Der inspizierte Muslim: Zur Politisierung der Islamforschung in Europa 9783839436752

Muslims in Europe are in the public focus. They are eyed, examined and surveyed. Academic research makes up part of this

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German Pages 374 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Welche Religion gilt als modern?
»Vom Standpunkt des Deutschtums«: Eine postkoloniale Kritik an Webers Theorie von Rasse und Ethnizität
Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa
Die Vermessung der Muslime
Jenseits des wohlgeordneten Säkularismus: Islam und Laizität in Frankreich
Sicherheitswissen und Extremismus
Sexualitätsdispositiv Revisited
»Ist das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch?«
Säkularismus als Praxis und Herrschaft: Zur Kategorisierung von Juden und Muslimen im Kontext säkularer Wissensproduktion
Verfremdungen: Muslim_innen als pädagogische Zielgruppe
Ethnographie und der Sicherheitsblick: Akademische Forschung mit »salafistischen« Muslimen in den Niederlanden
Autor_innen
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Der inspizierte Muslim: Zur Politisierung der Islamforschung in Europa
 9783839436752

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Schirin Amir-Moazami (Hg.) Der inspizierte Muslim

Globaler lokaler Islam

Schirin Amir-Moazami (Hg.)

Der inspizierte Muslim Zur Politisierung der Islamforschung in Europa

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: fotolia.com / Elnur (Detail) Korrektorat: Björn Redecker, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3675-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3675-2 EPUB-ISBN 978-3-7328-3675-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort   |  7 Einleitung   |  9 Welche Religion gilt als modern? Zur diskursiven Verknüpfung von Religion und Moderne im religionssoziologischen Diskurs Anna Daniel | 35

»Vom Standpunkt des Deutschtums«: Eine postkoloniale Kritik an Webers Theorie von Rasse und Ethnizität Manuela Boatcă | 61

Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa Schirin Amir-Moazami | 91

Die Vermessung der Muslime Ein Jahrzehnt quantitativer Forschung zu Muslimen in Westeuropa Birgitte Schepelern Johansen und Riem Spielhaus  |  125

Jenseits des wohlgeordneten Säkularismus: Islam und Laizität in Frankreich Frank Peter | 159

Sicherheitswissen und Extremismus Definitionsdynamiken in der deutschen Islampolitik Tobias Müller | 185

Sexualitätsdispositiv Revisited Die Figuration des »Arabischen Mannes« als Abwehr figur neoliberaler Freiheit Gabriele Dietze | 215

»Ist das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch?« Feldnotizen aus der Multikulturalismusdebatte Sarah Bracke und Nadia Fadil  |  247

Säkularismus als Praxis und Herrschaft: Zur Kategorisierung von Juden und Muslimen im Kontext säkularer Wissensproduktion Sultan Doughan und Hannah Tzuberi  |  269

Verfremdungen: Muslim_innen als pädagogische Zielgruppe Julia Franz | 309

Ethnographie und der Sicherheitsblick: Akademische Forschung mit »salafistischen« Muslimen in den Niederlanden Martijn de Koning  |  335

Autor_innen  | 367

Vorwort Schirin Amir-Moazami

Zu diesem Band haben eine Reihe von Personen beigetragen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. In erster Linie bedanke ich mich bei den Beitragenden für ihre wertvollen Artikel und für ihre Bereitschaft, sich auf die Fragestellungen einzulassen. Besonderer Dank gilt hier Riem Spielhaus für die vielen anregenden Diskussionen, die letztlich einen wichtigen Anstoß für das Buch gaben. Ruth Streicher möchte ich für die äußerst bereichernde Zusammenarbeit und die vielen inspirierenden Gespräche im Rahmen unseres laufenden Projekts »Provincialising Epistemologies« danken. Patricia Piberger danke ich für die sorgfältigen Übersetzungen der meisten englischsprachigen Beiträge. Für ihr großartiges Lektorat danke ich ganz herzlich Claudia Päffgen. David Battefeld, Iman Zayat und Farid El-Ghawaby bin ich für die tatkräftige Unterstützung bei der Recherche und der Erstellung der Literaturverzeichnisse zu Dank verpflichtet. Schließlich möchte ich den Studierenden des Instituts für Islamwissenschaft der FU Berlin von Herzen danken. Ihre Wissbegier, ihre unermüdlichen kritischen Nachfragen, aber auch genereller ihre Bereitschaft, sich auf theoretisch komplizierte Texte und unbequeme Diskussionen einzulassen, sind nicht nur immer wieder bereichernd. Sie zeigen auch, dass wir uns mit kritischer Forschung auf dem richtigen Pfad bewegen. Der Beitrag von Sarah Bracke und Nadia Fadil ist erstmals 2012 erschienen und wurde für den vorliegenden Band ohne inhaltliche Überarbeitungen aus dem Englischen übersetzt. Die Beiträge von Manuela Boatcă sowie der von Birgitte Schepelern Johannsen und Riem Spielhaus stellen inhaltlich überarbeitete Übersetzungen zuvor erschienener Artikel dar.

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N achweise Boatcă, Manuela (2013): »From the Standpoint of Germanism. A Postcolonial Critique of Weber’s Theory of Race and Ethnicity«, in: Political Power and Social Theory 24, S. 55-80. Bracke, Sarah/Fadil, Nadia (2012): »Fieldnotes from the Multicultural Debate«, in: Religion and Gender 2,1, S. 36-56. Spielhaus, Riem/Schepelern Johansen, Birgitte (2012): »Counting Deviance. Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western ­Europe«, in: Journal of Muslims in Europe, S. 81-112.

Einleitung Schirin Amir-Moazami Perhaps if we remember that the study of human experience usually has an ethical, to say nothing of a political, consequence in either the best or worst sense, we will not be indifferent to what we do as scholars. (S aid 2005 [1978]: 327)

Beginnen wir mit einer ebenso banalen wie folgenschweren Beobachtung: Muslime1 in Europa sind im Visier. Sie werden beäugt und beobachtet. Ihre religiöse Praxis wird kontrolliert, gezähmt oder auch anerkannt. Ihre Formen des sozialen Lebens werden vermessen und archiviert. Die vermeintliche Stille – wir könnten auch sagen: Indifferenz – gegenüber religiösen Fragen in Einwanderungsdiskursen Westeuropas ist einer fast ausschließlichen Fokussierung auf den Islam gewichen. Knotenpunkt nahezu jedweder Diskussion zur Ausgestaltung religiös-kultureller Pluralität in Europa ist entsprechend die Frage nach dem legitimen oder illegitimen Ort des Islams. Von diesem geballten Interesse ist auch die akademische Forschung nicht ausgenommen. So tummeln sich Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen um Muslime und versuchen, ihren inneren Wahrheiten auf den Grund zu gehen und sie zum Sprechen zu bringen. Es gibt überdies gegenwärtig kaum einen sozialwissenschaftlichen Forschungsbereich, bei dem die Verbrämung von akademischer Wissensproduktion und politischer Eingriffsoption derart offenkundig ist. So ist dieses Forschungsfeld ganz besonders gezeichnet von einem stetigen Gleiten zwischen Wissenschaft und politischer Intervention. In diesem Stimmengewirr ist Einhalt geboten. Denn nicht unbedingt mehr verfeinertes oder besseres Wissen über den Islam oder die Muslime

1 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Beitrag, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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trägt dazu bei, den Mechanismen dieser vermehrten Diskursivierung beizukommen und zur Korrektur zu verhelfen. Eher ist es an der Zeit, über die epistemologischen und normativen Voraussetzungen der Wissensproduktion selbst nachzudenken. Aktiv am Forschungsfeld mitwirkend und durch die Diskursexplosion zugleich befangen, schlägt dieser Band daher vor, zu verweilen und bereits Gesagtes in seinen Produktionsmechanismen und -kanälen (selbst-)kritisch zu beleuchten. Damit möchten wir in erster Linie eine Änderung der Blickrichtung anregen. Das Erkenntnisinteresse wendet sich davon ab, was Muslime sagen, tun und denken hin zu den Annahmen, wer diese Muslime vermeintlich sind und was an ihnen für wissenswert erachtet und was damit zugleich ausgeblendet wird: Unter welchen Bedingungen findet diese gegenwärtige Diskursanreizung über Muslime in Europa statt? Welche Art von Fragen bringen diese Bedingungen hervor, welche verhindern sie? Und wie strukturieren die Fragen zugleich den Raum, in dem das Sprechen (un-)möglich ist? Wie zirkulieren »Fakten« in der Öffentlichkeit und gewinnen dadurch an Geltung? Welche Dilemmata ergeben sich schließlich auch und vor allem für die Forschung, die den Fragerahmen bestenfalls erkennen, nicht aber aus ihm hinaustreten kann? Dieser Fragenkomplex lässt sich auf das schlichte und doch voraussetzungsreiche Ziel herunterbrechen, die Vorannahmen sichtbar zu machen, die mit Hilfe verschiedenster wissenschaftlicher Methoden, Konzepte und ihrer jeweiligen Epistemologien in diesem Wissensfeld wirksam werden.

M acht wissen Damit betritt der Band Neuland. Zwar sind die Topoi und Mechanismen der (Miss-)Repräsentation von Muslimen in europäischen Öffentlichkeiten hinreichend kritisch in den Blick genommen worden (Schiffer 2005; Attia 2009; Shooman 2015; Cakir 2014). Diese Forschung hat vor allem die orientalistischen Deutungsmuster diskursiver Praktiken über Muslime in Europa problematisiert. Die Frage, wie öffentliche Repräsentationen von Muslimen in Europa an tiefersitzende Wissensregime geknüpft sind und welche Regierungstechniken sie hervorbringen, war bislang jedoch kaum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.2 Die hier versammelten Beiträge stellen somit einen ersten Versuch dar, den Zusammenhängen von Macht und Wissen bei der »Entdeckung« des Islams als Problem und als Ressource und damit dem Zusammenspiel von Wissensproduktion und staatlich-politischer Intervention in Europa genauer auf 2 | Für erste, aber nicht weitergeführte Versuche siehe Amiraux 2004; Brown 2000; Sunier 2012a; 2012b; Brubaker 2013.

Einleitung

den Grund zu gehen. Dabei knüpfen wir vor allem an die Forschung an, die sich kritisch mit Zusammenhängen von Machttechniken und Subjektivierungen auseinandergesetzt hat (Mas 2006; Birt 2006; Peter 2008; Amir-Moazami 2011; Fadil 2011; Tezcan 2012). Diese Forschung hat vor allem deutlich gemacht, wie unschuldig anmutende Formen der Adressierung von Muslimen die angesprochenen Subjekte auf eine bestimmte Weise zum Sprechen bringen. Der Aufforderung an Muslime zum Diskurs, ihrer Anrufung und Selbstanrufung, als muslimische Subjekte zu sprechen, liegt diesen Ansätzen zufolge die von Foucault vortrefflich verdeutlichte Ambivalenz von Diskursanreizung und -verknappung zugrunde (Foucault 1993 [1972]). Diskurse unterliegen immer zugleich bestimmten Prinzipien und Mechanismen, die sie ordnen und anordnen, und sie ermöglichen damit bestimmte Subjektformen und erschweren oder verhindern zugleich andere. Wenn eine leitende Prämisse dieses Bandes entsprechend lautet, dass es kein machtfreies Wissen gibt und dass zwischen Macht und Wissen eine intime, wenn nicht gar untrennbare Verbindung besteht, dann gilt es diesen Zusammenhängen genauer nachzugehen. Die im öffentlichen und politischen Raum gestellten Fragen bef lügeln auch die akademische Wissensproduktion, wenngleich zumeist in veränderter, abgemilderter oder auch fundierter Form. Die kritische Ref lexion der Zusammenhänge von Wissen und Macht sollte sich daher nicht auf bestimmte Methodologien, Disziplinen oder Formate beschränken. Sie muss vielmehr grundlegender die Frage stellen, inwieweit unterschiedlichste Formen des Wissens selbst Bestandteil von Wahrheitsregimen sind, in denen »empirische Fakten«, »belastbare Daten« und »gesicherte Wahrheiten« nicht allein politische Interventionen anleiten und befördern, sondern selbst politische Interventionen darstellen. Es ist also immer zu fragen, inwieweit Wissen produziert, was es prognostiziert. Die hier versammelten Beiträge interessieren sich entsprechend nicht in erster Linie dafür, ob die Hypothesen, Kausalitäten und Schlussfolgerungen nun wahr oder falsch sind, sondern eher dafür, wie sie zustande kommen, welche Annahmen ihnen zugrunde liegen und welche Wahrheitsregime sie hervorbringen. Diese wissenspolitischen Zusammenhänge, so eine Grundannahme, lassen sich nicht losgelöst von Genealogien nationaler und imperialer Verflechtungen wie auch von den Vermächtnissen disziplinärer Zugänge und Zwänge begreifen. Gerade weil diese Verflechtungen komplex, kontingent und dynamisch sind, legen wir keinen vorab definierten Wissensbegriff zugrunde, der einheitlich zum Einsatz kommt. Nicht alle Beiträge interessieren sich daher ausdrücklich für die akademische Forschung, sondern weitläufiger für die Wissensbestände, die über Muslime und den Islam in öffentlichen und politischen Räumen Europas wirksam sind und welches Wissen sich durchsetzt. Dabei geht es in erster Linie darum, eingeschliffene Gewissheiten sichtbar zu machen.

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Q uantifizierung und F ak tenschaffung Zu diesen eingeschliffenen Gewissheiten gehört etwa der hartnäckig aufrechterhaltene Glaube an die Verlässlichkeit von repräsentativen Zahlendaten. Die vermehrte »Quantifizierung des Sozialen« (Mau 2017) hat alle Zweifel, Wenden und Kritiken überdauert und erfreut sich auch in diesem Forschungsfeld besonderer Beliebtheit (Amir-Moazami, Kap. 3; Schepelern Johansen und Spielhaus, Kap. 4). Birgitte Schepelern Johansens und Riem Spielhaus’ Kritik (Kap. 4) an den europaweit inflationär aufkommenden quantitativen Surveys und Umfragen, in denen Muslime in verschiedenen Ländern Europas vermessen werden, veranschaulicht den Zusammenhang von wissenschaftlicher Quantifizierung und politischer Regulierung besonders gut. In Anlehnung an Ian Hacking zeigen sie, wie Zahlen mit dem Anspruch auf Repräsentativität empirische Realitäten schaffen. Die Autorinnen stellen entsprechend die Frage, wer überhaupt als Muslim zählt und wie diese Zählbarkeit begründet wird. Sie gehen überdies der Frage nach, mit welchen Kategorien die quantitative Beforschung von Muslimen in Europa erfolgt und wie sich diese Kategorien notgedrungen an politische Diskurse und Bedarfe anlehnen  – Radikalisierung, Sicherheit, Integration. Ihre detaillierte Auswertung von Surveys und Statistiken macht zweierlei deutlich: Erstens werden die Kategorien »Muslim« und »Migrant« in diesen Untersuchungen nahezu austauschbar verwendet (siehe auch Brown 2000). Zweitens ist die dominante Analyseeinheit allen translokalen Dynamiken zum Trotz nach wie vor der Nationalstaat. Der unhinterfragt hergestellte Zusammenhang zwischen ethnischer Herkunft und Muslimsein auf der einen Seite und der nationalen, zugleich aber unsichtbaren Mehrheitsgesellschaft auf der anderen schreibt Muslime immerzu als außergewöhnliche Andere fort, die entlang des Integrationsparadigmas mit besonderen Bedürfnissen versehen und als besonders forschungswürdig erachtet werden. Während die Quantifizierung des Sozialen zu einer nahezu naturalisierten und unüberschaubaren Praxis herangewachsen ist, betrifft sie längst nicht jeden einzelnen in der gleichen Weise. Der überhöhte Gebrauch von Bevölkerungsstatistiken fällt nicht zufällig mit der Geburt des Nationalstaates zusammen. Im nationalstaatlichen Rahmen wurden immer schon »außergewöhnliche« Bevölkerungsgruppen auf besondere Weise in den zählenden Blick genommen (Schepelern Johansen und Spielhaus, Kap. 4; Amir-Moazami, Kap. 3; siehe auch Supik 2014). Wie die Zahlen politisch zum Einsatz kommen und welches Eigenleben sie erlangen, wenn sie erst einmal in die Öffentlichkeit gespült sind, lässt sich nicht immer genau nachvollziehen. Es besteht aber kein Zweifel, dass Zahlen als »verlässliche repräsentative Fakten« besonders prominent in politischen Handlungsfeldern eingesetzt werden. Es sollte uns aber vor allem die Frage umtreiben, auf welchen erkenntnistheoretischen Prämissen die Vermessungswut beruht und

Einleitung

wie sie mit politischen Bedarfen korreliert. Ebenso wie Schepelern Johansen und Spielhaus problematisiert daher auch mein Beitrag (Kap. 3) nicht in erster Linie die Ergebnisse selbst (auch wenn sie folgenschwer sein mögen) – passfähig: ja oder nein? –, sondern vor allem die Funktionen des Quantifizierens von besonderen Bevölkerungsgruppen selbst. Ich argumentiere daher, dass die Vermessungswut mit ihren Objektivitätsansprüchen nicht zufällig ausgerechnet in diesem Forschungsfeld so prominent ist. Dass vor allem jene Forschung, die belastbare Fakten über die vermeintlich umstandslos identifizierbare Kategorie »Muslim« verspricht, trotz ihrer offenkundigen Schwächen auch in der internationalen Forschungsförderung so hoch im Kurs steht, fördert einen interessanten Widerspruch zutage: Auf der einen Seite scheint in diesem Forschungsfeld eine besondere Tugend darin zu bestehen, dem beforschten Anderen nicht zu begegnen, um Objektivität zu wahren. Auf der anderen Seite aber ist dieses Forschungsfeld nicht nur in besonderem Maße, sondern auch auf eine Art und Weise politisiert, die die ersehnte Versachlichung unmöglich macht. Der Wunsch nach Versachlichung ist vielmehr Teil des Problems. Denn hier wird der Anschein erweckt, der Politisierung sei zu entkommen, indem man zur »Sache an sich« übergeht, hier zum Wissensobjekt »Muslim«, das durch diese Art von Forschung immer zugleich hervorgebracht wird.

O bjek t-S ubjek t-Trennung und postkoloniale F ortschreibungen Die Hegemonie positivistischer Epistemologien wird in diesem Forschungsfeld (wie zweifellos in vielen anderen auch) vor allem in der stillschweigenden Wiederaufwertung der Subjekt-Objekt-Distanz deutlich. Die Machtdurchdrungenheit trennscharfer Unterscheidungen zwischen forschendem Subjekt und beforschtem Objekt ist hinreichend und mit guten Argumenten hinterfragt worden. Feministische Kritik, postkoloniale Theorien und grundlegender die postmoderne Kritik am Universalitätsanspruch moderner Metanarrative stellen hier eine Fülle von Ansätzen bereit. Die von Sandra Harding und Donna Haraway angestoßene Debatte um situiertes Wissen etwa hat deutlich gemacht, dass Wissensproduktion weder geschlechtsneutral noch frei von anderen Zugehörigkeiten wie Klasse, Rasse oder Religion sein kann. Der »Blick aus dem Nirgendwo« (Haraway 1988) ist bei näherem Hinsehen durch das männliche, weiße, christliche und der gebildeten Mittelklasse entspringende Subjekt verkörpert. Weil dieses abstrakte Subjekt die Norm bildet, bleibt sein Universalitäts- und Eroberungsanspruch unsichtbar und unhinterfragt.3 3 | Für einen guten Überblick zur Debatte zwischen Harding und Haraway und zur weiteren Entwicklung feministischer Epistemologien siehe Code 2014.

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In Ansätzen der post- oder dekolonialen Theoriebildung wurden diese Überlegungen vor allem für die Kritik an globaler asymmetrischer Wissensproduktion weiterentwickelt. Eine der Schlüsselaufgaben postkolonialer Theorieperspektiven besteht entsprechend darin, herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen es eurozentrische Epistemologien geschafft haben, ihre eigenen geopolitischen und biographischen Verortungen zu verschweigen und den Mythos vom abstrakten und universal gültigen Wissen erfolgreich in die Welt zu setzen (Mignolo 2009). Postkoloniale Theorie hat außerdem aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt, dass sich die Machtasymmetrien zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden und damit auch zwischen »Westen« und »Orient« mit dem formalen Ende der Kolonien nicht grundlegend verändert haben. Die ungleiche Verteilung von materiellen Ressourcen betrifft dabei auch die Ressource Wissen. Wir könnten zum Beispiel fragen, warum trotz aller Unzulänglichkeiten sogenannte Orientwissenschaften bis heute überlebt haben, warum aber in den beforschten Regionen Fächer wie Christentums- oder Okzidentwissenschaften undenkbar wären. Die Theorie- und Begriffsbildung findet überdies nach wie vor in den Wissenszentren des globalen Nordens statt. Zu den fortbestehenden Privilegien der »Ersten Welt« gehört entsprechend auch zentral das Privileg, die epistemischen Ordnungen wesentlich vorzudefinieren. Dass der Islam entsprechend nach wie unter das moderne Klassifikationssystem »Religion« subsumiert wird (hierzu Daniel, Kap. 2), Muslime selbst an der Begriffsbildung jedoch kaum beteiligt sind, spricht für jene Kontinuitäten, die postkoloniale Denker seit Jahrzehnten aufzuzeigen versuchen. Wenn wir den ausschließlichen Fokus auf Muslime als religiöse Kategorie oder überhaupt als eingrenzbares, zu beforschendes Objekt überdenken, impliziert dies in erster Linie, den Blick vom Beforschten zum Forschenden zu richten. Dies meint nicht allein ein kritisches Ins-Visier-Nehmen der eigenen Position. Es meint auch im Sinne Gadamers eine Auseinandersetzung mit den »wirkungsgeschichtlichen Horizonten« (Gadamer 1990 [1960]: 305ff.), in denen unser Wissen steht. Historisierung versteht sich hier vor allem als Praxis, die nachspürt, warum bestimmte Phänomene überhaupt zu forschungswürdigen Problemen und Fragen werden. Wenn wir diese Historizität ernstnehmen und die Gegenwart auch in ihrer Gewordenheit begreifen wollen, so ist die gegenwärtige Wissensproduktion zum Islam in Europa nicht allein dem konkreten Forschungsgegenstand »Muslim« geschuldet. Vielmehr (re-)aktiviert sie Epistemologien, die dem Gegenstand selbst vorausgehen (Amir-Moazami, Kap. 3). Diese Prozesse sichtbar zu machen, ist gar nicht ohne weiteres möglich, weil es sich häufig um Konsense, teilweise auch um einverleibte Praktiken handelt und weil dabei auch Ökonomien am Werk sind, die mit gewachsenen disziplinären Strukturen und dem Wissenschaftsbetrieb verbunden sind. Hier wäre eigentlich die

Einleitung

Genealogie ein geeignetes Instrument, weil sie jenseits der reinen Aussageebene von Diskursen auch die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und -bedingungen in den Blick nimmt, die bestimmte diskursive Praktiken und damit verbundenes Wissen ermöglichen und »in seiner Gewordenheit durchschaubar und als bloß kontingente Bedingung hinterfragbar machen« (Honneth 2003: 117). Dem Anspruch, der Historizität der gegenwärtigen Wissensproduktion über Muslime und den Islam in Europa systematisch auf den Grund zu gehen, kann dieser Band zwar nicht erschöpfend gerecht werden. Wohl aber zeigen einige Beiträge mögliche Pfade auf, die andere weitergehen und breitertreten könnten. Hierzu gehört etwa Manuela Boatcăs postkoloniale Lektüre von Max Weber. Weber postkolonial gelesen meint in diesem Fall, die Verstrickungen seiner vermeintlich abstrakten Theorien und Ansätze in imperiale Machtzusammenhänge aufzuzeigen. Boatcă verdeutlicht entsprechend die Abwesenheiten, blinden Flecken und Exklusionsgesten, die Webers klassische Analysen in der Soziologie der Ungleichheit allgemein und in der Soziologie der Ethnizität im Besonderen hinterlassen haben. Es geht bei einer solchen Übung weniger darum, Webers rassistische Denkmuster zu entlarven (siehe Zimmermann 2006). Eher ist Weber symptomatisch für einen grundsätzlichen Zwiespalt, den er selbst federführend mitprägte: dem Universalitätsanspruch von Sozialtheorie und wissenschaftlicher Neutralität auf der einen Seite und der gleichzeitigen Beförderung von nationalen, ethnischen oder rassistischen Partikularismen auf der anderen. Gerade weil Weber Neugier, analytischen Scharfsinn und eine grundsätzliche Sensibilität für Machtasymmetrien mit einer grobschlächtigen Einteilung der Welt in den zivilisierten Westen und dem rückständigen Rest verband, ist er mehr als lediglich ein beiläufiges Beispiel. An seinem Werk im historischen Kontext lassen sich letztlich grundlegende Mechanismen der wissenschaftlich vorangetriebenen Rassisierung von Minderheiten oder kolonisierten Anderen innerhalb und außerhalb des Nationalstaates auch in ihren universalistischen Spielarten aufzeigen.4 Boatcăs nachdenklicher und nachspürender Ton zeigt schließlich, wie schwer es selbst für die postkoloniale Soziologie ist, mit diesem prägenden Theoriegepäck produktiv umzugehen, ohne es unisono zu verwerfen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Weber und anderen Gründungsvätern sozialwissenschaftlicher Disziplinen zeigt auch, dass die kolonialen Eroberungen von Anfang an keine rein militärische oder auf materielle Ausbeutung ausgerichtete Angelegenheit waren. Vielmehr waren sie eng mit

4 | Die Unterschiede zwischen universalistischen und differenzorientierten Formen des Rassismus haben Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein (1992 [1988]) besonders überzeugend herausgearbeitet.

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epistemologischen Eingriffen und globalen Wissensordnungen verknüpft, die bis in die Gegenwart hineinwirken (Mignolo 2009; Conrad/Randeria/Römhild 2013). Für das hier adressierte Forschungsfeld hat dies vor allem die von Edward Said angestoßene Orientalismuskritik deutlich gemacht. Said hat gezeigt, dass Orientalismus eine »distribution of geopolitical awareness into aesthetic, scholarly, economic, sociological, historical, and philological texts« ist, geprägt von »a whole series of ›interests‹ which, by such means as scholarly discovery, philological reconstruction, psychological analysis, landscape and sociological description, it not only creates but also maintains« (Said 2005 [1978]: 12, eigene Hervorhebung). Die Orientalismuskritik blieb allerdings bei der Spezifik der wissenschaftlichen Konstruktionen religiöser Anderer lange Zeit zu allgemein. Es ist aber kein Zufall, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion als abgrenzbarer Forschungskategorie im selben Moment an Konturen gewann, in dem auch die Kategorie der menschlichen Rassen ganze Disziplinen beflügelte und durchdrang. In ihrer Diskursanalyse zur Genese des Begriffs der »Weltreligion« hat Tomoko Masuzawa (2005) die Zusammenhänge zwischen modernen Religions- und Rassekategorien besonders deutlich herausgearbeitet. Ihre Arbeit zeigt insbesondere, wie die Konturierung moderner europäischer Religionsverständnisse durch die Religionssoziologie, Religionswissenschaft und teils auch durch die Islamwissenschaft mit der Institutionalisierung dieser Disziplinen zusammenfällt. Masuzawa verdeutlicht, wie die Einteilung der Welt in unterschiedliche Regionen und Religionen von Anfang an kein unschuldiger Akt wissenschaftlicher Objektivität war. Die Konzeptualisierung von Weltreligionen war nicht allein von früher Bibelkritik und damit zentral von der christlichen (protestantischen) Theologie inspiriert. Auch Unterteilungen in Sprachfamilien und Rassentheorien flossen maßgeblich in diese Konzeptualisierung ein. Die wissenschaftlich vorangetriebene Einteilung der Welt in entwickelte und weniger entwickelte Weltregionen fand in der Hierarchisierung von Weltreligionen eine Entsprechung. Ähnlich arbeitet Armando Salvatore (1999) in seiner genealogischen Analyse des wissenschaftlichen Diskurses zu verschiedenen Spielarten des »politischen Islam« heraus, wie der Islam von Wissenschaftlern wie Weber und seinen islamwissenschaftlichen Verbündeten allmählich von einer komplexen ethischen Tradition zu einem Zivilisationsbegriff umgeformt wurde, der auch die Selbstverortungen von islamischen Denkern nicht unberührt ließ. Hier tun sich zentrale Zusammenhänge auf zwischen modernen Differenzkategorien wie Region, Religion, Sprache, Rasse oder Kultur und disziplinären Ordnungen. Der »Westen« wurde wissenschaftlich also im selben Moment »vom Rest« getrennt, in dem europäische Wissenschaftler »Weltwissen« sammelten, ordneten und hierarchisierten.

Einleitung

Die leitende Matrix war dabei in erster Linie ein protestantisches Verständnis vom Christentum als verinnerlichtem Glauben (Mazusawa 2005; Salvatore 1999; Asad 1993; 2014). Religion fiel damit im Grunde in den Bereich des Subjektiven und stellte den Gegensatz zur Natur, zum empirisch Testbaren und Faktischen dar (Schepelern Johansen 2013: 10). Die Erforschung von Religion als abgrenzbarem Untersuchungsgegenstand entstand folglich paradoxerweise im selben Moment, in dem sich Trennungspostulate zwischen Wissenschaft und Glauben bzw. zwischen Transzendenz und Immanenz durchsetzten und festschrieben. Dieses Religionsverständnis schwang zugleich als unbenannte, teils aber auch explizit vergleichende Messschablone für andere »Weltreligionen« mit. Gerade diese auch von Weber prominent mitgeprägte Vergleichs­ praxis hatte auch die Funktion, den modernen (christlich geprägten) Religionsbegriff als Universalkategorie zu konturieren. Wie folgenreich dies für die Erforschung »anderer Religionen« sein kann, zeigt sich sowohl, wenn dieser Religionsbegriff systematisch als Modell zugrunde gelegt wird, als auch, wenn er implizit als hegemoniales Wissen in der Alltagssprache verwurzelt ist (hierzu Bergunder 2011). So gehört zu den vielen unhinterfragten Gewissheiten, die dieses Forschungsfeld nach wie vor prägen, auch das weitverbreitete Verständnis von Religion als verallgemeinerbare und von anderen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Kunst etc.) trennbare Kategorie. Wie Anna Daniels (Kap. 2) kritische Befragung der Religionssoziologie zeigt, neigen vor allem Vorabdefinitionen mit Universalitätsanspruch dazu, globale soziale und ökonomische Kontexte auszublenden. Es ist bemerkenswert, dass die Religionssoziologie trotz vielfach benannter Unzulänglichkeiten bis heute zumeist an der Suche nach einem verallgemeinerbaren Religionsbegriff festhält, die Zutaten, die ihn formen, und die eigene Positionalität aber weitgehend ausklammert. So zeigt Daniel, wie selbst bei den Bemühungen um Differenzierung in neueren Ansätzen die religionssoziologischen Gründungsprämissen und ihre Universalitätsansprüche nicht auf dem Prüfstand stehen. Aller postkolonialen Kritik trotzend, werden auf diese Weise auch Säkularisierungserzählungen unbeirrt fortgeschrieben und hier vor allem das Diktum der funktionalen Differenzierung durch die wissenschaftliche Praxis fortlaufend wahrgesprochen. Daniels grundsätzliche Kritik an den Verschränkungen von religionssoziologischen Moderne-Narrativen, modernen Religionsbegriffen und Säkularisierungsbehauptungen ist auch für das hier befragte Forschungsfeld von Relevanz. Denn die Frage, mit welchem Religionsbegriff in diesem wie in anderen Feldern operiert wird, entscheidet wesentlich über die Befunde. Selbst wenn religionssoziologische Begrifflichkeiten die Analysen nicht unbedingt immer systematisch bestimmen, so schwingt die christlich-protestantische Prägung der Religionsverständnisse doch häufig als unmarkierte Norm mit (vgl. Mavelli 2012; Anidjar 2014; Fadil/Fernando 2015; Asad 1993; 2014). Die

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Komplexität islamischer Diskurstraditionen auch in ihren liberal-säkularen Ausformungen können religionssoziologische Begriffsrepertoires vor allem dann nicht fassen, wenn sie diese christliche Prägung zugunsten von Abstraktion und vermeintlicher Objektivität nicht ernsthaft in den Blick nehmen. Um die gegenwärtigen Dynamiken der Forschung zu Muslimen und dem Islam innerhalb der Grenzen Europas in ihrer Historizität zu begreifen, wäre es allerdings auch verfehlt, Wissensregime und -ordnungen schlicht als postkoloniale Fortsetzungen tradierter Wissenspraktiken zu fassen. Die gegenwärtige Beforschung von Muslimen, die durch postkoloniale oder arbeitsmarktgesteuerte Einwanderung ins Innere Europas vorgedrungen sind, entfaltet andere und zusätzliche Dynamiken. Durch die Konsolidierung von liberalen Freiheiten kommen Zusammenhänge von Mehrheits- und Minderheitskonstitutionen auf sehr viel subtilere Weise zur Geltung als zu Webers Zeiten im Moment der Nationalstaatsbildung im 19., beginnenden 20. Jahrhundert. Die Lage ist nicht nur komplizierter, weil das Andere sichtbarer, spürbarer und hörbarer in das Innere des postkolonialen Europas gerückt ist. Sie ist es auch, weil die wissenschaftliche Begründung westeuropäischer Hegemonie nicht mehr umstandslos funktioniert. Scherenschnittartige Unterteilungen und Hier­archisierungen in Völker, Kulturkreise, Rassen oder Religionen, wie sie zu Kolonialzeiten noch gang und gäbe waren, lassen sich nicht mehr umstandslos rechtfertigen. Der Nexus von Macht und Wissen impliziert nicht mehr allein Herrschaftswissen, das sich aus Überheblichkeit, Degradierung oder Paternalismus speist. Gerade daher verwundert es, dass gegenwärtig ausgerechnet in diesem Forschungsfeld positivistische Wissensregime so dominant sind und dass sich vor allem Formate durchsetzen, die konsumierbares und politisch anwendbares Wissen versprechen und damit eingeschriebene Epistemologien auf neue Weise wirksam werden. Auffällig ist überdies, dass postkoloniale oder feministische Kritiken an universalistischen Epistemologien vor allem in Europa bislang selten den Kern der adressierten Disziplinen erreicht haben. Standpunkt-Theorie oder »situiertes Wissen« werden zumeist unter »feministischen Epistemologien« verhandelt und in die ohnehin randständigen Gender Studies ausgelagert, obwohl sie eigentlich aus dem Inneren der »Science Studies« entstanden sind. Postkoloniale Kritik hingegen hat europaweit nach wie vor nur die Außengrenzen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie der Politikwissenschaft oder der Soziologie erreicht. Der harte, drittmittelstarke und dominante Kern trägt indes positivistische Wahrheitsansprüche unbeirrt weiter. Auffällig ist auch, dass sich die islamwissenschaftliche Forschung bislang aus dem Forschungsfeld Islam in Europa weitgehend herausgehalten hat (Amir-Moazami, Kap. 3; siehe auch Tezcan 2012). Das Feld ist entsprechend von jenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen dominiert, deren Methoden

Einleitung

und Theorien Allgemeingültigkeit reklamieren, die aber letztlich wenig gerüstet sind, um die Spezifik islamischer Diskurstraditionen auch innerhalb liberal-säkularer europäischer Kontexte hinreichend zu verstehen. Dass Disziplinen wie etwa die Islam- oder die Religionswissenschaft in diesem Feld vergleichsweise zurückhaltend geblieben sind oder sich vorwiegend den Forschungsparadigmen anderer Disziplinen untergeordnet haben, hängt nicht allein mit dem Mangel an eigenständigen methodischen Zugriffen zusammen. Diese Zurückhaltung ist auch auf disziplinäre Grenzziehungen und Hegemonien zurückzuführen (Steinmetz 2005).5

S äkul are E pistemologien Die gegenwärtige Wissensproduktion zu Muslimen in Europa und genereller Kategorisierungen des Islams als anders oder als unverhältnismäßig zu ins­ pizierende Größe muss auch in ihren säkularen Machttechniken begriffen und Säkularität damit als religionsordnende und klassifizierende Größe in den Blick genommen werden (Amir-Moazami, Kap. 3; Peter, Kap. 5; Doughan und Tzuberi, Kap. 9). Säkularisierungsnarrative wirken auch über die von Daniel analysierte religionssoziogische Wissensproduktion hinaus immer zugleich religionsproduzierend, weil sie auf Grenzziehungen zwischen dem Religiösen und Politischen, dem Glauben und der Vernunft, aber auch von Immanenz und Transzendenz beruhen (Asad 1993; Agrama 2010). Wenn in diesem Band folglich auch die säkularen Prämissen der Wissensproduktion auf dem Prüfstand stehen, so ist unter Säkularität keine ontologische Konstante zu verstehen, die Religion schlechterdings aussondert. Das Säkulare lässt sich nicht einmal auf ihre ordnungsgebenden Kräfte reduzieren (Trennung zwischen Religion und Politik, Religionsneutralität des Staates etc.). Mit unterschiedlichen Perspektivierungen verstehen wir Säkularität in diesem Band eher als eine durch moderne Wissensproduktion auf unterschiedliche Weise beförderte, aber fluide Matrix, die Religion befragt, verwaltet, zähmt und reguliert und die auf verschiedene Weise darüber bestimmt, wo die Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Politischen zu ziehen sind. Diese Konzeption geht auch

5 | Die wirksamste Kritik an diesen globalen Wissenshegemonien kam von Wissenschaftlern des Globalen Südens, vor allem aus Lateinamerika und Indien, und hat auch die entsprechenden Disziplinen (Südamerika- oder Südasienstudien) entsprechend aufgerüttelt (siehe Steinmetz 2005: 5). Dasselbe Maß an Selbstkritik und Reflexivität lässt sich zumindest im deutschsprachigen Raum bei den Nachfolgedisziplinen der »Orientwissenschaften« nicht vorfinden. Obwohl die Orientalismuskritik zum Kanon dieser Fächer gehört, hat sie die Forschungsweisen nicht grundlegend verändert.

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über das übliche Verständnis von Säkularität als »wohlordnende« Kategorie hinaus (Peter, Kap. 5). Mit Blick auf unterschiedliche Formen der Adressierung von Muslimen in Frankreich geht Frank Peter etwa den vielfältigen und inkonsistenten politischen Rationalitäten laizistischer Praxis im gegenwärtigen Frankreich nach. Damit bietet er auch eine alternative Interpretation zur dominanten Konzeption von Laizität als rechtlich ordnende oder den Islam und Muslime schlichtweg ausschließende Kategorie. Die Wirkmächtigkeit säkularer Epistemologien besteht somit nicht so sehr in einer ein für alle Mal vorgegebenen Religionsnorm, als darin, dass der Rahmen der Fragen abgesteckt ist, innerhalb dessen über die (Un-)Zulässigkeit von Religiosität öffentlich verhandelt und wissenschaftlich nachgedacht wird (hierzu Agrama 2010). Besonders deutlich wird dies bei den unzähligen Auseinandersetzungen um islamische Körperpraktiken in europäischen Öffentlichkeiten. Darin treten bestimmte Fragen nahezu unausweichlich und quasi natürlich in Erscheinung, während andere gar nicht erst gestellt werden.6 Die endlosen Debatten um unterschiedliche Praktiken der Verschleier­ ung sind hier einschlägig. Die Frage, die bedeckte Frauen immer wieder aufs Neue implizit oder explizit beantworten müssen, ist die nach dem repressiven oder emanzipatorischen Gehalt ihres Kopftuchs. Sarah Bracke und Nadia Fadil (Kap. 8) schildern vortrefflich die Funktionen derartiger Fragerahmungen. Die Autorinnen machen deutlich, dass allein die Besessenheit, mit der diese religiöse Körperpraxis in den letzten beiden Jahrzehnten in europäischen Öffentlichkeiten exzessiv diskutiert und rechtlich reguliert worden ist, das Kopftuch immer wieder zu einer außergewöhnlichen religiösen Praxis gebrandmarkt hat, die ins Kreuzverhör geraten ist. Durch diese einseitige Inspektion werden all jene genderspezifischen Körperpraktiken zugleich normalisiert, die nicht dem islamischen Register zugeordnet werden. Mit ihrer Selbstbefragung zeigen Bracke und Fadil außerdem, wie sie sich auf zahlreichen Podien immer wieder auf die Entweder-Oder-Logik eingelassen haben. So bestätigten sie unentwegt den Fragerahmen, indem sie die Stimmen bedeckter Frauen in ein für liberale Ohren hörbares Vokabular übersetzten: Handlungsmacht (agency), freie Wahl und allgemeine Geschlechtergleichheit. Bei genauem Hinsehen durchbricht aber auch die Betonung des emanzipatorischen Gehalts des Kopftuchs nicht das Spiel von Exzeptionalisierung und Normalisierung, nun, indem auch diese religiöse Praxis normalisiert wird.

6 | Zu diesen geläufigen Fragen zählen etwa: »Ist männliche Beschneidung noch zeitgemäß? Ist es medizinisch vertretbar? Ließe sich das Ritual durch einen symbolischen Akt wie den der Taufe ersetzen? Könnten Muslime ihre Gebete nicht zusammenfassen? Ist es nötig, fünfmal täglich zu beten? Widerspricht die Halal-Schächtung dem Tierschutz? Ist die Verweigerung des Händeschüttelns ein Akt der Diskreditierung von Frauen?« etc.

Einleitung

Der Rahmen selbst, der die Frage hervorbringt  – ist das Kopftuch repressiv oder emanzipierend? –, bleibt jedoch außerhalb der Analyse und verstetigt dabei zugleich die unbestimmte Norm. So lassen sich die stets aufflammenden Diskurse, die über islamische Köperpraktiken im öffentlichen Raum geführt werden, selbst als säkulare Praxis deuten, da sie permanent legitime von illegitimen Formen von Religionsausübung unterscheiden und damit immer auch religionsproduzierend wirken. Dass das Kopftuch etwa für viele Frauen durchaus die verkörperte Form eines ethisch geleiteten Prinzips von Frömmigkeit und damit auch Unterwerfung unter die Autorität Gottes darstellt (hierzu Amir-Moazami 2007: Kap. 5; Jouili 2014: Kap. 4), rastet schwerlich in den liberal-säkularen Fragerahmen ein. Es ist damit auch aus dem wissenschaftlichen Begründungsrepertoire entweder verschwunden oder es fällt in die Rubrik der übermäßigen und suspekten Religiosität (hierzu Mahmood 2005). Das Gesagte wird also nicht nur stets gefiltert, sondern die Begründungen für die religiöse Praxis sind nur innerhalb eines bestimmten Diskursrepertoires lesbar – in dem Fall freie Wahl, Geschlechtergleichheit und allgemeine liberale Freiheiten (vgl. Fernando 2010). Bracke und Fadil deuten ein grundsätzlicheres Dilemma an, mit dem vor allem Forschende in diesem Feld konfrontiert sind, die sich kritisch mit hegemonialen Diskursen über das muslimische Andere auseinandersetzen. Ein unmittelbarer Reflex auf vereinheitlichende und vorwiegend negative Diskurse über Muslime drückt sich häufig in normalisierenden Gegenthesen aus, die rasch in das Register der Apologetik fallen: »Der Islam ist friedfertig«, »die Mehrheit der Muslime ist gut integriert«, oder eben »Kopftuch tragende Frauen sind emanzipiert«. Ähnlich reagiert auch der antiessentialistische Eifer häufig auf dominante Diskurse, die dem Islam und Muslimen gemeinhin ihre Vereinbarkeit mit liberalen Freiheiten absprechen, beugt sich damit aber zugleich dem normativen Rahmen, in dem Norm und Abweichung verhandelt wird (Amir-Moazami, Kap. 3; siehe auch Salvatore/Amir-Moazami 2002). Die Schwierigkeit besteht also darin, eine analytische Sprache zu finden, die dieses Schema nicht wiederholt. Auch in Sultan Doughans und Hannah Tzuberis (Kap. 9) Diskussion zur Beschneidungsdebatte wird deutlich, dass Muslimen, deren verkörperte Praxis derart im Visier ist, wenig Alternativen bleiben, als ihre religiöse Praxis in einer liberalen Sprache zu legitimieren. Die Beschneidungsdebatte unterscheidet sich allerdings von vielen anderen Kontroversen um islamische Körperpraktiken. Denn sie hat die oft vergessene Verbrämung von muslimischen und jüdischen Praktiken ins Gedächtnis gerufen. Zugleich hat die Befangenheit, mit der jüdische Minderheiten in Deutschland aufgrund der Nazivergangenheit adressiert werden, in diesem Fall gezeigt, dass der vermeintlich neutrale säkulare Staat mit unterschiedlichen Maßen misst. Hier hat nicht in üblicher

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Manier eine oberste richterliche Instanz konkurrierende Rechtsnormen abgewogen, in dem Fall Religionsfreiheit und Kindeswohl. Vielmehr hat sich der Bundestag eingeschaltet und auch mit Blick auf die deutsche Vergangenheit einstimmig zugunsten der männlichen Beschneidung entschieden.7 Doughan und Tzuberi identifizieren hier nicht nur einen Diskurs der Schuld und Scham, der ein bestimmtes Wissen über jüdische Körper als besonders verletzlich hervorgebracht hat. Sie zeigen auch, dass selbst dieses Wohlwollen auf Grenzen stößt, die sich auch hier in der Vormachtstellung positivistischer Epistemologien niederschlagen: Die religiöse Praxis lässt sich in dem Fall nur rechtfertigen, wenn sie sich gegenüber modernem medizinischen Wissen behaupten kann (siehe auch Amir-Moazami 2016). Die wissenschaftliche Erkenntnis hat Vorrang gegenüber religiöser Tradition; Praktiken der Frömmigkeit müssen sich in einer rationalen Sprache und liberalen Grammatik artikulieren können. Um Missverständnissen vorzugreifen: Es geht in solcherlei Betrachtungen nicht etwa darum, diese liberal-säkulare Matrix als Bezugsrahmen zu verwerfen. Ebenso wenig wollen etwa Bracke und Fadil die Unterwerfung unter die Autorität Gottes, die mit der Begründung einer religiösen Ordnung einhergehen kann, zu einer authentischen muslimischen Identität verklären. Eine permanente kritische Auseinandersetzung mit dieser Matrix und ihren Wirkungsweisen ist vielmehr ein notwendiger Schritt, um die epistemologischen und normativen Bedingungen ebenso wie deren affektive Befindlichkeiten überhaupt erst einmal begreif bar zu machen, innerhalb derer Fragen nach der Ausgestaltung von Pluralität und Handlungsmacht verhandelt werden können. Die Arbeit besteht in dem Fall darin, zu begreifen, wie das stetige Ins-­VisierNehmen bestimmter religiöser Körperpraktiken auch als Trennungspolitik funktioniert – als eine Technik des Trennens religiöser Verkörperungen von säkularen Formen der Verkörperung und damit auch als eine Technik des Sichtbarmachens des Partikularen und des Unsichtbarmachens des vorgeblich Universellen. Demnach ist auch der Appell an Muslime, ihre religiöse Praxis

7 | Hier zeigen sich auch interessante Analogien zu Shai Lavis (2009) Diskussion der rechtlichen Entscheidungen und Begründungen zur rituellen Schächtung von Juden im 19. und Muslimen in 20. Jahrhundert in Deutschland auf. Lavi arbeitet heraus, wie die Rechtsprechung einerseits nach 1945 mit Schuldbekenntnissen gegenüber Juden das Schächten erlaubte, Muslimen das Recht andererseits mit dem Argument absprach, dass es sich um keine religiös verbindliche Praxis handele. Die rechtlichen und politischen Diskussionen um das rituelle Schächten haben Lavi zufolge vor allem dazu beigetragen, zuvor uneindeutige Zuordnungen als zusammenfassbare (jüdische bzw. muslimische) »Minderheiten« zu klassifizieren, die ihre religiöse Praxis mit Rückgriff auf ein im Verlauf des 19., beginnenden 20. Jahrhunderts klar konturiertes Religionsverständnis begründen mussten.

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in einem verfügbaren liberalen Repertoire zu begründen und zu rechtfertigen, als Ausdruck von Grenzmarkierungen zu verstehen, wonach eine Gesellschaft ihre verkörperten Konturen markiert. Die Wirkmächtigkeit säkularer Epistemologien wird auch bei der unterschiedlichen Handhabung von Karikaturen in Deutschlands Medienöffentlichkeit deutlich, die Doughan und Tzuberi in ihrem zweiten Beispiel heranziehen: Die vielfach gepriesene Meinungs- und Redefreiheit stößt hier an ihre Grenzen, die auch in diesem Fall Repertoires von Schuld und Scham wachrufen. Die von der Berliner Zeitung versehentlich abgedruckte und zuvor in rechtspopulistischen Kreisen zirkulierende Karikatur eines geldgierigen, hakennasigen Juden zieht antisemitische Register, die Deutschland überwunden zu haben meint. Die Karikatur wird entfernt, die Berliner Zeitung entschuldigt sich öffentlich. Dass der Prophet Mohammed hingegen weiterhin als Terrorist karikiert werden kann, zeigt nach Doughan und Tzuberi nicht nur die zweierlei Maße, mit denen das liberale Gut der Meinungsfreiheit faktisch gehandhabt wird. Es stellt auch die öffentlich vorangetriebene Produktion von muslimischen Körpern als grundsätzlich suspekt unter Beweis. Der verdächtige Körper wird inspiziert und durchleuchtet und zwar in erster Linie mit Hilfe von Methoden und Instrumenten, die selbst entkörperte Distanz versprechen. Auch verhilft der Blick auf den abweichenden und verdächtigen Körper des Anderen dem unmarkierten Blick von Nirgendwo zu seiner vermeintlichen Neutralität und entkörperten Universalität. Hier sind Walter M. Mignolos (2009) Überlegungen erinnerungswürdig, der die Mechanismen der Abstrahierung der Subjektivität von moderner Wissensproduktion mit kartesischen Epistemologien des Körper-Geist-Dualismus zusammendenkt. Der im europäischen Denken entwickelte Anspruch auf eine rationale und körperlose »Nullpunkt-Epistemologie« (2009: 160) ist Mignolo zufolge nicht nur maßgeblich von einer (post-)kolonialen Machtmatrix geprägt. Er impliziert auch spezifische Körperpolitiken: »My humble claim is that geo- and body-politics of knowledge have been hidden from the self-serving interests of Western epistemology and that a task of decolonial thinking is the unveiling of epistemic silences of Western epistemology and affirming the epistemic rights of the racially devalued.« (Ebd. 162) Der überhöhte Fokus auf die Körper der Anderen lässt sich demnach auch als Mechanismus verstehen, vermeintlich entkörperte abstrakte Ideale – Freiheit, Gleichheit, Säkularität – auf neue Weise als unmarkierte Schablone zugrunde zu legen. Für den Fall der Wissensproduktion über Muslime in Europa könnten wir entsprechend fragen, wie der Körper des muslimischen Anderen gegenwärtig erneut nicht nur die »antiseptische Forschung« (Amir-Moazami, Kap. 3) anregt, sondern wie er auch dazu dient, abstrakte Prinzipien in ihrer vermeintlichen Körperlosigkeit und Allgemeingültigkeit zu bestätigen. Säkulare Epistemologien sind entsprechend nicht ein für alle Mal fixiert. Durch die

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Praxis der Wiederholung werden sie aber zu Gewohnheiten und teilweise auch zu Dogmen darüber, was als wahres Wissen gilt und was nicht.

R assisierung von R eligion Der muslimische Andere wird auch deshalb permanent bildhaft und in seiner massiven Körperlichkeit in Szene gesetzt, weil Religionszugehörigkeit nicht unbedingt auf Anhieb sichtbar ist. Weil Muslime nicht immer als solche identifizierbar sind, werden sie immer wieder in einer bestimmten Körperlichkeit in Szene gesetzt (Tyrer 2013: 52f.). Diese Inszenierung ist auch Bestandteil gegenwärtiger Prozesse der Rassisierung von Muslimen, deren Religionszugehörigkeit nach Herkunft sortiert und als quasinatürlich vorausgesetzt wird, ganz gleich, welche Bezüge sie selbst zum Islam haben oder ob sie sich überhaupt als Muslime definieren oder nicht. Obwohl es rassismuskritische Perspektiven ausgerechnet in Deutschland schwer haben, sich über die Ränder einzelner Fächer hinaus öffentlich Gehör zu verschaffen, hat die kritische Rassismusforschung nun damit begonnen, die augenfälligen Zusammenhänge zwischen der »Judenfrage« des 19. Jahrhunderts und der Adressierung von Muslimen als rassisierte Andere sagbar zu machen (vgl. Bunzl 2007; Meer 2012; Tyrer 2013; Shooman 2015). Dabei werden vor allem strukturelle Mechanismen der Anderung, Besonderung, Veraußergewöhnlichung, aber auch der Einverleibung von religiösen Minderheiten in einem säkularen nationalstaatlichen Rahmen deutlich, die auch bei akademischer Forschung nicht haltmachen, sondern teilweise sogar intrinsisch von ihr mitgetragen werden. Julia Franz (Kap. 10) zeigt in ihrem Beitrag etwa, wie die pädagogische Forschung in Deutschland Eingewanderte zunächst als Kultur- und sukzessive als Religionssubjekte adressierte. Das auch in der Forschung immer erzeugte Verständnis von Kultur als ahistorische, unbewegliche Größe, die das menschliche Handeln quasinatürlich bestimmt, hat hierzulande mit dem Beginn der Arbeitsmigration einen erneuten Aufschwung erfahren. Franz arbeitet dabei differenziert die Kontinuitäten und Brüche des kulturalistischen Diskurses bis in die Gegenwart heraus. Ihr Rückblick auf die Anfänge der »Ausländerpädagogik« in Deutschland verdeutlicht, auf welche Weise die in den späten 1970er-Jahren herausgebildete These vom Kulturkonflikt mit einer engen Verbrämung von psychologischem und pädagogischem Wissen auch in der jüngeren pädagogischen Forschung zu Muslimen nachwirkt. Grob zusammenfasst wurde der »Kulturkonflikt« zum »Wertekonflikt« und die »türkische Kultur« zum »muslimischen Habitus« (Franz, Kap. 10.). Trotz vielfältiger Differenzierungen hat sich nach Franz damit in der pädagogischen Forschung ein etablierter Forschungsrahmen hartnäckig gehalten, der auf Differenz oder Integration ausgerichtet ist, die Strukturen oder Machtbedingungen für kulturelle und religiöse Pluralität aber mehrheitlich ausblendet.

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Die Veraußergewöhnlichung markierter Minderheiten ist demnach strukturell bedingt und beruht auf nationalstaatlichen und religionspolitischen Regierungs- und Regulierungstechniken, zu denen auch Formen der Wissensproduktion maßgeblich zählen. Diese Mechanismen der Rassisierung lassen sich entsprechend keineswegs weder auf quantitative Methoden reduzieren noch sind sie überhaupt allein bestimmten Methoden oder Disziplinen geschuldet. Wenn wir Rassisierung auch als modernen Funktionsmechanismus nationalstaatlich gerahmter Wissensproduktion verstehen, sind Rasse und Sprache insofern intrinsisch miteinander gekoppelt, als das Bezeichnende vorgibt, welche Körper, welche Religionen oder welche Rassen erforschungsbedürftig sind und welche als unmarkierte Norm den forschenden Blick – den »conquering gaze from nowhere« (Haraway 1988) – repräsentieren. Dieser »conquiring gaze from nowhere« manifestiert sich nicht allein in allgemeiner männlicher Hegemonie. Wenn die Frau als das markierte Andere des männlichen und die Universalitätsmerkmale festlegenden Subjekts figuriert, so sind es bestimmte, hegemoniale Männlichkeiten, die Hierarchien und Normabweichungen vorantreiben. Gabriele Dietze (Kap. 7) zeigt in ihrem Beitrag, wie die Position normabweichender Männlichkeit gegenwärtig dem braunen Mann – türkisch, arabisch oder muslimisch – zugewiesen wird. Besonders seit der Silvesternacht in Köln 2015/16 wird abweichende männliche Sexualität auf besondere Weise rassisiert (hierzu auch Mecheril/van der Haagen-Wulff 2016; Kulaçatan 2016; Messerschmidt 2016; Hark/Villa 2017). Dietze verdeutlicht, wie die daraus erwachsenden Sexualitätspolitiken Männlichkeit, Religion und Herkunftsregion koppeln und dabei auch die Regulierungen von Einwanderung informieren. Dietze zufolge wird das Sexualitätsdispositiv dabei mit neuen Formen der Rassisierung angereichert. Die Autorin argumentiert allerdings nicht allein auf der Basis gegenwärtiger Diskurse und wendet dabei Foucaults Sexualitätsdispositiv schlicht an. Eher leistet sie auch einen konzeptionellen Beitrag, indem sie Foucaults Überlegungen zu neoliberaler Gouvernementalität mit dem Sexualitätsdispositiv verschränkt und Rasse als grundlegenden Bestandteil mitdenkt, um damit die sexualpolitische Rassisierung muslimischer Männlichkeiten im Kontext Europas zu fassen. Foucault hat bekanntlich dem Thema Rassismus im (post-)kolonialen Kontext nur begrenzt Aufmerksamkeit geschenkt (Stoler 1995; Young 1995). Die verheerenden Auswüchse von Biomacht beschreibt er erst ganz am Ende seines ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit (1998 [1976]: Kap. 5) und dies recht allgemein im Zusammenhang mit den Mechanismen totalitärer Systeme, die die Auslöschung von Leben zugunsten der Erhaltung anderer Leben zur Folge hatten. Dietzes Historisierung macht hier deutlich, dass Rasse durch koloniale Expansionen, aber auch durch rassistische Politiken im Inneren europäischer Gesellschaften als prägender Bestandteil des von Foucault konzeptualisierten Sexualitätsdispositivs begriffen werden muss. Ihre Historisierung verdeutlicht

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außerdem, dass die Stigmatisierung des arabischen Mannes in Europa auf etablierte orientalistische Wissensrepertoires zurückgreift und dabei auch Züge des »auto-referentiellen Rassismus« (Dietze, Kap. 7) entfaltet.

S icherheitswissen Sowohl die Figur des arabischen Mannes als auch die Karikatur des gewaltaffinen Mohammed bringen auch die Problematiken des gegenwärtigen Sicherheitsdiskurses auf wirksame Weise auf den Punkt. Der Terrorkörper, im von Doughan und Tzuberi diskutierten Beispiel karikiert am blutrünstigen und bombenfreudigen Mohammed, hat eine ganze Industrie von akademischen, politischen und zivilgesellschaftlichen Wissensproduzenten auf den Plan gerufen. Genährt von terroristischen Kämpfern selbst, die sich schrill und gewalttätig Öffentlichkeit schaffen, basiert dieses Wissen heruntergebrochen auf einer simplen These: dass letztlich in jedem Muslim, der sich dem Propheten verschreibt, ein suspektes, terrorgefährdetes und schwer zu bändigendes muslimisches Subjekt schlummert, das auf einer Bombe sitzt, die jederzeit und allerorts explodieren kann. Diese Rassisierung des Verdachts (de Koning, Kap. 11) und die damit einhergehenden veralltäglichten Diffamierungen werden dann zugunsten der Meinungsfreiheit oder der Sicherheit hingenommen. In seiner Analyse der Verfassungsschutzberichte und ihrer Thematisierung unterschiedlicher Varianten des politischen Islams spricht Werner Schiffauer (2015) in diesem Zusammenhang vom »Sicherheitswissen«. Er arbeitet heraus, wie Verfassungsschutzbehörden das Phänomen kategorisieren, kartografieren und damit sicherheitspolitisch handhabbar zu machen versuchen. Dabei gehen Sicherheitsdienste nicht nur stark komplexreduzierend vor, sondern greifen auch aktiv in das Feld ein, indem sie ihre geschaffenen Milieus mit Fakten und Daten versehen, deren Herleitung sie selten offenlegen.8 Der Sicherheitsdiskurs greift ab, was er braucht. Er verknappt und stutzt zurecht. Möglicherweise stehen auch deshalb populärwissenschaftliche Bestseller, die ein kontextfreies Islam-ABC liefern, in Sicherheitskreisen so hoch im Kurs. Dabei ist das Sicherheitswissen in seiner Kategorisierungswut durchaus bemüht, zwischen suspekten und unbedenklichen Muslimen zu unterscheiden. Die Definitionen, wer als unbedenklich und wer als verdächtig gilt, variieren allerdings nicht nur fortwährend. Das Beispiel von Kategorisierungen 8 | Didier Bigo (2002) hat bereits für die frühen 2000er Jahre herausgearbeitet, dass Sicherheitsregime, die auf Regulierung von Einwanderung ausgerichtet sind, mit recht eigenständigen Logiken agieren – häufig auch unabhängig davon, wie viel »Faktenwissen« etwa in Form von Wahrscheinlichkeitsberechnungen u.ä. bereitgestellt wird (siehe auch Bigo/Tsoukala 2008).

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wie »legalistischer Islam« zeigt darüber hinaus, dass im Grunde allein das Bekenntnis zu einer muslimischen Identität vom Verfassungsschutz als islamismusverdächtig gewertet wird. So heißt es in einem der Verfassungsschutzberichte, die »Mitglieder und Unterstützer legalistischer islamistischer Organisationen in Deutschland« strebten nach der »Durchsetzung islamistischer Positionen im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland. Dies versuchen sie zu erreichen, indem sie die von der deutschen Rechtsordnung gewährten Freiräume dafür nutzen. Mit ihrer Betonung der eigenen muslimischen Identität bei gleichzeitiger Ablehnung der als unmoralisch angesehenen westlichen Kultur agieren diese Organisationen desintegrativ und fördern so die Bildung von Parallelgesellschaften in Deutschland. Zur Verbreitung ihrer Ideologie stellen sie entsprechende soziale und kulturelle Angebote, vor allem für muslimische Jugendliche, bereit.« 9

Gerade weil Sicherheitsbehörden einerseits mit Kompaktdefinitionen arbeiten, andererseits aber äußerst vage Begriffe wie »Parallelgesellschaften«, »Integration« oder »westliche Kultur« bemühen, schaffen sie damit zugleich Fakten. Auf diese Weise wird paradoxerweise gerade mithilfe von Differenzierungen die Messlatte für den guten, gefügigen und unverdächtigen Muslim zu einer ständig schwankenden Variabel. Aus der Sicherheitsperspektive zielt die da­ raus hergeleitete Islampolitik folglich auch darauf ab, die Lebensgewohnheiten von Muslimen jedweder Couleur zu beäugen, weil bereits das Streben nach einem islamkonformen Lebensstil suspekt ist und als eine Stufe in der Entwicklung hin zur Sicherheitsgefahr gewertet wird. Schiffauer schlussfolgert entsprechend, dass die Differenzierungen der Verfassungsschutzbehörden letztlich »zu schwerfällig [seien], um das Phänomen der Aushandlungen zu erfassen. Dies liegt zum einen daran, dass die Kategorisierungen mit den Unterscheidungen zwar komplexer, aber nicht dynamischer werden – letztendlich wird das Kategoriensystem filigraner, bleibt aber im Prinzip starr.« (Ebd. 126) Wie Tobias Müller (Kap. 6) in seinem Beitrag zur Deutschen Islam Konferenz (DIK) darlegt, ist auch die politische Praxis des staatlichen Dialogs mit Muslimen primär vom Sicherheitswissen geleitet. Demnach wird der Islam sowohl als Gefahr (Radikalisierung) als auch als Ressource (Integration) verhandelt. Für die in diesem beschränkten Rahmen adressierten Muslime ergeben sich daraus eine Reihe von Dilemmata: Ganz gleich, wie sehr sie selbst die Terrorgefahr ächten und fürchten, sie müssen sich permanent lauthals davon distanzieren. Ganz gleich, wie oft sie ihre Loyalität zum Verfassungsstaat bekunden, ihr Bekenntnis muss auch durch ihre Bereitschaft zum Ausdruck kommen, sich an stets variierende soziale Konventionen anzupassen (siehe Amir-Moazami, Kap. 3). In diesem

9 | www.verfassungsschutz.de/embed/faltblatt-2014-07-jugend-und-jihad.pdf

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Dialoggeschäft geht es daher nicht schlicht um ein institutionalisiertes Gespräch zwischen dem Staat und Muslimen. Es sind auch Ressourcen im Spiel. Da vor allem organisierte Muslime notgedrungen in die Gunst des Staates zu treten versuchen, heizt die politische Praxis des staatlichen Dialoges das Trennungsschema von kompatiblen (gefügigen und gefälligen) und nicht kompatiblen (engstirnigen und religiösen Traditionen verhafteten) Muslimen und damit auch innermuslimische Grabenkämpfe letztlich weiter an (hierzu Topolski 2017). Noch deutlicher zeigt de Koning (Kap. 11), wie folgenreich es für die Subjekte sein kann, wenn sie das wissenschaftlich geprüfte Siegel des »Salafisten« aufgedrückt bekommen. Seine ethnografische Forschung in einer heterogenen Gruppe von Muslimen salafistischer Prägung in den Niederlanden war seit Anbeginn überschattet vom wachsenden globalen Terrorismus im Namen des Islams. Dass sich einige seiner männlichen Gesprächspartner dem Kampf terroristischer Gruppen in Syrien angeschlossen haben, lässt ein weitläufiges Umfeld zum suspekten und potenziell gefährlichen Milieu werden – darunter auch die Forschenden selbst. De Koning beschreibt eingängig seine Erfahrungen als Zeuge in einem Gerichtsprozess, in dem er zu Aussagen über seine Gesprächspartner verpflichtet war. Er veranschaulicht, wie ein bürokratischer Apparat – in dem Fall die Justiz – auf akademisches Wissen zurückgreift, es handhabbar und anwendbar macht und damit zu Faktenwissen zurechtstutzt, das sämtliche Schattierungen verliert. Seine Ausführungen zeigen damit letztlich auch, dass sich Schiffauers Unterscheidung zwischen »akademischem« und »bürokratischem« Wissen bei genauem Hinsehen nicht aufrechterhalten lässt. Gerade im Bereich der »Islamismus-Forschung« liefert akademisches Wissen nicht nur häufig gerade jene »Fakten«, die Sicherheitsbehörden vereinfachen und zu nutzbarem Wissen verarbeiten. Die akademische Forschung ist überdies selbst nicht frei von den Fragen, die die Sicherheitsbehörden umtreiben (de Koning, Kap. 11; Müller, Kap. 6; Franz, Kap. 10). Nicht zuletzt weil sich die Forschungsförderung in diesem Bereich in besonderem Maße an politischen Bedarfen orientiert, ist akademische Wissensproduktion oft direkt an der Zulieferung für politische Entscheidungsträger beteiligt. Gerade die akademische Forschung im Diskursfeld des »politischen Islam« kennt außerdem ihre orientalistischen Vorreiter (hierzu Salvatore 1999), die bei der Interpretation des Salafismus als »Ideologie« auch in der Gegenwart deutlich nachwirken. Die geläufige Betrachtung des Salafismus als »mehr oder weniger festgefügte Ideologie« (de Koning, Kap. 11) ist vor allem deshalb bequem, weil damit strukturelle Fragen nach institutionellem Rassismus, globaler sozialer Ungleichheit oder geopolitischen Zusammenhängen kaum noch gestellt werden müssen. Das Sicherheitswissen umfasst schließlich auch Formate und Ansätze, die nicht allein auf direkte Gefahrenermittlung ausgerichtet sind. Ein als suspekt geltendes »muslimisches Milieu« wird auch durch fürsorglich-vorsorgliche

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Techniken wie Prävention, Bildung oder Dialog zum Erwachen gebracht (Peter 2008; Amir-Moazami 2011; Teczan 2012). So steht etwa Prävention derzeit vor allem in der Pädagogik mit ihrem helfenden Eifer hoch im Kurs (Franz, Kap. 10). Julia Franz zeigt, wie sich die Pädagogik wissenschaftlich wie praktisch häufig als Fürsprecherin für das Andere versteht, dieses Andere dabei jedoch immer wieder verdinglicht. Auch bei der Erhebung, Vermessung und Beseitigung von Radikalisierungspotentialen werden somit häufig »kulturelle Anlagen« identifiziert. Franz verdeutlicht schließlich, dass auch jene Forschung, die dem (muslimischen) Anderen mit ethnographischen Zugängen oder mit Methoden der Biografieforschung zu begegnen versucht, weder machtfrei noch per se unproblematisch ist. So sehr wir als Beteiligte an der akademischen (Islam-)Forschung Freiheit und Unabhängigkeit hochhalten, so sehr ist also auch unser Wissen vermachtet, so sehr sind auch unsere akademischen Freiheiten immer vermittelt, und teilweise sind sie eben auch in besonderem Maße politisiert. Diese Verstrickungen verschwinden nicht, wenn wir sie unbenannt lassen oder das Narrativ von wissenschaftlicher Unschuld weitertragen.

F orschungse thik De Konings ethnografische Forschung und seine unausweichliche Involvierung in Gruppierungen, deren Ansichten seinen eigenen ethischen Vorstellungen widersprachen, deren Sorgen als marginalisierte und stigmatisierte Minderheit er jedoch nachvollziehen konnte, adressiert auch forschungsethische Dilemmata. Sein Navigieren zeigt zugleich, dass es kaum eine wirklich zufriedenstellende Antwort auf die Frage gibt, was es bedeutet, bei der Forschung an die Grenzen der Empathie zu stoßen. Während hier also wissenschaftliche Distanz eigentlich dringend angebracht wäre, verdeutlicht sein Beispiel, dass sie um Grunde unmöglich ist. Mit seiner reflexiven Auseinandersetzung thematisiert de Koning zugleich eine grundsätzlichere Spannung ethnografischer Zugänge: Diese Art von Forschung macht soziale Beziehungen unabdingbar. Diese Beziehungen sind jedoch immer heikel, und zwar nicht nur dann, wenn die Gesprächspartner den eigenen ethischen Vorstellungen zuwiderhandeln. Jedes quasifreundschaftliche Verhältnis, das sich in ethnografischen Forschungsprozessen auf baut, steht spätestens dann zur Disposition, wenn die Ergebnisse gedruckt und der vertraute, umgangssprachliche Ton in eine akademische Sprache übersetzt wurde (vgl. Brettell 1993). Ein letztes Mal: Solche Dilemmata lassen sich aber nicht durch falsche Objektivitätsansprüche oder durch »antiseptische Forschung« (Amir-Moazami, Kap. 3) wegschreiben. Die kritische Reflexion über die eigene Positionalität und die Machtverwobenheit von Forschung sollte eher Kernbestand einer jeden methodologischen Reflexion sein.

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Es geht in diesem Band folglich auch um die Zwangslagen, in denen wir uns selbst als am Diskurs beteiligte Wissenschaftler befinden. Der hier unterbreitete Vorschlag, die Blickrichtung zu wenden und einverleibte Forschungsprämissen zu hinterfragen, impliziert immer auch eine Selbstbefragung: Wie tragen wir selbst zur Veraußergewöhnlichung oder Normalisierung von Muslimen in Europa bei – etwa indem wir auf die finanziellen Anreize der staatlichen Forschungsförderung anspringen, indem wir Fragen stellen, die hegemoniale Fragerahmungen reproduzieren, oder indem wir vorgeben, unbeteiligte Beobachter im weißen Kittel zu sein, deren eigene Befindlichkeiten und epistemologischen Vorannahmen im Forschungsprozess ausgeblendet werden könnten. Die Beiträge in diesem Band liefern daher keine Patentrezepte, wie diesen Schwierigkeiten zu entkommen ist. Eher machen sie sie zum Bestandteil der Auseinandersetzung, indem sie die quasinatürlichen Konsense hinterfragen, die bestimmte Fragen ermöglichen und andere verdrängen, und die ein im Grunde partikulares (und nicht universelles) epistemologisches Werkzeug bereitstellen. Wenn damit auch grundlegender moderne Fundamente der Wissensproduktion und ihre Vermachtungen auf dem Prüfstand stehen, so bedeutet das keineswegs, dass wir hinaustreten und damit erneut einen Blick aus dem Nirgendwo beanspruchen könnten. Gerade weil wir es hier mit eingeschriebenen Epistemologien zu tun haben, wird bei einem solchen Blickwechsel zu keiner Zeit eine authentische, nichtkontaminierte muslimische Stimme in Erscheinung treten können. Im Sinne einer Kritik als Verschiebung wäre abschließend programmatisch anzuregen, in diesem Forschungsfeld Ansätze spürbarer, hörbarer und sichtbarer einzupflegen, die islamische Diskurstraditionen und Praktiken nicht schlicht als Bestätigung oder Negierung bereits vorhandener Begriffs- und Methodenrepertoires heranziehen, sondern sie auch für die Theoriebildung als Wissensbestände ernstnehmen.

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Welche Religion gilt als modern? Zur diskursiven Verknüpfung von Religion und Moderne im religionssoziologischen Diskurs1 Anna Daniel

In den letzten beiden Jahrzehnten ist Religion wieder zu einem viel beachteten Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit geworden. In der soziologischen Diskussion befassen sich neben einschlägigen religionssoziologischen Arbeiten wie etwa Martin Riesebrodts Die Rückkehr der Religionen (2000), Volkhard Krechs Götterdämmerung – auf der Suche nach Religion (2003), Hubert Knoblauch Populäre Religion  – auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft (2009) auch Ulrich Beck (2008) und Jürgen Habermas (2001; 2012) mit dem Stellenwert von Religion in der Gegenwartsgesellschaft. Im Zusammenhang mit diesem neuen Interesse am Thema Religion ist häufig von einer »Wiederkehr der Götter« (Graf 2007) oder einer »Rückkehr der Religionen« (Riesebrodt 2000) die Rede. Obwohl es im religionssoziologischen Diskurs durchaus umstritten ist, inwiefern es sich hierbei um eine tatsächliche Wiederkehr der Religion handelt oder ob der in globaler Perspektive anhaltenden Bedeutung von Religion aufgrund der Dominanz der Säkularisierungsthese nur wenig sozialwissenschaftliche Beachtung zuteilwurde (Riesebrodt 2000: 9; Stark/Finke 2000: 79, zit. n. Knoblauch 2009: 15), wird die Tragweite dieser Frage in der deutschsprachigen Religionssoziologie bisher nur unzureichend reflektiert. Denn geht man davon aus, dass das neuerliche Interesse am Thema Religion weniger mit einer tatsächlichen »Wiederkehr der Religion« zusammenhängt, sondern vielmehr auf die eurozentrische Engführung des Analyseblickwinkels zurückzuführen ist, ist es notwendig, religionssoziologische Vorgehensweisen einer eingehenden Reflexion zu unterziehen. Nur so lässt sich ergründen, aufgrund

1 | Für die konstruktiven Hinweise und Anmerkungen zu diesem Text danke ich Schirin Amir-Moazami. Mein Dank gilt außerdem Sascha Bark für die hilfreiche Diskussion des Beitrags.

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welcher analytischer Grenzziehungen und Auslassungen die globale Vitalität und Vielfalt von Religion in der sozialwissenschaftlichen Diskussion lange Zeit aus dem Blick geraten ist. In der bisherigen Diskussion ist eine Auseinandersetzung mit dem eigenen analytischen und theoretischen Instrumentarium jedoch nur ansatzweise erfolgt. Dass Religion in der Religionssoziologie nur in einer sehr spezifischen Weise Erwähnung gefunden hat, liegt meines Erachtens nicht allein an der im religionssoziologischen Diskurs immer noch üblichen Vorgehensweise, Religion zunächst definitorisch beikommen zu wollen. Diese Begriffsdefinitionen korrespondieren darüber hinaus mit der Meta-Erzählung der Moderne: Indem nach wie vor Narrative wie die der Säkularisierung, der gesellschaftlichen Differenzierung, der Individualisierung und der Pluralisierung von Religion  – alle vier gleichermaßen wichtige Teilstränge der Moderneerzählung – in der Religionssoziologie einen zentralen Stellenwert einnehmen, wird der Blick auf die globale Heterogenität und Dynamik religiöser Erscheinungsformen und Zusammenhänge wesentlich verengt. Durch diese Narrative wird lediglich eine spezifische Geschichte der Religion in der modernen Gesellschaft gezeichnet, die nicht nur stark durch ein säkulares Selbstverständnis geprägt und entsprechend normativ verfasst ist. Durch den hegemonialen Stellenwert der Moderneerzählung in der Religionssoziologie bleibt überdies die Hinwendung zu einer globalen Betrachtungsweise auf Religion häufig einem gewissen Eurozentrismus verhaftet. Auch auf die Wissensproduktionen über Islam und Muslim_innen in Deutschland nimmt die diskursive Verknüpfung eines bestimmten Religionsverständnisses mit einer spezifischen Moderneerzählung somit erheblichen Einfluss. Die große Bedeutung, die dem Modernebegriff in der Religionssoziologie zukommt, ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Konturierung der modernen Gesellschaft für die Etablierung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin insgesamt eine herausragende Rolle einnimmt und den soziologischen Diskurs bis heute prägt, zunächst nicht weiter verwunderlich. Allerdings sind die um das Modernenarrativ gelagerten Erzählstrategien aufgrund ihrer eurozentrischen Ausrichtung in den letzten Jahrzehnten insbesondere durch die Postcolonial Studies problematisiert worden. In der Religionssoziologie hat diese Kritik – anders als in den Religionswissenschaften – bisher kaum Berücksichtigung gefunden. Dabei erweist sich diese u.a. am Poststrukturalismus anknüpfende Forschungsrichtung gerade für die Untersuchung von etwaigen eurozentrischen Engführungen des religionssoziologischen Diskurses als äußerst ergiebige Analysestrategie. Um die gegenwärtigen Thematisierungsformen des Religiösen zu problematisieren, reicht es jedoch nicht aus, das Modernenarrativ pauschal zu kritisieren oder zurückzuweisen. Um sichtbar zu machen, wie die enge diskursive Verknüpfung von religionssoziologischem Diskurs und Moderneerzählung die Thematisierungsformen des Religiösen bedingen, ist

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es vielmehr notwendig, die mit der Moderneerzählung verknüpften Narrative einer eingehenden Analyse zu unterziehen. In Anlehnung an Ansätze der postkolonialen Kritik nehme ich in diesem Beitrag eine solche Untersuchung des religionssoziologischen Diskurses vor. Hierzu werde ich zunächst zu den Anfängen der Soziologie zurückgehen, um den konstitutiven Stellenwert sowohl des Moderne- als auch des Religionsbegriffs für die Entstehung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin aufzuzeigen. Im nächsten Schritt werde ich mich in kritischer Weise mit dem Narrativ der gesellschaftlichen Differenzierung, dem Narrativ der Säkularisierung und den Narrativen der Individualisierung und Pluralisierung der Religion befassen und die Schwierigkeiten des in diesen Narrativen zu findenden Religionsverständnisses diskutieren.

D ie diskursive V erknüpfung der B egriffe M oderne und  R eligion im religionssoziologischen D iskurs Neben dem Modernebegriff, dem für die Konstitution der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin anerkanntermaßen eine wesentliche Bedeutung zukommt, nimmt auch eine spezifische Thematisierung des Religiösen im Werk der sogenannten Klassiker der Soziologie – Émile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel – einen wichtigen Stellenwert ein: Erst als die soziale Ordnung nicht mehr als eine gottgegebene bzw. religiös legitimierte verstanden wird, wird sie erklärungs- und analysebedürftig, und die Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich dieser Aufgabe widmet, erscheint somit notwendig (vgl. Hillebrandt 2010: 156f.). In der so gefassten Abgrenzung der modernen von der vormodernen Gesellschaft manifestiert sich bereits die eurozentrische Verengung der Analyseperspektive, die im Folgenden exemplarisch an den Arbeiten Max Webers veranschaulicht werden soll.2 Indem die modernen europäischen Gesellschaften zum zentralen Untersuchungsgegenstand der Soziologie erklärt werden, wird Religion zum einen nicht nur ein ganz spezifischer Ort in der modernen Gesellschaft zugewiesen. Obgleich Weber annimmt, dass für das Aufkommen des okzidentalen Rationalismus insbesondere der im Protestantismus zu findenden Berufsethik eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt, da

2 | Auch in den Werken Durkheims und Simmels nimmt die Gegenüberstellung von moderner und vormoderner Gesellschaft eine wichtige Rolle ein (Durkheim 1994), wobei jedoch die zeitliche Abgrenzung stärker hervorgehoben wird. Eine auf der Annahme unterschiedlicher, in sich abgeschlossener Kulturräume basierende Gegenüberstellung von moderner und vormoderner Gesellschaft erweist sich für die vorgenommene Betrachtung als sehr viel problematischer und wird deswegen in den Fokus gerückt.

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sie in »Wahlverwandtschaft« mit einer rationalen Wirtschaftsethik und dem kapitalistischen Prinzip der Akkumulation von Kapital stehe (vgl. Weber 1968: 304f.), geht er davon aus, dass der »kapitalistische Geist« mit zunehmendem Erfolg seiner religiösen Wurzeln nicht mehr bedarf und sich ihrer entledigt, und spricht insofern von einer »Entzauberung der Welt« (vgl. Weber 1992: 488). Religion verliert im Zuge der Moderneentwicklung zunehmend an Einfluss und ist nur noch ein Bereich unter vielen in der modernen Gesellschaft. Da Weber, um das Alleinstellungsmerkmal der europäischen Moderne­ entwicklung zu untersuchen, die europäische Entwicklung zudem in Abgrenzung zu anderen »Kulturräumen« fasst und Religion hierbei als zentralen Untersuchungsgegenstand heranzieht, wird zum anderen auch der Blick auf »andere Religionen« davon maßgeblich beeinflusst. Seiner Ausgangsfrage nachgehend  – warum sich diese spezifische Form des Kapitalismus nur im Okzident ausbreiten konnte  – untersucht Weber sowohl die protestantische Ethik als auch die im Taoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus und Judentum vermittelten Weltsichten, um Aufschluss über die jeweils transportierten Ethiken  – oder genauer gesagt: Wirtschaftsethiken  – zu erhalten (vgl. Weber 1991). Eine so angelegte Vergleichsperspektive erweist sich aus postkolonialer Sicht jedoch nicht nur insofern als problematisch, als Webers Vorstellung der europäischen Entwicklung und das damit in Zusammenhang stehende, in erster Linie christlich geprägte Religionsverständnis zum theoretischen Maßstab der Untersuchung erhoben werden. So geht Weber, wie Martin Fuchs aufzeigt, davon aus, dass allen Kulturen die gleiche Struktur und spezifische Problematik zugrunde liegen: »Theodizeeproblem, Eigengesetzlichkeit und Kontrast der Wertsphären, Opposition von Religion und Ethik gegenüber den ›innerweltlichen‹ Sphären. Das bedeutet eine prinzipielle Anerkennung auf gleicher Augenhöhe, er unterstellt aber damit auch undiskutiert gleiche Prinzipien der kulturellen Konstruktion.« (Fuchs 2005: 446) Webers Auseinandersetzung ist zudem einzig um die Besonderheit der okzidentalen Entwicklung gelagert; andere Kulturen werden aus einer solchen Perspektive nur hinsichtlich ihrer Abweichung vom europäischen Modell in den Blick genommen.3 Wie u.a. Stuart Hall in seinem viel beachteten Beitrag »Der Westen und der Rest« aufgezeigt hat, ist für die Konturierung der modernen Gesellschaft innerhalb der Sozialwissenschaften entsprechend eine dualistische Denkweise, die sich in oppositionellen Begriffspaaren, wie modern und traditionell, zivilisiert und

3 | Die Intention seiner religionssoziologischen Aufsätze zusammenfassend stellt Weber fest: »Diese Aufsätze wollen also nicht etwa als […] umfassende Kulturanalyse gelten. Sondern sie betonen in jedem Kulturgebiet ganz geflissentlich das, was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung.« (Weber 1988: 13)

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unzivilisiert, religiös und säkularisiert, manifestiert, von entscheidender Bedeutung (vgl. Hall 1994: 139).4 Wie sich dies auf die Wissensproduktion über andere Religionen auswirkt, soll mit Hall anhand Webers Sichtweise auf »den Islam« problematisiert werden: »Weber benutzt ein sehr dualistisches Modell, das den Islam und Westeuropa in Bezug auf die moderne soziale Entwicklung gegenüberstellt. Für Weber sind die notwendigen Bedingungen für den Übergang zu Kapitalismus und Modernität: (a) asketische Religionsformen, (b) rationale Gesetzesformen, (c) freie Arbeit und (d) das Wachstum der Städte. All dies fehlt seiner Ansicht nach dem Islam, den er als ein ›Mosaik‹ von Stämmen und Gruppen darstellt, die niemals in einem richtigen sozialen System verbunden waren, sondern unter despotischer Herrschaft standen; diese absorbierte die sozialen Konflikte in einem sich endlos wiederholenden Kreislauf von Flügelkämpfen, wobei der Islam ihre monolithische Religion darstellte. Macht und Privilegien, so glaubt Weber, seien auf die herrschenden islamischen Familien beschränkt gewesen und wechselten zwischen ihnen, den Reichtum schöpften sie durch Steuern lediglich ab. Er nannte dies eine ›patrimoniale‹ oder eine auf Pfründen beruhende Autoritätsform. Im Gegensatz zum Feudalismus stellte sie nicht die Voraussetzung für kapitalistische Akkumulation und Wachstum zur Verfügung.« (Hall 1994: 175; vgl. auch Salvatore 2007, Stauth 1994, Turner 1974)

Die machtvolle Dimension einer solchen durch die eurozentrische Verengung des Blickwinkels bedingten Repräsentation »anderer Religionen« zeigt sich hier in besonderer Weise. Das somit geschaffene Ensemble von Bildern ermöglicht es erst, den Westen als modern zu begreifen und von vermeintlich anderen Gesellschaftsformen abzugrenzen (vgl. Hall 1994: 137).5 Den »nicht­ europäischen« Religionen wird in der frühen Soziologie dadurch eine modernehemmende Wirkung zugesprochen bzw. sie werden als nicht kompatibel 4 | Wie Dipesh Chakrabarty aufgezeigt hat, geraten durch solcherlei Grenzziehungen außereuropäische Nationalstaaten lediglich auf der Ebene der nachholenden Entwicklung in den Fokus (vgl. Chakrabarty 2010). Chakrabarty hat zudem auf den hyperrealen Status dieser Theorien aufmerksam gemacht: Er weist darauf hin, dass »das Europa« oder »der Westen«, auf welchen sich diese Moderneerzählungen immer beziehen, ebenfalls lediglich imaginäre Einheiten seien. Das Projekt, Europa zu provinzialisieren, müsse deshalb auch das Eingeständnis beinhalten, »dass bereits Europas Aneignung des Adjektivs ›modern‹ ein Stück globale Geschichte ist.« (Chakrabarty 2010:62) 5 | In diesem Sinne dürfe die Moderne – so der Einwand der Postcolonial Studies – nicht als Produkt spezifischer historischer Ereignisse in der Vergangenheit betrachtet, sondern müsse vielmehr als Ergebnis der fortwährenden narrativen Konstruktionen in Vergangenheit und Gegenwart begriffen werden (vgl. Bhambra 2014: 123; vgl. auch Chakrabarty 2000).

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mit der Moderne erachtet. Solche Repräsentationen stehen also beispielhaft für die binäre Denkweise, die postkoloniale Theoretiker_innen vielfach als essentialistische, präskriptive und ahistorische Universalien zurückgewiesen haben (vgl. Boatcă/Costa 2010 73; siehe auch Manuela Boatcă in diesem Band). Dass ein universelles Religionsverständnis selbst erst jüngeren Datums ist, wird in der heutigen religionssoziologischen Diskussion zwar meist reflektiert. Der Tatsache, dass die Kolonialherrschaft für das Aufkommen eines allgemeinen Religionsverständnisses nicht unbedeutend war, wird jedoch selten genügend Beachtung geschenkt. Wie Tomoko Masuzawa (2005) in ihrer Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen »Entdeckung der Weltreligionen« Mitte des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat, wurde die vergleichende Religionswissenschaft auf Basis der zu dieser Zeit hegemonialen Rassen- und Sprachgruppentheorien begründet, die paradigmatisch für das klassifizierende Denken dieser Zeit stehen und die Vormachtstellung Europas weiter festigten. Denn ein solcher Zugang ermöglichte es, die identifizierten Religionen in entwickelte und weniger entwickelte Religionen einzuteilen. Während interessanterweise neben dem Christentum zunächst dem Buddhismus der Status einer Weltreligion zugesprochen wurde, nahm Friedrich Max Müller, ein Protagonist dieser Diskussion und der erste Inhaber einer Professur für Vergleichende Religionswissenschaft, auf der Basis der Sprachgruppentheorie an, dass es sich beim Islam um eine weniger entwickelte Religion handele. Anhand eines vermeintlich objektiv ermittelten Entwicklungsstatus wird hier eine hierarchische Einordnung der Religionen vorgenommen (vgl. Masuzawa 2005: 214). In diesen Repräsentationen schreibt sich also nicht nur das koloniale Machtgefüge fest, letzteres nimmt vielmehr auch Einfluss auf das Selbstverständnis der Religionen. Die Vorstellung etwa vom Hinduismus als homogener Religion entsteht überhaupt erst in dieser Zeit. Hinsichtlich der Frage, was eine Religion ausmacht, dient die christliche Religion als Maßstab, wodurch der Identifizierung einer heiligen Schrift eine entscheidende Bedeutung zugesprochen wurde: Während die Weitergabe der Veden in Indien über Jahrtausende als körperliche Praxis zelebriert und ihnen gerade durch Inkorporierung und Rezitation solch ein zentraler Stellenwert beigemessen wurde, wird in der Folge ihrer schriftlichen Dokumentation ein größerer Stellenwert beigemessen (vgl. Van der Veer 2001: 117). Die »Religion der anderen« wird vor allem in schriftlicher Form für die westliche Welt greif bar.6 6 | Insbesondere die an Michel Foucault anknüpfende Sozialwissenschaft spricht der vergleichenden Religionsforschung hinsichtlich der Konstitution des Hinduismus als einheitliche Religion einen zentralen Stellenwert zu. Innerhalb der Religionswissenschaft hat die von Jonathan Smith Anfang der 1980er-Jahre geäußerte These, dass Religion lediglich ein Produkt der Wissenschaft sei, zu einer umfassenden Diskussion

Welche Religion gilt als modern?

Da die frühe Soziologie den globalen Verflechtungen, wie sie sich etwa in der Kolonialherrschaft manifestieren, kaum Beachtung schenkt und die untersuchten Kulturen vielmehr als homogene, endogene Einheiten begreift,

übersieht sie deren Berührungspunkte, Verwobenheiten und Einflussnahmen. So erkennt beispielsweise Weber nicht, dass sein eigenes Religionsverständnis entscheidend durch die historischen Prozesse beeinflusst ist:

der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion geführt (vgl. Fitzgerald 2000; Fitzgerald 2007; McCutcheon 2000). Smith hatte seinerzeit diagnostiziert: »There is no data for religion. Religion is solely the creation of the scholar’s study. It is created for the scholar’s analytic purposes by his imaginative acts of comparison and generalization. Religion has no existence apart from the academy.« (Smith 1982: xi) J oachim Matthes, einer der wenigen diskurstheoretisch arbeitenden Religionssoziolog_ innen stellt in ähnlicher Weise fest: »In etwa eineinhalb Jahrhunderten religionswissenschaftlicher Forschung haben wir die religiösen Welten außerhalb unserer eigenen nach unserem Maße stilisiert und zu erforschen versucht. Was wir heute als ›Weltreligion‹ bezeichnen, ist in diesem Vorgang als Gegenstand des Forschens erst so entstanden, und dies hat dann alle weitere Forschung über ihn angeleitet; man könnte zum Beispiel, leicht pointiert, von der Geburt des ›Hinduismus‹ aus dem Geist der Forschung über ihn sprechen.« (Matthes 1993: 27) Laut Matthes dürfe man allerdings nicht so weit gehen, aufgrund des bedeutsamen Stellenwerts des Christentums für die Wissensproduktionen von einer »strukturellen Verchristlichung« zu sprechen: »Insbesondere dort, wo der ›Hinduismus‹, im Unterschied zum zeitgenössischen Christentum, eigentlich ›lebt‹, nämlich in den komplexen Verhältnissen des gesellschaftlichen und kulturellen Alltags, ist von solchen Transformationen wenig zu spüren, wohl aber durchaus dort, wo sich der ›Hinduismus‹ in Organisationsformen höherer Ordnung und in neuartigen Kanonisierungen von Wissens- und Lehrgehalten zeigt.« (Ebd. 28) Ich stimme Matthes zu, wenn er die Annahme problematisiert, dass allein der Wissenschaft die Definitionsmacht über das, was unter Religion verstanden werden soll, innehat. Denn Zwischenräume und Bedeutungsverschiebungen sind in einem solchen Diskursverständnis nicht vorstellbar. Insofern ist es auch nicht zielführend, von einer Verwestlichung anderer Religionen auszugehen. Zwar wird als Folge der Kolonialzeit in den unterschiedlichen Religionen dieser Welt etwa die Verfügung über die schriftlich niedergelegten ›Grundaussagen‹ der einzelnen Religionen als wesentlich erachtet, daraus darf aber nicht vorschnell der Schluss gezogen werden, dass sich ein solches christlich geprägtes Religionsverständnis eins zu eins überall auf der Welt verbreitet habe. Den konkreten historischen und sozialen Zusammenhängen, in welche Religion stets eingebunden ist, wird in diesem Fall keine Beachtung geschenkt (vgl. Daniel 2016: 151).

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Anna Daniel »It escaped him that nineteenth-century Protestantism, which had shaped his understanding of sixteenth- and seventeenth-century Protestantism, had been formed precisely during that transformation of the modern world in which colonial interaction had been crucial. The location of religion shifts dramatically in nineteenth-century Europe and India, and this affects Weber’s understanding of religion and rationality in ways that are impossible for him to historicize.« (Van der Veer 2001: 11)

Nicht nur Weber, sondern auch der gegenwärtigen Religionssoziologie entgeht meist die Spezifik dieses Religionsverständnisses, das durch die Moderneerzählung maßgeblich beeinflusst wurde.7 Um die Engführungen dieses Religionsverständnisses weiter zu skizzieren, werde ich mich im Folgenden mit den verschiedenen Narrativen des religionssoziologischen Diskurses befassen. Beginnen werde ich mit dem der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, der in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zukommt.

D as N arr ativ der A usdifferenzierung der modernen G esellschaf t Das Narrativ der gesellschaftlichen Differenzierung und ein funktionales Religionsverständnis nehmen für die Gesellschaftskonzeptionen der frühen Soziologie eine wichtige Rolle ein: Weber nimmt an, dass die Rationalisierung der okzidentalen Gesellschaft mit ihrer Ausdifferenzierung in unterschiedliche Wertsphären – des Rechts, der Politik, der Wirtschaft, der Religion etc. – einhergehe. Auch Émile Durkheim geht davon aus, dass es im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen zu einer zunehmenden Individualisierung und somit zu einer Verschiebung der gesellschaftlichen Funktionserfüllungen komme: Der Zusammenhalt der modernen Gesellschaft wird nun nicht mehr – wie in archaischen Gesellschaftsformen – durch Religion, sondern vielmehr durch andere Gesellschaftsbereiche übernommen. Durkheim spricht in diesem Sinne von einer Art Zivilreligion, die sich im Feiern nationaler Feste und Zeremonien etc. manifestiere. Er geht jedoch nicht von einem völligen Verschwinden der Religion in der modernen Gesellschaft aus. Mit seinem funktionalen Religionsverständnis ebnet er den Weg, Religion als eigenständigen soziologischen

7 | Asad bezweifelt u.a. aus diesem Grund, dass es überhaupt eine universelle Definition von Religion geben kann: »My argument is that there cannot be an universal definition of religion, not only because its constituent elements and relationships are historically specific, but because that definition is itself the historical product of a discursive process.« (Asad 1993: 29)

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Untersuchungsgegenstand zu bestimmen, welcher – wenn auch in beschränkter Form – in der modernen Gesellschaft nach wie vor von Relevanz ist. Das Narrativ der Ausdifferenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche findet dann bei Talcott Parsons (1968) und Niklas Luhmann (1984) seine volle Entfaltung: Luhmanns Systemtheorie als Inbegriff des Narratives der gesellschaftlichen Differenzierung unterscheidet zwischen segmentären, stratifikatorischen und funktionalen Formen der Differenzierung sowie der Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie, wobei der funktionalen Differenzierung seines Erachtens in der modernen Gesellschaft ein Primat zukommt (vgl. Luhmann 1982: 229). Für das Aufkommen der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft spricht er Religion neben Politik und Wirtschaft eine Vorreiterrolle zu: »Historisch gesehen beginnt der Umbau der stratifizierten in eine funktionale Gesellschaftsordnung im Mittelalter auf der Basis einer erreichten Nichtidentität von Rollensystemen und Rollenbeziehung für Religion, Politik und Wirtschaft. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts treten Ausdifferenzierungen für Wissenschaft und Erziehung hinzu. Entsprechend spezialisiert sich das Familienleben. Spätestens im 19. Jahrhundert, formulierbar besonders seit der Französischen Revolution, liegt die Ordnung irreversibel vor.« (Luhmann 1982: 229)

Allerdings stehe Religion mit der Herausbildung einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft vor einem paradoxen Problem: »Der Umbau der Gesellschaft kommt in Ablösung von einer religiösen Weltsetzung zustande, und die Religion fördert ihn  – teils indem sie ihn zu verhindern sucht und dadurch Differenzerfahrungen erzwingt, und teils indem sie sich selbst einen Primat der eigenen Funktion erlaubt und damit anderen Systemen das Gleiche nahelegt.« (Luhmann 1993: 309) Obwohl Religion durch diese Prozesse quasi erst zu sich selbst findet, verliert sie in der ausdifferenzierten Gesellschaft nach Luhmann an Relevanz für die Gesamtgesellschaft (vgl. Luhmann 1982: 225ff.). Ähnlich wie bei Webers Überlegungen gründet jedoch auch Luhmanns Theorie der funktionalen Ausdifferenzierung in einer spezifischen Repräsentation der europäischen Geschichte. Dies erweist sich im Hinblick auf seine Moderneerzählung und sein Religionsverständnis gleich in zweifacher Hinsicht als problematisch: Indem Luhmann von einem Primat der funktionalen Differenzierung in der modernen Gesellschaft ausgeht, spricht er allen Gesellschaften, in denen eine Trennung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche nicht ausgemacht werden kann, im Umkehrschluss einerseits einen vormodernen Status zu. Mit der Verlagerung seiner Theorie auf die Ebene der Weltgesellschaft macht er andererseits auch ein hauptsächlich christlich geprägtes Religionsverständnis

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zum theoretischen Bezugspunkt seiner universellen Theorieanlage. Diese Schwierigkeiten werden im religionssoziologischen Diskurs jedoch nur selten reflektiert.8 Die Argumentationsfigur der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nimmt nicht nur in den Arbeiten Thomas Luckmanns und Peter L. Bergers einen wichtigen Stellenwert ein, wobei diese insbesondere an Weber anschließen. Auch Luhmanns Religionsverständnis erfreut sich bis heute insbesondere in den Arbeiten Detlef Pollacks (2003, 2009) oder Volkhard Krechs (2011) einer anhaltenden Beliebtheit. Religion wird in diesen Auseinandersetzungen entsprechend als ein weitestgehend autonomer Gesellschaftsbereich der modernen Gesellschaft beschrieben, der nicht mehr – wie in vormodernen Zeiten  – übermächtigen Einfluss auf andere Gesellschaftsbereiche nimmt. Das Narrativ der gesellschaftlichen Differenzierung korrespondiert zudem mit dem anhaltenden Bestreben der Religionssoziologie, Religion zunächst definitorisch beikommen zu wollen: Religion wird dabei entweder funktional oder substanziell bestimmt. Im ersteren Fall wird Religion eine wichtige Funktion hinsichtlich des gesellschaftlichen und persönlichen Umgangs mit Kontingenz  – also der prinzipiellen Offenheit und Unbestimmtheit aller Lebenserfahrung  – zugesprochen (vgl. Luhmann 1982: 225f.; vgl. auch Pollack 2003, 2009). In substanziellen Definitionen wird Religion hingegen häufig als individuelle Gotteserfahrung oder die Erfahrung von etwas Heiligem gefasst (vgl. Berger 1973: 26; Taylor 2009: 20f.). Um Religion von anderen Bereichen mit ähnlichen Funktionen abgrenzen zu können, erfreut sich zudem eine Kombination aus beidem, also eine substanziell-funktionale Definition, anhaltender Beliebtheit (vgl. Pollack 2003: 52). Auch wenn die Ebenen der Betrachtung variieren, wird Religion meist als etwas von anderen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft klar Getrenntes, Außeralltägliches gefasst. Dass die differenzierungstheoretische Perspektive und ein entsprechendes Religionsverständnis derart verbreitet sind, hängt u.a. damit

8 | Zwar ist in jüngerer Zeit insbesondere von Peter Beyer die christliche Engführung seines Religionsverständnisses problematisiert worden: Beyer knüpft an Luhmanns Theorie der Weltgesellschaft an und übernimmt dessen theoretische Figuren der Codes und Programme. Das Allgemeine (die Religion) soll das Besondere (die Religionen) dabei jedoch nicht überlagern. Entsprechend kritisiert er Luhmanns Code der Immanenz und Transzendenz: Dieser fände zu selten Verwendung in den religiösen Selbstbeschreibungen der Vergangenheit und Gegenwart. Insbesondere die nichtabrahamitischen Religionen ließen sich diesem Code nur mit Gewalt unterordnen (vgl. Beyer 2006: 80f; vgl. auch Simojoki 2012: 78). An der Vorstellung, dass Religion von anderen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft klar zu unterscheiden ist, hält jedoch auch Beyer fest.

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zusammen, dass es eine solche Erzählstrategie ermöglicht, Religion als eigenständigen Gegenstandsbereich zu konturieren. Joachim Matthes  – eine der wenigen kritischen Stimmen des religionssoziologischen Diskurses – problematisiert bereits Anfang der 1990er-Jahre die »Konnotation von der ›Religion‹ als etwas ›Apartem‹, als ein Etwas, das sich als eine eigene und eigenartige Gefühls-, Denk- und Handlungswelt darstellt, apart von dem, was man sonst noch alles fühlt, denkt und tut« (Matthes 1993: 23), und weist darauf hin, dass ein solches Religionsverständnis den Sozialforscher_innen »nur allzu willkommen [ist], ermöglicht ihm dieses Verständnis doch eine verhältnismäßig klare ›definitorische‹ Abgrenzung seines ›Gegenstandes‹«. (Ebd.) Für die Legitimierung der Religionssoziologie als eigene Teildisziplin wird ein in dieser Weise gefasster, allgemeiner Religionsbegriff offensichtlich als zentrale Voraussetzung erachtet. In diesem Sinne lässt sich ein solches Religionsverständnis auch als ein performativer Akt begreifen, durch den die Religionssoziologen und -soziologinnen mittels ihrer Definitionen und Narrative ihren Untersuchungsgegenstand überhaupt erst erschaffen. Auch wenn keine Rede über Religion ohne eine spezifische Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes auskommt, muss etwa die Bezugnahme auf eine bestimmte religiöse Gemeinschaft oder einen spezifischen historischen Zusammenhang kenntlich gemacht werden und darf nicht unref lektiert verallgemeinert werden, wie dies im religionssoziologischen Diskurs nach wie vor häufig der Fall ist. So ist beispielsweise ein Verständnis von Religion, welches annimmt, dass Religion in der modernen Gesellschaft nur noch ein Bereich neben Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft ist, eng mit dem Gedanken der Aufklärung verknüpft (vgl. King 1999: 19). Auch wenn dies im religionssoziologischen Diskurs gegenwärtig reflektiert wird, werden die analytischen Grenzen, die sich aus einem solchen Religionsverständnis ergeben, jedoch nur selten in den Blick genommen. Die Vorzüge eines so gefassten Religionsverständnisses sind zu groß: Denn sowohl Religionskritiker_innen als auch Verteidiger_innen von Religion können sich mit einem solchen Verständnis von Religion arrangieren, wie Talal Asad in seinem Werk Genealogies of Religion (1993) prägnant gezeigt hat: »Yet the insistence that religion has an autonomous essence – not to be confused with the essence of science, or of politics, or of common sense – invites us to define religion (like any essence) as a transhistorical and transcultural phenomenon. It may be a happy accident that this effort of defining religion converges with the liberal demand in our time that it be kept quite separate from politics, law and science – spaces in which varieties of power and reason articulate our distinctly modern life. This definition is at once part of a strategy (for secular liberals) of the confinement, and (for liberal Christians) of the defense of religion.« (Asad 1993: 28)

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Wenn es bei Luhmann und anderen heißt, Religion finde erst durch den Prozess der Ausdifferenzierung zu sich selbst, da sie sich nun voll und ganz auf ihre eigentliche Funktion – die Kontingenzbewältigung – konzentrieren könne (vgl. Luhmann 1982: 225ff.; Krech 2012: 574; Beck 2008: 41), widerspricht dies einerseits nicht dem säkularen Selbstverständnis. Es wird andererseits aber auch davon ausgegangen, dass Religion selbst in modernen Gesellschaften noch eine – durchaus wichtige – Funktion zukommt. So verwundert es nicht, dass Luhmanns religionssoziologische Schriften häufig durch Kirchenvertreter_innen oder Theolog_innen rezipiert wurden (vgl. Starnitzke 1996; Haslinger 2009). Dies verdeutlicht aber gleichzeitig auch die Wirkmächtigkeit des religionssoziologischen Diskurses, dessen Teilnehmende sich jedoch selbst selten fragen, inwiefern sie eigentlich Teil der jüngeren Religionsgeschichte sind und diese mit geschrieben haben.9 Ebenso wenig wird zur Kenntnis genommen, dass religiöse Ausformungen, die nicht unmittelbar einem solchen Religionsverständnis entsprechen, ebenfalls Produkte der Moderne sein können. Shalini Randeria (2007) hat sehr anschaulich herausgearbeitet, dass etwa auch der HinduNationalismus in Indien ein Produkt der Moderne ist. Aufgrund der linearen Erzählweise der Narrative und ihrer engen Einbindung in die Metaerzählung der Moderne, die immer nur eine sehr spezifische Vorstellung von Religion als modern begreifen, werden die globalen Verf lechtungen der Religionsgeschichte ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie die historisch spezifischen Machtverhältnisse, in die auch ein Religionsverständnis stets verwoben ist. Insbesondere Asad hat jedoch darauf hingewiesen, dass Religion nicht unabhängig von den machtvollen Zusammenhängen, in die sie eingebunden ist, betrachtet werden kann: »Religious symbols – whether one thinks of them in terms of communication or of cognition, of guiding action or of expressing emotion  – cannot be understood independently of their historical relations with nonreligious symbols or of their articulations in and of social life, in which work and power are always crucial.« (Asad 1993: 53) Das hegemoniale Verständnis der Religionssoziologie von Religion, diese als etwas von anderen Lebens- und Gesellschaftsbereichen klar Getrenntes zu begreifen, steht einer solchen Betrachtungsweise jedoch entscheidend entgegen. Denn egal ob es sich um eine Vorstellung von Religion als einem spezifischen Teilbereich der Gesellschaft oder als etwas Apartem, Verinnerlichtem, Außeralltäglichem handelt, versäumen es solche Definitionen von Religion meist, die machtvolle Verwobenheit und die Verquickungen von

9 | Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang, wenn es um die Säkularisierungsthese geht.

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Religion zur Kenntnis zu nehmen bzw. die jeweiligen Thematisierungsformen in einen spezifischen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang einzubetten. Die dem religionssoziologischen Diskurs häufig zugrunde liegenden Fragen, welcher Stellenwert Religion in der modernen Gesellschaft noch zukommt bzw. wie Religion in der modernen Gesellschaft gedacht werden kann, laufen entsprechend Gefahr, Religion zu stark auf sich selbst zu reduzieren. Statt das Religiöse in Zusammenhang mit anderen gesellschaftlichen Faktoren wie säkularen, politischen oder ökonomischen Aspekten zu stellen, werden nach wie vor in erster Linie die Grenzziehungen zwischen Religion und Politik, Öffentlichkeit und Privatsphäre, institutionalisierter und individualisierter Religion reproduziert. Der Stellenwert des Religiösen in der Gegenwartsgesellschaft manifestiert sich meines Erachtens jedoch gerade erst im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Einf lussfaktoren. Die enge Verknüpfung von Religionsdefinitionen und differenzierungstheoretischer Perspektive in der Religionssoziologie verhindert also, dass das Ineinandergreifen von religiösen Prozessen und staatlicher, politischer und säkularer Einflusssphäre gerade im Hinblick auf die machtvolle Dimension in angemessener Weise untersucht wird. Um die Vielschichtigkeit und Verwobenheit religiöser Prozesse wissenschaftlich untersuchen zu können, ist es notwendig, ein solches Religionsverständnis und die entsprechenden Narrative in Frage zu stellen. Dies gilt in besonderer Weise auch für das Narrativ der Säkularisierung, das nun genauer im Fokus stehen wird. Da dieses eng mit dem Narrativ der Individualisierung und Pluralisierung verknüpft ist, werden diese Narrative im Folgenden zusammen diskutiert, um Redundanzen in der Darstellung zu vermeiden.

D ie N arr ative der S äkul arisierung , I ndividualisierung und P lur alisierung von R eligion Verallgemeinert lässt sich zunächst feststellen, dass unter Säkularisierung meist entweder die Trennung von Staat und Religion oder der Bedeutungsverlust von Religion in der europäischen Gesellschaft verstanden wird. In der Nachkriegszeit wurde in der deutschen Religionssoziologie zunächst ganz allgemein der Mitgliederschwund der christlichen Kirchen in den Fokus gerückt. Unter Säkularisierung wurde in diesem Fall ein sich in zunehmenden Kirchenaustritten manifestierender Einflussverlust der christlichen Kirche verstanden. Ende der 1960er-Jahre sorgten dann die Überlegungen Thomas Luckmanns und Peter Bergers für eine Änderung des Blickwinkels auf Säkularisierung: Zwar gingen auch sie davon aus, dass sich die Kirchenbänke

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zunehmend leeren, die Institution Kirche also mit einem Rückgang der Mitgliederzahlen konfrontiert ist. Sie zogen aus dieser Diagnose allerdings nicht den Schluss, dass Religion im Allgemeinen an Bedeutung verliere: Laut Luckmann müsse analysiert werden, »was die Säkularisierung im Hinblick auf den sozial objektivierten Sinnkosmos bewirkt hat« (Luckmann 1991: 76). Die institutionelle Segmentierung der Gesellschaft habe zwar zur Folge, dass die Gültigkeit der religiösen Normen auf die spezifisch religiöse Sphäre beschränkt bleibt und globaleren Ansprüchen hingegen jede Wirksamkeit abgesprochen wird (vgl. ebd. 137). Das offizielle Modell der Religion und die subjektiven Bedürfnisse träten immer weiter auseinander (vgl. ebd. 113ff.). Dieser Umstand werde auch durch den Prozess der Freisetzung des Individuums aus familiären Bindungen und vorgegebenen Berufsfeldern etc., der gemeinhin als Individualisierung bezeichnet wird, weiter beeinflusst. Dies habe jedoch nicht einen zwangsläufigen Bedeutungsverlust der Religion zur Folge, so Luckmann. Er geht vielmehr von einem Wandel der religiösen Form hin zu einer Privatisierung bzw. Individualisierung der Religion aus (vgl. ebd. 132). Die spezifische Funktion der Religion, die Herstellung von Sinnzusammenhängen, bleibe nach wie vor bestehen. Sie werde jedoch in dieser Entwicklung zur »Privatsache«, d.h. es sei fortan dem Individuum überlassen, sich eine eigene Identität zu konstruieren und sich ein individuelles System religiöser Bedeutungen zusammenzusuchen (vgl. ebd. 141). Dafür stehe den Individuen ein reichhaltiges Angebot an Sinnsystemen zur Verfügung. Sie hätten jedoch nicht mehr denselben offiziellen Status, wie die Kirche ihn einst innehatte, sondern nähmen »eher synkretistische und verschwommene Züge an« (ebd. 141).10 Dieser Wandel der Religion führt laut Luckmann dazu, dass Religion in der modernen Gesellschaft »unsichtbar« werde, da sich die religiöse Praxis im Privaten und nicht mehr in der Öffentlichkeit abspiele. Das Narrativ der Säkularisierung ist nicht nur mit dem der Individualisierung, sondern auch mit dem der Pluralisierung der Gesellschaft und dem des religiösen Angebots eng verzahnt: Religion tritt im Zuge dessen mit anderen

10 | Auch Luhmann stellt den Begriff Säkularisierung vornehmlich in einen Zusammenhang mit dem Prozess der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme. Unter dem Begriff der Säkularisierung verhandelt er also insbesondere die Frage nach den Auswirkungen, die der moderne Strukturwandel des Gesellschaftssystems für Religion hat. Er versteht Säkularisierung somit als Folgeproblem eines vom Religionssystem selbst nicht angestoßenen Veränderungsprozesses der Gesellschaftsstruktur und interessiert sich hierbei sowohl für die religionsinternen als auch die externen Folgen dieses Prozesses. Ähnlich wie Luckmann möchte Luhmann Säkularisierung »als die gesellschaftsstrukturelle Relevanz der Privatisierung religiösen Entscheidens« begreifen (Luhmann 2000: 232).

