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German Pages [414] Year 2016
https://doi.org/10.5771/9783495860830 .
PRAKTISCHE PHlLOSOPHlE
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AfChivexemp/Bf
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Zu diesem Buch: Sind hirntote Menschen tot, oder leben Sie noch? - Diese Frage, die in Deutschland Mitte der Neunzigerjahre zu der so genannten >Hirntoddebatte< geführt hat, ist heute wieder aktuell. Angeregt durch neue Entwicklungen in der Transplantationsmedizin und im Lichte genauerer Kenntnisse der physiologischen Umstände des Hirntods gerät die herkömmliche Ansicht, dass mit dem Hirntod zugleich auch der Tod des Menschen eintritt, zunehmend unter Druck. Statt dessen gewinnt die philosophische Einsicht an Bedeutung, dass die Hirntoddebatte von vornherein zu oberflächlich geführt wurde und deshalb ihr eigentliches Thema verfehlt hat. Es stimmt zwar, dass das Leben eines Menschen mit dem Hirntod noch nicht zu Ende ist, aber die gemeinsame Erwartung sowohl der Befürworter als auch der Gegner der HirntodKonzeption, dass damit zugleich eine wichtige medizinethische Entscheidung insbesondere über die Zulässigkeit von Organspenden gefallen sei, erweist sich als falsch. Die Auffächerung des Todesprozesses in der modernen Medizin macht es vielmehr nötig, die Rolle des Todes und die Grundlagen des Tötungsverbots radikal zu überdenken. Nur durch eine solche moralphilosophische Transformation lässt sich das Hirntod-Problem lösen und eine Basis für eine angemessene Ethik der Transplantationsmedizin entwickeln.
Der Autor: Prof. Dr. Ralf Stoecker, geb. 1956, lehrt Philosophie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität Potsdam. Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen der angewandten Ethik, Handlungstheorie, Philosophie des Geistes und Moralphilosophie. Bücher: Was sind Ereignisse? (1992), Reflecting Davidson (1993), Handlungen und Handlungsgründe (2002), Menschenwürde - Annäherung an einen Begriff (2003), Handbuch Angewandte Ethik (im Erscheinen).
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Ralf Stoecker Der Hirntod
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Bimbacher, Heiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Nusser und Annemarie Pieper Band 59
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Ralf Stoecker
Der Hirntod Ein medizinethisches Problem und seine mora lp hil osophisch e Transform ati on
Mit einer neuen Einleitung
Verlag Karl Alber Freiburg/ München https://doi.org/10.5771/9783495860830 .
Studienausgabe 2010 (Die 1. Auflage erschien 1999 unter der lSBN 3-495-47929-5.)
© VERlAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1999, 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany lSBN 978-3-495-48181-3
E-ISBN 978-3-495-86083-0 https://doi.org/10.5771/9783495860830 .
Für Steffi
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Inhalt
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Vorwort zur zweiten Auflage Vorwort zur ersten Auflage
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Thematische Einleitung in die Studienausgabe Einleitung . . . . . . . . .
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1
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Die Hirntod-Debatte
1.1 1.2 1.3 1.4
Was geschieht, wenn ein Mensch stirbt? Das »Herz-Lungen-Zeitalter« . . . . . . Der Umschwung zur Hirntod-Konzeption Die Ausweitung der Diskussion auf das apallische Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Eine methodologische Klärung . . . . . . . . . . 1.5.1 Die drei Ebenen der Frage, ob Hirntote tot sind 1.5.2 Die Unschärfevermutung
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2 Leben und Tod 2.1 Totsein, Tod und Sterben . .. . 2.1.1 Ist Totsein eine Eigenschaft? 2.1.2 Der Tod . . . .. . 2.1.3 Sterben und Tod . . 2.1.4 Der Tod als Grenze 2.1.5 Unscharfe Grenzen 2.1.6 Zwischenfazit .. . 2.2 Leben .. . . . . . . . . . 2.2.1 Leben als Lebendigsein 2.2.1.1 Die Endgültigkeit des Todes 2.2.1.2 >Unsre Einstellung zum Lebenden
Erst< hirntote Menschen sind todgeweihte Personen und noch keine Leichname« M. Herdegen, »Kommentierung von Art. 1. Abs. 1 GG «, Rz. 52. 1
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Thematische Einleitung in die Studienausgabe
dadurch auflösen lassen, dass die eine Seite Recht bekommt und die andere Seite Unrecht, sondern dadurch, dass die Streitfrage selbst genauer unter die Lupe genommen und durch eine oder mehrere bessere Fragen ersetzt wird, scheint sich auch in der Hirntod-Debatte durchzusetzen. Allerdings greifen die Vorschläge, die in den letzten Jahren hauptsächlich diskutiert worden sind, meines Erachtens immer noch zu kurz. Sie werden dem eigentlichen Problem nicht gerecht, das darin besteht, mithilfe der traditionellen Unterscheidung zwischen Leben und Tod die moralische Situation hirntoter Menschen in den Griff zu bekommen. Ohne ein Verständnis dieses Problems ist aber kein Ende der Hirntod-Debatte in Sicht. Die Gründe dafür finden sich, wie gesagt, in dem Buch. In der thematischen Einleitung in die Studienausgabe möchte ich hingegen dreierlei leisten. Zunächst werde ich einen knappen, strukturierten Überblick über die Hirntod-Debatte geben, der die entscheidenden Argumente und Überlegungen kurz anreißt. Er ist zur Vertiefung jeweils in der Marginalspalte mit Querverweisen ins Buch versehen, lässt aber auch neuere Überlegungen mit einfließen. Dann erläutere ich, worin mein eigener Lösungsvorschlag besteht, um am Ende schließlich einen Schritt über das Hirntod-Thema hinauszugehen und zu diskutieren, welche generellen Konsequenzen sich aus meiner Position für andere Themen der angewandten Ethik ergeben könnten. 3
A.
Die Grundfrage der Hirntod-Debatte
Tod und Sterben haben die Menschen beschäftigt, solange sie denken können. Schon die erste überlieferte Dichtung der Menschheitsgeschichte, das Gilgamesch-Epos aus dem dritten Jahrtausend v. Chr., handelt von der Erfahrung mit der Sterblichkeit naher Angehöriger und der Angst vor dem eigenen Tod. 4 Auch die Medizin hat seit der Ich werde dabei auf einige Überlegungen zurückgreifen, die ich seit Erscheinen des Buches an anderer Stelle veröffentlicht habe: R. Stoecker, »Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland«, R. Stoecker, »Die Hirntod-Debatte aus philosophischer Sicht«, R. Stoecker, »Sind hirntote Menschen wirklich tot?«, R. Stoecker, »Dalla morte cerebrale alla dignita umana loss of somatic integration< that occurs in a body with a destroyed brain. [... ] But this standard rationale was soundly criticized [ ... ] the brain is not the integrator of the body's many and varied functions. In normal circumstances, the brainstem does play an important and complex role in supporting bodily integration. But no single structure in the body plays the role of an indispensable integrator. Integration, rather, is an emergent property of the whole organism« (President's Council on Bioethics, »Controversies in the Determination of Death«, S. 39-40). Es gibt aus Sicht des Councils also keine für das eigenständige Leben erforderlichen Gehirnfunktionen. Das Gehirn ist zweifellos das wichtigste Organ für die Aufrechterhaltung des menschlichen biologischen Lebens, aber auch das Gehirn ist nicht unverzichtbar.9 Es gibt allerdings auch den entgegengesetzten Standpunkt, dass nicht einmal das ganze Gehirn die für das Leben erforderlichen integrativen Leistungen erbringt, sondern nur der Hirnstamm, dass die Hirntod-Konzeption also insofern halbherzig ist und durch eine Hirnstamm-Konzeption des Todes ersetzt werden sollte. 10 Gemäß der Hirnstamm-Konzeption des Todes müssten allerdings auch Menschen als tot rubriziert werden, die nach gewöhnlichem Verständnis eindeutig noch leben, insbesondere Patienten mit einem vollständigen Locked-in-Syndrom, die zwar bei Bewusstsein sind, jedoch keine Möglichkeit haben, sich zu äußern.11 Für die heutige Diskussion spielt deshalb nach meinem Eindruck die Hirnstamm-Konzeption des Todes keine wichtige Rolle mehr. Shewmons Publikationen und die Stellungnahme des President's Council sind natürlich nicht unwidersprochen geblieben. 12 Erstaunlicherweise ist aber eine andere Reaktion auf diese Diskussion kaum erwogen worden, die ich im Buch nahe lege. [2.3] Man sollte Es ist eine historisch interessante Frage, wie neu diese Erkenntnis tatsächlich ist. Bei Robert Veatch findet sich dazu jedenfalls folgender anekdotischer Bericht: »As a graduate student at Harvard interested in medical ethics, I worked closely with several of the members of the Ad Hoc Committee [ ... ]None of the members was so naive as to believe that people with dead brains were dead in the traditional biological sense of the irreversible loss of bodily integration.« R. M. Veatch, »Abandon the dead donor rule or change the definition of death?«, S. 267. 10 Vgl. C. Pallis, »Ün the Brainstem Criterion of Death«. 11 Vgl. J. F. Spittler, Gehirn, Tod und Menschenbild, S. 77. 12 Eine Verteidigung der herkömmlichen Sicht gegen Shewmon findet sich z.B. in J. L. Bernat, »The biophilosophical basis of whole-brain death«.
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sich fragen, ob die teilweise sehr diffizilen, um nicht zu sagen: esoterischen, Überlegungen für oder gegen die Lebenswichtigkeit der Koordinatorenrolle des Gehirns im Organismus zu der überragenden Bedeutung passen, die die Hirntod-Frage gleichermaßen in den Augen der Mediziner wie der Öffentlichkeit hat. Sollte man wirklich erwarten, dass sich dieses Problem einfach auf der Basis biologischer Kybernetik lösen lässt?! Einer der Pioniere der Hirntod-Konzeption, der Neurologe James Bernat, hat vor ein paar Jahren in einem Plädoyer für diese Konzeption geschrieben: »lnterestingly, largely by virtue of its intuitive appeal, the academy, medical practitioners, governments, and the public accepted the validity of brain death prior to the development of a rigorous biophilosophical proof that brain dead patients were truly dead« (J. L. Bernat, »The Whole-Brain Concept of Death Remains Optimum Public Policy«, S. 35-36). Das Zitat macht deutlich, dass ganz andere Faktoren für die Anziehungskraft der Hirntod-Konzeption verantwortlich waren und auch noch sind als ihr vermeintlicher »biophilosophical proof«, sprich: die Annahme, dass das Gehirn eine unersetzliche Steuerungsfunktion für die vitalen Prozesse innehat. Bernat nennt an dieser Stelle die Nützlichkeit für die Intensiv- und Transplantationsmedizin, aber es scheint mir offensichtlich zu sein, dass es noch einen weiteren Grund gibt, der viel mit dem nächsten analytischen Merkmal des Todes zu tun hat, das Leben und Tod nicht bloß mit unserer biologischen, sondern mit unserer eigentlichen, menschlichen Existenz verbindet. Der Tod als Ende des personalen Lebens: [Kapitel 4] Der Ausdruck »Person« steht in der Philosophiegeschichte üblicherweise für das Besondere des Menschen, also nicht für dasjenige, was er mit den anderen Lebewesen gemein hat, sondern was ihn von ihnen unterscheidet. Deshalb ist es zunächst verblüffend, dass es trotzdem eine Neigung gibt, den Tod mit dem Verlust dieses Besonderen gleichzusetzen. Es gibt allerdings zwei historisch verwandte Gründe für diese erstaunliche Annahme. Wie schon erwähnt stand der Begriff der Seele seit der Antike sowohl für denjenigen Teil der Wirklichkeit, der Leben hervorruft, als auch für das Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Wollen eines Lebewesens. [Kapitel 3] Das war wenig erstaunlich, weil es nahe lag, eine explanatorische Brücke zwischen aktivem Handeln und vielfältigen weiteren Lebensäußerungen zu schlagen (sei es, das eine durch das andere zu erklären, oder beides auf eine gemeinsame Wurzel zuXXVIII
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Direkte Lösungsvorschläge
rückzuführen). Da es historisch erst sehr spät plausible naturwissenschaftliche Erklärungen der Lebensvorgänge gab (letztlich erst im 20. Jahrhundert) und bis heute noch kein wirklich überzeugendes Modell psychischen Geschehens, da die Seele zudem in vielen religiösen Dogmen eine wichtige Rolle spielt, hat der Seelenbegriff diese Doppeldeutigkeit noch sehr lange beibehalten. Das fällt heute nicht mehr auf, weil der Begriff ohnehin in vielen Kontexten außer Mode gekommen ist, aber es spiegelt sich meines Erachtens noch deutlich im traditionellen Gegenbegriff zur Beseeltheit, im Begriff des Todes. Unser Todesverständnis ist stark geprägt von der Jahrtausende alten Vorstellung, dass im Tod die Seele den Körper verlässt. Da wir aber längst wissen, dass ein Seelenleben im psychologischen Sinnn ohne funktionierendes Gehirn unmöglich ist, fällt es uns so leicht zu akzeptieren, dass hirntote Menschen tot sind. Das ist der erste Grund für die begriffliche Koppelung des Todes an den Verlust der personalen Existenz. Die naheliegende Schwierigkeit für diese Annahme liegt allerdings nicht bloß darin, dass sie unseren Tod von dem aller anderen Lebewesen abkoppelt, sondern darin, dass es offensichtlich viele Menschen gibt, die ebenfalls nicht das psychische Profil aufweisen, das man üblicherweise mit Personalität verbindet. Kleine Kinder, Ungeborene, Menschen mit starken psychischen Beeinträchtigungen und Behinderungen oder bewusstlose Menschen sind natürlich am Leben, aber inwiefern haben sie ein personales Leben? [4.1.2] Die Schwierigkeit, ein personales Todesverständnis zu vertreten, das einen nicht in die offenkundig absurden Schlussfolgerungen zwingt, all diese Menschen seien vielleicht tot, hat deshalb dazu geführt, sich auf nur einen Aspekt der Personalität zu beschränken, das Bewusstsein. Ohnehin ist es eine verbreitete Vorstellung, dass Sterben darin besteht, dass einem schwarz vor Augen wird, dass man in einen ewigen Schlaf fällt. Also könnte man behaupten, dass ein Mensch dann tot ist, wenn er endgültig das Bewusstsein verloren hat. Weil es aber ohne ein funktionierendes Gehirn kein Bewusstsein gibt, wäre gezeigt, dass hirntote Menschen tot sind. Auch diese Verteidigung der Hirntod-Konzeption ist allerdings mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert. Ein erstes, prinzipielles Problem liegt darin, dass die Spezifikation des Bewusstseinsverlusts als »endgültig« eine erhebliche argumentative Last zu tragen hat. Schließlich sind Bewusstseinsverluste etwas ganz Alltägliches. Jede Ohnmacht, jede Vollnarkose, vielleicht sogar jeder tiefe A- XXIX
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Schlaf sind mit einem Bewusstseinsverlust verbunden. Natürlich sind das normalerweise keine endgültigen Verluste des Bewusstseins, aber zum einen weiß man das vorher nie so genau (vielleicht wird man ermordet, während man bewusstlos ist), und zum anderen könnte es von den äußeren Umständen abhängen, unter denen man das Bewusstsein verliert, ob man eine Chance hat, wieder aufzuwachen (zum Beispiel ob eine Klinik in der Nähe ist). Zweitens ist auch dieses Argument einem Halbherzigkeitsvorwurf ausgesetzt, da es möglicherweise auch andere Hirnschädigungen gibt, die mit einem dauerhaften Bewusstseinsverlust verbunden sind, nämlich solche, bei denen das Großhirn seine Funktionen eingebüßt hat. Das spricht für die Konzeption des Großhirntodes. Verfechter dieser Konzeption müssen allerdings auch bereit sein, anenzephale Säuglinge und manche Wachkomapatienten für tot zu erklären, während diese Konsequenz aus Sicht ihrer Kritiker eine reductio ad absurdum darstellt. Ähnlich wie im Fall der anderen Teilhirntod-Konzeption sehe ich allerdings im Augenblick auch hier kein verbreitetes Interesse, diese Position stark zu machen. 13 Der Tod als Ende der Existenz der Person: Wie angekündigt gibt es neben der Doppeldeutigkeit des Seelen-Begriffs noch einen weiteren, in die Antike zurückreichenden Grund, den Tod mit dem Verlust personaler Eigenschaften zu verknüpfen. [3.4] Auf Aristoteles geht die Vorstellung zurück, dass die Existenz einer Sache an bestimmte, dieser Sache wesentliche Eigenschaften gekoppelt ist. Verliert sie eine dieser wesentlichen Eigenschaften, dann hört sie auf zu existieren. Das kann man nun auch auf uns Menschen übertragen, und dann liegt der Gedanke nahe, dass es gerade unsere besonderen personalen Charakteristika (unsere Wahrnehmungsfähigkeit, Denkfähigkeit, Empfindungsfähigkeit, Handlungsfähigkeit) sind, die für uns wesentlich sind. Daraus würde wiederum folgen, dass wir mit dem Verlust dieser Fähigkeiten auch nicht mehr länger existieren. Kurz, wenn wir keine Personen sind, dann gibt es uns auch nicht mehr und also sind wir dann trivialerweise auch nicht mehr am Leben. [4.2] Weil aber die personalen Eigenschaften an ein funktions-
Zudem mahnen die Resultate neuerer Studien, die mit bildgebenden Verfahren an schwer hirngeschädigten Menschen durchgeführt wurden, zur Vorsicht, weil sie zumindest die Möglichkeit eröffnen, dass Patienten, die man bislang für definitiv bewusstlos gehalten hat, es möglicherweise nicht sind. Einen aktuellen Überblick gibt S. Müller, »Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik«. 13
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tüchtiges Gehirn gebunden sind, endet unsere Existenz spätestens mit dem Tod unseres Gehirns; hirntote Menschen sind folglich tot. Im Buch diskutiere ich zwei verschiedene Versionen dieses Arguments, letztlich ist aber keine von ihnen überzeugend, nicht zuletzt wegen der sich daraus zwangsläufig ergebenden Schlussfolgerung, dass hirntote Menschen nicht nur tot sind, sondern dass es sie gar nicht mehr gibt, dass also der Hirntote im Klinikbett nicht identisch ist mit dem Menschen, an dem die Hirntoddiagnostik durchgeführt wurde. Viel näherliegend ist es anzunehmen, dass der Tod nur in Ausnahmefällen (etwa bei einem Selbstmordattentäter, der von der Bombe zerfetzt wird) das Ende der Existenz eines Menschen ist. Wenn wir sterben, verschwinden wir normalerweise nicht, sondern werden zu einer Leiche (R. Stoecker, »Wann werde ich jemals tot sein?«). Ähnlich skeptisch stehe ich auch dem Versuch gegenüber, das Wesen des Menschen biologisch zu charakterisieren und daraus herzuleiten, dass ein Mensch aufhört zu existieren, wenn er biologisch tot ist. 14 Der Tod als Ende phänomenale Lebendigkeit: [2.2.1] Analytisch verbinden wir mit dem Begriff des Lebens neben der biologischen Gemeinsamkeit mit anderen Lebewesen und unserem personalen Dasein auch phänomenale Lebendigkeit. Leben drückt sich in Bewegung, Wärme, Farbigkeit aus, das Tote hingegen ist starr, kalt, bleich. Zahllose bildliche Verwendungen dieser beiden Ausdrücke bauen auf diese Assoziation. (Eine typische moderne Einkaufsstraße ist tagsüber quicklebendig, schon kurz nach Ladenschluss aber leblos und tot.) Hirntote Menschen sind phänomenal nicht so lebendig wie die meisten von uns, sie sind jedoch auch nicht weniger lebendig als manche der anderen Intensivpatienten. Sie können sich zwar nicht gezielt oder willentlich bewegen, aber ihr Brustkorb hebt und senkt sich, der Puls schlägt, sie fühlen sich warm an, gelegentlich kommt es zu Reflexbewegungen (J. F. Spittler, »Gehirn, Tod und Menschenbild«, S. 35, G. Saposnik et al., »Movements in brain death«). 15 Das Diese Ansicht vertritt M. Quante, Persona/es Leben und m enschlicher Tod. s Die phänomenale Lebendigkeit der Hirntoten schlägt sich in einer sprachlichen Hilflosigkeit nieder, wenn es darum geht, den medizinischen Umgang mit hirntoten Patienten angemessen zu beschreiben. So kann man als Vertreter der Hirntodkonzeption beispielsweise nicht sagen, dass der Hirntote bis zur Organentnahme intensivmedizinisch >am Leben erhalten< wird, obwohl es eigentlich nahe liegt, so zu reden. Besonders deutlich wird diese Verlegenheit in einer Passage aus dem gerade erwähnten Bericht des President's Council: »If the body is a cadaver then, of course, it is no longer fitting to
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macht es in der Praxis so schwer, sie als Leichen zu behandeln, und es könnte auch ein guter Grund sein, sie theoretisch als lebend anzuerkennen. Allerdings, und das ist die Hauptschwierigkeit für dieses Argument gegen die Hirntodkonzeption, kann ein Anschein auch trügen; und dann erwarten wir von der Medizin, dass sie uns eines Besseren belehrt. Traditionell war es ihre Aufgabe, Fälle von Scheintod zu diagnostizieren; warum sollte es ihr nicht auch obliegen, Fälle von Scheinleben aufzudecken? Sich hinsichtlich der Grenze von Leben und Tod auf den bloßen Anschein zu verlassen, ist jedenfalls nicht empfehlenswert, deshalb ist dieses Argument für sich gesehen nicht sehr stark. Allerdings weist die Beobachtung, dass es der Anschein der Lebendigkeit in der Praxis so schwer macht, hirntote Menschen als tot zu behandeln, schon in Richtung einer weiteren Überlegung. Der Tod als moralische Schwelle: [Kapitel 5] Den bislang vorgestellten Argumenten ist gemeinsam, dass sie sich auf deskriptive Charakteristika des Lebens stützen, seien diese nun biologisch, personal oder phänomenal. Im Alltag werden die Ausdrücke >Leben< und >Tod< aber keineswegs nur deskriptiv, sondern als sog. >dicke< oder >dichte< Begriffe (thick concepts) verwendet, die eine deskriptive Dimension mit einer weiteren, wertenden Dimension verbinden: Erstens scheint man mit Lebenden ganz anders umgehen zu müssen und zu dürfen als mit Toten, und zweitens ist es prima facie falsch, jemanden vom Leben zum Tode zu befördern, sprich: ihn zu töten. In der ersten Hinsicht markiert das Leben unseren besonderen moralischen Status, in der zweiten Hinsicht ist der Tod Gegenstand des Tötungsverbots. Im Buch bezeichne ich die Annahme, dass der Tod diese moralische Schwelle bildet, als die »ethische Grundannahme über den Tod« [5.1]. Es ist diese Grundannahme, die überhaupt erst erklärt, warum so erbittert um die Hirntod-Konzeption gerungen wird, insbesondere warum sich die Befürworter dieser Konzeption den plausiblen Gegeneinwänden so hartnäckig widersetzen. 16 speak about its >health.< Nonetheless, something like health is still present in the body of a patient with this diagnosis.« President's Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death, S. 39, vgl. auch F. G. Miller and R. D. Truog, »The incoherence of deterrnining death by neurological criteria: a cornrnentary on »Controversies in the deterrnination of death«, a White Paper by the President's Council on Bioethics«, S. 187. Es gibt eben sehr viele Bereiche, in denen man geneigt ist, den Hirntoten >so etwas< wie X zuzuschreiben, obwohl eigentlich nur lebende Menschen d.ie Eigenschaft X haben können.
