausgelöscht. Dieser Befund ist nicht neu. Brecht, Adorno u.a. haben als erste die ästhetische Konsequenz dieses Sachverhalts erörtert. Wo das Eigentliche, das Ökonomische, in die Funktionale gerutscht ist, wie Bertolt Brecht konstatiert, und damit unsichtbar wird, schafft das Probleme für die Darstellung, die theatrale zumal. Die „unsichtbare Hand“ der „Marktlogik“12 kann am mentalen und psychischen Befund ihrer Opfer anschaubar werden. Das geschieht bei der Inszenierung der „Top Dogs“ in unterschiedlichen Rollenspielen. Sie kann aber auch überhöht und sinnbildlich und dabei ebenfalls ganz theatral sichtbar gemacht werden: Das leisten in TOGS DOGS die chorischen Szenen. In der „Schlacht der Wörter“, die chorisch Versatzstücke der Wirtschafts- und Managementsprache reiht, ist die Selbstentfremdung der Figuren auf ihrem Höhepunkt: Alle tun gleichzeitig dasselbe und was sie tun, hat keinen erkennbaren Sinn. Entschlüsselt man die Szene in ihrer sinnbildlichen Funktion, erkennt man in ihr die Abstraktion marktwirtschaftlicher Vorgänge. Aber das ist das Erstaunliche: Die Abstraktion ist keineswegs mit dem Preis der theatralischen Wirkungslosigkeit bezahlt. Im Gegenteil: Hesse und dem Ensemble gelingt ein kleines Meisterstück chorischer Binnendramaturgie. Die Szene beginnt als verbales und körperliches Gerangel der ehemals leitenden Vertreter der Ellbogengesellschaft: Jeder versucht jeden verbal und physisch zu verdrängen. Das endet im Chaos. Aus diesem geht – notgedrungen oder wie an geheimnisvollen Schnüren gezogen? – ein Körperchor hervor, der in harmonisch fließenden Bewegungen, in choreographisch gestylten Schrittfolgen den aggressiven Management-Speak in verführe-

12 S. Grand: „Der Markt am Neumarkt“, in: U. Widmer/Theater Neumarkt Zürich (Hg.) 1997, S. 87.

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Der kollektive Prozess des Theaters rischen Marketing-Sound und lockende Gemeinsamkeit verwandelt. Abb. 10: Volker Hesse: TOP DOGS, Zürich 1996

Zweierlei ist bei dieser Chorszene von TOP DOGS auffällig und generalisierbar für den modernen Chor. Die Form der Szene ist musikalisch, sie hat eine kalkulierte dynamisch-rhythmische Struktur: zielgerichtete Anfangsaktion, Chaos, fließende Bewegung, ihre hektische Auflösung, Beruhigung, schließlich eine akustische Dissonanz. Diese Musikalisierung der Szene geht, wenn man es eng sieht, auf Kosten des verbalen Inhaltes und seines Verständnisses. Auf ihn aber kommt es den Machern offenbar nur begrenzt an. Mögliche Assoziationen wie Hilferufe der Akteure, Börsenhektik, maskenhafte Verkäuferfreundlichkeit regen das Publikum zur produktiven Eigenleistung an. Was es szenisch erlebt, ist die fremde, geheimnisvoll-suggestive Welt der Verkaufsoffensive. Die dramaturgische Funktion dieser chorischen Szene für die Inszenierung ist offenkundig: Gezielt durchbricht sie den Kontext der Figurenszenen und ihrer Rollenspiele. Sie blockiert und relativiert jenen ‚psychologischen Realismus‘, der die OutplacementBeratungsszenen beherrscht, und schafft damit die Metaebene im ökonomischen und theatralen Sinn. Hesse argumentiert in einem Interview zu TOP DOGS gegen den Naturalismus englischer Gebrauchsstücke; diese setzten ein ziemlich eindimensionales Realitätsverständnis voraus, geben „zu wenig Einsichten, zu wenig Erfahrungserweiterung“. Und er wird mit Blick auf die Neumarkt-

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Chorisches Theater der neunziger Jahre Ensemble-Projekte IN SEKTEN und TOP DOGS programmatisch: „Wir im Neumarkt-Theater bilden Wirklichkeit mit schauspielerischen Methoden und nicht wie die Dramatiker der siebziger Jahre mit dokumentarischem Material ab.“13 Das bestätigt und erweitert die eingangs gegebene Charakterisierung eines Theaters der neunziger Jahre: Es ist antinaturalistisch und nur partiell illusionistisch, es ist kein Figurentheater im tradierten Sinn und – das scheint mir besonders hervorzuheben – es ist selbstreflexiv, was seine unterschiedlichen theatralen Verfahren der Wirklichkeitskonstitution angeht, und dabei zugleich forciert körperlich-räumlich, denn beim Zuschauer zielt es auf (ästhetische) Erfahrungen, die nur im präsentischen Medium Theater zu machen sind. Gleiches im Allgemeinen ließe sich auch für das chorische Theater sagen, das die Regisseure Jossi Wieler und Einar Schleef aus Jelinek-Texten gemacht haben. Aber die gänzlich unterschiedlichen theatralen Ausdifferenzierungen des Chors in ihren Inszenierungen zeigen, dass mit allgemeinen Zwischenbilanzen bestenfalls Markierungspflöcke eingeschlagen sind: die genaue Vermessung des ästhetischen Neulandes steht damit noch aus. So beginnt WOLKEN.HEIM. und EIN SPORTSTÜCK nicht wie TOP DOGS bei einer durch Feldforschung erkundeten gesellschaftlichen Realität, die sich ihre szenische und chorische Form sucht. Sie nimmt dort bei starken literarischen Setzungen einer sprachbewussten Schriftstellerin ihren Ausgangspunkt, die gesellschaftliche Wirklichkeit wie das Massenphänomen Sport auf höchst subjektiv ironische, bösartig-widersprüchliche Art sprachartistisch verarbeitet hat (EIN SPORTSTÜCK) bzw. in WOLKEN.HEIM. einen Zitatenkosmos des deutschen Geistes und Ungeistes zu einem Textblock collagiert, hinter dem die Autorin zu verschwinden scheint. In beiden Textverfahren ist Jelineks Verweigerung gegenüber dem bestehenden Theater erkennbar: „Ich will von dem Theater, das mich bisher zurückgestoßen hat, fortkommen und sehen, ob es mir nachkommt.“14 Dass sie sich dabei bevorzugt zwei so unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Theatermännern wie Jossi Wieler und Einar Schleef anvertraut, einem Bühnenberserker und einem

13 Volker Hesse im Gespräch mit Stefan von Bergen: „Vom gestrigen Sprechdrama zum multimedialen Theaterprojekt von heute“, in: Berner Agenda 1997. 14 Elfriede Jelinek zit. nach Robin Detje: „Theoretischer Theaterregen“, in: Die Zeit, 29.10.1993.

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Der kollektive Prozess des Theaters theatralen Filigrankünstler, scheint mir eine methodische List zu sein. Jelinek weiß wohl, dass sie, die Hochindividualisierte, die Nicht-Sozialisierte, des manisch Chorischen, des Utopisten des Kollektivs bedarf, um auf der Theaterbühne dialektisch wirksam zu werden.15 Das Gleiche gilt für die andere Paar-Konstellation. Die Schriftstellerin, die von sich behauptet, „Menschen interessieren mich in Wahrheit nicht“16, fühlt sich beim Liebhaber der Schauspieler und Menschen Jossi Wieler offensichtlich gut aufgehoben und bestens in Szene gesetzt. Wieler macht aus der einen Leserolle WOLKEN.HEIM., aus dem nicht enden wollenden inneren Monolog der Deutschen dann auch eine Inszenierung mit persönlichem Gesicht. Scheinbar traditionell unterfüttert er das Zitatengeflecht der arrangierten Rede mit Figuren und einer von Anna Viebrock räumlich ganz konkret eingerichteten Raum- und Spielsituation. In einer Art Bunker umkreisen vier Fliegerwitwen und zwei ihrer geistigen Töchter in einem Redestrom der wechselseitigen Ergänzung und Bestätigung das nationale ‚Wir‘ der Deutschen. Chorisch ist diese Darstellung, weil es um ein Erinnern geht, das eine gemeinsame Rede formt, um ein Erleben, das eine Gruppe zusammenführt, bis sie der nationalen Ideologie und den Allmachtsphantasien ihrer Männer verfällt, denen sie zunächst eher vorsichtig nachspüren. Ein postmoderner Chor ist dies, weil die unablässig wiederholten und variierten ‚Wir‘-Behauptungen (356 mal im Text, etwa 80 mal in der Inszenierung) sich als IchSchwäche erweisen, als eine nicht zur Ruhe und zum Abschluss kommende Suchbewegung nach der eigenen Identität, die selbst in den gemeinschaftlich gesungenen Liedern „klingt wie Pfeifen im nächtlichen Wald“.17 Dieses Stück ist kein Dialogstück und kein Stück dramatischer Konflikte zwischen den Figuren. Und was noch wichtiger ist: Die Inszenierung will es auch dazu nicht machen. Sie ist eine subtile Form der chorischen Erzählung. Jossi Wieler hat, seiner Maxime

15 Elfriede Jelinek: „Auch Kafka hat wahnsinnig gelacht. Ein Gespräch mit der Büchnerpreisträgerin Elfriede Jelinek“, in: Neue Zürcher Zeitung, 17./18.10.1998. 16 Dies. im Interview mit Annegred Seegers: „‚Menschen interessieren mich nicht.‘ Elfriede Jelinek im Gespräch“, in: Hamburger Abendblatt, 21.10.1993. 17 Werner Burkhardt: „Aus dem Nichts – die letzte Chance? Frank Baumbauers Start am Hamburger Schauspielhaus“, in: Süddeutsche Zeitung, 26.10.1993.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre folgend, so „gut in den Text hineingehorcht“18, dass er ihn in chorischen Variationen mit sechs Schauspielkünstlerinnen szenisch entwickeln kann und zwar in einer Weise, die den Text verbindet und kontrastiert mit einer hinzu erfundenen diffizilen Partitur nonverbaler Aktionen. Wieler realisiert damit fast idealtypisch, was Sebastian Nübling chorische Erzählung nennt. „Nicht Protagonisten stehen im Mittelpunkt, der Chor ist selbst Hauptdarsteller. Die chorische Erzählung hat eine andere dramatische Struktur als der Konflikt zwischen Individuen. An dessen Stelle tritt eine Binnenstruktur, die minidramatische Ereignisse zu einem Gewebe verbindet, das [...] Spannung in sich trägt.“19

Abb. 11: Jossi Wieler: WOLKEN.HEIM., Hamburg 1993

Eine festgelegte soufflierte Rede wird von ihren Sprecher- und Spielerinnen nicht verkörpert, sondern zur eigenen und der Zuschauer Betrachtung geöffnet: „[...] darüber, ob die Frauen freiwillig in die Sprache eingetreten sind oder zu ihr genötigt wurden, ob sie sich in ihr verfangen haben oder ihr verfielen, ob ihnen das Dichterwort aufgehalst wurde, ob sie es vor- oder nachbeten und

18 Jossi Wieler, in: Franziska Wolffheim: „Germania liegt auf der Couch“, in: Hamburger Abendblatt, 27.09.1993. 19 Sebastian Nübling: „Chorisches Spiel II. Übungsbeispiele und Strukturelemente eines theatralen Verfahrens“, in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim 1998, S. 86f.

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Der kollektive Prozess des Theaters ob ihnen, was sie sagen, auch wirklich entspricht: darüber schweigt die Inszenierung.“20 Die Inszenierung schweigt, weil sie nicht zu wissen vorgibt, was die Köpfe und Gemüter im letzten bewegt, weil sie ein personales, aber kein psychologisches Theater realisiert, weil sie den Figuren ein Geheimnis lässt, ohne daraus ein Geheimnis zu machen. Die Chöre Einar Schleefs markieren den chorischen Gegentyp. Nicht die personalisierte Gruppe mit feinen Unterschieden bei aller Gleichgerichtetheit, sondern das massive Kollektiv, das von keiner Identitätsproblematik angekränkelt sein kann, weil es nichts außer sich selbst repräsentiert. Und dieses Selbst, das es darstellt, ist vor allem oder ausschließlich die eigene Potenz. Schleefs Chöre sind monumental und überwältigend, offensiv und behauptend. Sie sind pures körperlich und sprachlich exerziertes Theater und nur an diesem Kunstort in diesem körperlichen und sprachlichen Aggregatzustand existent. Schleef braucht die Chöre für seine ganz eigene Form von Theater und den von ihm dafür entwickelten, immer wieder repetierten und variierten Formkanon: als energetische Einheit, als Skulptur der Körper, als den Raum definierende und meist beherrschende Aktion, als „Droge“21, wie er selbst sagt. In seinem 494seitigen Essay DROGE FAUST PARSIFAL begründet er seine Dramaturgie des Chors. Er zeigt sich dabei als dessen heutiger Chefideologe, aber genauso als ein genauer Beobachter der chorischen Theaterformen und ihrer Wirkungen. „Die Irritierung und Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehe, würde heute von allen als erschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände“22 erinnerten. Für Schleef aber, für den „Drogeneinnahme und ChorBildung“ zusammengehören, ist beides Garant für eine neue alte „Utopie der Gemeinschaft“.23 Schleef will mit seinem Chortheater hinter das der griechischen Tragödie zurück. Denn in ihm definiert der Chor „die Rolle des Individuums und feiert dessen vor-

20 Sibylle Wirsing: „Die Damen gattenlos und Troilus treulos“, in: Tagesspiegel, 26.10.1993. 21 Einar Schleef: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a. M. 1997, S. 7. 22 Ebd. S. 8. 23 Ebd. S. 18.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre bildliche Auffassung“.24 Was Schleef erträumt, ist eher prädramatisch und mythisch: ein Chor, der von der Individuierung befreit. Abb. 12: Einar Schleef: EIN SPORTSTÜCK, Wien 1998

In der theatralen Praxis des Chorischen müht sich Schleef, nach einer Formulierung Heiner Müllers, um „einen neuen Spielraum zwischen Aischylos und Popkultur“, um ein Theater, „das den Chor zum Protagonisten macht“.25 Das heißt in EIN SPORTSTÜCK, aber auch in anderen Inszenierungen: Arbeit an der Sprache. Für Schleef ist sie zentral. Und sie wendet sich mit Vehemenz gegen „die falsch verstandenen Individualisierungsversuche“, die – so Schleefs Überzeugung – die „Theatersprache ruiniert“26 haben. Er will sie wieder „zur Verlautbarung“ machen, sucht nach einem „idealen Sprechen“, das die „jeweilige Sprachmelodie des Autors“ zum Ausdruck bringt.27 „Für den großen, gegliederten, zusammenhängenden Sprachkörper bedarf es des Chor-Stückes, der Chor-Idee.“28 Warum? Schleef weiß aus theatraler Praxis, dass, „wenn 2 Personen einen Text gemeinsam sprechen [...], die Abkehr des Textes vom individuellen Ausdruck“ eintritt, der „Text“ als 24 E. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 276. 25 Heiner Müller: „Vorwort zum Katalog der Ausstellung Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr“, Berlin 1992, als: Beilagezettel zu E. Schleef, Droge Faust Parsifal 1997. 26 E. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 102. 27 Ebd. S. 92/479. 28 Ebd. S. 102.

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Der kollektive Prozess des Theaters solcher „Autonomie“ erlangt.29 So kann der Sprache ihre Kraft, ihr „Definitionscharakter“, „ihre Künstlichkeit“ zurückgewonnen, kann die „Diskreditierung des Pathos“ rückgängig gemacht, kann die „Verweichlichung und Dekadenz des bürgerlichen Theaters“ aufgehoben werden.30 Schleef inszeniert die Chöre als Sprachkörper im wörtlichen Sinn. Chorisches Sprechen heißt sprechende Körper, heißt Körper in Bewegung, meint sprechende chorische Körperskulpturen im Raum, was sich in EIN SPORTSTÜCK mit dem von Jelinek attackierten Körperkult unseres sportiven Zeitalters auf irritierende Weise verbindet. Gefeiert wird von Schleef auch immer der nackte Körper: „Auf der Bühne gut aussehen, heißt potent, heißt sexy sein.“31 Auch dazu verhilft die Droge Chor, dessen immanent dialektische Wirkung gerade darin besteht, dass er die „körperliche Beschaffenheit“, „die Verfassung“ seiner Mitglieder ändert, deren „Eigenwilligkeit [...] betont“32, eben weil er die „Bindekraft“ aller erhöht. Was Schleef einerseits will, ist die „Verlautbarung“ im Sprechen, das sprachliche Künden des Chors.33 Was Schleef dafür gleichzeitig tut, ist die Aktivierung kollektiver chorischer Energie. Beides geht nur begrenzt bzw. gegenläufig zusammen. Die chorische Präsenz dominiert das Wort und damit das Sprachwerk der Jelinek, das es nicht nur in seinen Formulierungsnuancen, sondern vor allem auch in seinem Sinn auszulöschen droht. Die hinzugewonnene Konzentration und Steigerung des präsentischen Reizes mindert die diskursive und metaphorische Leistung der Sprache, auf der Jelineks Stück beruht. Das ist der Preis einer chorischen Form, die die theatrale Eigenrealität ungehemmt zur Geltung bringt. Und eine Ent-Literarisierung des Theaters, die sprachlich ästhetische und kritisch emanzipatorische Momente des Textes tilgt. (Wielers Chorform war auf sie bedacht, freilich mit Hilfe einer Dramaturgie, der Traditionelles nachgesagt wurde.) Die theaterkritische Rezeption von Schleefs Inszenierungen bildet dieses Problem ab. Sie ist zugleich ein sprechender Beleg für die Diffusion und Ungleichzeitigkeit heutiger Rezeptionsprämissen. Wo der eine Kritiker frohlockt: „Das war mehr als ein Theaterabend. Eine Erfahrung!“, beklagt der andere die „Über-Macht

29 E. Schleef: Droge Faust Parsifal, S. 479. 30 Ebd. S. 94/275. 31 Ebd. S. 472. 32 Ebd. S. 479. 33 Ebd. S. 475.

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Chorisches Theater der neunziger Jahre des gestisch körperlichen Ausdrucks über den stimmlichen“ und den Verlust des „zusammenhängenden Text-Sinns“34. An Schleef scheiden sich die Geister und die unterschiedlichen Vorstellungen, was Theater sein könnte oder sollte. Deutlich erkennbar ist freilich, dass Schleef mit dem Wandel, was Theater heute, also in sogenannten postmodernen Zeiten, zu bieten hat, auf die Erfolgsspur geraten ist: ‚Präsenz‘, ‚Körperlichkeit‘, ‚Entpsychologisierung‘, ‚Sinnverdunkelung‘ lautet die ästhetische Angebotspalette ausgangs der neunziger Jahre. Kritiker wie Peter Iden, seit vielen Jahren Einar Schleefs hartnäckigster Verfolger, der ihn schon Anfang der achtziger Jahre als faschistoiden Drill- und Zuchtmeister der Szene beschimpft hat, geraten nun selbst unter Ideologieverdacht, setzen sich dem Vorwurf aus, statt zuzuschauen und sich der sinnlichen Erfahrung hinzugeben, ihr festgefügt aufklärerisches Theaterkonzept in Anschlag zu bringen. Die Jungen, dem Zeitgeist Näheren, haben es leichter. Sie mögen teilhaben an der Droge Chor. Ein Kritiker der mittleren Generation wie Franz Wille übt sich im abwägenden Sowohl-Als-Auch: „Großartig und beängstigend«“, „Alptraum“ und „dionysische Utopie“.35 Der Chor als analytische und suggestive Verkürzung, als Beschwörung und Kritik des Kapitalismus in TOP DOGS, der Chor als individualisiertes Kollektiv und bindungskräftig-labiles Beziehungsmuster im nationalen WOLKEN.HEIM., der Chor als energetische Sprechmacht und kraftvolle Körperskulptur in Schleefs Version von EIN SPORTSTÜCK belegen, ja demonstrieren die theatrale Varianz und die Bedeutungsvielfalt chorischer Formsemantik. Sie zeigen den Chor der neunziger Jahre als flexibles theatrales Verfahren szenisch präziser Formulierungen.

34 Henning Rischbieter: „Umwerfendes Imponiertheater, Schleef schafft einen Raum für ‚Salome‘ – und fährt den Spielern in die Glieder“, in: Theater heute 8 (1997), S. 12. 35 Franz Wille: „Modell Münchhausen oder Ein fester Griff ins Offene. Die Inszenierung des Jahres und das Stück der Saison, über Einar Schleef und Elfriede Jelineks ‚Sportstück‘, über Frank Castorf, Peter Stein und Botho Strauß“, in: Jahrbuch Theater heute 1998, S. 81.

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 13: HAMLET, Theaterprojekt 1984

Abb. 14: MACBETH, Theater Mahagoni 1991

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 15: MITTEN IN DER WELT STEHT EIN HAUS (Kurt Schwitters), Theater Mahagoni 1987

Abb. 16: DIE ZEIT ZWISCHEN HUND UND WOLF (Peter Handke), Theater Mahagoni 1987

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 17/18: Kafkas Amerika. Erzähltheater in sechs Stationen, Projektsemester 1992

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 19/20: FAUST II, Projektsemester 1996

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 21: ÜBER DAS BALINESISCHE THEATER (Antonin Artaud), Theatertheorie szenisch: Projektsemester 1998

Abb. 22: DER SCHAUSPIELER DER ZUKUNFT UND DIE BIOMECHANIK, (Wsewolod E. Meyerhold), Theatertheorie szenisch: Projektsemester 1998

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 23/24: DAS REICH DER ZEICHEN (Roland Barthes), Theatertheorie szenisch: Projektsemester 1998

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 25/26: BABYLON, Projektsemester 2000

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 27/28: Exerzitien: Aristoteles vs. Handke, Projektsemester 2002

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 29: CHORPUS: SCHILLER VS. SCHLEEF, Projektsemester 2002

Abb. 30: FRAUEN IM ANZUG –‚FRAUENROLLEN AUF DEM RÖMISCHEN THEATER DURCH MÄNNER GESPIELT‘ (J.W. GOETHE), Projektsemester 2002

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 31: FREISCHWIMMEN! MIT MEDEA IM BLUTBAD, Antike intermedial: Projektsemester 2004

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 32: König Midas hat Eselsohren, Antike Intermedial: Projektsemester 2004

Abb. 33: HOTEL EUROPA, Antike Intermedial: Projektsemester 2004

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 34/35: BODYCHECK, Kollektiv-Körper: Projektsemester 2006

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Chorformen der Praktischen Theaterwissenschaft

Abb. 36: Ein Sommernachtstraum: Puck/Oberon, Shakespeare 08: Projektsemester 2008

Abb. 37: Ein Sommernachtstraum: Die Liebenden, Shakespeare 08: Projektsemester 2008

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Theaterkollektive: Von der ‚Truppe 31‘ zur ‚Marthaler-Familie‘, von der Politisierung der 68er-Bewegung zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern Macht man das Thema Theaterkollektive zum Gegenstand der Untersuchung und betrachtet die Entwicklung des Theaters nach 1968 unter dem Gesichtspunkt, wie die damals geführte politische Debatte das Theatermachen und das Verständnis der Theaterarbeit verändert hat, scheint es angebracht, nicht nur nach vorn, sondern auch zurück zu schauen. Denn bei dieser Fragestellung wird auch sichtbar, dass die politische Theaterentwicklung nach 1968 nicht voraussetzungslos war, dass sie sich imoder explizit berufen konnte auf eine linke Tradition des Theatermachens, wie sie sich vor allem am Ende der Weimarer Republik in einem ‚Theater der Kollektive‘ entfaltet hat, aber auch nach der faschistischen Gewaltherrschaft und nach Kriegsende in der Theaterarbeit Bertolt Brechts am Berliner Ensemble (BE) in OstBerlin Modellcharakter gewann. Die Ereignisse von 1968 werden hier also nicht nur als Impulsgeber oder gar als alleinige Ursache einer Entwicklung verstanden, sondern als Sammel- und Drehpunkt sowohl politischer als auch theatergeschichtlicher und theaterpraktischer Potentiale, die in den Folgejahren in Deutschland vor allem an der Schaubühne am Halleschen Ufer und am Schauspiel Frankfurt aktualisiert und transformiert wurden. Die Ereignisse von 1968 haben in der theatralen Folgeabschätzung aber auch eine europäische Dimension. So trifft nicht nur für das schon Anfang der sechziger Jahre gegründete Théâtre du Soleil in Paris zu: „‚Creations collectives‘ gelten jetzt unter jungen Theaterleuten als Ausdruck neuen Denkens und als praktische Konse-

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Der kollektive Prozess des Theaters quenz des Mai 1968.“1 Das alte und neue Nachdenken über kollektive Produktionsformen des Theaters soll hier anschaulich gemacht und diskutiert werden. Dieses geht oft fließend über in theatrales Tun, in den Produktionsprozess einer Aufführung und ihr szenisches Ergebnis. Deshalb werden hier nicht allein die Selbstverständigungstexte und Diskussionen der Theaterproduzenten dargestellt und befragt, sondern auch (in begrenztem Umfang) die szenischen Produkte, in denen sie sich spiegeln und sichtbar werden, für unsere Fragestellung zu Rate gezogen. Dies gilt nicht zuletzt dort, wo, wie zum Beispiel bei Marthaler, programmatische Positionsbestimmungen fehlen. Zur Erfahrung und Beurteilung der 68er Bewegung aus fast vierzigjähriger Rückschau gehört die Einschätzung, dass unmittelbar und in direkter Aktion damals wenig erreicht, umso nachhaltiger aber Bewusstsein und Lebensweisen der Bundesrepublik verändert wurden. Das gilt modifiziert auch für das Theaterverständnis und für die Theatermacher nach 1968. Kollektive Modelle des Theatermachens behalten über Jahrzehnte ihre Reputation und Faszination, werden dabei aber zunehmend politisch entideologisiert, bis sie schließlich an jenem Punkt des Privaten angekommen sind, der im Titel dieses Aufsatzes mit der ‚MarthalerFamilie‘ markiert ist. Die Zwischenstufen sind erkennbar: Aus den Theaterkollektiven der 68er wird bald die freie Theatergruppe, die vom 30 Jahre durchgehaltenen Theaterhof Priessenthal bis zur punktuellen Projektgruppe mit einmaliger Projektförderung variiert, wird das Theater-Team oder Theater-Ensemble, das besonders gepflegt und angereichert als besonders produktive Einheit innerhalb eines Theaters oder als Theater mit Sonderstatus operiert – Jossi Wielers Ensemble-Kunst zum Beispiel innerhalb der Schauspielhäuser Hamburg und Zürich oder Volker Hesses und Stephan Müllers erfolgreiches Zürcher Neumarkt Theater, das in den Neunzigern aufgrund eines künstlerisch vielseitigen Ensembles und Ensembleprojekten wie zum Beispiel TOP DOGS Furore machte. Aus den Theaterkollektiven der 68er wird aber auch die auf eine Person fixierte und von ihr inspirierte Gruppe mit organisatorischem und ästhetischem Sonderstatus wie etwa bei George Tabori und Christoph Marthaler. Keine dieser Kollektivformen des Theaters ist ohne Zeit- und Geschichtsbezug, jede bedarf einer genauen Orts- und Funktionsbestimmung, jede hat ihre Spezifik, deren Analvse wiederum erhellend zurückwirken

1

Simone Seym: Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters, Stuttgart 1992, S. 66.

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Theaterkollektive kann auf das, was unmittelbar nach 1968 in den siebziger Jahren als Ideal kollektiver Theaterarbeit entworfen und damals in Frankfurt und Berlin auch erprobt und verwirklicht wurde.

T HEATERKOLLEKTIVE : P RODUKTIONSFORMEN DES POLITISCHEN T HEATERS Schauen wir zunächst zurück auf ein Theaterkollektiv der Weimarer Republik: „Die ‚Truppe 1931‘ war neben dem Piscator-Kollektiv das erfolgreichste proletarisch-revolutionäre Theaterkollektiv Deutschlands. Ihr Erfolg gründete sich auf die Konsequenz, mit der sie das Prinzip der Kollektivität unter seinen vielfachen Aspekten in der Theaterarbeit zu verwirklichen suchte. Dieses Prinzip erstreckte sich von der politischen Haltung über Ensembletyp und Arbeitsweise bis zu den Darstellungsmethoden und in Bereiche des Stils.“

So schreibt Ludwig Hoffmann in seiner Einleitung des zweiten Bandes THEATER DER KOLLEKTIVE.2 In dürren Worten ist hier zusammengefasst, was Ingeborg Franke, ein Mitglied der ‚Truppe 31‘, in einem ebenso sachlichen wie glühenden Arbeits- und Erfahrungsbericht an potentielle Nachahmer und die Nachgeborenen weitergeben will. Wirtschafts-, Finanz- und Kulturkrise des Jahres 1931 sind der Ausgangspunkt. 5,7 Millionen Arbeitslose stehen auf der Straße, mit ihnen 12.000 erwerbslose Schauspieler. Aus ihnen rekrutiert sich das Kollektiv ‚Truppe 1931‘. Deren politische Zielsetzung ist klar: Der proletarisierte Mittelstand soll politisch aufgeklärt und gewonnen werden im Kampf gegen den Faschismus und für die marxistische Überzeugung, dass die Kenntnis der Klassenlage Voraussetzung für revolutionäres Denken und Handeln ist. Das bedeutet künstlerisch: die „Befreiung der Produktivkräfte des einzelnen [...] zur kollektiven Arbeitsform“. Dass der Einzelne nur im Kollektiv seine Fähigkeiten voll entfalten kann, gemeinsames Tun und Arbeiten dem Individuellen vorgeordnet ist, wird hier aus zwei Quellen gespeist: aus dem marxistischen Theorem, dass „die revolutionäre, proletarische Bewegung auf den selbstschöpferischen Kräften der Massen fußt“ und aus der konkreten Erfahrung der realen Konkurrenzsituation am Theater, wo „jeder Spezialist sich in Selbstherrlichkeit be2

Ludwig Hoffmann: „Materialistische Dialektik und künstlerische Methode“, in: Ders. (Hg.), Theater der Kollektive. Proletarisch-revolutionäres Berufstheater in Deutschland 1928-1933. Stücke, Dokumente, Studien, Bd. 2. Berlin 1980, S. 431.

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Der kollektive Prozess des Theaters müht, dem anderen Spezialisten den Rang abzulaufen“. An die Stelle des Gegeneinanders soll das Miteinander im Kollektiv treten, wo jeder „die Verantwortung für das Theater im ganzen“ trägt. Politische Ideologie und konkrete Erfahrungen mit der medialen und realen Disposition des Theaters stärken sich wechselseitig, eine Wechselwirkung, die später auch bei der Schaubühnen-Gründung und der Installation des Frankfurter Mitbestimmungsmodells von großer Bedeutung ist. Die Verantwortung der am Kollektiv Beteiligten erschöpft sich dabei keineswegs in der schauspielerischen Tätigkeit: „Die zweite Funktion aber, die jedem einzelnen Kollektivmitglied die Verantwortung für das Theater auferlegte, bestand in der Ausübung seines Mitbestimmungsrechts in allen Fragen, die unser Theater als Gesamtheit berührten.“ Das meinte nicht nur die Übernahme organisatorischer, administrativer und bühnentechnischer Arbeiten, sondern vor allem die gemeinsame Erarbeitung und Einlassung auf Stoff und Thema, hier auf „die Angestelltenfrage“. Schon bevor es zur Darstellung auf den Proben und auf der Bühne kommt, konstatieren die Mitglieder des Kollektivs „eine unerhört lebendige Beziehung zum Stoff“ und sehen darin „die Voraussetzung jeder künstlerischen Leistung des Schauspielers“. „Aus revolutionärem Inhalt“ entsteht so nicht nur „eine wirklich revolutionäre, dramatische Form“, sondern vor allem auch der Wahrheitsanspruch und die Überzeugungskraft der Darsteller gegenüber dem Publikum. Nicht nur das „Gefühl einer kollektiven Leistung“ im Spiel, sondern auch „die kollektive Wirkung des Ensembles“3 sind die Garanten des großen Erfolgs der ersten Produktion DIE MAUSEFALLE, einer „musikalisch-politische[n] Revue über den Weg des Angestellten, der sich mühsam aus seinem isolierten Kampf zur breiten proletarischen Klassenfront durchkämpft“.4 Eine Serie von über 250 Aufführungen wurde gespielt, nicht nur in Berlin, sondern auch auf einer „viermonatigen Tournee im Reich“.5

3

Ingeborg Franke: „Einiges über die Arbeit der Truppe 1931 Berlin“, in:

4

Ludwig Hoffmann (Hg.), Theater der Kollektive 1980, S. 451ff. Gustav von Wangenheim: Kommentar zu „Die Mausefalle“, in: Günther Rühle (Hg.), Zeit und Theater. Von der Republik zur Diktatur 1925-1933,

5

Bd. 4 Berlin 1972, S. 829. „Das größte Erlebnis in Bezug auf eine solche sofortige politische Reaktion hatten wir in Stuttgart bei einer Erwerbslosenvorstellung. – Das Theater hatte 700 Plätze, und gekommen waren 1.100 erwerbslose Angestellte und Arbeiter aus der Stadt und der Umgebung. Der Raum barst beinahe vor Überfüllung. Schon bei Beginn eine siedeheiße Spannung

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Theaterkollektive Die „vereinheitlichende Kraft“, schreibt die Berichterstatterin zum einen der gemeinsamen marxistischen Weltanschauung zu, zum andern dem Gründer der Truppe, Gustav von Wangenheim, der das Kollektiv politisch und dramaturgisch stimuliert. Die Analogien zu den Theaterkollektiven nach 1968 liegen auf der Hand: Auch dort stärkt das gemeinsame politische Bewusstsein (zumindest zunächst) die Gruppen, ergibt sich die strukturelle Dialektik von Ensemble und Regisseur, Chor und Chorführer, ist die sozialistische kollektive Theateralternative dem etablierten Theater gegenübergesetzt, bei der ‚Truppe 31‘ besonders deutlich figuriert in von Wangenheim, dem Sohn des berühmten Staatsschauspielers von Winterstein. Wangenheim akzentuierte mit der Namensänderung gleichsam auch den Gegensatz zwischen dem bürgerlichen Theater der so genannten Künstlerpersönlichkeit und dem sozialistischen Theater des Kollektivs. Schließlich, ja zuallererst: Beide Bewegungen, die 68er und jene der ‚Theater der Kollektive‘ Ende der zwanziger Jahre verstehen das „Theater als politische Anstalt“6, sehen in der Theaterarbeit das probate Mittel, die Zeit und die Gesellschaft zu verändern. Freilich, in den gesamtgesellschaftlichen Ausgangsbedingungen, in der politischen Großwetterlage differieren das Kollektiv am Ende der Weimarer Republik und jene der etablierten Westrepublik der 68er Bewegung stark: Statt Millionen von Arbeitslosen gibt es jetzt weitgehende Vollbeschäftigung und einen florierenden ‚Spätkapitalismus‘, der den Massenkonsum auf eine erste, bisher nicht bekannte Höhe treibt, in einem politischen Klima des noch andauernden Kalten Krieges, dessen Freiheitsideologie den Vietnamkrieg zur Verteidigungsschlacht für den Erhalt West-Berlins macht. Die konkreten Theaterbedingungen freilich gleichen sich: Sie sind konservativ, strukturell feudalistisch, wie in den Dreißigern auch in den fünfziger und sechziger Jahren noch immer bestimmt von „regieführenden Theaterherrscher[n]“,7 und von einem Geist, der die Werktreue-Formel hochhält, um intellektuelle Bewegung und politisch-gesellschaftliche Ansprüche vom Theater fern zu halten. Noch immer gilt die Parole vom ProtagonistenTheater, die Will Quadtflieg Mitte der fünfziger Jahre prononciert des Publikums.“ I. Franke: „Einiges über die Arbeit der ‚Truppe 1931‘“, 6 7

in: L. Hoffmann (Hg.) 1980, S. 463. Günther Rühle: Theater für d i e Republik 1917-1933. Im Spiegel der Kritik, Frankfurt 1967, S. 30. Henning Rischbieter: „Autoritäre Theater-Zeiten. Die fünfziger Jahre in beiden deutschen Staaten“, in: Ders. (Hg.), Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990, Berlin 1999, S. 54.