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Systemen der Weltanschauung in Konkurrenz. Laut Berger untergräbt aber nun gerade der Pluralismus in der Moderne die Plausibilitätsstrukturen der einzelnen Sinnangebote. Aufgrund gestiegener Wahlmöglichkeiten bei den Deutungsangeboten hegt das Individuum Zweifel an althergebrachten Deutungssystemen. Berger beschreibt diesen Prozess als Zwang zur Häresie (Berger 1980), der den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Religion bzw. die Säkularisierung weiter vorantreibt. In diesem Sinne gehen die Meinungen auseinander, ob die Pluralisierung einen säkularisierenden oder einen vitalisierenden Effekt auf die individualisierte Sozialform der Religion hat (vgl. auch Krech 2012: 595).11 Den Narrativen gemeinsam ist, dass sie sich zwar auf die Entwicklungen insbesondere in Europa beziehen. Unter der diskursiven Hegemonie der Modernisierungstheorie der 1960er- und 1970er-Jahre wird der Prozess der Säkularisierung und Individualisierung von Religion jedoch häufig als Prozess mit globalem Ausmaß begriffen: Berger geht z.B. davon aus, dass »die säkularisatorischen Kräfte im Verlauf der allgemeinen ›Verwestlichung‹ und Modernisierung weltweite Ausmaße angenommen« haben (Berger 1973: 105). Aus postkolonialer Perspektive erweist sich eine Universalisierung dieser Narrative natürlich insofern als problematisch, als dadurch wiederum eine bestimmte Erzählung der europäischen Modernegeschichte verallgemeinert und in der Folge von einer global einheitlich verlaufenden Entwicklung der Religion ausgegangen wird. Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass es durch Kolonialherrschaft, Missionierung und der Etablierung von Nationalstaaten weltweit zu einem Wandel von Religion kam, sollten diese Prozesse jedoch nicht lediglich affirmativ gelesen werden, wie Berger und andere dies tun. Vielmehr ist es notwendig, auch die machtvolle Dimension der global-historischen Verwobenheit in den Fokus der Untersuchung zu rücken, um ein differenziertes Bild dieser Zusammenhänge zeichnen zu können (vgl. Asad 1993; Asad 2003; Randeria 2007). Auf keinen Fall sollten die Narrative der so gefassten Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Religion vorschnell verallgemeinert und zur Grundlage einer globalen Theorieentwicklung gemacht

11 | Auch quantitative Untersuchungen kommen hierbei nicht zu einem eindeutigen Ergebnis: Zwar ist unumstritten, dass es zu einer qualitativen Pluralisierung von Religion kommt; inwiefern auch von einem quantitativen Anstieg die Rede sein könne, sei jedoch fraglich. Als wesentlicher Indikator der qualitativen Pluralisierung gelten die Mitgliedschaftsverhältnisse in spezifischen religiösen Gemeinschaften (vgl. auch Krech 2012: 594). Da dieser Indikator für die eher fluiden individualisierten Religionsformen jedoch nur eine beschränkte Aussagekraft hat, ist es schwierig, in dieser Frage ein eindeutiges Ergebnis zu erzielen, weswegen die quantitativen Untersuchungen in dieser Frage an Grenzen stoßen.

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werden. Denn ein solch lineares Verständnis von Säkularisierung und Individualisierung der Religion ist selbst Ausdruck des modernisierungstheoretischen Impetus des religionssoziologischen Diskurses und entsprechend stark durch ein säkulares Selbstverständnis geprägt. Dies zeigt sich u.a. darin, dass die Pluralisierung der Religion etwa durch Berger in erster Linie im Sinne eines erweiterten religiösen Angebots gefasst wird, aus dem der Einzelne wählen und seinen eigenen Kosmos der Sinndeutungen zusammenbasteln kann (vgl. Berger 1973: 144f.). Durch die Hegemonie des spezifisch individualisierten Religionsverständnisses wird die Pluralisierung der Religion weder im Sinne einer fluiden Vielfalt religiöser Erscheinungsformen gefasst noch wird gesehen, welche machtvollen Kräfte in religiösen Prozessen nach wie vor wirksam sind. Inwiefern sozialstrukturelle Faktoren und gemeinschaftliche Zusammenhänge in religiösen Prozessen nach wie vor eine Rolle spielen, kann aus dieser Perspektive nur als problematische Abweichung zur Kenntnis genommen werden. Auch der Umstand, dass anderen Religionen andere Organisationsstrukturen zugrunde liegen bzw. die religiöse Praxis ganz anderen Prämissen folgt, die nicht unbedingt unter dem Paradigma der freien Wahl oder als von anderen Bereichen des Lebens klar abgrenzbar zu analysieren sind, fällt damit aus dem Rahmen.12 Ein solches Bild prägte den religionssoziologischen Diskurs jedoch über Jahrzehnte und ist auch heute noch ein zentrales Thema. Insbesondere die hegemoniale Stellung der Säkularisierungsthese in Wissenschaft und Öffentlichkeit hat dazu geführt, dass Religion zu einem vernachlässigbaren Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Forschung erklärt und über einen langen Zeitraum – wenn überhaupt – nur unter diesen spezifischen diskursiven Voraussetzungen zum Gegenstand der Forschung gemacht wurde. Mitte der 1990er-Jahre ist die Säkularisierungsthese allerdings auch im religionssoziologischen Diskurs in die Kritik geraten, sowohl in Bezug auf ihre globale Reichweite als auch hinsichtlich ihrer Aussagekraft über die Prozesse innerhalb der westlichen Welt. Eine Vorreiterrolle nimmt hierbei die Arbeit José Casanovas ein. In seinem 1994 erstmals veröffentlichten Buch Public Religions in the Modern World zieht Casanova hauptsächlich die Behauptung einer Privatisierung der Religion in Zweifel: Vor dem Hintergrund einer

12 | Andreas Nehring bescheinigt auch den Postcolonial Studies, dass sie durch die Hervorhebung hybrider Identitätskonstruktionen die machtvolle Dimension dieser Prozesse häufig nicht in genügender Weise berücksichtigen (Nehring 2012: 331). Dem Thema Religion werde in den Postcolonial Studies generell zu wenig Aufmerksamkeit zuteil, findet Nehring, und stellt u.a. die Vermutung an, dass dies ebenfalls dem häufig säkular geprägten Selbstverständnis postkolonialer Wissenschaftler_innen geschuldet ist (ebd. 335f.).

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anhaltenden bzw. wiedererstarkenden Präsenz von Religion in der globalen Öffentlichkeit müsse vielmehr von einer Deprivatisierung die Rede sein (vgl. Casanova 2004: 5f.). Casanova möchte jedoch zunächst nicht den Kern der Säkularisierungsthese – die Differenzierung und Emanzipation der säkularen Sphären von religiösen Normen und Institutionen – in Zweifel ziehen. Er stellt fest, dass die europäische Entwicklung des zunehmenden Bedeutungsverlusts der Religion in Form von Kirchenaustritten einen Sonderfall darstelle. Ausgehend von dieser Entwicklung werde in der Soziologie die Privatisierung von Religion zu häufig als notwendige Voraussetzung für Modernisierung erachtet. In einer globalen Perspektive sei diese Annahme jedoch nicht haltbar, da weltweit eine anhaltende bzw. anwachsende und öffentlich wirksame Vitalität von Religion zu verzeichnen sei (vgl. ebd. 26f.).13 Aber auch eine solche Revision der Säkularisierungsthese reproduziert in verschiedener Hinsicht die Engführungen des religionssoziologischen Diskurses, wie insbesondere Talal Asad aufgezeigt hat: So kritisiere Casanova zwar die Säkularisierungsthese hinsichtlich der impliziten Annahme einer Privatisierung von Religion. Die ebenfalls mit dem Narrativ der Säkularisierung zusammenhängende Annahme der Differenzierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche sowie die These eines zunehmenden Bedeutungsverlustes von Religion stelle Casanova jedoch nicht in Frage. Asad problematisiert nun, dass vor dem Hintergrund der öffentlichen Bedeutung, die Religion laut Casanova nach wie vor in modernen Gesellschaften einnimmt, die Annahme einer funktional differenzierten Gesellschaft nicht aufrechtzuerhalten ist. Denn sobald Religion durch ihre Einbindung in die Zivilgesellschaft ein integrierter Teil moderner Politik wird, wie kann dann noch von einer Differenzierung der einzelnen Teilbereiche ausgegangen werden? Muss in diesem Fall nicht gleichermaßen angenommen werden, dass Religion auch in Wissenschaft, Ökonomie etc. vertreten ist, Religion also nicht unabhängig von seiner spezifischen gesellschaftlichen und historischen Einbindung betrachtet werden kann (vgl. Asad 2003: 182)?

13 | Auch Peter Berger zieht Ende der 1990er-Jahre die Säkularisierungsthese aufgrund der globalen Vitalität der Religion in Zweifel (vgl. Berger 1999). Es gibt aber auch noch Diskursteilnehmende, die an der Säkularisierungsthese festhalten. Diese stützen sich meist auf quantitative Daten, die die sinkende Mitgliederzahl von Konfessionsangehörigen in Deutschland und den meisten Ländern Europas belegen. Zwar sei seit den 1970er-Jahren ein signifikanter Anstieg der religiösen Vielfalt zu vermerken, dieser sei aber in erster Linie qualitativer Art und führe weder zu einer Bedeutungszunahme noch zu einem Bedeutungsverlust von Religion (vgl. Krech 2012: 593).

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Auch die These, dass es zu einem Bedeutungsverlust von Religion in der modernen Gesellschaft komme, stellt Asad in Frage. Wenn Religion auf zivilgesellschaftlicher Ebene eine Rolle spiele, dann dürfe man die Vitalität von Religion nicht lediglich über die Kirchenzugehörigkeit messen (vgl. ebd.). Allerdings ist seiner Ansicht nach auch das Einflussvermögen der religiösen Vertreter_innen auf zivilgesellschaftlicher Ebene kritisch zu hinterfragen. Denn spätestens seit Habermas auf die Bedeutung der Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften aufmerksam gemacht hat, wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Akteure stets vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Wie auch Gayatri Chakravorty Spivak feststellt (vgl. Spivak 1988), muss man nicht nur in der Lage sein, sprechen zu können, sondern bei den anderen Diskursteilnehmer_innen auch Gehör finden (vgl. auch Asad 2003: 184). Es stellt sich also die Frage, welche Werte als verhandelbar gelten. Da nach wie vor die christliche Religion im öffentlichen Diskurs präsenter ist, als gemeinhin angenommen wird, finden in erster Linie christlich konnotierte Themen im öffentlichen Diskurs Gehör. Religiöse Themen, die einer anderen diskursiven Genealogie entspringen, werden demgegenüber entweder gar nicht oder sogar als Bedrohung der säkularen Ordnung wahrgenommen und unterliegen folglich entsprechenden Restriktionen (vgl. Asad 2003: 159f.). Asad schlägt deshalb ein anderes Verständnis dieser Zusammenhänge vor: Er begreift das Säkulare im Anschluss an Michel Foucaults Studien zur Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004) als eine eng mit dem Aufkommen des Konzepts des Nationalstaats verwobene Form des Regierens und Regulierens des Religiösen. Demnach ist das Säkulare also nicht einfach die zivilisierte Form des Religiösen, sondern ein mit Religion in Konkurrenz stehendes Set von Mechanismen der Ordnung von Gesellschaften. Säkularität führt somit nicht zu einer Marginalisierung von Religion, sondern das Religiöse wird durch die staatliche Kontrolle auf eine neue Weise zu formen versucht (vgl. Asad 2003: 5f.). Während seitens des Staates dem Einzelnen rechtliche Zugeständnisse hinsichtlich der freien Religionsausübung gemacht wurden und die Privatsphäre im Zuge dessen als schützenswert erachtet wurde, sorgte gleichzeitig ein komplexes Gefüge liberaler Regierungsweisen dafür, selbstverantwortliche und ethisch handelnde Personen zu schaffen. Die säkulare Matrix manifestiert sich dabei sowohl in der demokratischen Werteordnung als auch in der praktischen Lebensführung, der Wahrnehmung, den Emotionen und Körpern moderner Staatsbürger (vgl. Amir-Moazami 2016: 28). Die vermeintliche religiöse Neutralität des Staates basiert somit auf einem vielschichtigen Geflecht aus diskursiven und institutionellen Formen der Gouvernementalität, die Religionsfreiheit nicht lediglich garantieren, sondern gleichzeitig auch immer beschränken. In diesem Sinne sind politische und religiöse Sphären nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Auch die Trennung zwischen öffentlichem

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und privatem Raum habe sich in den europäischen Gesellschaften nicht linear vollzogen, wie Armando Salvatore festhält, sondern das Verhältnis zwischen Religion und Staat gleiche mehr einem »field of permanent and shifting tensions more than into a staple configuration of institutional and constitutional seperation« (Salvatore 2005: 431). Eine solche Perspektive ermöglicht eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise des globalen Wandels der Religion in der Moderne als die herkömmlichen Narrative des religionssoziologischen Diskurses. Denn neben dem Ineinandergreifen der vielschichtigen Prozesse und Einflusssphären findet auch die machtvolle Dimension der Prozesse in dieser Perspektive Berücksichtigung. Wie stark der religionssoziologische Diskurs selbst durch ein säkulares Selbstverständnis geprägt ist, zeigt sich auch darin, dass das um die Jahrtausendwende neu erwachte Interesse an Religion nicht zu einer umfassenden Revision des religionssoziologischen Diskurses geführt hat. Obwohl die These von der Wiederkehr der Religion von einigen Diskursteilnehmern mit dem Hinweis angezweifelt wurde, dass die anhaltende globale Vitalität von Religion aufgrund der u.a. durch die diskursive Dominanz der Säkularisierungsthese selbstproduzierten analytischen Engführungen nicht in den Blick geraten ist, ist eine Reflektion des analytischen Instrumentariums und der eigenen Vorgehensweise im religionssoziologischen Diskurs bisher ausgeblieben. Die Hinwendung zu neuen Betrachtungsweisen erhält gerade vor dem Hintergrund der Tatsache eine besondere Relevanz, dass sich auch in der Wiederkehrsemantik einmal mehr die anhaltende europäische Fokussierung des religionssoziologischen Diskurses manifestiert (vgl. Nehring 2012: 330). Religion wird in diesen Auseinandersetzungen nur dann zum Thema gemacht, sofern sie den Status Quo europäischer Gesellschaften in Frage stellt. Entsprechend mehren sich die Auseinandersetzungen mit den freikirchlichen Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten globalen Aufwind erhalten haben und auch in Europa zunehmenden Zuspruch erfahren (vgl. Fischer 2011; Lüddeckens/Wahltert 2010; Weiß 2008). Auch der Boom östlicher Spiritualität sowie die neue Lust am Pilgern findet vielseitige Beachtung (vgl. Knoblauch 2009; vgl. Gamper/ Reuter 2012; Kurrat/Heiser 2012). Noch größere Aufmerksamkeit finden jedoch religiöse Gruppen, die die säkulare Grundordnung europäischer Gesellschaften vermeintlich gefährden und als bedrohlich wahrgenommen werden (vgl. Nehring 2012: 330). Das gestiegene Interesse am religiösen Fundamentalismus und religiös motivierter Gewalt (vgl. Six/Riesebrodt/Haas 2004; Wichmann 2014; Kippenberg 2008) ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Wie im vorliegenden Band veranschaulicht wird, liegt auch der Auseinandersetzung mit Muslimen in Europa häufig die implizite Frage zugrunde, inwiefern die liberale Werteordnung durch die muslimische Praxis herausgefordert werde bzw. Muslim_innen sich in die demokratische Grundordnung

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integrieren ließen. Die normative Prägung des religionssoziologischen Diskurses tritt hier sehr deutlich zutage. Die wesentlich durch die enge diskursive Verknüpfung von Modernenarrativ und Religionsverständnis bedingte normative Ausrichtung der Analyseperspektiven wird zwar auch vereinzelt im religionssoziologischen Diskurs reflektiert und problematisiert. So konstatiert etwa Casanova: »Anstatt die gemeinsamen strukturellen Kontexte von moderner Staatsbildung, zwischenstaatlichen geopolitischen Konflikten, modernem Nationalismus und der politischen Mobilisierung ethno-kultureller und religiöser Identitäten zu sehen – Prozesse, die zentral für die moderne Geschichte Europas sind, die durch die europäische Kolonialexpansion globalisiert wurde –, scheinen die Europäer diese Konflikte lieber der ›Religion‹ zuzuschreiben – das heißt, dem religiösen Fundamentalismus, dem Fanatismus und der Intoleranz, die angeblich ›vormodernen‹ Religionen intrinsisch sind, ein atavistischer Rest, den moderne, säkulare, aufgeklärte Europäer zum Glück hinter sich gelassen haben. Man kann vermuten, dass die Funktion solch einer selektiv historischen Erinnerung darin besteht, die Vorstellung von den fortschrittlichen Errungenschaften der säkularen westlichen Moderne zu sichern, indem sie eine sich selbst bestätigende Rechtfertigung für die säkulare Trennung von Religion und Politik als Bedingung für moderne liberale demokratische Politik, für globalen Frieden und den Schutz der individuell privatisierten Religionsfreiheit bietet.« (Casanova 2009: 15f.)

Solche Reflektionen sind im religionssoziologischen Diskurs jedoch eher die Ausnahme. Auch Analyseperspektiven, die sich explizit einer globaleren Betrachtungsweise verschrieben haben, wie dies etwa die Forschungsgruppe um Monika Wohlrab-Sahr mit ihrem vergleichenden Ansatz der Multiple Secularities anstrebt, laufen Gefahr, den eurozentrischen Engführungen althergebrachter Analyseperspektiven verhaftet zu bleiben (vgl. Burchardt/Wohlrab-Sahr 2013). Indem der Forschungsverbund zu den Multiplen Säkularitäten an Shmuel Eisenstadts Konzept der Multiple Modernities anknüpft (vgl. Eisenstadt 2000), wird der imperiale geopolitische Kontext, in welchem es zu einer Multiplikation der Säkularitäten durch die Etablierung des Nationalstaats als Staatsform kam, häufig nicht berücksichtigt (vgl. Streicher 2016). Da Eisenstadt Webers kulturalistische Modernekonzeption lediglich vervielfältigt, spricht er den unterschiedlichen »Zivilisationen« zwar eine eigenständige Moderneentwicklung zu, übersieht dabei jedoch die globalgeschichtlichen Prozesse und machtvollen Verknüpfungen (vgl. auch Conrad/Randeria 2002: 16). Zudem wird mit einer solchen Konzeption von Säkularität nicht nur vorausgesetzt, dass Religion überall als eine eigenständige Sphäre zu identifizieren ist, darüber hinaus wird auch davon ausgegangen, dass sich eine Trennung von Religion und Politik in allen Gesellschaften finden lasse. Indem auch in den global ansetzenden Analyseperspektiven ein spezifischer theoretischer Zugriff auf die Moderneerzählung zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht wird, gelingt es

Welche Religion gilt als modern?

nicht, die Heterogenität und Einbindung der säkularen und religiösen Praxis in globaler Perspektive zur Kenntnis zu nehmen.

F a zit Anliegen dieses Beitrags war es nicht, das säkulare Selbstverständnis moderner Nationalstaaten bzw. eine entsprechende Gesellschaftsordnung an sich in Frage zu stellen. Mir ging es vielmehr darum, auf die analytischen Engführungen des religionssoziologischen Diskurses in Hinblick auf die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes Religion in der Gegenwartsgesellschaft hinzuweisen. Wie deutlich geworden sein sollte, nimmt die enge Einbindung religionssoziologischer Untersuchungen in das seit den Anfängen der Soziologie eurozentrisch geprägte Metanarrativ der Moderne einen entscheidenden Einfluss darauf, wie Religion gegenwärtig in der Soziologie thematisiert wird. Da die Narrative des religionssoziologischen Diskurses – das der gesellschaftlichen Differenzierung, der Säkularisierung, der Individualisierung und der Pluralisierung  – in erster Linie auf die Geschichte der christlichen Religion rekurrieren, wird jedoch häufig nicht nur ein spezifisches Religionsverständnis unreflektiert verallgemeinert, sofern es als Grundlage für ein universell gefasstes Religionsverständnis herangezogen wird. Indem diese Narrative durch ihre Einbindung in das Metanarrativ der Moderne zudem selbst stark durch ein säkulares Selbstverständnis geprägt sind, ist auch der Blick auf Religion in der modernen Gesellschaft häufig normativ verengt. Ein solches Verständnis führt dazu, dass sich die dominante Vorstellung von Religion als etwas Apartes, welches in der modernen Gesellschaft einzig der individuellen Wahl­ entscheidung obliegt, im religionssoziologischen Diskurs so beharrlich halten kann, obgleich ein solches Religionsverständnis weder auf alle Religionen zutrifft noch in europäischen Gesellschaften in der Einfachheit und Eindeutigkeit, die durch die Narrative suggeriert werden, vorzufinden ist. Die Hegemonie dieser Narrative im religionssoziologischen Diskurs führt dazu, dass die Vielschichtigkeit der modernen Religionsgeschichte sowie deren machtvolle Dimension viel zu selten wahrgenommen werden. Auch die Heterogenität moderner religiöser Erscheinungsformen gerät durch das Festhalten an diesen Narrativen nur unzureichend in den Blick. Dass gerade auch Ausformungen wie etwa der Hindu-Nationalismus in Indien Produkte der Moderne sind (vgl. Randeria 2007: 69), wird durch das Festhalten an der differenzierungstheoretischen Perspektive und einer entsprechenden Vorstellung über Ort und Stellenwert von Religion in der modernen Gesellschaft nicht wahrgenommen. Die Erklärungskraft dieser Narrative des religionssoziologischen Diskurses ist in Hinblick auf die Vielfältigkeit des Untersuchungsgegenstandes Religion in der modernen Gesellschaft sehr begrenzt. Entsprechend täten die

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Religionssoziolog_innen nicht nur gut daran, das eigene analytische Vorgehen zu reflektieren und die Erklärungskraft der überkommenen Narrative grundlegend in Frage zu stellen. Sie sollten auch ihre eigene diskursive Einbettung in das säkulare Selbstverständnis moderner Gesellschaften stärker reflektieren. Für diese beiden Aspekte liefern die Arbeiten der Postcolonial Studies, aber auch praxis- und diskurstheoretische Arbeiten zum Thema Religion fruchtbare Anknüpfungspunkte. Denn die in diesen Arbeiten gewählten Forschungszugänge verleihen weder der Einbindung religiöser Prozesse in das Metanarrativ der Moderne einen zentralen Stellenwert, noch stellen sie ihren Untersuchungen eine allgemeine Definition von Religion voran. Vielmehr gelingt es ihnen auch ohne solcherlei theoretische Abstraktionen, der geschichtlichen Verwobenheit und Dynamik religiöser Praktiken gerecht zu werden. Nur wenn die Religionssoziologinnen und -soziologen die gewohnten Pfade hinter sich lassen, kann es ihnen gelingen, die Komplexität und Vielfalt religiöser Erscheinungsformen in der Gegenwart zu erfassen.

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»Vom Standpunkt des Deutschtums«: Eine postkoloniale Kritik an Webers Theorie von Rasse und Ethnizität Manuela Boatcă

Anders als für viele andere Disziplinen ist der Rekurs auf eine kleine Anzahl von Klassikern des Faches für die heutige Soziologie immer noch zentral. Karl Marx, Max Weber und Émile Durkheim bilden einen fast unhinterfragten soziologischen Kanon, der auch im Hinblick auf gesellschaftliche Fragen des 21. Jahrhunderts immer wieder aufgerufen wird. Die sogenannten klassischen Ansätze sind jedoch unter bestimmten theoretischen und methodologischen Vorzeichen entwickelt worden und lassen sich somit nicht ohne Weiteres auf den gegenwärtigen Kontext übertragen. Zum einen hat die »historische Wahlverwandtschaft« (Kreckel 2006) zwischen dem sozioökonomischen Kontext der westeuropäischen Industriegesellschaft und der Herausbildung von Nationalstaaten in Westeuropa dazu geführt, dass die für die Arbeiten der Klassiker zentralen soziologischen Kategorien wie Klasse und die für ihren geopolitischen Kontext typischen sozialen Prozesse wie Klassenkampf, Proletarisierung und die soziale Mobilität im eigenen Land mehr Aufmerksamkeit erfahren haben als Kolonialismus, Sklavenhandel und die westeuropäische Emigration in die Amerikas (vgl. Boatcă 2016). Zum anderen hat die unterschiedliche Sichtbarkeit dazu geführt, dass westeuropäische Binnenprozesse im Vergleich zu europäischen Unternehmungen in Übersee im soziologischen Kanon überproportional vertreten waren. Im Fokus postkolonialer Kritik stehen deshalb seit einiger Zeit soziologische Konzeptualisierungen von Kapitalismus, Modernität und ökonomischer Entwicklung als westeuropäische Phänomene, die lediglich durch endogene Faktoren dieser Region, wie die Französische Revolution, die Aufklärung und die »industrielle Revolution«, entstehen konnten. Der Hauptvorwurf lautet, dass sozialwissenschaftliche Erklärungen exogene Faktoren wie koloniale Herrschaft und imperiale Ausbeutung systematisch ausblenden. Diese Ausblendung gilt als charakteristisch für die »Exklusionsgesten« (Connell 2007:

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46) metropolitaner Theorie oder als verantwortlich für das »Schweigen«, die »Abwesenheiten« (de Sousa Santos 2004: 14ff.) oder auch die »blinden Flecken« (Hesse 2007) des soziologischen Mainstreams. Vor diesem Hintergrund prägte der portugiesische Soziologe Boaventura de Sousa Santos (2004) den Begriff der »Soziologie der Abwesenheiten« als »ein Forschen, das darauf abzielt, zu erklären, dass das, was nicht existiert, genaugenommen aktiv als nicht-existent produziert wird« (de Sousa Santos 2004: 164). Als Gegenstück dazu fordert er eine »Soziologie des Aufkommens«, als »ein Forschen nach den Alternativen, die am Horizont konkreter Möglichkeiten enthalten sind« (Ebd: 173). Beide Varianten sind unabdingbar notwendig, um vergangene und gegenwärtige Erfahrungen der kolonialisierten Welt in die allgemeine Sozialtheorie einzuarbeiten und eine kollektive Zukunft zu gestalten. Postkoloniale Kritik hat soziologische Klassiker von Auguste Comte über Karl Marx, Émile Durkheim bis hin zu Max Weber kollektiv oder individuell vielfach Eurozentrismus, evolutionistischen Determinismus oder Ignoranz gegenüber nicht-westlichen Kontexten vorgeworfen. Die Kritik an einer westlichen Soziologie, die aktiv Abwesenheiten produziert, ist jedoch zuerst mit Verweis auf Max Webers These von der »Einzigartigkeit des Westens« formuliert worden (Hirst 1975, in: Zubaida 2005: 112). Bekanntermaßen begründet Weber (MWG I/18)1 diese These der westlichen Einzigartigkeit, indem er nicht-westlichen Gesellschaften, besonders China und Indien, aber auch islamisch geprägten Gesellschaften, zuvorderst einen Mangel attestiert: das Fehlen von spezifischen »okzidentalen« Charakteristika, die die Entwicklung des rationalen Kapitalismus im Westen ermöglicht hätten. Anstatt die klassische Soziologie als Ganzes oder die Arbeit eines klassischen Soziologen im Einzelnen anzuklagen, widmet sich der vorliegende Artikel aus einer postkolonialen Perspektive Max Webers Theorie von Ethnizität. Ziel ist es, die Abwesenheiten, blinden Flecken und Exklusionsgesten zu bestimmen, die Webers klassische Analyse in der Soziologie der Ungleichheit allgemein sowie der Soziologie der Rasse und Ethnizität im Besonderen hinterlassen hat. Mithilfe einer Rekonstruktion von Webers Konzeption von Rasse und Ethnizität werden dessen allgemeine Sozialtheorie sowie sein besonderer Blick auf rassische und ethnische Fragen miteinander verknüpft. Es wird gezeigt, dass beide historisch und politisch im kulturellen Kontext des imperialen Deutschlands sowie in Webers spezifischer nationaler Perspektive zu situieren sind. Die vorliegende Analyse deckt sich mit der inzwischen klassischen postkolonialen Kritik Edward Saids, nach der westliches akademisches Wissen lediglich als universal, allgemeingültig und nicht-situiert konstruiert werden kann, indem zugleich nicht-westliches Wissen als lokal, partikular und daher nicht-generalisierbar degradiert wird (vgl. Said 1978). Dieser Text versteht sich 1 | Max Weber Gesamtausgabe, im Folgenden MWG.

»Vom Standpunkt des Deutschtums«

insofern als Beitrag zu einer postkolonialen Soziologie und reiht sich damit in eine kontextspezifische, geschichtssensible Soziologie der Macht ein. Ihren Gegenstand bildet nicht die westliche Welt und ihre normativen Moderne­ narrative2, sondern die Verflechtungen von westlichen und nicht-westlichen Modernen, die an der Schnittstelle von militärischer Macht, Kapitalexpansion und anhaltend kolonialen Wissensstrukturen auftreten (vgl. Boatcă/Costa 2010: 30).3

V or annahmen : M odernität als moderner westlicher R ationalismus Webers Sichtweisen auf Ethnizität, Rasse und Klasse sind eng verbunden mit einer umfassenderen Vorstellung vom Aufstieg der modernen Welt, statt als Theorie für sich alleine zu stehen. Jegliche Analyse seines Ansatzes bezüglich Rasse und Ethnizität bedarf daher zumindest eines flüchtigen Blickes auf Webers Theorie der Moderne. Obwohl Weber großen Wert auf die Idee von Moderne als Resultat einer Reihe von spezifischen westlichen Errungenschaften legt, verwendet er selbst den Begriff als solchen an keiner Stelle. Neben Begriffen wie »der moderne Westen«, »die moderne europäische Kultur« und besonders »moderner Rationalismus«, die er zur Beschreibung der modernen Epoche gebraucht, stehen »moderner Kapitalismus« und »das moderne kapitalistische Unternehmen« häufig stellvertretend für Moderne. Anders als bei Marx gilt Webers Hauptaugenmerk jedoch nicht dem Kapitalismus an sich, sondern der Einzigartigkeit des Westens und der Quelle dieser Einzigartigkeit, wobei der Kapitalismus lediglich einen Aspekt unter vielen ausmacht. Zwar erkennt Weber an, dass wissenschaftliche Forschung auch außerhalb der westlichen Welt existiert und anspruchsvolle Wissensproduktion wie islamische Theologie, chinesische Historiographie, babylonische Astronomie oder indische Medizin hervorgebracht hat. Dennoch gilt für ihn die systematische rationale Wissenschaft als dem Westen eigen. Diese systematische rationale Wissenschaft lasse sich nach Weber bis zum »Hellenischen Geist«, also bis ins antike Griechenland zurückverfolgen (MWG I/18: 101). Seiner Ansicht nach ist eine Reihe von Innovationen in Musik, Architektur und Kunst, wie etwa der rationale Gebrauch linearer und räumlicher Perspektive in der Malerei, außerhalb des Westens unbekannt. Gleiches gilt für die »rationale und systematische Organisation entlang wissenschaftlicher Disziplinen«, wie sie in 2 | Siehe hierzu auch Anna Daniels Beitrag in diesem Band. 3 | Für eine Soziologie der geteilten Geschichten von verflochtenen Modernen siehe Randeria (1999), Randeria/Fuchs/Linkenbach (2004) oder auch Bhambra (2007), Connell (2007) und Go (2009).

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˘ Manuela Boatca westlichen Universitäten vorzufinden ist, oder für die »Organisation von spezifisch ausgebildeten Beamten«, wie sie der moderne westliche Staat hervorgebracht hat (ebd. 55). Anderswo seien – wenn überhaupt – lediglich Vorläufer dieser Errungenschaften zu finden. So hätten sich außerhalb des Westens nur »rudimentäre Entwicklungen« des Staates als politische Institution herausgebildet, die auf Basis von »einer rational beschlossenen ›Verwaltung‹ und rational begründetem Recht« (ebd.) operierten. Die Singularität des Westens bei all diesen Aspekten betonend, schreibt Weber in seiner Wirtschaftsgeschichte: »Nur der Okzident kennt einen Staat im modernen Sinn mit gesatzter Verfassung, Fachbeamtentum und Staatsbürgerrecht; Ansätze dazu in der Antike und im Orient sind nicht zur vollen Entwicklung gelangt. Nur der Okzident kennt ein rationales Recht, das von Juristen geschaffen, rational interpretiert und angewendet wird. Nur im Okzident findet sich der Begriff des Bürgers (civis romanus, citoyen, bourgeois), weil es auch nur im Okzident eine Stadt gibt im spezifischen Sinne des Wortes.« (Weber 2011: 281)

Aus Webers Sicht gilt das Gleiche für den Kapitalismus. Auch das kapitalistische Unternehmen stellt für ihn eine universelle Erscheinung dar, die sich in allen Weltzivilisationen vom antiken China, Indien und Ägypten über das mediterrane und mittelalterliche Europa vorfindet. Dennoch begründet sich für Weber allein der moderne westliche Kapitalismus durch »die rational-kapitalistische Organisation von [formell]freier Arbeit« (MWG I/18 2016: 110), die in anderen Regionen der Welt entweder fehlt oder lediglich in »vorentwickelten Stufen« vorhanden ist. Laut Weber beinhaltet die kapitalistisch-ökonomische Handlung im Allgemeinen, sprich der universelle Kapitalismus, nicht nur das Streben nach Profit, sondern er »[ruht] auf einer Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tauschchancen […]: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also« (ebd. 106)4. In der Praxis jedoch macht er die Kapitalisten verantwortlich für die Finanzierung der »Kriege und des Seeraubes, für Lieferungen und Bauten aller Art, bei überseeischer Politik als Kolonialunternehmer, als Plantagenerwerber und Betreiber mit Sklaven oder direkt oder indirekt gepreßten Arbeitern, für Domänen-, Amts- und vor allem: für Steuerpacht, für die Finanzierung von Parteichefs zum Zwecke von Wahlen und von Kondottieren zum Zweck von Bürgerkriegen und schließlich: als ›Spekulant‹ in geldwerten Chancen aller Art.« (Ebd. 109)

Weber nennt solche Unternehmer »Abenteuerkapitalisten« und begreift sie als die Hauptakteure des »fördernden, spekulativen, kolonialen und […] modernen

4 | Falls nicht anders vermerkt, stammen die Hervorhebungen aus Webers Originaltext.

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Finanzkapitalismus« (ebd.), sprich von kapitalistischen Unternehmungen mit einer irrationalen oder spekulativen Natur oder einem gewaltvollen Charakter. Weber behauptet, der Einsatz von erzwungener Arbeit durch solche Kapitalisten, ob in Form von Sklaverei, Leibeigenschaft, Heimarbeit oder Tagelöhnertum, ermögliche im Vergleich zur freien industriellen Arbeit im Westen lediglich einen sehr geringen Grad an rationaler Arbeitsorganisation. Obwohl Weber anerkennt, dass moderner Kapitalismus Seite an Seite mit sogenanntem Abenteuerkapitalismus entstanden ist, betrachtet er ersteren als einen völlig anderen Typus. Dieser zeichne sich aus durch eine »an den Chancen des Gütermarktes, nicht an gewaltpolitischen oder an irrationalen Spekulationschancen orientierte, rationale Betriebsorganisation« (ebd. 111). Mit solchen Argumenten trennt Weber westlichen Kapitalismus deutlich von dem westeuropäischen Projekt kolonialer Expansion und entkoppelt auf diese Weise schlussendlich auch die Entstehung der Moderne von der Geschichte des Kolonialismus. Obwohl Weber die Entwicklung der Moderne auf die Entstehung des industriellen Kapitalismus zurückführt, erklärt er die Einzigartigkeit des Westens nicht mit dem Kapitalismus als solchem. Eher möchte er den Ursprung der westlichen Mittelschicht und ihrer besonderen Wirtschaftsethik aufzeigen, die seiner Ansicht nach allein im Westen durch eine rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung unterstützt wird (vgl. MWG I/18: 115). Folglich besteht laut Weber der gemeinsame Nenner von im Westen auftretenden, einzigartigen modernen Technologieentwicklungen, Staatsbildungsprozessen, kapitalistischer Organisation, berechenbarem Gesetz und Verwaltung sowie Arbeitsethik in einem spezifischen Rationalismus, der die westliche Zivilisation als Ganzes charakterisiert. Im Gegensatz zum irrationalen und spekulativen Kapitalismus sowie zur feudalen Ökonomie ist für Weber einzig der moderne Kapitalismus durch ein Maximum an Rationalität, Effizienz und das systematische, objektive Streben nach Gewinn gekennzeichnet (vgl. MWG I/18: 106). Zugleich geht damit jedoch eine zunehmende De-Personalisierung und Distanzierung von ethischen Normen und gemeinnützigen Orientierungen einher, die mit verstärkter Bürokratisierung stetig voranschreiten.5 5 | Dennoch hofft Weber, dass die soziale Dynamik, verinnerlicht durch die Logik vom Marktwettbewerb im Kapitalismus, die Tendenzen der Bürokratisierung abschwächen könnte. Dies sei wiederum schwieriger im Sozialismus, der seinen eigenen noch größeren bürokratischen Apparat hervorbringt und damit den Arbeiter unter die »Diktatur des Beamten« (Weber 1994: 292) stellt. Die Folge kann laut Weber das Auftreten einer »geschlossenen Kaste« von Funktionären, einer vollkommen rationalen »organischen Sozialschichtung« und sozialer Verknöcherung sein, zumal »staatliche Bürokratie alleine regieren würde, wenn privater Kapitalismus eliminiert werde« (Weber 1994: 157).

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˘ Manuela Boatca Webers These der »Einzigartigkeit des Westens« ist ein Paradebeispiel dafür, wie in Modernitätsentwürfen aktiv Abwesenheiten produziert werden, indem koloniale und imperiale Verflechtungen systematisch ausgeblendet werden. Die Monopolisierung von Begriffen wie Modernität, Rationalität und Kapitalismus – oder dessen, was Aníbal Quijano als »das europäische Patent auf Modernität« bezeichnet (Quijano 2000: 543)  – veranlasst postkoloniale Kritiker_innen, danach zu fragen, wie das Denken von klassischen europäischen Soziolog_innen mit dem Entstehungsort verbunden ist bzw. wie es aus partikularen, intellektuellen und historischen Traditionen abgeleitet wird und keinesfalls universell gültige, transhistorische Erfahrungen reflektiert (vgl. Chakrabarty 2007: xiii; siehe auch Mignolo 2000).

E ine universelle Theorie von R asse und E thnizität Die Annahme, dass europäisches Denken universell gültig sei, hat Weber die Kritik eingebracht (jedoch nicht so sehr wie Marx), den Verlauf des sozialen Wandels falsch vorausgesagt zu haben. So kam es weder zur massiven Bürokratisierung noch zur Herrschaft formaler Rationalität oder zur sozialen Versteinerung, wie es Webers Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus nahelegte (vgl. Kalberg 2005: 37). Auch Webers Konzeptualisierung von Rasse und Ethnizität als Stände, die mit einer modernen, zunehmend auf Klasse basierenden Selbstidentifizierung verschwinden würden, wird häufig als eine falsche Prognose betrachtet. Die Quelle dieser Interpretation besteht im Wesentlichen aus dem Kapitel »Ethnische Gruppen« der englischen Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft, von der lange angenommen wurde, dass sie Webers Perspektive auf Fragen von Ethnizität und Rasse pointiert repräsentiere.6 Obwohl das Kapitel einem englischsprachigen Publikum erst sehr viel später als Webers Religionssoziologie (besonders die Protestantische Ethik) zugänglich gemacht wurde und es über eine lange Zeitspanne weit weniger Aufmerksamkeit erhielt, hinterließ es dennoch merkliche Spuren in der Soziologie sowie der Sozialanthropologie der Ethnizität und Rasse des 20. Jahrhunderts (vgl. Fenton 2003: 62). Bekanntlich sind es für Weber weder Rasse noch ethnische Gemeinsamkeiten an sich, die Gemeinschaft konstituieren. Dennoch können beide Vergemeinschaftung fördern, wenn sie subjektiv empfunden werden  – als

6 | Im Zuge jüngerer Forschungen zum Manuskript, das von Marianne Weber editiert und als Wirtschaft und Gesellschaft publiziert wurde, wird jedoch argumentiert, dass Weber einer Publikation vermutlich nicht zugestimmt hätte (vgl. Banton 2007; Mommsen 2005).

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gemeinsame Merkmale geteilter physischer Eigenschaften, Sitten und Bräuche oder einer geteilten Vergangenheit, inbegriffen »Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung«.7 Selbst ohne eine tatsächliche gemeinsame Abstammung könne der Glaube an die Gruppenzugehörigkeit basierend auf Rasse oder ethnischer Gemeinsamkeit zur Bildung politischer Gemeinschaften führen und sogar noch nach dem Zerfallen einer solchen Gemeinschaft anhalten. Ebenso sei das Auftreten oder Ausbleiben von »Mischehen« zwischen unterschiedlichen »rassischen« oder »ethnischen« Gruppen in den meisten Fällen nicht auf biologische Unterschiede, sondern auf soziale Schließung entlang »ethnischer Ehre« zurückzuführen, die für Weber eng mit der der ständischen Ehre verwandt ist: »Die Reinzüchtung anthropologischer Typen ist sehr oft sekundäre Folge derartiger, wie immer bedingter Abschließungen, bei Sekten (Indien) sowohl wie bei ›Pariavölkern‹, d.h. Gemeinschaften, welche zugleich sozial verachtet und dennoch um einer unentbehrlichen, von ihnen monopolisierten Sondertechnik willen als Nachbarn gesucht werden.« (MWG I/22-1 2001: 170) Die Ähnlichkeiten zwischen der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen wie den »Pariavölkern« und zu rassischen Gruppen wie den »Schwarzen« in den USA bestehen für Weber darin, dass Gruppenbildung im Wesentlichen auf gemeinsamen subjektiven Vorstellungen beruht und weniger auf tatsächlichen Unterschieden. Weber unterscheidet entsprechend lediglich an einer Stelle zwischen Rasse und ethnischer Gruppe, wenn er bemerkt, dass übermäßig heterogene »rassische Eigenschaften« von Gruppenmitgliedern zu einer effektiven Beschränkung im Glauben an eine gemeinsame Ethnizität führen können. Unter Rekurs auf die »one drop rule« in den USA betont er stattdessen die Bedeutung ständischer Schichtung durch Ehre, die er als Basis ethnischer und rassischer Gruppenbildung betrachtet: »Der winzigste Tropfen Negerblut disqualifiziert in den Vereinigten Staaten unbedingt, während sehr beträchtliche Einschüsse indianischen Blutes es nicht tun. Neben dem zweifellos mitspielenden, ästhetisch gegenüber den Indianern noch fremdartigeren

7 | Webers Definition von ethnischer Gruppe lautet demnach: »Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, dann, wenn sie nicht ›Sippen‹ darstellen, ›ethnische‹ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht. Von der ›Sippengemeinschaft‹ scheidet sich die ›ethnische‹ Gemeinsamkeit dadurch, daß sie eben an sich nur (geglaubte) ›Gemeinsamkeit‹, nicht aber ›Gemeinschaft‹ ist, wie die Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört.« (MWG I/22-1 2001: 174f.)

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Manuela Boatca ˘ Gepräge der Vollblutneger wirkt dabei ohne alle Frage die Erinnerung mit, daß es sich bei den Negern im Gegensatz zu den Indianern um ein Sklavenvolk, also eine ständisch disqualifizierte Gruppe handelt. Ständische, also anerzogene Unterschiede und namentlich Unterschiede der ›Bildung‹ (im weitesten Sinn des Wortes) sind ein weit stärkeres Hemmnis des konventionellen Konnubium als Unterschiede des anthropologischen Typus. Der bloße anthropologische Unterschied entscheidet, von den extremen Fällen ästhetischer Abstoßung (sic!) abgesehen, durchweg nur in geringem Maße.« (Ebd. 171)

Trotz dieser und anderer Referenzen zum Einfluss des ehemaligen Sklavenstatus auf die Position des Individuums in der modernen Ständehierarchie (d.h. hier der rassischen), spielen die Zusammenhänge von Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei für Webers Konzeptualisierung von rassischen und ethnischen Gemeinschaften keine Rolle. Stattdessen vertritt er die Vorstellung, dass Erinnerungen an Kolonisation und Migration Gruppenbildungen zwar unterstützen; explizit gemeint sind damit jedoch entweder die Perspektive und Erfahrung der Kolonisten oder Prozesse freiwilliger Migration, die nicht zum Ausschluss aus der Ständehierarchie geführt haben, wie etwa die Migration von Deutschen in die USA. Die geteilte Erfahrung, kolonisiert oder versklavt worden zu sein, kommt dabei nicht zum Tragen. Webers Beispiele zeugen demnach lediglich von einer Perspektive im Machtgefälle, das die Ständehierarchie hervorruft: von der weißen, europäischen, männlichen Erfahrung. Sein Entwurf der Gruppenbildung durch Erinnerungen an Kolonisation und Migration bleibt demnach völlig entkoppelt von seinem Argument, dass »rassenmäßige […] Absonderung« (ebd. 168), d.h. Rassentrennung in den USA, durch die Neigung Weißer bestimmt sei, soziale Macht und sozialen Status zu monopolisieren (vgl. Weber 1920: 386). Indem er Beispiele unterschiedlicher historischer Kontexte heranzieht, versucht Weber entsprechend eine universell gültige Definition von ethnischer Differenzierung als Variante der ständischen Schichtung zu begründen, anstatt eine historisch begründete Analyse der Entstehung spezifischer rassischer und ethnischer Gruppen zu liefern. Dieser Ansatz deckt sich mit seiner Herabwürdigung von Versklavten zu einem Stand von geringer sozialer Ehre (und nicht zur unteren Klasse) sowie mit seiner Behandlung von ethnischen Gruppen als charakteristisch für Gesellschaften mit einem niedrigen Grad an Rationalisierung, im Gegensatz zu den rational organisierten und potenziell klassenbasierten Gesellschaften des Westens: Demnach betrachtet Weber »[d]iese ›künstliche‹ Art der Entstehung eines ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens« (MWG I/22-1 2001: 175), d.h. Gruppenzugehörigkeit basierend auf gemeinsamen Vorfahren – im griechischen Stadtstaat als »ein Symptom für den im ganzen geringen Grad der Rationalisierung des hellenischen Gemeinschaftslebens überhaupt« (ebd. 176). Demgegenüber gilt für ihn die lose Beziehung zwischen sozialer

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Hierarchisierung und ethnischen Ansprüchen im antiken Rom als »Symptom […] größerer Rationalisierung« (ebd.). Entsprechend gehört die Vorstellung einer gemeinsamen Ethnizität, zusammen mit irrationalem (oder weniger rationalem) sozialem Handeln und der Ständeordnung, zu traditionellen gesellschaftlichen Arrangements und Autoritätsformen. Webers Definition von Ethnizität steht demnach im Einklang mit seiner Theorie des sozialen Handelns und mit seiner Typologie von Herrschaftsformen: Ethnische Gruppen beteiligen sich primär aufgrund ihrer Zugehörigkeitsgefühle am Gemeinschaftshandeln und sind charakteristisch für die Ständeordnung unter traditioneller Herrschaft. Klassenangehörige beteiligen sich dagegen aufgrund rationaler ökonomischer Interessen am Gesellschaftshandeln und sind typisch für Formen rationaler Herrschaft (vgl. Jackson 1982/1983: 10f.). Obwohl Weber charismatische Herrschaft auf der Basis von charismatischem Handeln im Gegensatz zu traditionellen und rationalen Herrschaftstypen definiert, betont er, dass Rationalisierungsprozesse von Charisma entweder zu Amtscharisma in der rationalen Ordnung oder zu Erbcharisma in der traditionellen Ordnung führen. Das führt zu einem Gegensatz zwischen Legitimität durch das Innehaben eines Amtes und Legitimität durch den Glauben an die Bedeutung von Blutsbanden (vgl. Weber 1920: 249ff.). Während es das Amtscharisma ist, das die Bürokratisierung der katholischen Kirche durch die Trennung von Amtsmacht und individueller Qualifikation des Priesters ermöglicht, gelten für Weber das indische Kastensystem, der japanische Abstammungsstaat vor der Bürokratisierung sowie China vor der Rationalisierung in territoriale Staaten als idealtypisch für das Erbcharisma. All diese Beispiele sollen zeigen, wie ein Qualifikationsprinzip qua Leistung durch ein Qualifikationsprinzip qua Herkunft ersetzt wird (vgl. ebd. 253f.). Zwar bestreitet Weber wiederholt, ein Stufenmodell gesellschaftlicher Entwicklung im Hinblick auf die Art der sozialen Schichtung, auf Typen sozialen Handelns oder auf Formen legitimer Herrschaft vorzuschlagen. Dennoch sind es immer wieder tribale und Abstammungsstaaten und deren zugehörige ethnische Fiktionen, gemeinschaftliches soziales Handeln sowie traditionelle oder erbcharismatische Herrschaftsformen, die Weber als Beispiele für vorrationale, vormoderne soziale Kontexte heranzieht. Sie alle werden dadurch mit jenen Aspekten von Webers Theorie assoziiert, die »die Vergangenheit betonen« (Jackson 1982/1983: 11) und die Moderne noch nicht erreicht haben. Aus diesen sich wiederholenden Beispielen Webers werden Modernisierungstheoretiker_innen später einen impliziten Widerspruch zwischen moderner okzidentaler Rationalität und deren vormodernen Gegenstücken innerhalb und außerhalb der westlichen Welt ableiten. Im Anschluss wird daraus eine klare Dichotomie zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften entwickelt, die eindeutig auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen und in unterschiedlichen Epochen verortet

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˘ Manuela Boatca sind. Auf diese Weise wird die aktive Produktion des Nicht-Westens als Mangel an Modernität immer wieder aufs Neue fortgeschrieben und in eine »zeitgemäße« Sprache übersetzt.

D ie » polnische F r age «, die »N egerfr age « und die N ation Webers Analyse von ethnischen Gemeinschaften wurde einerseits dafür gelobt, biologischen Erklärungen ethnischer Herkunft widersprochen und damit spätere Arbeiten zu Rasse und Ethnizität als soziale Konstrukte vorweggenommen zu haben. Andererseits wurde sie aber auch kritisiert, die historischen Ursprünge von Gruppenbildungen nur unzureichend berücksichtigt und die Bedeutung multipler Gruppenzugehörigkeiten für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft missachtet zu haben (vgl. Banton 2007). Die Kritik hielt Sozialwissenschaftler_innen jedoch nicht davon ab, den Text als »kanonische Analyse von Ethnizität« (Scaff 1998: 89; Stender 2000: 76) für weitere Forschungen zugrunde zu legen.8 Wie einer der frühesten Überblicke zu Webers Ansichten zu Rasse und Ethnizität überzeugend zeigt, ist das entsprechende Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft trotz seiner Prominenz weit davon entfernt, diese Themen erschöpfend zu behandeln (vgl. Manasse 1947). Die meisten Arbeiten aus der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendieren jedoch dazu, die Mehrheit von Webers Aussagen zum Thema zu ignorieren und sich stattdessen auf seine äußerst knappen Ausführungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu konzentrieren. Es ist demnach keinesfalls selbsterklärend, dass der Eintrag zu »ethnischen Gruppen« im Max Weber Dictionary auf diametral unterschiedliche Betrachtungen in den Arbeiten von Weber verweist: »Während Weber eine Haltung gegen Antisemitismus und rassische Vorurteile im Allgemeinen einnimmt, lassen sich in seinen frühen sozialwissenschaftlichen Schriften zur Rolle der Polen in Deutschland regelmäßig ethnische Verunglimpfungen finden« (Swedberg 2005: 92). Es stellt sich folglich die Frage, wie sich Webers Ansichten in

8 | Der Begriff »Ethnizität«, der zur damaligen Zeit noch nicht existierte, wird von Weber selbst weder geprägt noch verwendet. Er bezieht sich stattdessen auf »ethnische Gemeinsamkeit«, »ethnische Gruppen« und »ethnische Gemeinschaften« in ihrer oben beschriebenen Bedeutung. In der englischen Ausgabe seines Kapitels zu ethnischen und rassischen Gruppen, in den späten 1960er-Jahren erst veröffentlicht, werden diese Begriffe dennoch mit »Ethnizität« übersetzt. Dies führt nicht nur zu Verwirrungen in der entsprechenden Begriffsgeschichte, sondern verdeckt zusätzlich Webers viel differenziertere Behandlung des Phänomens. Siehe dazu auch den Eintrag zu »Ethnizität« bei Swedberg, 2005, S. 92.

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diesem Kapitel mit den ethnischen Verunglimpfungen seiner früheren Arbeiten vereinbaren lassen. Es geht vor allem um die folgenden richtungsweisenden Momente: In den 1890er-Jahren legt Weber eine Reihe von Aufsätzen zur Agrarwirtschaft des deutschen Ostens vor. Darin beschreibt er die wachsende Zuwanderung katholisch-polnischer Arbeiter_innen nach Westpreußen, die er als den Niedergang der weiter entwickelten protestantischen Zivilisation deutscher Bauernschaft angesichts der physisch und geistig minderwertigen »slawischen Rasse« (Weber 1980b: 6) ansieht. In seinen Schlussfolgerungen plädiert er für eine Schließung der Staatsgrenzen für Zuwanderung aus dem Osten, um die deutsche Kultur zu erhalten (vgl. Weber 1980a). Kurz nach der Fertigstellung des ersten Teils von Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus reist Weber 1904 in die USA, um über ländliche Gemeinden und moderne Wirtschaftsentwicklung vorzutragen. Sein Argument dabei lautet, dass, neben den ökonomischen Widersprüchen, die der fortgeschrittene Kapitalismus hervorgerufen hat, die dringlichsten Probleme des Südens der USA »essentiell ethnische« (4/8) seien. Schließlich fordert Max Weber im Jahr 1910 Alfred Ploetz und dessen biologistisch-deterministische Rassentheorie auf dem Treffen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt heraus. Am Beispiel der USA argumentiert er, dass Rassenbeziehungen nicht durch angeborene rassische Eigenarten erklärt werden können, sondern ausschließlich durch kulturelle und ökonomische Faktoren. Biograph_innen und Rezipient_innen Webers lösen die Widersprüche zwischen seinen frühen und seinen späten Aussagen auf, indem sie sie als Entwicklung vom antipolnischen Nationalismus in den 1890er-Jahren hin zum liberalen und sozialpluralistischen Antirassismus in den frühen 1900er-Jahren deuten (vgl. Manasse 1947; Tribe 1980; Kalberg 2005: 294f.). Ein besonderer Einfluss auf Webers Soziologie von Klasse, Stand und Kaste wird seiner Bekanntschaft mit W.E.B. Du Bois im Zuge seiner USA-Reise sowie dem nachfolgenden Austausch zwischen den beiden zugeschrieben, der in der Publikation eines Artikels von Du Bois zu rassischen Vorurteilen als »neuer Geist der Kaste« im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik mündet (Manasse 1947: 200; Scaff 1998: 89). Einige Autor_innen gehen sogar von einer »grundlegenden Kehrtwende« in Webers politischer Haltung gegenüber Polen aus und verknüpfen diese mit dem Abrücken von seinen frühen sozialdarwinistischen Positionen und seiner Betrachtung rassischer Unterschiede (Mommsen 1984: 53; Roth 1993, 2000: 129; Vernik 2011: 178). In Japan, wo die Max-Weber-Forschung besonders produktiv ist, wird ihm sogar ein vollständiger Gesinnungswandel attestiert – von einem rassistischen Weber der Machtpolitik zu einem humanistischen, nüchternen Weber (vgl. Konno 2004: 22). Im Gegensatz dazu machen immer mehr Arbeiten darauf aufmerksam, dass Webers Denken in dieser Frage nur eine Akzentverlagerung erfahren hat: Von

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einem speziell antipolnischen Nationalismus in den frühen Schriften, bei dem Religion als Stellvertreter für Rasse dient, hin zu einem kulturellen und ökonomischen Rassismus in seinem späteren Werk, der als komparative Soziologie der Religion verhüllt ist und sich vor allem auf Indien und China bezieht (vgl. Abraham 1991; Zimmermann 2006: 2010; zu China siehe Steinmetz 2010). Da die Arbeiten, die sich mit der Frage von Rasse und Ethnizität bei Weber beschäftigen, dünn gesät sind und zugleich eine breite Spanne an Interpretationen anbieten, ergibt sich zu seinen Ansichten hierzu ein ambivalentes Bild. Der Artikel »Max Weber and Race« (Manasse 1947) von Ernst Moritz Manasse aus dem Jahr 1947 blieb über viele Jahrzehnte der zentrale Referenzpunkt zum Thema. Darin widmet sich Manasse dem kompletten Spektrum an Auseinandersetzungen mit Rassenfragen in Webers Arbeit, von seinen frühen Betrachtungen der »polnischen Frage« über die Aussagen zur »Negerfrage« um die Jahrhundertwende bis zur Diskussion über das indische Kastensystem und die Entwicklung des nachexilischen Judentums. Erst 1971 beklagte Benjamin Nelson in der Einleitung zur ersten englischsprachigen Übersetzung von Webers Debatte mit Alfred Ploetz auf dem Treffen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1910, dass Webers Diskussion zum Beitrag der Soziologie bei der Gestaltung öffentlicher Politik »erstaunlicherweise […] generell ignoriert« würden (Weber 1971: 30). Solche Aussagen treffen jedoch nur auf den US-amerikanischen Kontext zu: In Deutschland rief das Buch Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920 (vgl. Mommsen 1974) von Wolfgang J. Mommsen aus dem Jahr 1959 eine lebendige und langanhaltende Kontroverse zum Verhältnis von Webers Soziologie und seiner Machtpolitik hervor. In dem Buch argumentierte Mommsen, dass Weber gleichzeitig ein glühender Liberaler und ein extremer Nationalist gewesen sei und zudem imperiale Ansichten gehegt habe, die faschistischer Ideologie gefährlich nahe lägen. In England schaffte es das ebenso vernichtende Buch mit dem Titel Max Weber and German Politics: A Study in Political Sociology (1944) von Jacob Peter Mayer nicht, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit derart auf sich zu ziehen, wie es Mommsen innerhalb und außerhalb Deutschlands gelingen konnte. Das Buch – bezeichnenderweise niemals ins Deutsche übersetzt  – beschuldigte Weber theoretischer und ideologischer Beiträge zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Als Mommsens Buch endlich in englischer Sprache (vgl. Mommsen 1984) und mit einem neuen Vorwort erschien, in dem die Verbindungen zum Faschismus abgeschwächt wurden, war es in den USA gängige Vorstellung, Webers Politiken entweder als belanglos für seine Soziologie darzustellen oder als Ausdruck einer »Art von anti-ideologischem anglo-amerikanischen Liberalismus« (Turner 1986: 49). Erst in neueren Arbeiten aus dem Feld der Racial and Ethnic Studies oder der postkolonialen Studien werden Mommsens Thesen zu Max Webers politischer Haltung systematisch in Verknüpfung mit dessen Ansichten zu Rassenfragen gelesen. In den 1980er-Jahren behauptet Gary Abraham, dass

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die antipluralistischen und assimilationistischen Einstellungen in Webers Schriften zu den polnischen Arbeiter_innen in seiner späteren Behandlung der deutschen Katholiken und der Juden wiederholt würden und als solche nicht zufällig, sondern zentral für das Verständnis seines gesamten Denkens stünden (vgl. Abraham 1991). In jüngerer Zeit prangert Andrew Zimmerman »die Verdrängungsleistung« (work of repression) an, die Soziolog_innen aufbringen, um Webers Denken als Stütze für liberal-politische und sozialwissenschaftliche Positionen zu mobilisieren. Zimmermann fordert hingegen eine »Dekolonisierung« von Webers Denken und eine detaillierte Analyse seines Ansatzes zu Rasse und Arbeit und seiner Theorie des Empire, die Zimmermann als Wegbereiter für gegenwärtige Modelle der neuen Rechten begreift (vgl. Zimmermann 2006: 53). Eine postkoloniale Kritik an Webers Auseinandersetzungen mit Rasse und Ethnizität steht im Einklang mit den letztgenannten Ansätzen, zumal sie offenlegt, wie dessen Analysen der polnischen Arbeiterschaft sowie der Rassenbeziehungen in den USA durch Webers eigenen geopolitischen und historischen Standort im Deutschland der Jahrhundertwende und durch seine Zugehörigkeit zur oberen Mittelschicht9 gespeist werden. Weber selbst bezeichnet seine Perspektive als »Standpunkt des Deutschtums«. Mein eigener Beitrag zu dem von Zimmermann u.a. vorgeschlagenen Projekt, »Weber zu dekolonisieren«, besteht darin, aufzuzeigen, dass das, was als eine klassische Analyse von Rasse und Ethnizität gilt, weder universell gültige Sozialtheorie noch umstandslos generalisierbares Wissen darstellt, sondern ein nationalpolitischer, partikularer Standpunkt ist. Damit eröffnet sich eine Möglichkeit, die anfangs erwähnte »Soziologie des Aufkommens« voranzutreiben und das Spektrum alternativer Wissensformen und Perspektiven zu diesen Fragen auszubauen.

D ie 1890 er -J ahre : »D as P olentum « verdr ängen Webers Typologie von Ungleichheitsverhältnissen entstand, wie ein scharfsinniger Kritiker betonte, zu einer Zeit, als der Aufstieg des Deutschen Reiches viele dieser Verhältnisse obsolet gemacht hatte (vgl. Wenger 1980: 373). Die mittelalterlichen Stände waren dabei zu verschwinden; die Industrialisierung löste eine beträchtliche Arbeitsmigration aus dem europäischen Osten aus, während die lokale Arbeiterschaft zunehmend proletarisiert wurde. Ein wachsendes Bewusstsein für »das Andere«, ausgelöst durch den europäischen Kolonialismus in Afrika, wurde in die berüchtigte anthropologische

9 | Zu den Schwierigkeiten, Webers Klassenhabitus zwischen deutschem Bürgertum und der deutschen Intelligenzija festzumachen, siehe Steinmetz (2010: 243f.).

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˘ Manuela Boatca Unterscheidung zwischen europäischen Kulturvölkern und kolonisierten Naturvölkern übertragen und mit unterschiedlichen Menschlichkeitsgraden assoziiert. Der wachsende Antisemitismus spiegelte sich in der vermeintlich wissenschaftlichen Untermauerung von Rassenkonzepten für die deutsche Nationalidentität wider, die als verschieden von einer jüdischen Rasse galt (vgl. Zimmerman 2001: 242f.). Nach der Einigung Deutschlands im Jahr 1871 wurden antikatholische Stimmungen in den Bismarck’schen Kulturkampf-Gesetzen institutiona­lisiert. Sie zielten darauf ab, die Macht der katholischen Kirche zu beschränken und Deutschland als säkularen Staat zu definieren. Infolgedessen wurde die zunehmende Präsenz katholischer Polen im Osten Deutschlands durch die staatlich angeordnete Ansiedlung deutscher Bauern in dieser Region konterkariert. Der konservative Verein für Sozialpolitik, dem Weber 1888 beitrat, hatte bis dahin die Umsiedlungsgesetze des preußischen Staates lediglich im Hinblick auf Klassenfragen unterstützt, d.h. als Mittel, um die voranschreitende Proletarisierung deutscher Bauern und eine drohende Revolution zu verhindern. Webers Arbeiten dienten dem Verein als Grundlage, um bei den Diskussionen um Ostpreußen ethnische und kulturelle Erklärungen zu bemühen. Gleichwohl warnt Weber vor »der Gefahr der Assimilation« und dies nicht aus ökonomischen, sondern aus Gründen der »Staatsraison« (Zimmerman 2006: 61; ebd. 2010: 100ff.). Diese Ansichten sind auch in anderen Arbeiten Webers aus dieser Zeit zu finden. Im Zentrum seiner umstrittenen10 Antrittsrede »Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik« an der Universität Freiburg (1895) steht die Frage: »Welche sozialen Schichten sind auf dem Lande die Träger des Deutschtums und des Polentums?« (Weber 1980a: 429) Der systematische Landerwerb durch den deutschen Staat, die Ansiedlung deutscher Bauern auf Land in polnischem Besitz sowie das Schließen der deutschen Grenze für polnische Arbeiter_innen waren zentrale Strategien in Otto von Bismarcks offiziellem Programm zur »Germanisierung« der östlichen Provinzen ab den 1890er-Jahren. Das Kernziel bestand darin, das »Polentum« zu verdrängen. Weber verwendet demnach bekannte Begriffe, um ein bekanntes Problem anzusprechen: den Niedergang der deutschen Landarbeiterbevölkerung im Angesicht polnischer Siedlungen auf kleinen Höfen und die wachsende Bedeutung preiswerter polnischer Arbeit auf großen Landgütern. Neu in der Diskussion sowie im Vergleich zu Webers früherer Auseinandersetzung mit diesen Fragen war es allerdings, ökonomische Entwicklungen in ethnischen und kulturellen Begriffen zu formulieren, die von der Religionszugehörigkeit der Gruppen abgeleitet

10 | Obwohl Weber später selbst Bedenken bezüglich einiger Aspekte seiner Rede äußerte, gilt dies nicht für seine Unterstützung der deutschen Nation. Diese steht im Fokus der folgenden Ausführungen (siehe Abraham 1991: 47; Roth 1993).

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wurden: Weil die Zensusdaten, die Weber vorlagen, lediglich nach Religion und nicht nach Ethnizität differenzierten, interpretierte er die Schrumpfung protestantischer Bevölkerung im Vergleich zur katholischen als Ausdruck dafür, dass deutsche Tagelöhner von den Anwesen mit guten Böden weggezogen waren und polnische Bauern sich auf minderwertigem Land ausgebreitet hatten.11 Er führte diese Tendenz zurück auf »die niedrigeren Ansprüche an die Lebenshaltung – teils in materieller, teils in ideeller Beziehung –, welcher der slawischen Rasse von der Natur auf den Weg gegeben oder im Verlaufe ihrer Vergangenheit angezüchtet sind« (Weber 1980b: 6). Obwohl die polnischen Bauern, anders als die saisonalen Wanderarbeiter_innen, zu der Zeit deutsche Staatsbürger waren, beschreibt Weber die Situation als »ökonomischen Kampf der Nationalitäten« (ebd. 2). Entschieden wird er letztlich durch einen Ausleseprozess zugunsten der Nationalität mit der größeren »Fähigkeit«, sich den gegebenen ökonomischen und sozialen Verhältnissen anzupassen. Dass polnische Bauern ihr Überleben durch Subsistenzwirtschaft sicherten und damit unabhängig von Preisschwankungen auf dem Markt waren, ließ sie aus Webers Perspektive passfähiger erscheinen als die ökonomisch »begabteren« deutschen Landwirte: »Der polnische Kleinbauer im Osten ist ein Typus sehr abweichender Art von dem geschäftigen Zwergbauerntum, welches Sie hier in der gesegneten Rheinebene durch Handelsgewächsbau und Gartenkultur sich an die Städte angliedern sehen. Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen das Gras vom Boden frißt, nicht trotz, sondern wegen seinen tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten.« (Ebd. 8) Weber verwendet somit die damals gängige sozialdarwinistische Terminologie von »Anpassung«, »Ausleseprozess« und »Rassenzüchtung«, um zu erklären, dass der wirtschaftliche Fortschritt einer Gruppe nicht notwendigerweise mit der »politischen Reife« einherginge, die jedoch für den Auf bau der »Machtinteressen der Nation« notwendig sei. Seiner Ansicht nach führten polnische Ansiedlung und Arbeitsmigration zum Aufstieg »existenzunfähige[r] slawische[r] Hungerkolonien« (ebd. 10) und verdrängten deutsche Landarbeiter_innen, anstatt die Herausbildung eines starken Proletariats nach britischem Vorbild anzukurbeln. Der Wunsch, »das Deutschtum des Ostens« (ebd. 4) vor solchen Tendenzen zu schützen, bringt Weber wiederum dazu, seine politischen Forderungen »vom Standpunkt des Deutschtums« aus zu

11 | Selbstverständlich ist sich Weber des methodologischen Kurzschlusses bewusst, der mit der Verwendung von Religion als Referenz von Nationalität einhergeht. Dennoch entscheidet er, dass, »wenn wir uns mit einer nur annähernden Richtigkeit der Ziffern zufrieden geben« (Weber 1980b: 3), es im Falle Westpreußens gut genug sei, wo religiöse Zugehörigkeit sowieso »mit der Nationalität bis auf wenige Prozente zusammentrifft« (ebd.).

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˘ Manuela Boatca formulieren und »deutsche Wertestandards« gegenüber internationalen Standards von sozialer Gerechtigkeit, die er von der politischen Ökonomie ausgehen sah, zu verteidigen: »[…] die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation. Und der Nationalstaat ist uns nicht ein unbestimmtes Etwas, welches man umso höher zu stellen glaubt, je mehr man sein Wesen in mystisches Dunkel hüllt, sondern die weltliche Machtorganisation der Nation, und in diesem Nationalstaat ist für uns der letzte Wertmaßstab auch der volkswirtschaftlichen Betrachtung die ›Staatsraison‹.« (Ebd. 14)

Als deutscher Wirtschaftstheoretiker, Mitglied des Bürgertums und Sohn eines nationalliberalen Mitglieds des Preußischen Parlaments12 gegen Ende des 19. Jahrhunderts versteht Weber in diesem Fall »Staatsraison« als »das Maß des Ellenbogenraums«, den es zu erobern gilt, um das ökonomische Wohlergehen »der Rasse der Zukunft« (Weber 1994: 16) zu sichern. Er spricht sich demnach für die erneute Schließung der östlichen Grenze gegenüber polnischen Migrant_innen aus, wie unter Bismarck geschehen. Zusätzlich fordert er eine vom Staat koordinierte Besiedlungspolitik, im Zuge derer deutsche Bauern zum Erhalt der deutschen Kultur systematisch auf geeignetem Land angesiedelt werden sollen. Eben diese Logik lässt sich auch in einem 1894 von Weber publizierten Artikel zur steigenden Getreideausfuhr Argentiniens nach der Entwertung des argentinischen Pesos 1889/1890 ausmachen. Dort argumentiert Weber nicht nur gegen die Freihandelsdoktrin, sondern auch gegen die »gänzlich irreale Voraussetzung der internationalen Kulturgleichheit« (MWG I/4 1993: 302). Er pocht darauf, dass die geringen Produktionskosten Argentiniens zu großen Teilen auf die äußerst niedrigen Löhne und billige Nahrungsmittel zurückzuführen seien, die Plantagenbesitzer den »nomadisirenden Barbaren [sic!]« anbieten, die sie für die Saisonarbeit anstellen. Ihrem geringen Lebensstandard entsprechend »erscheinen [diese Leute], wenn die Zeit des Bedarfs beginnt und verschwinden nach Beendigung und nachdem sie den Lohn in Schnaps verjubelt haben« wieder, während sie »an Behausungen nur Erdhütten kennen« (ebd. 292). Die wirtschaftliche Konkurrenz mit kolonialen Ökonomien, wie etwa der von Argentinien, verlangt seiner Ansicht nach eine Absenkung der deutschen Sozialorganisation und Kultur, um sich

12 | Für eine Auseinandersetzung mit Webers Familiengeschichte und deren Bedeutung für das Verständnis seiner intellektuellen und politischen Anliegen siehe Guenther Roths 1993 publizierte Kritik des vierten Bandes der Max-Weber-Gesamtausgabe (Roth 1993).

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mit denen des argentinischen »halbwilden, verwegenen Gesindels« (ebd. 129) messen zu können. Weber meint, eine ähnliche Entwicklung mit Blick auf polnische Einwander_innen in Ostelbien auszumachen: »Können und wollen wir es unternehmen, gleich ›billig‹ zu arbeiten, so müssen auch unsere Arbeiter auf dem Lande sich diesem Typus nähern, und wer das Wanderarbeiterthum und die Poleneinfuhr im Osten beobachtet, findet die ersten Erscheinungsformen dieser Wandlung in der That vor sich. Es ist, mit einem Wort, der Umstand, dass wir auf dicht besiedeltem Boden ein altes seßhaftes Kulturvolk mit alter, fein ausgeprägter und deshalb auch empfindlicher sozialer Organisation und typischen nationalen Kulturbedürfnissen sind, was uns in die Unmöglichkeit versetzt, mit diesen Wirthschaften zu konkurrieren.« (Ebd. 299f.)

In Webers Verteidigung des »Standpunkt des Deutschtums« in den 1890er-Jahren ist demnach eine Theorie von Ethnizität eingeschrieben, die auf der Ungleichwertigkeit von Kulturstufen sowie von Arbeitseinstellungen unterschiedlicher »Nationalitäten« basiert. Diese Theorie und ihre Vorannahmen reflektieren zum Teil die Ansichten der damaligen Zeit, gehen jedoch auch darüber hinaus. Webers Ansatz reflektiert daher eine politische Position – gegen jede Form von Internationalismus im Allgemeinen und gegen Sozialismus im Besonderen, die in ein eigenständiges theoretisches Gerüst gegossen ist. Wie Guenther Roth (vgl. ebd. 152) anmerkt, wendet sich Weber im Verlauf dieser Argumentation sogar gegen enge Mitstreiter: Auf dem Gründungstreffen des Nationalsozialen Vereins 1896 ermahnt Weber dessen Gründer, Friedrich Naumann, dass diese neue politische Plattform eine nationale Position mit Blick auf die polnische Frage einzunehmen hätte, anstatt die Befürworter einer solchen Perspektive anzuklagen, wie es Naumann in Die Zeit getan hatte.13 Bei solchen Gelegenheiten schreitet seine antipolnische Rhetorik über sozialdarwinistische Tendenzen hinaus und nimmt deutlich rassistische Züge an: »Man hat gesprochen von einer Herabdrückung der Polen zu deutschen Staatsbürgern zweiter Klasse. Das Gegenteil ist wahr: wir haben die Polen aus Tieren zu Menschen gemacht.« (MWG I/4 1993: 621f.). Eindeutig bezieht sich Weber hier auf die Unterscheidung zwischen Kulturvölkern als zivilisiertes Menschentum und Naturvölkern als barbarisches Menschentum und spricht damit (auch) Bevölkerungsgruppen innerhalb Europas das vollwertige Menschsein ab. In seinen Referenzen zur deutschen gegenüber der argentinischen Ökonomie bringt er diese Unterscheidung ausdrücklicher zur Geltung und verweist dabei auf europäische und kolonisierte Völker.

13 | Es ist eben diese nationale politische Einstellung Webers, die dazu führt, dass er sich 1899 aus dem Alldeutschen Verband zurückzieht. Er argumentiert, dass die zuwanderungsfreundlichen Politiken gegenüber polnischen Arbeitern ausschließlich Agrarkapitalisten dienten (Roth 1993: 159, Zimmerman 2006: 64).

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Dabei lehnt er sich an gängige Vorstellungen der deutschen Anthropologie des 19. Jahrhunderts an. Das Moderne, das Zivilisierte und das Rationale werden hier auf einen noch exklusiveren Raum innerhalb des europäischen Kontinents beschränkt, der in der imperialen Imagination an den östlichen Grenzen Deutschlands endet und den ich an einer anderen Stelle als Selbstbild von einem »heroischen Europa« (Boatcă 2010) bezeichnet habe. Webers Standpunkt zum Thema hatte sich kaum verändert, als er und Marianne Weber einige Jahre später in die Vereinigten Staaten reisten. In seinem Vortrag zu ländlicher Gesellschaft und moderner Wirtschaftsentwicklung auf der Weltausstellung von St. Louis 1904 macht Weber von diesen Annahmen ausführlich Gebrauch. Er geht zwar davon aus, dass Kapitalismus in alten zivilisierten Ländern mit einer dichten Bevölkerung und einer starken ländlichen Tradition  – wie etwa Deutschland  – anders wirke als in Ländern mit einer großen Menge an Land und ohne alten Adel – wie etwa die Vereinigten Staaten. Zugleich nimmt er jedoch an, dass letztere eines Tages ebenso von denselben Umständen betroffen sein werden wie erstere. Sei dieser Augenblick gekommen, so könnten die Erfahrungswerte Deutschlands den Vereinigten Staaten infolgedessen als hilfreiche Lehren dienen. Besonders gelte dies für Politiken, die sich der ländlichen Sozialfrage widmen, die laut Weber »nicht mit dem Schwert gelöst werden kann, so wie es bei der Sklavenfrage möglich war« (MWG I/8 1998: 241). Konzeptioniert als ein wirtschaftlicher Kampf zwischen »zwei Nationen, Deutschen und Slawen«, besitze die ländliche Sozialfrage Deutschlands zugleich eine kulturelle Dimension: »Während unter dem Druck der konjunkturellen Lage einfache slawische Kleinbauern Land von Deutschen erwerben, hat sich der kulturelle Vormarsch in Richtung Osten während des Mittelalters, der auf der Überlegenheit der älteren und höheren Kultur fußte, unter der Vorherrschaft des kapitalistischen Prinzips der ›billigeren Hand‹ völlig umgekehrt.« (MWG I/8 1998: 241f.) Dass das Fehlen einer ländlichen Tradition sowie eines alten Adels in den Vereinigten Staaten die Effekte des Kapitalismus stärker mache als in Europa, bewahrte laut Weber weder die amerikanische noch die deutsche Kultur davor, langfristig vor derselben Bedrohung zu stehen: die wirtschaftliche Konkurrenz durch kulturell nicht-assimilierbare Elemente. Bereits 1893 argumentiert Weber, dass Wanderarbeit von chinesischen Kulis für die deutsche Kultur weit weniger gefährlich sei als die Zuwanderung von polnischen Arbeiter_innen, da zwischen Deutschen und Chinesen keine Assimilation zu erwarten sei. Bald danach behauptet er in seiner Freiburger Antrittsvorlesung, dass Polen dazu neigten, nationale Minoritäten »aufzusaugen« (Weber 1980b: 6), was zum Niedergang des Protestantismus und zum Vormarsch des Katholizismus führe. Bei den Effekten auf den Lebensstandard zivilisierter Länder gebe es eine Parallele zwischen der »Negerfrage« in den Vereinigten Staaten und der »Polenfrage« in Deutschland, die sich durch eine osteuropäische Immigration nach Nordamerika verschärfe:

»Vom Standpunkt des Deutschtums« »[…] auch die Anzahl der Farmen im Besitz Schwarzer sowie die Migration vom Land in die Städte wächst. Wenn also die expansive Kraft der angelsächsischen und deutschen Besiedlung ländlicher Gegenden und zusätzlich die Kinderzahl der alten, eingeborenen Bevölkerung abnehmen und wenn zugleich eine gewaltige Immigration unzivilisierter Elemente von Osteuropa zunimmt, dann wird vermutlich auch hier eine ländliche Bevölkerung entstehen, die nicht durch die historisch überlieferte Kultur dieses Landes assimiliert werden kann; diese Bevölkerung würde die Normen der Vereinigten Staaten dauerhaft verändern und allmählich eine Gemeinschaft einer ganz anderen Art als die der tollen Erschaffung des angelsächsischen Geistes bilden.« (MWG I/8 1998: 242, Übersetzung P.P.)

In welche Richtung Weber diesen »Normenwandel« sich bewegen sah, wird in seinem Artikel über die Russische Revolution aus dem Jahr 1906 deutlich. Darin lamentiert er, wie »die gewaltige Einwanderung europäischer, gerade auch osteuropäischer, Menschen in die Vereinigten Staaten […] die alten demokratischen Traditionen [durchlöchert]« (MWG I/10 1989: 272). Noch 1906 verwendet Weber also ähnlich rassische Stereotype wie in seinen frühen Arbeiten zu den polnischen Bauern. Diese werden nun auf den gesamten europäischen Osten ausgeweitet, dessen Grad an Zivilisation und demokratischer Tradition als defizitär begriffen wird und damit in der imperialen Imagination als näher an einem kolonisierten Naturvolk als an dem europäischen Kulturvolk. Die Parallele zur »Negerfrage« wird wiederum in seiner Studie der »Psychophysik der industriellen Arbeit« ausgeführt, die Teil eines größeren Projekts zur industriellen Arbeit in Deutschland vom Verein für Sozialpolitik aus den Jahren 1908/1909 war. Der anschaulichste Beweis für die Bedeutung »rassischer Unterschiede« bei der Beurteilung der industriellen Arbeitstauglichkeit war laut Weber die »textilindustrielle […] Verwendung der Neger« (MWG I/11 1995: 110). Dass Rasse ein entscheidender Faktor in solch »extremen Fällen« sein soll, bedeute jedoch nicht, dass Gleiches für weniger auffällige Unterschiede gelte, wie etwa die zwischen ethnischen und regionalen Gruppen in Europa: »Die neurotische Disqualifikation der amerikanischen Neger für gewisse textilindustrielle Arbeiten ist für sie leichter greifbar; aber die ungleich feineren und dabei doch für die Rentabilität der Verwendung der betreffenden Arbeiter entscheidenden Differenzen, wie sie sich in europäischen Industriebetrieben zeigen, sind aus den Mitteln noch so vortrefflicher gewerblicher Krankheitsstatistiken allein, so wichtig diese auch für unseren Zweck sind, nicht erfaßbar.« (Ebd. 238)14

14 | Für eine detaillierte Untersuchung von Webers Ansichten zu kulturellen Arbeitseinstellungen siehe Schluchter (2000); für weitere Beispiele seines Umgangs mit Rassenfragen in diesem Kontext siehe Zimmerman (2006: 67f.).

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Obwohl Weber biologistische Erklärungen zurückweist, die die experimentelle Psychologie für die Arbeitstauglichkeit unterschiedlicher ethnischer Gruppen zur Verfügung stellt, hinterfragt er nicht die Existenz von Unterschieden an sich. Vielmehr nimmt er an, dass sie im Falle von Schwarzen in den Vereinigten Staaten wirkmächtig seien. Später wird er wiederholt die angebliche Untauglichkeit der schwarzen US-Bevölkerung zur Fabrikarbeit dadurch erklären, dass »hier […] wirklich einmal in der Wirtschaftsgeschichte Rassenunterschiede greif bar vor[liegen]« (Weber 2011: 268 Fn 18). Bezüglich der »feineren« Unterscheidungen innerhalb Europas argumentiert er jedoch, dass die für die verarbeitende Tätigkeit notwendigen Eigenschaften wie das Temperament, die Disziplinierbarkeit und die psychische Verfassung als Sittenunterschiede und nicht als erbliche Unterschiede analysiert werden sollten: Während die experimentelle Psychologie danach frage, ob vererbte oder erlernte Eigenschaften maßgeblich für die Arbeitseffizienz im Allgemeinen seien, untersuche die Ökonomie dementsprechend vor jeglicher Berücksichtigung biologischer Veranlagungen, ob die Eigenschaften, die die unterschiedliche Rentabilität von Industriearbeiter_innen beeinf lussen, auf das soziale und kulturelle Umfeld, die Sitten und die Erziehung der Arbeiter_innen zurückzuführen seien. Laut Wolfgang Schluchter verkehrt Weber somit die Frage nach der psychophysischen Fähigkeit zur Arbeit mit der nach der kulturellen Einstellung zur Arbeit (vgl. Schluchter 2000: 75). Dieser Ansatz passt zu der Ablehnung eines biologischen Rassismus und dem Appell an kulturelle und wirtschaftliche Begründungen für rassische Ungleichheiten, die Weber in der berühmten Debatte mit Alfred Ploetz auf dem Treffen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ein Jahr nach Fertigstellung seiner Studie zur Psychophysik der Arbeit befürwortete. Alfred Ploetz, Physiker, Biologe und überzeugter Sozialdarwinist, dessen Arbeit später zu einer Hauptquelle für nationalsozialistische eugenische Politiken werden sollte, hatte gerade die Zeitschrift Archiv für Rassen und Gesellschaftsbiologie und Gesellschaftshygiene sowie die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene ins Leben gerufen und war der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auf Einladung von Ferdinand Tönnies beigetreten (vgl. Weindling 1989: 140). Gegen Ploetz argumentiert Weber, dass keine soziologisch relevanten Gegebenheiten auf vererbte rassische Eigenschaften zurückzuführen seien, und führt als Beispiel »die gegenseitige soziale Lage der Weißen und Neger in Nordamerika« (Weber 1988c: 459) an. Während vererbte Eigenschaften höchstwahrscheinlich »starke Faktoren bei der Arbeit« seien, betont Weber, die Entstehung der ungleichen gesellschaftlichen Stellung der beiden rassischen Gruppen sei primär sozial determiniert: »Wenn wir, m. H., etwa die Möglichkeit hätten, Menschen heute bei der Geburt schwarz zu imprägnieren, so würden auch diese Menschen in

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der Gesellschaft von Weißen stets in einer etwas prekären, eigentümlichen Lage sein.« (Ebd.: 460) Gleichzeitig zeigen sich auffällige Parallelen zwischen der Annahme einer gruppenbezogenen »Anpassungsfähigkeit« für soziale und ökonomische Verhältnisse, wie sie Weber in seiner Analyse der polnischen Arbeiter_innen formulierte, und der Ansicht, dass die indigene Bevölkerung in den Vereinigten Staaten einen vergleichsweise höheren sozialen Status als die schwarze Bevölkerung genieße – nicht wegen überlegener angeborener Eigenschaften, sondern da sie nicht versklavt worden war. Weber wird diese Meinung später in Wirtschaft und Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Die Schwarzen werden darin im Gegensatz zur indigenen Bevölkerung Nordamerikas als geeigneter für niedrigere Arbeitsformen angesehen – ähnlich wie die Polen, die Weber für die industrielle Arbeit als ungeeignet erachtet. Wie im Falle der »slawischen Rasse« ließ Weber auch hier die Frage unbeantwortet, ob dieser Zustand mit der Biologie oder mit kulturellen Gepflogenheiten zu erklären sei: »Wenn Neger und Indianer von den Weißen drüben so verschieden bewertet werden, so wird der Grund für die Indianer von den Weißen stets dahin formuliert: ›They didn’t submit to slavery‹: Sie waren keine Sklaven. Daß sie keine Sklaven waren, hat nun allerdings insofern in ihren spezifischen Qualitäten seinen Grund, als sie das Maß von Arbeit, welches der Plantagen-Kapitalismus verlangte, nicht aushielten – zweifelhaft, ob rein wegen erblicher Eigenheiten, oder auch ihren Traditionen zufolge – und die Neger es leisteten.« (Ebd.: 460, Hervorhebung M.B.).

Ironischerweise wäre an dieser Stelle ein biologisches Argument viel zutreffender gewesen. Wie Historiker längst herausgearbeitet haben, war die Immunität vieler afrikanischer Arbeiter_innen gegenüber hoch ansteckenden europäischen Krankheiten (als Folge früherer Kontakte mit portugiesischen Händlern ab dem 15. Jahrhundert) einer der Gründe, warum Millionen von Afrikaner_innen in die Sklaverei auf amerikanischen Plantagen verkauft wurden. Der Rekurs auf ein kulturelles Argument, um zu suggerieren, dass Afrikaner_innen für niedrigere Arbeiten besser geeignet waren als Indigene in den Amerikas, mobilisierte stattdessen implizit kolonial-rassistische Vorstellungen, mit deren Hilfe die indigene Bevölkerung der Amerikas als schwach und passiv orientalisiert und die schwarzafrikanische Bevölkerung dennoch auf eine noch tiefere Stufe der Rassenhierarchie verortet wurde. Als Weber an W.E.B. Du Bois schrieb, dass »›die Colour-Line‹ das vorrangige Problem der kommenden Zeit hier und überall in der Welt sein wird« (Weber 1904, in: Scaff 1998: 90), meinte er höchstwahrscheinlich etwas anderes als Du Bois mit seiner berühmten Aussage »das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der color

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˘ Manuela Boatca line« 15. Angesichts der Analogien, die Weber wiederholt zur Situation der Arbeit von Einwander_innen in Deutschland hergestellt hat, lieferte seine häufig zitierte Aussage zum Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahr 1904 einen deutlichen Hinweis auf seine Haltung: »Und dennoch [sind die Amerikaner] ein wunderbares Volk und nur die Frage der Neger und die entsetzliche Einwanderung bilden die großen schwarzen Wolken.« (Zitiert in Weber 1988a: 302) Weber war ein ausdrücklicher und offener Gegner des biologischen Rassismus. Die Sorge um »die machtpolitischen Interessen der Nation« veranlasste ihn jedoch regelmäßig dazu, nach ökonomischen und kulturellen »Bedrohungen« für die nationalen Interessen Deutschlands zu fragen. Er sah solche Bedrohungen etwa in Form von Wander- und Gastarbeiter_innen und der religiös Anderen und behandelte sie als kulturell eigene, nicht-assimilierbare (und als solche unerwünschte) soziale Gruppen. Dabei verwendete er durchgehend kulturrassistische Argumente. Seine Definition von Weltmacht als »die Verfügung über die Eigenart der Kultur der Zukunft« (Weber 1980c: 143) während des Ersten Weltkrieges wirft außerdem ein neues Licht auf seinen Freiburger Vortrag zum »Standpunkt des Deutschtums«: In seinen Schriften während des Krieges ist die Rede vom »Standpunkt derjenigen Kulturgüter […], welche in der Obhut eines Volkes […] stehen« (ebd. 142), die durch den Machtstaat zu beschützen seien. Dies gelte für Deutschland, aber auch für andere Länder, die Weber als Machtstaaten verstand, vor allem große Militärstaaten mit einer kulturellen »Verantwortung vor der Geschichte« (ebd.). Die Color Line als vorrangiges globales Problem zu betrachten, bedeutete, dass Weber davon ausging, Deutschland und die Vereinigten Staaten hätten sich der gleichen Bedrohung zu stellen. Es war damit explizit kein Plädoyer für eine soziale Emanzipation von Schwarzen, wie ihn etwa W.E.B. Du Bois formulierte. Weber sah zwar die Bedrohung in beiden Fällen nicht von einer biologisch unterscheidbaren Rasse ausgehen, sondern durch die Absenkung kultureller Normen. Es ist eben dieser Zusammenhang, der es ihm ermöglichte, die »one-drop rule« zur Bestimmung rassischer Zugehörigkeit als haltlos abzulehnen sowie den antischwarzen Rassismus armer Weißer in den Vereinigten Staaten zu verurteilen und dabei im gleichen Atemzug schwarze Plantagenarbeiter_innen als weniger menschlich zu degradieren: Einerseits galten für ihn die »zahlreichen Halb-, Viertels- und Hundertstel-Neger, die […] kein Nicht-Amerikaner von Weißen unterscheiden kann« und

15 | Eine detaillierte Betrachtung der möglichen Überschneidungen zwischen Max Webers und W.E.B. Du Bois’ Zugängen zur Rassenfrage vor dem Hintergrund von Webers frühen Beschäftigungen mit der »polnischen Frage« in Deutschland wurde kürzlich von Chandler (2007) durchgeführt.

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die er zusammen mit Marianne Weber am Tuskegee Institut traf, als Teil der »gebildeten und oft zu neun Zehntel weißen Oberschicht der Neger« (Weber-Schäfer 1984: 309). Was andererseits die Rassenfrage für ihn entscheidend machte, war die Beobachtung, dass im Vergleich »die Halbaffen, denen man in den Plantagen und Negerhütten des Cotton Belt begegnet, einen fürchterlichen Kontrast bilden, ebenso wie der geistige Zustand der Weißen des Südens« (ebd.). Eindeutig ging Weber davon aus, dass die zweite Gruppe – bestehend aus ungebildeten Schwarzen und armen Weißen – mehr mit der »geringen intellektuellen Lebensführung« polnischer Bauern oder der »semi-barbarischen« Existenz argentinischer Saisonarbeiter_innen in Erdhütten gemein habe als mit schwarzen Intellektuellen wie W.E.B. Du Bois oder mit Mitgliedern der weißen Oberschicht. In der Debatte mit Ploetz bezeichnete Weber Du Bois sogar als »den wichtigsten Soziologen in den Südstaaten Amerikas, mit dem sich kein weißer Gelehrter messen lässt« (Weber 1973: 312). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts baute die Zivilisationsanalyse, allen voran Samuel Huntingtons These vom »Kampf der Kulturen« (Huntington 1993, 1996), auf vielen von Webers Grundsätzen hinsichtlich von Religions- und Kulturvergleichen explizit auf. Auch Edward Tiryakian etwa, der Weber als Vorläufer der These vom »Kampf der Kulturen« versteht, betrachtet die Zivilisation als eine »geeignete makro-soziokulturelle Analyseeinheit, umfassender als ein Nationalstaat, aber weniger weitreichend als ein Weltsystem« (Tiryakian 2004: 43), und baut darauf seinen Vorschlag für eine soziologische Zivilisationsanalyse des 21. Jahrhunderts auf. Für seine Kritiker_innen hingegen gilt Max Weber insbesondere durch die Betonung von Spannungen innerhalb von und Konflikten zwischen den religiös, kulturell oder ethnisch definierten Zivilisationen als Wegbereiter für eine »politische Ökonomie kultureller Differenzen« (Zimmerman 2006), die rassistische und orientalistische Stereotypisierungen als Vorwand für westliche Machtpolitik nutzt. Webers vergleichende Religionssoziologie hat ihm seit den 1970er-Jahren den Vorwurf des Orientalismus eingebracht, innerhalb dessen besonders der Islam als rigide Kontrastfolie zu einem als differenziert, überlegen und autonom begriffenen Westen fungierte (vgl. Turner 1974; Stauth 1993; Salvatore 1997). Bekanntlich begründete später Samuel Huntington die künftigen Konfliktlinien der Welt entlang religiöser und regionaler Kämpfe zwischen unvereinbaren Kulturkreisen, insbesondere westliches Christentum und Islam. In Anlehnung an Weber wird neuerdings ein als monolithisch verstandener Islam in Abgrenzung zu Christentum und Buddhismus als soziale Ordnung definiert, die Ideen von ökonomischer und sozialer Gleichheit keine Bedeutung beimisst.16 Die von Max Weber beschworene Verantwortung 16 | Vgl. exemplarisch Hallers vergleichende Analyse von »Ethnoklassen« (Haller 2015).

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˘ Manuela Boatca von Machtstaaten vor der Geschichte, die westliche Zivilisation vor »Gefahren« zu bewahren, lässt sich damit regelmäßig in Überprüfungen, Verboten, Isolierungen der religiös »Anderen« übersetzen, denen Gleichheitsideale abgesprochen wurden.

A usblick : Ü ber die H artnäckigkeit und  A llgegenwärtigkeit von S tandpunk ten Weber verfocht noch 1917 im Kontext des Ersten Weltkrieges umso nachdrücklicher den deutschnationalen Standpunkt als Grundlage der »Staatsraison« und Staatspolitik. Charakteristische Aussagen in den politischen Schriften Webers aus dieser Zeit sind etwa: die Interessen des Deutschtums seien über die Aufgabe der Demokratisierung zu stellen; das Privileg und die Pflicht des »Herrenvolkes«, in die Weltpolitik17 einzugreifen, sei zu bewahren; das Vaterland sei gegen das »Heer von Negern, Ghurkas und allem barbarischen Lumpengesindel der Welt, [das] an unserer Grenze steht, halb wahnsinnig vor Wut, Rachedurst und Gier, unser Land zu verwüsten« (Weber 1980d: 214f.). Inwieweit der Standpunkt des Deutschtums in den Dienst eines kulturellen Rassismus von West vs. Rest gestellt werden konnte, wird an dieser Stelle überdeutlich. Im Fazit seines Buches zu Weber und der polnischen Frage bemerkt Hajime Konno das Polarisierende dieses Standpunkts, wenn er schreibt, dass »das Beobachten und Beurteilen von Völkern aus einem westlichen Blickwinkel Webers lebenslange Methode darstellt« (Konno 2004: 200). Spätere Forschung tendierte jedoch dazu, zwischen Webers politischen und theoretischen Schriften zu unterscheiden. Oft mit Verweis auf Webers eigenes Postulat der Werturteilsfreiheit wird seine »nationalistische Politik« als das Gegenteil seiner »kosmopolitischen Soziologie« (Roth 1993: 148) dargestellt. Dabei kann eindeutig gezeigt werden, dass Webers Soziologie und Politik mit Blick auf den partikularen (und partikularistischen) deutschnationalen Standpunkt, der sowohl seinen theoretischen wie auch seinen politischen Beschäftigungen mit Rasse und Ethnizität zugrunde liegt und dabei zugleich sein methodologisches Postulat der Neutralität widerlegt, eng miteinander verflochten sind. In der 1980 publizierten Einleitung zur englischen Übersetzung von Webers Freiburger Rede plädiert Keith Tribe für eine Re-Interpretation

17 | Die meisten Kommentator_innen stimmen darin überein, dass Webers Gebrauch des Begriffs Herrenvolk nicht mit dem nationalsozialistischen Missbrauch des Konzepts von Nietzsche zu verwechseln sei, obwohl auch Webers Gebrauch klar imperialistische Konnotationen aufweist. Siehe dazu etwa den entsprechenden Eintrag in Swedberg (2005: 111).

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Webers als einen Theoretiker der Machtpolitik und stellt fest, dass »die Frage der Macht und des Nationalstaates bis zu Webers Tod von zentraler Bedeutung war. Die Bedingungen, unter denen diese Macht ausgeübt wird sowie die verwendeten Mittel zur Realisierung eines ›entscheidenden nationalen Status‹, mögen variieren, doch deren Objekte tun dies nicht.« (Tribe 1980: 422f.) Webers Zugriff auf die Rassenfrage in den Vereinigten Staaten lässt sich zwar nicht direkt von seinen früheren Betrachtungen der »Polenfrage« in Deutschland herleiten, jedoch sind beide untrennbar miteinander verbunden. Für ein Verständnis von Webers Analyse der Nation ist eine Kenntnis beider unabdingbar (siehe auch Chandler 2007: 261). Dass Webers Soziologie an eng definierten und historisch kontingenten kulturellen und politischen Werten angelehnt sein soll, die sein Verständnis von nationaler Identität geprägt haben, hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Einige Kritiker_innen sahen darin einen Grund dafür, Weber als Klassiker zu verwerfen (vgl. Abraham 1992). Andere schlugen vor, ihn als Neo-Rassisten neu zu lesen (vgl. Zimmerman 2006). Der Rückgriff auf eine postkoloniale Soziologie, die sich mit den blinden Flecken in den dominanten Theorien westeuropäischer Metropolen beschäftigt, könnte dabei von praktischem Nutzen sein: Indem sie Webers klassische Analyse von Ethnizität als nicht nur kulturell und historisch kontingent, sondern auch als eng verbunden mit den nationalen Interessen und imperialen Projekten Deutschlands aufdeckt, kann postkoloniale Kritik zeigen, dass soziologische Theorie auf unzulässigen Verallgemeinerungen eines partikularen Standpunktes basiert, der als universal konstruiert wird. Je offensichtlicher dies auch mit Blick auf andere kanonisierte Analysen vermeintlich allgemeiner  – d.h. nicht-situierter und nicht-politischer  – Sozialtheorie gemacht werden kann, desto näher kommen wir einer globalen, postkolonialen Soziologie, die sowohl sensibel für strukturelle Abwesenheiten als auch für das potenzielle Aufkommen notwendig situierten Wissens ist. Anstatt von der partikularen Geschichte des eigenen geopolitischen Standorts aus universell gültige Theorien abzuleiten, wäre eine globale, nicht-okzidentalistische Soziologie vielmehr in der Lage, die Kontinuitäten in den kulturellen und religiösen Hierarchien sowie in den ökonomischen Machtstrukturen zu analysieren, die geopolitische Standorte seit dem kolonialen Zeitalter bis heute miteinander verbinden. Übersetzung aus dem Englischen von Patricia Piberger

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Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa1 Schirin Amir-Moazami

E inleitung In einer kürzlich erschienenen Kolumne gelangt Hatem Bazian (2016) zu einem ernüchternden Fazit: Je mehr Muslime2 beforscht, archiviert, inspiziert und ins gleißende Licht der Öffentlichkeit gezerrt würden, desto weniger wisse man faktisch über sie. US-Thinktanks, so Bazian weiter, spuckten jährlich Millionen von Dollars für die Forschung zu Islam und Muslimen aus. Getrieben von einer empirischen, imperialen und grundsätzlich islamskeptischen Problemorientierung würde auf diese Weise stets aufs Neue ein fiktives muslimisches Subjekt erzeugt, das mit den sozialen Wirklichkeiten weltweit wenig zu tun habe. Bazian folgert, dass, solange dieser Rahmen nicht gesprengt würde, es unmöglich sei »to appreciate the uniqueness and complexity of the human being supposedly studied« (Ebd.). Zwar deutet Bazian zumindest an, dass US-amerikanische – und ich würde hinzufügen: westeuropäische – Wissensproduktion zu Islam und Muslimen in ihren machtpolitischen Verstrickungen, Funktionen und Zirkulationsmechanismen grundlegend problematisiert werden muss. Die Konsequenzen aus dieser Beobachtung bleiben allerdings erstaunlich blass. Der zentrale Zusammenhang zwischen imperialen Machtansprüchen und empirischen Forschungspraktiken ist insofern lediglich angedeutet. Zumindest in diesem knappen Beitrag geht Bazian den Verbindungen von Wissensproduktion und Machtreproduktion in ihren normativen, methodologischen und epistemologischen Voraussetzungen nicht genauer auf den Grund. Im vorliegenden Beitrag möchte ich daher Bazians Faden aufnehmen und zugleich für den Kontext dieses Bandes weiterdenken. Grundsätzlich geht es mir darum, gegenwärtige Formen und Formate der akademischen 1 | Für die überaus wertvollen Hinweise zu diesem Artikel bedanke ich mich herzlich bei Mika Hannula. 2 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Beitrag, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Wissensproduktion als zentralen Bereich gesellschaftspolitischer Fragen und nicht als autonome Sphäre zu begreifen. Ich verstehe die stetig gedeihende Forschung über Muslime und den Islam in Europa entsprechend als Teil einer weitreichenderen Diskursanreizung über Formen des sozialen Lebens von Muslimen und über ihre religiöse Praxis. Mit Diskursanreizung meine ich mit Michel Foucault das vermehrte Sprechen, das zum Sprechen bringen, das Beäugen, Archivieren, Beforschen, Kontrollieren und/oder Regulieren von Muslimen als definierbarem und kategorisierbarem Forschungsgegenstand und als politische Eingriffsfläche. Meine Analyse ist von folgenden Argumenten geleitet. Ich behaupte einerseits, dass die Forschung zum Islam in Europa mit Prämissen arbeitet, die nicht allein dem konkreten Forschungsgegenstand geschuldet sind. Stattdessen bringen sie eingeschliffene Strukturen und eingeübte Epistemologien der Beforschung von als abweichend markierten Minderheiten innerhalb nationalstaatlicher Kontexte, aber auch der Beforschung von »Religion« als gesonderte Wissenskategorie auf neue Weise zur Geltung. Mit der Frage nach den epistemologischen Prämissen der Islamforschung in Europa möchte ich daher die Aufmerksamkeit auf die Umstände und Bedingungen dieser Forschung lenken, die bestimmte Methodologien, Ansätze und Fragen besonders zum Einsatz bringen. Wenn ich hierfür exemplarisch einschlägige Untersuchungen heranziehe, dann gerade nicht, um einzelne Autoren anzuprangern. Eher begreife ich sie als Bestandteil weitläufigerer Diskursformationen, in die sie gleichermaßen verwoben sind, wie sie sie befördern. Mit dem Blick auf Epistemologien möchte ich andererseits eine andere Temporalisierung als die übliche anregen. Der Ausgangspunkt der vermehrten Diskursanreizung über Muslime in Europa wird gemeinhin auf den 11. September 2001 datiert. Eine Reihe von kritischen Wissenschaftlern hat diesen Prozess in Anlehnung an Aziz al-Azmeh (1996) als die »Islamisierung des Islams« bezeichnet (Spielhaus 2011a; Tezcan 2012; Brubaker 2012). Die von unterschiedlichen Kräften vorangetriebene Erzeugung von Muslimen als Religionssubjekte wird damit vor allem als Produkt des Terrors und seiner Diskursivierung betrachtet. Zwar lässt sich kaum bestreiten, dass islamisch begründeter Terrorismus weltweit zur Diskursproduktion über Muslime beigetragen hat. Vor allem hat er das Sicherheitsdispositiv zu neuem und verändertem Leben erweckt (Bigo 2002; Bigo/Tsoukala 2008; Morsi 2017). Die Analyse bleibt aber ahistorisch, wenn sie die verschiedenen diskursiven Formationen allein als Effekte des globalen Terrorismus oder auch von gegenwärtiger Einwander­ ung betrachtet.3 3 | Die meisten Kritiker der einseitigen Anrufung von Muslimen als religiöse Subjekte haben diesen Prozess außerdem noch nicht hinreichend als Form der Rassisierung von Minderheiten konzeptualisiert. Dies jedoch würde den analytischen Fokus auf die

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Ich begreife damit die gegenwärtige Wissensproduktion über Muslime und den Islam in Europa als eine neue Konfiguration von grundsätzlichen Dilemmata, die auf den wechselseitigen Zusammenhängen von Epistemologien und Machtbeziehungen beruhen. Weil Dilemmata bekanntlich nicht zu umgehen sind, verstehe ich die Aufgabe kritischer Forschung vor allem darin, die Formate, Methodologien und Forschungsanlagen nach ihrer strukturellen Verwobenheit in Machtbeziehungen zu befragen und damit selbst als Regierungstechniken zu begreifen. Die einzig sinnvolle Praxis kann darin bestehen, diese Komplizenschaft sichtbar zu machen und kritisch zu reflektieren. Dabei müssen wir auch längerfristig eingeübte und einverleibte Epistemologien und ihre institutionalisierten Wissensordnungen in den Blick der Gegenwart rücken. Zugleich gehe ich nicht davon aus, dass wir es mit abstrakten, zeitlosen und entkörperten Epistemologien zu tun haben. Vielmehr verwende ich Epistemologien im Anschluss an Foucault als Praktiken der Wissensgenerierung, die innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Ordnungen und von konkreten Menschen gedacht und diskursiv hergestellt werden (Foucault 2006 [1979]: 15f.). Sie sind also weder neutral oder zeitlos noch abstrakt und entkörpert. Im Grunde wäre es daher genauso verkürzt, von historischer Linearität auszugehen, die fixierte Epistemologien unbeschadet fortträgt. Vielmehr müssen wir nach den historischen Bedingungen fragen, die bestimmte Epistemologien, bestimmte Methodologien und bestimmte Forschungsfragen auf den Plan rufen.4 Gerade weil Epistemologien nicht stabil oder abstrakt sind, ändert sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen notgedrungen ihre Grammatik. Diesen Zusammenhängen zwischen Kontinuität und Brüchen nachzugehen, kann dieser Beitrag nicht leisten. Eine Sensibilisierung für die epistemologischen Praxen der Wissensproduktion in der Gegenwart könnte aber zumindest dazu beitragen, die Zusammenhänge von Macht und Wissen bei der »Entdeckung« des Islams als Problem und als Ressource zur Bändigung und Regulierung von religiös-kultureller Pluralität in Europa zumindest ansatzweise genealogisch aufzuarbeiten.

Zusammenhänge von Religions- und Rassenkonstruktionen erweitern, die in diesem Forschungsfeld insgesamt unterbelichtet sind. 4 | Ann Laura Stoler (2008) hat in diesem Zusammenhang vor allem auf die Instabilität von (imperialen) Epistemologien hingewiesen. Sie unterstreicht, dass auch im kolonialen Zusammenhang Epistemologien keine bereits vorhandene Architektur vorwiesen, sondern durch die Praxis des Kategorisierens – in ihrem Fall von höheren und niederen Rassen – selbst erzeugt wurden. Stoler interessiert sich dabei vor allem für Inkonsistenzen, Unbeständigkeiten und Widersprüche, die in den Praxen der Wissensgenerierung sichtbar werden.

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A uf tr agsforschung und die V ermessung von I ntegr ation Die kritische Literatur zur Rassisierung von Sicherheitstechniken hat vielfach darauf hingewiesen, wie stark der Sicherheitsdiskurs mit einer Verdachtsthese operiert, die einen umfassenden Apparat an Eingriffen mit unterschiedlichen Logiken in Gang gesetzt hat (Sayyid 2014; De Koning 2016; Morsi 2017). Muslime werden dabei nicht nur von Sicherheitsbehörden als besondere Bevölkerungsgruppe ins Visier genommen. Sie stehen auch im Zentrum umfassender Präventionsprogramme, pädagogischer Projekte und eben auch der wissenschaftlichen Inspektion. Besonders deutlich wird dies bei der florierenden Auftragsforschung zur Radikalisierung, die europaweit eine ganze Forschungsindustrie hervorgebracht hat. Dieses Feld bedürfte im Grunde einer genaueren Betrachtung (ansatzweise de Koning oder Müller in diesem Band). Ich möchte hier allerdings deutlich machen, dass sich Auftragsforschung keineswegs allein auf Radikalisierung beschränkt. Eher werden Muslime in sämtlichen Lebensbereichen und durchaus auch in ihrer Vielfalt in den forschenden Blick genommen. Von der Altenpflege über das Gemeindeleben, Graden an Religiosität bis hin zu Geschlechtervorstellungen und sexuellen Gewohnheiten – es gibt kaum einen Bereich, der sich dem inspizierenden Blick entzöge. Wenn wir diese Fragenvielfalt auf ein Epistem herunterbrechen sollten, so wäre es das der »Integration«. Wo die Politik auf den »Integrationsimperativ« (Hess/ Moser/Binder 2009: 13) setzt, setzt sie die Forschung dazu ein, Integrationsgrad, -fähigkeit und -bereitschaft von Muslimen zu ermitteln. In ihrer äußerst aufschlussreichen Analyse der Zusammenhänge von Statistik und Rassismus problematisiert Linda Supik (2014: 124) diese statistische Erhebungswut als »Integrationsmonitoring«. Blicken wir exemplarisch auf die Deutsche Islam Konferenz (DIK). Das Modell der gezielten Ansprache von Muslimen durch den Staat findet sich in ähnlicher Form auch in anderen westeuropäischen Ländern.5 Für den deutschen Kontext ist dieses staatlich initiierte Dialogforum nicht nur einschlägig,

5 | Ähnliche Initiativen gibt es etwa in Frankreich mit dem 2003 ins Leben gerufenen Conseil Français des Musulmans de France (siehe Peter 2008). In Italien hat der jüngste »Pakt mit dem Islam« (www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/italienislam-pakt-extremismus-bekaempfung vom 02.02.2017) den Italienischen Islamrat erweitert und dabei noch eindeutigere Akzente auf die Extremismusbekämpfung gesetzt (zum Islamrat in Italien siehe Jasch 2007). In den Niederlanden ist der Contact Moslims Overheid das Produkt einer staatlichen Offensive zur Zentralisierung unterschiedlicher islamischer Gruppierungen und Bewegungen. Inwieweit diese Foren in ähnlicher Weise zu Auftraggebern für die Islamforschung geworden sind, müsste freilich genauer ergründet werden.