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Es gibt verschiedene Möglichkeiten, auf die Einsicht, dass der Todesbegriff eine normative Seite hat, zu reagieren. Zunächst liegt der Versuch nahe, sie sich zu Nutze zu machen, um auf diesem Weg doch noch zu einer überzeugenden Antwort auf die Frage zukommen, ob hirntote Menschen tot sind oder nicht. Diese Strategie bewegt sich also immer noch im Rahmen der direkten Argumente für oder gegen die Hirntod-Konzeption. Glaubt man Robert Veatch, dann geht diese Strategie bis auf das Ad Hoc-Komitee der Harvard Medical School zurück, dessen berühmter Bericht 1968 am Anfang der Hirntod Debatte stand. Veatch, der damals als Graduate Student an den Beratungen mitgewirkt hat, schreibt: »Rather, committee members implicitly held that, even though these people are not dead in the traditional biological sense, they have lost the moral status of members of the human moral community. They believed that people with dead brains no langer should be protected by norms prohibiting homicide - even merciful homicide with the consent of the one killed. « (R. M. Veatch, »Abandon the dead donor rule or change the definition of death? «, S. 267) Die Mitglieder des Komitees wollten also wissen, ob die Hirntoten schon tot im Sinne der ethischen Grundannahme über den Tod waren. Und ihre Antwort war positiv: Mit dem Hirntod war die entscheidende Schwelle überschritten, deshalb durfte man die lebenserhaltender Maßnahmen einstellen und die Organe entnehmen. Was immer man sonst noch über den Tod des Lebens denken mag, so könnte man diese Position beschreiben, aus ethischer Sicht waren die Hirntoten jedenfalls tot. Auch die moralische Verteidigung der Hirntod Konzeption ist allerdings mit zwei Problemen behaftet. Erstens kann man bezweifeln, ob tatsächlich mit dem Hirntod die moralische Schwelle überschritten ist, von der die ethische Grundannahme über den Tod ausgeht. Auf dieses Problem werde ich im übernächsten Abschnitt Das hat einer der prominentesten Kritiker der Hirntod-Konzeption einmal sehr drastisch auf den Punkt gebracht: » What have we lost by using the brain death criterion? First, the medical profession has had to pay the price of self-delusion. Despite continual commentary in the medical literature about the inconsistencies and incoherence of the concept of brain death, medical professionals have had to defend the concept in order not to jeopardize the benefits of organ transplantation « R. D. Truog, »Brain death - too flawed to endure, too ingrained to abandon«, S. 277. Was Truog beklagt, ist das verzweifelte und in seinen Augen letztlich unnötige Festhalten an unhaltbaren Positionen, aus Furcht vor den Konsequenzen der alternativen Ansicht.
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zurückkommen, in dem ich meine eigene Position darstelle. Zweitens stellt sich die Frage, wie man mit der möglichen Diskrepanz zwischen der moralischen Begründung der Hirntodkonzeption und der Fragwürdigkeit dieser Konzeption aus Sicht eines biologischen oder gar phänomenalen Todesverständnisses umgeht. Diese zweite Schwierigkeit hebt die Hirntod-Diskussion auf eine neue, philosophischere Ebene, die insbesondere für die Beiträge der letzten Jahre kennzeichnend ist. Man kann sie als den Übergang von direkten zu indirekten Lösungsvorschlägen beschreiben.
C.
Indirekte Lösungsvorschläge
Auf die zweite Schwierigkeit hat beispielsweise Dieter Birnbacher in seinen neueren Beiträgen zur Hirntod-Debatte hingewiesen. 17 Birnbacher geht zwar davon aus, dass die moralphilosophischen Erwägungen zu dem Ergebnis gelangen, dass unser moralischer Status mit unserem psychischen (oder personalen) Leben endet und das heißt: spätestens mit dem Eintreten des Hirntods. Zugleich nimmt er aber die Feststellung ernst, dass eine Gleichsetzung des Todes mit dem Ende des psychischen Lebens im Widerspruch zu unserem biologischen Lebensverständnis steht. Er schreibt deshalb: »Das Hirntodkriterium ist kein adäquates Kriterium für den Tod, sondern ein Kriterium für den unter ethischen Gesichtspunkten primär relevanten, aber mit dem Tod simpliciter nicht zusammenfallenden mentalen Tod« (D. Birnbacher, »Der Hirntod - eine pragmatische Verteidigung«, S. 475). Birnbacher spricht damit ein Problem an, das eigentlich auf der Hand liegt, ohne dass es in der Hirntod-Debatte immer gebührend gewürdigt worden wäre: Gerade wenn man feststellt, dass mit dem Begriff des Todes eine ganze Reihe von analytischen Aussagen verbunden werden können (dass der Tod endgültig ist, dass mit ihm das biologische Leben endet, dass mit ihm das mentale Leben endet, dass er mit Leblosigkeit verbunden ist, dass er einen moralischen Umschwung bedeutet), diese sich aber nicht notwendigerweise decken, dann fragt es sich, welche dieser verschiedenen Bedeutungselemente der Frage, ob Hirntote schon tot sind, zu Grunde gelegt werden soll. D. Birnbachei; »Der Hirntod - eine pragmatische Verteidigung«, D. Birnbacher, »Die Grenzen der Philosophie und die Grenzen des Lebens «
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Für Birnbacher, wie auch für andere Autorinnen und Autoren der letzten Jahre 18, ist dies ein Anlass, die Ausgangsbasis der Hirntod-Debatte kritisch zu reflektieren. Die Strategie, ausgehend von einer Klärung der Begriffe von Leben und Tod auf der analytischen Ebene zu einer Entscheidung auf der Implementationsebene zu gelangen, so einleuchtend sie auf den ersten Blick erscheinen mag, setzt möglicherweise eine zu einfache, sprachphilosophisch naive Vorstellung davon voraus, was ein Begriff ist. Dieser Vorstellung zufolge hat jeder Begriff eine Bedeutung, die sich im Prinzip dadurch angeben lässt, dass man notwendige und hinreichende Bedingungen dafür nennt, unter welchen Bedingungen etwas unter diesen Begriff fällt. Diese Voraussetzung ist aber, wie schon Ludwig Wittgenstein Mitte des 20. Jahrhunderts überzeugend vorgeführt hat, sprachphilosophisch unhaltbar. Die allermeisten Begriffe, mit denen wir es im Alltag zu tun haben, haben keine Bedeutung in diesem Sinn. Es sind vielmehr Bündelbegriffe (cluster concepts), für die sich keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen angeben lassen. Was ihre verschiedenen Anwendungsinstanzen verbindet, sind vielmehr eine Reihe von begrifflichen Merkmalen (Kriterien), die typischerweise vorliegen, wenn etwas unter diesen Begriff fällt, von denen das eine oder andere aber auch fehlen kann, ohne dass es deswegen schon falsch wäre, den Begriff anzuwenden. [1.5.2] Wittgensteins Standardbeispiel sind die Spiele. Spiele machen in der Regel Spaß, man kann gewinnen oder verlieren, sie dienen nicht dem Gelderwerb usw. Dies alles sind Kriterien für die Verwendung des Spiele-Begriffs, trotzdem akzeptieren wir, dass nicht alles, was wir als Spiel bezeichnen, alle diese Eigenschaften hat (bei Scharade kann man nicht gewinnen, wer pokert, möchte Geld verdienen), insbesondere dann nicht, wenn es sich um etwas Neues, bislang Unbekanntes handelt. Seit einigen Jahren gibt es beispielsweise blitzartige, häufig skurrile Zusammenkünfte großer Menschengruppen, die sich nach kurzer Zeit ebenso blitzartig wieder auflösen und nur selten bestimmten, beispielsweise politischen, Zwecken dienen (so genannte Flashmobs). Sollte man nun auf die Idee kommen, sich zu fragen, ob Flashmobs Spiele sind, dann stellt man schnell fest, dass es darauf keine klare
ia Vgl. z.B. W. Chiong, »Brain Death without Definitions«
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Antwort gibt. Einerseits sind Flashmobs zweifellos spielerisch, andererseits gibt es auch große Unterschiede zu typischen Spielen (die Teilnehmenden kennen sich gewöhnlich nicht, es gibt keine festen Regeln etc.). Wie die Flashmobs waren auch die Hirntoten ein neues Phänomen. In mancher Hinsicht ähnelten sie den bis dahin bekannten, typischen Lebenden (im Aussehen und vielen biologischen Aktivitäten des Körpers), in anderer Hinsicht den bis dahin bekannten, typischen Toten (im Mangel an psychologischem Leben, dem Fehlen zielgerichteter Aktivitäten, der Unfähigkeit, selbsttätig zu atmen, und der medizinischen Aussichtslosigkeit ihres Zustands). Also sollte es nicht verwunderlich sein, dass sich keine direkte Antwort auf die Frage finden lässt, ob sie nun tot sind oder nicht. Es ist eben ein Missverständnis anzunehmen, unsere Begriffe seien so beschaffen, dass sie für jeden Fall, und sei er auch noch so neu, exotisch oder sogar nur hypothetisch, klare Anwendungsbedingungen haben. Diese sprachphilosophischen Schwierigkeiten verhindern, dass sich die Hirntod-Debatte so einfach entscheiden lässt, wie es sich die Verfechter der direkten Antworten erhofft haben. Einige Autoren wie etwa Birnbacher haben deshalb indirekte Begründungen der Hirntod-Konzeption vorgeschlagen. Birnbacher glaubt zwar, wiegesagt, dass hirntote Menschen moralisch gesehen tot sind, er akzeptiert aber zugleich, dass sie es aus biologischer Sicht noch nicht sind. Insofern befinden sie sich in der Grauzone, in der die verschiedenen Bündel, aus denen sich der Begriff des Lebens bzw. Todes zusammensetzt, auseinanderklaffen. Wir können deshalb nicht erwarten, dass uns eine Analyse der sprachlichen Bedeutung weiterhilft. Wir müssen uns stattdessen auf pragmatische Erwägungen stützen, und diese sprechen dafür, dem primär ethischen Interesse hinter der HirntodFrage Rechnung zu tragen und an der Hirntodkonzeption festzuhalten. [1.5.2] Im Buch zitiere ich Wittgensteins Feststellung, dass einen die unscharfen Grenzen der Bündelbegriffe nicht daran hindern, selbst eine Grenze zu ziehen, und zwar für einen bestimmten Zweck. Birnbachers Empfehlung lautet nun, dass wir für die gesellschaftlich relevanten Interessen an der Unterscheidung zwischen Leben und Tod diese Grenze am besten beim Hirntod ziehen sollten. Ein zweiter, verwandter indirekter Lösungsvorschlag stammt von Robert Veatch, der wie Birnbacher der Überzeugung ist, dass zumindest aus moralischer Sicht ein Mensch tot ist, wenn er definitiv das Bewusstsein verloren hat. Insofern ist Veatch eigentlich ein VerXXXVI
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fechter der Großhirntod-Konzeption. 19 Wie Birnbacher plädiert Veatch aber auch dafür, den gesellschaftlichen Bedingungen Rechnung zu tragen, unter denen sich eine Todes-Konzeption bewähren muss, nur dass es ihm besonders darum geht, die vielfältigen religiösen und kulturellen Vorstellungen in einer Gesellschaft zu berücksichtigen. Wenn jemand der Überzeugung sei, dass das Leben erst mit dem Herzstillstand ende, dann sollte man dies Veatch zufolge respektieren und ihn auch erst dann als einen Toten behandeln. Veatch versucht also, das Hirntod-Problem dadurch auflösen, dass er es jedem Menschen selbst zugesteht, (im vernünftigen Rahmen) festzulegen, wann er sein Leben für beendet ansieht. 20 Birnbacher und Veatch sind allerdings mit einer gemeinsamen Schwierigkeit konfrontiert. Beide müssen annehmen, dass mit dem Hirntod auf jeden Fall die Schwelle, von der in der ethischen Grundannahme über den Tod die Rede ist, überschritten ist, denn nur dann muss man nicht befürchten, sich gegenüber einem hirntoten Patienten moralisch inkorrekt zu verhalten, unabhängig davon, ob man ihn als Lebenden oder als Toten behandelt. Doch eben diese Prämisse ist aus Sicht vieler Kritiker der Hirntodkonzeption zweifelhaft. Sie warnen ja gerade davor, dass pragmatische Grenzen zu einer verwerflichen Missachtung des Hirntoten führen. Darüber hinaus stehen beide Konzeptionen vor einer weiteren, grundsätzlichen Schwierigkeit, die sie mit allen direkten Antworten teilen: dem radikalen Bild des Verhältnisses zwischen Hirntoten und >echten< Leichen, das sich aus diesen Konzeptionen ergibt. Wenn man annimmt, dass hirntote Menschen tot sind, und außerdem davon ausgeht, dass mit dem Tod schlagartig der moralische Umschwung eintritt, von dem in der ethischen Annahme über den Tod die Rede ist, dann sind Hirntote Leichen und es dürfte eigentlich keinen Grund geben, sie anders zu behandeln als herztote Leichen. Man wäre also nicht nur berechtigt, ihnen Organe zu entnehmen, sondern könnte beispielsweise auch forensische Obduktionen durchführen, Vgl. R. M. Veatch, »The death of whole-brain death: the plague of the disaggregators, somaticists, and mentalists «. 20 Z.B. in R. M. Veatch, »Abandon the dead donor rule or change the definition of death? «. Dieser Vorschlag spiegelt sich in verschiedenen rechtlichen Regelungen wider: im Gesetz für die Todesbestimmung des US-amerikanischen Bundesstaat New Jersey und bis vor kurzem auch im Japanischen Transplantationsgesetz (vgl. K. Zeiler, »Deadly pluralism? Why death-concept, death-definition, death-criterion and death-test pluralism should be allowed, even though it creates some problems «). 19
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Nachwuchschirurgen an ihnen üben lassen oder pharmazeutische Tests mit ihnen durchführen. Tatsächlich gibt es Forscher, die kein Problem mit einem solchen »research with heart-beating cadavers« haben (M. R. Wicclair und M. De Vita, »Oversight of research involving the dead«, S. 143), in der Regel gehen wir aber davon aus, dass unsere moralische Situation gegenüber Hirntoten eine andere ist als gegenüber Leichen. Doch im Lichte der bisher skizzierten Positionen ist es nicht leicht, diese Unterscheidung zu rechtfertigen. Die Feststellungen, dass hirntote Menschen zumindest noch nicht biologisch tot sind, dass man aber möglicherweise unterscheiden muss zwischen der Frage, wann ein Mensch wirklich tot ist und wann man ihn wie tot behandeln darf, sind der Ausgangspunkt für einen anderen, noch weitergehenden Vorschlag zur Auflösung des Hirntodproblems. Robert Truog hat in einer Reihe von Publikationen dafür geworben, die Schwierigkeiten einer angemessenen Todeskonzeption zum Anlass zu nehmen, schon die Vorbedingung, dass Organspender tot sein müssten, infrage zu stellen. 21 Wenn man diese so genannte »Dead Donor Rule« aufgibt, so Truog, dann müsse man sich nicht länger intellektuell in die Tasche lügen und an der Gleichsetzung zwischen biologischem Tod und Hirntod festhalten. Man kann vielmehr akzeptieren, dass Hirntote zwar noch lebende, aber unwiderruflich sterbende Menschen sind, um dann moralphilosophisch dafür einzutreten, dass man ihnen trotzdem die Organe entnehmen dürfe. Was Truogs Position gerade aus deutscher Sicht so interessant macht, ist, dass sie einen Ausweg aus einer Zwickmühle verspricht, in der sich die meisten Gegner der Hirntodkonzeption befinden. Denn anders als in anderen großen bioethischen Debatten (z.B. Abtreibung, aktive Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik) geht es in der Hirntod-Debatte nicht so sehr darum, welche medizinische Praxis richtig oder falsch ist, sondern primär um die Begründung dieser Praxis. Die allerwenigsten Gegner der Hirntodkonzeption lehnen die Transplantationsmedizin ab, sie bezweifeln nur, dass diese sich darauf stützen kann, dass die hirntoten Patienten schon tot sind (und knüpfen daran normalerweise die Forderung nach einer expliziten Zustimmung des Organspenders). Das hat ihnen aber regelmäßig den 21 R. D. Truog and W. M. Robinson, »Role of brain death and the dead-donor rule in the ethics of organ transplantation«, R. D. Truog, »Brain death - too flawed to endure, too ingrained to abandon «.