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Der kollektive Prozess des Theaters formuliert hat: den „freien Menschen“ immer wieder „aus dem Begriff des politischen Menschen“ herauszulösen, „künstlerisch rein und exakt [zu] fühlen“.8 So geht die erste Attacke von jungen Theaterleuten 1968 gegen „den autoritären Geist des deutschen Theaters“, gegen entfremdete, weil weitgehend hierarchisierte und formalisierte Arbeitsbedingungen, die die gemeinsame schöpferische Selbstentfaltung im szenischen Produkt verhindern. Die gemeinsame „Verantwortung fürs Ganze“ ist hier wie damals das Ideal. Und die konkrete Forderung lautet: „Das Theater müsste kollektiv geleitet werden“, der „Trend zur kollektiven Regie“ sei zu fördern, um das Verhältnis Regisseur/Schauspieler dort produktiv zu machen, wo kritische Mitarbeit derzeit „als etwas Regelwidriges“ gilt.9 An den Strukturen, der falschen Organisation des Betriebs und den daraus resultierenden theaterfeindlichen, weil die schöpferischen Energien abtötenden Probenabläufen wird zuallererst angesetzt. Der Begriff ‚Kollektiv‘ ist jetzt erneut im offensiven Gebrauch, die Studentenrevolte und ihr marxistisches Vokabular haben ihn diskursfähig gemacht. Henning Rischbieter, linksliberaler Sozialdemokrat und Herausgeber des kultur- und theaterpolitisch einflussreichen Fachblattes „Theater heute“, gibt den jungen Rebellen nicht nur ein Forum, sondern verfasst im Jahressonderheft 1968 auch einen ersten „Lagebericht“ über die Revolte und das Theater, in dem ganz selbstverständlich vom „Kollektiv der Spieler“, von „Stein und das Kollektiv“ die Rede ist, zwei Jahre also vor der Übernahme der Schaubühne am Halleschen Ufer und der dort installierten kollektiven Verfassung. Diese erste frühe Standortbestimmung markiert vier wichtige Einschnitte und Positionen der 1968 einsetzenden Politisierung des bundesrepublikanischen Theaters: Der Protest gegen die Notstandsgesetzgebung ‚funktioniert‘ das Theater ‚um‘, macht aus dem tradierten Kunstraum einen Ort für politische Diskussionen und Demonstrationen. Der junge Regisseur Peter Stein und sein Kollektiv überschreiten die Regeln und Grenzen dieses Kunstraums, wenn sie die politische Agitation von Peter Weiss’ VIETNAM-DISKURS in eine politische Aktion münden lassen: nämlich in eine Kollekte für den Vietcong. Dritter wichtiger Punkt und Sachverhalt: Die autoritäre Intendanten-Allmacht, auf die die jungen Theatermacher treffen, fordert ein Gegenmodell

8 9

Will Quadflieg, zit. nach: H. Rischbieter (Hg.) 1999, S. 62. Barbara Sichtermann/Jens Johler: „Über den autoritären Geist des deutschen Theaters“, in: Theater heute 4 (1968), S. 2/4.

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Theaterkollektive des Theatermachens heraus. „Ist eine elementare demokratische Form der Theaterarbeit denkbar?“, fragt der Autor des Lageberichts mit verhaltener Sympathie. Schließlich wird viertens der Integrationsprozess aller am Theatermachen Beteiligten hervorgehoben. Hier konstatiert Rischbieter nicht die bestehenden Verhältnisse, sondern formuliert visionär und utopisch (seine eigene?) Vorstellung von gelungener Theaterarbeit, „einen Prozess der gemeinsamen Bewusstwerdung, des Probierens, Diskutierens, Formulierens, bei dem der Regisseur nicht kommandiert, sondern stimuliert, klärt, kontrolliert – also die Reflexion vorbereitet, anregt und zusammenfasst“. Ganz pragmatisch und in einem anderen konkreten Sinn vorausschauend werden die künftigen Schwierigkeiten beschrieben, der „ungemein langwierige immer vom Chaos bedrohte Vorgang“ einer „elementare[n] demokratische[n] Form der Theaterarbeit“. Vor allem aber wird die Notwendigkeit gemeinsamer Voraussetzungen benannt, die der Bildung und der weltanschaulichen Positionen, die diesen Prozess erst ermöglichen können. „Das ist sicher nicht als Modell auf das deutsche Stadttheater zu übertragen“10, lautet das Fazit. Pragmatische Skepsis bis ideologische Aversion auch andernorts: „Ich glaube nicht, dass derlei aus öffentlichen Geldern finanziert wird“11, meint der ehemalige Ulmer Chefdramaturg Claus Bremer. Der Kritiker und Theaterprofessor Siegfried Melchinger formuliert in dieser Debatte die Antithese, die zwischen einem aufgeklärt bürgerlichen Verständnis von Theater und zeittypischen bürgerlichen Ängsten und linken Zerrbildern schwankt: „Der Terror eines ‚Teamworks‘ kann schlimmer sein als der Terror einer Autorität: denn er tarnt sich hinter der ‚Sache‘ (zum Beispiel der Parteilichkeit). [...] Überzeugungen, die sich mit Schwärmerei verbünden, drängen zum Fanatismus. Die Vorführung der Kollektive hemmen die Demystifikation des Theaters, so sehr sie auf gesellschaftliche Bewusstseinsbildung zielen mögen.“12

10 Henning Rischbieter: „Theater und Revolte: 1. Lagebericht und Denkmodell“, in: Jahressonderheft Theater heute 1968, S. 32. 11 Claus Bremer: „Wie autoritär i s t das deutsche Theater“, in: Theater heute 6 (1968), S. 1. 12 Siegfried Melchinger: „Theater und Revolte: 2. Antithesen“, in: Jahressonderheft Theater heute 1968, S. 37.

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Der kollektive Prozess des Theaters

V OM S OZIALISTEN DIE S CHAUBÜHNE

K UNST -K OLLEKTIV : H ALLESCHEN U FER

ZUM AM

Zwei Jahre später wird derlei aus öffentlichen Geldern finanziert. Ausgerechnet in der Frontstadt des Kalten Krieges und dem Entstehungsort der Studentenbewegung West-Berlin etabliert ein SPD-Senat Peter Stein und sein Kollektiv. Er gibt der Gruppe an der Schaubühne am Halleschen Ufer die Chance, ihre Vorstellungen vom zeitgenössischen politischen Theater organisatorisch und künstlerisch zu verwirklichen. Sie geht dabei mit einem doppelten Kohärenzpolster an den Start: Zum einen haben sich die meisten Mitglieder an verschiedenen Stadttheatern, in Bremen und Zürich zum Beispiel, schon in avancierter Theaterarbeit um Stein zusammengefunden. Als spektakuläre szenische Mitgift hat man eine TASSO-Inszenierung im Gepäck, die schon kurz nach ihrer Entstehung als Epoche machend und als aktuelle, also politische „Standortbestimmung der Theaterkünstler“ gilt.13 Zum andern tritt sie mit dem gemeinsamen Ziel an, sich als sozialistisches Kollektiv auszubilden, dessen Endziel ein gelungener Kommunismus ist.14 Bei der ersten Produktion, Brecht/Gorkis DIE MUTTER, schart man sich bewusst um eine frühere Protagonistin Brechts, um beiden Vertretern eines kritisch-politischen Theaters die Referenz zu erweisen und von ihnen zu lernen. Man steuert darüber hinaus entschieden die Zielsetzung an, sich als Kollektiv zu bewähren: „Indem das Ensemble die Bildung eines revolutionären Kollektivs darstellte, wollte es selber lernen, ein revolutionäres Kollektiv zu werden.“15 Das geschieht weder naiv noch politisch blauäugig. Historisierung ist das dialektische Verfahren, das Brecht vorgeschlagen und praktiziert hat, wenn man „von fernen Umständen handelnd, sehr wohl seine eigenen mitbedenkt“, wie Peter Iden es für diese erste Schaubühnen-Produktion festhält. Und man hat ebenso die Wechselwirkung im Kalkül, dass die mit der Gruppe gemachten Erfahrungen den historischen Stoff anreichern, so wie diese wiederum das eigene Selbstverständnis, die 13 Siemke Böhnisch: „Das Künstler-Bild in der Tasso-lnszenierung von Peter Stein in Bremen 1969“, in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim 1998, S. 105. 14 Vgl. Angela Winkler über die von Stein formulierte Zielsetzung bei ihrem Engagementgespräch in Castrop-Rauxel, in: „Einfach und stolz – Die Schauspielerin Angela Winkler“, Film-Portrait von Christoph Rüter, D 2004. 15 Dieter Kranz: Positionen. Gespräche mit Regisseuren des europäischen Theaters, Berlin 1981, S. 168.

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Theaterkollektive eigene Vorstellung vom Kollektiv stärken und verändern. Schon hier bewährt sich die auch künftig praktizierte Maxime, die eigene Erfahrung, die eigene bürgerliche Herkunft, die aktuelle Situation der Theatermacher im Stück nicht nur zu spiegeln, sondern mit seiner Hilfe diese zu erforschen. Sie gilt für nahezu alle nachfolgenden Produktionen. Freilich, die Erforschung beginnt weit vor den Proben und zwar mit einer Intensität und Gründlichkeit, wie sie das deutsche Theater bisher nicht gekannt hat. Die von der ‚Truppe 3 1 ‘ mit Staunen wahrgenommene „lebendige Beziehung zum Stoff“, die sich durch gemeinsame Vorarbeit ergibt, ist im SchaubühnenKollektiv in vielfacher Weise gesteigert: Die demokratische Struktur, die flachen Hierarchien, das veränderbare Mitbestimmungsstatut sind nur der formale Boden und die notwendige Voraussetzung für jene Produktivität aller, die schon bald an Selbstausbeutung grenzt. Denn die Transparenz der Entscheidungsprozesse, die Bedeutung, die der inneren Kommunikation von der kollektiven Leitung und allen Kollektivmitgliedern beigemessen wird, das Delegieren von Arbeitsprozessen an selbstverantwortliche Untergruppen stimulieren unablässig die Verantwortung jedes Einzelnen fürs Ganze. Was sich an Reflexionsbereitschaft und wissenschaftlicher Präzision in den Vorbereitungs- und Probenprotokollen spiegelt und entfaltet, was in Stück einführenden Projekten szenische Gestalt gewinnt, ist der „Umschlag einer organisatorisch-technisch gebotenen Praxis in eine intellektuelle Leistung“,16 in intellektuelle Kollektivleistung muss man präzisieren, denn die vielen Protokolle dienen nicht nur der wechselseitigen Information, sie sind Medium einer kollektiven Selbstartikulation, die an Genauigkeit und Ergiebigkeit der Analyse Erstaunliches leistet (und in ihrem Reichtum in vielen Programmbüchern bewahrt ist). Und dem Schaubühnen-Kollektiv gelingt gemeinsam auch der nächste Schritt: der Umschlag von Wissen und Reflexion „in besondere Formen theatraler Ästhetik“.17 Die organisatorischen Mühen der Ebenen, die Neuordnung der Arbeitskonditionen lösen die damit verbundene Hoffnung gesteigerter künstlerischer Produktivität ein, stellen sich, vor allem in den ersten Jahren, als „Präsenz 16 Peter Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979, München 1979, S. 33/35. 17 Hartwin Gromes: „Von der Wirklichkeit der Utopie. Anmerkungen zum Zusammenhang von Organisationsstrukturen und künstlerischer Produktion an der Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1978“, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 326.

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Der kollektive Prozess des Theaters der Arbeitsform im Arbeitsergebnis“ dar.18 Zu Recht kann man bei DER MUTTER, bei PEER GYNT, bei den SOMMERGÄSTEN und bei vielen anderen Produktionen von neuen, originär entstehenden theatralen Formsemantiken des Kollektivs sprechen, die hier ausführlich darzulegen und vorzuführen nicht der Raum ist, etwa die szenische Totale, aus der Gorkis Stück entwickelt wird, oder die Mehrfachbesetzung der Titelrollen in PEER GYNT. Der Qualitätsgrad der Einlassung, die Intensität in der Vorarbeit und bei der künstlerisch-szenischen Ergebnissuche verdankt sich der Trias von marxistisch-politischem Aufbruch und Anspruch, basisdemokratischer Neuordnung der Arbeitsgrundlagen und hoch ambitionierter künstlerischer Befähigung. Erst aus dieser Wechselbeziehung entstand offenbar jener Mehrwert, der weit über Theaterdeutschland hinaus Staunen und Bewunderung erregte. Das lässt sich in dem Augenblick erkennen, wo einer dieser drei Faktoren geschwächt wird. Zuallererst, so ist an verschiedenen Symptomen zu beobachten, lässt die Kraft der Politisierung nach, die allerdings seit Beginn an der Schaubühne nur in wenigen Fällen ein politisches Theater der direkten Agitation hervorbrachte. Schon 1974 ist davon die Rede, dass die politischen Standpunkte innerhalb des Ensembles weit auseinander gingen und Steins Position nicht unangefochten sei. „Die Frage, wie direkt politische Arbeit und Theater zu verbinden wären, plagt jeden.“ „Der Motor“19 der kollektiven Unternehmung, Peter Stein, revidiert die politischen Maximen und Ziele relativ früh. Das ist von außen vor allem am Spielplan abzulesen. Schon bald ist hier eine politische Pflichtschiene sichtbar, die vor allem durch Kollektiv- und B-Produktionen besetzt wird (z.B. MÄRZSTÜRME 1921, Brechts DIE AUSNAHME UND DIE REGEL), und jene von Stein und Grüber verantworteten Inszenierungen, die sich analytisch kritisch und ästhetisch innovativ mit der eigenen Herkunft und damit auch mit dem bürgerlichen Theater- und Bildungsfundus auseinander setzten (PRINZ FRIEDRICH VON HOMBURG, ANTIKENPROJEKT, DIE BAKCHEN). Die Gegenwartsdramatik wird von Peter Handke und Botho Strauß bestückt und zielt eher auf ein zeitgenössisches „mentales Theater“ und ein Westberliner Szenepublikum, als auf das Proletariat und den Klassenkampf.20 Gemessen

18 P. Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer, S. 31. 19 Gerd Jäger: „Wie, warum funktioniert d i e Schaubühne?“ in: Jahresonderheft Theater heute 1974, S. 15f. 20 Botho Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken, Frankfurt 1987, S. 72.

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Theaterkollektive am politischen Ausgangspunkt i s t Rischbieters rückblickendes Resümee von 1999 über den Weg der Schaubühne in den Siebzigern – „von der Agitation zur Resignation“ – verständlich, wenngleich überpointiert. Er nimmt die Schlussszene von Steins Inszenierung von Botho Strauß TRILOGIE DES WIEDERSEHENS zum Beleg, wo der Kunstvereinsdirektor Moritz nach dem ZensurEingriff eines Politikers sich seinen Kopf mit Binden einwickelt: „Das war ein Bild des Protestes ebenso wie eines der Resignation: die politische Aufbruchenergie der Schaubühne hatte sich endgültig verbraucht.“21 Hartwin Gromes, der dem Zusammenhang von Organisationsstrukturen und künstlerischer Produktion zwischen 1970 und 1978 nachgeht, kommt, bezogen auf die kollektive Arbeitsebene, anhand von Botho Strauß’ GROß UND KLEIN (1978) zu einem analogen Befund: „Das Ensemble will Genauigkeit in der Darstellung der Figuren von Botho Strauß erreichen. Nirgendwo im Protokoll ist die Absicht erkennbar, mit dem Stück eine direkte außertheatrale Wirkung zu erreichen, geschweige denn etwa einen Materialabend zu entwerfen, in dem die Verwerfungen der westdeutschen Gesellschaft am Ende der siebziger Jahre agitatorisch thematisiert würden.“22

Ist also die These dieses Aufsatzes, dass sich eine Entwicklung von der Politisierung zur Privatisierung des Theatermachens feststellen lässt, schon als relativ kurzfristige Binnenentwicklung am wichtigsten Theaterkollektiv der 68er Bewegung abzulesen? Vollzieht sich innerhalb von acht Jahren der Wandel vom proletarisch-marxistisch inspirierten politischen Theaterkollektiv zum Kunst-Kollektiv? Steins Äußerung 1978 in dem längeren Interview „Ich bin kein Einzelkämpfer“ scheint dies zu bekräftigen. Zwar werden der „antifaschistische Impuls und eine antifaschistische Praxis“ auch als eigener Generationenkonflikt bestätigt, ebenso wie der „zweite große Impuls für meine unmittelbaren politischen Äußerungsformen“, die „Studentenbewegung“. Aber gegen deren „Kulturstürmerei“ hält Stein den eigenen Theateranspruch hoch: „Seinen Beruf als Theatermacher ganz ernst zu nehmen.“ „Das bedeutet keinesfalls eine Entpolitisierung meiner Person oder meiner Ansichten. Im Gegenteil.“ Den theatralischen Wert einer

21 Henning Rischbieter: „Steins Geschichts-Ansichten, Grübers Visionen – Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1980“, in: Ders. (Hg.) 1999, S. 184/189. 22 H. Gromes: „Von der Wirklichkeit der Utopie“, in: H. Kurzenberger/A. Matzke (Hg.) 2004, S. 328.

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Der kollektive Prozess des Theaters „Veranstaltung“ wie Weiss’ VIETNAM-DISKURS-Inszenierung veranschlagt Stein jetzt jedoch als „gleich Null“. Niemals, selbst wenn man ihn prügele, würde er so etwas wieder inszenieren. Das ist eine deutliche Distanzierung von der eigenen politischen Vergangenheit, aber, wie oben formuliert, keine Absage an eine kritische politische Haltung, die sich nach hinzugewonnener Erfahrung und Einsicht theatral auf andere Weise zu verwirklichen sucht. Stein fordert von sich und seinen Schauspielern, dass jeder „hundertprozentig in der Sache vorkommt“ und dass man der theatralen Kunst als Kunst- und Analysemedium vertraut. Aufführungen für Arbeiter zu inszenieren, sei bei diesem Ausgangspunkt sinnlos, ja unmöglich. Nicht jedoch Stücke, die die eigene Biografie in vergleichbare historisch-gesellschaftliche Konstellationen hineinführen und an diesem Ort reflektieren. DIE SOMMERGÄSTE-Inszenierung wird deshalb für Stein und die Schauspieler zum doppelten Recherchefeld, dem der eigenen Biografie und jenem der bürgerlichen Herkunft. Beides entfaltet sich in einer neu arrangierten szenischen Form, die die Figuren als „Totale“, als Gruppenpanorama in vielen Differenzierungen bei gleicher gesellschaftlicher Basis zeigt. Mit dieser Aufführung bestätigt sich für den Regisseur zugleich in idealtypischer Weise das kollektive Produktionsprinzip. Die Kollektivität des künstlerischen Schaffensprozesses ist und bleibt nach wie vor der entscheidende Punkt: „Ohne das kann ich nicht arbeiten. Es ist nicht so, dass ich das ausschließlich favorisiere, um die Forderung des Weltgeistes zu befriedigen, sondern weil ich so bin, weil meine psychischen und physischen Voraussetzungen so sind, daß ich nur in einer verantwortlichen Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern aktiv werden kann. Ich bin kein Einzelkämpfer.“23

Das scheint nicht nur in der Formulierung „Mitarbeiter“ die Absage an das politische Kollektiv zu sein. Ob man aus dem Verzicht auf den (marxistischen?) „Weltgeist“ die Hinwendung zum privaten Ich herauslesen soll, das sich jetzt nur noch im theatralen Vorgang, im Medium der Kunst gemeinschaftlich erfahren und erweitern will, bleibt Interpretation. Evident ist nur, dass die politisch-ideologische Schubenergie der Anfangsphase der Schaubühne dem Gruppenprozess und mit ihm seinen künstlerischen Hervorbringungen außerordentlich zugute kam.

23 Peter Stein: „Ich bin kein Einzelkämpfer“, in: D. Kranz (Hg.) 1981, S. 203.

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Theaterkollektive

G ESELLSCHAFTSANALYSE ALS B ASIS DER M ITBESTIMMUNG : S CHAUSPIEL F RANKFURT 1972-1980 Ob man die Mitbestimmung am Schauspiel Frankfurt zwischen 1972 und 1980 unter die Rubrik Theaterkollektiv subsumieren kann, mag man in Frage stellen, fehlt dem Frankfurter Ensemble doch die politische und altersmäßige Homogenität des Schaubühnen-Kollektivs. Mit Sicherheit aber entspringt sie dem Zeitgeist nach 1968 und der damit verbundenen Politisierung der Politik und des Theaters. Sie hat in Peter Palitzsch zudem die verantwortliche Galionsfigur und eine Theaterpersönlichkeit, die die politische Theaterarbeit des Berliner Ensembles, das Palitzsch nach dem Mauerbau verließ, unmittelbar in die bundesrepublikanische Gesellschaft hinein trägt. Palitzsch’ lebendiges BrechtErbe heißt schon seit seiner Stuttgarter Schauspieldirektorenzeit (1976-82) Theater der Gesellschaftsanalyse. Nach Brechtscher Basismaxime soll „das menschliche Zusammenleben“ auf dem Theater „genau studiert werden.“24 Dieser Grundsatz ist verknüpft mit der Erfahrung und dem Ideal kollektiven Produzierens, das – so Palitzsch – die Aufführung „qualifizieren“ soll.25 Insofern hat der erste Satz des Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann bei der Pressekonferenz am 16. März 1972, in der er sein Direktoriumskollektiv vorstellt, nicht nur theaterimmanente Brisanz: „Sie wissen, daß der Ausgangspunkt die Frage war, ob die Institution ‚Generalintendant‘ noch zeitgemäß ist. Wir waren der Meinung, das sei ein Anachronismus.“ Das heißt im Klartext: Ein hoch subventioniertes deutsches Stadttheater darf und soll künftig sozialistische Basisdemokratie erproben und praktizieren, soll den Sprung vom real existierenden Intendantenfeudalismus in die linke Utopie wagen, zu deren Realisierung die ebenfalls staatlich gut subventionierte Berliner Schaubühne zu diesem Zeitpunkt kaum Erfahrungen beitragen konnte, zumal ihr Berliner Sonderstatus nicht einfach auf eine Kommune wie Frankfurt übertragbar war. Am Ende von acht heftigen, streitbar chaotischen, aber auch intellektuell und szenisch ergiebigen Frankfurter Jahren, schreibt der experimentierfreudige Kulturpolitiker Hoffmann sich

24 Berliner Ensemble/Helene Weigel (Hg.), Theaterarbeit, Berlin 1961, S. 130. 25 Peter Palitzsch, in: Gert Loschütz/Horst Laube (Hg.), War da was? Theaterarbeit und Mitbestimmung am Schauspiel Frankfurt 1972-1980, Frankfurt 1980, S. 18.

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Der kollektive Prozess des Theaters selbst und seinen Theaterleuten als Fazit der ersten Mitbestimmungsphase an einem deutschen Stadttheater ins Stammbuch: „Sie hat den Schauspielern, Regisseuren, Dramaturgen ein neues Selbstverständnis ihrer historischen Rolle gebracht: sie verstehen ihre Funktion heute als Produzenten und nicht mehr in der Beschränkung auf bloß reproduktive Organisation. Mitbestimmung hat den Künstlern ihre je individuelle Mitverantwortung bewußt gemacht: von den künstlerischen Prozessen bis zu deren Vermittlung an ein breites Publikum; ihre Mitverantwortung auch an dem, was Theater umfassend heute für die Gesellschaft bedeuten kann.“26

Rückschauend kann man mit Blick auf die Beurteilung vieler, die ins Frankfurter Experiment involviert waren, sagen, dass das Hoffmannsche Resümee keine Schönfärberei ist. Die Mühen der Ebenen aber waren gewaltig, spannten die Nerven und Kräfte der Beteiligten aufs Äußerste – vor allem die zentrale Frage, die das Frankfurter Vorhaben durchgehend bestimmte: „Wie kollektive Arbeitsmethoden in die Proben eingebracht werden“. Ein Gespräch unter eben diesem Titel hat „Theater heute“ im Jahressonderheft 1974 abgedruckt. Palitzsch gibt auch hier Richtung und Kriterien vor: „Man kann nur kollektiv arbeiten, wenn Kriterien geschaffen werden, die objektiv sind; und objektive Kriterien im Theater sind gesellschaftliche.“ Hier spricht der überzeugte Marxist, ebenso wenn er die selbstschöpferische Kraft des Kollektivs aufruft: „[...] ja für mich kann sogar nur die Gruppe zu einer wirklich großen Phantasie kommen [...] die wirklich produktive Phantasie setzt ein, wenn die gesamten anderen Gründe, das gesellschaftliche Verhalten, das Alter, das Geschlecht usw. die Figur definieren. Wenn das wirklich durchdacht und miteinander diskutiert worden ist, erst dann kann man von Phantasie sprechen.“

Im gleichen Atemzug kritisiert Palitzsch die „metaphysisch im Raum herumschwirrenden Begriffe“, die an der Regisseursfigur und seiner Genialität festgemacht werden, kritisiert er die RegieFixiertheit der Schauspieler, die einen „produktiven Kreislauf“ beim Probenprozess verhindern und verweist auf das sowjetische Modell, das die Mitglieder des Berliner Ensembles bei einem Besuch in Moskau mit Erstaunen zur Kenntnis genommen haben. Denn hier wurden szenische (Zwischen-)Ergebnisse erst auf verschiedenen Produktionsebenen hart diskutiert, auf der der spielenden Schauspieler, der der zusehenden Schauspieler, der der

26 Hilmar Hoffmann, in: G. Loschütz/H. Laube (Hg.) 1980, S. 16/17.

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Theaterkollektive Regieassistenten, bevor der Hauptregisseur die Aufgabe übernahm, die im gemeinsamen Proben- und kritischen Diskussionsprozess gefundenen Kriterien „zu einer Synthese zusammenzufassen“.27 Die Einwände der Frankfurter Schauspieler und Dramaturgen im Gespräch sind die gleichen wie die des (im Band WAR DA WAS? gut dokumentierten) Mitbestimmungsalltags: das hartnäckige Ringen um ein anderes, ein neues Regisseursbild, um ein Verhältnis, das ‚mit‘ dem Regisseur die Probenabläufe produktiv macht, ihn von seiner Zensuren verteilenden Oberlehrerfunktion befreit. Beklagt werden der Druck der Öffentlichkeit und der Presse, die respektable, innovative Ergebnisse sehen wollen, der Ablieferdruck der ‚Waren‘-Herstellung in einem vom Abonnement bestimmten Stadttheaterbetrieb, die individuellen Rollenwünsche der Schauspieler, die Analysedefizite in Stückdiskussionen und bei der Spielplanvorbereitung. Das alles wird auch den Widrigkeiten des Systems zugeschrieben. „Wenn wir wirklich kollektiv arbeiten könnten, dann hätten wir hier, in einem kühnen Vorgriff auf den Sozialismus, Arbeitsweisen wie Inseln im Kapitalismus geschaffen“, führt Dramaturg Laube zur Entlastung der angespannten Situation an und macht zum Schluss einen Definitionsversuch, der sich an der Frankfurter Realität orientiert: „Es ist also ein falsches Gruppenverständnis, wenn man meint, Gruppe, das sei die Nivellierung aller zu einem harmonischen Ganzen, sondern Gruppe kann auch in unserer Arbeit nur verstanden werden als eine sinnvolle Zusammensetzung von einzelnen Qualitäten.“28

Dass es trotz des enormen Verschleißes in den Vollversammlungsdiskussionen und in der gemeinsamen Arbeit, trotz persönlicher Reibungen, trotz sach- und personenorientierter Konflikte, vor allem um die unterschiedlichen Regisseure und Regisseurscliquen, bei diesem „Kommando Parsival“, wie Laube es nannte, keinen Rückzug in die Kunst oder ins Private gab, ist festzuhalten. Auch dass sich das Kollektiv der Schauspieler zumindest punktuell stärkte und in der sechsten Spielzeit mitten in den Proben zu Dorst/Laubes Revolutionsdarstellung der Pariser Commune GONCOURT ODER DIE ABSCHAFFUNG DES TODES vom regieführenden Palitzsch und der Leitung die Brechtsche Version DIE TAGE DER COMMUNE einforderte mit dem Argument, Dorst/Laubes

27 Peter Palitzsch, in: „Wie kollektive Arbeitsmethoden in d i e Proben eingebracht werden“, in: Jahressonderheft Theater heute 1974, S. 58. 28 Horst Laube, in: Ebd. S. 61.

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Der kollektive Prozess des Theaters „Text ermangele der Parteilichkeit“29, ist ein außerordentlicher Vorgang. Das Programm der (Selbst-)Abschaffung von Intendant und Regiedominanz schien zumindest teilweise zu greifen. Die Theatergeschichtsschreibung und die zahlreichen Würdigungen Palitzsch’, der Ende 2004 gestorben ist, bestätigen nochmals seinen „zähen und geduldigen Willen, hierarchische Strukturen aufzulösen“30, sein Ensemble am Spielplan, den Engagements und den Inszenierungsvorgängen zu beteiligen. Karlheinz Braun, der eine Zeitlang Mitdirektor im Leitungskollektiv war, ruft vor allem die Probleme der Frankfurter Zeit und die Stärken Palitzsch’ ins Gedächtnis zurück: Wie der Wechsel vom Intendanten-Theater zu dem der Mitbestimmung für Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner „ein eher enthusiastisch idealistischer“ gewesen sei, für das Dreierdirektorium aber „ein formalorganisatorisches Problem“, wie das beabsichtigte Zusammenwirken aller künstlerischen Kräfte mitbestimmt zu bewerkstelligen sei, vor allem aber das „schier unüberwindliche Problem: Kann es Mehrheitsbeschlüsse in künstlerischen Fragen geben?“ Dass die qualitative Veränderung der Arbeit im Zentrum stand, „Theateraufführungen explizit als gesellschaftliche Modelle verstanden“31 wurden, war offenkundig Palitzsch geschuldet, vor allem seiner Erfahrung und Prägung durch das Berliner Ensemble. Für dieses hatte der gelernte Werbegrafiker seinerzeit das signifikante Emblem entworfen, den roten Kreis, in dem ‚Berliner Ensemble‘ in blau zu lesen ist. Dem Kollektivgeist, wie er dort gepflegt und mit der Probenarbeit und den Modellbüchern programmatisch dokumentiert wurde, ist Palitzsch in Frankfurt als Aufgabe und Zielsetzung treu geblieben: Brechts auf den Darstellungsvorgang gemünzte Einsicht, dass die Schauspieler sich gegenseitig ‚kreieren‘ sollten, hat sich hier allerdings in vieldeutiger Hinsicht erfüllt. Die Krisen, die der Spielleiter beim Probenprozess laut Brecht zu entfesseln habe, ergaben sich von allein, aber das „Zusammenspiel“, das der Tradition des Berliner Ensembles entsprechend erst die realistischen Bilder vom Zusammenleben der Menschen hervorzubringen imstande ist, blieb immer das unangefochtene Ziel.32

29 H. Laube, in: Ders./G. Loschütz (Hg.) 1980, S. 188. 30 Henning Rischbieter: „Peter P a l i t z s c h und d i e Mühen der Mitbestimmung“, in: Ders. (Hg.) 1999, S. 154. 31 Karlheinz Braun: „Peter Palitzsch zum B e i s p i e l “ , in: Theater der Zeit 2 (2005), S. 38/39. 32 Bertolt Brecht: Über den Beruf des Schauspielers, Frankfurt 1980, S. 32/38.

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Theaterkollektive

T ABORIS ‚K REIS ‘: V ERLIEBTE

UND

V ERRÜCKTE

„Wenn man bedenkt, was es in den sechziger Jahren und zu Beginn der siebziger Jahre an Experimentierfreudigkeit, an ästhetischen Provokationen, neuen Ensembleformen, Mitbestimmung usw. gab und was jetzt ist – dann kann ich es nur beschämend finden“, äußert George Tabori in einem Gespräch 1987.33 Und „der Spielmacher“ Tabori – so der Titel der Interview-Sammlung – bezieht sich und seine Arbeit dabei ausdrücklich mit ein. Fünf Jahre später ist seine Zeit- und Theaterdiagnose weniger moralisch und schaut den alten und neuen Realitäten ins Auge: „Es gibt eine Theaterkrise, weil die Welt ökonomisch und ideologisch in einer Krise steckt. Und weil das deutsche Theatersystem nicht nur das reichste und beste ist, sondern auch das krankeste“, was Tabori vor allem auf den Produktions- und selbstauferlegten Leistungsdruck zurückführt. Die Chancen des politischen Theaters heute schätzt Tabori 1992 gering ein: „Ich habe politisches Theater gemacht. Und in gewissen Situationen hat das auch funktioniert. Aber heute: so what. Ich kann mir vorstellen, daß in Mali oder Afghanistan ein Brecht-Stück ungeheure Aktualität hat. Wir haben in den USA Straßentheater gemacht und damit im Rahmen der Friedensbewegung auch etwas erreicht. Aber heute den Leuten in Österreich zu sagen: Seid nett zu den Türken, zu den Kindern oder den Juden, das bringt nichts. Da hört niemand zu.“34

Kaum einer hat wie Tabori in seinem (Theater-)Leben die Zeitgebundenheit des Theatermachens, seiner Mittel und Ziele erfahren und erkannt, kaum einer so oft die Orte und Produktionsbedingungen gewechselt und selbst neu definiert. Er ist ein Pendler zwischen den „Theater-Kathedralen“ und den „Katakomben“ des Theaters,35 zwischen dem armen und reichen Theater, zwischen den großen staatlichen „Produktionspuff[s]“,36 wie zum Beispiel den Münchner Kammerspielen oder dem Wiener Burgtheater und jenen real utopischen Orten, die er sich als „Schule der Mensch-

33 George Tabori: „Theater – Puff oder Schule der Menschlichkeit?“, in: Wend Kässens (Hg.), Der Spielmacher. Gespräche mit George Tabori, Berlin 2004, S. 69. 34 Ders.: „Dieses System ist der helle Wahnsinn“, in: Ebd. S. 106/109. 35 Ders.: Unterammergau oder Die guten Deutschen, Frankfurt 1981, S. 18. 36 Ders.: „Verliebte und Verrückte“, in: Ders. (Hg.), Betrachtungen über das Feigenblatt, München 1991, S. 84.

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Der kollektive Prozess des Theaters lichkeit“ einrichten wollte,37 das ‚Bremer Theaterlabor‘ (1975) etwa oder ‚Der Kreis‘ in Wien (1987). Das ‚Theaterlabor‘, das Tabori erstmals eine Basis kontinuierlicher Arbeit in der Bundesrepublik gab, war freilich eine Intendanten-Idee. Peter Stolzenberg arbeitete 1975 in Bremen keineswegs an seiner Selbstabschaffung. Der Bremer Intendant gab einer so genannten Gruppe um Tabori die Staatstheater-Nische, in der in einem gleichsam permanenten Workshop theatral experimentiert werden sollte, und er verlieh seinem Theater damit zugleich ein avantgardistisches Aushängeschild. Im Concordia, „dem Experimentierhaus des Bremer Theaters“, ging es Tabori zusammen mit zehn Schauspielern und einem Bühnenbildner nicht darum, „einen Stil [zu] finden (was sowieso, wie Brecht sagt, Geschmackssache ist), sondern eine Identität, die aus der Gruppe herauswächst und nicht von außen an sie herangetragen wird“.38 Tabori macht den Schauspieler und seine Abschaffung als Rollendarsteller im traditionellen Sinn zum Programm, propagiert „ein menschliches Theater“, in dem „das Anthropologische, das Moralische und das Politische“ zusammenkommen, und distanziert sich von Anfang an von der Vorstellung, hier handele es sich um „Gruppen-Guru-Therapie“.39 Der Verdacht lag vordergründig nahe, weil Taboris Interesse an psychologischen Vorgängen, Methoden und Themen offenkundig war. So führte er unter anderem die Gestalttherapie Perls in die Probenarbeit ein. SIGMUNDS FREUDE war eine der ersten Bremer Produktionen. „Wichtig war das ‚wir‘.“ Wir „haben stundenlang im Kreis gesessen und Spiele gemacht“, resümieren die Beteiligten. Und sie verweisen auf „extreme Erfahrungen“, die sie zum Beispiel ganz konkret bei einem kollektiven Hungerstreik machten, weil der Kulturdezernent im Auftrag der Stadt das Hungern als Vorbereitung der Kafka-Produktion DIE HUNGERKÜNSTLER verbot. Das ergab nicht nur bundesweit Schlagzeilen, sondern der „Druck von außen“ schweißte zusammen und war „zusätzliche[r] Lustgewinn“.40 Gruppenarbeit gab damals, wie Tabori betont, neue Impulse, hatte einflussreiche internationale Vorbilder, das „Modell

37 G. Tabori: „Theater – Puff oder Schule der Menschlichkeit?“, in: W. Kässens (Hg.) 2004, S. 68. 38 Ders.: „Ein begeisterungsfähiger Skeptiker“, in: Ebd. S. 16. 39 Ders.: „Für ein menschliches Theater“, in: Ebd. S. 28ff. 40 Klaus Fischer/Rainer Frieb, in: Gundula Ohngemach (Hg.), George Tabori, Frankfurt 1989. S. 86/66/91f.

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Theaterkollektive Grotowski, Modell Living Theater, Open Theater“.41 Taboris internationale, amerikanische Prägung, vor allem seine Mitarbeit in Strassbergs ‚Actors Studio‘ kommt also nicht nur in der psychologischen Ausrichtung der Theaterarbeit ins Spiel. Freilich, Tabori bewunderte auch Bertolt Brecht und die Produktionen des Berliner Ensembles. Schauspielmethodisch ist er ein Synkretist, als „Spielmacher“ vor allem Anreger, Probenerfinder, aufmerksamer Zuhörer und Zuschauer, in seinem Untersuchungs- und Darstellungsinteresse, eben weil er den Schauspieler zum Konzept seines Theaters erklärt, ein Beobachter und Ergründer der sozialen Fähig- und Unfähigkeiten des Menschen. Es geht bei der schauspielerischen Darstellung immer „um reacting und nicht um acting“.42 Damit markiert Tabori auf der Darstellungsebene die soziale Dimension seiner Theaterarbeit. Sie impliziert die genaue Wahrnehmung des anderen – deshalb Perl und die Sensibilisierungsübungen in der Gruppe – sie fordert den Respekt für ihn, stellt die Aufgabe, „nicht die eigenen, sondern seine/ihre Bedürfnisse zu bedienen“. Oliviers Feststellung, „das Theater is t e i n Akt der Liebe“, ist Tabori willkommene Bestätigung und Überhöhung seiner Theaterutopie, die er gern als effektvolle Mischung aus säkularisierter Theologie und theatralisierter Erotik formuliert: „Der Liebesakt oder der endlose Prozess einer Theaterarbeit darf nie ein fertiges Produkt oder Objekt werden, da nie das Ding auf der Bühne das Produkt ist, sondern der Mensch.“ Statt Verdinglichung heißt es, den anderen neu sehen lernen, sich und die anderen erweitern, die Erfahrung anpeilen und sichtbar machen, „daß in jedem von uns ein anderer steckt, der/die einmalig ist“. Das ist Taboris frühzeitiges ‚Testament‘, betitelt VERLIEBTE UND VERRÜCKTE, das er anlässlich seines Neuanfangs in Wien 1987 verfasst hat. „Alles, was ein Mensch ist, ist [...] im ‚Kreis‘ brauchbar.“ Das ist Ausgangs- und Endpunkt dieser Unternehmung, in der sich „keine Ellenbogenkünstler“, sondern „Geber“ zusammenfinden, als „Arbeitsgemeinschaft“, als „Gruppe“, als neue Form des Actors-Studios. Und wie in Bremen gibt es von Tabori vorgegebene Kriterien für das Kollektiv: „Die Ästhetik im ‚Kreis‘ wird von menschlichen Beziehungen bestimmt“, denn: Ein „Kreis ist keine Kollektivsoße, die den einzelnen überschüttet; richtige Gruppenarbeit fördert, bestätigt und entfesselt individuelle Bedürfnisse“. Statt einer „hierarchische[n] Produktionsmaschinerie“

41 G. Tabori: „Für ein menschliches Theater“, in: W. Kässens (Hg.) 2004, S. 31. 42 Ders. in: G. Ohngemach (Hg.) 1989, S. 123.