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weil hier das Integrationsparadigma erstmals staatlich lanciert und spezifisch auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (»Muslime«) zugeschnitten wurde. Die DIK ist auch für das Format der politikorientierten Forschung besonders relevant (siehe auch Tobias Müller in diesem Band). So stellte sich gleich im Zuge der ersten Zusammensetzung der DIK heraus, dass im Grunde wenig über die geladenen Dialogpartner bekannt war. Ein erster und hastiger Befund nach den ersten Wochen bestand entsprechend darin, dass endlich »belastbare Daten« über Muslime in Deutschland gesammelt und der Politik verfügbar gemacht werden müssten (siehe auch Tezcan 2012: 131). Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Appell, die »inneren Wahrheiten« von potentiell suspekten Bevölkerungsgruppen zu ergründen, und einer Regierungspraxis, die auf Kommunikation und weniger auf Disziplinierung setzt (Amir-Moazami 2011; Tezcan 2012, für Frankreich und Großbritannien siehe Peter 2008). Der stetige Erfolg dieser Initiativen lässt sich unter anderem an der Fülle der auf der DIK-Homepage abruf baren Studien ablesen.6 Doch welches Wissen wird mit der Forderung nach »belastbaren Daten« in Gang gesetzt? Wer produziert es, unter welchen Bedingungen und mit welchen Vorannahmen? Welche Daten und Fakten gelten als belastbar und daher als politik- und entscheidungsrelevant? Wie zirkulieren sie und wie werden sie verwertet? Während sich diese Fragen kaum in einem einzelnen Artikel beantworten lassen, möchte ich entsprechend meiner Ausgangsfrage vor allem die zugrunde liegenden Epistemologien und ihre Verwobenheit in politische Zusammenhänge in den Blick nehmen. Die verwendeten Kategorien im Einzelnen werde ich dabei eher vernachlässigen (hierzu Dornhof 2009 oder Birgitte Johansen und Riem Spielhaus in diesem Band). Obwohl viele dieser Studien beflissentlich die politische Rhetorik der »beidseitigen Integration« bemühen, liegt die größere Last letztlich bei den Befragten. Ihre »religiösen Orientierungen« werden an einem stets vage bleibenden und dehnbaren Schema der »deutschen Mehrheitskultur« gemessen. Das Integrationsparadigma ist dabei von einem kulturalistischen Vokabular durchdrungen, das eine ontologische Unterscheidung zwischen »deutscher« und »muslimischer« Kultur herstellt. Während die Politik Integration de-politisiert, liefert die Wissenschaft die Belege, dass Integration letztlich in der Verantwortung des Individuums liegt. In der vielzitierten Studie Muslimisches Leben in Deutschland von Karin Brettfeld und Peter Wetzels (2007) bzw. Sonja Haug, Stephanie Müssig und Anja Stichs (2009) etwa wurde der Integrationsgrad von Muslimen vor allem

6 | w w w.deut sche-islam-konferenz.de/DIK /DE/Ser vice/Bot tom/Publikationen/ WissenschaftlichePublikationen/wissenschaftliche-publikationen-node.html

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am Sprachstand und ihrer Nähe zur »deutschen« Bevölkerung (sic!) gemessen (siehe auch Johansen und Spielhaus in diesem Band). Wie Sarah Dornhof in einer kritischen Auseinandersetzung mit der ersten Fassung hervorhebt, für die die Kriminologen Karin Brettfeld und Peter Wetzels beauftragt wurden, sagen solche Gegenüberstellungen mehr über die Befindlichkeiten der Forschenden aus als über die tatsächlichen religiösen Einstellungen der Beforschten (Dornhof 2009: 75). Hierzu gehört etwa die Vermutung einer untrennbaren Trias »Muslim-Einwanderer-Nichtdeutsch« (siehe Johansen und Spielhaus in diesem Band). Bemerkenswert sind auch vorgegebene Aussagen, zu denen sich die Befragten in Skalen von 1 bis 6 verhalten sollten streichen wie: »Ausländer sollten ihre Kultur beibehalten.« (2007: 155), »Verschiedene ethnische Gruppen sollten voneinander getrennt werden, um Probleme zu vermeiden.« (Ebd. 154), »Ich glaube, dass der Koran die wahre Offenbarung Gottes ist.« (Ebd. 117), »Der Islam ist die einzig wahre Religion.« (Ebd. 250), »Der Islam ist die einzige Religion, die Probleme unserer Zeit lösen kann.« (Ebd.), »Die Sexualmoral in westlichen Gesellschaften ist korrumpiert.« (Ebd. 380) Der Religionsgrad wiederum wird in griffige Kategorien wie »orthodox, religiös«, »gering religiös«, »fundamental« oder »traditionell-konservativ« unterteilt. Der kriminologische Blick auf »religiöse Orientierungen« einzelner Individuen verstellt notwendigerweise den Blick auf soziale, ökonomische und politische Bedingungen, innerhalb derer die befragten Subjekte interagieren und ihre Einstellungen formen. Die unabdingbare Einbettung individueller Äußerungen in gesellschaftliche Kontexte und die ihnen zugrunde liegenden komplexen sozialen Beziehungen lassen sich mit derlei Methoden schwerlich erheben, mögen das Fragencluster auch noch so umfangreich und die Ergebnisse noch so akribisch nach wissenschaftlichen Standards sortiert sein. Es scheint jedoch gerade diese Komplexitätsreduktion, die solcherlei Formate für politische Entscheidungsträger besonders attraktiv macht. Zwar werden hier und da alarmierende Diskriminierungserfahrungen in Augenschein genommen. Letztlich ermöglicht diese Art der Befragung aber eine De-Politisierung, wie sie in kulturalistischen Diskursen generell üblich ist (Brown 2006). So verlagert sich die Problemzentrierung struktureller globaler Ungleichheit auf das befragte Individuum. Integrationsdefizite, so das handhabbare und wissenschaftlich zertifizierte Fazit, basieren im Kern auf den falschen religiösen Einstellungen und liegen damit in der Verantwortung des Einzelnen. Nun mag Deutschland für derart kulturalistische Ansätze besonders anfällig sein. Das Integrationsparadigma steht aber auch in anderen europäischen Ländern politisch und wissenschaftlich hoch im Kurs. Und auch dort wird Integration gemeinhin mit kultureller Anpassung an eine wie auch immer geartete Mehrheitsnorm gleichgesetzt und selten etwa als politische

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Teilhabe begriffen 7, wenngleich Kultur häufig durch abstrakte und leere Signifikanten wie Demokratie, Gleichheit oder Freiheit ersetzt wird (siehe Fleischmann/Phalet 2012; Yildiz 2016; Gatestone Institute 2016; kritisch Kundnani 2007). Die Mechanismen des Kategorisierens, Kartographierens und Festschreibenns von unpässlicher oder kompatibler Differenz sind allerdings durchaus auch in »unschuldigeren«, von direktem staatlichen Einfluss ausgenommenen Wissensformaten über Muslime in Europa üblich (Yildiz 2016; Koopmans 2015; Maliepaard/Gusberts/Lubbers 2012; Fleischmann/Phalet 2012). So bleibt vor allem in quantitativen Untersuchungen häufig unklar, wer, warum und wie als Muslime adressiert und befragt wird. Auch hier wird Religionszugehörigkeit umstandslos nach Herkunft und Nationalität sortiert und Religion und »ethnische Herkunft« (selbst eine problematische Figuration) damit auf eigentümliche Weise zu einer quasi-natürlichen Einheit. Und auch hier werden Muslime rasch zu 46  Prozent bzw. 54  Prozent zu »Fundamentalisten«, wenn sie Suggestivfragen wie »Muslims should return to the roots of Islam.«, »The West as an enemy is out to destroy Islam.« oder »I don’t want homosexual friends.« affirmativ beantworten (Koopmans 20158). Nun wäre auch an solcherlei Studien freilich einiges kritikwürdig. Es wären etwa die zugrunde gelegten Kategorien von Fundamentalismus oder komplexitätsreduzierende Fragen nach den inneren Haltungen zu säkularem vs. religiösem Recht viel genauer zu zerlegen. Besonders die quantitative Forschung neigt in ihrem empiristischen Eifer gern dazu Kompaktdefinitionen vorauszuschicken. Begriffe wie orthodox, fundamentalistisch oder auch der alles andere als voraussetzungslose Begriff »Religion« (siehe Anna Daniel in diesem Band) werden weder historisiert noch kontextualisiert, sondern schlicht als unstrittig zugrunde gelegt. Besonders die quantitative Forschung zu Muslimen in Europa verwendet in der Regel recht viel Zeit darauf, die Solidität ihrer Methoden unter Beweis zu stellen. Die Seiten füllen sich mit ausschweifenden Erläuterungen zum Forschungsdesign, mit Variablen und Korrelationen. Die empirischen Ergebnisse sind mit großzügigem Einsatz von Graphiken, Kuchen 7 | Zum Unterschied zwischen Integration und Teilhabe siehe etwa Hess, Binder und Moser (2009). Die Autoren kritisieren, dass insbesondere zentral verwaltete Integrationsprogramme den Integrationsbegriff nur selten als »Chancengleichheit« und »Partizipation« im Sinne von sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Teilhabe begriffen. Das von der Bundesregierung in Gang gesetzte Paradigma des »Förderns und Forderns« sei in erster Linie auf kulturelle Anpassungsleistungen von Eingewanderten ausgerichtet (»Fordern«), während auch das »Fördern« häufig auf einem paternalistischen Verständnis vom bedürftigen Migranten beruhe. 8 | Siehe auch: www.wzb.eu/sites/default/files/u8/ruud_koopmans_religious_funda mentalism_and_out-group_hostility_among_muslims_and_christian.pdf

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und Kurven kompakt und visuell anschaulich präsentiert. Auf der Ebene der analytischen Kategorien und der theoretischen Überlegungen bleiben die Studien jedoch merkwürdig schweigsam. Und sie bleiben ausgesprochen stumm, wenn es darum geht, die Voraussetzungen ihrer eigenen Positionalität und disziplinären Verortungen deutlich zu machen. So fragt man sich etwa, warum Kriminologen oder lose unter der Disziplin »empirische Sozialforschung« zusammengewürfelte Migrations- oder Integrationsforscher in ihrer Absenz von Expertise zu islamischen Diskurstraditionen und Begrifflichkeiten das Feld dominieren. Wir müssten außerdem viel genauer schauen, wie die erhobenen Zahlen in die mediale Öffentlichkeit gespült werden und damit allmählich zu naturalisierten Fakten heranwachsen. Ruud Koopmans (2015) etwa hat keine Scheu, in die Welt zu rufen, die Wissenschaft habe befunden, »Wer assimiliert ist, ist seltener arbeitslos.«9 oder 40-45 Prozent der Muslime in den beforschten sechs europäischen Ländern verträten »fundamentalistische Einstellungen« 10. Koopmans Zahlen werden nicht nur in diversen Medien breit rezipiert und damit immer wieder auf Neue wahrgesprochen. Jüngst wurden sie auch als Anschauungsmaterial rassistischer Bewegungen herangezogen, etwa von PEGIDA anlässlich des Besuchs von Geert Wilders (vgl. Atman 2015). Trotz offenkundiger Unzulänglichkeiten und öffentlicher Kritik (Atman 2015; Bax 2016) verzeichnen solche Studien in der Regel kaum Erfolgseinbußen. Das Prädikat »wissenschaftlich geprüft« bleibt über alle anderen wissenschaftlichen Bedenken erhaben, weil es auf empirische Objektivität und politische Neutralität setzt. Wie Johansen und Spielhaus in ihrem Beitrag zeigen, sind die Kategorien und damit auch die Zahlen, die sie generieren, grundsätzlich mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Denn im Grunde produzieren sie die vermeintlich objektiv mess- und abgrenzbare Kategorie des »Muslim« in dem Moment, in dem sie sie zum fassbaren Forschungsgegenstand erklären. Da es mir hier primär um die Zusammenhänge von Epistemologien und Machtmechanismen geht, möchte ich diesen Gedanken ein wenig vorantreiben. Dabei ist noch deutlicher herauszuarbeiten, wie Objektivitäts- bzw. Universalitätsansprüche und nationalstaatlich institutionalisierte Ein-und Ausschlussmechanismen ineinander verwoben sind. Vor allem weil so unterschiedliche Stakeholder und Shareholder an der Produktion, Verarbeitung und Zirkulation dieser Daten beteiligt sind, es zugleich aber um die Erforschung intimster Bereiche der beforschten Subjekte geht, muss dabei nicht nur die Macht der Zahlen in ihren Funktionen in den Blick genommen werden. Auch das Verhältnis zwischen Forschendem und Beforschtem gilt es kritisch zu befragen. Wir müssen also 9 | Siehe Astheimer 2016 (abgerufen: 17.9.2017). 10 | www.youtube.com/watch?v=25seMBf_6DE

Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa

grundlegender nachspüren, wie eingeschliffene epistemologische Strukturen in der Forschungspraxis innerhalb gesellschaftspolitischer Zusammenhänge an Geltung gewinnen, die diese Strukturen vor allem bei markierten »Minderheiten« auf besondere Weise befördern. Und wir müssen nach dem Status des (sozial-)wissenschaftlichen Experten fragen, der förmlich zum (Wahr-) Sprechen aufgerufen ist. Dieser Zusammenhang ist umso zentraler, als vor allem die sozialwissenschaftliche Forschung ihre Autorität häufig genau daraus speist, dass sie verallgemeinerbare, universalisierbare Daten und Modelle produziert, die auf vermeintlich entkörperten und vom Betrachter unabhängigen Kategorien beruhen.

B eziffern und V erwalten »Nicht alles, was zählt, kann man zählen, und nicht alles, was man zählen kann, zählt.« (A lbert E instein , 1929)

Die Genealogie dieser Epistemologien und ihrer dazugehörenden methodologischen Werkzeuge, ihr naturwissenschaftlicher Ausgangspunkt und ihre umstandslose Übertragung in die Bereiche der Geistes- und Sozialwissenschaften wurde aus verschiedenen Richtungen einer umfassenden Kritik unterzogen (Gadamer 1990 [1960]; Hacking 2006 [1975], Haraway 1988; Hindess 1977; Feyerabend 2010 [1975]; Espeland/Stevens 2008). Für unsere Zusammenhänge lohnt es sich insbesondere einige von Ian Hackings Beobachtungen zu Wahrscheinlichkeit und Statistik ins Gedächtnis rufen. Er verzeichnet den ersten Karriereschub quantitativer Sozialwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert und bringt ihn mit Politiken der Vermessung und Verwaltung von Bevölkerungen innerhalb und außerhalb nationalstaatlicher Grenzen in Zusammenhang. Hacking arbeitet heraus, wie Statistiken im 19. Jahrhundert dazu dienten, den inneren Wahrheiten von Bevölkerungen nachzugehen und durch Bezifferung verwaltbar zu machen. Die Erforschung von intimsten Bereichen des Sozialen, die noch die letzten Ecken der Schlafzimmer der Bevölkerung inspiziert, hat an Übergriffigkeit seither nicht abgenommen: »Probability and statistics crowd in upon us. The statistics of our pleasures and our vices are relentlessly tabulated. Sports, sex, drink, drugs, travel, sleep, friends – nothing escapes. There are more explicit statements of probabilities presented on American prime time television than explicit acts of violence (I’m counting the ads). Our public fears are endlessly debated in terms of probabilities: chances of meltdowns, cancers, muggings, earthquakes, nuclear winters, AIDS, global greenhouses, what next? There is

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Schirin Amir-Moazami nothing to fear (it may seem) but the probabilities themselves. This obsession with the chances of danger, and with treatments for changing the odds, descends directly from the forgotten annals of nineteenth-century information and control.« (Hacking 2006 [1975]): 4-5)

Es besteht kaum ein Zweifel, dass an die Stelle von Hackings »what next?« aus heutiger Sicht der sich auf den Islam berufende globale Terrorismus treten würde. Die damit in Gang gesetzten Sicherheitstechnologien speisen sich zu einem nicht unwesentlichen Teil aus vermessender Datenerhebung. Das Zählen, Vermessen und Quantifizieren war entsprechend nie ein Akt des distanzierten und objektiven Repräsentierens: »New slots were created in which to fit and enumerate people. Even national and provincial censuses amazingly show that the categories into which people fall change every ten years. Social change creates new categories of people, but the counting is no mere report of developments. It elaborately, often philanthropically, creates new ways for people to be.« (Hacking 2002: 100)

Diese erzeugende Kraft vorgeblich distanzierter Repräsentationen von Wirklichkeit besteht in unserem Fall nicht nur darin, das integrationsbedürftige muslimische Subjekt zu einer zählbaren Kategorie zu konturieren. Sie begründet sich auch in dem Akt, ein unmarkiertes »Wir« hervorzubringen. Dieses unsichtbare »Wir« zeichnet sich in unserem Fall durch abstrakte Größen wie Demokratie, Verfassungsrechtlichkeit, Freiheit und religiöse Zahmheit aus, zu denen sich Muslime in Skalen und Kompaktantworten verhalten sollen. Nicht zuletzt weil mit dieser Art von Wissen Politik betrieben wird und sie den politischen Diskurs mit der notwendigen wissenschaftlichen Legitimität reproduziert, muss sie selbst als Regierungstechnik verstanden werden. In seinem Versuch, Hackings Beobachtungen in die Forschungsfelder der frühen Anthropologie zu überführen, erinnert Talal Asad (1994) vor allem an den Zusammenhang zwischen der Entstehung des modernen National- und Wohlfahrtsstaates und der Zentralisierung nationaler Statistiken. Dabei ruft Asad noch einmal deutlicher das eingreifende Potenzial von Statistiken ins Gedächtnis: »They constitute social wholes that do not depend logically either on the intimate experience of a given region or on the assumption of typical social actors. They encourage and respond to individualized agents making individual choices in a variety of social situations. Ways of statistical calculation, representation, and intervention have become so pervasive that capitalist social economies and liberal democratic politics are inconceivable without them.« (Asad 1994: 74)

Epistemologien der »muslimischen Frage« in Europa

Asads Überlegungen sind für den Zusammenhang der Wissensproduktion zu Muslimen in Europa aber insbesondere deshalb so interessant, weil sie deutlich machen, dass das Quantifizieren von Bevölkerungen von Anfang an kein generischer Akt war. So müssen wir uns vor Augen halten, dass positivistische Epistemologien zeitgleich mit Rassentheorien entwickelt und hierarchische Untergliederungen in unter- und überlegene Rassen besonders prominent mit taxonomischen Methoden begründet, teils aber auch widerlegt wurden (Supik 2014: 55-60). Die Etablierung von Statistiken war seit Beginn einerseits auf die Regulierung und Kontrolle der Bevölkerung im Inneren der entstehenden Nationalstaaten ausgerichtet. Andererseits war sie eng an eine imperiale Struktur nach außen geknüpft, wonach Bevölkerungen in zivilisierte und archaische Untersuchungseinheiten unterteilt wurden (Hacking 2006; Supik 2014; Kwaschik 2018 i.E.).11 Auch innerhalb der sich formierenden Nationalstaaten war die Vermessung von Bevölkerungen von Anfang an geprägt von Unterteilungen und Hierarchisierungen in »Kulturkreise«, »Religionen« und/oder »Rassen«. Das Auf blühen von Statistiken über jüdische Lebens- und Verhaltensweisen in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert macht dies besonders deutlich. Es zeigt überdies, dass der Glaube an die Wahrheit von Zahlen in entscheidendem Maße von jüdischen Wissenschaftlern selbst vorangetrieben wurde. So schwärmte etwa Arthur Cohen, einer der Gründungsväter des Vereins für Jüdische Statistik, im Jahr 1914: »In die verwirrende Mannigfaltigkeit der sozialen Erscheinungen kommt durch die Statistik Rhythmus, Maß und Ordnung: sie treten in Reih und Glied und sind nur noch eine Ziffer in der sozialen Gruppe, der sie angehören.« (zitiert nach Diner 2014: 584). Aufschlussreich ist hier Dan Diners Beobachtung, dass die florierenden statistischen Methoden »auch die Maßstäbe kausaler Erklärung [verlagerten]. Die statistisch argumentierenden Deutungen marginalisierten etwa solche Bezüge, die auf der Moralität des Individuums basieren, hingegen erhoben sie soziale Faktoren ebenso wie die Anatomie bis hin zu rassenbiologischen Kriterien zu dominierenden Untersuchungsmerkmalen. Sowohl Anhänger der zionistischen Bewegung als auch deren assimilationswillige jüdische Gegner maßen Statistiken große Bedeutung zu. In den Mittelpunkt rückte dabei um die Jahrhundertwende die These von der Degeneration; herangezogen wurden in dieser Debatte alle

11 | Auch die ethnographische Datenerhebung nahm im kolonialen Zusammenhang ihren Ausgangspunkt. Gerade aber weil sie auf persönlichen Begegnungen beruhte, widersprach sie den Prämissen der Objektivität und Distanz und galt damit als weniger zu(ver)lässig (siehe Kwaschik 2018 i.E.).

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Schirin Amir-Moazami möglichen Daten über Geburten- und Sterberaten und die Berufsstruktur von Juden, die Verbreitung bestimmter Krankheiten und die Zahl der Selbstmorde.« (Diner 2014: 583)

Während jüdische Wissenschaftler folglich versuchten, den Negativbefunden ihrer Assimilationsfähigkeit in die »deutsche Kultur« »objektive Fakten« entgegenzusetzen, trieben sie damit letztlich das Spiel der Zähl- und Messbarkeit von Kultur und Religion mit den denselben Methoden voran. Dieses Beispiel macht die Verankerungen moderner Institutionen und Techniken der Wissensproduktion in nationalstaatliche Projekte besonders deutlich. Die ordnenden und anordnenden Instrumente des nationalstaatlichen Rahmens sind insofern strukturell verknüpft mit den Instrumenten der Vermessung, Regulierung und Erzeugung von Minderheiten in trennbare Analyseeinheiten, denen entweder Normalität oder Abweichung von der unmarkierten Norm bescheinigt wird. Diese historischen Zusammenhänge sind auch deshalb so erinnerungswürdig, weil sie auf die Anfänge eines Paradoxons hinweisen, das sich auch mit der Institutionalisierung liberaler Freiheiten nie aufgelöst hat. Zygmunt Bauman (1991) hat wie kaum ein anderer auf die Wirkungsweisen des modernen Nationalstaates als institutionalisierte Form »der Unkraut jätenden Gärtner der Moderne« (ebd. 28; 179) aufmerksam gemacht. Das Projekt bestand nach Bauman darin, Ambivalenz und Differenz allmählich einzuebnen: »The ambition was to create artificially what nature could not be expected to provide, or rather, what it should not be allowed to provide. The modern state was a designing power, and designing meant to define the difference between order and chaos, to sift the proper from the improper, to legitimize one pattern at the expense of all the others. The modern state propagated some patterns and set to eliminate all others. All in all it promoted similarity and uniformity.« (Ebd. 105)

Bauman verdeutlicht damit auch die Wirkungsweisen des Assimilationsprojekts. Es scheint kein Zufall, dass der Begriff selbst ursprünglich aus der Biologie stammt – die Absorption einer Substanz durch eine andere – und sukzessive von der Pflanzen- in die Menschenwelt wanderte (ebd. 103f.). Vor allem aber verkompliziert Bauman die oft scherenschnittartige Gegenüberstellung von völkischen und liberalen Spielarten des Assimilationsprojekts: »What made the standing invitation particularly alluring and morally disarming was the fact that it came in the disguise of benevolence and tolerance, indeed, the assimilatory project went down in history as a part of the liberal political program, of the tolerant and enlightened stance that exemplified all the most endearing traits of a ›civilized state‹.« (Ebd. 107)

Assimilation ist demnach ein Funktionsmechanismus des modernen Nationalstaates; die Instrumente moderner Wissensproduktion die notwendige

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Konsequenz. Die Stärke von Baumans Analyse besteht aber noch in etwas Weiterem. Anhand des Beispiels der Judenassimilation im 19. Jahrhundert kann er zeigen, dass Assimilation letztlich ein unerreichbares Ziel ist, weil die Messlatte der nationalen Elite selbst ein stets schwankender Fluchtpunkt bleibt: »The assimilating Jews acted under the pressure to prove their Germanhood, yet the very attempt to prove it was held against them as the evidence of their duplicity and, in all probability, also of subversive intentions. The circle was bound to remain vicious, for the simple reason that the values to which the Jews were told to surrender in order to earn acceptance were the very values which rendered acceptance impossible.« (Ebd. 121)

Die Frage, wie sich das Assimilationsparadox gegenwärtig im Integrationsparadigma auf neue Weise niederschlägt, ist damit noch längst nicht geklärt. Unbestreitbar ist jedoch, dass auch Integration ein stets wandelbares Schema und damit notgedrungen ambivalent bleibt. Denn sowohl »nationale Kultur« als auch allgemeingültige liberale Prinzipien können je nach Perspektive auf vielfältige Weise mit Inhalten gefüllt werden. Es spricht außerdem einiges dafür, dass auch die Kategorie des »integrierten Muslim« (häufig begleitet von weiteren Attributen wie liberal, säkular, aufgeklärt etc.) die geläufige Interpellation von Muslimen als außergewöhnliche Minderheit nicht aufzulösen imstande ist (Fernando 2009; Amir-Moazami 2016b; Topolski 2017). Denn auch diese Kategorie vermag Klassifizierungen und die Unterteilung in Norm und Abweichung nicht zu unterbrechen, selbst wenn sie vorrübergehend in das Register der Norm aufgenommen wird. Es wäre damit auch verkürzt, allein jene Befunde kritisch in den Blick zu nehmen, die eine Inkompatibilität zwischen »muslimischer« und »liberaler« Lebensführung als empirisch geprüft feststellen und festschreiben und Muslimen in Europa Integrationsdefizite attestieren. Letztlich gelangt auch die quantitative Forschung vielfach zu dem Befund von Vereinbarkeiten oder sie belegt, dass Muslime mehrheitlich integrationswillig seien oder bereits auf dem rechten Pfad der Integration navigierten (siehe Johansen und Spielhaus in diesem Band). Auch Studien, die Muslimen großzügig ihre Integrationsfähigkeit attestieren, reproduzieren letztlich die Spannung zwischen Mehrheit und Minderheit und tragen die Problematiken des Integrationsparadigmas unbeschadet fort. Wir können es also nicht dabei belassen, die Richtigkeit bestimmter Zahlen über Muslime und ihrer Lebensformen innerhalb Europas anzuzweifeln oder ihnen neue, »wahrere« Zahlen entgegenzuhalten. Vielmehr müssen wir uns die Mechanismen ihres Wahrsprechens anschauen. In einem seiner Aufsätze zur Biopolitik bringt Foucault dies vortrefflich zum Ausdruck: »Was, denke ich, eine aktuelle politische Bedeutung hat, ist die genaue Bestimmung des Systems der Veridiktion, das zu einem bestimmten Moment eingeführt wird und von

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Schirin Amir-Moazami dem aus man jetzt beispielsweise erkennen kann, dass die Ärzte des 19. Jahrhunderts über die Sexualität so viele Dummheiten gesagt haben. Die Erinnerung daran, dass die Ärzte des 19. Jahrhunderts viele Dummheiten über die Sexualität gesagt haben, ist politisch bedeutungslos. Von Bedeutung ist allein die Bestimmung des Systems der Veridiktion, das ihnen ermöglicht hat, eine Reihe von Dingen als wahr zu behaupten, von denen man heute zufällig weiß, dass sie es vielleicht nicht waren.« (Foucault 2006 [1979]: 62)

Es bleibt daher eher zu fragen, welche Funktionen das Vermessen hat. Und es bleibt zu fragen, warum sich die Forschung durch Zahlen und Bezifferung – der »stärksten aller Sprachen« (Asad 1994: 78) – trotz aller postmodernen und poststrukturalistischen Kritik und allen »turns« (linguistic, cultural, corporeal etc.) immer wieder aufs Neue durchsetzt (vgl. Steinmetz 2005: 4). Eine erste, aber bei weitem nicht erschöpfende Antwort könnte darin bestehen, dass die Wahrheitsansprüche des Objektivismus und Realismus in der Regel von Fragen der Subjektivität der Betrachtenden und ihrer »wirkungsgeschichtlichen Horizonte« (Gadamer 1990 [1960]: 305ff.) entkoppelt sind. Auf diese Weise lassen sich Machtfragen und die notwendige Verwobenheit von Forschung in politische Zusammenhänge zugunsten einer vermeintlichen Autonomie und Sachlichkeit von Wissenschaft ausklammern. Gerade in derart stark politisierten Feldern wie diesen steht »objektive Wissenschaft« besonders hoch im Kurs, weil sie wissenschaftliche Distanz und Versachlichung verspricht.

A ntisep tische F orschung Hier zeichnet sich zugleich ein offenkundiger und zunächst paradox anmutender Zusammenhang ab, der kaum zufällig sein kann: Der Ruf nach Sachlichkeit steigt im selben Maße, wie die Politisiertheit des Feldes wächst und Objektivität und Neutralität im Grunde unmöglich macht. Genau aus diesen Gründen ist die vermessende, kategorisierende und nach Objektivität rufende Forschung zu Muslimen in Europa größtenteils antiseptisch. Sie versucht, direkte Begegnungen mit dem Anderen tunlichst zu vermeiden und eine unüberbrückbare Distanz zwischen Forschenden und Beforschten zugunsten einer Subjekt-Objekt-Unterscheidung aufrechtzuerhalten. In ihrer immer wieder aufs Neue aktuellen feministischen Kritik hat Donna Haraway (1988) die Epistemologien solcher Methoden als den »Blick von Nirgendwo« bezeichnet. Sie hat vor allem gezeigt, welche Episteme – hier Politiken der Sichtbarkeit und der Transparenzsuche – diesem Blick aus dem Nichts zugrunde liegen. Die ihm eingeschriebene panoptische Ordnung setzt nicht nur eine ontologische Differenzierung zwischen forschendem Subjekt und beforschten Objekt voraus. Nach Haraway basiert sie auch auf einer Dialektik von Sehen und Nichtgesehenwerden. Damit geht vor allem ein Autoritätsgewinn

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des sehenden, forschenden und wissenden Subjekts einher, dessen eigene Subjektivität zugleich durch objektivierte und standardisierte Methoden nicht zur Disposition steht. In seiner Geburt der Klinik (2011 [1963]) hat Foucault auf ähnliche Weise gezeigt, wie der Wandel hin zu modernen Formen der Wissensproduktion nicht allein auf Kantischen Vorstellungen von Rationalität beruhte. Viel entscheidender waren nach Foucault damit verbundene Regime der Sichtbarkeit und des Sichtbarmachens. So gewannen jene an Souveränität, die mit Hilfe empirischer Methoden des Beobachtens, Erfassens und Dokumentierens den »großen Mythos vom unverfälschten Blick« (ebd. 68) nährten. Die Geburt der Klinik und ihre dazugehörende Archäologie des ärztlichen Blicks sind für Foucault daher kein zufällig gewähltes Untersuchungsfeld. Vielmehr bringen sie die Zusammenhänge von modernen Wissensformen und institutionalisierter Macht symptomatisch zum Ausdruck: »Die Idee eines transparenten Bereiches, der dem allerdings mit Privilegien und Kompetenzen ausgerüsteten Blick gänzlich offen steht, verflüchtigte alle ihre Schwierigkeiten in die Allmacht der Freiheit: in ihr sollte die Krankheit von sich aus ihre unverfälschte Wahrheit formulieren und dem Blick des Arztes ganz rein darbieten. Und die medizinisch erfaßte, durchgebildete und überwachte Gesellschaft sollte sich dadurch von der Krankheit überhaupt befreien.«12 (Ebd. 68)

Das Credo, bestimmte Bevölkerungsgruppen auf bestimmte Weise in ihren intimsten Bereichen zu beforschen und dabei selbst außerhalb des Radars zu sein, aktualisiert Haraways Beobachtung als »a leap out of the marked body into the conquering gaze from nowhere. A gaze which inscribes all marked bodies, that makes the unmarked category claim the power to see and not be seen, to represent, while escaping representation.« (Haraway 1988: 581) Im Fall des hier untersuchten Forschungsfeldes bleibt der abstrakte Betrachter vor allem deshalb außerhalb der Reich- und Sichtweite, weil er den (muslimischen) Anderen in seiner verkörperten Andersartigkeit forschend markiert und dabei selbst hinter entkörperter wissenschaftlicher Objektivität unsichtbar bleibt. Besonders deutlich wird dies bei den inflationär auftauchenden Fragen zu

12 | Foucault weist in diesem Kontext vor allem auf die Licht- und Schattenseiten dieser Zusammenhänge hin: »Das ist der große Mythos vom freien Blick, der in seiner Treue zum Entdecken die Kraft zum Zerstören empfängt: der gereinigte Blick ist ein reinigender Blick; von jedem Schatten befreit, vertreibt er die Schatten. Die kosmologischen Bedeutungen der ›Aufklärung‹ spielen auch hier noch herein. Der ärztliche Blick, dessen Macht man anzuerkennen beginnt, hat seine neuen Bedingungen im klinischen Wissen nicht gefunden. Er ist nur ein ins Auge des Arztes transportierter Abschnitt der Dialektik der Aufklärung.« (Ebd.)

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Sexualität und Geschlechterordnungen. Der von Gabriele Dietze in diesem Band herausgearbeitete exzessive Fokus auf als deviant geltende Sexualität des Anderen findet vor allem in der Survey-Forschung zu Sexualverhalten und Gendervorstellungen von Muslimen ihre wissenschaftliche Entsprechung (siehe auch Spielhaus 2011b). Aufschlussreich ist auch die Arbeit von Minna Stern (1999), die sich mit dem Entstehungszusammenhang von moderner Kriminologie und den Methoden der Statistik und der Mikrobiologie im 19. Jahrhundert beschäftigt. Stern weist auf die parallelen Entwicklungen von medizinischer Prophylaxe und sozialer Prävention hin. Dabei zeigt sie nicht nur, wie moderne naturwissenschaftliche Methodologien relativ unbeschadet in geistes- und sozialwissenschaftliche Praxis hineingetragen wurden. Ihre Analyse konzentriert sich auch und wohl kaum zufällig auf Formen der Rassisierung, die in diesen Prozessen wirksam wurden. Diese Instrumente der Mikrobiologie und der Statistik repräsentieren mit ihrem Mikro- und Makroblick im Grunde entgegengesetzte Formen der Wissensproduktion. Dennoch teilen sie insofern ähnliche Merkmale, als beide spezifisch moderne Techniken der Wissensproduktion darstellen, die Bevölkerungen und ihre Körper mit dem Anspruch auf Distanz großflächig als Ganzes und mikroskopisch im Kleinsten vermessen, kartographieren und kategorisieren. So trennt auch der mikroskopische Blick das sehende Auge vom mikroskopisch betrachteten Gegenstand. Sterns Begriff des »scopic regime« und den dazugehörenden Instrumenten der Wissensgenerierung (hier des Mikroskops und der Statistik) ist daher keine bloße Metapher. Er verweist vielmehr auf den durchdringenden und inspizierenden Charakter moderner Techniken der Wissensproduktion und die parallele Entwicklung der Erforschung, Diagnostizierung und Therapierung physischer Krankheit und sozialer Abweichung. Die Erforschung von Normalität und Abweichung geht insofern einher mit einem Regime des Sichtbarmachens, das zugleich den Blick vom sehenden Subjekt abwendet und allein auf das Gesehene richtet. Es erübrigt sich wohl zu betonen, dass die fortschreitende Weiterentwicklung neuer Überwachungs- und Medientechnologien diese anonymisierte Durchdringung des Sozialen eher rasant beschleunigt als aufgehalten hat (Mau 2017). Der Blick aus dem Nirgendwo bleibt also vor allem durch die Methoden unmarkiert, die im Fall der Wissensproduktion über Muslime als vermessbare und potenziell normabweichende Größe erneut wahrgesprochen werden. Es wäre aber auch verkürzt, sich allein auf quantitative Forschung oder auf bestimmte Methodologien zu kaprizieren. Auch qualitative Untersuchungen sind nicht per se unproblematisch, selbst wenn sie sich methodologisch von standardisierten Methoden unterscheiden, da direkte Begegnungen mit den Beforschten zu ihrem Kernbestand gehören. Die quantitative Forschung mag per se Positivismus-affiner sein. Doch auch qualitative Untersuchungen

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zu Muslimen in Europa neigen zu Kategorisierungen, Typenbildungen und Unterteilungen, deren epistemologische Grundlagen und gesellschaftspolitische Verortungen sie selten thematisieren. Auch wenn Interpretationsvielfalt und -offenheit eingeräumt wird, verschwindet der Interpret mitsamt seinen normativen und epistemologischen Vorannahmen auch in der qualitativen Forschung letztlich nicht selten hinter dem wissenschaftlich hergeleiteten Anspruch einer grundsätzlichen Distanz zwischen forschendem Subjekt und (interpretierbarem) Objekt. Dies ist keineswegs spezifisch für die Problematik der Forschung zum Islam in Europa. Sie bringt sie allerdings auf besondere Weise zur Geltung.13 Die Reaktivierung und Naturalisierung des unmarkierten Blicks von Nirgendwo findet in diesem Forschungsfeld vor allem eine Parallele durch unmarkierte Vorverständnisse davon, was Religion ist oder idealerweise sein sollte. Damit komme ich zum letzten Schritt meiner Überlegungen.

W issensproduk tion als säkul are P r a xis Während qualitative Forschung durchaus Bescheidenheit über die Repräsentativität ihrer Ergebnisse äußert, bleibt auch sie in diesem Forschungsfeld gemeinhin vor allem zurückhaltend, wenn es darum geht, die Prämissen des zugrunde gelegten Religionsbegriffs sichtbar zu machen. Wenn wir den Logiken der Erforschung und Vermessung bestimmter Bevölkerungen als klar definierbare »Religionsgemeinschaften« genauer auf den Grund gehen wollen, müssen wir die noch grundsätzlichere Frage stellen, welches Verständnis von Religion bemüht und was überhaupt als Religion verhandelt wird und was nicht. Die Antworten darauf werden vielfältig sein. Letztlich entscheiden sie aber maßgeblich darüber, wie über Integrations(un)fähigkeiten oder Kompatibilitäten befunden wird oder ob dies überhaupt die leitende Fragestellung ist. Und wir müssen auch hier nach der Herkunft des religionssoziologischen und -wissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums fragen, das sich  – teils

13 | Wie in vielen anderen Bereichen der qualitativen Sozialforschung, wird auch in diesem Forschungsfeld eine intrinsische Spannung deutlich zwischen einem anti-positivistischen Anspruch einerseits und der stillschweigenden Übernahme positivistischer Methodenrepertoires andererseits. Dies zeigt sich etwa in dem auch in qualitativer Sozialforschung gepflegten Vokabular, das unbedarft auf naturwissenschaftliche Wissensbestände zurückgreift, die alles andere als unproblematisch sind – Induktion, Abduktion, Deduktion, Verifikation, Falsifikation etc. (siehe Hindess 1977; Feyerabend 2010). Ganz besonders zur Geltung kommt diese Spannung bei methodologischen Neuschöpfungen wie der »objektiven Hermeneutik« (vgl. Oevermann/Allert/Konau/Krambeck 1979; Wernet 2000).

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stillschweigend – in den Kanon unterschiedlicher Disziplinen eingeschrieben hat. Dabei sind nicht nur die Archive der Religionssoziologie und -wissenschaft14 nach ihrem orientalistischen und/oder rassistischen Gepäck zu durchforsten (siehe Anna Daniel und Manuela Boatcă in diesem Band). Vielmehr ist noch weitläufiger zu fragen, warum sich der Anspruch auf Universalisierbarkeit von Religion als Kompaktbegriff auch in vielen anderen beteiligten Disziplinen so hartnäckig aufrechterhält, obwohl er auf spezifischen – vor allem christlich geprägten – Erfahrungen beruht. Gerade um die Epistemologien der muslimischen Frage in Europa in ihren Genealogien zumindest ansatzweise begreifen zu können, ist daher auch der Blick auf »Religion« als modernes Klassifikationssystem unabdingbar. Die umstandslose Übertragung moderner Religionsbegriffe auf islamische Diskurstraditionen bleibt vor allem dann fraglich, wenn diese spezifisch christlichen Erfahrungen mitsamt ihren historischen Verflechtungen nicht Gegenstand der Reflexion sind (Asad 1986; 2003; Ahmed 2016). In einem Interview zum 20. Jubiläum seiner Genealogies of Religion (1993) bringt Talal Asad (2014) die Problematiken von Vorab- und Kompaktdefinitionen vortrefflich auf den Punkt: »I argued that to define ›religion‹ is to circumscribe certain things (times, spaces, powers, knowledges, beliefs, behaviors, texts, songs, images) as essential to ›religion,‹ and other things as accidental. This identifying work of what belongs to a definition isn’t done as a consequence of the same experience—the things themselves are diverse, and the way people react to them or use them is very different. Put it this way: when they are identified by the concept ›religion‹, it is because they are seen to be significantly similar; what makes them similar is not a singular experience common to all the things the concept brings together (sacrality, divinity, spirituality, transcendence etc.); what makes them similar is the definition itself that persuades us, through what Wittgenstein called a ›captivating picture‹, that there is an essence underlying them all—in all instances of ›religion‹.« (Ebd. 12)

Autoren wie Gil Anidjar (2003; 2008) oder Tomoko Masuzawa (2005) haben gezeigt, wie diese Erfahrungen und ihre Überführung in wissenschaftliche Begriffsrepertoires zu keiner Zeit in Isolation, sondern immer in Korrespondenz oder – weitaus häufiger – in Abgrenzung zu anderen »Weltreligionen« entstanden sind. Besonders erinnerungswürdig sind dabei die Verbrämungen

14 | Unter Religionswissenschaft würde ich hier auch die Islamwissenschaft fassen, selbst wenn die disziplinäre Verortung ambivalenter ist und Islamwissenschaft teils den Regionalstudien (Naher/Mittler Osten), teils grob der Kulturwissenschaft oder auch der Philologie zugeordnet wird.

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von imperialen und kolonialen Projekten und der Formierung von eigenständigen Disziplinen wie der Religionswissenschaft, den sogenannten »Orientstudien«, aber auch der Religionssoziologie im Verlauf des 19., beginnenden 20. Jahrhunderts. Denn hier verdichtet sich erstmals die akademische Etablierung eines modernen Religionsbegriffs, an dem »andere Religionen« global gemessen, erforscht und vor allem hierarchisiert wurden. Masuzawa (2005) etwa hat herausgearbeitet, wie im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Entstehung eines säkularisierten Religionsbegriffs als Emanzipationsbewegung innerhalb europäischer Nationalstaaten zugleich mit der Anordnung anderer »Weltreligionen« als Freunde oder Feinde einherging. Sie macht deutlich, wie diese Konstruktionen wesentlich an Rassen- und Sprachgruppentheorien angelehnt waren. Unter der Ägide der sich etablierenden Disziplinen der Vergleichenden Religionswissenschaft und der orientalischen Philologien wurden damit wissenschaftlich Allianzen zwischen »christlich-arischer« Religion und Buddhismus konstruiert. Während dem Christentum mit seinen buddhistischen Verbündeten unhinterfragter Universalitätsanspruch zugesichert wurde, wurde das Judentum seiner universellen Ambitionen entledigt und zur »Diaspora«, »Minderheit« bzw. nach und nach zur naturalisierten »Rasse«. Der Islam hingegen wurde als unbeweglicher, inhärent politischer und zivilisierungsbedürftiger Gegenpart zum universalisierbaren Christentum entworfen, das durch Selbstkritik und Reflexivität die Regeln der Aufklärung verinnerlicht und verdaut zu haben vorgab. Der Wandel der Konstruktion des Islams und des Judentums zu »semitischen« und daher ethnischen Logiken unterworfenen »Weltreligionen« ist Masuzawa zufolge vor allem im Zusammenhang mit kolonialer Herrschaft zu betrachten und war mit folgenreichen Interventionen eben auch in Wissensregime verbunden. Auch die Religionssoziologie als Folgedisziplin der christlich-protestantischen Theologie hat wesentlich dazu beigetragen, dass Religion zum abgrenzbaren Untersuchungsfeld heranwuchs und Weltregionen zugleich in Weltreligionen unterteilt und vergleichend untersucht wurden (Salvatore 1999). Vor allem die vorwiegend qualitativ arbeitende, religionssoziologisch orientierte Forschung zu Muslimen in Europa ist durchdrungen von dem, was Armando Salvatore (1999) in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Wissenskategorie des »politischen Islams« als »Weberismus« bezeichnet hat (siehe auch Zimmermann 2013). Damit ist weniger eine stoisch an Weber orientierte Religionssoziologie gemeint. Mit Weberismus umschreibt Salvatore eher die Grund­annahme, Religion sei eine klar definierbare, abgrenz- und unterscheidbare Kategorie, die sich umstandslos universell und allerorts auf die gleiche Weise untersuchen ließe und deren christlich-protestantische Prägung zumeist unterschlagen wird (siehe auch Daniel in diesem Band). Die Einwicklung von generalisierbaren Methodologien und vermeintlich universellen Kategorien von Religion findet insofern in der wissenschaftlichen Erforschung

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»anderer Religionen« nicht nur eine zeitliche Entsprechung, sondern entfaltet hier überhaupt erst ihre epistemologische Grammatik. Es ist daher kaum möglich, eine Disziplin isoliert herausgreifen und einer Überproduktion an Wissen zum Islam und zu Muslimen als quasi-naturalisierte Religionsgemeinschaft zu bezichtigen. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der DIK verweist Levent Teczan (2012: Kap. 2) beispielsweise auf den Begründer der modernen Islamwissenschaft am Hamburger Kolonialinstitut, Carl Heinrich Becker (1876-1933), der im deutschsprachigen Raum erstmals den Begriff der »Islampolitik« in Umlauf gebracht hat. Tezcan interpretiert die DIK entsprechend als eine Fortsetzung und Verlagerung der von Becker nach außen gerichteten Islampolitik ins Innere Deutschlands. Er weist überdies auf zentrale semantische Ähnlichkeiten zwischen gegenwärtigen und kolonialen Islamdiskursen hin, vor allem im Hinblick auf das teleologische Projekt, den Islam mit dem als gezähmt geltenden Christentum zu einem »Euro-Islam« zu verschmelzen. Zwar erwähnt Tezcan dabei auch die Verknüpfung von Wissensproduktion und kolonialen bzw. imperialen Herrschaftsansprüchen. Seine Kritik bleibt jedoch insgesamt verhalten, weil er allein die Islamwissenschaft als federführende Disziplin problematisiert (Tezcan 2012: 24).15 Mittlerweile ist allerdings hinreichend bekannt, dass C.H. Becker die Islam­politik des Kaiserreichs zugleich mit einem ausgewiesen sozialwissenschaftlichen Instrumentarium und in regem Austausch mit Max Weber und anderen sozialwissenschaftlichen Verbündeten informierte (Haridi 2005; Marchand 2009). Becker folgte damit einem Trend, der sich im späten 19. Jahrhundert in Deutschland herauskristallisierte und der von früheren Orientalisten wie Martin Hartmann angestoßen wurde: Die Orientalistik sollte mit Hilfe sozialwissenschaftlicher Methoden aus ihrem vermeintlich unpolitischen philologischen Dornröschenschlaf geweckt und politisch anschlussfähig gemacht werden. Suzanne Marchand (2009) gibt entsprechend zu bedenken, dass C.H. Becker vor allem die sozialtheoretischen und geschichtsphilosophischen Kapazitäten des Fachs aktivieren und damit aus Disziplinen schöpfen wollte, die

15 | So problematisch auch islamwissenschaftliche Forschung vor allem in ihren orientalistischen Spielarten sein mag, so sehr erstaunt es, dass die Archive dieser Disziplin im Untersuchungsfeld Islam/Muslime in Europa so ganz und gar ignoriert werden. Der mit der Entstehung der Sozialwissenschaften eingeschriebene Anspruch, Konzepte und Kategorien im Sinne von »Meta-Narrativen« (Lyotard 1979) zu begründen, an denen sodann der Rest der Welt vermessen wurde, scheint in der gegenwärtigen Forschung zu Muslimen in Europa eine Entsprechung zu finden. Der Universalbegriff »Religion« ist dabei nur eine, für mich aber entscheidende Variante unter vielen anderen folgenschweren Kategorisierungen wie Geschichte, Gesellschaft, Staat etc. (siehe auch Chakrabarty 2000; Mignolo 2009).

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für politische Eingriffsoptionen eher gerüstet waren: »The method of Islamforschung had to escape the limitations imposed by the sciences of the previous generation; it had to produce synthetic and useful, not philologically fragmented and culture-isolating histories.« (Ebd. 363) Webers Vergleichende Religionssoziologie und hier vor allem sein Blick auf den Islam als kriegerische, rückständige und in Schach zu haltende Religion war wiederum wesentlich von Becker und früheren Orientalisten informiert (Turner 1974; Haridi 2005; Marchand 2009). Beide teilten überdies die Ansicht, Wissenschaft müsse politikfähig sein, selbst wenn Weber im nächsten Atemzug das Dogma von der wissenschaftlichen Neutralität pries und prägte (siehe auch Boatcă in diesem Band). So erhoben Orientalisten, Islamwissenschaftler, aber auch Sozialwissenschaftler einerseits den Anspruch, Wissen über den Islam und über Muslime in »Reinform« zu liefern. Sie kultivierten den Mythos von neutraler und objektiver Wissenschaftlichkeit. Andererseits aber sollte dieses Wissen der Politik dienlich sein – eine Politik, die auf Herrschaftswissen angewiesen war, um die koloniale Landnahme oder imperialistische Verflechtung epistemologisch zu rechtfertigen. Diese Ambivalenz zieht sich wie ein roter Faden durch die Islamforschung auch der nächsten Generationen, selbst wenn sie sich auf andere Weise, in anderem Vokabular und häufig sehr viel subtiler äußert. Besonders bemerkenswert erscheint mir für den Zusammenhang meiner Diskussion hierbei, dass sich ein im Grunde partikularer Religionsgriff langfristig in wissenschaftliche und politische Klassifizierungsordnungen eingeschrieben hat. Der Islam und andere »Weltreligionen« werden auch heute noch vielfach daran gemessen. Wenn etwa Muslime in verschiedenen europäischen Ländern mit Christen (Koopmans 2015) verglichen werden, so vermag dies die Binarität zwischen markierter Minderheit und unmarkierter Mehrheit gerade nicht zu überwinden. Eher befördert sie sie sogar auf besondere Weise. So erzwingen und erzeugen solcherlei Vergleiche nicht nur vermeintlich eindeutige Identitätsparameter. Sie klammern auch systematisch strukturelle Benachteiligungen aus, zu denen auch institutionalisierte und epistemologische Privilegien des Christentums als unmarkierte Matrix moderner Religionsverständnisse zählen. Wenn alles andere als unstrittige Schlüsselkategorien der Religionssoziologie wie Individualisierung, Privatisierung, funktionelle Differenzierung oder Säkularisierung zum unhinterfragten Maßstab der (In-)Kompatibilität von islamischen Lebensformen und liberalen Gesellschaften herangezogen werden, überrascht es kaum, dass Muslime in das Register »streng religiös«, »orthodox« oder »fundamentalistisch« sortiert und typologisiert werden, wenn sie ihre Religion nicht als von anderen Bereichen des Alltags trennbar betrachten. Die markantesten Merkmale des christlich geprägten Religionsbegriffs sind die hierarchischen kirchlichen Autoritätsstrukturen, die Forschung und

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Politik zur Suche nach der einen repräsentativen muslimischen Stimme europaweit gegenwärtig beflügeln. Aber auch die in dieses Vokabular eingeschriebene Unterscheidung zwischen innerem Glauben (forum internum) und äußerer Praxis (forum externum) lässt sichtbare islamische (Körper-)Praxis notgedrungen außergewöhnlich erscheinen und verweist eingebübte Rituale und Frömmigkeitspraktiken rasch in das Register der normüberschreitenden Sichtbarkeit (hierzu Fernando 2012; Asad 2014: 14). Auch hier sind jedoch selbst die wohlwollenden Töne, die Muslime in ein liberal-säkulares Projekt aufzunehmen versuchen, nach ihren religionspolitischen Vorannahmen zu befragen. So sollten wir hellhörig sein, wenn etwa Olivier Roy (2010) in seiner Forschung zum globalen Islam erklärt, für den Großteil der Muslime in Europa sei der Islam nicht mehr als einer von vielen Identitätsmarkern und damit »eine Religion wie alle anderen«16. Eine Religion unter vielen zu werden, bedeutet für Roy im Klartext, die religiöse Markierung zu überwinden und zu verinnerlichen. Ähnlich ist auch die seit Ende der 1990er-Jahre prominente These von der Individualisierung und/oder Säkularisierung des Islams in Europa alles andere als frei von problematischen Rahmungen (siehe kritisch Amir-Moazami/Salvatore 2003; Peter 2006). Die Befunde lesen sich dann nicht selten wie eine Gegenstimme zum schrillen dominanten Diskurs, der vorwiegend auf »radikale« oder »streng gläubige« und mit liberalen Werten unvereinbare Muslime fokussiert. Muslime in Europa sind dann säkularisiert, individualisiert. Ihre Religiosität entspringt der freien Wahl und – so insbesondere bei der Forschung zu muslimischen Frauen  – einem emanzipatorischen Bewusstsein, das sich gegen überkommene Traditionen der Eltern wendet (Babès 1997; Venel 1999; Boubaker 2004). Der Islam wird zu einer »Religion« im eigentlichen Sinne und damit immunisiert von problematischen Formen der Vergemeinschaftung oder von exzessiver Frömmigkeit. Er wird kompatibel mit dem Religionsverständnis europäischer Wissenschaft und rastet somit in die Prämissen liberaler Demokratien ein. Religion wird bloßer Glaube, verinnerlicht, privatisiert und damit öffentlich unerheblich; körperliche islamische Praxis indes lediglich eines von vielen Zeichen, das Identitätssuchende nach außen tragen. Auch in solchen Ansätzen wird islamische Praxis damit letztlich auf ihre Lesbarkeit emanzipatorischer, liberaler oder moderner Projekte reduziert (siehe Doughan und Tzuberi sowie Bracke und Fadil in diesem Band). Indem der Islam unreflektiert in das Korsett einer vermeintlich universalen, bei näherem Hinsehen aber auf den Erfahrungen

16 | www.youtube.com/watch?v=zZ2Zsz434I8. Roy gehört allerdings auch zu jenen Autoren, die behaupten, die voranschreitende Individualisierung des Islams hätte wegen seiner »dogmatic affirmation of immutable principles« (2002: 90) nicht dieselbe kritische Kraft wie das westliche Christentum entfalten können.

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des säkularisierten Christentums beruhenden Religion gezwängt wird, stehen auch diese gutgemeinten Ansätze letztlich in einer Komplizenschaft mit säkular-liberaler Wissensproduktion. So ist auch der in der Forschung vorangetriebene Tenor, Muslime nicht allein als religiöse Subjekte zu betrachten, sondern als »Bürger« oder »Individuen« wie alle anderen mit dynamischen, heterogenen und teils widersprüchlichen Identifikationen, zwar nachvollziehbar und politisch zweifellos unabdingbar. Doch auch dieser Befund adressiert letztlich nicht die subtilen Machtmechanismen, die Subjekte auch in ihren vielfältigen und widersprüchlichen Identifikation zu »gewöhnlichen Bürgern« formen. Wenn wir die auch durch die Forschung selbst immer wieder perpetuierten Formen der Ver-Anderung in ihren komplexen Subjektivierungsweisen ernstnehmen, so lassen sich nicht mehr schlicht glückliche Mischungen, multiple Identitäten oder individualisierte, säkularisierte und mit liberalen Werten vereinbare muslimische Subjekte beschwören. Muslime sind als Subjekte bereits markiert, ehe sie sich selbst über ihre Identifizierungen äußern oder frei darüber verfügen können. Ihre Religionsformen lassen sich außerdem nicht immer umstandslos mit dem Vokabular liberaler Projekte oder säkularisierter Religionsverständnisse fassen (Mahmood 2005). So wohlwollend solche Befunde zunächst erscheinen mögen, so sehr reproduzieren auch sie letztlich liberal-säkulare Befindlichkeiten und ein religionssoziologisches Begriffsrepertoire, dessen eigene Historizität und Partikularität selten reflektiert wird. Das nachvollziehbare Unbehagen gegenüber der Essentialisierung des Anderen weicht hier seiner Normalisierung (siehe Amir-Moazami/Salvatore 2003). Politisch mag dies auf den ersten Blick angebracht und sogar nötig sein. Aus der Perspektive kritischer Forschung und damit auch politisch auf den zweiten Blick reproduziert die Normalisierung allerdings die Unzulänglichkeiten des Fragerahmens, anstatt sie selbst zum Bestandteil der Analyse zu machen. Im Zusammenhang mit der Diskursanreizung und -verknappung zu Muslimen in Europa muss aber auch die liberal-säkulare Matrix in ihrem nationalstaatlichen Bezugsrahmen, in ihren freiheitsstiftenden Dynamiken und in ihren komplexen Machtstrukturen hinterfragt werden. Denn diese Matrix beeinflusst auch die Arten und Weisen, wie sich Muslime auf islamische Diskurstraditionen beziehen. Das epistemologische und politische Repertoire der gegenwärtigen Forschung zum Islam in Europa lässt sich insofern nicht begreifen, wenn wir es nicht grundlegend in seiner säkularen Grammatik begreifen. Damit meine ich nicht allein die Vorherrschaft von Wissenschaft und Vernunft als Gegensätze zu Glauben und Transzendenz, sondern eben auch ein modernes Begriffsrepertoire, das »Religion« als distinktive Sphäre betrachtet, die sich von anderen gesellschaftlichen Subsphären trennen lässt. Wenn ich also den Willen zum Wissen, zur Wahrheit und zur Macht in diesem Forschungsfeld als

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säkulare Praxis bezeichne, so meine ich zugleich, dass genau diese partikulare Erfahrung immer wieder aufs Neue und unter neuen Vorzeichen reproduziert wird, dabei aber unmarkiert bleibt. Der säkulare Impetus besteht hier weniger darin, dass eine ein für alle Mal fixierte Norm von Religion formuliert wäre. Eher wird ein bestimmter Fragerahmen vorgegeben, innerhalb dessen Muslime sich positionieren müssen und dessen eigene Voraussetzungen unangetastet bleiben. Dieser Fragerahmen wird vor allem durch die vermehrte Inspektion von andersartiger Religiosität immer wieder aufs Neue bekräftigt: Sind Muslime auf dem Weg ihre Religion zu reformieren? Ist der Islam überhaupt reformierbar? Wo steckt der islamische Luther? Können Muslime ihre Religiosität individualisieren oder privatisieren? Ist der Islam frauenfeindlich oder kann er auch emanzipierend wirken (siehe Sarah Bracke und Nadia Fadil in diesem Band) etc.? Wie ich zu zeigen versucht habe, verdichtet sich dieser Fragenkatalog in der auch die Forschung durchdringen Frage: Sind Muslime in liberal-säkulare Gesellschaften integrierbar? Wenn wir diesen Fragerahmen zugrunde legen, ist der Islam entweder invasiv oder er verschwindet. Er ist entweder eine außergewöhnliche – weil politisch verbrämte – Lebensform oder er wird zur Religion, wie es (post-)moderne Religionskonzepte vorsehen – frei flottierend, religionskritisch, frei gewählt und verinnerlicht. Muslime sind entweder integriert und fügen sich in einen vorgegeben nationalen Rahmen des Arrangements von Staat, Kirche und Nation ein oder sie bleiben radikal anders. Die assimilierenden Kräfte des Nationalstaates finden in den assimilierenden, weil universalisierenden epistemologischen Kategorien der Forschung zu Muslimen in Europa folglich ihre Entsprechung.

S chluss Was folgt nun aus all der Kritik? In erster Linie folgt daraus eine Wendung der einseitigen Blickrichtung (»Was ist falsch mit dem Islam oder wie lässt er sich als integrierende Ressource nutzen?«). Auf einer allgemeinen Ebene bedeutet dies, sich der epistemologischen Strukturen gewahr zu werden, die politische wie wissenschaftliche Forschungsfragen und -gegenstände prägen. Dies erfordert eine permanente Auseinandersetzung mit den oft unmarkierten  – weil verinnerlichten und habitualisierten – Vorannahmen und damit eine kritische (Selbst-)Reflexion über disziplinäre Praxis, ihre Methodologien und allgemeiner über die Frage, in welchem Diskursraum das Wissen steht. Dies wiederum bedeutet, die aktuelle Gegenwart immer wieder auf Distanz zu bringen und nach ihrer Gewordenheit zu fragen. Entsprechend müssen wir die Frage stellen, wie die Mechanismen des Ins-Visier-Nehmens von markierter Andersartigkeit mit einer längeren Geschichte von akademischer Wissensproduktion und (post-)kolonialer Machtreproduktion verknüpft sind, die Minderheiten

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oder entferntere Andere in ein zivilisatorisches Projekt einfasst oder ihnen radikale Andersartigkeit attestiert. Die Historizität ins Blickfeld zu rücken, ist vor allem deshalb so wichtig, weil auf diese Weise auch die durch Forschung vorangetriebene Außergewöhnlichkeit des (Forschungs-)Gegenstandes sichtbar wird. Andererseits könnte damit deutlich werden, dass hier eingeschriebene Epistemologien am Werk sind, die nur durch genealogisches Arbeiten abgetragen und in ihren Widersprüchen sichtbar gemacht werden können. Eine feingliedrigere Historisierung könnte möglicherweise auch Aufschluss darüber geben, warum sich trotz poststrukturalistischer, postmoderner und postkolonialer Kritik der Glaube an objektive Wissenschaft auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften so hartnäckig hält (hierzu auch Steinmetz 2005)  – oder besser: warum positivistische Epistemologien ausgerechnet in diesem Forschungsfeld gegenwärtig eine neue Blütezeit erleben. In diesem Sinne konnte meine Analyse nur äußerst vorläufig, punktuell und programmatisch andeuten, was zu tun wäre, wenn wir die Mechanismen der Wissensproduktion über Muslime in Europa besser begreifen wollten. Wenn wir hier genauer nachspüren wollten, so müssten wir den Entstehungskontexten sozialwissenschaftlicher Forschung und ihren Funktionen in nationalstaatlichen und imperialen Gefügen auf den Grund gehen (Steinmetz 2005; 2015; Mignolo 2009) und systematischer mit den Formaten der akademischen Forschung zu Muslimen in Europa ins Gespräch bringen. Es müsste dabei viel detaillierter der privilegierte Status bestimmter wissenschaftlicher Formate ins Licht gerückt werden. Dabei müsste auch die Frage gestellt werden, wie, also durch welche Institutionen und Diskurse, vor allem jene Forschung hegemonial geworden ist, die komplexe gesellschaftliche Strukturen und soziale Beziehungen zu handbaren Analyseeinheiten verknappt. Eine Historisierung könnte vor allem noch deutlicher machen, dass die »muslimische Frage« in Europa letztlich eingeschriebene Widersprüche und Ungereimtheiten des vermeintlich neutralen  – nationalen  – Verfassungsstaates und der Wissensproduktion auf neue Weise zur Geltung bringt, nicht aber verursacht. Auch in diesem Sinne sollten meine Überlegungen vor allem zum weiteren Nachspüren anregen und zwar insbesondere nach den Verbindungen von staatlich organisierter und vorangetriebener Integration und akademischer Wissensproduktion, die Minderheiten zu regulierbaren und wissenschaftlich untersuchbaren Kategorien und Analyseeinheiten formt – basierend hauptsächlich auf dem Ideal eines gezähmten, säkularisierten Christentums. Es wäre auch noch viel gründlicher über die intime Verbindung zwischen universalen Kategorien von Religion und dem Anspruch universalisierbarer Theorien und Methoden nachzudenken. Entsprechend müsste genauer geschaut werden, wie sich das Christentum vor allem in seinen protestantischen Spielarten in säkularisierte Konzeptionen von Staat, Nation und Religion eingeschrieben hat und damit zur

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unmarkierten, entkörperten und universalistischen Norm, zum Privileg und zugleich zum wissenschaftlichen Konzept avancierte (siehe Anidjar 2014)17. Die gegenwärtige »muslimische Frage« in Europa scheint insofern bereits bestehende, selten aber verknüpfte Zusammenhänge zum Vorschein zu bringen. So steht besonders eine Analyse der wissenschaftlich unterstützten Verbindungen von Rasse- und Religionskonstruktion im Inneren und Äußeren des Nationalstaates noch aus (in Ansätzen Anidjar 2003; 2008; 2014, Mufti 2007; Meer 2013). Interessanterweise ist die Wirkmächtigkeit rassistischer Ordnungskategorien auch in ihren kulturalistischen Spielarten mittlerweile vielfach hinterfragt und kritisiert worden. Die Kritik an der Einverleibungskraft des modernen Religionsbegriffs hat sich hingegen in einem akademischen Paralleluniversum herausgebildet. Auch die für die »muslimische Frage« in Europa einschlägige Kritik am Säkularismus als religionsstrukturierend und -regulierend (Asad 2003; Hirschkind 2011; Agrama 2010; Mahmood 2015) wurde von der Orientalismuskritik kaum rezipiert. Diese Kritik hat zwar deutlich gemacht, auf welche Weise die auf materielle Ausbeutung ausgerichtete Expansion Europas einherging mit epistemologischen Eingriffen, die langfristige Folgen für Wissensordnungen und -ökonomien hatte (Said 1995 [1978]; Yeğenoğlu 1999). Allerdings hat sie die Religionsfrage vorwiegend als beiläufige Variante kulturalistischer Deutungsmuster und »Orient-Imaginationen« verhandelt. Ähnlich blieb auch die Kritik am gegenwärtigen anti-muslimischen Rassismus bislang bei der Frage eigentümlich still, inwieweit moderne kulturelle, nationale und rassistische Differenzmarkierungen an christlich formierte Kategorisierungen über das Andere (den »Juden«, den »Araber«, den »Semiten« etc.) anknüpfen und wie dies in moderne verwissenschaftlichte und ausgewiesen säkulare Diskurse übersetzt wurde (Anidjar 2008; Nirenberg 2013). Die Kritik greift jedoch zu kurz, wenn sie »Religion« schlicht unter »Kultur« subsumiert und die Mechanismen der Erzeugung von Religionsnormen durch den säkularen Staat und seine institutionalisierten Spielarten der Wissensproduktion unangetastet lässt. Es erstaunt daher, dass die reichhaltigen transregionalen,

17 | Gil Anidjar geht entsprechend der Frage nach, ob das Christentum nicht viel mehr meine als vielfach angenommen, dass es letztlich auch durch moderne Religionsbegriffe nicht hinreichend zu fassen sei, selbst wenn es sie modelliert habe, sondern weitläufiger, umfassender sei: »The historicity of the concept of religion means that we can no longer presume that religion is an accurate – and trans-historical – description of Christianity, or that, after having granted the status of religion to a convenient number of ›traditions‹, Christianity would be merely one religion among others. Precisely because the concept of religion is very much a part of Christian history, part of the spread and rule of Christianity, it should not be privileged as a category of understanding, much less as a descriptive instrument.« (Anidjar 2015: 42)

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transkulturellen und postkolonialen Diskussionen um die (Un-)Brauchbarkeit vermeintlich universeller Religionsbegriffe und ihren säkularen Anlagerungen (hierzu Salvatore 1999; Asad 1993; Bergunder 2011; Nehring 2012; Ahmed 2016: Kap. 3) die Forschung zu Muslimen in Europa nur am Rande erreicht haben (hierzu Amir-Moazami/Salvatore 2003; Peter 2006; Fernando und Fadil 2015; Amir-Moazami 2016b). Damit zeigt sich, dass auch die Frage nach den Genealogien und Funktionen disziplinärer Ordnungen und Trennungen für dieses Forschungsfeld noch einmal neu gestellt werden müsste. Denn hier deutet sich ein Zusammenhang an zwischen der Unterteilung in europäisch formierte theorie- und methodenstarke »Disziplinen« (Sozialwissenschaften) und dem nichteuropäischen regionalen Rest (»Area Studies«, »Kleine Fächer«) auf der einen Seite und der Unterteilung in angemessenes, weil verallgemeinerbares Wissen und seinen »epistemologischen Anderen« (Steinmetz 2005; Mignolo 2009) auf der anderen, die vorwiegend als Anschauungs- oder Vergleichsmaterial dienen. Eine solche Wendung und Öffnung der Blick- und Fragerichtungen impliziert gerade nicht den Anspruch auf unbeteiligte oder neutrale Beobachtung. Eher müssen wir uns dann eingestehen, dass wir selbst Teil des Problems sind. Den Machtasymmetrien und -techniken kann somit keine Forschung zu Muslimen in Europa entkommen. Teils befördert sie sie sogar intrinsisch. Anstatt also in die Fragerahmungen einzustimmen oder voreilig zu alternativen Methodologien zu schreiten, besteht ein erster, grundlegender Schritt darin, die epistemologischen Praktiken in ihren komplexen und vielfach einverleibten Operationen und gesellschaftspolitischen Verstrickungen überhaupt erst einmal zu begreifen und uns dabei jeweils selbst kritisch in den forschenden Blick einzubeziehen.

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Die Vermessung der Muslime Ein Jahrzehnt quantitativer Forschung zu Muslimen in Westeuropa1 Birgitte Schepelern Johansen und Riem Spielhaus »The fiction of the census is that everyone is in it, and that everyone has one – and only one – extremely clear place. No fractions.« (A nderson 1991: 165-166)

E inleitung Die Bewusstwerdung der Präsenz von Muslim_innen in Westeuropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts führte zu einem wachsenden Interesse verschiedener Akteur_innen aus Politik, Wissenschaft, Medien und der Zivilgesellschaft an Wissen über muslimische Bevölkerungsgruppen. Es entstanden – in vielen westeuropäischen Ländern erstmals – zahlreiche quantitative Erhebungen und Meinungsumfragen unter Muslim_innen. Die Quantifizierung ist Teil eines Prozesses, in dem Muslime zu einer hochpolitisierten Kategorie wurden. Deshalb enthalten die Befragungen und Meinungsumfragen wertvolle Informationen nicht nur darüber, was Muslim_innen denken und tun, sondern auch über die derzeit dominanten Vorstellungen davon, wer diese Muslime sind.

1 | Dieser Beitrag entstand im Rahmen des an der Universität Kopenhagen durchgeführten Forschungsprojekts Mapping a decade’s surveys and opinion polls on Muslims in Europe. Er beruht auf einem 2012 im Journal for Muslims in Europe unter dem Titel »Counting Deviance: Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western Europe« erschienen Artikel, wurde von Stefanie Grolig übersetzten und von Riem Spielhaus leicht überarbeitetet. Für ihre konstruktiven Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Textes danken wir unseren Kolleg_innen, insbesondere Jørgen Nielsen, Annelies Moors, Göran Larsson und Schirin Amir-Moazami.

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Dieser Artikel geht den Vorstellungen von Muslim_innen in der Islamdebatte nach, indem er die Konstruktion und Operationalisierung der Kategorie Muslim in Befragungen untersucht: anhand der Erkenntnisziele der Erhebungen, der Zusammenstellung ihrer Stichproben, der darin angesprochenen Themen und nicht zuletzt auch anhand der Auslassungen – den nicht gestellten Fragen. Eine eingehende Untersuchung der Wissensproduktion zu Muslim_innen ist aus mehreren Gründen relevant. So gehört die Reflexion möglicher Einschreibungen des gesellschaftlichen Diskurses in die Forschung zu den Arbeitsschritten wissenschaftlichen Vorgehens. Geht es doch im Sinne methodischer Redlichkeit darum zu verhindern, dass ihre Ergebnisse stärker durch unausgesprochene Vorannahmen geprägt sind als durch die Empirie (Brubaker 2013: 5ff.). Das setzt das Hinterfragen vermeintlich natürlicher Gegebenheiten voraus. Wie der Soziologe Rogers Brubaker betont, bildet die Kennzeichnung des Forschungsgegenstandes als Muslim_innen und damit mit einem religiösen und nicht mehr  – wie zuvor weitaus üblicher  – einem ethnischen, nationalen oder sozialen Marker nicht einfach eine belanglose Begriffsverschiebung. Sie betont vielmehr die (vermeintlich) religiöse Zugehörigkeit und die Differenz der zu Untersuchenden von der Gesamtbevölkerung. Das Risiko, so Brubaker, liege hierbei darin, dass Religion und religiöse Differenz als Referenzrahmen der Untersuchung auf Kosten anderer womöglich relevanterer Referenzrahmen hervorgehoben werde (Brubaker 2013: 6). Einer reflektierten Forschung kommt Levent Tezcan zufolge die Aufgabe zu, die in der Islamdebatte wirksamen Zuschreibungsprozesse, also die »Islamisierung«2 von Eingewanderten in ihrer Effektivität als sozialen Tatbestand ernst zu nehmen, diese jedoch nicht unkritisch zu bedienen und fortzuführen (Tezcan 2011: 359). Die Reflexion der Wissenserzeugung in quantitativen Erhebungen ist für politisch brisante Themenfelder von besonders großer Bedeutung, denn Zahlen – insbesondere in Form von statistischen Darstellungen – vermitteln zwischen verschiedenen Wissensfeldern wie Wissenschaft, Medien und Politik und numerische Aussagen setzen sich häufig gegen andere Argumente durch (Cohen 2005). Damit können quantitative Erhebungen relevante Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit von Individuen und Gemeinschaften haben, vor allem dann, wenn auf ihrer Grundlage Gesetze verändert werden. Befragungen schaffen statistische Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die die Wahrnehmung der Forschungsobjekte – hier von Muslim_innen als Gruppe(n) – in

2 | Mit Islamisierung als Zuschreibung ist also der Prozess der Identifizierung und Ansprache von Menschen mit Herkunft aus einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung gemeint, der zur Annahme der muslimischen Identität führen kann. Ausführlich sind derartige Prozesse dargestellt in Spielhaus 2011 und 2014.

Die Vermessung der Muslime

der Öffentlichkeit prägt, die Aussagen und Forderungen von Vertreter_innen religiöser Minderheiten unterstützen oder die Markierung von Muslim_innen als besondere Problemgruppe mit besonderer Regelungsbedürftigkeit untermauern kann. Aus der Bedeutung solcher Erhebungen für die Lebenswirklichkeit von Menschen und Gesellschaft erwächst daher nicht zuletzt eine besondere Verantwortung der Forschenden und ein Bedarf zur Reflexion der epistemischen Prämissen der Praxis des Kategorisierens (Hacking 1992). Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen daher nicht die Ergebnisse von Befragungen, sondern der Auf bau quantitativer Studien, anhand derer sich nicht zuletzt das akademische Verständnis vom Muslim offenlegen lässt. Die quantitative Auseinandersetzung mit Muslim_innen in Europa hat ihre Wurzeln in einer längeren Tradition von Beobachtung, Befragung und Bewertung ausgewählter Bevölkerungsgruppen als Teil der staatlichen governmentality (Hacking 1990; Elden 2007). Der Philosoph Ian Hacking erklärte die Bedeutung statistischer Beurteilungen mit ihrer Fähigkeit zur Offenlegung von sonst verborgenen Gesetzen und Mustern des gesellschaftlichen Lebens (Hacking 1990; 1991). Zahlen ermöglichten es, die Komplexität des Lebens in überschaubare und kommunizierbare Einheiten zu zerlegen, die Strukturen, Verbindungen und Kausalitäten nachvollziehbar machen. Aufgrund ihrer (vermeintlichen) Eindeutigkeit werden sie gern zur Entscheidungsfindung und Legitimierung von Regierungshandeln herangezogen (Asad 1994: 56, 68; Cohen 2005). Das statistische Bemühen um die Repräsentation der Bevölkerung und ihrer verschiedenen Subpopulationen erwuchs unter anderem aus dem Interesse, verschiedene Abweichungen im Hinblick auf Kriminalität, Scheidung, Arbeitslosigkeit, Selbstmord und Krankheit zu messen (Asad 1994: 76; Hacking 1999: 161). Daher ist die Geschichte der Statistik auch die Geschichte der Konsolidierung normativer Grenzen wie gesetzlich-ungesetzlich, verheiratet-geschieden oder gesund-krank als wissenschaftliche Fakten. Ein wachsender Bereich der statistischen Wissenserzeugung und darauf basierenden staatlichen Regelungen beschäftigt sich mit Menschen, die die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten: Einwanderungs- und Integrationsstatistiken. Auch wenn Muslim_in zunächst eine religiöse Kategorie darstellt, stehen, wie die hier zugrunde liegende Analyse quantitativer Erhebungen aus acht westeuropäischen Ländern zeigte, viele der standardisierten Erhebungen unter Muslim_innen in dieser Tradition der Messung von Abweichungen von der nationalen Norm. Grund dafür ist die Einbettung der Forderung nach Zahlen und Daten über Muslim_innen in Integrationsdebatten, die seit den 1980er-Jahren in Westeuropa mit den Islamdebatten zusammenfielen und so eine Islamisierung erfahren haben (Tiesler 2006; Sengers/Sunier 2011; Spielhaus 2011a). Islamische Organisationen unterstützten die Forderung nach der Erhebung und Veröffentlichung offizieller Zahlen der Muslim_innen in der Hoffnung, der

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Verweis auf quantitative Daten könnte ihre Forderungen nach Anerkennung und rechtliche Gleichstellung untermauern (Spielhaus 2011b: 696-699). Die hier untersuchten Befragungen sind eingebettet in Debatten über die Präsenz von Muslim_innen in Europa und die Veränderungen und Herausforderungen, die diese Präsenz für europäische Gesellschaften darstellt. Einige Themen wie religiöse Bekleidung, insbesondere das Kopftuch, Terror und Gewalt oder Redefreiheit haben in diesen Debatten Konjunktur und entfalten grenzüberschreitend Wirksamkeit. Gleichzeitig werden Muslim_innen beharrlich als Gruppe von Menschen begriffen, über die wir mehr wissen müssten, was suggeriert, dass sie sich deutlich vom Rest der nationalen Bevölkerung unterschieden (vgl. Brubaker 2013: 6). Den Debatten zugrunde liegt dabei immer wieder die Frage, ob diese mehr oder weniger andersartigen Menschen legitime Mitglieder der jeweiligen nationalen Gemeinschaft sind oder sein können (Morey/Yaqin 2011). Quantitative Erhebungen werden hier als spezifische Form erkenntnistheoretischer Wahrnehmungen von Muslim_innen verstanden. Hier steht jedoch nicht die Qualität oder die Komplexität in der Anwendung der statistischen Methodik im Fokus, sondern die Entstehung der Wissenskategorie Muslim. Es wird so auch nicht die Praxis der Kategorisierung als solche problematisiert. Ziel ist es vielmehr, zu einem vertieften Verständnis der Implikationen verschiedener Formen der Kategorisierung von Muslim_innen beizutragen, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Kategorisierungen nicht natürlich gegeben und auch nicht alternativlos sind. Besonders spannend ist dabei die Frage, wie sich mediale und politische Islamdebatten in die akademische Wissensproduktion eingeschrieben haben. Dies lässt sich an quantitativen Erhebungen besonders gut erkennen, ist aber in Forschungen, die sich ausschließlich qualitativer Erhebungsmethoden bedienen, mindestens genauso wirksam (siehe Schirin Amir-Moazami und Anna Daniel in diesem Band). Es kann also keinesfalls geschlussfolgert werden, qualitative Forschungsmethoden seien besser oder auch nur weniger anfällig für unreflektierte Vorannahmen. Die Versachlichung politischer Debatten über Muslim_innen durch die Bereitstellung von Faktenwissen ist erklärtes Ziel vieler dieser quantitativen Erhebungen. Einige Studien sind offensichtlich bemüht zu zeigen, dass die Befragten nicht sonderlich von der Gesamtbevölkerung abwichen und ihre Ausgrenzung nicht über ihre Religionszugehörigkeit legitimiert werden könne. Dies gilt insbesondere für Erhebungen zivilgesellschaftlicher Akteur_innen und Universitätsangehöriger. Eine ganze Reihe quantitativer Erhebungen hat das explizite Ziel, die Politik(en) zu Integration, Radikalisierung und Diskriminierung auf der Grundlage dieses Wissens im Sinne von Muslim_innen zu korrigieren – Abweichungen vom Mittelwert der Bevölkerung werden hier nicht (allein) auf die Religionszugehörigkeit, sondern beispielsweise auf die erfahrene Diskriminierung zurückgeführt (At Home in Europe Project 2009; European Union Agency for Fundamental Rights 2010).

Die Vermessung der Muslime

Quantitative Erhebungen werden heute von zahlreichen unterschiedlichen Akteur_innen aus Wissenschaft, Politik und Medien in Auftrag gegeben, erhoben und/oder veröffentlicht, die in einigen Fällen in enger Verbindung miteinander stehen. So wurde eine Reihe von Erhebungen zu Muslim_innen von staatlichen Stellen oder Medien beauftragt. Ferner werden Befragungen heute von verschiedenen Akteur_innen als Hilfsmittel für unterschiedliche Zielsetzungen verwendet, was zur Verbreitung und zum Bedeutungsgewinn von Quantifizierungen beiträgt, aber auch konkurrierendes Zahlenmaterial in Umlauf bringt.

Q uantitative S tudien zu M uslim_innen in W esteuropa Grundlage dieses Beitrags ist eine Zusammenschau von quantitativen Erhebungen in sieben europäischen Ländern (Großbritannien, Deutschland, Dänemark, Schweden, Norwegen, Niederlande und Frankreich) und einer Reihe multinationaler Studien, in denen zwischen 2000 und 2014 Muslim_innen in mehreren westeuropäischen Ländern befragt wurden. Der Fokus auf Westeuropa spiegelt das hier vorzufindende besondere Interesse an quantitativen Daten über Muslim_innen wider. In diesen Ländern wurde das Instrument der Befragung mit dem Ziel, Erkenntnisse über Muslim_innen zu gewinnen, am häufigsten angewendet. Die Erhebungen sind ihrerseits Teil eines größeren Feldes der quantitativen Wissensproduktion nationaler Volkszählungen und Erhebungen zu Einwanderern und ethnischen Minderheiten, in denen Muslim_innen zwar nicht im Fokus stehen, auf deren Basis aber dennoch Aussagen über diese gemacht wurden. So sind allein zwischen 2000 und 2014 nahezu 100 Publikationen erschienen, die Daten aus über 50 quantitativen Erhebungen unter Muslim_innen auswerten.3 Viele dieser Befragungen wurden von einer staatlichen Institution, einer zivilgesellschaftlichen Stiftung, Medienunternehmen wie Tageszeitungen

3 | Grundlage für diese Analyse war eine Recherche in Überblickswerken zu Muslim_ innen und den Publikationen von Meinungsforschungsinstituten und akademischen Zeitschriften von 2000 bis 2014 (vgl. Schepelern Johansen/Spielhaus 2012). Dabei wurden quantitative Erhebungen berücksichtigt, die sich entweder in der Konzeption der Stichprobe, in der Analyse der erhobenen Daten oder in ihren Ergebnissen explizit auf Muslim_innen beziehen. Auch wenn bereits vereinzelte Erhebungen von Moscheen und islamischen Organisationen mit standardisierten Fragebögen durchgeführt wurden (e.g. Borell/Gerdner 2011; Spielhaus/Färber 2006; Chbib 2008; Halm et al. 2012; Halm/Sauer 2015) und diese ebenfalls eine interessante Form der Wissensproduktion zum Islam darstellen, wurden in den folgenden Überlegungen zunächst ausschließlich Befragungen von Personen berücksichtigt.

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oder öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern beauftragt und finanziert. Diese Auftraggeber haben oft direkten Einfluss auf die Themensetzung, die Metafragen, in einigen Fällen auf das Forschungsdesign und hin und wieder auch auf die Auswertung und Präsentation der Ergebnisse. Einige der akademischen Studien wurden jedoch nicht im Auftrag, aber mit Hilfe von Drittmitteln aus staatlicher oder privater Forschungsförderung durchgeführt. Schließlich arbeiten einige staatliche Stellen und zivilgesellschaftliche Akteure mit Subunternehmen und behalten die Kontrolle über den gesamten Prozess der Untersuchung. In einigen Fällen sind Umfrageinstitute wie PEW oder Gallup Sponsor, Auftraggeber und durchführende Instanz zugleich. In anderen sind die Arbeitsschritte der Erhebung zwischen verschiedenen Akteuren aufgeteilt, vor allem bei Befragungen und Meinungsumfragen, die von Medien oder Regierungsstellen in Auftrag gegeben werden (Fekete 2009). Die Bandbreite an Akteuren, die zugleich auf eine Bandbreite von Interessen und Ressourcen hinweist, liefert sehr unterschiedliche empirische Daten, beginnend bei umfangreichen nationalen oder multinationalen repräsentativen Umfragen mit ausgedehnten und vorgetesteten Fragebögen bis hin zu Stichproben im Auftrag von Tageszeitungen wie Le Monde mit unter zehn Fragen (z.B. Conseil Sondage Analyses 2006; 2008). Einige münden in auf ausgefeilten analytischen Konzepten basierende Berichte oder Artikel, andere werden ohne weitere statistische Analyse oder Interpretation als Rohdaten in Zeitungsartikeln oder TV-Beiträgen veröffentlicht. Große Unterschiede bestehen schließlich in der Anzahl der in verschiedenen nationalen Kontexten produzierten Erhebungen. Die weitaus größte Zahl von Befragungen wurde in Großbritannien durchgeführt, insbesondere im Gefolge der Bombenanschläge von London im Jahr 2005 (Sobolewska/Ali 2012). Im Vergleich dazu fanden sich keine Medienumfragen im schwedischen und nur eine im norwegischen Kontext. Auch wenn sich die Erhebungen in ihrer Form, Qualität und Quantität, ihren Finanzquellen und Zielstellungen erheblich unterscheiden, scheint es dennoch sinnvoll, sie als Teil eines Feldes zu verstehen, das von der Suche nach objektivierbarem Wissen über Muslim_innen mit Hilfe der Quantifizierung von Zugehörigkeit, Einstellungen, Werten, Erfahrungen und Praktiken geprägt ist. Die folgenden Abschnitte beschäftigen sich mit den wiederkehrenden Logiken, Themen und Merkmalen dieser verschiedenen Arten der Befragungen von Muslim_innen.

K riterien für die S tichprobenziehung Diese Erhebungen unter Muslim_innen können nach verschiedenen strukturellen Merkmalen beschrieben werden, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Vorstellungen von der Kategorie Muslim abbilden: die Identifizierung von

Die Vermessung der Muslime

Muslim_innen für die Befragung, die geographische Rahmung der Erhebung, die Erhebungsmethoden, die Arten des Vergleichs sowie die Themen und Fragen der Fragebögen. Stichprobe, Fragebogen und Publikation setzen nicht notwendigerweise eine ähnlich starke Betonung auf »die Muslime«. In vielen Erhebungen wurden für die Stichprobe ausschließlich Muslim_innen ausgewählt, in einigen Fällen wurde zudem eine Kontrollgruppe für einen Vergleich befragt. Hierbei suchen die Interviewer_innen nicht selten Personen bestimmter nationaler Herkunft, von denen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen können, dass sie muslimisch sind (vgl. Tribalat 2004: 113). Ein anderer Ansatz besteht darin, ganz andere Personenkategorien für das Sample zu erheben, die Muslim_innen als Teil der erhobenen Population erfasst (z.B. Personen, die durch unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit, Ausgrenzungserfahrungen, Beruf, Alter oder Geschlecht gekennzeichnet sind). Dabei werden also nicht ausschließlich Muslim_innen befragt. Einige Fragebögen wurden speziell für die Befragung von Muslim_innen konzipiert. Sie stellen Fragen, die sich explizit auf islamische Überzeugungen und Praktiken beziehen oder indem sie nach Werten und Einstellungen fragen, die in öffentlichen Debatten in besonderer Weise in Bezug auf den Islam problematisiert werden, wie Demokratie, Geschlechtergleichheit oder Freiheitsrechte. Einige Fragebögen wurden entworfen, um andere Anliegen oder Kategorien zu bearbeiten, dann aber ausgewertet, um generelle Aussagen über Muslim_innen zu treffen. So entnehmen Forschende nicht selten allgemein gehaltenen Bevölkerungsumfragen Daten von Befragten, die sich selbst als Muslim_innen bezeichneten. Die Fragen solcher Erhebungen sind demnach auch nicht allein auf Muslim_innen zugeschnitten. Bei einigen Meinungsumfragen sind die verschiedenen Kommunikationsstufen eng miteinander verknüpft, so dass ein Fragebogen, eine Stichprobe, ein Verfahren der Fragestellung zu einem schriftlichen Bericht führt. Beispiele hierfür sind die Umfragen der privaten US-amerikanischen Institute Pew Research Center (PEW 2006a; 2006b) und Gallup unter Muslimen (Nyiri 2007a; 2007b), die britische Befragung Living Apart Together (Mirza et al. 2007), die Umfrage des dänischen Centre for Studies in Islamism and Radicalisation in Aarhus zur Radikalisierung unter Muslim_innen mit dem Titel House of War (Goli/Rezaei 2010) und die Erhebungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Muslimisches Leben in Deutschland (Haug et al. 2009) und Wie viele Muslime leben in Deutschland? (Stichs 2016). Hier sind jeweils alle Schritte im Erhebungsprozess speziell auf Muslim_innen ausgerichtet. In anderen Fällen wurden die Rohdaten für mehrere, durchaus verschiedene Auswertungen genutzt. Dann sind meist nur einzelne Arbeitsschritte der Erhebung direkt auf die Befragung von Muslim_innen ausgerichtet. Beispiele hierfür sind der von der Universität Tilborg und dem Leibniz-Institut

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für S ­ ozialwissenschaften gesis alle 9 Jahre erhobene European Value Survey (EVS)4, eine Reihe von Erhebungen zur Integrationsthematik wie die niederländische Umfrage zur Lebenssituation von Eingewanderten in Städten, Leefsituatie allochtone stedelingen (LAS),5 deren Daten für nachfolgende Analysen herangezogen wurden (Maliepaard et al. 2010), oder die Studie zu den Kindern von Eingewanderten in sieben Ländern, TIES: The Integration of the European Second Generation.6 Hier waren weder die Erstellung der Stichprobe noch der Fragebogen explizit auf Muslim_innen ausgerichtet, aber einzelne Veröffentlichungen formulieren Datenauswertungen über Muslim_innen. So kann der EVS, eine Umfrage zu europäischen Werten in 47 Ländern mit 1.500 Interviewten pro Land, kaum als Befragung von Muslim_innen angesehen werden. Denn auch wenn Muslim_innen im Rahmen der Erhebung befragt wurden, ist der EVS eine allgemeine Bevölkerungsumfrage, die neben vielen anderen auch Fragen zur Religion stellte. Der EVS bildete jedoch die Grundlage für Analysen, die die Antworten der sich zum Islam bekennenden Befragten heranzogen und sie damit zum Teil einer neuen Konfiguration machten (Westoff/Frejka 2007, Inglehart/Norris 2012). Ronald Inglehart und Pippa Norris vergleichen beispielsweise Ergebnisse des World Value Surveys und des European Value Surveys, um die Anpassung der Wertvorstellungen von Eingewanderten aus mehrheitlich muslimischen Ländern an die westlicher Christ_innen zu untersuchen, und kommen zu dem Schluss, Migrant_innen würden nicht einfach unverändert Werte aus ihrem Herkunftsland mitbringen, sondern glichen sich denen des Aufnahmelandes an (Inglehart/Norris 2012: 245). Die TIES-Studie, eine Befragung von Marokkaner_innen, Türkeistämmigen und Ex-Jugoslaw_innen der zweiten Generation, wurde ebenfalls ausgewertet, um Aussagen über Muslim_innen zu treffen. Das entscheidende Kriterium für die Erstellung der Stichprobe war in diesem Fall also die nationale Herkunft. Der Fragebogen umfasste eine Bandbreite an Themen, darunter Religion mit explizitem Fokus auf den Islam. Die meisten Fragen waren jedoch nicht religionsbezogen. Die Umfrage wurde in Länderberichten präsentiert, in denen Religion einen von vielen Aspekten des Lebensalltags der Befragten darstellte. Zwei Sonderauswertungen treffen jedoch explizit Aussagen über Muslim_innen mit marokkanischem, türkischem oder ex-jugoslawischem Hintergrund, basierend auf der besagten TIES-Studie (Fleischmann 2010; Phalet et al. 2011; Fleischmann/ 4 | Mehr Informationen und verschiedene Datensätze unter: www.europeanvaluesstudy. eu (zuletzt aufgerufen am 19.12.2017). 5 | Mehr Informationen unter: www.scp.nl/Onderzoek/Bronnen/Beknopte_onderzoeks beschrijvingen/Leefsituatie_allochtone_stedelingen_LAS (zuletzt aufgerufen am 21.08.2017). 6 | Mehr Informationen unter: www.tiesproject.eu (zuletzt aufgerufen am 21.08.2017).

Die Vermessung der Muslime

Phalet 2010; 2011). In einer Reihe von Publikationen erscheint die Daten- oder Wissensproduktion zu Muslim_innen so eher ein Nebenprodukt einer von anderen Zielen geleiteten Forschung, zum Beispiel in Untersuchungen zur Integration von Eingewanderten oder in Studien zu Wertvorstellungen der allgemeinen Bevölkerung.

F r agestellungen quantitativer E rhebungen Andere Erhebungen beziehen Muslim_innen explizit als eine wesentliche Unterkategorie in ihren Forschungsauf bau ein. Allerdings ist mehr Wissen über Islam oder Muslim_innen hierbei in der Regel nicht das einzige oder das bestimmende Erkenntnisinteresse. So untersucht die EU-MIDIS-Umfrage der European Union Agency for Fundamental Rights (2010) die Diskriminierung ethnischer und religiöser Minderheiten. Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung (2008) wurde dafür konzipiert, Religiosität und Religionspraxis in 21 Ländern weltweit und mit einer Sonderbefragung von 2.000 Muslim_innen in Deutschland zu erheben. Wieder andere Umfragen konzentrieren sich auf die Erhebung von Informationen über Untergruppen der Muslim_innen bspw. nach bestimmten religiösen Orientierungen, Geschlecht oder Altersgruppen wie eine Umfrage unter türkischen Frauen mit Kopftuch in Deutschland (Jessen/von Wilamowitz-Moellendorff 2006), über Salafisten in den Niederlanden (Roex et al. 2010) oder über Konvertit_innen in Schweden (Roald 2004). Eine Analyse der Fragebögen zeigt, dass Erhebungen, die speziell auf Muslim_innen ausgerichtet sind, nicht primär verschiedene Aspekte der Religion und Religiosität im Detail untersuchen. Vielmehr tendieren sie dazu, die Befragten als potenziell im Widerspruch zu weltlichen, liberalen Werten stehende Personen anzusprechen. Viele der Umfragen teilen die Sorge der medialen Islamdebatten um säkulare Werte. So zielen immer wiederkehrende Fragen darauf ab, mögliche Abweichungen und potenzielle Übertretungen dieser Grenzen durch Muslim_innen festzustellen. Dies wird sowohl in Fragen sichtbar, die explizit nach der Akzeptanz der Trennung von Religion und Staat fragen, als auch in Fragen nach der möglichen Einführung der Scharia in die nationale Gesetzgebung, nach Einstellungen zu Demokratie, Gleichberechtigung der Geschlechter, Homosexualität und Meinungsfreiheit, die im öffentlichen Diskurs als säkulare, von einer Trennung der Religion von anderen Bereichen der Gesellschaft abhängende, Werte konzipiert werden (Asad 2003; Fitzgerald 2007). Die von Medienagenturen, privaten Meinungsforschungsinstituten oder Regierungsstellen in Auftrag gegebenen Erhebungen fragen zudem gemeinhin intensiver nach Einstellungen zu Gewalt, Terror und Loyalität als im

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Rahmen universitärer Forschung oder von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder Institutionen der EU in Auftrag gegebene Erhebungen. Hier tauchen Muslim_innen beispielsweise als Subkategorie von Diskriminierungsopfern, als Jugendliche oder als religiöse Menschen auf. Der enge Fokus auf Muslim_innen bringt spezifische Assemblagen der Themensetzung und spezifische Fragen hervor, die die Kategorie Muslim als potenziell problematischen Bürger heraufbeschwören. Die Studien offenbaren dabei erhebliche Unterschiede im Hinblick auf ihre Produktionsbedingungen und die dadurch entstehende Einbindung in aktuelle Debatten. Umfragen von Medienagenturen und Meinungsforschungsinstituten sind in direkter Weise dem medialen Diskurs zu einem konkreten Zeitpunkt verpflichtet, während an akademische Forschung die Erwartung gestellt wird, Aussagen für einen längeren Zeitraum zu machen und sich der Tagesaktualität zu entziehen. Auch sie sind jedoch sichtbar Teil des Diskurses über Muslim_innen in Europa, reagieren auf ihn und tragen zu ihm bei.

G eogr aphische R ahmungen Alle hier untersuchten Erhebungen zu Muslim_innen in Westeuropa präsentieren diese als Teil eines bestimmten geographischen  – häufig nationalen – Kontextes, zum Beispiel »Muslime in Europa«, »Muslime in Dänemark«, »Salafismus in den Niederlanden«, »britische Muslime«, »Muslime in Berlin, Marseille« etc., auch wenn bei weitem nicht alle Erhebungen statistische Repräsentativität beanspruchen. Darüber hinaus verknüpfen die Rekrutierungsvorgaben und die Fragebögen die Befragten häufig mit einer bestimmten regionalen Bezugsgröße, beispielsweise in Fragen zu Lebensbedingungen, Kontakten, Zugehörigkeit und Identität. Schließlich wird die Meldung der Ergebnisse als Wissen oder Daten über Muslim_innen in einer bestimmten Region, Stadt oder einem Staat präsentiert. Unter den Erhebungen ließen sich so drei geographische Rahmungen finden. Die mit Abstand meisten Erhebungen sind national gerahmt: Sie beanspruchen, die Muslim_innen innerhalb eines bestimmten Nationalstaates abzubilden. Dies gilt für Muslimer i Danmark, die 2009 vom Meinungsforschungsinstitut Capacent für das dänische Fernsehen durchgeführte Erhebung, sowie die 2006 und 2008 von der französische Tageszeitung Le Monde bei dem Institut Conseil Sondage Analyses (CSA) in Auftrag gegebenen Umfragen Portrait des Musulmans und Islam et citoyenneté sowie die zahlreichen Umfragen für britische Medien. Dieses Vorgehen wird auch in den meisten Erhebungen sichtbar, die von politischen Akteuren und staatlich initiierten Institutionen, wie die von der Deutschen Islam Konferenz in Auftrag gegebene und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009 und 2016 veröffentlichte Studie Muslimisches Leben in Deutschland, der Religionsmonitor 2008: Muslimische Religiosität

Die Vermessung der Muslime

in Deutschland7 der Bertelsmann Stiftung oder die Umfrage Living Apart Together zu britischen Muslimen im Auftrag des britischen Thinktanks Policy Exchange (Mirza et al. 2007). Einige Erhebungen weichen allerdings von diesem Muster ab, indem sie Muslim_innen in verschiedenen nationalen Kontexten vergleichen, so wie die vom Pew Research Center durchgeführte Studie Muslims in Europe oder der Gallup Co-Exist Index 2009. Allerdings halten auch diese Untersuchungen am nationalen Kontext als grundlegende Analyseeinheit fest, denn die Stichproben sollen jeweils die Muslim_innen repräsentieren, die in den verglichenen Staaten leben. Schließlich stellten einige Umfragen Wissen über Muslim_innen auf städtischer Ebene oder in Stadtbezirken zur Verfügung. Auf diese Weise geht etwa das At Home in Europe Project des Open Society Institute vor, in dessen Rahmen zunächst ein vergleichender Bericht (2009) sowie zwischen 2010 und 2011 elf Städteberichte veröffentlicht wurden.8 Allerdings scheint der nationale Rahmen auch in stadtbezogenen Studien durch, wenn die Gesamtbevölkerung mit den Muslim_innen im Land wie im Gallup World Poll von 2007 verglichen wird. Die Antworten von muslimischen Befragten in London, Berlin und Paris werden hier den Antworten der Gesamtbevölkerung in Großbritannien, Deutschland und Frankreich gegenübergestellt (Nyiri 2007a; 2007b). Auf einer anderen Ebene wird der nationale Rahmen in den Fragen der meisten Studien sichtbar, wenn die Befragten nach ihrem Geburtsland, dem ihrer Eltern oder Partner, nach dem Grad ihrer Identifikation mit dem Aufenthaltsland oder nach ihrer Loyalität gegenüber ihrem Herkunftsland gefragt werden.

R äumliche B ezüge Der nationale Kontext scheint die Erhebung quantitativer Daten zu Muslim_innen zu bestimmen: Muslim_innen scheinen nicht anders als in einem bestimmten Nationalstaat lebende Menschen gedacht werden zu können. In 7 | Die Umfrage unter Muslim_innen in Deutschland ist in eine Erhebung zur Religiosität in 21 Ländern auf fünf Kontinenten einschließlich verschiedener europäischer Länder eingebettet, allerdings wurde nur in Deutschland eine konkrete Umfrage über eine religiöse Minderheit durchgeführt. Daher liefern die Erhebungen in Ländern mit größeren muslimischen Bevölkerungsgruppen (Türkei, Marokko, Nigeria, Indonesien und Israel) auch Daten über die Religiosität der Muslim_innen. Die Umfrage ermöglicht auch einen breiteren Vergleich auf der Grundlage ihrer Umfragen aus Ländern mit christlichen, jüdischen und buddhistischen Mehrheiten (vgl. Heine/Spielhaus 2008). 8 | Siehe ausführlich www.opensocietyfoundations.org/reports/muslims-europe-report11-eu-cities (zuletzt abgerufen am 21.08.2017) sowie Mühe 2010.

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einigen Studien sind die Bedingungen, die der Nationalstaat für die Bevölkerung auf seinem Gebiet setzt, Teil des analytischen Ansatzes. So untersucht die TIES-Studie vergleichend die Bedingungen im Bildungssektor von acht europäischen, durch unterschiedliche Bildungspolitik geregelten Nationalstaaten im Hinblick auf den Integrationserfolg der Kinder Zugewanderter (Crul/ Schneider 2009). In anderen Untersuchungen wird der nationale Rahmen allerdings in keiner Weise erwähnt. Er wird weder in der Berichterstattung noch in der Analyse der Ergebnisse thematisiert, sondern stellt offenbar lediglich den selbstverständlichen Kontext für die Erhebung dar. Diese Selbstverständlichkeit des Nationalstaates wurde von mehreren Forschenden wie der Ethnologin und Migrationswissenschaftlerin Nina Glick-Schiller als »methodologischer Nationalismus« problematisiert, wenn das Bild der Nation nicht nur die politische Argumentation europäischer Staaten prägt, sondern die wissenschaftliche Forschung, ihre Gegenstände und Forschungsfragen durchdringt (Glick-Schiller/ Wimmer 2002; Glick-Schiller/Çağlar 2009). Das hegemoniale Verständnis nationaler Räume (Massey 2005) mag mitunter auf ideologische Konstellationen zurückzuführen sein, aber seine Dominanz hat auch praktische Gründe. Zur Bestimmung der Stichprobe und dem Erhalt von Hintergrundwissen über die befragte Bevölkerung hängen Erhebungen unter Muslim_innen größtenteils von bestehenden Einrichtungen der Registrierung wie Ausländer- oder Sozialversicherungsregistern und Volkszählungsdaten ab. Denn die meisten umfangreicheren Statistiken und andere Arten der systematischen Registrierung und Informationsbeschaffung von größeren Personenmengen wurden – zumindest bis vor kurzem – hauptsächlich von staatlichen Stellen wie statistischen Ämtern erhoben. Für diese Institutionen stellt die nationale Bevölkerung die gegebene Beobachtungseinheit dar (Favell 2005). So tragen die strukturellen Bezüge zwischen Meinungsforschenden und nationalen Registrierungssystemen dazu bei, den nationalen Rahmen als die offensichtlichste und pragmatischste Form der regionalen Verortung aufrechtzuerhalten. Unterschiede in der Registrierung der Bevölkerung in den Rechtssystemen europäischer Staaten (z.B. ob Volkszählungen durchgeführt werden und ob diese Fragen zu Religiosität enthalten) erschweren die Erstellung kohärenter Stichproben über nationale Grenzen hinweg und stärken damit die nationale Rahmung. Ein weiterer Grund ist der hohe Finanzierungsbedarf für quantitative Erhebungen. Da politisches Denken weiterhin stark an den Nationalstaat als Grundeinheit für Entscheidungsfindungen geknüpft ist, wird Forschung, die zur Lösung nationaler Probleme beiträgt, eher finanziert als solche, die sich mit lokalen, regionalen oder transnationalen Fragen auseinandersetzt (Glick-Schiller/Wimmer 2002: 306). Während ein nationaler Rahmen in einigen Fällen angemessen sein mag, kann eine solche Fokussierung ein weiteres dominantes Muster verstärken:

Die Vermessung der Muslime

Die Aufforderung der Befragten, sich selbst zuzuordnen. Das Repertoire der Antworten ist dabei mit wenigen Ausnahmen auf nationale und religiöse Identität beschränkt. So kommt die Gallup-Umfrage in London, Paris und Berlin zu dem Schluss, nationale und religiöse Identität schlössen sich (auch) für Muslim_innen nicht aus (Nyiri 2007a). Das ebenfalls in den USA angesiedelte Umfrageinstitut PEW (2006b: 3) erhob in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Spanien9 die Frage, welche Identität überwiege – die nationale oder die religiöse: »What do you consider yourself first? - A citizen of your country. - A Muslim/A Christian.«

Identitätsfragen mit Bezug auf das Residenzland fragen implizit auch nach der Loyalität der Befragten gegenüber dem Staat, in dem sie leben. Loyalitätsprüfungen solcher Art verdeutlichen den Befragten im Interview ebenso wie den Rezipienten der Erhebungen, dass bei Muslim_innen die Zugehörigkeit zur Nation aus der Sicht der Fragenden ungewiss ist und daher immer wieder aufs Neue der Klärung bedarf. Auch hier spiegeln die Erhebungen den Islamdiskurs wider (Peter 2010, Mandaville 2011). Die TIES-Studie und die At Home in Europe-Umfrage unter Muslim_innen (2009: 315-316) des Open Society Institutes (OSI) geben sowohl eine Reihe von abgestuften Möglichkeiten zur Beantwortung ihrer Fragen zu Identität und Zugehörigkeit von der kommunalen bis zur transnationalen Ebene als auch Nachfragen dazu, was diese Identitäten für die Befragten bedeuten und wie sie sich von anderen in der Gesellschaft wahrgenommen fühlen: »How strongly do you feel you belong to your local area? […] How strongly do you feel you belong to this city? […] How strongly do you feel you belong to this country? […] Do you see yourself as (British, French etc.)? (This question is asking for cultural identification with society rather than legal status) […] Do most other people in this country see you as (British, French etc.)? (›Other people‹ refers to all other ethnic and religious groups to the respondent in the country)[…] Do you want to be seen by others as (British, French etc.)?« (At Home in Europe Project 2009: 315-16)

9 | In diesen Ländern erhob PEW zusätzlich zur allgemeinen Bevölkerungsumfrage eine Stichprobe muslimischer Befragter.

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Diese Fragebatterie reflektiert, dass der Nationalstaat nicht notwendigerweise den alleinigen Bezugspunkt für Individuen in unterschiedlichen Situationen des Lebensalltags darstellt (Baumann 2002). Bemerkenswerterweise zeigen Umfragen, die auch andere räumliche Kategorien für die Identifikation wie die Stadt oder die Nachbarschaft bereithalten, tatsächlich die Tendenz auf, dass Menschen sich stärker mit ihrer lokalen Nachbarschaft als mit der Nation identifizieren (At Home in Europe Project 2009: 22, 69-77). Dieses Ergebnis verdeutlicht, dass der nationale Rahmen nicht der einzig denkbare für die Untersuchung alltagsrelevanter Identitäten ist. Neben der nationalen nehmen einige Erhebungen eine globale Kontextualisierung vor, indem sie ihre Fragen und damit auch die Antworten muslimischer Befragter in einem breiteren, durch Konflikte gekennzeichneten geopolitischen Rahmen verorten – nicht selten mit dem Versuch, die Konflikthaftigkeit zu widerlegen. Die globale Kontextualisierung zeigt sich beispielsweise, wenn die Befragten nach dem Krieg im Irak oder Afghanistan, zu ihrer Einstellung zu Terroranschlägen und Selbstmordattentaten gefragt werden oder dazu, wie sie über die Außenpolitik der USA, die Situation im Nahen Osten oder den israelisch-palästinensischen Konflikt denken. Dieser globale Rahmen lässt sich allerdings auch erst später in den Berichten in Passagen in der Einleitung über den Kontext der Umfrage festlegen. Auf diese Weise werden die Antworten in bestimmte räumlich-zeitliche Narrative eingebettet, unabhängig davon, wie die Befragten selbst die Fragen verstanden und ihre Antworten gemeint haben.

E rhebungsme thoden Eine eingehende Betrachtung sind auch die Erhebungsmethoden wert, die ganz konkret Vorstellungen davon erzeugen, wo Muslim_innen zu finden sind und welchen Menschen das Potential zugebilligt wird, zur Gruppe der Muslime gezählt und somit zum statistisch erfassbaren Muslim zu werden. Mit wenigen Ausnahmen basieren die Erhebungen unter Muslim_innen auf Selbstidentifizierung als entscheidendem Kriterium für die Aufnahme in die Stichprobe bzw. die Zählung als Muslim_in.10 Da kaum Zensusdaten über die Anzahl und Verteilung von Muslim_innen in Europa vorliegen, ist es üblich, zur Erstellung der Stichprobe in ausgewählte

10 | Für Befragungen wie die französischen IFOP-Umfragen von 2001 bis 2011 oder die deutsche Erhebung Muslimisches Leben in Deutschland (Haug et al. 2009; Stichs 2016) wurden Personen aus mehrheitlich muslimischen Ländern auf der Grundlage des Migrationshintergrunds in das Sample aufgenommen und zu ihrer Religionszugehörigkeit befragt (ausführlich zu den französischen Erhebungen vgl. Dargent 2010).

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Bezirke oder Schulen mit einem bekanntlich hohen Prozentsatz von Personen mit bestimmter nationaler Herkunft zu gehen. Die Migrationsstatistiken sind also ein wichtiger Stellvertreter für Religionszugehörigkeit. Diese Methode führt allerdings dazu, dass ausschließlich die in bestimmten Bezirken und vorwiegend städtischen Kontexten lebenden Muslim_innen befragt werden. Erhebungen auf Basis dieser Methode zielen am Ende immer wieder auf dieselben größeren Städte und Bezirke, werden dann jedoch häufig mit Aussagen über den ganzen nationalen Kontext präsentiert. So beruht die Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte über die muslimische Jugend auf Befragungen in Bordeaux, Paris, Madrid, Granada, Edinburgh, Glasgow und London, wird aber als Erhebung über Muslim_innen in Frankreich, Spanien und Großbritannien dargestellt (European Union Agency for Fundamental Rights 2010). Eine ebenfalls verbreitete Methode ist die Stichprobenerhebung, die die Zufallsauswahl aus Ausländerregistern abgelöst hat, auf Grundlage von Vor- und Nachnamen, die bei Personen mit muslimischem Hintergrund oder nationaler Herkunft aus mehrheitlich muslimischen Ländern gebräuchlich sind. Diese Methode wird vor allem für Telefoninterviews verwendet. Wenige Erhebungen nutzten die Schneeballmethode. Die Erhebung Muslime in Deutschland (Brettfeld/Wetzels 2007) verwendete eine Kombination von Zufallsstichproben aus Schulklassen mit hohem Anteil aus mehrheitlich muslimischen Ländern, einer namenbasierten Telefonumfrage und einer Schneeballmethode in Hamburg, mit der 60 Gesprächspartner_innen für qualitative Interviews gefunden wurden.

W er wird befr agt  – wer nicht ? Da kaum ein Staat in Westeuropa religiöse Zugehörigkeit registriert, die meisten Staaten aber Migrationsstatistiken erstellen, werden diese und andere Quellen über die Lage von Migrant_innen besonders häufig herangezogen, um die Gesamtheit der Stichprobe für potenziell muslimische Befragte zu bestimmen (Sander 1997; Brown 2000).11 Ethnische Zugehörigkeit oder, genauer gesagt, nationaler Hintergrund in einem Land mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung werden als Ersatz für religiöse Zugehörigkeit und Identifikation verwendet, weil bei einem hohen Prozentsatz der Befragten erwartet wird, dass sie sich in einer solchen Stichprobe selbst als Muslim_innen identifizieren. Diese Abhängigkeit von staatlicher Registrierung hat zur Folge, dass die Stichprobenmethoden

11 | Ausführlich diskutieren Åke Sander und Mark Brown die methodischen Herausforderungen bei der Bestimmung der Anzahl von Muslim_innen im Minderheitenkontext sowie von statistischen Erhebungen der Religiosität.

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auf breiter Ebene die Prämisse haben, Muslim_innen seien Eingewanderte oder deren Nachkommen. Diese Verbindung zwischen Migrationshintergrund und Muslimsein in der Zusammenstellung von Stichproben für quantitative Erhebungen erzeugt die statistische Unsichtbarkeit bestimmter Muslim_innen. Das dänische Ministerium für Integration veröffentlichte 2006 die Umfrage Etniske gruppers værdier (Werte unter ethnischen Minderheiten), für die acht nationale Herkunftsgruppen nach ihrer religiösen Zugehörigkeit befragt wurden (The Ministry for Refugees, Immigrants and Integration 2007). Die Antworten der sich im Laufe der Befragung zum Islam bekennenden Teilnehmer_innen aus der allgemeinen Stichprobe wurden als Daten für eine Auswertung zu den demokratischen Werten von Muslim_innen in Dänemark herangezogen. Migration ist der bestimmende Rahmen für diese Studie: weder Muslim_innen, die nicht (mehr) als Migrant_innen erfasst werden – bspw. solche anderer nationaler Herkunft –, noch Muslim_innen ohne Migrationshintergrund wurden hier berücksichtigt. Schließlich werden nichtmuslimische Migrant_innen bei der Auswertung der Erhebung in Bezug auf die demokratischen Werte nicht weiter berücksichtigt. Auch wenn die Stichprobenerhebung mit Hilfe von Migrationsstatistiken pragmatische Gründe haben mag und die ausgeschlossenen Personen vielleicht sogar statistisch unbedeutend sind, enthüllen die Studien wertvolle Hinweise über die strukturelle Trägheit und die epistemischen Hegemonien des Forschungsfeldes. Wieder spielt der Nationalstaat als prominente Folie eine herausragende Rolle, indem der Migrationshintergrund mit der Zugehörigkeit zum Islam gleichgesetzt und die Vermengung der Kategorien Muslim_in und Migrant_in aufrechterhalten werden.

H erstellung von U nterschieden und Z ugehörigkeiten über V ergleiche Aussagekräftig über die Vorstellungen von Muslim_innen sind auch die Vergleiche zwischen muslimischen Befragten mit einer anderen Gruppe oder Kategorie von Menschen. Vier häufige Vergleichsarten sind: • Muslim_innen in verschiedenen nationalen Kontexten • Muslim_innen und Menschen anderer religiöser Zugehörigkeit, wie Christ_innen, Hindus usw. • Muslim_innen und Nichtmuslim_innen • Muslim_innen und die allgemeine/nationale Bevölkerung Die Vergleiche vermitteln Informationen darüber, welche Zusammenhänge Meinungsforscher_innen zwischen den verglichenen Kategorien wahrnehmen, und damit, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sie für relevant

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halten. Der erste Modus vergleicht Muslim_innen in verschiedenen Staaten. Hier bildet also die Verortung entlang innereuropäischer oder globaler Grenzen den Unterschied und das Bekenntnis zum Islam die Gemeinsamkeit. Vergleiche dieser Art bilden die Grundlage für Analysen darüber, wie das Leben von Muslim_innen in verschiedenen juristischen und kulturellen Kontexten durch unterschiedliche Lebensbedingungen, historische Entwicklungen (z.B. von Kolonialismus oder Migration) oder verschiedene Religions-, Bildungsoder Ausländerpolitiken geprägt ist. Voraussetzung für solche Vergleiche sind multinationale Erhebungen. Im Vergleich von Muslim_innen mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften werden die Befragten innerhalb der übergeordneten Kategorie der Religion verstanden, zum Beispiel als Christ_innen und Muslim_innen, Muslim_innen und Hindus oder Anhänger_innen mehrerer Religionen. Hier unterscheiden sich die Befragten je nach ihrer Religion. Diese Art von Vergleich wird äußerst selten angewendet (z.B. Bertelsmann-Stiftung 2008). Die dritte Form des Vergleichs stellt Muslim_innen und Nichtmuslim_ innen gegenüber (z.B. Frindte et al. 2011; Thorne/Stuart 2008). Muslim_innen scheinen hier allein durch ihre religiöse Zugehörigkeit definiert zu sein, die Nichtmuslim_innen bilden den Rest der Bevölkerung, der ausschließlich durch die Nichtzugehörigkeit zum Islam näher charakterisiert ist. Eine religiöse oder weltanschauliche Identität der Nichtmuslim_innen ist daher auch weder Kriterium für die Aufnahme in die Stichprobe noch für die Auswertung. Hier ließe sich von einer Operationalisierung des in seiner analytischen Schärfe äußerst zweifelhaften Begriffs Mehrheitsgesellschaft sprechen. Die vierte und am häufigsten genutzte Art des Vergleichs ist auf den ersten Blick nur geringfügig, erkenntnistheoretisch jedoch signifikant anders als die dritte. Da sie Muslim_innen der allgemeinen oder nationalen Bevölkerung gegenüberstellt, impliziert sie, dass diese nichtmuslimisch ist (z.B. PEW 2006b). Hier liegt die Ausrichtung auf nationaler Ebene: Die miteinander verglichenen Befragten befinden sich im selben geographischen Kontext der Erhebung. Die Beziehungen zwischen diesen Kategorien haben jedoch andere normative Implikationen als bei den ersten beiden Vergleichsarten: Die Gegenüberstellung von Muslim_innen und allgemeiner Bevölkerung bestimmt nicht das Verhältnis von gleichen und einander ausschließenden Kategorien, sondern einer Unterkategorie zur Hauptkategorie.12 Wenn die Antworten von Muslim_innen und Dän_innen verglichen werden, lässt sich das allerdings im derzeitigen Diskurs auch so verstehen, als handelte es sich hier um einander ausschließende Kategorien und Muslim_innen gehörten nicht zur allgemeinen Bevölkerung.