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Indirekte Lösungsvorschläge
Vorwurf eingebracht, letztlich für eine Form der aktiven Patiententötung einzutreten. Truog teilt die Ansicht, dass Hirntote durch die Explantation getötet werden. Er bezweifelt aber, dass daran moralisch etwas auszusetzen sei. Es sei moralisch ebenso unbedenklich wie die üblichen Formen passiver Sterbehilfe. So wie es moralisch richtig sein kann, das Leben eines Menschen dadurch zu beenden, dass man die künstliche Beatmung einstellt, könne es auch moralisch richtig sein, ihn durch die Organentnahme zu töten. Es sind seines Erachtens einfach zwei verschiedene Weisen, einen Menschen gerechtfertigterweise ums Leben zu bringen. Die Auffassung, dass es aus ethischer Sicht für sich gesehen keinen Unterschied macht, ob man jemanden sterben lässt oder aktiv tötet, wird gewöhnlich als »Äquivalenzthese« bezeichnet. 22 Sie ist allerdings moralphilosophisch umstritten, nicht nur wegen ihrer Implikationen für die Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe, sondern beispielsweise auch, weil sie zu implizieren scheint, dass wir alle Mörder sind, nämlich derjenigen Menschen, die wir vor dem Hungertod oder vermeidbaren Krankheiten retten könnten, ohne dies aber zu tun. Es ist jedenfalls ausgesprochen gewagt, die moralische Bewertung von Organtransplantationen an die Äquivalenzthese und die Zulässigkeit aktiver Patiententötung zu koppeln. Jürgen in der Schmitten hat deshalb in einer kritischen Auseinandersetzung mit Truog dafür plädiert, die Analogie zur passiven Sterbehilfe, anders zu lesen. 23 Aus Sicht in der Schmittens ist eine vom Patienten gewollte Explantation kein Töten, sondern ein besonderer Bestandteil des Sterbenlassens. Anstatt die Beatmung gleich einstellen zu lassen, lässt sich der Patient noch etwas länger am Leben erhalten, um die Behandlung erst mit der Explantation beenden zu lassen. Entsprechend fasst in der Schmitten seine Position am Ende des Artikels so zusammen (S. 68): »Die Anerkennung der Bereitschaft zur Organspende für den Fall des unumkehrbaren und totalen Hirnversagens bedeutet somit nicht die Akzeptanz eines Präzedenzfall für die Tötung auf Verlangen, sondern das Zugeständnis, eine Verlängerung des eigenen Sterbens und eine Veränderung der Umstände des unvermeidbaren Todeseintritts verfügen zu dürfen, um Vgl. R. Stoecker, »Töten, Sterbenlassen und die Mehrdimensionalität moralischen Werts «. 23 J. in der Schmitten, »Organtransplantation ohne »Hirntod «-Konzept?«. 22
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auf diese Weise anderen Menschen durch die Spende eines Organs helfen zu können.« So sympathisch mir die Grundintention hinter dieser Position auch ist, so offenkundig ist doch auch das Problem, vor dem sie steht. Sie wirft unweigerlich die Frage auf, warum es keine Tötung sein soll, wenn man jemandem die Organe entnimmt, nur weil dieser zuvor darauf verzichtet hat, sich sterben zu lassen. Hätte es der Patient in derselben Situation vorgezogen (aus welchen Gründen auch immer), sich erschießen zu lassen anstatt Organe zu spenden, dann wäre dies natürlich eine Tötung auf Verlangen gewesen, also fragt es sich, warum die Explantation keine Tötung sein soll. Deshalb bietet auch in der Schmitten keinen Ausweg aus der Zwickmühle der Gegner der Hirntod-Konzeption, und Truogs Versprechen, eine befriedigende ethische Begründung der Transplantationsmedizin geben zu können, ohne auf die Dead Donor Rule zurückzugreifen, bleibt fragwürdig, insbesondere dann, wenn man sich nicht nur auf Spender beschränkt, die eine Spende ausdrücklich gewollt haben, sondern auch den viel häufigeren Fall einbezieht, in dem die Einwilligung allenfalls gemutmaßt werden kann. Denn das wären dann nicht einmal Tötungen auf Verlangen .
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Der Status der Non-Heartbeating Organ Denars
Das Szenario, das in der Schmitten beschreibt, verweist aber schon auf einen anderen Aspekt der Hirntod-Debatte, der in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt, die Einbeziehung von Organspendern mit Herzstillstand (non-heartb eating donors) . Die Praxis, Explantationen an Patienten mit Herzstillstand (donation after cardiac death, DCD) vorzunehmen, geht zurück auf die Anfänge der Transplantationsmedizin in den fünfziger und sechziger Jahren, als noch alle Organspender non-heartbeating donors waren. Weil diese Praxis aber sehr belastend für die Spenderorgane war und sich zudem zeitlich schlecht organisieren ließ, wurde sie nach der Etablierung der Hirntod-Konzeption schnell durch die bis heute übliche Vorgehensweise ersetzt, die Organe hirntoten Patienten zu entnehmen. Verbesserungen in der medizinischen Technologie, der notorische Mangel an Spenderorganen und anscheinend auch der Wunsch schwerkranker Patienten, Organe zu spenden, führten aber Anfang der Neunzigerjahre zu einer Renaissance der DCDs, die schon bald XL
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von einer Welle des Optimismus getragen wurde, insbesondere in den USA. 24 Bereits 1997 und dann noch einmal 2000 hatte das USGesundheitsministerium das nationale Institute of Medicine beauftragt, ausführliche Berichte über die Möglichkeiten herztoter Organspenden anzufertigen. In einem kürzlich erschienenen weiteren Report dieses Instituts werden die Ergebnisse dieser Berichte noch einmal aufgenommen (J. F. Childress und C. Liverman, »Organ Donation: Opportunities for Action«). Der Report unterstreicht die Empfehlung seiner Vorgänger, diesen Zweig der Spendergewinnung stark auszuweiten, und drückt sogar die Hoffnung aus, dass es am Ende vielleicht mehr herztote Spender als hirntote geben könnte. Um zu erkennen, inwiefern diese Entwicklung Auswirkungen auf die Hirntod-Debatte hat, muss man sich etwas näher vor Augen führen, was unter einer solchen Organspende durch herztote Patienten zu verstehen ist. Grundlage aller DCDs ist eine Todesfeststellung aufgrund eines eingetretenen Herzstillstands. In Abhängigkeit davon, wie es zu dem Herzstillstand gekommen ist, lassen sich dann zwei deutlich unterschiedene Arten von DCDs unterscheiden. Ist der Herzstillstand plötzlich eingetreten, sei es in einer Klinik oder außerhalb, dann ist von einer >unkontrollierten DCDkontrollierte DCDMythos< sind aber offensichtlich viele andere, kritische Autoren aufgesessen, die in dreierlei Hinsicht Zweifel daran haben, dass die Patienten wirklich tot sind. Erstens gibt es, wie gesagt, Zweifel daran, dass die Patienten hirntot sind, weil die Zeitdauer, in der ihr Gehirn von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten ist, viel zu kurz ist, um dies sicherzustellen. Darüber hinaus ist es aber auch zweitens äußerst fraglich, ob der Herzstillstand zumindest im Fall von kontrollierten DCDs tatsächlich in einem interessanten Sinn permanent ist. Es könnte vielmehr sein, dass gerade die organerhaltenden Maßnahmen, die ergriffen werden, um die Spenderorgane so gut wie möglich gegen den mit dem Herzstillstand verbundenen Sauerstoffmangel zu schützen, dafür sorgen, dass der Patient zum Zeitpunkt der Explantation noch reanimiert werden könnte.27 Ähnliches könnte auch für Spender in einer unkontrollierten DCD gelten, wo möglicherweise dieselben Maßnahmen, die in einem Krankenhaus ohne Transplantationszentrum dazu verwendet werden, den Patienten nach dem Herzstillstand M. Y. Rady et al., »Organ procurement after cardiocirculatory death: a critical analysis«, S. 305.
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wiederzubeleben, in einem Krankenhaus mit Transplantationszentrum dazu dienen, sie zur Organentnahme vorzubereiten. 28 Tatsächlich ist der Ausdruck »permanent« in dem Report auch nicht so gemeint, dass keine Reanimationsmaßnahmen mehr möglich wären, sondern dass niemand sie wollen würde. Der Herzschlag darf nicht wieder von alleine einsetzen können, und es darf keinen vernünftigen Grund geben, ihn von außen wiederzubeleben. 29 Das aber ist ein extrem schwaches Verständnis von Unwiderruflichkeit, zu schwach als Interpretation der Endgültigkeit des Todes. So könnte man sich beispielsweise vorstellen, dass gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ärzte die Explantation beginnen wollen, ein Angehöriger eine gerichtliche Verfügung erwirkt, den Patienten nicht sterben zu lassen, sondern wiederzubeleben. Wie unvernünftig eine solche Verfügung auch wäre, solange sie im Prinzip dazu führen könnte, dass die Reanimation erfolgreich durchgeführt wird, kann man nicht annehmen, dass der Herzstillstand wirklich unwiderruflich ist. 30 Der Bezeichnung »donation after cardiac death « zum Trotz sind diese Patienten also noch nicht herztet im Sinne der in Abschnitt A skizzierten Herztod-Konzeption des Todes. Hinzu kommt der dritte Einwand, dass selbst dann, wenn Herz und Lunge permanent zu funktionieren aufgehört haben, der Patient noch nicht notwendigerweise tot sein muss; sonst würden beispielsweise kombinierte Herz-Lungen-Transplantationen automatisch zum Tod des Organempfängers führen, sobald die alten Organe entnommen werden. Alle drei Überlegungen sprechen deutlich dagegen, dass die Patienten, denen in einer DCD Organe entnommen werden, zuvor schon tot sind. Es ist bei ihnen noch viel weniger plausibel als bei den Hirntoten, sie als Leichen anzusehen. Setzt man also die Bestimmungen des Transplantationsgesetzes oder die Dead Donor Rule voraus, dann sind DCDs sicher unzulässig - während dies bei den Exs C. J. Doig and D. A. Zygun, »(Uncontrolled) donation after cardiac determination of death: a note of caution«: 763. 29 Vgl. Institute of Medicine, »Non-Heart-Beating Organ Transplantation. Practice and Protocols «: 25 . J-O Besonders deutlich wird dies am Beispiel einer Transplantation, die vor ein paar Jahren in Denver stattgefunden hat: Drei Babys sind dort in einer kontrollierten DCD die Herzen entnommen und erfolgreich verpflanzt worden M . M. Boucek, C. et al., »Pediatric heart transplantation after declaration of cardiocirculatory death «. Diese Herzen hatten ganz offensichtlich nicht permanent zu schlagen aufgehört. 2
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plantationen von hirntoten Patienten nach wie vor unsicher ist. Diesem Verdikt stehen aber jedes Jahr einige hundert erfolgreiche Transplantationen (zum Beispiel die Herztransplantationen aus Fußnote 30) entgegen sowie die Hoffnung, dass eine Ausweitung der DCDs zu einer deutlichen Entlastung für den Engpass bei Spenderorganen führen könnte. Ist es wirklich einleuchtend, diese Praxis in Bausch und Bogen als unmoralisch anzusehen? Gerade wenn man an Patienten denkt, die sterbenskrank sind und die Möglichkeit haben, die Beendigung einer aussichtslos gewordenen lebenserhaltenden Maßnahme mit einer Organspende zu verbinden (wie in dem Artikel in der Schmittens ), scheint es mir prima facie nicht einleuchtend, eine Explantationen als moralisch verwerflicher ansehen zu müssen als eine normale Spende eines Hirntoten. Einen Ausweg bietet offensichtlich Robert Truog, aus dessen Sicht es gerade ein Vorzug seiner Konzeption ist, dass sie es erlaubt, beide Vorgehensweisen, DCDs und Explantationen von hirntoten Spendern, ethisch zu bewerten, ohne sich darum kümmern zu müssen, ob die Spender schon tot sind oder noch nicht. 31 Prima facie erhellt der Hinweis auf Truog aber nur das Problem, dass die DCDs darauf hinaus zu laufen scheinen, dass die Organspender zu Gunsten der Organempfänger geopfert, getötet werden. Und eine solche Form der fremdnützigen Tötung scheint moralisch offenkundig inakzeptabel zu sein. Die Hirntod-Debatte sieht heute in zweierlei Hinsicht anders aus als vor 10 Jahren. Erstens sind die traditionellen Rechtfertigungen der Hirntodkonzeption weiter unter Druck geraten, während zugleich neue, philosophisch anspruchsvollere Begründungen entstanden sind. Zweitens ist aber auch die traditionelle Grundlage der Hirntod-Debatte, die Dead Donor Rule, brüchig geworden, was zu einer weiteren Verunsicherung in der moralischen Beurteilung der Transplantationsmedizin geführt hat. Wir stehen vor dem Dilemma, 31 R. D. Truog, »Brain death - too flawed to endure, too ingrained to abandon«, R. D. Truog and W. M. Robinson, »Role ofbrain death and the dead-donor rule in the ethics of organ transplantation«. Wie selbstverständlich es mittlerweile für manche Autoren ist, dass die Frage, ob diese Spender tot sind, irrelevant ist, zeigt ein Artikel zur Ethik der DCDs, der kürzlich in einer angesehenen Fachzeitschrift erschienen ist und diese Frage mit keinem Wort erwähnt, sondern nur thematisiert, inwieweit DCDs auf autonomen Entscheidungen basieren, dem Spender nicht schaden, dem Empfänger nützen und gerecht verteilt werden können (J. L. Vincent and S. Brimioulle, »Non-heart-beating donation: ethical aspects «) .
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Die moralphilosophischen Transformation der Hirntod-Debatte
dass es einerseits keinen Weg zurück in die heile Welt der Hirntodkonzeption gibt, in der es als erwiesen galt, dass Hirntote wirklich tot sind, während es andererseits schwer fällt zu akzeptieren, dass Organspender regelmäßig durch die Explantationen getötet werden.