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Der kollektive Prozess des Theaters geht es um einen „lebendigen Organismus“. „Ein Kollektiv taugt nichts, wenn es nicht aus einer menschlichen und nicht nur formalen Solidarität entwickelt wird.“43 All das ist auch als Kritik am zunehmend formalisierten basisdemokratischen Mitbestimmungsmodell zu lesen, als Revision des Vorhabens, ganze Stadttheaterensembles zu ‚demokratisieren‘. „Eine demokratische Form ist nur in einer kleinen Gruppe zu realisieren, in der die Menschen einander menschlich begegnen und versuchen, gerecht zu sein.“ Zehn bis zwölf Spieler sind für Tabori die Gewähr dafür. Denn Theaterkollektive müssen auch Schutzräume sein, bedürfen der Intimität und Geborgenheit, wenn hier Persönliches verhandelt und schließlich veröffentlicht wird. Und sie brauchen bei aller „idealen Demokratie“ einen, „der letzten Endes die Verantwortung übernehmen muß“, brauchen Menschen, die „fähig“ sind in einem Kollektiv zu arbeiten.“ Wie schnell sich ein hoch gespanntes Vorhaben in die alte, schlechte Theaterrealität zurück verwandelt, erlebt Tabori an der Schaubühne: „Ich hatte angenommen, sie verstehen sich als Gruppe, weil sie seit 15 Jahren zusammen sind, aber es gab überall Rivalität. Mit Stein wollten sie alle zurecht kommen, er hatte immer Recht. Okay, ich will nicht immer Recht haben, ich will, daß sie Recht haben.“44 Diese Erfahrung in der späten Phase der Steinschen Schaubühne (Tabori inszenierte dort 1984 DAS VERHÖR von István Eörsi), zeigt aber nicht nur den Verschleiß einer Utopie, es zeigt auch die je eigene Identität einer Gruppe, die sich meist im Verhältnis zu ihrem Chorführer, seinen Vorstellungen und seiner Persönlichkeitsstruktur herausbildet und verändert. Taboris Zielsetzung im theatralen Gruppenprozess, nach Möglichkeit jeden Einzelnen so frei zu machen, dass er und die anderen Recht haben, ist grundsätzlich verschieden von jener Steins oder Palitzsch’. Individualisierung und Privatisierung sind notwendiges Ziel und Bedingungen, wo die Priorität beim Schauspieler liegen soll und nicht in der Rolle oder im Stück und damit in einem dort repräsentierten Gesellschaftsbild oder Weltentwurf. Bezugspunkte außerhalb des Kollektivs sind hier also zunächst einmal sekundär. Peter Stein und seine Schauspieler haben mit ihrer „Verantwortungsethik“ gegenüber dem Text und den darstellerischen Mitteln das Objektive in der (perfektionierten) Kunst ge-

43 G. Tabori: „Verliebte und Verrückte“, in: Ders. (Hg.), Betrachtungen über das Feigenblatt 1991, S. 85ff./89. 44 Ders., in: G. Ohngemach (Hg.) 1989, S. 141.

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Theaterkollektive sucht und realisiert;45 Palitzsch bezog sich in der Mitbestimmungsbemühung ebenso wie im Darstellungsinteresse auf die Objektivität des Gesellschaftlichen. Tabori hingegen sucht das Reale und das Politische immer im menschlichen Subjekt und in seinem sozialen Verhalten. So bleibt von den Vorbildern des politischen Theaters für ihn nur „das brechtsche Ethos“ nutzbar, die Arbeitshaltung und -einstellung, „Vorschläge [zu] machen“, „Versuche an [zu] bieten“.46 Im szenischen Ergebnis, in der Ästhetik, die ja kein Dekor ist, sondern in je besonderer Art und Weise szenisch eine Weltsicht formuliert, trennen sich die Geister: im Berliner Ensemble fand Tabori „was ich bisher vergeblich im Theater gesucht hatte, reine Perfektion, eine unvergleichliche Einheit von Form und Inhalt, die Einfachheit, die so schwer zu machen ist“. Aber „auf dem Höhepunkt der schönsten Erfahrung meines Theaterlebens nahm ich auch seine Nutzlosigkeit für mich wahr“.47 Das Transitorische des Theaters, sein Gegenwartsbezug, seine Präsenz, die das Hier und Jetzt einfängt und vergrößert, sind Taboris Argument, warum man im Theater keine Objekte wie Fotos, Bücher oder Filme produzieren kann und darf. Wo Inszenierungen so präzise und objektiv sind wie bei Stein und Brecht, werde diese „Essenz des Theatermachens verraten“. „Wenn man dieses immer wieder Neue, das Vergängliche, das Unperfekte versucht zu manipulieren, in ein Objekt zu verwandeln – das geht nicht.“48 So wird in Taboris Theatervorstellung und Theaterkonzept die kollektive Kreativität der Darstellung immer gebunden an den Augenblick, an das Spontane und notwendigerweise Unperfekte – denn das heißt, „nicht Kunst zu reproduzieren, sondern Leben zu produzieren“. Aber realisiert werden kann „das Spontane, das Schöpferische, das Freie“ nur dort, wo es nicht durch ein falsches „Prinzip Ordnung blockiert“ wird. „Nur aus dem Chaos kann Ordnung entstehen. Der andere Weg ist, wie wir wissen, spätkapitalistische Regiemanie und Rampensauerei.“49

45 Botho Strauß: „Das Maß der Wörtlichkeit. Über Peter Stein“, in: Ders. (Hg.), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, München 1999, S. 87. 46 G. Tabori: „Verliebte und Verrückte“, in: Ders. (Hg.) 1991, S. 86. 47 Ders.: Unterammergau oder Die guten Deutschen, S. 1. 48 Ders.: „Den Tod überlisten“, in: W. Kässens (Hg.) 2004, S. 114. 49 Ders.: „Verliebte und Verrückte“, in: Ders. (Hg.) 1991, S. 85ff.

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Der kollektive Prozess des Theaters

D IE M ARTHALER -F AMILIE UND IHRE SINGENDEN Z WANGSGEMEINSCHAFTEN Dass auch ein Stadt- und Staatstheaterbetrieb ein „lebendiger Organismus“ sein muss, um künstlerisch produktiv zu werden, hat in den neunziger Jahren in Basel und Hamburg vor allem das Team um Frank Baumbauer gezeigt und dafür zu Recht die branchenüblichen Meriten eingestrichen (z.B. als ‚Theater des Jahres‘ 1994). Baumbauers Theater ist die pragmatische Anwendung von Laubes Kollektivpostulat von 1974, der „sinnvollen Zusammensetzung von einzelnen Qualitäten“, freilich ohne jeden politischideologischen Anstrich oder gar Kollektivanspruch. Aber man könnte dieses gelungene Stadttheater, das auf präzise Planung, die künstlerische Qualität und Besonderheiten von Personen und e i n offenes Gespräch über Themen und Stücke setzte, doch als Beleg dafür nehmen, dass die Bewusstseins- und Realitätsveränderungen durch die Theaterkollektive von 1968 gleichsam unterschwellig weitergingen und sich transformierten.50 Bei traditioneller Entscheidungsvollmacht des Intendanten, ohne etabliertes Mitbestimmungsmodell, aber mit regelmäßigen Ensembleversammlungen wurde in Basel sorgsam darauf geachtet, dass die künstlerisch Beteiligten unter- und miteinander gesprächsfähig waren und die Arbeit an diesem Theater als Gesamtverantwortung für Spielplan, Ensemble und Niveauanspruch der Produktionen begriffen. Jossi Wieler berichtet von einem Stadttheater, das „sehr durchlässig“51 war, lobt die wechselseitige Offenheit und Kritikfähigkeit der meisten jungen Regiekollegen, die gemeinsame Bemühung um das Ensemble und seine künstlerische Entwicklung und Stärkung, etwa durch unterschiedliche Arbeitserfahrungen bei verschiedenen Regisseuren (u.a. Castorf, Clemen, Marthaler, Müller, Schröter und Wieler).52 Christoph Marthaler macht daraus eine Pointe: „Es konnte vorkommen, dass fünf Regisseure an einem Tisch in der Kantine ein paar gemeinsame Stunden verbracht haben.“

50 Auch personell gab es Verknüpfungen durch einige Schauspieler der Schaubühne und der Frankfurter Mitbestimmungszeit im Basler bzw. Hamburger Ensemble. 51 Jossi Wieler, in: „Da hat der Furz von Faust nicht gezündet“, in: Jahrbuch Theater heute 1994, S. 22. 52 Stimulierend und einflussreich, was Themen und Projekte angeht, war in diesem Theater vor allem das Dramaturgie-Team Wilfried Schulz, Stefanie Carp, Matthias Lilienthal, Barbara Mundel und Albrecht Puhlmann.

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Theaterkollektive In dieser Konstellation, in einem Theater, das Schauspieler, Dramaturgen und Regisseure zusammenführte, die „keine genormten Menschen waren“53, sondern ihre Eigenheiten geltend machten, wird aus dem Theatermusiker Marthaler der Theatermacher Marthaler. In der ersten Phase darf er in so genannten Projekten sein Theater am Rande ausprobieren, im Badischen Bahnhof in einer „performancehafte[n] Begehung des Bahnhofsgeländes“ an die fünfzig Jahre zurückliegende „Reichskristallnacht“ erinnern. Schon hier etabliert er die Marthalersche Grundsituation: den „Zustand des Wartens“.54 Am selben Ort im Bahnhofsbuffet, laut Marthaler „ein Wahnsinnsraum“55, findet seine persönliche theatral-gedankliche Auseinandersetzung mit dem 700 Jahre-Jubiläum der Schweiz und seinen nicht nur militärischen Traditionen statt („WENN DAS ALPENHIRN SICH RÖTET, TÖTET, FREIE SCHWEIZER TÖTET“). Das ist der nicht unpolitische Auftakt eines Autorentheaters, das künftig in dadaistischer Tradition vor allem die schwere „Kunst des höheren Blödsinns“.56 pflegt. Wieler beurteilt Marthaler im Unterschied zu sich selbst als „Regie-Autor“ und stellt ihn dabei in eine Reihe mit Pina Bausch, Einar Schleef und Frank Castorf.57 Das ist eine wichtige theaterhistorische Markierung. Nur: Marthalers Autorentheater ist schon auf der ersten Arbeitsstufe das Produkt eines Kleinstkollektivs. Anna Viebrocks Raum-Entdeckungen und -Erfindungen sind „unmittelbar beteiligt“ an der „Entwicklung der Stücke oder wie man das nennen will“. Es „entsteht immer eine gemeinsame Produktion“.58 Später kommt Stefanie Carp, die Dramaturgin, als Mitautorin hinzu. Und es gibt die ‚Marthaler-Familie‘ der Schauspieler, die in den Projekten eher als Selbst- denn als Rollendarsteller fungieren: „Das Wort Performer gefällt mir nicht, meint aber ungefähr das“. Marthalers Vorstellungen vom Produktionskollektiv sind pragmatisch und aufs eigene künstlerische Vorhaben bezogen: „Wichtig ist natürlich, dass man sich versteht, eine Grundfamilie, die aber nie konstant bleibt. Ich könnte mir nicht 53 Christoph Marthaler, in: „Da hat der Furz ...“, Jahrbuch Theater heute 1994, S. 22. 54 Matthias Lilienthal: „Eine untergegangene Welt ein letztes Mal imaginieren“, in: Klaus Dermutz (Hg.), Christoph Marthaler. Die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen, Salzburg/Wien 2000, S. 114f. 55 Ch. Marthaler, in: „Da hat der Furz ...“, in: Jahrbuch Theater heute 1994, S. 22. 56 J. Wieler, in: Ebd. 57 Ebd. S. 25 58 Ch. Marthaler in: Ebd.

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Der kollektive Prozess des Theaters vorstellen, immer mit denselben acht oder zehn Leuten Theater zu machen. Inzest wäre tödlich.“ Marthalers Blick aufs Kollektiv, dem des Produktionsprozesses und jenem auf der Bühne, ist also zwiespältig. Die kollektive Arbeit befördert laut Marthaler und den beteiligten Schauspielern vor allem das gemeinsame Singen: „Wir haben ja ganz lange nicht gearbeitet, sind einfach nur zusammengekommen und haben Lieder gesungen. Das ist ja das Interessante, man arbeitet noch nicht wirklich, obwohl unglaublich viel entsteht.“ Auf der anderen Seite ist es „ein harter Drill, bis wirklich ein Chor entsteht“, verbunden mit der Entdeckung, „dass die Leute im Grunde Autisten sind und gar nichts Gemeinsames machen können“.59 Diese Erfahrungen der anderen, vielleicht auch der eigenen Person, prägen auch die Marthalerschen Kollektive auf der Bühne. Es sind dahindämmernde Einzelne, die sich in „seltsame[n] Kommunikationsnetz[en]“ verbinden, indem sie ab und an aus ihrem einsamen Dahindösen auftauchen. „Ich habe diese Situation als meine Form gewählt“,60 sagt Marthaler. Aber der Beobachter und Liebhaber der Langsamkeit und des Schlafens vieler einsamer, besonderer Menschen ist auch der Liebhaber und Dirigent des chorisch belebten Augenblicks, wenn sich die Dahindämmernden, oft nur kurz, heftig und harmonisch vollendet, zur musikalischen Gemeinsamkeit aufschwingen. „Es wird eine Spannung zwischen einem becketthaften Autismus und der Harmonie des Singens aufgebaut.“61 Aus dieser Spannung, dieser Dialektik lebt die in Anna Viebrocks Räumen platzierte Zwangsgemeinschaft. Das Marthaler-Theater der Marthaler-Familie ist damit nicht zuletzt eine Orts- und Zeitbestimmung gegenwärtiger Kollektivität. „Keiner entrinnt dieser endlosen Gleichheit“, wenngleich auf der Bühne in der Regel die Zurück- und Übriggebliebenen sind. „Der kollektive Lebens- und Gefühlszustand ist ein zwangsneurotischer Alptraum“, schreibt Stefanie Carp, die Mitproduzentin, und sie meint damit die Ausgemusterten und Gescheiterten der ehemaligen DDR in MURX DEN EUROPÄER! MURX IHN! MURX IHN! MURX IHN! genauso wie die armseligen so genannten Führungskräfte in DIE STUNDE NULL am Anfang der BRD. „So verletzt die Struktur dieser Theaterabende alle Grundverabredungen bürgerlicher Daseinsberechtigung: die der Verantwortlichkeit,

59 Ch. Marthaler, in: „Da hat der Furz ...“, in: Jahrbuch Theater heute 1994, S. 22f./26. 60 Ders., in: Klaus Dermutz: „Weltentrauer und Daseinskomik des Halbgebirgsmenschen Christoph Marthaler“, in: K. Dermutz (Hg.) 2000, S. 12. 61 M. Lilienthal: „Eine untergegangene Welt...“, in: Ebd. S. 119.

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Theaterkollektive die der Selbstmächtigkeit des Menschen und die Grundverabredungen der bürgerlichen Kunst: die Einmaligkeit.“62 Dieser Befund beschränkt sich nicht nur auf die bürgerliche Ideologie. Die selbstschöpferischen Kräfte, wie sie in der ‚Truppe 31‘ und im politischen Anspruch der Theaterkollektive bis in die siebziger Jahre hinein lebten oder beschworen wurden, sind nicht weniger betroffen. Nicht nur „das Pathos des Individuums ist verschwunden“, wo „das Individuelle“ nur noch als „Notwehr geblieben“ ist. Auch das Pathos des Kollektivs ist obsolet, wo der musikalische Chor nur noch punktuell als erinnerungssüchtige Utopie empathisch klingt und glüht. Zwar beschwören nicht nur die Mitstreiter das Politische an der Marthalerschen Theater- und Wahrnehmungsform.63 Gemessen an den Absichten und Überzeugungen der vorangegangen Vertreter eines politischen Theaters im 20. Jahrhundert relativiert sich diese Position. ‚Politisch‘ hat in diesem Theaterkontext und wohl auch im gesamtgesellschaftlichen in den neunziger Jahren eine andere und neue Bedeutung. Der Begriff beschreibt eher die Wahrnehmung eines allgemeinen Desasters als den künstlerischen Willen einer perspektivischen Durchdringung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit: „Der aufklärerische Impuls der siebziger Jahre ist verloren gegangen, aber an der Verzweiflung der Situation hat sich nichts geändert.“64 Mit einem politischen Anspruch aufzutreten, erscheint den Theatermachern in den Neunzigern eher naiv – siehe Tabori. Im Falle Marthaler wird das Politische gar kaschiert oder schamhaft geleugnet: „Er würde es nie zugeben, und trotzdem sind seine Arbeiten immer hoch politisch.“65 Sepp Bierbichler meint damit wohl ihren zeitdiagnostischen Gehalt, nicht ihre politische Handlungsorientierung. Politische Wirkungsabsicht ist im gesellschaftlichen Terrain ebenso geschrumpft wie beim Theatermachen, und mit ihr die Verallgemeinerung, das Repräsentative der Darstellung auf dem Theater. Stellt man Marthalers Theater neben das von Brecht, Palitzsch oder Stein, wird dies überdeutlich. Am Ende des 20. Jahrhunderts herrscht nicht die Stringenz der Gesellschaftsanalyse oder des politischen Glaubens, die Anstrengung der wissenschaftlichen 62 Stefanie Carp: „In der Waagerechten auf die Fresse fallen“, in: K. Dermutz (Hg.) 2000, S. 104/107. 63 Vgl. David Roesner: Theater als Musik, Tübingen 2003, S. 119. 64 M. Lilienthal: „Eine untergegangene Welt...“, in: K. Dermutz (Hg.) 2000, S. 123. 65 Josef Bierbichler: „Marthaler ist viel zu schlau, um Grenzen zu überschreiten“, in: Ebd. S. 137.

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Der kollektive Prozess des Theaters Recherche und der detailversessenen Interpretation, die Objektivierung der Wirklichkeit im theatralen Kunstwerk oder im Gesellschaftlichen. Es sind jetzt die an ihren jeweiligen Urheber gebundenen Weltsichten, vergrößerte subjektive Zustandsbeschreibungen, die aufs Theater kommen. Sie formulieren sich in Projekten, die der allgemeinen gesellschaftlichen Individualisierungstendenz Rechnung tragen, wenn sie die theatrale Veranstaltung aus der Besonderheit von Menschen und Orten entwickeln. Schon Tabori favorisierte diesen persönlichen Zuschnitt der Theaterarbeit, der die vorgegebenen Dramentexte zunehmend hinter sich lässt. Marthalers Autorentheater geht hierin weiter, radikalisiert die ganz persönliche Wahrnehmung, Erfahrung und Haltung zur Realität. Ihr scheint man am besten mit Hilfe der Ironie gewachsen zu sein, mit einer Langsamkeit, die der Vergrößerung des Kleinsten und Banalsten dient, mit einer Komik, die sich in Marthalers Theater zwischen flauem Kalauer und dem „schmetternden Witz der Verzweiflung“ (Novalis) bewegt. So wird Politisches, im traditionellen, engeren Sinne, eher nebenbei erwischt, eher in seiner Verdrehtheit und Skurrilität zuweilen schlaglichtartig erfasst. Aus der allgemeinen Weltsicht, aus aufklärerischen Weltbildern auf der Bühne wird die private Wahrnehmung, die eigenartige Bestandsaufnahme von momentanen Atmosphären und Befindlichkeiten. Das kann die Schärfe des Blicks im Punktuellen erhöhen, den allgemein politischen Erklärungsanspruch wird dieses Theater freilich peinlichst zu meiden suchen.

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„Hineinhören in den Text, in die Figur, in den Schauspieler“: Probenarbeit mit Jossi Wieler In meinem inzwischen beträchtlich angewachsenen Wieler-Archiv habe ich ein Foto, auf dessen Rückseite der Theaterfotograf des Hamburger Schauspielhauses Matthias Horn neben den üblichen Angaben zu Stücktitel, Regie, Bühne, Kostüm und den Schauspielern handschriftlich „Leseprobe WOLKEN.HEIM.“ vermerkt hat. Das Foto zeigt aber keine lesenden SchauspielerInnen. Es zeigt eine Tischrunde, auch wenn der Regietisch rechteckig ist. Und es bildet Menschen ab, die offenkundig sehr konzentriert mit einander im Gespräch sind. Unter ihnen, den Kopf auf Hand und Arm gestützt, ein aufmerksamer, leicht melancholisch dreinblickender Jossi Wieler, noch jung an Jahren. Abb. 38: Leseprobe zu Elfriede Jelinek W OLKEN.HEIM., Schauspielhaus Hamburg 1993

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Der kollektive Prozess des Theaters Er, wie die anderen, Anna Viebrock, die Bühnenbildnerin, Tilman Raabke, der Dramaturg, die Schauspielerinnen Marleen Dieckhoff und Ulrike Grote schauen konzentriert auf eine offenbar sprechende Person, deren Kopf angeschnitten, von hinten, am linken vorderen Bildrand abgelichtet ist. Ich vermute, es ist die Schauspielerin Gundi Ellert. Vor ihnen auf dem Tisch liegt nicht das Buch, sondern geheftete Typoskriptseiten, also eine Textfassung, die die Vermutung nahelegt, es handele sich hier um ein sogenanntes Projekt. Dazwischen sind wahllos verstreut Pappbecher, Zigarettenschachteln, Ascher, Brillenetuis und Gläser. Im hinteren Teil des Tisches steht eine Flasche „Mumm“-Sekt. Offenkundig gab es an diesem Tag etwas zu feiern, wahrscheinlich feierte Jossi Wieler und das WOLKEN.HEIM.-Ensemble die wahre Premiere, den Probenbeginn. Vierzehn Jahre später treffe ich bei den Proben zu Elfriede Jelineks ULRIKE MARIA STUART an den Münchner Kammerspielen auf die gleiche Tischrunde. Die Besetzung hat sich verändert. Bettina Stucky, Hildegard Schmahl, Werner Rehm, Katharina Schubert, Sebastian Rudolph und Brigitte Hobmeier sind hier die Schauspieler, Jens Kilian und Anja Rabes jetzt für Bühne und Kostüm zuständig, bei Wolfgang Siuda (Musik) und Tilman Raabke (Dramaturgie) ist die Besetzung identisch geblieben. Der Tisch hat sich ein wenig verlängert, nämlich um die Hospitantenriege, die in den 90er Jahren noch nicht etabliert war. In der Mitte der Gesprächsrunde sitzt immer noch Jossi Wieler. Fotografisch abgelichtet und veröffentlicht ist dieses Dialogdokument im Programmheft, diesmal als Aufsicht von oben. Anstelle der Sektgläser stehen amerikanische Kaffeebecher auf dem Tisch, an deren Plastikhalmen man gedankenverloren nuckeln kann. Aschenbecher und Zigaretten sind ersatzlos gestrichen. Das Programmbuch ergänzt und erweitert dieses Gesamtbild des Teams um Fotos von Einzelnen und Einzelheiten: nachdenkliche, fragende, lachende, sich distanzierende Schauspielergesichter. Zwischen ihren Ablichtungen finden sich Bilder dieses Arbeitstisches, der wiederum hektographierte Jelinek-Text, eine Hand, die ihn berührt, ein Buch über Jelinek, das ihn vielleicht erklären hilft, ein zerknitterter RAF-Steckbrief, ein sich öffnender Karton mit dem Buchinhalt „Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF“. Sie ist Jelineks Stoff und Thema. Diesmal bin ich nicht nur Bildbeschreiber, sondern (theaterwissenschaftlicher) Zeitzeuge vor Ort und Teilnehmer des Gesprächs, wenigstens für einige Tage. Es ist Probenhalbzeit. Noch sind es 21 Tage bis zur Premiere. Die Darsteller sind ungewöhn-

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Probenarbeit mit Jossi Wieler lich diskutierfreudig und ebenso diskutierfähig. Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass der Probentag sich in einem Verhältnis von drei Viertel Gespräch und einem Viertel Spiel aufteilt. Und irritiert stelle ich fest, dass bisher nur das erste Drittel der Textfassung, das Meinhofsche Familiendrama szenisch angefasst wurde. Der zweite Textblock, der sich fast ausschließlich um Gudrun Ensslins Verhaftung in einer Hamburger Boutique am 7. Juni 1972 dreht, und der dritte, in dem die beiden Terror-Königinnen sich unversöhnlich gegenüber stehen, harrt noch seiner szenischen Realisierung. Jossi Wieler scheint das nicht sonderlich zu beunruhigen. Denn offenbar geht er davon aus, dass erst das Grundsätzliche und viele (Text)-Details geklärt sein müssen, bevor die Darsteller spielend in Aktion treten können. Zum Grundsätzlichen gehört die Haltung zum Stoff, zu den Protagonisten der RAF. Nur im Einzelnen zu klären ist der Umgang mit Jelineks Redeströmen und deren rapiden Perspektivwechseln, die Schwierigkeiten, ihnen eine situative spielbare Grundlage zu geben, vor allem aber auch, wie man die Klippen eines Bedeutungs- und Betroffenheitstheaters umschifft. Abb. 39: Leseprobe zu Elfriede Jelinek U LRIKE MARIA STUART, Kammerspiele München 2007

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Der kollektive Prozess des Theaters Das Gespräch kreist und irrlichtert immer wieder um diese ganz unterschiedlichen Fragen, die für die Darsteller aber in einem engen Zusammenhang stehen. Alle, Schauspieler und Regieteam, sind intensiv damit beschäftigt, im Dschungel eigener und fremder Erfahrungen, Einstellungen und Bewertungen ihre Bezugspunkte zum Text zu finden und dabei eine gemeinsame Lesund Spielart herzustellen. In dieser schon fortgeschrittenen Probenphase sind es weniger die Bedeutungen des Textes, die zur Debatte stehen, als vielmehr seine theatrale Akzentuierung oder Reduzierung im Spiel. Der von außen kommende Beobachter empfindet diese Suche als großen Luxus: Welche produktive und notwendige Zeitverschwendung, so gemeinsam eine mentale Topographie entdecken und durchforsten zu können und zugleich immer ihre Darstellbarkeit zu prüfen! Und welche Stimulans und Herausforderung ist für dieses Unternehmen der Jelineksche Text mit seinen Seichtheiten und Untiefen, seinen deutlichen sprachlichen Setzungen und verführerischen Unklarheiten, seinen Festschreibungen und Leerstellen! „Die Figuren sind ja nicht ‚sie selbst‘, sondern, nein, auch nicht einfach die berühmten, mir inzwischen längst lästigen Sprachflächen, sondern Produkte von Ideologie“ sagt die Autorin.1 Sie sind, wie hier zu sehen ist, Produkte eines vielfach disparaten kollektiven Herstellungsprozesses. Sie sind Produkte von Jelineks Zitierlust, ihren Denk- und Sprachbewegungen, sind Ergebnis ihrer assoziativ kalkulierten Sprachverknüpfungen, sind lebendige Transformationen in Tonfälle und Körperbewegungen, wenn die Schauspieler auf die ihnen je eigene Weise sich mit dem Text verbinden: als Redemaschine, in ihrer körperlichen Befindlichkeit, mit einem argumentativen Gestus oder einem emotionalen Zustand. Der Schmerz sei „ein Glanz im Raum“, sagt Hildegard Schmahl zum Beispiel über die Wirkung der Meinhofschen Heimsuchungen ihrer Familie in der Anfangsszene. „Nur, der Schmerz lähmt“ antwortet ihre Darstellerin Bettina Stucky. Versuche „Psychologie zu erfinden, wo es keine gibt“, ermuntert der Regisseur, wohl wissend, dass es hier um ein „anderes Theater“ geht.2

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Elfriede Jelinek, in: Ulrike Maria Stuart, Münchner Kammerspiele, Programmheft Spielzeit 2006/07, S. 9. Diese und alle folgenden Zitate der Schauspieler und des Regisseurs sind Mitschriften des Verfassers, der vom 05.-08.03.2007 an den Proben von „Ulrike Maria Stuart“ an den Münchener Kammerspielen teilgenommen hat.

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Probenarbeit mit Jossi Wieler Bei aller Widersprüchlichkeit der persönlichen Lesarten und Spielweisen gibt es im Darstellerkreis immer eine Konsensebene: Alle fürchten die Konventionsfalle der Darstellung, das zu viel an ‚Als-Ob‘. Einheit herrscht darüber, kein Revolutionsdrama spielen zu wollen und zu können. Das Heute und die heutige Sicht seien im Text und im Spiel zu markieren. Dabei artikulieren die Schauspieler in unterschiedlicher Weise ihr Unverständnis darüber, dass die Protagonisten der RAF sich derart verrennen, sie sich von einer Ideologie so in den Würgegriff nehmen lassen, dass ihre Moral zur Unmoral wird und zum Morden führt. Die Zwangsgemeinschaft RAF ist vor allem den jungen SchauspielerInnen schwer verständlich. Alle Darsteller haben aber im bisherigen Probenverlauf offensichtlich ein gemeinsames Bewusstsein entwickelt, dass man immer auf der Hut zu sein hat, Sachverhalte, Haltungen, Gemütszustände ‚direkt‘ zu benennen, die Verranntheit der Gruppe oder ihren Schmerz durch scheinbare Unmittelbarkeit der Darstellung zu verfälschen oder ganz zu verfehlen. Wie spielen Schauspieler aber Geschehnisse, wie sprechen sie Figuren, die sie für sich und andere nachvollziehbar machen wollen und nur teilweise verstehen oder gutheißen können? Wie zeigen sie die Verstrickung von Personen, die in Jelineks Redefluss ja keine Figuren im herkömmlichen Sinne sind, sondern nur im Wechsel der Sprachmasken kenntlich und zugleich wieder verwischt werden? Eine schier unlösbare Aufgabe – will es allen scheinen. Betreten die Spieler die Bühne, geschieht dies unter vielen Vorbehalten. Die Darstellungsaufgabe reizt nicht zu spielerischen Probenvarianten. Die Anfangsszene ist ein vorsichtiges, gar ängstliches Herantasten an die Roehl-Meinhof-Familie, die von der toten Mutter heimgesucht wird. „Es geht um eine Familientragödie“, sagt Jossi Wieler. Aber der situative Boden der Darstellung ist dünn und porös. Der spätkapitalistische Picknick-Korb mit RedBull-Bionade und Handy, der als Requisit die Situation vorgibt, markiert allenfalls die Jetztzeit, gibt kaum Futter für die Darstellung. Woher kommen die Impulse, die Reaktionen, woher kommt die Sprache in einem vorsprachlichen Raum der diffusen oder allzu festen Bedeutungen? Und worauf treffen sie im Kopf der Anderen? Auf das Erleben und die Vorstellungen eines Geschehens von antiker Unumkehrbarkeit oder auf verfestigte Bewertungen und Etikettierungen, die das Bewusstsein der Späteren okkupieren? Die Szene lebt vom Gegensatz der Alten und Jungen, von den Kindern (der Meinhof), die nicht befreit sind vom Ballast der Ver-

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Der kollektive Prozess des Theaters gangenheit, aber kritisch gegenüber der Elterngeneration. „Sie sucht euch heim, klar!“ sagt der Regisseur und: dass ihr Besuch die Haltung der Familie ändere. Und Bettina Stucky, die Ulrike Meinhof figuriert, weiß: „es passiert ihr etwas, was sie nicht will“. Die Schauspielerin spricht von der Symbiose, die da wieder in der Familie entstehe, auch vom Terror, der hier von Ulrike ausgehe, der für die Kinder ebenso wenig auszuhalten sei wie für sie als Darstellerin. Nach der Wiederholung der Szene lautet das erste Feedback Jossi Wielers: „Ich fand es sehr, sehr besonders, sehr schön, sehr gruselig, auch nicht unkomisch“, aber es gäbe noch „Luft nach oben“. An einer bestimmten Stelle habe er das Gefühl „da stimmt es nicht“, vielleicht sei der Gang zu fest, zu sehr „Lehrer beim Diktat“. Die Wiederbegegnung mit ihren Familienangehörigen müsse Ulrike mehr angreifen, sie wolle nicht weich werden, werde es aber zunehmend mehr. Das sei ihr Widerspruch. Sich ihren „Panzer zu bewahren“ falle ihr immer schwerer. Die KinderDarsteller, „Die Prinzen im Tower“, empfinden den Alptraum der Mutter-Heimsuchung „wie gelähmt“, finden es problematisch im herkömmlichen Theatersinne zu ‚reagieren‘, wollen aber auch nicht „stumme Jule“ spielen. Der Dialog zwischen Regisseur und Schauspielern ist konkret und vage zugleich. Wieler fordert die ‚Kinder‘ zum Beispiel auf, die banale emotionale Erinnerung etwa an die Basteleien für die Zellenwände ihrer Mutter und deren Annahmeverweigerung durch sie zuzulassen. Er gibt ihnen aber auch ganz allgemeine Hinweise, etwa den Anderen genauer zu sehen, insgesamt dialogischer zu sein, auch wenn er einschränkt, die Szene sei nicht dialogisch, aber dynamisch angelegt. Die Schauspieler wiederum halten auch für sich den Spiel- und Bedeutungsraum offen: „Ich glaube, ich verstehe was Du meinst“. Am nächsten Tag nach der Wiederholung derselben Szene lautet das Fazit des Regisseurs: „Jetzt habt ihr wieder mehr Theater gespielt“, „habt Ihr eins zu viel gespielt“. Er wünscht sich mehr Öffnung, mehr Durchlässigkeit, erinnert an die „sehr verkorkste Familie“ um die es hier geht und findet es „spannend, wenn das Verkorkste nicht gezeigt wird“. Kennte man sich nicht aus im Wielerschen Probendialog, stolperte man über die scheinbaren Widersprüche: Schauspieler, die nicht spielen dürfen, Darsteller, die das Verborgene erleben, aber nicht zeigen sollen. Aber die Schauspieler wissen selbstverständlich, was derartige Hinweise zu bedeuten haben, warum „alle Zustände noch selbstverständlicher“ werden müssen, so dass die Vorgänge „einfach pas-

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Probenarbeit mit Jossi Wieler sieren“. Mit Jossi Wieler zusammen ringen sie nun schon fast vier Wochen um das, was er „authentisch“ nennt, um ein Verhalten, eine Körperlichkeit, eine Sprache, die diesen Text Elfriede Jelineks, die aus ihm abgeleiteten Figuren, die den hier darstellenden Schauspielerindividualitäten so angemessen sind, dass wir, die Zuschauer, ihr Spiel nicht mehr als Theater empfinden und wahrnehmen. Es geht um das klassische Theaterparadox und seine Glaubwürdigkeitsforderung, auch wenn diese Inszenierung kein illusionistisches Theater herstellt und auch kein psychologisches im herkömmlichen Sinne ist. Wie man sich zwischen diesen Grobmarkierungen bewegt und hindurch schlängelt, die ja in allen, auch in ganz anders lautenden Theaterformen immer anwesend und wirksam bleiben, weil Imagination und Emotion die Brücke sind sowohl zur darzustellenden Realität als auch hin zu den Zuschauern, und wie man beide Basiselemente des Theaterspielens nutzt und verändert, ohne ihnen zu verfallen, ist das gemeinsame Probengeschäft, für das sich im Probenprozess ein gemeinsames Bewusstsein und Ziel herausschälen muss. „Festlegungen kommen“, so weiß der Regisseur, „immer falsch“. Mit ihnen ist kein „wahres Moment“ zu gewinnen. Wielers Theater der theatralen Reduktion verzichtet auf sie, wo immer es geht. „Wir legen das alles nicht fest“, denn die fehlende Fixierung fördere Aufmerksamkeit und Wachheit, verhelfe dazu, die zwischenmenschliche Realität jeweils neu zu sehen und neu zu schaffen. Die Schauspieler sind nicht nur in diesem Punkt d’accord, sie machen es zu ihrem Programm: „mitgehen mit den Anderen“, „keine Festigkeit der Reaktion“ formuliert Sebastian Rudolph für sich als darstellerische Maxime. Diese und das Vertrauen auf die gleichgesinnten Mitspieler geben ihm die Gewissheit: „Jossi, wir werden es so spielen, dass Du erstaunt sagst, es habe sich gerade ganz selbstverständlich ergeben“. An dieser Stelle zeigt sich nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Regisseur und Schauspieler, sondern auch das bis hier schon sichtbar gewachsene Vertrauen und nicht zuletzt der spielerisch-liebevolle Umgang zwischen den Beteiligten. Zwei Jahre später begegne ich am selben Ort einer ganz anderen ‚Tischrunde‘. Es sind die Boten in Jossi Wielers Uraufführungsinszenierung von Jelineks RECHNITZ (DER WÜRGEENGEL), wiederum in den Münchner Kammerspielen. Jetzt wähle ich als erste Annäherung an den Probenprozess sein Endprodukt: die Aufführung. Und diesmal bin ich mit allen anderen Zuschauern und den Spielern „im Massengrab der Sprache“, wie Christine Dössel in der

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Der kollektive Prozess des Theaters Süddeutschen Zeitung titelt,3 bin von ihr und Elfriede Jelinek eingeschlossen in einem Raum des berichtenden Erinnerns, der zwischen zynischem Kalauer und vermeintlicher Einsicht hin und her schwingt. Thema ist das nächtliche Massaker an 180 jüdischen Zwangsarbeitern kurz vor Kriegsende anlässlich eines sogenannten „Gefolgschaftsfestes“, zu der Gräfin Margit Batthyàny, eine Thyssen-Enkelin, auf ihr Schloss an der österreichischungarischen Grenze geladen hatte. Die fünf DarstellerInnen Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf, Hildegard Schmahl zelebrieren das grausige Geschehen, indem sie davon berichten und es erklären, es beschönigen und verdrängen, es umspielen oder sich an ihm berauschen. „Sie zelebrieren das Obszöne und Provokative“. „Sie werden nicht laut oder aggressiv, sie scheinen Verteidigung gar nicht nötig zu haben. Denn wie sie uns anlächeln und zuwinken, signalisiert deutlich, dass sie uns auf ihrer Seite glauben. Das macht dieses Stück zu einem sehr ungemütlichen Theaterabend.“ 4 schreibt die Berichterstatterin der taz über die Premiere. Seine Wirksamkeit verdankt dieser Theaterabend dem genialen Einfall Jelineks und dessen kongenialer Adaption durch Jossi Wieler, die Mordtaten, das furchtbare Ereignis durch ganz besondere Boten vermitteln zu lassen. Die berichtende Funktion des Boten kennen wir aus der griechischen Tragödie. Er hat dort das unfassbare Geschehen mitzuteilen, in den Köpfen der Zuhörer lebendig zu imaginieren. Diese Aufgabe übernehmen die RechnitzBoten, wie oben beschrieben, auf ganz alltägliche und zugleich ungewöhnliche Weise. Und sie sind darüber hinaus für die Zuschauer und Zuhörer eine fortwährende Quelle der Unsicherheit und Verunsicherung: Wer sind Sie? Dienst- oder Postboten, Zeitzeugen oder Nachgeborene, Heutige oder Ewig-Gestrige, Voyeure oder am Massaker Beteiligte? Und woher kommt ihr Sprechen? Sprechen sie aus Eigen- oder aus Fremdinteresse? Was oder wen vertreten sie, was wollen sie vermitteln? Kurzum – was ist ihre Identität? Die Fragen werden selbstverständlich nicht beantwortet, sie bleiben bis zum Ende offen. Mit ihrem Unruhepotential haben Jelinek und Wieler freilich eine szenische Form und theatrale Methode gefunden, die auf subtile Weise katalysierend ist. Sie umgeht jeden falschen Dokumentarismus, ohne die Fakten auszulassen. Sie zeigt und macht erfahrbar, wie das Unfassbare,

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Christine Dössel: „Im Massengrab der Sprache“, Süddeutsche Zeitung, 01.12.2008. Katrin Bettina Müller: „Der Text als Zumutung“, taz, 01.12.2008.