12 | Dieser Ansatz ist für quantitative Erhebungen zu Subpopulationen durchaus gebräuchlich und wird nicht nur in der Forschung zu Muslim_innen angewandt.

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Das Ziel der Messung potenziell problematischer Abweichungen vom nationalen Durchschnitt und der damit implizierten gesellschaftlichen Norm wird am deutlichsten etwa bei Fragen zur Gleichstellung der Geschlechter, Meinungsfreiheit oder Diskriminierungserfahrungen. Normal bedeutet hier »am häufigsten vorkommend«, ist aber nicht explizit mit dem Anspruch verbunden, die Mehrheit wäre besser oder handelte richtiger als die untersuchte Minderheit. Doch der Begriff normal verkörpert Hacking zufolge immer die doppelte Bedeutung von dem, was ist und was sein soll. Die Bevölkerungsmehrheit werde häufig als Maßstab für angemessenes Verhalten oder richtige Einstellungen verstanden – als Ausdruck dessen, wie wir normale Menschen Dinge angehen: »[The normal] holds a power as old as Aristotle to bridge the fact/value distinction, whispering in your ear that what is normal is also all right.« (Hacking 1990: 160) In diesem Sinne werden die Unterschiede zwischen Muslim_innen und der allgemeinen Bevölkerung zum Inbegriff einer durch Migration geprägten räumlichen Distanz und einem Abstand, der durch eine erfolgreiche Integration verringert werden muss. Auch ohne Rezeptionsstudie zu den Erhebungen und ihrer Medienwirksamkeit lässt sich eine potenziell ausgrenzende Wirkung dieser Art des Vergleichs annehmen. Muslim_innen und allgemeine Bevölkerung werden im Duktus der Islamdebatten womöglich weniger als Unterkategorie zu einer Hauptkategorie verstanden, sondern eben doch als zwei unterschiedliche Instanzen. Die Beziehung von Minderheit und Mehrheit kann in Vergleichen zwischen Muslim_innen und allgemeiner Bevölkerung wie der folgenden Fragebatterie zur Meinungsfreiheit aus der 2009 vom Meinungsforschungsinstitut Capacent für das dänische Nationalfernsehen durchgeführten Umfrage Muslimer i Danmark zum Vorschein kommen. Sie erschien im Rahmen der mehrere Jahre andauernden Debatte um die Mohammed-Karikaturen (Klausen 2009). Muslimische und nichtmuslimische Befragte sollten sagen, wie weit sie mit folgenden Aussagen übereinstimmen: »In Dänemark wird zu häufig negativ über den Islam gesprochen. Es sollte verboten werden, Ihre Religion zu kritisieren. Die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen hätte verboten werden sollen. Die Meinungsfreiheit sollte in einigen Fällen eingeschränkt werden.« (Capacent 2009: 22-25)

In den Medienberichten über die Umfrage wurde hervorgehoben, dass 66  Prozent der muslimischen Befragten mit der letzten Aussage über die Einschränkung der Meinungsfreiheit einverstanden seien. Mit Rückgriff auf die Ergebnisse wurde außerdem berichtet, dass Muslim_innen höchst empfindlich und im schlimmsten Fall intolerant gegenüber jeglicher Kritik ihrer Religion seien, während nur zehn Prozent der gesamten dänischen Bevölkerung einer Einschränkung der Meinungsfreiheit zustimmen würden und

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sich 79 Prozent dagegen ausgesprochen hätten. Allerdings stellt diese Auflistung die Frage zur Begrenzung der Meinungsfreiheit in einen ganz konkreten Kontext, nämlich den der potenziell scharfen Rhetorik in Verbindung mit dem Islam, die höchstwahrscheinlich die Reaktion beider Gruppen auf sehr unterschiedliche Weise beeinflusst. So antwortet die restliche dänische Bevölkerung – d.h. die nichtmuslimischen Befragten – in diesem Fall auf die Frage zur Meinungsfreiheit in einem Kontext, der nicht sie betrifft, sondern eine (andere) religiöse Minderheit. Und umgekehrt: Die muslimischen Befragten beantworten die Frage im Kontext der erlebten harschen Rhetorik gegenüber Muslim_innen in den Medien und gegebenenfalls konkret erfahrener Ausgrenzung. Sozialpsychologische Studien zur Beziehung von Minderheiten und Mehrheiten zeigen, dass Angehörige von Minderheiten die Verbesserung ihrer verletzlichen Situation unterstützen, während Mitglieder einer Mehrheit eine den Status quo erhaltende Gleichbehandlung favorisieren (Dovidio 2007). Aus dieser Perspektive lässt sich der signifikante Unterschied im Antwortverhalten der beiden Fraktionen nicht nur in Bezug auf die muslimischen Besonderheiten zum Thema Meinungsfreiheit verstehen, sondern auch als Widerspiegelung von Unterschieden im Zugang zu Status und Macht. Die Arten der Vergleiche zeigen die strukturellen Linien auf, entlang derer von den Befragten erwartet wird, sich eindeutig zu identifizieren: Entweder sind sie muslimisch, christlich oder hinduistisch. Befragte, die sich keiner Religion verbunden fühlen, werden häufig im Bericht über deren Ergebnisse gar nicht berücksichtigt oder markiert. Entweder sind die Befragten Muslim_innen, Christ_innen etc. oder sie gehören in die Kategorie Allgemeine Bevölkerung. Dies weist darauf hin, dass Religionslose in diesem Kontext als uninteressant gelten. Das so deutlich werdende Verständnis von Gruppenzugehörigkeit lässt keinen Raum für Ambivalenzen, da die Kategorien einander ausschließen (vgl. Brubaker 2004; 2013). Die Eindeutigkeit und Gegensätzlichkeit der Kategorien wird durch die Ästhetik der visuellen Repräsentationen in Tabellen, Diagrammen und Schaubildern durch klare Grenzen, statische Figuren und homogene Färbung verstärkt. Hier hat jeder, wie Benedict Anderson in Bezug auf die Idee des Zensus erklärte, einen und wirklich nur einen Platz – Überschneidungen sind nicht denk- oder zumindest nicht zählbar (Anderson 1991: 165-166).

Themen der E rhebungen Die Verschmelzung von Muslim-Sein und Migrant-Sein ist nicht auf die Stichprobenerhebung beschränkt, sondern setzt sich in den Fragen und anschließenden Analysen fort. Quantitative Erhebungen zu Muslim_innen beschäftigen sich mit vielen Themen. Einige treten jedoch immer wieder auf:

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• • • • • •

Integration Zugehörigkeit und Identität Radikalisierung und Sicherheit Religiosität und Religionspraxis Politische und gesellschaftliche Partizipation Geschlecht und Sexualität

Die Themen überschneiden sich auf unterschiedliche Art und Weise: So werden Fragen zu Werten wie Gleichstellung der Geschlechter, Meinungsfreiheit oder Demokratie als Indikatoren für Themen wie Integration (oder Fehlen dieser), Radikalisierung oder Zugehörigkeit und Identität genutzt. Einigen Erhebungen liegt die Annahme zugrunde, muslimische Religiosität stelle ein potenzielles Hindernis für Integration dar und gescheiterte Integration wiederum eine Bedrohung der Sicherheit. Die Themen Religion, Integration und Sicherheit werden in zahlreichen und bei weitem nicht allein quantitativen Forschungen zu Islam und Muslim_innen in Europa verknüpft (Sunier 2009).13 Wieder andere Erhebungen kritisieren eine Konzeption von Muslim_innen im Konnex von Religion, Integration und Sicherheit als irreführend und zielen darauf ab, zu zeigen, wie viel Muslim_innen und Nichtmuslim_innen in Europa gemeinsam haben oder wie gut Integration funktioniert. Nichtsdestotrotz wird der Zusammenhang auch in diesen Fällen aufgerufen, selbst wenn er im nächsten Schritt widerlegt wird. Die konzeptuelle Verbindung von Muslim_innen und Migrant_innen scheint auch in der konkreten Formulierung und Reihung von Fragen durch, zum Beispiel, wenn Muslim und Einwanderer synonym verwendet werden und damit austauschbar erscheinen. Die folgende Sequenz von zehn Fragen, die im Bericht als Antworten von Muslim_innen und der »allgemeinen norwegischen Bevölkerung« auf Fragen einer Erhebung von TNS Gallup (2006: 9, übersetzt durch die Autorinnen) für den norwegischen Fernsehsender TV2 präsentiert wurde, verdeutlicht derartige Verflechtungen: »Integration und die Beziehung zwischen Norwegern und Eingewanderten Denken Sie, dass Menschen mit Migrationshintergrund heutzutage in Norwegen diskriminiert werden? Denken Sie, dass die Norweger mehr tun sollten, um die Beziehungen zwischen den Eingewanderten und den Norwegern zu verbessern? Denken Sie, dass Eingewanderte mehr tun sollten, um die Beziehungen zwischen Norwegern und Eingewanderten zu verbessern?

13 | Siehe auch die Kritik von Sarah Dornhof an der Studie Muslime in Deutschland (Dornhof 2009).

Die Vermessung der Muslime Sollten Eingewanderte und Norweger enger zusammenleben (sich mehr integrieren), als das bis jetzt der Fall ist? Denken Sie, dass die norwegische Gesellschaft unmoralisch ist? Denken Sie, es war falsch, Zeichnungen mit dem Propheten Muhammad zu erstellen und zu veröffentlichen? Denken Sie, dass die Veröffentlichung von Zeichnungen oder Bildern, die als beleidigend empfunden werden, in größerem Maße als heute bestraft werden sollte? Haben Sie das Gefühl, dass die Beziehungen zwischen Nichtmuslimen und Muslimen in Norwegen nach den Anschlägen auf norwegische und dänische Botschaften im Nahen Osten schwieriger geworden sind? Sollen wir in Norwegen das islamische Gesetz (Scharia) einführen? Haben Sie Angst, dass muslimische Fundamentalisten Angriffe in Norwegen durchführen könnten?« (TNS Gallup 2006: 9, übersetzt durch die Autorinnen)

Sowohl der Titel der Fragebatterie in der Publikation der Umfrage als auch die ersten fünf Fragen der Sequenz stellen Norweger_innen und Eingewanderte als Gegensätze dar, während die letzten fünf das Thema Islam ansprechen. In anderen Fällen tritt die Verschmelzung in der Art und Weise hervor, in der die Befragten angesprochen werden. Die im Auftrag des Bundesministeriums des Innern von Kriminolog_innen der Universität Hamburg durchgeführte Studie Muslime in Deutschland erhob eine Stichprobe von Schüler_innen, Studierenden und Erwachsenen mit Migrationshintergrund und befragte sie nach ihren Diskriminierungserfahrungen als Ausländer: »Wie oft wurden Sie während des letzten Jahres in einer unangenehmen Weise als Ausländer angesehen? Wie oft wurden Sie beim Einkaufen unhöflich behandelt? Wurden Sie als Ausländer bei einer Behörde wie der Polizei oder bei der Ausländerbehörde weniger zuvorkommend behandelt?« (Jede Frage: Wie oft im letzten Jahr […] nie, einmal, 2-5-mal, 6-10-mal, mehr als 20-mal) (Brettfeld/Wetzels, 2007: 105)

Die Autor_innen fragten nach der Erfahrung ungleicher Behandlung, jedoch setzen sie voraus, dass die Befragten die Wahrnehmung als Ausländer_in auf sich beziehen. Abwandlungen der Frage gehen unterschiedlichen Orten für ungleiche Behandlung oder Gewalt auf den Grund, aber nicht verschiedenen Ursachen oder Hintergründen für ungleiche Behandlung. Wie in der Diskriminierungsforschung deutlich wurde, kennen Opfer von Ungleichbehandlung, wenn sie nicht explizit gemacht wurde, die Diskriminierungsgründe nicht. Sie können außerdem aus einem Zusammenspiel zugeschriebener Ethnizität, Nationalität, Religion sowie Alter, Geschlecht und sozialem Status bestehen und daher

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schwer einzuordnen sein (Baer et al. 2010; Spielhaus 2012). Allerdings scheint der Begriff Ausländer in dieser Fragestellung nicht allein auf den strukturellen Unterschied der Staatsangehörigkeit zu zielen – denn zum Zeitpunkt der Erhebung waren etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslim_innen deutsche Staatsbürger_innen –, sondern auf Wahrnehmungen von Unterschieden in Herkunft, ethnischer Zugehörigkeit und nicht zuletzt Religionszugehörigkeit. Im Kontext einer Befragung sind Fragen dieser Art nicht nur deshalb problematisch, weil sie Muslim-Sein und Ausländer-Sein gleichsetzen, es bleibt auch unklar, wie die Befragten die verwendeten Begriffe verstehen und ob ihr Verständnis von Ausländer mit dem der Forschenden übereinstimmt, die ihre Antworten später analysieren. Sie sind also im Hinblick auf ihre Methodik problematisch. Eine ähnliche Vorstellung von Muslim_innen als Eingewanderte, die auf Integrationsmaßnahmen angewiesen sind, drückt sich in der folgenden Frage derselben Studie aus: »Inwieweit finden Sie, dass Muslimen kostenlose Sprachkurse angeboten werden sollten?« (Brettfeld/Wetzels 2007: 97) Bemerkenswerterweise wird die Sprache in dieser Frage gegenüber den Interviewpartnern nicht spezifiziert. Bei der Darstellung der Antworten wird jedoch deutlich, dass die Verfasser_innen der Studie allein die deutsche Sprache im Sinn haben und nicht etwa Sprachen, die die Muslim_innen für internationale Karrieren oder für die Auseinandersetzung mit islamischen Schlüsseltexten im Original qualifizieren würden. So verstehen Katrin Brettfeld und Peter Wetzels denn auch die weitgehend positive Beantwortung der Frage als »Indikator für einen durch die Zielgruppe selbst gesehenen Bedarf einer spezifischen Form der Integrationsförderung« (Brettfeld/Wetzels 2007: 97). Da sich keinerlei Unterschiede zwischen den nach ihrer Integrationspraxis gruppierten Proband_innen zeigten, könne davon ausgegangen werden, dass die Relevanz deutscher Sprachkenntnisse und die Bedeutsamkeit entsprechender Schulungsmaßnahmen dann, wenn diese kostenlos sind, von nahezu allen gesehen werden (ebd. 97). In diesem Fall besteht offenbar eine solch starke Dominanz der Vorannahmen der Forschenden, dass ihnen die Möglichkeit alternativer Interpretationen ihrer Fragestellung durch die Befragten gar nicht erst in den Sinn kommt. Sie sind offenbar so stark in den vorherrschenden Diskurs über Muslim_innen eingebunden, dass sie dessen Muster nicht mehr wahrnehmen und/oder sich ein Verständnis ihrer Frage außerhalb der Rahmung von Muslim_innen als integrationsbedürftig nicht vorstellen können. Zum einen ist diese Vorgehensweise methodisch insofern problematisch, als den Befragten eine nicht eindeutige Frage vorgelegt wurde, ihre Antworten jedoch als eindeutig ausgewertet wurden. Eine Fehlinterpretation der Umfrage ist daher nicht auszuschließen. Zum anderen verdeutlicht dieses Beispiel die zugrunde liegende Prämisse, Muslim_innen hätten zwangsläufig einen anderen sprachlichen Hintergrund als Nichtmuslim_innen. Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Muslim_innen mag die Frage nach Sprachkursen also unklar

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oder bedeutungslos erscheinen, solange sie die Rahmung im Integrationsparadigma nicht internalisiert haben. Doch diese Erhebung ist bei weitem nicht die einzige an Sprache interessierte Befragung von Muslim_innen. Eine ganze Reihe von Erhebungen fragt nach Sprachgebrauch und Sprachkenntnissen muslimischer Befragter und bezieht sich dabei auf einen Aspekt, der in öffentlichen Debatten in Westeuropa als entscheidend für den Erfolg der Integration verstanden wird. So konzentrieren sich die Fragen in den Erhebungen konsequent auf Kenntnisse der Landessprache des Wohnlandes und der Herkunftssprache von Befragten. Verwendung oder Kenntnis anderer Sprachen als dieser werden nicht erhoben, was nahelegt, dass hier nicht Sprachkenntnisse oder Mehrsprachigkeit als solche, sondern damit konzeptuell verknüpfte Aspekte von Integrationsbereitschaft, Loyalität, Kontakten und Anpassung an eine nationale Norm im Mittelpunkt stehen. Aus der Perspektive der Befragten erscheinen die Erhebungen als Teil der viel weiter reichenden und in ihrem Lebensalltag durchaus präsenten Techniken der Befragung von Muslim_innen, wie in Einbürgerungstests, bei Anträgen auf Aufenthaltserlaubnis, bei Grenzkontrollen, in Einstellungsgesprächen oder bei täglichen Interaktionen, in denen religiöse Praktiken wie Gebete, Moscheebesuche oder Alkoholkonsum ihnen gegenüber immer wieder von Nichtmuslim_innen thematisiert werden (Choudhury/Fenwick 2011; Spielhaus 2011a: 154). Wie bereits angedeutet, sind auch Auslassungen aussagekräftig. So werden äußerst selten – eine Ausnahme bildet der Religionsmonitor – detaillierte Fragen über religiöse Erfahrungen und theologische Überzeugungen gestellt, also Fragen, die sich auf interne statt auf sichtbare und rituelle Aspekte islamischer Religiosität beziehen. Selbst wenn sie als Migrant_innen markiert werden, werden muslimische Befragte selten nach Karrieremöglichkeiten oder Herausforderungen der Integration gefragt. Sie werden nicht nach Mode- und Konsumgewohnheiten oder nach ihrem Nutzen von oder ihrer Zufriedenheit mit Einrichtungen der sozialen Wohlfahrt gefragt und auch nicht nach Erfolg von oder ihrer Zufriedenheit mit Unterstützung durch Integrationsmaßnahmen. Obwohl viele Befragungen nach den Bekleidungspraktiken fragen, untersuchten bisher nur die At Home in Europe-Umfragen die Korrelation zwischen dem Tragen des Kopftuches und anderen sichtbaren Symbolen religiöser Zugehörigkeit und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt.

D ie P roduk tion des M uslim -M igr anten Da die meisten Umfragen auf die Kategorie Einwanderung oder (ehemalige) Staatsangehörigkeit zurückgreifen, um ihre Stichproben zu erstellen, beziehen sie sich nahezu ausschließlich auf Muslim_innen, die selbst eingewandert oder durch einen Migrationshintergrund geprägt sind, während Muslim_innen ohne

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Migrationshintergrund pragmatisch vernachlässigt werden.14 Mit wenigen Ausnahmen bei Erhebungen auf Stadt- und Nachbarschaftsebene nutzen quantitative Erhebungen die Nation als selbstverständlichen Kontext für die Wissensproduktion über Muslim_innen. Dieser Fokus auf den Nationalstaat als Raum, in dem sich die muslimischen Befragten aufhalten, steht in direkter Beziehung zu ihrer Konzeption als durch Migration geprägt. Die Stadtporträts des Open Society Institute zeigten allerdings, dass muslimische Befragte, die häufig über Generationen hinweg in derselben Straße oder im selben Haus wohnen, gerade angesichts der hohen Fluktuation in bestimmtem großstädtischen Vierteln wie Berlin-Neukölln oder Kopenhagen-Nørrebro in Relation zu ihren Nachbar_innen zu den alteingesessenen Bewohner_innen des Viertels zu zählen sind. Der hinter der Konzeptualisierung von Muslim_innen als Migrant_innen steckende Pragmatismus zielt darauf ab, den Mangel an direkten Informationen über die religiöse Zugehörigkeit europäischer Populationen zu kompensieren, spiegelt aber gleichzeitig die Verflechtung von Integrations- und Islamdebatten in westeuropäischen Ländern wider, die dem Vorgehen Plausibilität verleihen. Diese Wahrnehmung von Normalität ist nicht beschreibend, sondern bestätigt die Beziehung zwischen denen, die selbstverständlich dazugehören, und denen, die nicht selbstverständlich dazugehören oder selbstverständlich nicht dazugehören. Bei der Gleichsetzung von Muslim_innen und Migrant_innen lässt sich so von einer eingeschliffenen Prämisse sprechen. Dies ist insofern problematisch, weil sie zur statistischen Unsichtbarkeit bestimmter Muslim_innen führt. Dies gilt für Muslim_innen ohne Migrationshintergrund (z.B. Konvertit_innen und deren Nachkommen) und Muslim_innen aus anderen Herkunftsländern als mehrheitlich muslimischen Ländern, z.B. muslimische Migrant_innen aus anderen europäischen Ländern. Vernachlässigt werden in den meisten quantitativen Untersuchungen auch Muslim_innen aus anderen als den größten Migrant_innenpopulationen im jeweiligen Land. So wurden in Frankreich vor allem Maghrebiner_innen, in Großbritannien vor allem Südasiat_innen und in Deutschland vor allem Türkeistämmige befragt. Die Gleichsetzung von Muslim_innen mit Eingewanderten, wie auch jüngst wieder in einer Befragung muslimischer Gruppen in Österreich (Filzmaier/Perlot 2017), trägt außerdem dazu bei, den Ausschluss von Muslim_innen aus der nationalen Gemeinschaft als fremd und potenziell integrationsbedürftig aufrechtzuerhalten (vgl. Tezcan 2011: 375), auch wenn dies nicht immer intendiert sein mag.

14 | Mit der Konzentration auf Personen aus bestimmten Herkunftsländern tritt hier häufig sogar noch eine Verengung auf, so dass lediglich Muslim_innen aus bestimmten mehrheitlich muslimischen Ländern erfasst werden.

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Die Verknüpfung von Islam, Migration und Integration in medialen und politischen Debatten konstituiert den diskursiven Rahmen für die Forschung über Menschen muslimischen Hintergrunds und muslimischen Glaubens in Deutschland und Europa. So werden bestimmte Forschungsperspektiven und Fragestellungen gestärkt und politische Debatten über Muslim_innen schreiben sich diskursiv in die Forschung ein oder nehmen über Forschungsförderung und Beauftragung insbesondere von kostenintensiven quantitativen Umfragen direkten Einfluss auf die Produktion von Wissen über Islam und Muslim_innen in Westeuropa (Spielhaus 2013: 183). Die Verbindung der Kategorien Muslim_in und Migrant_in trägt dabei zur Unsichtbarkeit nichtmigrantischer Muslim_innen und nichtmuslimischer Zugewanderter in gesellschaftspolitischen Debatten und der akademischen Forschung bei.15 Darüber hinaus vermitteln die Fragebögen nicht nur einen Eindruck davon, wie Muslim_innen gesehen werden, in welchem Kontext diese Kategorie diskutiert und was zu fragen für interessant gehalten wird für dem Islam zugehörige Menschen bzw. für solche, die ihm zugordnet werden. Die Fragebögen enthalten auch Informationen darüber, wie Integration im Kontext der Religionszugehörigkeit von Migrant_innen imaginiert wird. Die im Rahmen quantitativer Forschungen gestellten Fragen zur Integration von Muslim_innen zeigen darüber hinaus, wie das Selbstverständnis des Ganzen, dessen Teil sie werden sollen, imaginiert wird. Integration wird im Kontext des Islams, wie sich in den Befragungen gut nachvollziehen lässt, als Bekenntnis zu bestimmten Normen und Werten konzipiert. Die vielfältigen Überschneidungen von Migration und Religionszugehörigkeit können dabei für Untersuchungen der verschiedenen Konfigurationen und des Erlebens von Muslim-Sein durchaus von Bedeutung sein, beispielsweise wenn sich Studien für Erlebnisse interessieren, in denen Befragte als Muslim_ innen und Ausländer_innen oder Eingewanderte wahrgenommen werden und fragen, welche Effekte das auf ihre Identitätsbildung hat. Allerdings ist Vorsicht bei der Zuschreibung eines Migrationshintergrundes geboten, wenn dieser nicht vorhanden ist oder kaum Einfluss auf Lebenswirklichkeit und Selbstwahrnehmung hat, während andere relevante Faktoren kaschiert werden. Im Interesse der analytischen Klarheit ist die Selbstverständlichkeit der Verknüpfungen von Muslim_in und Migrant_in in der Forschung – egal ob mit quantitativen oder qualitativen Methoden – daher zu hinterfragen. Das heißt keineswegs, Beziehungen zwischen Religion, Migration und Integration seien nicht vorhanden, sollten verschleiert werden oder seien niemals forschungsrelevant. Im Gegenteil, die reflektierte Analyse existierender Zusammenhänge

15 | Als Ausnahmen sind hier eine ganze Reihe qualitativer Untersuchungen zu Konvertit_innen zu nennen.

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im Gegensatz zur bloßen Andeutung oder Annahme solcher Bezüge können einen Beitrag leisten, die Zusammenhänge zwischen Religiosität, Religionspraxis und Migration offenzulegen. Ein weiter gefasster Blick auf Religionen Zugewanderter, der nicht nur den Islam erfasst, wäre für eine derartige Analyse die Voraussetzung. Insgesamt steht bei der Konzeption von Untersuchungen ein Nachdenken über den Zuschnitt der Forschung an, welche Personen er auslässt und welche Diskursmuster er spiegelt (Spielhaus 2013: 183).

S chlussbemerkungen Wie die vorausgegangene Analyse zeigte, tragen die Forschungsdesigns quantitativer Studien  – durch ihre Erhebungsmethoden, die Strukturierung der Fragebögen, die Modalitäten des Vergleichs und die in den Erhebungen angesprochenen und ausgelassenen Themen – zur Bildung der Kategorie Muslim_in bei. Eines der zentralen Ergebnisse ist dabei, dass Muslim_innen als Migrant_innen oder Menschen mit Migrationshintergrund konzeptualisiert werden. Dieses Verständnis spiegelt sich in der Vorgehensweise bei der Auswahl der zu Befragenden, in den durch die Fragen abgedeckten Themenfeldern, aber auch in der Rahmung der Ergebnispräsentationen in verschiedenen Forschungsberichten und -publikationen wider. Die den hier untersuchten Erhebungen zugrunde liegenden Logiken und ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse haben erhebliche Auswirkungen auf die Konzeptualisierung der Kategorie Muslim_in. Hier ließen sich also grundlegende Unterschiede feststellen. Erhebungen, die zur Befragung von Muslim_innen konzipiert wurden,16 tendieren so dazu, in ihren Fragen die dominierenden politischen Diskurse über den Islam als potenziell problematisch für Integration, als Quelle für Illoyalität, abweichende Wertvorstellungen, Radikalisierung und als mögliche Sicherheitsbedrohung aufzugreifen. Häufig wird dieser Bezug nicht nur implizit durch die Fragestellungen, sondern auch explizit in der Einleitung hergestellt. Erhebungen, die auf anders kategorisierte Personengruppen oder Themen – wie Religion oder Diskriminierung – ausgerichtet sind, in denen Muslim_innen also als eine von mehreren religiösen Zugehörigkeiten oder Minderheiten untersucht werden, sind in der Regel in anderen, nicht allein auf den Islam ausgerichteten Diskursen verortet und tragen zu einem breiteren Fragespektrum der Islamforschung bei.

16 | Dies trifft auch auf Erhebungen zu, die Eingewanderte aus mehrheitlich muslimischen Ländern befragen und dann mit dem Ziel auswerten, Erkenntnisse zu Muslim_innen zu liefern.

Die Vermessung der Muslime

Die vorausgegangene Analyse deutet auf mehrere Herausforderungen für die Forschung zu Muslim_innen in Europa hin. Eine von ihnen ist die Weiterentwicklung der Forschungskategorien durch die Etablierung eines Bewusstseins für die Unterschiede zwischen Migration, (ehemaliger) Nationalität, Ethnizität und religiöser Zugehörigkeit. Eine andere Herausforderung ist die Vermeidung einer unreflektierten Verschmelzung von Analysekategorien. Die Forschung zu Muslim_innen steht außerdem vor der Aufgabe, andere relevante und interessante Themen und Fragen aufzuwerfen als diejenigen, die in politischen und medialen Debatten als ausschlaggebend formuliert werden. Dies könnte zum Beispiel die Formulierung von Fragen sein, die in größerem Maße als vorhandene Studien Diskussionen unter Muslim_innen beispielsweise um Konzepte der islamischen Theologie widerspiegeln. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und Austausch sowie der inhaltliche Bezug auf ethnologische, islam- und religionswissenschaftliche qualitative Forschungen könnten hier möglicherweise Abhilfe schaffen. Viele politisierte Bereiche der akademischen Forschung betrifft die Frage, wie sie, auch wenn sie immer in die sozialen und politischen Konfigurationen ihrer Zeit eingebettet sein wird, den direkten und indirekten Einfluss des politischen Diskurses als leitende Quelle ihrer Ergebnisse hinterfragen und erkenntnistheoretische Unabhängigkeit zumindest anstreben kann. In dieser Suche nach epistemologischer Unabhängigkeit besteht eine der zentralen Herausforderungen für die Forschung zu Islam und Muslim_innen in Europa.

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Jenseits des wohlgeordneten Säkularismus: Islam und Laizität in Frankreich Frank Peter

In diesem Kapitel wird ein neuer Ansatz zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen säkularer Politik und Islam in Frankreich vorgestellt. Der Ansatz plädiert dafür, die heterogene Logik des Säkularismus stärker zu berücksichtigen, und richtet sich gegen eine Sicht des Säkularismus, die ihn als »wohlgeordnete« Politik konzeptualisiert. Der Ansatz zielt darauf ab, die systematische Erfassung der Konstruktion (bzw. der Rationalisierung) von »Muslimen« und »Islam« als Teil der epistemologischen Dimension des Säkularismus zu ermöglichen. Mit dem Begriff »wohlgeordnete Sicht der Politik« bezeichne ich hier ein Verständnis säkularer Politik, das ihre ideologische Dimension priorisiert, ihre konstitutive Beziehung zur Produktion »wahrer« Diskurse über »Religion« (in diesem Fall: den Islam) jedoch kaum beachtet. Diese Priorisierung der Ideologie zeigt sich in der gegenwärtigen Forschung in der außerordentlichen Beachtung, die Republikanismus, »laïcité«, Liberalismus, Diversität oder Nationalismus geschenkt werden. Der analytische Schwerpunkt liegt auf normativen Theorien und ihrer Verwendung, um zum Beispiel den Platz der Religion in der modernen Gesellschaft, die Funktion und Struktur der Öffentlichkeit, Bedingungen der Staatsbürgerschaft usw. zu bestimmen. Durch die wiederholte Referenz auf diese normativen Ordnungen, die in verschiedene Formen der Konkurrenz miteinander treten können, wird dem Bereich der Politik und der politischen Auseinandersetzung eine übergeordnete Struktur und Einheit zugesprochen. In dieser Perspektive stellt sich Säkularismus als ein »wohlgeordnetes Regime« dar. Säkularismus erscheint insofern als wohlgeordnet, als sich die Frage nach dem Objekt politischen Handelns gar nicht stellt. Vor dem Hintergrund eines grundsätzlich stabil gedachten Umfeldes der Politik richtet sich die Aufmerksamkeit allein auf die Frage nach der Art der säkularen Politik und dem Gebrauch normativer Theorien in politischen Auseinandersetzungen. Die Frage nach dem Zusammenhang von Machtausübung und säkularer Wissensproduktion gilt also als in der Analyse

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unerheblich. Die Frage wird – wenn überhaupt – fast ausschließlich auf eine Rassisierung des Islams und eine zunehmende Islamophobie reduziert (vgl. z.B. Rabbah 1998; Geisser 2003; Hajjat/Mohammed 2013).1 Nach meinem Dafürhalten ist der Zusammenhang zwischen Wissen und säkularer Politik wesentlich bedeutender und komplexer:2 komplexer, weil die einschlägigen Wissensinhalte sich nicht auf rassisierende bzw. islamfeindliche Diskurse reduzieren lassen. Der Wissen-Macht-Nexus bildet sich vielmehr aus verschiedenen institutionalisierten Wissensformen, die ich ausgehend von Michel Foucault als »Rationalitäten« konzeptualisieren werde. Diese Rationalitäten sind säkular in dem Sinne, dass das von ihnen generierte Wissen über den Islam von keiner religiösen Instanz autorisiert wird. Drei Rationalitäten – die ich als soziale, historische und ästhetische Rationalität bezeichne  – werden hier skizziert und in ihrer Bedeutsamkeit für den französischen Säkularismus untersucht werden. Diese Wissensformen stellen den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Öffentlichkeit diverse Ressourcen zur Verfügung, um – grundsätzlich legitime, aber natürlich auch anfechtbare – Aussagen über den Islam und Muslime zu machen. Das heißt, dass über derartige Rationalisierungen des Islams begründete Aussagen dazu gemacht werden können, welche politischen Maßnahmen, die den Islam und/oder Muslime in der einen oder anderen Hinsicht betreffen, nötig sind oder wünschenswert, realistisch usw. Eine Analyse säkularer Politik in Frankreich muss diese Rationalitäten berücksichtigen. Um zu ermitteln, was ins Blickfeld der Politik gelangt und welche Politik heute in Frankreich als säkular begründbar ist, muss der Fokus auf die – ohne Frage wichtige – politische Theorie überschritten werden. Geht man diesen Schritt, verliert der Säkularismus den Anschein des wohlgeordneten Systems.

D ie G renzen juridischer M achtkonzep tualisierungen Meine Ausgangsthese an dieser Stelle besagt, dass der Säkularismus nicht einfach als ein in Recht und politischer Theorie festgeschriebenes System der Trennung oder Differenzierung zwischen Staat und Religion betrachtet werden kann. Im Gegensatz zu dieser weiterhin vielfach vertretenen Sicht betonen Talal Asad (2003) und andere Autoren den normativen Charakter säkularer Ordnungen in denen sich, vereinfacht gesagt, das Prinzip der Differenzierung von Staat und Religion mit unterschiedlichen normativen 1 | Zur Politik des Expertenwesens siehe u.a. Amiraux 2004; Amiraux/Simon 2006; Roy 2001, 2011; Geisser 2012; Beaugé/Hajjat 2014. 2 | Entwickelt wurde der hier dargestellte Ansatz für eine Untersuchung der Diskurse muslimischer Akteure in Frankreich (Peter 2018).

Jenseits des wohlgeordneten Säkularismus

Vorstellungen von Religion und dem religiösen Subjekt, die von staatlichen und anderen Akteuren zirkuliert werden, verbindet. Diese Sicht auf den Säkularismus ist mit den Schriften Foucaults eng verbunden und wurde in vieler Hinsicht von seiner Analytik der Macht beeinflusst. In der Foucault’schen Perspektive ist das, was hier kritisch als Vision des wohlgeordneten Säkularismus bezeichnet wird, Teil einer allgemeinen Problematik der Repräsentation von Macht. Die oben skizzierte Sicht auf den wohlgeordneten Säkularismus weist in der Tat vier Eigenschaften auf, die Foucault als typische Merkmale einer juridischen Konzeption der Macht identifiziert:3 (1.) Macht wird als etwas vorgestellt, das jemand besitzt (eine Unterscheidung zwischen den Macht Ausübenden und den ihr Unterworfenen ist aus dieser Warte unproblematisch); (2.) Macht wird vorwiegend durch die Begrenzung dessen ausgeübt, was den ihr Unterworfenen erlaubt wird (d.h. Macht hat einen Bezug zu Freiheit und die Ausübung von Macht kann unzweideutig identifiziert und beschrieben werden); (3.) Macht ist im Staat gebunden; und (4.) wird gegenüber Subjekten ausgeübt, die gegeben sind, d.h. deren Konstitution der Machtausübung vorausgeht. Es ist leicht erkennbar, dass diese Vorstellung von Macht für Debatten zum Islam in Frankreich von großer Bedeutung ist. Diese Vorstellung von Macht als einheitlich und eindeutig verortbar (durch den Bezug zum Staat als demokratischem Souverän und durch die Beziehung zwischen Macht und Recht) ermöglicht die Frage nach ihrer Legitimation, die in den Debatten um den französischen Säkularismus eine so zentrale Rolle spielt. Foucault hat diese Sicht auf Macht – als souveräne Instanz, d.h. verdinglicht, zentralisiert und durch seine Beziehung zum Recht (de)legitimiert – kritisiert und in einem bekannten Satz auf das Auseinanderfallen der in der politischen Philosophie und anderswo verbreiteten Machtkonzeptionen einerseits und dem Funktionieren der Politik andererseits hingewiesen: »Man muss dem König den Kopf abschlagen: das hat man in der politischen Theorie noch nicht getan.« (Foucault 1978a: 38) Nach Foucault lässt sich Macht also nicht auf eine allumfassende Struktur reduzieren (auch dann nicht, wenn Widersprüche und Paradoxa eingeräumt werden); die Ausübung von Macht muss komplexer gedacht werden. Eine gänzlich andere Sichtweise auf den Säkularismus, die eine rein juridische Konzeption desselben zurückweist, wurde von Talal Asad formuliert. Für

3 | Vgl. Victor Tadros (1998), auf den ich mich hier stütze, zu Foucaults Verwendung des Begriffes »juridisch« und warum dies nicht allgemein mit Recht und Gesetz gleichzusetzen ist. Juridisch bezieht sich auf eine partikulare Dimension des Rechts, nämlich Regeln, durch die Rechte und Verbote sowie diesbezügliche Sanktionen festgelegt werden. Die hier behandelte und kritisierte wohlgeordnete Sicht auf den Säkularismus stützt sich wesentlich auf eine juridische Konzeption der Macht.

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diesen Ansatz ist entscheidend, dass die gemeinhin konstitutive Verknüpfung säkularer Regime mit dem Anspruch, Religionsfreiheit zu realisieren, durchgetrennt wird. Im Gegensatz hierzu wird in dieser Perspektive Säkularismus insofern als präskriptives Unterfangen dargestellt, als sich die säkulare Politik an »normativen Vorbildern von Praxis, Verhalten und Religiosität« orientiert (Mahmood 2010: 293). Diese Vorbilder werden durch sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure autorisiert. Säkularismus kann daher nicht auf eine Staatsangelegenheit reduziert werden und der Staat fungiert nicht immer als Ausgangs- oder Bezugspunkt säkularer Politiken. Ein solcher Ansatz lässt die juridischen Formen der Machtausübung natürlich nicht außer Acht, sondern verlagert unsere Aufmerksamkeit auf den Bereich der Gouvernementalität, womit wir uns gleichzeitig von einer Sicht auf säkulare Politik, die sie als wohlgeordnet auffasst, entfernen.

D er S äkul arismus und die R egierung der M uslime Allgemein wird die Gouvernementalität im Sinne der »Führungslenkung« als »Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten« definiert (Foucault 2007a: 97). Sie zielt damit auf »die Gesamtheit der Praktiken […], mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können« (Foucault 2007b: 278). Von zentraler Bedeutung für die Gouvernementalität ist, dass sie »die Individuen in Subjekte [verwandelt]« (Foucault 2007a: 86). Um es vereinfacht darzustellen: Die Individuen werden durch »Objektivierungen« zum Subjekt, d.h. durch die Anwendung von diversen Kategorien auf sie, die ihre Identität bestimmen. Dieser Prozess verschränkt sich mit dem der Herausbildung eines Geflechtes von Selbstbeziehungen, durch die das Individuum »durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden« (Foucault 2007a: 86) wird. Diese Skizzierung der Gouvernementalität ist eventuell irreführend, denn sie suggeriert eine systematische Kohärenz, die der säkularen Politik in Frankreich gerade nicht innewohnt. Saba Mahmood stellt fest, dass die präskriptiven Modelle der Religiosität, die säkularen Politiken zugrunde liegen, »oft instabil und widersprüchlich« (Mahmood 2010: 293) sind. Diese Bemerkung ist im Falle Frankreichs sicher treffend. Wenn man ansetzt, den französischen Säkularismus im Sinne von Mahmood als säkulare Gouvernementalität zu operationalisieren, muss man feststellen, dass die Modellierung dieser Politik bereits auf der fundamentalsten Ebene die Frage ihrer Homogenität und Stabilität aufwirft. Die Schlüsselfrage lautet: Wie definiert man »Muslime« und »Islam/islamisch«? Diese Begriffe sind – wie schon oft angemerkt wurde  – in Frankreich keineswegs konsensfähig. Es wird im Gegenteil intensiv

Jenseits des wohlgeordneten Säkularismus

darüber diskutiert, wie viele Franzosen als Muslime anzusehen sind (und ob und wie die Zahl der Muslime erfasst werden kann), was einen Muslim denn überhaupt auszeichne; gleichzeitig wird für ein breites Spektrum an Handlungen – von der Kleiderwahl oder der Ernährung bis hin zu Terrorakten – um die Qualifizierung »islamisch« gestritten. Seit Anfang der 1990er-Jahre ist ein breit angelegter, politisch kontroverser Prozess im Gange, um »Muslime« (und »das Islamische«) zu identifizieren (Brubaker 2013). Dabei wurde die Frage »Wer sind Muslime?« eng mit der normativen Frage verbunden, welche Arten der Subjektivität für Muslime in Frankreich als Bürgerinnen und Bürgern des Landes angemessen sind. Kurzum, heute ist man sich weitgehend einig, dass um die Begriffe »Islam« und »Muslim« Uneinigkeit und semantische Verwirrung herrschen (außerdem herrscht Uneinigkeit in der Frage, wer denn verwirrt sei). Auf diese Tatsache kann man mit unterschiedlichen Ansätzen reagieren. Wie man reagiert, hat entscheidenden Einfluss auf die weitere Bestimmung dessen, was im Rahmen einer Analyse säkularer Politik untersucht wird. Der erste und nächstliegende Ansatz geht von der Behauptung aus, die begriffliche Verwirrung ergebe sich aus einer verbreiteten diskursiven Verwendung solcher Begriffe wie »Muslim« und »Islam« als leeren Signifikanten bzw.  – nach Saul A. Kripke  – »Eigennamen«. Wenn Begriffe so eingesetzt werden, beschreiben sie einen Gegenstand nicht.4 In dieser Perspektive hängt die  – nie vollständig erreichte – semantische Eindeutigkeit solcher Begriffe wie »Islam« oder »Muslim« nicht von den prägenden (und nur ihnen gemeinsamen) Eigenschaften der Sogenannten ab. Vielmehr wird ein sonst polysemantisches Feld diskreter Bestandteile durch diesen Namen – teilweise – fixiert und vereinheitlicht. Anders gesagt: Der Eigenname »Islam«, »Muslime« o.ä. individualisiert den Namensträger, ohne ihn auf eine nur ihm eigene Art zu charakterisieren (vgl. Kripke 1972). Oder in der Formulierung Ernesto Laclaus: »Die Einheit des Gegenstandes hat keinen anderen Grund als den Akt der Benennung.« (Laclau 2006: 108) Dieser nichtbeschreibende Gebrauch der Begriffe »Muslim« und »Islam/islamisch« ist weit verbreitet und bedeutsam.5 Der kulturelle Essentialismus, die Rassisierung und die Islamophobie setzen darauf. Die Schwierigkeit einer konsensfähigen Definition der Begriffe »Islam/islamisch« und »Muslim« lässt sich allerdings nicht ausschließlich auf leere Signifikanten zurückführen (und dies hat nun meines Erachtens entscheidende 4 | Der gemeinsame Nenner dieser Option – »Eigenname« oder »leerer Signifikant« – ist der Antideskriptivismus. Für eine Diskussion der Beziehung zwischen dem Begriff des leeren Signifikanten und dem Eigennamen nach Kripke siehe Žižek (1989) und Laclau (2006). 5 | Stegmann demonstriert den Wert dieser Sichtweise für die Untersuchung des französischen Islams (Stegmann 2017).

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Konsequenzen für die Analyse säkularer Politik). Vielmehr muss man die grundlegende Tatsache berücksichtigen, dass der französischen Gesellschaft eine Vielfalt institutionalisierter Wissensressourcen zur Verfügung steht, um Islam und Muslime zu identifizieren (und, im weiten Sinne, zu deuten) und um festzustellen, in welcher Hinsicht sie für die Regierung von Interesse sein könnten.6 Es wird an dieser Stelle grundsätzlich davon ausgegangen, dass verschiedene Interessen mit dem Islam und mit Muslimen in Verbindung gebracht werden können.7 Diese potenzielle Ausdehnung des Feldes säkularer Politik durch vielfältige Konstruktionen des Islams wird grundsätzlich durch gesellschaftlich institutionalisierte Wissensressourcen ermöglicht, die damit einen wichtigen Bestandteil säkularer Politik bilden. Diesen Sachverhalt will ich hier mit dem Begriff der politischen Rationalität abbilden. Zusätzlich zur oben angeführten juridischen Rationalisierung säkularer Politik gibt es drei weitere Rationalitäten, die in der Zeit zwischen 1989 und dem heutigen Tag die Regierung des Islams und der Muslime in Frankreich wesentlich ermöglicht haben. Genannt werden sie hier – entsprechend der jeweiligen erkenntnistheoretischen Perspektive – die soziale, die historische und die ästhetische Rationalität. Nach Nikolas Rose und Peter Miller beschreiben wir Rationalitäten auf dem einfachsten Niveau als die »sich wandelnden diskursiven Räume, in denen die Ausübung der Macht konzeptualisiert wird« (Rose/Miller 1992: 175). Anders gesagt: Politische Rationalitäten sind in der Gesellschaft zur Verfügung stehende Wissensressourcen, die eine reflexive Ausübung von Macht ermöglichen; durch sie können Menschen öffentlich oder privat eine konkrete Machtausübung, ihre Ziele und ihre Methoden erläutern, begründen und in Frage stellen. Diese Rationalitäten werden in Bezug auf drei Eigenschaften charakterisiert und differenziert: (1.) ihre jeweilige epistemologische Grundlage bzw. die erkenntnistheoretische Struktur der von ihnen postulierten Realität; (2.) die Art der Regierungsaufgaben und -ziele, die durch sie denkbar, debattierbar und realisierbar werden; und (3.) die Form der Subjektivität, die sie voraussetzen und weiter erzeugen. Diese Diskurse sind nicht notwendigerweise wissenschaftlich. Eine Rationalität baut zwar auf einer konkreten Wahrheitsvorstellung auf, muss aber 6 | Vgl. Foucault: »Die Regierung interessiert sich nur für die Interessen. Die neue Regierung, die neue gouvernementale Vernunft, hat nichts mit dem zu schaffen, was ich die Dinge an sich der Gouvernementalität nennen würde, nämlich den Individuen, den Dingen, den Reichtümern, den Ländereien. Sie hat mit diesen Dingen an sich nichts mehr zu tun. Sie hat mit jenen Phänomenen der Politik zu tun, die gerade die Politik und die Einsätze der Politik ausmachen.« (Foucault 2006a: 74f.) 7 | Vgl. Tariq Modood (2010: 4) und seine Anführung der »fünf möglichen Gründe für den Staat, sich für eine Religion zu interessieren«.

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nicht unbedingt wissenschaftlich begründet sein. Außerdem besagt der Begriff »Rationalität« nicht, dass Macht immer vollständig rationalisiert wird – nur, dass sie rationalisiert werden kann. Diese Rationalitäten lassen sich im Gegensatz zu Religionen als säkular bezeichnen, denn die Autorität ihrer Wahrheitsansprüche ist nicht in einer Religion verankert.

D ie F ührungsproblematik : W er sind M uslime ? W as   ist   fr anzösisch ? Welchen Nutzen erbringt dieser Ansatz nun für die Analyse des französischen Säkularismus? Drei eng miteinander verbundene Aspekte sind hier zu erwähnen. Erstens ermöglicht der Hinweis auf die diversen Rationalisierungen des Islams eine Erklärung des Phänomens, dass die Identifizierung des Islams immer wieder zu Konflikten oder zumindest Verwirrungen führt. Zugleich können hiermit die Komplexität (nicht Unstrukturiertheit) des Feldes der Politik erfasst und ein Defizit der wohlgeordneten Sicht des Säkularismus behoben werden. Der zweite Aspekt betrifft die epistemische Dimension der säkularen Politik in Frankreich. Der Begriff der politischen Rationalität bietet uns ein analytisches Werkzeug, um diese Dimension in die Untersuchung zu integrieren. Rationalität bezeichnet hier eine Ressource, die es erlaubt, begründete Aussagen zum politischen Handlungsbedarf und den Zielen einer staatlichen Maßnahme zu formulieren.8 Im Zug von Rationalisierungen werden der Islam und Muslime auf unterschiedliche Weise als Objekte der Regierung konstruiert, wobei diverse gesellschaftlich institutionalisierte Wissensbestände, die miteinander verknüpft werden können, genutzt werden. Diese können nicht auf wissenschaftliches Wissen beschränkt werden; auch ästhetische – das heißt hier: fiktionale – Konstruktionen des Islams sind von erheblicher Bedeutung und können erfolgreich Autorität für sich beanspruchen. Kurzum, es gibt starke Gründe, um zu sagen, dass das Objekt säkularer Politik keineswegs eindeutig gegeben ist. Vielmehr beginnt die politische Auseinandersetzung regelmäßig bei der Bestimmung desselben. Schließlich habe ich eingangs die für die »Critical Studies of Secularism« zentrale These angeführt, dass der Säkularismus bestimmte religiöse

8 | Diese Rationalitäten sind nicht im gleichen Maße wirkmächtig; jede Art des Räsonierens muss das juridische Moment berücksichtigen. Außerdem sind sie nicht im gleichen Maße umfangreich und können sich daher nicht vollständig ersetzen. Trotzdem impliziert die Mehrzahl der Rationalitäten eine Wahl und auch die regelmäßige Notwendigkeit eines gegenseitigen Interagierens.

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Subjektivitäten voraussetzt und zugleich generiert. Diese These lässt sich nun umformulieren und zumindest ansatzweise konkretisieren. Die Behauptung ist in vieler Hinsicht richtig, denn die Diskussion der säkularen Politik in Frankreich geht davon aus, dass die muslimische »Identität«9 für den Staat von Belang ist und dass dessen Politik in Bezug auf spezifische muslimische Praktiken bzw. Institutionen auf einer Vorstellung davon auf bauen muss, wer Muslime sind, um dann muslimische Subjektivitäten gestalten zu können. Normative Konzeptualisierungen der Subjektivität französischer Muslime sind damit Bestandteil der politischen Debatte. Diese Konzeptualisierungen sind allerdings erheblich umstritten und damit wären wir wieder beim Thema der mehrzähligen Möglichkeiten des politischen Rationalisierens in der französischen Gesellschaft. Denn es geht bei diesen Diskussionen um die Regierung französischer Muslime nicht einfach darum, die Häufigkeit oder Verbreitung gewisser Arten der Subjektivität unter Muslimen zu fördern. Vielmehr setzen diese Diskussionen bei der viel grundlegenderen Frage an, wie das normative französische Subjekt zu definieren sei und wer Muslime sind. Hiermit soll betont werden, dass sich die säkulare Politik in Frankreich durch eine relative Unbestimmtheit auszeichnet. (Anders gesagt: Unstrittig ist, dass der französische Säkularismus normative Subjektivitätsmodelle impliziert; es kann meines Erachtens ebenso wenig bestritten werden, dass sie sich nicht unbedingt leicht beschreiben lassen.) Diese Unbestimmtheit spiegelt sich in den folgenden drei Fragen wider, die gleichzeitig drei ständig wiederkehrende und miteinander verbundene Themen in der Auseinandersetzung um die Regierung der Muslime skizzenhaft darstellen: (1.) Wer sind französische Muslime? Wie kann man sie beschreiben (d.h. welche Eigenschaften sind für die Kategorie »Muslim« konstitutiv und wie viele Individuen gehören zu dieser Kategorie?) und wie kann man sie intern differenzieren? (2.) Welche Subjektivitätsmodi sind für Muslime in Frankreich als französische Bürgerinnen und Bürger angemessen? (D.h. was ist für nichtmuslimische Französinnen und Franzosen kennzeichnend und welche Art normative muslimische Subjektivität dient dem Interesse Frankreichs?) (3.) Wie sollte die Subjektivierung von Muslimen geführt werden, um das in (2.) definierte nationale Interesse zu verwirklichen? Diese drei Fragen sind seit Anfang der 1990er-Jahre zunehmend in den Mittelpunkt gerückt und werden in weiten Teilen der Öffentlichkeit immer wieder diskutiert. Ihre Bedeutung ist heute weithin anerkannt und muss

9 | In solchen Diskussionen bezeichnet der Begriff »Identität« eines Individuums die dauerhaften, bedeutsamen Orientierungen einer Person als Bedingung ihres Handelns und verweist zugleich auf eine Vorstellung von Gleichartigkeit mit anderen (Wagner 1999a).

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oftmals nicht mehr nachgewiesen werden. Das Interesse der Öffentlichkeit auch an üblicherweise der Privatsphäre zugeordneten Dimensionen des muslimischen Lebens in Frankreich gilt weithin als legitim. Diese drei Fragen entsprechen wohlgemerkt einer formalen Struktur der Auseinandersetzung. Um sie zu beantworten, können diverse Rationalisierungsmodi verwendet werden, wie ich im nächsten Teil ausführlicher erläutern werde. Unter (1.) kann man Muslime im Hinblick auf diverse Kriterien und Wissensbestände charakterisieren. Auch der Begriff »Interesse« in Frage (2.) lässt die Grundlage für eine Definition des Interesses Frankreichs offen. Postuliert wird nur, dass jeder öffentliche Diskurs zu muslimischen Subjekten in Frankreich beweisen muss, dass muslimische Subjektivitäten dem Wohl Frankreichs nicht schaden. Nicht zuletzt ist sogar die Definition des normativen französischen Subjektes in (2.) keine fixierte. Im nächsten Teil will ich nun drei Rationalitäten umreißen, die in den französischen Diskussionen um den Islam seit 1989 eine zentrale Rolle spielen. Diese Rationalitäten werden mit der juridischen Rationalität unterschiedlich kombiniert, um die obigen drei Fragen zu beantworten.

D ie soziale R ationalität Diese Rationalität bildete sich im 19. Jahrhundert heraus, als die Gesellschaft als distinkte Entität mit ihr eigenen und vom Staat zu berücksichtigenden Gesetzmäßigkeiten anerkannt wurde: »Als Entität war eine solche Gesellschaft daher in der Lage, die Handlungen Einzelner ursächlich zu beeinflussen. Das Denken und das Tun eines Menschen wurden durch seine Stellung in einer Gesellschaft bzw. einer sozialen Struktur bestimmt.« (Wagner 1999b: 144) Heute wird diese Sichtweise ganz selbstverständlich in Debatten um den Islam und die muslimische Religiosität angewendet, ob in Regierungsausschüssen, in politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen oder in der Kulturproduktion. Auch aus einem zweiten, eng damit verbundenen Grund sollte diese Rationalität in die Untersuchung des französischen Säkularismus integriert werden, denn die »Erfindung des Sozialen« (Donzelot 1994) im 19. Jahrhundert hat Konzeptionen der Republik und staatlicher Legitimität in Frankreich nachhaltig verändert. In deutlicher Unterscheidung von vorhergehenden kontraktualistischen Vorstellungen der Republik und der formalen Gleichheit aller Bürger wurde die soziale Gleichberechtigung zu einer neuen wesentlichen Grundlage staatlicher Legitimität. Diese Entwicklung ging mit der Herausbildung eines Feldes der Sozialpolitik einher, das im heutigen Kontext auf verschiedene Weise mit der Regierung der Muslime und der Regulierung islamischer Praktiken und Institutionen verquickt ist. Erkenntnistheoretisch setzt diese Rationalität das Vorhandensein sozialer Kräfte voraus  – hervorgerufen durch das vielfältige Zusammenspiel von

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Individuen in einem konkreten Raum. Diese Kräfte schaffen die Rahmenbedingungen für das Selbstverständnis und das Tun dieser Individuen. So bestimmen sie probabilistisch die Identität der Einzelnen – ob zum Beispiel der Islam oder ein Milieu wie die banlieue für bestimmte Gruppierungen, wie etwa die sogenannten Franzosen der zweiten Generation, eine prägende Rolle spielt. Diese sozialen Kräfte beeinflussen außerdem, wie etwas von Individuen verstanden wird: Welche Bedeutung hat es für sie in ihrem Leben? Daraus folgt bezüglich der Subjektivitätsform, dass die soziale Rationalität das gesellschaftliche Moment – grundsätzlich – gegenüber dem individuellen privilegiert. Wie unterscheidet sich die soziale von der juridischen Rationalität? Zwei Schlüsselbegriffe erlauben, die zentralen Unterschiede zu benennen: Partikularität, d.h. die Subjekte werden in ihrer sozialen Konkretheit dargestellt (im Gegensatz zum abstrakten rechtspolitischen Subjekt), und Probabilität, d.h. in dieser Rationalitätsform wird angenommen, dass die sozialen Bedingungen Effekte hervorrufen, die sich entlang ihrer Wahrscheinlichkeit identifizieren und beschreiben lassen.10 Die soziale Rationalität spielt in einem anderen Zeitrahmen; ihre Perspektive auf Identitäten und Handlungen ist betont prozessbezogen. Sie situiert Einzelpersonen in konkreten gesellschaftlichen Räumen und erklärt sie in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, wodurch eindeutige Aussagen zu einer Einzelverantwortung eher erschwert werden. Die juridische Rationalität dagegen setzt auf die Subjektform der Einzelperson als freier, autarker und eigenverantwortlicher Trägerin von Rechten und Pflichten. Des Weiteren erlaubt es die soziale Rationalität, Einzelpersonen und Gruppen zu partikularisieren, indem sie sie in sozialen Räumen und Prozessen verortet und ihre relativ besonderen Charakteristika benennt. (D.h. Muslime können so zu Angehörigen einer »etwas anderen« Religionsgruppe rationalisiert werden.) Damit erschließt sie einerseits neue Perspektiven für staatliche Interventionen in der banlieue11. 10 | Diese Rationalität – und auch die im Folgenden aufgeführten Rationalitäten – ist wie erwähnt nicht unbedingt wissenschaftlich grundiert. Einflussreiche Beiträge zur sozialen Rationalisierung des Islams wurden allerdings von der Soziologie und Demografie geliefert. 11 | Die banlieue wird in dieser Rationalität weitgehend ähnlich konstruiert wie das von Foucault analysierte »Milieu«: »Der Sicherheitsraum verweist also auf eine Serie möglicher Ereignisse, er verweist auf das Zeitliche und das Aleatorische, ein Zeitliches und ein Aleatorisches, die in einen gegebenen Raum eingeschrieben werden müssen, [und dieser Raum] […] lässt sich als Milieu bezeichnen.« (Foucault 2006b: 40) Der Milieuansatz ist im Grunde der Versuch, der Unbestimmtheitsproblematik beizukommen, indem »die Distanzwirkung eines Körpers auf einen anderen« in einem Raum, »in dessen Innerem eine zirkuläre Umstellung von Ursachen und Wirkungen zustande kommt«, erkannt und quantifiziert wird. Kurz gesagt: Das Milieu bezeichnet ein neues »Interventionsfeld« für die staatliche Macht, »wo, anstatt die Individuen als ein Ensemble von

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Andererseits kann sie als Mittel genutzt werden, um eine Position der epistemischen Autorität zu erlangen und darüber zu befinden, was Menschen bewegt und wie Identitäten gestiftet werden. Diese Autorität ist für diverse Gruppierungen – nicht zuletzt politische Gruppen und Intellektuelle – hochgradig attraktiv. Vereinfacht gesagt verknüpft sich mit dem Gebrauch sozialer Rationalisierungen die Möglichkeit, Aspekte des Islams in Frankreich »in den Griff« zu bekommen. Diese Rationalität verleiht den Nutzern und Nutzerinnen – auch in der Wissenschaft – zuallererst eine allgemeine epistemische Autorität bezüglich Islam und Muslimen, die vor allem genutzt werden kann, um den Islam sowie die ihm immer wieder unterstellte gesellschaftliche Macht neu zu beschreiben. Dies wird möglich, da soziale Rationalisierungen des Islams immer wieder fragen bzw. sichtbar machen, wie gesellschaftliche Bedingungen und staatliche Maßnahmen die Herausbildung einer muslimischen Religiosität bzw. konkrete Teilaspekte dieser Religiosität fördern, prägen und ausgestalten – und wie sich eine Modifizierung dieser Bedingungen bzw. Maßnahmen auf muslimische Religiosität auswirken würde. Diese Interventionen finden in einem Kontext der weit verbreiteten Überzeugung statt, dass Muslime eine zahlenmäßig starke (und wachsende12), machtvolle gesellschaftliche Gruppierung – oder eher: Gemeinschaft – ausmachen. »Machtvoll« steht hier vor allem für die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, dass massive Transformationsprozesse auf eine »muslimische Präsenz« in der französischen Gesellschaft zurückzuführen seien.13 Rechtssubjekten zu erreichen, die zu freiwilligen Handlungen fähig sind – dies war der Fall der Souveränität –, anstatt sie wie eine Multiplizität von Organismen, von Körpern, die zu Leistungen imstande sind und zwar zu Leistungen, wie sie in der Disziplin erforderlich sind, zu erreichen, wird, genau genommen, versucht, eine Bevölkerung zu erreichen« (Foucault 2006b: 40f.; vgl. Peter 2008). 12 | Die Schätzungen schwanken sowohl in Bezug auf die Zahl der Muslime als auch in der Abgrenzung der jeweiligen Kategorien. Die in einer groß angelegten demografischen Untersuchung aus dem Zeitraum 2008/09 gemachten Angaben ergeben 2,4 Millionen Muslime in der Altersgruppe 18-60 Jahre. Daraus lässt sich für alle Altersgruppen zusammen der Schätzwert 3,98-4,3 Millionen Muslime im metropolitanen Frankreich ableiten (Simon/Tiberj 2013; s. auch Brouard/Tiberj 2005 sowie Tribalat 2013). Ergänzend hierzu gibt es schätzungsweise 250.000 Muslime in den Überseegebieten, vor allem La Réunion und Mayotte. 13 | Seit Anfang der 2000er-Jahre wird dieser Wandlungsprozess – in einem souveränen Imaginaire der Macht – direkt auf die Kontrolle des Territoriums bezogen und die banlieues als »verlorene Territorien der Republik« beschrieben. Dieser Ausdruck bildet den Titel einer Veröffentlichung, die die Diskussion um Antisemitismus und frauenfeindliche Gewalt in den banlieues erheblich schürte (Brenner 2002). Der Ausdruck wurde seitdem in das Vokabular öffentlicher Debatten integriert. Die antagonistische

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In diesem Kontext macht die soziale Rationalität eine neue Beschreibung des Islam möglich, die diesem Machtbild etwas entgegensetzt. Dafür nimmt sie die Abhängigkeit des Islams von den sozialen Rahmenbedingungen ins Visier und beleuchtet seine gesellschaftlichen Funktionen. Dadurch beraubt sie ihn seiner Autonomie und mindert seine Macht über Individuen. Diese Neubeschreibung kann z.B. den Schwerpunkt auf muslimische Praktiken wie das Fasten oder auf die muslimische Identität schlechthin (in Verbindung mit dem Phänomen der sogenannten Re-Islamisierung) oder auch auf Radikalisierungsprozesse legen. In diesen verschiedenen Bereichen löst die soziale Rationalität gewissermaßen die Besonderheit des Islams auf, indem er – in unterschiedlichem Maße – auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Kräfte reduziert wird.14 Folglich eröffnet die soziale Rationalität eine andere Perspektive auf die Frage, warum Muslime das tun, was sie tun, und welche Bedeutung ihrem Muslimsein hierbei zukommt. Aussagen, die in diesem Rahmen gemacht werden, können von den selbsterklärten Motiven dieser Muslime erheblich abweichen. Ebenso können sie von den Bewertungen abweichen, die aus einer juridischen Perspektive gemacht werden. Hier werden Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Individuums betont; in sozialen Rationalisierungen wird hingegen die probabilistisch gefasste Prägekraft sozialer Räume betont und Eigenverantwortlichkeit, unterschiedlich stark, gemindert. Die Divergenz dieser beiden Sichtweisen ist ein wichtiger Grund dafür, dass die doppelte Frage, was Islam/islamisch ist und wer Muslime sind, regelmäßig kontrovers diskutiert wird, nicht zuletzt im Hinblick auf Probleme, die von sozialer Fragmentierung oder städtischer Gewalt bis hin zu Aufstand oder Terrorakten reichen. Der öffentliche Einfluss sozialer Rationalisierungen lässt sich für Frankreich als Ganzes schlecht abschätzen. Im öffentlichen Diskurs wird ihr Einfluss von wichtigen Kreisen als erheblich erachtet: Sie lehnen die vermeintlich resultierende, wohlfeile »Kultur der Entschuldigung« ab und wenden sich gegen die »Verleugnung« von Religion und Kultur (vgl. zum Beispiel Lagrange 2010; Birnbaum 2016; Val 2015; Lahire 2016). Charakterisierung dieser »muslimischen Präsenz« in Frankreich als »Islamisierung« ist hingegen im Wesentlichen auf rechtsextreme und populistische Bewegungen beschränkt; diverse (gesetzwidrige) Aktionen zur Wiedereroberung des französischen Territoriums – wie z.B. die Besetzung von Moscheen oder der Genuss von Wein und Schweinefleisch auf »Feindgebiet« – gehören in die Szenerie der identitären Bewegungen. 14 | Milbank schreibt in seiner »Kritik der Religionssoziologie«: »[Das Soziale] ist außerdem die apriorische Denkform, durch deren Kategorien sich alle empirischen Inhalte verstehen lassen. Traditionelle und partikulare Religionen kodieren auf vermeintlich undurchsichtige Art diesen Vorrang des Sozialen. Nur im Zuge dieser Erkenntnis wird die Religion als solche verallgemeinert und vervollkommnet.« (Milbank 2006: 103)

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Den Islam auf solche Weise neu zu beschreiben, setzt natürlich voraus, dass der Islam und Muslime in konkreten sozialen Räumen zu verorten sind, die heute mit gravierenden Problemen in Verbindung gebracht werden. Soziale Rationalisierungen des Islams verfolgen zwar häufig das Ziel, ein verbreitetes Verständnis des Islams bzw. seiner gesellschaftlichen Macht zu verändern. Allerdings haben sie als Ausgangspunkt die Wahrnehmung einer vielschichtigen Problematik – eine Wahrnehmung, die von diesen Rationalisierungen weitgehend geteilt und fortgeschrieben wird. Soziale Rationalisierungen sind Teil einer viel breiter angelegten Tendenz, den Islam und die Muslime zu partikularisieren. Wie bereits angemerkt können mit Hilfe dieser Rationalisierungen diverse Unterscheidungen innerhalb der französischen Bürgerschaft und/oder zwischen sozialen oder religiösen Gruppen vorgenommen werden. Eine Vielzahl von politischen Interventionen wird dadurch denkbar. So können sie auch mehr oder weniger direkt dazu beitragen, eine Verbots- und Repressionspolitik zu legitimieren. Als zum Beispiel das Gesetz vom 15. März 2004 gegen das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Schulen verabschiedet wurde, war die starke politische Unterstützung für diese Maßnahme zum Teil auf die Art zurückzuführen, wie Muslime im sozialen Raum der banlieues situiert wurden. Bezeichnenderweise wurde das Gesetz vielfach mithilfe sozialer Rationalisierungen des Islams begründet. Die Regierungskommission etwa räumte ein, dass soziale Faktoren und Probleme wie mangelnde Gleichberechtigung und eine lückenhafte Achtung der Vielfalt (Commission Stasi 2003) die gegenwärtige Lage herbeigeführt hätten. Während sie an vielen Stellen für den sozialen Wandel durch veränderte Rahmenbedingungen plädierte, wollte sie an einem konkreten Punkt diese Umgestaltung durch eine politische Entscheidung  – die Ächtung des Hidschabs in staatlichen Schulen – forcieren.15 Soziale Rationalisierungen sind im engen Sinne auch die wesentliche Grundlage jedweder Politik, die durch eine Veränderung sozialer Bedingungen mittelbar den Islam neugestalten und zum sozialen Frieden und zu gesellschaftlicher Stabilität beitragen will. Solche Rationalisierungen werden teilweise begünstigt durch die Einführung von Antidiskriminierungsmaßnahmen und eine stärkere Anerkennung der »Diversität« in Frankreich (Fassin 2002; Calvès 2004; Doytcheva 2010, 2015). Vereinfacht gesagt wird hier argumentiert, dass der Staat muslimische Institutionen anerkennen muss und durch verbesserte Zusammenarbeit und insbesondere die Erleichterung kultischer Praktiken die Bedingungen für die Herausbildung und Verbreitung

15 | Der Gesetzestext beachtet selbstverständlich das Nichtdiskriminierungsgebot und verbietet allgemein das »Tragen auffälliger religiöser Symbole oder Kleidungsstücke durch Schüler«.

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solcher Formen des Islams geschaffen werden, die mit bestimmten Visionen der französischen Gesellschaft in Einklang gebracht werden können. Damit verbunden – auch wenn weniger verbreitet und eher kontrovers – ist das Streben, durch eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und muslimischen Institutionen, den sozialen Frieden in den sogenannten Problemgebieten zu stärken. Hier wird die Frage »Wer sind Muslime?« vorrangig mit dem Fokus darauf beantwortet, wie der Einzelne Muslim wird, wie soziale Bedingungen konkrete Praktiken des Islams prägen und letztendlich wie sich muslimische Subjektivitäten ändern lassen. Diese Rationalität hat einen erheblichen Einfluss auf Politik und öffentliche Diskurse, auch wenn dieser Einfluss regelmäßig mit Hinweisen auf die Laizität kritisiert wird. Die staatlichen Behörden besitzen sowohl auf nationaler wie auf kommunaler Ebene einen Ermessensspielraum bei Entscheidungen, z.B. beim Bau (und der Teilsubventionierung) von Moscheen, der Beziehung zu muslimischen Vereinen und Föderationen oder der Ausbildung von Imamen. Soziale Rationalisierungen des Islams tragen zur Entscheidungsfindung bei.

D ie historische R ationalität Die facettenreichen Fragen »Wer sind Muslime?« und »Wie ist das normative muslimische Subjekt zu definieren?« lassen sich auch im Lichte der Geschichte beantworten – nicht nur der Geschichte Frankreichs, der ein normativer Status zugeschrieben wird, sondern auch der Geschichte der muslimischen und vor allem der arabisch-muslimischen Staaten sowie der islamischen Tradition. Die historische Rationalität mag auf den ersten Blick weniger als Alternative erscheinen, sondern eher eine neue Perspektive auf Identitätsbildung eröffnen. In der Praxis ist diese Rationalität allerdings durch bestimmte Anwendungsfelder mit der juridischen Rationalität eng verzahnt und stabilisiert oder gefährdet ihr Funktionieren auf direkte Weise. Im Mittelpunkt der historischen Rationalität steht  – als epistemologische Annahme – Frankreich. Frankreich wird als eine Einheit verstanden, die im Zuge des historischen Wandels, zumindest auf einer gewissen Ebene, ihre Identität bewahrt hat. Der mit sich selbst identisch bleibende Kern Frankreichs wird vor allem mit den miteinander verknüpften Begriffen »Auf klärung«, »Republik« und »Säkularismus« in Verbindung gebracht. Die Subjektform, die von dieser Rationalität vorausgesetzt wird, ist das sich erinnernde Subjekt, mit anderen Worten ein Subjekt, das seine Beziehungen zu sich selbst und zu anderen, seine Bindungen, Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, teilweise durch ein bestimmtes Verständnis der Geschichte der Dinge und der Menschen konzipiert. Die wichtigste Aufgabe, die durch diese Rationalität denkbar und durch das Erzählen der französischen

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Geschichte geleistet wird, ist die Gestaltung der Art, in der Franzosen – ob Muslime oder nicht – sich mit Frankreich als einem sich durch die eigene Geschichte legitimierenden Wesen identifizieren (oder auch nicht). Auf dem Spiel steht nicht bloß die Legitimität Frankreichs, sondern auch sein normativer Status als Messlatte dafür, wie der Islam zu verstehen und die Entwicklung der islamischen Tradition zu bewerten ist. Dieser Bezug konkretisiert sich besonders im häufigen Ruf nach einem Islam, der mit den Eigenschaften »aufgeklärt«, »säkular«, »republikanisch« und so fort beschrieben wird. Dieser normative Bezug zur Geschichte Frankreichs in der Moderne wurde von vielen muslimischen Intellektuellen, die alternative Sichtweisen auf die islamische Geschichte und auf die Grundlagen der Moderne entwickelt haben, verworfen. Die politischen Konflikte, die sich an historischen Rationalisierungen Frankreichs entzünden, haben sich seit den späten 1990er-Jahren radikal verändert. Heute ist nicht nur umstritten (auch wenn dies wesentlicher Teil des Konfliktes ist), ob alle Franzosen, unabhängig von Herkunft und Religion, die historische Legitimität der Republik sowie die Normativität der französischen Geschichte akzeptieren. Strittig ist zudem, ob die Behauptung der historischen Legitimität der Republik überhaupt mit dem aktuellen Erkenntnisstand der Geschichtswissenschaft in Einklang gebracht und von Historikern autorisiert werden kann. Foucaults Unterscheidung zweier Formen der Historiografie (1999) ermöglicht, diesen Kontext zu konzeptualisieren. Die Funktion der ersten Form  – Foucault nennt sie »römisch« – besteht darin, »das Recht auf Macht zu artikulieren und deren Glanz zu intensivieren« (Foucault 1999: 77). Die Historiker bezeugen die weit zurückreichende Geschichte der Reiche und die Größe ihrer Gründer. Sie machen Dinge erinnerungswürdig; was der Herrscher getan hat, soll erzählt und im Gedächtnis verankert werden: »Und gleichzeitig schreibt jede seiner Entscheidungen eine Art Gesetz für seine Untertanen, jedenfalls eine Verpflichtung für seine Nachfolger fest.« (Foucault 1999: 79) Schließlich dient die Geschichte dazu, »Vorbilder in Umlauf zu bringen […]. Das Vorbild ist in gewisser Weise […] das Gesetz, das sich im Glanz eines Namens sonnt.« (Foucault 1999: 79) Der ersten Form der Historiografie steht eine Gegengeschichtsschreibung entgegen. Dieser Diskurs gefährdet die Macht des Herrschers, denn er bedroht die Identifikation von Macht mit Recht. Wesentlich für diese zweite Art der Geschichtsschreibung ist das Postulat  – abgeleitet von einer eigenen Deutung der Geschichte  – einer »binären Struktur« der Gesellschaft (Foucault 1999: 61). Anstatt Geschichten von uralten ruhmvollen Reichsgründern zu erzählen, spricht dieser Diskurs von zwei »Rassen«, d.h. »zwei Gruppen, die sich trotz ihres Zusammenlebens aufgrund von Unterschieden, Asymmetrien und Schranken, welche sich Privilegien, Sitten und Rechten,

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der Vermögensverteilung und der Art der Machtausübung verdanken, nicht vermischt haben« (Foucault 1999: 90). Dieser Ansatz, der »eine bestimmte historisch-politische Spaltung, die sicher weit und dennoch relativ fest ist« (Foucault 1999: 90), als zentrales Merkmal des Gemeinwesens ausmacht, steht im Gegensatz zu Konzeptionen einer organischen politischen Ordnung und fordert den historisch-juridischen Legitimationsanspruch des Souveräns direkt heraus. Seit Ende der 1990er-Jahre, als eine breite Debatte um Frankreichs Kolonialgeschichte und seine postkoloniale Gegenwart begann, kommt es zu Konflikten um die Identität und die historische Legitimität Frankreichs. Die Geschichte Frankreichs in muslimischen Ländern und die postkoloniale Migration spielen dabei eine große Rolle (Mas 2006; Bertrand 2006; Fassin/ Fassin 2006; Blanchard et al. 2005). In diesen Konflikten hat sich das Kräfteverhältnis zu Gunsten diverser gegengeschichtlicher Narrative verlagert. Die Voraussetzungen für Aussagen zur »französischen« Identität bzw. ihrer Beziehung zum »Islam« haben sich stark gewandelt. Das nunmehr breit gestreute Wissen um die französische Kolonialgeschichte und um die vielfältigen Ausnahmeordnungen, die außerhalb des metropolitanen Frankreichs durch die Republik etabliert wurden, haben den Spielraum für historische Bestimmungen der französischen Identität deutlich eingeschränkt. Dies betrifft insbesondere die Möglichkeit, diese Identität an stabil gedachte historische Institutionen  – seien es die Menschenrechte oder das Gesetz von 1905 zur Trennung von Kirche und Staat als Grundlage der Laizität – anzubinden. Im Zuge dieser historiografischen Debatten mehren sich die Bezüge zum Islam; diese sind aber keineswegs unumstritten. Die Frage, ob sich die französische Identität gänzlich ohne Islambezug historisch bestimmen lasse oder ob Frankreichs Geschichte »global« zu verstehen sei, erregt die Gemüter (de Cock et al. 2008; Gouguenheim 2008; Büttgen et al. 2009; Michel 2010; Boucheron 2017; zu einer früheren Auseinandersetzung um die Nationalidentität vgl. Feldblum 1999). Die Anerkennung der historischen Verflechtungen zwischen »Frankreich« und »Islam« hat gleichzeitig eine Rekonfiguration des zweiten Teils der Gleichung angeschoben; »Islam« wird inzwischen vor allem mit der Geschichte Nordafrikas in Verbindung gebracht.16

16  |  Mein Ansatz konvergiert mit der heute geläufigen Kritik an universellen Konzeptionen der Bürgerschaft in Frankreich. Mein Augenmerk gilt hier jedoch nicht der Kritik, sondern der Tatsache, dass die »Partikularisierung« von Bürgerschaftsvorstellungen durch Verweise auf Frankreich als historische Entität wechselhaft erfolgt und mit unterschiedlichen Zielvorstellungen verbunden ist.

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D ie ästhe tische R ationalität Zusätzlich zur sozialen und historischen Rationalität muss die Untersuchung säkularer Politiken in Frankreich ästhetische Rationalisierungen des Islams und der Muslime in fiktionalen Werken berücksichtigen. In unserem Falle gehören realistische Romane und Kinofilme sowie Karikaturen und Comics in diese Kategorie. Der Status einer Rationalisierung, die in Werken der Fiktion vollzogen wird, unterscheidet sich sicherlich von den oben angeführten Rationalitäten, insbesondere in politisch-institutionellen Kontexten. Nichtsdestotrotz (bzw. deswegen) kann bei einer Untersuchung der französischen Politik nicht auf ihre Untersuchung verzichtet werden. Das liegt daran, dass fiktionale Werke immer wieder in einer gegenseitigen – ob konkurrierenden oder komplementären – Beziehung zu anderen Rationalisierungen des Islams stehen; Fiktion stellt schlichtweg ein wichtiges Medium für gesellschaftliche Deutungen, Debatten und Selbstdarstellungen dar, auch in dem Bereich, der uns hier betrifft. Die oft kommentierte Rivalität zwischen fiktionalen und sozialwissenschaftlichen Rationalisierungen der Realität ist freilich alt und keineswegs konkret in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um den Islam beheimatet. Wolf Lepenies hat die Entwicklung der französischen Soziologie im Zusammenspiel mit der Literatur untersucht; auch dort waren sowohl Wettbewerb als auch Wechselwirkung im Spiel. Schon seit dem 19. Jahrhundert wird von manchen Erzählern eine soziologische Funktion beansprucht, während Sozialwissenschaftler sich gerne bei literarischen Werken bedienen (Lepenies 2002; vgl. Rancière 2004: 37f.). Dieses gegenseitige Ausformen baut auf gewissen Ähnlichkeiten in der jeweiligen Praxis auf, womit die Anschlussfähigkeit zwischen ästhetischen Rationalisierungen und anderen Wissenskonstruktionen potenziert wird. Ein Berührungspunkt in der Soziologie des 19. Jahrhunderts waren die »Themen«, die einerseits Wahrnehmungen der Welt vermitteln und andererseits den Werken ihre Erzählungsstruktur verleihen – da wären zum Beispiel das städtische Leben, die Spannung zwischen Ordnung und Freiheit oder der gesellschaftliche Wandel (Nisbet 1976). Heute bilden das Leben in der banlieue, die Identitätsbildung des Postmigranten oder die Pfade der Radikalisierung solche »Themen«. Die ästhetische Rationalität bezeichnet hier also grundsätzlich eine Rationalisierungsart, die in fiktionalen Werken ihren Ausdruck findet. Die Wahrheitsansprüche, die in dieser Rationalität begründet liegen, kennzeichnen sich durch den Fiktionsbezug als indirekte, denn sie verbergen ihre Differenz zur mimetischen Abbildung der Realität nicht und zeigen ihre Fingiertheit an. Das bedeutet allerdings nicht, dass die hier zitierten Werke durch ihre Schöpferinnen und Schöpfer oder das Publikum in eine separate Domäne verlagert würden, die ohne Berührungspotenzial neben anderen Wissensbereichen her

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existierte und in ihrer Gültigkeit eingeschränkt wäre. Noch handelt es sich um Fiktionen, die (wie bei einigen Kunstformen behauptet werden könnte) die »Bedeutungen und Begriffe eines kognitiven Weltverständnisses« (Seel 1997: 46) gewissermaßen hinter sich lassen und die gesamte Rationalitätsstruktur transzendierend desaktivieren wollen. Vielmehr verbindet sich hier die bekennende Bestätigung einer Andersartigkeit der Abbildung mit dem Anspruch, einem konkreten Verständnis oder einer konkreten Erfahrung einer anderen Wirklichkeitsdimension auf die Bühne zu verhelfen. Es kann sich um eine konventionelle Vision der Realität handeln, aber auch um eine verborgene Realität, die Realität anderer Menschen, eine innere Realität oder eine mögliche Zukunftsrealität usw.17 Diese Begriffsbestimmung18 impliziert eine logische Spannung in der Beziehung zwischen Fiktion und Realität. Mir geht es hier nicht darum, diese Spannung aufzulösen. Vielmehr will ich einfach darauf hinweisen, dass die jeweils vorgenommenen Unterscheidungen zwischen Realität und Fiktion in den französischen Auseinandersetzungen »komplex« und regelmäßig unklar bleiben, dass aber die Möglichkeit einer Unterscheidung weitgehend anerkannt ist. Es geht hier weder um eine bequeme Beilegung des Streites um die Beziehung zwischen Fiktion und Realität noch um eine theoretische Abhandlung der Fiktion als Kategorie, sondern um die Fragen: Wie und wozu werden fiktive Werke in Frankreich eingesetzt? Auch die ästhetische Rationalität hat ihre eigene Subjektivitätsform. Das Subjekt wird insofern als universal begriffen, als ihm die grundlegende Fähigkeit zugesprochen wird, Fiktion zu rezipieren, von ihr bewegt zu werden und an der so geschaffenen Welt teilzuhaben. Wenn öffentliche Aussagen zu einem fiktiven Werk gemacht werden, wird davon ausgegangen, dass intersubjektiv gültige Ansprüche in Zusammenhang mit dem Werk, seiner ästhetischen Wertigkeit, seiner Bedeutung und seinen Wirkungen möglich sind. Es wird 17 | Vgl. Foucaults Ausführungen zur Literatur der westlichen Moderne: »Während das Fabelhafte nur in einer Unentschiedenheit zwischen wahr und falsch funktionieren kann, begründet sich die Literatur in einer Entscheidung zur Nicht-Wahrheit: sie gibt sich ausdrücklich als Künstliches, verpflichtet sich aber, Wahrheitseffekte zu produzieren, die als solche erkennbar sind […]« (Foucault 2001: 46) Foucault betont hier: »Mehr als jede andere Form der Sprache bleibt sie der Diskurs der Infamie. Ihr obliegt es, das Unsagbarste zu sagen, das Übelste, das Geheimste, das Unerträgliche, das Unverschämte.« (Foucault 2001: 47) – Zum radikalen Bruch in Foucaults Schriften zu Fiktion und Literatur vgl. O’Leary 2009: 42. 18 | Mir geht es hier ausschließlich darum, die Fiktion als eine Form der Veridiktion zu etablieren. Da ich mit dieser Definition ein breites Spektrum an Gattungen und Werken abdecken will, kann ich hier nicht auf die Frage eingehen, wie das jeweilige Werk eine gesellschaftlich identifizierbare Realität auf spezifische Art integriert.

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angenommen, dass Fiktion allen Franzosen zugänglich ist und alle Franzosen sich im Prinzip daran gleichermaßen beteiligen können. Die Auseinandersetzungen um bestimmte Werke zeigen allerdings, dass die Grundlagen, die eine gemeinsame Aussprache, eine gemeinsame Auslegung, Genuss oder Kritik ermöglichen würden, regelmäßig nicht genannt werden. Sie können hier nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Mir geht es aber, wie bereits festgestellt wurde, hier nicht um die ästhetische Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen ein ästhetisches Urteil mehr sein kann als ein persönliches Urteil, sondern vielmehr darum, wie Regierung funktioniert und welche Zwecke durch ästhetische Rationalisierungen bedient werden. Hierzu muss festgestellt werden, dass diese Rationalität Aussagen zur Realität (bzw. zu einer künftigen Realität) ermöglicht, die unterschiedlich und manchmal äußerst kraftvoll Schlussfolgerungen aus den weiter oben beschriebenen Rationalitäten widersprechen.19 Grundsätzlich erlaubt die künstlerische Fiktion außerdem eine Überwindung des Objektivitätsgebotes. Ein »gutes« Werk kann trotz angezeigter Als-ob-Funktion und eindeutig perspektivischer Sicht  – eine überzeugende Qualität selbstverständlich vorausgesetzt  – mit Recht den Anspruch erheben, zu unserem Realitätsverständnis mittelbar und unmittelbar beizutragen.

S chlusswort Dies war ein Plädoyer für die partielle Verlagerung unserer Sicht auf säkulare Politik in Frankreich, um den Beitrag säkularer Wissensformationen effektiver ins Licht zu rücken. Der hier rekonstruierte diskursive Kontext des Säkularismus wurde als Gegenentwurf zu den üblichen wohlgeordneten Visionen der französischen Politik charakterisiert. Im Hinblick auf allgemeine Fragestellungen soll nun auf drei spezifische Eigenschaften dieses diskursiven Zusammenhangs sowie auf drei Dimensionen seiner Komplexität eingegangen werden.

19 | Vgl. Steffen Martus zur »Freiheit der Literatur« (von den »Regeln der literarischen Freiheit« nicht zu trennen): »Die Freiheit der Literatur befreit vom Handlungsdruck und erlaubt das Durchspielen alternativer Weltentwürfe, die Bewegung in Räumen der Möglichkeit, und dies mitunter als gleichsam rituelles Abarbeiten gesellschaftlicher Problemlagen. Sie befreit von den Zwängen geltender Rationalitätsstandards, Moralgesetze und Sinnzumutungen, von den Belastungen gedanklicher und sprachlicher Normalität.« (Martus 2005: 85f.)

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Erstens ist festzustellen, dass eine solche Konzeptualisierung die Unzulänglichkeit des Begriffspaares säkular/religiös als analytische Matrix für die Untersuchung säkularer Politiken erkennbar macht. Wenn Islam oder Muslim(e) in der oben beschriebenen Weise rationalisiert werden, ist dies »mehr« (oder »weniger«) als eine »Anerkennung« des Islams, »mehr« (oder »weniger«) als eine Einstufung in die Kategorie Religion oder Kultus (oder die Verweigerung derselben). Diese Prozesse der Identifizierung können nicht allein durch Besonderheiten der Islamdebatte, der Rassisierung von Muslimen oder der Islamfeindlichkeit erklärt werden. Vielmehr werden sie durch institutionalisierte Formen des Räsonierens ermöglicht, deren Beitrag zu öffentlichem Wissen und politischer Beratung als grundsätzlich legitim anerkannt ist. Zweitens wird durch eine Rekonstruktion des säkularen Diskurszusammenhangs die Heterogenität der Wissens- und Rationalisierungsgrundlagen deutlich, auf denen die öffentliche Debatte um die Staatspolitik und den französischen Islam auf baut. Es macht einen Unterschied, ob »Muslim« als Einzelanhänger eines religiösen Kults und Träger bestimmter im Gesetz verankerten Rechte rationalisiert wird, als durch einen partikularen sozialen Raum bedingtes Subjekt, als einem Gedächtniskollektiv zugehörig oder als Figur eines fiktionalen Werkes. Diese Konfigurierungen der Kategorie Muslim und die zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Voraussetzungen lassen sich nicht immer leicht miteinander vereinbaren; einige explizite Gegensätze wurden oben schon erwähnt. Der Schlüsselbegriff hier ist Widerspruch. Es wurde in der Tat oft darauf hingewiesen, dass der französische Säkularismus – wie andere Aspekte des politischen Systems – als widersprüchlich oder gar paradox anzusehen ist, nicht zuletzt im Lichte der Behauptung, dass alle Bürger und Bürgerinnen der Republik unter Absehung ihrer Partikularität gleichberechtigt sind (z.B. Scott 1996; Bowen 2009; Fernando 2014; Barras 2014). Der kritische Hinweis auf die internen Widersprüche des Säkularismus ist zweifellos wichtig. Aus der hier beschriebenen Perspektive, in der die Heterogenität säkularer Regierungslogiken stärker ins Licht rückt, wirft dies allerdings die weitreichende Frage auf, auf welcher Grundlage an diesen Widersprüchen Kritik geübt wird und welcher Erkenntnisgewinn mit der Feststellung von abstrakten logischen Widersprüchen verbunden ist. Das wesentliche Problem wurde durch Foucault in der Frage formuliert, »ob denn die Logik des Widerspruchs als Prinzip des Verstehens und als Regel für die Aktion im politischen Kampf dienen kann« (Foucault 1978b: 213). In unserem Falle gälte es also zu prüfen, was logische Widersprüche uns über die Logik(en) des politischen Handelns sagen können. Bestimmt das Prinzip des logischen Widerspruchs immer primär den diskursiven Raum, in dem Rationalisierungen vorgenommen werden? In welchem Maße kann es

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zur Analyse von Rationalisierungen und Begründungen beitragen?20 Diese Fragen können hier nicht abschließend beantworten werden. Es muss der Hinweis genügen, dass eine bejahende Antwort notwendigerweise auf eine übergeordnete Struktur, welche die Beziehungen zwischen den hier aufgeführten Rationalitäten festlegt, verweisen müsste.21 In der hier gewählten Perspektive, die, wie mehrfach betont, gerade Konzepte, die auf eine zentralisierte, gebundene Macht abstellen, hinterfragt, erscheint die Annahme einer solchen umfassenden Struktur in verschiedener Hinsicht als problematisch.22 Angesichts der diversen Rationalitäten, die zur Begründung der säkularen Macht bemüht werden, müssen wir in dem hier untersuchten Fall vielmehr fragen, ob Macht tatsächlich etwas sein kann, »das ein Was, ein Wie und ein Warum in sich vereint« (Foucault 2007a: 92). Anders gesagt und drittens zeigt unsere Rekonstruktion des diskursiven Kontextes, dass eine »säkulare Macht« nicht einfach gleichzusetzen ist mit »der souveränen Befugnis eines Staates, das Wesen von Religion und Politik zu bestimmen«. So nämlich beschreibt Hussein A. Agrama das Funktionieren säkularer Macht in Ägypten und auch – im Rahmen eines kurzen Vergleichs – in Frankreich (2010: 520).23 Vielmehr lassen sich, wie hier nur ansatzweise

20 | An einer anderen Stelle setzt sich Foucault mit den vielfachen Definitionen von Recht und Freiheit auseinander, die parallel zueinander vom europäischen Liberalismus bemüht werden, und erklärt, dass »die Heterogenität niemals ein Ausschlussprinzip ist oder, wenn Sie so wollen, dass die Heterogenität niemals die Koexistenz, die Verbindung oder die Verknüpfung verhindert. Gerade in einem solchen Falle und bei einer solchen Analyse müssen wir – um Vereinfachungen zu verhindern – eine nichtdialektische Logik betonen.« (Foucault 2006a: 70) 21 | Anhaltend divergierende Wahrnehmungen der politischen Wirklichkeit sind ein eindrucksvoller Beleg für das Fehlen eines Koordinierungssystems für politische Rationalitäten – auch bei großen politischen Ereignissen wie der Kopftuchkontroverse im Jahre 2003. Vgl. z.B. die Debatte zwischen Alain Renaut und Alain Touraine in Bezug auf die Ursachen des 2004 verabschiedeten Verbotes. Während Renaut (seine Sicht auf) das republikanische Modell mit seiner inhärenten Differenzverleugnung herausstellt, betrachtet Touraine die Gründe als »im Grunde genommen soziologischer Art« (Renaut/Touraine 2005: 30f.). 22 | Vgl. Brown (2001: 115), für die »die Bedeutung der Foucaultschen Neuformulierung des Politischen gerade im Unterschied zwischen einer ›Rationalität‹ und einem ›System‹ [liegt]«. 23 | Für Talal Asad (2006: 507) war das Kopftuchverbot von 2004 »eine souveräne Machtübung, der Versuch eines zentralisierten Staates, den öffentlichen Raum als Raum bestimmter Zeichen zu charakterisieren«.

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­ ezeigt werden konnte, zwischen Säkularismus und souveräner Macht wichtig ge Unterschiede festmachen.24 Übersetzung aus dem Englischen von Katherine Vanovitch

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24 | Frühere Versionen des Textes wurden im Forschungsseminar der Qatar Faculty of Islamic Studies in Doha und auf dem Workshop »Producing Knowledge on Islam in Europe: Epistemology, Methodology and Reflexivity« in Cambridge vorgestellt. Ich bedanke mich für Kommentare und Fragen. Besonderer Dank gilt Schirin Amir-Moazami, Alexandre Caeiro, Margot Dazey und Riem Spielhaus.

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Sicherheitswissen und Extremismus Definitionsdynamiken in der deutschen Islampolitik1 Tobias Müller

D ie umstrit tene K onjunk tur des B egriffs »E x tremismus « Eine Reihe von Ereignissen im Jahr 2016 hat die Auseinandersetzung mit Terrorismus in Deutschland zu einem der am heftigsten diskutierten Themen in öffentlichen Debatten gemacht. Nach dem Angriff in einem Zug nahe Würzburg und dem Selbstmordanschlag in Ansbach im Juli steuerte am 19. Dezember ein Mann, der zuvor erfolglos einen Antrag auf Asyl gestellt hatte, einen Lastwagen in die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Der Anschlag, welcher zwölf Menschen das Leben kostete und weitere 55 verletzte, hat dabei vor allem die Diskussionen darüber verschärft, wie mit Radikalisierung und Extremismus mit Bezug auf den Islam umzugehen sei. Deutschland ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erst seit relativ kurzer Zeit das Ziel derartiger Terroranschläge geworden. Allerdings reicht die intensive Auseinandersetzung mit und die daraus folgenden politischen Maßnahmen gegen Extremismus, der sich auf Religion beruft, mindestens bis auf die Anschläge des 11. Septembers 2001 in New York und Washington, D.C. zurück. Zum einen wurden die Ressourcen und der Interventionsraum der Sicherheitsbehörden und deren gesetzliche Grundlagen maßgeblich ausgeweitet. Zum anderen haben die Regierungen von Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland »Dialoginitiativen« mit Vertreterinnen 2 muslimischer Gemeinschaften ins Leben gerufen (Laurence 2012). Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) stellt dabei eine bislang beispiellose politische Innovation bundesrepublikanischer Religionspolitik dar, welche die Themenkomplexe Migration, Integration, 1 | Teile einer früheren Version dieses Artikels sind im Review of Faith & International Affairs erschienen (Müller 2017b). 2 | Der besseren Lesbarkeit halber wird im Folgenden immer die grammatikalisch feminine Form verwendet. Die maskuline Form sowie die nicht festlegbare Vielfalt von Geschlechtsidentitäten sind, soweit nicht anders vermerkt, immer mit gemeint.

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Religionsfreiheit, Radikalisierung und Sicherheit in einer einzigen Institution miteinander verbindet. Gleichzeitig hat die Bundesregierung mit maßgeblichen Summen Förderlinien etabliert, welche auf die Prävention von Extremismus abzielen. Ein prominentes Beispiel ist das bundesweite Programm »Demokratie Leben«, dessen Budget für das Jahr 2017 auf 100 Millionen Euro erhöht wurde (Bundesregierung 2016). Im Rahmen dieses und anderer Regierungsprogramme, aber auch weit darüber hinaus, nehmen eine große Anzahl islamischer Organisationen eine immer zentralere Rolle im Feld der Prävention von Radikalisierung ein. Während sich die Bemühungen und Aktivitäten staatlicher, islamischer und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure, welche auf Deradikalisierung hinwirken sollen, stetig intensivieren, ist es nach wie vor stark umstritten, was »Radikalisierung« und »Extremismus« eigentlich bedeuten und wie sie sinnvoll definiert werden können. Die von politischen Akteuren und den Sicherheitsbehörden standardmäßig verwendeten Begriffe »Islamischer Extremismus« oder »Islamismus« werden von vielen Musliminnen abgelehnt.3 Die Veränderung des Wortes »Islam« mit der an Ideologien erinnernden Nachsilbe »-ismus« sei eine begriffliche und politische Verunglimpfung. Man verwende, so das oft angeführte Argument, ja auch nicht Neologismen wie »Christismus« für extremistische Christinnen. Genauso wenig sei die semantische Verbindung zwischen Islam und Gewalt, welche mit der Attribuierung »islamistischer Extremismus« hergestellt werde, erkenntnisfördernd und normativ haltbar. Jenseits dieser sprachpolitischen und semantischen Problematiken auf Seiten der Zivilgesellschaft ist jede Definition immer mit einer bestimmten Art von Wissen verbunden, die für politische Akteure handlungsleitend ist. So sind Kategorien für die moderne Verwaltung die unabdingbare Voraussetzung, um zu handeln. Nur durch die Einteilung in Kategorien kann Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden und somit statt aufwändiger Einzelfallentscheidungen kategorisch agiert werden (Luhmann 2010: 112). Aus diesem Grund ist die Wissensproduktion über die Kategorien »Extremismus« und »Radikalisierung« für staatliches Handeln von einer Bedeutung, die weit über die einer Realitätsbeschreibung hinausgeht. Vielmehr bildet die Wissensproduktion über diese Kategorien die juristische Grundlage und normative Rechtfertigung für staatliche Intervention. Wie die Arbeiten von Schirin Amir-Moazami (2011a; 2011b; 2016), Levent Tezcan (2007; 2009), Frank Peter (2008; 2012) und Werner Schiffauer (2008; 2015) zeigen, hat die Produktion von Wissen, welche eine durch Kategorien bestimmte Realitätswahrnehmung

3 | Diese Einschätzung war unter den muslimischen Gesprächspartnerinnen in Deutschland, aber auch in Großbritannien, wo der Autor eine vergleichende Studie durchgeführt hat, vorherrschend.

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ermöglicht, die den Anforderungen staatlichen Handelns genügt, maßgebliche Effekte auf Interventionsspielräume der Sicherheitsbehörden, die Selbstwahrnehmung von Musliminnen sowie Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten verschiedener Subjektpositionen. Im Lichte der zunehmenden Salienz und der tiefgreifenden und teils erbittert geführten Auseinandersetzung um diese Begriffe ergibt sich für den vorliegenden Beitrag die folgende Frage: Wie unterscheidet der Staat zwischen »extremistischem« und »nicht-extremistischem« Islam? Welche Wissensformationen liegen Unterscheidungen zwischen unterschiedlichen »Strömungen des Islams« zugrunde? Welche Effekte hat die Verwendung der auf diesen Wissensformationen auf bauenden Kategorien durch staatliche Akteure? Der vorliegende Beitrag beantwortet diese Fragen, indem die Rolle der auf bestimmten Wissensformationen basierenden Kategorien »Radikalisierung« und »Extremismus« im Kontext der Deutschen Islam Konferenz analysiert werden. Offizielle Dokumente, Stellungnahmen, Zeitungsinterviews und Reden, welche im Rahmen der DIK von beteiligten Ministerien, Politikerinnen, und Sicherheitsbehörden veröffentlicht wurden, bilden die empirische Grundlage dieses Beitrags. Diese Primärdatenanalyse wird durch Forschungsergebnisse einschlägiger Sekundärliteratur über die Reaktionen und Effekte der DIK komplementiert. Darüber hinaus beruht dieser Beitrag auf sechsmonatiger Feldforschung, in deren Rahmen der Autor zwischen Juli 2016 und Februar 2017 mehr als fünfzig semi-strukturierte qualitative Interviews in München und Berlin durchgeführt hat. Der Beitrag fokussiert bewusst auf eine staatliche Intervention zur Radikalismusprävention und Deradikalisierung, die nicht durch Sicherheitsbehörden durchgeführt wurde, um die politische Prävalenz des Themas auch außerhalb des Sicherheitsapparates zu analysieren. Wenngleich die legislative Regulierung des Islams in Europa ebenfalls maßgeblich zur religionspolitischen Governance des Islams in Europa beiträgt (Schuppert 2012), liegt der analytische Schwerpunkt dieses Beitrags auf einem politischen Projekt, welches seine regulative Wirksamkeit vor allem außerhalb juristisch verbindlicher Regeln entfaltet (vgl. Peter 2008). Diese Perspektive ermöglicht es, potentielle Effekte der diskursiven Konstruktion des Verhältnisses von Staat und Musliminnen, die Zuschreibungen von Verantwortung und die Arten und Weisen, wie kategoriales Wissen über Musliminnen in politische Praktiken umgesetzt wird, näher zu beleuchten. Der vorliegende Beitrag geht über die genannten empirischen und theoretischen Arbeiten von Amir-Moazami, Mas, Peter, Tezcan und Schiffauer hinaus, indem er zum einen den Begriff »Sicherheitswissen« durch seine konzeptionelle Verbindung mit »Interpellation« konkretisiert und seine Auswirkungen klarer ersichtlich macht. Der Beitrag zeigt darüber hinaus, wie die durch kategoriales Sicherheitswissen ermöglichten Interpellationen von Musliminnen

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paradoxe Dynamiken entfalten, welche sich nicht allein durch eine zunehmende »Versicherheitlichung« des Islamdiskurses erklären lassen. Während der Begriff »Sicherheitswissen« zwar im Titel eines Textes von Schiffauer (2015), jedoch nicht im eigentlichen Text vorkommt, wird im Folgenden aufgezeigt, wie kognitives Sicherheitswissen durch die Verbindung mit performativen Interpellationen Wirkung entfaltet. Die konzeptionelle Verbindung von Sicherheitswissen und Interpellation wird am Beispiel der Zielbeschreibungen der DIK verdeutlicht. In einem dritten Schritt werden sprachliche Differenzierungsstrategien der im Umfeld der DIK aktiven Akteure, welche den Begriff »Extremismus« als maßgebliches Unterscheidungsmerkmal implizieren, analysiert. Um einige nicht intendierte Effekte dieser semantischen Praktiken zu erfassen, werden dann die Bestrebungen, »moderate« gegen »extremistische« Musliminnen zu mobilisieren, in Bezug auf die vom Staat ausgesuchten islamischen Organisationen untersucht. Der Beitrag argumentiert, dass sich aus den staatlichen Aktivitäten im Rahmen der DIK vier dilemmatische Situationen ergeben. Diese bestehen aus einer »Akteur-Zielgruppen-Ambivalenz«, der Konstruktion einer muslimischen »Verantwortungsgemeinschaft«, dem Dilemma der Nähe islamischer Organisationen und der Reproduktion kultureller Differenz, welche die DIK gemäß ihrer Selbstbeschreibung versucht zu überwinden. Der vorliegende Text ist ein Beitrag zu analytischer und normativer Kritik, indem er ein tieferes Verständnis davon schafft, wie staatliches Handeln Wissen produziert, welches die soziale Welt in Kategorien einteilt, die wir selbst verwenden, »[to] assess all things in the social world—including the state itself« (Bourdieu 1994: 1).

»R adik alisierung «, »E x tremismus « und »I ntegr ation «: S icherheitswissen und I nterpell ationen In einer programmatischen Beschreibung der DIK lassen sich Wissensformationen identifizieren, welche der Bundesregierung als legitime Realitätsbeschreibungen und Rechtfertigungen für ihre Intervention dienen (Bundesregierung 2007: 3). Zum einen wird »der muslimischen Bevölkerung« in Deutschland ein Integrationsdefizit attestiert. In einem zweiten Schritt verleiht die Bundesregierung ihrer Überzeugung Ausdruck, dass das Befördern von Integration ein angemessenes Instrument ist, um sowohl »Islamismus« und »Extremismus« als auch der Segmentierung von Musliminnen in Deutschland entgegenzuwirken. Dies impliziert, dass die angeblich mangelnde Integration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland ein maßgeblicher Grund für Islamismus und Extremismus sei. Darüber hinaus wird aus der Stellungnahme deutlich, dass die unzureichende Integration von Musliminnen in Deutschland durch

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den Staat und islamische Organisationen, welche zu der Konferenz eingeladen wurden, vorangebracht werden müsste. Die von der Bundesregierung verwendete Rhetorik ist bezeichnend für eine Wissensproduktion, die bestimmte Interpretationsrahmen der soziopolitischen Situation, in welche die DIK eingebettet ist, plausibilisiert und verfestigt (vgl. Bowen/Rohe 2014). Diese besteht aus einer bestimmten Konstellation von Problem (Integrationsdefizit, welches zu Islamismus und Extremismus führt), Lösung (Dialog und Zusammenarbeit im Rahmen der DIK) und für die Lösung verantwortliche Akteure (Staat, muslimische Verbände und Einzelpersonen). Durch diese diskursive Rahmung eines sozio­ politischen Problems wird gleichzeitig ein staatliches Interventionsfeld abgesteckt und eine legitime epistemologische Perspektive darauf definiert (vgl. Foucault 1997: 11), nämlich diejenige, welche etwas über den Zusammenhang von Integration und Extremismus zu sagen hat. Angesichts der immensen Komplexität der Gesellschaft benötigt staatliches Handeln »handhabbares« Wissen, welches die Realität in Raster einteilt, nach denen schematisch und administrativ vorgegangen werden kann (Luhmann 2010: 152). Durch die Problembeschreibungen der DIK wird somit auch ein »Wille zum Wissen«, eine Notwendigkeit, über mehr Wissen bezüglich der Elemente der Problemkonstellation zu verfügen, manifest (vgl. Foucault 1977). Dieser Beitrag zeigt, wie die Begriffe »Islamismus« und »Extremismus« als maßgebliche Organisationsprinzipien des Sicherheitswissens über Musliminnen in Deutschland fungieren. Obgleich eine der zentralen Zielvorgaben, scheint es den beteiligten staatlichen Akteuren nicht daran gelegen, verbindliches Wissen darüber bereitzustellen, anhand welcher Kriterien sich auf Seiten des Staates diese Integrationsleistung messen lassen könnte. Schon zu Beginn wird damit eine Asymmetrie in dem durch die DIK zu erlangenden Wissen konstatiert: Während es gilt, Wissen über die »Integrationsfähigkeit« und den Status quo der Integration von Musliminnen mit großem wissenschaftlichen Aufwand herzustellen, scheint Wissen darüber, wie unterschiedliche Bundesländer oder andere Staaten Formen der religionspolitischen Integration begünstigen oder gewährleisten, von geringem Interesse. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Schwerpunkten der von der DIK herausgegebenen wissenschaftlichen Publikationen, welche als primäres Erkenntnisinteresse die »muslimische Bevölkerung« ausweisen. Dies geht etwa aus der thematischen Schwerpunktsetzung maßgeblicher Veröffentlichungen durch staatliche Behörden im Umfeld der DIK wie Muslime in Deutschland (Brettfeld/Wetzels 2007), Lebenswelten junger Muslime in Deutschland (Frindte et al. 2011), Muslimisches Leben in Deutschland (Haug et al. 2009), Geschlechterbilder zwischen Tradition und Moderne (DIK 2013), Glaube oder Extremismus (BAMF 2012) hervor.

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Diese scheinbar neutralen Publikationen können in weiten Teilen als Verbreitung von Sicherheitswissen interpretiert werden. Unter Sicherheitswissen kann eine Wissensformation verstanden werden, welche einen lockeren oder engen Zusammenhang herstellt zwischen bestimmten sozialen Tatsachen und im Problemfeld Sicherheit dominanten Kategorien wie »Gefährdungspotential«, »Verfassungsfeindlichkeit«, »Gewaltbereitschaft«. Sicherheitswissen zeichnet sich dabei vor allem dadurch aus, dass soziale Zusammenhänge, welche aus Selbstverständnis oder der Eigenlogik nicht mit diesen Kategorien in Verbindung stehen oder standen, epistemologisch oder ontologisch mit diesen korreliert oder kausal verbunden werden. Mit Ruth Mas’ Bezug auf Louis Althusser und Judith Butler lassen sich diese Prozesse der Wirkbarmachung von Sicherheitswissen als Interpellationen beschreiben (Mas 2006: 603). Diese konzeptionelle Erweiterung ist notwendig, um klarzustellen, dass es nicht das Wissen selbst ist, welches die identitätsstiftenden und Gruppen hervorbringenden Effekte hat. Erst wenn zu der kognitiven Komponente des Wissens über die Verbindung von Musliminnen, Extremismus und Radikalisierung die performative Komponente des »Ansprechens« tritt, entfaltet das Wissen seine subjektbildende Wirkung. Aus dieser Perspektive folgt, dass in der Analyse von Wissensproduktionen über den Islam nicht der Fehler begangen werden sollte, aus dem epistemologischen und ontologischen Gehalt Wirkungen auf die Handlungsebene abzulesen, ohne auf die Umstände und konkreten Situationen ihrer Umsetzung in Handlungen zu achten. Dem Akt des Benennens, sei es beim »Dialog« am runden Tisch oder in wissenschaftlichen Publikationen, muss demnach eine ebenso große wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet werden wie der Analyse der Wissensinhalte selbst. Durch das Benennen und Ansprechen der Musliminnen in Deutschland im Rahmen der DIK werden »Muslime« überhaupt erst als eine ansprechbare Gruppe performativ hervorgebracht. Individuen, die neben vielen anderen Dingen eben auch Musliminnen sind, werden dadurch zu »muslimischen Subjekten« transformiert. Im Unterschied zu Wissensproduktionen über den Islam, die unabhängig von der DIK von staatlichen Stellen veröffentlicht werden, kann mit Butler festgestellt werden, dass das muslimische Subjekt in der DIK dazu gedrängt wird, innerhalb eines bestimmten Normgefüges zu handeln, durch welches es sich überhaupt erst über sich selbst verständigt. Die Leitunterscheidung dieses Normgefüges ist die Einteilung in extremistisch und nicht-extremistisch. Dabei wird von den Verfassungsschutzämtern sich klar gegen Gewalt positionierenden Gruppierungen wie Millî Görüş (IGMG) als »legalistischem Islamismus« sogar langfristig noch größeres Gefährdungspotential für das bundesrepublikanische Gemeinwesen zugeschrieben (Schiffauer 2008).

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Die DIK mit ihrer epistemologischen Leitunterscheidung extremistisch/ nicht-extremistisch kann mit Butler im Bezug auf Michel Foucault als ein Wahrheitsregime interpretiert werden, welches auch die Bedingungen der Selbst(er)kenntnis überhaupt erst herstellt: »These terms are outside the subject to some degree, but they are also presented as the available norms through which self-recognition can take place, so that what I can ›be,‹ quite literally, is constrained in advance by a regime of truth that decides what will and will not be a recognizable form of being.« (Butler 2005: 22)

Die Selbstbestimmung des »Wir Muslime« im Zwischenresümee vom 25.06.2012 muss somit verstanden werden als eine Interpellation, die überhaupt erst ermöglicht ist durch eine Wissensformation, in welcher »den Muslimen« eine Akteurs- und Sprecherposition zugewiesen wird (DIK 2009). Probleme der »Repräsentation« des Islams in Deutschland im Rahmen der DIK wurden zurecht ausführlich diskutiert (Bayat 2016). Darüber hinaus ist jedoch festzustellen, dass durch die epistemologisch und ontologisch folgenreiche Interpellation »Muslime in Deutschland« in Abgrenzung zu und damit eben auch im Hinblick auf Islamismus, aber auch durch die reflexive Antwort »Wir Muslime«, eine ohne die staatliche Intervention nicht denkbare muslimische Subjektivität hervorgebracht wurde. In einem nächsten Schritt wird näher darauf eingegangen, wie die epistemologische Leitunterscheidung extremistisch/ nicht-extremistisch von verschiedenen staatlichen Akteuren auf Grundlage unterschiedlicher juristischer und administrativer Wissensformationen getroffen wird.