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Die moralphilosophischen Transformation der Hirntod-Debatte
Aus dieser Zwickmühle kommt man meines Erachtens nur heraus, wenn man den Weg weitergeht, der kennzeichnend für die indirekten Lösungsvorschläge ist. Man muss sowohl die normativen Voraussetzungen, als auch die sprachphilosophischen Prämissen kritisch hinterfragen. Das ist die Strategie, die ich im fünften Kapitel des Buches einschlage, an deren Verständnis ich aber seither weitergearbeitet habe, so dass ich in der folgenden Darstellung ein Stück über das hinausgehe, was in diesem Kapitel steht. [Kapitel 5] Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, wie schon erwähnt, die Feststellung, dass der Tod nach unserem Verständnis eine Schwelle in unserem moralischen Status bildet. Diese ethische Grundannahme über den Tod bildet die Basis der ganzen HirntodDebatte: Wir wollen wissen, ob Hirntote tot sind, weil wir wissen wollen, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten sollen. Wie ich am Ende des Abschnitts über die direkten Lösungsvorschläge erläutert habe, kann man diese Beziehung allerdings auch umdrehen und versuchen, die ethische Grundannahme zu nutzen, um eine Antwort auf die Frage zu bekommen, ob die Hirntoten schon tot sind. Man muss dann zunächst fragen, von welcher unserer Eigenschaften es abhängt, dass wir unseren besonderen moralischen Status haben, um dann zu klären, ob ein Hirntoter diese Eigenschaft noch hat oder ob er sie bereits verloren hat. Daraus könnte man dann, so die Hoffnung, den Schluss ziehen, entweder dass der Hirntote im moralisch relevanten Sinn noch lebt oder dass er schon tot ist. Diese Strategie, die Veatch zufolge bereits dem Harvard Ad Hoc Komitee vorgeschwebt hat, steht allerdings, wie gesagt, vor zwei Problemen. Das zweite Problem, das Auseinanderklaffen zwischen moralischem und biologischem Tod, habe ich bereits diskutiert; es führte zu den indirekten Konzeptionen Birnbachers, Veatchs und Truogs. Noch gewichtiger und interessanter ist aber das erste Problem, die Frage, worin denn die gesuchte Eigenschaft überhaupt besteht, auf 1'r XLV
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der die ethische Grundannahme über den Tod beruht und mit deren Verlust die Schwelle erreicht ist, an der unser moralischer Status endet. Diese Frage nimmt in dem Buch fast das gesamte fünfte Kapitel ein. Dabei diskutiere ich sie nicht einmal in ihrer ganzen möglichen Breite, sondern beschränke mich auf die Annahme, dass die gesuchte Eigenschaft, mit deren Verlust ein Mensch die moralische Schwelle des Todes überschreitet, zumindest eine plausible Basis für das Tötungsverbot bieten muss. Ich untersuche also die Frage, warum man andere Menschen in der Regel nicht töten darf. Dabei gehe ich ausführlich auf vier prominente Vorschläge ein: Man darf uns nicht töten, weil wir biologisch am Leben sind, weil wir Freude oder Leid empfinden können, weil wir Wünsche haben (z.B. den Wunsch weiterzuleben) oder weil uns durch das Töten einen Schaden zugefügt wird. Jeder dieser Vorschläge ist prima facie einleuchtend, wie sich aber am Ende der Diskussion zeigt, bietet letztlich keiner von ihnen eine plausible Basis für das Tötungsverbot. Das ist ein moralphilosophisch folgenreiches Ergebnis, beispielsweise weil es impliziert, dass sowohl der klassische Utilitarismus als auch der moderne Präferenzutilitarismus als normative Ethiken unzureichend sind. Für die Hirntod-Debatte ergibt sich aber eine andere Konsequenz. Zunächst könnte man vielleicht meinen, dass ich einfach nicht lange genug gesucht habe, dass es eine andere, weitere Eigenschaft geben könne, auf der das Tötungsverbot beruht. Dabei übersieht man allerdings, wie stark die diskutierten Eigenschaften, auch wenn sie jeweils nicht die Grundlage für das Tötungsverbot bilden, dafür sprechen, viele Tötungsakte als verwerflich anzusehen. Deshalb lautet die viel plausiblere Schlussfolgerung aus den moralphilosophischen Untersuchungen: Es gibt gar nicht die eine Eigenschaft, derentwegen man uns nicht töten darf; was es vielmehr gibt, ist ein ganzes Bündel von Eigenschaften, auf denen das Tötungsverbot beruht. Unbestreitbar sind alle Eigenschaften, die ich nacheinander diskutiert habe, geeignet, uns einen besonderen moralischen Anspruch, Schutz, Status zu verschaffen. Unhaltbar ist nur jeweils die Annahme, dass es sich um die eine Eigenschaft handele, auf der das Tötungsverbot basiert. Dass wir nicht sterben wollen, dass der Tod uns viel Freude und Erfahrungen vorenthält, dass er unserer Biographie ein Ende setzt, dass durch ihn ein Lebewesen zunichte gemacht wird, dies sind alles gute Gründe, Tötungen moralisch verwerflich zu
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finden, und gerade deshalb sollte man nicht glauben, es gäbe nur eine einzige Rechtfertigung für das Tötungsverbot. Die moralphilosophische Untersuchung hat aber noch weitergehende Konsequenzen. Sie hat ja nicht nur ein ganzes Bündel von verschiedenen Gründen, aus denen man jemanden nicht töten darf, zum Vorschein gebracht, das Bündel deckt sich auch noch weitgehend mit dem Merkmalsbündel, zu dem die vorherige analytische Untersuchung der Begriffe von Leben und Tod geführt hat. Es sind ganz ähnliche Merkmale, die wir einerseits begrifflich mit dem Tod verbinden und die andererseits erklären, warum man uns nicht töten darf. Offenkundig vereint der Todesbegriff also nicht nur verschiedene begriffliche Merkmale, sondern gewinnt aus der Fusion dieser verschiedenen Merkmale seine besondere normative Bedeutung. Wenn man verstehen möchte, weshalb die Hirntod-Debatte bislang so ausweglos erschien und auf welche Weise sie sich vielleicht doch noch auflösen ließe, muss man diese eigentümliche begriffliche Konstellation näher untersuchen. Der Begriff des Todes ist, wie schon erwähnt, ein dicker Begriff. Kennzeichnend für einen dicken Begriff ist es, dass er einen deskriptiven Gehalt mit einem normativen Kommentar versieht. Das Standardbeispiel eines dicken Begriffs ist der Begriff der Lüge. Wer lügt, sagt etwas Unwahres. Damit eine Aussage aber eine Lüge ist, muss sie darüber hinaus (zumindest prima facie) verwerflich sein; und sie muss verwerflich sein, weil es die Unwahrheit ist, die gesagt wird. Jemanden einer Lüge zu bezichtigen, ist also ein negatives Werturteil plus dessen Begründung aus einem bestimmten deskriptiven Sachverhalt heraus, nämlich der Unwahrheit des Gesagten. Dasselbe gilt im Prinzip auch für den dicken Begriff des Todes: So, wie wir den Begriff normalerweise verwenden, verbindet er das Werturteil, dass ein Mensch in einer ganz anderen, erheblich reduzierten moralischen Situation ist als vorher (man darf plötzlich viel mehr mit diesem Menschen anstellen und ist ihm gegenüber zu viel weniger verpflichtet), mit einer Begründung dieses Werturteils, die es darauf zurückführt, dass sich auf der deskriptiven Ebene etwas geändert hat, was diese dramatischen moralischen Konsequenzen mit sich bringt. Akzeptiert man diese >dicke< Lesart des Todesbegriffs, dann kann man die Hirntod-Debatte besser verstehen und sieht auch, wo siegescheitert ist. Es ging in ihr darum, die Veränderungen auf der deskriptiven Ebene, aus denen sich der drastisch verringerte moralische Status ergibt, so genau wie möglich zu verstehen, um dann zu überA- XLVII
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prüfen, ob sie beim Hirntoten schon eingetreten sind oder nicht. Ist es der Verlust der Personalität, des Bewusstseins, gehört auch der äußere Anschein dazu, usw.? - Weil der Begriff des Todes aber anders als der der Lüge ein Bündelbegriff ist und weil die verschiedenen begrifflichen Merkmale, die sich in ihm bündeln, jedes für sich, eine große moralische Bedeutung haben, gibt es diesen einen deskriptiven Inhalt nicht, auf den sich das Werturteil stützen kann. Also ist es aussichtslos, mit seiner Hilfe entscheiden zu wollen, ob Hirntote noch unseren moralischen Status haben. Der Todesbegriff ist also irreführend, weil er suggeriert, dass es diese eine Veränderung gibt, aus der der moralische Umschwung erwächst, obwohl dafür eigentlich mehrere Veränderungen verantwortlich sind. Trotzdem haben wir gewöhnlich kein Problem mit der Verwendung dieses Begriffs. Das liegt daran, dass die ganze Geschichte der Menschheit hindurch und normalerweise auch heute noch das Leben eines Menschen dadurch endet, dass die verschiedenen Merkmale, die wir mit dem Leben verbinden, praktisch gleichzeitig verloren gehen. Das hat zur Konsequenz, dass sich die moralisch relevanten Verluste, die er erleidet, zu einem einzigen Verlust aufsummieren. So entsteht der Anschein, als gäbe es nur den einen Umschwung, die eine Schwelle, deren Überschreiten zu der dramatischen Änderung in unserem moralischen Status führt. Dieser Anschein ist die Basis für die ethische Annahme über den Tod. Mit der Entwicklung der Intensiv- und Transplantationsmedizin hat sich die Situation aber gewandelt, weil sich nun die Möglichkeit ergab, bei manchen Menschen, die auf den Intensivstationen liegen, die Sterbeprozesse fast nach Belieben zu entzerren, und weil zugleich die Notwendigkeit entstand, in diesem Zeitraum wichtige Entschlüsse zu fassen, z.B. zu entscheiden, ob man den Patienten weiter intensivmedizinisch behandeln muss oder ob man ihm Organe entnehmen darf. In einem solchen Behandlungsszenario lässt sich die Fiktion, es gäbe den einen Umschwung auf der deskriptiven Ebene, auf dem die ethische Grundannahme über den Tod beruht, nicht länger halten. Der dicke Bündelbegriff des Todes, der problemlos anwendbar ist, wenn alle moralisch relevanten Veränderungen praktisch zusammenfallen, passt nicht auf die moderne Intensivstation. Deshalb waren alle direkten Antworten auf das Hirntod-Problem zum Scheitern verurteilt. Es waren Versuche, den gewohnten, herkömmlichen Tod, mit dem wir so gravierende ethische Folgen verbinden, irgendwo in dem differenzierten und kontrollierten Sterben XLVIII
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in der modernen Medizin wiederzufinden. Wie die sprachphilosophischen und ethischen Reflexionen aber gezeigt haben, ist dies aussichtslos. Die überragende moralische Bedeutung des Todes, die sich in der ethischen Grundannahme über den Tod ausdrückt, verdankt sich der Fiktion eines einzigen Umschwungs auf der deskriptiven Ebene, und diese Fiktion lässt sich unter den Umständen, in denen sich die Hirntoten befinden, nicht aufrechterhalten. Zugleich zeigt sich aber auch, was problematisch an den indirekten Vorschlägen Birnbachers und Veatchs ist. Beide gehen davon aus, dass in dem Spielraum, der für eine pragmatische Festlegung des Todeszeitpunkts zur Verfügung steht, der entscheidende moralische Umschwung schon stattgefunden hat, so dass es im Grunde nur darum geht festzustellen, inwieweit es externe Gründe gibt, jemanden, der eigentlich die moralisch signifikante Schwelle schon überschritten hat, noch so zu behandeln, als hätte er einen besonderen moralischen Status. Akzeptiert man hingegen, dass ein dissoziiert hirntoter Patient jemand ist, dessen moralische Situation sich sowohl von einem gewöhnlichen lebenden Menschen wie auch von einer Leiche unterscheidet, weil erst ein Teil der moralisch signifikanten Veränderungen vor sich gegangen sind, andere noch nicht, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als diese moralischen Veränderungen für sich gesehen ernst zu nehmen. Pragmatische Gründe für eine Grenzziehung reichen unter diesen Umständen nicht aus. Stattdessen müssen wir uns ganz von der Vorstellung verabschieden, dass uns der vertraute dicke Begriff des Todes für die Frage, wie wir mit Hirntoten umgehen sollen, weiterhelfen kann. Bis hierhin teile ich die Auffassung Truogs: Es führt kein Weg daran vorbei, die Dead Donor Rule hinter sich zu lassen. Der entscheidende Unterschied zu Truog ist allerdings, dass es meines Erachtens darauf ankommt, eine Ethik des Hirntods zu entwickeln, die ganz auf den Todesbegriff verzichtet, während Truog der Meinung ist, dass man Hirntoten Organe entnehmen dürfe, obwohl sie noch nicht tot seien. Auch er geht also von einer ethischen Grundannahme über den Tod aus, nur dass für ihn die moralische Schwelle, die mit dem Tod verknüpft ist, nicht so hoch ist wie für viele andere Autoren. Deshalb muss er sich zu Recht vorhalten lassen, eine Form der fremdnützigen Tötung zu propagieren, mit all den Problemen und Gefahren, die sich daraus ergeben. Wenn aber der Begriff des Todes als dicker Bündelbegriff untauglich ist, uns aus den Aporien der modernen Medizin heraus zu helfen, A- XLIX
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dann können wir uns auch nur begrenzt auf den Begriff der Tötung verlassen. Jemanden zu töten heißt, ihn über die Schwelle zu befördern, von der in der ethischen Grundannahme über den Tod die Rede ist. Die Annahme einer solchen Schwelle ist aber, wie sich gezeigt hat, eine Fiktion, aufrechterhalten durch das kontingente Zusammenfallen von verschiedenen, moralisch relevanten Veränderungen. Also kann man sich ethisch auch nur dann auf den Tötungsbegriff verlassen, wenn es darum geht, das Bündel dieser Veränderungen hervorzubringen. Im Bereich des medizinisch ausdifferenzierten und kontrollierten Sterbens hilft die Rede von Tötungen genauso wenig wie die vom Tod. Wofür ich plädiere ist also, die Frage, ob und unter welchen Umständen man Menschen Organe entnehmen darf, als eine ethische Frage ernst zu nehmen, ohne darauf bauen zu können, sie dadurch beantworten zu können, dass man klärt, wann ein Mensch tot ist. Das heißt, wir müssen uns darüber klar werden, worauf unsere zwischenmenschlichen Ansprüche und Verpflichtungen beruhen und welche Konsequenzen dies hat, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, dessen Gehirn definitiv nicht mehr funktioniert. In diesem Sinne endet das Buch mit einem Plädoyer für eine moralphilosophische Transformation der Hirntod-Debatte in eine echte Ethik der Transplantationsmedizin, in der dann solche Gesichtspunkte wie das Recht auf den eigenen Körper, die Pflicht zur Hilfe gegenüber Anderen in Not, die Möglichkeit zu supererogatorischen Handlungen, die Rechte der Gesellschaft, den Einzelnen in Anspruch zu nehmen, aber auch die Bedeutung biologischen Lebens und der lebendigen Anmutung unseres Gegenübers für dasjenige, was wir mit ihm tun dürfen, im Mittelpunkt stehen. Eine solche Ethik könnte dann auch thematisieren, ob und inwieweit Explantationen nach Herzstillstand zulässig sind, ohne auf die intellektuellen Verrenkungen angewiesen zu sein, die, wie gezeigt, kennzeichnend für die Debatte um die DCD sind.
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Das war der Stand meines Nachdenkens zu dem Zeitpunkt als das Buch erschienen ist, ergänzt um die sprachphilosophischen Überlegungen, die mir damals noch nicht so deutlich waren. In diesem abschließenden Abschnitt möchte ich meine damalige Konzeption L
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aus heutiger Sicht um zwei Aspekte ergänzen, die zum einen helfen können, Missverständnisse zu vermeiden, und zum anderen meinen Lösungsansatz in breitere Diskussionskontexte einbetten. Beiden Aspekten gemeinsam ist, dass sie als Reaktionen auf ein Unbehagen verstanden werden können, das einen am Ende meiner Überlegungen beschleichen könnte. Allen philosophischen Argumenten zum Trotz, möchte man vielleicht sagen, scheint mein Lösungsvorschlag darauf hinauszulaufen, Menschen am Lebensende und möglicherweise auch andere Schwerkranke stärker in die Verfügungsgewalt ihrer Mitmenschen zu schieben. Wenn es keine klare Grenze mehr zwischen Leben und Tod gibt und man sich auch nicht mehr auf das Tötungsverbot berufen kann, dann scheint etwas von dem Respekt verloren zu gehen, der doch aus ethischer Sicht so wichtig ist, um den Einzelnen vor den Begehrlichkeiten der Institutionen zu schützen. Letztlich ist es aus Sicht meiner Konzeption eine Aufgabe der Ethik der Organtransplantation, diesen Befürchtungen Rechnung zu tragen. Sie muss deutlich machen, dass die Abkehr von der ethischen Grundannahme über den Tod gerade nicht bedeutet: Anything goes. Um das allerdings zu unterstreichen, möchte ich, wie gesagt, auf zwei weitere Aspekte meiner Konzeption eingehen, die über das, was im Buch steht, hinausgehen. Der erste betrifft noch einmal die ethische Grundannahme über den Tod, der zweite reflektiert die Lösungsstrategie als ganze. Die ethische Grundannahme über den Tod setzt sich, wie schon erwähnt, aus zwei Elementen zusammen: erstens der Annahme, dass das Leben etwas besonders Schützenswertes ist, und zweitens der Annahme, dass am Leben unser spezieller moralische Status hängt. Im Buch stand das erste Element im Vordergrund, die Ethik des Tötungsverbots. Was man sich nun aber fragen kann, ist, welche Konsequenzen meiner Dekonstruktion des Todesbegriffs für das zweite Element, für unseren moralischen Status hat. Zunächst scheint es naheliegend anzunehmen, dass entsprechend dem stufenweisen Verlust der Eigenschaften, die uns am Leben lieb und teuer sind, auch der moralische Status eines Menschen Stück für Stück verloren geht. Und dann sieht es so aus, als würde meine Konzeption darauf hinauslaufen, schwersthirngeschädigte Menschen als eine Art Menschen zweiter Klasse anzusehen, denen folglich nur ein verminderter Schutz zukommen würde. Das wäre, nicht zuletzt ~