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Probenarbeit mit Jossi Wieler das nicht auszudenkende und doch real geschehene Verbrechen in den Köpfen domestiziert wird, sich verwandelt oder verwandelt hat in das Unangemessene, Harmlose, Verdrängte. Aber auch – und das ist die große Leistung aller Beteiligten – auf spielerische Weise bearbeitet werden kann, hervorzuholen und zu betrachten ist, wenn Sprachschicht auf Sprachschicht abgetragen, Bewusstseinszustände offengelegt, umgestülpt oder zersetzt werden. Auschwitz ist, gegen das Diktum Adornos, darstellbar, wenn man nicht vorgibt, Auschwitz fassen und abschließend behandeln zu können. Abb. 40: Jossi Wieler: Elfriede Jelinek R ECHNITZ (DER WÜRGEENGEL), Münchner Kammerspiele 2008

Das Gespräch unmittelbar nach der Vorstellung mit den SchauspielerInnen Hildegard Schmahl und André Jung, später kommt noch die Dramaturgin Julia Lochte hinzu, lässt sich kaum durch allgemeine Fragen über Jossi Wielers Probenstil ausrichten und steuern.5 Verständlicherweise sind beide Darsteller noch im Bann des Aufführungsgeschehens und dessen, was sie spielen und thematisieren. Wie sie es spielen und im Probenverlauf erlebt, verarbeitet und für sich zurechtgelegt haben, ist ein wichtiger Diskussionspunkt. Die Aufführung ist oftmals aus der Not geboren, „der Brutalität des Textes“ mit Theater nicht beikommen zu 5

Das hier im Folgenden zitierte Gespräch fand am 27.02.2009 nach der Vorstellung von „Rechnitz (Der Würgeengel)“ an den Münchner Kammerspielen statt.

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Der kollektive Prozess des Theaters können, sagt André Jung. Und Hildegard Schmahl spricht von der Erschütterung, die dieser Jelineksche Text und das in ihm angesprochene Mordgeschehen bei ihr, nicht nur bei Probenbeginn, ausgelöst hätten: „Alles in mir wollte das gar nicht.“ Und es sei zuweilen einer „Gehirnwäsche“ gleichgekommen, der Pseudologik der Erklärungs- und Rechtfertigungssätze Folge leisten zu müssen. Aber beiden Darstellern ist zugleich bewusst, dass die charmante Leichtigkeit, die sie als Spiel-Mitteilungsform gewählt haben, ein Großteil der Wirkung ausmacht, die das Publikum angreift. Und sie berichten, ohne dass ich danach frage, von dem verstärkten, immer wieder von den Schauspielern ausgehenden Wunsch während der Probenarbeit „wieder an den Tisch zu gehen“ (Jung), um zum Beispiel die drängende Frage zu erörtern, was diese Boten eigentlich seien und was das Besondere an ihnen ist. „Viel zu wissen über das Stück“ sei die Voraussetzung szenisch improvisieren und es letztlich spielen zu können. Das habe sie bei George Tabori gelernt. Mit „Wissen“ meint Hildegard Schmahl offenkundig kein Buchwissen, sondern die eigene und gemeinsame Erkundung der darstellerischen Interpretationsmöglichkeiten auf der Grundlage eigener Lebenserfahrungen und Haltungen zur Wirklichkeit. Dass dabei auch die Empirie, die Anschauung der historischen Realität wichtig ist, bestätigen beide Schauspieler. Eduard Ernes TOTSCHWEIGEN, ein Film, der die Ereignisse von Rechnitz und das mysteriöse Verschwinden der Leichen sorgfältig dokumentiert, der Zeitzeugen zu Wort kommen lässt und ihr Verstummen zeigt, war wichtiges ‚Probenmaterial‘. Er habe sich bei den Proben sofort mit dem Tiroler Hut des Gärtners verkleidet, sagt André Jung, dessen historisches Vorbild in Rechnitz scheinbar souverän über die Geschehnisse und ihr Verschweigen schwadroniert. Mit dem Verkleiden und mit der Außenbeobachtung ist es freilich nicht getan. Die Darsteller sind im Probenvorgang auch immer auf der Suche nach einer eigenen latenten Disposition, die sie an das ungeheuerliche Geschehen heranführen kann, das sie an dieses anbindet. Steven Scharf berichtet in einem Vorpremiereninterview vom „Brocken Arbeit, den Text zu verstehen, gerade weil die Sprache so großartig ist“. „Jedes Wort ist wichtig.“ Damit markiert er freilich kein Philologeninteresse. Sein und der SchauspielerInnen Texthermeneutik ist die Anwendung des Textes auf die eigene Lebenserfahrung, auf die eigene Lebenssituation, auf die eigene Körperlichkeit und auf die eigenen Darstellungsmöglichkeiten. „Was die Verführung von Massen angeht, kann ich aus meiner DDR-Erfahrung heraus nicht so klar sagen,

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Probenarbeit mit Jossi Wieler wie hätte ich mich in bestimmten Situationen verhalten nach 1933. Das ist ja auch eine der Fragen, in die Jelineks Stück mit dem Finger reinbohrt“.6 Die Formulierung vom „Hineinhören in den Text und in die Figur“ hat also bei Schauspielern und Regisseuren eine ganz andere Qualität und Relevanz als andernorts. Es ist ein ‚Hinaus- und Hineinhorchen‘ der besonderen interaktiven Art. Und an ihm ist in hervorgehobener, besonderer Weise der Regisseur beteiligt, ja bestimmend. Hildegard Schmahl und André Jung, die ja über viele Jahre und in vielen wichtigen Inszenierungen Wielers Partner waren, sprechen höchst engagiert über diese Besonderheit. Die Formel vom „Hineinhören in den Text“ gelte, so Schmahl, für jede Arbeit, also auch für andere Regisseure, mit denen sie arbeite, für Pucher oder Kriegenburg zum Beispiel. Bei Jossi Wieler, so André Jung, aber sei es anders. Er sei „in seiner Kreativität sichtlich geprägt“ dadurch, dass und wie er in den Schauspieler hineinhört, wie er mit ihm ein Stück Weg gemeinsam gehe. Jung meint damit nicht nur die Wegstrecke des Theater- und Probenprozesses, sondern verweist auf die „menschliche Beziehung“, die in der Arbeit weitergehe, und darauf, dass Jossi Wieler nicht nur den Schauspieler mitnimmt auf die theatrale Entdeckungsreise, sondern „dass auch er sich vom Schauspieler mitnehmen lässt“. Bei vielen Regisseuren habe er bei der Arbeit nicht „gespürt, dass er mich meint“ und dass dieser vom Schauspieler etwas wirklich erfahren wolle. Jossi Wielers „große Wertschätzung für Menschen“, für seine Partner, schaffe Offenheit, ergänzt Schmahl, und letztlich eine „Form tiefen Vertrauens“. Die Basis der Arbeit sei eben das Gefühl, von diesem Regisseur nicht benutzt oder ausgenutzt zu werden. Dass Jossi Wieler zugeben kann, dass er etwas nicht weiß, dass er nicht immer einen Vorschlag oder gar eine schnelle Lösung parat habe, schaffe einen Raum für alle, in dem man nicht weiß, „wie es geht“ und deshalb produktiv werden kann oder produktiv werden muss. Jung bezieht diese allgemeine Feststellung auf die konkrete Darstellungsaufgabe der szenischen Transformation des JelinekTextes: Was dessen Theaterästhetik angeht, habe man „mit dem Rücken an der Wand gestanden“, unter anderem deswegen, weil Jossi Wieler von bestimmten Setzungen und Raumvorgaben, die er zuvor mit Anja Rabes getroffen hat, sich zunächst nicht verab-

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Steven Scharf, in: Alexander Altmann: „Die seltsame Gier am Abgrund“, Tageszeitung München, 28.11.2008.

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Der kollektive Prozess des Theaters schieden wollte, er an der konzeptionellen Idee einer Dienerschule, eines Botenkurses, festhielt, aus „Angst vor der Bühnenbildnerin“, wie Jung mutmaßt. Im Nachgespräch zum Nachgespräch mit den beiden SchauspielerInnen bestätigt Jossi Wieler diese Krise als ein hartes, aber produktives Stadium der Unsicherheit.7 Raumkonzept und situative Idee, die die Boten untereinander zum Reden bringen sollte, erwiesen sich als nicht tragfähig. Der schlecht funktionierende, ja gestörte Dialog der Boten untereinander und die Tatsache, dass man mit dem Raum so nicht weiter kam, war für den Regisseur evident. Aber ebenso stand ihm als Vorbild die eigene JelinekInszenierung von WOLKEN.HEIM vor Augen, wo die szenische Versinnlichung durch die konkrete Situation, durch Figuren und ihre wechselseitigen Beziehungen ja bestens gelang, wo die in den Jelinekschen Text hineinprojizierten Fliegerwitwen mit der geborgten Sprache ihrer Männer theatral erfolgreich auf die Suche nach deren und ihrer eigenen Identität gingen. „Du musst den Raum öffnen!“ war der Vorschlag und die Forderung der Produktionsdramaturgin Julia Lochte. Jossi Wieler hat sich gegen ihn lange, wie er sagt, „mit Händen und Füßen gewehrt“. Es war offenbar auch der Kampf zweier Theatergenerationen um die vierte Wand. Der postdramatische Impuls der Dramaturgin, die direkte, die konfrontative Spielweise zu wählen, traf auf die Vorstellung und Überzeugung, dass der Dialog zwischen den Figuren die Aufführung tragen müsse. Wie man sieht und weiß, hat Jossi Wieler sich gegen seine erste Überzeugung entschieden. Der Raum, der von Anfang an hin zum Publikum geöffnet war, mit seinen Auftrittstüren und Übe-Zellen, „dieser Raum hat mich dazu gezwungen“, sagt der Regisseur. Der Dramaturgin hat er zur Premiere dann den Meißel gegen die vierte Wand geschenkt. Geschenkt hat ihm das Ensemble noch eine andere szenische Idee, die die Aufführung prägt. Die Boten mampfen Pizzen, Hendl und Torte, saufen Schnäpse, pellen harte Eier. Die Urheberschaft dieser Fressorgie, welche die der Worte korrespondierend und kontrastierend verstärkt, ordnet André Jung der Kollegin Schmahl zu. Sie wehrt bescheiden ab, es sei oft schwer zu sagen, wer etwas vorschlägt, plötzlich esse dann jemand einen Apfel und gebe so den Impuls für die nächste Probenversion. Dass sie sich zur Gefräßigkeit der Boten vergrößern kann, die mit dem Fressen zugleich die Vergangenheit herauskotzen, die zu Wort- und Menschenfressern werden, ist dem Sujet und seinem Bedeutungskon-

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Dieses Gespräch mit Jossi Wieler fand am 29.03.2009 in Berlin statt.

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Probenarbeit mit Jossi Wieler text geschuldet. Der szenische Vorschlag erweist seine Kraft und Evidenz dabei gleichsam wie von selbst. An anderer Stelle, wo es genau so schwer fiel voranzukommen, nämlich bei der Spieleröffnung, bringt der Musiker Wolfgang Siuda den szenischen Vorgang in Bewegung. Seine Gute-LauneMusik nach FREISCHÜTZ-Motiven lässt die Boten zur ersten Präsentation ihrer selbst an die Rampe swingen. „Schrecklich nette Leute“ vereinnahmen von nun an mit ihrem Charme den Text und das Publikum.8 Sind diese Beispiele der Beleg für die These André Jungs, das Theater lebe viel häufiger, als man gemeinhin annehme aus sich selber, das gängige Bild vom Regietheater sei falsch? „Wir profitieren von der Regie, der Regisseur profitiert von uns“. Jossi Wieler formuliert das Wechselverhältnis auf andere Weise, bescheiden und selbstbewusst zugleich: Er sei auf die Impulse der Schauspieler angewiesen; „ich bin inspirierend über die Reaktion“. Alles ist bei ihm in der Tat eine Frage des Dialogs. Ob man beim Proben eine gemeinsame Sprache findet, eine Sprache, die nicht nur die sogenannte Beziehungsebene betrifft oder die Fragen der jeweiligen Ästhetik, sondern eine Sprache, die „das Ergebnis eines Gesamtdenkens über Theater und über die Welt“ ist, wie es Jossi Wieler in „Über Grenzen in Neuland“ im Buch über Anna Viebrock formuliert.9 Eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist, ob die richtigen Leute für dieses Vorhaben zusammenkommen, ob die Tischgespräche eine starke Sinnvorgabe machen, dass die Denkarbeit des Schauspielers nicht erst auf der Bühne beginnt, dass alle begreifen, in welchem Gesamtzusammenhang sie arbeiten, mit welchen Interpretations-, welchen Findungsaufgaben sie beschäftigt sind. All das stärkt, fördert und erweitert die Verantwortung aller, die am Theaterprozess beteiligt sind. Ein solches Tun löst Hierarchien auf, setzt mutig die eigene Souveränität auf Spiel und wertet alle auf als gleichberechtigte, jeweils unersetzliche Partner des Probenprozesses. Nicht zuletzt sind es die Schauspieler, die hier ‚erhöht‘ werden, nicht durch einen mysteriösen Genie-Nimbus, sondern durch eine andere Verantwortlichkeit für die eigene Arbeit. Die Fragen nach der Form, der jeweiligen Aufführungsästhetik, der Spielweise sind all dem nachgeordnet, wenngleich sie

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Gerhard Stadelmaier: „Fünfzehn treffen, Fünfe äffen“, Frankfurter Allge-

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meine Zeitung, 1.12.2008. Jossi Wieler/Sergio Morabito: „Über Grenzen in Neuland“, in: Bettina Masuch (Hg.), Anna Viebrock, Bühnen/Räume, Berlin 2000.

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Der kollektive Prozess des Theaters wichtig sind. Sie sind im Theater Jossi Wielers, das ,Dialog- und Ensemblekunst‘ ist, auch nie abgelöst vom Probenprozess und seinen zwischenmenschlichen Relationen während der Probenzeit. Deshalb sprechen in seinen Inszenierungen Räume, Körper, Texte ihre besondere, durch einzelne Schauspieler individualisierte Sprache, entstehen in Wieler-Aufführungen Formsemantiken, die die Familie, die Gruppe, das Kollektiv in neuer Weise entfalten und sichtbar machen. Schauen wir zurück, wird deutlich, dass Probenkonstanten und Probenzufälle, Chaos und Konzept auch Wielers Proben strukturieren und wirksam machen. Jelinek-Texte sind ein ideales Gelände für Begehungen, wie sie Jossi Wieler in den Probenprozessen anleitet und anstiftet. Sie geben mit ihrer Rätselhaftigkeit genügend Anlässe, über sie zu sprechen. Ihre oft provokante Oberflächlichkeit veranlasst Darsteller und Regie zu erhöhter Wachsamkeit. Ihre situative Bodenlosigkeit verhindert die schnelle Spielbarkeit, macht die szenische Darstellung zu einer wirklichen Findungsarbeit des Theaters. Jossi Wieler hat in seinen Jelinek-Inszenierungen gezeigt, dass dies keine schlechten Voraussetzungen sind, Sprach- und Körperspiele in Gang zu setzen, die komisch und schrecklich zugleich sein können.

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Lob des Stadt- und Staatstheaters? Über die Herstellung sozialer und ästhetischer Energie ‚Stadttheater‘ – das klingt in vielen Ohren nicht gerade verlockend; auch ‚Staatstheater‘ hat oft einen leicht degoutanten Beigeschmack – ein Ort unangemessen leerer Repräsentation. Dass der ehemalige Bühnenvereinsvorsitzende und künftige Berliner Opernintendant Jürgen Flimm die deutschen Stadt- und Staatstheater nicht zuletzt wegen ihrer einmaligen Subventionsstruktur zum geistigen Weltkulturerbe hochlobte, scheint so berechtigt wie problematisch: Den einen ist dieses Theater zu teuer, den anderen zu traditionell. Manchen gilt es als verstaubt und viele pflegen gern die genannten (Vor)-Urteile, ohne sie zu überprüfen. Manche freilich sind nicht nur die Verfechter dieser Theaterform, sondern als Macher auch fähig sie aufs Lebendigste als notwendig, sinnstiftend und ästhetisch anregend zu erweisen. Ich rede zum Beispiel vom „schauspielhannover“ während er letzten neun Jahre. Blickt man zurück auf die letzten dreißig Jahre, also auf die jüngste hannoveranische Theatergeschichte, reibt man sich erstaunt die Augen. Noch Anfang der Achtziger galt für Hannover, was eingangs an pejorativen Einschätzungen zitiert wurde. Doch dann begann – ich war Zeuge vor Ort – der unaufhaltsame Aufstieg der Niedersächsischen Staatstheater (auch der Oper, auf die ich hier nicht näher eingehen kann). Dem Theater Hannover gelang, wovon die Fans von Hannover 96 schon lange träumen: Es spielt seit Jahren mit um die UEFA- und Champions-League-Plätze des deutschsprachigen Theaters. Wie kommt und wie geht das? Zunächst und zuallererst: Es ist die Wirkung von (auch ministeriellen) Personalentscheidungen, die bald gute Ergebnisse zeitigten und einen Nicht-TheaterOrt theatral neu definierten. Der hannoveranische Neuanfang begann mit Eberhard Witt, der ernsthaft und mit ersten Erfolgen

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Der kollektive Prozess des Theaters bemüht war, Anschluss zu finden an die zeitgenössischen Theaterentwicklungen. Ulrich Khuon, sein Nachfolger, musste also in den Neunzigern nicht im theatralen Niemandsland starten. Er konnte umsichtig genau sein Programm entwickeln, mit neuen und jungen Regisseuren arbeiten, mit neuen und jungen Dramatikern experimentieren. Und mit seinem Theater entwickelte sich ein Publikum, das zunehmend neugieriger und kompetenter wurde und Ansprüche hatte, als Wilfried Schulz Khuon beerbte. Die Augenblickskunst Theater, so zeigt sich hier, ist auch ein langwieriger und komplexer interaktiver Prozess zwischen Theatermachern und ihrem Publikum, der phantasievoll in Gang gehalten und immer wieder neu initiiert werden muss. In manchen vergleichbaren Theaterstädten, etwa Bochum oder Stuttgart, ist er über viele Jahrzehnte in wechselnden Konstellationen gelungen. Für Hannover war das relativ neu. Und für den Erstintendanten Wilfried Schulz ein Anreiz und Aufgabenfeld, auf dem er ausspielen konnte, was er als rechte Hand von Frank Baumbauer in Basel und Hamburg gelernt oder dort schon dramaturgisch eigenständig verantwortet und geprägt hatte. Schaut man auf die Spielpläne, die Schulz in diesen drei Theaterstädten gemacht hat, sind die strukturellen Ähnlichkeiten und das Erfolgsrezept evident: Klassikerinszenierungen, die die szenische Vergangenheit mittels einer Theaterästhetik der Gegenwart befragen, Gegenwartsdramatik, die das Stadt- und Staatstheater als gesellschaftlichen und intellektuellen Unruheherd etabliert. Verstärkt hinzugekommen sind in Hannover sogenannte Projekte, die mit innovativem theatralen Zugriff sich verschiedene Stoffe oder Sujets erschließen, epische und literarische Vorlagen zum Beispiel neu formulieren (PARZIVAL, MOBY DICK oder DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE), oder die einzelne Künste anders und neu proportionieren in Musiktheaterveranstaltungen wie zum Beispiel Häusermanns LAUTLOS oder Martons LULU. Die vierte Spielplansäule war die intelligente, die spielerische Unterhaltung. Hier hat „schauspielhannover“, die Herzen und Köpfe seiner Zuschauer animierend, bewiesen, dass auch jenseits der massenmedialen Niederungen vergnüglich gelacht und gedacht, gespielt und phantasiert werden kann: LÖWEN- oder TINTENHERZ, DON QUICHOTE oder Wittenbrink-Abende, das war gut gemachtes Entertainment für die ganze Familie. Die Gefahr, bei solcher Vielfalt gesichts- oder konturlos zu werden, ist nur dort groß, wo man nicht reflektiert, was man macht, und wo man nicht in allen Bereichen mit gleichem Engagement bei der Sache ist. Umgekehrt ist die Spannung zwischen

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Lob des Stadt- und Staatstheaters? Inszenierungen, zum Beispiel jenen Wittenbrinks oder jenen Stemanns, zwischen sogenannten Gebrauchsstücken wie denen Lutz Hübners und ästhetisch ambitionierten Projekten ein besonderer Reiz für Macher und Zuschauer. Beide erleben Theater als polyvalente, in viele Richtungen führende Kunstform. Und Letztere, die Zuschauer, erleben sie über eine verbindende Vielfalt von Personen, die jedem Theaterabend sein individuelles Gesicht geben: die Schauspieler. Denn das „schauspielhannover“ war bei aller konzeptionellen Durchdacht- und Ausgewogenheit immer auch ihre Domäne. Über d a s Publikum und seine Erlebnisse und Erfahrungen lässt sich nur schwer oder gar nicht allgemein reden, auch wenn der Theaterabend, das besondere Aufführungsereignis, die vielen Einzelnen oft zu einem Ganzen eint. In der Zuschauererinnerung bleiben meist nur einzelne markante Momente jeweils Einzelner oder aber die pauschale Zustimmung: „Ja, Calis’ FRÜHLINGSERWACHEN – das war eine tolle Aufführung!“ Was in meiner Erinnerung von neun Jahren „schauspielhannover“, nein, nicht hängen geblieben, sondern sich im Gedächtnis eingegraben hat: zum Beispiel der wandernde Scheinwerfer an der Bühnenrampe, der Tschechows verzweifelt-fröhliches Bürgerensemble in Goschs DREI SCHWESTERN unerbittlich genau und Schatten werfend ins Licht setzte. Oder das subversive Anpassungsbild in Stemanns HAMLET, wenn sich zum nackten Hamlet an der Wand all seine anderen Gegenspieler, ebenfalls nackt, gesellen, Claudius, Polonius, Gertrud, um das legendäre Rückenfoto der Kommune I nachzustellen und so oberliberal demonstrieren, wie dem pubertierenden Dänenprinzen die Feindbilder abhanden kommen. Oder wenn in Nüblings deutscher Erstaufführung von Stephens PORNOGRAFIE die beiden Brüder, Christoph Franken und Daniel Wahl, sich in einem irren Wasserflaschenbesäufniswettbewerb hochputschen, um ihre ‚perverse‘ Liebe einander zu offenbaren, die nicht gelebt werden kann oder darf. „Life is mystery. Everybody stays alone“ ist das gesungene Echo der Mitspieler, eines Theaterchors, der mit großer Intensität am gemeinsamen Puzzle eines Bildes vom Turmbau von Babel werkelt. Ein Paradoxon der Sehnsucht nach Gemeinsamkeit bei gleichzeitig gelebter Aggression und Dissoziation. Bilder, Vorgänge, Räume, die die Erinnerung festhält und wiederbeleben kann: Das Labyrinth aus fahlgrünen Bahnhofsschließfächern, das Muriel Gerster für Händel Klaus’ WILDE ODER DER MANN MIT DEN TRAURIGEN AUGEN aufstellte, in dessen Winkel

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Der kollektive Prozess des Theaters und Abgründe der versehentlich aus dem Zuge gestiegene Gunther von einem erschreckend freundlichen Zwillingspaar gelockt wird. So kann ein Theaterraum im Handumdrehen Alltag ins Irreale, Gespenstische, Alptraumhafte verwandeln. Oder aber in eine Realität, die härter und gefährlicher ist als die ‚wirkliche‘: etwa in Kresniks ANTIGONE. Sie sperrte die Besucher des Ballhofs in einen Metallkäfig. Das war nicht nur ein starkes Bild, sondern auch eine starke, intensive Zuschauererfahrung und zugleich ein ebenso konkreter wie metaphorischer Kampfplatz, auf und in dem sich die Auseinandersetzung zwischen Antigone und Kreon austobt und allen Beteiligten (die Zuschauer inklusive) immer unklar bleibt, wo man auf der sicheren Seite ist, inner- oder außerhalb des Metallgeheges, als gefangenes Opfer oder als scheinbar handelnder Täter. All dies sind markante, unvergessliche Momente, die zugleich den Kern einer Aufführungskonzeption enthalten, zu einem Gesamtbild der Aufführung hinführen. In diesen Tagen machte ich dann die Gegenprobe zur Erinnerungsarbeit: sechs Tage gegenwärtiger Theateralltag von „schauspielhannover“, vier Inszenierungen in zufälliger Spielplanabfolge: HINKEMANN, ÖDIPUS, LULU und DIE RATTEN (12. bis 16. März 2009). Dies war eine Art Theater-TÜV, eine Überprüfung der eigenen Annahmen und Erinnerungshighlights an der laufenden Gegenwart. Und siehe da: Es bestätigte, korrigierte und erweiterte sich das Bild dieses Theaters. Zuallererst wurde deutlich die Spannweite der unterschiedlichen Spielweisen und ästhetischen Ansätze. Das ist freilich kein hannoveranisches Spezifikum, sondern entspricht den Entwicklungen eines heutigen, postmodernen Theaters, das seine Theatralität zunehmend souveräner in unterschiedlichsten Formen auslebt: körperlich exzessiv, textkonzentriert, inter- und multimedial oder privatisierend intim. Es ist ein Theater, das ausgreift ins ‚wirkliche Leben‘ mit ‚wirklichen Menschen‘ auf der Bühne, aber auch eines, das sich in einer eigenen neuen Formensprache artikulieren will oder verkapselt. Die HINKEMANN-Inszenierung des jungen Regisseurs Praetsch ist Beleg für diese genannten Verfahren und Formtendenzen. Sie beginnt als exzessives Körpertheater – die Welt ist ein rasendes Varieté, eine Menagerie, ein Groszsches Bestiarium – und endet textgläubig und Toller-affirmativ in einem Verzweiflungspathos, das den tragischen Zustand der Welt beschwört. Dazwischen das private Penner-Gelabere über verpasste Revolutionen, Laiendarsteller von der Straße neben professionellen expressionistischen Schreikrämpfen der gequälten Kreatur, mächtige Bildfindungen und

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Lob des Stadt- und Staatstheaters? Bildzitate (die Kreuzigung und Vergoldung des Titelhelden), kurz: ein krudes, ruppiges, dem Sujet durchaus angemessenes Blutund Hodentheater. Was diese theatrale Mixtur zeittypisch macht: Sie schwankt zwischen ironischer Distanzierung und leidenschaftlicher Hingabe und zeigt zugleich, wie schwierig es für junge TheatermacherInnen ist, den Konventionen zu entkommen und auf neue Weise szenisch zu formulieren. Auch wenn sie wünschen und glauben, innovativ zu sein, kommt oft Bekanntes und Traditionelles dabei heraus. Dieses zeitgenössische Theater steht immer vor dem generellen Problem, was schauspielerische, was szenische Darstellung derzeit ausmacht und antreibt: die Körperartistik oder die Redemechanik der Schauspieler, ihre Privatsphäre oder das sogenannte Authentische, das Ein- oder Aussteigen aus der Rolle, die Geste der ironischen Übertreibung oder die hemmungslose emotionale Affirmation, die meist ihre sprachlichen Ausdrucksgrenzen hat? Oder sind es vor allem die technischen und digitalen Medien, die das Theater erneuern, zu Bildräumen machen, welche die Schauspieler marginalisieren oder monumentalisieren können, die den szenischen Vorgang eher entpersonalisieren und als multimediales Videoereignis präsentieren? Minks ÖDIPUS bringt den Zuschauer zunächst auf diesen Verdacht: Die antike Tragödie der Selbsterkenntnis platziert er nämlich in einer verspiegelten, aseptisch cleanen Videoinstallation. Sechzehn Bildschirme visualisieren auf der Bühne sechzehn Kopfbilder des Bürgerchors der thebanischen Greise. Doch das Versprechen eines massenmedial potenzierten Drucks demokratischer Öffentlichkeit wird damit nicht eingelöst. Die Aufklärung des Vatermords und der eigenen Verblendung werden von Ödipus und seinen Mitspielern vor allem literarisch bewältigt, mit Hilfe eines Sprechtheaters, das die Stadttheaterverächter als ‚Literaturtheater‘ abgestempelt haben. Ist damit aber die rhetorische Größe und elementare Emotion der griechischen Tragödie zu gewinnen? So bleiben auch die übernommenen antiken Spielbedingungen, diese Tragödie mit nur drei männlichen Schauspielern in wechselnden Rollen aufzuführen, ein Kostüm-Wechseldich-Spielchen – für mich ohne Wirkung und neue Einsicht. Umso überraschender, dass und wie das in der Mehrheit ältere Publikum diese Aufführung feiert. Ich schleiche mich vom Schauplatz, traurig über die Inszenierung des Altmeisters Minks, dem das deutsche Theater der 60er und 70er Jahre so viel Neues verdankt, und eigentlich froh über die oft kritisierte Entwicklung des Gegenwartstheaters, die auch mich zuweilen nervt.

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Der kollektive Prozess des Theaters Drei Tage später das Theaterwunder, auf das man bei jedem Theaterbesuch hofft, das aber (fast) nie eintritt. Martons LULU ist so ein seltenes Mirakel und ein außerordentliches Spektakel zugleich: Musiktheater der alten, der neuen, der besten Art. Und alle Etiketten greifen hier zu kurz: Collage, Montage, Medienmix, Gesamtkunstwerk. Wedekinds und Bergs LULU werden in dieser Inszenierung nicht multimedial vermischt oder verschnitten, nein, hier ist eine Werktreue der höheren Art zugange: Ein Sujet, der weibliche Mythos Lulu, wird in einem inspirierenden szenischen Dialog mit Alban Berg und Frank Wedekind von einem vielseitig perfekten Ensemble der Musiker, Sänger, Schauspieler, die meist alles zugleich und nebeneinander können, gespielt, gesungen, getanzt und kommentiert. Und zwar so, dass sich die verschiedenen Künste hier wechselseitig erhellen und steigern, kontrastieren und komplettieren. Martons genialer und zugleich naheliegender Einfall: Er führt die Herstellung von Theater, die Produktion von Tönen, Gesten und Emotionen vor – ein Ton- oder Filmstudio ist der situative Rahmen – und formuliert szenisch-analog das Wedekind-Bergsche Grundmotiv, die Herstellung der männlichen Projektion Lulu. Das sogenannte Making-Off macht die Illusion aber nicht nur durchschaubar, sie wird als (Theater)-Imagination auch erlebbar. Also keine theatrale Aufklärung im Brechtschen Sinne. Die Transparenz des Gemachten und vor unseren Augen und Ohren Hergestellten, der vorgeführte szenische Effekt und seine Wirkungsmechanik schützen nicht vor theatraler Überwältigung. Im Gegenteil: Die Sinnlichkeit und Schönheit der Stimmen, der Tonfolgen und Klänge, der Körper und Bewegungen verdrehen allen den Kopf, den Männerfiguren auf der Bühne, den drei Lulus, die den Mythos dreifach unter sich aufteilend erweitern, den Zuschauern und Zuhörern. In diesem säkularisierten Welttheater des Imaginierens und Begehrens, über dem gottgleich der immer wieder eingreifende Regisseur und Produzent thront, regiert eine ungehemmte Theatralität, eingefasst und intensiviert von der Ordnung und dem Formbewusstsein der Musik verschiedenster Stile und Zeiten. Sie ist gesteigerter Ausdruck einer überbordenden, nicht einzufangenden Vitalität, die erst im hier symbolisch durch eine Gang der Männer (als kollektiver Jack the Ripper) vollzogenen Lustmord an Lulu zum Stillstand kommen kann. Endstation meiner Wochenexkursion zum „schauspielhannover“: Hauptmanns RATTEN in der Inszenierung von Barbara Bürk. Dies sei ein Stück von heute, über das ‚Prekariat‘ und die ‚working poor‘, die trotz harter Arbeit abzurutschen drohten, behauptet

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Lob des Stadt- und Staatstheaters? das Programmheft. Was ich aber zunächst sehe, ist eine Inszenierung über altes Theater mit den Mitteln des neuen. Hauptmanns Berliner Mietskaserne und ihr Dachboden, auf dem der abgehalfterte Theaterdirektor Hassenreuter seinen Schülern theaterklassische Lektionen erteilt, ist ein etwas unterbestimmter EinheitsTheaterprobenraum, kein realistischer Schauplatz. Vermieden wird alles, was nach Naturalismus aussehen könnte bis auf den Berliner Dialekt, der aber weniger Milieucharakterisierung ist als belebendes Spielelement. Hauptmanns Tragikomödie wird hier zu allererst zur Farce über leere Theaterkonventionen, über leicht zu durchschauende bildungsbürgerliche Kunstansprüche. Hassenreuter ist ein autoritär eigensüchtiger historischer Theaterdepp, dem sein Eleve Spitta sein körperverkrampftes anderes Theater vorspielt. Auf beiden Seiten der Theaterfront aber die gleichen Darstellungsmittel: Körper-Exaltationen, eine forcierte, oft zähe Komik, das szenische Probenkalauern der Schauspieler mit den theatralisierten Versatzstücken der Figuren oder der jeweiligen Situation bei starker Tendenz zu sich verselbstständigenden Soli. Die Geschichte Frau Johns, die sich auf nicht ganz legale Weise ein Kind verschafft, findet nur am Rande statt. Langsam beginne ich den Theaterabend schon abzuschreiben, stärke und motiviere mich aber in der Pause vorsichtshalber bei meinen jugendlichen Sitznachbarn dieser Schülervorstellung. Sie finden es überhaupt nicht langweilig. „Was gut rauskommt“ sei das Gruselige in diesem Haus. Als habe ihr unverstellter Blick mir die Augen geöffnet oder aber die Inszenierung neu gepolt, nimmt der zweite Teil eine unerwartete Wendung. Mit der Konzentration auf die Tragödie der Familie John, mit einer zunehmenden Figurenidentität von Paul John, seiner Frau und ihrem verkommenen Bruder Bruno, der ihr die Piperkarcka, die ihr Kind zurückhaben will, endgültig vom Halse schafft, mit der Präzisierung und Versinnlichung der sozialen Realität – auch wenn es nur eine reale Duschkabine und die Duschszene des Maurerpoliers ist –, mit der zunehmenden Heftigkeit des Konflikts zwischen den Eheleuten John erreicht einen plötzlich diese Aufführung, ohne dass sie Zuflucht suchte bei einem psychologischen Einfühlungstheater. Sie legt im Gegenteil mit jetzt stupender Wirkung die eigenen Theaterkarten auf den Tisch. Die zum Ende hin kohärent erzählte Geschichte mündet erneut in ein Theater auf dem Theater, das im ersten Teil das Stück zuweilen sinnlos zerfledderte. Jetzt ist das Theater auf dem Theater aber die wirkungsvoll verstärkende Folie für das tragische Ende: Alle Figuren, auch die ermordete Piperkarcka, alle Schau-

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Der kollektive Prozess des Theaters spieler des Abends sitzen, als sei das ganz selbstverständlich, in der Runde und lauschen dem Spiel des Pianisten am Flügel und der in diesem Konzertambiente jetzt doppelt erschreckenden Nachricht vom Selbstmord der verzweifelten Mutter John. Dieser zufällige Wochenquerschnitt ebenso wie das unvollständigfragmentarische Erinnerungsrenommee – neun Beispiele stellvertretend für neun Spielzeiten mit über zweihundert Eigenproduktionen von „schauspielhannover“ – zeigen das riesige Kreativitätspotential dieses (eines?) Stadt- und Staatstheaters, in dem keine Aufführung der anderen gleicht, weder in der Spielweise noch in der jeweiligen theatralen Wirklichkeitskonstruktion. Derartige Kreativität freilich braucht Rahmungen, muss Bedingungen und Voraussetzungen haben, die die soziale und ästhetische Energie des Theaters wecken und zum Zirkulieren bringen. Wiederum sind es zuallererst Personenkonstellationen, die eine Theaterleitung im Auge haben und zusammenbringen muss, soll ein innovatives Spiel gelingen: hochbegabte SchauspielerInnen (wie Franken, Henschel, Hochmair, Ratte-Polle, Lorenz, Neukirch, Menke, Thormeyer) als sich Hervorhebende aus einem überdurchschnittlichen Ensemble mit ‚großen‘ gestandenen Theatermachern wie Wieler, Perceval, Kresnik, Minks oder Gosch. Eine Arbeitsbeziehung, eine Konfrontation, die wie die Zuschauer schnell wahrnehmen konnten, fruchtbar waren und aufgingen, auch wenn nicht jede Inszenierung gelang. Aber auch die Unterschiedlichkeit dieser sogenannten Regiepersönlichkeiten setzt produktive Reibung frei, in den Arbeits- und Probenprozessen, im Wechsel der inspirierenden Bezugsperson. Die von Gosch für sich selbst reklamierte „Scham- und Verantwortungslosigkeit“1 im Umgang mit den Stücken und den ästhetischen Mitteln ist ja nicht nur eine Herausforderung der Zuschauer, sondern zuallererst der Schauspieler. Vergleichbares gilt auch für die jüngeren Regisseure, die sich ebenfalls an diesem Ensemble erfreuen und reiben konnten, für Stemann, Nübling, Paulhofer, Marton oder Baumgarten zum Beispiel. Nübling, der ihre Riege nicht nur in der Erfolgsbilanz der für das Berliner Theatertreffen ausgewählten Inszenierungen anführt, formuliert als Gretchenfrage seines Theaterverständnisses: „Was verbindet uns mit dem Stoff, was springt uns an“. Erst wo dieses geklärt sei, könne die „unglaubliche Zeitverschwendungs-

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Jürgen Gosch, in: Niedersächsisches Staatstheater Hannover GmbH, schauspielhannover, Vorschauheft Spielzeit 2007/2008, S. 16.