D efinitions - und I nterpre tationsmacht : E x tremismus erkennen Wenn die Bekämpfung von »Radikalisierung«, »Islamismus« und »Extremismus« ein zentrales Ziel darstellt (Müller 2017a), wie werden diese Begriffe im Rahmen der DIK verhandelt? Auf welchen Grundlagen entscheidet der Staat, mit welchen Strömungen oder Gruppierungen er kooperiert? Wie wird die Unterscheidung getroffen zwischen dem Islam, der, wie es der ehemalige Bundespräsident Christian Wulf in der häufig zitierten und kritisierten Aussage formulierte, »zu Deutschland gehört«, und dem »politischen Islam«, wie »Islamismus« von den Sicherheitsbehörden auch genannt wird, der demnach nicht zu Deutschland gehört? Die staatlichen Behörden, welche in Deutschland für die Interpretation dieser Grenzziehung und damit für die Bereitstellung von Wissen darüber, was Extremismus ist, in der staatlichen Praxis maßgeblich

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Verantwortung tragen, sind das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Landesämter für Verfassungsschutz.4 Im Folgenden wird aufgezeigt, wie die Art und Weise, mit welcher das BfV mit der heiklen Definitionsproblematik von »Islamismus« umgeht, oft dem erklärten Ziel der konzeptuellen und politischen Klarheit entgegenwirkt. Die Titelseite der vom BfV herausgegebenen Broschüre »Islamismus: Entstehung und Erscheinungsformen« illustriert die Komplikationen dieser Abgrenzungsprozesse.5 Auf der Titelseite der Broschüre befindet sich unter dem Titel eine Collage, welche offizielle Logos und Schriftzüge unterschiedlicher nationaler und internationaler islamischer Organisationen und Gruppierungen zeigt. Darunter befinden sich verschiedene Schriftzüge von Organisationen wie Al-Qaida und Al-Shabaab, die von den meisten Regierungen sowie den Vereinten Nationen als terroristisch eingestuft werden. Auch die vom sog. »Islamischen Staat« verwendete Flagge befindet sich unter den Abbildungen. Gleichzeitig zeigt die Titelseite auch Logos von islamischen Organisationen in Deutschland, wie zum Beispiel dem Islamischen Zentrum Hamburg (IZH), der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD) und der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG). Hierarchie, Kategorisierung und Auswahlkriterien lassen sich aus der Collage nicht erkennen. Auch unter welchen Gesichtspunkten die Größe der Symbole und deren Nähe zueinander ausgewählt wurden, wird aus der Grafik nicht ersichtlich. Vielmehr ist die Collage dergestalt entworfen, dass die Logos ineinander übergehen und verschwimmen, ohne dass eine Indikation auf deren Verbindung jenseits des im Titel genannten Begriffes »Islamismus« gegeben wird. Das Broschürencover ist damit ein Indikator für das teils explizite, teils implizite Wissen der Sicherheitsbehörden, gemäß welchem einige etablierte muslimische Verbände wie IGMG entweder selbst Islamisten seien oder zumindest Islamismus in den eigenen Reihen dulden würden. Der Abschnitt »Definition« in der Broschüre beginnt mit den folgenden Sätzen: »Im Gegensatz zum Islam als Religion beschreibt der Islamismus eine religiös motivierte Form des politischen Extremismus. Islamisten instrumentalisieren dabei den Islam für ihre politischen Zwecke.« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2013: 10) Allerdings enthalten weder die Broschüre noch die jährlichen Verfassungsschutzberichte eine genauere Definition dessen, was mit »Extremismus« gemeint ist. Eine Publikation des Landesamtes für Verfassungsschutz Brandenburg betont die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen »Radikalismus« und »Extremismus« (Verfassungsschutz 2017). Darin 4 | So argumentiert Ossenbühl (2011: 4, 27), dass die Verwendung der Begriffe durch die Verfassungsschutzberichte die maßgebliche Referenz für die Definition, was als extremistisch gilt, sein sollte. 5 | www.verfassungsschutz.de/embed/broschuere-2013-09-islamismus-entstehungund-erscheinungsformen.pdf

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wird betont, dass ausschließlich extremistische, jedoch keine radikalen Organisationen und Individuen vom Verfassungsschutz beobachtet und in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen werden. Allerdings enthält das Bundesverfassungsschutzgesetz, welches die rechtliche Grundlage für das Handeln der Verfassungsschutzämter bildet, den Begriff »Extremismus« nicht. Es wird jedoch beschrieben, dass im Sinne des Gesetzes Bestrebungen und Verhaltensweisen gemeint sind, die gegen die »freiheitlich demokratische Grundordnung« gerichtet sind (BVerfSchG § 4 (1) c)). In BVerfSchG § 4 (2), auf welchen auf der Website des BfV verwiesen wird, sowie in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, welche jedoch in der Selbstdarstellung der Sicherheitsbehörden nicht explizit erwähnt werden, zum Beispiel BVerfGE 2, 1 (12f.), werden diese Verfassungsgrundsätze weiter definiert.6 In einem den aktuellen Stand der juristischen Debatte in Literatur und Rechtsprechung skizzierenden Beitrag wird die steile Karriere, welche der Begriff »Extremismus« in den letzten Jahren gemacht hat, mit dem Problem seiner begrifflichen Unschärfe kontrastiert (Ullrich 2016: 169-170).7 In den wenigen konkreten Hinweisen auf das Begriffsverständnis des Gesetzgebers, etwa in § 51 Abgabenordnung (AO) und im Rechtsextremismus-Datei-Gesetz (RED-G) von 2012 werden »verfassungsfeindliche Bestrebungen« und Feindschaft gegenüber dem »demokratischen Verfassungsstaat« als Merkmale für Extremismus angeführt. »Extremistisch« und »verfassungsfeindlich« seien demnach synonym zu behandeln (Murswiek 2006). Wie jedoch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorgeht, ist allein das Äußern von verfassungsfeindlichen Positionen kein Grund, etwa dementsprechende Versammlungen zu verbieten (vgl. BVerfGE 111, 147 (158)). Erst bei Hinzutreten eines verfassungsfeindliche Ideen »kämpferisch verwirklichenden Verhaltens« könne man von »Extremismus« sprechen (Ull­ rich 2016: 175). Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff »islamischen Extremismus« bislang kaum verwendet und noch nicht zum Gegenstand rechtlicher Begutachtung gemacht. Zum Beispiel in BVerfGE 115, 320 (Rasterfahndung II) wird als einschlägiges Begriffskonglomerat »potentielle extremistische islamistische Terroristen« in der Beschreibung des Sachverhalts 6 | In BVerfGE 2, 1, dem Urteil zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei, schreibt das Gericht: »Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.« (Ebd., 13) 7 | Für wertvolle Hinweise zu diesen Fragen danke ich Michael W. Müller.

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und in der Wiedergabe der Stellungnahmen rezipiert. Eine klare rechtliche Konturierung ist also weder aus den Gesetzestexten noch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzuleiten.8 Die Ableitung konkreter rechtlicher Folgen, wie z.B. der Verlust der mit der Gemeinnützigkeit einhergehenden Steuervorteile,9 ganz zu schweigen von der gezielten gesellschaftlichen Stigmatisierung und Isolation der betroffenen Gruppierungen, erscheint demnach als problematisch (vgl. Murswiek 2006: 121). Aus den gesetzlichen Grundlagen, der herrschenden juristischen Meinung sowie den Texten, welche das BfV zu dem Thema herausgibt, geht zumindest eindeutig hervor, dass es nicht notwendig ist, gewaltbereit zu sein oder auf die Ausübung von Gewalt hinzuwirken, um als »extremistisch« eingestuft zu werden. Nicht erst seit dem Skandal um das Versagen der Verfassungsschutzämter, die Mordserie der rechtsextremen Gruppierung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zu verhindern, früher zu stoppen oder angemessene Konsequenzen aus den Vorfällen zu ziehen, wurde die gesetzliche Grundlage und Praxis der Aktivitäten der Verfassungsschutzämter scharf kritisiert. Ein zentraler Kritikpunkt besteht darin, dass die Entscheidungen über Beobachtungen und die damit einhergehende Einstufung als verfassungswidrig bzw. verfassungsfeindlich nicht anhand von objektiv bewertbaren Handlungen, sondern vor allem anhand von schriftlichen oder mündlichen Aussagen von Gruppierungen oder Einzelpersonen sowie anhand von Materialien, die sich etwa in Moscheegebäuden befinden, getroffen werden. Wissenssoziologisch ist diese Praxis dahingehend von Bedeutung, als dass sie einen hohen Grad an Kohärenz zwischen dem gesprochenen Wort einzelner Personen, einzelnen Textfragmenten wie Flyern, Internetauftritten, Adresslisten etc. und der politischen Orientierung sowie Handlungsabsichten von Individuen und Organisationen annimmt. Wie dünn die von Verfassungsschutzämtern hergestellte Verbindung oftmals ist, belegt der Rechtsstreit der Islamischen Gemeinde Penzberg gegen den Freistaat Bayern. Die Penzberger Moscheegemeinde klagte gegen ihre wiederholte Nennung im bayrischen 8 | Vgl. jüngst BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017, 2 BvB 1/13, in welchem vor allem aus Gutachten und Studien zitiert wird und eine klare Definition ausbleibt; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 08. Dezember 2010,1 BvR 1106/08, in welchem das Gericht ein Verbot der Verbreitung »rechtsextremistischen Gedankenguts« für verfassungswidrig erklärt hat, sowie BVerfGE 40, 287, gemäß der es zulässig ist, eine Partei im Verfassungsschutzbericht als »rechtsextremistisch« zu bezeichnen, auch wenn sie nicht verboten ist. Nachdem religiöse Gruppierungen nicht wie Parteien nach Art. 21 GG geschützt sind, ist die Anwendbarkeit auf »extremistische« Gruppierungen mit Islambezug jedoch unklar. 9 | Vgl. die Begründung der Änderung der Abgabenordnung, BT-Drs. 16/10 189, S. 79, mit Bezug auf § 51 Abs. 3 AO.

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Verfassungsschutzbericht. Das Wissen über die Zugehörigkeit des Vorstandsvorsitzenden, der inzwischen Vorstand des SPD-Ortsvereins ist, zur IGMG wurde im Gerichtsverfahren vom Verfassungsschutz unter Bezugnahme auf eine mehrere Jahre alte Excel-Tabelle mit Adressen, auf welcher sein Name auftauchte, begründet. Die über zehn Jahre zurückliegende Kündigung der Mitgliedschaft sowie die Erklärung, dass es sich um eine Mitgliedschaft bei einer lokalen muslimischen Jugendorganisation handelte, welche nicht aus ideologischer Überzeugung getätigt wurde, wurden als Täuschungsmanöver abgetan. Die Zuordnung von Individuen in die Kategorie »extremistisch« beruht in diesem Fall nicht nur auf einer empirisch äußerst dünnen Grundlage. Das Auf brechen der Position, welche Individuen innerhalb der Wissensformation Islam/Islamismus zugeteilt wird, erweist sich politisch und juristisch als äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Kritikerinnen argumentieren demnach, dass trotz der Versuche des Gesetzgebers und der Gerichte, die freiheitlich demokratische Grundordnung sowie Bestrebungen gegen dieselbe zu definieren, die Entscheidung letztendlich eine politische bleibe (Leggewie/Meier 2012: 69). Die Tatsache, dass viele Gruppierungen sich gesetzestreu und legal verhalten, wird durch diese Entscheidungen entwertet, und sie werden genauso wie sich illegal verhaltende Gruppierungen von den Verfassungsschutzämtern überwacht und durch die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht politisch und steuerrechtlich indirekt sanktioniert. Die unklare Gesetzeslage hat es unter anderem ermöglicht, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz sein Mandat durch eine extensive Interpretation erweitert hat und definiert, was unter »Islamismus« zu verstehen sei: »[Islamisten] treten z.B. dafür ein, dass islamische Vorschriften in einer wörtlichen Auslegung angewendet werden. Islamisten sehen den Islam als ein ganzheitliches, allumfassendes Regelwerk, das alle sozialen, juristischen, wirtschaftlichen und politischen Dimensionen umfassen soll. Islamisten glauben somit im Islam die ideale, universale Weltordnung zu erkennen.« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2013: 10, Herv. i. Orig.)

Diese Definition durch Aufzählung ist problematisch aufgrund ihrer Unklarheit und ihres epistemologischen Charakters. Die eigene Religion als die ideale, universale Weltordnung zu verstehen, ist eine Auffassung, welche in weiten Teilen des Christentums, des Judentums, des Buddhismus, des Islams und anderen religiösen Traditionen verbreitet ist, was im Urteil zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas sogar vom Bundesverfassungsgericht festgestellt und als verfassungsrechtlich unproblematisch eingestuft wurde (BVerfGE 102, 370, B IV 3). Dasselbe gilt für die wörtliche Auslegung religiöser Texte. Gerade die Entstehung des Begriffs »Fundamentalismus« ist an die Bestrebungen wörtlicher Bibelauslegungen in protestantischen Bewegungen in den USA

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im frühen 20. Jahrhundert geknüpft (Riesebrodt 1990). Aus dem Selbstverständnis eines säkularen Staates heraus erscheint es höchst fragwürdig, wie hermeneutische Praktiken einer religiösen Gruppierung eine juristisch valide Grundlage bilden sollen für die Entscheidung darüber, ob diese Gruppierung verfassungsfeindlich ist. So setzen sich etwa viele evangelikale Kirchen und Lobbyorganisationen auf der Grundlage einer literalistischen Lesart der Bibel dafür ein, an staatlichen Schulen Kreationismus statt Evolutionstheorie als historisch akkurate Erklärung der Entstehung der Welt zu unterrichten. Fraglich ist an dieser Stelle auch, ob die oben genannte Begriffsbestimmung eher eine nominale Definition oder eine realtypische Beschreibung darstellt. In beiden Fällen ist unklar, auf welche Quellen der Verfassungsschutz dieses Wissen stützt. Wissenschaftlich sind Radikalisierungsverläufe bislang nicht nachgewiesen (Schiffauer 2008). Es zeigen sich in diesen aktuellen Veröffentlichungen jedoch bestimmte Muster aus der Geschichte der deutschen Auseinandersetzung mit dem Islam. Die Auffassung, dass der Islam in seiner »radikalen« oder »extremen« Variante eine regelverhaftete Religion sei, die alle sozialen, rechtlichen und politischen Dimensionen umfassen soll, ist im Diskurs des europäischen Orientalismus durchaus verbreitet (Said 1978). Diese Beschreibung legt nahe, dass eine »konsequente« oder »vollständige« Entwicklung des Islams in sich problematisch ist. Es wird somit eine Wissensform über den Islam verbreitet, welche diesem die Notwendigkeit einer »Einhegung« und einer »Begrenzung« zuschreibt. Dies ist wiederum eng mit der Selbstbeschreibung des westlichen Staates als Vorgang der Säkularisierung verbunden (Böckenförde 1976). Weil die Begrenzung der Religion als fundamental für westliche Demokratien gesehen wird, wird die erneute wahrgenommene Ausbreitung des Islams als derart problematisch eingestuft. Sich stetig ausbreitende, zügellose, irrationale Entgrenzung gepaart mit legalistischer, regelbehafteter Normengebundenheit des Islams sind Topoi, die sich durch die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem »Orient« und besonders mit dem Islam ziehen: »Lurking behind all these images is the menace of jihad. Consequence: a fear that the Muslims (or Arabs) will take over the world.« (Said 1978: 287) Dass im Verfassungsschutzbericht diese Vermächtnisse kultureller und akademischer Wissensproduktionen über den Orient durchscheinen, zeigt, wie nachhaltig Wissensformationen über den Islam politisch einflussreiche Kategorien und Deutungsrahmen prägen. Wenngleich Kulturkämpfer wie Samuel Huntington sich dezidiert auf den Islam, nicht auf Islamismus als Problem des Westens beziehen, scheinen in der vorliegenden Definition von Islamismus ähnliche Argumentationsmuster zu greifen. Diese Darstellung von Islamismus legt nahe, dass, wenn man den Islam als umfassende, ideale Weltordnung begreift, dieser mit liberaler Demokratie nicht vereinbar sei. Wiederum wird hier durch ein slippery slope-Argument von einer bestimmten weltanschaulichen Haltung auf Handlungen

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geschlossen, die aus dieser Haltung als erwartbar folgen sollen. Wissen über die weit verbreitete faktische, friedliche Koexistenz einander ausschließender weltanschaulicher Positionen in demokratischen Staaten (vgl. Connolly 2005) wird damit zugunsten eines Verdachts der praktischen Umsetzung wahrgenommener Inkompatibilität in verfassungsfeindliche Handlungen ignoriert. Die Verfassungswidrigkeit bestimmter ontologischer, epistemologischer und theologischer Positionen in Bezug auf eine umfassende Weltordnung oder Schrifthermeneutik festzustellen ist schließlich auch eine direkte Stellungnahme zu oftmals intensiven inter- und intrareligiösen Auseinandersetzungen um Kernfragen religiöser Doktrin und Praxis. Indem der Staat die Entscheidung über die Kategorisierung als »extremistisch« auf diese Grundlagen stellt, wird riskiert, den Grundsatz der säkularen Unentscheidbarkeit religiöser Fragen zu verletzen. Aus Perspektive des weltanschaulich neutralen Verfassungsstaates erscheint die damit erfolgte bewertende Einmischung in hermeneutische und theologische Problemstellungen als höchst problematisch (Fischer 2009: 10).

D ie Z wickmühle der M obilisierung von » moder aten « M usliminnen Welche Rolle spielen die oben analysierten Wissensproduktionen und Definitionsprobleme in Bezug auf den staatlichen Umgang mit Extremismus mit islamischem Bezug im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz? Zunächst ist die semantische Unschärfe der »Bestrebungen« gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, welche mit Bezug auf die Aktivitäten der Geheimdienste festgestellt wurde, auch im Umgang der DIK mit »Extremismus« evident. Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Kontroversen über den und Unstimmigkeiten im Umgang mit dem Begriff ist es wenig überraschend, dass das Zwischenresümee über den Gesprächskreis »Sicherheit und Islamismus« in der ersten Runde der DIK festhält, dass es »nicht möglich [war], einen Konsens zum Begriff Islamismus zu finden« (DIK 2009: 30). In einem Abschlussdokument von 2008 stellen die Konferenzteilnehmerinnen fest, dass es im Feld muslimischer Bildungsarbeit auch Bildungsangebote gebe, welche ein islamistisches Weltbild vermittelten. Es wird konstatiert, dass sich dies unter anderem »in der Darstellung eines exklusiven Wahrheitsanspruches des Islam bei gleichzeitiger Abwertung anderer Religionen und Kulturen« ausdrücke (DIK 2008: 16). Inwiefern der zweite Halbsatzes eine restriktive Qualifikation des ersten Halbsatzes darstellt, ist äußerst unklar, da man argumentieren könnte, dass anderen Religionen Wahrheitsgehalt abzusprechen bereits eine Abwertung darstellt (vgl. Schiffauer 2008: 211). Trotz dieser unklaren Definition erklären islamische Organisationen, sie »werden aktiv gegen islamistische Publikationen vorgehen, die in ihren

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Einrichtungen erhältlich sind« (ebd.). Dies bedeutet, dass als ein Ergebnis des Umgangs mit Extremismus in der DIK islamische Verbände sich dazu verpflichteten, Bildungsmaterialien aus ihren Einrichtungen zu entfernen, welche behaupten, dass allein der Islam die wahre Religion sei. Diese Formulierung und das damit von muslimischer Seite gemachte Zugeständnis, eine äußerst unklare Pflicht auf sich zu nehmen, können in ihrer Bedeutung für den säkularen Staat kaum überschätzt werden. Der Staat wird dadurch nicht nur zum Schiedsrichter darüber, welche Auslegungen und Praktiken des Islams legitim sind und daher in die Gesellschaft integriert werden sollten. Durch die DIK verstärkt der Staat auch die Erwartung gegenüber islamischen Organisationen, seine politisch und epistemologisch höchst problematischen Definitionen zu übernehmen. Andernfalls werden islamische Organisationen leicht verdächtigt, selbst extremistisch zu sein, wie im Folgenden gezeigt wird. Diese Art des Diskurses über Islam, »Islamismus« und »Extremismus« spiegelt sich auch in der öffentlichen Debatte wider, in der islamische Regeln, Dogmen und konservative Interpretationen des Islams zunehmend als zweifelhaft oder sogar gefährlich wahrgenommen werden. In dem Schlussdokument wird darüber hinaus festgestellt, es könne »die Vermittlung islamistischer Bildungsinhalte radikalisierend wirken und auch dann, wenn nicht die Unterstützung politisch-religiös motivierter Gewalt propagiert wird, desintegrativ wirken, die Entstehung islamistischer Parallelgesellschaften und eine Radikalisierung in den politischen Extremismus befördern« (DIK 2008: 17). Diese explizite Ausweitung des Begriffs sowohl von »Extremismus« als auch von »Radikalisierung« jenseits der Unterstützung von Gewalt auf den Bereich der Integration ist bestenfalls eine sehr weite Definition des vom Gesetzgeber und der Verfassungsgerichtsbarkeit vorgegebenen Rahmens. Gerade durch die zentrale Rolle, welche der Verfassungsschutz für große islamische Verbände wie IGD und IGMG haben kann, ist diese diskursive Verbindung von Radikalisierung und Integrationsdefiziten äußerst problematisch (vgl. Schiffauer 2008). Das, wie oben beschrieben, unklare Konzept der Integration mit dem juristisch potentiell folgenschweren Begriff von Extremismus zu verknüpfen, intensiviert die diskursive Nähe zwischen der Mehrheit der in Deutschland lebenden Musliminnen, von denen es natürlich, wie bei vielen Migrantinnen weltweit, einige gibt, die mit Sprachkenntnissen und dem Zugang zum Arbeitsmarkt und Bildungserfolg zu kämpfen haben, und der Neigung zu Radikalisierung und der damit verbundenen Verfassungsfeindlichkeit. Die Ausweitung des Begriffs jenseits der Unterstützung von Gewalt steht in starkem Kontrast zur Definition von Radikalisierung etwa durch die britische Regierung. Sogar in deren höchst umstrittener »Prevent Strategy« ist allein die Unterstützung von Terrorismus der entscheidende Maßstab für Radikalisierung: »Radicalisation

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refers to the process in which a person comes to support terrorism and forms of extremism leading to terrorism.« (HM Government 2011: 108) Keine der beteiligten islamischen Organisationen zeigte sich vollständig zufrieden mit den Formulierungen des Schlussdokuments von 2008. Der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V. (IRD), in welchem IGMG die größte Mitgliedsorganisation darstellt, ging jedoch noch einen Schritt weiter und hat als einzige Organisation die Schlussfolgerungen des Gesprächskreises »Sicherheit und Islamismus« nicht unterstützt (Musch 2011: 305). Wenige Monate später wurden sechs Mitarbeiterinnen der IGMG wegen Betrugs, Geldwäsche, der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. 2009 wurden mehrere groß angelegte Razzien durchgeführt, die ein großes kontroverses Medienecho hervorriefen. Im September 2010 wurden alle Anklagepunkte gegen die Mitglieder der IGMG fallen gelassen. Auf der Grundlage der laufenden Untersuchungen und der angeblichen Nähe zu einer Nichtregierungsorganisation, welche beschuldigt wurde, die palästinensische Organisation Hamas zu unterstützen, erklärte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), dass der IRD und dessen Mitgliedsorganisation IGMG nicht zur zweiten Runde der DIK eingeladen seien. Darüber hinaus verlangte der Minister, dass andere islamische Organisationen wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) sich öffentlich von IRD und IGMG distanzieren. Der Innenminister äußerte: »Da hätte ich mir unter den Verbänden eine kritischere Haltung gewünscht.« und »Die Verbände sind in der Pflicht, aus den Vorwürfen gegen ihren Partner Islamrat Konsequenzen zu ziehen.« (Zeit Online 2010) In einem anderen Interview forderte de Maizière, Musliminnen selbst müssten die »Haupttrennlinie zwischen dem friedlichen Islam und dem gewalttätigen Islamismus ziehen« (Lau 2010). Diese Stellungnahmen machen deutlich, dass der Innenminister Musliminnen, nicht nur die Verbände, in der Pflicht sieht, ihr Verhältnis zu Gruppierungen, die von den Behörden angeklagt werden, extremistisch zu sein, zu verändern. Gleichzeit werden sie dazu angehalten, die Differenzierung zwischen »friedevollem Islam« und »gewalttätigem Islamismus« selbst zu ziehen. Diese Gegenüberstellung macht das widersprüchliche Verhältnis der asymmetrischen Definitionsmacht zwischen Staat und Musliminnen deutlich. Während auf der einen Seite Musliminnen zugeschrieben wird, sie müssten selbst eine Grenze ziehen zwischen Islam und »Islamismus«, wird von ihnen auf der anderen Seite verlangt, sich den Urteilen des Staates, auch wenn diese nur temporär gültig oder gar unbegründet sind, anzuschließen. Die zitierte direkte Ansprache scheint hier durch Interpellation performativ einen Subjektstatus festzuschreiben, den man den »sich distanzierenden Muslim« nennen könnte. Das muslimische Subjekt wird konstruiert als aktiv,

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als handelnd, weil von ihm erwartet wird, eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Wiederum scheint die Selbstbeschreibung durch diskursiv erzeugte Erwartungshaltungen bedingt. Das Ausbleiben der Distanzierung kann nicht nur soziale und politische Exklusion zur Folge haben, sondern auch zusätzliche Legitimation für die Überwachung und Kontrolle durch die Sicherheitsbehörden. Mit Althusser könnte man argumentieren, dass die geforderte Distanzierung des ideologischen Staatsapparats durch Interpellation das Subjekt mit dem repressiven Staatsapparat verbindet. Die Interpellation erinnert das Subjekt an ihn. Genauso wie die Anrede der Polizistin »Hey, you there!« das Subjekt im Angesicht des repressiven Staatsapparats konstituiert, wird durch die Interpellation »Distanziert Euch!« ein muslimischer Subjektstatus erzeugt, in welchem man sich zur Leitunterscheidung extremistisch/nicht-extremistisch verhalten muss (Althusser 1971: 174). Auf der Grundlage welcher Wissensformation entscheidet der Staat nun, mit wem er kooperiert? Publikationen der Ministerien und Stellungnahmen hochrangiger Politikerinnen legen nahe, dass der Staat daran interessiert ist, mit allen islamischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, die nicht extremistisch sind. Jenseits dieser scheinbar klaren Unterscheidung machen jedoch etwa die Collage auf der Titelseite der Broschüre des Bundesamtes für Verfassungsschutz und die analysierten Dokumente deutlich, dass die Erwartungen und Anforderungen an Musliminnen in Deutschland wesentlich komplexer sind. In einer Stellungnahme zum Beginn der DIK forderte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU): »Jeder, der hier lebt, muss die deutsche Verfassungs- und Rechtsordnung akzeptieren und respektieren. Wir wollen aufgeklärte Muslime in unserem aufgeklärten Land.« (Prantl 2006) Auch im Verlauf des Interviews wird nicht klar, wie diese beiden Sätze zueinander im Verhältnis stehen und was mit »aufgeklärten Muslimen« gemeint ist. Eine mögliche Interpretation ist, dass er hoffte, dass durch den Dialog ein »Funken der Auf klärung« auf die muslimischen Repräsentantinnen überspränge und sich somit unter den Musliminnen in Deutschland verbreite, sagte er doch zuvor noch, er möchte »so viele Muslime wie möglich überzeugen« (ebd.). Da er diese Antwort jedoch auf eine Frage mit Bezug auf die Einladung von Millî Görüş (IGMG) gegeben hat, liegt die Vermutung nahe, dass für ihn »Auf klärung« auch eine Kategorie ist, welche verwendet wird, um zwischen unterschiedlichen muslimischen Gruppierungen zu unterscheiden. Zu betonen, dass er aufgeklärte Musliminnen in »unserem aufgeklärten Land« wolle, indiziert, dass er keine Musliminnen hier haben will, die nicht aufgeklärt sind. Dadurch wird eine weitere Kategorie von Musliminnen geschaffen, nämlich diejenigen, die vermeintlich einem unscharfen Ideal von »Auf klärung« nicht entsprechen. In der Folge wird eine weitere Kategorie der »Anderen« geschaffen, welche außerhalb der oder gar gefährlich für die deutsche Gesellschaft sind.

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Man kann »Aufklärung« in der Aussage des Bundesinnenministers als einen floating signifier begreifen. »Aufklärung« wird hier nicht als Epochenbegriff verwendet, sondern als Identitätsmerkmal, welches diskursiv mit Konzepten wie Säkularismus, Demokratie, Individualität, Moderne, Liberalismus und Rationalität verbunden wird. Es ist nicht eindeutig festzustellen, weshalb in diesem Kontext ein Wort gebraucht wird, welches einen so weiten Assoziationshorizont ausmacht. Es wird jedoch deutlich, dass sich das Sicherheitsziel der DIK nicht nur auf einige wenige militante Gruppen konzentriert. Der Konflikt und die Bedrohung für die innere Sicherheit, auf welche abgezielt wird, ist wesentlich umfassender. Derartige Rhetorik reproduziert ein sehr breites sozial, kulturell und religiös aufgeladenes Konzept von Identität und Sicherheit. Der Bezug auf »Aufklärung« muss im Kontext der longue durée der historischen Auseinandersetzungen zwischen »Europa« und »Islam« begriffen werden (Marchand 2009; Schulze 1996). Dadurch wird die symbolische Relevanz der DIK von der Regelung alltagspraktischer Fragen der Religionsausübung wie rituelle Schlachtungen, Begräbnisse, Moscheebauten und Schwimmunterricht auf universale Dimensionen von Säkularismus, Moderne und Demokratie gehoben (vgl. Müller 2017b; Salvatore 1997; 2007; Salvatore/Amir-Moazami 2002). Diese Tendenz wird auch in der Sprache des Zwischenresümees deutlich, in welchem konstatiert wird: »Der Gesprächskreis ist der Auffassung, dass die Stärkung der Werteordnung des Grundgesetzes und damit die Immunisierung der Gesellschaft gegen Extremismus eine bedeutende gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.« (DIK 2009: 30) Jenseits der Rechtsordnung des Grundgesetzes werden somit auch die ihm zugrunde liegenden Werte als wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Extremismus angesehen. Die Annahme, dass die Förderung von Werten eine erfolgversprechende Strategie der Extremismusprävention sei, ist jedoch bestenfalls eine sehr enge Interpretation des Stands der wissenschaftlichen Forschung. Vielmehr ist die Forschung überwiegend der Meinung, dass biographische Brüche, Freundeskreis, Familienprobleme, weiteres soziales Umfeld, soziale Anerkennung, ökonomische und geographische Marginalisierung, psychische Gesundheit, Internetpropaganda und Kontaktaufnahme durch Anwerberinnen viel größere Auswirkungen haben als im Vorfeld vorhandene Werte (vgl. Crenshaw 2011). Es scheint, dass Jahrhunderte wissenschaftlicher Wissensproduktion über den Islam größeren Einfluss auf die Wissensformationen haben, welche deutscher Islampolitik zugrunde liegen, als Forschungen zum Gegenstand, welcher die staatliche Intervention legitimiert, nämlich die Entstehung und Verhinderung von Extremismus. Hier zeigt sich eine dezidiert selektive Wahrnehmung wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnisse, welche bei Fragen der Extremismusbekämpfung Wissen über den Islam als wichtiger erachtet als Wissen über Extremismus. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass die Publikationen der DIK nahelegen, dass die großen islamischen Organisationen

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durch ihre unzulängliche Unterstützung der deutschen Werteordnung mitverantwortlich sind für die Radikalisierung junger Menschen. Dies bedeutet, dass die These vertreten wird, dass die Gründe für Radikalisierung nicht in durch soziale und politische Systeme und Strukturen hervorgebrachten sozioökonomischen Rahmenbedingungen zu finden sind. Stattdessen wird Wissen über die ideologischen, doktrinären und religiösen Überzeugungen eines Teils der Bevölkerung als maßgebliches Feld für die Erklärung von Extremismus definiert. Selbstredend ist es nicht auszuschließen und sogar sehr wahrscheinlich, dass bestimmte ideologische Elemente extremistischer Ideologie mit Bezug zum Islam einflussreiche Rechtfertigungen für Gewaltakte liefern. Der Mord an Hitoshi Igarashi, dem japanischen Übersetzer von Salman Rushdies Buch Die Satanischen Verse ist eines der offensichtlichsten Beispiele, in welchem ein religiös legitimiertes juristisches Urteil wohl in direktem Zusammenhang mit einem Mord steht. Jedoch zeigt der fast ausschließliche Fokus auf »Werte« und religiöses Denken im Rahmen der DIK, dass politische und ideologische Konfliktlinien, welche weit über das Problem der Radikalisierung junger Menschen hinausgehen, den Diskurs der DIK maßgeblich beeinflussen. Wie haben islamische Organisationen auf die prominente Rolle der Problematik von »Extremismus« im Kontext der DIK reagiert? Wie aus der Analyse der Dokumente der DIK hervorgeht, waren die auch im Namen islamischer Dachverbände publizierten Stellungnahmen fast kongruent mit den Intentionen und Formulierungen, welche zuvor von staatlicher Seite artikuliert worden waren (vgl. auch Schiffauer 2008). Jedoch haben mehrere Vertreterinnen islamischer Organisationen in anonymisierten Interviews starke Zweifel über den Ablauf und die Effekte der Konferenz geäußert. Viele Teilnehmerinnen äußerten den Eindruck, dass der Staat sich mit dem Islam vorrangig zum Zweck der eigenen Sicherheit beschäftige. Ein DITIB-Mitglied äußerte sich kritisch darüber, dass Musliminnen als »Reaktionäre und Radikale«, die man »erziehen« müsse, behandelt worden seien (Rosenow-Williams 2012: 375). Mitglieder der IGMG und des IRD haben sich offen gegen diese »Interventionslogik« ausgesprochen, welche behauptet, dass von Musliminnen eine Gefahr ausgehe, ohne dass man konkrete Hinweise oder Gründe dafür nachweisen könne. Gleichzeitig wurde unter Mitgliedern der Organisation der Eindruck erweckt, »dass die Deutschen, ich zitiere, den Islam verändern, ihn reformieren wollen« (ebd. 376). Ein DITIB-Funktionär beschuldigte »den Deutschen Staat zu versuchen, die eigene Verfassung zu umgehen, indem er theologische Fragen innerhalb der DIK klären wolle, welche normalerweise nur mit religiösen Gemeinschaften geklärt werden können« (ebd.). Darüber hinaus beklagte ein Teilnehmer der IGMG, dass einige der Protokolle und Statements nicht die eigentliche Debatte widerspiegelten. Auch wurde behauptet, dass einige Veröffentlichungen Stellungnahmen beinhalteten, über die gar nicht diskutiert worden sei.

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V ier D ilemmata der I nter ak tion z wischen S ta at und   isl amischen V erbänden Die in diesem Artikel dargestellte Analyse zeigt auf, was für eine zentrale epistemologische und politische Stellung das Sicherheitswissen, welches mit dem Differenzkriterium »Extremismus« durchdrungen ist, in der Deutschen Islam Konferenz eingenommen hat. Auf Grundlage dieser Analyse wird im Folgenden ausgeführt, wie die DIK zur Erzeugung und Verschärfung vier dilemmatischer Situationen beigetragen hat, in welcher Staat und islamische Organisationen verfangen sind. Das erste Dilemma besteht darin, dass Islam gleichzeitig als Problem und als Lösung angesehen wird. In dieser in der DIK manifestierten Situation, die als Akteur-Zielgruppen-Ambivalenz bezeichnet werden kann, dient Wissen über Musliminnen und islamische Organisationen dem Zweck, diesen die widersprüchliche Rolle zuzuschreiben, ein Problem zu bekämpfen, zu dessen Entstehung sie selbst maßgeblich beitragen. Die Ausführungen der Regierung versuchen vermeintlich so klar wie möglich darzustellen, welche »Art des Islams« sie für problematisch halten. Jedoch ist das angeblich so klare legale Kriterium von »Extremismus« und dessen Definition als »Bestrebungen gegen die freiheitliche Demokratie« grundsätzlich umstritten. Dies trifft nicht nur für die Verhandlungen und Aktivitäten des Staates außerhalb des Sicherheitsapparates zu, sondern sogar für die Arbeit der Geheimdienste, welche die Möglichkeit zum Eingriff in den intimsten Schutzbereich fundamentaler Grundrechte haben. Die Anwendung der Begriffe »Islamismus« und »Extremismus« erscheint noch problematischer, wenn sogar die Organisationen, welche der Staat selbst zum Dialog eingeladen hat, in einem unvorhersehbaren Hin und Her der Kollaboration mit extremistischen Strömungen bezichtigt werden, wie dies bei IGMG und IRD immer noch der Fall ist. Darüber hinaus trägt die in den Dokumenten reproduzierte Wissensformation über den Islam in Deutschland zu einem weiteren Verschwimmen konzeptueller Differenzierung bei, indem behauptet wird, mangelnde Integration oder fehlender Integrationswille sowie ein unzureichendes Bekenntnis zu einer unklaren, kulturalistisch gefassten Zusammenstellung von »deutschen Werten« seien die maßgeblichen Ursachen für Radikalisierung. Mit der in den Dokumenten aufgestellten Forderung, dass Musliminnen sich mehr in die deutsche Gesellschaft einbringen müssten, wird eine Verbindung hergestellt zwischen den angeblichen Integrationsdefiziten eines maßgeblichen Teils der muslimischen Bevölkerung und den Aktivitäten einer »religiös extremistischen« Minderheit. In zweierlei Hinsicht wird dabei eine Kausalbeziehung hergestellt. Auf der einen Seite werde Radikalisierung durch defizitäre »gesellschafts- und religionspolitische Integration« befördert. Auf der anderen Seite wird in den Dokumenten behauptet, bestimmten

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islamischen Sichtweisen, wie literalistischen Auslegungen heiliger Schriften oder dem alleinigen Wahrheitsanspruch des Islams, wohne eine Neigung zur Unterstützung von Radikalisierungsprozessen inne. Die im Rahmen der DIK en passant konstatierte Diagnose der Ursachen von Extremismus stellt damit Teile der beteiligten islamischen Organisationen und deren religiöse Praxis als Risikofaktoren dar. Die Interpellation des unzureichend integrierten Muslims macht ihn somit zu einem riskanten Subjekt. Gleichzeitig werden islamische Organisationen dazu aufgefordert, mit den Sicherheitsbehörden zu kooperieren. Sie erklären sich außerdem dazu bereit, in ihren Einrichtungen dafür zu sorgen, dass in ihnen keine Informationsmaterialien verteilt werden, welche Illoyalität gegenüber dem Staat fordern. Darüber hinaus werden die islamischen Akteure mit beträchtlichen finanziellen Ressourcen und symbolischem Kapital ausgestattet, um ihre neue Rolle als Erfüllungsgehilfen der staatlichen Agenda zur Beeinflussung und Kontrolle der muslimischen Bevölkerung ausführen zu können. Dies stärkt im Gegenzug bestimmte islamische Akteure, die bereits über einen hohen Organisationsgrad verfügen und durch die Etabliertheit und Finanzkraft ihrer Mitgliedsverbände ohnehin das öffentliche Bild des Islams in Deutschland entscheidend prägen. Entgegen der ursprünglich artikulierten Intention des Staates, angesichts der immer wieder betonten niedrigen Organisationsquote in Deutschland lebender Musliminnen auch »säkulare«, »liberale« und wenig praktizierende Musliminnen einbeziehen zu wollen, stärkt die DIK genau diejenigen Verbände, welche oftmals eher sozial und religiös konservative islamische Interpretationen und Praktiken verkörpern und aktiv verbreiten. Die jüngste Auseinandersetzung um die Bespitzelung von DITIB-Funktionärinnen durch von der türkischen Regierung entsandte Imame offenbart den paradoxen Charakter dieser Situation. Gerade DITIB, der größte, willig mit dem deutschen Staat kooperierende Verband ist durch die politische und finanzielle Abhängigkeit von der türkischen Regierung jene Gruppierung, auf welche der Vorwurf einer zu starken Verflechtung mit dem Staat und einem somit unzureichend praktizierten Säkularismus am ehesten zutrifft. Dies offenbart auf eklatante Weise die Bruchlinien oder gar Widersprüche in der in der DIK propagierten Wissensordnung. Während Säkularismus eine zur Einhegung des Islams zentrale epistemologische Bedeutung zugeschrieben wird, um »Islamisten« als solche benennen zu können, scheint dieses Wissen in den Kooperationen mit DITIB weitgehend ignoriert zu werden. Im Rahmen der DIK werden somit diejenigen Organisationen bestärkt, welche der Staat ursprünglich als Teil des Problems qualifiziert hat. Damit werden islamische Organisationen mit der Lösung eines Problems beauftragt, welches sie zum Teil selbst darstellen. Ein zweites verwandtes Dilemma besteht in der Formierung von Verantwortungsgemeinschaften. Indem »aufgeklärten« und »loyalen« Musliminnen

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und islamischen Organisationen persönliche, strukturelle, religiöse und ideologische Einflussmöglichkeiten gegenüber »Extremisten« zugeschrieben werden, werden sie in der diskursiven Einheit der »Muslime in Deutschland« oder der »muslimischen Community« miteinander verbunden. Der Kollektivsingular des »Gastarbeiters« wurde über den »Migranten« zum »Muslim« (Spielhaus 2013). Gleichzeitig wurde »der Muslim« zur wahrgenommenen Ursache von Angst und dem angeblichen Grund für eine ganze Reihe sozialer Problematiken. »Muslim« ist somit zu einem einheitlichen Begriff geworden, der Türkinnen, Araberinnen, Südasiatinnen, Iranerinnen, Sudanesinnen und andere Gruppierungen, die in Deutschland leben, zusammenfasst. Besonders seit dem 11. September 2001 wird von Musliminnen in Europa erwartet, zu allen möglichen Gräueltaten, welche von Musliminnen auf der ganzen Welt begangen werden, Stellung zu beziehen. Navid Kermani, einer der Teilnehmer der DIK, kritisierte diese »Erwartung sich zu distanzieren« (Kermani 2014) und den damit einhergehenden Druck auf Menschen, die Musliminnen sind, Teil eines religiösen und politischen Diskurses zu werden. Dies reproduziert die Subjektposition des »sich zu distanzierenden Muslims«, der dazu aufgefordert ist, sich selbst in Bezug auf den persönlichen Glauben und auf andere Menschen, die bestimmte Elemente der Religionsausübung teilen, auch im persönlichen, geschäftlichen und öffentlichen Leben zu positionieren.10 Levent Tezcan fragt jedoch zurecht, warum jede Migrantin in der Lage sein soll, eine Aufgabe zu erfüllen, die sogar für Expertinnen, Theologinnen und Öffentlichkeitsbeauftragte oft kaum zu bewältigende Dilemmata mit sich bringt (Tezcan 2012: 36). Wie Social-Media-Posts, Stellungnahmen im Internet sowie öffentliche Kundgebungen islamischer Organisationen nach den Anschlägen auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015, die Pariser Konzerthalle Bataclan im November 2015 und den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz im Dezember 2016 zeigen, ist das Erfüllen dieser Erwartung jedoch längst habitualisierte Praxis. Die Interpellation »Distanziert Euch!«, welche auf dem Sicherheitswissen der Extremismusneigung des Islams auf baut, hat sich längst in die Lebenswelten von Musliminnen in Deutschland eingeschrieben. In fast jedem Gespräch, welches der Autor mit Musliminnen geführt hat, ist eine derartige Distanzierung vollzogen worden, ohne dass die Gesprächspartnerinnen darauf angesprochen worden wären. Ein Münchener Moscheeverein hat sogar auf seiner Webseite die Selbstbeschreibung »moderat« aufgenommen.

10 | Sogar einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland grundsätzlich positiv gegenüberstehende Soziologinnen wie Armin Nassehi tragen zur Verstärkung dieser Erwartungshaltung bei, wenn er in einer großen Tageszeitung schreibt: »Wo dieses Bekenntnis geradezu ostentativ ausbleibt, gibt das zu denken.« (Nassehi 2017)

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Die Verantwortlichen erklärten dies mit dem Hinweis, dass sie in jedem Fall klar stellen wollten, dass sie mit Extremistinnen nichts zu tun hätten. Derart produziertes Sicherheitswissen bringt somit nicht-extremistische Personen und Extremistinnen in eine diskursive Relation, die sonst vielleicht niemals bestanden hätte. In einigen Fällen nimmt diese inkorporierte kollektive Verantwortung jedoch noch viel weitreichendere Dimensionen an. Als die deutsche Archäologin Susanne Osthoff 2005 im Irak entführt wurde, bot sich der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, den Kidnappern als Austausch für Osthoff an (Tezcan 2012: 69). Wie tief diese Zuschreibung und das Wissen um kollektive Verantwortung auch in der Zivilgesellschaft verwurzelt sind, zeigt ein Aufruf, welcher 2005 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht wurde. Im Zuge der Entführung der Journalistin Giuliana Sgrena, veröffentlichte die Zeit einen Artikel mit dem Titel »Aufruf an die Muslime in Deutschland«. Der Aufruf zur Solidarität mit der bei der Zeit arbeitenden Journalistin enthielt die folgende Passage: »Die ZEIT bittet alle Muslime in Deutschland, sich diesem Aufruf anzuschließen: Unterstützen Sie den Protest Ihrer Verbände gegen die Geiselnahme in Bagdad. Wir wissen sehr wohl, dass gesetzestreue deutsche Muslime mit den verbrecherischen Geiselnehmern im Irak nichts gemein haben. Trotzdem ist der Protest der Muslime ein wichtiges Signal, dass wir alle – unabhängig von unseren Glaubensüberzeugungen – im Kampf gegen den Terrorismus zusammenstehen.« (Chefredaktion der Zeit 2005)

Trotz der Betonung, dass »gesetzestreue deutsche Muslime« mit den Geiselnehmern »nichts gemein« hätten, impliziert diese Stellungnahme, dass deutsche Muslime in irgendeiner Form über Einflussmöglichkeiten auf irakische Verbrecherinnen verfügten. Dadurch wird in Deutschland lebenden Musliminnen die Möglichkeit der Beeinflussung von Menschen in einem weit entfernten Teil der Welt zugeschrieben. Die diesem Aufruf im Kern zugrunde liegende Logik wird auch in der Deutschen Islam Konferenz offenbar: Musliminnen haben Einfluss auf Musliminnen, unabhängig von ihren grundsätzlich unterschiedlichen politischen, sozialen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Differenzen. Wiederum ist es eine Interpellation als Muslime, die einen Subjektstatus konstruiert, dem die Möglichkeit zugeschrieben wird, in der Lage zu sein  – und von dem erwartet wird  –, sich gegen Geiselnehmerinnen im Irak einzusetzen. Dadurch wird Musliminnen eine spezifische Verantwortung zugeschrieben, ihre Einflussmöglichkeiten als Musliminnen für das Wohl der Gesellschaft zu nutzen. Diese Argumentationslinie ist ein grundlegendes Prinzip und eine mögliche Erklärung für die breite politische Unterstützung für die DIK.

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Drittens befinden sich islamische Dachverbände in einem Dilemma der Nähe. Die Verbände haben starkes Interesse an einer stärkeren Zusammenarbeit mit dem Staat, weil sie die gleiche rechtliche Anerkennung wie Kirchen und andere Religionsgemeinschaften anstreben. Dies würde es den Verbänden ermöglichen, staatlich finanzierten konfessionellen Religionsunterricht in Schulen zu erteilen, Steuern unter den Mitgliedern zu erheben und Teil von öffentlichen Gremien wie Rundfunkräten zu werden. Jedoch scheint die legale Anerkennung und die finanzielle Unterstützung durch den Staat an die Bedingung geknüpft zu sein, sich stärkerer Kontrolle durch die Sicherheitsbehörden zu öffnen und sich Zielvorstellungen zu eigen zu machen, welche für sie qua Religionsgemeinschaft nicht unbedingt Teil ihres Selbstverständnisses sind. Dazu gehört unter anderem die Förderung von deutscher Sprache und Kultur. Wie Gerdien Jonker gezeigt hat, kann die größere Nähe zu staatlichen Akteuren, gerade zum Sicherheitsapparat, auch entfremdende Effekte auf Gruppierungen haben, welche Teil der Verbände sind oder ihnen nahe stehen (Jonker 2002: 40). Besonders die Gruppierungen, welche dem Staat grundsätzlich skeptischer gegenüberstehen oder bereits selbst negative Erfahrungen mit staatlichen Akteuren gemacht haben, egal ob aus sozialen, ökonomischen, ideologischen oder strafrechtlichen Gründen, könnten sich durch die enge Kooperation von den Dachverbänden distanzieren. Somit laufen islamische Organisationen und damit indirekt der Staat Gefahr, Einflussmöglichkeiten auf genau jene Gruppierungen zu verlieren, welche ursprünglich im Besonderen erreicht werden sollten. Die vierte dilemmatische Situation besteht darin, dass der Fokus der DIK auf die Notwendigkeit verbesserter Integration durch das Annehmen von »Werten«, »Normen«, »Kultur«, »Traditionen« und Sprache Deutschlands zu genau jener Reproduktion kultureller Differenz zwischen Musliminnen und Nichtmusliminnen beiträgt, welche die Konferenz ursprünglich vorgab, überwinden zu wollen. Kritikerinnen dieser kulturalistischen Rhetorik, oder des »culture talk«, wie es Mahmood Mamdani bezeichnet (2002: 766), darunter prominente Vertreterinnen islamischer Organisationen, haben wiederholt gefragt, was denn diese »deutschen Werte« und Traditionen eigentlich seien. Das Erheben dieser Unklarheit zu einer als relevant und zentral angesehenen Fragestellung hat eine semantische Volatilität oder gar Leerstelle geöffnet, welche Parteien und Politikerinnen die Möglichkeit gegeben hat, entsprechende Antworten zu liefern. Dadurch entsteht ein essentialistischer »Wille zum Wissen«, der darauf ausgerichtet ist, einen semantischen Gehalt dieser Begriffe derart zu bestimmen, dass er den Anforderungen politischer Programmatiken und administrativer Klassifikationsschemata entspricht. Besonders konservative und rechtsextreme Parteien waren erfolgreich darin, sich die öffentliche Aufmerksamkeit dieser Fragestellung zu Nutze zu machen. Jedoch haben auch Politikerinnen aus dem linken Spektrum wie

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Sahra Wagenknecht sich dazu veranlasst gesehen, sich demselben kulturalistischen Duktus bedienend zu dieser Frage zu äußern. Die Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke reagierte auf den Terroranschlag in Ansbach mit der danach heftig diskutierten Äußerung, »dass die Aufnahme und Integration einer sehr großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern zumindest mit erheblichen Problemen verbunden und sehr viel schwieriger ist als Frau Merkel uns das im letzten Herbst mit ihrem ›Wir schaffen das‹ einreden wollte« (FAZ 2016). Wie oben ausgeführt, wurde im Rahmen der DIK versucht, ein Vokabular zu entwickeln, welches den Graubereich bezeichnet, der über die Forderung nach Legalität und Distanzierung von »Extremismus« hinausgeht. Dadurch wurde jedoch auch der Legitimität von bipolaren Kategorisierungen des Islams Vorschub geleistet. Wie die Äußerung des damaligen Bundesinnenministers Schäuble nahelegt, will er »aufgeklärte«, »säkulare«, »moderne«, »liberale« und Deutsch sprechende Musliminnen, die dazu bereit sind, sich in die genannten kulturellen Elemente Deutschlands einzufügen oder sogar zu assimilieren. Musliminnen, für die das nicht zutrifft, werden als »politisch«, »konservativ«, einer wörtlichen Auslegung folgend, integrationsunwillig, in Parallelgesellschaften lebend und einen Nährboden für Islamismus bietend konstruiert. Damit werden sie als potentiell gefährdet angesehen, selbst in »Islamismus«, »Extremismus« und schließlich Terrorismus abzugleiten – sie werden als riskante Subjekte interpelliert. Die Konstruktion und Reproduktion dieser dichotomen Wissensformation über Musliminnen erinnert an orientalistische Identitätsdiskurse, welche einen vermeintlich hinreichend kohärenten »Westen« gegenüber der »muslimischen Welt« abgrenzen. Diese Bipolarität hat zur Entstehung einer Sprache und einer politischen Arena geführt, in welcher nicht nur Gewalt mit religiösem Bezug, sondern ein weites Spektrum an politischen Problemen verhandelt wird. Das Netz der in Bezug auf Sicherheitswissen über den Islam verhandelten Thematiken verbindet Integration, Migration, Flüchtlinge, nationale und europäische Identität, das Verhältnis von Mann und Frau, genderbezogene Gewalt, Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, das Verhältnis von Staat und Religion, Religionsfreiheit, Kleidungsvorschriften, von Einzelpersonen ausgeübte und organisierte Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Überlastung der Sozialsysteme, Wohnungspolitik, innere und globale Sicherheit sowie Außenpolitik. Indem jedoch »Religion«, in diesem Fall der Islam, eine derart privilegierte Position bei der Begründung und Formulierung von Politik eingeräumt wird, wird häufig Wissen über religiöse Differenzierungen in politische Differenzierungen überführt. Diese Überbetonung von Religion als Kausalitätsfaktor und Handlungen strukturierende epistemologische Kategorie läuft Gefahr, dazu beizutragen, dass relevante soziale, ökonomische und politische Konfliktlinien in den Hintergrund treten oder übersehen werden (vgl. z.B. Sassen 2006:

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314-319). Somit unterminiert die Privilegierung von Religion die Legitimität von politischem Handeln in diesen anderen Dimensionen (vgl. Hurd 2015: 2). Die erfolgte Darstellung der vier dilemmatischen Situationen und der damit einhergehenden Probleme im Umgang mit Extremismus mit Islambezug darf nicht insofern missverstanden werden, dass damit widerlegt oder außer Acht gelassen wäre, dass die DIK nicht aus lauteren Motiven initiiert und in Teilen auch von islamischen Organisationen, Einzelpersonen und Wissenschaftlerinnen begrüßt wurde. Einige der mit der DIK verbundenen Entwicklungen, wie die Einrichtung von Fakultäten für Islamische Theologie an staatlichen Universitäten, wurden von vielen Seiten gelobt, insbesondere von Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen fast aller Parteien und Musliminnen außerhalb der großen Dachverbände. Es bleibt abzusehen, inwiefern diese Art der akademischen Wissensproduktion sicherheitspolitische und innerislamische Dynamiken beeinflussen wird. Es bleibt eine wichtige und notwendige Aufgabe, die Ergebnisse der DIK gegen die in diesem Beitrag dargestellten, nicht intendierten oder vorhergesehen Dynamiken abzuwägen. Jede Evaluierung von staatlichem Umgang mit Extremismus mit Religionsbezug muss die Frage beantworten, auf welche Wissensformationen die Interventionen beruhen. Auch muss gefragt werden, welches Wissen verbreitet und welches verdrängt wird. Es bleibt in Bezug auf jede eine Minderheit betreffende Politik zu fragen, welche Subjektpositionen hervorgebracht und verdrängt werden. Schließlich bleibt es weiterer Forschung vorbehalten, näher zu untersuchen, wie mit diesen unvermeidlichen dilemmatischen Spannungen umgegangen wird. Unabhängig davon, ob man mehr oder weniger Engagement islamischer Organisationen oder staatliche Intervention fordert, ist es von kaum zu überschätzender Bedeutung, die zwangsläufigen Zielkonflikte nicht aus den Augen zu verlieren. Diese haben potentiell weitreichende Konsequenzen für den Staat, islamische Organisationen und die gesamte Bevölkerung, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit.

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Sexualitätsdispositiv Revisited Die Figuration des »Arabischen Mannes« als Abwehrfigur neoliberaler Freiheit Gabriele Dietze So saturated with meanings, so overdetermined by history, religion and politics are labels like »Arab« or »Muslim« as subdivisions of »The Orient« that no one today can use them without some attention to the formidable polemical mediations that screen the objects, if they exist at all, that the labels designate. (E dward S aid 1985: 4) While the premodern world attacked the Muslim world’s sexual licentiousness, the modern West attacks its alleged repression of sexual freedoms. (J oseph A. M assad 2002: 375) Freedom’s just another word for nothing left to lose. (Janis J oplin , M e an B obby M c G ee , 1970) Sexuality becomes the sign of the European Union’s benevolence and the justification for its racist practices. Figured as a sign of cosmopolitism, sexuality becomes a tool for naming European identity and history as symbols of liberal progress and tolerance that distinguishes the West from the non-West and by extension the Islamic. (R oderick A. F erguson/G race K. H ong 2012: 1060)

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E inleitung Der Wissensdurst des allgemeinen Publikums ist ungeheuer. Die Tische in den Buchhandlungen, die neueste Veröffentlichungen zu nachgefragten Themen der Zeit präsentieren, biegen sich unter der Last der Angebote von Islamerklärungen. In den Universitäten und bei den Vergeber_innen von Drittmitteln haben Studien über »Islam«, Grade der Religiosität von Migrant_innen und potentielle Herde von Terrorismus des politischen Islamismus Hochkonjunktur (Brubaker 2013; Sunier 2014) und die TV-Talkshowmaschine ist überladen mit Problematisierungsrunden über angebliche Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit muslimischen Eingewanderten und Geflüchteten (Dietze 2016b). Und in der Fernsehdebatte zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Herausforderer Martin Schulz (SPD) zur Bundestagswahl im Herbst 2017 nahm die Diskussion über muslimische Einwanderung knapp die Hälfte der Sendezeit in Anspruch, was dazu beitrug, dass zentrale, alle Einwohner_innen der Bundesrepublik – autochthone wie eingewanderte – betreffende Fragen sozialer Gerechtigkeit wie Renten oder Mieten nicht erwähnt wurden. Eine solche thematische Überflutung sollte misstrauisch stimmen. Sie lässt sich nicht mit einem einfachen Zusammenhang zwischen der Quantität und Dramatik der Thematisierung und einer wie auch immer gearteten »problematischen Wirklichkeit« erklären. Was sie dagegen zeigt, ist eine Diskursexplosion, oder anders gesagt: eine »Problematisierungsweise«. Danach wäre zu untersuchen, »wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden« (Foucault 1996, 138) und was das über die Problematisierer_innen aussagt. Die folgenden Überlegungen wollen diesem Zusammenhang anhand einer bestimmten, historisch wandelbaren Problematisierungsfiguration nachgehen, dem »muslimisch-arabischen Mann« und der Art und Weise, wie diese jeweils mit europäischen (christlichen oder agnostischen) Maskulinitäten ins Verhältnis gesetzt wurde und wird. Als Perspektive ist Sexualität gewählt worden. Dabei sind keine konkreten Praktiken angesprochen, sondern die Art und Weise, wie Sexualität im Spiel um Wissen und Macht eingesetzt und angereizt wird. Insofern ist das Leitmotiv der Untersuchung Sexualpolitik. Die feministische theoretische Pionierin, Kate Millett, die diesen Begriff in Umlauf gebracht hat, definiert: »The term [sexual] politics shall refer to power-structured relationships, arrangements where one group of persons is controlled by another.« (Millett 2000 [1970]: 23) Angenommene sexuelle Rückständigkeit und/oder sexuelle Gefährlichkeit muslimischer Migrant_innen und Geflüchteter sind Vorwand und Futter xeno-rassistischer (vgl. Fekete 2001) Diskurse. Diese fokussieren sich national und historisch auf je unterschiedliche Schwerpunkte vom Kopftuchstreit bis zur Unterstellung einer religiös bedingten Homophobie. Gegen Ende der

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Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts steht der junge unverheiratete muslimische Mann, insbesondere der »Flüchtling«, im Fadenkreuz okzidentalistischer Problematisierungskultur (Dietze et al. 2009). Das hier neugebildete Phantasma »Arabischer Mann« greift dabei auf eine lange Vorgeschichte von Kolonialismus und unterschiedliche Stadien der Dekolonisation zurück. Auf der Suche nach analytischen Instrumenten, die diese besondere thematische Zuspitzung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Einwanderung und Diversität auf Sexualität, Maskulinität, Religion und Herkunftsregionen erklären würden, boten sich zwei Analysemodelle an, die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Gegenständen des Foucault’schen Werkes entstammen: Einmal handelt es sich um das Modell des Sexualitätsdispositivs, das Machtpolitiken beschreibt, die über die Skandalisierung »abweichender« Sexualitäten arbeiten. Und das andere Mal handelt es sich um das Paradigma einer neoliberalen Gouvernementalität. Letzteres organisiert die Sortierung und Führung von Menschen in kapitalistische Marktlogiken, wobei zwischen fähigen und unerwünschten Teilnehmer_innen unterschieden wird. Dem »Arabischen Mann« wird hier eine spezifische Un-Assimilierbarkeit in die und Bedrohung für die Freiheit europäischer Gesellschaften zugeschrieben (Seidl 2016; Ulrich 2016: 3). Beide Modelle sind in ihrer ursprünglichen Form nur lose miteinander verknüpft und sind auch nicht passgenau für die oben aufgeworfene Fragestellung kalibriert. In der ursprünglichen Fassung des Sexualitätsdispositivs spielt race als Dispositiv kolonialer Machtpolitik keine Rolle und in Michel Foucaults Vorlesungen zu neoliberaler Gouvernementalität ist Sexualität weitgehend ausgespart. Eine Verschränkung beider Perspektiven wäre aber notwendig, um einen Zugang zur sexualpolitischen Rassisierung und der unzulässigen Generalisierung von imaginiert einheitlichen muslimisch-arabisch-migrantischen Maskulinitäten in der Diaspora zu finden. Inzwischen sind in beiden Feldern  – zum Sexualitätsdispositiv und race sowie zu Neoliberalismus und Sexualität – einige Lücken geschlossen worden.1 Allerdings sind beide Analysemomente noch nicht oft verknüpft worden.2 Nun gibt es mehrere Achsen, entlang derer rassistische Abwehrfigurationen (vgl. Dietze 2017a: 19) wie »Der Arabische Mann« in ihren historischen Entwicklungen und in ihrer Gegenwart interpretiert werden können. Rassismus kann als Ideologem, Vorurteil, Pseudowissenschaft (biologischer Rassismus) oder kaschiert als kulturalistischer Meta-Rassismus betrachtet werden, 1 | Zu Foucault und Race siehe u.a. JanMohamed 1992; Margolis 1995; Rasmussen 2011; Sarrasin 2003; Stoler 1995. Zu Sexualität und Neoliberalismus siehe Amar 2011b; Fassin 2014; Ferguson/Hong 2012; Gill/Scharff 2010; Reddy 2011. 2 | Wichtige Ausnahme und Bezugspunkt für eine integrierte Lesart und meine eigene Untersuchungsperspektive sind die Arbeiten von Gundula Ludwig (2014; 2016).

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wobei man als Akteur_innen hegemoniale (oder subaltern-hegemoniale) Bevölkerungsanteile im Auge hat. Oder man kann ihn als eine Form von »biopolitical government« (Rasmussen 2011: 40) verstehen, wobei der Staat und ökonomische Agenturen als Akteure von Rassismus betrachtet werden. Die folgenden Überlegungen werden von beiden Perspektiven Gebrauch machen, aber die Gegenwartsanalyse mehr auf die Perspektive neoliberaler Gouvernementalität zuspitzen. Im Vordergrund aller Analyseversuche wird jedoch die cui bono-Frage stehen: Was oder wem nutzen die ausgebildeten Phantasmen und was tragen sie zur jeweiligen Konstruktion hegemonialer westlicher weißer Subjekte bei? Der erste Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit einer Rekonstruktion der Foucault’schen Fassung des Sexualitätsdispositivs und den Möglichkeiten einer Race-Ergänzung. Der zweite Teil konkretisiert das an kolonialen Phantasien zum »Arabischen Mann«. Ein dritter Abschnitt beschäftigt sich mit der Verflechtung von Dekolonisation, Sexueller Revolution und einem qualitativen Sprung in der Vorstellung vom »Arabischen Mann«. Die Veränderungen werden eingeordnet in das Aufscheinen eines Neuen Sexualitätsdispositivs. Ein vierter Abschnitt konzentriert sich auf die spezifische Dämonisierung des »Arabischen Mannes« in den Auseinandersetzungen um Migration, Flucht, Islam, Sexualität und Staat im Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts.

D as alte S e xualitätsdispositiv Foucault hat die Machtfigur Sexualitätsdispositiv auf die Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert datiert und sie als bürgerliche Antwort auf das feudale Allianzdispositiv gedeutet, in dem der absolute Monarch Macht über Leben und Tod ausüben konnte. Im bürgerlichen Zeitalter werde nun die Bevölkerung durch »Leben machen« kontrolliert. Eine Überthematisierung einer angeblich falschen Sexualität einzelner Menschengruppen wurde dabei zu einem zentralen Herrschaftsmoment. Auf der Oberfläche richtete sie sich nicht gegen eine auszuschließende rassisierte Minderheit, sondern steuerte Teile einer als weitgehend monokulturell angenommenen weißen bürgerlichen Bevölkerung an. Insbesondere die Sexualität von Kindern, »hysterischen« Frauen und gleichgeschlechtlich Liebenden wurde von der Kirche, den Institutionen der Erziehung und den Gesetzgebern reguliert und damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die sich paradoxerweise daraus ergebende systematische Sexualisierung (durch Beichtverhöre, Onanieverbote und Keuschheitsgebote) ist als Machttechnik zu verstehen, die der Disziplinierung von Menschengruppen diente, die für eine geordnete Reproduktion der Bevölkerung im Sinne der Notwendigkeiten eines sich entwickelnden Kapitalismus ausersehen waren.

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Diskriminiert und pathologisiert wurden nicht-generative Bevölkerungsteile: der Samen verschwendende Knabe (damals dachte man noch, exzessive Onanie beschädige zukünftige Potenz), die gebärverweigernde Hysterikerin und der nun als perverse Persönlichkeit betrachtete nicht-generative Homosexuelle. Diese Ausschlüsse schufen Raum, sich auf den eigentlichen Gegenstand der regulatorischen Bemühungen zu konzentrieren, die gebärfähige und gebärwillige Frau, die das Wachstum einer gesunden und arbeitsfähigen Bevölkerung zu gewährleisten hatte. Interessanterweise war in der frühen Geltungszeit des Sexualitätsdispositivs das Proletariat noch nicht Gegenstand sexuell disziplinierender Bemühungen (vgl. Foucault 1983 [1976]: 164). Eine »Amoralität« unterer Klassen wurde zunächst hingenommen, möglicherweise weil die Reproduktion der Ware Arbeitskraft unter hygienisch und moralisch geordneten Bedingungen im Frühkapitalismus noch zu teuer gekommen wäre. Erst die sozialen Reformbewegungen der Wende zum 20. Jahrhundert bemühten sich um die Sittlichkeitserziehung des Proletariats. Die Art und Weise, wie das Proletariat im Auge des Bürgertums als das abjekte schmutzige Andere gesehen wurde, ist häufig mit einer Quasi-Rassisierung verglichen worden, wie Anne McClintock in ihrer Studie Imperial Leather im Kapitel »›Massa‹ and Maids« über das Verhältnis von (männlichen) Bürgern und (weiblichen) Bediensteten erkundet hat (McClintock 1995: 75-132). Foucault selbst nennt die Abschließung gegen die »eigenen« Anderen  – allerdings im Zusammenhang mit der Psychiatrie  – »internen Rassismus« (Foucault 2007: 418). Der Rassismustheoretiker Pierre-André Taguieff spricht in diesem Zusammenhang von auto-referentiellem Rassismus im Unterschied zu dem gegen den äußeren Fremden gewendeten hetero-referentiellen Rassismus. Letzterer arbeitet mit Ausschluss, ersterer mit Dominanz (vgl. Taguieff 1987). Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Stigmatisierungslogik gegenüber dem »Arabischen Mann« in der europäischen Diaspora des 21. Jahrhunderts ein Hybrid von kolonialen Resten eines hetero-referentiellen Rassismus und westlich hegemonialen Ambivalenzen gegenüber eingewanderten muslimischen Neubürgern als ungewollte »Eigene« ist und damit auch Züge eines auto-referentiellen Rassismus trägt. Während Foucault klassenspezifische Unterschiede in Rechnung zieht, bleibt bei ihm der Kolonialismus eine entscheidende Blindstelle. Er übersieht, dass die mit dem Sexualitätsdispositiv beschriebenen Gesellschaften gleichzeitig Kolonialmächte zur Hochzeit ihrer Machtausdehnung waren, ihre Ökonomien von der Ausbeutung ferner Ressourcen und Sklavenarbeit abhängig waren (vgl. Mignolo 2011) und ihr Wissensarchiv sich mit »Sonderanthropologien« über die Minderwertigkeit von »Wilden« (Moore et al. 2003) füllte. Die fehlende Referenz zum Kolonialismus übergeht nicht nur zentrale ökonomische Ungleichheitsverhältnisse und Quellen von Reichtum (vgl. Venn 2009),

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sondern sie übersieht auch spezifische Ausprägungen von Rassismus, die Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft als »parahuman« (Amar 2011b: 306) begriff und diese Erbschaft bis in die Gegenwart trug.

R ace -S e xualitätsdispositive Dass bei der Konzeptualisierung des Sexualitätsdispositivs dieses wichtige Scharnier race unberücksichtigt blieb,3 fiel insbesondere postkolonialen Theroretiker_innen auf, die fast alle mit Foucaults Macht-, Wissens- und Wahrheitsanalytik arbeiteten und die Sexualisierung von race in ihre Diskursanalyse einführen wollten. Diese Ergänzungen des Sexualitätsdispositivs um den Faktor race können sehr verschiedene Formen annehmen. Ich werde im Folgenden auf drei Varianten eingehen, die im weitesten Sinne mit für die Abwehrfiguration »Arabischer Mann« verantwortlich sind. Zunächst geht es um die Kolonialphantasie des »Wilden«, die mit der Konstruktion weißer Zivilisationsüberlegenheit gegenüber jeder Form von »Barbarei« verbunden war. Diese Variation ist fast immer mit einer Dämonisierung von blackness verbunden. Zum zweiten wird von den orientalistischen Phantasien von Haremsherren und Scheichs die Rede sein, und zuletzt von orientalistischer Homoerotik.

Facts of Blackness Ann Laura Stoler bezieht sich direkt auf die Foucault’sche Formulierung des Sexualitätsdispositivs. Sie konzentriert sich in ihrem zentralen Werk Race and the Education of Desire (1995) auf Phantasmen über die kolonialisierten »Wilden, Barbaren, Primitiven« und schlägt vor, sie den Standardfigurationen »hysterische Frau, Perverser, onanierender Knabe« hinzuzufügen. Die Stolersche Kritik weist auf den Eurozentrismus Foucaults hin und will ihn mit Parametern ergänzen, die den Kolonialismus, der ja eine zentrale Ressource des Kapitalismus war, zur Sichtbarkeit bringen.

3 | Bei der Darlegung und Entwicklung des Sexualitätsdispositivs spielt Kolonialrassismus keine Rolle. Es wird allerdings biologisierender Staatsrassismus, wie er etwa den Faschismus gekennzeichnet hat, mit dem Begriff der »Biomacht« eingeführt (vgl. Foucault 1983 [1976]: 62). In den Vorlesungen zu Verteidigung der Gesellschaft findet sich dann ein einzelner, nicht weiter ausgeführter Satz: »Der Rassismus entwickelte sich zunächst mir der Kolonisierung, d.h. dem kolonialistischen Völkermord.« (Foucault 1999: 298)

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Zentral an Stolers Kritik an Foucault ist die Aussage, dass die sexualisierten Imaginationen vom kolonisierten »Anderen« mit dem europäischen Disziplinarregime verflochten waren oder dass sie als ko-konstitutiv (mutually constitutive) verstanden werden müssen (Stoler 1995: 6). Ein wichtiges Element waren Vorstellungen zur »wilden« und unsublimierten Sexualität von schwarzen »Anderen«, die Bibliotheksregale mit früher ethnologischer Forschung füllten (vgl. Stocking 1987). Frantz Fanon hat in seiner berühmten Studie Black Skin, White Masks im Kapitel »The Facts of Blackness« bekanntlich herausgearbeitet, wie persönlichkeitszerstörend sich diese sexualisierten Phantasien auf den schwarzen Mann aus kolonisiertem Kontext auswirken (vgl. Fanon 2008 [1952]: 82-108). Diese Verwundungen, Prägungen und Anrufungen reichen bis weit ins 20. und 21. Jahrhundert insbesondere von Post-Sklavereigesellschaften wie den USA hinein. Politischer Aktivismus wie Black Lives Matter sprechen von der Kontinuität des Anti-black-Rassismus (vgl. Bonilla Silva 2017). Sexualisierte Vorstellungen von race folgen einer ähnlichen Strukturlogik wie die Hysterisierung (Sexualisierung) weißer Frauen, aber sie beschreiben ein anderes Phantasma. Der Literaturwissenschaftler Abdul R. JanMohamed arrangiert Foucaults Sexualitätsdispositiv neu,4 um beide kulturellen Muster der Sexualisierung von race oder Gender in ein Verhältnis zu setzen: »The hysterization of the women’s bodies is paralleled on the racial-sexual border by the hysterization of the black male body, which is represented as saturated with sexuality. […] it is the hystericized oversexualized body of the black male that is used by discourse of racialized sexuality to reinforce hysterical boundaries between two racialized communities.« (JanMohamed 1992: 104f.)

Mit dem Begriff »rassisierte Sexualität«  – racialized sexuality (ebd. 105f.)  – beschreibt JanMohamed eine Struktur, die man auch ein »race-Sexualitätsdispositiv« nennen könnte. Er entwickelt das beispielhaft an US-amerikanischen race-Verhältnissen direkt nach der Abschaffung der Sklaverei 1865. Das ­race-neutrale Foucault’sche Sexualitätsdispositiv und JanMohameds Umarbeitung weisen hier eine Nahtstelle auf. Die fragile, von ihrem hysterischen Körper überwältigte Frau wird in diesem Definitionsraum zum natürlichen Opfer des über Triebexzess konzeptualisierten schwarzen Mannes. Die Sexualisierung des Weibes grenzt sie als Hysterikerin aus und erzeugt unvernünftige und regulierungsnotwendige Körperlichkeit. Die Sexualisierung von blackness

4 | Siehe ausführlicher das Unterkapitel »Ausschließungssysteme« in Dietze 2013 (262-266).

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grenzt den schwarzen Mann als von unzivilisierbarem Triebexzess gesteuert aus und erzeugt whiteness als Ort zivilisierter Sublimationsfähigkeit.

Eroticised Orientalism Die Figuration »Arabischer Mann« nahm in sexualisierenden Phantasien der Kolonialmächte zu ihrer Hochzeit im 19. Jahrhundert eine etwas andere Rolle ein als die der als primitiv oder barbarisch verstandene afrikanische Kolonialisierte und seine Nachfolger. Er wurde nicht als »der Wilde« konzeptualisiert, d.h. auf der Achse Zivilisation versus Barbarei, sondern als dekadent begriffen. Das Osmanische Reich hatte dem europäischen Kolonialismus vergleichsweise lange standgehalten. Insofern entwickelte sich gegenüber dem Anti-black-Kolonialrassismus, der nur Primitivität wahrnehmen konnte, die Vorstellung einer anderen, einer »orientalischen«, Kultur. In der berühmten Orientalismusanalyse von Edward Said (Said 1978) figuriert der »Arabische Mann« als effeminierter Haremsherr umgeben von willigen Gespielinnen. Orientalist_innen sähen den Orient als »feminine, its riches a fertile, its main symbols the sensual woman, the harem, and the despotic – but curiously attractive – ruler« (vgl. Said 1978: 12, meine Kursivierung).5 Saids Einschätzung dieser »seltsamen Attraktivität« kann man an populären Narrationen von der Weißen Sklavin im osmanischen Harem und der Geschichte vom verführerischen Scheich nachvollziehen. Im frühen 20. Jahrhundert eroberte dann die desert romance die populäre Imagination, erst über einen Fortsetzungsroman von Edith Maude Hull, The Sheik (1919), und dem Nachfolgetext The Son of the Sheik (1925), dann mit den Welterfolgen gleichnamiger Stummfilme von Rudolfo Valentino. Die vielfach kopierte generische Geschichte handelt von einer weißen selbstbewussten Frau auf der Suche nach Liebe. Nach vielen Enttäuschungen begegnet sie einem »Scheich«, der sie zu einem romantischen Mahl in einem Beduinenzelt in der Wüste einlädt. Ihr anfängliches Zögern wird von einer raffinierten, aber bestimmenden Verführung des orientalischen Liebhabers überwältigt.6 Alle hier referierten Vorstellungen über den »Arabischen Mann« sind von einer universellen Phantasie des Colonial Harem (vgl. Alloula 1986) 5 | Wesentlich radikaler als Said hat zwei Jahrzehnte später die feministische Theoretikerin Meyda Yeg˘enog˘lu eine »libidinal economy« des orientalistischen Diskurses verfolgt und ein »more sexualized reading« empfohlen, um neben kulturellen auch sexuelle Modi der Differenzproduktion erkennen zu können (Yeg˘enog˘lu 1998: 26). 6 | Dieses »unsettling brew of feminine victimization and female empowerment« (Gargano 2006: 171) kann von heute aus als ein frühes Genrevorbild von E.L. James’ Fifty Shades of Grey (Erstveröffentlichung 2011) gelesen werden.

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dominiert und insofern hochsexualisiert. In einer Analyse pseudopornographischer Postkarten, die aus dem kolonisierten Algerien nach Frankreich versandt wurden, schreibt Malek Alloula: »The phantastic value of the harem is a function of this presumed absence of limitation to a sexual pleasure lived in a mode of frenzy […].« (Ebd. 49) Zu Abbildungen, die Haremsherren mit mehreren Frauen zeigen, identifiziert er einen »[…] excess of sensuality characteristic of life in the harem […]« (ebd. 47). Diese spezifische Sexualisierung ist in gewisser Weise ein direktes Gegenbild zum Regime des europäischen Sexualitätsdispositivs. Im Kontrast zu einer monogamen – auf generative heterosexuelle Disziplin ausgerichteten – Lebensführung wird eine ausschweifende polygame Erotik imaginiert, die einem verführerischen und genießenden Patriarchen willige Gespielinnen in den Dienst stellt. Im West-oestlichen Divan lässt das Johann Wolfgang von Goethe folgendermaßen klingen: »Nord und West und Süd zersplittern/Throne bersten, Reiche zittern/Flüchte du, im reinen Osten/Patriarchenluft zu kosten/Unter Lieben, Trinken, Singen/Soll dich Chisers Quell verjüngen« (von Goethe 2011 [1819]: 9).

Orientalist Homoerotics Das Narrativ vom feminisierten Haremsherrn ist im Sinne von Joan Scotts berühmter Formel »Gender is a primary field within which or by means of which power is articulated.« (Scott 1986: 1069) ein Ausdruck von weißmännlicher Dominanz im Kolonisierungsprozess. Inzwischen haben Queerund Gender-Theoretiker_innen darauf hingewiesen, dass Saids Perspektive zum einen heteronormativ verengt ist und zum anderen gänzlich übersieht, dass eine Feminisierungsstrategie auch immer eine homoerotische Komponente enthält (vgl. Boone 1995: 92). Hier sind wir bei der dritten Variation eines race-Sexualitätsdispositivs angekommen. Während die ersten beiden Varianten abgelehnte, aber heimlich begehrte Aspekte heteronormativer weißer Maskulinität am Außen der kolonialen Imagination verhandelten  – Triebstärke in den Imaginationen von blackness, sinnlicher Exzess und der Zugriff auf viele Frauen im heteronormativen Orientalismus –, übertritt das Dispositiv »Orientalistische Homoerotik« eine innere Grenze – Pathologisierung von Homosexualität »zu Hause« –, indem sie sich dem äußeren Anderen zuwendet. Um dieses Feld darstellen und interpretieren zu können, muss man zunächst einen Schritt zurückgehen und daran erinnern, dass zwischen der universellen Existenz gleichgeschlechtlichen Begehrens und Homosexualität als Kategorie ein Unterschied gemacht werden muss. Die homosexuelle Persönlichkeit als Gegenstand von europäischer Sexualwissenschaft und Pathologisierung ist bekanntermaßen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, die im

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Zusammenhang mit den Ausschlussfiguren des Sexualitätsdispositivs entstanden ist.7 Wie viele andere weist auch Joseph A. Massad in Desiring Arabs darauf hin, dass Homosexualität im arabischen Orient der Kolonialzeit keine Kategorie war, die der europäischen Pathologisierung und Kriminalisierung entsprochen hätte (vgl. Massad 2007: 30), ja nicht einmal ein vergleichbares Wort existierte. Mannmännliches Begehren nach schönen jungen Männern und Knaben fand in der arabischen Dichtung unzensierten Ausdruck (vgl. Roscoe/ Murray 1997) – eine Tatsache, die im »offiziellen« okzidentalen Diskurs mit umständlicher Prüderie kommentiert wurde. Massad vermerkt, wie der englische Übersetzer von Tausend und Eine Nacht, Richard Burton, das europäische Publikum 1886 mit unverhohlener Süffisanz und geheuchelter Empörung in das Reich des Verbotenen lockt: »[…] there is another element in The Nights and that is one of absolute obscenity utterly repugnant to English readers, even the last prudish. It is chiefly connected with what our neighbors call La vice contre le nature […].« (Zitiert nach Massad 2007: 20) Das Andere vom Anderen übte jedoch einen besonderen Reiz aus. In Scharen reisten berühmte Europäer wie Gustave Flaubert, André Gide, Thomas Edward Lawrence und Lawrence Durrell in den Nahen und Mittleren Osten auf der Suche nach Kontakt mit der dort angeblich erlaubten Perversion. Die Haremsphantasie hatte dem männlichen Europäer zwar den grenzenlosen Genuss vorgegaukelt, beeinträchtigte aber durch die »Feminisierung« des Orients nicht die Sicherheit von Herrschaft und Dominanz. Strukturell heterosexuelle Besucher wie z.B. Flaubert zeigten sich vor Ort sowohl irritiert als auch angezogen von homoerotischen Angeboten und Genussmöglichkeiten, ohne ihre »Orientierung« grundsätzlich zu wechseln und damit auch nicht die Sicherheit weißer kolonialer Überlegenheit. Komplexer gestalteten sich Affinitäten zu »orientalischen« Liebhabern, wenn sie mit eigenen unterdrückten Neigungen zusammenfielen, wie es bei Lawrence of Arabia (T.E. Lawrence als Vorlage) der Fall war. Jener entzog sich der Dialektik von Macht und Begehren, indem er den arabischen Aufstand gegen das Osmanische Reich, das dem britischen Kolonialinteresse als Schwächung der türkischen Herrschaft im Maghreb und der Levante zupasskam, als Freiheitskampf heroisierte und damit sein Begehren auf Augenhöhe brachte. Eine strukturell »tragische« Rolle spielten »homosexuelle« Orientreisende, die auf der Suche nach dem »Reich der Freiheit« den heimischen Diskriminierungen und Stigmatisierungen im Zuge der neuen Kriminalisierung und Pathologisierung von Homosexualität zu entkommen suchten wie z.B. Oscar

7 | Siehe die bekannten Anmerkungen von Foucault (1983 [1976]: 123). Für eine an gegenwärtige Forschung angepasste Analyse siehe David M. Halperin (2004).

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Wilde und sein Freund Alfred B. Douglas. Hier sieht man einen direkten Zusammenhang zwischen der »Arbeit« des alten Sexualitätsdispositivs und seinem ambivalenten »Export«. William S. Burroughs hat für den auch unter postkolonialen Bedingungen weiter bestehenden »Export« die klarsten Worte gefunden. Zur Stadt Tanger als dem anerkannten »gay heaven« der Region schrieb er: »The special attraction of Tangier can be put in one word: exemption. Exemption from interference, legal or otherwise. Your private life is your own, to act exactly as you please.« (Zitiert nach Boone 1995: 99) Mit der Aussage »exakt das tun zu können, was einem beliebt« wird hier auf einen Knotenpunkt hingewiesen. Auch der »homosexuelle« Mann nähert sich dem orientalischen Begehrensobjekt in der Position des Herrschenden oder sagen wir besser als »Freier«. Beischlaf mit den jungen Männern und Knaben war zwar verhältnismäßig unkompliziert zu erlangen, aber, zumindest von den Europäern, zu bezahlen. D.h. obwohl bis dahin orientalische Gesellschaften mannmännliche Sexualität weder diskursiviert noch als Persönlichkeitsmerkmal betrachtet hatten (Bauer 2011), schuf die Anwesenheit der erotischen Abenteurer eine Prostitutionskultur. Später wird die Phantasie von der muslimischen Welt als »Sexparadies« durch einen florierenden Gay-Sex-Tourismus, z.B. in Marokko, bis in die Gegenwart weitergeführt, wobei gleichzeitig das Modell, was einen »Homosexuellen« ausmacht und dass er sich zu befreien hätte, mit komplexen Folgen und fehlgeleiteten NGO-Politiken exportiert wird (vgl. Erdem et al. 2008). Im Vorgriff auf spätere Ausführungen ist anzumerken, dass seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die reale und diskursive Herrschaft des Kolonialismus beendet ist und die dekolonisierten Nationen als Akteure auftreten. Die Sichtbarkeit der Sexindustrie wird als Demütigung durch frühere Kolonialherren empfunden. Inzwischen ist es durch die Globalisierung westlicher Kategorien auch zu einer Übertragung der Vorstellung, dass es homosexuelle Persönlichkeiten gäbe, im arabischen Raum gekommen, auf die neben staatlichen auch religiöse Autoritäten repressiv reagierten. In gegenwärtigen Analysen über den »Homosexuellen im arabischen Raum« verschwindet vielfach die Komplexität der Entstehungsgeschichte und es wird eine westliche Kategorisierung von Homosexualität als universell vorausgesetzt.8

8 | Das islamische Recht hat schon vor dem Einbruch westlicher Kategorien eigene Unterscheidungen getroffen. Die Strafe für Männer, die bei homosexuellen Handlungen erwischt werden, unterscheidet sich danach, wer der aktive und wer der passive Part war. Hinzu kommen weitere Kategorien wie Volljährigkeit oder ob zuvor bereits eine legitime sexuelle Beziehung bestand oder nicht. Die einzelnen Rechtsschulen kommen teilweise zu unterschiedlichen Bewertungen und Strafmaßen. Zu den Details siehe u.a. die Artikel »Liwa¯t·« und »Zina¯« in der Encyclopaedia of Islam (Ed. 1986; Peters 2002).

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Zusätzlich wird auch in neueren wissenschaftlichen Texten unreflektiert eine seit langem religiös begründete und tabuisierte besondere Homosexualitätsfeindlichkeit der muslimischen »Kultur« vorausgesetzt (vgl. Siraj 2006) und statistisch nachgewiesen, wie das die Sozialforscher_innen Ronald Inglehart und Pippa Norris in einer Auswertung ihres globalen world value surveys getan haben. Die meist bei über 90 Prozent liegende Ablehnung von Homosexualität in muslimischen Ländern (Vergleich Deutschland: 19  Prozent) sei eine ernsthafte Hürde, die verhindere, dass muslimische Gesellschaften trotz gegenteiliger Wünsche zur Demokratie finden könnten.9 Die Sozialwissenschaftler_innen gießen ihre Ergebnisse in die Kurzformel »eros statt demos« (Inglehart/Norris 2003: 65, eigene Hervorhebung). Die Vorstellung von einer spezifischen Tabuisierung von Homosexualität bei Muslimen wurde bekanntermaßen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib von amerikanischen Gefängnisaufseher_innen als Voraussetzung für eine besonders grausame Folter während des Irak-Kriegs ab 2003 angenommen (vgl. Puar 2007).10 Wie bereits erwähnt, gehört die Diskursformation einer angenommen generellen muslimischen Homophobie der postkolonialen Periode an, in der sich der Diskurs über den »Arabischen Mann« substantiell von einer Phantasie erotischer Freizügigkeit und unregulierter Genussfähigkeit in ein verklemmtes und aggressives Register verschiebt, ohne ein prinzipielles Charakteristikum zu verlieren, nämlich als sexualisierter Gegenpart zu europäischen Sexualordnungen zu fungieren (vgl. Bauer 2011). Darüber wird im Folgenden zu reden sein, wenn über die Stellung der Figuration »Arabischer Mann« innerhalb eines »Neuen Sexualitätsdispositivs«  – diesmal der westlichen sexuellen Selbstverwirklichung  – gesprochen wird. Um dahin zu kommen, muss man sich zunächst einer Übergangsphase zuwenden, nämlich der westlichen Sexuellen Revolution, die sich als Widerstandsform gegen hegemoniale bürgerliche Sexual-»Repression« und gegen Kolonialismus verstand. Auch diese Formation hatte für die Figuration »Arabischer Mann« einen besonderen Platz vorgesehen.

9 | Siehe die Kritik an »rassistischen« Implikationen solcher sozialwissenschaftlicher Problematisierungsweisen bei Eric Fassin: »[…] it serves to justify the containment of immigration: ›we‹ need to protect our civilization from ›them‹, presented as sexual barbarians […].« (Fassin 2014: 142) Einer ähnlichen Logik folgt die jüngere UNO-Studie Understanding Masculinities über (rückständige) Männlichkeitsvorstellungen im Mittleren Osten und in Nordafrika (vgl. Promundo 2017). 10 | Die Vorstellung, man könne muslimische Häftlinge besonders effektiv demütigen, wenn man sie zwänge, homosexuelle Akte zu simulieren, war angeregt, wie Jasbir Puar herausgearbeitet hat, von einer »wissenschaftlichen« Studie von Raphael Patai, The Arab Mind (1973).

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D ie S e xuelle R e volution Arabische Befreiungshelden Der koloniale Orientalismus war, wie viele Analysen zeigen, gesättigt mit widersprüchlichen erotischen Phantasien über die »Anderen«. Während in Literatur und Kunst der Kolonialmächte Freiräume und Genüsse ausgemalt wurden, die dem bürgerlichen Tugendkatalog verwehrt waren, agierten und regierten, wie allgemein bekannt, die Kolonialmächte repressiv, gewaltsam und mit verstärktem Druck, als sich Widerstand und Befreiungsbewegungen zu zeigen begannen. Der Strom der erotisierenden Phantasmen schien abzureißen und eine Ära von »De-erotisierung durch De-kolonialisierung« (Shepard 2012: 81) anzubrechen. Das traf auf die herrschenden Schichten der geschlagenen Kolonialmächte auch zu, zumindest was ihre orientalistischen Phantasmen anging. Es betraten jedoch neue europäische Akteur_innen die historische Bühne, die sich aus antikapitalistischen, antifaschistischen und vor allem antikolonialistischen Motiven gegen ihre nationalen Hegemonien erhoben hatten. Ein zentrales Vehikel dieser Jugendrevolte war die sogenannte Sexuelle Revolution. Die erotisierte Kolonialphantasie hatte ja immer die Anderen betroffen – kontrastiert mit einem puritanischen Tugendregime in der eigenen Gesellschaft. Insofern wurde der Kampf um »Sexuelle Freiheit« ein wichtiger Hebel der Selbstsetzung in der eigenen sexualfeindlichen Gesellschaft. Interessanterweise spielten auch hier sexualisierte Figurationen »Arabischer Männlichkeit« eine Rolle, die allerdings eine gegensätzliche Richtung zur kolonial-orientalistischen einschlug. Die Geschichte des französischen Mai 1968 gibt da ein besonders gutes Beispiel ab, weil die algerische Unabhängigkeit (1962) und die Studentenrevolte in großer historischer Nähe lagen und studentische Solidarität mit der algerischen Revolution die Elterngeneration besonders provozierte. Als Urszene des französischen Mai werden allgemein der Aufstand der Student_innen in der Universität Paris-Nanterre gegen das Verbot andersgeschlechtlicher Besucher_innen in den jeweilig monogeschlechtlichen Studentenheimen gesehen (vgl. Seidman 2001: 22). Die Kämpfe um Besuchsrechte wurden von der Universitätsleitung durch eine Vermischung von Argumenten über Sicherheit, Moral, aber auch »rassische« Reinheit verschärft. Die Studentinnen, so hieß es, seien bei unreguliertem »Verkehr« zwischen den Heimen von der sexuellen Aggressivität afrikanischer und besonders arabischer Studenten bedroht. Der rassistische Unterton löste Empörung aus und zog antirassistische Solidarität nach sich (ebd. 25). Neben der internationalen (sexuellen) Solidarität trat noch eine weitere Veränderung des phantasmatischen Raumes »Arabischer Mann« auf den Plan, nämlich die Romantisierung des algerischen Befreiungshelden als Genosse

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und Bruder im Geiste. In einer Fallstudie zu den Reaktionen auf den Film The Battle of Algiers [La battaglia di Algeri (1967) (I/DZ, R: Gillo Pontecorvo)] arbeitet Todd Shepard heraus, wie stark in der Figur des Befreiungskämpfers Ali La Pointe revolutionäre Maskulinität heroisiert und wie sie gegen die Schwäche der besiegten kolonialen Maskulinität gehalten wurde. Die Vorstellungen von der Feminität des arabischen, hetero-erotisierten Haremsherrn und später des homo-erotisierten Jungmannes11 wichen der Imagination einer kämpferischen (heterosexuellen) Hypermaskulinität der Befreiungskämpfer, nach der sich Protagonisten der Studentenbewegung modellieren wollten (vgl. Shepard 2012: 92).12 Interessanterweise schwenkt auch Frantz Fanon in diese Maskulinisierung der algerischen Revolution ein, obwohl er in »Algeria Unveiled« (Fanon 1965a) noch das Hohelied der agency algerischer Frauen gesungen hatte, die die jeweiligen kolonialen Phantasien vom Ver- und Entschleiertsein nutzten, um Bomben und Waffen zu schmuggeln. Im Schlusswort von A Dying Colonialism13 jedoch spricht er nur noch vom algerischen Mann: »The same time that the colonized man braces himself to reject oppression, a radical transformation takes place within him which makes any attempt to maintain the colonial system impossible and shocking.« (Fanon 1965b: 179, meine Kursivierung)14 Die heteronormative Hypermaskulinisierung des revolutionären Kampfes in der Studentenbewegung wird dann später ein wichtiges Motiv für die entstehende

11 | Die Schwärmerei für arabische Homoerotik hielt sich allerdings in einem anderen Register bei einer linken Gruppe von bekennenden Homosexuellen, dem Front Homosexuel d’Action Révolutionaire (FHAR), die Sex mit »Arabern«, besonders Algeriern, zur Avantgarde revolutionärer Aktion erklärte (vgl. Shepard 2012: 103). Ein aktuelles Echo dieses Sentiments findet sich im französischen Kriminalroman La Septième Fonction du Langage (2015, deutsche Ausgabe Binet 2016), das Roland Barthes’ Verkehrstod als Mord uminterpretiert und ihn selbst und besonders Foucault mit arabischen Liebhabern ausstattet. 12 | Vergleicht man die deutsche Geschichte der Studentenbewegung mit der französischen, findet man die spezielle Figuration des arabischen Freiheitshelden weniger; diese Position nimmt die ikonische Figuration Che Guevara ein. Eine wichtige linke Repräsentation des »Arabers« taucht später, wenngleich als sexualisiertes Opfer, in Rainer Werner Fassbinders mehrfach ausgezeichnetem Film A ngst essen S eele auf (1974) (D, R: Rainer Werner Fassbinder) auf, in dem der marokkanische »Gastarbeiter« Ali mit einer deutschen Putzfrau ein sexuelles Verhältnis aufnimmt und beide am deutschen Rassismus scheitern. Für eine eindringliche Analyse siehe Heidenreich 2006. 13 | In Französisch als L’An Cinq, de la Révolution Algérienne 1959 erschienen. 14 | Für eine zusammenfassende Kritik feministischer Positionen an Fanon und auch dem Film The B at tle of A lgiers siehe Moore 2003.

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Neue Frauenbewegung sein, die sich »von den sozialistischen Eminenzen« und ihren »bürgerlichen Schwänzen« (Weiberrat 1968) zu befreien suchte.

Die Studentenbewegung und das Sexualitätsdispositiv Die Studentenbewegung veränderte oder verschob mit der Sexuellen Revolution die Parameter des Sexualitätsdispositivs. Wie bereits ausgeführt, beschrieb es in seiner ursprünglichen Fassung eine Machttechnik, die eine negative Sexualisierung vieler Lebensbereiche und eine Geständniskultur dazu genutzt hat, Menschen zu regulieren. Die sogenannte Sexuelle Revolution schien jedoch angetreten zu sein, eben diesen Weg der Disziplinierung durch Sexualrepression zu verbauen und durch gezielte Tabubrüche wie ostentative Nacktheit, Polygamie und Orgasmus-Thematisierung zu neuen Freiheiten aufzubrechen (vgl. Eder 2005). Als Zeitgenosse der Sexuellen Revolution konzipierte Foucault sein Werk zum Sexualitätsdispositiv allerdings deutlich gegen diese Hoffnung: »Glauben Sie nicht, dass man zur Macht nein sagt, wenn man zum Sex ja sagt« (Foucault 1983 [1976]: 187), spricht er die Apologet_innen der Sexuellen Revolution direkt an. »Sex-Talk« (Shepard 2012: 83) sei Wahrheitspolitik, die Individuen im Irrtum halte, dass im Wissen über ihre Sexualität zur Wahrheit vorzudringen sei. Dieser »Wille zum Wissen« mache die Untersuchung der Geschichte der Sexualität so interessant, denn »bei der Sexualität wurde der wahre Diskurs […] als obligatorischer Diskurs des Subjekts über sich selbst konstituiert« (Foucault 2016: 31). Sexualität sei insofern ein »brennender« Begriff (Foucault 2003 [1976]: 182), der sich ausgezeichnet dazu eigne zu untersuchen, wie Macht und Wissen den Einzelmenschen subjektivierten. Kurzfristig mochten ihm die Revoluzzer von 1968 das nicht glauben. Ihre Sexuelle Revolution skandalisierte schließlich das Bürgertum und fühlte sich wie Provokation und großer Widerstand an. Langfristig, muss hier im Vorgriff festgehalten werden, sollte sich die Foucault’sche Prognose bewahrheiten, dass auch die Sexuelle Revolution zu einer Machttechnik werden könnte in der gegenwärtigen Formation, die ich an anderer Stelle »Sexueller Exzeptionalismus« im Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts nenne (vgl. Dietze 2017b). Auch diese Formation hat einen sehr spezifischen Zugang zur Figuration des »Arabischen Mannes«. Im Sinne der historischen Kontinuität meiner Darstellung möchte ich jedoch noch einmal auf die Sexuelle Revolution als Gegenkultur und ihre Auswirkungen auf den späteren Mainstream der Gesellschaft zurückkommen. Die Sexuelle Revolution war nämlich durchaus erfolgreicher, als vor vierzig Jahren abzusehen war. Von staatlicher Seite wurde auf die Kulturrevolutionen der Sechziger- und Siebzigerjahre zunächst mit Repression und dann mit affirmativen Sexualpolitiken reagiert: Partielle Abtreibungsfreigabe,

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Sexualaufklärung, Pille, Sexualtherapie und Viagra haben nicht nur ein Recht auf geglückte Sexualität etabliert, sondern sie zur Pflicht erhoben, d.h. sexuelle Selbstbestimmung ist sowohl normalisiert als auch normativ geworden. Nach und nach sind auch Felder der durch das alte Sexualitätsdispositiv entnormalisierten Sexualitäten wie Masturbation und Homosexualität (durchaus krisenhaft mit Vor- und Rückschritten z.B. während der AIDS Epidemie in den Achtzigerjahren) in den Mainstream hinein-normalisiert worden (vgl. Engel 2002). Die Hysterie ist als soziale Pathologie ausgestorben und kann insofern nicht mehr für weibliche Gebärunwilligkeit verantwortlich gemacht werden.15 Sexuelle Minderheiten reklamieren erfolgreich »Sexual Citizenship« (Weeks 1998) für sich und Lehrplankommissionen von Bundesländern (Bildungsplan 2015) machen sich Gedanken über eine Akzeptanzerziehung für Homosexualität und eine sexuelle Willkommenskultur für nicht-heteronormative Lebensformen wie Geschlechtsmigration und Transmodulationen. So wenig erfreulich es sich für Zeitgenoss_innen der 68-er-Revolte anhören mag, so lässt sich jedoch kaum bestreiten, dass die Rhetorik von Freiheit und Selbstbestimmung den Weg für eine neoliberale Aneignung von individueller Freiheit als Kapital- und Staatsraison geebnet hat (vgl. Ferguson/Hong 2012: 1058) und dass damit auch die sexuelle Freiheit zu einem Gewaltmittel gegen als »unfrei« etikettierte »Kulturen« und migrantische Bevölkerungsteile geschmiedet werden konnte. Chandan Reddy spricht in seinem Buch Freedom with Violence in diesem Zusammenhang von »sexuality’s hegemonic deployment« (Reddy 2011: 18). Bei diesem Transfer von gegenkulturellen Freiheitsvorstellungen, die sich ja zu Recht gegen eine autoritäre und verklemmte Elterngeneration richteten, kam ein zentrales Element abhanden, was Lisa Duggan als »Dämmerung der Gleichheit« (twilight of equality) beschrieb (Duggan 2003). Die Vorstellung von Freiheit war in der neomarxistisch orientierten Studentenrevolte immer mit der Vorstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit verbunden gewesen. Die neoliberale Kannibalisierung des Freiheitsbegriffs ist von jeder Gleichheitsforderung abgekoppelt. Auf die Funktionsweise eines Sexualitätsdispositivs hat diese Veränderung erhebliche Auswirkungen. Es wandelt sich von einem Sexualitätsdispositiv der vorgeblichen Repression, das an seiner Unterseite eine Sexualisierung von immer mehr Lebensbereichen als Problemzonen mit sich trägt,

15 | Es gibt allerdings gute Gründe, gegenwärtige, stark geschlechtsspezifische Leiden wie Anorexie und Bulimie unter dem herkömmlichen Modell von Hysterie zu betrachten (vgl. Showalter 1999 [1997]). Allerdings handelt es sich hier um Krankheitsbilder, die mehrheitlich der adoleszenten Periode, also der Zeit vor der sexuellen Reife (oder die Krankheit als Vermeidung der sexuellen Reife), zugeordnet sind.

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in ein Sexualitätsdispositiv der vorgeblichen Gewährung. Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt spricht von einem neuen Dispositiv der sexuellen Selbstbestimmung (vgl. Schmidt 2004: 8). Gundula Ludwig identifiziert ein liberalisiertes oder neoliberalisiertes Sexualitätsdispositiv (vgl. Ludwig 2014: 101f.). Die Vorstellung des Anderen wird nun nicht mehr wie im orientalistischen Begehrensmuster von Phantasmen sexueller Exzesse dominiert, sondern vom Gespenst einer angeblich gefährlich rückständigen und unfreien Sexualordnung. Auch dieser Neo-Orientalismus16 bezieht sich, allerdings unter anderen Vorzeichen als der alte, auf den muslimischen Anderen. Jetzt gelten muslimische Ursprungsländer und die europäische Diaspora sexualpolitisch gesehen nicht nur als rückständig (»Kopftuchfrauen« und Patriarchen), sondern auch als strukturell gefährlich, weil der angenommene Triebstau zu sexualisierter Gewalt führen könne. Dabei werden viele Kolonialphantasien postkolonial umgearbeitet. Die Figur des muslimischen Mannes, der die weiße Frau quasi als Sklavin hält, existiert noch. Sie ist aber inzwischen von aller Haremsexotik entkleidet und konzentriert sich auf das »Orientalische Patriarchat«, z.B. im Welterfolg Nicht ohne meine Tochter von Betty Mahmoody (vgl. Mahmoody 1988), die ihre Befreiung aus der muslimischen Knechtschaft mit dem Raub ihrer Tochter durch ihren Ehemann bezahlt und in einer epischen Rettungsaktion ihre Tochter befreit. Daniel Bax betrachtet dieses Buch als eine Initialzündung zur »Dämonisierung des Anderen« (Varela/Mecheril 2016) in Gestalt des »Arabischen Mannes« (Bax 2015: 67-75).17 Der verführerische Scheich ist auch jetzt noch Standardcharakter romantischer Komödien, in denen ein reicher Ölscheich mit Glanz, Geschenken und chevaleresken Manieren eine Frau zu verführen sucht. Jetzt aber erkennt sie im letzten Moment, dass sie ihrer Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung beraubt werden soll, z.B. weil sie sieht, dass der Verführer ein Gangster ist, und wirft sich einem einheimischen Spießer in die Arme.18 Interessanterweise spricht dieser Bildraum weniger von der Gefahr als von der Verführung, einer Verführung allerdings, die in sexueller »Sklaverei« endet.

16 | Siehe den Untertitel »Neo-Orientalismus und Geschlecht« zum Sammelband Kritik des Okzidentalismus (Dietze et al. 2009). 17 | Zeugnisse orientalisch-patriarchalen Machtmissbrauchs gegenüber Frauen sind inzwischen zu einem Genre mit eigenen Regeln geworden. Farzaneh Milani spricht (in Bezug auf die iranische Geschlechterverhältnisse betreffenden Phantasmen) von einem »new literary subgenre«, das sie »hostage narrative« nennt (Milani 2011, 25). 18 | Am Sonntag, den 4.6.2017, konnte diese Erzählung hintereinander in zwei Nachmittagsfilmen beobachtet werden: A uf der Jagd nach dem J uwel vom N il (1985) (USA, R: Lewis Teague) und I ch heirate meine F rau (2007) (D, R: Christine Kabisch).

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Schnittpunkt aller neo-orientalistischen Erzählungen ist jedoch die Wiedergewinnung der weiblichen sexuellen Autonomie. Insofern bewegen sich diese Narrationen auf verwandten Achsen, die auch in der sexuellen Panik um das »Ereignis Köln« (Dietze 2016a) in der Silvesternacht 2015/16 eine Rolle spielen, nämlich dass hier moderne weibliche Freiheit von »Arabern« ausgenutzt wurde. Will man die Diskursexplosion um die Kölner Vorfälle einer Interpretation durch ein Sexualitätsdispositiv zuführen, wird deutlich, dass es einer Neufassung dieser Denkfigur bedarf, die auf die veränderten historischen und vor allem ökonomischen Bedingungen antwortet. Weibliche Bewegungsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung sind von einem im alten Sexualitätsdispositiv zu unterdrückendem Störfaktor zu einem Qualitätsmerkmal und gleichzeitig Imperativ der Moderne geworden. Ungeachtet der Frage, wie real und eingelöst dieses »Emanzipationsdispositiv« ist, nimmt es eine strategische Position für die Exklusion »unfreier Anderer« ein. So gesehen hat das Sexualitätsdispositiv eine Schubumkehr erfahren.

F reiheitsrhe torik als r assisierte S e xualpolitik im  N eoliber alismus Die Machttechnik des alten Sexualitätsdispositivs zielte auf eine Einpassung der Bevölkerung in den sich entwickelnden Kapitalismus. Es korrespondierte mit der Askese der ursprünglichen Akkumulation oder, will man es soziologisch ausdrücken, mit der protestantischen Ethik. Der neoliberale Kapitalismus bedarf eines »flexibilisierten Sexualitätsdispositivs« (Ludwig 2016: 28), über das die Subjekte sich mittels Selbstführung in die Marktnotwendigkeiten eingliedern. Damit verändert sich auch die Bedeutung von race im Neoliberalismus. Zwar ist der semantische Kern von race-Phantasien als dem Ungezügelten und Gefährlichen geblieben. Nur bedrohte er im alten Sexualitätsdispositiv die Zucht im doppelten Wortsinn von Selbstbeherrschung einerseits und race-Vermischung abwehrender Biopolitik andererseits. Im neoliberalen Sexualitätsdispositiv dagegen bedrohen muslimisch rassisierte Migrant_innen die sexuelle Freiheit. Oder – und hiermit kommen wir zu der zweiten Hauptthese des Papiers – insofern die (sexuelle) Freiheit zur zentralen Legitimationsfigur eines modernisierten Neoliberalismus aufgerufen ist, wird der »Arabische Mann« zu einer fetischisierten Figuration der Bedrohung und Gegenstand einer »modern geopolitical visibility« (Amar 2011a: 40). Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf die Besonderheiten des Neoliberalismus einzugehen. Für den Zweck dieser Darstellung kann hier nur skizzenhaft festgehalten werden, dass sich die Kapitalismuskritik darüber einig ist, dass man durch die Globalisierung größter Teile der Weltökonomie in ein neues Stadium des Kapitalismus eingetreten ist. Die Nachkriegsökonomie sei

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vom Wiederauf bau19 und einer Zähmung des Kapitalismus durch wohlfahrtsstaatliche Regulierungen und Keynesianische Staatsintervention gekennzeichnet gewesen. In den Achtzigerjahren habe mit Ronald Reagan in den USA, Margaret Thatcher und später Tony Blair in England und Gerhard Schröder und Joschka Fischer in Deutschland ein neoliberales Umlenken der Ökonomie auf Marktfreiheit (Deregulierung), Verschlankung des Staates (Steuerreduzierungen) und Ökonomisierung des Sozialen (Aufgabe von staatlicher Daseinsfürsorge) eingesetzt. Sozialpolitisch bedeutet das eine Umverteilung von unten nach oben.20 Wenn es zu einer so gigantischen Umstrukturierung zum Nachteil vieler Bürger_innen gekommen ist, bleibt die Frage, warum sich so wenig Widerstand regt. Einer der wichtigsten Interpreten ist wiederum Foucault, indem er die Kategorie Gouvernementalität einführt, die eine Verinnerlichung von Regierungshandeln durch die Regierten beschreibt.21 Eine Devise der neoliberal verfassten Staaten sei es, so wenig wie möglich (sichtbar) zu regieren, sondern die Führung der Bürger_innen durch eine Selbstführung zu ersetzen. Danach würden die Individuen nicht mehr als Untertan_innen, sondern als souveräne Marktakteur_innen, als Unternehmer_innen ihrer selbst angesprochen (vgl. Bröckling 2013). Fehlender wirtschaftlicher Erfolg sei dann nicht mehr auf ausbeuterische kapitalistische Bedingungen oder Staatsversagen zurückzuführen, sondern geriete zu einer Frage persönlichen Versagens. Lisa Duggan diagnostiziert, dass im politischen Raum die Ökonomie zu einer Frage neutraler technischer Expertise reduziert worden sei. Die staatliche Daseinsfürsorge für die Bürger_innen sei damit aus dem Blick geraten und Wirtschaftshandeln mithin zu einer Privatangelegenheit und persönlicher Verantwortung geworden, indem wirtschaftliche Deprivilegierung keine Klassenfrage mehr sei, sondern eine Folge wirtschaftlich unklugen Verhaltens (vgl. Duggan 2003: 12). Für die Fragestellung dieses Aufsatzes ist nun zu klären, ob und wie Neoliberalismus mit einem neuen oder alten Sexualitätsdispositiv in Verbindung steht und welche systematische Position race darin hat. Hier wäre auf die oben 19 | In den USA setzt man den Beginn der Keynesianischen Periode mit der Rooseveltschen New Deal-Politik der 1930er-Jahre an. 20 | Von der inzwischen unübersehbaren Literatur zu Neoliberalismus als ökonomischem System verweise ich beispielhaft auf David Harvey (2007). 21 | Foucaults viel zitierte Definition von Gouvernementalität lautet: »Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.« (Foucault 2005 [1981/1985]: 171f.)

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angesprochene »geopolitische Sichtbarkeit« zurückzukommen, die nach Paul Amar den »Arabischen Mann« auszeichnet. Für die Präzisierung der Fragestellung unterscheidet Amar zwei Stufen des Neoliberalismus. In seinem ersten Stadium habe er sich über Deregulierung und Marktliberalisierung legitimiert. Die diversen »Krisen« des Kapitalismus, so hieß es, seien Effekte der Fesselung der Märkte durch arbeitnehmerfreundliche Gesetzgebung und Vorschriftenexzesse. Durch die Befreiung des Marktes könnten diese Krisen nicht nur vermieden werden, sondern neues Wachstum und neuer Wohlstand erzeugt werden. Voraussetzung dafür sei, ein »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2013) zu entwickeln, das für seine Bemühungen als Marktsubjekt belohnt würde. Das »konstitutive Außen« des neoliberalen Musters waren insofern Empfänger_innen von Sozialleistungen, die einer neoliberalen Steuersenkungspolitik im Wege standen. Hier kam es schnell zu einer Rassisierung der Bedürftigen und Pauperisierten. In den USA fokussierte man sich auf die Figuration der afroamerikanischen welfare mother (vgl. Omi/Winant 1986) als jemand, der staatliche Leistungen ausnutzt. In Europa, besonders in Frankreich, aber auch in Dänemark, den Niederlanden und Großbritannien, gerieten muslimische Migrant_innen in den Fokus einer Erzählung über Sozialschmarotzertum. In Deutschland wurde dieses Narrativ prominent angeführt von dem damaligen Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und SPD-Politiker, Thilo Sarrazin, der mit seinem gegen Migrant_innen türkischer Herkunft gerichteten sozialdarwinistischen Pamphlet Deutschland schafft sich ab (2010) ein Horrorszenario von kopftuchbewehrten und/oder patriarchalischen muslimischen Hartz-IV-Empfänger_innen entwarf.22 Der spätmoderne Neoliberalismus bedurfte neuer Erzählungen und legitimierte sich im Zuge unterschiedlichster ökonomischer, politischer und ökologischer Unsicherheiten nun über »security governance«. Während ökonomische Ziele de-thematisiert wurden, rückten »securitized human subjects« ins Zentrum der Aufmerksamkeit: »particularly those of sexualized gender and racialized class, as informed by both colonial legacies and new imperatives of transnational humanitarian discourses and parastatal security industries« (Amar 2011a: 39). Zwar bezieht sich Paul Amar hauptsächlich auf die Sexualisierung des Aufstandes am Tahrir-Platz in Kairo 2011, weist aber darauf hin, dass ähnliche Fokussierungen auf eine arabische »Zeitbombenmaskulinität« (timebomb-masculinity) muslimischer Männer ebenso in der europäischen

22 | Für eine substantielle Kritik des Zusammenhangs von Neoliberalismus, antimuslimischem Rassismus und Sozialneid siehe die Anthologie Rassismus in der Leistungsgesellschaft (Friedrich 2011) und dabei insbesondere den Artikel von Christoph Butterwegge (Butterwegge 2011).