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vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen an Kranken und Behinderten (S. 168), eine fatale Konsequenz. Tatsächlich liegt aber eine andere, ungleich attraktivere Schlussfolgerung viel näher. 32 Wenn sich die ethische Grundannahme über den Tod und mit ihr die Idee eines einzigen gewaltigen Abbruchs unserer moralischen Position in der Welt als unhaltbar erweist, dann gibt es keinen Grund mehr, an der Vorstellung festzuhalten, dass es überhaupt so etwas gibt wie einen moralischen Status, den wir eine Zeit lang besitzen, bevor er dann irgendwann verloren geht (so wie beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Club). Viel einleuchtender ist die Annahme, dass man mit uns moralisch umgehen muss, solange man überhaupt mit uns umgehen kann, das heißt solange es uns gibt. Was sich gegen Ende unseres Lebens und später dann, wenn wir nicht mehr leben, ändert, ist nicht unser Anspruch auf moralische Berücksichtigung, sondern dasjenige, was moralische Berücksichtigung jeweils heißt. Wenn ein Mensch tot ist, dann kann man ihm eben nicht mehr viel Gutes oder Böses tun. Wir sind zwar beispielsweise grundsätzlich verpflichtet, anderen Menschen keine Schmerzen zuzufügen, gegenüber einem Toten aber hat diese Verpflichtung offenkundig keine restriktive Kraft, weil der Tote gar keine Schmerzen mehr fühlen kann. Leichen haben nicht das Recht verloren, nicht gequält zu werden, das Recht hat nur keine praktischen Konsequenzen dafür, wie man sie behandeln darf. Der Apostel Paulus hatte also Unrecht, als er an die römische Gemeinde schrieb, dass »das Gesetz nur herrscht über den Menschen, solange er lebt« (S. 208). Für das Moralgesetz jedenfalls, das uns dazu verpflichtet, moralisch aufeinander Rücksicht zu nehmen, gibt es eine solche Einschränkung meines Erachtens nicht. Ein Vorteil dieser Sichtweise liegt darin, dass sie ein viel differenzierteres Bild erlaubt, wie man mit Menschen am Ende ihres Lebens umgehen sollte, als die Konzeption des moralischen Status. Man kann nicht nur zwischen Hirntoten und Leichen unterscheiden, also begründen, warum man Hirntoten unter Umständen Organe entnehmen darf, ohne sie deswegen auch schon obduzieren oder beerdigen zu dürfen, sondern auch beispielsweise, warum man an der Leiche zwar möglicherweise eine Sektion durchführen darf, es aber Diese Idee habe ich schon in meiner ersten Veröffentlichung zur Hirntodproblematik kurz angeschnitten, ohne sie aber weiter auszuführen R. Stoecker, »An den Grenzen des Todes - ein Plädoyer für die moralphilosophische Überwindung der Hirntod-Debatte«. 32
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dennoch fraglich ist, ob man sie auch für einen anatomischen Vergnügungspark plastinieren darf. Und vor allem kann man verständlich machen, dass der letzte Wille eines Menschen noch als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts moralisch bindend ist, obwohl der Mensch tot ist. Der zweite Vorteil der Idee, dass unser moralischer Status nicht mit dem Tod verloren geht, liegt darin, dass sie ausgezeichnet zu einer ethischen Konzeption passt, die in den letzten Jahren in Deutschland philosophisch zunehmend an Interesse gewonnen hat, der Konzeption der Menschenwürde. Die Würde des Menschen hat zwar in verschiedenen philosophischen Traditionen eine Rolle gespielt und steht zudem im Kern unserer Verfassung; trotzdem hat sich gerade die systematische und anwendungsorientierte Philosophie lange Zeit sehr schwer mit diesen Begriff getan und scheint sich erst in den letzten Jahren zunehmend für ihn erwärmen zu können. Zu groß waren bislang die Befürchtungen, dass der Begriff unrettbar polemisch und/oder religiös konnotiert sei. So verständlich diese Befürchtungen aber auch sind, so hat es sich doch gezeigt, dass eine ganze Reihe von substantiellen philosophischen Menschenwürdekonzeptionen denkbar sind, die einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Grundlagen der Moral leisten könnten (vgl. etwa die Beiträge in R. Stoecker, »Menschenwürde: Annäherung an einen Begriff«). Dabei sind in meinen Augen diejenigen Vorschläge am attraktivsten, die die Nähe zwischen der Menschenwürde und der uns alltäglich geläufigen, ungleich verteilten und beispielsweise durch Demütigungen beeinträchtigbaren kontingenten Würde ernst nehmen. 33 Akzeptiert man aber, dass die Würde des Menschen eng daran gekoppelt ist, dass Menschen entwürdigend, respektlos, demütigend behandelt werden können, dann wird schnell deutlich, weshalb das Lebensende zwar einen großen Wandel in den moralischen Ansprüchen eines Menschen mit sich bringt, aber keinen radikalen Abbruch seines moralischen Status. Einerseits bauen Erniedrigungen nicht selten darauf, dass das Opfer bestimmte Fähigkeiten und EigenschafIch habe diese Position in den letzten Jahren in verschiedenen Veröffentlichungen ausgearbeitet, u. a. in R. Stoecker, »Die Würde des Embryos «, R. Stoecker, »Menschenwürde und das Paradox der Entwürdigung«, R. Stoecker, »Dalla morte cerebrale alla dignita umana «, R. Stoecker, »Selbstachtung und Menschenwürde «, R. Stoecker, »Die Pflicht, dem Menschen seine Würde zu erhalten «, R. Stoecker, »Three Crucial Turns on the Road to an Adequate Understanding of Human Dignity«
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ten hat, z. B. Schmerzen erleiden, Angst empfinden, Dinge wahrnehmen, etwas wollen und nicht wollen kann. In dieser Hinsicht kann man Menschen, die all dies nicht mehr können, also nicht unwürdig behandeln. Andererseits kennt unsere Konzeption der individuellen Würde auch eine Vielzahl von Missachtungen, die keine entsprechenden Anforderungen stellen. Im Buch kommen zwei Beispiele vor (obwohl die Würde in dem Buch noch gar keine eigenständige Rolle spielt). Erstens wird der Abschnitt über die phänomenale Seite unserer Todeskonzeption mit einem Zitat von Albert Camus eingeleitet: »Aus dem leblosen Körper, auf dem eine Ohrfeige kein Mal mehr hinterlässt, ist die Seele verschwunden. « Das Zitat vereinigt zwei traditionelle Elemente unseres Würdeverständnisses: Beleidigungen und Stigmatisierungen. Jemandem eine Ohrfeige zu geben ist eine Beleidigung und damit ehrenrührig, ungeachtet der damit verbundenen Schmerzen, ja sogar dann, wenn der Betroffene sie gar nicht mitbekommt. So wie ein Fußballspieler auch dann den Schiedsrichter beleidigt, wenn er ihm hinter seinem Rücken einen Vogel zeigt, so bleibt eine Ohrfeige eine Würdeverletzung, auch wenn sie einem Bewusstlosen zugefügt wird. Und Stigmata wie die rote Wange des Geschlagenen stehen in einer uralten Tradition entehrender Körperzeichnungen, angefangen vom Kainsmal bis hin zur Tätowierung von KZ-Häftlingen. Auch solche symbolischen Entwürdigungen setzen nicht voraus, dass der Gedemütigte sie noch miterlebt. Das zeigt ganz deutlich das zweite Beispiel einer Demütigung, das ich in dem Buch bespreche, die Misshandlung der Leiche Hektors durch Achilles (S. 317-318). Die Schmach, die Hektor dadurch angetan wird, dass sein Körper durch den Schmutz gezogen und zerfetzt wird, anstatt ordentlich gewaschen und gekleidet aufgebahrt und verbrannt zu werden, ist völlig unabhängig davon, dass er selbst sie nicht miterlebt. Es ist eine Erniedrigung, die man einem Menschen auch noch nach seinem Tod zufügen kann. Nimmt man an, dass jeder Mensch, solange es ihn überhaupt gibt, eine Würde hat, aus der sich ein Anspruch auf Respekt ergibt, dann kann man gut daran festhalten, dass man einerseits viel weniger moralische Rücksicht gegenüber einem Toten nehmen muss als gegenüber einem Lebenden, dass es andererseits in bestimmter Hinsicht trotzdem geboten ist, sich ihm gegenüber moralisch richtig zu verhalten. Man muss ihm beispielsweise nicht länger ein Eigentumsrecht einräumen, sondern kann den Besitz anderen, lebenden Menschen übertragen, aber man darf es nicht nach Belieben machen, sonLIV
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dem muss normalerweise Rücksicht darauf nehmen, wie er es verteilt haben wollte. Ein weiterer Vorteil der Konzeption der Menschenwürde liegt darin, dass man das Gebot, die Menschenwürde zu achten, nicht als rein negative Verpflichtung verstehen sollte. Unter bestimmten Umständen erwachsen daraus auch positive Verpflichtungen, also moralische Gebote, sich aktiv um die betreffende Person zu kümmern. Diese positiven Verpflichtungen kommen vor allem dort zur Geltung, wo jemand zu schwach, krank, alt oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, selbst für seine Würde zu sorgen. Der Respekt vor seiner Würde gebietet es in diesen Situationen, ihm aktiv darin beizustehen, sie zu bewahren. Auch dieser Aspekt der Menschenwürde passt gut zu unserer üblichen Einstellung zum richtigen Verhalten angesichts des Todes. Denn ungeachtet der ethischen Grundannahme über den Tod gehen wir gewöhnlich davon aus, dass der Tod eines Menschen in bestimmter Hinsicht sogar zu einer Stärkung seiner moralischen Stellung führen kann: Angehörige müssen sich plötzlich um den Menschen kümmern, auch wenn sie es vorher nicht getan haben, sie müssen ihn beerdigen, seine Angelegenheiten erledigen, eventuell auch seinen Letzten Willen befolgen. Wer vorher vielleicht keine Zeit für eine Verabredung gehabt hätte, jetzt muss er sie sich für die Trauerfeier nehmen, und so weiter. Räumt man der Menschenwürde eine zentrale Stellung ein, dann hat dies auch plausible Konsequenzen für den Umgang mit Hirntoten. Erstens stärkt es sein Selbstbestimmungsrecht: Man versteht viel besser, warum es einen wichtigen moralischen Unterschied macht, ob der Patient seine Organe spenden will oder nicht, als wenn man annimmt, dass der Patient zum Zeitpunkt der Organentnahme gar keinen moralischen Status mehr hat. Zweitens richtet es das Augenmerk auch auf die weiteren Umstände der Organentnahme: Wenn Hirntote ebenso eine Würde haben, die es zu achten gilt, wie andere Menschen auch, dann ist es wichtig, dass sie die Gelegenheit haben, in Würde zu sterben (was immer das konkret heißen mag). Drittens schließlich fällt es leicht, der Vielfalt der kulturellen und religiösen Vorstellungen gerecht zu werden, auf die Veatch aufmerksam gemacht hat: Da es keine Schwelle gibt, an der der moralische Status endet, kann man mit der Vielfalt der Lebensführung am Lebensende ebenso tolerant umgehen wie in anderen Lebensphasen. Sowohl die Konzeption der Menschenwürde, auf die ich mich in diesen kursorischen Bemerkungen stütze, als auch die konkreten A- LV
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Schlussfolgerungen für die Organtransplantation und andere Aspekte des Umgangs mit hirntoten Menschen und Leichen bedürfen der weiteren Ausarbeitung. Trotzdem zeigen sie schon, weshalb die Abkehr von der ethischen Grundannahme über den Tod nicht etwa zu einem weniger respektvollen Umgang mit schwer kranken und sterbenden Menschen führen sollte, sondern dazu, einen Menschen grundsätzlich mit Achtung zu behandeln, solange es ihn gibt. Ich bin allerdings nicht sicher, ob diese Überlegungen ausreichen, die geschilderten Zweifel und Bedenken auszuräumen. Im Buch zitiere ich eine Reihe von Stellungnahmen führender Transplantationsmediziner (S. 207), die betonen, dass sie auf keinen Fall Organe entnehmen würden, wenn sie befürchten müssten, den Organspender dadurch zu töten. Gibt es jenseits dessen, was ich bislang ausgeführt habe, noch etwas, was man auf diese Befürchtungen entgegnen kann? An dieser Stelle kommt der zweite, grundsätzliche Aspekt meines Vorschlags zur Transformation der Hirntod-Debatte ins Spiel, seine mögliche Generalisierung auf andere Debatten in der angewandten Ethik. Dem Vorschlag liegt, wie gesagt, die Feststellung zugrunde, dass die Begriffe Leben und Tod sowohl dicke Begriffe als auch Bündelbegriffe sind und dass zudem die verschiedenen Merkmale in diesem Bündel jeweils einen Anteil an der normativen Dimension des Begriffs haben, weshalb man sich in den Grenzbereichen der Anwendung, zum Beispiel bei Hirntoten, nicht mehr auf die normativen Implikationen des Begriffs verlassen kann. Leben und Tod sind aber längst nicht die einzigen Begriffe, die diese beiden Eigenheiten miteinander verbinden. Ganz im Gegenteil, viele Kernbegriffe der angewandten Ethik bündeln verschiedene Merkmale, die offenkundig jeweils ein normatives oder evaluatives Gewicht tragen, aber nicht unbedingt alle vorliegen müssen, um den Begriff korrekt anzuwenden. Ein gutes Beispiel, an dem ich dies an anderer Stelle etwas ausführlicher erläutert habe, ist der Begriff der Krankheit. 34 Es gibt in der medizinischen Ethik eine lebhafte Debatte über die Frage, was Krankheiten sind. Verfechter biologischer Krankheitsverständnisse streiten mit Autoren, die sich eher am subjektiven Wohlbefinden, an den mit der Krankheit verbundenen Funktionsausfällen oder an der sozialen Rolle von Krankheiten orientieren. Gemeinsam ist allen 34
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Autoren aber, dass sie es für wichtig halten zu entscheiden, ob jemand krank ist. Schließlich können sich, wie wir alle wissen, unsere moralischen Rechte und Pflichten deutlich verändern, wenn wir krank sind. Wir haben dann möglicherweise Anspruch auf Schonung, können auf medizinische Hilfe hoffen, dürfen aber vielleicht auch nicht alles, was wir sonst dürfen. (Kinder müssen z.B. nicht, dürfen aber auch nicht in die Schule, wenn sie krank sind.) Betrachtet man nun unseren gewöhnlichen Krankheitsbegriff etwas näher, dann stellt sich schnell heraus, dass er die verschiedenen, konkurrierenden Merkmale aus der medizinethischen Debatte in sich bündelt und ebenso wie der Todesbegriff seine besondere normative Dimension aus den verschiedenen normativen Beiträgen dieser Merkmale aufsummiert. Dass wir davon ausgehen, dass es ethisch bedeutsam ist, ob jemand krank ist, liegt eben daran, dass dies normalerweise bedeutet, dass es ihm nicht gut geht, dass er nicht so leistungsfähig ist wie sonst und dass mit ihm physiologisch etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb hat der Begriff der Krankheit für uns ein so großes normatives Gewicht. Aber natürlich wissen wir alle, dass es Krankheiten gibt, die nicht alle diese Merkmale auf sich vereinen, zum Beispiel weil man sie (noch) nicht merkt oder weil ihnen nicht wirklich ein physiologischer Defekt zu Grunde liegt. Und außerdem gibt es zahllose Grenzfälle, z.B. Menstruation, Potenzstörungen im Alter, Hyperaktivität, Osteoporose, Minderwuchs. Wenn man nun aber wissen will, welche ethischen Konsequenzen sich daraus ergeben, dass sich jemand in einem dieser Zustände befindet (ob beispielsweise eine medizinische Behandlung von der Krankenkasse bezahlt werden sollte oder nicht), und wenn man voraussetzt, dass es dafür ausschlaggebend ist, ob es sich um eine Krankheit handelt (wie es beispielsweise im fünften Buch des Sozialgesetzbuchs vorgeschrieben ist (SGB V § 11)), dann steht man vor einem ganz analogen Problem wie dem, ob Hirntote schon tot sind oder nicht. Man weiß nicht, wo man die Grenze ziehen soll, und verstrickt sich in ausweglose Debatten zwischen Proponenten der verschiedenen mit dem Krankheitsbegriff verbundenen Merkmale. Offenkundig bietet sich aber auch eine Lösung analog zur Auflösung der Hirntod-Debatte an, die zudem den Vorteil hat, viel schneller einzuleuchten als im Falle des Hirntods: Um zu verstehen, wozu man in diesen Fällen moralisch verpflichtet ist, nützt es nichts zu erkunden, ob es sich um Krankheiten handelt oder nicht, man 1'r LVII
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muss sich vielmehr klarmachen, welche der typischen Krankheitsmerkmale jeweils vorliegen und welche normativen Implikationen sie mit sich bringen. Leidet der Patient beispielsweise, dann ergibt sich daraus prima facie eine Hilfsverpflichtung, unabhängig davon, ob das, worunter er leidet, eine Krankheit ist oder nicht. Wie Leben und Tod sind auch Gesundheit und Krankheit historisch gewachsene, mit vielerlei deskriptiven und normativen Konnotationen versehene Begriffe, die man in der modernen Medizinethik nicht überstrapazieren darf. Weil dies im Fall des Krankheitsbegriffs evidenter ist als bei Leben und Tod, stützt die Parallele am Ende auch umgekehrt meinen Vorschlag für die Auflösung der Hirntod-Debatte. Vor allem bestärkt es den Verdacht, dass es eine ganze Reihe weiterer Begriffe geben könnte, für die das gleiche gilt. Aussichtsreiche Kandidaten sind meines Erachtens beispielsweise Begriffe für enge verwandtschaftliche Beziehungen (Mutter-Kind), der Begriff des Willens und der Freiwilligkeit oder der Begriff der Natürlichkeit. Wenn diese Vermutung aber stimmt, dann müssen wir damit rechnen, dass beispielsweise die Debatten über die Ethik von Leihmutterschaft, Patientenverfügungen oder Enhancement ohne solche Fragen auskommen müssen wie die, ob die Leihmutter die eigentliche Mutter des Kindes ist, ob der Autor einer Patientenverfügung wirklich will, was er geschrieben hat, oder ob Konditionstraining natürlicher ist als Doping. Wie ich für die Hirntod-Debatte gezeigt habe, haben wir wahrscheinlich gar keine andere Wahl, als in diesen und ähnlichen Debatten die traditionellen dicken Begriffe hinter uns zu lassen. Diese Strategie hat allerdings einen Preis: Dicke Begriffe sind ein wesentlicher Ort unseres Common sense. Viele unserer moralischen Überzeugungen betreffen dicke Begriffe. »Kranken sollte man beistehen! «, »Ehre deine Eltern! « und eben auch: »Du sollst nicht töten! « - Die Empfehlung, die problematischen Fragen ohne diese Begriffe zu beantworten, beraubt uns also immer eines Stücks unserer moralischen Sicherheit. Diesen Verlust können die neuen, transformierten Fragen nicht aufwiegen. Die Überzeugungen, dass man den Willen eines Kranken berücksichtigen müsse, dass man sich nicht ohne Not über die Anmutung von Lebendigkeit hinwegsetzen dürfe, dass man einem Menschen schadet, wenn man ihm zukünftige Erlebnisse und Erfahrungen vorenthält, usw., bleiben in der Regel weit hinter der selbstverständlichen Gewissheit zurück, dass man einen Menschen einfach nicht töten darf, Punktum. LVIII
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Doch wie gesagt, es gibt keinen Weg zurück. Insofern ist auch das Anliegen der zitierten Transplantationsmediziner, sich weiterhin am traditionellen Tötungsverbot orientieren zu wollen, hoffnungslos antiquiert. Die modernen Technologien, gerade in der Medizin, aber wahrscheinlich auch in anderen Bereichen (wie etwa im Internet), stellen uns zunehmend vor Probleme, angesichts derer uns nichts anderes übrig bleibt, als uns aus dem Schutz der dicken Begriffe hervorzuwagen. Um sie zu lösen, müssen wir die inhärente moralische Überzeugungskraft der dicken Begriffe kompensieren, indem wir die flacheren, dünneren Begriffe, mit denen die transformierten Fragen hantieren, in eine insgesamt gesehen überzeugende ethische Theorie einbinden. Deshalb kann angewandte Ethik gar nicht anders als letztlich immer wieder auf die theoretische Ethik zurückzugreifen, zum Beispiel auf den Begriff der Menschenwürde. Es ist meine Hoffnung, dass dies auch für die zentralen ethischen Probleme am Ende des Lebens gelingt, insbesondere für die Ethik der Organtransplantation. 35
Ich möchte Jens Kulenkampff ganz herzlich für die kritische Durchsicht dieser Einleitung und viele inhaltliche Anregungen danken.