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Lob des Stadt- und Staatstheaters? maschine“2 Theater sinnvoll in Gang gebracht werden, kann sich im Falle Nüblings eine chorische Erzählweise entwickeln, die Spieler und Zuschauer wirkkräftig bindet und durchrüttelt. Das scheint mir die besondere Qualität von Wilfried Schulz und seinem Leitungsteam zu sein, dass sie wagemutig und kenntnisreich, erfahren und spekulativ waren im Verknüpfen von und im Umgang mit Personenkostellationen, die den Theaterprozess in Gang bringen und befeuern. Und dieser Prozess war nicht nur ein innerhäusiger: „schauspielhannover“ war offen nach außen in vielen Koproduktionen (mit dem steirischen herbst, mit Luc Percevals Antwerpener Theater Het toneal huis, dem Festival theaterformen, mit dem Hamburger Schauspielhaus…), es schaute über den Tellerrand mit eigenen und eingeladenen Gastspielen, war mit fortlaufender Präsenz bei den deutschen Theaterolympiaden, dem Berliner Theatertreffen und den Mülheimer Theatertagen. Nahezu alles, was in der deutschen Theaterszene gut und teuer ist, war im Gegenzug in Hannover regelmäßig zu Gast: Rimini Protokoll, das DT Berlin, das HAU, die Sophiensaele etc. Schulz machte sein Theater zu einer Drehscheibe deutschsprachigen Theaters, war erfolgreich bemüht, den theaterästhetischen Diskurs dieses Landes seinem Publikum und seinem Ensemble zuzuführen und damit die Innovationskraft seiner eigenen Theaterarbeit mittels überregionaler Vergleichsmaßstäbe zu befördern und zu steigern. Das wurde sogar jenseits des Kanals bemerkt: „In Britain, you’d never see a production of a new play like this“ schreibt The Guardian am 17. Juni 2007 über die deutsche Erstaufführung von Stephans PORNOGRAPHIE, „an extraordinary, extravagant production“.3 Freilich, Außenwahrnehmung und Lokalbezug waren zwei Seiten einer Medaille. „schauspielhannover“ war immer in einer gleichzeitigen Doppel- und Gegenbewegung: von Hannover weg und auf Hannover zu. Denn das Theater vor Ort, ein Theater ‚für uns und von uns‘, war mindestens ebenso wichtig wie die überregionalen Partnerschaften und Erfolge. Die Verantwortlichen arbeiteten kontinuierlich und hartnäckig an der Ausweitung der theatralen Kampfzone, wohl wissend, dass man das Theater „sozial breiter“ nur machen kann, wenn man zum bürgerlichen Publikumskern junge Leute hinzugewinnt. So entstand ein „Junges Theater“ vor Ort als neue Institution und, was wichtiger ist, als

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Sebastian Nübling, in: Niedersächsisches Staatstheater Hannover GmbH, schauspielhannover, Vorschauheft Spielzeit 2007/2008, S. 24. Brian Logan: „One day in July“, in: The Guardian, 17.06.2007.

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Der kollektive Prozess des Theaters lebendiger Organismus. Praetschs fulminant coole ROMEO UND JULIA-Inszenierung mit Jugendlichen der Stadt war dafür ebenso beweiskräftiges Beispiel wie das „Theatermobil“, das junge Leute, die wahrscheinlich noch nie ein Theater von innen gesehen hatten, einsammelte (mittels Wagenburg in verschiedenen Stadtteilen), um ihnen dort zu einer szenischen Artikulation zu verhelfen, die ihnen ganz eigen war und deshalb ihr Leben anderen sichtbar machen konnte. Bei dieser neuen Partnersuche hatte sich nicht nur der Heimspielfonds und die Niedersachsenstiftung beteiligt, sondern Stadt und Region mit finanziellen Mitteln und was noch wichtiger ist mit breitester Identifikation für das Projekt. Intendant Schulz sieht darin ein verheißungsvolles Zeichen, nicht nur kulturpolitisch. Inmitten einer Krise der Gesellschaft, dem Versagen ihrer ökonomischen Gewissheiten und Leistungsprinzipien lasse sich möglicherweise ein neuer Begriff von Stadttheater formulieren. Dass er, sein Team und sein Ensemble den alten Begriff von Staatstheater produktiv re-formuliert haben und dabei einem neuen auf der Spur sind, zeigt nicht allein die Statistik, die den Anstieg von 150.000 auf 200.000 Zuschauern ausweist und die zugleich zeigt, dass die neu Angekommenen im „schauspielhannover“ der Gruppe der Fünfzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen zuzurechnen sind. Neun Jahre „schauspielhannover“ zeigen aber vor allem: Soziale und ästhetische Energie herzustellen, sie als kulturelle Wärmeströme in einer Stadt zirkulieren zu lassen, ist eine konkrete Utopie, von der man sich nicht nur in krisenhaften Zeiten gerne berühren, wärmen und erfassen lässt.

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Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der Praktischen Theaterwissenschaft G ENIE

VS .

K OLLEKTIVE K REATIVITÄT

Der Begriff Kollektive Kreativität scheint auf den ersten Blick befremdlich: ein Paradoxon, das eher nach einer alliterativen Pointierung klingt, als dass es realitätsgesättigte Anschauung ins Gedächtnis ruft. Dass dies so ist, mag an der verfestigten Vorstellung liegen, das Schöpferische an das Ingenium des Einzelnen zu binden. Kreativität ist demnach Sache des autonomen Subjekts, sie erscheint, in langer variantenreicher Tradition, als Bestimmung des Genies. Das Kollektiv ist ihm allenfalls als Masse gegenübergesetzt, in der Bedeutung dabei freilich eher pejorativ bestimmt: Das Genie hebt sich heraus aus der Menge, wenngleich es ihrer Bewunderung bedarf. Es wartet nicht nur als so genannt verkanntes Genie zuweilen vergeblich auf seine Entdeckung und Anerkennung durch die Vielen. Dem Geniekult, wie er im 19. Jahrhundert zum letzten Mal floriert und im 20. noch immer aufflackert und vielerorts weiterwirkt, ist diese Polarisierung inhärent, nicht zuletzt um die Annahme zu festigen, die schöpferische Persönlichkeit garantiere immer gültige artistische Höchstleistungen, schaffe einen ästhetischen Wertekanon, an dem sich der Rest orientieren kann. Denn Ausnahmeleistung und Ausnahmemensch definieren erst, was Durchschnitt ist, und das, was darunterliegt. Nietzsches Diktum, der Aberglaube vom Genie sei die Superstition unseres Jahrhunderts, und sein Vorschlag für große Geister, es sei für sie nützlich zu begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften und Glücksumstände in ihnen zusammengekommen seien (wie z.B. anhaltende Energie, besondere Zielsetzungen, persönlicher Mut, Erziehung, hervorragende Lehrer, Vorbilder und vorgefundene Methoden) markiert die kritische Wende des

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Der kollektive Prozess des Theaters Genie-Gedankens.1 Walter Benjamins 1936 im Kunstwerkaufsatz getroffene Feststellung, überkommene Begriffe wie „Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis“ seien beiseite zu setzen, auch um sie vor faschistischer Vereinnahmung und Missbrauch zu schützen,2 zeigt die politische Notwendigkeit einer „Genie-Absistenz“,3 wie sie heute zumindest den ernsthaften ästhetischen Diskurs bestimmt. Die Auflösung des Geniebegriffs betreiben dabei unterschiedliche und doch zusammenhängende Entwicklungen der Moderne: Die Teilhabe Vieler etwa an einem ausdifferenzierten Bildungssystem, arbeitsteilige Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsprozesse. Auch ist es eine gesellschaftliche Einsicht und Erfahrung, dass die Kategorie der Individualität zwar in aller Munde ist, aber im gleichen Maße an Substanz verliert, wie sie zum Markenzeichen und Massenartikel wird. So setzt sich die ästhetische Erkenntnis durch, dass der antigesellschaftlich konzipierte Inspirationstopos, der zur Grundausstattung des Genies gehört, obsolet geworden ist und neu bedacht werden muss, wo evident ist, dass Kunst und Kreativität sozial verankert sind. Jeder Künstler, so ist heute common sense, interagiert bei seinem schöpferischen Tun mit ästhetischen und kulturellen Standards, ist eingebunden in gesellschaftliche Umfelder, arbeitet in und gegen Institutionen, die seine Kunst mit prägen. Nicht zuletzt sind es die medialen Dispositive, die Kreativität organisieren, konditionieren, stimulieren oder verhindern. Dem Genie romantischer Provenienz, das angeblich autonom ist und sich nachvollziehbarem Verstehen und rationaler Kontrolle entzieht, ist so zunehmend der gesellschaftliche und ideologische Boden entzogen. Freilich stellt sich damit auch die Frage nach neuen, anderen Organisations- und Rezeptionsformen, nach neuen Impulsen und Begründungen von Kreativität und Kunst. „Die Masse ist eine Matrix, aus der gegenwärtig alles gewohnte

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Vgl. Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 164: ‚Gefahr und Gewinn im Kultus des Genius‘“, in: Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Bd. 2, München 1999, S. 154. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963, S. 10. Eberhard Ortland: „Genie“, in: Karlheinz Barck (Hg.), Aesthetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in 7 Bdn. (Bd. II), Stuttgart 2001, S. 662.

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Kollektive Kreativität Verhalten Kunstwerken gegenüber neu geboren hervorgeht“,4 so konstatiert Walter Benjamin prophetisch und utopisch zugleich mit Blick auf die Künste der technischen Reproduzierbarkeit und auf das durch sie veränderte Rezipientenverhalten. „The Genius of the System“, den Thomas Schatz in seiner gleichnamigen Publikation über Hollywoods industrielle Filmproduktion in der StudioÄra beschreibt, kann damit schwerlich gemeint sein.5 Im Gegenteil: Auf der Produzentenseite sind es weniger die populären als die avancierten Kunstbemühungen, wie z.B. die von John Cage, die mittels Zufall und gewollter Unberechenbarkeit ihre Genieverachtung und eine Kunstauffassung jenseits der Genietradition in Szene setzen. Die Frage nach den medialen Dispositionen der Kreativität, nach ihrer Beeinflussung durch neue soziale Erfahrungen und ihre Abhängigkeit von neuen gesellschaftlichen Formationen und deren Begründung machen das Medium Theater zu einem bevorzugten, wenn nicht sogar exemplarischen Fall kollektiver Kreativität. Denn es kann sich seit seinem Ursprung auf eine reiche Tradition als soziale Kunstform beziehen. Das Theater der antiken Griechen war nicht nur abstrakt eine politisch-gesellschaftlichreligiöse Veranstaltung, die die Werte der Polis-Gemeinschaft immer wieder neu in Frage und ins kritische Zwielicht stellte, um sie dann nach tragischer Erschütterung neu zu sehen und zu befestigen. Sie basierte auch auf medialen Voraussetzungen, die das theatrale Geschehen als in vielfacher Hinsicht vom Kollektiven durchdrungen ausweist: der bauliche Rahmen eines Theaters von mehreren tausend Zuschauern, eine Produktions- und Aufführungsweise, die die Zuschauer als Choreuten auch immer wieder zu auf der Bühne gemeinsam mit anderen Handelnden machte, sie zu tanzenden, singenden und nachdenkenden Chören einte, zu guter Letzt die kollektiv erlebte, weil im Kollektiv sich wechselseitig verstärkende Katharsis, die körperliche Erfahrung theatraler Interaktion und Gemeinschaft. Dieses strukturell in der europäischen Theatertradition zwar zunehmend restringierte, im Grunde aber fortdauernde Erbe, erweist sich als geradezu prädestiniert, neue kollektive Erfahrungen und Ideologien, wie sie sich am Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt Geltung verschaffen, theatral neu zu formieren und zu

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W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-

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zierbarkeit, S. 45. Thomas Schatz: The Genius of the System: Hollywood Filmmaking in the Studio Era, New York 1989.

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Der kollektive Prozess des Theaters formulieren: auf der Bühne, wo das Volk etwa in Hauptmanns DIE WEBER erstmals als kollektiver Held erscheint, oder in den Massenchören eines Agitprop-Theaters, das in direkter Konfrontation mit den Zuschauern politisch-soziale Ziele verfolgt. Mindestens ebenso wichtig ist, was hinter der Bühne geschieht, also in den Produktionsprozessen, die zu kollektiven, neu und anders bestimmten szenischen Ergebnissen führen. Dies ist freilich eine Entwicklung, die keineswegs stromlinienförmig oder gradlinig verläuft. Denn noch beherrscht und affirmiert bis weit ins 20. Jahrhundert ein Protagonistentheater des so genannten schöpferischen Bühnenkünstlers und Menschendarstellers die bürgerlich geprägte Theaterwelt. Aber an ihr zeigen sich immer wieder Risse und damit neue Möglichkeiten. An den Widersprüchen und divergenten Werthierarchien, etwa zwischen Regisseur und Ensemble, Dirigent und Orchester, sind seither nicht nur die Konfliktpotentiale der jeweiligen szenischen oder musikalischen Praxis festzumachen, sondern auch die Widersprüche und Verwerfungen der theatralen Kunstentwicklung, ihrer Theoretisierung und ihrer gesellschaftlich-ideologischen Einbettung. Das ist ein Prozess, der sich in unterschiedlichsten Ausformungen, Modellen und Theaterkonzeptionen durch das ganze 20. Jahrhundert zieht. Und immer signalisiert die Forderung nach der Verwirklichung der sozialen Kunstform Theater, nach kollektiver Kreativität einen Anspruch, der sich sowohl auf strukturell mediale Bedingungen und die in ihnen gemachten Arbeitserfahrungen bezieht wie auch ihre Verknüpfung mit und Überhöhung mittels gesellschaftlicher Theorie und Ideologie sucht, die sich vermeintlich oder tatsächlich an der Spitze des Zeitgeistes bewegen.

E MPHATISCHE T HEATERKOLLEKTIVE , ERNÜCHTERNDE M ITBESTIMMUNG Mitten in der Blüte einer Geniezeit unternimmt es der Theaterliebhaber Goethe, figuriert in seinem jugendlichen Helden Wilhelm Meister und dessen theatralischer Sendung, die Theaterkunst als Ensemblekunst zu propagieren. Dem Spiel von Serlos Truppe (historischer Bezugspunkt ist die Schrödersche Schauspielkompanie) gilt folgende Charakterisierung: „[...] es war das erste mal, daß er das Theater in solcher Vollkommenheit sah. Schauspieler von vortrefflichen Gaben, glücklichen Anlagen, Fleiß und einem hohen Begriff von ihrer Kunst, die, wenn sie auch nicht alle gleich waren, doch einander wechselweise hielten, tru184

Kollektive Kreativität gen und anfeuerten.“6 Auf der Bühne, im Zusammenspiel der Darsteller wird für Wilhelm eine Utopie reale Anschauung, die ihn mit Blick auf die ihn umgebenden Unzulänglichkeiten des Theaterbetriebs schon länger umtreibt und die er mit missionarischem Eifer der Truppe, der er angehört, injizieren will. Wo es um die Vollkommenheit der Kunst geht, hat der Einzelne zugunsten des Ganzen zurückzutreten, ist von ihm Selbstlosigkeit gefordert. Das Spiel eines Stückes ohne Publikum, bei dem „jeder sein Möglichstes tun“ muss, „als wenn er für dem größten Auditorio stünde“, ist Meister dabei mehr als nur ein Probenverfahren. Wilhelm preist seiner Truppe die Tonkünstler als Vorbild und Exempel an: „Jene können sich nicht mehr ergötzen, als wenn sie gemeinschaftlich ihre Übungen vornehmen.“ Das Ensemblespiel der Musik, ihr aufeinander Hören, das sich wechselseitige Abstimmen und tonale Nuancieren dient dem eigenen Produzentenglück, vor allem aber dem Werk, dessen Wirkung und Qualität „sie sich gleichsam untereinander selbst garantiert haben“. Nichts Geringeres taugt Wilhelm für seine Utopie vom Theater, die er mitten im feudalen Ambiente als „idealische Republik“ entwirft: „So müßte das Amt eines Direktors herum gehen und eine Art von kleinem Senate ihm beigesetzt bleiben.“7 Aus Kunstenthusiasmus, medialer Einsicht und hohen Zielen der Kunstverwirklichung wird – typisch deutsch? – ein erstes Mitbestimmungsmodell des Theaters. 200 Jahre später wird die Ensemble- und Mitbestimmungsidee kaum weniger engagiert gefordert und fällt in ähnlicher Konstitution auf den Boden der bestehenden (Theater-)Wirklichkeit. Propagiert wird, angeschoben von der Studentenbewegung, das Ensemble als Kollektiv, die Verwirklichung der „Mitbestimmung in der Produktion“, um „aus der Diskussion heraus zu verstehen, wie man zusammenarbeiten muss, damit sich jeder maximal ausdrücken kann“. Selbstverwirklichungspostulat und verantwortliche Beteiligung am (theatralen) Produkt gehen, klassisch marxistisch, Hand in Hand und nähren die Hoffnung, „dass man dann anders spielt“, wenn man „die Sache anders mitträgt“.8 Dass sich mancher der Beteiligten gar auf einer „kollektiv6

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Frankfurt a.M. 1984, S. 316.

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Ebd. S. 280f. "Ich glaube, dieses Stück handelt davon, daß man irgendwie was selber in die Hand nehmen muß". Gespräch zwischen Barbara Sukowa, Peter Palitzsch, Peter Roggisch und Robert Tillian, in: Gert Loschütz/Horst Laube (Hg.), War da was? Theaterarbeit und Mitbestimmung am Schauspiel Frankfurt 1972-1980, Frankfurt a. M. 1980, S. 310f.

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Der kollektive Prozess des Theaters sozialistisch strukturierten Insel im kapitalistischen Feindesland“ sieht,9 erweist sich bald in einem ganz anderen Sinne als wahr: Konkurrenzdenken und egoistische Selbstbehauptung bleiben nicht vor der Tür, ebenso wenig wie Gruppenbildung und Abschottung, Leistungsdenken und Erfolgszwang. Dem anvisierten gemeinsamen Probenprozess als kreativem Vorgang muss schon bald mit dem Fragebogen nachgestellt werden, der als Grundlage der „Auswertung“ für eine Vollversammlung des Schauspiels Frankfurt dient. „ - Dient die MB nur zur Verbesserung des künstlerischen Potentials? Ja/Nein - Bringt die MB die eigenen Interessen in die künstlerische Arbeit ein? Ja/Nein - Beschneidet unsere MB die Kreativität? - Fördert unsere MB die Kreativität? - Welche Produktion ist mitbestimmt?

Ja/Nein Ja/Nein Ja/Nein

etc.“

Das eher trostlose statistische „Auswertungs“-Ergebnis lautet: „Durch die derzeitige Mitbestimmung fühlen sich in ihrer Kreativität gefördert 23 Prozent, behindert 41 Prozent.“ Die Arbeitsgruppe folgerte daraus, dass „etwas verändert werden“ müsse. („Und wenn dann 70 Prozent der Beantworter meinen, keine Produktion sei mitbestimmt, wirft das das letzte erhellende Licht auf die derzeit praktizierte Mitbestimmung.")10 Aussagekräftig ist dieses Dokument in Bezug auf die Naivität der Beteiligten, die den selbst gestellten Ansprüchen und nicht zuletzt ihrer Umsetzung und Verwirklichung nicht gewachsen sind. Das zeigt sich vor allem dort, wo sich die Machtfragen stellen: Engagement und Kündigung, Spielplan- und Besetzungsfragen. Hier wurde, wie Peymann im Nachhinein meinte, „zu viel Kraft nach innen verbraucht“.11 Der Sachbezug, die Orientierung auf die kreative Aufgabe, ihre umsichtige Vorbereitung und menschenfreundliche Realisierung, blieb oft auf der Strecke. Stattdessen gehörten zum Mitbestimmungstheateralltag in Frankfurt Diskussionsmarathons, Selbstzerfleischungen und argumentative Diffusionen. Dass dennoch eine Reihe exzellenter Aufführungen

9

„Gespräch zwischen B. Sukowa, P. Palitzsch, P. Roggisch und R. Tillian“,

in: G. Loschütz/H. Laube (Hg.) 1980, S. 321. 10 „4. Zwischen Erfüllungszwang und Nichtbegreifen“, in: Ebd. S. 233f. 11 „5. Texte, Gespräche, Briefe und ein Gedicht“, in: Ebd. S. 260.

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Kollektive Kreativität an diesem Ort zustande kam und die Attraktivität des Theaters nach außen wirksam war, ist allerdings ebenso festzuhalten.12 Andernorts ist die Umsetzung des linken Zeitgeistes in neue Theaterkonzeptionen und Arbeitsformen besser gelungen und hat zu Ergebnissen geführt, die neue europäische Theatermaßstäbe gesetzt haben, auch wenn ähnliche Krisen und Krisensymptome die Kollektive in (notwendiger) Bewegung hielten: etwa bei Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil und Peter Steins Berliner Schaubühne. Die Personalisierung und Zuordnung dieser Theaterkollektive zu ihren Regieprotagonisten verweist auf komplizierte, dialektische, aber wirksame und erfolgreiche Beziehungskonstellationen, die Chor und Chorführerinnen zu produktiven Partnern und Widersachern machten. Freilich hatten beide Theaterkollektive andere lokale, organisatorische und personelle Voraussetzungen als die an der Städtischen Bühne des Theaters Frankfurt.

T HEATER MACHEN - EIN KOLLEKTIVER P ROZESS ODER DIE D IALEKTIK VON R EGISSEUR UND E NSEMBLE Kunst geht vor Gleichberechtigung wäre die verkürzende Formel, die jeweils modifiziert für das Théâtre du Soleil wie für die Berliner Schaubühne gilt. Mnouchkines Maxime, dass die Rollen denen gehören, die sie besser verkörpern, dass die Schönheit des Werks, die Achtung vor dem Publikum oben anzustehen habe, wird freilich durch ungewöhnliche Probenverfahren der so genannten ‚creations collectives‘ gerechtfertigt und beglaubigt: Die gemeinsame improvisatorische Entwicklung von Szenen und Figuren, „freie Rollendisposition“13 (das meint, eine Rollenfestlegung, die erst nach ausführlicher gemeinsamer Erprobung und vielen Rollenwechseln erfolgt), gemeinsame theaterpraktische Recherchen der unterschiedlichen (historischen) Spiel- und Darstellungsformen von der Commedia dell’Arte bis zu asiatischen, vom No, Kabuki und Kathakali inspirierten Spielweisen – all das gehört zu einer identitätsbildenden kollektiven Theaterpraxis. Sie

12 Etwa Grübers Inszenierung von Brechts „Im Dickicht der Städte“, Palitzschs Wedekind-Inszenierung „Frühlings Erwachen“, Neuenfels' „Baal“ und „Medea“, Steckels’ „Der arme Vetter“ von Barlach, Bondys MarivauxInszenierung von „Die Unbeständigkeit der Liebe“ oder Calderon/Augusto Fernandes „Traum und Leben des Prinzen Sigismund“, um nur einige der wichtigen zu nennen. 13 Simone Seym: Das Théâtre du Soleil. Ariane Mnouchkines Ästhetik des Theaters, Stuttgart 1992, S. 81.

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Der kollektive Prozess des Theaters begreift sich als Gesamtprozess aller Beteiligten und als kontinuierliche Entwicklung. Einzelne Produktionen und Aufführungen, die oft, wie z.B. „1789“, die theatrale Eigenentwicklung eines Stoffes als Quelle gemeinsamer Produktion nutzen, sind Stationen eines umfassenden Prozesses, der freilich auch in seinem Wechsel von Stücken, die eine politische Auseinandersetzung mit der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit suchen, und den großen Klassikerzyklen der abendländischen Dramatik (Shakespeare, LES ATRIDES), genau kalkuliert ist.14 Hierin konvergieren die Theaterarbeit des Théâtre du Soleil und jene der Berliner Schaubühne. Deren Methoden, Vorbereitungs- und Fundierungsaktivitäten sind freilich ungleich theoretischer. Gesellschaftspolitische Schulungen und Positionsbestimmungen gehören anfangs ebenso dazu wie die akribische wissenschaftliche Beschäftigung mit und Vorbereitung der einzelnen Produktionen (die Protokolle und Programmbücher spiegeln noch heute, die nicht nur fürs Theater erstaunliche Lern- und Fragebereitschaft, an dem sich das ganze Ensemble beteiligt). Der konkrete, auf die gemeinsam gewählte Darstellungsaufgabe gerichtete Sachbezug schafft beide Male also Gemeinsamkeit, wenngleich auch nie ein konformes Gruppenbewusstsein. Diesem Sachbezug und der Ernsthaftigkeit, mit der er angenommen wurde, verdankt die Schaubühne ihre größere Homogenität, ebenso wie dem zeitgeistig bestimmten Willen zur Reflexion der eigenen bürgerlichen Herkunft und der Überprüfung ihrer kulturellen Werte. Nicht zuletzt sind es scheinbare Äußerlichkeiten wie das gemeinsame jugendliche Alter der Gruppe, der gemeinsame Start am neuen Ort unter besonderen Raumbedingungen, die günstige Voraussetzungen dafür sind, dem von Stein vorgegebenen Ziel näher zu kommen, dass jeder sich „voll in die Sache einbringen muss“, „vorbehaltlos“.15 Und so wird es möglich, dass die sich selbst gegebene neue organisatorische Struktur der Mitbestimmung, die das mehrköpfige Direktorium und die Vollversammlung im beständigen Entscheidungsdialog hält, zu außergewöhnlichen, die deutsche und sogar die europäische Theaterwelt in Erstaunen versetzenden szenischen Ergebnissen führt. „Die organisatorische Struktur der Schaubühne schlägt sich also auf künstlerischer Ebene nieder in besonderen

14 Vgl. Josette Féral (Hg.), Ariane Mnouchkine & das Théâtre du Soleil, Berlin 2003. 15 Peter Stein: „Ich bin kein Einzelkämpfer“, in: Dieter Kranz (Hg.), Positionen, Berlin 1981, S. 180.

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Kollektive Kreativität Formen theatraler Ästhetik.“16 Und dieser Prozess ist nicht nur von seinem Ergebnis her, also post festum, als gelungen einzuschätzen, er ist dank der Konzeptions- und Probenprotokolle tatsächlich zu greifen und sichtbar zu machen. Zu sehen ist z.B., wie eine produktive Gemengelage unter den Schauspielern, die Rollenwünsche, Solidaritätsverpflichtung und Stückinterpretation mischt, die Vielfachbesetzung der Titelfigur Peer Gynt nicht nur rechtfertigen half, sondern ein Spielkonzept hervorbrachte, das zu neuen Einsichten in die bürgerliche Individualitätsproblematik und das sie bedingende gesellschaftliche System von Ibsens dramatischem Gedicht führte und zu einem ersten spielfreudigen theatralen Triumph der Truppe obendrein.17 Der „heilige Egoismus“ der Schauspieler, so zeigte vor allem Gorkis SOMMERGÄSTE-Inszenierung von 1974, ist durch Stückund Probenbezug zu sozialisieren und fruchtbar zu machen. Hier erntete das Berliner Theaterkollektiv zudem die Früchte seiner vorangegangenen sechsjährigen Ensemble-Arbeit. Geradezu idealtypisch greifen bei dieser Inszenierung die Kompetenzen der künstlerisch Beteiligten ineinander: Steins Ausgangspunkt, das Stück aus einer Totalen zu entwickeln, die alle Figuren, also das ganze Ensemble auf der Szene versammelt, Botho Strauß’, des Dramaturgen Textarbeit und -fassung, die die Improvisationen der Schauspieler zu dieser von Gorki so nicht geschriebenen Eröffnung festhält und ordnet („Die Schauspieler haben's gefunden, Botho Strauß hat es transkribiert [...] Die Schauspieler haben's dann wieder übernommen. Und so ging das immer hin und her“)18, die Schauspieler, die ihre Figuren als Recherchemedien der eigenen Biografie begreifen. Steins Feststellung, diese Aufführung sei „ganz stark von den Schauspielern bestimmt“, meint

16 Hartwin Gromes: „Von der Wirklichkeit der Utopie. Anmerkungen zum Zusammenhang von Organisationsstrukturen und künstlerischer Produktion an der Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1978“, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 326. 17 Friedrich Luft: „Diese Produktion ist stupend. Sie verbreitet Schönheit. Sie ist ein technisches Wunder. Sie stellt, was sie darstellt, dauernd in Frage. Sie erheitert und erstaunt beständig. Und sie macht dem Mitdenker, der eigenen Kritik, macht der Vorliebe und Abneigung unentwegt wägende Beschäftigung. Was könnte Theater mehr?" (Die Welt), zit. nach: Joachim Kaiser: „Von dieser Aufführung wird eine Epoche neuen Theaters ausgehen [...]", in: Schaubühne am Halleschen Ufer, am Lehniner Platz 1962-1987, Berlin 1987, S. 78. 18 P. Stein: „Ich bin kein Einzelkämpfer“, in: D. Kranz (Hg.) 1981, S. 194f.

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Der kollektive Prozess des Theaters auch: Diese werden über das ihnen sonst zugeordnete Feld hinaus künstlerisch aktiv. Ilse Ritter und Eberhard Feik z.B. entwickelten am Klavier und mit der Gitarre die Musik der Aufführung – Feik nach Aussagen des Regisseurs „in einer geradezu selbstlosen Zuwendung zu den Kollegen und der Situation“, also jeweils genau auf Figurenkonstellation und Szene bezogen. Nie wieder sei die aktive schöpferische Mitarbeit aller in dieser umgreifenden Form gelungen. Gelungen aber auch in ihrer Wirkung auf die Zuschauer, denen sich bürgerliches Bewusstsein sinnlich genau und reflexiv differenziert zugleich erschloss. Die Rezensenten führten sie, wohl zu Recht, auf die emotionale Spannung zurück, die sich im Umgang der Schauspieler mit ihren Rollen entwickelt hatte, und auf den „Freiraum, den der Regisseur den Spielern lässt“. Er „überträgt sich als mobilisierende Kraft auf den Zuschauer“.19 Peter Iden spricht von einer „Art Realismus, der sich eher aus dem Diskurs als aus der Psychologie der einzelnen Figuren entwickelt“,20 und er meint damit die Art von dialogischer Vergegenwärtigung, die Figuren einer vergangenen Zeit in heutige, den Schauspielern und dem Publikum unmittelbar vertraute Kommunikationsrealität transferiert, ohne dabei den historischen Bezugsrahmen aufzulösen. Mitbestimmung und kollektive Theaterpraxis des Théâtre du Soleil, der Schaubühne und des Frankfurter Theaters zeigen freilich, dass es nicht ohne (produktive) Spannungsverhältnisse und unterschiedliche Kompetenzen geht. Kollektive Kreativität schafft das Gegenteil von einem Gruppenverständnis, bei dem sich die Gruppe zu einem harmonischen Ganzen nivelliert. Sie braucht die „sinnvollere Zusammensetzung von einzelnen Qualitäten“21 und selbstverständlich die wechselseitige Akzeptanz der Differenzen. Hier klaffen Theorie und Praxis der Mitbestimmung am deutlichsten auseinander. Das liegt nicht zuletzt am historischen Genieerbe, das im Laufe einer hundertjährigen Theaterentwicklung in der Herausbildung der Position des Regisseurs, des so genannten Regietheaters und seiner dominanten Stellung im ohnehin stark hierarchisierten Theaterbetrieb eine heikle Problemzone entwi-

19 Klaus Völker, in: Schaubühne am Halleschen Ufer, am Lehniner Platz 1962-1987, Berlin 1987, S. 160. 20 Peter Iden: Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979, München 1979, S. 181. 21 Horst Laube, in: „Wie kollektive Arbeitsmethoden in die Proben eingebracht werden“, in: Jahressonderheft Theater heute 1974, S. 61.

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Kollektive Kreativität ckelt hat. Die Diskussion, ob und wie sehr man auf den Regisseur und seinen angeblichen Genius angewiesen ist, nimmt vor allem in der Frankfurter Diskussion zuweilen rührend hilflose Formen an: „Eberhard Feik bat Neuenfels, seinen Vorsprung an vitaler Einbildungskraft soziabel zu machen“, heißt es im Protokoll der Klausurtagung vom 5.11.1972. Zwei Jahre später fordert die Vollversammlung: „Das Regisseursbild muss verändert werden. Er ist nicht mehr der einsame Konzeptionserfinder, sondern Kontrolleur über und Förderer von seiner Phantasie und der der Schauspieler.“22 Was sich hier auftut, ist ein strukturelles und zugleich ein historisch gewachsenes Dilemma: Der Schauspieler, der ja sein eigenes Medium bei der Darstellung ist, bleibt angewiesen auf den Blick von außen. Der Regisseur ist sein erster und nach Möglichkeit bester Zuschauer. Im Laufe der Regieentwicklung hat sich auf der Basis der Machtdisposition „Ich sehe, was Du nicht sehen kannst“ nicht zufällig und auch nicht selten eine Unform des Regisseurs entwickelt: „Am einen Ende ihrer Reihe steht der ‚Macher‘ mit der ‚Masche‘, am anderen der ‚Magier‘ mit ‚Visionen‘.“23 Dass mit Peter Palitzsch, dem Brecht-Schüler und Brecht-Erben, ein Regisseur dem Frankfurter Experiment vorsteht, der den Gegenentwurf zu diesem realen Zerrbild kennt und ihn in einem westdeutschen Stadttheater zu realisieren versucht, ist das dezidierte Gegenprogramm, das zudem durch den diskursiven Proben- und Regiestil von Palitzsch gedeckt wird. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass nicht nur analytische, konzeptionelle und gesellschaftstheoretische Kompetenzen für das Gelingen der kollektiven Theaterpraxis die Regievoraussetzungen sind. Volontaristische und kommunikative sind es ebenso wie das, was oben „vitale Einbildungskraft“ genannt wurde. Die Gruppe – bringt sie nicht selbst Personen mit ähnlichen Qualitäten hervor – ist im Theaterproduktionsprozess auf Regiespezialisten, professionelle Zuschauer und Impulsgeber, Wirkungskontrolleure und Szenenvisionäre angewiesen. Theatermacher wie Stein, Palitzsch, Neuenfels oder Bondy haben diese Fähigkeiten ja auch schon vor ihrer Theaterarbeit und Regiefunktion in den Selbstbestimmungskollektiven unter Qualitätsbeweis gestellt.