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Diaspora stattfinden (vgl. Amar 2011b: 315; Bhattacharyya 2008). In der moralischen Panik um das »Ereignis Köln« hat diese Struktur ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden. Parallel zu den beiden Stadien des Neoliberalismus identifiziert Amar auch zwei Stadien der Sexualisierung muslimischer Anderer in der westlichen Perspektive. Im ersten Stadium habe man sich auf einen privaten Sektor angeblich kultureller Rückständigkeit fixiert (Amar 2011b: 303). Diese Struktur ist leicht in den bereits erwähnten epischen Debatten um das Kopftuch, den muslimischen Patriarchen, häusliche Gewalt »Zwangsheirat« und Ehrenmord zu identifizieren. In einem zweiten Stadium habe sich der Schwerpunkt ganz im Sinne des Sicherheitsdispositivs auf öffentliche Räume und angebliche soziale Gefährdung verschoben und damit den »Arabischen Mann« ins Zentrum einer »sexualized human security governance« (ebd. 309) gerückt. Amars tiefenscharfe Einordnung beleuchtet die Logik einer bestimmten Zuspitzung und Dynamik von Diskriminierung innerhalb des neoliberalen Settings. Sie ist jedoch nicht damit befasst, was sie auf der Seite der Hegemonie produziert und was sie konstituiert. Die Problematisierung des »Arabischen Mannes« als sexuellem Gefährder korrespondiert mit einer spezifischen Position, die der sexuellen Freiheit nicht mehr nur in subkulturellen Milieus, sondern generell im Mainstream der Gesellschaft eingeräumt wird. Ein gutes Beispiel dafür ist das Dossier »Wer ist der arabische Mann?«, das die Wochenzeitung Die Zeit zwei Wochen nach den »Ereignissen von Köln« herausbrachte.23 Neben der bekannten Melodie, dass sich der »Arabische Mann« nicht in die abendländische Zivilisation einpassen könne, weil »Kultur«, Ethnizität und Religion ihn in einer unveränderlichen Rückständigkeit fixierten, kam es zu erstaunlichen Aussagen über die westliche sexuelle Freiheit bei gleichzeitig allgemein akzeptiertem Schutz für Frauen. Der leitende Redakteur des Zeit-Dossiers, Bernd Ulrich, schrieb: »Jede Frau kann zu jedem Mann (auch dem Ehemann), an jedem Ort (auch im Bett) und in jeder Bekleidung (auch nackt) und zu jedem Zeitpunkt (auch beim Sex) Nein sagen. Und dieses Nein gilt! […] Die zweite Wahrheit heißt: Wenig spricht dafür, dass sich alle arabischen Männer, die jüngst in Deutschland aufgenommen wurden, ohne Weiteres diesem Konsens fügen werden.« (Ulrich 2016: 3)

Zunächst zwei Kommentare zu diesem Zitat: Erstens wird mit der Anspielung auf einen Konsens, dem man sich nicht »fügen« wolle, suggeriert, dass es sich bei sexueller Belästigung abstammungsdeutscher Frauen durch »Arabische

23 | Siehe ausführlicher zum Zeit-Dossier Dietze 2016b (161-164).

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Männer« um einen Akt des Widerstandes gegen die Sexualordnung des Gastlandes handele – das unterstellt auch die sich als Feministin verstehende Frauenbewegungsveteranin Alice Schwarzer in ihrem Pamphlet Der Schock (2016), indem sie von intentionalen sex wars spricht, die der politische Islamismus gegen die abendländische Frauenemanzipation führe. An solchen Haltungen und Texten kann nachvollzogen werden, wie sehr die Töchter der sexuellen Revolution – Schwarzer hatte mit ihrem Pamphlet Der kleine Unterschied und seine großen Folgen (1977) entscheidend zur sexuellen Befreiung von Frauen beigetragen  – sich von der Frage der sozialen Gerechtigkeit und Rassismuskritik gelöst haben und damit Pfadfinderinnen für die neoliberale Vereinnahmung der Rhetorik der Studentenbewegung werden konnten.24 Zweitens war die Aussage, jede Frau könne straf bewehrt in jeder Situation »Nein« sagen, zum Zeitpunkt, als sie getroffen wurde, schlicht falsch. Denn erst im Juli 2016, Monate nach dem Artikel, wurde nach harten Kämpfen die »Nein-Regel« mit einer Novelle des Sexualstrafrechts als Rechtsgut anerkannt. Gleichzeitig wurde erstmalig gruppenförmige sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum unter Strafe stellt. Ein echter Fall von »Post Kölnialismus«, wie die Ortsgruppe Bochum des Jugendverbands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) eine Veranstaltung zur Verflechtung von Geflüchteten mit sexueller Gewalt benannt hat.25 An dieser Stelle ist der projektive Charakter des Neoliberalismus besonders gut zu erkennen. Der Triumphalismus, mit dem der Zeit-Redakteur einerseits die sexuelle Freiheit und andererseits das Geschütztsein der weißen deutschen Frau in ihrem weißen Habitat behauptet, erleuchtet exakt die Schwachstellen der hegemonialen Sexualordnung. Es wird eine Fassade der Emanzipation über ein Rechtssystem gelegt, das bis dato weder die sexuelle Souveränität der Frau noch die Straf bewehrung von sexueller Belästigung im öffentlichen Raum garantieren wollte, die, wie sicher nicht mehr betont werden muss, eine patriarchale Unart ist, der sowohl gegenwärtige Präsidenten der USA als auch Volksfestbesucher jeder Couleur nachgehen, und keine muslimische Spezialität. Aus dem oben Argumentierten kann man ersehen, dass Sexualität zu einem zentralen Qualitätsmerkmal neoliberaler Freiheit geworden ist. Die Queer of Color-Theoretiker_innen Roderick A. Ferguson und Grace K. Hong schreiben in diesem Zusammenhang: »Sexuality becomes partly a sign that reestablishes liberal freedom as the condition of violence within and outside the nation state.« (Ferguson/Hong 2012: 1059) Das erklärt auch, warum es einer 24 | Für eine beispielhafte Analyse dieser Zusammenhänge siehe die Studie In an Abusive State. How Neoliberalism Appropriated the Feminist Movement against Sexual Violence von Kristin Bumiller (2009). 25 | Mithu Sanyal, zitiert in facebook.com/DGBJugendBochum/, siehe auch eine andere Schreibweise von Massimo Perinelli (Perinelli 2016).

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rassisierten Instanz zur Markierung von angeblicher sexueller Rückständigkeit bedarf. Noch einmal Ferguson/Hong: »[…] neoliberalism’s relationship to sexuality [has to be seen] as one characterized by racial projects, an accumulation that produces the political and economic condition for inciting and regulating racialized gender and sexual formations.« (Ferguson/Hong 2012: 1057, meine Kursivierung)

C onclusio Man muss sich nach dem Dargelegten also nicht wundern, dass die Figuration »Arabischer Mann« als Gefährder eine so überdimensionierte Rolle in der gegenwärtigen okzidentalen Selbstkonstruktion einnimmt. Wenn man der obigen Analyse folgt und der Sexualisierung von Freiheit in der Moderne eine entsprechende Rolle einräumt, dann trägt das Echo der Erotisierung des »Arabischen« im kolonialen Orientalismus zu einer entsprechenden Fixierung bei. Die semantische Aufladung des »Arabischen Mannes« mit verbotener Sexualität hat eine lange Geschichte. Garantierte sie im Zeitalter des Kolonialismus das europäische Tugendregime europäischer Zivilisationsüberlegenheit, sind es jetzt die angeblich etablierten westlichen sexuellen Freiheiten und Selbstverwirklichungen, die den Anspruch auf »kulturelle« Vormacht markieren.26 Es wurden lediglich die Vorzeichen gewechselt, wie man an der Veränderung des Sexualitätsdispositivs beobachten kann. Nun stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, eine Denkfigur wie das Sexualitätsdispositiv zu erhalten und nachzuarbeiten, wenn seine ursprüngliche Formulierung viel an Beschreibungsmacht verloren hat und eine systematische Blindstelle bezüglich des mit ihm transportierten Rassismus aufweist. Wie aus den Darlegungen zu ersehen ist, plädiere ich jedoch nicht für eine Aufgabe, sondern für eine den gegenwärtigen Bedingungen angepasste Neukonzeption, die nach Formulierungen von Paul Amar dem »liberalism-sexuality-nexus« (Amar 2011a: 46) gerecht wird. Die unhintergehbare Qualität der Denkfigur besteht darin, zu analysieren, dass über die »Anreizung« von Sexualität – in der alten Form über scheinbare Repression, in der neuen Form über scheinbare Freiheit  – Macht ausgeübt wird und Wissensregime erstellt werden. Nach wie vor werden mit Fixierung auf Sexualitätsdiskurse »Wahrheit« gesucht und Ein- und Ausgrenzungen vorgenommen.

26 | Paul Amar spricht von einer sexualisierten Konfrontation: »This binary re-animates the dualism West versus East, implying that a realm of sexuality is the driving force of modernity, with some focusing of its power to incite and dominate others underlining sexuality as a realm of eroticised autonomy and emancipation.« (Amar 2011a: 43)

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In einer auf den Neoliberalismus kalibrierten Revision des Sexualitätsdispositivs muss Rassismus einen systematischen Platz einnehmen. Das begründet sich zum einen damit, dass Rassismus, wie er an den vielen rechtspopulistischen Bewegungen der westlichen Welt unbestreitbar zutage tritt, ein Abwehr und Verschiebemechanismus der stattfindenden Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben ist. Die Skelettierung des Sozialstaates erzeugt Unzufriedenheit, die über die Behauptung, dass »Fremde« (sprich in der konkreten Situation: geflüchtete junge Männer) unzulässig viel Leistungen erhielten, die der »Abstammungsbevölkerung« zustünden, zu kanalisieren ist. Rassismus ist in diesem Zusammenhang also keine Vorurteilsstruktur von ungebildeten Hinterwäldler_innen, sondern eine Regierungstechnik, Kohäsion in einer ökonomisch auseinanderdriftenden Bevölkerung herzustellen (vgl. Lazzarato 2009: 131). Zum anderen dient Rassismus dazu, die Fama von der sexuellen Freiheit als Merkmal einer überlegenen Zivilisation zu etablieren. Hindernisse, die sich wirklicher Emanzipation von Frauen und homosexuellen Menschen entgegenstellen, werden unsichtbar, wenn sie auf der Folie von rassisierter »Rückständigkeit Anderer« gelesen werden. Leider nehmen einige Queers und weiße Frauen  – auch feministische  – an der Erzählung von der Gefährlichkeit des »Arabischen Mannes« als homophob und misogyn teil. Letzteres hat mit der zentralen Position des Sicherheitsdispositivs in der Legitimation des neoliberalen Gesellschaftsmodells zu tun. Wenn der Freiheitsbegriff auf sexuelle Selbstbestimmung verengt wird, fühlen sich insbesondere sichtbare sexuelle Avantgarden und homosexuelle Menschen, die ihre Neigung im öffentlichen Raum nicht verbergen, gefährdet und einige davon rufen staatlichen Schutz an. Die Gefährlichkeit des »Arabischen Mannes« kann dann zu einem Avatar einer »Mikropolitik der Unsicherheit«27 werden, die das Sicherheitsdispositiv hell erstrahlen lässt. Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass eine »sexualized human security governance« (Amar 2011a: 37) nicht eines bestimmten rassisierten »Anderen« wie dem »Arabischen Mann« bedarf. In den USA gruppieren sich die Sicherheitsdispositive eher um den afroamerikanischen Mann, in Australien dämonisiert man den asiatischen Mann als gefährlichen, abzulehnenden Migranten. Dass in Europa der »Arabische Mann« ab der Jahrtausendwende

27 | Maurizio Lazzarato schlägt vor, die Formulierung »micropolitics of insecurity« von Gilles Deleuze und Félix Guattari statt der eingeführten Bezeichnung »Sicherheitsdispositiv« zu benutzen: »[…] the administration of a major organized ›molar security‹ has its correlate, a micro-politics of little fears, a whole ›molecular insecurity‹ which is permanent, so much so that the formula ›home affairs‹ could be: a macropolitics of society for a micropolitics of insecurity.« (Lazzarato 2009: 120)

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diese spezifische Rolle einnimmt, ist kontextgebunden und hat mit der Migration muslimischer Menschen unterschiedlicher Herkunftsländer nach Europa und dem Zuzug Geflüchteter nach den diversen Nahostkriegen zu tun. Wichtig ist lediglich, dass die Abwehrfiguration männlich gedacht wird und dass – wenn man die sexualpolitische Aufstellung des Neoliberalismus betrachtet – die strategische Rolle, die Frauen- und Homosexuellenemanzipation darin spielt, in Rechnung zieht.28 In Deutschland kann man im Gegensatz zu Frankreich keine orientalistische Kontinuität oder besondere Figuration des »Arabers« in der Studentenbewegung entdecken. Trotzdem fügt sich hierzulande die diskontinuierliche Geschichte dieser Abwehrfiguration zu einem rassisierten Bedrohungsszenario zusammen, das für die nationalen Diskurse alarmierende Bedeutung gewonnen hat. Diese »Bedeutung« hat verletzende und manchmal tödliche Auswirkung auf das Leben muslimischer Männer in der europäischen Diaspora. Die obige Darlegung beabsichtigte einerseits, die historische Wandelbarkeit dieser Figuration zu zeigen und dazu beizutragen, alle damit einhergehenden Naturalisierungen zu verflüssigen. Andererseits sollte ihre systematische Funktion in der Legitimation neoliberaler Hegemonie sichtbar gemacht werden.

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28 | Für die omnipräsente Stigmatisierung des »brown man« in kolonialen und postkolonialen Zusammenhängen siehe Brunner 2016.

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»Ist das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch?« Feldnotizen aus der Multikulturalismusdebatte Sarah Bracke und Nadia Fadil

E inleitung Seit den späten 1980er-Jahren werden in Westeuropa diverse öffentliche Debatten geführt, in denen unzählige Themen wie etwa Migration, Integration, kulturelle Identität, Islam und Säkularismus miteinander verwoben werden. Für Großbritannien werden die Veröffentlichung von Salman Rushdies Roman Die satanischen Verse im Jahr 1988 sowie die sich anschließenden Diskussionen und Demonstrationen üblicherweise als Anfangspunkt dieser Debatten begriffen. In Frankreich kam der ersten affaire du foulard diese Ehre zu. Hier wurden 1989 drei Schülerinnen in Creil vom Unterricht suspendiert, da sie sich weigerten, das Kopftuch im Klassenraum abzulegen. Im niederländischen Kontext war es der Politiker Frits Bolkestein (VVD), der das Versagen der niederländischen »Integrationspolitik« sowie die Unvereinbarkeit zwischen dem Islam und westlichen liberalen Werten in seiner bekannten Luzerner Ansprache auf dem Kongress der Liberalen Internationale 1991 feststellte. Diese öffentlichen Diskussionen stellten sich selbst als Wege dar, »Diversität zu erörtern« (Blommaert/Verschueren 1998), und wurden in vielen Fällen als »Multikulturalismusdebatten« bekannt. Der Gebrauch von Ausdrücken wie »das multikulturelle Drama«  – etwa durch den niederländischen Essayisten Paul Scheffer – zeugt davon, dass bereits mit Beginn dieser Debatten »die multikulturelle Gesellschaft« problematisiert wurde. Jedoch nahmen diese Problematisierung bei Weitem nicht nur jene vor, die »den Multikulturalismus« kritisieren wollten. Tatsächlich bewegte sich die Verteidigung kultureller Pluralität oft auf ebenso unsicherem Boden, indem spezifische Verständnisse und Affirmationen von Identität und Kultur problematisiert und zugleich andere konsolidiert wurden. Überdies sind in jüngerer Zeit unterschiedliche Stimmen aus der politischen Elite Europas zu vernehmen, die nachdrücklich »das Ende des

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Multikulturalismus« verkünden (Lentin/Titley 2011). Bei all dem ist der Begriff »Multikulturalismusdebatte« keinesfalls rein deskriptiv. Eher verweist er auf einen Diskurs, der Debatten um Identität und Kultur auf spezifische Weisen strukturiert und demnach jeweils situiert und kontextualisiert werden muss. Dieser Text untersucht die Zirkelschlüsse genauer, in denen sich bestimmte Gespräche der Multikulturalismusdebatte verfangen. So werden Fragen und Themen in einer Weise angeordnet, die den Verlauf des Gesprächs, aber auch die Bandbreite der Antworten vorstrukturieren. Wir möchten hier diese Gespräche insbesondere an der Schnittstelle von kultureller Pluralität und Geschlecht diskutieren. Viele dieser Diskussionen kreisen um die Frage, ob »Multikulturalismus schlecht für Frauen ist«  – um eine bekannte Untersuchung von Susan Moller Okin zu paraphrasieren (Cohen et al. 1999). Diese Schnittstelle verweist auf bestimmte Vorstellungen von Geschlecht, die vorstrukturieren, wie Multikulturalismusdebatten erzeugt und begriffen werden, d.h. wie die »multikulturelle Gesellschaft« imaginiert und diskutiert wird. Dies offenbart, dass Geschlecht als eine entscheidende Kategorie bei der Herstellung von kultureller Differenz sowie in der Konstruktion des nationalen Selbst und seiner Anderen dient. Das Kopftuch bildet eine zentrale Figur an der Schnittstelle von Geschlecht und kultureller Pluralität, aber auch genereller in den Debatten über Multikulturalismus. Während viele Debattenteilnehmende die Verschleierung als ein Zeichen von weiblicher Unterdrückung deklarierten, haben sich andere darauf eingelassen, die vielfältigen Bedeutungen der Verschleierung zu verstehen. Die Forschung war außerdem verstärkt darum bemüht, die »aktive Handlungsfähigkeit« verschleierter Frauen deutlich zu machen (siehe Khosrokhavar 1997; Silvestri 2008). Als Fallbeispiel unserer Untersuchung dient die immer wiederkehrende Frage zur Verschleierung, die über zwanzig Jahre hinweg zu einem wichtigen Referenzpunkt von Multikulturalismusdebatten in ganz Europa wurde: Ist das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch? Wir wollen hier nachhaken und fragen, was passiert, wenn diese Frage gestellt wird, und außerdem darüber nachdenken, wie wir selbst daran mitwirken. Wir selbst wurden beide im letzten Jahrzehnt vielfach eingeladen, uns an solcherlei Debatten zu beteiligen. Auf diese Weise wurden wir in der Sprache verhandlungssicher, die diese Gespräche verlangen.1 Wir schreiben folglich aus der Position der beteiligten Intellektuellen, die regelmäßig zu Diskussionen und Gesprächen eingeladen werden, aus denen sich die Multikulturalismusdebatte zusammensetzt. Während wir diese

1 | Allein während unserer Arbeiten an diesem Artikel wurden wir zu zwei Diskussionen mit genau diesen Fragen eingeladen, einer im belgischen Parlament und einer im akademischen Kontext.

»Ist das Kopf tuch unterdrückend oder emanzipatorisch?«

Debatten in unserer wissenschaftlichen Arbeit kommentiert und kritisiert haben (siehe Bracke/Fadil 2009), sind wir ebenso Teil politischer Mobilisierungen, sozialer Bewegungen und Aktionen, die sich auf Fragen von kultureller Pluralität beziehen. Insofern interagieren und navigieren auch wir immer wieder in dem besagten Rahmen der Multikulturalismusdebatten, und auch wir haben uns diesen Rahmen angeeignet. All dies, um Wege zu finden, unsere Kritiken zu artikulieren, die oftmals auf den Rahmen selbst abzielten. Diese Form der Positionierung, des Oszillierens zwischen akademischer Kritik und Dekonstruktion einerseits und politischer Beteiligung und Aktion andererseits, ist alles andere als angenehm. Dennoch kann es unter Umständen fruchtbar sein, wenn Dis/Konnexionen, unbehagliche Übersetzungen und Frustration darüber, wie Diskurse konkretes Reden und Handeln strukturieren und begrenzen, in unser Verständnis davon eingehen, wie soziale Wirklichkeit zustande kommt und verändert werden kann. In diesem Beitrag reflektieren wir über den performativen Effekt der Frage, was in diesem Kontext reproduziert wird, welche Arten von Diskussionen befähigt und welche Vorstellungen, Rede- und Handlungsweisen möglich gemacht werden. Dabei umreißen wir im ersten Teil knapp unsere theoretische Perspektive auf Multikulturalismus als den größeren Rahmen, in den unser Fallbeispiel eingebettet ist. Wir unterscheiden dabei drei analytisch verschiedene, jedoch aufeinander bezogene (und sich häufig überschneidende) theoretische (und zugleich methodologische) Ansätze. Dieser Abschnitt beschreibt, was wir meinen, wenn wir behaupten, Multikulturalismus sei keinesfalls ein deskriptiver Begriff. Im zweiten Teil rekapitulieren wir knapp den Stellenwert von Geschlecht in Multikulturalismusdebatten und argumentieren, dass Geschlecht die Multikulturalismusdebatte effektiv strukturiert. Diese kurzen Diskussionen bilden die Grundlagen für unsere daran anschließende Analyse dazu, was in öffentlichen und akademischen Debatten geschieht, die von der wiederkehrenden Frage »Ist das Kopftuch für Frauen unterdrückend oder emanzipierend?« geprägt sind. Unsere Analyse berücksichtigt im Speziellen die Wirkungsweise hegemonialer Vorstellungen von Handlungsmacht und Rechten und stützt sich dabei auf die grundlegenden Überlegungen von Saba Mahmood (insbesondere Mahmood 2005).

E ine kritische A nnäherung an den M ultikultur alismus Wir verstehen Multikulturalismus nicht als einen deskriptiven Begriff, der eine spezifische Gesellschaftsform vermeintlich charakterisiert oder auf einen gestiegenen Grad von »Diversität« innerhalb einer bestehenden Gesellschaft verweist, sondern als einen Schauplatz der kritischen Befragung. Wie David Theo Goldberg (1994) feststellte, kann Multikulturalismus nicht einfach auf

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eine politische Doktrin oder auf ein intellektuelles Paradigma, einen pädagogischen Rahmen und eine akademische Rhetorik oder auf eine institutionalisierte Lehrmeinung und radikale Kritik reduziert werden. Es ist nicht möglich, die Bedeutung von Multikulturalismus in einer Weise zu fixieren, die seinen vielfältigen symbolischen und materiellen Wirklichkeiten (oder in den Worten Goldbergs: Anliegen und Überlegungen, Prinzipien und Praktiken, Konzepten und Kategorien) gerecht würde. Eine kritische Untersuchung des Multikulturalismus muss zudem den historischen Kontext und den geopolitischen Standort der »Multikulturalismusdebatten« problematisieren. Denn diese werden vor allem im postkolonialen Kontext und in neokolonialen Dynamiken virulent, in der Dezentrierung des Westens und der wachsenden Globalisierung mit ihren Effekten auf den Nationalstaat, die aber auch durch neue Bewegungen postkolonialer Migration geprägt sind. Damit verstehen wir diese gegenwärtigen Debatten auch als Selbstverständigungsdebatten über die Veränderungen nationaler und kultureller Identitäten in und von Europa. Mit anderen Worten betrachten wir Multikulturalismus als komplementär zum Nationalismus und schlagen entsprechend vor, Diskussionen über »kulturelle Unterschiede« und »das Andere« in Wechselwirkung mit Diskussionen um »das nationale Selbst« zu betrachten. In diesem Sinne begreifen wir Multikulturalismus als ein epistemologisches Feld, das entlang bestimmter Ausschlussmechanismen strukturiert ist und dem zugleich eine funktionelle Rolle in der Konstitution der Idee einer »Nation« zukommt. In methodologischen Begriffen bedeutet dies, »Multikulturalismus« als Dispositiv zu analysieren. Ein Dispositiv, das unterschiedliche Felder von zu problematisierenden Dingen erzeugt: »Integration« als neues Forschungsobjekt, das ein spezifisches Set von Akteur_innen identifiziert  – »die Immigrant_innen« oder »Muslim_innen« – und das zudem von einem institutionellen Apparat begleitet wird, der versucht, das nicht-integrierte »Andere« zu verändern, um es in den sozialen Körper einzuschließen (Schinkel 2008, siehe auch Schirin Amir-Moazami in diesem Band). Multikulturalismus kann demnach nicht einfach auf ein soziales Thema unter vielen anderen reduziert werden, sondern muss als ein machtvolles Feld betrachtet werden, das seine eigenen Diskursobjekte konstruiert und formt und dabei Individuen entsprechend der so erzeugten Kategorien reguliert (wie zum Beispiel die »Integrierten« vs. die »Nicht-Integrierten«). Unsere kritische Analyse der Multikulturalismusdebatte geht drei unterschiedlichen Forschungsperspektiven nach, die sich in vielen wissenschaftlichen Arbeiten überschneiden und auf eine poststrukturalistische und postkoloniale Machtanalytik zurückgreifen. Mit diesen Perspektiven wollen wir vor allem auf die verschiedenen Dimensionen aufmerksam machen, durch die Macht in diesen Debatten wirkt. Zunächst stellt sich die generelle Frage der Rahmung: Auf welche Weise werden diese Debatten gestaltet und wie reguliert der Rahmen die Vorstellungen

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von kultureller und religiöser Differenz? Wie Judith Butler deutlich macht, sind Rahmen oder Raster machtvolle Operationen, die auf ontologischer, epis­ temologischer und ethischer Ebene wirken. Sie regulieren die affektiven und ethischen Dispositionen, durch die Phänomene nicht nur verstanden, sondern auch hergestellt werden. Raster spielen vor allem eine Rolle dabei, was in welcher Weise problematisiert wird. Minderheitenpositionen sind in hegemonialen Rastern besonders schwer hörbar, weil die Fragen und Themensetzung zumeist in einem Rahmen stattfinden, der dominante Machtbeziehungen stützt. Register spielen ebenso eine Rolle dabei, wer und was als Subjekt, als Teil eines weiteren Verständnisses von (Mit-)Menschlichkeit oder als eine Lebensform anerkannt wird, die es zu (be-)schützen gilt. Die Frage nach der Anerkennung von Leben, der sich Butler widmet, birgt die Frage nach Normen und Normativität: Welche Normen operieren bei der Produktion spezifischer Subjekte als »(an-)erkennbare« Personen und erschweren zugleich die (An-)Erkennung anderer (Butler 2009)? Multikulturalismusdebatten liefern vielfache Möglichkeiten sowie eine Fülle an Material, um aufmerksam zu untersuchen, wie Subjekte gerahmt wurden und werden. Ein wesentliches Argument bezüglich der Rahmung im Kontext von kultureller Pluralität stammt von Jan Blommaert und Jef Verschueren (1998) und ihrer Analyse des öffentlichen Diskurses um Multikulturalismus in Belgien. Die Autoren argumentieren, dass diese Debatten kulturelle Differenz in der Tat als per se problematisch verhandelten. So setzten die Debatten die Idee einer homogenen Gesellschaft voraus (von Blommaert und Verschueren als Ideologie des Homogenismus beschrieben), die entsprechend eines partikularen und fiktiven Verständnisses von gesellschaftsbildenden und -stabilisierenden Normen und Werten definiert sei. Diese Ideen würden nun durch die Fragen von Diversität und kultureller Pluralität herausgefordert. Die Anwesenheit ethnischer Minderheiten als »Herausforderung durch Diversität« zu entwerfen, führe nicht nur dazu, diese Minderheiten als »anders« zu konstituieren und damit aus dem nationalen Kollektiv auszuschließen, sondern zugleich auch ein bestimmtes nationales Selbst zu konstruieren und zu inszenieren. Die zweite Dimension einer kritischen Betrachtung von Multikulturalismusdebatten zeigt sich in der Fokussierung auf die ineinandergreifende Konstruktion von Eigenem und Fremden. Eindeutig offenbaren Debatten über das Andere Konstruktionen und Verhandlungen des Eigenen. Durch die Analyse von Diskursen um kulturelle Pluralität, d.h. durch das Aufspüren dessen, wie Eigenes und Fremdes in den Debatten konstruiert wird und welche Mechanismen und Repräsentationen diese Konstruktionen stabilisieren, können Krisen und Transformationen des nationalen Selbstbildes nachvollzogen werden. Eine solche Analyse einer öffentlichen Multikulturalismusdebatte findet sich etwa in der Arbeit von Ghassan Hage. Bei seiner Betrachtung multikultureller

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Diskurse in Australien zerlegt Hage, wie Andersartigkeit in der Präsentation des nationalen Selbstbildes funktioniert, und beschreibt die Funktionalität »des Anderen« für das Eigene wie folgt: Multikulturalismus trete vor allem deshalb als zentrale gesellschaftliche Option auf, weil er als Lösung für ein Problem der dominanten (weißen) Gesellschaft erscheine. Kulturelle Pluralität erfülle damit eine Funktion für den nationalen Körper; sie diene als eine Technologie des (nationalen) Körpers. Die Beziehung von Äußerlichkeit zwischen dem Eigenen und dem Fremden müsse jedoch in ihrer Komplexität sorgfältig untersucht werden. Einerseits verfüge kulturelle Pluralität in Form »des Anderen« über eine externe Beziehung zum Körper außerhalb des nationalen Selbstbildes. Andererseits bilde sie zugleich eine Erweiterung des eigenen Körpers, analog etwa zur Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und seiner Kleidung. Kulturelle Pluralität funktioniere damit als Werkzeug und für die Darstellung des Eigenen und bilde zugleich einen Teil des präsentierten Selbst (Hage 2000). Drittens können wir Multikulturalismusdebatten im Foucault’schen Sinne als Gouvernementalität betrachten, also als »die Führung von Führungen«, als die Mechanismen, durch die Regierungen versuchen, »Bürger« zu produzieren, oder als all die organisierten Praktiken und Techniken, durch die Subjekte regiert werden. Aus dieser Perspektive lassen sich Multikulturalismusdebatten im Hinblick auf ihre Praktiken, Mentalitäten, Rationalitäten und Techniken analysieren, mittels derer »gefügige« Bürger_innen einer multikulturellen Gesellschaft erzeugt werden. Eine solche Analyse liefert einen Einblick, wie kulturelle und religiöse Differenzen innerhalb einer liberalen, modernen, kapitalistischen Demokratie organisiert werden. Zugleich machen diese Differenzen den institutionellen Apparat sichtbar, der Andere darin »unterweist«, wie sie sich in den sozialen Körper zu integrieren haben. Es kommen einem hier etwa die Integrationstests in den Sinn, die vor einiger Zeit in vielen europäischen Ländern eingeführt wurden.

D ie »F r auenfr age «: V on schlecht bis gr ausam Im vorangegangenen Abschnitt haben wir einige Möglichkeiten aufgezeigt, wie Multikulturalismus hinsichtlich der Regulierung von Eigenem und Fremden im Bereich von kulturellen Identitäten verstanden werden kann. Wir gehen entsprechend davon aus, dass die Frage von Pluralität nicht schlicht mit kulturellen Begrifflichkeiten gestellt werden kann. Vielmehr ist sie vor allem durch ein Set von querverlaufenden Regulierungsachsen, unter anderem durch Gender, vermittelt. Gerade in Multikulturalismusdebatten spielt Geschlecht eine zentrale Rolle (vgl. Braidotti/Wekker 1996; Cohen et al. 1999; Botman et al. 2001; Coene/Longman 2005; Bracke/De Mul 2009; Midden

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2010). Bemerkenswerterweise konzentriert sich ein wesentlicher Teil dieser Debatten direkt auf Frauen, Fragen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie auf Sexualität. Und es kommen unmittelbar Diskussionen über Frauenunterdrückung in den Sinn, zumeist Auseinandersetzungen über religiöse Praktiken und Bekleidung (insbesondere das Kopftuch) sowie über Gewalt (»Gewalt gegen Frauen«, »Kriminalität und unsichere Straßen« usw.). Die wohl bekannteste Arbeit, die Gender und kulturelle Pluralität ins Verhältnis setzt, ist Susan Moller Okins Aufsatz »Is Multiculturalism Bad for Women?«. Okin behauptet darin, dass Geschlechtergleichheit häufig mit dem Respekt für Minderheitenkulturen kollidiere. Dieser Aufsatz beeinflusste nicht nur akademische Kontexte und rief 1997 eine lebhafte Debatte in der Boston Review hervor, in deren Rahmen eine Vielzahl namhafter Wissenschaftler_innen auf Okins Argument antwortete. Er kam auch einflussreich in feministischen Kreisen und Frauengruppen zur Geltung, wo er vor allem die Diskussion um kulturelle Pluralität innerhalb der Frauenbewegung angeheizt hat (siehe z.B. Coene/Longman 2005). Okin rahmt die Beziehung zwischen feministischen und multikulturellen Anliegen und folglich die Debatte über die Spannung zwischen diesen mit der folgenden Frage: Was ist zu tun, wenn die Forderungen von Minderheitenkulturen oder Religionen mit der Norm der Geschlechtergleichheit kollidieren, die zumindest formelrechtlich durch den liberalen Staat gesichert ist? Diese Frage muss als eine feministische Intervention im Diskurs der politischen Theorie verstanden werden: Okins Argument ist eine auf ihrem Verständnis von sozialen Beziehungen von Geschlecht basierende Kritik an dem Konzept der Gruppenrechte. Fürsprecher_innen von Gruppenrechten, so argumentiert sie, behandelten kulturelle Gruppen üblicherweise als monolithisch und achteten dabei kaum auf den privaten Bereich. Dadurch verlören sie aus dem Blick, dass der Bereich des persönlichen, sexuellen und reproduktiven Lebens im Fokus vieler Kulturen stehe und viele Kulturen auf die Kontrolle von Männern über Frauen abzielten. In anderen Worten ignorierten Theorien der Gruppenrechte die Tatsache, dass Geschlechterbeziehungen jeweils im Herzen einer Kultur angesiedelt und organisiert seien. Okins Argument beruht darüber hinaus auf den beiden folgenden Behauptungen: Während alle Kulturen der Welt auf eine patriarchale Vergangenheit zurückblickten, hätten sich einige, zumeist westliche, liberale Kulturen davon stets weiter entfernt als andere. Außerdem seien viele durch kulturelle Minderheiten eingeforderte Gruppenrechte patriarchaler als die sie umgebenden Mehrheitskulturen. Aus diesem Grund, so Okin, stehe der Feminismus in einem Spannungsverhältnis zum Kulturrelativismus von Gruppenrechten. Okins Argument wurde breit und kritisch diskutiert, insbesondere in den Antworten, die mit der Publikation des Originalaufsatzes einhergingen (Cohen et al. 1999). Die Kritiken beziehen sich oft auf die problematischen

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Vorstellungen von Kultur bzw. darauf, dass Okins Argument ironischerweise eine monolithische und vereinheitlichende Vorstellung von Kultur selbst in sich trage und unterstütze (Bhabha in Cohen et al. 1999). Ferner kritisieren sie, dass Kultur in Okins Argument dazu neige, das »Zeug« zu sein, das an Minderheitengruppen »klebt«, während kulturelle und nationale Formationen innerhalb von Mehrheitskulturen schlicht unsichtbar blieben (siehe Honig und Al-Hibri in Cohen et al. 1999). Aus Okins Argumentationsauf bau folge entsprechend eine unverhältnismäßige Kulturalisierung von Minderheitengruppen. Er hinterlasse »Kultur« als Kennzeichen einer Abweichung von einer unsichtbaren Norm. Sowohl durch Okins Artikel als auch durch die unterschiedlichen Kritiken, die er nach sich gezogen hat, wird ein zentrales Element der Debatte deutlich: Es bedarf eines breiteren Verständnisses davon, wie Geschlechterbeziehungen mit Fragen von Kultur, Gemeinschaft und Nation verknüpft sind. Ein solches Verständnis muss die konstitutiven Dimensionen von Geschlechterbeziehungen innerhalb unterschiedlicher Arten von sozialen, politischen und kulturellen Formationen deutlich machen. Eine Herausforderung dabei zeigt sich darin, zu verstehen, wie bestimmte kulturelle, politische und ökonomische Regime auf spezifische Geschlechterbeziehungen angewiesen sind und wie geschlechtliche/sexistische Arbeitsteilung stets ein integraler Bestandteil von liberalen und nicht-liberalen Organisationsformen kultureller und struktureller Art ist, inklusive kapitalistischer Produktionsformen. Tatsächlich scheitert Okins Argumentation, die auf Geschlechterbeziehungen in »anderen« Kulturen fokussiert, daran, dass sie die zentrale Bedeutung von Geschlechterbeziehungen bei der Konstitution nationaler und kultureller Identitäten überhaupt sowie bei jeder Form nationaler Grenzziehung nicht erfasst. Auch berücksichtigt sie nicht, dass die stets wiederholten Bedenken hinsichtlich der Position muslimischer Frauen funktionell für die Konstitution westlich-europäischer Nationalidentitäten sind. Die Arbeit von Nira Yuval-Davis geht einige dieser Herausforderungen an und analysiert systematisch, welche Bedeutung Geschlecht für die Nation und – wie wir hinzufügen möchten – für das Verständnis von »Kultur« oder kultureller Gemeinschaft im weiteren Sinne spielt. Gender and Nation wurde als kritische Intervention in klassische Theorien zu Nationen und Nationalismus verfasst, in denen Geschlecht zweitrangig erscheint. Yuval-Davis argumentiert stattdessen, dass Geschlechterbeziehungen im Herzen (der Reproduktion) der Nation verortet seien. Die Nation wird üblicherweise als eine Erweiterung familiärer und verwandtschaftlicher Beziehungen konzeptualisiert, die wiederum als auf einer »natürlichen« sexistischen Arbeitsteilung basierend begriffen werden. Yuval-Davis schlägt vor, dieser Zentralität von Geschlecht auf den Ebenen biologischer, kultureller und symbolischer Reproduktion nachzugehen (Yuval-Davis 1997). Biologisch gesehen findet die demografische Reproduktion

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der Nation durch Frauen in einem Kontext von Biopolitiken statt. Sie zielen darauf ab, (bestimmte Gruppen von) Frauen durch unterschiedlichen Druck zu er- oder entmutigen, Kinder zu gebären.2 Mit Blick auf die kulturelle Reproduktion wird die Trennung zwischen »uns« und »denen« durch soziale Konstruktionen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität aufrechterhalten, die als für die Nation zweckmäßig erachtet werden. In diesem Sinne erfüllen Frauen die strukturelle Funktion eines »Grenzschutzes«, indem sie Kollektivität verkörpern. Daraus ergeben sich spezifische Erwartungen bezüglich kultureller Codes von Kleidungsstilen und Verhaltensweisen. Mit diesem theoretischen Gerüst können wir verstehen, wie Geschlechterbeziehungen die Formation aller nationalen und kulturellen Einheiten bedingen. Oder: Wie Geschlecht im Verhältnis zu nationalen und kulturellen Formationen zustande kommt und umgekehrt, wie sich Vorstellungen von Nation und Kultur im Verhältnis zu Geschlecht entwickeln. All dies liefert uns einen ersten Hinweis darauf, wie der Fokus auf muslimische Frauen (und das Kopftuch) in den gegenwärtigen Multikulturalismusdebatten verstanden werden kann. Geschlechterbeziehungen oder die Zuschreibung spezifischer Geschlechterraster dienen als Grenzlinien, denen eine zentrale Funktion im Prozess zukommt, in dem die betroffene Gruppe zum Anderen gemacht wird. Darüber hinaus wird diese Gruppe überhaupt erst im Zuge des Othering als Gruppe erzeugt und gefestigt. Durch die Auseinandersetzung mit der Frage des Kopftuches oder, mit Foucault gesprochen, durch dessen »Problematisierung« (1984) wird der vergeschlechtlichte Charakter der Nation einmal entlang der Linie von angemessenen vs. unangemessenen Präsentationsweisen des weiblichen Körpers in der öffentlichen Sphäre betont. Zugleich tritt durch dieselben vergeschlechtlichten Register die primäre Form zutage, wie das Andere adressiert und konstruiert wird (Scott 2007). Weit über eine Darstellung von muslimischen Frauen hinaus dienen die vergeschlechtlichten Dimensionen einer Multikulturalismusdebatte damit als Re-Inszenierung der geschlechtlichen und sexuellen Grenzen der Nation.

I st das K opf tuch emanzipatorisch oder unterdrückend? Die Kopftuchdebatte war ein zentraler Topos, zu dem wir uns in die Multikulturalismusdebatten eingebracht haben. Wie in vielen anderen westeuropäischen Ländern wurde der Hijab als religiöse Praxis auch in Belgien zu

2 | Als nur eines von vielen Beispielen dafür, wie das demografische Argument in Diskussionen um Kultur, Multikulturalismus und Zivilisation wirkt, siehe Samuel Huntingtons berühmt-berüchtigte These vom »Kampf der Kulturen« (2002 [1997]).

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einem Hauptzeichen dafür, was als eine wachsende Sichtbarkeit des Islams im öffentlichen Bereich wahrgenommen wird. Die belgische Debatte orientiert sich stark am Verlauf der entsprechenden Debatte seines südlichen Nachbarn, Frankreich. Während die erste Episode der französischen Kopftuchdebatte von 1989 bis 1992 das zum großen Teil frankophone Publikum in Belgien beeinflusste, bekam die Debatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine solch breite nationale Dimension, dass sowohl frankophone als auch flämische Protagonist_innen angesprochen wurden.3 Der Verlauf dieser unterschiedlichen Episoden war geprägt durch zwei allgemeine Fragen: zum einen die nach weiblicher Emanzipation und dem Hijab als potenziellem Mittel der Unterdrückung. Zum anderen ging es um die Frage nach der Vereinbarkeit des Hijabs mit der Neutralität der öffentlichen Sphäre. Die erste Frage war vor allem entscheidend für Verhandlungen zum Hijab in Schulen und für die Rechtfertigung der Verbote, wie es vergleichbare in Frankreich gegeben hatte. Während in Belgien keine generelle (nationale) Regelung mit Blick auf den Hijab eingeführt wurde, verbietet eine überwältigende Anzahl an öffentlichen und privaten Schulen diese Praxis.4 Zumeist wird diese Maßnahme mit Verweis auf einen durch junge muslimische Frauen erfahrenen sozialen Druck zur Verschleierung oder auf Fälle von erzwungener Verschleierung gerechtfertigt.5 Daneben ist die Neutralität der öffentlichen Sphäre ein weiteres wichtiges Argument, das sich in der Diskussion wiederholt. Während dieses Argument jedoch nicht durchgängig in Verbindung zu Schülerinnen verwendet wurde, diente es jedoch dazu, das Verbot des Kopftuches für Beamtinnen und Lehrerinnen zu rechtfertigen. Zu verschiedenen Gelegenheiten wurden wir Autorinnen dazu eingeladen bzw. haben wir uns selbst eingeladen, um in dieses polemische Setting einzugreifen. Wir nahmen in diesen Kontexten zumeist defensive Positionen ein. Auf die Annahmen, dass verschleierte Frauen »Opfer sozialen Zwangs (oder der Tradition)« seien oder unter Varianten von »falschem Bewusstsein« litten, wenn sie denken, dass sie sich dazu »entschieden« haben, sich zu verschleiern6, entgegneten wir, dass die Handlungsmacht dieser Frauen komplex sei, 3 | Für einen Überblick zur belgischen Kopftuchdebatte siehe Longman 2003 und Fadil 2004. 4 | 40 Prozent aller Schulen in Belgien werden direkt von öffentlichen Behörden getragen und finanziert. 60 Prozent werden getragen durch lokale Gemeinschaften (zumeist katholische Kirchen und Organisationen) und öffentlich finanziert. 5 | Dieses Argument spielte eine zentrale Rolle bei der Entscheidung des Bildungsrates flämischer öffentlicher Schulen für ein allgemeines Verbot, nachdem ein ähnliches, heftig umstrittenes Verbot durch das Königliche Athenäum von Antwerpen im Juni 2009 verabschiedet wurde. Für Darstellungen zum »Kopftuchverbot« in flämischen öffentlichen Schulen siehe Fadil 2011. 6 | Als ein Beispiel für diese Art von Argumentation siehe Van Istendael 2008.

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und verwiesen auf Geschichten von starken, emanzipierten Frauen, die sich bewusst für den Schleier entschieden hatten. Auf die Beschreibungen von verschleierten muslimischen Frauen als »Fundamentalistinnen« oder »Übeltäterinnen« reagierten wir, indem wir in unseren akademischen und öffentlichen Interventionen deutlich machten, dass oft genau diese Frauen die Grundlagen für neue Varianten des Feminismus etablierten, in denen Islam und feministisches Engagement zusammenlaufen und zugleich neue Formen von Subjektivität begründet werden (Bracke 2007 und 2011; Fadil 2008a). Nach nahezu einem Jahrzehnt des Debattierens um »das Kopftuch« und »verschleierte Frauen« haben wir inzwischen einen Punkt intellektueller und politischer Erschöpfung erreicht. Es ist die Art von Erschöpfung, die nicht nur durch das ständige Wiederholen der immer selben Argumente in einem Kontext verursacht ist, in dem hegemoniale Vorstellungen von Frauen und Islam anhaltend durch Rassismus geprägt und geformt werden. Die Erschöpfung entsteht auch durch unser zunehmendes Bewusstsein über die paradoxe Rolle, die wir als Akademikerinnen einnehmen, wenn wir versuchen, die Stimmen von Frauen zu verteidigen, die viel zu häufig als problematisch ausgesondert werden. Denn letztlich reproduzieren wir damit eben diese Voraussetzungen und Begriffe, die für die einseitige Befragung von »verschleierten Frauen« mitverantwortlich sind. Das erste Problem zeigt sich darin, wie unsere Interventionen absichtlich oder unabsichtlich zu der Problematisierung des Kopftuches und verschleierter Frauen beitragen. Durch die Verwendung des Begriffes »Problematisierung« verweisen wir auf den Foucault’schen Ansatz. Demnach ist zu untersuchen, wie in einem spezifischen historischen Moment bestimmte Praktiken zum Anlass von Besorgnis und Debatten gemacht werden. Statt auf die Existenz eines bestimmten Problems zu deuten, betont Problematisierung die Etablierung einer Reihe wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Diskurse und institutioneller Praktiken, die darauf abzielen, ein besonderes Verhalten als einen Gegenstand der Besorgnis herauszustellen und zu regulieren. Dies bedeutet auch, dass der Ausbruch gesellschaftlicher Kontroversen nicht allein als Resultat der bloßen Erscheinung spezifischer sozialer Phänomene und Praktiken verstanden werden kann. Vielmehr bilden soziale Kontroversen eben den Prozess, durch den bestimmte Praktiken zu »sozialen Problemen« und infolgedessen zum Ziel einer Reihe biopolitischer Regulationen werden.7 Für Foucault ist die Veränderung eines spezifischen Phänomens in ein

7 | Obwohl Foucault die Frage von Problematisierung nicht zwangsläufig mit biopolitischen Regulationen verknüpft, sondern die Verwendung des Begriffes auf eine spezifische Machtform im 18. Jahrhundert beschränkt, möchten wir hier einen Standpunkt einnehmen, der beide Fragen miteinander verbindet.

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»soziales Problem« kein neutrales Unterfangen, sondern sie ist eng verbunden mit der Etablierung spezieller regulierender Ideen bzw. mit einem Wahrheitsregime. Auf unseren Fall übertragen bedeutet dies, dass es nicht mehr um die Frage geht, ob das Kopftuch nun das Prinzip der Neutralität oder das Prinzip der Frauenemanzipation beeinträchtigt oder nicht. Dieser Perspektive folgend, trägt der Hijab an sich keine soziale Bedeutung. Die Praxis des Verschleierns wird durch einen besonderen diskursiven Apparat zu einem bedeutsamen Akt gemacht. Damit stellt sich eine ganz neue Frage: Wie sind solche Verständnisse von Neutralität und Emanzipation zu behandeln, die dadurch erzeugt werden, dass verschleierte Frauen ausgesondert und zum Gegenstand von Debatten gemacht werden? In anderen Worten besteht unsere Aufgabe eher darin, die Funktionen der Kopftuchdebatte für die Erzeugung einer (spezifischen Vorstellung von) »Neutralität« einerseits und einer »emanzipierten Geschlechtsidentität« andererseits zu verstehen. Außerdem müssen wir der Frage nachgehen, wie diese beiden Ebenen als miteinander verwoben begriffen werden. Unterschiedliche Analysen haben gezeigt, wie durch das Adressieren der Frage nach dem Hijab die Konturen von Nation und Emanzipation mithilfe ausschließender Begriffe neu definiert werden (siehe etwa Scott 2007; Moors 2009). Allein der Akt des Adressierens an das Kopftuch, egal ob in Zustimmung oder Ablehnung, trägt dazu bei, dass und wie diese Bekleidungspraxis unter anderen Praktiken herausgegriffen und ihr ein Status der Außergewöhnlichkeit zugeschrieben wird.8 Wie Nadia Fadil an anderer Stelle argumentiert, werden innerhalb dieses diskursiven Regimes nicht-verschleierte Frauenkörper mit dem Status der ontologischen Neutralität versehen. Gleichzeitig wird Verschleierung zu einem Hindernis für die Homogenität des Raumes, womit sowohl die Herstellung eines »neutralen« öffentlichen Raumes in den Blick genommen wird als auch die Herstellung dessen, was als emanzipierter weiblicher Körper gelten kann (Fadil 2011). Ein zweites Problem besteht in der Rahmung dieser Praxis. Befürworter_ innen des Kopftuchverbotes beziehen sich zumeist darauf, dass der Hijab ein religiöses und politisches Symbol sei, das das Prinzip der Neutralität verletze. Gegner_innen des Verbotes, wie wir es sind, zielen darauf ab, diese Behauptungen dadurch zu hinterfragen, dass der zugrunde liegende religiöse Charakter dieser Praxis betont und damit zugleich ihre konstitutionelle Absicherung geltend gemacht wird. Unsere Abhängigkeit von der juristischen Sprache der Grundrechte, inklusive des Rechts auf Religionsfreiheit, reflektiert das epistemische Gewicht, das auf diesem Diskurs liegt. Es geht nicht nur darum, für bestimmte Ansprüche einzustehen, sondern auch darum, diese überhaupt

8 | Wir entleihen dieses Verständnis von Außergewöhnlichkeit Mayanthi Fernando 2009.

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verständlich zu machen. Die Idee, dass alle Individuen »frei« sind, ihre Religiosität zu wählen und auszuüben, wird gemeinhin als Grundstein liberaler Demokratie betrachtet und ermöglicht die Artikulation unterschiedlicher Forderungen, die sich unter ihrer Schirmherrschaft befinden. Indem wir uns gegen das einsetzen, was wir als »erzwungene Entschleierung« bezeichnen, verwenden wir dieselbe liberale Taxonomie, um verschleierte Frauen zu verteidigen. Dennoch konfrontiert uns dieser Rückgriff auf die liberale Sprache des Rechts mit mehreren Dilemmata, die mit den performativen Effekten der Rahmung des Kopftuches primär als religiösem Recht verbunden sind.9 An erster Stelle wird durch diese Debatten die Praxis der Verschleierung in ihrer Bedeutung fixiert, entweder als ein Symbol oder als eine religiöse Praxis. Damit wird die große Spannbreite an Bedeutungen, die sie einzunehmen vermag, verdeckt. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass das Kopftuch tatsächlich sehr unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Während es als zentraler Bestandteil einer Ökonomie frommen Verhaltens dient (Amir-Moazami 2007; Amiraux 2003; Jouili/Amir-Moazami 2006), kann es zugleich auch Teil einer offenkundigeren Bestätigung der eigenen muslimischen Identität sein. Es kann aber auch als Bekleidungspraxis dienen, die eine moderne muslimische Identität überhaupt erst ermöglicht (siehe etwa Navaro-Yashin 2002 oder Tarlo 2007). Ferner tragen wir mit einer primären Adressierung des Kopftuches als einer religiösen Praxis, die als wesentlich für eine muslimische Identität betrachtet wird, ungewollt zur Fixierung der Praxis als »islamisch« bei und bestärken auf diese Weise Behauptungen über »Authentizität«. In der Wissenschaft sowie in Frauenbewegungen und im Feminismus gibt es mittlerweile eine lange Geschichte der Kritik an der kolonialen Tradition, in der der Hijab (oder andere Praktiken) als essentielle Attribute muslimischer Identität konstruiert wurden. Ebenfalls wurde vielfach untersucht, wie die koloniale Markierung von muslimischen Frauen als »religiöse Andere« für diesen Prozess von zentraler Bedeutung war.10 Den Hijab primär in Begriffen einer religiösen Praxis zu beschreiben, die insbesondere mit der Bestätigung einer muslimischen Identität verbunden ist, riskiert, die vielschichten Bedeutungen des Hijab einseitig zu fixieren. Eine solche Argumentation trägt damit zur anhaltenden 9 | Wir beziehen uns hier auf die Arbeit von Wissenschaftler_innen, die aufgezeigt haben, wie der Menschenrechtsdiskurs nicht nur individuelle Handlungsfähigkeit ermöglicht, sondern zugleich auch als das Vehikel dient, mit dem Staatsgewalt operiert. Siehe etwa Brown 2004. 10 | Siehe für diese Beispiele Leila Ahmeds bahnbrechenden historischen Beitrag dazu, wie der Hijab als eine religiöse Praxis konstruiert wurde, die durch Modernisierung und koloniale Diskurse in essentieller Weise an die muslimische Identität gebunden ist (Ahmed 1991). Für ein ähnliches Argument, jedoch mit einem anderen Beispiel (in diesem Fall das des Sati – der Witwenverbrennung – in Indien) siehe Mani 1989.

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kolonialen Rahmung des Islams bei und macht deutlich, wie diese durch Geschlecht strukturiert wird. Dies war in allen Multikulturalismusdebatten zu beobachten. Das Tragen des Kopftuchs als ein »religiöses Recht« oder als »religiöse Freiheit« zu verteidigen, rahmt diese Praxis außerdem mithilfe eines spezifischen (liberalen) Vokabulars (siehe auch Sultan Doughan und Hannah Tzuberi in diesem Band). Doch eben diese Begriffe implizieren ein besonderes Verständnis von Handlungsmacht, das die ethischen und politischen Positionen der betroffenen Frauen nicht vollständig erfasst. Ein zentrales Argument vieler unserer Interventionen bestand darin, die oft postulierte Behauptung, dass sich verschleierte Frauen nicht freiwillig oder bewusst dieser Bekleidungspraxis unterwürfen, zu korrigieren. Eine solche Behauptung basiert üblicherweise auf der Annahme von »Zwang« (erzwungene Verschleierung) oder von »falschem Bewusstsein«. Beides verweist auf die Machtbeziehungen, in die Verschleierungspraxen eingebettet sind und die allzu oft von ihren Verteidiger_innen oder von verschleierten Frauen selbst untergraben werden.11 Diese Argumentationen sind deswegen problematisch, weil sie Fragen von Macht und Regulierung ausschließlich in den Fällen von Verschleierung sehen, aber niemals etwa in den Fällen von Nichtverschleierung oder Entschleierung, die als Reflexionen eines intrinsischen und autonomen Willens betrachtet werden. Dies konfrontiert uns zugleich mit einem diskursiven Feld, auf dem uns nicht viel anderes übrig bleibt, als zu argumentieren und empirisch zu belegen, dass bedeckte muslimische Frauen »aktiv Handelnde« ihres Schicksals sind. Es ist besonders diese letzte Position, der wir uns kritisch zuwenden möchten. Denn diese Position wiederholt ein naturalisiertes (humanistisches) Verständnis vom handelnden Subjekt und vom »autonomen Willen«, das außerhalb jeglicher Machtstrukturen existiert. Sie ist damit daran beteiligt, die anderen Stimmen unverständlich zu halten, die sich eben nicht mühelos in die liberale und säkulare Grammatik einfügen, die herrschenden Vorstellungen von Handlungsmacht zugrunde liegen. Wenn wir argumentieren, dass muslimische Frauen den Schleier aus freiem Willen anlegen, reproduzieren wir das gleiche Modell von Handlungsmacht, auf dem die problematischen Annahmen von »falschem Bewusstsein« oder »Zwang« beruhen. Dieses Modell stellt die Frage von individueller Wahl jener von Machtstrukturen gegenüber (Mahmood 2005; Bracke 2008). Solch ein Verständnis von Handlungsmacht wurde allerdings längst durch komplexere post-Althusser’sche Verständnisse von der Beziehung des Subjekts zu

11 | Ein junges Beispiel für eine solche Kritik findet sich etwa bei Marnia Lazreg (2009).

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Ideologie und Macht ernsthaft herausgefordert.12 Mit dieser Perspektive wird jede Beziehung zum Selbst als durch Normen und Machtstrukturen vermittelt begriffen (Butler 1990). Alle »Entscheidungen« oder körperlichen Praktiken sind demnach als Ergebnisse herrschender normativer Ideale und regulativer Strukturen zu betrachten. Im Weiteren greifen wir durch die Betonung des »autonomen Willens« der beteiligten Frauen sehr stark auf ein liberal-normatives Bezugswerk zurück. Dieses Repertoire betrachtet etliche Konzepte, wie etwa die Emanzipation von Frauen, die Trennung von Kirche und Staat sowie die Meinungsfreiheit, als Kern dessen, was als »modern« oder »europäisch« gilt. Dieses Bezugswerk geht davon aus, dass die Bedeutung dieser Konzepte bereits klar ist, verhindert damit deren anhaltende Entfaltung und Ausleuchtung ihrer Streitigkeit und erhebt alleinigen Anspruch auf ihre Bedeutung. Die Herausforderung liegt nun darin, verschleierte Frauen und das Kopftuch an diesem liberalen Bezugswerk zu messen, um über ihre Integration in die Gemeinschaft von Bürger_innen zu befinden (siehe Schirin Amir-Moazami in diesem Band). Während die Verteidiger_innen des Kopftuchverbotes den Hijab als grundsätzlich unvereinbar mit diesem liberalen Apparat betrachten, versuchen Verteter_innen des »Rechts auf Verschleierung« zu zeigen, warum verschleierte Frauen in der Tat diesen liberalen Anforderungen gerecht werden und bestens in den gemäß liberaler Standards definierten liberalen Raum integriert werden können. Letztlich geht es allerdings um die entscheidende Frage, ob es überhaupt jenseits der hegemonialen liberalen Grammatik Begründungsmöglichkeiten gibt. Während wir immer wieder starke Argumente gegen die Gleichsetzung des Kopftuches mit der Unterdrückung von Frauen vorgebracht haben, war uns beiden nicht recht wohl dabei, mit demselben liberalen Vokabular argumentieren zu müssen, um die emanzipative Bedeutung des Kopftuches hervorzuheben. Denn letztlich sind wir der Überzeugung, dass ein Kleidungsstück an sich weder unterdrückend noch emanzipatorisch sein kann (Asad 2006). Dies ist im Grunde keine bahnbrechende Erkenntnis. In den sogenannten Kopftuchdebatten geht sie aber immer wieder verloren. Die Bedeutung des Kopftuches ist stets kontextabhängig, wobei der Kontext aus interpretativen Rahmenbedingungen besteht, die das Bezugssystem der Handelnden selbst und die materiellen Bedingungen sowie deren Zusammenspiel beinhalten. Eine weit wichtigere Auseinandersetzung zeigt sich jedoch darin, dass der dominante Rahmen es auch uns unmöglich macht, jene verschiedenen Stimmen

12 | Siehe insbesondere die Überlegungen von Michel Foucault (1980) zur Frage der Ideologie sowie seine Kritik an den Weisen, wie dieses Konzept von einer bereits bestehenden, immanenten Substanz bewusster Subjekte ausgeht, die von normativen Strukturen unberührt bleiben.

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und Möglichkeiten überhaupt aufzuzeigen und verstehbar zu machen, die sich nicht in das liberale Raster einfügen. Für viele Frauen, denen wir während unserer Arbeit begegneten, ist das Tragen des Hijabs nicht einfach eine Frage der freien Wahl. Vielmehr wurde es vielfach als »Pflicht« einer tugendhaften Lebensführung begriffen, die die Frauen pflegen, um »Gott zu gefallen« (Fadil 2008b; Bracke 2008). Es stellt sich entsprechend die Frage, wie wir diesen Stimmen gerecht werden können, ohne das Narrativ der »Unterwerfung« zu wiederholen, etwa indem wir sie lediglich als einen Ermächtigungsdiskurs begreifen, der »echte Handlungsmacht« (Hollywood 2004) ausblendet, oder indem wir diese Stimmen gar als Beweise für den Mangel an Handlungsmacht begreifen. Wir sind also mit der Frage konfrontiert, wie diese Stimmen entsprechend ihrer spezifischen Bedingungen verständlich gemacht werden können. Die wegweisende Arbeit von Saba Mahmood (2005) zeigt eine schlagkräftige Kritik daran auf, wie hegemoniale Vorstellungen von Handlungsmacht an der Teleologie liberaler Emanzipationsbegriffe leiden. Sie versucht dies deutlich zu machen, indem sie der Verknüpfung von politischer und moralischer Autonomie des Subjekts und Macht nachgeht. Mahmood argumentiert, dass dieses Model von Handlungsmacht, trotz all der wichtigen Erkenntnisse, die es befördert hat, unsere Fähigkeit einschränkt, die Lebensrealitäten bestimmter Subjekte zu begreifen. Besonders gilt dies für Frauen, deren Subjektivität durch neoliberale Traditionen geprägt wurde. Genauer liegt das konzeptionelle Problem darin, dass Handlungsmacht in erster Linie als »Widerstand zur Macht« verstanden wird. Wenn die Entscheidung von Frauen zum Tragen des Hijabs als die Ausübung ihrer Handlungsmacht betrachtet wird, so folgt durch die Adressierung weiblicher Handlungsmacht in ihrer feministischen Lesart auch, dass eine solche Entscheidung als »Widerstand zur Macht« und »Emanzipation« begriffen werden soll. Die Frage, ob das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch ist, wird dann zugunsten von Emanzipation aufgelöst. Dennoch ist genau diese Assoziationskette problematisch und nötigt uns dazu, die zugrunde liegende Vorstellung von Handlungsmacht zu überdenken. Die Arbeit von Mahmood setzt sich dieser theoretischen Herausforderung aus und konzeptualisiert Handlungsmacht als eine Fähigkeit zu handeln, die historisch spezifische Beziehungen von Unterordnung ermöglicht und erschafft. Eine so verstandene Handlungsmacht fokussiert auf die Kapazitäten und Fähigkeiten, die notwendig sind, um bestimmte Handlungen (etwa auch in Form von Widerstand) auszuüben. Zugleich erkennt sie, dass Handlungsmodalitäten stets eng mit den historisch und kulturell spezifischen Bereichen verknüpft sind, durch die ein Subjekt geformt wird (Mahmood 2001). Die Frage, ob das Kopftuch unterdrückend oder emanzipatorisch ist, basiert insofern auf einer problematischen Vorstellung von Handlungsmacht. Die Frage selbst scheint zu suggerieren, dass es einer unterdrückten Frau an

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Handlungsmacht fehle. Wird ihre Handlungsmacht hingegen (an)erkannt, dann wird sie durch diese Frage auf der Seite der Emanzipation verortet. Damit schließt die Frage prinzipiell die Möglichkeit aus, ihre Handlungsmacht zu verstehen und zugleich anzuerkennen, dass Emanzipation und Handlungsmacht signifikant unterschiedliche Dinge darstellen. Ungeachtet davon werden Argumente voreilig auf der Seite von »Unterdrückung« verortet, sobald sie liberale Entwürfe von Emanzipation meiden oder hinterfragen. Dies spiegelt bereits die hegemoniale Position in diesem Kontext wider, zumal die durch die Frage suggerierte Symmetrie tatsächlich keine wirkliche Symmetrie vorherrschender Meinungen beschreibt. Dadurch wird die Handlungsmacht von verschleierten Frauen erneut bestritten. Die taktische Verteidigung der emanzipativen Bedeutung des Kopftuches, um der Vorherrschaft der Unterdrückungsargumente etwas entgegenzuhalten, scheitert jedoch schlussendlich genau an den oben beschriebenen Spannungen, die sich aus dem vorherrschenden Verständnis von Handlungsmacht ergeben. Jedes Verständnis von Handlungsmacht, das einen solchen Emanzipationsbegriff verwendet, basiert bereits auf der Annahme, dass ein Subjekt sich seiner bzw. ihrer »partikularen« (kulturellen, religiösen usw.) Anbindungen zu entledigen habe.

F a zit Dieser Text untersuchte die vergeschlechtlichten Konturen der Multikulturalismusdebatte anhand des Kopftuches, das zu einem Hauptstreitpunkt in unterschiedlichen westeuropäischen Ländern geworden ist. Das Ziel dieser Untersuchung war es nicht, die unterschiedlichen, in diesen Debatten vorgebrachten Argumente zu analysieren, sondern vielmehr eine Kritik an den Rastern anzubieten, die diese Debatten organisieren. Außerdem ging es uns darum, die epistemischen Effekte dieser Raster auf unser eigenes Verständnis vom Hijab und damit auch unsere Rolle als Wissenschaftlerinnen und öffentliche Intellektuelle zu betrachten. Wir untersuchten, wie diese Debatten um das Kopftuch dazu breitragen, ein säkulares Verständnis des öffentlichen Raumes zu beschreiben und zu artikulieren, durch das Säkularismus gemäß höchst distinkter und exklusiver Begriffe neu definiert wird (siehe auch Bracke/Fadil 2009). Die Kontroversen um das Kopftuch sollten weder nur dazu anregen, uns allein mit den gelebten Realitäten verschleierter muslimischer Frauen auseinanderzusetzen. Noch adressieren sie lediglich die praktischen Anliegen, die sich um diese Praxis herum ergeben mögen. Vielmehr bilden sie diskursive Momente, in denen durch den Ausschluss dieser spezifischen Bekleidungspraxis und ihrer Subjekte nationale Vorstellungswelten konstruiert werden. Die Untersuchung ließ uns die dominanten Rahmen infrage stellen, durch welche die

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Stimmen von verschleierten muslimischen Frauen verstehbar gemacht werden können. Insbesondere gilt dies für die zentrale Rolle der rechtlichen Sprache. Obwohl wir die Handlungsmacht nicht abstreiten, die durch diese Raster ermöglicht wird, fragen wir zugleich nach den begrenzenden Eigenschaften der semiotischen Fixierung auf den Hijab sowie des Konzepts von Handlungsmacht, das dieses Vokabular von (liberalen) Rechten untermauert.13 Die Arbeit von Mahmood hinterfragt in überzeugender Weise, wie das vorherrschende Konzept von Handlungsmacht sowie dessen Gebrauch in feministischer Wissenschaft durch ein besonderes Verständnis von Widerstand und demzufolge von Emanzipation geprägt werden. Tatsächlich unterminiert eine Referenz auf Emanzipation von Beginn an das Argument, dass das Kopftuch emanzipativ sei. Denn die herrschende Vorstellung von Emanzipation beruht auf der Annahme, dass das Subjekt sich seiner bzw. ihrer »partikularen« Anbindungen, und damit bis auf Widerruf dem Kopftuch, zu entledigen habe. Diese Beobachtungen bringen uns konsequenterweise wieder einmal zu der Fragestellung von Gayatri Chakravorty Spivak nach der Fähigkeit der Subalternen, zu sprechen oder, um präziser zu sein, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen. Angesichts der hegemonialen Struktur der liberalen Grammatik bleibt die Frage, wie wir diese Stimmen innerhalb einer diskursiven Anordnung verstehbar machen können, die entlang liberaler Begriffe definiert, was als Emanzipation gilt, und schon die Idee vom »eigensinnigen Subjekt« durch eben diese Begriffe konzeptualisiert. Anstatt eindeutige Antworten auf diese bedeutsame Fragestellung zu liefern, möchten wir mit einer Ansammlung von rhetorischen Fragen schließen, die uns zum Nachdenken über die Facetten dieser Herausforderung einlädt. Das oberste Anliegen bildet der »Übersetzungsprozess«, der versucht, diese Stimmen verstehbar zu machen. Was geschieht bei diesem Prozess? Was geht dabei verloren und wie werden spezifische Praktiken um- oder neu gedeutet? Welche Stimmen werden warum beobachtet? Wie kann die liberale Grammatik in ihren Potenzialen, aber auch in ihrer eigenen normativen Besonderheit situiert werden? Wie lassen sich auch die Ausschlussmechanismen dieser liberalen Grammatik verstehen, ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, wie alle Lebensweisen zugleich durch sie geformt werden? Wie können wir der Falle der Essentialisierung entgehen, diese nicht(an)erkannten Stimmen zu verklären? Und schlussendlich: Welche Rolle spielt Kritik, und wie können wir eine Kritik formulieren, die einen neuen

13 | Diese Beobachtung entspricht der Analyse der performativen Effekte des Gebrauchs juristischer Sprache aus dem Feld der Antidiskriminierung bei der Mobilisierung von Muslim_innen gegen anstößige Bilder während der Unruhen um die dänischen Mohammed-Karikaturen im Jahr 2005 von Saba Mahmood. Für einen ausführlicheren Bericht siehe Mahmood 2009.

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Essentialismus oder Identitätsdiskurse zurückweist und stattdessen ein wirksames Instrument zur Befragung der hegemonialen Strukturen liberal-säkularer Grammatik liefert? Die Prämisse dieser Fragen und damit auch dieses Aufsatzes lautet, dass die Rahmung eine entscheidende Rolle dabei spielt, wie soziale Wirklichkeit betrachtet wird. Unsere Beteiligung an öffentlichen Debatten hat uns immer wieder gelehrt, dass dies keine verbreitete Argumentationslinie darstellt. Sie fügt sich eben nicht reibungslos in eine angemessene Aussage ein, noch ist sie leicht zu verstehen. Im Lichte zunehmender nationalistischer, rassistischer und ausgrenzender Dynamiken in europäischen Gesellschaften sind wir jedoch mehr und mehr davon überzeugt, dass die kritische Befragung hegemonialer Raster eine der wichtigsten und zentralsten Aufgaben der Wissenschaft darstellt. Und all jenen, die nach Alternativen fragen  – »Welche Fragen sollen wir diskutieren, wenn es nicht die ist, ob Kopftücher unterdrückend oder emanzipativ sind?« –, entgegnen wir, dass dies eine Sache des kollektiven Gespräches zu sein hat, in dem ausgeschlossene und marginalisierte Perspektiven hervorgehoben werden. Dieser Ausgangspunkt bringt selbstverständlich viele weitere Fragen mit sich. Etwa jene, wie solche Gespräche immer schon durch die Art und Weise, wie sie arrangiert bzw. von welcher Sprache sie abhängig sind, entlang von Machtbeziehungen strukturiert werden. Nichtsdestotrotz meinen wir, dass eine Auseinandersetzung genau mit diesen Fragen und über diese Gespräche unabdingbar ist. Übersetzung aus dem Englischen von Patricia Piberger

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Säkularismus als Praxis und Herrschaft: Zur Kategorisierung von Juden und Muslimen im Kontext säkularer Wissensproduktion Sultan Doughan und Hannah Tzuberi

E inleitung Das Wissen über Muslime1 und muslimische Körperpraktiken wird in der Regel isoliert von anderen, nichtmuslimischen Körperpraktiken produziert. Zudem wird der diskursive Rahmen, innerhalb dessen Muslime thematisiert werden, durch Ereignisse abgesteckt, die bereits bestehende Prämissen und Grundregeln der Meinungs- und der persönlichen Freiheit wiederholt bestätigen. Die inhärenten Widersprüchlichkeiten und die normativen Mehrheitsannahmen dieser Freiheiten werden dabei kaum thematisiert: Im öffentlichen Diskurs entsteht ein muslimisches Subjekt, das die säkulare Ordnung der liberalen Demokratie angeblich auf bisher ungekannte Weise fundamental auf die Probe stellt. In diesem Beitrag möchten wir den isolierten Blick auf »den Muslim« auf brechen. Anhand einer Analyse des Karikaturenstreits und der Beschneidungsdebatte, in deren Verlauf muslimische und jüdische Körper aufeinandertrafen, möchten wir verdeutlichen, welche unterschiedlichen Logiken und Befindlichkeiten auf die Wissensproduktion zu jüdischen und muslimischen Körpern einwirken. Unser Beitrag stellt die zwei in der Regel epistemologisch getrennten Körper also in ihrer praktischen Ähnlichkeit auf, um die unterschiedlichen Interpretationslogiken, die muslimische und jüdische Körper erfahren, zu beleuchten. Unsere Kernthese ist, dass die unterschiedlichen Linsen, durch die muslimische und jüdische Körperpraktiken inspiziert werden, nicht mit kompatiblen jüdischen oder devianten muslimischen Praktiken zu erklären sind, sondern

1 | Wir benutzen im Text die männliche Form und schließen damit alle Subjekte ein, die in der jeweiligen Kategorie gefasst werden.

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mit der europäischen historischen Schuld und Verantwortung gegenüber dem jüdischen Körper zusammenhängen. Eine unserer Prämissen in diesem Artikel ist dementsprechend, dass die Verantwortung gegenüber den ermordeten Juden Europas den politischen Säkularismus des deutschen Staates affektiv trägt 2 und diese affektive Ordnung in die rechtliche Ordnung des säkularen Staates bereits übersetzt und durch Gesetze gestützt worden ist.3 Dass der jüdische Körper während der Beschneidungsdebatte gemeinsam mit dem muslimischen Körper inspiziert, problematisiert und reproduziert wurde, liegt also nicht so sehr daran, dass das Post-Holocaust-Gewissen der Bundesrepublik an Wirkmächtigkeit eingebüßt hätte, sondern eher daran, dass sich muslimische und jüdische Körperpraktiken überschnitten. Der jüdische Körper war in gewisser Weise mitgefangen, während der muslimische bereits in Untersuchungshaft saß und über seine Freilassung politisch, rechtlich und medizinisch verhandelt wurde und wird.4 In diesem Beitrag möchten wir diese epistemologische Trennlinie problematisieren. Wir argumentieren, dass diese Trennlinie den Blick auf die Genealogien der gegenwärtigen Regulierung religiöser Minderheiten erschwert und eine grundlegende Auseinandersetzung mit einer säkularistischen Wissensproduktion verhindert. Die Zusammenhänge zwischen der Entstehung säkularen Wissens  – einschließlich Rassentheorien, Religionswissenschaft 2 | Hierzu zählt auch das Luxemburger Abkommen zwischen der alten Bundesrepublik Deutschland und Israel im Jahre 1952, das finanzielle und politische Mittel zur »Wiedergutmachung« beschloss. Seitdem hatte die westdeutsche Regierung eine besondere Beziehung zu Israel formuliert, die seit der Wiedervereinigung 1990 für die gesamte Bundesrepublik inklusive der neuen Bundesländer (ehemals DDR) gilt und bis heute als staatstragend bezeichnet wird. Eine breite Aufarbeitung des Holocausts als systematischer Massenmord an Juden erfolgte erst in den späten 1970er-Jahren. Die Bevölkerungsgruppe der Roma & Sinti wird erst seit Anfang der 2000er-Jahre gleichermaßen als Opfergruppe anerkannt und gehandelt. Siehe dazu auch Brodesser et al. 2000 und Wippermann 2012. 3 | Zu unterschiedlichen Lesarten jüdischer und muslimischer Körperpraktiken in der Rechtsprechung siehe z.B. Alatovic/Helmken 2013. Obwohl Samir Alatovic und Kai Helmken sich primär mit der Beschneidungsregelung beschäftigen, benennen sie auch, wie die Bundesrepublik Deutschland die Ausnahmeregelung für das betäubungslose Schächten seit 1972 regelmäßig jüdischen Schlachtern erteilt hat, wohingegen muslimischen Schlachtern die Ausnahmeregelung mit der Begründung nicht erteilt worden war, »dass der Genuss nicht geschächteter Tiere im Islam keine zwingende Vorschrift sei« (ebd. 124). 4 | Die Metapher der Haft in diesem Zusammenhang verdeutlicht, dass diese diskursiven Ausbrüche den muslimischen Körper nicht nur schaffen, sondern ihn auch auf eine Position fixieren.

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und Philologie – und der Trennung europäischer Christen von Nichtchristen in Europa werden nicht reflektiert: Dass der jüdische Körper erst durch die Eingliederung in eine säkular-liberale Matrix zu einem staatsbürgerlichen Paradox und einem politischen Problem für die Verfasstheit des säkularen Staates erklärt wurde, ist zwar unter Historikern bekannt, jedoch werden das Wissen darum und die öffentliche Auseinandersetzung damit von den Verbrechen des Nationalsozialismus überschattet (Benz 2011). Als eine Folge dieser Lesart stützt sich die Schutzbedürftigkeit von Juden in der Gegenwart nicht auf Juden als eine religiöse Minderheit in Deutschland und Europa, sondern auf die Erinnerung an den Holocaust. Die Erinnerung an den Holocaust kann zwar eine Art politische Gnade herbeiführen und die rechtliche Absicherung einer religiösen Praxis bewirken  – jedoch impliziert diese Erinnerung eben noch keine Aufarbeitung der Frage, wie religiöse Minderheiten in Deutschland und Europa durch mehrheitlich geformte säkular-liberale Normen dominiert werden. Durch die Trennung der Wissensproduktionen zu Muslimen und Juden wird eine Hinterfragung ihrer säkularen Prämissen verhindert, so dass historisch ältere Epistemologien in der Figur des muslimischen Subjekts erneut zum Aufflammen gebracht werden können. Dabei ist bezeichnend, dass die wissenschaftlichen Debatten zur religiösen Praxis von Minderheiten nicht immer im Einklang mit den politischen Entscheidungen des Staates stehen. Die wissenschaftlichen Diskurse werden zwar genauso vom Gedächtnis an den Holocaust getragen und beschäftigen sich zum Teil auch eingängig damit. Dennoch scheint es hier eine noch stärkere Verpflichtung zu einer mehrheitlich geformten Säkularität und zu einem wissenschaftlichen Säkularismus zu geben, für deren Erhalt leidenschaftlich argumentiert wird. Dies wird u.a. daran deutlich, dass die wissenschaftlichen Debatten zu muslimischen und jüdischen Körpern auch dann entfacht werden, wenn und obwohl politische Entscheidungen bereits getroffen wurden. Eine politische Entscheidung, die säkularen Rationalitäten nicht entspricht oder diese zu Gunsten der Religionsfreiheit einschränkt, zieht die kontinuierliche Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich, als sei hier eine Wunde entstanden, die immer weiter behandelt werden muss. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit einer versehentlich abgedruckten, antisemitischen Karikatur in der Berliner Zeitung. Die Karikatur sollte sich, so die Redaktion, mit der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo nach dem Terroranschlag auf ihre Redaktion in Paris am 7. Januar 2015 solidarisieren und unbeugsame europäische Meinungsfreiheit ausdrücken. Nachdem sich jedoch herausgestellt hatte, dass es sich bei der Karikatur nicht um eine aus der Feder von Charlie Hebdo stammende Verunglimpfung eines Rabbiners handelte, dies also keine freiheitlich-satirische Religionskritik war, sondern um eine antisemitische Darstellung, veröffentlichte die Redaktion eine Entschuldigung und löschte das Bild aus ihrer Internetpräsenz und dem Archiv.

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Im zweiten Teil werden wir auf die Beschneidungsdebatte eingehen und diese als Unterbrechung eines säkularen Status quo thematisieren. Der politische Ausgang der Beschneidungsdebatte unterscheidet sich von den vielen anderen Debatten zu isoliert behandelten muslimischen Körperpraktiken: die Debatte zog kein Verbot nach sich. Jedoch zeigte sich auch hier, dass einer säkularistischen Lesart Deutungshoheit zugestanden wurde, die von Vertretern jüdischer Organisationen und Gemeinden zum Teil auch unterstützt wurde. Trotz vieler Appelle an das Versprechen des Staates, jüdisches Leben in Deutschland wieder gedeihen zu lassen, kann der beschnittene jüdische Körper nur innerhalb dieser säkular-liberalen Matrix 5 greif bar gemacht werden – eben jener Matrix, in der auch der muslimische Körper verhandelt wird. In beiden Teilen dieses Artikels wollen wir den »Blick von nirgendwo« um den säkularen Blick erweitern. Donna Haraway hat bereits in den 1980er-Jahren für eine situierte Wissenschaft plädiert, die die Vorstellung von Objektivität in der Wissensproduktion überdenkt und hin zu einer verkörperten Wissensproduktion verschiebt. Hierbei sind Forschungsobjekt und forschendes Subjekt durch den situierten Blick des Forschenden verbunden, wodurch das Forschungsobjekt grundlegend definiert wird (Haraway 1988). Wir möchten den säkular-liberalen Blick in seiner politischen Situiertheit und historischen Partikularität sichtbar machen. Unser Fokus liegt in diesem Zusammenhang auf dem Verhältnis, das zwischen den beiden Positionen des Inspizierten und Inspizierenden und zwischen den beiden ungleich inspizierten Körpern durch den »Blick von nirgendwo« geschaffen wird: Welche Art von verbaler Verletzung und welche Art von Körpern können in einer säkularen liberalen Demokratie les- und sichtbar gemacht werden? Was passiert in Momenten, in denen der sonst als neutral und freiheitlich geltende säkulare Blick auf den Minderheitenkörper als verletzend eingestuft wird? Wie hängt die Wissensproduktion zu Minderheitenkörpern mit dem Gedächtnis an den Holocaust zusammen?

B egriffe und K onzep te der kritischen S äkul arismusforschung Die Begriffe »säkular«, »politischer und wissenschaftlicher Säkularismus« und »Säkularität« sind analytische Bausteine unseres Arguments. Wir möchten diese Begriffe hier kurz anreißen und reflektieren. Der politische

5 | Wir entnehmen diesen Begriff Schirin Amir-Moazami, die diesen in ihrer Publikation zur Beschneidungsdebatte in Deutschland benutzt (Amir-Moazami 2016). Sie beschreibt, wie in einer freiheitlichen Demokratie das Säkulare eine strukturierende Eigenschaft für die Organisation von Religion vorgibt.

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Säkularismus ist ein Resultat der europäischen Kriege des 17. Jahrhunderts und somit an diesen spezifischen Entstehungskontext gebunden. Dennoch hat Säkularismus eine unbestreitbare globale Dimension erlangt und wird speziell unter Wissenschaftlern als universales Gut betrachtet. Grundlegend für das Säkularismusverständnis in diesem Artikel ist, dass hier ein Rahmen vorgegeben wird, der die Beziehung zwischen Säkularem und Religiösem neu sortiert und in ein ungleiches Verhältnis zueinander setzt. Das Säkulare verstehen wir im Sinne des Anthropologen Talal Asad als eine epistemische Kategorie, die dem Diesseitigen und Weltlichen Vorrang gibt, da es diese in einem zeitlichen Fortschritt begreift. Dadurch wird eine Zeitlichkeit erschaffen, in der sich Subjekte, Beziehungen, Befindlichkeiten (sensibilities) und Praktiken zeitlich neu ordnen in »zeitgemäß und modern« versus »überkommen, veraltet und traditionell«. Säkularismus verstehen wir in diesem Sinne als eine politische Doktrin, die nicht eine Trennung von Politik und Religion herbeiführte, sondern ein neues Verhältnis zwischen dem Staat und dem Religiösen generierte (Asad 2003). Dieses neue Verhältnis beruht auf dem Vorrecht des Staates, Religion an sich und den Handlungsradius religiöser Institutionen zu definieren. Somit wird Religion auf einen bestimmten Platz in der säkularen Ordnung verwiesen und nicht etwa aus der Öffentlichkeit verbannt oder vom Staat getrennt. Der politische Säkularismus ist damit eine Form der Regierung, die nicht nur Religion und religiöse Fragen reguliert, sondern auch eine Neuartikulation von Religion und des Religiösen anstößt und dadurch gleichsam das Säkulare mitstrukturiert.6 Der Staat ist in Bezug auf die Religionen, die er regiert, also weder eindeutig neutral noch von den Institutionen und der Sphäre des Religiösen gänzlich getrennt: In einer säkularen Ordnung wird das Religiöse nicht einfach in das Private verbannt und damit unsichtbar, sondern bestimmte Phänomene werden als religiös verstanden, verhandelt und konstruiert, um dann wieder diszipliniert, kontrolliert und gouvernemental gezähmt zu werden. Den Begriff der Säkularität entnehmen wir den Arbeiten der Anthropologin Saba Mahmood, die ihn als die normative Verfasstheit des Individuums und der Gesellschaft bezeichnet. Sie beschreibt, wie Säkularität durch ein bestimmtes Set an Begriffen, Normen, Befindlichkeiten und Dispositionen konstituiert wird, zu denen sich das Subjekt verhält. Säkularität ist demnach eine Art Urteil und Verständnis dafür, was Religion in einer modernen Welt

6 | Todd Weir (2015) hat den Asadschen Säkularismusbegriff in Bezug auf seine Entstehungsgeschichte in Deutschland hinterfragt und argumentiert, dass der Säkularismus innerhalb der deutschen Geschichte nicht einheitlich entstanden und fortgeschritten ist, sondern in der Politik einerseits und der Wissenschaft andererseits unterschiedliche und teilweise entgegengesetzte Verlaufsgeschichten hatte.

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sein sollte. Im Gegensatz zu politischem Säkularismus ist Säkularität ein soziales Phänomen, das sich durch generelle kulturelle Praktiken verbreitet, reproduziert und in Form von Befindlichkeiten einverleibt und ausgedrückt wird. Säkularität lauert in Hintergrundannahmen, Haltungen und Dispositionen, die die Gesellschaft und Subjektivitäten durchtränken (Mahmood 2015). Die kritische Auseinandersetzung mit Säkularismus ist bislang vorrangig in der US-amerikanischen Anthropologie vorangetrieben worden. Die Begrifflichkeiten aus diesen Forschungen haben zwar auch in den europäischen Sozialwissenschaften Niederschlag gefunden, jedoch haftet diesen in der Regel noch eine sehr normative Definition an. Kritischere Ansätze wurden an den Rändern einiger Disziplinen wie etwa der Islamwissenschaft, der Anthropologie oder der Religionswissenschaft rezipiert und weiterentwickelt, haben jedoch den Kanon der Religionssoziologie nicht erreicht, geschweige denn den politischen Diskurs in irgendeiner Form geprägt oder informiert.7 Somit ist dieser Beitrag auch ein Versuch, die Ansätze der kritischen Säkularismusforschung für den deutschsprachigen Kontext sichtbarer zu machen.

D er gespaltene B lick aus der säkul ar - liber alen M atrix Am 8. Januar 2015 veröffentlichte die Berliner Zeitung eine Titelseite mit mehreren Karikaturen des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. Auslöser dafür war der Anschlag auf die Pariser Redaktion am Vortag, bei dem elf Mitarbeiter und, auf der Flucht der beiden Täter, ein Polizist ermordet wurden. Eine Vielzahl von Tageszeitungen in Deutschland, darunter auch die Berliner Zeitung, veröffentlichte daraufhin ursprüngliche Charlie Hebdo-Titelseiten, auf denen Religion oder religiöse Autoritäten karikiert und diffamiert wurden. Die Titelbilder wurden als Zeichen der Solidarität veröffentlicht und sollten sowohl Ausdruck der Trauer als auch des Trotzes sein. Speziell mit dem erneuten Abdruck der Muhammad-Karikaturen sollte dem islamistischen Terror getrotzt und die unerschütterliche Standfestigkeit der Meinungsfreiheit des Westens demonstriert werden. Wie bereits im Falle der dänischen Muhammad-Karikaturen, die im Jahre 2005 erstmals von der dänischen Zeitung Jyllands-Posten veröffentlicht und später von anderen europäischen Zeitungen nachgedruckt wurden, reihten sich die Ereignisse um die Karikaturen ein in einen dichotomen Diskurs der westlichen Freiheit versus der islamischen Intoleranz und bestärkten diesen (Miera/Sala Pala 2009).

7 | Eine Ausnahme stellt die Forschung von Schirin Amir-Moazami dar, die beispielsweise die Debatte um das Kopftuch in den politischen Rahmen des Säkularismus eingebettet und problematisiert hat. Siehe Amir-Moazami 2007.

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In diesem Kontext veröffentlichte die Berliner Zeitung am 8. Januar 2015 ein besonderes Statement, indem sie Karikaturen des Papstes, eines Rabbiners und des Propheten Muhammads abdruckte.8 Betitelt als »Angriff auf die Freiheit« sollte hier gezeigt werden, dass Charlie Hebdo sich nicht nur über den Islam, sondern über alle Religionen und Religion generell lustig mache. Die Bildunterschrift unter der Karikatur des Rabbiners lautete wie folgt: »Nicht nur über Islamisten, auch über streng gläubige Juden, über alle streng Gläubigen eigentlich, machte sich das Magazin lustig.« (Bildunterschrift der Berliner Zeitung vom 08.01.2015, S. 1). Obwohl in dieser Bildunterschrift aus Religion »streng Gläubige« und aus Muslimen »Islamisten« wurden, schien Charlie Hebdo damit des Vorwurfs der Islamophobie enthoben und der Islam in seiner Außerordentlichkeit noch einmal bestätigt. Die Karikaturen des Rabbiners und des Propheten Muhammad wurden einander gegenübergestellt und zeugten von einer unübersehbaren Ähnlichkeit. Der Papst als weitere religiöse Autorität bildete die mittlere und trennende Säule zwischen den beiden Figuren. Die Bildunterschrift unter der Papst-Karikatur lautete: »Ein Maulwurf im Vatikan. ›Mal was anderes als immer diese Messdiener‹. Gegen diesen Titel zog die katholische Kirche vor Gericht.« (Ebd.) Die Bildunterschrift der Muhammad-Karikatur lautete wie folgt: »›Einhundert Peitschenhiebe, wenn ihr euch nicht totlacht‹ – nach diesem Heft landete 2011 ein Brandsatz in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Charlie Hebdo.« (Ebd.) Die Bildunterschriften suggerieren, dass der Islam keine Kritik vertragen könne. Denn auch die katholische Kirche habe sich zwar von der Zeitschrift verletzt gefühlt, habe aber rational gehandelt, indem sie den Weg des Rechtsstreits beschritt. Im Gegensatz dazu hätten Muslime bei der Muhammad-Karikatur sofort mit Gewalt reagiert. Nicht erwähnt wird, dass die katholische Kirche und andere katholische Organisationen insgesamt dreizehnmal gegen Charlie Hebdos antiklerikale Zeichnungen vorgegangen sind.9 Die Klagen wurden zwar im Namen der Meinungsfreiheit abgelehnt, trugen aber wesentlich dazu bei, eine soziale und moralische Stimmung gegen das Satireblatt und

8 | Insgesamt wurden fünf Titelbilder abgedruckt. Von den anderen zwei Titelbildern neben denen mit den drei religiösen Figuren karikiert eines den französischen Schriftsteller Michel Houellebecq, der als Wahrsager dargestellt wird, weil er in seinem just am Tag des Anschlags veröffentlichten Roman Unterwerfung eine Zukunft unter der islamischen Rechtsprechung in Frankreich prophezeit. Das andere zeigt einen trottelig in der Wüste herumirrenden Mann. Die Titelseite verspricht eine Biographie des Mahomet (sic!) (La vie de Mahomet!). »Mahomet« ist eine mittelalterliche Verballhornung des Namens Muhammad. 9 | Siehe qz.com/322550/charlie-hebdo-has-had-more-legal-run-ins-with-christiansthan-with-muslims/

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eine Distanzierung seitens französischer Politiker zu erwirken.10 Muslime und muslimische Organisationen in Frankreich hatten bereits im Jahre 2006, nachdem Charlie Hebdo einige der Muhammad-Karikaturen aus der Jyllands-Posten nachgedruckt hatte, friedlich gegen diese demonstriert. Zudem hatte auch die Grande Mosquée de Paris (GMP) im Jahre 2007 eine Klage gegen Charlie Hebdo eingereicht; allerdings konnten weder die Demonstranten noch die GMP die Diffamierung einer Minderheitenreligion anklagen, sondern lediglich die rassistische Beleidigung von Muslimen. Die Klage wurde zugunsten der Meinungsfreiheit abgelehnt, da die Karikaturen, so wurde vom Gericht erklärt, nicht Muslime, sondern lediglich Islamisten kritisieren würden.11 Es mag zunächst verwundern, dass auch diejenigen Formen der Diskriminierung, die in liberalen Gesellschaften normalerweise geächtet werden, als Klage abgelehnt wurden (nämlich Rassismus und Hassrede). Allerdings bewirkte die Rückführung bestimmter Eigenschaften der bespöttelten Gruppe hin zu Religion, dass der Vorwurf des Rassismus geschwächt und die Karikatur als eine überzogene, satirische Form der Religionskritik gelesen wurde. Dabei verdeutlicht ein Blick auf die Karikaturen, dass Religion und Rasse hier nahtlos ineinander übergehen: Die Eigenschaften, die durch die Karikaturen dargestellt werden, rassifizieren religiöse Gruppen durch stereotype Darstellungen der jeweiligen Autoritäten. In den Nachdrucken der Berliner Zeitung erkennt man, dass die stereotyp überzogenen Gesichtszüge, inklusive einer übergroßen Nase, den Semiten in seiner angeblich eindeutigen phänotypischen Unterschiedlichkeit markieren. Der Rabbiner wird in schwarz gehaltener, orthodoxer Kleidung dargestellt, Muhammad dagegen in einem weißen Gewand mit Turban. Die Magazintitel sind leicht angepasst, so dass die Figur des Rabbiners unter der Überschrift »Shoah Hebdo« erschien und die Figur des Muhammad unter »Charia Hebdo«. Beide Figuren sprechen die Leser direkt mit erhobenem Zeigefinger an. Der Rabbiner mit einer Geste des Handels: »Eine Million Rabatt auf die 6 im Austausch für Palästina!« Er erscheint in seiner europäischen Konstruktion als jüdischer Urtyp der zivilisatorischen Andersartigkeit und schlägt hier ein unmoralisches Geschäft vor, nämlich die Minderung der symbolträchtigen Zahl 6 Millionen im Gegenzug für Palästina. Die Zahl, die für die Tragweite und Größe des kontinentaleuropäischen Genozids an den europäischen Juden 10  |  Siehe www.economist.com/blogs/newsbook/2011/11/france-and-islam und eine Erklärung aus amerikanisch-journalistischer Perspektive: www.newyorker.com/news/ news-desk/french-law-treats-dieudonne-charlie-hebdo-differently 11 | In der Rechtsklage stützte sich die GMP auf zwei von insgesamt zwölf Bildern, da sie eine essentielle Verbindung zwischen Terrorismus und Muslimen aufbauten und diese als religiös begründet darstellten. Dazu siehe www.lemonde.fr/societe/article/ 2015/01/08/charlie-hebdo-22-ans-de-proces-en-tous-genres_4551824_3224.html

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steht und deren Relativierung in Europa einer Verleugnung des Holocausts gleichkommt, wird hier nun feilgeboten. Dass dieses unmoralische Geschäft ausgerechnet in den Mund einer orthodoxen jüdischen Figur gelegt wird, suggeriert die hinterlistige Geschäftstüchtigkeit, die Juden seit dem europäischen Mittelalter angehängt wird, als Selbstverständlichkeit und Logik jüdischen Agierens. Die Figur des Muhammad droht mit 100 Peitschenhieben, falls die Ausgabe des Magazins nicht den Effekt des »Totlachens« bewirke. Muhammads Botschaft ist eine Verkündigung und eine Bedrohung, die ihn als Prophet und exemplarische Figur des authentischen Muslims mit Gewalt belegt. Der Muslim verstehe, so bestätigt das Bild, im Grunde genommen nur die Sprache der Gewalt und ergibt sich aus Angst, nicht aber aus innerer Überzeugung seinem Propheten.12 Die Karikaturen offenbaren den Blick der säkularisierten und liberal gesinnten Mehrheitsgesellschaft auf die nichtchristlichen Minderheiten Europas. Letztere werden aufgefordert, sich von außen durch den Blick der Mehrheit zu betrachten und durch das Mit-Lachen über sich selbst eine Befreiung zu erfahren – als ob die Rassifizierung umgangen werden könnte, wenn man sich als Betroffener den Karikaturen gegenüber distanziert verhält. Dieser Blick auf die Minderheit wird nicht in seiner Partikularität entlarvt, sondern verschleiert sich in einer unmarkierten Position der Universalität und Neutralität, in diesem Fall der künstlerischen Meinungsfreiheit.

S äkul arität als neutr ale L inse und öffentliche P r a xis Das Phänomen der neutralen Positionierung lässt sich mit dem Begriff der Säkularität fassen. Entsprechend einem säkularen Verständnis können bzw. müssen sich moderne Subjekte von ihren Normen und Befindlichkeiten trennen. Die Vorstellung jedoch, dass Subjekte sich selbst und ihre konstitutiven Praktiken fernab und komplett entkörpert betrachten können, im »Idealfall« sogar darüber lachen können, ist nicht universal oder transtemporal. Sie ist ein Produkt der säkularen Moderne und ein grundlegender Bestandteil des entkörperten »Blickes von Nirgendwo« des positivistischen Wissenschaftlers.

12 | Da die Titelseite der Berliner Zeitung vom 8. Januar 2015 nicht mehr durch die Zeitung selbst zugänglich ist, mussten wir die Titelseite von anderen Internetauftritten aus rekonstruieren. Das Bild der Titelseite wurde z.B. weitergeleitet durch die Homepage von »Honestly Concerned e.V.«: honestlyconcerned.info/links/deutsche-zeitung-entschuldigt-sich-fuer-gefaelschte-holocaust-karikatur/ (zuletzt besucht am 24.09.17). Diese Homepage, genau wie die anderen Homepages, die wir hier zitieren, um das Titelbild zu rekonstruieren, stellen nicht unsere Meinung oder Überzeugungen dar.

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Die vermeintliche Trennbarkeit von religiösen Gefühlen, Praktiken und Überzeugungen von einem ursprünglicheren Subjekt konstituiert sich durch Begriffe wie Freiheit (von und zu), Neutralität (der Öffentlichkeit) und auch Gleichheit (politische). Es sind diese konstitutiven Begriffe, die vor allem gegen das, was als Religion identifiziert wird, mobilisiert werden und gesellschaftlich kodiert sind bzw. sich immer wieder aufs Neue in Debatten wie jener um die Karikaturen oder die Beschneidung normieren und kodieren.13 Aufgrund der säkularen Annahme einer Trennbarkeit zwischen dem ursprünglichen Subjekt und dem Religiösen kann etwa die Berliner Zeitung räsonieren, dass (hier paraphrasiert) quasi alle Religionen von Charlie Hebdo gleich kritisiert wurden – warum also reagierten Muslime nicht genauso wie Christen oder Juden auf Kritik? Diese Denkweise suggeriert, dass es eine politische und universale Gleichheit zwischen den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Gruppen gibt; institutionelle und politische Ungleichheiten werden ausgeblendet. Des Weiteren geht sie davon aus, dass nur eine wahrhaftige Art der Reaktion existiert, die sich in der säkular-liberalen Matrix bewähren kann. Hier führt Differenz kultureller und religiöser Art zu einer grundlegenden Spannung mit dem liberalen Prinzip der Gleichheit. Vor allem wird hier jedoch als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass sich Subjekte selber aus einer entkörperlichten, abstrakten und neutralen Perspektive betrachten können bzw. dass diese Perspektive überhaupt existiert und es religiöse Subjekte sind, die diese Perspektive noch nicht einnehmen können. Die ungelöste Bindung zwischen Subjekt und Objekt, in diesem Fall zwischen dem praktizierenden Muslim und dem Propheten Muhammad, wird aus säkularer Perspektive als ein Anhängen an falschen und unreflektierten Vorstellungen gelesen, das die säkulare Gesellschaft bedroht. Dass einige Muslime über die Karikaturen nicht lachen konnten und wollten, wurde also darauf zurückgeführt, dass die Minderheit nicht in der Lage gewesen sei, all ihre gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Vorstellungen von ihrem »wahren Selbst« zu trennen und aus einer Perspektive der Neutralität über ihre Tradition zu lachen. Oder wie es Phillip Val, Chefredakteur von Charlie Hebdo, zynisch ausdrückte: »Es ist rassistisch, sich vorzustellen, dass sie keinen Witz

13 | Saba Mahmood geht davon aus, dass Säkularität aufgrund ihrer Verortung in Befindlichkeiten nur dann zum Vorschein kommt, wenn Kontroversen ausbrechen, die sich speziell um religiöse Themen drehen, wie zum Beispiel die Erscheinung des Buches Die Satanischen Verse von Salman Rushdie, das Foto Immersion (Piss Christ) von Andres Serrano oder die dänischen Muhammad-Karikaturen der Jyllands-Posten (Mahmood 2015; 2009).

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verstehen.«14 Muslime sind, so verdeutlicht Val hier, unwillig sich selbst so zu reflektieren, wie es säkulare Bürger in Frankreich tun sollten.15 Auf ihrer Internetseite veröffentlichte die Berliner Zeitung noch ein weiteres Statement: »Wir tun das nicht, weil uns alle Karikaturen gefallen. Wir veröffentlichen die Satire von Charlie Hebdo aus Respekt vor den Ermordeten, die die Meinungsfreiheit verteidigten: Wir tun es für die Presse- und die Redefreiheit, für die Freiheit der Kunst und die Freiheit der Religionsausübung. Weil wir wissen, dass die terroristischen Täter nur dann den Sieg davontragen und unserer Gesellschaft, unseren Werten und unserer freien Lebensweise schaden können, wenn wir ihnen nachgeben, indem wir falsche Rücksicht nehmen, indem wir Meinungen nicht mehr äußern, nicht veröffentlichen oder gar unterdrücken.« (Die Redaktion der Berliner Zeitung am 08.01.2015)16

Wie die Redaktion hier erklärt, trennt sie sich von ihrem persönlichen Urteil, dem zufolge ihr die Karikaturen eigentlich nicht gefallen. Man veröffentliche diese dennoch, um verschiedenen Freiheiten, inklusive der Freiheit der Religionsausübung, die Unterstützung auszusprechen. Doch welche Art von Freiheit wird hier propagiert? Es ist die Freiheit der Trennung und Abstrahierung von Religion und religiösen Gefühlen bzw. das Delegieren dieser Gefühle in die Privatsphäre. In der Öffentlichkeit habe man sich, so die Grundannahme dieses Statements, an dem abstrakten Ideal des unbefleckten autonomen Subjekts zu orientieren. Ähnlich wie der säkulare Staat Religion einen Platz zuweist und reguliert, wirkt sich die säkulare Logik hier auf die Handlungsmodalitäten der Bürger aus. Der Text ist in einem homogenen Wir abgefasst und verteidigt unsere Gesellschaft, unsere Werte, unsere freien Lebensweisen. Die vorgegebene ahistorische Natürlichkeit des sprechenden Wir und der säkular konstituierten Gesellschaft produzieren und zelebrieren letztere als einzig und wahrhaftig frei und markieren eine Trennlinie zwischen jenen, die diese Freiheit praktizieren, und jenen, die diese Freiheit nicht genauso praktizieren, im Extremfall sogar gewalttätig gegen diese Praxis vorgehen. Wenn sich Säkularität durch eine Trennung oder ein Verhalten des Getrenntseins zwischen Subjekt und Objekt ausdrückt, wie nähert sich das ideale 14 | Siehe www.iol.co.za/news/world/cartoon-row-goes-to-french-court-313615 (zuletzt besucht am 28.08.17). 15 | Auch für das abstrakte Ideal des Staatsbürgers gilt es, als säkular-liberales Subjekt alle historischen, sozialen und kulturellen Partikularitäten abzutrennen und als engagierter, aber desinteressierter Bürger zu sprechen. 16 | www.berliner-zeitung.de/anschlag-auf-charlie-hebdo-liebe-leserinnen--liebeleser--774066 (zuletzt besucht am 28.08.17).

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säkulare Subjekt dann Objekten an? Für dieses Subjekt gilt, dass religiöse Traditionen und Texte veräußerlichte Objekte sind, an die man sich durch Lesen und Interpretieren zwar annähern kann, zu denen man jedoch eine gewisse historisierende Distanz wahrt: Allein durch ein Historisieren erhält der Text oder die Praxis einen Wahrheits- und somit einen Legitimitätsgehalt.17 Religiöse Texte und Bilder, die wissenschaftlich und historisch unhaltbar sind bzw. als symbolisch gelesen werden, stellen Momente dar, denen man als rationales Subjekt nicht glauben oder folgen sollte. Dass diese Texte und Bilder nicht nur durch ihre historisierte Lesbarkeit, sondern durch kollektive Praktiken innerhalb der religiösen Gemeinschaften Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit erhalten, wird in einer säkularistischen Lesart vollständig ausgeblendet.18 Die Vorstellung, dass bestimmte Bilder und Texte rein symbolisch oder repräsentativ sind, generiert sich zudem aus einer protestantisch dominierten Weltanschauung, die sich nicht unbedingt mit einer katholischen und christlich-orthodoxen, geschweige denn mit einer muslimischen oder jüdischen Lesart deckt (Keane 2006). Dennoch wird die Verkörperung des vereinzelten autonomen Subjektes, das sich Objekten durch eine historisierende Lesart annähert, als das paradigmatisch zeitgemäße und wahrhafte Subjekt verstanden.

R assismus und die H olocaust-E pisteme Dass der jüdische und der muslimische Körper im deutschen oder auch im europäischen Diskurs als Gleiche aufeinandertreffen, ist außergewöhnlich. Es mag dann auch, trotz aller Ähnlichkeit, nicht verwundern, dass die Berliner Zeitung für die Karikatur des Rabbiners einen Tag nach der Veröffentlichung um Entschuldigung bat. Wie sich durch einen Anruf eines Vertreters der israelischen Botschaft in der Zeitungsredaktion herausstellte, war die Karikatur des Rabbiners niemals auf einer Titelseite von Charlie Hebdo erschienen. Die Titelseite des »Shoah Hebdo« war das Werk eines rechtspopulistischen und antisemitischen Internetagitators namens Joe LeCorbeau. Die Berliner Zeitung hatte es aufgrund der nahtlosen Ähnlichkeit zu anderen Charlie Hebdo-Titelseiten,

17 | Ein gutes Beispiel hierfür ist das Leichentuch Jesu Christi, das genetisch untersucht wurde, um die Existenz Jesu zu bestätigen. 18 | Dieser Form der Annäherung liegt der Begriff der Tradition zugrunde. Eine praktizierte Tradition ist weder vergangen noch zeitgemäß, sondern durch ihre kontinuierliche Praxis erneuert und dadurch am Leben erhalten. Sie hat somit einen anderen zeitlichen Existenzrahmen, der sich nicht einfach in eine homogene Teleologie einbetten lässt. Siehe zum Begriff der Tradition MacIntyre 1984.

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auf denen Religion oder religiöse Autoritäten diffamiert wurden, zunächst nicht als antisemitisch erkannt.19 Der Verweis auf Antisemitismus entlarvte den neutralen Blick hier also als rassistisch – allerdings nur in Bezug auf den jüdischen Körper.20 Der jüdische Körper wird als bereits verletzt verhandelt und seine weitere Verletzung muss entschuldigt bzw. vermieden werden: Er hätte niemals auf diese Weise diffamiert werden dürfen. Der säkular-liberale Blick ist also nicht gleichgültig gegenüber gefühlten Verletzungen und partikularen Befindlichkeiten. Vielmehr erkennt er ein historisch gewachsenes, spezifisches Verständnis für bestimmte Verletzlichkeiten an und weiß vor allem auch um seine eigenen Aversionen gegenüber kultureller und religiöser Andersartigkeit. In dem Moment, in dem die Karikatur des Rabbiners als eine wahrhaftige Verletzung der jüdischen Gefühle akzeptiert wurde, wurde mit dem Prinzip der symbolischen Repräsentation also gebrochen: Juden müssen nicht aus der Distanz heraus über die antisemitische Karikatur lachen, weil Antisemitismus durch das Wissen um den Holocaust historisiert werden kann. Antisemitismus als eine historische Tatsache, die in Deutschland genozidale Formen angenommen hat, und das Wissen um diese historische Tatsache nähren säkulare Befindlichkeiten und haben juristische Konsequenzen: Die diffamierende Darstellung eines einzelnen Juden wird verstanden als eine Diffamierung des gesamten jüdischen Kollektivs. Eine Umkehrfrage scheint hier jedoch auch wichtig: Würde diese Karikatur als

19 | Der Verlauf der Entschuldigung ist dokumentiert auf www.israel-nachrichten.org/ archive/14042. Die offizielle Entschuldigung der Berliner Zeitung ist einsehbar auf: www.berliner-zeitung.de/kultur/medien/erklaerung-der-berliner-zeitung-entschuldi gung-fuer-abdruck-einer-falschen-karikatur-1159534 (zuletzt besucht am 04.07.17). 20 | Diese Betonung ist in diesem Kontext wichtig, weil »der Jude« als philologisches und rassisches Konstrukt bis 1945 als Semit kategorisiert und dadurch mit »dem Araber« als wesensgleich verstanden wurde. Antisemitismus, historisch gefasst, bezog sich auch auf Araber, die rassisch als genauso minderwertig gesehen wurden und sich zivilisatorisch nicht erheben konnten. Hiermit wird ein zunächst theologisch gefasstes Feindbild des Juden und des Muslims, das in bestimmten Zeiten aufeinandertrifft, durch zufällige Prozesse über die Jahrhunderte vom europäischen Mittelalter hin zur Moderne weitergesponnen. Rasse ist hier ein Konstrukt, das sich auf Sprache und Religion stützt und diese durch phänotypische Merkmale bestätigt sieht. Publikationen aus der amerikanischen Religionswissenschaft und Kulturgeschichte haben in den letzten Jahren diese Geschichte detailliert und eindrucksvoll aufgearbeitet (siehe z.B. Masuzawa 2005; Anidjar 2003; 2008). Auch im deutschsprachigen Raum entwickelt sich ein Überdenken der Kategorie »Rasse« in ihrer philologischen Entstehungsgeschichte (siehe Messling 2016) und ihrem Nachwirken in der deutschen Gesetzgebung (Barskanmaz 2011).

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Verletzung berücksichtigt, wenn sie den Holocaust nicht relativieren, sondern »nur« eine jüdische Autorität als unmoralisch stereotypisieren würde? Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Islamophobie (als affektiv aufgeladene Form der Diskriminierung) und antimuslimischer Rassismus (als verwissenschaftlichte Form der Diskriminierung) trotz dieser deutschen Geschichte »Salonfähigkeit« besitzen. Man könnte vermuten, dass dies an einer fehlenden vergleichbaren Geschichte der Verfolgung in Europa liegt. Ausschlaggebender jedoch scheint, dass viele Arten der Abwertung von Muslimen durch die säkular-liberale Matrix getragen werden, sich als »unschuldige« Religionskritik gebärden und sich somit dem Vorwurf des Rassismus entziehen. »Es geht ja nicht um Rasse«, die es, wie so oft begründet wird, »ja sowieso nicht gibt«, sondern um Religion. Völlig ausgeblendet werden bei derlei Äußerungen jene Forschungen zur Kolonialgeschichte in Asien und Afrika, die aufarbeiten, wie sich Rasse und Diskriminierungsphänomene aus Praktiken ableiten, die als uneuropäisch, unmodern und unsäkular abgewertet werden. Dass sich Rassismus also nicht nur an Phänotypen abarbeitet, sondern auch an religiösen Praktiken, ist nicht Bestandteil des öffentlichen Diskurses (Geschierre 2009; Stoler 1993; Keane 2006).21 So lässt sich auch speziell in Bezug auf Deutschland feststellen, dass die Kolonialgeschichte des Deutschen Reiches das kollektive Gedächtnis kaum geprägt hat, obgleich Kolonialismus und Säkularismus zur Rassifizierung von religiösen Minderheiten beigetragen haben.22

H istorische V er ant wortung als S ta atsr äson In liberalen Gesellschaften existieren eine Grammatik und ein Vokabular für Rassismus und Diskriminierung, die rechtlich wirksam werden können.23 In Deutschland speziell wurden Gesetze formuliert, die Juden als bereits historisch verletzte Gruppe beschützen sollen und die durch die Bezugnahme auf 21 | Vgl. dazu auch Heng 2011. 22 | Der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg (2009) hat beispielsweise die Zusammenhänge zwischen dem Holocaust und Kolonialismus in Frankreich und Nordafrika untersucht und herausgearbeitet, wie diese zwei Erinnerungsgrößen auseinandergehalten werden, obwohl sie eigentlich multidirektional gedacht werden könnten und müssten. 23 | Diese Aussage gilt in Deutschland unter Vorbehalt, da das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erst im Jahre 2006 vom Bundestag verabschiedet wurde, obwohl es bereits seit 2000 zu den europäischen Richtlinien gehört. Rassismus als Straftatbestand war somit trotz der deutschen Geschichte mehrere Jahrzehnte lang gesetzlich unerfasst geblieben.