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Einleitung
»Was sich in den Klüftungen des Todes vollzieht, ist nicht nur ein äußerliches Geschehen. Nach meiner Überzeugung handelt es sich bei dem Sterben um einen physisch-metaphysischen Prozeß. Wir tun gut daran, mit unseren Definitionen zurückhaltend zu sein.« (MdB Otto Schily (SPD) in der Bundestagsdebatte am 25. 6.1997) Im Januar 1897 wurde im Repräsentantenhaus des Staates Indiana im Mittleren Westen der USA ein sensationeller Gesetzentwurf eingebracht. In diesem Entwurf wurden die Werte der Zahl PI und der Quadratwurzel aus 2 bestimmt. Das geschah auf verschiedene Weise, u. a. durch die Feststellung, daß Durchmesser und Umfang eines Kreises im Verhältnis 5/4 zu 4 stehen, PI also den Wert 3,2 einnimmt. Da der >Entdecker< dieser Zusammenhänge, ein Mr. Edwin Goodwin, dem Staate Indiana die kostenlose Nutzung seiner Forschungsergebnisse zugesichert hatte, wurde der Entwurf in allen drei Lesungen einstimmig beschlossen. Erst ein Mathematikprofessor, der zufällig bei der entscheidenden Lesung in der zweiten Kammer, dem Senat, anwesend war, verhinderte, daß das Gesetz endgültig verabschiedet wurde. Im April 1996 wurde im Deutschen Bundestag ein interfraktioneller Antrag eingebracht, in dem »Eckpunkte « für ein zu beschließendes Gesetz über die »Spende, Entnahme und Übertragung von Organen« formuliert wurden. 1 In diesem Antrag wurde unter anderem festgestellt, daß der sogenannte Hirntod, also der »endgültige, nicht behebbare Ausfall der gesamten Hirnfunktion« ein »sichere[s] Zeichen für den eingetretenen Tod« eines Menschen sei. Der Antrag wurde von 105 Abgeordneten unterstützt, darunter den Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU und SPD, sowie dem amtierenden Gesundheitsminister. Trotzdem entschied sich der Bundestag in der entscheidenden zweiten und dritten Lesung zum Transplantationsgesetz, aus der das Einstiegszitat von Otto Schily 1
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stammt, gegen diesen Antrag und gegen die darin ausgedrückte Behauptung, der Hirntod sei ein sicheres Zeichen für den menschlichen Tod. Niemand bezweifelt, daß der Senat von Indiana vor hundert Jahren gut daran getan hat, sich nicht auf die gesetzliche Festlegung von PI und ,./2 einzulassen. Es gab exzellente Gründe, die gegen das neue Gesetz sprachen. Erstens waren alle mathematischen Aussagen in dem Gesetzentwurf falsch, und ein Gesetz sollte natürlich keine falschen Behauptungen enthalten. Zweitens wäre auch eine zutreffende Beschreibung mathematischer Zusammenhänge kein geeigneter Gegenstand für ein Gesetz gewesen, denn ob PI eine rationale Zahl ist oder nicht, ist nicht etwas, was man normativ regeln kann, sondern etwas, was man herausbekommen muß. Drittens schließlich war der Ablauf der Gesetzgebung zu bemängeln, weil Politiker keine hinreichende Kompetenz haben, mathematische Fragen zu beurteilen, es also nötig gewesen wäre, Fachleute hinzuzuziehen. Auch der Deutsche Bundestag hat gut daran getan, den HirntodAntrag abzuweisen, und zwar aus denselben Gründen. Das ist das Ergebnis der folgenden philosophischen Untersuchung. Erstens stimmt es nicht, daß ein hirntoter Mensch tot ist, zweitens handelt es sich dabei nicht um eine rein normative Frage, und drittens hätte der Bundestag anerkennen müssen, daß es sich primär um eine philosophische Frage handelt, und sich deshalb um mehr philosophischen Sachverstand bemühen sollen, anstatt die Expertenanhörung hauptsächlich auf Mediziner, Juristen und Theologen zu beschränken. Ob Hirntote tot sind, ist eine philosophische Frage, und zwar sogar in einem doppeltem Sinn. Erstens muß man sie mit philosophischen Methoden beantworten, und zweitens braucht man die philosophische Perspektive, um einzuschätzen, was man überhaupt mit dieser Antwort erreicht hat. Denn wie sich herausstellen wird, liegt das eigentlich Rätselhafte der Hirntod-Debatte nicht darin, die richtige Antwort auf ihre Ausgangsfrage zu finden, sondern in der seltsamen Diskrepanz zwischen dieser Antwort und dem Engagement, mit dem diese Debatte geführt wird. Daß eine Frage so ausdauernd und verbissen debattiert wird, wie die, ob hirntote Menschen tot sind, kann verschiedene Gründe haben. Erstens kann es einfach daran liegen, daß die Frage sehr schwer zu beantworten ist. Ob das für die Hirntod-Debatte gilt, wird sich zeigen. Zweitens kann es daran liegen, daß die korrekte Antwort den 18
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Interessen der Kontrahenten so stark zuwiderläuft, daß sie sie nicht wahrhaben wollen. Das ist ein verbreiteter wechselseitiger Vorwurf zwischen Gegnern und Befürwortern der Hirntod-Konzeption, nach meinem Eindruck ist er jedoch in der Regel unbegründet. Drittens schließlich kann es aber auch sein, daß mit der Frage Konnotationen oder Erwartungen verbunden werden, denen die korrekte Antwort einfach nicht gerecht werden kann. Das, scheint mir, ist die beste Erklärung für den Verlauf der Hirntod-Debatte. Es spricht zwar, wie gesagt, vieles dafür, daß hirntote Menschen nicht tot sind, aber das seltsame Mißverhältnis zwischen den unspektakulären Gründen für diese Feststellung und der Verbissenheit, mit der um sie gerungen wird, läßt sich nur dadurch erklären, daß mit der Frage, ob ein hirntoter Mensch tot ist, Erwartungen verbunden werden, die diese Antwort nicht befriedigen kann. Eine angemessene Reaktion auf die Hirntod-Debatte kann sich deshalb nicht darauf beschränken, die Ausgangsfrage dieser Debatte zu beantworten, sie muß sich vielmehr der Frage selbst annehmen und klären, ob sie wirklich so gemeint ist, wie sie in aller Regel debattiert wird, oder wie man sie sonst verstehen sollte und welche Antworten man darauf geben könnte. Für Philosophen ist das eine vertraute Situation. Viele der großen, traditionellen philosophischen Fragen sehen zwar auf den ersten Blick klar und unschuldig aus, sind aber nur dann verständlich, wenn man bereit ist, die Fragestellung selbst in die Untersuchung einzubeziehen. Man muß Begriffsunterscheidungen treffen, nach der Motivation hinter der Frage suchen usw. bis man im günstigsten Fall zu einer Art Doppelergebnis gelangt, einer neuen, reformulierten Frage und der dazu passenden Antwort, sonst aber wenigstens zu einer Reihe derartiger Frage-Antwort-Paare, die verschiedenen Lesarten der ursprünglichen Frage entsprechen. In diesem Sinn führt eine philosophische Beschäftigung mit einem Rätsel also häufig nicht direkt zu dessen Lösung, sondern erst einmal zu seiner Transformation, d. h. einer Umwandlung der ursprünglichen Frage in eine oder mehrere Fragen, die an ihrer Stelle gestellt und beantwortet werden sollten. Dieser Strategie wird auch die vorliegende Untersuchung folgen. Sie beginnt zunächst direkt mit der Frage, ob ein hirntoter Mensch tot ist. Diese Frage ist für philosophische Verhältnisse extrem jung. Gegenstand des ersten Kapitels ist es deshalb, kurz die Entstehungsgeschichte der Frage nachzuzeichnen, um dann zu klären, inwiefern es sich dabei überhaupt um eine philosophische Frage ~
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handelt. Es ist eine philosophische Frage, so das Ergebnis, weil sie sich nur durch eine Untersuchung des Todesbegriffs beantworten läßt. Diese begriffliche Untersuchung beginnt im zweiten Kapitel. Zunächst stellt sich heraus, daß man nicht fragen sollte, ob Hirntote tot sind, sondern ob sie noch am Leben sind, denn es ist der Begriff des Lebens, der den des Todes, nicht der des Todes, der den des Lebens erklärt. Deshalb handelt der zweite Teil des zweiten Kapitels davon, ob ein lebendes Gehirn eine notwendige Bedingung dafür ist, daß ein Mensch lebt. Wie sich zeigt, stützt weder ein Lebensbegriff, der sich an der äußeren Erscheinung des Lebendigseins orientiert, noch der übliche, dynamische, noch auch der letztlich attraktivste morphologische Lebensbegriff dieses Urteil. In keinem Sinn ist ein hirntoter Mensch tot. Damit ist die Ausgangsfrage beantwortet, aber um so rätselhafter ist es, weshalb sich so viele Menschen darüber den Kopf zerbrochen haben. Es entsteht, wie angekündigt, der Eindruck, daß die Antwort, selbst wenn sie nicht falsch ist, wenig mit dem eigentlichen Anliegen der Hirntod-Debatte zu tun hat. Die erste, naheliegende Reaktion darauf ist der Verdacht, daß man es sich mit dieser Antwort zu einfach macht, weil man in ihr nicht zwischen dem Leben des Körpers und dem des Menschen unterscheidet. Das dritte Kapitel nimmt diese prima facie einleuchtende, beim näheren Hinsehen aber befremdliche Differenzierung zwischen Mensch und Körper zum Anlaß, näher auf die historischen Ursprünge dieser Dichotomie einzugehen. Ein kursorischer Durchgang durch die wichtigsten Schritte dieser Entwicklung in der griechischen und römischen Antike nährt den Verdacht, daß der Begriff der Seele in seiner Doppelrolle, sowohl für das Belebende wie für den Sitz des Mentalen zu stehen, dafür verantwortlich ist, daß eine rein biologische, auf die körperlichen Abläufe beschränkte Erklärung des Lebens unserem modernen Lebens- und Todesbegriff nicht vollständig gerecht wird. Irgendwie steckt in unseren Köpfen immer noch die Idee von einer vernünftigen Seele, die den Menschen am Leben erhält, um ihn dann im Tode zu verlassen. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß unser Todesbegriff doppeldeutig ist, also sowohl für das Ende des biologischen, wie auch für das Ende des mentalen Lebens stehen kann, und daß es in der Hirntod-Debatte eigentlich um die Frage gehe, ob mit dem Hirntod der Tod im zweiten Sinne eingetreten sei. Im vierten Kapitel wird deshalb untersucht, ob sich die Annahme eines solchen zweiten To20
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des, neben dem biologischen, halten läßt, ob man einen Menschen also auch dann als tot bezeichnen sollte, wenn er aufhört, eine (wie es dort heißen wird) metaphysische Person zu sein. Im ersten Teil des Kapitels zeigen sich die Schwierigkeiten, denen diese Annahme ausgesetzt ist, im zweiten Teil werden dann zwei Argumente diskutiert, die angeblich keine andere Wahl lassen, als den Tod am Ende des personalen Lebens anzusiedeln. Beide Argumente erweisen sich aber als nicht stichhaltig, es gibt keinen personalen neben dem biologischen Tod. Trotzdem bleibt der Verdacht bestehen, daß das zweite Kapitel an der eigentlichen Frage vorbeigegangen ist. Im fünften Kapitel wird dieser Verdacht durch die Feststellung untermauert, daß der Tod eine eminente normative Rolle spielt. So gut wie alle Beteiligten an der Hirntod-Debatte gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß mit dem Tod ein drastischer Umschwung in den ethischen Beziehungen eines Menschen zu seiner Umwelt stattfindet, ein Umschwung, der darin besteht, daß man, sobald ein Mensch tot ist, viel weniger für ihn tun muß und sehr viel mehr mit ihm anstellen darf als zuvor. Deshalb ist keine Analyse des Todesbegriffs befriedigend, die dieser ethischen Grundannahme über den Tod keinen Platz einräumt. Am einfachsten wäre es, sie dadurch zu integrieren, daß man sie als Teil der Bedeutung des Todesbegriffs betrachtet, diesen also als einen normativen Begriff versteht. Doch damit würde die für die Hirntod-Konzeption maßgebliche Hoffnung zunichte gemacht, im Totsein Hirntoter eine Rechtfertigung für medizinische Maßnahmen (insbesondere die Entnahme von Spenderorganen) zu finden. Attraktiver aus Sicht der Befürworter der Hirntod-Konzeption ist deshalb die Idee, daß es möglicherweise eine Eigenschaft gibt, die zu Lebzeiten für die moralische Stellung eines Menschen in der Welt (für seine moralische Personalität) verantwortlich ist, und deren Verlust im Tod den ethischen Umschwung erklärt. Wenn sich dann nämlich noch zeigen ließe, daß ein Mensch diese Eigenschaft auch schon verloren hat, sobald das Gehirn abgestorben ist, dann hätte man einen guten Grund, dem biologischen einen moralischen Todesbegriff gegenüberzustellen und den Hirntod als Tod im moralischen Sinn anzuerkennen. Was für eine derartige Unterscheidung zwischen moralischem und biologischem Tod spricht, ist, daß allein die Eigenschaft, biologisch am Leben zu sein, sicher nicht hinreicht, um die ethische Grundannahme über den Tod zu rechtfertigen. Im Hauptteil des A- 21
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Einleitung
fünften Kapitels werden deshalb drei andere Eigenschaften diskutiert, auf denen unsere moralische Personalität eher beruhen könnte: die Fähigkeit, Freude und Leid zu empfinden, die Fähigkeit, Wünsche zu haben, und schließlich die Anfälligkeit für Schädigungen. Wie sich aber zeigt, bietet keine dieser Eigenschaften eine tragfähige Grundlage für die moralische Personalität. Der Grund liegt jeweils darin, daß man einen unbezweifelbaren Kern unserer moralischen Stellung nicht befriedigend aus diesen Eigenschaften erklären kann, den moralischen Schutz vor dem Getötetwerden. Nur eine Eigenschaft, die eine gute Rechtfertigung für das Tötungsverbot liefert, kann beanspruchen, die Basis unserer moralischen Personalität zu bilden, doch eben dies leisten die genannten Eigenschaften nicht. Die Diskussion dieser Eigenschaften war gleichwohl nicht vergeblich. Auch wenn sich gezeigt hat, daß die Eigenschaften nicht die ganze Basis moralischer Personalität bilden, so bleibt die Feststellung, daß es höchst plausibel ist, in ihnen einen Teil der Grundlage unserer Stellung in der Welt zu sehen. Das aber nährt den Verdacht, daß etwas mit der Prämisse nicht stimmt, der zufolge wir überhaupt so etwas wie eine moralische Personalität haben, die uns ein Leben lang begleitet, bis sie mit dem Tod schlagartig verloren geht. Viel einleuchtender ist die Vermutung, daß es eine ganze Reihe von Eigenschaften gibt, denen wir unsere moralische Stellung zu verdanken haben. Nur weil ein Mensch diese Eigenschaften normalerweise hat, bis er stirbt, und weil die verbleibende geringe Zeitspanne zwischen dem Verlust der einzelnen Eigenschaften bis in dieses Jahrhundert hinein moralisch belanglos war, erscheint uns die ethische · Grundannahme über den Tod so plausibel und selbstverständlich. In Wirklichkeit aber, so das Fazit des abschließenden sechsten Kapitels, bietet sie nur eine kontingente Faustregel für normale Todesfälle und ist damit weder ausnahmslos, noch notwendigerweise gültig. Insbesondere läßt sich die ethische Grundannahme nicht für die brisanten Entscheidungen im Rahmen der Intensivmedizin heranziehen, wie z.B. die, ob man jemandem ein lebenswichtiges Organ entnehmen darf oder nicht. Denn diese Entscheidungen fallen ja gerade dann, wenn sich der Patient in einem jener, durch die moderne Medizin aufgefächerten und entzerrten Zwischenstadien befindet, in denen er einige seiner ethisch relevanten Eigenschaften schon verloren hat, andere noch nicht. Weil hier aber die ethische Grundannahme über den Tod nicht weiterhilft, nützt es auch wenig zu fragen, ob der Patient schon tot ist oder nicht. Was man statt dessen wissen muß ist, 22
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Einleitung
welche der ethisch relevanten Eigenschaften durch den anstehenden Eingriff berührt werden und wie sich daraus eine Gesamtbewertung des Eingriffs ergibt. Kurz, man braucht eine Ethik der betreffenden medizinischen Behandlungen, vor allem eine Ethik der Organverpflanzung, und keine Hirntod-Debatte. Damit ist das Ende des Buches erreicht. Wie eine Ethik der Organverpflanzung aussehen müßte und welche Konsequenzen sich daraus für die Behandlung Hirntoter ergeben, ist nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung. Allerdings finden sich eine ganze Reihe von dafür relevanten Überlegungen schon eher beiläufig im Rahmen der verschiedenen Versuche, eine Basis für unsere moralische Personalität zu finden. Hier weiterzuarbeiten ist das eigentliche Hirntod-Problem in der medizinischen Ethik.
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1 Die Hirntod-Debatte
»Die Grenzen, die das Leben vom Tode scheiden, sind besten Falles schattenhaft und vag. Wer könnte sagen, wo das eine endet und wo das andere beginnt?« (Edgar Allan Poe, »Das vorzeitige Begräbnis«)
Thema des ersten Kapitels ist die Frage, worum es überhaupt in der Hirntod-Debatte geht und wie es zu dieser Debatte gekommen ist.
1.1 Was geschieht, wenn ein Mensch stirbt?
Es ist sinnvoll, die Untersuchung, worum es in der Hirntod-Debatte geht, mit einer Klärung zu beginnen, worum es nicht geht. Weitgehend unstrittig ist, was geschieht, wenn jemand stirbt. Es gibt unzählig viele verschiedene Weisen zu sterben. Aber von wenigen Ausnahmen abgesehen (etwa wenn man in einen tätigen Vulkan fällt oder von einer Bombe in tausend Stücke gerissen wird), verläuft es stets nach demselben Muster: Aus irgendeinem Grund unterbleibt die regelmäßige Versorgung der Körperzellen mit Sauerstoff, entweder weil die Atmung gestört ist oder weil das Herz versagt, weil das Blut seine Transportfähigkeit oder weil das Gehirn seine Steuerfunktion verliert. Die Zellen halten diesen Sauerstoffmangel eine Zeit lang aus, in der sie ihren Stoffwechsel immer weiter reduzieren. Doch schließlich sterben sie ab, zuerst, nach einigen Minuten die Großhirnzellen, die den höchsten Energiebedarf und die geringsten Energiereserven haben, dann die Zellen der übrigen Hirnpartien, nach ein bis zwei Stunden die Zellen der großen Organe und so weiter, bis hin zu den Knochen- und Bindegewebszellen, die die Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr tagelang überleben können. (Diese Prozesse verstärken sich z. T. wechselseitig, beispielsweise wenn im Gehirn die Schwellung, die durch den Tod eines Teils der Zellen hervorgerufen wird, die möglicherweise noch bestehende Blutversor24
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Was geschieht, wenn ein Mensch stirbt?
gung abschnürt und so den Tod weiterer Zellen beschleunigt.) 1 Parallel dazu entwickeln sich einige Stunden nach dem Zusammenbruch des Kreislaufs die ersten traditionellen Todeszeichen. Der Körper kühlt ab, das Blut sammelt sich in tieferliegenden Körperregionen und bildet Leichenflecken, die Muskulatur wird starr. Die abgestorbenen Zellen fangen an, sich aufzulösen und durch das Eindringen von Bakterien zu faulen. Der Körper verwest. Dieser Ablauf, den man als den Absterbeprozeß des Menschen bezeichnen kann, ist der Medizin schon längst in vielen Details bekannt. 2 Die Medizin hat auch eine Reihe von (allerdings uneinheitlich verwendeten) Bezeichnungen für die verschiedenen Stadien des Absterbens entwickelt: Das Sterben beginnt mit der Agonie, dem Todeskampf, in dem die Körperfunktionen zunehmen schwächer werden und versagen. Wenn Atmung und Pulsschlag so gut wie nicht mehr wahrnehmbar sind, setzt die letzte Phase der Agonie ein, die Vita minima oder Vita reducta. Sind Atmung und Herztätigkeit ganz zum Stillstand gekommen, dann ist der Mensch klinisch tot, selbst wenn eine Reanimation, also die Wiederherstellung von Atmung und Herztätigkeit, noch möglich ist. Die sich daran anschließende Phase bis zum Absterben der letzten Zellen wird als »intermediäres Leben« bezeichnet.3 In der Hirntod-Debatte geht es also nicht um ein besseres Verständnis des menschlichen Absterbeprozesses. Worum es statt dessen geht, kann man in erster Annäherung sagen, ist die Frage, wo in diesem Prozeß die Grenze des Todes liegt und ob ein hirntoter Mensch sie schon überschritten hat oder nicht. Offenkundig kann man den Absterbeprozeß in allen Einzelheiten kennen, ohne in der Lage zu sein, diese Frage zu beantworten. Weniger klar ist allerdings, inwiefern es überhaupt eine gute Frage ist. Zum einen liegt es nahe, statt dessen Edgar Allan Poe beizupflichten, daß die Grenzen zwiEine ausführliche Beschreibung der verschiedenen Arten zu sterben gibt Sherwin Nuland in seinem Buch Wie wir sterben. Die Vorgänge im Gehirn beschreibt z.B. Hilmar Prange in dem (irreführend betitelten) Aufsatz »Ist hirntot wirklich tot ?«. 2 Es ist nicht schön, vom > Absterben< eines Menschen zu reden. Ich wähle trotzdem diesen Ausdruck, anstelle des üblichen Wortes »Sterben«, um deutlich zu machen, daß nicht allein der Prozeß bis hin zum Tode gemeint ist. Das Verhältnis zwischen Tod und Sterben wird weiter unten im zweiten Kapitel Thema sein. 3 Es gibt viele rechtsmedizinische Darstellungen der verschiedenen Stadien des Absterbeprozesses. Eine knappe, auf das Problem dieser Untersuchung zugeschnittene gibt Dieter Patzelt in »Die Hirntodproblematik aus rechtsmedizinisch-biologischer Sicht«.