22 „4. Zwischen Erfüllungszwang und Nichtbegreifen“, in: G. Loschütz/H. Laube (Hg.) 1980, S. 232/239. 23 Jürgen Hofmann: Kritisches Handbuch des westdeutschen Theaters, Berlin 1981, S. 231.

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Der kollektive Prozess des Theaters Dennoch gilt für Stein und Mnouchkine, aber auch für andere Regisseure wie etwa Brook oder Tabori, dass sie besondere Vorzüge besitzen, „die man in der Gruppensoziologie einem leader effective zuordnet“. Sie sind, wie Banu es für Ariane Mnouchkine feststellt, Leader, die ihre Autorität „aus der vollkommenen Zustimmung der Gemeinschaft“ gründen.24 Worüber und wie diese Zustimmung zustande kommt, ist durchaus verschieden, ebenso wie diese von den Leaderfiguren gehandhabt und für das kreative Geschehen genutzt wird. Dass sie meist über eine besondere Form der Theaterkompetenz läuft, mit unterschiedlichen Gewichtungen der ästhetisch-theatralen, stückanalytischen, sozialkommunikativen oder konzeptionellen Fähigkeiten und – nicht zu vergessen – der Theatererfahrung des Spielleiters, ist evident. Welches soziale Modell für die gemeinsame Kreativität aus dieser Voraussetzung entsteht, ist durchaus unterschiedlich. Für Mnouchkine wurde, nicht nur mit metaphorischer Anspielung auf den Namen ihres Theaters, das kopernikanische genannt: Die Mitglieder des Théâtre du Soleil umkreisen als Planeten die Sonne Ariane Mnouchkine. Stein realisierte in der Schaubühne nach eigenem Verständnis, aber auch nach Einschätzung von Außenbetrachtern eher ein dialogisch-aufklärerisches Konzept. Ihm gefällt es, zu kritisieren und kritisiert zu werden, er schätzt das gemeinsame Nachdenken und Erproben von szenischen Lösungen. Im Konflikt und in der Auseinandersetzung steckten „unterschiedliche schöpferische Möglichkeiten“. Dabei betont Stein mit Nachdruck, wie sehr die Kollektivität der Theaterarbeit „der entscheidende Punkt“ sei und er „kein Einzelkämpfer“.25 Am liebsten ein Leben lang wollte er laut Interview im Jahre 1979 mit dieser seiner Gruppe arbeiten. Dass dies weder gelungen noch überhaupt möglich ist, liegt nicht nur an Abnutzung und Verschleiß, an „Gleichlauf und Desinteresse“,26 die jeden produktiven Prozess bedrohen. Theaterkollektive sind besonders gefährdete labile und instabile Gebilde, was nicht nur an ihrer personellen Durchlässigkeit abzulesen ist, sondern auch eine wesentliche Voraussetzung ihrer meist nur wenige Jahre andauernden Kreativität zu sein scheint. Und sie bedürfen beständig eines immer wieder auszutarierenden Gleichgewichts ebenso wie der permanenten Herausforderung durch

24 Georges Banu: „Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater“, in: J. Féral (Hg.) 2003, S. 21. 25 P. Stein: „Ich bin kein Einzelkämpfer“, in: D. Kranz (Hg.) 1981, S. 203. 26 Ebd. S. 199.

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Kollektive Kreativität gemeinsame neue Ziele. Merkwürdigerweise ist ihre Gefährdung zugleich ein Teil ihrer Kohärenz. Gerne treten sie nämlich im Selbstverständnis und in der Außendarstellung als eigenartige Binnengesellschaft auf (Taboris ‚Bremer Theaterlabor‘ oder sein ‚Wiener Kreis‘, Brooks ‚Centre International des Creations theatrales‘ oder die so genannte ‚Marthaler-Familie‘), als kleine Gesellschaften, die sich selbstbezüglich bis verschwörerisch von der Gesamtgesellschaft absetzen. Das sichert ihre instabile Stabilität. Freilich lässt sich mit solchem Gruppenbewusstsein, zumal wenn es massiv ideologisch verstärkt wird, wie z.B. in Frankfurt, auch Spannung und Druck erzeugen, der innerhalb des sozialen Binnenraums ebenso produktiv wie destruktiv werden kann. Die soziale Energie, die in diesen Kollektiven gefördert und wirkkräftig wird, enthält oft zugleich die Möglichkeit zum Supergau der Gruppe und zur energetischen Steigerung, die auf die Mühlen der Theaterkunst geleitet werden kann, um dort die Produktivität aller anzutreiben, dabei neue, bisher nicht gekannte Kräfte, Fähigkeiten und Ergebnisse freisetzend. Die Schauspielerin Elisabeth Schwarz beendet ihre Rückschau auf die Frankfurter Zeit mit einem leicht, aber signifikant veränderten Satz aus Brechts Baal: „Das Chaos ist aufgebraucht, es war unsere beste Zeit.“27 Neben poetischer Verklärung der eigenen Biografie ist hiermit vor allem die Ambiguität erfasst, die kreative kollektive Prozesse offenbar brauchen: als Bedrohung und als Stimulanz.

F REIRÄUME KOLLEKTIVER K REATIVITÄT : D IE I NFRAGESTELLUNG THEATRALER G RUNDANNAHMEN Kollektive Kreativität gedeiht dort in besonderer Weise, wo für sie besondere Frei- und Schutzräume bereitgestellt werden. Das können so genannte Theaterlabors sein, die innerhalb eines Theaters eingerichtet sind, wie bei George Tabori, oder solche außerhalb, wie bei Peter Brook. Es können aber auch die Experimentierräume einer praktischen Theaterwissenschaft sein, wie sie etwa an den Universitäten Gießen und Hildesheim im akademischen Terrain entwickelt worden sind. Eine erste wichtige Veränderung der Ausgangsbedingungen von Kreativität ist die zeitweilige Abkoppelung des Theaterprozesses vom szenischen Endprodukt. Zwar wird der nicht (oder idealiter nie) abgeschlossene Arbeitsprozess in Brecht’scher Tradition schon in der Frankfurter 27 Elisabeth Schwarz, in: „5. Texte, Gespräche, Briefe und ein Gedicht“, in: G. Loschütz/H. Laube (Hg.) 1980, S. 261.

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Der kollektive Prozess des Theaters Theaterarbeit, vor allem von Peter Palitzsch betont.28 Aber das Theatersystem vor Ort fordert auch die „Ware“, die termingerecht fertig werden muss.29 Dieser Ablieferdruck mobilisiert genau so Kräfte, wie er in bestimmten Phasen kreative Offenheit verschließt. Solche Janusköpfigkeit wird vom heutigen Leiter der Berliner Schaubühne, dem Regisseur Thomas Ostermeier, erfasst und zugleich ideologisch verteufelt, wenn er den Traum von der selbstbestimmten kollektiven Theaterarbeit gegen deren prostituierende Funktion zur Qualitätssteigerung des Theaterprodukts ausspielt.30 Gewiss gibt es einen nicht nur potentiellen Konflikt zwischen dem kreativen Arbeitsprozess und dem, was Warenproduktion genannt wird. Aber dieser setzt auch immer wieder Energien und Möglichkeiten frei, Theaterarbeit anders zu organisieren und zu begreifen. Altmeister der Szene wie Brook oder Tabori haben ihre alternativen Theaterformen ja nicht nur geträumt. Sie haben sie realiter in den „Theaterkatakomben“ (Tabori) oder auf Theaterforschungsexpeditionen in entlegene Kontinente umgesetzt – im realen und übertragenen Sinn. Beide haben mit und im Theater angewandte Anthropologie betrieben: Tabori auf der Suche nach dem Menschen und seinem moralischen Potential, in Gruppen, deren „lebendiger Organismus“ auf unverkitschter zwischenmenschlicher Solidarität aufbauen sollte – immer mit dem Bewusstsein, dass richtige Gruppenarbeit keine „Kollektivsoße“ ist, sondern „individuelle Bedürfnisse entfesselt“,31 Brook auf der Suche nach der universellen Sprache, einer Theatersprache, die „jenseits des kognitiven Aspekts, Kommunikation ermöglichen

28 Vgl. Karlheinz Braun: „Peter Palitzsch zum Beispiel. Zwei Nachrufe“, in: Theater der Zeit, 2 (2005), S. 36-39. 29 H. Laube, in: „Wie kollektive Arbeitsmethoden...“, in: Jahressonderheft Theater heute 1974, S. 61. 30 „Gemeinschaft und Solidarität existieren nicht mehr als ideale Bestimmung des emanzipierten Individuums. Aber das Kollektiv als Gemeinschaft freier, selbstverantwortlicher und selbstbestimmter Menschen lebt als Sehnsucht weiter, auch wenn es sich als produktivitätssteigernde Teamarbeit prostituiert." Thomas Ostermeier: „Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung“, in: Harald Müller/Jürgen Schitthelm (Hg.), 40 Jahre Schaubühne Berlin, Berlin 2002, S. 7. 31 George Tabori: „Verliebte und Verrückte“, in: Ders.: Betrachtungen über das Feigenblatt, München 1991, S. 86f.

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Kollektive Kreativität würde“,32 die nach Brook ihren Sinn „unmittelbar aus der besonderen Eigenart, die die Sprache mit sich bringt“, gewinnt.33 Damit werden für den schöpferischen Vorgang und sein szenisches Ergebnis zugleich neue Parameter geltend gemacht: von Tabori das Unperfekt-Spontane, von Brook die allgemeingültige Unmittelbarkeit und Präsenz im Darstellungsakt. Den Paradigmenwechsel von der theatralen Repräsentation zur theatralen Performanz vollzieht die avancierte Theaterpraxis – dank kreativer Freiräume – also um einiges früher als die Theaterwissenschaft. Diese entdeckt in den neunziger Jahren die Theorie und die Theoretisierung ihres Materials als produktives Hindernis. Theatertheorien szenisch zu machen und praktisch zu begreifen, ist ein in zwei Hildesheimer Projektsemestern erprobtes und variiertes theatrales Verfahren, das Grundannahmen des Theaterspielens auf den Kopf stellt bzw. die Theorie auf die Bühne. Das vor allem impliziert diese Versuchsanordnung: Theater zu machen aus Voraus- und Zielsetzungen heraus, die nach herkömmlichen Vorstellungen die Absenz von Theater und seiner Realisierung markieren. Denn zuallererst wird hier auf fertige szenische Partituren und theatrale Strukturvorgaben verzichtet. Dann führt der kollektive Probenweg über aufwändige, umständliche, zuweilen hilflose, umwegreiche Versuche, sinnliche Erkenntnis herzustellen, indem das Sujet der Theorievorgabe (Roland Barthes’ Texte über theatrale Zeichen, oder Artauds Abhandlung ÜBER DAS BALINESISCHE THEATER) verkörpert, vergegenständlicht oder verräumlicht und damit in ein neues szenisches Licht gesetzt wird.34 Ähnliches gilt für eine Projektarbeit, die ihr Sujet, ihr Material, ihre mediale Konstitution im Probenprozess entdeckt und erfindet. Auch hier braucht es Zeit, denn die Theorien müssen „durch den eigenen Körper hindurch“.35 Und wiederum geht es „nicht um die gruppendynamische Befreiung eines Produktionsteams, sondern eher um die kreative Suche nach neuen Widerständen und Gesetzen, in dieser Maschine, die Theater heißt“. 32 Hartwin Gromes: „Interkulturelle Aspekte in der Theaterarbeit Peter Brooks“, in: Hajo Kurzenberger/Frank Matzke (Hg.), Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik, Hildesheim 1994, S. 37. 33 Peter Brook: Wanderjahre, Berlin 1989, S. 154. 34 Vgl. Hartwin Gromes/Hajo Kurzenberger (Hg.), Theatertheorie szenisch. Reflexion eines Theaterprojekts, Hildesheim 2000. Und die Abb. 21/23/24 in diesem Band. 35 Heiner Goebbels: „‚den immer andern Bauplan der Maschine lesen...‘ Widerstände zwischen Theorie und Praxis“, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), 2004, S. 19.

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Der kollektive Prozess des Theaters Heiner Goebbels hat diesen und andere neue Parameter des kollektiven kreativen Prozesses an seiner Produktion EISLER-MATERIAL beschrieben und gezeigt, wie konkret und zuweilen scheinbar einfach der schöpferische Vorgang in Gang gesetzt und herausgefordert werden kann.36 Im Spiel ohne Dirigent, in Arrangements, die von den Beteiligten zusammen entwickelt wurden, mit ‚Musikern‘, die auch Schauspieler-Sänger sein können, entsteht in der Aufführung ein riskantes Konzert, ein offenes, aufmerksam gespanntes Zusammenspiel der Kräfte. Es ist die Kategorie der Unsicherheit, bei gleichzeitiger musikalischer Kompetenz der einzelnen Spieler, die Goebbels stark macht und zugleich theoretisch wie historisch argumentierend ins Feld führt: vorgebliche Sicherheit der Theatermacher sei das Relikt einer nach klaren Prioritäten organisierten Praxis. Das „Misstrauen gegenüber den Grundannahmen“ wird bei Goebbels nicht nur gespeist aus dem Überdruss an standardisierten Aufführungen, sondern aus seinen Praxiserfahrungen, zu denen auch die Zeit der Frankfurter Mitbestimmung zählt. Ob die Attacke gegen den Regiebegriff, den Goebbels für sein EISLER-Projekt als „Abwesenheit dessen, was man bisher darunter verstand“, definiert, von damals rührt, ist müßig zu beantworten. Begründet wird das mit der Erfahrung, dass Ausgrenzung die Praxis des konventionellen Regiehandwerks sei, „in der die Ungeduld der Regisseure alle anderen Mittel in ihrem ästhetischen Recht ausschließt“. Um die „neuen Mittel“ aber geht es zunehmend in einem gegenwärtigen Theater, das nicht nur oder nicht mehr in den angestammten Räumen spielt, sondern viele Orte bis hin zum Internet zur Bühne macht – ein Theater also, das sich als intermedial versteht und entdeckt. „Sobald aber das hierarchische Zentrum weg ist, wird das Zusammenspiel der Kräfte neu verhandelbar, kann es im Wortsinn multimedial werden.“37 Freilich ist dies kein Automatismus in einem gleichsam selbsttätigen Kunstdiskurs. Es bedarf, wie ein Hildesheimer Projektbeispiel aus ANTIKE INTERMEDIAL 2004, nämlich WWW.ODYSSEUS _ZU_HAUSE.DE anschaulich macht, einer bewussten Entscheidung und Setzung der Projektmacher. Es braucht ihren Willen und ihr 36 Vgl. Heiner Goebbels/Wolfgang Schneider: „Ein synergetisches Ausprobieren. Heiner Goebbels über kollektive Kreativität, Inspiration und Inszenierungsprozesse“, in: Stephan Porombka/Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Kollektive Kreativität, Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Tübingen 2006, S. 115-124. 37 H. Goebbels: „den immer andern Bauplan...“, in: H. Kurzenberger/A. Matzke (Hg.) 2004, S. 22/24.

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Kollektive Kreativität Vermögen, die Reibungsenergie der Gruppe bei gleichwertiger Aufgaben(ver)teilung auszuhalten und fürs Ganze fruchtbar zu machen. Die wichtigste Prämisse dieser kreativen Anordnung: „Jedes Medium wurde zuerst für sich gedacht“.38 Das heißt, im Rahmen der Setzung, Odysseus, den viel gewandten, „zum modernen User“ zu machen, „der sich in der permanenten Suchbewegung im Netz wie in der mythischen Welt der Götter verliert“39, hatten die einzelnen Projektteilnehmer ihre Darstellungsspur zunächst selbstständig und eigenverantwortlich zu entwickeln und zu legen: das „truck work“ von Ton, Licht, Internet, Video, Raum. Die Erfahrung und Reflexion, „wie schwierig so ein Gebilde des kreativen Freiraums zu schaffen ist, wie schmal die Grenze zwischen Einschränkung (in Form von Vorgaben, Anweisungen, Forderungen) und Selbstentfaltung (die freie Produktion und Umsetzung eigener Ideen) innerhalb eines kreativen Gruppenprozesses ist“, war hier gefährdender und stimulierender Teil eines produktiven Vorgangs, bei dem „nicht die flache Hierarchie innerhalb des Teams, sondern das bessere Argument oder die gemeinsame Beurteilung des szenischen Versuchs entscheiden“.40 In diesem selbstständigen studentischen Projekt, das nur zuweilen kritische Einschätzungen und Impulse von außen empfangen hat, erwiesen sich fehlende Sach- und Spezialistenautorität der studentischen Teilnehmer als diesem Konzept und seinem kreativen Prozess adäquat, vor allem waren sie eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er überhaupt gelingen konnte – nicht im Sinne einer demokratischen Ausgewogenheit des künstlerischen Produkts, sondern als eigenwillige Erfüllung seiner intermedialen Ausgangsbedingungen. Dass sich dabei zugleich die Erkenntnis einstellte, wie schwierig, wie geradezu epistemologisch unmöglich es ist, die eigene Intention und Interpretation vom gemeinsamen

38 Matthias Spaniel: Reflexion des Projektes „www.odysseus_zu_hause.de“ im Rahmen des Projektsemesters Antike intermedial an der Universität Hildesheim SS 2004, unveröffentlichtes Manuskript, S. 15. 39 Programmheft Projektsemester 2004, antike intermedial: theater • musik • medien • fotografie, Hildesheim 2004, S. 55. „Das Projektsemester 2004: das sind 181 Studierende, 18 Lehrende und studentische Hilfskräfte, 14 Orte und 18 Produktionen in vier Disziplinen, entstanden in zehn Wochen intensiver Lehr- und Lernzeit im Sommersemester. [...] Thema dieses Projektsemesters ist ‚Antike intermedial‘. Die kontrastive Setzung[...], die Kombination der Antike als der Anfang unserer Kulturgeschichte mit postmoderner Medialität[...]" (Stefanie Riedner/Kristina Stang, ebd. S. 4) 40 M. Spaniel: Reflexion „www.odysseus_zu_hause.de“ 2004, S. 13f.

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Der kollektive Prozess des Theaters Produkt und seiner Deutung zu trennen, verweist auf grundlegende methodische Probleme, Kreativität und künstlerisches Ergebnis wissenschaftlich genau in den Griff zu nehmen.

K OLLEKTIVE K REATIVITÄT : H ERAUSFORDERUNG DER T HEATERWISSENSCHAFT Versuchen wir von hier aus ein Resümee und wagen einen Ausblick auf Fragen, die theater- und kulturwissenschaftliche Forschung aufgreifen könnte. Kreativität ist kein abgegrenzter Gegenstandsbereich, das Wort im Alltagsgebrauch ein ContainerBegriff, in den alles, „was semantisch gut und teuer ist“41 eingefüllt wird, von der kreativen Küche bis zur kreativen Sturmformation einer Fußball-Elf. Offenheit und Vagheit charakterisiert seine Verwendung ebenso wie seine schier unbegrenzte Anwendbarkeit in nahezu allen Lebensbereichen. Dies könnte, positiv verstanden, ein Hinweis sein, dass Kreativität nicht exklusiv ist, und negativ, dass der undifferenziert gebrauchte, formelhafte Allerweltsbegriff eher eine Leerstelle als ein konkretes Phänomen bezeichnet. Vergleichbares gilt für die Wissenschaft. Hier fungiert Kreativität, ähnlich wie z.B. Theatralität oder Authentizität, häufig als frei schwebendes Diskurselement, das Disziplinen und Fächer durchmisst, sie zusammenführt oder zu verbinden scheint. Die Formel Kreativität eignet sich also für eine Suchbewegung in unter-schiedlichen Kreativitätsfeldern. Soll sie nicht nur Formel bleiben und ins Leere führen, muss Kreativität sich als ein Funktionsbegriff beweisen, der eine genauere Bestimmung im konkreten Fall einfordert und zu leisten imstande ist, etwa die mediale Spezifik von Kreativität oder die jeweils spezifische historische Entwicklung und Thematisierung von Kreativität in einem besonderen Bereich der Kunst und ihrer Theorien. Die Kreativität im Theater und die Kreativität des Theaters wurden hier an verschiedenen Beispielen als sozial und kollektiv beschrieben – das Belegmaterial war entsprechend vielfältig und disparat: Selbstdeutungen und Programmatisches von Theatermachern, Gruppen-Diskussionsprotokolle, interpretierte szenische Ergebnisse oder ideologische Theoreme. Ähnlich unterschiedlich waren die Einschätzung und die Fokussierung, was im Medium Theater als kreativ gilt. Auch die Verortung der kollektiven Kreativität in dem, was man den Theaterprozess nennt, war 41 Hans-Ulrich Gumbrecht: „Der Ort von (ein Ort für) Kreativität“, in: Ders. (Hg.), Kreativität - Ein verbrauchter Begriff?, München 1988, S. 10.

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Kollektive Kreativität kaum mehr als eine erste Orientierung. Worum es bei der theaterund kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit kollektiver Kreativität in einem nächsten Schritt gehen könnte, wäre die genaue Unterscheidung verschiedener Prozess- und Kreativitätsphasen, wäre die Beschreibung ihrer Voraussetzungen und besonderen Qualitäten, etwa die des Konzeptionierens oder jene bei der Entwicklung szenischer Konstellationen auf der Bühne, die unterschiedlicher Probenabläufe und Probenaufgaben, jene der Figuren-(Er)findung oder des zu intensivierenden Darstellungsaktes. Dabei müssten unterschiedliche Parameter der Proben- und Prozesskonstitution ins Kalkül gezogen werden: künstlerische, organisatorische oder personelle. Etwa das Verhältnis von Improvisation und Reproduktion, von Acting und Re-Acting, von Ausprobieren und Auswerten, von Theoretisieren oder der Grundentscheidung, sich blind handelnd dem Zufall zu überlassen. Dass verschiedene Zeiteinteilungen, unterschiedliche Prozessrhythmen die Probenarbeit ebenso verändern und kreativ wirkkräftig machen können wie Räume, Materialien oder musikalische Impulse, ist den Theaterpraktikern so selbstverständlich wie es von den Theaterwissenschaftlern bisher nicht erfasst wurde.42 Wo und in welchen Institutionen und Organisationsformen Theater gemacht und vermittelt wird, wirkt sich, wie wir gesehen haben, in einem bisher kaum bedachten Maße auf den kreativen Prozess aus. Nicht zuletzt sind es, wie ebenfalls an den historischen Beispielen zu erkennen war, die persönlichen Fähigkeiten der Beteiligten, ihre Gemeinsamkeit und Verschiedenheit, die jeweils eine spezielle Communitas herstellen, von der man freilich nicht vorab sagen kann, dass sie kreativ wird (Regisseure suchen und bauen sich deshalb häufig ‚ihre‘ Mannschaft, mit der sie über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten). Schließlich ist der Zuschauerbezug oder seine Verweigerung in jedem theatralen Probenprozess fortwährend als produktive Forderung und Stimulans gegenwärtig, als implizite, voraus gedachte Interaktion, als Vorannahme und zusätzliche Kraft bei der Modulierung und Intensivierung des theatralen Kommunikationsangebots an ein 42 Vgl. Stephan Porombka: „Literaturbetriebskunde. Zur ‚genetischen Kritik‘ kollektiver Kreativität“, in: Ders./Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Kollektive Kreativität, Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2006, Tübingen 2006, S. 71-86; der ähnliche Forderungen für die Analyse des kreativen Prozesses im Bereich der Literatur formuliert (und dabei nicht zuletzt darauf verweist, dass eine solche Analyse viel von einer im hier skizzierten Sinn erweiterten Theaterwissenschaft lernen kann).

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Der kollektive Prozess des Theaters künftiges Publikum. All dies (und sicher noch einiges mehr) macht in verschiedenen Mischungen und Überlagerungen den ‚Untersuchungsgegenstand‘ und seine Aspektierungen aus, der allerdings eher ein mobiles System als eine fixierte Konstellation ist und dementsprechend wissenschaftlich zu konstituieren wäre. Im Vergleich zur Kreativität des Einzelnen hat die kollektive Kreativität besondere, günstigere Voraussetzungen, wissenschaftlich erfasst zu werden. Sie kann sich kaum auf einen sprachlosen Ort der Inspiration berufen und zurückziehen, weil Verstehen und Verständigung, die Suche nach und das Finden von Übereinkünften Voraussetzung und Ergebnis kollektiver Kreativität sind. Die Beschäftigung mit Theorie im Vorlauf und die Reflexion und Theoretisierung der gemeinsamen Praxis schaffen ein kollektives Fundament. Kollektive Kreativität ist also theoriefreundlich und vermehrt die reflexiven Anteile des Probenprozesses (und damit auch die auswertbaren Dokumente). Beides zusammen verstärkt eine Grundstruktur der Prozessabläufe, die als „Wechselspiel zweier gegenläufiger Prozessschritte“ charakterisiert werden kann. „Der erste generiert kreative Einfälle, der zweite filtert kritisch die meisten wieder aus und verwirft sie.“43 Das Verfahren klingt rational überzeugend, ist aber eher eine mechanistisch saubere Formel als kreative Realität. Denn was ist ein kreativer Einfall, und welche Gründe und Entscheidungsformen bestärken oder eliminieren ihn? Freilich macht die technologische Seite der Formel sie für kollektives Tun brauchbar: In der Manier von Brainstorming und Multiple-ChoiceVerfahren lässt sich, ohne kreativen Leistungsdruck, beim Probenprozess in alle Richtungen ausschwärmen, und man darf sich auch auf Irrwege begeben. Denn die Suchbewegungen der kollektiven Kreativität sind damit nicht nur entmythisiert, sondern auch quantitativ erweitert und, was vielleicht am wichtigsten ist: Solchermaßen initiierte Probenabläufe lassen sehr viel zu, können fast alles auf den Kopf stellen, vor allem die bekannten Lösungen und ästhetischen Standards, zu denen jede Gruppe bei aller Entdeckerlust immer wieder tendiert. Vor allem aber vertrauen solche oder ähnliche Verfahren auf den Zufall, der unerwartet, aber ziemlich regelmäßig ein- und querschlägt. Denn weder Kreativität noch kollektive Kreativität sind planbar. Aber damit das Unkalkulierbare kreativ wirksam werden kann, braucht man einen Plan, muss man eine Vorstel-

43 Heinz Heckhausen: „‚Kreativität‘ - ein verbrauchter Begriff?“, in: H.-U. Gumbrecht (Hg.) 1988, S. 24.

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Kollektive Kreativität lung, einen Entwurf, ein Konzept, eine Idee oder Theorie von dem haben, was entstehen könnte. Denn, so Louis Pasteur, „der Zufall begünstigt nur den vorbereiteten Geist“44 – den durch Theorie, Reflexion und Probenarbeit gestärkten Geist, möchte man ergänzen, der im Gruppenprozess das Wechselspiel von Plan und zu begreifendem Phänomen, das man als szenische Lösung vor Augen hat, in Gang setzt. Hier liegt das Zentrum kollektiver Kreativität. Hier liegen viele neue Möglichkeiten nicht nur des künstlerischen Produkts, sondern vor allem auch der Prozesse und kollektiven Konstellationen, die zu ihm führen.

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Louis Pasteur zit. nach Niklas Luhmann: „Über ‚Kreativität‘", in: H.-U. Gumbrecht (Hg.) 1988, S. 17.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie U NGEKLÄRTE V ERHÄLTNISSE : T HEATERPRAXIS , T HEATERTHEORIE Theaterpraxis und Theatertheorie sind wohlfeile Begriffe. Sie gehen eben so leicht von der Zunge wie sie klare Unterschiede verheißen: Theater machen und über Theater theoretisch nachdenken, das ist nach gängigem Verständnis zweierlei, auch wenn sich dabei ein gemeinsames Interesse auf das Theater richtet. Freilich, die scheinbar festen Begriffe, die eine so deutliche Differenz markieren, sind jeweils in sich porös. Was man unter Theaterpraxis, was man unter Theatertheorie versteht, ist keineswegs eindeutig, genauso wenig, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Nehmen wir z.B. die theatrale Darstellung als zentrales Tun der Theaterpraxis. Ist dieses die schauspielerische Verkörperung einer Rolle, die Selbstdarstellung oder Selbstinszenierung einer Performerin, die Probenarbeit des Regisseurs, der die Strategien seiner Inszenierung ausheckt und in Bühnenrealität umsetzen will, das aufmerksame Zuschauen und genaue Beobachten des Dramaturgen, der das darstellerische Tun der Beteiligten verbal zurückspiegelt, um szenische Vorgänge zu beeinflussen? Oder ist theatrale Darstellung die Konzeption und Verwirklichung eines Kunst-, Seh- und Erlebnisraumes, den die Bühnenbildnerin ‚setzt‘. Und was bedeutet Theaterpraxis für die Tätigkeit des Theaterleiters, der ein Ensemble engagiert und ‚formt‘, Personenkonstellationen und ihre potentielle theatrale Produktivität im Auge hat und zusammenführt? Und kann man den Stückeschreiber, den Dramatiker außen vor lassen, der heute nicht selten als Hausautor eines Theaters fungiert und dabei auch dramaturgische Aufgaben wahrnimmt? Wie sehr Theaterpraxis als Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte und Kompetenzen zu begreifen ist, pointiert die Behauptung, auch die Theaterkritik habe ihren Anteil am Produktionsprozess. Nimmt sie nicht direkt oder indirekt Einfluss auf

203

Der kollektive Prozess des Theaters Personalentscheidungen und Bühnenkarrieren, verstärkt sie nicht ästhetische Trends oder schweigt sie tot? Schließlich: Gilt das skizzierte arbeitsteilig hierarchische Praxismodell nicht vor allem für eine bestimmte historische Theaterform, nämlich die des deutschen Stadt- und Regietheaters? Was heißt und bedeutet Theaterpraxis für jene Produktionskollektive, die in der aktuellen freien Theaterszene zunehmend erfolgreicher das bestehende Theater konterkarieren, deren Mitglieder mehr oder weniger gleichberechtigt ihre spezifischen, oft multimedialen Fähigkeiten in den gemeinsamen Theaterherstellungsprozess ‚einbringen‘? Fest steht also nur: Theatermachen ist ein arbeitsteiliges, ein gemeinsames, ein kollektives Produktionsgeschäft mit mehr oder weniger hierarchischen Gewichtungen und Personenkonstellationen. Theaterpraxis zeigt sich dabei als ein interaktives Kräftefeld, das den Darstellungsprozess eher erzeugt als gradlinig steuert. Die Arbeitsteiligkeit, die sich im deutschen Stadt- und Staatstheatersystem herausgebildet und standardisiert hat, ist freilich auch ein wichtiger Hinweis auf die Theoriehaltigkeit dieser Theaterpraxis. Der Dramaturg, der als sogenannter Produktionsdramaturg seit der Steinschen Schaubühne an Bedeutung und intellektueller Einflussnahme deutlich gewonnen hat, ist längst nicht mehr der Sachwalter und Aufsichtsrat der Interessen des Dramatikers und seines Textes. Er reflektiert als Außenauge den gesamten Produktionsprozess, vor allem die ästhetische Plausibilität der Aufführung. Nicht selten gibt er ihr wichtige Impulse, wenn er die gemeinsame Theaterarbeit durch aktuelle Diskurse, meist der Kultur- und Gesellschaftstheorie, kontextualisiert, ja mit ihrer Hilfe auch konzeptionell und szenisch beeinflusst. Die andere, vielleicht noch wichtigere Funktion, die er in der Regel mit dem Regieteam teilt, ist das Wahrnehmen, Beschreiben und Reflektieren szenischer Vorgänge. Hier sind er und die anderen Theatermacher im Terrain ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung, die nach der angemessenen Verbalisierung, dem zutreffenden Begriff sucht. Dabei geht es nicht nur um eine angemessene Transformation des Probenereignisses ins Medium der Sprache, sondern immer auch um einen Vergleich mit anderen, vorangegangenen Probenergebnissen, um ästhetische Standards und ihre Durchbrechung, um die signifikante Individualität der Darsteller und ihrer Darstellungswirkung, nicht zuletzt um die Weiterführung und Neuerfindung des Probenvorgangs bzw. das Verwerfen bisheriger szenischer Lösungen. Die Mischung aus Beschreibung, Wertung, Interpretation und Neuentwurf ist so momentan und zuweilen spontan wie das Darstellungszwischenergebnis des Pro-

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie benprozesses, der Theoretisierungsgrad höchst unterschiedlich, was nicht nur an den verschiedenen Artikulationsmöglichkeiten der Beteiligten liegt, sondern auch daran, wie viel Theorie dem zu lösenden Darstellungsproblem gut tut. Betrachten wir den Begriff der Theatertheorie in seinem angestammten Bereich, in den Feldern der Kunstkritik und Kunstphilosophie, der Theater- und Kulturwissenschaften, begegnen uns vergleichbare Verwerfungen, Inkonsequenzen und Unklarheiten. Ein Standardkompendium wie Balmes und Lazarowiczs Texte zur Theorie des Theaters unterscheidet nicht nur eine „Allgemeine Theatertheorie“ von der „Speziellen Theatertheorie“, unter der gänzlich unterschiedliche Aspekte, von der „Schauspielkunst“ bis zum „Paratheater“, subsumiert sind, sondern versammelt vor allem Texte von Praktikern.1 Die Beiträge der Philosophen und Soziologen, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Literaten und Dichter zusammen können sich gegenüber den Theaterpraktikern hier nur knapp behaupten. Das lässt den vorschnellen, aber prüfenswerten Schluss zu, dass Theatertheorie auf Theaterpraxis angewiesen ist, ja von ihr als Erfahrungsfeld ausgeht, seit Kunsttheorie nach Auflösung der Regelpoetiken im 18. Jahrhundert darum bemüht ist, das Tun der Kunstproduzenten aus dem Produzieren heraus zu begreifen und zu begründen. Legt man allerdings einen strengeren Theorieanspruch an, etwa den, dass Kunsttheorie „Fundierungskategorien“ bereitzustellen und jede Theorie „eine Abstraktion von dem Sachverhalt, den sie zu fundieren bestrebt ist“ zu leisten habe, muss man neu und anders sortieren.2 Die meisten theatertheoretischen Texte, etwa die der Avantgarde oder jene von Brecht und Artaud, sind vor allem Theaterprogrammatiken, die in erster Linie dem eigenen künstlerischen Anspruch und seiner Verwirklichung dienen sollen und nur selten den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses folgen, also sich um Begriffsbildung und Abstraktion, Stringenz und Kausalität der Argumentation oder die reflektierte Aspektierung ihres Gegenstandes bemühen. Wenn heute theaterwissenschaftlicher Konsens ist, dass Theatertheorie das Theater „nicht verändern“, son-

1

Vgl. Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.), Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart 1991.

2

Wolfgang Iser: Interpretationsperspektiven moderner Kunsttheorie, in: Ders./Dieter Henrich (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a. M. 1982, S. 37.

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Der kollektive Prozess des Theaters dern „erklären“ soll,3 ist gegenwärtige und vergangene Theaterpraxis als erklärungsbedürftiger und erklärungsfähiger Ausgangsund Bezugspunkt von theaterwissenschaftlicher Theatertheorie selbstverständlich vorausgesetzt. Dabei bleibt freilich offen, welche Begriffe, Theoreme und Theorien dazu imstande sind, außerdem, welche Perspektivierung mit dem Erklärungsanspruch verbunden ist. Der in den vergangenen vierzig Jahren zunehmende Theoriehunger der Theaterwissenschaft – die notwendige Reaktion auf die historistische Tradition des Faches – hat sie in viele benachbarte Wissenschaftsbereiche geführt, deren sie sich legitimerweise als Hilfswissenschaft bedient hat: bei der soziologischen Rollentheorie, der Zeichen- oder der Sprechakttheorie. Allein mit dem Begriff der Theatralität, der ja ursprünglich das Spezifische des Theaters charakterisieren wollte, bewegte man sich zunächst im eigenen Terrain, sah aber schnell die vermeintliche Chance Theatralität als neues interdisziplinäres Wissenschaftsparadigma, als kulturelles Modell der Kulturwissenschaften zu propagieren, an dem alle teilhaben sollten, deren Themen und Untersuchungsgegenstände durch inszenatorische Verfahren und theatrales Handeln konstituiert werden, da unsere Gegenwartskultur sich zunehmend nicht mehr in Werken, sondern in theatralen Prozessen formuliere. Je mehr sich der Geltungsanspruch der „Fundierungskategorien“ allerdings ausdehnt, umso mehr führt ein solches Programm vom Theater und seiner Kunstpraxis weg. Es verkürzt sich häufig der Erkenntnisgewinn für das Theater der Kunst und seine spezifischen Phänomene. Dort wo der Theatralitätsbegriff, wie zu Beginn seiner Wissenschaftskarriere, diskutiert wurde, um „die Suche nach der Mitte“ zu befördern, also den kleinsten gemeinsamen Nenner auszumachen, der Theater definieren sollte, etwa die berühmtberüchtigte A-B-C-Formel (A spielt B vor C), hat eine sich laufend verändernde und erweiternde Theaterpraxis diese Theorie schnell ad absurdum geführt.4 Wir sehen: Theaterpraxis und ihre szenischen Ergebnisse fungieren sinnvollerweise als Lackmustest

3

Erika Fischer-Lichte: „Ah, die alten Fragen... und wie Theatertheorie heute mit ihnen umgeht“, in: Hans-Wolfgang Nickel (Hg.), Symposion Theatertheorie, Berlin 1999, S. 13.