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den Holocaust affektiv wirken.24 Das Wissen um den Holocaust übersteigt in diesem Sinne die juristische Sphäre und ist der Stoff, aus dem in Deutschland säkulare Befindlichkeiten hergestellt werden, die speziell auf den jüdischen Körper übertragen werden. Der deutsche Staat investiert seit den 1970er-Jahren in jährliche Gedenkveranstaltungen, Gedenkstättenbesuche, öffentliche Mahnmale, regelmäßige Austauschprogramme nach Israel, zivilgesellschaftliches Engagement und Bildungsprogramme gegen Antisemitismus speziell für Jugendliche sowie in militärische Unterstützung für den israelischen Staat.25 Die Anerkennung einer Schutzbedürftigkeit von Juden stützt sich damit nicht auf diese als eine religiöse Minderheit in Deutschland und Europa, sondern auf die Erinnerung an den Holocaust und die daraus resultierenden rechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Folgen: Die »Shoah Hebdo«-Karikatur ist durch den relativierenden Bezug auf den Holocaust als Diskriminierung lesbar und straf bar, nicht aber durch die diffamierende Darstellung einer religiösen Autorität und Minderheit. Die Erinnerung an den Holocaust schafft einen Wissensrahmen, der die Diskriminierung von jüdischen Körpern auf eine furchterregende Weise erfahrbar macht. Wenn ein jüdischer Körper in der Gegenwart erneut verletzt wird, entsteht eine affektive Rückkoppelung an den Völkermord. Das Gleiche gilt auch für die Diskriminierenden. Macht man eine Person darauf aufmerksam, dass bestimmte Aussagen, die sie über Muslime, Roma und Sinti trifft, in der Vergangenheit über Juden gemacht wurden, bricht Fassungslosigkeit aus: Man habe doch nur ein Problem benennen wollen und werde nun quasi als Antisemit bezeichnet! Der Hinweis auf Antisemitismus ist also ein anderer performativer Sprechakt als der Hinweis auf Rassismus generell oder auf antimuslimischen Rassismus im Speziellen. Die affektive Lehre aus dem Holocaust ist entsprechend nicht, dass alle religiösen, ethnischen und politischen Minderheiten einen besonderen Schutz 24 | Siehe dazu Küpper 2017 [1996]: 65. Unter § 4 Beleidigungsdelikte, Punkt 3 »Beleidigung unter einer Kollektivbezeichnung«, geht es um die Bedingungen dafür, unter denen Personen als eine klar umgrenzte Gruppe bezeichnet werden können, so dass die Beleidigung eines einzelnen Gruppenmitglieds als eine Beleidigung der gesamten Gruppe verstanden werden kann. Küpper erklärt, dass dies auf sehr wenige Gruppen zutrifft, und schreibt dann Folgendes: »Eine Besonderheit soll nach der Rspr. für die jüdische Bevölkerung gelten: Die Juden, die jetzt in Deutschland leben und Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen gewesen sind, bildeten eine hinreichend umgrenzte Gruppe, die sich aus der Allgemeinheit infolge ihres ungewöhnlich schweren Schicksals abhebt.« 25 | Siehe hierzu eine Auflistung und Konkretisierung der historischen Verantwortung Deutschlands: www.bpb.de/apuz/199894/israels-sicherheit-als-deutsche-­staatsraeson?p= all (zuletzt besucht am 28.08.17).

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vor der demographischen Mehrheit genießen sollten, weil diese die normative, diskursive, juristische und politische Macht hat, das Säkulare und Religiöse zu definieren und somit religiöse Minderheiten stufenweise auf verschiedenen Ebenen zu diskriminieren: Die Verletzung des muslimischen Körpers löst nicht die gleichen Affekte aus wie die Verletzung des jüdischen Körpers. Zum einen könnte dies schlicht daran liegen, dass es in Bezug auf Muslime keine Rückkoppelung an eine genozidale Erfahrung und ein kollektives Gedächtnis gibt. Zum anderen könnte man dagegen halten, dass die genozidale Erfahrung und die damit verbundenen affektiven Reaktionen epistemologisch bereits so getrennt sind, dass sie sich nicht auf andere Minderheitenkörper übertragen lassen, noch nicht einmal auf Roma und Sinti, die als Gruppe vom Holocaust betroffen waren und sind. Der Holocaust als Staatsverbrechen an einer religiösen Minderheit wird in einer säkular-juristischen Sprache als Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstanden und hat als solcher einen Platz im Völkerrecht gefunden. Die ermordeten Juden werden als Menschen in Erinnerung gerufen – die Ungeheuerlichkeit des Holocausts liegt aber auch darin, dass ausgerechnet jenes säkulare Projekt der Staatenbildung, das eine konfessionsunabhängige Menschheit hervorbringen sollte, die Ermordung jüdischer Menschen nicht zu verhindern im Stande war.26 Die jüdische Bevölkerung konnte ermordet werden, weil ihre religiöse Partikularität  – sei es als Ausdruck von kultureller Identität oder traditioneller Praxis  – als rassifizierbares Merkmal hin zu einer bedrohlichen radikalen Alterität (pseudo-)verwissenschaftlicht und politisiert wurde, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem Juden qua Staatsbürgerschaft als gleichberechtigte Mitglieder des säkularen Staates gelten sollten.27 Abgetrennt von seiner religiösen Tradition, aber auch von seinen ethnischen und sozialen Kontexten, erfüllt der jüdische Körper in der Erinnerungspolitik Deutschlands also die Funktion des universalen Menschen, des idealisierten

26 | Zur konzeptionellen Schwäche der Begriffe »Mensch« und »Menschenrechte« zwischen den Weltkriegen siehe Arendt 1986 [1955]. 27 | Allerdings warnt Hannah Arendt in ihren späteren Schriften, dass staatsbürgerliche Gleichheit nicht einfach gegeben ist, sondern in einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen erst geschaffen wird (Arendt 2007). Arendts Analysen lassen sich nicht nahtlos auf eine spätliberale Gesellschaft übertragen, in der migrations- und kolonialbedingte Minderheitengruppen leben. Oftmals wird hier von der Minderheitengruppe verlangt, sie solle sich in die Mehrheitsnormen integrieren. Die Anerkennung als Gleiche kann nur durch ein wiedererkennbares Vokabular der Mehrheit und der Machtinstanzen erfolgen und reproduziert dadurch eher politische Ungleichheit (siehe Markell 2003; Povinelli 2002). Über die Verfangenheit der als muslimisch konstruierten Subjekte siehe Tezcan 2013.

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säkularen Subjekts. Der jüdische Körper wird als vollkommen säkularisiert und frei von Religion, dennoch ermordet, verstanden, behandelt und erinnert. Der Holocaust als affektiver Rahmen und als Ereignis wird in der Regel faschistischen und rechtspopulistischen Kräften innerhalb des Staates und der Gesellschaft zugeschrieben. Unbeachtet bleiben dadurch jedoch die der systematischen Vernichtung vorangegangenen Diskurse um die, wie sie damals genannt wurde, »bürgerliche Verbesserung« der jüdischen Bevölkerung im entstehenden Nationalstaat. Im Zuge der Emanzipationsversprechen mussten und wollten sich Juden von ihren traditionellen Autoritäten und Lebensweisen trennen, um als deutsche Staatsbürger in Erscheinung zu treten. Dies hatte auch zur Folge, dass die jüdische Tradition mit dem Status der Religion belegt und in einen dafür vorgesehenen Raum verwiesen wurde. Diese Entwicklung wird in der Regel als säkulare Notwendigkeit verstanden; jedoch verschleiert die einseitige Lesart zugunsten des säkularen Liberalismus, dass diese Form der »Verbesserung« der jüdischen Minderheit zu ihrer moralischen und politischen Verletzbarkeit in Europa beigetragen hat. Die Erinnerung, die in Deutschland kultiviert wurde, fokussiert auf die rassistische Diffamierung und Verletzung der Juden und trennt somit die rassifizierten und vor allem körperlich gewalttätig kodierten Verletzungen von ihren säkularen Vorstufen, die direkt in die traditionelle Lebenswelt eingegriffen und bestimmte Praktiken als unmodern, uneuropäisch und undeutsch abgewertet und zerstört haben (Eliav 1960; Katz 1973; Sorkin 1987).

D ie V erle t zung des R eligiösen als S elbstbestätigung des  S äkul aren Die Verletzung religiöser und moralischer Gefühle einer Minderheit wird innerhalb der säkular-liberalen Matrix als eine erzieherische Notwendigkeit gelesen. Hier gilt, vor allem im Hinblick auf Muslime heute, dass sich die Minderheit noch in Toleranz üben und sich einer Position der Neutralität verschreiben müsse. Die Karikaturen von Charlie Hebdo werden dann als reine Symbole und Repräsentationen gelesen, losgelöst vom historischen Muhammad und von real existierenden und gepflegten Beziehungen zwischen Muslimen untereinander und zum Propheten. Dass die Karikaturen Muhammad als irrationalen Terroristen diffamieren und den muslimischen Körper allgemein als Bedrohung beschreiben, wird nicht als Rassismus, als Hassrede oder als eine Verletzung von religiösen Gefühlen anerkannt, sondern als selbstverständlich legitimer Ausdruck von Meinungsfreiheit. Die Freiheit desjenigen, der die Karikaturen zeichnet und sie vermarktet, und die Freiheit desjenigen, der über sie lacht, konstituieren sich geradezu aus der Verletzung der Minderheit, die nicht lacht. Der muslimische Körper, bzw.

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der repräsentierte Körper der muslimischen Autorität Muhammad, muss angegriffen und verletzt werden, damit er seine unzeitgemäßen religiösen Befindlichkeiten überwinden kann. Die Verletzung des Minderheitenkörpers ist seine Befreiung aus einer degenerierten Tradition und gleichzeitig eine Bestätigung und Normierung der säkularen Freiheitsnorm: Erst durch die Verletzung religiöser Körper fühlt sich die Mehrheit frei und stark, erfährt sich in ihrer Säkularität und fühlt sich auch frei, diese darin enthaltenen Befindlichkeiten auszuleben. Warum sich die Mehrheit überhaupt unfrei fühlt, wenn Minderheiten den Schutz religiöser und partikularer Befindlichkeiten einfordern und dieser Forderung nachgegeben wird, scheint mit dem Mehrheitsverhältnis zur Religion verbunden zu sein. Da das Säkulare eine epistemische Kategorie ist, die bestimmte Praktiken als diesseitig, diesweltlich und sich an einer linear fortschreitenden Zeit orientierend begreift, werden bestimmte Praktiken und Beziehungen, die sich nicht entsprechend säkularen Parametern begründen lassen, unlesbar, und zwar speziell dann, wenn sie mit Vorstellungen von Schmerz, Verzicht, Bindung, Kollektivität, Gemeinschaft und Autorität verbunden sind. Damit diejenigen Praktiken, die sich nicht aus einer säkularen Logik begründen lassen, eine Existenzberechtigung zu- oder abgesprochen werden kann, verlangt das Säkulare nach deren Übersetzung. So stößt die religiös-moralische Begründung, die gläubige Muslime selber für ihre Ablehnung der Muhammad-Karikaturen artikulierten, in einem säkular-liberalen Kontext unweigerlich auf Irritation: In der liberal-säkularen Matrix ist die Vorstellung eines rationalen Subjekts an individuelle Autonomie gekoppelt und wird als in sich abgeschlossen betrachtet. Demgegenüber kultivieren traditionelle Gläubige ihre Subjektivität durch die Bindung an religiöse Autoritäten28 und Muslime speziell durch eine Bindung an den Propheten, so dass die demütigende Darstellung Muhammads einem unmittelbaren Angriff auf das Verhältnis zwischen Muslimen und dem Propheten gleichkommt. Die wütende, empörte Reaktion gläubiger Muslime auf die Karikaturen war eine Reaktion auf diese gestörte Beziehung und der ihr innewohnenden Verletzung des kollektiven muslimischen Körpers – allerdings lässt sich diese Beziehung, ähnlich der Beschneidungspraxis, nicht in die säkular-liberale Matrix übersetzen.

28 | Dies gilt für alle nichtprotestantischen monotheistischen Bindungen zwischen Gläubigen und religiöser Autorität. Die Kritik Martin Luthers zielte darauf ab, genau diese Bindung zwischen Gläubigen und Papst bzw. katholischer Kirche aufzubrechen, indem sie die Bibel als allgemeingültiges Wort Gottes und autoritative Basis des Glaubens ins Zentrum rückte. Siehe dazu auch Asad 1993.

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Dass Juden und Muslime in Deutschland bereits einen rechtlichen Status als Staatsbürger innehaben und als solche Anspruch zumindest auf ein Mitspracherecht bezüglich ihrer öffentlichen Darstellung haben sollten, wird in der Regel nicht in Erwägung gezogen. Sowohl jüdische als auch muslimische Körper sind von Mehrheitsblicken und -normen interpelliert. Im Falle der Karikaturen jedoch fällt der jüdische Körper aus der diffamierenden und rassifizierenden Darstellung wieder heraus, weil der Mehrheitsblick aus dem säkularen Nirgendwo im ehemaligen Nazi-Deutschland als rassistisch verortet werden kann. Die Erinnerung an den Holocaust funktioniert also als eine Art Hindernis für mehrheitliche Freiheiten, da sie dem Wissen um diese Freiheiten ein Gewissen zugrunde legt. Der jüdische Körper wird in die Episteme des Holocausts eingebettet und als verwundeter Körper aus dem Raum der freiheitlichen Satire hinausgeschoben. Der muslimische Körper muss sich dort nun alleine verteidigen und innerhalb einer säkularen Logik behaupten, jedoch offenbaren seine Erklärungen ihn als historisch und kulturell minderwertig und disziplinbedürftig. Anders sieht es aus im Falle der Beschneidungsdebatte, bei der die epistemologische Trennung der beiden Minderheitenkörper nicht aufrecht erhalten wurde, weil es hier nicht um symbolische Repräsentationen ging, sondern um den physischen Körper des muslimischen und jüdischen Mannes. Im Gegensatz zum Karikaturenstreit tat sich durch die Vereinheitlichung der beiden Minderheitenkörper eine Möglichkeit der politischen Handlung auf, die allerdings ebenfalls in einer säkularen Episteme gefangen war, wie wir im nächsten Teil verdeutlichen werden.

D ie B eschneidung als S törung der säkul aren O rdnung Im Dezember 2012 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, das die Beschneidung männlicher Säuglinge weitgehend legitimiert.29 Der in dritter Lesung angenommene Gesetzentwurf enthält einen Artikel, der  – ohne dies explizit zu benennen – speziell auf die Absicherung der bestehenden jüdischen Praxis abzuzielen scheint. Die Beschneidung sei demnach »nach den Regeln der ärztlichen Kunst« durchzuführen. Der Text benennt keine spezifisch dafür ausgebildete Person, wie etwa den Mohel, sondern bestimmt, dass während der ersten sechs Monate nach der Geburt die Beschneidung auch

29 | Der Gesetzentwurf, Statistiken zum Abstimmungsverhalten und die der Abstimmung vorangegangenen Reden der Parlamentarier sind auf der Homepage des Deutschen Bundestages einzusehen: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/42042381_kw 50_de_beschneidung/210238 (zuletzt besucht am 14.07.17).

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»von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehenen Person« vorgenommen werden dürfe. Dem Gesetzestext zufolge könnte eine Beschneidung also entsprechend dem jüdischen Gesetz am 8. Tag nach der Geburt auch durch einen Mohel, einer als Beschneider ausgebildeten Person ohne ärztliche Ausbildung, vorgenommen werden. Vorausgegangen war dieser Entscheidung des Gesetzgebers eine sich über Monate in den Medien und den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke hinziehende Debatte über die Beschneidungspraxis, ausgelöst durch einen Entscheid des Landgerichts Köln im Juli 2012, das die religiöse Beschneidung männlicher Säuglinge und Kinder nach einem mit Komplikationen verlaufenen Eingriff für verboten erklärte. Das Mandat der Regulierung individueller Freiheiten zwang den Staat hier zur Intervention und damit zur Interpretation und Regulierung der traditionellen Körperpraxis.30 Dass die Beschneidung nicht nur Muslime, sondern auch Juden betrifft, war für das relativ zügige Eingreifen des Gesetzgebers und den Gesetzesentscheid bedeutend. Bereits wenige Wochen nach Veröffentlichung des ersten, die Beschneidung kriminalisierenden Urteils äußerte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dass Deutschland nicht das einzige Land sein könne, in dem Juden ihre Rituale nicht praktizieren dürften. Die Praxis von Muslimen betraf diese Aussage explizit nicht.31 Koby Oppenheim, ein amerikanischer Kulturanthropologe, bemerkt dazu: »While the case [that sparked the debate, H.T.] dealt with a Muslim child and a Muslim rite, the parameters of the debate quickly expanded to include the views of Jewish groups, and engaged a larger discourse related to the legacy of the Holocaust. As the doctor involved noted at the conclusion of the trial: ›I wonder if the same thing would have happened if the child had been a Jew‹ […]; given the swiftness of the government’s response, it is unlikely that it would have.« (Oppenheim 2014: 91) 32 30 | Zur Entwicklung der juristischen Frage von einem möglichen Fehlverhalten des Arztes hin zu einer generellen Infragestellung der Beschneidungspraxis siehe Bodenheimer 2012: 7-12. 31 | Siehe dazu Bodenheimer 2012: 15-17 und Oppenheim 2014: 91: »Perhaps most revealing is the statement by Angela Merkel less than three weeks after the decision was publicized, by which time the public debate, dubbed the Beschneidungsdebatte, had already reached a frothy pitch. At a party meeting she made clear that she did not want Germany to be the only country in the world where Jews could not practice their ritual. Her concern regarding a likely backlash abroad to the court’s case hinged on perceptions of the treatment of Germany’s Jewish, not Muslim residents.« 32 | Oppenheim zitiert nach eigener Angabe den behandelnden Arzt aus einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen Artikel von Philip Eppelsheim, der zur Zeit des Verfassens dieses Artikels jedoch nicht mehr abrufbar war. Patrick Bahners

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Dass die Beschneidung letztlich sanktioniert oder kriminalisiert worden wäre, wenn sie ausschließlich Muslime betroffen hätte, scheint eine fast banale Feststellung. In den letzten Jahren wurden diverse religiöse Körperpraktiken von Muslimen immer wieder medienwirksam skandalisiert und zum Teil auch sanktioniert, wie z.B. das Kopftuch für Lehrerinnen oder aber auch das Schächten.33 Da Juden und Muslime unterschiedlichen Inspektionslogiken unterliegen, kann also auch eine Praxis, die von ihnen gleichermaßen ausgeführt wird, unterschiedliche politische Bedeutungen tragen.34 Richtet sich der säkular-liberale Blick auf die Körperpraxis von Muslimen, so gilt er als eine selbstverständlich legitime, meist unbedingt notwendige Religionskritik. Richtet er sich dagegen auf die Körperpraxis von Juden, wendet er sich stumm ab, weil er nicht als antisemitisch verortet werden möchte. Im Moment der Problematisierung einer jüdischen Praxis drängt eine affektive Befangenheit an die Oberfläche, die eine Problematisierung des jüdischen Körpers analog zum muslimischen Körper unmöglich macht. Die Beschneidungsdebatte war demnach ein Moment, in dem sich der säkular-liberale Blick der Mehrheitsgesellschaft auch auf Juden richten konnte. Juden wurden hier entsprechend jener Inspektionslogik erfasst, die sonst Muslimen vorbehalten ist. Jedoch wurde im Gegensatz zu jenen Debatten, die einen ausschließlich muslimischen Debattengegenstand haben, diese Debatte um eine muslimisch und jüdische Praxis von politischen (und, in einem geringeren Maße, auch medialen) Diskursen gezügelt und in die Schranken verwiesen.35 Die Tradition der Bescheidung wurde seitens des Gesetzgebers letztlich nicht kriminalisiert – ein Umstand, der nicht die Kompatibilität der nimmt die Thematik in einem ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Artikel kritisch auf und argumentiert, dass das Absehen von einem Beschneidungsverbot nicht »aus den Erinnerungspflichten der Deutschen zu rechtfertigen wäre. Es geht um menschenrechtliche Normalität.« (www.faz.net/aktuell/feuilleton/ debatten/beschneidungsdebatte-ein-rechenfehler-11827870-p3.html abgerufen am 12.12.2017) 33 | Siehe dazu Alatovic/Helmken 2013: 124-125. 34 | Justus Wertmüller (siehe Wertmüller 2012/13) schreibt in der Zeitschrift Bahamas, dass »[b]ezüglich möglicher Beeinträchtigungen in Form von Traumatisierungen kein Wort über den jüdischen Brauch zu verlieren gewesen [wäre], sondern allein über den vor allem von Moslems praktizierten«. 35 | Dies ist bemerkenswert, auch weil sich laut Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Kriminalisierung der Beschneidungspraxis aussprach. Im Gegensatz zur »Islamkritik« wurden bei dieser »Islam- und Judentumkritik« die Befindlichkeiten der Bevölkerung also nicht berücksichtigt oder wahlpolitisch ausgenutzt. Dies ist ein Unterschied zu früheren Beschneidungsdebatten, in denen auch die politischen Eliten auf Seite des »Mobs« standen (Judd 2009).

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jüdischen Beschneidung mit säkular-liberalen Normen impliziert, sondern vielmehr Ausdruck des Post-Holocaust-Gewissens ist, das die Figur des Juden hin zu einem positiv konnotierten und schutzbedürftigen Subjekt verschoben hat. Wie die Kulturhistorikerin Ruth Ellen Gruber gezeigt hat, wurde die Figur des Juden vor allem in den Jahren nach dem Mauerfall 1989 zu einem medialen und politischen Topos, der die Überwindung der Vergangenheit besiegelte und das Selbstverständnis Deutschlands als liberale, tolerante und weltoffene Gesellschaft bestätigte.36 Die Figur des Juden und deren positive Konnotation balanciert damit jedoch auf einem Drahtseil: Zum einen muss der Jude ein Subjekt der religiösen und kulturellen Differenz bleiben  – denn nur als solcher kann er als Zeuge eines liberal-demokratischen Deutschlands auftreten, in dem religiöse Minderheiten grundrechtliche Freiheiten genießen. Zum anderen darf er nicht zu sehr anders werden, zu viel Differenz verkörpern, zu einem Anderen werden, der dieses liberal-säkulare Selbstverständnis in Frage stellt. Die Beschneidungsdebatte war demnach also auch ein Moment, in dem die Figur des Juden »zu sehr« anders geworden ist und der Figur des Muslims gefährlich nahe gekommen ist bzw. sich mit dieser gekreuzt hat. Anzumerken ist, dass diese Trennlinie zu Muslimen auch von Juden selbst oft evoziert wird. Die Beschneidungsdebatte traf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland dementsprechend unvorbereitet. Zwar bestimmte die Frage danach, ob Juden »integrierbar« sind, die »jüdische Frage« seit der Aufklärung, jedoch hatten die meisten Juden in Deutschland die Identifikation mit einer »problematischen Religion« für überwunden geglaubt. Die andauernde, sich kontinuierlich verschärfende Problematisierung islamischer Praxis wird kaum als eine (zumindest potentielle) Infragestellung auch der jüdischen Praxis gelesen. Während sich für Muslime die Debatte also in eine Abfolge von islamfeindlichen Diskursen einreihte, stellte sie für die jüdische Bevölkerung einen Wendepunkt dar. Praktisch über Nacht war man als ein Problem markiert, keine »kulturelle Bereicherung« mehr, keine »interessante« Identität, sondern ein Zeichen der archaischen Zurückgebliebenheit, der Gewalt und Unvernunft.37 Für die jüdische Minderheit in Deutschland bedeutete dies zweierlei: Zum einen konnten Juden, gerade weil sie bis zum Ausbruch der Beschneidungsdebatte zumindest in institutionellen Diskursen als positiv konnotierte, verletzliche und verletzte Subjekte gelesen wurden, die moralische Verantwortung des

36 | Siehe dazu Bodemann 1990 und Gruber 2002. 37 | Zu den unterschiedlichen Reaktionen von Juden und Muslimen siehe auch Öktem 2013.

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deutschen Staates aufrufen.38 Je länger sich die Debatte hinzog, desto mehr entstand der Eindruck einer deutsch-jüdischen Debatte, die durch die Episteme des Holocausts getragen wurde und Muslime weitgehend ausblendete. Wohingegen die muslimischen Gemeinden also ausschließlich das Recht auf die Ausübung der Tradition geltend machen konnten, konnten die jüdischen Gemeinden den deutschen Staat auf seine historische Verantwortung aufmerksam machen. Die politische Gnade, die der Staat in Bezug auf die jüdische Beschneidungspraxis hat walten lassen, hat die muslimische Minderheit hier mit eingeschlossen – allerdings nicht, weil man sich dieser Minderheit genauso verpflichtet fühlte, sondern weil es das Prinzip der säkularen Gesetzgebung nicht zulässt, nur eine Gruppe zu diskriminieren. Zum anderen war die jüdische Körperpraxis ebenso wie die muslimische innerhalb einer säkular-liberalen Matrix gefangen. Im Zentrum der Beschneidungsdebatte stand die Beschneidung als ein medizinisch (un)bedenklicher Eingriff und die etwaige Einschränkung der Religionsfreiheit zugunsten der Bewahrung eines als natürlich und neutral angenommen kindlichen Körpers. Die Handlungsfähigkeit der jüdischen Minderheit stütze sich also nicht »nur« auf die moralische Verpflichtung des deutschen Staates, sondern auch auf die Behauptungsfähigkeit innerhalb eines säkular-liberalen Bezugsrahmens: Die Beschneidung konnte ausschließlich in dem Maße als eine legitime Praxis verhandelt werden, in dem sie innerhalb eines säkular-liberalen Bezugsrahmens lesbar und damit legitimierbar gemacht wurde – so verwies beispielsweise die deutsche Vertretung des American Jewish Committee (AJC) in einer eigens zur Beschneidungsdebatte herausgegebenen Broschüre durchgehend auf die vermeintlichen medizinischen Vorteile der Beschneidung.39 Auch akademische Interventionen in die Beschneidungsdebatte setzten einen säkular-liberalen Bezugsrahmen meist als eine normative, universale Selbstverständlichkeit voraus. So wurde der Großteil akademischer 38 | Alfred Bodenheimer (2012: 46) problematisiert dies: »Das Anrufen der politischen Klasse, eine solche Rechtsklage in jedem Falle zu verhindern, hat womöglich rein rechtlich für deutsche Juden denn auch die erwünschten Folgen – entsprechende Äußerungen aus der Politik und insbesondere der Regierung lassen das (Stand Sommer 2012) erwarten. Doch damit begeben sich Juden in Deutschland wieder in den prekären Status des Schutzjudentums der Vormoderne, das von den Regierenden gegen den latenten oder auch offenen Widerstand einer großen Masse, wenn nicht einer klaren Mehrheit der Bevölkerung protegiert wird.« 39 | Die Broschüre kann eingesehen werden unter: ajcberlin.org/sites/default/files/ update_ajc_berlin_briefing _fakten_und_mythen_in_der_beschneidungsdebatte_ web.pdf (zuletzt besucht am 14.07.17). Bodenheimer (2012: 43-44) thematisiert die Problematik des säkularen Rahmens. Zur Verpflichtung zur Begründbarkeit siehe auch Amir-Moazami 2016.

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Interventionen aus einer juristischen oder medizinischen Perspektive heraus artikuliert, während sich die geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen, einschließlich der Judaistik/den Jüdischen Studien und der Islamwissenschaft, insgesamt zurückhielten.40 Nichtdestotrotz unterschieden sich die akademischen Positionen zum Teil sehr deutlich von den Positionen der politischen Akteure. Die gesetzliche Absicherung der Beschneidung sei, so argumentieren beschneidungskritische Stimmen aus der Wissenschaft, einzig als eine Ausnahme zu verstehen, die Beschneidung eine Praxis, die entsprechend säkular-liberalen Begründungslogiken eigentlich hätte kriminalisiert werden müssen und nur auf Grund der speziellen, historisch begründeten Rücksichtnahme auf Juden vorerst geduldet wurde. Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen – einschließlich derjenigen, die eine Expertenrolle in Bezug auf das Judentum und den Islam für sich beanspruchen – hielten den säkularen Paradigmen der Rechtswissenschaft und der Medizin also nicht nur keinen kritischen Spiegel entgegen. Zum Teil äußerten sie auch explizit Unbehagen gegenüber der politischen Entscheidung im Kontext einer säkular-liberalen Wissenschaftsproduktion (siehe beispielsweise Alatovic/Helmken 2013; Franz 2014; Schiratzki 2011). Beispielhaft lässt sich dies an einem im Jahr 2014 vom Mediziner Matthias Franz edierten Sammelband mit dem Titel Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis zeigen. Versammelt ist hier eine Gruppe von Wissenschaftlern, größtenteils Mediziner und Juristen, die sich der Verteidigung von Menschen- und/oder Kinderrechten und einer objektiven Wissenschaft verschreiben. Sie verstehen sich selbst als das Gewissen des universalen Menschen, den sie durch das Rechtsurteil im Stich gelassen glauben. Der Herausgeber des Sammelbandes war bereits im Juli 2012 als Aktivist hervorgetreten, als er einen von Medizinern und Juristen unterschriebenen offenen Brief in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen ließ. Unter dem Motto »Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein« riefen die Unterzeichner vehement gegen die Beschneidung auf.41 In dem Sammelband gab er nun diesem früheren Brief wissenschaftlichen Nachdruck und gewann auch einen Professor der Judaistik für die Streitschrift, auf dessen Expertenwissen zu jüdischer Geschichte und Tradition wir eingehen werden. 40 | Siehe dazu Bodenheimer 2012: 12. Eine Ausnahme sind die Analysen von Amir-Moazami 2016, Bodenheimer 2012 und Voß/Çetin 2013 sowie ein Artikel des Theologen Thomas Lentes, siehe www.fr.de/politik/meinung/gastbeitrag-zur-beschnei dungs-debatte-zwischen-kulturmarke-und-saekularisierung-a-822038; (zuletzt besucht am 27.08.17). 41 | Siehe www.faz.net/aktuell/politik/inland/offener-brief-zur-beschneidung-religi onsfreiheit-kann-kein-freibrief-fuer-gewalt-sein-11827590.html (zuletzt besucht am 14.07.17).

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Dabei fällt auf, dass im Kontext des Sammelbandes der beschnittene muslimisch-jüdische Körper an sich problematisiert wird. Dadurch, dass die beiden normalerweise unterschiedlich gelesenen Körper nun gleich gelesen werden konnten, entsteht für die säkular-liberale Matrix jedoch ein Problem: Wie kann die Kriminalisierung der Beschneidungspraxis als eine säkulare Religionskritik zum Wohle des Kindes verstanden werden, wenn doch diese Kriminalisierung die durch Antisemitismus verletzte Gruppe betrifft? Im Gegensatz zur Karikaturendebatte ist man hier darum bemüht, nicht emotional zu verletzen, zu spotten und zu demütigen, sondern einen wohlwollenden Blick auf den Minderheitenkörper zu werfen, den es zu befreien gilt. Der wissenschaftliche Blick auf die Beschneidung und speziell auf den jüdisch-muslimischen Körper konstruiert einen allgemein befreiten Körper als abstraktes Ideal, dem ein vernünftiges Subjekt innewohnt. Die Wissenschaftler positionieren sich im säkularen Nirgendwo und behandeln aus dieser Position einen vermeintlich unfreien, verstümmelten, traumatisierten jüdisch-muslimischen Körper, der den Zwängen der religiösen Gemeinschaft unterliegt, nicht zu einem autonomen Individuum heranwachsen kann und der den natürlichen Körper bedroht. Die unausgesprochenen Annahmen, die die Säkularität in der deutschen Mehrheitsgesellschaft bilden, werden hier als universales Prinzip für alle Körper und Subjekte postuliert. Die Wissenschaftler argumentieren aus einem für sich selbst in Anspruch genommenen »gesunden Menschenverstand« und decken in ihren Aussagen die mehrheitliche Stimmung. So ist zum Beispiel folgendes Zitat unter den Pressestimmen auf der Internetseite der Publikation aufgeführt: »Für jeden Arzt wie auch jeden engagierten Bürger stellt dieses Buch eine hochinteressante Pflichtlektüre dar, um sich als Teil einer der heutigen Zeit angemessenen, wahrhaftig integrierenden Gesellschaft zu begreifen.«42 Der Sammelband spricht somit zwar aus der Perspektive der Experten, appelliert aber gleichzeitig an den »engagierten Bürger«, dem mit dieser »zeitgemäßen« Lektüre ein richtiges Mittel für sein Handeln versprochen wird. Obwohl der wissenschaftliche »Blick aus dem Nirgendwo« ein spezifisch säkular-liberaler Blick ist, der hier nicht nur den religiösen Minderheiten die Aufgabe erteilt, sich von ihren Praktiken zu trennen, sondern auch für sich in Anspruch nimmt, als Menschen- und Kinderrechtsverteidiger einen prüfenden und disziplinierenden Blick auf die Körperpraxis der Minderheit zu werfen, gebärdet er sich als die Stimme der natürlichen und universalen Vernunft. Dort wo sich Minderheiten

42 | Dieses Zitat wird als Pressestimme aufgeführt und stammt von Wolfgang Bühmann aus Deutsches Ärzteblatt vom 12.09.14, siehe www.aerzteblatt.de/archiv/161583/ Genitalbeschneidung-Engagement-fuer-Kinderrechte (zuletzt aufgerufen am 09.12.17).

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von ihren partikularen, religiösen Praktiken trennen sollen, um als vollkommene und vernünftige Menschen in Erscheinung zu treten, werden also »Bürger« dazu aufgerufen, sich auf ihre säkular-liberalen Werte zu besinnen und die Integrationsverweigerer zu identifizieren: Muslime und Juden werden aufgrund ihrer Körperpraxis symbolisch ausgebürgert und als minderwertig und irrational rassifiziert.

D ie säkul are L ogik der M ehrheit als U niversalie In den Beiträgen des Sammelbandes wird durchgehend davon ausgegangen, dass die kühlen Wissenschaftler einen objektiveren Blick auf die Praxis der Beschneidung haben als der in Schuldgefühlen verstrickte Staat. Dieser rote Faden des uneingeschränkten Wissens darüber, wie die Dinge wirklich sind, die Expertenposition also, drückt sich in einer bi-polaren Gegenüberstellung eines vernünftigen, säkularen versus eines irrationalen Subjekts aus. Die vernünftige Position wird dabei mit jener der sprechenden Wissenschaftler identifiziert. Diejenigen, die sich der Vernunft entziehen, werden abwechselnd mit der Figur des Juden und des Muslims, mit dem Gesetzgeber und marginalen Teilen der Bevölkerung beschrieben. So schreibt der Judaist Andreas Gotzmann in seinem Beitrag »Jenseits der Aufregungen – Zur Konstruktion des Jüdischen in der Beschneidungsdebatte« der Staat habe »[n]ur mit einiger Mühe zur Legitimation des Gesetzes jenen situativen Bruch der sonst gültigen Logik nach[vollzogen], der Religionen insbesondere kennzeichnet, bei dem vereinzelte Dinge, die auch die jeweilige Religion üblicherweise als widersinnig begreift, plötzlich als vernünftig und richtig anerkannt werden. So differenziert die Kommentierung des Gesetzes zwischen einer ›positiven‹ Körperverletzung und einer ›missbräuchlichen‹ und ist in der Folge dann bemüht, die männliche Beschneidung zu einem positiven Akt zu erklären. Wie widersinnig diese letztlich religiöse Denkweise ist, lässt sich schon daran ablesen, dass mit Sicherheit weder die Theologen der beiden genannten Gruppen noch ein Mitglied derselben, ebenso wie jene, die hierzu ihre Zustimmung gaben, auch nur an sich selbst eine vergleichbare Operation wie die durch das Gesetz ermöglichte, also unter nicht klar geregelten Umständen beispielsweise der Hygiene oder der Schmerztherapie vornehmen lassen würden. Nur wenn der sonst gültigen Logik eine Absage erteilt wird, ist dies denkbar.« (Gotzmann 2014: 234)

Mit der »sonst gültigen Logik« meint der Wissenschaftler selbstverständlich die Regulierung von religiösen Praktiken, die nicht ins säkulare Weltbild der Mehrheit passen. In gewisser Weise ist dieser Appell folgerichtig, denn andere Köperpraktiken wie beispielsweise das Tragen eines Kopftuches wurden ebenfalls einschränkend reguliert, weil sie die Regelung der Trennung

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strapazierten. Gotzmann appelliert also an den politischen Säkularismus des Staates, der bisher bei Muslimen durchgegriffen hat. Entsprechend der »sonst gültigen Logik«, so Gotzmann, legitimiere der Gesetzgeber eine religiöse Praxis wie die Beschneidung nicht, weshalb das Gesetz von ihm als eine Ausnahme, eine Erschütterung der Vernunft, gedeutet wird.43 Die »sonst gültige Logik« ist dabei nicht nur diejenige Logik, nach deren Regeln der Gesetzgeber normalerweise handelt, sondern auch diejenige, nach der jeder normale Mensch agiert. Es existiert hier nur eine Logik, eine Rationalität und Vernunft, nämlich die des säkularen Subjektes. Eine andere Vernunft, gar eine religiöse Vernunft, die in sich schlüssig ist und tradiert wird, existiert nicht: Das irrationale religiöse Subjekt fügt kleinen Kindern Schmerzen zu und verletzt sie, während normale, säkulare Subjekte den Schmerz meiden. Die säkularen Affekte und Logiken des Wissenschaftlers werden nicht in Bezug auf ihre Genealogie oder Partikularität markiert, sondern immer wieder als die selbstverständliche, allgemeine Disposition des vernünftigen Menschen angenommen, so dass die Ablehnung der Beschneidung hier im Gewand eines natürlichen, menschlichen Affekts auftritt. Dass Schmerz selbstverständlich auch in der säkular-liberalen Welt existiert, wenn Eltern ihren Säuglingen Ohrlöcher stechen oder wenn sich jemand piercen oder tätowieren lässt, tritt als Vergleichsgröße nicht auf. Gotzmann weiter: »Niemandem würde sonst einfallen, sich aus Gründen einfachster Körperhygiene ein Körperteil abschneiden zu lassen, geschweige denn dies ganzen Generationen zuzumuten. Auch dächte niemand bei klarem Verstand daran, Säuglinge und Kinder einem solchen Akt zur Vermeidung sexuell übertragbarer Erkrankungen zu unterziehen, wiewohl diese für lange Zeit gar keinen Geschlechtsverkehr haben werden, diese Entscheidung dann gegebenenfalls selbst treffen könnten oder, wie die Mehrheit der Menschen, wohl doch lieber zu weniger drastischen Maßnahmen greifen. Die offenkundige Widersinnigkeit solcher Argumente zeigt das grundlegende Problem, nämlich dass hier rationalisiert werden soll, was letztlich nicht logisch zu vermitteln ist.« (Ebd. 235)

Die Abhandlung des Wissenschaftlers rekurriert auf die Affekte der »Mehrheit der Menschen«, die »bei klarem Verstand sind« und für die die Widersinnigkeit der Beschneidung »offenkundig« ist. Auf der einen Seite steht die

43 | Gotzmann charakterisiert das Gesetz der Bundesregierung explizit als eine Ausnahme, ein »Privileg« (ebd. 233), das »nur mühsam verdeckt Sonderrechte für spezifische Religionsgemeinschaften etabliert« (ebd. 259-260) und in »kaum nachvollziehbarer« Weise zugunsten »frommer Vorstellungen diese fragwürdige Ausnahmeregelung geschaffen hat«. (Ebd. 257)

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natürliche, menschliche Logik, die qua ihrer angenommenen Offenkundigkeit nicht weiter erklärt und als vollkommen ahistorisch und universal vorgestellt wird. Auf der anderen Seite steht die religiöse Logik, die der menschlichen Logik antithetisch gegenübersteht. Die Position des Wissenschaftlers wird auch sprachlich immer wieder in Szene gesetzt als die Stimme dessen, der quasi von Natur aus auf eine Art und Weise denkt und fühlt und damit eine als natürlich angenommene Ablehnung der Beschneidung zum Ausdruck bringt: das Allgemeine, das Offenkundige, die Mehrheit, das, was normalerweise getan und gefühlt wird. Der Blick des Wissenschaftlers auf die Körper der religiösen Minderheit setzt den idealen westeuropäischen Körper und dessen Affekte als Norm und konstituiert und bestätigt diesen Körper dadurch zugleich auch als Heimstätte der Vernunft und der Menschlichkeit. Er ist die Kulmination der säkularen Moderne, demgegenüber der religiöse Körper, auf den bemitleidend und bevormundend herabgeschaut wird, für die kollektive und falsche Befangenheit im Namen einer Tradition steht. Der Anthropologe Charles Hirschkind und der Politikwissenschaftler William E. Connolly verstehen säkulare Körperpraktiken als auf Wiederholung angewiesene, erlernte Praktiken, die der kontinuierlichen Bestätigung bedürfen. Da ein unbeschnittener Körper jedoch keine wiederkehrende rituelle Praxis um seinen vermeintlich unmarkierten Köper konstruieren kann (da er dann ebenfalls explizit markiert wäre), muss er diskursiv immer wieder den beschnittenen Körper thematisieren, um dennoch eine Normalität zu erfahren. Auf Hirschkind Bezug nehmend fragt Schirin Amir-Moazami nach der konstitutiven Funktion der Diskursanreizung rund um muslimische Körperpraktiken für den Fragenden: »I argue that at the heart of this and other heated public controversies on gendered Muslim bodily practices lies a notion and defense of the secularized body and bodily integrity which gains currency through the discursification of the Muslim body and its visibility in European public spaces.« (Amir-Moazami 2016: 149) Der wissenschaftliche Blick auf die jüdisch-muslimischen Körper schafft also nicht nur einen ungesunden und überholten Körper, er erschafft gleichzeitig den säkularen und überlegenen Menschenkörper. Die Infragestellung der Beschneidung festigt und bestätigt den säkularen Bezugsrahmen, innerhalb dessen nach den Körperpraktiken der Minderheit gefragt wird. Sie ist eine Selbstbestätigungstechnik des Säkularen, die immer wieder aufs Neue reproduziert werden muss, um ihre Validität als das Normale und Natürliche zu konsolidieren. Dabei wird ein Rassifizierungsprozess in Gang gesetzt, der die Körperpraktiken und Körper von Juden und Muslimen als irrational und unnatürlich entmenschlicht. Aus säkular wissenschaftlicher Sicht existiere kein Argument für diese Praxis, weshalb sie so nicht mehr benötigt und gebannt werden könne. Durch diese Diskursivierung wird den traditionellen Logiken und Funktionen des Ritus kein Raum gelassen, aus dem heraus

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sich Juden und Muslime aus einer eigenen inneren Rationalität behaupten könnten: Jedes Gegenargument muss für die säkular-liberale Matrix lesbar gemacht werden. Wiederholt wurde im Verlauf der Beschneidungsdebatte der Vorschlag gemacht, die Beschneidung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, um dem Kind eine »freie Entscheidung« zu ermöglichen44  – ein Vorschlag, der zum Teil auch von wissenschaftlicher Seite aus als ein »gelungener Kompromiss« vorgestellt wurde, da er mit dem Ideal des autonomen Subjekts harmoniert und die Unversehrtheit des kindlichen Körpers schützt. Epistemologische Vorrausetzung dieses Vorschlages ist die Annahme einer natürlich gewachsenen individualistischen Rationalität, die sich freiwillig einer Tradition ergibt oder bewusst der Tradition und den damit verbundenen Schmerzen entzieht. Die jüdische oder muslimische Tradition wird hier als ein Zusatz verstanden, der nach Entstehung der menschlichen und natürlichen Logik hinzugefügt werden kann. Der nichtbeschnittene Körper ist menschliche Essenz, dessen Affekte, Dispositionen und Formen nicht »auf einen späteren Zeitpunkt« verschoben werden können. Sie gelten als ahistorisches Aggregat, als normal, vernünftig und angeboren. Der beschnittene Körper hingegen ist religiös markiert, auf eine Weise, die das Menschliche verhindert und somit abgetrennt werden kann oder gar abgetrennt werden muss, damit sich der Mensch entwickeln kann. Die Reglementierung der Beschneidung ist diesem Verständnis entsprechend ein Eingriff, der das Menschliche nicht verletzt, sondern es im Gegenteil erst zum Vorschein bringt:45 Der neugeborene Junge muss, solange er noch universal menschlich ist, gerettet werden vor der jüdischen und muslimischen Handlung. In der Differenzierung und Trennung eines »natürlich Menschlichen«, das die Wissenschaft repräsentiert, von einem »unnatürlich Religiösem« schwingt das Gründungsnarrativ der säkularen Wissenschaft mit, in dessen Zentrum der reine, ungetrübte Blick auf die Dinge, »wie sie wirklich sind«, steht: Ein Blick, der frei ist von Befangenheiten, Befindlichkeiten und Voreingenommenheit, der quantitativ und qualitativ verifizierbare Fakten liefern kann, der von einem neutral vorgestellten Standpunkt aus eine nüchterne Betrachtung der Sachlage vollzieht. Es geht hier um eine zweifache Subjekt-Objekt-Trennung: In einem ersten Schritt muss sich das religiöse Subjekt von den eigenen Normen, Befindlichkeiten und Überzeugungen trennen und die Beschneidungspraxis zugunsten der säkular-liberalen Praxis als sinnlos, schmerzhaft und als besonders gewalttätig dem eigenen Kind gegenüber kategorisieren. Nachdem diese epistemologische Trennung vollzogen ist, muss sich das religiöse Subjekt

44 | So auch bei Gotzmann 2014 oder Alatovic/Helmken 2013. 45 | Zur Idee einer Unzuweisbarkeit des Körpers siehe auch Bodenheimer 2012: 50.

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als klar denkendes Vernunftwesen auch von der Praxis selbst trennen. Birgitte Schepelern Johansen bemerkt dazu: »This distinction between the categories of religion and science is a semantic cornerstone, both in the formation of church and university as distinctly separate institutions and in broader public discourses on religion and modernity. And often this distinction is articulated as being the result of a long process in which science has been gradually liberated from religion […]. This narrative […] has a certain dramatic structure, where a series of irreversible revolutions are seen progressively to have led to the final separation of science from religion and thus moved history from a dark past into an era of enlightenment and through these events we have gained more and truer knowledge of how things really are.« (Schepelern Johansen 2013: 6)

In einer säkularen Logik ist Religion ein veräußerlichter Gegenstand, zu dem man keinerlei Emotionen hegt und auf baut, damit man das wahre Wesen des Untersuchungsgegenstandes bestimmen kann. Dabei ist der wissenschaftliche Diskurs, den die mehrheitlich situierten Wissenschaftler hier ganz selbstverständlich mobilisieren, trotz der praktischen und wissenschaftlichen Dis­ tanz nicht emotional unberührt. In den Beiträgen drückt sich fortwährend eine Empörung darüber aus, dass die als universal verstandene Haltung zum Körper, zum bürgerlichen Selbst und zum Menschen an sich nun doch durch religiöse Praktiken gestört werden darf.46

D er mitfühlende S ta at als G efahr für den S äkul arismus In der wissenschaftlichen Kritik an der Entscheidung des Gesetzgebers wird letzterem in der Regel vorgeworfen, nicht vollends rational gehandelt zu haben.47 In den Worten Gotzmanns: »Derlei Verweise [seitens der religiösen 46 | Das Betonen einer Distanz in Bezug auf einen jüdischen Forschungsgegenstand scheint vor allem in Deutschland undurchdringlich, da die Frage nach der eigenen Situiertheit als ein bedrohlicher »Antisemitismuscheck« wahrgenommen wird. Antisemitismus wird als inhärent inkompatibel mit Vernunft, Rationalität und Wissenschaftlichkeit gedacht, als irrationales Vorurteil, das durch die vorurteilsfreie Betrachtung von Juden, »wie sie wirklich sind«, überwunden werden kann. Die Vorstellung einer wissenschaftlichen Neutralität, die »korrekte« wissenschaftliche Haltung, ist hier also eng verknüpft nicht nur mit einer Idee von Wahrheit – je neutraler der Wissenschaftler, desto treffender seine Analysen –, sondern auch Moral: je treffender die Analyse, desto moralischer das Handeln, das die Analyse generiert. 47 | Alatovic/Helmken (2013: 134) stellen fest: »Grundvoraussetzung für eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Lösung des offensichtlich bestehenden Interessenkonflikts

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Minderheit, H.T.] auf nicht zu hinterfragende göttliche Vorgaben oder gegebenenfalls auf eine viertausendjährige Praxis bauen darauf, dass die Gegenseite verständnisvoll von Nachfragen, Bedenken und möglichen eigenen Normansprüchen absieht.« (Gotzmann 2014: 258) Das Emotionale wird bei Gotzmann immer wieder hervorgehoben, indem das Handeln des Gesetzgebers als eine Art falsche Nachsicht dargestellt wird. »Die Gegenseite«, also der Staat, habe sich kleingemacht und sein eigenes Prinzip des Säkularismus unterminiert. Das Gesetz wurde, so Gotzmann, »nicht wie erforderlich mit größter Zurückhaltung, sondern fahrig und überstürzt, in unbedachtem Nachvollzug religiöser Forderungen« erlassen (ebd. 228); das Gesetzgebungsverfahren gab sich einer »widersinnige[n] Argumentation« (ebd. 246) und »eigenartig verschobene[n] Perspektiven« (ebd. 258) hin. Gotzmann versucht an den Staat als säkulares Organ zu appellieren, das sich seiner Rolle als regulierende Macht von religiösen Praktiken annehmen soll, um diese nach den Vorstellungen einer christlich-säkularisierten, sich aber als universal gebärdenden Wissenschaft zu zähmen. Gotzmann argumentiert, in anderen Worten, gegen die politische Gnade, die der Staat in Bezug auf die Beschneidungspraxis hat walten lassen. Das Expertenwissen des Judaisten wird hier zu einem Mittel, mit Hilfe dessen die Inkompatibilität der Beschneidungspraxis mit einer säkular-liberalen Ordnung herausgearbeitet wird. Gotzmann argumentiert, dass Religionsgemeinschaften und Gesetzgeber durch den Rückgriff auf einen medizinischen Diskurs religiöse Normen »verdecken« (ebd. 232) und so tun konnten, als ob sie mit der »sonst gültigen Logik« konform seien.48 Um seine Leser von der wirklichen Natur der Beschneidung zu überzeugen, arbeitet er das heraus, was er unter ihrer »religiösen Sinngebung« versteht: »Wie bekannt, ist inzwischen die körperliche Züchtigung verboten und der allgemeinen Rechtsprechung gemäß ist das elterliche Erziehungsrecht als eine Verpflichtung, im Interesse des Kindes zu dessen Wohl zu handeln, und nicht als eine Einschränkung kindlicher Rechte im Interesse der Eltern zu verstehen. […] Anders als die staatliche ist, dass die sich hier gegenüberstehenden Grundrechte ­abgewogen werden. Der Gesetzgeber ist diesem Erfordernis nicht nur nicht nachgekommen. Vielmehr wurde in einer seltenen Kühnheit die Abwägung der kollidierenden Interessen faktisch gemieden, so dass nicht annähernd von rationaler Gesetzgebung gesprochen werden kann.« 48 | Gotzmann kritisiert dementsprechend auch, dass Juden selbst einen medizinischen Diskurs einschlugen. Sein Artikel trägt den Titel »Zur Konstruktion des Jüdischen in der Beschneidungsdebatte«, weil – so die grundlegende These – mit Hilfe eines medizinischen Diskurses die jüdische Beschneidung fälschlicherweise als etwas »Vernünftiges« konstruiert werden konnte.

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Sultan Doughan und Hannah Tzuberi Gesetzgebung dies den eigenen Vorgaben entsprechend rationalisiert, wird von jüdisch-orthodoxer Seite genau das gefordert, was der Staat nicht zugeben kann: Nämlich dass im Interesse der religiösen Pflicht des Vaters, also des Erziehungsberechtigten, und eben nicht zugunsten des Kindes, dessen Beschneidung erlaubt werden müsse.« (Ebd. 250-252)

Es geht im Verlauf um Schmerz, Blut, Gefahr und Todesgefahr, deren Verhinderung den Leistungen der modernen Medizin zugeschrieben wird (ebd. 241), um scharfe Steine, Glas, »verschiedene Arten von Messern und Scheren bis hin zu Fingernägeln«, mit denen eine Beschneidung entsprechend der jüdischen Tradition rein theoretisch durchgeführt werden darf (obgleich diese Methoden, wie auch von Gotzmann erwähnt wird, von Beschneidern mit Nachdruck abgelehnt würden, ebd. 238), um die »Peinlichkeit« der Mezizah ba-Peh (das Aussaugen der Beschneidungswunde mit dem Mund) im Lichte bürgerlicher Moralvorstellungen (ebd. 249).49 Die Worte eines orthodoxen Rabbiners werden zitiert »nur, um zu dokumentieren, wie stark die orthodox-rabbinische Vorstellung überholten Begriffen von Biologie und Medizin verbunden bleibt« (ebd. 246). Auf der einen Seite steht die moderne Medizin, die Menschlichkeit, die Vernunft – und auf der anderen Seite, in einer völlig anderen Zeit, einer anderen Logik, steht »die eigene Logik der Rechtsinterpretation, die sich wie bei den meisten Theologien nicht durchgängig mit modernen Vorstellungen vernünftiger Argumentation deckt« (ebd. 239). Dass der Gesetzgeber sich, wie Gotzmann es ausdrückt, derartig verbog und die Augen vor der Barbarei wissentlich verschloss, sei, wie teils implizit, teils explizit angemerkt wird, nur durch die Übermacht eines die Vernunft trübenden Gewissens zu erklären: Man habe sich von seinem selbstauferlegten Tabu, die jüdische Minderheit aufgrund der deutschen Geschichte mit besonderer Vorsicht zu behandeln, in die Irre führen lassen.50 Der Wissenschaftler, der angeblich entkörpert, apolitisch analysiert, grenzt sich 49 | Vor allem in den Beiträgen, die aus einer medizinischen Perspektive argumentieren, werden diese als barbarisch empfundenen Aspekte der Beschneidung weiter ausgebaut hin zu einer Pathologisierung beschnittener Männer, die auch als Erwachsene unter ihrem »genitalen Trauma« zu leiden hätten. Dazu bspw. der Beitrag des Mediziners Volker von Loewenrich (2014). 50 | Dieser Störung der Vernunft ist, so Gotzmann, vor allem der Gesetzgeber aufgesessen, während die »skeptische Haltung [der Bevölkerung] gegenüber derart drastischen religiösen Ritualen, zumal wenn diese mit Zwang verbunden sind, eine positive Entwicklung zugunsten einer säkularen, pluralen Gesellschaft dar[stellen].« (Ebd. 230) Dass nichtsdestotrotz Teile der Bevölkerung ebenfalls gegen eine Kriminalisierung der Beschneidung argumentierten, liege, so Gotzmann, daran, dass »[d]ie beiden hiermit in der Regel verbundenen religiösen Traditionen des Judentums und des Islams dennoch als zugehörig empfunden werden« (Ebd. 233).

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vom Gesetzgeber ab und plädiert für einen reinen, politischen Säkularismus, der sich am wissenschaftlichen Säkularismus orientiert.51 Dabei liegt diesem Plädoyer für einen Staat, in dem die Minderheit nur unter Aufgabe der eigenen Tradition existieren kann, eben jene Lesart der deutschen Geschichte zugrunde, auf die wir bereits kritisch eingegangen sind. So schreibt Gotzmann beispielsweise, die historische Perspektive zeige, dass »[d]er säkulare Staat Religionen immer wieder erhebliche Zugeständnisse und Anpassungsleistungen abverlangt hat. Meist geschah dies gegen deren heftigen Widerstand. Doch wiewohl die Konsequenzen aus religiöser Sicht oft einschneidend waren, gelang es der ganz überwiegenden Mehrzahl der Religionsgemeinschaften, sich hiermit zu arrangieren. Eine grundlegende Gefährdung der Existenz von Religion kann also kein Argument sein. Allerdings erwies sich, wie insbesondere die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts zeigt, ein Lavieren des Staates zwischen Zugeständnissen und abweisender Gesetzgebung für Religionsgemeinschaften als weit verheerender als das Beharren auf eindeutigen, säkularen Positionen. Denn derlei Ambivalenzen – die auch das aktuelle Gesetz charakterisieren – verunmöglichten es beispielsweise dem deutschen Rabbinat des 19. Jahrhunderts, zu einer die Religionsgemeinschaft sichernden Haltung zu finden.« (Ebd. 260-261)

In der Lesart Gotzmanns führte eine ambivalente Haltung des Staates im 19. Jahrhundert dazu, dass die jüdische Minderheit fälschlicherweise vermutet hatte, man dürfe die jüdische Tradition auch weiterhin praktizieren. Hätte man nicht »falsche Toleranz« walten lassen, so hätte die Erziehung hin zur Vernunft abgeschlossen werden können – anstatt jetzt unter erschwerten Bedingungen, nämlich unter dem Gewicht des Gewissens, wieder aufgenommen werden zu müssen. Die Debatten um die »bürgerliche Verbesserung der Juden« werden hier als notwendige und positive Entwicklungen gelesen, unter die sich zwar bedauerlicherweise auch antisemitische Elemente mischten, die abgesehen davon aber eine zivilisatorische Notwendigkeit darstellten, nämlich ein Überwinden der »bekannte[n], fundamentalistische[n] Verweigerungsstrategie von Religionen« (ebd. 258).52 Die Schutzbedürftigkeit des jüdischen Körpers aufgrund des Holocausts wird hier nun aufgeweicht zugunsten eines unvollendeten säkularen politischen Projektes: die jüdische Minderheit muss 51 | Bodenheimer (2012: 45) schreibt dazu: »In der Beschneidungsdebatte wird der Holocaust als Hemmschwelle gegen Übergriffe auf jüdisches Leben vermeintlich eleganter und ausdrücklicher, jedenfalls mit noch besserem Gewissen und daher für Juden auf umso besorgniserregendere Weise umgangen.« 52 | Zur Emanzipation der Juden als einem zivilisatorischen Verbesserungsprojekt siehe Pasto 1998 und Markell 2009; zur Verknüpfung mit der »muslimischen Frage« siehe auch Amir-Moazami 2016. Zu den deutschen »Ritualdebatten« siehe Judd 2009.

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hier genauso wie die muslimische in ihren Traditionen gebrochen werden, um eine allgemeingültige Säkularität zu entwickeln. Dem Sammelband von Matthias Franz unterliegt dieses Bild einer Evolution in Richtung des (protestantischen) Christentums durchgehend. Bereits in der Einleitung beschreibt Franz mit Bezug auf den Beitrag des Journalisten Joseph Tusch die paulinische Interpretation der Beschneidung als eine »symbolische Wandlung« von der »Gesetzesreligion und den bedrohlichen Aspekten eines bei Abwendung rachebereiten Gottes mittels eines Glaubens an einen gnädigen Gott« (ebd. 13). Gelobt werden dementsprechend von Gotzmann die aufklärerischen Positionen der Haskala und des Reformjudentums (ebd. 237), die, wie Matthias Franz in seiner Einleitung vermerkt, »bereits im 19. Jahrhundert Vernunft und rationales Denken bei der Behandlung auch des Beschneidungsthemas einforderten« (ebd. 15). Der Umstand, dass die jüdische Minderheit in Deutschland zu einem sehr hohen Anteil aus sogenannten Kontingentflüchtlingen besteht, die als Säuglinge in der Sowjetunion nicht beschnitten werden durften, bezeuge, so Gotzmann, dass die Unverzichtbarkeit der Beschneidung, wie sie im Laufe der Debatte von jüdischer Seite immer wieder hervorgebracht wurde, gar nicht in dem Maße bestehe und dass jüdische Gemeinden sehr wohl auch nichtbeschnittene Mitglieder anerkennten (ebd. 260). Die unterschiedlichen Begründungslogiken und Befindlichkeiten, die auf jüdische und muslimische Minderheitenkörper wirken, werden hier zugunsten des zivilisatorischen Projektes des Säkularismus also vereinheitlicht. Während der deutsche Staat als administrativer Körper und Gesetzgeber der jüdischen – und dadurch auch der muslimischen – Gemeinde gegenüber ein Zugeständnis gemacht hat und seinem Gewissen folgend politische Gnade walten lies, versuchten Teile des wissenschaftlichen Diskurses genau dieses Gewissen abzutöten und die Holocaust-Episteme zu umgehen. Gotzmanns Behauptung der falschen Toleranz bezieht sich historisch auf die jüdische Minderheit, implizit aber eben auch auf die Gegenwart der muslimischen und jüdischen Gemeinden in Deutschland. Seine Ausführungen gehen im Grunde genommen einen Schritt weiter als die seiner Mitstreiter, da er am Fall der Beschneidung einen historischen Bogen zur »jüdischen Verbesserung« als einem unvollständigen Säkularisierungsprojekt schlägt, das durch den Faschismus unterbrochen wurde und nun durch eine falsche Politik der Toleranz auch nicht weitergeführt wird.

S chlussfolgerungen Das Zusammentreffen des muslimischen und des jüdischen Körpers fordert den Blick aus dem säkularen Nirgendwo grundsätzlich heraus. Der Blick auf den muslimischen Körper ist getragen von der Vorstellung, dass er verletzt

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werden muss, um ihm zu einer mehrheitlich genormten Säkularität zu verhelfen, dies in wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskursen gleichermaßen. Wie wir in der Karikaturendebatte verfolgen konnten, sahen sich Charlie Hebdo und ebenso die Berliner Zeitung zu ihren religionskritischen Abdrucken berechtigt, da sie die Praxis der Meinungsfreiheit, die Freiheit »an sich« und speziell die Freiheit von Religion propagierten. Charlie Hebdo sah eine liberale Notwendigkeit darin, Terrorismus und den muslimischen Propheten in Verbindung zu bringen, auch wenn dadurch eine ethnisch und sozial heterogene Gruppe von Muslimen als grundsätzlich gewalttätig rassifiziert wurde. Obwohl das Satiremagazin generell »religionskritisch« agiert, existiert bisher kein Charlie Hebdo-Titelblatt, das sich dem jüdischen Körper auf die gleiche religionskritische Art genähert hätte. Dass die Berliner Zeitung in die Falle des Internetagitators Joe LeCorbeau getappt ist, zeigt, dass sich der Rassismus der Titelseiten Charlie Hebdos durch die jahrelange Abwertung von Muslimen und des Islams in europäischen Gesellschaften vollkommen normalisiert hat. Dass die Karikatur des Rabbiners als eine antisemitische Karikatur gelesen wurde, liegt einzig an den relativierenden Aussagen zum Holocaust. Einzig durch die Holocaust-Episteme existiert ein Verständnis dafür, dass religiöse und ethnische Minderheiten in Deutschland und Europa verletzbar sind und des Schutzes bedürfen. Hierbei wird Antisemitismus nicht als eine Form des Rassismus gelesen, sondern der jüdische Körper wird von dem muslimischen getrennt und durch das affektiv getragene Wissen um den Holocaust in ein historisches Verhältnis gesetzt, das sich speziell zwischen Staat und jüdischer Minderheit bewegt. Genau durch diese epistemologische Trennung wird jedoch eine grundlegendere Auseinandersetzung mit dem deutschen Säkularismus und dem Verhältnis zu Minderheiten strukturell verhindert. Ein Resultat dessen ist auch, dass die vermeintlich neutrale Form der Religionskritik als legitime Form der Diskriminierung betrachtet und ihre Situiertheit sowie historische Genealogie nicht reflektiert wird. Der Aufruf zur Reform, zur Verbesserung, wird dementsprechend nicht mit Gewalt, sondern mit Befreiung und Autonomie assoziiert und als solcher von den Wissenschaften mitgetragen. Wie wir versucht haben aufzuzeigen, ist Religionskritik ein Resultat von wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Säkularität, in der es eine Idealvorstellung davon gibt, wer ein modernes Subjekt ist, wie dieses Subjekt sich zu Religion zu verhalten hat, was Religion ist, wo sie situiert werden muss und wie sich religiöse und traditionelle Praktiken und Befindlichkeiten der Norm der Trennung unterwerfen müssen. Kann die Trennung von religiösen Praktiken und Befindlichkeiten nicht vollzogen werden, so interpelliert der Blick aus der säkular-liberalen Matrix die Minderheitenkörper durch weitere normative Vorstellungen des universalen Menschen, in der Hoffnung, dass ein Verbot gegen diese Art Körper ausgesprochen wird. Der Vorwurf des Rassismus bleibt

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hier wirkungslos, da dem Staat und anderen weltlichen Institutionen grundsätzlich das Vorrecht zugesprochen wird, Religion zu disziplinieren, zu zähmen und zu regieren. Speziell durch die wissenschaftliche Situierung der Religionskritik können sich die rassifizierenden Prozesse, die sich zwischen Religionskritik und Rassismus auf bauen, als eine objektive Wahrheit gebärden. Eine Hinterfragung oder Reflexion der Prämissen, die der Religionskritik unterliegen, unternahmen wissenschaftliche Beiträge in religionskritischen Debatten kaum. So unterschied sich das Wissen, das während der Beschneidungsdebatte als wirkmächtiges und legitimes Wissen aufgerufen wurde, kaum von dem Wissen, das in der akademischen Aufarbeitung der Debatte mobilisiert wurde, so dass letztlich alle – unabhängig davon, ob sie für oder gegen eine Reglementierung der Beschneidung argumentierten  – den säkular-liberalen Plausibilitätsrahmen konsolidierten. Die Frage nach der Beschneidung wurde zwar auf unterschiedliche Weise beantwortet und diese Antworten fiel mal mehr, mal weniger im Sinne dieser jüdischen und muslimischen Tradition aus – die Frage selbst aber und die ihr unterliegenden Epistemologien, ihre Funktionen und Prämissen, blieb unmarkiert und neutral. Dies wird u.a. daran deutlich, dass auch Beschneidungsbefürworter säkular-liberal argumentierten, also beispielsweise medizinische Belege für die Vorteilhaftigkeit einer Beschneidung anführten. Hier galt es, die Kompatibilität der Beschneidung mit der mehrheitlich-säkularisierten Vernunft und Vorstellungen von persönlicher Freiheit zu beweisen und so den außer Kontrolle geratenen Juden wieder in die liberal-demokratische Ordnung zurückzuholen, so dass die epistemologische Trennlinie zum muslimischen Körper wieder stabil war. Da die Körperpraxis der Minderheit also einzig dann toleriert wird, wenn sie die säkular-liberale Matrix nicht sprengt, argumentierten beschneidungskritische Wissenschaftler gegen deren Eingliederung in säkular-liberale Logiken – nicht aber, um diese Logiken innerhalb einer westeuropäisch-christlich geprägten Geschichte zu partikularisieren, sondern um sie im Namen der wissenschaftlichen Neutralität zu universalisieren und anderen kulturellen, traditionellen und religiösen Partikularitäten das Recht zu existieren abzusprechen. Doch was bedeutet es, wenn die Körperpraxis einer Minderheit nur dann existieren darf, wenn sie sich innerhalb eines säkular-liberalen Bezugsrahmens behaupten kann, der zudem mehrheitlich geprägt ist? Was passiert, wenn eine traditionelle Praxis nur unter Anrufung eines Gewissens als ein notgedrungen zu tolerierendes Relikt legitimiert wird? Was geschieht mit jenen, deren Überleben die Gnade des Gewissens nicht sichert? Was geschieht, wenn die Wirkmacht des Gewissens verblasst? Was bedeutet dies für die Religionsfreiheit von Minderheiten? In diesem Beitrag haben wir demonstriert, wie unterschiedlich zwei ähnliche Körper und Körperpraktiken inspiziert

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werden, um eine kritische Reflexion über die Beschaffenheit und Wirkung des Säkularismus in Deutschland und Europa anzuregen. Um diese Art Reflexion einzuleiten, müssten die verengten Begriffe der Religionskritik und des Rassismus ebenfalls hinterfragt und überdacht werden. Dieser Schritt würde sowohl eine historisch-genealogische sowie eine analytisch-theoretische Auseinandersetzung mit der gewordenen politischen Gegenwart erfordern und somit zu einer Wissenschaft beitragen, die sich selbst und ihre Prämissen reflektiert.

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Voß, Heinz-Jürgen/Çetin, Zülfukar (2013): Interventionen gegen die deutsche »Beschneidungsdebatte«, Münster: edition assemblage. Weir, Todd (2015): »Germany and the New Global History of Secularism: Questioning the Postcolonial Genealogy«, in: Germanic Review 90, S. 6-20. Wertmüller, Justus (2012/13): »Jüdische Identität dringend gesucht«, in: Bahamas 65, siehe: www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web65-2.html. Wippermann, Wolfgang (2012): Auserwählte Opfer? Shoah und Porrajmos im Vergleich. Eine Kontroverse, Berlin: Frank & Timme.

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Verfremdungen: Muslim_innen als pädagogische Zielgruppe Julia Franz

W issensproduk tion Befassen sich wissenschaftliche Untersuchungen zu Muslim_innen insgesamt immer weniger mit Religion und religiöser Praxis (vgl. Spielhaus 2013: 183) und zunehmend mit sicherheitsrelevanten Aspekten, scheinen erziehungswissenschaftliche Studien, ausgerichtet auf religiös-kulturelle Orientierungen, Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft und Bildungsprozesse, eher den Perspektiven von Muslim_innen gewidmet. Pädagogische Expertisen versprechen, muslimische Weltbilder, Werte und Normen zu erschließen – die Frage nach deren Vereinbarkeit mit den gesellschaftlichen Institutionen wird dabei aber zumindest im Hintergrund mitgeführt. Die Produktion pädagogisch relevanten Wissens über Muslim_innen gilt den »Sorgenkindern« kultureller Integration. Dies erscheint vor dem Hintergrund früherer pädagogischer Praxis und Forschung zu »Ausländern«, »Gastarbeitern« und »Migranten« und deren kritischer Bilanzierung als neuerliche Variation der immer wieder aktualisierten Kulturkonflikt- und Defizithypothesen. Mit dem Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland, Einwanderungsland zu sein, wurde Pädagogik in die Pflicht genommen, die Integration von Migrant_innen und deren Kindern zu befördern. Lange vor diesem Bekenntnis war pädagogisch auf die Präsenz von Migrant_innen reagiert worden. Längst war auch die »Unmöglichkeit, Politik durch Pädagogik zu ersetzen« (Hamburger et al. 1984), deutlich benannt worden, wenngleich sich die Pädagogik dadurch nicht weniger in Dienst nehmen ließ. Nun geht es mit Fokus auf religiös-kulturelle Differenz erneut um Kulturkonflikt und Integrationsdefizite, so als läge im Islam bzw. in muslimischer Sozialisation und Erziehung der Schlüssel zu gesellschaftlichen Konflikten, die in Familie, Schule und Arbeitswelt relevant werden. Wie und unter welchen Bedingungen entsteht Wissen über Muslim_innen? Der Terminus »Wissensproduktion« weist auf die Notwendigkeit hin, das, was als gesichertes Wissen gilt, auf seine Produktionsbedingungen hin

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zu reflektieren, und zwar in einem weit umfassenderen Sinn, als es die Unterscheidung von Fachwissen und Alltagswissen nahelegt. Erstens deutet sich an, dass Wissen über Muslim_innen mehr Wahrheit über die Wissensproduktion enthüllt als über Muslim_innen, denn jede Vergewisserung über kulturell-religiös Andere ist unauflöslich mit Selbstvergewisserung verknüpft. Wissen über Muslim_innen entsteht, insofern und weil Muslim_innen als die religiös-kulturell Anderen gesetzt werden. Es handelt sich nicht um eine neutrale Entdeckung vorhandener Eigenschaften – bereits mit der Konstitution eines Forschungsgegenstandes sind Prämissen gesetzt, die diesen zugleich verschleiern. In der Wissensproduktion finden sie ihre Bestätigung: Muslimische Zugehörigkeit wird zentral gesetzt durch Terminologie, theoretische Operationen, die Wahl empirischer Zugänge und durch entsprechende Arbeitsbündnisse zwischen Forschenden und Beforschten (vgl. Resch 1998: 56ff.). Wird auf die gesellschaftlichen Rahmungen und Begrenzungen der Sichtweise auf den Forschungsgegenstand reflektiert, stellen sich grundsätzliche methodologische Fragen: Wie ist mit einem Gegenstand umzugehen, der gesellschaftlich konstruiert ist, in den soziale Ungleichheit und Deutungsmacht eingeschrieben sind, ohne diese Konstruktion schlicht zu wiederholen? Wie lassen sich Erfahrungen von zugeschriebenen Eigenschaften differenzieren? Methodologische Klärungen können nicht durch einmal für geeignet befundene Verfahrensweisen abgeschlossen werden. Eher weisen sie auf die wechselseitige Bedingtheit des Eigenen und des Fremden und damit auf die Persistenz des Problems hin. Zweitens ist nach den Produktionsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb zu fragen. Wissen als »Produkt« bezeichnet zutreffend die problematische Vorstellung von verwertbaren Ergebnissen und »best practice«. Attraktive Produkte sind Methoden und Instrumente zur Projektentwicklung, Weiterbildungen und Handlungsempfehlungen. Solche Produkte und Publikationen über Muslim_innen finden Absatz und was Hartmut Griese (1984b: 45) über Ausländerpädagogik schrieb, trifft heute auf die pädagogische Befassung mit Muslim_ innen zu: »Die ›Ausländerpädagogik‹ hatte die Qualifizierung der Pädagogen, nicht der Ausländer zur Folge.« Trotz zahlreicher publizierter Studien bleiben Einstellungen und gelebter Alltag von Muslim_innen ungeklärt, so dass es laufend Forschungsdesiderate zu bearbeiten gibt. Die gute Auftragslage verdankt sich aber nicht einfach der Präsenz von Muslim_innen, sondern ihrer dauernden Modellierung. In diesem Kreislauf finden sich ziemlich vorhersehbare Studien, Expertisen und Handreichungen zu Muslim_innen in Deutschland; doch auch differenzierende, die Kategorie »Muslime« hinterfragende Publikationen und Seminarreihen erreichen ihr Publikum unter diesem Titel. Von Jugendbiografien und Jugendkulturen über Erziehungsvorstellungen, moralisches Urteilen und Bildungsprozessen bis hin zu Antisemitismus und Fundamentalismus verweisen die Forschungsgegenstände qualitativer

Ver fremdungen: Muslim_innen als pädagogische Zielgruppe

Studien auf Integration, Migration und religiös-kulturelle Differenz – einen Komplex, in dem Migrant_innen die religiös-kulturell Anderen sind und deren Integration zur Debatte steht. Diese Perspektivität wird gelegentlich reflektiert und durch eine Orientierung an den subjektiven Perspektiven der Beforschten zu überwinden versucht. Hier lässt sich an Überlegungen zur Unterscheidung verschiedener Migrationsforschungspraxen anschließen (Mecheril et al. 2013): Die Ausblendung und ahistorische Dramatisierung von Migration, so als habe diese eigentlich erst mit der Anwerbung der Gastarbeiter_innen begonnen (ebd. 11f.), setzt sich fort als Dramatisierung muslimischer Migrant_innen im Hinblick auf Islamismus und Radikalisierung. »Ausländerforschung« wird dagegen als jene Forschungspraxis gefasst, die »sich ausschließlich und einseitig auf die Bedingungen gelingender Eingliederung von MigrantInnen in bestehende, direkt oder indirekt als gegeben geltende Ordnungen« bezieht (ebd. 14f.). Diese legitimiert sich im Besonderen durch Integrationsanforderungen an Muslim_innen. In der Beschäftigung mit Schule, Jugendkriminalität, Jugendkulturen und Geschlechterverhältnissen werden muslimische Jugendliche und Familien gesondert betrachtet  – als Angehörige einer Religion und zugleich als Migrant_innen (vgl. Spielhaus 2013: 170f.). In Abgrenzung von dieser Engführung auf Integrationsfragen werden muslimische Selbst- und Weltverhältnisse zum Untersuchungsgegenstand gemacht: Dies entspricht einer subjektorientierten »Nicht-Ausländerforschung« (Mecheril et al. 2013: 16). Untersuchungen von Sozialisations- und Bildungsprozessen werden hier nicht so sehr vom Fundamentalismusverdacht geleitet; es geht um eine Annäherung an die zugleich sozial strukturierte und biografisch-eigensinnige Praxis derer, die als muslimisch gelten. Wo dies im Zeichen der Optimierung pädagogischer Konzepte und der Erweiterung professioneller Handlungsspielräume geschieht, wird der gesetzte Rahmen, innerhalb dessen Erziehungs- und Bildungsaufgaben in Bezug auf Muslim_innen formuliert werden, in der Regel nicht überschritten. Erst als »konkrete Kritik« reflektiert Pädagogik die kulturellen Rahmungen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Forschungs- und Handlungspraxis (Bernhard et al. 2015: 10f.). Ein Wissenschaftsverständnis, nach dem pädagogische Praxen gerade hinsichtlich ihrer scheinbar unproblematischen Voraussetzungen zu analysieren sind, muss im Hinblick auf Forschungsförderung und Hochschulpolitik allerdings als weltfremd gelten.

R adik alisierungspr ävention als H orizont Besonders deutlich erweist sich das unmittelbare Verwertungsinteresse an Wissen über Muslim_innen als Auftrag zur Radikalisierungsprävention. Dieser Topos vereint soziologische und sozialpsychologische Analyseperspektiven

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unter dem Primat sicherheitspolitischen Intervenierens und suspendiert damit Analysen, die aufs Ganze gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse zielen. Auf EU-Ebene stehen Maßnahmen zur Radikalisierungsprävention im Mittelpunkt aktueller Förderpolitik (etwa: »Preventing radicalisation leading to violent extremism in the form of terrorism«, European Commission 2016: 4). Mit »Horizon 2020« wurden Arbeitsprogramme für zentrale gesellschaftliche Herausforderungen ausgeschrieben u.a. »gegenwärtige Radikalisierungstendenzen und deren Implikationen für Europa« und »religiöse Diversität in Europa« (Horizon 2020 WP 2016-2017 Reflective Societies: 35f., 91ff.). Verhaltens- bzw. sozialwissenschaftlich soll Fragen nach kognitiven und emotionalen Dynamiken der Radikalisierung nachgegangen werden, sollen auch Profile von Anwerbern und ihren Zielgruppen sowie Analysen der Zusammenhänge von Marginalisierung in Migrationsgesellschaften und Fundamentalismus vorgelegt werden. Vor diesem Horizont erscheint das Muslimische als Moment solcher Dynamiken  – sei es auch unausgesprochen. Zwar zielen die Fragen der entsprechenden Arbeitsprogramme auf Differenzierung und komplexes Zusammenspiel verschiedener Integrationsdimensionen, religiös-kultureller Differenz und globaler Migrationsbewegungen. Gerade dieser Konnex aber hat sich durch Forschungsförderung und politische Handlungsfelder als Rahmen etabliert, innerhalb dessen Wissen über Muslim_innen nachgefragt und produziert wird. Das gilt auch für die bundesdeutsche Landschaft der politischen Förderer und Auftraggeber.1 Der Rahmen Integration, Migration und religiös-kulturelle Differenz gibt das Interesse an Sozialisationsprozessen vor, auch ohne expliziten Bezug auf Fundamentalismus. Die Adoleszenzphase ist wesentlicher Bezugspunkt für Familienbeziehungen, Erziehung, Geschlechterrollen, Religiosität. In der sozialpädagogischen Praxis entwickelten sich Mütter- und Väterprojekte, Konzepte der Jugendbildung und Netzwerkarbeit mit Moscheen und Migrant_innenselbstorganisationen. Darin ist selten von Islamismus oder Radikalisierung die Rede, vielmehr von Integration, Förderung, Begleitung bei der Suche nach Identität und Demokratieförderung. Die sorgfältige Unterscheidung von muslimisch und islamistisch ist Teil einer Radikalisierungsprävention, die auf Selbstrepräsentation setzt: Adressiert werden Muslim_innen als Verbündete, z.B. Hodschas, in Gemeinden engagierte Väter oder »Stadtteilmütter«. Zunehmend wird auch auf Sozialarbeiter_innen, Polizei- und Lehrkräfte gesetzt, die einen »muslimischen« bzw. »Migrationshintergrund« haben. Dass

1 | Bundesministerium für Inneres (BMI), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie die Bundesländer, Stiftungen, Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung.

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die Bezeichnung Muslim_innen dabei einmal für ein Glaubensbekenntnis steht, ein andermal für die Selbstbezeichnung Jugendlicher gegenüber Repräsentant_innen der Erwachsenenwelt oder auch für die nationale Herkunft der Eltern oder Großeltern, irritiert nur selten. Die Konnotationen, die sich daran heften, müssen nicht immer ausgesprochen werden. Doch gewollt oder nicht, zumindest implizit geraten interkulturelle und interreligiöse Projekte im Zuge der Krisenrhetorik zu Migration und Flucht in den Deutungshorizont Radikalisierungsprävention. Gerade das legitimiert ihre öffentliche Förderung. So werden Muslim_innen als Diskurssubjekte dingfest gemacht. Wann genau dies begann, lässt sich schwer ausmachen (Amir-Moazami 2014: 360f.). Zu verweisen ist auf Kolonialgeschichte und Orientalistik, auf die kulturindustrielle Entwicklung (Attia 2009: 53ff.; 101ff.; 164f.) sowie auf politische Entwicklungen wie die Islamische Revolution im Iran 1979 und die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000. Doch bereits im sehr viel engeren historischen Rahmen der Bundesrepublik lässt sich nachvollziehen, wie sich in der Festsetzung des kulturell Anderen eine Totalisierung muslimischer Identität vollzogen hat. Die im Folgenden diskutierten Publikationen aus der Sozialpädagogik lassen Momente der Verfertigung muslimischer Identität in und durch Pädagogik hervortreten.2

K ontinuitäten und B rüche Ausländerpädagogik zwischen Solidarisierung und Paternalismus In den 1970er-Jahren leisteten ehrenamtliche Initiativen zunächst Hausaufgabenhilfe für die Kinder von Gastarbeiter_innen (Kowalski 1984). Die Initiativgruppen in der Ausländerarbeit weiteten ihre Aktivitäten auf die Eltern und jüngeren Geschwister der Schulkinder aus. Einige problematisierten die Voraussetzungen und Bedingungen ihrer Tätigkeit und setzten sich politisch für eine staatliche Förderung und Integration der Familien ein. Sie thematisierten dabei auch Diskriminierung und die Unsicherheit bezüglich des Aufenthalts (ebd. 142ff.). Zugleich etablierten sich Ausländerpädagogik und -forschung in der Erziehungswissenschaft, und hier trafen verschiedene Momente aufeinander: die solidarische Unterstützung vulnerabler Arbeitsmigrant_innen und ihrer Familien sowie die Erziehung kulturell Fremder. Der Widerspruch

2 | Einen Überblick zu geben ist kaum möglich, und eine systematisierende Analyse, die verschiedene Formate wie Lehrbücher, Handreichungen und Unterrichtsmaterialien, Qualifizierungsarbeiten und größere Forschungsprojekte einbegreifen müsste, kann hier nicht geleistet werden.

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zwischen emanzipatorischer und paternalistischer Fürsorge zeigte sich in den Vorstellungen, die man sich von der pädagogischen Zielgruppe machte. Einerseits ging es um Ausländer_innen im rechtlichen Sinn, also um Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Sie sollten u.a. darin unterstützt werden, ihre Rechte in Betrieben, gegenüber Behörden und im Wohnumfeld geltend zu machen. Andererseits wurde das Erklärungsmuster Kulturkonflikt dominant (Hamburger 1984: 66ff.) und mit ihm die Annahme einer Identitätsproblematik, der die Kinder immigrierter Eltern unterlägen. Diese Annahme verweist auf einen Begriff gegeneinander abgeschlossener, in sich homogener Kulturen, die unvereinbar sind und es bleiben.3 Dass diese Annahme empirisch nicht gestützt werden konnte, schmälerte ihre Bedeutung zur Begründung der Ausländerpädagogik nicht (ebd. 65f.). So gerieten türkische Gastarbeiter_innen und ihre Kinder auch als Muslim_innen in den Blick; wenngleich noch nicht als fundamentalismusverdächtig, so doch als kulturell »zwischen den Stühlen« sitzend. Zugleich wurde bereits früh auf tatsächliche Diskriminierung der Gastarbeiter_innen und ihrer Kinder hingewiesen. Kurz vor dem Anwerbestopp 1973 kritisierte Marios Nikolinakos die bundesdeutsche Diskussion über Nutzen und Kosten von Gastarbeiter_innen für die BRD wie folgt: »Es ist falsch, von einer anzustrebenden Integration bzw. Eingliederung der Gastarbeiter zu sprechen, zumal die Gastarbeiter schon wirtschaftlich und sozial objektiv in der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft integriert sind, nämlich als Hilfsarbeiter und als eine soziale Schicht, die die Funktion des Proletariats und Subproletariats des 19. Jahrhunderts erfüllen muß. Das geschaffene juristische System der Diskriminierung der Gastarbeiter auf allen Ebenen und das Rotationsprinzip, das angeblich als Grundlage der Zu- und Auswanderungspolitik der Regierung gilt, weisen die Gastarbeiter in die Rolle einer Reservearmee, die ständig mobil bleibt.« (Nikolinakos 1973: 13f.)

Diese polit-ökonomische Kritik der »Gastarbeiterfrage« richtete sich an ein breites Publikum – und erreichte das Feuilleton der ZEIT sowie die Ausländerforschung (Schreiber 1974, Griese 1984a). Freilich konnte sie die Kulturalisierung der Anderen nicht aufhalten.

Klassenkonflikt und verkehrtes Bewusstsein Die skizzierte Spannung zwischen der Solidarisierung mit diskriminierten Gastarbeiter_innen und dem Paternalismus, mit dem man ihnen als kulturell Anderen begegnete, lässt sich an einem kleinen, in den 1980er-Jahren

3 | Zum extensionalen Aspekt des Herderschen Kulturbegriffs und der Kritik daran vgl. Welsch 2014, zur Akzentuierung des Orientalismus bei Herder z.B. Schulze 2007.

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weitverbreiteten Buch studieren. In einer Mischung aus polit-ökonomischer Kritik und naiver Faszination für die fremde, »authentische« Lebensform eines anatolischen Dorfes schrieben die Sozialpädagoginnen Andrea Baumgartner-Karabak und Gisela Landesberger über die Lebenssituation türkischer Frauen »zwischen Kreuzberg und Anatolien«. Der Band Die verkauften Bräute erschien 1978 in der Reihe »Frauen aktuell« (rororo) und erreichte bis 1988 neun Auflagen mit einer Gesamtauflage von 38.000 Exemplaren. Ausgehend von ihrer Bekanntschaft mit einer »Gastarbeiterfamilie«, die die Pädagoginnen in einem »türkischen Kinderladen« in Berlin schlossen und bei einer gemeinsamen Urlaubsreise in deren anatolisches Dorf vertieften, stellten sie die Situation der Frauen in der ländlichen Türkei jener der Gastarbeiterinnen in Berlin gegenüber. Die türkischen Frauen galten ihnen als doppelt Unterdrückte: Als ausländische Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik diskriminiert, als Frauen in den Gemeinschaften der türkischen Migrant_innen und der anatolischen Dorfgemeinschaft den Normen der Ehre unterworfen. Baumgartner-Karabak und Landesberger (1978: 39ff.) erkannten im Islam ein verkehrtes Weltbewusstsein (Karl Marx), das die dörflichen Produktions- und Abhängigkeitsverhältnisse legitimiert und aufrechterhält. Ihre Argumentation basiert auf weitgehenden Motivunterstellungen (womit sie einen Nerv der Zeit trafen, vgl. Beck-Gernsheim 2004: 53): Türkinnen als naive Angehörige einer fremden, archaischen und bei aller Faszination hoffnungslos rückständigen Welt. Dieser Topos wird im zweiten Teil des Buches variiert, wenn es um die Brüche im Erleben der Migrantinnen zwischen bäuerlichem Familienbetrieb und kapitalistischer Großproduktion, zwischen Dorf und Großstadt geht: In der Migrationssituation würden sich viele junge Frauen ihrer Abhängigkeit von Eltern und Ehemann bewusst (1978: 110). Das Buch richtet sich an engagierte Frauen in helfenden Berufen, wobei deren Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzt wird: Die Professionellen sind deutsch, ihre Klientel ist türkisch. Gastarbeiterinnen, die »ihren Protest, wenn überhaupt, nur durch Krankheit und Depression äußern«4, wurden zur sozialpädagogischen Zielgruppe von Rettung und Schutz. Hierin kommt die grundsätzliche »Doppelgesichtigkeit« Sozialer Arbeit zum Ausdruck, »die sich helfend und unterstützend einer konkreten Notsituation annähert und gleichzeitig einer stigmatisierenden öffentlichen Problemdefinition zum Durchbruch verhilft« (Hamburger 2006: 180f.). Das gilt auch für die Zielgruppenkonstruktion in Die verkauften Bräute, die auf unterstellten Motiven wie Angst, Leiden, Unsicherheit und Sehnsucht basiert und die Frauen zu passiv leidenden, ahnungslosen Wesen erklärt. Einheimischen Pädagog_innen wird hingegen zugetraut,

4 | So die Herausgeberin der Reihe »Frauen aktuell«, Susanne von Paczensky, im Vorwort (Baumgartner-Karabak/Landesberger 1978: 8).

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die »hier herrschenden kapitalistischen Verhältnisse« zu analysieren und die biografischen Brüche der anatolischen Frauen zu verstehen, sie dementsprechend zu betreuen, zu bilden und zu beraten (Baumgartner-Karabak/Landesberger 1978: 112f.). Mit dieser Haltung verstanden sich die Autorinnen als gesellschaftskritisch: Sie wiesen auf die unsäglichen Wohnbedingungen der Gastarbeiter_innen und auf die Bedingungen türkischer (und jugoslawischer) Akkordarbeiterinnen in der Produktion hin (ebd. 74; 83ff.). Zugleich attestierten sie den Frauen Emanzipationsdefizite. In Berlin aufwachsende türkische Mädchen entkämen weder den rigiden, im Islam begründeten Geschlechternormen ihrer Eltern noch dem durch die Konsumwerbung propagierten »Bild des schönen, schicken, freien, jungen« Mädchens (ebd. 107f.). Deutlich wird dabei, wie von gesellschaftlichen Bedingungen direkt auf die Motive der Frauen und Mädchen geschlossen wurde, ohne das Fremdverstehen grundsätzlich zu problematisieren und etwa nach der Bedeutung divergierender Identitätsnormen zu fragen. Die Bereitschaft der Frauen, an Bildungs- und Beratungsangeboten teilzunehmen, wurde ebenso vorausgesetzt. Zu berücksichtigen seien ihre häuslichen Verpflichtungen, wenn es um Öffnungszeiten und Kinderbetreuung gehe (ebd. 114) – dass sie kämen, wenn sie könnten, galt als sicher. Integrationsverweigerung wurde nicht thematisiert, was folgerichtig erscheint: Als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse waren türkische Frauen in dieser Perspektive keine religiös-kulturellen oder politischen Subjekte, sondern allenfalls ein Kollektivsubjekt, das seiner gesellschaftlichen Lage ausgeliefert ist, ohne sie zu durchschauen. Diese Konstruktion der Unterdrückten wich einer pädagogisierenden Betrachtung, die zugleich entpolitisierend wirkte (Hamburger 1984: 66): Die kulturorientierte Ausländerpädagogik nahm sich insbesondere der Töchter und Söhne aus Gastarbeiterfamilien an, attestierte ihnen Orientierungsverlust und eine individuelle Suche nach Identität. Kritik an dieser Perspektive kam Anfang der 1980er-Jahre von einigen Akteur_innen der Ausländerforschung und -pädagogik zur gleichen Zeit auf, als die neue Bundesregierung das Rückkehrförderungsgesetz und die Verschärfung des Asylverfahrensgesetzes beschloss und die Integrationspolitik beendete. Die Kritiker_innen bilanzierten z.B., dass von »Ausländerproblemen« Wissenschaft und Pädagogik, Medien und Parteien lebten, während die Betroffenen zu Objekten gemacht und kolonialisiert würden (Griese 1984b). Ausländerpädagogik als sozialstaatliches Handeln sei Teil des Problems: Sie produziere ihr eigenes Klientel, das dadurch entmündigt und abhängig gehalten werde (Griese 1984c; Hamburger 1984: 60). Diese Kritik zielte auf die paternalistische Verfasstheit der Ausländerpädagogik, die noch in deren solidarischem Selbstverständnis aufschien – wie in dem erfolgreichen Buch von Baumgartner-Karabak und Landesberger mit seiner entmündigenden Zielgruppenkonstruktion. In seiner polit-ökonomischen Ausrichtung bleibt dieser Text weitgehend frei von Versuchen, biografische

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Erfahrungen und subjektive Sichtweisen zu erschließen. Motive der Frauen wurden völlig unproblematisch aus den sozialen Verhältnissen abgeleitet, so dass es keinen Anlass gab, sich mit ihren lebensweltlichen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Eine heute fremd anmutende Perspektive, hat sich doch die pädagogische Beschäftigung mit türkischen bzw. muslimischen Zielgruppen deutlich gewandelt, so dass nahezu entgegengesetzt deren Weltdeutungen und Innensichten zur Debatte stehen. Kontinuität lässt sich im Topos der mangelnden Emanzipation türkischer bzw. muslimischer Frauen finden – doch diese Kontinuität weist vor allem auf den Wandel der Zielgruppenkonstruktion hin: Galt die Zielgruppe nämlich in den 1970er-Jahren als bedroht, so wird sie aktuell in ihrer Bedrohlichkeit thematisiert (Franz 2017). Islamische Alltagskultur steht unter Verdacht, ein rigides Geschlechterverhältnis zu perpetuieren. Die Mütter und weiblichen Verwandten werden hierbei als Akteurinnen betrachtet.

Kulturkonflikt und die Fundamentalismusgefahr Das Interesse der Jugendforschung an Migration und Integration differenzierte sich in der Nachwendezeit sowohl thematisch als auch forschungsmethodisch aus (vgl. Pfaff 2011: 528f.). Von Interesse waren Einstellungen (vor allem »türkischer«) Jugendlicher zu Nation und Kultur. Doch sie erschienen nicht mehr bloß als orientierungslose Heranwachsende, sondern als Akteur_innen mit religiös-kulturellen Orientierungen, die sich im Identitätskonflikt auf die Seite eines radikalen Islam schlagen und der Bundesrepublik das Bekenntnis verweigern könnten. Die Kulturkonfliktthese blieb also erhalten, nun aber erweitert um den Aspekt der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. »Türkische Jugendliche« gerieten unter Fundamentalismusverdacht (Heitmeyer et al. 1997). Bereits in den frühen 1990er-Jahren war die Beschäftigung mit dem Islam »in beträchtlichem Maße in eine Fundamentalismus-Forschung [umgeschlagen]« (Tezcan 2003: 241). Dabei wurde die Marginalisierung Jugendlicher aus Familien türkischer Herkunft auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt mit einer verschärften Identitätsproblematik in Verbindung gebracht, durch die islamistische und nationalistische Organisationen für die Jugendlichen attraktiv würden. Die Studie von Heitmeyer et al. wurde als »Fall von Erhebungs-Fundamentalismus« kritisiert (Inowlocki 1998). In der Konstruktion des Fragebogens und in der Interpretation der Daten dokumentieren sich eben jene Annahmen zur kulturellen Zerrissenheit der Jugendlichen und ihrer religiösen Überlegenheitsansprüche, die dann auch das Ergebnis eines »verlockenden Fundamentalismus« darstellen. Während längst gezeigt werden konnte, wie die Kulturkonfliktthese sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis dieser Wissensproduktion war (u.a. Inowlocki 1998; Auernheimer 1999), ist das Prinzip bis heute erfolgreich geblieben.

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Um die Jahrtausendwende entstanden biografieanalytische Studien zu jungen muslimischen Männern und Frauen, die sich explizit von der Bielefelder Fundamentalismus-Studie abgrenzten und den eigensinnigen Denk- und Handlungsweisen der »zweiten Generation« Geltung verschaffen sollten (z.B. Karakaşoğlu-Aydin 1999; Klinkhammer 2000; Tietze 2001; Frese 2002; Nökel 2002). In diesen qualitativ angelegten Studien wurden religiöse Orientierungen und jene Prozesse der Identitätsbildung untersucht, die in der Studie von Heitmeyer et al. als Re-Islamisierung theoretisch vorausgesetzt worden waren. Der Vorwurf, dass bereits die Konstruktion der Items und dann auch die Interpretation der Antworten der Jugendlichen den »verlockenden Fundamentalismus« als Ergebnis hervorbrachten, wurde forschungsmethodisch gewendet. Die Forschenden begaben sich ins Feld und wählten offene Interviewformen, bevorzugt das autobiografisch-narrative Interview. Die Perspektive galt der Entdeckung biografischen Eigensinns in den Sozialisationsgeschichten junger Frauen und Männer.

Subjektorientierung und das Problem des Fremdverstehens Diese Hinwendung zu den Biografien muslimischer Akteur_innen nahm kritisch auf den Islam-Diskurs Bezug. Gegen die Identifizierung von muslimischer Religiosität mit Modernisierungsrückstand und Parallelgesellschaft wurden subjektive Sinnstrukturen im biografischen Zusammenhang geltend gemacht, vor allem im Hinblick auf Religiosität in der (Post-)Migrationssituation. Nun ist die Problematik des Otherings, der Festschreibung charakteristischer Eigenschaften der Anderen, durch einen Wechsel des Bezugsrahmens nicht hinfällig. Ebenso wie in der Konstruktion eines Fragebogens ist bei ethnografischen Verfahren und biografisch-narrativen Interviews zu reflektieren, wie gesellschaftliche Diskurse mit ihren machtförmigen Unterscheidungen in die Forschung hineinwirken. In der interdisziplinären Biografieforschung steht die Biografie als Konstruktion des erzählenden Subjekts im Fokus und wird zugleich als Modus des Erlebens und Erzählens reflektiert, in dem das Subjekt autobiografisch überhaupt entsteht und hervortritt. Kontrovers debattiert wurde die These von der Homologie zwischen Darstellungsstruktur beim Stegreiferzählen und biografischer Erfahrungsaufschichtung (Schütze 1984: 78f.; Lüders/Reichertz 1986: 94): Kann eine Stegreiferzählung als Ausdruck der Lebensgeschichte gelten? Biografische Erzählungen ereignen sich ja grundsätzlich in einer Interaktionssituation, in die Präsentationsinteressen und Motivunterstellungen eingehen. Zudem sind Interviewer_innen als generalisierte, hochabstrakte Andere entscheidend an der Produktion der Lebensgeschichte beteiligt (vgl. Bohnsack 2014a: 118). Als solche repräsentieren sie gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen und die damit verbundenen Subjektcodes in Bezug auf gesellschaftliche Mehrheit und Minderheiten. In

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biografische Erzählungen gehen Interaktionen aus dem Alltag der Sprecher_innen ein. In diesen erinnerten oder vorgestellten, kommunizierten oder antizipierten Dialogen sind Erklärungen des eigenen Tuns, Auskunft über Werte und Präferenzen, Rechtfertigungen und Evaluationen angelegt. Gesellschaftliche Diskurse fließen ein und die erzählende Person verfolgt bestimmte Präsentationsinteressen. Bezeichnen Interviewte beispielsweise ihre Familienverhältnisse als traditionell oder modern, so spiegeln sich auch in dieser Unterscheidung die kulturellen Selbst- und Fremdkonstruktionen, die mit der Ansprache »muslimischer« Forschungsteilnehmender durch Forschende aufgerufen werden (vgl. Franz 2013: 318f.). Bei der Interpretation biografischer Selbstpräsentationen, die z.B. gerahmt sind durch »bei uns ist ja diese Ehre sehr, sehr wichtig« (ebd. 281), droht das Abgleiten in eine Identifizierung des muslimischen Subjekts. Zudem ist biografische Sinnkonstruktion alltagsweltlich verankert: Sie tritt in formellen und informellen Gesprächen zutage – in sozialisatorischen und sozialtherapeutischen Einrichtungen, die oft biografisch strukturiert sind, in Beratung und Sozialer Arbeit (Apitzsch et al. 2006: 42; Griese 2010). So ist die Reflexion des Interviewsettings unumgänglich. Sie wird auch vielfach geleistet, doch das reifizierende Moment bleibt bestehen. »Unterdrückte Wissensarten«, auf die biografische Forschung zielt (so Andreas Hanses [2010] mit Bezug auf Michel Foucault), verbürgen authentischen Sinn nur insofern, als sie sich der Einordnung widersetzen. Es müsste also eher um Interpretationshindernisse in Bezug auf muslimische Zugehörigkeit und religiös-kulturelle Differenz gehen als um weitere Spezifizierung und Ausdifferenzierung in Typologien  – nicht, um Diversität zu leugnen, sondern um tatsächlich diverse Orientierungen zu erkennen, die sich gegen Dichotomien sperren. Grundsätzlich bleibt die Kritik am »Verstehen als Methode« in Biografieforschung und sozialpädagogischer Praxis: Der Wille, den Anderen voll und ganz zu verstehen, ist machtvoll und negiert dessen Fremdheit (Brumlik 1980). Werden die Aktivitäten der Biografieforscher_innen dabei als »neutral« vorausgesetzt, bleiben sie unreflektiert  – und damit auch die Situation, in der Forschung stattfindet, in der Biografie hervorgebracht wird (Resch 1998: 54f.). Das Verhältnis zwischen Forschenden und Beforschten ist ein asymmetrisches. Als Micha Brumlik die Abschaffung sozialpädagogischer Biografieforschung forderte, richtete sich das auch gegen den damals aktuellen Aufstieg qualitativer Forschungsmethoden. Inzwischen hat qualitative Sozialforschung dank ihrer Etablierung und Ausdifferenzierung weniger »Grenzarbeit« nötig (Reichertz 2007: 196). Mit den qualitativen Methoden seien politische Reformbestrebungen aufgegeben worden, so Christian Lüders und Jo Reichertz (1986: 91). Hatte die Handlungs- und Aktionsforschung sich noch darum bemüht, ausgehend von der »konkreten Betroffenheit« der Subjekte »einen Beitrag zur Überwindung erniedrigender und einschränkender Lebensverhältnisse« zu leisten, was allerdings gescheitert war, so übernahm die entstehende qualitative

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Sozialforschung das »Postulat der Situations- und Subjektorientierung« weitgehend ohne politisch-emanzipatorischen Anspruch (ebd.). Damals wurde so ziemlich jede benachteiligte Bevölkerungsgruppe und Lebenssituation zum Thema qualitativer Forschung gemacht (ebd. 92). Doch biografische und ethnografische Studien über Muslim_innen blieben Ausnahmen: In den 1980er- und 1990er-Jahren stand Forschung zu Migrant_ innen und den ihnen nachfolgenden Migrationsgenerationen im Zeichen der Untersuchung von islamischem Fundamentalismus. Analysen subjektiver Formen von Religiosität und biografischer Aneignungsprozesse unter Migrationsbedingungen waren dafür gar nicht nötig; allzu eindeutig erschien die Gleichung, dass die Bedeutung islamischer Identität negativ mit Bildung korreliere (so Heitmeyer et al. 1997: 177f.). In dieser Sichtweise wurden religiös-kulturelle Orientierungen der Migrant_innen auf das Gelingen von Akkulturation bezogen und als rückständig und irrational verstanden. Dagegen setzten die frühen biografieanalytischen bzw. ethnografischen Studien (Mıhçıyazgan 1986, 1994; Schiffauer 1983, 1991) den Fokus auf Migrationssituation, Milieu und Subjekt. Sie problematisierten das Fremdverstehen grundsätzlich. Ihre Kritik am verbreiteten Ethnozentrismus korrespondiert mit einer selbstkritischen, reflexiven Forschungshaltung. Diese Kritik setzt nun nicht lediglich auf empathische Einfühlung in subjektive Wirklichkeiten und auch nicht auf bloße Dokumentation fremder Denk- und Lebensweisen (Lüders/Reichertz 1986: 92). Das später von Reichertz pointierte Übersetzungsproblem qualitativer Sozialforschung, also die Frage, wie kulturelle und (aber nicht nur) sprachliche Differenzen interpretativ zu bewältigen sind (Reichertz 2007: 201f.), stand im Mittelpunkt der methodologischen und theoretischen Untersuchung von Selbst- und Weltverhältnissen (z.B. Mıhçıyazgan 1994: 202f.). Es war gerade das Anliegen jener Untersuchungen, der Differenz gerecht zu werden, indem sie ihre eigenen theoretischen Voraussetzungen hinsichtlich Sozialisation und Modernisierung als kontingent betrachteten. Für einige aktuellere qualitativ angelegte Studien trifft das Gegenteil zu: Ohne das Fremdverstehen zu problematisieren, wird ein »muslimischer Habitus« festgeschrieben.

Das Muslimische festmachen Entscheidungen, woran muslimische Zugehörigkeit bemessen werden soll, fallen in Untersuchungsdesigns unterschiedlich aus: Mal dient die Selbstzuordnung der Forschungsteilnehmenden als Referenz, mal das Engagement in Moscheegemeinden, die Herkunft aus einem mehrheitlich islamischen Land oder das Betroffensein von Fremdzuschreibungen. Trotzdem bleibt die Kategorisierung wirkmächtig; sie verheißt kontrafaktisch Eindeutigkeit. An muslimische Zugehörigkeit knüpfen sich weitreichende Vermutungen über religiös-kulturelle Sozialisation, über alltäglich erfahrene Praxis also, welche Selbstzuordnungen

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und Fremdzuschreibungen überhaupt erst rechtfertigen würde. Eine solche Einheit von sozialer Identität5 (»Muslime«) und Sozialisationserfahrungen wäre allerdings genauer zu begründen, vor allem empirisch. Denn eine geteilte Handlungspraxis, auf die Begriffe wie »muslimische Milieus« oder »muslimischer Habitus« hindeuten, ist aus der Selbst- bzw. Fremdidentifizierung als Muslim_a nicht abzuleiten. Methodologisch stellt sich hier das zentrale Problem, Kollektivität über die Ebene sozialer Identität hinaus auf der Ebene habitueller Handlungspraxis zu erfassen und forschungspraktisch zu berücksichtigen (Bohnsack 2014b). Wo sich in den habitualisierten Wissensbeständen der Beforschten homologe Strukturen finden, z.B. in der Bewältigung einer Diskrepanz von »innerer« und »äußerer Sphäre« unter jungen Menschen aus Familien türkischer Herkunft, ließe sich von einem gemeinsamen Milieu sprechen (Bohnsack/Nohl 2001; Nohl 2001). Damit ist aber noch nicht gesagt, dass es sich um ein »muslimisches Milieu« handelt. Und tatsächlich erweist sich hier das Aufwachsen in zweiter familiärer Migrationsgeneration als sozialisationsgeschichtlicher Hintergrund – im Unterschied zu einheimischen Jugendlichen in der Türkei und in Deutschland (ebd.). Statt sich der Sisyphusarbeit der empirischen Rekonstruktion und Differenzierung verschiedener sozialer Lagerungen hinzugeben, wird das Muslimische jedoch mit einem Kunstgriff geschickt festgemacht. Dies wird im Folgenden exemplarisch nachgezeichnet. Im Ergebnis finden sich Variationen der Kulturkonfliktthese, die sich noch immer am besten vermarkten lässt. Die qualitativ angelegte Studie Islam im Alltag von Neclá Kelek (2002) basiert auf Interviews mit Jugendlichen. Im Unterschied zu ihren späteren und weitaus populäreren Veröffentlichungen verbürgt sie wissenschaftliche Qualität und wurde von Kritiker_innen als solide eingeschätzt (Terkessidis/Karakaşoğlu 2006). Die Untersuchung wendet sich den vielfach problematisierten Jugendlichen aus Familien türkischer Herkunft zu und beansprucht, auf der Grundlage von Leitfadeninterviews mit acht Schüler_innen Verhaltens- und Orientierungsmuster herauszuarbeiten und so die Bedeutung islamischer

5 | Soziale Identität lässt sich als eine Ebene von Kollektivität verstehen, die auf der Zuordnung von Personen zu bestimmten Kategorien beruht, die mit der Unterstellung normativer Eigenschaften einhergeht (virtuale soziale Identität) und auf der »Entdeckung« von Attributen an Personen, durch die sie ggf. einer anderen Kategorie zugeordnet werden (aktuale soziale Identität) (Goffman 1967: 10). In beiden Fällen handelt es sich um eine den Akteur_innen zugeschriebene und ggf. von ihnen selbst vorgenommene Definition kollektiver Zugehörigkeit. Davon zu unterscheiden ist eine kollektive Praxis, eine habituelle Übereinstimmung auf der Grundlage gleichartiger Erfahrungen (Bohnsack 2014a).

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Religiosität zu klären (Kelek 2002: 103). Sozialwissenschaftliche Terminologie hilft dabei, unterschiedliche Orientierungen auf einen muslimischen Nenner zu bringen: »Die Annahme eines muslimisch geprägten Common Sense dient […] der Ortung, Beschreibung und Erklärung von beobachtbaren Interaktionen und Selbstpositionierungen der Migrantenjugendlichen in der Untersuchung ihrer Orientierungsmuster in der Moderne. Ausgehend von der Feststellung eines überwiegenden Bekenntnisses zum ›Muslim-Sein‹ bei gleichzeitig differenzierter praktischer Religiosität und relativ geringer Strenggläubigkeit, versucht der Begriff des muslimischen Common Sense als übergeordnete Kategorie quasi den kleinsten gemeinsamen kulturellen Nenner von muslimisch-religiöser Prägung oder Orientierung in den Lebenswelten der Jugendlichen zu erfassen.« (Ebd. 87)

Die Schwierigkeit, muslimische Zugehörigkeit jenseits geteilter religiöser Orientierungen zu rechtfertigen (vgl. ebd. 174), wird durch eine Definition gelöst: »Muslim-Sein« als die »identifikative Selbstzuordnung zur muslimischen Gemeinschaft, die die Gültigkeit eines türkisch-muslimischen Common-Sense in allgemeiner Form anerkennt« (ebd. 87). Im Hinblick auf Religiosität wären Praktiken und Rituale der Jugendlichen genauer zu untersuchen; mindestens wären aber ihre Selbstdeutungen als »muslimisch« genauer zu beschreiben, statt sie vor dem normativen Hintergrund eines institutionalisierten »Hochislam« als gering ausgeprägte Religiosität einzuschätzen.6 Doch die Selbstdarstellungen der Jugendlichen werden von vornherein als spezifischer Ausdruck eines »muslimischen Habitus« gewertet (ebd. 64). Ihr sozialer Kontext (z.B. im Hinblick auf die familiäre Migrationsgeschichte und die Migrationsgesellschaft) wird ausgeblendet. Auf die Habitustheorie Pierre Bourdieus wird nebenbei verwiesen (ebd. 28), dennoch bleibt die Ebene der Praxis außen vor. Die außer Acht gelassenen sozialen Voraussetzungen der praktischen Logik, auf die dieser Habitusbegriff zielt, verkehren dessen Verwendung zudem ins Gegenteil. Würden sie systematisch berücksichtigt, so müssten religiös-kulturelle Orientierungen durch verschiedene soziale Lagerungen hindurch erkennbar bleiben, um einen »muslimischen Habitus« empirisch zu begründen: Migrationserfahrung, Migrationshintergrund und Einheimisch-Sein, Ethnizität, Geschlecht, Bildungsmilieu, Schicht, Lebensalter, Generation (vgl. Bohnsack 2010: 607). Darüber hinaus wäre die Typisierungsarbeit in Hinblick auf religi-

6 | Vgl. etwa die empirische Analyse zur Hochislamisierung in der Migration bei Mıhçıyazgan (1994: 197ff.). 7 | Ralf Bohnsack würdigt die Bedeutung der Praxistheorie Bourdieus für die Entwicklung der Dokumentarischen Methode, die auf mehrdimensionale Typenbildung zielt (Bohnsack 2013, 2014a, 2014 b).