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sehen Leben und Tod »schattenhaft und vag« seien, eine genaue Lokalisierung des Todes also wenig Aussicht auf Erfolg verspricht, und zum anderen ist es alles andere als selbstverständlich, selbst wenn man die Frage prinzipiell für sinnvoll hält, daß sie ein Gegenstand der philosophischen und nicht bloß der medizinischen Forschung sein sollte. Die Untersuchung beginnt deshalb im ersten Kapitel mit einem historischen Rückblick, der die Motive hinter dieser Frage erläutern soll, und daran anschließend mit einer methodischen Klärung der Möglichkeiten und Grenzen, sie zu beantworten.
1.2 Das »Herz-Lungen-Zeitalter« »[T]here never was a Golden Age of Hearts and Lungs « (Martin Pernick, »Back from the Grave«)
Modeme Stellungnahmen zum Thema Tod und Todesdefinition beginnen häufig mit der kurzen historischen Feststellung, daß bis vor einigen Jahrzehnten die Frage, wann jemand tot sei, keine Probleme bereitet habe. Tot sei ein Mensch genau dann gewesen, wenn sein Herz stillgestanden und die Atmung aufgehört hat. Dabei wird unterschlagen, wie stark die Frage, wann jemand tot sei, schon früher die Neugier der Forscher und die Ängste der Menschen beschäftigt hat. Wenn man aber verstehen will, worum es bei der heutigen Hirntod-Debatte geht, dann ist es aufschlußreich, sich zuvor klarzumachen, welches Interesse früher hinter dieser Frage stand, und inwiefern die heutige Situation neu ist. Bereits die Ärzte der Antike wußten eine Menge über den Tod. Ihnen war bekannt, daß der Tod häufig schrittweise eintritt, daß also die verschiedenen Organe zu unterschiedlichen Zeiten absterben, und daß bestimmte Organe dabei eine maßgebliche Rolle spielen. Der bis in die Neuzeit hinein autoritative griechisch-römische Arzt Galenos von Pergamon (Galen) unterschied drei Wege, auf denen der Tod in den Körper gelangen kann, über das Herz, das Gehirn und die Lungen. Er bezeichnete diese Organe deshalb als Eintrittspforten des Todes (atria mortis). Aber woran die antiken Ärzte interessiert waren, war nicht so sehr die Frage, wann genau ein Mensch tot, sondern wann er vom Tode gezeichnet war. Denn anders als viele moderne Mediziner (und Patienten) sahen es die antiken und auch mittelalterlichen Ärzte als 26
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ihre Pflicht an, sich von einem sterbenden Menschen zurückzuziehen, allenfalls ihm die Agonie zu erleichtern und ihm ansonsten eine angemessene Todesvorbereitung zu gestatten. 4 Die ärztliche Aufgabe endete nicht mit dem Tod, sondern dann, wenn eine Krankheit als tödlich diagnostiziert wurde. (Deshalb nehmen beispielsweise in Hippokrates' bekannter Schrift Prognostikon diagnostische Hinweise auf den nahen Tod einen großen Raum ein. Hippokrates' Beschreibung des Todgeweihten war dabei so genau, daß die Kenntnis der Facies hippocratica bis heute zum medizinischen Grundwissen zählt. 5 ) Die moderne naturwissenschaftliche Erforschung des Todes setzte im 18. Jahrhundert ein. 6 Sie folgte dem in der Aufklärung verbreiteten Interesse am Leben und seinen funktionalen Zusammenhängen, zugleich war sie aber das Produkt einer drastischen Veränderung der Einstellung der Menschen zum Tod. Es entstand das Ideal des natürlichen Todes (im hohen Alter und ohne vorherige Gebrechen) und damit einhergehend die Angst vor dem unzeitigen, unnötigen Tod, sowie die Hoffnung, daß es die Mittel der sich entwikkelnden Medizin ermöglichen könnten, dies zu verhindern. Ihren spektakulären Ausdruck fand dieser Umschwung in einer Sorge, die im 17. Jahrhundert erstmals auftrat: der Angst, als Scheintoter lebendig begraben zu werden. Zwar war bereits den antiken Ärzten bekannt, daß bestimmte Krankheiten dazu führen können, daß der Patient lebt, aber keine erkennbaren Lebenszeichen mehr Einen Überblick über das antike Wissen von den Sterbeprozessen und die therapeutische Haltung des antiken Arztes angesichts des Todes geben Helene Sehadel, Thanatos, und Hans-Martin Culmann, Zur Geschichte der Todesauffassung des Arztes im europäischen Raum, S. 53 ff. Vgl. auch Martin Pernick, »Back from the Grave«, S. 20 und Fridolf Kudlien, »Der antike Arzt vor der Frage des Todes«. Oie zurückhaltende therapeutische Einstellung beschränkte sich nicht auf die griechische oder römische Medizin, sondern wurde von allen antiken Ärzten geteilt (vgl. Antje Krug, Heilkunst und Heilkult, S. 120f.). Daß sich diese Einstellung bis ins 15. und 16. Jahrhundert gehalten hat sagt Ivan Illich in »Tod kontra Tod«, S. 193. 5 Das Prognostikon ist eine der wenigen Schriften im Corpus Hippocraticus, die mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich von Hippokrates von Kos oder zumindest zu seinen Lebzeiten verfaßt wurden (vgl. Krug, Heilkunst und Heilkult, S. 44, und vor allem Karl-Heinz Leven, »Die Erfindung des Hippokrates«). Oie Beschreibung des Todgeweihten, auf die sich die Bezeichnung »facies hippocratica« stützt, findet sich ganz zu Anfang (S. 125). 6 Vgl. Erwin Ackerknecht, »Death in the History of Medicine«, S. 19ff„ Pernick, »Back from the Grave«, S. 20 f. und insgesamt zu diesem Thema Philippe Aries, Geschichte des Todes, Kapitel 8 und 9.
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von sich gibt. 7 (Es gab damals auch schon Mittel, solche Patienten wiederzuerwecken - Riechsalz z. B. - , und vor allem existierten eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen gegen die irrtümliche Bestattung von scheintoten Menschen.) Aber erst seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts sahen die Menschen im Scheintod einen Anlaß zu ernsthafter Sorge, so daß es testamentarische Vorkehrungen gegen das lebendig Begrabenwerden gab. Im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert nahm diese Sorge dann vor allem in Deutschland und Frankreich hysterische Züge an. Zahlreiche medizinische und mehr oder minder literarische Darstellungen des Scheintods und der Gefahr, bei lebendigem Leibe beerdigt zu werden, erschienen (nicht zuletzt 1844 die eingangs zitierte Erzählung Edgar Allan Poes und 1839 Poes berühmtere Geschichte The Fall of the
Hause of Usher) . Eine der Ursachen für die Scheintod-Hysterie lag in den praktischen medizinischen Fortschritten, vor allem auf dem Gebiet der Reanimation. Von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an wurden Techniken der Atemspende entwickelt und schnell verbreitet. Zur selben Zeit begannen Versuche, Patienten mit Elektroschocks wiederzubeleben, und auch andere (z. B. chemische) Reanimationsverfahren wurden erfunden. So konnte der Eindruck entstehen, daß es nur eine Frage der richtigen Technik sei, viele vermeintlich gestorbene Menschen wieder ins Leben zurückzuholen. 8 Doch dieser Eindruck führte nicht (wie es aus heutiger Sicht naheliegen würde) zu einer dramatischen Verlängerung des medizinischen Kampfes um das Leben des Sterbenden, sondern zu einer Verhaltensänderung auf der anderen, der postmortalen Seite, nämlich zu einem sorgfältigeren Umgang mit den Toten. Die Angst vor dem Scheintod bezog sich nicht so sehr darauf, eine mögliche Wiederbelebungsmaßnahme versäumt zu haEine ausführliche und sehr anschauliche Aufzählung solcher Fälle von Scheintoten findet sich in der kurz nach der Zeitenwende verfaßten Historia Naturalis von Plinius (C. Plinius d. Ä., Naturkunde, Buch VII, 53). Der bekannteste antike Bericht über einen Scheintoten ist Platons Mythos vom Krieger Er am Ende des Staates, der vom Schicksal der Seelen nach dem Tode erzählt. Die Deutung als Scheintod-Bericht gibt Olof Gigon, Hauptproblem e der antiken Philosophie, S. 233. 8 Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die ausgiebige Erforschung der verschiedenen Erkrankungen, die den Anschein des Todes erwecken können (Ohnmacht, Koma, Starrkrampf, Trance), und er wurde durch die Entdeckung gestützt, daß in der Tier- und Pflanzenwelt Zustände ausgesetzten Lebens durchaus weit verbreitet sind, daß z.B. Samen und Einzeller lange Perioden eines todesähnlichen Zustands überdauern können, um danach ersichtlich ins Leben zurückzukehren. 7
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ben, sondern darauf, einen vermeintlich Gestorbenen in einer grausigen self-fulfilling prophecy durch vorschnelles Handeln eigenhändig und unter schaurigen Begleitumständen zu töten. Daß dies der Gegenstand der Scheintod-Angst war, belegt die gebräuchlichste Maßnahme gegen den Scheintod, das Aufbahren der Leiche.9 Als Mittel, einen noch nicht Toten zu reanimieren, ist das sicher wenig tauglich, als Vorsichtsmaßnahme gegen das versehentliche Töten eines Scheintoten dagegen gut geeignet. 10 Dasselbe gilt nun auch für die Anstrengungen zugunsten einer qualitativen Verbesserung der Diagnose des Todes. Sie war ein anderer Weg, das Töten eines Scheintoten auszuschließen - nicht indem man so lange wartet, bis ein Wiedererwachen sicher ausgeschlossen ist, sondern indem man Anzeichen findet, die dies garantieren. 11 Es waren also (neben der reinen wissenschaftlichen Neugier) zwei Interessen, die die Menschen veranlaßt haben, sich zu fragen, wann ein Mensch tot ist: Hippokrates und seinen mittelalterlichen Nachfolgern ging es vor allem darum zu klären, wann der Zeitpunkt gekommen war, ihre Bemühungen, den Patienten zu kurieren, einzustellen. Die Menschen des 18. Jahrhunderts und die Zeitgenossen Poes wollten dagegen in erster Linie wissen, wann der Zeitpunkt ge' In einigen europäischen Staaten, darunter Deutschland und Frankreich, entstanden im neunzehnten Jahrhundert zu diesem Zweck sogar bewachte Leichenhallen, in denen die Aufgebahrten mit Glocken versehen waren. Daneben wurden private Grabstätten und Särge mit einer phantasievollen Fülle von Mechanismen ausgestattet, die es einem im Grabe Erwachten ermöglichen sollten, sich bemerkbar zu machen bzw. aus eigener Kraft seine verfrühte Ruhestätte zu verlassen. (Poes zitierte Erzählung ist hier voller Details.) Das Aufkommen von Leichenhallen diente allerdings nicht nur der Vorbeugung gegen das lebendig Begrabenwerden, sondern auch der hygienischeren Zwischenlagerung der Leichen, deren schädliche Ausdünstungen gefürchtet wurden. (Vgl. dazu und generell zu der radikalen Veränderung der Einstellung zu Leichen, die im achtzehnten Jahrhundert stattgefunden hat, Franz Bauer, »Von Tod und Bestattung in alter und neuer Zeit«.) 10 Noch deutlicher ist dieser Zweck bei einem anderen, allerdings weniger gebräuchlichen Typ von Präventivmaßnahmen. Sie dienten nicht dazu, die Chance zu erhöhen, einen etwaigen Scheintod doch noch zu entdecken, sondern sorgten dafür, daß ein vermeintlich Toter auch wirklich tot war, also jedenfalls nicht in die entsetzliche Situation geriet, qualvoll im Sarg ersticken zu müssen. Maßnahmen dieses Typs bestanden im wesentlichen darin, dem Leichnam eine sicher tödliche Verletzung zuzufügen, ihm z.B. eine Nadel durch das Herz zu stechen oder ihn zu obduzieren. 11 Um in einer Gesellschaft vorzeitige Begräbnisse zu verhindern, war es allerdings nicht so wichtig, den Tod möglichst exakt zu lokalisieren, es mußte vielmehr sichergestellt werden, daß überhaupt eine Diagnose durchgeführt wurde. So kam es zu der gesetzlichen Verpflichtung, den Tod durch einen Totenschein bestätigen zu lassen und dadurch jedenfalls eine sorgfältige medizinische Untersuchung zu gewährleisten.
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kommen war, die Leiche den üblichen Verrichtungen zu unterziehen. Erstere wollten wissen, bis wann sie versuchen sollten, den Lebenden zu heilen; letztere wollten wissen, ab wann sie den Toten beerdigen (oder sezieren etc.) durften. Man kann es auch so sagen: Den einen kam es darauf an, bis wann sie etwas für den Menschen, den anderen ging es darum, ab wann sie etwas mit ihm machen konnten. Beide Interessen erklären nicht nur die Beschäftigung mit der Lokalisation des Todes, sondern auch ihr Abflauen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einigten sich die Mediziner auf eine Lokalisierung des Todes, die beide Interessen hinreichend befriedigte 12 : Ein Mensch ist tot, wenn seine Herztätigkeit und Atmung unwiderruflich ausgefallen sind. Das ist die Herztod-Definition des Todes, die bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts unangefochten das medizinische Bild des Todes bestimmte. Diese Definition befriedigte erstens das Interesse der Ärzte zu erfahren, bis wann sie ihre therapeutischen Bemühungen um den Patienten fortzuführen hatten, denn anders als ihre hippokratischen Vorläufer sahen die Ärzte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Aufgabe darin, so lange es irgend möglich war, und das heißt: »bis zum letzten Atemzug«, um das Leben des Patienten zu kämpfen. 13 Erst wenn dieser Kampf definitiv verloren war, hatte der Arzt Anlaß, sich zurückzuziehen.14 Definitiv verloren war der Kampf aber dann, wenn auch das letzte Mittel versagte, nämlich die WiederEs mag andere, standespolitische Gründe gegeben haben, die ebenfalls eine Rolle bei der Verdrängung dieser Frage gespielt haben. Das noch recht junge Monopol der Ärzte auf die Feststellung des Todes vertrug sich schwer mit einer anhaltenden Debatte über die Lokalisation des Todes. (Derartige Motive sind vermutlich auch heute wieder mit dafür verantwortlich, daß sich so viele Mediziner schwer tun, die Hirntod-Konzeption ernsthaft zur Diskussion zu stellen.) 13 Diese Entwicklung im Selbst- und auch Fremdverständnis der Ärzte läßt sich gut durch den Vergleich bildlicher Darstellungen des Verhältnisses zwischen Tod und Arzt aus verschiedenen Epochen belegen (z.B. in Exlibris und Karikaturen). Der erbitterte Kampf zwischen Arzt und Tod um das Leben des Patienten taucht erstmals Ende des 19. Jahrhunderts als Bildmotiv auf, ist dann aber bald ein beliebtes Sujet. In den Darstellungen früherer Jahrhunderte ist der Arzt zwar ebenfalls häufig mit dem Tod abgebildet, aber er ist nie Streiter, sondern z. B. selbst Opfer (zumindest Opfer spöttischer Geringschätzung), Zuschauer oder gar Handlanger. Vgl. Illich, »Tod kontra Tod«, S. 200, Hans Schadewald, »Totentanz und Heilberufe«, S. 67. Eine illustrative Sammlung bildlicher Darstellungen des Arzt-Tod-Verhältnisses bietet Werner Block, Der A rzt und der Tod. 14 Es versteht sich von selbst, daß diese Bemerkungen das Verständnis, nicht die soziale Realität betreffen. 12
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herstellung der Atmung und des Blutkreislaufs (durch Reanimation). Waren diese beiden unwiderruflich ausgefallen, dann blieb dem Arzt nichts mehr zu tun übrig. 15 Zweitens war durch den Hinweis auf den unwiderruflichen Ausfall der Herz-Lungen-Tätigkeit auch das Interesse befriedigt zu erfahren, ab wann man sicher sein konnte, eine Leiche vor sich zu haben. Denn zum einen gab es im ausgehenden 19. und erst recht im 20. Jahrhundert zuverlässige diagnostische Mittel, verschiedene Scheintod-Zustände, d. h. Zustände, bei denen Atmung und Herzschlag wieder einsetzen konnten, differentialdiagnostisch auszuschließen. Zum anderen wurde die Korrektheit der Irreversibilitäts-Diagnose durch rechtliche Aufbahrungsvorschriften zusätzlich abgesichert. Die Abläufe des Sterbens waren natürlich auch weiterhin Gegenstand intensiver empirischer Untersuchungen, und schon Xavier Bichats Arbeiten von 1800 zeigen, wie hoch der Kenntnisstand der damaligen Medizin war. 16 Nur wann im Ablauf dieser Prozesse der Mensch tot ist und ob dies mit der gebräuchlichen Todesdefinition als endgültigem Herz-Lungen-Stillstand vereinbar ist, war bestenfalls ein Thema für Randbemerkungen.