4

Andreas Kotte: „Die Suche nach der Mitte. Gibt es einen kleinsten gemeinsamen Nenner für Theatertheorien?“, in: H.-W. Nickel (Hg.) 1999, S. 81.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie und Korrektiv für zu weit ausgreifende wie für den Gegenstand verengende Theorieansätze und Terminologien. Theaterwissenschaftliche Theatertheorie bringt dort offenkundig am meisten konkreten Erkenntniszuwachs, wo sie die Praxis des Theaters fest im Auge hat, d.h. sich direkt aus ihr herleitet oder analytisch auf sie einwirken will. Lehmanns „Postdramatisches Theater“ z.B., die erfolgreichste theaterwissenschaftliche Publikation der letzten Jahre, leistet nicht nur die Systematisierung verschiedener Formen des Gegenwartstheaters, sondern liefert auch ein Netz von Begriffen, die die herkömmlichen Kategorien der Dramaturgie fort- und umschreiben, um die ästhetische Logik der neuen Theaterformen sichtbar zu machen. Die Theorien der Aufführungsanalyse z.B. fundieren eine Metatheorie theaterwissenschaftlicher Rezeption, die zeigt, wie Aufführungsanalyse sich ihren Gegenstand erst schaffen muss, um die Regeln und Besonderheiten der jeweiligen Inszenierungen kenntlich machen zu können. Beide Male ist Warburgs Maxime beherzigt, dass jede Kunsttheorie aus dem Material erarbeitet werden muss. Auffällig ist dabei: Die Unterschiede der theoretischen Zielsetzungen und der Blickrichtungen, die Grade der Theoretisierung bleiben selbst im fachspezifischen theaterwissenschaftlichen Feld höchst unterschiedlich. Oft verschwimmen die Grenzen zur Beschreibung und Interpretation. Ein theatrales Phänomen historisch verstehen und theoretisch erklären zu wollen, ist meist nicht voneinander zu trennen. Das gerade erschienene Lexikon „Theatertheorie“ liefert dafür viele Beispiele, selbstverständlich auch dafür, dass die Theoriediskussion einer Disziplin ebenso gegenwartsfixiert, d.h. historisch ist, wie die Theaterpraxis, die sie erfassen will. Lemmata wie „Atmosphäre“, „Emergenz“, „Ereignis“, „Gender“, „Performance“, „Medialität“, „Performativität“ oder „Präsenz“ erobern theaterwissenschaftliches Neuland und spiegeln den kultur- und theaterwissenschaftlichen Zeitgeist, wohingegen Begriffe wie „Darstellung“, „Dramentheorie“, „Einfühlung“, „Gattungstheorie“, „Geste“, „Interaktion“, „Mimesis“, „Raum“, „Schauspieltheorie“ oder „Verkörperung“ die literatur- und theaterwissenschaftliche Tradition einholen und weiterführen.5

5

Vgl. Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.), Theatertheorien, Stuttgart/Weimar 2005.

207

Der kollektive Prozess des Theaters

„A NGEWANDTE " UND „P RAKTISCHE T HEATERWISSENSCHAFT ": D AS S PANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN T HEATERTHEORIE UND T HEATERPRAXIS Zu den gängigen Einschätzungen gehört, die Theorie diene der Vorbereitung der praktischen Arbeit,6 sie ginge der Theaterpraxis nicht nur voraus, sondern gleitend in sie über. Diese Vorstellung mag nicht zuletzt auf Produktionszusammenhängen des herkömmlichen Theaterbetriebs beruhen, wo Konzeptionsgespräche dem Proben vorangehen, wo die dramaturgische Vorarbeit in Form von Lektürekompendien den anderen Produktionsmitgliedern verabreicht wird. In der Hildesheimer Lehre einer Praktischen Theaterwissenschaft sind wissenschaftliche Seminare und praktische Übungen oft miteinander verknüpft, d.h. thematisch aufeinander bezogen. Auch hier ist die theaterhistorische oder dramaturgische Lektüre eines Shakespeare-Textes ein sinnvoller Vorlauf für die szenische Arbeit an Shakespeare-Szenen. Freilich handelt es sich bei dieser wissenschaftlichen Beschäftigung nicht um Theatertheorie, selbst wenn eine solche dem shakespeareschen Theater inhärent und aus ihm ableitbar wäre, etwa Weimanns Konzept einer subversiven Mimesis des Theaters der Shakespearezeit.7 Um einiges theoriehaltiger ist z.B. eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jelineks Theatertexten unter dem Leitbegriff der „Dialogizität“, einer Fundierungskategorie, die weder geläufig noch sofort durch gängige Praxis zu vereinnahmen ist.8 Hier tritt beim Versuch ihrer Anwendung auf Theaterpraxis wahrscheinlich eine Blockade ein: So wie wir sonst gewohnt sind auf der Bühne zu sprechen, wird die derart begrifflich erfasste Eigenart der Jelinek-Texte kaum hörbar. Was kann, was muss also auf der Bühne geschehen, wenn die Referenz auf einen auktorialen Sprecher ausfällt? Wie wird die vom Text eingeforderte Pluralität und Eigenmächtigkeit der Sprache und des Sprechens in einer dialog- und figurenbezogenen Theatertradition realisiert? Noch vertrackter wird die Angelegenheit, bewegen wir uns in Wissenschaftsdiskursen von großer

6

Thorsten zum Felde: „Grenzgänge Theaterwissenschaft zwischen Theo-

7

rie und Praxis“, in: Hartwin Gromes/Wolfgang Sting (Hg.), Theater studieren, Hildesheim 2005, S. 9. Vgl. Robert Weimann: Shakespeare und die Macht der Mimesis, Ber-

8

lin/Weimar 1988. Vgl. Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen 1996.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie Allgemeinheit und ebenso großer Komplexität, etwa im Authentizitäts-Diskurs, der über die „paradoxale Struktur des Authentischen einer vermittelten Unmittelbarkeit“ nachdenkt.9 Die Hermetik eines solchen wissenschaftlichen Diskurses ist hier ebenso groß wie die Distanz zur szenischen Praxis, obwohl dort ja überall mit denselben Begriffen, mit Unmittelbarkeitsforderungen und Echtheitsversprechen hantiert wird. Hier wird noch evidenter: „Wissenschaft lässt sich nicht einfach anwenden“,10 es gibt keine direkte Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem theatertheoretischen und dem szenischen Diskurs. Heiner Goebbels hat vorgeschlagen, zwischen Theorie und Praxis einen merkwürdigen Zwischenraum zu errichten, „vielleicht wie eine Schleuse im Eingangsbereich einer Bank in unsicherer Nachbarschaft, bei der erst das Tor zur Straße hermetisch geschlossen sein muss, bevor die Tür zum Schalterraum und zur Kasse sich einladend öffnen.“ Ein solcher Schwellenort ist ein exterritoriales Gelände, der es erlaubt, den Blick auf zwei ganz unterschiedliche Seiten einer Sache zu richten. Reflexion und Theorie ist aus diesem Blickwinkel nicht nur ein „Abstandhalter“ zum künstlerischen Prozess der Praxis,11 sondern die Praxis erscheint, blickt man in die andere Richtung, auch immer wieder im fremden Licht der Theorie, wenn man diesen Ort aufsucht. Dieser alltägliche und zugleich ungewöhnliche Sparkassenort wird im Terrain einer Angewandten oder Praktischen Theaterwissenschaft zum Labor, zum Experimentierraum. Und dieser ist nicht nur eine Metapher, sondern ein bewusst immer wieder anders erdachter und gesetzter Raum, der durch das jeweilige künstlerische und theoretische Problem, durch die jeweilige Darstellungsaufgabe und ihre Reflexion eingerichtet wird. Je weiter sich diese von herkömmlichen Darstellungsaufgaben entfernen, umso mehr baut sich dieser Raum als Spannungsfeld auf, das sich schnellen oder gar konventionellen szenischen Lösungen widersetzt und gleichzeitig mit den Schwierigkeiten der Darstellung den genauen, den fragenden Blick auf die Theorien des Theaters erhöht.

9

Jan Berg/Hans-Otto Hügel/Hajo Kurzenberger (Hg.), Authentizität als Darstellung, Hildesheim 1997, S. 5. 10 Heiner Goebbels: „‚den immer anderen Bauplan der Maschine lesen...’

Widerstände zwischen Theorie und Praxis“, in: Hajo Kurzenberger/Annemarie Matzke (Hg.), TheorieTheaterPraxis, Berlin 2004, S. 17. 11 Ebd. S. 17f.

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Der kollektive Prozess des Theaters In zwei Hildesheimer Projektsemestern war die Vorgabe, Texte der Theatertheorie szenisch zu machen, Theorietexte von Aristoteles bis Roland Barthes, Theaterprogrammatiken von Artaud bis Schleef. Das Ergebnis war nicht nur, dass man Theatertheorie auf höchst erhellende und vergnügliche Weise verkörpern und performen kann, sondern vor allem, dass die Bedingungen des Theaterspielens und Theatermachens grundlegend in Frage stehen und theoretisiert werden müssen, um zu gemeinsamen szenischen Ergebnissen zu kommen. „Angesichts der Heterogenität der Ansätze und Theatermodelle muss - will man den konventionellen Darstellungsmustern nicht unreflektiert verfallen bzw. sich nicht wahllos und nivellierend im Durcheinander des historischen Fundus verirren – das jeweils zu Grunde liegende Theaterverständnis bei jeder Produktion neu verhandelt werden.“12

„Spielregeln“ und „Rahmenbedingungen“ müssen gefunden und formuliert werden auf der Basis gemeinsamer Probenversuche, vielfältiger Spielerfahrungen und der Reflexion des Stoffes, des Themas, des Sujets und der selbst gewählten Darstellungsaufgabe. Dies ist die „ästhetische Fundierung“ aller am Probenprozess Beteiligten. Sie ist im Fall des Artaud-Projektes ÜBER DAS BALINESISCHE THEATER zugleich bezogen auf und inspiriert von einem Theoriehorizont, der im Authentizitäts-Diskurs entfaltet wurde, in der Theaterpraxis aber zunehmend restriktiv gewirkt hat. „Zu untersuchen ist, auf welche Weise die moralische Wertung traditioneller Oppositionspaare wie ,natürlich‘ im Gegensatz zu ,künstlich‘, ,unmittelbar‘ gegenüber ,vermittelt‘, ,tief‘ gegenüber ‚oberflächlich‘, ,authentisch‘ gegenüber ‚konstruiert‘ etc. im Theater legitimiert und kulturell festgeschrieben wird. Wie dadurch Wege sanktioniert und Entwicklungen blockiert wurden.“13

Universitäre Theaterpraxis erweist sich nicht nur bei diesem Beispiel als Such- und Experimentierfeld im doppelten Sinne: als Entwicklungsversuch eines szenischen Produkts, für den es keine Vorbilder und deshalb keine orientierenden Konventionen gibt, als Reflexion von Begriffsoppositionen, die den Theoriediskurs des Theaters über zwei Jahrhunderte entscheidend bestimmt haben, 12 Sven Sappelt: „Von Artaud zu Wilson, von Wilson zu Artaud. Zur Historizität künstlerischer Praxis“, in: Hartwin Gromes/Hajo Kurzenberger (Hg.), Theatertheorie szenisch. Reflexion eines Theaterprojekts, Hildesheim 2000, S. 44f. 13 Ebd.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie was besonders deutlich sichtbar wurde im Umbruch der Theatertradition, den die Avantgarde Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet hat und der bis in die Postmoderne fortwirkt. Allerdings zeigt sich dabei auch: Genauso wenig wie Theorie sich einfach anwenden lässt, lässt sich Praxis in direkter Weise in Theorie verwandeln. Eine neue Theatertheorie ist damit noch nicht entwickelt. Zu konstatieren aber ist: Der wissenschaftliche und der szenische Diskurs stehen in einer produktiven Wechselwirkung. Gerade weil sie beide auf Abstand und getrennt bleiben, halten sie sich gegenseitig in Bewegung und entwickeln im Sog der zu realisierenden Darstellungsaufgabe ihre besondere Kraft. Die Produktivität des geschilderten Spannungsverhältnisses liegt nicht zuletzt darin, dass Theorien generell „eine Distanz zu den Realitäten, mit denen wir in unserem Leben umgehen“, „etablieren“14 und, es wurde schon gesagt, auf die Verallgemeinerung und Systematisierung wahrgenommener Phänomene aus sind. Die künstlerische Praxis betreibt das genaue Gegenteil. Sie sucht gerade das nicht Verallgemeinerbare, hat das Besondere im Blick und zum Ziel. Nicht nur im Proben- und Produktionsprozess versenkt sie sich ins Einzelne. Und sie hat an ihm leibhaftigen Anteil. Theatermachen ist ein sozialer und ästhetischer Erlebnisund Erfahrungszusammenhang, der die Beteiligten affiziert. Sein Strukturgesetz ist (er)finden und verwerfen, wiederholen und variieren, sein Zeitmaß: Entschleunigung. All dies erzeugt Nähe, nicht selten eine zu große Affinität, eine Verliebt- und Verranntheit in die gefundenen szenischen Lösungen. Die Distanz schaffende Theorie wirkt entgegengesetzt: verallgemeinernd und abstrahierend, ernüchternd und klärend, linear und voranschreitend. Beider Stärken, die zugleich ihre Schwäche sein können, sind theaterwissenschaftlich zu nutzen im Wechsel von Nähe und Distanz, im Wechsel der Perspektiven und im differenten Modus der Artikulations- und Reflexionsweisen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis ist also integrativ nicht im wechselseitig direkten Zugriff, sondern in einem komplexen Sinn: Weil künstlerische und wissenschaftliche Verfahren unterschiedlich sind, weil Theaterpraxis und Theatertheorie verschiedene Artikulationsmodi und differente Zielsetzungen haben, werden sie für einander interessant und wichtig, denn sie sind auf den selben Gegenstand gerichtet, den sie als gemeinsamen unterschiedlich hervorbringen und modellieren.

14 Dieter Henrich: „Theorieformen moderner Kunsttheorien“, in: Ders./W. Iser (Hg.) 1982, S. 11.

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Der kollektive Prozess des Theaters Zu den Topoi der Kunstwissenschaften und der Theorie der Künste zählt, dass Theorien zwar die Übersetzung des Kunstwerks in den Diskurs betreiben, das Kunstphänomen aber unübersetzbar ist, in der Kunsttheorie also immer nur Aspektierungen des Kunstwerks oder des Kunstprozesses sichtbar gemacht werden, wenn eine Systematisierung mittels logozentrischer Begrifflichkeit erfolgt, die dem Kunstphänomen und dem Kunstereignis fremd ist. Dessen Individualität und Besonderheit, seine Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit sorgen dafür, dass es im Theoriediskurs nicht aufgehen kann. Eben dieser Sachverhalt erzeugt freilich eine „Interpretationsbedürftigkeit, die nicht mehr von der Theorie selbst erfüllt, sondern nur im Rückgriff auf die Phänomene geleistet werden kann, also durch Interpretation.“ Für die ist, wie Iser betont, aber nicht Theorie zuständig, sondern Methode, also „die Instrumentarien der Interpretationsverfahren“.15 Geht man wie er von der Vorrangigkeit der Theorie aus, die das Interpretationsbedürfnis und die Hinwendung zum ästhetischen Phänomen zwangsläufig erzeugt, kann Kunst- und Theaterpraxis im universitären Feld auch als eine Methode verstanden und gebraucht werden, die das ästhetische Phänomen auf neuen Wegen und mit anderen Mitteln und Fragen entdeckt als herkömmliche Interpretationsverfahren. Theatertheorien körperlich zu ‚lesen‘, sie szenisch organisieren zu müssen und zu veranschaulichen mittels und kraft der kollektiven Kreativität einer Gruppe, die die traditionelle Regiefunktion und ein überkommenes Theaterverständnis weitgehend außer Kraft setzt, ist das methodische Instrumentarium dieser Praxis. Die Doppelheit von szenischem Operieren und Beobachtung, von praktischem Tun und beschreibender Auswertung, das Zerlegen in Einzelteile und der Versuch immer wieder ein Ganzes in den Blick zu nehmen, auch wenn dieses konzeptionell fragmentarisch ist, wäre das Besondere dieses Verfahrens. Diese Art von Theaterpraxis ist teilnehmende Beobachtung in einem sehr wörtlichen, körperlich umfassenden Sinn. Im Gegenund Zusammenspiel mit der Theoriereflexion betreibt sie nicht nur eine fortlaufende „Dezentrierung von Perspektiven“,16 sondern ist auch ein erfolgreicher Weg zu einer erfahrungsgesättigten Beschreibung des jeweiligen Kunstphänomens.

15 W.

Iser:

„Interpretationsperspektiven

moderner

Kunsttheorien“,

in:

Ders./D. Henrich (Hg.) 1982, S. 37. 16 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983, S. 49f.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie Allerdings sollte universitäre experimentelle Theaterpraxis nicht als Hilfsvehikel einer vorgelagerten Theorie verstanden und eingesetzt werden, die die aufgerissenen Abstraktionslücken durch praktische Phänomenologie zu schließen hat. Ein solches Verhältnis nähme die Äquivalenz von Theorie und Praxis nicht wirklich zur Kenntnis und ernst. Künstlerische Werke oder Prozesse dürfen, was leider häufig geschieht, auch im wissenschaftlichen Diskurs nicht zum Ausgangs- und Belegmaterial von Theorie degradiert werden. Eben weil sie oft nicht ins Begriffsschema passen, sie sich nicht restlos in terminologische Allgemeinheit auflösen lassen, können sie ihre auch begrifflich verstörende Kraft entwickeln. Das Theorie-Praxis-Verhältnis ist also keine Einbahnstraße. Es muss auch immer umgekehrt, also als Praxis-Theorie-Relation gedacht und praktiziert werden. Das heißt, auch theatrale Praxis kann wissenschaftliche Fragen auf den Weg bringen und theoriebildend sein. In der Regel sind es häufig solche Fragestellungen, die durch die vorrangige Rezipientenperspektive der Theaterwissenschaft ausgeblendet oder für sie gar nicht sichtbar werden. Etwa der Zusammenhang von Organisation und Ästhetik, von Produktionsweisen und szenischen Produkten. Was es mit Hilfe der Praxis z.B. zu lesen und zu theoretisieren gilt, sind eine Vielzahl wohl unterschiedener theatraler Formen mit je eigenen Logiken und einer oft aussagekräftigen Genese. Die Entdeckung des antiken, die Neuerfindung des modernen Theaterchors z.B. ist in einer wissenschaftlichen Theaterpraxis nicht nur die Wiederentdeckung und Reproduktion einer alten dramatischen Formkategorie. Es ist die Reflexion und Theoretisierung, wie ein soziales Ereignis, eine politische Verfasstheit als theatrale Form sich festigt und wirksam wird. Der Prozess der Chorbildung und Individualisierung erweist sich nicht nur als ein wichtiges Kapitel vergangener Theatergeschichte, sondern in der Herausbildung und Neuentdeckung dieser Formsemantik wird evident, aus welchen sozialen und politischen Erfahrungen szenische Formen hervorgehen. „Theater als Chor“ praktiziert und reflektiert eine ästhetische Konsensbildung, die auf kollektiven Prozessen unterschiedlicher Art beruht: solchen der Einpassung und Formierung ebenso wie der Vereinzelung und der Absetzung von der Gruppe.17 Theater als Chor fungiert im Experimentierraum der Universität als Sonde, die soziale Kunstform Theater zu entdecken, und darüber hinaus die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich in einer

17 Vgl. Hajo Kurzenberger: „Theater als Chor“, S. 69-88 in diesem Band.

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Der kollektive Prozess des Theaters theatralen Form spiegeln, genauer in ihr zur Anschauung kommen. Zugleich wirkt „Theater als Chor“ als ein Katalysator, der ein psychologisches Protagonistentheater, in dem der „Schauspieler der Innerlichkeit“ (Roland Barthes) im Zentrum steht, produktiv zersetzt. Theater als Chor praktiziert den „Rhythmus“ als „verbindendes Element zwischen Individuum und Gruppe“,18 untersucht und theoretisiert ihn als musikalisches Verfahren in chorischen Formen des postdramatischen Theaters oder als energetische Kraft im „Chor-Körper“.19 Ein praxisgesättigtes Theorieinteresse ist freilich nicht nur für produktionsästhetische Einblicke zuständig. Die Kenntnis und Erfahrungen des Produktionsprozesses können auch die Diskussion um Fragen der Rezeption vom Theater bereichern und konkretisieren.

F ORSCHENDE T HEATERPRAXIS UND INNOVATIVE T HEATERWISSENSCHAFT AUF GLEICHER A UGENHÖHE : „H AMLET – NO SIGNAL “ UND „D IE S ZENE DER PHÄNOMENOLOGEN" „Mehr Jetzt auf der Bühne“, die „offenbarende Evidenz“ des theatralen Augenblicks stehen derzeit auf dem Programm der Theaterwissenschaft ebenso wie auf jenem der Theaterpraxis.20 Die „Ästhetik des Performativen“ huldigt der „Aufführung als Ereignis“, will in ihr gar „die Wiederverzauberung der Welt“ erkennen.21 Der alte romantische Traum wird auf der Bühne freilich meist mit Hilfe neuester Videotechnik realisiert, denn „mit Video kann das Bild erstmals Teil des Augenblicks werden, in dem es entsteht“.

18 Vgl. Sebastian Nübling: „Chorisches Spiel I und II“, in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, Hildesheim 1998, S. 41-87. 19 Vgl. David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen 2003. Vgl. „Chor-Körper“, S. 39-67 in diesem Band. 20 Thomas Oberender: „Mehr Jetzt auf der Bühne. Sehen heißt entscheiden: über verschiedene Video-Wirkungen auf der Bühne, den doppelten Blick mit der Kamera und die unterschiedlichen Strategien von Matthias Hartmann und Frank Castorf“, in: Theater heute 4 (2004), S. 20. 21 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004, S. 281/315. „Was sich in Aufführungen ereignet, lässt sich zusammenfassend als eine Wiederverzauberung der Welt und eine Verwandlung der an ihnen Beteiligten beschreiben."

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie Das Videobild ist also nicht nur „Teil der Aktualität“,22 sondern in simultaner Präsenz und Wechselwirkung zu den Schauspielerkörpern auf der Szene performativer Vollzug. War das Theater in seiner Transitorik schon immer die Kunstform der Gegenwartserzeugung, verstärkt und vergrößert die technisch hochgerüstete Videoszene des Gegenwartstheaters den theatralen Moment, um damit selbstverständlich auch seine Vergänglichkeit zu vergrößern. HAMLET – NO SIGNAL war der Titel einer intermedialen Versuchsanordnung und Performance, die aus der praktischen Übung „crossing media“ entstanden war, die im Wintersemester 2006/07 wiederum mit meinem Hauptseminar „Literaturtheater mit der Videokamera?“ verknüpft war, wo intermediale Inszenierungen wie Puchers OTHELLO oder Castorfs FOREVER YOUNG untersucht und interpretiert wurden. HAMLET – NO SIGNAL verstand sich laut Programmzettel als „Tragödie der medialen Selbstreflexion, in der sich der Held spielerisch ausprobiert. Er nutzt die Medien für sein eigenes Drama“. „In immer neuen technischen Arrangements“ versuchen die Darsteller, Arrangeure, Performer dieser Veranstaltung „Gefühls- und Gedankenwelt“ des Rollenspielers Hamlet vor allem optisch „zu veräußern“. „Die flüchtigen Momente des Seins werden gespeichert, wiederholt, vergrößert oder alles zugleich. Denn Hamlet ist jemand, der sich selbst ständig sein eigener Zuschauer ist.“23 HAMLET – NO SIGNAL ist also „ein Drama des Sehens“24 und dies in gleich mehrfacher Weise: Als Selbstbetrachtung des Titelhelden (vor allem mittels Video), als Inszenierung von Bild- und Wahrnehmungsvorgängen im szenischen Feld und als grundlegende Untersuchung, wie die Darsteller, die eher Arrangeure und Funktionäre der Technik als herkömmliche Schauspieler sind, mit ihren Zuschauern szenisch-bildlich korrespondieren und zusammenwirken. Das „Spiel mit der gebrochenen Identität der Figur“, die Oberender generell für das Videotheater konstatiert,25 22 Th. Oberender: „Mehr Jetzt auf der Bühne[...]“, in: Theater heute 4 (2004), S. 20. 23 Matthias Spaniel: Programmzettel “Hamlet – no signal“ „Hamlet – no signal“ von und mit: Kira Alin, Katharina Bill, Markus Brinkmann, Sami Cornelius, Kai Fischer, Johannes von Götz, Nora Hoch, Robin Krause, Tinu Lewers, Leitung: Matthias Spaniel, Hajo Kurzenberger. 24 Th. Oberender: „Mehr Jetzt auf der Bühne...“, in: Theater heute 4 (2004), S. 23. 25 Ebd. S. 26.

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Der kollektive Prozess des Theaters bleibt bei HAMLET – NO SIGNAL also kein dem Shakespeare-Stück immanentes Thema, sondern ist darüber hinaus das szenischbildhafte Verfahren, das einen offenen Figurenentwurf gleichsam als Puzzle von Bilderfragmenten, Text- und Videozitaten hin- und vorstellt. Dieses Spiel ist zugleich und vor allem die Reflexion darüber, wie Performer und Zuschauer die Figur, und d.h. die Bilder von ihr auf verschiedenen Wahrnehmungs- und Vorstellungsebenen in Erscheinung treten lassen. HAMLET – NO SIGNAL beginnt mit der ersten Szene der Tragödie. Im realen Fackelschein vor der Theaterhalle vollzieht sich die Wachablösung zwischen dem frierenden Bernardo und Franzisco als bekannt ‚naturalistische‘ Szene, die die gängigen degenklirrenden Theaterklischees bedient. Mit dem Einlass der Zuschauer ins mediale Spielfeld wird die Szene ver- und zerlegt. Das Fackelfeuer ist jetzt als medialer Widerschein per Live-Kamera auf der zentral im Raum stehenden Leinwand zu sehen, und die sofortige Wiederholung der ersten Szene geschieht nun gänzlich gegen ihre Konvention mit zwei neuen Darstellerinnen, die nebeneinander auf dem Hallenboden liegen, die eine, Bernardo, auf dem Bauch, der andere, Franzisco, auf dem Rücken. Der jeweilige Wechsel von der Bauch- in die Rückenlage markiert die Wachablösung. Sie verlängert sich in der zweiten Version um die Schilderung des mitternächtlichen Schreckbildes, das beide Wachen gesehen haben. Währenddessen lässt eine andere Performerin am anderen Ort immer wieder einen kleinen Blechdeckel scheppernd kreisen, der nun von den beiden Darstellerinnen der zwei Wachen per Mikro und Kamera vergrößert wird. Das Fackelbild verformt sich und wird überlagert von dem jetzt visuell überdimensionierten sich drehenden Deckelchen, parallel dazu beginnt der Aufbau eines low-budget-Studiosets, das ab jetzt zum Sammelpunkt der Darsteller dieser szenischen Installation wird. Der Zuschauer ist einem sich zunehmend dissoziierenden Geschehen überlassen. Ab hier ist ihm zumindest klar: Die eingangs betriebene Wirkungsmechanik des Schauspiels, die „Wer da!“Ästhetik der traditionellen Shakespeare-Eingangsszene war nur Fake. Ab jetzt befindet sich der Zuschauer auf unsicherem Boden, was da oder ob überhaupt gespielt wird. Denn gänzlich entspannt und technikfixiert stöpseln und schalten die Leute auf dem Spielfeld ihre Computer, Kameras und Mikros. Sie produzieren damit ohne Hast und Wirkungsambition theatrale Lücken und Leerstellen, lassen dem Zuschauer Zeit, das offene, visuell dominierte Geschehen mit eigenen Projektionen zu verknüpfen, die Hamlet gewöhnlich auf- und abruft. Ist das geisterhafte Deckeldrehen, das

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie auf der Leinwand auch noch in sein optisches Negativ wechselt, mehr als die überdimensionale Ablichtung eines alltäglichen Gebrauchsgegenstandes? Scheppert da vielleicht die Rüstung des abgelebten Königs, der mitternächtlich umgeht? Bevor es zu Antworten auf gewichtige Interpretationsfragen kommt, ist die Szene eingefangen durch ein Medienklischee. Einer der Darsteller spricht, im wörtlichen Sinne „locker vom Hocker“, den ersten Monolog der Tragödie: „Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch, zerging' und löst' in einen Tau sich auf!" (1. Aufzug, 2. Szene). Und sein medialer Kooperateur greift in die Computereffekttasten, illustriert optisch mit leichter Hand und ziemlich hemmungslos, was ihm gerade dazu einfällt bzw. was der Text anbietet: Selbstmordutensilien, ein wüster Garten oder eine Statue des Herkules und immer wieder das per Computeranimation sich verzerrende Gesicht des Hamlet-Entertainers („Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch...“!), der live im Profil, auf der Leinwand aber meist monumental-frontal zu sehen ist. Hamlet ein rivalisierendes Doppelgesicht, dessen eine Hälfte zu zerfließen droht? Oder doch nur ein Hamlet zitierender Fernsehansager, der sich optische Assoziationen in den visualisierten Monolog streuen lässt? Abb. 41: HAMLET – NO SIGNAL, Hildesheim 2007

„Sein oder Nichtsein“, traditionell das Sinnzentrum und die Bedeutungsachse jeder HAMLET-Aufführung, gibt es in HAMLET – NO SIGNAL in doppelter Ausführung, allerdings mit gänzlich unter-

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Der kollektive Prozess des Theaters schiedlichen medialen Settings. Im ersten bleibt der HamletMonologsprecher draußen vor der Tür. Im Innenraum präpariert eine junge Frau, deren Haare grellblond gefärbt sind und die in einer schwarzen Jeans und Jacke steckt (das traditionelle Hamlet Outfit?) einen Galgen, von dem an langem Kabel ein Mikro herabhängt. Sie schaltet ihr Handy ein, legt es empfangsbereit unter das leicht pendelnde Mikrofon, auf drei aufgeschichtete HAMLETTextbücher. Der Hamlet-Sprecher meldet sich mit „Sein oder Nichtsein“ per Handy, vor der Hallentür für den Zuschauer sichtbar auf und ab gehend. An wen er seine Botschaft richtet, ist unklar. Sie tönt aus dem Empfangshandy mikroverstärkt und tonverzerrt. Die junge Frau sitzt regungs- und teilnahmslos neben den Geräten. Spricht Hamlet zu ihr, zu sich selbst, zu den unterlegten HAMLET-Texten? Ist die junge Frau Ophelia? Oder ein anderer Hamlet? Warum vermittelt der Sprecher seine Botschaft indirekt und nicht live? Mit einem Schritt wäre er im beleuchteten Spielfeld. Ein Spektrum von Fragen, die das Arrangement an den Zuschauer, die der Zuschauer an das szenische Arrangement stellt. Die zweite „Sein oder Nichtsein“-Versuchsanordnung ist nicht wie die erste durch extreme Ruhe und Zurückgenommenheit der Darsteller geprägt, sondern durch ihr Gegenteil. Der HamletPerformer arbeitet zunehmend hektisch und mit komischer Wirkung am medialen Selbstversuch: ein videoarrangierter Probelauf seiner Entleibung. Immer wieder muss er die Kamera in die richtige Position bringen, immer wieder bedient er den Kassettenrecorder, auf den er den Monolog aufgenommen und mit historischen Monologversionen Hamlets verschnitten hat. Immer wieder verrutscht die Kameraeinstellung, versagt die Technik. Ton und Bild finden nur in seltenen Augenblicken zusammen. Offenbar arbeitet der Hamlet-Darsteller aber an einer ganz bestimmten szenisch-medialen Version, die ihm nicht gelingt, die er aber im Kopf und Blick zu haben scheint. Immer wieder stößt er sich sein Plastikschwert in die Rippen bzw. zwischen Arm und Brust. Und der gewählte Bildausschnitt und Computer-Effekt wiederholen die Selbsthinrichtungspose, die um Zehntelsekunden zeitversetzt mehrfach gereiht auf der Leinwand verebbt. Worum geht es dem Darsteller? Um eine perfekte Kameraeinstellung, um das Gelingen der Selbstmordpose, die Möglichkeit, sie wiederholt anzuschauen, um den Narzissmus der Figur? Wieder ist der Zuschauer in seiner Wahrnehmungs- und Deutungsaktivität gefordert.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie Endgültig und optisch real ins Zentrum rückt er in der „Mausefalle-Szene“. Jetzt wird die Videokamera zum Suchinstrument und zum Überwachungssystem. Sie holt sich wahllos Gesichter aus dem Publikum, hält sie fest, unterlegt deren Livebild schriftlich mit Kommentaren, Vermutungen und Kenntnissen. Etwa: „Heike, kunstbegeistert, lächelt süffisant, kommt als Täter kaum in Frage.“ Das Kamera-Computerteam am Set spielt mit seinem Publikum und dessen Reaktionen. Es macht sie zu Hauptakteuren und meist zu „Zwangsdarstellern“,26 die eher verlegen oder peinlich berührt darauf reagieren, in dieser Weise ausgestellt und kommentiert zu werden. Die Medien-Crew, die die Kamera führt und den Computer bedient, spielt also nicht nur mit der szenischen Rahmung und Bedeutung der „Mausefalle-Szene“, mit der Hamlet den Mörder seines Vaters entdecken will. Sie spielt auch (selbstironisch) mit dem theaterwissenschaftlichen Lieblingskind, dem produktiven Zuschauer, der sich die Aufführung, ‚seine‘ Aufführung selber schafft. Hier aber ist der Zuschauer kaum freier Koproduzent der Aufführung. Er ist ihr hilflos ausgeliefert, weil optisch aus dem Dunkel geholt und auf der Leinwand bloßgestellt. Abb. 42: HAMLET – NO SIGNAL, Hildesheim 2007

26 Jan Berg: Zur Geschichte und Theorie des spektatorischen Ereignisses. Einführung in die Theaterwissenschaft, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1985, S. 49.

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Der kollektive Prozess des Theaters Der szenische Schwenk, mit dem die Szene weitergeführt wird, ist ähnlich subversiv und theatertheorieorientiert. Die Kamera hält als letztes in der Reihe der Fahndungsbilder den medialen Strippenzieher am Set selbst fest. Derjenige, der bisher still und präzise die Computertasten bedient und die Textkommentare geschrieben hat, wird ins Bild gerückt, dazu von ihm selbst der Text unterlegt bzw. suchend gefunden: „Claudius Krause. Böser Onkel. Täter.“ Im mikroverstärkt sich steigernden Rhythmus hämmert der Schreiber über dreißig Mal „Mörder“ unter sein eigenes Bild. Auch hier ist das szenische Arrangement theater- und medienreflexiv im hohen Grade: Vorgeführt und vollzogen wird hier eine Rollenzuweisung, die Kommentierung „Böser Onkel“ und die Identifikation der Täterfigur als „Claudius Krause“, die den Schreiber als theatralen Zwitter ausweist: Halb Rollenträger, halb – so die Behauptung – Privatperson. Soll der Zuschauer ihn als den fiktiven Bösewicht oder als reale Person Robin Krause wahrnehmen, zumal jetzt plötzlich auffällt, dass ihm kontinuierlich zur Seite eine Frau assistiert, die am Ende von Hamlets Selbstversuch der Entleibung beruhigend auf diesen eingewirkt hat, indem sie ihm die Kamera sanft aus der Hand nahm? Zu den besonderen Irritationen von HAMLET – NO SIGNAL gehört der meist ungeklärte Status der Darsteller. Wann spielen sie, wann bedienen sie die medialen Mittel und die Kamera, wann sind sie Schauspieler, wann sind sie Funktionäre der Technik? Oft berühren sie die Figur wie zufällig, im Vorbeigehen, dann überlassen sie die Bedeutungsproduktion dessen, was sie tun, wieder ganz dem Zuschauer. So entsteht ein labiler Zwischenraum, von dem keiner sagen kann, wann eine Rolle gespielt wird und wann nicht, wo eine Figur durch Zuschreibung des Zuschauers entsteht oder durch minimale Identifikation und Darstellung des Performers, wann der Status des Dargestellten Fiktion oder bühnenreales bzw. mediales Faktum ist. Hinzu kommen die optischen und akustischen Verfahren: Die Selektion und das Zitieren der Bilder, die auf den Erinnerungsraum HAMLET bildlich und akustisch anspielen oder auf sein mediales Tun in der szenischen Gegenwart gerichtet sind. All dies dient einer zeitweiligen Überflutung und zugleich Dissoziation der Szene, der Auflösung ihrer Beziehungskonventionen und Formkategorien (Wachablösung und Monolog), der Verweigerung, die Figur als Fokus und Sinnklammer zu sehen und zu nutzen. Zugleich aber beruht das Arrangement auf der Rahmung HAMLET, um dieses dissoziierende und assoziierende Spiel in Gang zu setzen, um es zwischen theatraler Fiktion, realer Person und medialer Realität spielen zu können.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie Die medialen Wechsel, Livedarstellungen und Bildrepetitionen, das Spannungsverhältnis zwischen Nicht-Figur, Figur und ihrer visuellen Verdoppelung auf der Leinwand, die simultan oft rivalisierenden Szenen, die Differenz zwischen Nähe und Ferne der Darsteller zum Publikum, die die Ausschnitthaftigkeit und Vergrößerung der Videobilder herstellen, all dies macht die Szene in einem hohen Maße beobachtungsintensiv und selbstreflexiv, zu einem in der Fülle der unterschiedlichen Wahrnehmungen besonders aktiven Vorgang für den Zuschauer. Dass ästhetische Objekte „Objekte des Erscheinens“ sind, hat angesichts von HAMLET – NO SIGNAL eine spezielle und eine grundsätzliche Bedeutung. Seel legt in seiner ÄSTHETIK DES ERSCHEINENS dar, dass „das Erscheinen ein konstitutives Element aller Formen der ästhetischen Herstellung und Wahrnehmung ist“. Es macht den Unterschied zum „sinnlichen Sosein“ aus.27 Die besondere Einstellung und Situation der ästhetischen Wahrnehmung ist dafür maßgeblich. Bei der skizzierten Video-Performance um und über HAMLET ist diese medial dominiert. Das Erscheinen des ästhetischen Objektes ist häufig ein Erscheinen des digitalen Scheins des ästhetischen Objekts. Das mindert nicht seine ästhetische Wahrnehmungsqualität und seinen Realitätsgrad. Im Gegenteil: Wie gezeigt wurde, wird die Wahrnehmungssituation und das theatral-mediale Wahrnehmen explizit zum Thema und mit ihr zugleich die Basis jedes ästhetischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsvollzugs. Die Philosophen und Theatertheoretiker haben die „Interaktion des sinnlichen Vernehmens“, die Interaktion zwischen dem ästhetischen Objekt als „Ereignis-Objekt“28 und seinem Rezipienten, der es als solches im Wahrnehmen mitkonstituiert, haben den „Akt“, der zwischen Schauspieler und Zuschauer in einer Aufführung vollzogen wird,29 zum derzeit aktuellsten Theorie-Thema gemacht, weil er offenkundig alles ästhetische und damit auch alles theatrale Geschehen fundiert. „Die Szene der Phänomenologen“ stellt die Analysekategorien der basalen Bewusstsein- und Erfahrungsakte auch für die Theorie des Theaters bereit. Jens Roselt hat sie in dieser Funktion entdeckt und Bewusstseinsphilosophie mit Hilfe eines Begriffs aus der Theaterpraxis performativ ausge-

27 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003, S. 47f. 28 Ebd. S. 147/98. 29 Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, München 2008, S. 143.