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ös-kulturelle Orientierungen und deren Rückführung auf soziale Lagerungen in Bezug auf ihre eigene Bedingtheit zu reflektieren und zu hinterfragen. Stattdessen ist Willkür am Werk. Davon zeugt auch die Verwendung der Interviews in einem späteren Beitrag, in dem die Autorin gegen das Kopftuch argumentiert (Kelek 2005). Nun werden die Schülerinnen zitiert, um zu belegen, dass sie aufgrund des Drucks ihrer sozialen Umgebung das Kopftuch tragen (ebd. 62f.). Nicht die Selbstverständlichkeit des religiösen Gebots sei der Grund dafür, sondern der »türkisch-muslimische Common Sense«, ein fraglos gegebenes Welt- und Menschenbild, nach dem, »anders als in westlichen Gesellschaften und legitimiert durch den Islam, die Gemeinschaftlichkeit Vorrang [hat] vor der Autonomie und Individualität des Einzelnen, die als tendenziell unsozial empfunden werden« (ebd. 61). Hier wird auf die frühere Studie von Ursula Mıhçıyazgan verwiesen (Mıhçıyazgan 1986), allerdings nur, um sie für einen Kunstgriff zu benutzen, mit dem passend gemacht wird, was sich nicht fügt. Mıhçıyazgan rekonstruiert das »fraglos Gegebene in der türkischen Sozialwelt« am Beispiel von Erziehungsvorstellungen. Sie bezieht sich auf unterschiedliche Auffassungen davon, wie Sozialisation zu verstehen sei. Die westliche Vorstellung, dass Kinder erst sozial gemacht werden müssten, um zu gesellschaftlichen Wesen zu werden, wertet Mıhçıyazgan als »für die Beschreibung der türkischen Sozialwelt inadäquat« (ebd. 359). Das »Sozialsein« gelte »in der türkischen Alltagstheorie« als »anthropologische Eigenschaft«, gleichermaßen als menschliches Bedürfnis wie als Eigenschaft (ebd. 361ff.). Es geht also um eine Kontextualisierung des Ideals individueller Freiheit und Autonomie. Damit wird auch eine Kritik an der Verpflichtung der kulturell Anderen auf Normen begründet, mit der diese wie selbstverständlich defizitär erscheinen. Hinter dem universalen Anschein dieser Normen stehe ein westliches Menschenbild, das sich von dem der »türkischen Mitglieder« unterscheide. Damit wird das Problem des Fremdverstehen gewürdigt (s.o.). In Keleks Text werden der Analyse Mıhçıyazgans erstens ein religiöser Aspekt und zweitens eine türkisch-islamische Abwertung von Autonomie untergeschoben. Dies dient dazu, Geschichten von Mädchen zu präsentieren, die unter dem Druck ihrer Familien das Kopftuch tragen (Kelek 2005: 61ff.). Aus einer empirisch begründeten Kritik scheinbar universeller Erziehungsmaßstäbe ist so ein »muslimischer Habitus« geworden, mit dem sich Mehrdeutigkeit in den Antworten der Interviewten einebnen lässt. Daran schloss später eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Studie zur Jugendphase junger Muslim_innen an. Untersucht wurden biografische Verläufe der Jugendphase zwischen Säkularisierung und Religiosität, die in eine Typologie mündeten (von Wensierski/Lübcke 2012: 141ff.). Diese Verläufe spiegelten den strukturellen Wandel der Jugendphase als Bildungsmoratorium wider, doch zudem zeichneten sie sich durch

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eine spezifisch islamische Struktur aus, so Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke (2010: 162ff.), die in »traditionellen Bezügen und Konventionen der muslimischen Herkunftsmilieus« begründet sei. Diese besondere Struktur zeige sich vor allem mit Bezug auf die Verläufe der Jugendphase im Sinne einer Re-Islamisierung (Typ 3) und einer islamisch-selektiv modernisierten Jugendbiografie (Typ 4). Zwar zeigten die sich ausdifferenzierenden Jugendkulturen der »jungen Muslim_innen in Deutschland« in mancher Hinsicht eine Modernisierung an: etwa verlängerte Bildungsphasen – wenngleich ein »beachtlicher Teil« der schulischen Verläufe problembelastet sei (von Wensierski 2007: 59) –, individualisierte berufsbiografische Lebensentwürfe und die Teilhabe an kommerzialisierten, mediatisierten und peer-strukturierten Alltagskulturen (vgl. ebd. 60f.; von Wensierski/Lübcke 2010: 164f.; 2012: 24f.). Allerdings »bleiben diese modernisierten Jugendbiografien im Kontext muslimischer Milieus in ihren adoleszenten Verselbstständigungsprozessen, in der Struktur der Geschlechterbeziehungen, in der Sexualmoral sowie in der Ausbildung geschlechtlicher und familialer Beziehungsformen in hohem Maße den tendenziell traditionellen Konventionen, Normen und Werten der muslimischen Milieus verbunden – die je nach ethnischer Herkunft kulturelle Varianzen aufweisen. Es ist gewissermaßen eine um die individualisierte, pluralisierte und geschlechteregalitäre Familienbiografie reduzierte, also eine halbierte Modernisierung.« (von Wensierski/Lübcke 2010: 170)

Unter den modernen Bedingungen eines adoleszenten Bildungsmoratoriums suchen Jugendliche nach tragfähigen Orientierungen, setzen sich mit der älteren Generation auch konflikthaft auseinander und ringen mit Ambivalenzen und Widerständen. Doch die rekonstruierten biografischen Verläufe sind kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Welche Gemeinsamkeit verbindet muslimische Jugendliche dann eigentlich – außer, dass sie eben als Muslim_innen gelten? Trotz der Konkurrenz zwischen verschiedenen kulturellen Systemen und sozialen Institutionen im Alltag der Jugendlichen stelle der Islam als eines dieser kulturellen Systeme Deutungsangebote, Werte und moralische Orientierung im Alltag bereit. Das Religiöse und die kulturelle Tradition werden als »untrennbar miteinander verwoben« betrachtet, so dass die rekonstruktive Analyse auf »die subjektive und soziale Zuschreibung und Legitimation von sozialem Handeln und kultureller Praxis […] durch die jeweiligen Akteure selbst« (von Wensierski/Lübcke 2012: 408f.) angewiesen sei. »Strukturelle[] Einflüsse aus den verschiedenen Bereichen der sozialen Lebenswelt der Jugendlichen« sowie deren biografische Auseinandersetzung mit den »vielfältigen und teilweise widersprüchlichen Anforderungen« im Alltag (ebd.) gingen wiederum in einem »muslimischen Habitus« auf: »Insofern gehen wir davon aus, dass die Einflüsse des Islams im muslimischen

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Herkunftsmilieu im Verlauf der Sozialisation zur Ausbildung eines ›muslimischen Habitus‹ (Kelek 2002, 64) führen, der sich bei jedem der jugendlichen Akteure jeweils anders darstellt.« (von Wensierski/Lübcke 2012: 409) Die These einer lediglich partiell modernisierten Jugendphase unter Muslim_innen gründet zum einen auf der Annahme, im »muslimischen Herkunftsmilieu« setzten sich Traditionen fort, sie seien unter den Jugendlichen verbindlich, normativ und orientierungsleitend (ebd. 24ff.). Zum anderen setzt sie einen idealisierten Maßstab adoleszenter Möglichkeitsräume voraus. Obwohl die Jugendbiografien durch den Stellenwert und die Nutzung moderner Medien, durch unterschiedlich ausgeprägte Gruppenstile in Gleichaltrigengruppen und in Bezug auf Freizeit- und Konsumverhalten ein »vertraute[s] Bild« abgäben (von Wensierski/Lübcke 2012: 21), gebe es drei spezifische Momente der muslimischen Jugendphase: Erstens eine familiär tradierte Bedeutung von Sexualität als »religiös definierte Funktion der Reproduktion der islamischen Familie und ihrer patriarchalen Sozialordnung« (ebd.). Diese führe zweitens zu deutlich eingeschränkten Möglichkeiten geschlechtlicher Beziehungen, welche »unter dem Vorbehalt eines muslimischen Ehe-Ideals der Heirat mit einem Angehörigen der eigenen religiös-ethnischen Gruppierung stehen« (ebd. 22). Zwar kämen Ausbrüche Jugendlicher vor, doch ein kultureller Unterschied zu nicht-muslimischen Jugendlichen bestehe darin, dass ihre geschlechtlichen Erfahrungen tabuisiert und einer Doppelmoral unterworfen seien (ebd.). Hier wird ein strukturelles Dilemma einer »›Sexualmoral der 50er Jahre‹ in den familiären Herkunftsmilieus und der ›Sexualmoral der 90er Jahre‹ in Öffentlichkeit, Kultur und Gesellschaft« (Schäfer/Schwarz 2007: 252) gesehen. Dieses stelle ein spezielles Konfliktpotenzial zwischen den Generationen und zwischen »Mehrheitskultur und Migrantenkultur« dar (ebd. 279). Eine muslimisch begründete Sexualmoral wird insbesondere im Stellenwert von Jungfräulichkeit, aber auch in der Tabuisierung außerehelicher und homosexueller Geschlechtsbeziehungen gesehen. Zudem finde in den muslimischen Familien kaum Aufklärung statt. Was Erfahrungen der sexuellen Entwicklung und familiären Kommunikation der Interviewten betrifft, rekonstruieren Franziska Schäfer und Melissa Schwarz, dass es Tabuthemen in den Familien gibt (ebd. 261ff.). Dass dies spezifisch für Jugendliche sei, die in muslimischen Familien aufwachsen, ist dann aber lediglich eine Wiederholung der Eigentheorie der Interviewten, die gegenüber den Forschenden ihre Erfahrungen als typisch für türkische bzw. muslimische Familien rahmen (ebd. 262). Der Kulturkonfliktthese entsprechend wird eine egalitäre Geschlechterordnung und freiheitliche Sexualmoral in der westlichen Kultur vorausgesetzt und diese Vorstellung bedarf der Abgrenzung von einer Kultur der »Anderen«. So unterbleibt eine Reflexion der Prämissen. Man findet, was man gesucht hat. Dabei bleibt auch bei strukturell gegebener Freiheit der Partnerwahl das Ideal

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einer Ehe mit Angehörigen des eigenen Milieus bestehen, ist doch die »Vorstellung einer eingelösten Autonomie der Partnerwahl […] vielleicht ohnehin ein bürgerliches Phantasma« (Herma 2007: 45). Die emanzipative Dynamik, die familiale Lebensformen in den letzten Jahrzehnten erfasst hat, ist nicht losgelöst von ungleichen gesellschaftlichen und institutionellen Lebens- und Arbeitsbedingungen zu betrachten (Maihofer 2014: 330). Sie erscheint jedenfalls ambivalent genug, um Doppelmoral und Tabuthemen hinsichtlich der Geschlechterordnung als gesellschaftliche und nicht religiös-kulturell spezifische Phänomene zu begreifen. Sozialen Wandel sehen auch Schäfer und Schwarz (2007: 279): Trotz einer Übernahme religiös begründeter Werte und Konventionen in Bezug auf Sexualität durch die Jugendlichen werde der Diskurs über Sexualität für die junge Generation selbstverständlicher. Dieser Wandel zeige sich nicht zuletzt daran, dass in den Interviews von der Tabuisierung der Sexualität gesprochen wird. Von Wensierski (2007: 63) sieht darin sogar einen »Frühjahrsputz in den verstaubten Asservaten muslimisch-patriarchaler Traditionalismen«, eine Formulierung, die die gesetzte Differenz sogleich fortschreibt. Das dritte spezifische Moment der muslimischen Jugendphase sehen von Wensierski und Lübcke (2012: 22) in der Ablösung der Jugendlichen von den Eltern. Sie sei eingeschränkt durch das »Konzept der Familienehre« und durch eine »Verpflichtung auf den normativen Rahmen einer eher traditionellen Familienstruktur«. Kontrastfolie ist hier das »Leitbild westlich-moderner Jugendbiographien«, ein »Typus des individualisierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Subjekts« (ebd.). Die muslimische Jugendphase kennzeichne dagegen eine Orientierung an den Eltern und an den Normen des erweiterten familiären Herkunftsmilieus, fortbestehend bis ins Erwachsenenalter. Zwar wird dies in Bezug auf zwei der vier Typen (I und II) deutlich relativiert (ebd. 23). In diesen Jugendbiografien finde sich eher ein Bruch der jüngeren Generation mit der Familie und mit der Sexualmoral der Elterngeneration. Es bleibt aber bei der übergreifenden »Modernisierung, die sich im Hinblick auf individualisierte, pluralisierte und geschlechteregalitäre Familienbiographien von westlichen Jugendbiographien unterscheidet« (ebd. 25). Die Bedeutung der Ehre in Familien kann nun nicht als spezifisch muslimisch gelten. Vielmehr kommen hier komplexe Überlagerungen traditioneller Orientierungen ländlicher Milieus, des Bildungshintergrundes und der sozioökonomischen Lage zum Tragen (Schiffauer 1983, 2008). Wenn es vom »muslimischen Habitus« heißt, dass dieser ein »Spektrum religiöser, religiös-­ kultureller bzw. religiös-politischer Jugendszenen« strukturiere (von Wensierski 2007: 74)  – gemeint sind Moscheevereine und Jugendorganisationen ebenso wie »Pop-Muslim_innen« (Gerlach 2006, 2010)  –, so ist damit keineswegs klar, wie das Handeln und Denken muslimischer Jugendlicher beschaffen ist. Wird eine »halbierte Modernisierung« der Jugendphase junger

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Muslim_innen vorwiegend mit geteilten religiös legitimierten Normen und Werten begründet, so gehen damit unweigerlich die altbekannten Abgrenzungen von Westen und Islam einher: Modernität versus Tradition, individualisierte versus kollektive Lebensformen sowie Freizügigkeit versus Restriktion (vgl. von Wensierski 2007: 76ff.; von Wensierski/Lübcke 2010: 169ff.; 2012: 412ff.). Die Stilisierung der westlichen Jugendphase als individualisiert und freizügig gelingt in dem Maß, wie ein muslimisches Gegenbild entworfen wird. Das allgemein Normierte und Reglementierte der Adoleszenz (sei es in Bezug auf den Übergang in Ausbildung und Lohnarbeit, in Bezug auf Konsum oder Sexualität) gerät so aus dem Blick. Notwendige Differenzierungen entlang des Geschlechts, des Migrationsstatus und vor allem der Schichtzugehörigkeit gehen unter oder auch auf in der kulturellen Dichotomie.

S chluss Die These vom Aufeinanderprallen westlicher und muslimischer Kultur verdankt sich insbesondere dem Absehen von den strukturellen Bedingungen der neoliberal entgrenzten Migrationsgesellschaft und ist Teil erneuerter Grenzziehungen. So ist die Beschäftigung mit »den Muslimen« auch als Ausweichbewegung zu verstehen. Wie »die Anderen« integriert werden können, ist jenseits von Gesellschaftsanalyse aber keine sinnvolle Frage. Die Vorstellung eines Identischen über Religiosität, nationale und regionale Herkunft sowie Schichtzugehörigkeit hinweg wird zwar selten explizit vertreten  – es heißt, »die Muslime gibt es nicht«, bevor es ans Werk geht –, doch sie bildet den Ausgangspunkt von Fragestellungen und den Bezugsrahmen für Analysen. Vor dem Hintergrund dieser Vorstellung werden zahlreiche Differenzierungen vorgenommen, doch selbst die Annahme unterschiedlicher »muslimischer Milieus« enthält noch die Zuschreibung einer übergreifenden kollektiven Identität. Untersuchungen mögen sich in ihrem jeweiligen Forschungsinteresse und in ihrer Situiertheit deutlich unterscheiden. Sie konvergieren jedoch in ihrer Funktion, das kulturell Andere festzuschreiben. Pädagogische Wissensproduktion verbleibt innerhalb des etablierten Rahmens von Integration, Migration und religiös-kultureller Differenz und damit innerhalb der Zugehörigkeitsordnung, oder sie erhebt diesen Rahmen selbst zum Gegenstand und problematisiert Erziehungs- und Bildungsprozesse, die selbst Kategorien der Zugehörigkeit und Fremdheit stabilisieren. Nicht bloß wenn die Produktion von Wissen unmittelbar auf Verwertungsinteressen zugeschnitten wird, sondern auch in der Weiterverwendung publizierter Forschungsergebnisse stellt sich das Problem, dass sich Wissensbestände verselbständigen können. Das geschieht z.B., wenn die spezifische Selektivität ihrer Herstellung übergangen wird und Wissensbestände unter

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anderen Vorzeichen aufgenommen werden. Es kommt aber auch vor, dass sie umgeformt und in andere Argumentationszusammenhänge eingeflochten werden. So kann die Analyse religiös-kultureller Weltbilder unberücksichtigte Denk- und Handlungsweisen in ihrer eigensinnigen Rationalität sichtbar werden lassen. Zugleich kann solch eine Analyse der Festschreibung unabänderlicher Fremdheit dienen. Das Wissen der Anderen kann sich in ein Wissen über sie verwandeln. Ob und wie solches geschieht, ist auch eine methodologische Frage, doch durch die Wahl der Forschungsmethoden ist sie nicht zu lösen. Die methodologische Frage verweist auf die Reflexion der eigenen Prämissen und Aktivitäten im gesamten Forschungsprozess  – und darüber hinaus auf den kulturellen Horizont, innerhalb dessen Erziehungs- und Bildungsaufgaben formuliert werden. Solange sich die Mehrheitsgesellschaft als Aufklärungsweltmeister betrachtet und »Muslime« als unaufgeklärten Gegenpol benötigt, sind Erziehungs- und Bildungsvorstellungen durch ungerechtfertigten Paternalismus belastet. Eine notwendige pädagogische Auseinandersetzung mit gewaltlegitimierenden Ideologien in verschiedenen Milieus gerät damit zur unilateralen Anforderung, an der sich Muslim_innen immer wieder bewähren müssen. Egal wie erfolgreich einige »Muslime« sich erweisen mögen – sie werden als Aufholende betrachtet. So steht die Produktion pädagogisch relevanter Theorien über Muslim_innen im Zeichen der gesellschaftlichen Konstruktion des Eigenen und der Anderen, die von der Betonung kultureller Differenz leben. Einen forschenden Blick für charakteristische Weltbilder, Denkweisen und Handlungspraxen zu bewahren bedeutet aber, Diversität nicht auf eine Dimension zu beschränken, sondern in der Überlappung sozialer Differenzlinien das Falsche einer gesellschaftlichen Kategorisierungspraxis zu erkennen. Das wäre etwas anderes, als »die tatsächlichen oder eingebildeten Differenzen als Schandmale« (Adorno 1969: 130) einer auf Leitkultur setzenden Gesellschaft zu betrachten und zu behaupten, am Ende wären alle Unterschiede unbedeutend.

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Ethnographie und der Sicherheitsblick: Akademische Forschung mit »salafistischen« Muslimen in den Niederlanden Martijn de Koning

E inleitung 1 2011 begann ich gemeinsam mit Ineke Roex an einem Forschungsprojekt zu arbeiten, das sich dem Wesen und den Arbeitsweisen zweier militanter Aktivistengruppen  – Sharia4Belgium (Scharia für Belgien) in Belgien und Team Free Saddik/Behind Bars/StraatDawah (Gruppe Freiheit für Saddik/Hinter Gittern/StraßenDawah) in den Niederlanden  – widmet. Etwas später stieß Carmen Becker zum Projekt hinzu und forschte zu entsprechenden deutschen Netzwerken – Millatu Ibrahim (später umbenannt in Tauhid Deutschland), Die Wahre Religion, Pierre Vogels Netzwerk und der Daʾwa-Kampagne LIES2 bzw. »Einladung zum Paradies«!. Ein Teil des niederländischen Projektes bestand darin, über vier Jahre in regelmäßigem Austausch mit rund 30 Personen zu stehen. Von den 21 niederländischen Kämpfern, zu denen ich Kontakt hatte und die sich in Syrien der Organisation Jabhat al-Nusra (al-Nusra-Front) und später dem ISIS angeschlossen hatten, sind inzwischen 15 verstorben. 2014 wurden sieben der Männer verhaftet, mit denen ich 2011 arbeitete. Im September 2015 wurden sie wegen der Rekrutierung für terroristische Organisationen, der Anstiftung zu Hass und der Mitgliedschaft in einer kriminellen 1 | Die Forschung, auf der dieser Text basiert, ist Teil des Projektes Kräfte, die verbinden und/oder trennen. Dieses Projekt ist angesiedelt am Institut für Ethnologie der Universität von Amsterdam und wird durch Netherlands Organisation for Scientific Research (NWO) und das Projekt Islamische Mission (PIM) des Instituts für Islamwissenschaft der Radboud Universität Nijmegen finanziert. Vielen Dank an Schirin Amir-Moazami und Riem Spielhaus für kritische und inspirierende Kommentare zu früheren Versionen dieses Textes. 2 | Die Leitung dieser Kampagne wurde später durch Ibrahim Abou-Nagie ersetzt.

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Vereinigung mit terroristischer Absicht angeklagt. Vier von ihnen werden seither in der Terrorismusabteilung festgehalten – einer der strengsten niederländischen Gefängniseinrichtungen. In diesem Text setze ich mich mit den ethischen und methodologischen Dilemmata auseinander, die sich während der Forschung herauskristallisierten. Wegen des besagten Forschungsprojekts wurde ich angehalten, als Sachverständiger und als Zeuge in einem Prozess aufzutreten und über einige meiner Kontakte auszusagen. Die Teilnahme an der Gerichtsverhandlung und meine Erfahrungen aus diesen Anhörungen und beim Verfassen des Gutachtens als Sachverständiger veranlassten mich dazu, grundlegender über akademische Wissensproduktion über »Salafismus« und Aktivismus in solcherlei Prozessen nachzudenken und zu reflektieren, wie dieses Wissen verwendet wird. Nach einer kurzen Einführung in die Forschung zu militanten Aktivist_innen und den damit einhergehenden Dilemmata werde ich das Gerichtsverfahren diskutieren. Mir geht es dabei um zwei Dinge. Einerseits möchte ich zeigen, wie akademisches Wissen zu Salafismus und militantem Aktivismus auf vereinheitlichende Klassifizierungen reduziert wird. Zum anderen möchte ich kritisch reflektieren, wie es von Machthabenden dazu verwendet wird, zwischen einem akzeptablen und einem inakzeptablen Islam zu unterscheiden. Der ausschließliche Fokus auf Terrorismus weist solchen Fällen nicht nur einen Ausnahmestatus zu, sondern er ist bereits in die Logiken der Justiz eingeschrieben. Die Einsicht, dass der von mir begleitete Prozess selbstverständlich nicht in einem sozialpolitischen Vakuum stattfand, veranlasste mich dazu, meine eigene Arbeit noch einmal durch die Brille von Rassisierung und Versicherheitlichung zu betrachten. Im Folgenden zeichne ich nach, welche Rolle spezifische Formen der Klassifizierungen bei der Rassisierung von Bedrohung spielen. Daran anknüpfend zeige ich, wie auf diese Weise ein Überwachungsregime produziert wird, das die Existenz und das Handeln von Muslim_innen grundsätzlich als verdächtig ins Visier nimmt. Ich zeige, wie ein allgemeines Gefühl der Begutachtung und Überprüfung zugleich als Anzeichen und als Ergebnis dieses Überwachungsregimes wirksam ist. Ich möchte auf diese Weise vor allem zu einer kritischen Reflexion darüber beitragen, mit welchen Herausforderungen Anthropolog_innen in einem zunehmend auf Sicherheitsmaximierung ausgerichteten Staatsapparat konfrontiert sind, vor allem wenn sie mit gefürchteten oder verachteten und von progressiv-liberalen Wissenschaftler_innen selbst häufig als »abstoßende Andere« (Harding 1991) titulierten Bewegungen arbeiten. Ich möchte überdies zu den Debatten darüber beitragen, wie Wissenschaft mit einer breiteren Öffentlichkeit zu diesen Themen interagieren kann. Hier interessiert mich insbesondere die Frage nach der Übersetzbarkeit ethnographischen Wissens, das notgedrungen durch die Mechanismen der Versicherheitlichung beeinflusst ist (Fassin 2013; Abu-Lughod 2016).

Ethnographie und der Sicherheitsblick

F orschung in einem politisierten F eld : M ilitanter A k tivismus von M uslim_innen in B elgien , den  N iederl anden und D eutschl and In dem oben erwähnten Forschungsprojekt lautete unsere Kernfrage: In welchem Verhältnis steht der Aktivismus militanter Aktivist_innen zu den Praktiken und Sichtweisen von Behörden und Medien? Der Forschungszeitraum umfasste die Jahre von 2009 bis 2013. Um die Interaktionen zwischen Aktivist_innen, dem Staat und den Medien zu analysieren, wählten wir die Forschungsperspektive einer besonderen Form des Aktivismus und Widerstandes, das sogenannte »Gegen-Verhalten« (siehe Cadman 2010; Death 2010). Wir analysierten dabei, wie die Aktivist_innen andere Lebensweisen umzusetzen versuchten als jene, die vom Staat, den Medien und etablierten muslimischen Organisationen verbreitet werden. Dabei machten sie alternative Antworten auf die Frage geltend, was einen »guten Muslim« ausmacht (de Koning et al. 2014). Obwohl die niederländischen Aktivist_innen eindeutige Sympathien für das Al-Qaida-Netzwerk pflegten, übten sie keinerlei politische Gewalt in den Niederlanden aus. Einige hatten jedoch versucht sich den bewaffneten Kämpfen in den Jahren 2005 und 2008 im Irak, Somalia, Afghanistan oder Tschetschenien anzuschließen. Die niederländischen und belgischen »Scharia4«-Netzwerke störten energisch öffentliche Debatten in den Niederlanden und Belgien.3 Unsere Forschung begann 2011. Im Januar 2013 wurde deutlich, dass viele der Aktivist_innen zwischenzeitlich nach Syrien gereist waren, um gegen das Regime von Bashar al-Assad zu kämpfen. In den Niederlanden zogen diese Ausreisen eine enorme mediale Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem wurden sie Gegenstand von diversen Anfragen im Parlament. Die Bedrohungslage durch den Terrorismus erhöhte sich und die Aktivist_innen wurden eng durch Nachrichten- und Sicherheitsdienste überwacht. Eine zentrale Sorge der Antiradikalisierungspolitiken der Regierung bestand in der Attraktivität, die von diesen Aktivist_innen besonders für junge Muslim_innen ausgeht. Es war für uns nicht gänzlich überraschend, dass einige unserer Kontaktpersonen nach Syrien gegangen waren. Dass es jedoch dermaßen viele waren, konfrontierte uns mit einem ernsthaften Problem. Während unser Fokus auf dem

3 | Im April 2010 störte Scharia für Belgien einen Vortrag des niederländischen Schriftstellers Benno Barnard mit dem Titel »Lang lebe Gott, nieder mit Allah« an der Universität Antwerpen. 2011 unterbrach Scharia für die Niederlande eine Debatte zwischen dem linksgrünen Politiker Tofik Dibi und dem kanadischen Schriftsteller Irshad Manji über die Reformierung des Islams in Amsterdam.

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Daʾwa-Aktivismus (d.h. der Werbung für den Islam) der Netzwerke innerhalb Belgiens, der Niederlande und Deutschlands lag, mussten wir uns nun fragen lassen, warum wir unsere Aufmerksamkeit nicht im Ausland kämpfenden Aktivist_innen zuwandten, vor allem angesichts der dringlichen Sicherheitsfragen. Weil unsere Expertise nicht im Bereich von Sicherheitsfragen und -maßnahmen oder des Phänomens von ausländischen Kämpfer_innen in Kriegsregionen lag, entschieden wir uns letztlich gegen einen thematischen Umschwung. Dennoch mussten wir in allen drei Ländern unsere Vorgehensweisen anpassen, was äußerst folgenreich war.4 Ineke Roex entschied sich Anfang 2013 dazu, die Feldforschung zur belgischen Fallstudie abzubrechen, zumal die Situation in den entsprechenden Netzwerken zu instabil und unberechenbar geworden und das Risiko für die Forschung übermäßig gestiegen war. Unser in Belgien arbeitender Forschungsassistent Pim Aarns brach seine Feldforschung ebenfalls ab, da er durch eine Vernehmung und Durchsuchung seiner persönlichen Gegenstände durch die Polizei im Anschluss an ein kurzes Treffen mit einem der Kontakte eingeschüchtert war. Ebenso verkomplizierte sich unser Umgang mit Aktivist_innen, weil auch ihr Misstrauen gegenüber Forscher_innen und Journalist_innen wuchs. Für den belgischen Fall fokussierten wir fortan stärker auf Videobotschaften und geschriebene Texte.5 Carmen Becker startete mit ihrer Fallstudie zu Deutschland etwas später als Roex und ich. Becker stieß vor allem auf Probleme dabei, eine Beziehung zu Mitgliedern der Netzwerke aufzubauen, da diese ihr misstrauten. Außerdem zwang sie die gesteigerte Politisierung des Islams dazu, expliziter und eindeutiger mit ihren eigenen Positionen zu sein. So bewegte sie sich beispielsweise während einer Demonstration beständig zwischen unterschiedlichen Gruppen hin und her, um nicht als ein Mitglied einer besonderen Gruppe betrachtet zu werden: der äußeren Linken, der äußeren Rechten, der Polizei oder der militanten Aktivist_innen von Die Wahre Religion. Durch Beckers Schwierigkeiten, Zugang zu den Schlüsselfiguren der aktivistischen Szene für die Feldforschung zu finden, konnten einzelne Forschungsfragen für den deutschen Fall nicht beantwortet werden. Becker folgt ihren Kontakten zwar noch immer in den sozialen Medien, forscht aber nicht mehr aktiv zu militanten Aktivist_innen und Salafismus. Sie empfand das Feld als zu emotionsgeladen und beanspruchend. Sie musste zudem eingestehen, dass sie nicht ausreichend Daten für die Beantwortung der Forschungsfragen 4 | Dieser Abschnitt basiert auf Treffen und diversen persönlichen Gesprächen zwischen De Koning, Roex, Aarns und Becker, in denen wir ethische, strategische und methodologische Konsequenzen unseres Projektes diskutierten. Roex, Aarns und Becker sind einverstanden, dass diese Gespräche in diesen Artikel einfließen. 5 | Diese Forschung führte zu einer eigenständigen Publikation von Roex und Aarns zum Gebrauch von Humor in den Videobotschaften von Scharia für Belgien (Roex/Aarns 2016).

Ethnographie und der Sicherheitsblick

würde sammeln können. Ich versuchte, meine Feldforschung in den Niederlanden so fortzuführen, wie ich es zu Beginn getan hatte: Ich besuchte öffentliche Treffen, kommunizierte mit Menschen in den sozialen Medien und ging gelegentlich zu Demonstrationen, Freizeitangeboten und Festessen. Dennoch war die emotionale Belastung und Bestürzung recht hoch, die ich über die Ausreise meiner Kontakte, ihre Verstrickung mit ISIS und ihr Sterben auf dem Schlachtfeld empfand. Roex und ich hatten viel Zeit und Energie in die belgischen und niederländischen Netzwerke investiert. Einige unserer Kontakte kannten wir seit mehreren, in meinem Fall zwischen vier und acht Jahren. Ich verlor meinen Zugang zur Polizei, nachdem diese auf einer Veranstaltung hart durchgegriffen hatte. Die Polizei hatte sie als politische Kundgebung von dschihadistischen Anwerber_innen betrachtet, die Aktivist_innen jedoch lediglich als Fußballspiel. Sowohl die Polizei als auch die Staatsanwaltschaft waren überzeugt davon, dass ich den Aktivist_innen zu nahestand; sie verloren ihr Vertrauen in mich.6 Nach der Publikation eines Berichts, in dem wir die Funktionsweisen militanter Gruppen mit den Konzepten von Aktivismus und Gegen-Verhalten analysiert hatten, wurde uns Apologetik vorgeworfen. Viele der Kommentator_innen etrachteten die Militanten als Terrorist_innen und dschihadistische Salafist_innen. Wir versuchten allerdings, derartige Begriffe zu vermeiden, und nahmen sie eher als mediale und staatliche Bezeichnungspraxen in unsere Analyse auf. Infolge dieser Auseinandersetzungen hatte ich meine Position als Anthropologe mehrfach öffentlich zu verteidigen. Von einigen Journalist_innen wurde ich sogar dazu angehalten, deutlich zu machen, ob ich ISIS unterstütze oder nicht. Diese Frage spielte ebenso im Gerichtsverfahren gegen einige meiner 2014 festgenommenen Informant_innen eine Rolle. Ich wurde vom Gericht als Zeuge und Sachverständiger vorgeladen und musste gemäß niederländischem Recht erscheinen. Da Sozialforscher_innen über kein Berufsgeheimnis verfügen, war ich verpflichtet auszusagen. Die Angeklagten hatten außerdem Verbrechen begangen, sodass für mich die Aussage zu einer Angelegenheit der ethischen Verantwortlichkeit wurde. Überdies posteten die Angeklagten vor dem Verfahren in den sozialen Medien und auf ihren Webseiten häufig eine intolerante und aggressive Rhetorik. Darunter waren auch explizite und implizite Versuche, andere Muslim_innen zu exkommunizieren (takfir), mit denen ich arbeitete. Dies stellt das Prinzip, keinerlei Schaden anzurichten, vor erhebliche Herausforderungen: Wer muss hier beschützt werden? Einige unserer Informant_innen waren Teil von ISIS und Jabhat al-Nusra – Gruppierungen, die grausame Verbrechen im syrischen Krieg begangen hatten und die überall eine Bedrohung für Menschen darstellen könnten. Dies

6 | Diese Information erhielt ich von informellen Kontakten in der Polizei und dem Justizministerium.

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wurde mit den Anschlägen in Istanbul (1. Januar 2017), Bagdad (2. Januar 2017), Paris (13. November 2015) und Brüssel (22. März 2016) deutlich. Die Aussage zu verweigern, hätte insofern durchaus als Duldung dieser Verbrechen missverstanden werden können. Zudem hätte eine Nichtaussage die Angeklagten geschädigt, da ich in einigen Fällen Hinweise liefern konnte, die sie teilweise von den Vorwürfen entlasteten. Zugleich hätte eine Aussage auch schädliche Wirkung haben können, zumal sich die Effekte nie vollständig voraussehen lassen. Womöglich müsste das ethische Dilemma noch viel grundsätzlicher formuliert werden: Sollten wir solche Forschungen überhaupt durchführen? Wenn wir mit einer Randgruppe unter niederländischen, belgischen und deutschen Muslim_innen forschen, befeuern wir damit nicht die ohnehin virulente Islamfeindlichkeit? Geben wir auf diese Weise den entsprechenden Gruppen eine Plattform und tragen so zu den Spannungen innerhalb muslimischer Gemeinschaften bei? Liefern wir damit eine Begründung für einen gesteigerten Sicherheitsblick auf alle Muslim_innen? Bejahen wir diese Überlegungen, so bedeutet dies, dass Anthropolog_innen letztlich gar nicht mit Gruppen oder Individuen arbeiten sollten, die weite Teile der Gesellschaft (einschließlich Anthropolog_innen selbst) als »abstoßende Andere« betrachten (Harding 1991).

A k ademisches W issen vor G ericht : D ifferenzierung und  H omogenisierung Der Kontext-Prozess von September bis Dezember 2015 Die Angeklagten im sogenannten »Kontext-Prozess« 7 waren Mitglieder eines Netzwerks von Aktivist_innen, die an unterschiedlichen Aktionen der Gruppe Freiheit für Saddik/Hinter Gittern/StraßenDawah teilnahmen. Zu Beginn, also 2011, wurden sie in den niederländischen Medien als eine kleine Gruppe von Spinner_innen und/oder großmäuligen salafistischen Muslim_innen dargestellt.8 Nachdem viele von ihnen ausgereist waren, um dem bewaffneten Kampf gegen das Al-Assad-Regime in Syrien beizutreten, wurden sie 2013 7 | Es ist unklar, wie genau der Begriff »Kontext« bei diesem Gerichtsprozess zustande kam. In einem Gespräch während des Prozesses erklärte mir ein Polizeibeamter, die Bezeichnung sei angemessen, weil viele Handlungen der Angeklagten nicht per se kriminell seien, es jedoch werden könnten, sofern man den »Kontext« einbeziehe – ihre Ideologie oder den Krieg in Syrien. Ich verwende daher nachfolgend den Begriff »Kontext-Prozess«, weil dieses spezifische Gerichtsverfahren fortan so bezeichnet wurde. 8 | Die meisten von ihnen (zumindest die in den Niederlanden) hatten sich 2008 von den wesentlichen salafistischen Zentren losgesagt.

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als ausländische Kämpfer_innen kategorisiert und galten als Bedrohung und Gefahr für die niederländische Gesellschaft. Sieben von ihnen wurden 2014 festgenommen und mussten sich im September 2015 vor Gericht verantworten. Das Gericht berief mich als Sachverständigen und forderte mich dazu auf, einen Bericht zu verfassen, in dem ich auf vom Verteidigungsrat entworfene Fragen zu den Angeklagten Stellung beziehen sollte. Noch vor dem öffentlichen Verfahren wurde ich in zwei geschlossenen, während des Verfahrens in zwei öffentlichen Sitzungen angehört. Jede Sitzung dauerte etwa sieben Stunden. Ich hatte die Einwilligung der Angeklagten, die zuvor Teil meiner Forschung gewesen waren, alles mir über sie Bekannte preiszugeben. Mit der Ernennung zum Sachverständigen befand ich mich dennoch als Forscher in einer unangenehmen Position.9 Ich war nun nicht mehr teilnehmender Beobachter, sondern fühlte mich als Teil einer polizeilichen Untersuchung und eines öffentlichen Prozesses.10 Im Kontext-Prozess ging es um acht männliche und eine weibliche Angeklagte. Ihnen wurde die Gründung einer kriminellen Vereinigung mit terroristischer Absicht, die Anstiftung zu Hass und Terrorismus, die Rekrutierung vor allem für Jabhat al-Nusra und ISIS sowie einigen die aktive Teilnahme am bewaffneten Kampf vorgeworfen. Die Presse bezeichnete das Verfahren als den größten Terrorismusprozess in den Niederlanden, obwohl die meisten der Angeklagten nicht wegen Gewalttaten angeklagt wurden und keiner von ihnen an politischer Gewalt in den Niederlanden beteiligt gewesen war. Sechs der acht männlichen Angeklagten wurden wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mit terroristischer Absicht mit Gefängnisstrafen von drei bis sechs Jahren verurteilt. Einer der männlichen Angeklagten wurde wegen Anstiftung zu 43 Tagen Haft verurteilt. Ein anderer, der in einem Trainingslager in Syrien gewesen war, wurde ebenso wegen Anstiftung zu 155 Tagen Haft und sechs Monaten zur Bewährung verurteilt. Die weibliche Angeklagte wurde zu sieben Tagen Haft verurteilt, weil sie einen Tweet teilte, der als Anstiftung zur Gewalt angesehen wurde.11

9 | Trotz Drängens durch den Staatsanwalt verweigerte ich zu zwei Anlässen während der Anhörungen die Offenlegung von Informationen, um keine Informationen über andere Personen preiszugeben. 10 | Alle Angeklagten erlaubten mir, frei über meine Forschung zu sprechen. In einer bevorstehenden Publikation mit Annelies Moors werde ich über meine Rolle als Sachverständiger und Zeuge reflektieren. 11 | Einige der Angeklagten und der Staatsanwalt haben das Urteil angefochten. Die Revision soll vor dem Sommer 2018 stattfinden.

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Die Umformung von akademischem in strafrechtliches Wissen Das Gerichtsverfahren zeigt, wie akademisches Wissen und Konzepte von Salafismus in einem »Terrorismus«-Prozess verwendet werden können. Zugleich illustriert es die Mechanismen der Homogenisierung und Differenzierung, die am Werk sind, sobald Menschen als »salafistisch« kategorisiert werden. So wurde akademisches Wissen über die Angeklagten oder über das Phänomen des Salafismus strafrechtlich angeeignet und zurechtgestutzt. Im Vordergrund stand nicht mehr der Erkenntnisgewinn über die Funktionsweisen des militantem Aktivismus und seiner Interaktionen mit dem Staat und den Medien. Stattdessen ging es nur noch um die rechtliche Tatsachenermittlung und darum, ein Urteil über Schuld oder Unschuld zu fällen. Die unterschiedlichen Analysen und Interpretationen von mir und den anderen Sachverständigen Sjoerd van Koningsveld und Ruud Peters wurden nicht als Bestandteile einer akademischen Debatte verhandelt, sondern von den Logiken des juristischen Prozesses absorbiert und entsprechend verkürzt. Wie Werner Schiffauer (2014: 201) aufzeigt, konstituiert sich akademisches Wissen gemeinhin auf gänzlich andere Weise als bürokratisches Wissen, das stärker politische Verwertbarkeit und Rechenschaftspflicht hervorhebt.12 Schiffauer zeigt am Beispiel des Verfassungsschutzes und dessen verstärkten Fokus auf Varianten des Islamismus, wie Kategorisierungen einen unumgänglichen Bestandteil politischen und politikorientierten Wissens bilden: So wird zunächst zwischen dem Islam als einer Religion und dem Islamismus als einem Missbrauch von Religion unterschieden. Dann wird eine Unterscheidung diverser Gefahrenstufen festgelegt, entlang derer die Netzwerke in Subkategorien sortiert werden. Abschließend wird die Größe der Organisation kalkuliert. Die Kläger_innen im Kontext-Prozess schlugen einen ganz ähnlichen Pfad ein. Zuerst erklärten sie nachdrücklich: »Es ist nicht der Islam, der vor Gericht steht, sondern die Taten von neun Angeklagten basierend auf ihrer Interpretationen von Koran und Hadithen« (Zusammenfassung der Anklage der Staatsanwaltschaft, nachfolgend Anklageschrift, S. 3).13 Es wurde betont, dass die neun Angeklagten eine Vereinigung gebildet hätten, die Menschen für den »bewaffneten dschihadistischen Kampf« rekrutiere, doch: »Dieser Kampf wird nicht von dem ›Islam‹ oder den ›Muslimen‹ geführt, sondern von einer begrenzten fundamentalistisch-dschihadistischen Strömung, die nicht repräsentativ ist für den Islam oder die muslimische Gemeinschaft hier in den Niederlanden und dem Rest der Welt. Es geht ihr darum, zu Gewalt und Terror 12 | Selbstverständlich kann sich dies in Abhängigkeit zur jeweiligen akademischen Disziplin unterschiedlich gestalten. Gerade bei der Islamforschung fallen beide Varianten allerdings häufig zusammen (siehe Schirin Amir-Moazami in diesem Band). 13 | Dem Autor liegt der komplette Text vor.

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anzustacheln, anzuregen und aufzurufen. Dies sind schwere straf bare Sachverhalte.« (Anklageschrift, S. 3). Die staatsanwaltliche Unterscheidung zwischen dem Islam und einer »begrenzten fundamentalistisch-dschihadistischen Strömung« verdeutlicht eine geläufige Differenzierung zwischen einem akzeptablen und einem inakzeptablen Islam, die einen wesentlichen Bestandteil der rechtlichen, aber auch genereller der Sicherheitslogik bildet. Damit soll einerseits eine Stigmatisierung aller Muslim_innen vermieden, zugleich aber die Möglichkeit eröffnet werden, Handlungen von Muslim_innen mit ihrer Religion zu verknüpfen. Die Handlungen werden dann stets in Abhängigkeit zur Religionszugehörigkeit und anhand einer ganz spezifischen Sicherheitsperspektive betrachtet. Solcherlei Unterscheidungen und Vereinheitlichungen waren in diesem Prozess umso dringlicher, als der Rechtsanwalt der Angeklagten zuvor behauptet hatte, das Verfahren richte sich nicht gegen den Islam oder Muslim_innen als solche. Interessanterweise griffen die Staatsanwälte bei ihrer Differenzierung von Islam und »Dschihadismus« auf die inzwischen gebräuchliche Typologie von Quintan Wiktorowicz (2006) zurück. Wiktorowicz unterscheidet zwischen »puristischem«, »politischem« und »dschihadistischem« Salafismus und wurde auch in den anderen Sachverständigenberichten (Prof. van Koningsveld) herangezogen. Die Staatsanwaltschaft behauptete, die Ideologien aller drei Strömungen könnten letztlich zu Intoleranz, antidemokratischen Aktivitäten und Polarisierung führen. Daran anknüpfend befanden die Staatsanwälte, die Ideologie der Angeklagten zeichne sich durch Merkmale des »dschihadistischen Salafismus« aus, wie etwa den Fokus auf tawḥīd14, die Ablehnung von Demokratie, takfīr 15, die Legitimierung von Gewalt, Dschihad gegen »ungläubige Regime« oder die Doktrin des al-walāʾ wa-l-barāʾ (Loyalität und Lossagung). Die Angeklagten wurden entsprechend umstandslos dem »Dschihadismus« zugeordnet, sprich der »extremsten Strömung des Salafismus« (Anklageschrift, Teil II, S. 13), wie es im Wortlaut hieß. Die Staatsanwälte versuchten also die Angeklagten als »Salafisten« oder »Dschihadisten« festzuschreiben, um ihre Differenzierung aufrechtzuerhalten, nicht der Islam an sich stehe vor Gericht, sondern die Taten der Angeklagten, die wiederum einer gefährlichen Ideologie zuzuordnen seien. Die Angeklagten selbst versuchten, Widerstand gegen die homogenisierenden Definitionen zu leisten, und sahen sich als Mitglieder einer gefährlichen 14 | Tawhı¯d bedeutet »eins machen« oder »Einssein beteuern« und bezieht sich auf die Annahme der Einzigartigkeit und Einheit Gottes. Als Konsequenz wird es theologisch angewandt auf die Einheit Gottes (wah�da¯nı¯ya, tawah�h�ud) in all seinen Bedeutungen (Gimaret 2012). 15 | Takfı¯r bezeichnet die Überzeugungen und Praktiken, jemanden zum Ungläubigen zu erklären: »to declare someone a ka¯fir or unbeliever« (Ed./Hunwick 2000/2012).

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globalen Bewegung stigmatisiert. Vor allem zwei der Angeklagten bemühten eine Gegendarstellung. X. spielte mit der Sprache des Aktivismus, Dschihadismus und Salafismus und gab sich in seiner schriftlichen Stellungnahme selbst den Titel »Ich bin ein aktivistisch-dschihadistischer Salafi«. Y. gab an, nicht an seiner Kategorisierung als Mitglied einer Vereinigung interessiert zu sein und verlautbarte: »Ich bin ein Muslim. Das war’s.« Auf unterschiedliche Weisen versuchten beide, die von der Staatsanwaltschaft auferlegten Definitionen zu untergraben und zu destabilisieren. Sie boten zwar ebenso reduzierte Gegenkategorisierungen wie die Staatsanwaltschaft. Allerdings versuchten sie auf diese Weise deutlich zu machen, dass sie keine Gefahr darstellten. Die Staatsanwälte, die Rechtsanwälte und die Angeklagten beriefen sich bei ihren Argumenten allesamt auf meinen Sachverständigenbericht, interpretieren ihn aber jeweils für ihre eigenen Zwecke.

Das Taqiy ya-Argument Die Staatsanwaltschaft argumentierte, in seiner Akte seien viele Beispiele vorhanden, die die Bezeichnung der Angeklagten als dschihadistische Salafist_innen rechtfertigten. Leugnungen wie die von Y. wurden von den Staatsanwälten interpretiert als: »charakteristisch für die Strömung der Salafi (sic!). Salafisten nennen sich selbst nicht ›Salafist‹, sondern ›Muslim‹ oder ›reiner Muslim‹. Durch diese Praxis erreichen sie nicht nur ein größeres Publikum, sondern erzeugen auch den Eindruck, dass ihr Einfluss weit über ihre eigene Anhängerschaft hinausgeht.« (Anklageschrift, Teil II, S. 23) Das letzte von der Staatsanwaltschaft übernommene Argument basiert auf der Idee der taqiyya (Täuschung/Verschleierung). Obwohl der Aspekt der taqiyya letztendlich bei der Urteilsfindung nicht sonderlich von Bedeutung war und die Richter sich nicht darauf bezogen, lohnt sich eine genauere Untersuchung. An diesem Fall wird deutlich, wie akademisches Wissen mit anderen Wissenstypen verschmilzt, um hermetisch geschlossene Kategorien zu erschaffen. Die Staatsanwälte gaben an, dass die Aussagen und das Verhalten der Angeklagten im Widerspruch zu den Erläuterungen ihres ideologischen Denkens stünden, die sie während des Verfahrens lieferten. Es wurde die folgende Erklärung präsentiert: »Die extremistische Ideologie besteht aus dem Konzept der ›taqiyya‹« (Anklageschrift, Teil II, S.  22). Taqiyya bezieht sich demnach auf das Verbergen einer religiösen Überzeugung im Fall einer (tödlichen) Bedrohung. Hier verweist die Staatsanwaltschaft auf eine Publikation der belgischen Nachrichtendienste (de Keyser 2014). Der Autor, Jeroen De Keyser (M. Sc. in Kriminologie und Philosophie, Universität Groningen), definiert »Takfirismus« als eine islamische Ideologie, die auf der Kernfrage beruhe, wer in der Gemeinschaft als Muslim gelte und wer nicht. Daraus folgert er, dass dies

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für seine Anhänger notwendigerweise zu kriminellen Taten führe, so etwa der Ermordung von Menschen, die »basierend auf sogenannten religiösen Grundlagen« als Ungläubige markiert werden (de Keyser 2014: 38). De Keyser bezieht sich auf einen Militärstrategen der Aufstandsbekämpfung namens David Killcullen (2009), der »Takfirismus« als eine Alternative zu Bezeichnungen wie »Dschihadismus« betrachtet. De Keyser verweist außerdem auf einen Artikel in der Encyclopaedia of the Qurʾān (Amir-Moezzi 2001/2007) sowie auf eine Publikation von Andrew Campbell (2005), in der taqiyya als die Weise beschrieben wird, wie »Islamisten den Westen täuschen«. Campbell versucht in seinem Artikel auch zu zeigen, wie taqiyya im frühen islamischen Denken verwurzelt ist – gemeint sind hier die Hadithe, d.h. die Überlieferungen über die Taten und Aussprüche des Propheten Muhammad. Unter anderem beruft er sich dabei auf eine Definition von Bernard Lewis:»The term taqiyya, caution, precaution, denotes an Islamic concept of dispensation – the idea that under compulsion or menace, a believer may be dispensed from fulfilling certain conditions of religion […] It was used to justify the concealment of beliefs likely to arouse the hostility of the authorities or the populace.« (Lewis 1987: 25) Campbell versucht nun zu verdeutlichen, wie sowohl sunnitisches als auch schiitisches Denken durch diese Vorstellung beeinflusst worden sind, obwohl taqiyya ursprünglich ein schiitischer Grundsatz war. Er möchte außerdem zeigen, wie sich taqiyya zu »einer Kunstform der Täuschung entwickelte«. Damit offenbart Campbell sein islamfeindliches Verständnis von taqiyya, wonach alle Muslim_innen als inhärent vertrauensunwürdig gelten. In eben dieser Bedeutung führte Geert Wilders, Vorsitzender der niederländischen Partei für die Freiheit (PVV), das Konzept in die politischen Debatten zum Islam in den Niederlanden ein. Diese kurze Erläuterung zum Gebrauch von taqiyya soll keinesfalls suggerieren, dass das Konzept ausschließlich in islamfeindlichen Kreisen verwendet wird. Yarden Mariuma (2014) zeigt, wie der Begriff von islamischen Gelehrten, vom Militär, von Sozialwissenschaftler_innen, von Diplomat_innen und Polemiker_innen gebraucht wird. Der Begriff wird dabei in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte und Blickwinkel beschrieben und benutzt. Zudem basiert seine Verwendung auf einer Vielfalt unterschiedlicher Interessen. Seine Bedeutung ist daher durch Ambiguität geprägt. Es gibt noch weitere Aspekte, die zeigen, wie in dem Verfahren taqiyya als Identitätskonzept und als rhetorische Figur verwendet wurde: Im Gegensatz etwa zu Zeug_innen sind Angeklagte vor Gericht nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Die Staatsanwaltschaft musste sich insofern nicht notwendigerweise auf taqiyya beziehen, um die Widersprüche zwischen vorherigen und späteren Aussagen der Angeklagten aufzuzeigen. Dass er sich dennoch darauf berief, zeigt somit, wie die Angeklagten auf spezifische Weise ideologisch zugeordnet wurden. Die Staatsanwälte erklärten ihr Verhalten anhand seiner eigenen

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Perspektive auf diese Ideologie, selbst wenn sich dies bei näherem Hinsehen als unangemessen erwies. Durch einen solchen Gebrauch des taqiyya-Konzepts wird zudem eine Rassisierung von »Täuschung« als vermeintlich typisch islamisches Merkmal vorangetrieben. Wie Sindre Bangstad (2016) erläutert, ist taqiyya zu einem Grundprinzip islamfeindlicher Literatur herangewachsen. Diese setzt taqiyya mit »Lügen« und »Täuschung« gleich und unterstellt Muslim_innen, sich darauf zu beziehen, um ihre »wirklichen« Intentionen zu verdecken. Diese wiederum werden in der allmählichen oder gar kriegerischen Infiltrierung »westlicher« Länder und der Etablierung einer globalen islamischen Herrschaft gesehen. Diese islamfeindliche Variante des taqiyya-Arguments bildet eine Form von Verschluss: Sie suggeriert letztlich, dass Muslim_innen grundsätzlich nicht zu trauen sei. Die Einteilung in akzeptable und inakzeptable (oder radikale vs. moderate) Muslim_innen wird demnach häufig von politischen Eliten hervorgebracht, die sich auf diese Weise von dem Vorwurf der falschen Generalisierung freizusprechen versuchen. Das taqiyya-Argument schafft die gleichzeitige Existenz »akzeptabler« Muslim_innen im öffentlichen und »inakzeptabler« Muslim_innen im privaten Raum, wo sie sich voll und ganz den Regeln des Islams verschreiben können (Bangstad 2016: 60). Wie Mariuma (2014) zeigt, ist eine solche Verschränkung von akademischem Wissen und Islamfeindlichkeit keine gänzlich neue Erscheinung. Die Studie zur taqiyya von Ignaz Goldziher (1906) wird von vielen als der Text herangezogen, auf dem andere ihre Theorien auf bauten. Mariuma (2014: 91) macht deutlich, wie sich Goldziher auf den »bekannten rassistischen Philosophen Gobineau (1866)« bezieht, der das Kitmān-Phänomen (»Lüge durch Weglassen«) diskutiert. Laut Joseph Arthur de Gobineau sei Lügen für Westler_innen schamvoll besetzt. Für »Asiaten« hingegen gelte, dass Betrügen, Täuschen und Hintergehen sogar mit einem Gefühl der Überlegenheit einhergingen. Wie Mariuma (2014: 91) beobachtet, taucht die Referenz zu Goldziher in vielen Publikationen auf, etwa in der Encyclopaedia of the Qurʾān, auf die sich auch De Keyser bezieht. Ein Hinweis auf de Gobineau oder den rassistischen Entstehungskontext dieser Lesart fehlt dabei jedoch völlig.

Wissensassemblagen Anhand eines Gemenges unterschiedlicher Wissenstypen befindet das Gericht darüber, ob eine kriminelle Handlung mit terroristischer Absicht vorbereitet wird. Dieses Gemisch entspricht dem, was die Historikerin und Terrorismusforscherin Beatrice de Graaf (2018) als »Techniken der Assemblage« bezeichnet: »Die sich auf mögliche künftige Gewalt berufende Verknüpfung assoziativer Schlussfolgerungen und Vorsätzlichkeit erfüllt den Zweck, aus einer heterogenen und unvollstän-

Ethnographie und der Sicherheitsblick digen Menge von Aktivitäten und Handlungen (Posts in den sozialen Medien, Rechtshandlungen (Heirat), Äußerungen, Verteilen von Flyern, Besitz einer IS-Flagge) einen einheitlichen Beweiskorpus zu formen. Diese Assemblage wird zusammengehalten durch die Andeutung von ›Intensivierung‹ und Steigerung einer Reihe illegaler und legaler Tätigkeiten.« (de Graaf 2018)

De Graaf betrachtet den Kontext-Prozess als exemplarisch für Gerichtsverfahren, bei denen sich die Beweisführung auf die Vermutung von »vorbereitenden Aktionen« stützt. De Graafs Analyse dieses Kontext-Prozesses erläutert recht gut, was mit akademischem Wissen geschehen kann, wenn es die transformierenden Logiken eines auf Sicherheit und Terrorismus ausgerichteten Strafprozesses durchläuft. Ähnlich wie bei unterschiedlichen politisierten Auffassungen von taqiyya verwendet die Staatsanwaltschaft den Begriff nicht allein, um potenzielle Falschaussagen der Angeklagten zu identifizieren, die zum eigenen Schutz gemacht wurden. Er verknüpft den Begriff stattdessen mit einem kriegerischen und kämpferischen Vokabular. So betonten die Staatsanwälte, dass sich die Angeklagten in einem Kampf befänden, den sie »für sich selbst, aber auch für ihre dschihadistischen Mitstreiter« zu gewinnen hätten. In einem solchen Kampf sei es ihnen erlaubt, ihre Ideologie zu verbergen und sich anders zu verhalten, als sie »wirklich« seien. So verheimlichten die Angeklagten laut Staatsanwaltschaft während der Befragungen ihr eigentliches Wesen und vermieden es, sich in Glaubensangelegenheiten zu positionieren. Die Staatsanwaltschaft maß dem Verhalten und den unter ihnen geäußerten Positionen größere Bedeutung bei als ihren Bekundungen während des Verfahrens. Die Wissensassemblage bestärkte in diesem Fall die Annahme der Staatsanwaltschaft, dass die »Ideologie der Angeklagten große Ähnlichkeiten zur dschihadistisch-salafistischen Ideologie aufweist, in der der gewalttätige dschihadistische Kampf von zentraler Bedeutung ist« (Anklageschrift, Teil II, S.  26). Nach Aussage der Staatsanwälte hatten mehrere der Angeklagten zwar keine Gewalt angewandt, wurden aber aufgrund ihrer Ideologie als gewaltbefürwortend kategorisiert. Obwohl die Angeklagten in unterschiedlichen Punkten Unstimmigkeiten gezeigt hätten, so seien sie sich dennoch in ihren Ansichten zur Demokratie, zu westlichen Militärinterventionen in Nahost und zur Legitimität des durch Al-Qaida geführten militärischen Dschihads weitgehend einig. Diese Behauptung der Staatsanwaltschaft basierte teilweise auf meinem Sachverständigenbericht. Darin hatte ich ausgeführt, die Angeklagten stimmten darin überein, dass Demokratie und Islam unvereinbar seien und dass die Demokratie dem islamischen Recht nach ihrem Verständnis unterlegen sei. Sie begriffen westliche Militärinterventionen in Nahost als ein Beispiel für die Bösartigkeit von Demokratie und als Bestandteil des Krieges gegen den Islam. Ihrer Ansicht nach legitimierte dies den Gebrauch politischer Gewalt

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durch Al-Qaida gegen den Westen. Dennoch waren sie sich uneinig, was die Taktiken betrifft, etwa bei der Frage, ob es legitim sei, speziell Zivilist_innen ins Visier zu nehmen. Die Staatsanwaltschaft forderte, dass die Handlungen und Äußerungen der Angeklagten entlang ihrer Ideologie interpretiert werden sollten. Zugleich unterstrich sie, die Ideologie selbst stehe nicht vor Gericht, sondern der Fall »dreht sich darum, was die neun Angeklagten mit dieser Ideologie taten bzw. welche auf dieser Ideologie basierenden Handlungen sie ausführten. Diese Ideologie bildet den Kontext der Verhaltensweisen, die strafbar sein könnten.« (Anklageschrift, Teil II, S. 28) Es war diese bestimmte Konzeption des Salafismus und des dschihadistischen Salafismus im Besonderen, die den Staatsanwälten die Beweise für eine »terroristische Absicht« lieferte, die wiederum notwendig waren, um den Angeklagten eine Beteiligung in einer kriminellen Organisation mit terroristischer Absicht nachweisen zu können. Das Gericht stimmte dieser Interpretation zu und erklärte entsprechend, dass »die Teilnahme am bewaffneten Kampf in Syrien auf der Seite von dschihadistischen militanten Gruppen stets ein terroristisches Verbrechen darstellt« (Gerichtsurteil, Anmerkung 53, ohne Seitenangaben)16 An sich von Bedeutung ist der Bezug auf Terrorismus. Laut de Graaf ist es die Rahmung durch Sicherheit und Terrorismus, die eine Veränderung des Strafrechts ermöglicht. De Graaf schließt dies aus zwei ähnlichen richtungsweisenden Gerichtsverfahren. Darin ging es um einen Mann und eine Frau, die verdächtigt wurden, nach Syrien ausreisen zu wollen. Es ist hier vor allem das Urteil der Richter, das für den Kontext-Prozess Aufschluss bietet. Nachdem die Richter klar herausgestellt hatten, dass das Sympathisieren mit Al-Qaida oder ISIS, daʾwa-Aktivitäten oder der Besuch einer Demonstration nicht an sich illegal seien, legten sie folgendes dar: »Das Gericht möchte im Weiteren sicherstellen, dass es zu keinerlei Missverständnissen kommt. Vorbehaltlich der oben genannten Freiheiten spielt das Strafrecht eine zwar begrenzte, aber dennoch wichtige Rolle für die Terrorismusbekämpfung. Aus einer internationalen Perspektive betrachtet, stellt Terrorismus eines der schlimmsten Verbrechen dar. Es obliegt allen Staaten, diesen zu bekämpfen. Das Strafrecht ist behilflich sowohl bei der Prävention als auch bei der Verfolgung und gerichtlichen Ahndung terroristischer Handlungen.« (Urteil, ohne Seitenangaben)

16 | Das Urteil ist in der niederländischen Fassung nachzulesen unter: http://deeplink. rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBDHA:2015:14365 In der englischen Fassung unter: http://deeplink.rechtspraak.nl/uitspraak?id=ECLI:NL:RBDHA:2015:16102

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Diese Argumentation verdeutlicht, wie das Strafrecht mit Blick auf mutmaßlichen Terrorismus ausgeweitet wurde. Diese Erweiterung ist ein besonderes Merkmal der Versicherheitlichung, die nicht schlicht innerhalb oder außerhalb des Gesetzes operiert, Gesetze außer Kraft setzt oder neue erschafft (Butler 2004). Durch die Gesetze selbst wird bereits existierendes Recht transformiert (siehe de Goede 2008). Wie Didier Bigo (2002) in seiner Kritik der Versicherheitlichung von Migration anmerkt, werden so die Vorstellungen darüber erweitert, was als Sicherheit gilt und wie diese geschützt werden kann. In unserem Fall wird das, was als Sicherheit gilt, zumindest durch die Rahmung der Staatsanwaltschaft direkt damit verknüpft, was eine »akzeptable« und was eine »inakzeptable« Religion sei. Dies gilt vor allem für die Vorstellungen von »Salafismus« und »Dschihadismus«. Obwohl viele der Angaben der Angeklagten im Kontext-Prozess wie auch in den beiden anderen Verfahren per definitionem nicht auf Illegalität hinwiesen, schlussfolgerte der Richter entsprechend der Staatsanwaltschaft, dass die Absicht des Netzwerkes über »einfache« Propaganda hinausging. Dem Gericht zufolge bestand das Ziel in der Aufstachelung, Rekrutierung, Finanzierung und Förderung der Reisen junger Menschen nach Syrien, um sich den sogenannten dschihadistischen Gruppierungen anzuschließen. Tatsächlich lebten zwei der Angeklagten noch immer unter den ausländischen Kämpfer_innen in Syrien, zwei waren bereits zurückgekehrt. Das Gericht argumentierte, dass die Summe all ihrer (häufig legalen) sich wechselseitig verstärkenden Handlungen – d.h. ihre Texte, Posts in den sozialen Medien, WhatsApp-Nachrichten, öffentlichen Erklärungen auf Webseiten und in den Medien – die Herzen und Köpfe der jugendlichen Zielgruppe für den bewaffneten Kampf vorbereiteten. Ich hatte in meinem Sachverständigenbericht dargelegt, dass die Angeklagten nicht als eine Organisation im klassischen Sinne betrachtet werden könnten, also mit eindeutiger Hierarchie, Aufgabenteilung etc. Das Gericht folgte jedoch der Staatsanwaltschaft, die meinen Bericht als Beleg verwendete, die Angeklagten als Begründer einer kriminellen Organisation einzustufen. Besonders meine Analysen ihrer Kommunikation in dem lose gekoppelten Netzwerk und meine Kontextualisierung ihrer Rezeption salafistischer Prediger und Ideen über den Dschihad wurden zu diesem Zweck genutzt. Andere Aspekte meiner Kontextualisierung, wie etwa Islamfeindlichkeit, fanden keinerlei Berücksichtigung. Obwohl die Rekrutierungsvorwürfe gegenüber mehreren Angeklagten fallengelassen wurden, betrachteten die Richter und die Staatsanwaltschaft auch den kontinuierlichen Nachrichtenfluss und die Unterstützung, die sie ISIS und Jabhat al-Nusra zukommen ließen, als eine Form der Rekrutierung. Keiner der Angeklagten hatte irgendeine Form von Gewalt in den Niederlanden ausgeübt und es gab keinerlei Beweise für geplante Gewaltakte. Das Gericht mutmaßte jedoch, dass ihre Handlungen früher oder später zu Gewalt

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führen könnten. Die Möglichkeit von Terroranschlägen aufrufend wurde die Aussicht auf eine potenziell gewaltvolle Zukunft gezeichnet und damit die Eindämmung legaler Aktivitäten (wie etwa Kreditaufnahme, Verleih und Lektüre von Büchern, Prahlerei oder provokative Texte) in der Gegenwart legitimiert und erlaubt.

D ie R assisierung von B edrohung Der Kontext-Prozess verweist auf einen allgemeinen Trend in der akademischen Forschung und in öffentlichen Debatten zu Muslim_innen und Islam in den Niederlanden bzw. Europa. So werden die Debatten und Politiken in den Bereichen Pluralität, Migration, Muslim_innen und Islam anhaltend geformt und gespeist durch Vorstellungen von potenziellen Bedrohungen, die aus Einwanderung und der Präsenz von Muslim_innen erwachsen. Dies wird auch im Gerichtsverfahren deutlich, in dem die Staatsanwälte Salafismus bzw. dschihadistischen Salafismus problematisieren. Diese Problematisierung basiert auf der These, aus einem Radikalisierungsprozess erwachse notgedrungen Gewalt. Gemeinhin gelten die Anschläge vom 11. September 2001 als der Schlüsselmoment in der Weltgeschichte, auf den Gesellschaften mit einer verschärften Prüfung von Muslim_innen und vom Islam reagiert haben. Allerdings waren Muslim_innen als Angehörige einer anderen »Kultur« in den Niederlanden bereits in den 1990er-Jahren in hohem Maße im Visier. Die Ereignisse und anschließenden Entwicklungen von New York und Washington, D.C. verstärkten diesen Fokus lediglich. Während der 1970er-Jahre fokussierten die Debatten zur Integration von Migrant_innen  – damals sogenannte »Gastarbeiter_innen« und »Molukk_innen« – auf mögliche Bedrohungen durch die Präsenz migrantischer Kulturen. Damals bereits galt der Islam in besonderem Maße als unvereinbar mit niederländischer Rechtsstaatlichkeit.17 Nach der Affäre um Salman Rushdies Buch Die Satanischen Verse von 1989 veröffentlichte der niederländische Sicherheitsdienst (Binnenlandse Veilgheidsdienst, hiernach BVD) einen Bericht, wonach eine Schwerpunktverlagerung von der »kommunistischen Bedrohung« zu Migration und Islam deutlich wurde. Der Bericht ging außerdem davon aus, eine mögliche Begleiterscheinung der Migration aus südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern könne die »schrittweise Radikalisierung oder Fundamentalisierung muslimischer Communities

17 | Selbstverständlich gibt es sehr viel ältere Vermächtnisse, die den Islam, Muslim_ innen und Migrant_innen mit existenziellen Bedrohungen verknüpfen. Siehe dazu beispielsweise Rana 2007.

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in ausländischen Gesellschaftsteilen« sein. Denkbare Konsequenz könnte die Überführung von Konflikten wie »Blutvergießen, Behinderung der Meinungsfreiheit oder anderer Grundrechte [sowie] gravierende Störungen der öffentlichen Ordnung« aus den Herkunftsländern in die Niederlande sein (Tweede Kamer Verslag 1991-1992). Obwohl es sich hierbei um kontroverse Themen handelte, führte eine Kombination aus dieser Neuorientierung sowie politischer, sozioökonomischer und ideologischer Entwicklungen innerhalb der muslimischen Community dazu, dass Politiker_innen und Meinungsmachende zunehmend Fragen nach kultureller Pluralität, Migration, sozialem Zusammenhalt oder Sicherheit mit dem Islam verknüpften (de Koning et al. 2014). 1998 erschien ein neuer Bericht des BVD, der vor einer Zunahme des politischen Islams warnte (BVD 1998: 20). Ein Jahr darauf war im jährlichen Bericht Folgendes zu lesen: »Neben den ›klassischen‹ Bedrohungen für die demokratische Ordnung – Terrorismus, rechter und linker Extremismus und politische Gewalt  – sprechen wir über gezielte Anstrengungen politischer und religiöser Bewegungen sowie ausländischer Kräfte, Integrationspolitiken zu behindern oder zu vereiteln.« (BVD 1999: 15). Die zentralen Sicherheitsfragen drehten sich nicht mehr länger allein um politische Gewalt, sondern hatten sich ausgeweitet und umfassten nun auch Integration. Mangelnde Integration, die sich damals vor allem durch hohe Erwerbslosigkeit und geringe Bildungserfolge äußerte, könnte unter muslimischen Migrant_innen zu Missständen und Gewaltbereitschaft führen, so die Befürchtung. Diese Verknüpfung bildete jedoch kein völlig neues Phänomen. Die ursprünglichen Ideen niederländischer Politikkreise zur Notwendigkeit einer gezielten Integrationspolitik entstanden in den 1970er-Jahren als Reaktion auf gewaltsame Aktionen (Zugentführungen, Schulbesetzungen) von molukkisch-niederländischen Aktivist_innen. Damals wurden sozioökonomische Ungleichheit und Isolation molukkisch-niederländischer Communities als Ursache für die Gewalttaten angesehen. Die Aktivist_innen selbst setzten sich allerdings für einen unabhängigen Molukkenstaat ein und forderten den niederländischen Staat auf, sein Versprechen nach der Unabhängigkeit Indonesiens einzuhalten. Damals wurde Molukk_innen ein unabhängiger Staat zugesagt, in den sie zurückkehren könnten. An dieser Stelle wird ein zentrales Merkmal von Politiken der Versicherheitlichung deutlich: Im Endeffekt entpolitisiert sie die Forderungen der Aktivist_innen, inklusive derer, die Gewalt ausüben, und beschränkt sie damit in ihrer Handlungsmacht. Eine Entpolitisierung erfolgt, indem die politischen Klagen oder die etwa durch Kolonialherrschaft und Imperialismus erzeugte strukturelle Ungleichheit gar nicht adressiert werden, sondern allein der politische Aktivismus als eine Angelegenheit von gefährdeten Gruppierungen umgedeutet wird, die durch bestimmte Auslösefaktoren zur Gewalt getrieben werden können. Die Präsenz und Handlungen

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molukkischer Aktivist_innen werden in eine technokratische Frage umgeformt, die durch Integrationspolitiken reguliert und gelöst werden kann. Die Last der Veränderung wird allein Molukk_innen und nicht der Gesamtgesellschaft oder dem Staat aufgebürdet. Es gilt hervorzuheben, dass der BVD und sein späterer Nachfolger, der AIVD, unterschiedliche Formen politischer Gewalt unterschieden und vor den möglichen Folgen weitläufiger Versicherheitlichung warnten. Sie fürchteten vor allem eine Stigmatisierung muslimischer Communities, was wiederum die Radikalisierung eher befeuern als unterbinden könnte (BVD 2001: 7; de Graaf 2011: 65f.). Trotz dieser Warnungen führten die Ereignisse vom 11. September, die Ermordung des Schriftstellers und Filmregisseurs Theo van Gogh im Jahr 2004 sowie der Aufstieg von antiislamischen Politiker_innen wie Geert Wilders zu einer wachsenden Versicherheitlichung des Islams in den Niederlanden. Der Fokus der Medien, der Politik und der Integrationsmaßnahmen richtete sich fortan fast ausschließlich auf Muslim_innen und den Islam und ihre vermeintliche Bedrohung für die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt (de Graaf 2011; Vliegenthart 2007). Die in den Debatten und in geringerem Maße in den Integrationspolitiken beobachtbare Rassisierung von Muslim_innen basiert zugleich auf dem Idealbild einer modernen niederländischen Identität. Ihr Kennzeichen sind säkulare (inklusive sexuelle) Freiheiten, die gegen eine noch nicht moderne (der sogenannte moderate Islam) oder sogar antimoderne (fundamentalistischer oder radikaler Islam) Religion verteidigt werden müssen (de Koning 2016).

W issenschaf tliche F orschung und   das  Ü berwachungsregime Die Versicherheitlichung von Wissen und Forschung zum Salafismus Die gegenwärtige Forschung zu Islam und Muslim_innen in den Niederlanden ist geprägt durch die Rassisierung von Bedrohung und die Versicherheitlichung des Islams. Wie Birgitte Schepelern Johansen und Riem Spielhaus in ihrem Beitrag zu quantitativen Studien über Muslim_innen in Europa deutlich machen, ist unser Bedürfnis nach Wissen durch all die unterschiedlichen Annahmen geleitet, die in der Frage »Wer sind die?« zusammenfließen (Schepelern Johansen/Spielhaus in diesem Band). Gregory Starrett (2009) weist darauf hin, dass der moderne Nationalstaat anhaltend (re-)definieren muss, wer Zugehörige und wer Außenstehende des Staates sind. Einen zentralen Baustein des Nationalstaates bildet die Notwendigkeit, die eigene Bevölkerung zu überwachen, zu regulieren und zu kontrollieren. Dies geschieht mit der

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Absicht, eine homogene Erwerbsbevölkerung und den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, der vermeintlich durch allzu hohe kulturelle Diversität bedroht wird. Laut Starrett werden daher beispielsweise die folgenden Fragen besonders häufig gestellt: »How have Muslim populations adapted, assimilated, resisted, and reformed themselves in non-Muslim environments, and how will they do so in the future? Where do they live, and what are their demographics? Are they similar to previous waves of immigrants, or qualitatively different? How can we help ensure they will not become a danger to their host societies? And at the most basic level, who counts as ›Muslim‹?« (Starrett 2009: 223)

Die Rassisierung von Bedrohung basiert auf dem Ideal einer säkularen Gesellschaft, in der es einen zugewiesenen Ort für akzeptable Religion gibt. Dadurch werden bestimmte Gruppen »sichtbarer« und »religiöser« als andere. Zahlreiche Wissenschaftler_innen haben davor gewarnt, einen zu starken Fokus auf die Religiosität von Muslim_innen und auf jene zu legen, die sichtbar, hörbar und deutlich als Praktizierende präsent sind. Ein solches Vorgehen reduziert Menschen auf ihr Muslimsein. Zugleich bestärkt es religiöse und soziale Bemühungen von (etwa salafistischen) Erweckungsbewegungen, die versuchen, bestimmte Varianten des Muslimseins zu stärken. Wissenschaftler_innen bekräftigen in dieser Situation den Faktor »Islam« als wichtigstes Identitätsmerkmal. Außerdem privilegieren sie eine bestimmte Interpretation des Islams, die eine besondere Weise des Muslimseins vertritt. Rogers Brubaker bezeichnet diese als »methodologischen Islamismus« (Brubaker 2013: 6). Muslim_innen, die salafistische Zentren besuchen, werden eindeutig der Kategorie »sichtbare Praktizierende« zugeordnet. Dadurch mag die Ansicht bestärkt werden, dass Muslim_innen allgemein sowie salafistische Muslim_innen im Speziellen stets eindeutig sichtbar und hörbar sind und den Islam auf strikte Weise praktizieren. Dies deckt sich mit öffentlichen Debatten, in denen allein die Sichtbarkeit des Islams an sich von vielen Politiker_innen und Kommentator_innen immer wieder thematisiert wird.Fragen von Sicherheit spielen für den Großteil der wissenschaftlichen Forschung allerdings nur eine marginale Rolle, obwohl auch sie vom Thema der Sichtbarkeit durchdrungen ist. Thijl Sunier argumentiert zum Beispiel: »the increased emphasis, since 9/11, on the presence of Muslims as a potential risk for society has not only increased the entanglement of policy priorities and research agendas, it has also resulted in a gradual narrowing down of the research focus to the governance of security, deviant behaviour, cultural clash and the ways in which nation states deal with the challenges of an increasingly vocal and transnational religious constituency.« (Sunier 2014: 1142)

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Die enge Beziehung zwischen Politik und wissenschaftlicher Forschung wurde bereits früher in der niederländischen Wissenschaft festgestellt (Strijp 1990) und bildet vor allem in der Ethnologie ein wichtiges Thema. David Price (2016) geht in seiner eindrucksvollen Reihe zur Geschichte der Ethnologie der Frage nach, wie die Entwicklung der US-amerikanischen Ethnologie durch das Militär und die Sicherheitsdienste beeinflusst wurde. Die Rolle US-amerikanischer Ethnolog_innen während des Zweiten Weltkrieges betrachtend, macht Price (2008: 36) deutlich, dass viele von ihnen scheinbar nicht bemerkten, »wie die in diesem notwendigen Kampf verwendeten Methoden auf lange Sicht tragende Säulen ebenjener Tyranneien werden konnten, die sie zu bekämpfen strebten«. Price untersucht das, was er als die Doppelrolle der Ethnologie bezeichnet: Die Beziehung (und manchmal Komplizenschaft) zwischen ethnologischer Forschung und ihrem praktischen Gebrauch, im Besonderen für das US-amerikanische Militär und die Sicherheitsdienste. Selbst den forschenden Ethnolog_innen war diese Beziehung zwischen Wissenschaft und Militär häufig nicht bewusst. Die Doppelrolle der Ethnologie prägte aber auch ungewollt das ethnologische Wissen, etwa durch die Bevorzugung geografischer Regionen und politischer Fragerahmungen. Dies erinnert uns selbstverständlich auch an die intime Verbindung von Ethnologie und kolonialer Herrschaft in der Vergangenheit (Asad 1973; Rosaldo 1993).

Salafismus als eine Sicherheitsangelegenheit In der niederländischen Wissenschaft zeigt sich das enge Verhältnis zwischen der Versicherheitlichung des Islams, der akademischen Forschung zum Salafismus und der Politik besonders in dreierlei Hinsicht. Erstens wird Salafismus in Politiken und Debatten auf eine Angelegenheit der Sicherheit reduziert. Zweitens finanzieren vor allem die niederländischen Behörden Forschung zu Salafismus. Drittens fordern selbst kritische niederländische Forscher_innen (mich eingeschlossen) viele der Grundannahmen der Debatten und Politiken nicht heraus. Der Kontext-Prozess ist nicht der erste Prozess, in dem das Label »Salafismus« eine entscheidende Rolle gespielt hat. Nachdem zwei junge Männer aus Eindhoven 2002 in Kaschmir getötet wurden, fand 2003 ein Gerichtsverfahren gegen 12 Menschen statt, denen vorgeworfen wurde, junge Männer für den militärischen Dschihad zu rekrutieren, insbesondere für die bewaffneten Kämpfe in Kaschmir (AIVD 2002). Nach Angaben der Presse bekundete der Staatsanwalt, dass die 12 Männer zum »Salafismus« gehörten, einer »radikalislamischen Strömung mit extremen Vorstellungen über die Auslegung des Koran sowie über islamisches Recht. Salafismus strebt nach der Etablierung eines islamischen Staates18, des Kalifats, der islamischen Rechtsherrschaft und 18 | Damals wurde selbstverständlich noch nicht auf den IS verwiesen.

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der Scharia« (Meeus 2003). Der Staatsanwalt merkte an, dass der damalige Chef des Al-Qaida-Netzwerkes, Osama Bin Laden, zu den Anhänger_innen des »Salafismus gehört«. Wichtig an dieser Stelle ist, dass auf Salafismus als eine klar unterscheidbare islamische Ideologie verwiesen wird, der Menschen eindeutig anhängen können. Im Rahmen meiner Forschung wurde dies jedoch heftig abgestritten. Besonders dann, wenn erklärt wurde, dass Osama Bin Laden ein Anhänger des Salafismus sei. Innermuslimische Konflikte über eine salafistische manhağ 19 oder über »Salafismus« als klar zu definierende Ideologie werden üblicherweise nicht berücksichtigt. Die Label »Salafi« oder »Salafist« sind unter vielen Muslim_innen, mit denen ich arbeite, höchst umstritten. Einige lehnen ihren Gebrauch ab, andere verwenden sie zur Denunziation anderer Muslim_innen, wiederum andere nutzen sie zur Selbstbeschreibung in öffentlichen Debatten (z.T. sogar, wenn sie den Gebrauch dieser Label in religiösen Kreisen ablehnen). Im Zuge des Gerichtsverfahrens von 2003 trat der Begriff »Salafismus« zum ersten Mal für die breite Öffentlichkeit in Erscheinung. Dabei wurde er unverzüglich mit Sicherheitsangelegenheiten verknüpft. Nach der Ermordung Theo van Goghs verschob sich der Fokus der niederländischen Antiradikalisierung fast gänzlich auf den »Salafismus«. Dieser wurde fortan als eine Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt, für Integration, für die demokratische Ordnung und für die nationale Sicherheit betrachtet. Dies wurde verstärkt durch die Tatsache, dass der Mörder einige Moscheen aufgesucht hatte, die durch Akademiker_innen (mich eingeschlossen) und Politiker_innen als salafistisch markiert wurden. Außerdem hatte er selbst angegeben, die salafistischen manhağ zu befolgen. Das Label »Salafismus«, wie es in Debatten und Antiradikalisierungspolitiken gebraucht wird, trägt selbst in entscheidendem Maße zu der Problematisierung des Phänomens bei. Die Berichterstattung und die politische Aufmerksamkeit drehen sich vorwiegend um die Frage, wie gefährlich »Salafismus« oder »Salafis« sind. In öffentlichen Debatten wird Salafismus häufig mit Radikalismus gleichgesetzt, und umgekehrt werden radikale Muslim_innen häufig als Salafis oder Salafist_innen bezeichnet. Dadurch sind salafistische Muslim_innen nicht nur radikal sichtbar, sondern auch sichtbar

19 | Der Begriff manhag˘ bezieht sich auf die Vorstellung unter Muslim_innen, dass Menschen durch den Gebrauch einer bestimmten Methodologie zur wahren islamischen Botschaft gelangen können, statt zu einer, die durch Tradition und Kultur verwässert ist. Kreise, die sich selbst als salafistisch beschreiben, geben an, dass diese Methode auf einer Rückkehr zu den Texten (Koran und Sunna) sowie zum Vorbild der drei ersten Generationen von Muslim_innen basiert. Häufig geht dies jedoch nicht in einem eindeutigen Programm zur islamischen Religionsausübung auf. Unter erheblichen Teilen (salafistischer) Muslim_innen wird viel über spezielle Lesarten und Praktiken diskutiert.

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radikal geworden. Dies befeuert das Verlangen von Behörden, mehr über das Wesen dieses Phänomens zu erfahren und zu wissen (de Koning 2018). 2009 beauftragte das Forschungs- und Dokumentationszentrum des Ministeriums für Sicherheit und Justiz (WODC – Wetenschappelijk Onderzoeks- en Documentatie Centrum) Forschungen zum Wesen und zur Größe des sowie zur potenziellen Bedrohung durch den Salafismus in den Niederlanden. Diese Arbeit wurde an Ineke Roex, Sjef van Stiphout und Jean Tillie (2010) vergeben. Obgleich eine frühere Forschung von Frank Buijs, Froukje Demant und Atef Hamdy (2006) unter anderem »politischen Salafismus« untersucht und danach gefragt hatte, ob dieser eine Barriere gegen »Dschihadismus« bilden könne, handelt es sich bei der Veröffentlichung von Roex, van Stiphout und Tillie um die erste, die exklusiv niederländischen Salafismus in den Blick nimmt. Diese Stoßrichtung wurde als Gegenstimme zum AIVD und niederländischen Politker_innen eingeschlagen, die die doppelte Agenda von »salafistischen« Predigern befragten, welche antiintegrative, antidemokratische und isolationistische Botschaften propagierten (Roex et al. 2010: 1). Viele der Forschungen zu »Salafismus« bedienen sich des Repertoires der Sozialen Bewegungsforschung, um zu erklären, was »Salafismus« tatsächlich ist und warum Menschen davon angezogen werden (Meijer 2009). Fiore Geelhoed (2012) bemüht das Repertoire des Fundamentalismus, um ähnliche Fragen zu beantworten. Wie Wiktorowicz (2006) betonen sie alle die rationale Entscheidung, die Menschen treffen, um die Faszination mit spezifischen Kreisen muslimischen Denkens und muslimischer Praxis zu erklären. Dabei wird das Individuum zumeist als ein relativ homogenes, einheitliches und kohärentes Subjekt präsentiert. Besonders einflussreich sind die Arbeiten von Wiktorowicz, der erstmals eine Typologie des Salafismus entwickelt hat (siehe vor allem 2006). Wie der Autor in der Zusammenfassung seines Textes deutlich macht, besteht der Nutzen dieser Unterteilung darin, Hinweise dafür zu liefern, wie die »Puristen« gegenüber den »Dschihadisten« gestärkt werden können (Wiktorowicz 2006: 234). Andere Forschungen beschäftigen sich weniger mit Fragen von Sicherheit und Radikalisierung. Im Rahmen meiner Forschung analysiere ich etwa, wie Prediger versuchen, Insidern beizubringen, was es bedeutet, zu einer besonderen Art von Gemeinschaft zu gehören, wie diese Gemeinschaft erkannt werden kann und wie sie sich selbst als Mitglieder dieser begreifen können. Mithilfe dieser Aktivitäten versuchen die unterschiedlichen Salafi-Netzwerke, sich selbst als moralische Wächter der muslimischen Community zu behaupten. Diese muslimische Community wird von den Salafi-Autoritäten zugleich durch eine moralische Krise gekennzeichnet. Die Prediger versuchen ihre Anhängerschaft davon zu überzeugen, ihre täglichen Routinen umzustellen und zu der Variante des Islams »zurückzukehren«, die den Salafi-Interpretationen entspricht (de Koning 2013b).

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Viele der akademischen Arbeiten in diesem Feld versuchen implizit oder explizit die stereotypen Repräsentationen vom Salafismus zu entlarven. Dabei scheitern sie aber häufig daran, die dominanten Rahmenbedingungen zu hinterfragen, durch die Muslim_innen befragt werden und auf die sie antworten (siehe hierzu auch Sarah Bracke und Nadia Fadil in diesem Band). Damit tendiert die Forschung dazu, das idealistische Selbstbild der niederländischen Gesellschaft als säkular und auf sexuellen Freiheiten beruhend zu bestätigen. Insofern spielt allein die Verwendung des Repertoires des Salafismus der Perspektive des Sicherheitsblicks in die Hände: Wie bereits erwähnt, ist das Label »Salafi« unter Muslim_innen höchst umstritten. Es kann nicht von öffentlichen Debatten getrennt werden, in denen Salafismus zumeist mit Radikalismus gleichgesetzt wird. In der Praxis habe ich mich demnach dafür entschieden, jene Kreise zu fokussieren, die sich selbst als Anhänger_innen einer Salafi-manhağ beschreiben. Obwohl dies eine angemessene Entscheidung für mein spezifisches Interesse dafür war, wie sich Menschen ihr Wissen über den Islam aneignen, werden damit einige der genannten Probleme und Dilemmata eher perpetuiert. So hat meine Forschung gezeigt, dass die Ideologien und Praktiken jener, die als salafistisch markiert werden, nicht sonderlich homogen sind, sondern häufig das Ergebnis von Kompromissen darstellen. Dies steht im Gegensatz zu dem, wovon in öffentlichen Debatten und politischen Berichten ausgegangen wird, die Salafis als kompromisslos, starrsinnig und äußerst strikte Praktizierende beschreiben. Doch auch sie sind geplagt von Zweifeln, Kämpfen oder Ängsten darüber, in ihrer Frömmigkeit zu versagen. Das Streben nach Perfektion bildet einen großen Teil ihrer Religiosität (siehe de Koning 2013a; 2013b, 2018). Letztendlich bestärkt meine Forschung durch die Betonung dieser menschlichen Eigenschaften jedoch den Rahmen, in dem »Salafismus« als ein Phänomen von Sicherheit betrachtet wird. Außerdem bringe ich implizit zum Ausdruck, dass andere, die kompromissloser in ihren Ansichten und Handlungen sind, womöglich eine Bedrohung für die Gesellschaft, für Integration oder für den sozialen Zusammenhalt darstellen. Es könnte auch die Sorgen umgehen, die viele Menschen gegenüber den intoleranten Botschaften und Handlungen hegen, die in den Moscheen und Treffen von Salafi-Bewegungen verbreitet werden und damit die Rassisierung und Versicherheitlichung verstärken. In ihrer Arbeit mit konservativen Christ_innen übt Susan Harding an solcherlei Gruppierungen durchaus deutliche Kritik, tritt zugleich aber für nuancierte und lokalisierte Zugänge ein. In meiner Forschung habe ich mich lediglich dem zweiten Aspekt verpflichtet. Dennoch misslang es mir, »die totalisierende Opposition zwischen uns und ihnen« (Harding 1991: 393) hinreichend zu befragen. Dies liegt teils daran, dass akademisches Arbeiten zu Salafismus unumgänglicher Bestandteil der Rassisierung von Bedrohung oder

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womöglich sogar Resultat davon ist – ob wir das wollen oder nicht. Teils liegt es jedoch auch daran, dass ich tatsächlich besorgt über die intoleranten Botschaften von Predigern war und es noch immer bin, die sich selbst der Strömung der Salafi zurechnen. Ich scheiterte teilweise also selbst daran, angemessene Antworten darauf zu finden, wie mit solchen Problemen umzugehen ist, ohne die Rassisierung von Bedrohung zu reproduzieren.

W issenschaf tliche F orschung : »F ür mich ist es eine L ast.« Die obige Analyse macht deutlich, dass jede Forschung zu Islam und Salafismus heutzutage in irgendeiner Weise mitschuldig an und zugleich Produkt der gegenwärtigen Praktiken der Rassisierung von Bedrohung und Versicherheitlichung des Islams ist. Gerade daher ist es dringend nötig, die eigene Position, Voreingenommenheit und die Art und Weise zu reflektieren, in der unsere Forschung Teil dessen ist, was ich als »Überwachungsregime« bezeichnen würde. Diese Reflexion sollte gleichsam die Konsequenzen für unsere Kontakte berücksichtigen, die aus der Komplizenschaft akademischer Forschung mit der Rassisierung von Bedrohung resultieren. Der enge Fokus auf »Salafismus« als eine Sicherheitsangelegenheit hat notgedrungen Konsequenzen für jene, die Netzwerken und Organisationen angehören, die sich selbst als Salafis bezeichnen. Diese Folgen werden anhand der damit einhergehenden Überwachungsmaßnahmen deutlich beschrieben. June Edmunds unterscheidet zwischen »harten« und »weichen« Regulations- und Überwachungsregimen (Edmunds 2012). Die harten Regime betreffen lediglich eine kleine Anzahl von Menschen, wie etwa jene, die im Verdacht stehen, womöglich ausländische Kämpfer_innen unterstützt zu haben, oder die planen, selbst nach Syrien zu gehen. Diese Art von Regime umfasst Praktiken wie die 24/7-Überwachung, Telefonüberwachung und Interventionen in jegliche Aktivitäten. Damit geht auch ein schärferer Blick der Sicherheitsdienste und des niederländischen nationalen Koordinators für Terrorismusbekämpfung einher, der den »Salafismus« als Hauptbedrohung für die Sicherheit ausmacht. Das weiche Regime umfasst in den Worten Edmunds »die ›Hyper-Verrechtlichung‹ von wahrgenommenen kulturellen Gefahren« (Edmunds 2012: 73). Dies verweist auf das Verbot von als islamisch geltender Kleidung, wie etwa dem Kopftuch oder dem Gesichtsschleier, oder auf das Verbot des Minaretts beim Moscheebau. All dies wird demnach als potenzielles Sicherheitsrisiko betrachtet. Im Zuge unserer Forschung zu militanten Aktivist_innen erweitern wir die Vorstellung vom »Überwachungsregime«, um die Erfahrungen der überwachten Subjekte zusätzlich in den Blick zu bekommen (de Koning et al. 2014).

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Wichtig ist uns dabei, dass die Debatten, Politiken sowie die Geheimdienstund Überwachungsaktivitäten Formen des Regierens durch regulatorisches Eingreifen und Überwachen darstellen: Beruhend auf der Erfahrung, überprüft zu werden, sowie auf der Idee, dass die Welt unterteilt ist in jene, die beobachtet werden (in diesem Fall Muslim_innen), und jene, die beobachten, stimmen Menschen ihre Einstellungen und ihr Verhalten auf die Überwachungsmechanismen ab. Die Debatten zum Islam und zur Integration rangieren von Themen wie der Frage, ob und wie Muslim_innen nach dem Sport duschen, über nationale Sicherheitsfragen bis hin zur Frage, wie sie ihre Frauen behandeln. Dieses Ins-Visier-Nehmen sickert in sämtliche Bereiche des Alltags durch. Muslim_innen werden über etwas befragt und verhört, was andere im Namen des Islams tun. Dies wird verstärkt durch Belege für »ethnic profiling«, was das Gefühl der stetigen Überprüfung bestärkt und unterstreicht. Dieser Rahmen verursachte unter unseren Kontakten eine grundlegende Skepsis gegenüber jedweder Forschung, weil sie sich in ihren Lebensformen befragt und an den Pranger gestellt sehen. Direkt nach dem Urteil etwa äußerste sich einer meiner Kontakte, der zwar nicht unter den Angeklagten im Kontext-Prozess, jedoch mit einem von ihnen befreundet war, wie folgt: »Das ist dein Fehler. Nein, ich scherze nur. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast nichts gesagt, das nicht wahr ist. Aber dennoch, sag mir, warum wir jemals wieder an irgendeiner Forschung teilnehmen sollten, wenn diese dann gegen uns verwendet wird?« Selbstverständlich hatte meine Forschung in diesem konkreten Fall ernsthafte Folgen für die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe. Die Überwachung von Muslim_innen betrifft aber auch jene, die außerhalb der Zirkel des militanten Aktivismus existieren und nicht mit einer Salafi-manhağ verbunden sind. Als Beispiel dient etwa ein Gespräch, das ich mit einer jungen marokkanisch-niederländischen Frau führte, nachdem ich einen quantitativen Forschungsbericht mit dem Titel »Muslim in den Niederlanden« retweetet hatte (Maliepaard/Gijsberts 2012).20 Dieser analysiert die Religiosität von Muslim_ innen in den Niederlanden mit Blick auf ihre Identifikation als Muslim_in, ihre Teilnahme an Gebeten, dem Tragen eines Kopftuches usw. Umm X 21 antwortete, dass sie häufig »ein negatives Gefühl bei dieser Art von Botschaften [bekomme]. Was ist die Absicht dieser Forschung?« Nachdem ich sie gefragt hatte, was sie damit meine, antwortete sie: »Nach all den negativen Botschaften über den Islam usw. kann das wohl kaum eine Aktion mit guter Absicht sein. Das Voranschreiten des Islams in den Niederlanden kontrollieren? Mehr Muslim_innen zweiter Generation in den Moscheen? Das ist eine der 20 | Ich hatte den Titel und einen Link zu der Forschung ohne Kommentar getweetet, um meine Follower über die Publikation zu informieren. 21 | Name anonymisiert.

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Schlussfolgerungen. Aber was genau bedeutet das?« Nachdem ich erläutert hatte, dass es in dem Bericht darum ging, wie viele Muslim_innen beteten usw. und er damit mit ähnlichen Berichten über Christ_innen in den Niederlanden zu vergleichen sei, antwortete sie: »Verstehen Sie, dass viele Muslime schockiert über solcherlei Publikation sind? Warum der Islam? Was sind die Absichten einer solchen Forschung? Sorgen um potenzielle Terroristen? Solche Fragen kommen mir in den Sinn, wenn ich davon lese und höre. Angesichts der negativen Stimmung der letzten Jahre kann ich dem kaum etwas Positives abgewinnen. Aus diesem Grund frage ich.« Umm Xs Kommentare verdeutlichen ihre Sorge über derartige oder über jedwede Forschung, die sich mit dem Islam beschäftigt. Es herrscht ein Gefühl, jederzeit als terrorismusverdächtig herausgegriffen und kontrolliert werden zu können. Dass die Forschung unverzüglich als eine die eigene Person betreffende Angelegenheit interpretiert wurde, verdeutlicht zusätzlich Umm Xs Sorge darüber, dass Muslim_innen nicht an erster Stelle als Individuen betrachtet werden. Ich lese dies ebenso als Aufforderung an Forschende, sich selbst immer wieder kritisch zu befragen und die eigenen Entscheidungen zu reflektieren. Die Sorgen der Individuen als Subjekte und nicht als Forschungsobjekte müssen also ernst genommen werden. Das Beispiel von Umm X verweist auf ein weiteres Thema, das ich im Kontext des Überwachungsregimes ansprechen möchte: das Gefühl der Ohnmacht. Menschen – in diesem Fall Akademiker_innen – debattieren über den Islam und Muslim_innen und damit über das Leben von Menschen, ohne dass die Subjekte der Debatte irgendetwas dazu beizutragen hätten. Ein weiteres Beispiel illustriert diesen Punkt anschaulich: Ich hatte auf meiner Facebook-Seite einen Artikel geteilt, in dem es um eine Debatte zwischen weißen nichtmuslimischen Forschenden ging und die Frage diskutiert wurde, wie der Islam am besten zu untersuchen sei. Einer meiner Kontakte, Sara, erwiderte daraufhin gegenüber einem in dem Artikel zitierten Forschenden: »Interessant, solche Debatten mit weißen Männern über nichtweiße Menschen. Erinnert mich überhaupt nicht an Kolonialismus und Orientalismus! Wir benötigen lediglich die Maße des Kopfumfangs und dann haben wir’s.« Als der Forschende dagegen Widerspruch erhob, antwortete sie: »Wie auch immer. Für mich ist es eine Last, für dich ist es dein Broterwerb.« Sara erläuterte anschließend, dass sie die Forschung zum Islam und auch die Debatten unter weißen Akademiker_innen als objektivierend und damit als persönliche Last empfand. Damit bestätigt Sara Brubakers (2013: 3) Beobachtung. Durch die eigene Identifizierung als Muslim_innen, etwa in Erwiderung auf Forschungsfragen, reagieren Menschen nicht einfach nur darauf, stigmatisiert und ausgeschlossen zu werden, sondern ebenso darauf, »als Muslime im öffentlichen Diskurs und privaten Interaktionen […] ausgesetzt, kategorisiert, befragt und zur Verantwortung gezogen zu werden für das, was andere als Muslime sagen oder tun« (Schiffauer

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2004: 348; siehe auch Brubaker 2013: 1-8). In unserem Erkenntnisstreben danach, wie Menschen denken und handeln und warum sie die eine oder die andere Sache tun oder nicht tun, sind Forschende unumgänglich selbst Teil des Überwachungsregimes, das Muslim_innen das Gefühl vermittelt, ständig unter Beobachtung zu stehen.

S chlussfolgerung Das Durchführen und Publizieren von Forschung verschafft Akademiker_innen Macht: Oft wird das Leben vieler Menschen durch ihre Forschung auf unvorhersehbare und widersprüchliche Weisen beeinflusst. Ich betrachte die folgenden Aspekte insofern auch als Aufforderungen, meine eigene Arbeit, meine Position und meine ethischen Prämissen zu reflektieren: die Kommentare von Sara und Umm X zur akademischen Forschung, die Dilemmata, die für mich durch den Prozess zutage traten, und die Folgen, die er für meine vor Gericht stehenden Kontakte hatte, aber auch die Spannungen, die sich aus den teilweise intoleranten und aggressiven Verhaltensweisen einiger meiner Kontakte ergaben. Die Trennung zwischen Salafismus und vor allem dem dschihadistischem Salafismus einerseits und Islam andererseits dienen als Beispiel dafür, was in der Forschung und noch deutlicher vor Gericht als inakzeptable und akzeptable Religion gilt. Der Rückgriff der Staatsanwälte auf diese Unterscheidung während des Kontext-Prozesses zeigt, dass diese Kategorisierung Bestandteil des Überwachungsregimes ist. Außerdem wurde deutlich, wie der Begriff »Salafismus« und das akademische Wissen darum in diesem Regime aufgehen können. Die Forschung zum Salafismus kann nicht allein als Teil des Überwachungsregimes gelten, sondern sie reproduziert dieses in mindestens viererlei Hinsichten: Erstens tendieren Forschende durch ihre Untersuchungen zum »Salafismus« dazu, Teil oder Erweiterung des dominanten Diskurses zu werden, der Islam und Muslim_innen grundsätzlich problematisiert. Außerdem werden sie auch von denjenigen, die sie beforschen, auf ebendiese Weise betrachtet. Jede Forschung zum »Salafismus« und allein das Konzept selbst operieren innerhalb der diskursiven Bereiche der Rassisierung von Bedrohung und der Versicherheitlichung des Islams, die ein Überwachungsregime erst produzieren. Auch wenn Forschende »Salafismus« selbst nicht als eine Angelegenheit von Sicherheit, Integration und/oder Radikalisierung angehen und stattdessen etwa untersuchen wollen, wie sich Muslim_innen islamisches Wissen aneignen und darum ringen, fromme Muslim_innen zu werden, kann Forschung diesen diskursiven Rahmen reproduzieren. Zweitens ist die gesamte Debatte über Radikalisierung und Salafismus eng mit der gegenwärtigen diskursiven Arena über »akzeptablen« und

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»inakzeptablen« Islam verbunden, in der Menschen zu definieren versuchen, was »wirklich niederländisch« und/oder »was wirklich islamisch ist«. Auch unsere Forschung ließen diese Diskurse nicht völlig unberührt. Wie ausgeführt, wurde auch ich verdächtigt, zu nahe an meinen Kontakten zu sein, nachdem ich beispielsweise bei einem Fußballspiel zugegen war, gegen das die Polizei vorgegangen war. Dazu trug unsere Entscheidung bei, die Forschungsperspektive des Aktivismus nicht aufzugeben. Als Resultat hatten wir uns permanent innerhalb einer größeren Debatte über den Islam und die damit einhergehenden Identitätspolitiken zu positionieren und mit Verdächtigungen durch Polizei und Journalist_innen umzugehen. Dies verstärkte die Erfahrung der emotionalen Erschöpfung, die aus der Auseinandersetzung mit ablehnenden Reaktionen unterschiedlicher Zuhörerschaften resultierte. Drittens steht die Frage im Raum, ob wir als Forschende nicht de facto zu den Ängsten und Sorgen beitragen, durch die große Teile der Debatte über Islam und Muslim_innen genährt werden. Diese Annahme liegt vor allem auf der Hand, weil der Fokus auf Salafismus dermaßen von der Perspektive der Radikalisierung und den Anliegen von Sicherheit und Bedrohung durchdrungen ist. Anderseits gibt es tatsächlich viele gutbegründete Sorgen und Ängste gegenüber den Menschen, die das Land verlassen, um sich ISIS oder Jabhat al-Nusra in Syrien anzuschließen. Meines Erachtens sollten Anthropolog_innen keinesfalls vor Forschungen mit irgendeiner Gruppe zurückschrecken. Unsere Bemühungen, gleich wie schwierig und anstrengend sie auch sein mögen, können dazu beitragen, die Probleme und Ängste von Menschen zu verstehen, inklusive jener unserer eigenen Kontakte. Viertens neigt die Art und Weise, wie akademisches Wissen in Politiken und während Gerichtsverfahren genutzt wird, dazu, Wissen dermaßen zurechtzurücken, dass es nur noch den Zielen dieser Politiken und Verfahren dient. Durch Techniken der Assemblage wird akademisches Wissen wiederangeeignet, indem es direkt oder indirekt mit Wissen aus anderen Feldern vermengt wird, wie etwa aus Sicherheits- oder auch islamfeindlichen Kreisen. Selbst Wissen, das nicht auf diese Art der Verwertung ausgerichtet ist, kann gravierende Folgen für die Menschen haben, mit denen wir arbeiten. Dies schließt Forschung mit Muslim_innen, die sich selbst zur Salafi-manhağ zählen, nicht generell aus. Ich meine aber, dass wir unbedingt nachhaltig und stetig über die komplizierten ethischen, strategischen, politischen und methodologischen Aspekte einer solchen Forschung reflektieren müssen. Schließlich führt diese Art von Forschungen notgedrungen dazu, dass die Forschenden – zu Recht oder zu Unrecht – als Verlängerung des Staates betrachtet werden. Übersetzung aus dem Englischen von Patricia Piberger

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Mar tijn de Koning

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Autor_innen Schirin Amir-Moazami ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin und leitet dort den Forschungs- und Studienschwerpunkt Islam in Europa. Sie studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Frankfurt a.M., Marseille, Berlin und Paris und promovierte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz im Fach Social and Political Sciences. Zu ihren Forschungsinteressen zählen islamische Bewegungen in Europa, kritische Säkularismusforschung, kritische Politische Theorie und Gender Studies. Zu ihren neueren Aufsätzen zählen u.a. (2016): »Investigating the Secular Body: The case of male circumcision«, in: ReOrient, 1,2, S. 25-48; (2016): »Zur Produktion loyaler Staatsbürger: Einbürgerungstests als Instrument der Regulierung von religiös-kultureller Pluralität in Deutschland«, in: Alexandra Lewicki (Hg.), Soziale Bewegungen, Themenheft: Bürgerschaft und soziale Bewegungen in der Einwanderungsgesellschaft, 2,2016, S. 21-34; (2016): »Die ›muslimische Frage‹ in Europa. Aporien der Anerkennung unter liberal-säkularen Bedingungen«, in: Philip Hubmann, Marie-Luisa Frick, Martin Gronau (Hg.), Politische Aporien. Akteure und Praktiken des Dilemmas, Wien: Turia und Kant, S. 109-131. Manuela Boatcă ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialstruktur und Globalisierung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach ihrem Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Bukarest hat sie an der KU Eichstätt-Ingolstadt in Soziologie promoviert. Sie hat längere Lehr- und Forschungsaufenthalte in Brasilien, den USA und Rumänien absolviert und war von 2012 bis 2015 Professorin für die Soziologie globaler Ungleichheiten am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. Sie arbeitet zu Theorien sozialen Wandels, Weltsystemanalyse, post- und dekolonialen Perspektiven und im Bereich Gender- und Gewaltforschung, mit einem regionalen Schwerpunkt auf Osteuropa und Lateinamerika. Sie ist u.a. Autorin von (2016): Global Inequalities Beyond Occidentalism, Routledge; und Mitherausgeberin von (2010): Decolonizing European Sociology. Transdisciplinary Approaches (mit E. Gutiérrez Rodríguez und S. Costa), Farnham: Ashgate, sowie von (2017): Global Inequalities in World-System Perspective. Theoretical Debates and

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Der inspizier te Muslim

Methodological Innovations (mit H.H. Nolte und A. Komlosy), London, New York City, NY: Routledge. Sarah Bracke ist Professorin für Geschlechtersoziologie an der Universität Amsterdam und assoziertes wissenschaftliches Mitglied am RHEA, dem Centre of Expertise on Gender, Diversity, and Intersectionality an der Freien Universität Brüssel. Sie forscht zu Gender, Religion (Islam und Christentum), Säkularismus und Multikulturalismus in Europa mit einem spezifischen Fokus auf Fragen von Subjektivität und Agency. Sarah Bracke ist Herausgeberin der Online basierten Zeitschrift Religion and Gender. Außerdem hat sie den Dokumentarfilm Pink Camouflage (2009) produziert, in dem es um die Rhetorik von LGBT-Rechten in gegenwärtigen zivilisatorischen Geopolitiken geht. Anna Daniel studierte Soziologie, Erziehungswissenschaft und Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität in Marburg und der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Von 2009 bis 2012 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Thematisierungsformen des Religiösen in den wichtigsten Modernitätsnarrativen der Gegenwart« am Exzellenzcluster Politik und Religion in den Kulturen der Vormoderne und Moderne der WWU Münster. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehrgebiet Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie der FernUniversität in Hagen. Ihre Promotion an der FernUniversität erschien 2016 bei transcript unter dem Titel »Die Grenzen des Religionsbegriffs. Eine postkoloniale Konfrontation des religionssoziologischen Diskurses«. Weitere Arbeitsschwerpunkte liegen in der praxistheoretischen Diskussion, einer Soziologie der Kritik sowie der Populärkulturforschung. Gabriele Dietze lehrt und forscht in Kulturwissenschaften, Medienstudien und den Intersektionalitäten von Gender, »Race« und Sexualität an verschiedenen Orten, zuletzt am Dartmouth College, NH. Zu ihren Veröffentlichungen zählen (2017): Sexualpolitik. Verflechtungen von Race und Gender, Frankfurt: Campus; (2007/2012): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht (Hg. mit Claudia Brunner und Edith Wenzel), Bielefeld: transcript. Sultan Doughan ist Doktorandin am Institut für Anthropologie an der University of California, Berkeley. Ihre Dissertation »Teaching Tolerance: Citizenship, Religious Difference, and Race in Germany« wird sie voraussichtlich im Frühjahr 2018 abschließen. Die Arbeit basiert auf mehrjähriger Forschung im Feld der historisch-politischen Bildung in Berlin mit Projekten, die sich der Prävention von »islamischem Extremismus« widmen. Die Dissertation handelt von

Autor_innen

Staatsbürgerschaft, religiöser Differenz und Rassialisierung aus einem Analyserahmen des Säkularismus heraus. Hierbei geht Doughan der Frage nach, was es heißt, als religiöse Minderheit ein staatsbürgerliches Verhältnis mit der christlich-säkularisierten Mehrheit und dem Staat einzugehen: Welche Art von staatsbürgerlicher und ethischer Existenz können Minderheiten für sich als Individuen und Gemeinschaften beanspruchen? Wie sind diese Existenzmöglichkeiten durch politische und historische Bedingungen, vor allem durch die Erinnerung an den Holocaust, vorstrukturiert und durch welche Affekte werden sie getragen? Nadia Fadil ist Professorin am IMMRC (Interculturalism, Migration and Minorities Research Center) der Universität Leuven. Nach ihrer Promotion war sie Jean Monnet Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und Visiting Fellow an der University of California Berkeley. Außerdem war sie Postdoc-Stipendiantin der FWO an der KU Leuven. Ihre Forschungsinteressen gelten dem Islam als gelebte und verkörperte Realität in Europa. Ihre theoretischen Interessen umfassen Fragen von Subjektivierung und Macht, ethische Selbstformierung, Postkolonialität, Race und Säkularismus. Julia Franz, Dipl.-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, Dr. phil., ist Professorin für Erziehung und Bildung im Kontext Sozialer Arbeit an der Hochschule Hannover. Sie war über mehrere Jahre in der außerschulischen Jugendbildungsarbeit tätig. Wenn möglich, noch folgende Ergänzung einfügen: und promovierte über Zugehörigkeits- und Fremdheitserfahrungen Jugendlicher, die in Deutschland als muslimisch gelten (2013): Muslimische Jugendliche? Opladen: Barbara Budrich. Zu ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkten zählen Wissens- und Handlungsstrukturen Sozialer Arbeit, kritische Pädagogik, Migrationsgesellschaft. Martijn de Koning ist Anthropologe und lehrt im Fach Islamwissenschaft der Radboud Universität in Nijmegen. Seine Forschung beschäftigt sich mit Life­styles, Identitäten und Erinnerungen von Muslimen in den Niederlanden und in Großbritannien. Er ist außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Amsterdam, wo er an dem vom NWO geförderten Forschungsprojekt »Forces that bind and/or divide« (on how Muslim claim a voice in the public debates on Islam), und in dem vom ERC geförderten Programm »Problematizing ›Muslim Marriages‹: Ambiguities and Contestations« mitarbeitet. Martijn de Koning hat vielfach zu Themen der marokkanisch-niederländischen Jugend und ihren Identitätsformen publiziert ebenso wie zu Radikalisierung, Salafismus, Islamophobie und Rassismus und hat eine eigene Webseite: religionresearch.org/closer

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Der inspizier te Muslim

Tobias Müller ist Doktorand am Department for Politics and International Studies (POLIS), University of Cambridge, und Research Associate am Cambridge Institute on Religion & International Studies (CIRIS). Seine Forschung wird gefördert durch den Vice Chancellor’s Award des Cambridge Trust sowie ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit den Interaktionen und gegenseitigen Transformationen von Muslim_innen und staatlichen Akteuren, insbesondere in diversen Stadtvierteln in Deutschland und Großbritannien. 2014-2015 war Tobias Müller wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor hat er Politics and International Relations (M.Phil.) an der University of Cambridge sowie Religions- und Kulturwissenschaft (M.A.) und Politikwissenschaft mit Rechtswissenschaft (B.A.) an der LMU München studiert. Seine Forschung erschien u.a. in Political Theory, The Review of Faith & International Affairs, und Rivista di Politica. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Politische Theorie und Ideengeschichte, Religion und Politik, kritische Säkularismusforschung und Islam in Europa. Frank Peter ist Assistenzprofessor am College of Islamic Studies der Hamad-Bin-Khalifa-Universität in Qatar. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Islam in Europa, Säkularismus, Islamophobie und der Geschichte des modernen Nahen Ostens. Er ist u.a. Autor von (2010): Les entrepreneurs de Damas: Nation, impérialisme et industrialization, Paris: L’Harmattan. 2018 wird seine Monografie »Secularism without Religion: Islam and the Governing of Muslims in France« bei Bloomsbury erscheinen. Birgitte Schepelern Johansen ist Professorin an der Universität Kopenhagen am Institute for Cross-Cultural and Regional Studies. Zu den Forschungsschwerpunkten der studierten Religionssoziologin zählen Secular Studies, Emotionen und Politik sowie Minderheitenpolitik. Derzeit forscht sie zu Strategien gegen Hasskriminialität und dem europäischen »Krieg gegen den Hass«. Das Projekt untersucht die Verbindungen zwischen staatlicher Handhabung von Emotionen, liberaler Politik und der Kriminalisierung von Hass. Johansen publizierte in Fachzeitschriften wie dem Journal of Muslims in Europe, dem Journal of Contemporary Religion, Emotion, Space and Society sowie dem Journal of European Ethnology. Riem Spielhaus ist Professorin für Islamwissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Wissenskulturen an der Georg-Universität Göttingen und Leiterin der Abteilung Schulbuch und Gesellschaft am Georg-Eckert-Institut, Leibniz-Institut für Internationale Schulbuchforschung. Sie studierte Islamwissenschaft und Asienwissenschaften und promovierte im Fach Islamwissenschaft

Autor_innen

an der Humboldt-Universität Berlin zu Islamdebatten und Selbstpositionierungen von Muslimen in Deutschland. Nach der Promotion forschte sie am Center for European Islamic Thought der Universität Kopenhagen zur Wissensproduktion über Muslime in Europa in quantitativen Studien. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg lag ihr Forschungsschwerpunkt auf der rechtlichen Anerkennung von Muslimen in Deutschland. Hannah Tzuberi studierte Judaistik und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und promovierte dort im Graduiertenprogramm »History and Cultural Studies« mit einer Arbeit zu den Grenzen des talmudischen Rechts in Situationen der Verfolgung oder Lebensgefahr. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin. Im Zentrum ihrer aktuellen Forschung steht die Verzahnung von staatlicher Religionspolitik und der Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland in der Gegenwart.

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Soziologie Heidrun Friese

Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden August 2017, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3263-7 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3263-1 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3263-7

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

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Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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