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Der kollektive Prozess des Theaters legt: „Erst der Auftritt im Bewusstsein schafft die Bühne des Erlebens, in dem etwas sich als etwas zeigt.“30 Aber nicht nur das Bewusstsein, auch die ästhetische Wahrnehmung als Teil von ihm kann als performativ verstanden werden, denn sie ist Entfaltung, Vollzug und Realisierung der Fülle sinnlich wahrnehmbarer Aspekte, macht das wahrgenommene Objekt so erst zum „Ereignis-Objekt“. Dabei ist ästhetische Wahrnehmung „auf das gleichzeitige und das augenblickliche Gegebensein ihres Gegenübers gerichtet“, wobei die Gegenwart des Gegenstandes auch durch „eine besondere Gegenwärtigkeit des Vollzugs dieser Wahrnehmung“ entstehe.31 Freilich, das gilt nicht nur für das Theater und seine ihm zu Recht zugeschriebenen Attribute: Ereignishaftigkeit, Transitorik und Präsenz. Es trifft auch für den ruhenden roten Ball auf der Wiese zu, der ästhetisch wahrgenommen wird, wie Seel zeigt. Das Theater kommt als Exempel bei ihm nicht in den Blick, auch wenn er über die „Interaktion des sinnlichen Vernehmens“, über die „Offenheit für die unmittelbare Gegenwart der Situation ihres Vollzugs [der sinnlichen Wahrnehmung, Anm. des. Verf.], verstanden als je augenblickliche Konstellation der Dinge und Ereignisse“ philosophiert.32 Das Theater ist nur der in die allgemeine Theorie passende Spezialfall, die wörtliche Anwendung dieser theoretischen Grundlagen der ästhetischen Wahrnehmung. Der Theaterwissenschaftler Roselt sucht, wie oben schon angedeutet, die wortwörtliche Analogie. Die Bewusstseinsakte, die die Phänomenologie beschreibt, gleichen allerdings nicht nur terminologisch dem Theatervorgang. Sie sind auf ihn anwendbar. „Intentionalität“ und „Responsivität“ sind die Kategorien, die Roselt für den Rezeptionsvorgang des Zuschauers in Anschlag bringt. Er installiert mit ihnen einen Zuschauer, von dem Intentionen ausgehen, als zentrale Produktionsinstanz und zielt damit „auf eine radikale Umkehr des Verständnisses von Rezeption im Theater ab“.33 Am Beispiel der Schilderungen seiner subjektiven Wahrnehmung einer Theaterfigur wird diese als im Prozess des Aufführungsereignisses und seiner Rezeption erst „werdende“ erfahren und theoretisiert: „Im Sinne Husserls könnte man von Anmutungen und Vermutungen sprechen und nicht von Tatsachen. Eine Figur baut sich nicht nur allmählich auf, sondern

30 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 153. 31 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 54/60. 32 Ebd. S. 147. 33 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 165.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie wird dabei auch permanent umgebaut und in Frage gestellt.“ Dabei haben die „Intentionen, mit denen Zuschauer die Figur beleben“ ihren wichtigen produktiven Anteil. Figurenidentität wird ganz ähnlich wie in HAMLET – NO SIGNAL „erfahrbar als flüchtiges Gebilde, als eine Art Provisorium, das sich zwischen Zuschauern und Schauspielern abspielt“, wobei das, was sich zwischen Schauspielern und Zuschauern ereignet „ein Drittes“ ist, das keinem ausschließlich zu eigen sei.34 Man mag gerne zustimmen, dass ein „dialogisches Zwischengeschehen von Bühne und Publikum“ „zum Dreh- und Angelpunkt einer phänomenologischen Auffassung von Theater“ wird.35 Aber „Intentionalität“ und „Responsivität“ müssen, will man dem Aufführungsereignis gerecht werden, auf beiden Dialogseiten verortet werden, also auch auf der sogenannten Produzentenseite. Sie bleibt in Roselts Darstellung nicht nur unterbelichtet, was das gute Recht seiner Aspektierung des Untersuchungsgegenstandes ist, sondern auch mit gängigen theaterwissenschaftlichen Vorurteilen über die Produktion behaftet. Die „Verfügungsmacht über die Aufführung“ wird subkutan vor allem der Regie zugeschrieben, die um die Disziplinierung ihres Publikums bemüht ist, den Zuschauer beständig der „Prüfungssituation“ aussetzt, die Inszenierung richtig zu lesen bzw. sie angemessen mitzuvollziehen.36 Auch wenn nicht in Abrede gestellt wird, dass es Wirkungsabsichten des Regisseurs oder Produzenten gibt, und man sicherlich zustimmen wird, dass sich die theoretische Thematisierung und Analyse der Aufführung nicht darauf beschränken kann, „Wirkintentionen, Aussageansprüche und Interpretation zu ermitteln“, ist die Aufführung kein rigides „Ordnungsgefüge“.37 Der Regisseur ist nur im schlimmsten, verzerrtesten und überholtesten Fall der Einpeitscher der Schauspieler. Das Publikum kann sich solchen ‚Regiekonzepten‘ ja verweigern. Außerdem suchen gegenwärtige Regisseure eher die Offenheit als die kunstwidrige ‚Aussage‘, produzieren sie gerade in intermedialen Inszenierungen ästhetische Verweissysteme und Kontextualisierungen, die den Regisseur eher zum Arrangeur von Programmangeboten an den Zuschauer macht als zum Vollstrecker eindeutiger Wirkungsintentionen und Interpretationen (Pucher z.B. fungiert gern als ein derartiger Programmdirektor).

34 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 248. 35 Ebd. S. 249. 36 Ebd. S. 120/184. 37 Ebd. S. 132f.

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Der kollektive Prozess des Theaters Das Aufführungsbeispiel HAMLET – NO SIGNAL und seine implizite Theoretisierung des Produzenten-Zuschauer-Verhältnisses belegt zudem ein anderes, ein neues Verständnis theatraler Produktion, das zunehmend nicht nur im universitär-experimentellen Bereich gilt. Im kollektiven Produktionsprozess, der keine festen Hierarchien kennt, ist die kreative, die konstitutive Leistung des Produzierenden ebenso auf Responsivität und auf Intentionalität angewiesen wie die des Zuschauers.38 Auch Produzieren ist zuallererst Wahrnehmen und Zuschauen, benötigt die Erfahrung des ästhetischen Moments und muss die Besonderheit des ästhetischen Phänomens suchen und aufnehmen, das sich nur als „Zwischengeschehen“ ereignen kann.39 Nur schlechte Regie verlässt sich auf Direktiven und den verallgemeinernden Effekt, statt eine ästhetische Eigenheit dialogisch im Probenprozess zu entfalten, das Individuelle und Besondere zu suchen, das verstört und Neues in die Darstellung bringt. Die skizzierten Theorien und ihre Thematik wären nicht zuletzt durch Theaterpraxis in dieser Richtung weiterzudenken. „Eine disfunktionale Präsenz der Phänomene“, der „Abstand von einer ausschließlichen Zweckverfolgung“ gehört gewiss zum „Wahrnehmungsspiel“ ästhetischer Erfahrungen. Wenn also gilt, dass wir in der ästhetischen Begegnung „nicht auf Festlegung festgelegt sind“,40 muss man überlegen, was es für die Produzenten und ihr Tun bedeutet, wenn sie eine bestimmte szenische Lösung fixieren und doch die ästhetische Stärke der Wahrnehmung, nämlich die Nichtfestlegung bewahren wollen. Eine solche Paradoxie strukturiert in der Tat kollektive Regiekonzepte wie etwa das EISLER-Projekt von Heiner Goebbels, prägt aber auch Regiestile. Jossi Wielers Gesprächs- und Ensemblekunst wäre ein solches Beispiel. Dass es szenische Möglichkeiten gibt, die sich nicht auf Festlegungen festlegen, bestenfalls Rahmen schaffen und fixieren, in denen sich das ästhetische „Wahrnehmungsspiel“ für Macher und Zuschauer ereignen kann, wurde am Beispiel von HAMLET – NO SIGNAL kenntlich. Freilich stellt sich mit einem sogenannten offenen Konzept die Frage, wann die Grenze erreicht ist, wo das dialogische Wahrnehmungsspiel zwischen Szene und Zuschauern kollabiert. Es ist dies die grundsätzliche Frage nach Kunst und/oder Nicht-Kunst, nach ästhetischer Organisation und/oder szenischer Anarchie,

38 Vgl. Hajo Kurzenberger: „Kollektive Kreativität“, S. 181-202 in diesem Band. 39 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 120 . 40 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 57f.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie nach artifizieller Formgebung und/oder performativem Ereignis. Auch wenn Begriffe wie Autorschaft oder Werk als historisch obsolet verabschiedet wurden, auch wenn es zunehmend weniger um stringente Bedeutungszusammenhänge der szenischen Artikulation, wie etwa im klassischen dramatischen Theater, geht, noch immer wird Kunst und Theater als strukturierter Kommunikationsprozess gedacht – von den Kunstproduzenten wie vom Publikum, auch dort, wo er auf Kommunikationsstörung oder -verweigerung angelegt ist.

P RODUKTIVE A UFLÖSUNG

EINES

G EGENSATZES

HAMLET – NO SIGNAL zeigt mit den Theoriefragehorizonten der Aufführung aber auch, dass und wie Theatertheorie und Theaterpraxis miteinander verknüpft sind. Im (scheinbaren) Widerspruch zu unserer Ausgangsthese, dass Theatertheorie und Theaterpraxis in einem Spannungsverhältnis stehen und durch Abstand markiert sind, soll zum Schluss das (scheinbare) Gegenteil belegt und erörtert werden: Theorie und Praxis sind aufeinander angewiesen, ja ohne einander gar nicht möglich. Das praktische Tun der Produzenten von HAMLET – NO SIGNAL war eingebettet in Theatertheorie. Es rekurrierte nicht nur auf ästhetische Standards des intermedialen und postdramatischen Performance-Theaters und deren Darstellungsansprüche, sondern reflektierte szenisch auch die theoretischen Prämissen dieser Theaterform, nicht zuletzt die Schlüsselkategorie der ästhetischen Wahrnehmung und die aktive Funktion des Zuschauers. Über sie sind sich die Wissenschaftler in einem Punkte einig: Wahrnehmung und Erfahrung sind weder vorgelagerte noch nachrangige Prozesse, sondern „in der Wahrnehmung entsteht Sinn“,41 ja, Sinnproduktion und sinnliche Erfahrung gehören im ästhetischen Terrain unauflöslich zusammen. Begriffliche und nicht begriffliche Wahrnehmung sind nicht nur nicht voneinander zu trennen, sondern aufeinander angewiesen. Wahrnehmung „ist immer bereits begrifflich instrumentiert“,42 was nicht heißt, dass sie sich auf das begriffliche Erkennen, auf Theorie ausrichten muss. Aber „ästhetische Anschauung“ muss sich „im Kontext einer mit Namen und Allgemeinbegriffen instrumentierten Wahrnehmung voll-

41 J. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 147. 42 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 86.

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Der kollektive Prozess des Theaters ziehen“, um die Besonderheit, die Individualität des ästhetischen Gegenstands erfahren und anschaulich machen zu können.43 Für das praktische Tun zeigt sich eine ähnliche Disposition. Praxis ist, wie der Philosoph Georg W. Bertram pointiert, eine erstaunlich „theoretische Angelegenheit“,44 zuallererst weil sie in Wissen und Vorwissen eingebettet ist und als Praxis immer wieder neues Wissen produziert, historisches, kulturhistorisches, theoretisches. Zum anderen: Praktiken sind in sich bedeutungstragend und bedeutungsgenerierend, weil sie Strukturen realisieren. Das lässt sich zweifelsohne auch von der Theaterpraxis und ihrem Spezialfall dem Darstellen sagen. Jedes Gehen, Stehen, Schauen, Sich-Abwenden eines Darstellers auf der Szene realisiert sinnhafte Raumstrukturen, jedes Laut und Leise, jeder Rhythmus der Abfolge, jede Aktion oder Reaktion des Schauspielers oder Performers formt und strukturiert Abläufe auch als Bedeutungseinheit, die freilich nicht immer lesbar sein müssen, meist aber korrespondieren mit anderen Bedeutungsträgern, die in der Regel sinnlich materiell sind. Die Geste zum Beispiel ist ein sogenanntes Ausdrucksmittel, dessen sinnliche Unmittelbarkeit einhergeht mit einer szenischen Strukturierung, die ästhetisches Erfahrungs-, Wahrnehmungsund Erkenntnismedium zugleich ist. Als einzelne ist sie in der Regel kaum zu isolieren. Sie erweitert sich zu einem Komplex des Gestischen, der sich aus körperlichen, sprachlichen, aber auch situativen Elementen und Zeichen zusammensetzt. Brecht hat auf der Basis dieses Theorems, den sozialen Gestus als theatrales Gestaltungsprinzip mit analytischer Funktion propagiert und szenisch realisiert. Artaud hat die Gebärde gegen die verbale Sprache und ihre Konventionalisierungen in Angriffsstellung gebracht. Sozialwissenschaftler wie Gebauer und Wulf haben Gesten als „Kulturformen“ ausgewiesen, die Machtansprüche institutionalisierter Gesten oder die Gesten des Handelns, Machens und Arbeitens beschrieben.45 Was hieran deutlich wird: Szenische Praktiken schaffen nicht nur bedeutungsvolle MikroStrukturen, sondern erweitern sich bzw. korrespondieren mit anderen szenisch-diskursiven Artikulationsformen. Es handelt sich dabei um

43 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 76 44 Georg W. Bertram: „Die menschliche Praxis – eine unerwartet theoretische Angelegenheit“, Vortrag im philosophischen Kolloquium Theorie und Praxis, Hildesheim, 16.12.2004, unveröffentlichtes Typoskript. 45 Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 86/95f./110.

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Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie ein Bündel von praktischen und theoretischen Teildiskursen, um eine Diskursformation, die zugleich als Einheit und in ihrer qualitativen Differenz begriffen werden muss. Erst wenn man aber, wie es Bertram im foucaultschen Sinne tut, „Praktiken als Elemente von komplexen bedeutungstragenden oder bedeutungskonstituierenden Systemen“ begreift, die „symbolische Artikulation“, also die verbale und begriffliche, als Teil der Praxis, sie zugleich aber als eine eigene Strukturierung ansieht, deren Abstraktionen und Verallgemeinerungen die Praktiken zumindest in Teilen verfehlen, hat man Theorie und Praxis zusammen und getrennt gedacht.46 Das ist kein philosophischer Taschenspielertrick. Die Unterscheidung in „symbolische Artikulation“, die eigene, z.B. sprachliche Struktur entwickelt, und Praktiken, die das nicht tun, etwa die körperlichen, arbeitet zweierlei heraus: Sie erklärt die Ungleichheit und das Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis („Wir müssen Praktiken als etwas verstehen, das von Theorien nicht angemessen erfasst werden kann“), begründet den sich hieraus ergebenden Hiat und Spielraum zwischen beiden. Zugleich wird aber auch sichtbar, dass Theorie und Praxis keine voneinander unabhängige Größen sind: Praxis und Theorie sind „ko-konstituiert“, d.h., es handelt sich um das „Verhältnis zweier Größen, von denen man die jeweils andere nicht ausblenden kann, will man die eine verstehen“.47 Damit hat sich der anfängliche Widerspruch zwischen der scheinbaren Entgegensetzung von Theorie und Praxis und der Zusammengehörigkeit von Theorie und Praxis aufgelöst. Wir können Zusammengehörigkeit und Getrenntheit im Wechselspiel von Theatertheorie und Theaterpraxis, von Theaterpraxis und Theatertheorie erkennen und praktisch produktiv machen. Dieses Wechselspiel ist Teil des ästhetischen Wahrnehmungsspiels, von dem künstlerisches Tun und die Kunstrezeption ausgehen und getragen werden. Der dynamische Prozess des Wahrnehmens, Erscheinens, Verstehens, Vollziehens, Erklärens und Theoretisierens ist und bleibt für beide Seiten ein Zusammenhang und ein dialogisches Verhältnis, an dem sich zeigt, dass Kunstwerke „ingesteigerten und gesättigten Bewusstseinszuständen geschaffen und erfahren“ werden.48

46 G. W. Bertram: „Die menschliche Praxis [...]“, Vortrag vom 16.12.2004. 47 Ebd. 48 D. Henrich: „Theorieformen moderner Kunsttheorien“, in: Ders./W. Iser (Hg.) 1982, S. 12.

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UND

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FOLGENDER

T EXTE :

„Chor-Körper“ in: Hajo Kurzenberger/Hanns-Joseph Ortheil/Matthias Rebstock (Hg.), Kollektive in den Künsten, MuTh NF Bd. 10, Hildesheim/Zürich/New York 2008, S. 17-38. „Theater als Chor“ in: Dieter Lüttge (Hg.), Kunst – Praxis – Wissenschaft. Bezugspunkte kulturpädagogischer Arbeit, Hildesheim/Zürich/New York 1989, S. 44-54. „Theater als Chor“ in: Hajo Kurzenberger (Hg.), Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text, MuTh Bd. 7, Hildesheim 1998, S. 17-36. „Chorisches Theater der neunziger Jahre“ in: Erika Fischer Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Recherchen 2, Berlin 1999, S. 83-91. „Theaterkollektive: Von der ‚Truppe 31‘ zur ‚Marthaler-Familie‘, von der Politisierung der 68er Bewegung zur Privatisierung des Theatermachens in den Neunzigern“ in: Ingrid GilcherHolthey/Dorothea Kraus/Franziska Schößler (Hg.), Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, Frankfurt/New York 2006, S. 153-178. „Kollektive Kreativität: Herausforderung des Theaters und der praktischen Theaterwissenschaft“ in: Stephan Porombka/Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Kollektive Kreativität. Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 2006 Bd. 1, Tübingen 2006, S. 53-69. „Das Wechselspiel von Theaterpraxis und Theatertheorie“ in: Stephan Porombka/Wolfgang Schneider/Volker Wortmann (Hg.), Theorie und Praxis der Künste. Jahrbuch für Kulturwisenschaften und ästhetische Praxis 2008 Bd.3, Tübingen 2008, S. 81-100.

241

Der kollektive Prozess des Theaters

A BGEDRUCKTE F OTOGRAFIEN : Umschlagfoto: © Andreas Hartmann: „Kollektiv-Körper“ (Projektsemester 2006): „BodyCheck“, Premiere: 06.07.2006 Hildesheim. Abb. 1: © Zander & Labisch: Max Reinhardt „König Ödipus“, Premiere: 07.11.1910, Zirkus Schuhmann Berlin, „Chorszene mit Paul Wegener als Ödipus“, in: Max Reinhardt Forschungsstätte Salzburg (Hg.), Max Reinhardt. Sein Theater in Bildern 1968, S. 105. Abb. 2: © Pit Ludwig: Gustav R. Sellner „König Ödipus“, Premiere: 18.09.1952 Staatstheater Darmstadt, in: Gustav R. Sellner/ Werner Wien (Hg.), Theatralische Landschaft 1962, Abb. 6. Abb. 3: © Ruth Walz: Peter Stein „Die Orestie des Aischylos“, Premiere: 18.10.1980 Schaubühne Berlin, „Klythaimnestra und der Chor der Ältesten von Argos“, in: Schaubühne am Halleschen Ufer. Am Lehniner Platz 1962-1987, S. 261. Abb. 4: © Bernd Uhlig: Peter Stein „Die Orestie des Aischylos in Moskau“, Premiere: 29.01.1994 Moskauer Theater der Russischen Armee, „Elektra und der Chor der Frauen“, in: Dagmar und Jochen Hahn (Hg.), Die Orestie des Aischylos. Die Inszenierung von Peter Stein in Moskau 1994, S. 32. Abb. 5: © Martine Franck/Magnum Photos/Agentur Focus: Ariane Mnouchkine „Les Atrides/Iphigenie“, Premiere: Paris 1990. Abb. 6: © Andreas Pohlmann: Einar Schleefs Inszenierung von Elfriede Jelinek „Ein Sportstück“, Premiere: 23.01.1998 Burgtheater Wien. Abb. 7: © A.T. Schaefer: Volker Löschs Inszenierung „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden“ (nach Peter Weiss), Premiere 23.10.2008 Schauspielhaus Hamburg. Abb. 8/Abb. 9: © Detlef Overmann: Theaterprojekt des Studiengangs Kulturpädagogik „die hiketiden des aischylos“, Hildesheim 1986. Abb. 10: © Judith Schlosser: Volker Hesses Inszenierung von Urs Widmer „Top Dogs“, Premiere: 05/1996 Theater am Neumarkt Zürich. Abb. 11: © Matthias Horn: Jossi Wielers Inszenierung von Elfriede Jelinek „Wolken.Heim.“, Premiere: 23.10.1993 Schauspielhaus Hamburg. Abb. 12: © Andreas Pohlmann: Einar Schleefs Inszenierung von Elfriede Jelinek „Ein Sportstück“, Premiere: 23.01.1998 Burgtheater Wien.

242

Quellenangaben Abb. 13: © Andreas Hartmann: „Hamlet“, Theaterprojekt des Studiengangs Kulturpädagogik, Premiere: 03.07.1984 Hildesheim. Abb. 14: © Andreas Hartmann: „Macbeth“, Theater Mahagoni, Premiere: 31.05.1991 Hildesheim. Abb. 15: © Detlef Overmann: „Mitten in der Welt steht ein Haus“ (Kurt Schwitters), Theater Mahagoni, 1987 Hildesheim. Abb. 16: © Detlef Overmann: „Die Zeit zwischen Hund und Wolf“ (Peter Handke), Theater Mahagoni, 1987 Hildesheim. Abb. 17/Abb. 18: © Andreas Hartmann: „Kafkas Amerika. Erzähltheater in sechs Stationen“ (Projektsemester 1992), Premiere: 06.07.1992 Hildesheim. Abb. 19/Abb. 20: © Andreas Hartmann: „Faust II“ (Projektsemester 1996), Premiere: 25.06.1996 Hildesheim. Abb. 21: © Andreas Hartmann: „Theatertheorie szenisch“ (Projektsemester 1998): „Antonin Artaud: Über das balinesische Theater“, Premiere: 01.07.1998 Hildesheim. Abb. 22: © Andreas Hartmann: „Theatertheorie szenisch“ (Projektsemester 1998): „Wsewolod E. Meyerhold: Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik“, Premiere: 01.07.1998 Hildesheim. Abb. 23/Abb. 24: © Andreas Hartmann: „Theatertheorie szenisch“ (Projektsemester 1998): „Roland Barthes: Das Reich der Zeichen“, Premiere: 01.07.1998 Hildesheim. Abb. 25/Abb. 26: © Andreas Hartmann: „Babylon“ (Projektsemester 2000), Premiere: 03.06.2000 Hildesheim. Abb. 27/Abb. 28: © Andreas Hartmann: „Vision 1800 – Theater 2002“ (Projektsemester 2002): „Exerzitien: Aristoteles vs. Handke“, Premiere: 20.06.2002 Hildesheim. Abb. 29: © Andreas Hartmann: „Vision 1800 – Theater 2002“ (Projektsemester 2002): „Chorpus: Schiller vs. Schleef“, Premiere: 20.06.2002 Hildesheim. Abb. 30: © Andreas Hartmann: „Vision 1800 – Theater 2002“ (Projektsemester 2002): „Frauen im Anzug – ‚Frauenrollen auf dem römischen Theater durch Männer gespielt (J. W. Goethe)‘“, Premiere: 20.06.2002 Hildesheim. Abb. 31: © Andreas Hartmann: „Antike intermedial“ (Projektsemester 2004): „Freischwimmen! Mit Medea im Blutbad“, Premiere: 01.07.2004 Hildesheim. Abb. 32: © Andreas Hartmann: „Antike Intermedial“ (Projektsemester 2004): „König Midas hat Eselsohren“, Premiere: 01.07.2004 Hildesheim.

243

Der kollektive Prozess des Theaters Abb. 33: © Andreas Hartmann: „Antike Intermedial“ (Projektsemester 2004): „Hotel Europa“, Premiere: 01.07.2004 Hildesheim. Abb. 34/Abb. 35: © Andreas Hartmann: „Kollektiv-Körper“ (Projektsemester 2006): „BodyCheck“, Premiere: 06.07.2006 Hildesheim. Abb. 36: © Andreas Hartmann: „Shakespeare 08“ (Projektsemester 2008): „Ein Sommernachtstraum: Puck/Oberon“, Premiere: 27.06.2008 Hildesheim. Abb. 37: © Andreas Hartmann: „Shakespeare 08“ (Projektsemester 2008): „Ein Sommernachtstraum: Die Liebenden“, Premiere: 27.06.2008. Abb. 38: © Matthias Horn: Leseprobe zu Elfriede Jelinek „Wolken.Heim“, Schauspielhaus Hamburg 1994. Abb. 39: © Andreas Pohlmann: Leseprobe zu Elfriede Jelinek „Ulrike Maria Stuart“, Kammerspiele München 2007. Abb. 40: © Arno Declair: Jossi Wielers Inszenierung von Elfriede Jelinek „Rechnitz (der Würgeengel)“, Premiere: 28.11.2008 Kammerspiele München. Abb. 41/Abb. 42: © Tabea Hörnlein: „cross-media“-Übung von Matthias Spaniel/Hajo Kurzenberger: „Hamlet – no signal“, Premiere: 09.02.2007 Hildesheim.

244

Namensregister  Abramovic, Marina: 66 Brunken, Thirza: 89

Aischylos: 19, 41f., 45f., 51f., 54,

Bürk, Barbara: 176

56, 65, 69, 73, 78, 83, 99, 229,

Bürkle, Katja: 164

231, 234, 236, 238, 240 Aristoteles: 41, 90, 119, 210



Artaud, Antonin: 113, 195, 205, Cage, John: 183

210, 226, 235

Calderon, Pedro: 187



Calis, Nuran David: 173 Carp, Stefanie: 70, 87, 152ff., 232,

Bab, Julius: 47, 237

240

Bachler, Klaus: 10

Castorf, Frank: 30, 89, 101, 152f.,

Balme, Christopher: 205, 229

214f., 237f.

Barlach, Ernst: 187

Cixous, Helene: 54, 240

Barthes, Roland: 19, 39f., 58f., 63,

Clemen, Harald: 152

115, 195, 210, 214, 232 Baumbauer, Frank: 152, 172



Baumgarten, Sebastian: 178 Baur, Detlev: 40, 45, 89, 229, 237

Diderot, Denis: 42

Bausch, Pina: 153

Dieckhoff, Marleen: 158

Benjamin, Walter: 40, 53, 182f.,

Dössel, Christine: 163f., 239 Dreysse Passos de Carvalho, Miriam:

229, 239

64f., 229

Berg, Alban: 176, 219

Dürrenmatt, Friedrich: 92

Bertram, Georg W.: 226f., 232 Besson, Benno: 63, 232



Bierbichler, Josef: 155, 232 Bondy, Luc: 187, 191

Elberfeld, Rolf: 34

Borchert, Rudolf: 46

Ellert, Gundi: 158

Brecht, Bertold: 37, 89, 93, 131,

Erne, Eduard: 166

138, 143, 146ff., 151, 155, 176,

Ernst, Wolf-Dieter: 36, 56, 229

187, 191, 193, 205, 226, 229

Export, Valie: 66

Bremer, Claus: 137, 237



Brook, Peter: 21, 34, 192ff., 229 Fabre, Jan: 89

245

Der kollektive Prozess des Theaters Feik, Eberhard: 190f.

Ludwig, 133ff., 233f.

Fernandes, Augusto: 187

Hofmann, Jürgen: 71, 191, 230

Flimm, Jürgen: 171

Hölderlin, Friedrich: 85

Franke, Ingeborg: 133ff., 233

Horn, Matthias: 157, 242, 244

Franken, Christoph: 173, 178

Hruschka, Ole: 29f., 35, 234

Freytag, Bernd: 59f., 65, 240





Ibsen, Henrik: 189

Gebauer, Gunter: 226, 230

Iden, Peter: 50, 73, 101, 138ff., 190,

Gerster, Muriel: 173

230, 239

Goebbels, Heiner: 195f., 209, 224,

Iffland, August Wilhelm: 42

233

Iser, Wolfgang: 205, 211f., 227,

Goethe, Johann Wolfgang: 32, 37,

230, 234

42, 89, 121, 184f., 230



Gorki, Maxim: 84, 138, 140, 189, 240

Jelinek, Elfriede: 25, 27, 85, 95f.,

Gosch, Jürgen: 173, 178, 240

100, 157ff., 163ff., 170, 208, 231,

Grand, Simon: 92f.

239

Greenblatt, Stephen: 29

Jung, André: 27, 164ff.

Gromes, Hartwin: 8, 139, 141, 189,



195, 208, 210, 230, 233, 235f. Gronau, Barbara: 34

Kafka, Franz: 96, 109, 148, 239

Grote, Ulrike: 158

Khuon, Ulrich: 172

Grotowski, Jerzy: 149

Kilian, Jens: 158

Grüber, Klaus Michael: 140, 187

Klaus, Händel, 173 Kleist, Heinrich von: 85



Kracauer, Siegfried: 74, 230

Handke, Peter: 107, 119, 140

Krause, Robin: 220

Hauptmann, Gerhart: 176f., 183

Kremer, Hans: 164

Häusermann, Ruedi: 172

Kresnik, Johann: 174, 178

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 85

Kriegenburg, Andreas: 167

Hegemann, Carl: 30, 32

Kurzenberger, Hajo: 57, 64, 97,

Heidegger, Martin: 85

138f., 141, 189, 195f., 209f., 213ff.,

Held, Berthold: 47, 61, 234

224, 229f., 232f., 235, 241, 244

Henrichs, Benjamin: 40, 53, 55f.,



239 Henschel, Franziska: 178

Laube, Horst: 84, 143ff., 152, 185f.,

Hesse, Volker: 10f., 15, 89, 91,

190f., 193f., 231, 237

93ff., 132, 234, 239

Lazarowicz, Klaus: 205, 229

Hinz, Melanie: 29, 34

Lehmann, Hans-Thies: 16, 41, 90f.,

Hobmeier, Brigitte: 158

207, 231, 237

Hochmair, Philipp: 178

Lemêtres, Jean-Jacques: 53

Hoffmann, Hilmar: 143f.

246

Namensregister Lessing, Gotthold Ephraim: 39

Olivier, Laurence Kerr: 149

Lochte, Julia: 165, 168

Orff, Carl: 49

Lorenz, Katharina: 178

Orlan: 66

Lösch, Volker: 59ff., 231, 240

Ostermeier, Thomas: 194, 235

Luft, Friedrich: 189, 237





Palitzsch, Peter: 22, 143ff., 150f.,

Mallwitz, Petra: 79ff., 240

155, 185ff., 191, 194, 235, 237f.

Marivaux, Pierre Carlet de: 187

Pasteur, Louis: 201

Marthaler, Christoph: 23f., 39, 64,

Paulhofer, Christina: 178

85ff., 89, 131f., 152ff., 193, 214,

Perceval, Luc: 178f.

229, 231ff., 237f., 240

Perl, Fritz: 148f.

Marton, David: 172, 176, 178

Peymann, Claus: 186

Matzke, Annemarie: 32, 34ff., 57,

Pollesch, René: 30

139, 141, 189, 195f., 209, 230f.,

Praetsch, Marc: 174, 180

233, 235

Pucher, Stefan: 167, 215, 223

Melchinger, Siegfried: 40, 42, 45f., 59, 137, 234, 237



Menke, Isabelle. 178

Quadtflieg, Will: 135

Merleau-Ponty, Maurice: 65



Mertz, Franz: 48 Meyerhold, Wsewolod E.: 113

Raabke, Tilman: 158

Minks, Wilfried: 175, 178

Rabes, Anja: 158, 167

Minotis, Alexis: 59

Ratte-Polle, Anne: 178

Mnouchkine, Ariane: 23f., 39, 53ff.,

Rehm, Werner: 158

59, 85, 187f., 192, 229, 232, 237,

Reinhardt, Max: 39, 45ff., 57, 234f.,

239

Rischbieter, Henning: 40, 101,

Mohn, Elisabeth: 35

135ff., 141, 146, 234, 235, 238

Müller, Heiner: 99, 234;

Ritter, Ilse: 190

Stephan: 10f., 15, 37, 63, 80,

Roselt, Jens: 29, 31, 221ff., 231

89, 132, 152, 164, 194, 234

Rudolph, Sebastian: 158, 163





Neuenfels, Hans: 187, 191

Schadewaldt, Wolfgang: 41f., 58f.,

Neukirch, Matthias: 178

64, 231, 238

Nietzsche, Friedrich: 19, 39, 43f.,

Scharf, Steven: 164, 166f.

48, 63ff., 181f., 234f.

Schatz, Thomas: 183, 231

Nübling, Sebastian: 39, 63f., 97,

Schiller, Friedrich: 19, 39f., 42ff.,

173, 178f., 214, 235, 240

58, 63, 66, 73, 121, 234, 235, 237

 Oberender, Thomas: 214f., 237

247

Der kollektive Prozess des Theaters Schleef, Einar: 18, 39, 57f., 64f., 89,

Stucky, Bettina: 158, 160, 162

95, 98ff., 121, 153, 210, 214,

Szondi, Peter: 70, 71, 232

231, 233f., 238 Schlingensief, Christoph: 30f.



Schmahl, Hildegard: 158, 160,

Tabori: George, 21, 23f., 132, 147ff.,

164ff.

155f., 166, 192ff., 231, 236

Schröter, Werner: 152

Thalheimer, Michael: 30f.

Schubert, Katharina: 158

Thormeyer, Oda: 178

Schulz, Wilfried: 9, 17, 152, 172,

Toller, Ernst: 174

179f., 236



Schwarz, Elisabeth: 193 Schwitters, Kurt: 107

van Eikels, Kai: 33

Seeck, Gustav Adolf: 56, 58, 236

Viebrock, Anna: 96, 153f., 158, 169,

Seel, Martin: 221f., 224ff., 231

236

Sellner, Gustav Rudolf: 48f., 57, 73,

von Düffel, John: 31

231

von Wangenheim, Gustav: 134f.,

Shakespeare, William: 12, 29, 129,

236

188, 208, 215, 216, 232, 234



Siuda, Wolfgang: 158, 169 Spaniel, Matthias: 197, 215, 236,

Wahl, Daniel: 173

240, 244

Warburg, Aby M.: 207

Stanislawski, Konstantin S.: 37, 52

Wartemann, Geesche: 35

Steckel, Frank-Patrick: 187

Wedekind, Frank: 176, 187

Stegemann, Bernd: 31

Weimann, Robert: 208, 232

Stein, Peter: 23f., 39, 50ff., 57, 84f.,

Weiss, Peter: 89, 136, 142

101, 136, 138, 140ff., 150f., 155,

Widmer, Urs: 11, 91ff., 232, 238

187ff., 191f., 204, 232, 236, 238,

Wieler, Jossi: 23f., 26f., 30f., 85f.,

240

89, 95ff., 100, 132, 152f., 157ff.,

Steiner, George: 19, 39, 44, 64f.,

161ff., 167ff., 178, 224, 236ff.

232

Wille, Franz: 82, 85f., 101, 237f.

Stemann, Nicolas: 30f., 39, 173,

Wilson, Bob: 30f., 64, 89, 210, 214,

178

231, 235

Stephen, Simon: 29, 173

Witt, Eberhard: 171

Strassberg, Lee: 149

Wittenbrink, Franz: 172f.

Strauß, Botho: 84, 101, 140f., 151,

Wulf, Christoph: 226, 230

189, 232, 236, 238, 240

248

Theater Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Dezember 2009, ca. 434 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

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3) ANZ1208.p 219965468702

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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2009-09-04 13-45-43 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 02f4219965468694|(S.

1-

3) ANZ1208.p 219965468702

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Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution Juli 2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4

Natascha Siouzouli Wie Absenz zur Präsenz entsteht Botho Strauß inszeniert von Luc Bondy 2008, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-891-9

Stefan Tigges Von der Weltseele zur Über-Marionette Cechovs Traumtheater als radikale avantgardistische Versuchsanordnung Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1138-0

2008, 390 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN 978-3-89942-909-1

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3) ANZ1208.p 219965468702

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) T00_02 seite 2 - 746.p 179786122240