1.3 Der Umschwung zur Hirntod-Konzeption Frage: »fehlte Ihnen heute das Herz?« -Antwort: »Dann wäre ich ja tot.« (aus einem Interview nach einem - verlorenen - Fußballspiel)
Das also war das Verständnis des Todes, mit dem sich die Mediziner bis zur Mitte dieses Jahrhunderts zufrieden gaben, als dann, in den sechziger Jahren, die Situation schlagartig kippte. Parallel in ver»Die Grenze zwischen Leben und Tod[ ... ] sah man dort, wo die ärztlichen Möglichkeiten des Eingreifens zur Lebenserhaltung endeten. « (Hans-Ludwig Schreiber, »Wann darf ein Organ entnommen werden? «, S. 203). Niemand war damals hingegen der Meinung - auch wenn das heute immer wieder so dargestellt wird-, daß ein Mensch schon tot ist, wenn Atmung und Herzschlag ausgesetzt haben, denn schließlich gab es bereits elaborierte Reanimationstechniken. Das Kriterium des Todes war stets der unwiederbringliche Verlust dieser Funktionen. 16 Vgl. Bichat, Physiologische Untersuchungen über den Tod. Hildegard Steingießer, »Was die Ärzte aller Zeiten vom Sterben wußten «, gibt einen ausführlichen Überblick der Entwicklung dieser Forschungen von 1800 bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. 15
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Die Hirntod-Debatte
schiedenen Staaten äußerten Ärzte und ärztliche Organisationen ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Todes-Definitionen und strebten eine Neubestimmung an. Es herrschte auch weitgehende Einigung darüber, wo diese Neubestimmung zu suchen sei, in der Konzentration auf das menschliche Gehirn. Tot ist ein Mensch, das war schnell die übereinstimmende Auffassung, wenn sein Gehirn abgestorben ist, d. h. wenn der Mensch hirntot ist. 17 Dissens bestand nur noch darüber, ob das Gehirn als ganzes tot sein muß und welche diagnostischen Mittel den Nachweis dafür erbringen könnten. Die Entwicklung verlief so rasch, daß vom Zeitpunkt der ersten Vorschläge bis zur allgemeinen Akzeptanz der neuen Todes-Definition keine zehn Jahre vergingen. Für die Durchsetzung der neuen Todes-Definition waren eine Reihe offiziöser Stellungnahmen von besonderer Bedeutung. In den USA waren es zum einen der 1968 unter dem verwirrenden Titel »A Definition of Irreversible Coma« veröffentlichte Bericht eines »Ad Hoc Committee« der Harvard Medical School, und zum anderen der Abschlußbericht »Defining Death« der »President's Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine and Biomedical and Behavioral Research « im Jahre 1981. In Deutschland haben sich ebenfalls bereits 1968 die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie und die Deutsche Gesellschaft für Anästhesie und Wiederbelebung der Hirntod-Definition angeschlossen.18 1982 hat dann der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer mit seiner »Entscheidungshilfe zur Feststellung des Hirntodes « diese Position für Deutschland verbindlich gemacht. Heute Der Begriff selbst wurde bereits 1800 von Bichat geprägt. Er verstand aber unter dem »Gehirntod« (z. B. in Physiologische Untersuchungen über den Tod, S. 96 ff.) nur den durch das Absterben des Gehirns hervorgerufenen Tod (so wie es bei ihm auch einen Herz- und einen Lungentod gab), sicher war er kein früher Vertreter der These, daß mit dem Tod des Gehirns ein Mensch bereits tot sei. 18 Kommission für Reanimation und Organtransplantation der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, »Todeszeichen und Todeszeitbestimmung«. (Vgl. dazu Uwe Körner, Hirntod und Organtransplantation, S. 18ff.) Auch in deutschen Darstellungen der Geschichte der Hirntod-Debatte wird manchmal der Eindruck erweckt, als sei die Diskussion in Europa erst durch die einflußreichen US-amerikanischen Stellungnahmen initiiert worden. Das ist falsch. So führte bereits im September 1966 eine in Deutschland aufmerksam verfolgte und in den großen Zeitungen kommentierte Auseinandersetzung zwischen Ärzten und Pflegepersonal dänischer Transplantationskliniken zur Diskussion um eine Neubestimmung des Todes. Vgl. dazu den 1967 erschienen Aufsatz von Günther Kaiser, »Juristische und rechtspolitische Probleme der Transplantation und Reanimation «, und Gerd Geilens »Das Leben des Menschen in den Grenzen des Rechts« von 1968 Qeweils mit weiterer Literatur). 17
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Der Umschwung zur Hirntod-Konzeption
ist die These, daß Hirntod und Tod zusammenfallen, in vielen Ländern ein selbstverständlicher Teil der medizinischen Praxis und Lehre, wenn sie auch theoretisch nie unumstritten war. 19 Wie kam es nun Ende der sechziger Jahre zu diesem plötzlichen Interesse an einer neuen Todesdefinition und der raschen Einigung auf den Hirntod?2° Zwei Faktoren waren dafür ausschlaggebend, hinter denen sich unschwer die beiden Interessen erkennen lassen, die schon früher zur Frage der Lokalisation des Todes geführt haben: zum einen wichtige Fortschritte in der Intensivmedizin, zum anderen die Entwicklung der Transplantationsmedizin. Aus verschiedenen Ursachen (der wachsenden Zahl an Verkehrstoten, dem Bestreben, sich katastrophenmedizinisch auf einen neuen Krieg einzustellen, den Erfahrungen schrecklicher Polio-Epidemien etc.) wurden in den fünfziger Jahren die Techniken der Lebenserhaltung extrem verbessert. 21 Es entstand im Rahmen der für Europa neuen medizinischen Spezialdisziplin Anästhesie die Intensivmedizin, deren Zweck nicht die Heilung von Krankheiten, sondern die Überwindung lebensbedrohlicher Zustände war. Im Rahmen dieser Entwicklung veränderte sich aber der Charakter der Lebenserhaltungs-Techniken. Sie waren nicht länger Wiederbelebungsmaßnahmen, sondern dienten dem Ersatz von natürlichen Lebensfunktionen. Medizinische Indikationen wurden entwickelt, bei denen dieser Ersatz den natürlichen Funktionen vorzuziehen war, so daß dann der Atem- oder Herzstillstand bewußt hervorgerufen wurde. Das Leben ohne natürliche Atmung und Herztätigkeit war damit in den Dispositionsbereich der Medizin gelangt. Statt Reanimation leistete die Intensivmedizin nun künstliche Animation. So können beispielsweise W. Weißauer und H. W. Opderbecke 1973 schreiben: »Trotz gewisser Meinungsverschiedenheiten in Einzelheiten ist die medizinische Wissenschaft in den letzten Jahren ganz überwiegend dazu übergegangen, den Hirntod mit dem Individualtod des Menschen gleichzusetzen.« (»Tod, Todeszeitbestimmung und Grenzen der Behandlungspflicht«, S. 5) . Eine frühe, lesenswerte und sehr einflußreiche Kritik der Hirntod-Konzeption stammt von Hans Jonas: »Gehirntod und menschliche Organbank« . 20 Vgl. zur Geschichte der Hirntod-Debatte Julius Korein, »The Problem of Brain Death: Development and History«, Johannes Hoff und Jürgen in der Schmitten, »Kritik der >Hirntod-KonzeptionWiederbelebungKünstlichen Lebensdas Viehpoint of no return< at which there is irreversible commitment to necrosis.« (James McGee et al., Oxford Textbook of Pathology, Val. l , S. 147, meine Emphase). 42
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Leben
dem Tod der verlöschenden Kohle im Märchen, des Russellschen Wassertropfens oder der europäischen Währungsunion. Keines dieser Ereignisse ist wirklich ein Tod, denn weder die Kohle, noch der Wassertropfen, noch die Währungsunion leben, trotzdem gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten mit dem eigentlichen Tod, die diese Redeweisen legitimieren. Eine Abkehr von der Währungsunion hat mit dem Tod die in Abschnitt 2.2.1.1 apostrophierte Endgültigkeit gemein; die Zerlegung des Tropfens in Wasserstoff und Sauerstoff ähnelt dem Tod, weil sie ebenfalls eine dramatische morphologische Veränderung ist; und die Kohle schließlich stirbt insofern, als sie die pulsierende Lebendigkeit glühender Kohlen verliert, also in Anlehnung an die phänomenale Lebendigkeit von Lebewesen. 45 Auch der Blick auf die Verwendungen des Wortes »Tod« über den Kreis der Lebewesen hinaus spricht also eher für und jedenfalls nicht gegen das morphologische Verständnis von Leben und Tod. Damit fragt es sich nun, welche Konsequenzen dieses Verständnis für die Ausgangsfrage hat. 2.2.2.3 Wann ist ein Mensch tot? Die Erläuterungen des Lebens sollten dazu dienen, die Ausgangsfrage zu beantworten, ob ein hirntoter Mensch tot ist. Nach der morphologischen Konzeption hört das Leben mit einem Verlust an Struktur auf. Irgendwann ist die Grenze erreicht, von der ab die für Menschen, Tiere oder Pflanzen typische Struktur lebender und toter Zellen nicht mehr besteht, ungeachtet noch existierender lebender Zellen und Zellverbände. Wenn man nun wissen möchte, wo diese Grenze verläuft, muß man wissen, wie die arttypische Struktur aussieht. Die Frage, welche Zellstruktur in dem erläuterten Sinn typisch für eine Spezies ist, richtet sich an die Naturwissenschaften, nicht an die Philosophie. Aber man kann zumindest ein paar allgemeine Überlegungen zu diesem Projekt anstellen. Erstens muß der Begriff einer arttypischen Zellstruktur so weit gefaßt sein, daß das Bestehen dieser Es gibt weitere Gründe, im übertragenen Sinn vom Tod zu reden, z.B. um damit ein Bedauern auszudrücken. Zensurmaßnahmen im Internet sind vielleicht der Tod des freien elektronischen Gedankenaustauschs, aber man würde sie, unabhängig von ihrer Wirksamkeit, nicht als Tod der freien Verbreitung von Kinderpornographie bezeichnen. Die damit angesprochene normative Bedeutung des Todes wird weiter unten zur Sprache kommen.
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Leben und Tod
Struktur mit vielfältigen Beschädigungen, Verlusten und Defekten vereinbar ist, denn sonst wäre es absurd, das Leben als Besitz und den Tod als Verlust dieser Struktur anzusehen. Die Struktur muß also den Verlust von Gliedmaßen, von Sinnesorganen und auch die Entnahme wichtiger innerer Organe überdauern können (z.B. die Entnahme des alten Organs bei einem Organempfänger). Das bedeutet zweitens, daß es wenig plausibel ist anzunehmen, daß ausgerechnet mit dem isolierten Absterben der Zellen im Gehirn die arttypische Struktur des Menschen zerstört sei. Das aber heißt, daß weder die Hirntod- noch gar eine der Teilhirntod-Konzeptionen akzeptabel sind, vielleicht nicht einmal die herkömmliche HerztodKonzeption. Viel mehr spricht dafür, daß man erst sehr viel später guten Grund hat zu sagen, daß die Struktur wirklich nicht mehr besteht, vermutlich erst dann, wenn die Zellen der inneren Organe beginnen abzusterben. Es ist wie bei einem Haus: Sein Zweck ist es, Menschen zu beherbergen, aber wenn die letzten Mieter ausgezogen sind, ist es noch keine Ruine. Zur Ruine wird es erst dann, wenn mehr und mehr von der Struktur, die ursprünglich diesem Zweck gedient hat, verfällt (Treppen sind also wichtiger als Stuck). So ist auch ein Mensch erst dann, wenn viele Zellen an verschiedenen Stellen in seinem Inneren die Schwelle zur endgültigen Auflösung überschritten haben, tot. Drittens steht, wie beim Zerfall des Hauses in eine Ruine, zu erwarten, daß dieser Prozeß schleichend vor sich geht, ohne eine scharfe Grenze zu bilden. Das Leben ist, um im oben diskutierten Bild zu bleiben, ein sumpfiger Teich, mit einem breiten Ufersaum schattenhafter und vager Grenzen, die uns hilflos lassen, wenn wir entscheiden sollen, ob dieser Mensch noch lebt oder schon tot ist. Nur, der dissoziierte Hirntod, geschweige denn der Teilhirntod, befinden sich noch nicht in diesem Bereich, sie bilden aus morphologischer Sicht noch nicht das Ende des Lebens. Das ist eine scharfe Konsequenz angesichts der engen Verflechtung der Hirntod-Konzeption mit den Erfordernissen der Transplantationsmedizin. Wenn Hirntote nicht tot sind, dann, so scheint es, werden Organtransplantationen unmöglich, ein breiter und für viele Patienten segensreicher Zweig der modernen Medizin droht, moralisch den Halt zu verlieren. Die Frage, ob die Zurückweisung der Hirntod-Konzeption tatsächlich derart weitreichende Konsequenzen hat, wird Gegenstand des fünften und sechsten Kapitels sein. Allein die Drohung, daß es so sein könnte, läßt es aber empfehlenswert
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Leben
erscheinen, einen Schritt zurückzutreten und zu untersuchen, ob sich das Ergebnis ändert, wenn man nicht an meiner spekulativen und nur grob skizzierten morphologischen Charakterisierung des Lebens festhält, sondern wie z. B. die Bundesärztekammer Leben als Besitz einer syntropischen Fähigkeit betrachtet. Wie sich zeigen wird, ist auch unter dieser Voraussetzung der dissozierte Hirntod nicht das Ende des menschlichen Lebens. 2.2.2.4 Hirntod und der Verlust der syntropischen Fähigkeit Wenn Leben in der Fähigkeit bestehen würde, das System des Organismus aufrecht zu erhalten, dann wäre der Tod der Verlust dieser Fähigkeit. Nun verlaufen beim Menschen, wie auch bei den meisten anderen Wirbeltieren viele Steuer- und Rückkopplungsprozesse, die dem Strukturerhalt dienen, über das Gehirn. Also, so die Überlegung der Verfechter dieses Lebensverständnisses, ist ein lebendes Gehirn für den Menschen unverzichtbar, der Mensch demnach tot, sobald sein Gehirn tot ist - der dissoziierte Hirntod ist der Tod des Menschen. Doch das Argument ist, unabhängig davon, ob man die Prämisse akzeptiert, nicht schlüssig. 46 Schon der erste Schritt geht fehl, denn trotz der unbestreitbaren Bedeutung des Gehirns für unser organisches Leben kann bei entsprechender intensivmedizinischer Betreuung auch ein hirntoter Mensch in der Lage sein, seine Struktur zu erhalten, das hat gerade der Erlanger Versuch eindrucksvoll dokumentiert. 47 Folglich hat ein Hirntoter die Fähigkeit zum Strukturerhalt noch nicht verloren, ist also noch nicht tot. Dagegen kann man einwenden, daß die intensivmedizinische Behandlung eine externe, nicht natürliche Aufrechterhaltung der Struktur darstellt, während Leben darin besteht, daß das Gleichgewicht vom Körper selbst gehalten wird. (Aus diesem Grund ist in der Stellungnahme der Bundesärztekammer vom »eigenständigen« körperlichen Leben die Rede, für das das Gehirn unabdingbar sei.) Eine besonders sorgfältig ausgeführte Kritik dieses Arguments findet sich in Daniel Wikler, »Brain Death: A Durable Consensus?«, S. 240ff. 47 Neben der artifiziellen Stützung eines Hirntoten durch die moderne Medizin gibt es auch die natürliche Unterstützung des Fötus in den ersten Lebenswochen, in denen er noch kein funktionstüchtiges Gehirn hat, gleichwohl aber ein lebendes System bildet. Auch sie zeigt, daß es schief ist, das Leben eines Menschen an die Steuerungsleistung eines Gehirns zu koppeln. 46
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Leben und Tod
Doch das ist zum einen nur teilweise richtig, weil auch bei hirntoten Menschen der Körper erheblich zur Systemaufrechterhaltung beiträgt, die Intensivmedizin also nur einen Teil der strukturerhaltenden Körperfunktionen ersetzt (das Herz zum Beispiel schlägt selbständig, ohne äußere Stimulation). Zum anderen ist die Beatmung Hirntoter keineswegs die einzige Art, einem Menschen extern das Aufrechterhalten seiner Struktur zu ermöglichen. Viele andere Intensivpatienten, Menschen mit Herzschrittmachern, Dialyse-Patienten sind ebenfalls ohne äußere Hilfe nicht in der Lage, ihre Vitalfunktionen aufrecht zu erhalten. Solange sie diese Hilfe aber erhalten, sind sie eben nicht tot. 48 Es wird manchmal darauf hingewiesen, daß es gewöhnlich nur eine relativ kurze Zeit lang möglich ist, hirntote Patienten vor dem Herztod zu bewahren. Bei den meisten dieser Patienten kommt es trotz der Intenisvbehandlung bereits innerhalb von wenigen Tagen zum Herzstillstand, selbst in Einzelfällen aber spätestens nach einigen Wochen. 49 Die medizinische Behandlung bietet also offenkundig nur ein mangelhaftes Substitut der integrierenden Leistung des Gehirns, sie kann den Zusammenbruch des menschlichen Organismus nicht wirklich aufhalten, sondern nur verlangsamen. Aber auch das ist keine plausible Rechtfertigung für eine kategorielle Unterscheidung zwischen der Rolle des Gehirns und der anderer Organe, denn zum einen wachsen in den letzten Jahren die intensivmedizinischen Möglichkeiten, den Zusammenbruch Hirntoter zu verhindern, 50 zum anderen gibt es auch zahlreiche andere Lebenszustände, die mit einer
Eine dritte, sehr eigenwillige Auffassung des Verhältnisses zwischen syntropischer Fähigkeit und Tod findet sich in dem häufig diskutierten Artikel von Lawrence Becker »Human Being: The Boudaries of the Concept« (S. 73 ff.). Becker zufolge ist ein Mensch tot, wenn die lebenswichtigen Prozesse von Atmung, Nahrungsaufnahme etc. aufgehört haben, ohne daß der Körper selbst in der Lage ist, sie wieder in Gang zu setzen. Daraus folgt, daß ein dissoziiert hirntoter Patient noch nicht tot ist, weil die entsprechenden Prozesse noch andauern. Vor allem folgt daraus aber, daß man einen Menschen, der (anders als der hirntote) für Becker tatsächlich tot ist, manchmal trotzdem wiederbeleben kann, indem man die Prozesse, die der Körper selbst nicht mehr starten kann, anstößt. Für Becker ist der Tod also nicht endgültig im oben in Abschnitt 2.2.1.1 charakterisierten Sinn. (Vgl. die Kritik von Karen Grandstand Gervais, Redefining Death, S. 54f.) 49 Vgl. Schlake, Roosen, »Der Hirntod als Tod des Menschen«, S. 15. Eine Ausnahme bilden, wie oben erwähnt, hirntote schwangere Frauen, die auch schon länger als drei Monate intensivmedizinisch versorgt wurden, ohne daß es zum Herzstillstand kam. 50 Vgl. Robert Truog, »ls lt Time to Abandon Brain Death?«, S. 31. 48
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Ein Einwand
ähnlich geringen Lebenserwartung verbunden sind, ohne daß diese Menschen tot wären. Allenfalls kann man den Hinweis auf die mangelhafte Stabilität des dissoziiert hirntoten Organismus als ein weiteres Indiz für die Korrektheit des morphologischen anstelle des kybernetischen Verständnisses des am Leben Seins erachten.
2.3 Ein Einwand »Ein Alptraum: Dein Körper stirbt, und Du bist noch drin.« (Werbeslogan der Deutschen Schlaganfall-Stiftung)
Die Schlußfolgerung scheint also unausweichlich zu sein, daß die begriffliche Untersuchung des Todesbegriffs sowohl der Hirntodwie auch jeder Teilhirntod-Konzeption die Grundlage entzieht und damit das medizinische Handeln in verschiedenen Bereichen der modernen Medizin als ethisch fragwürdig erweist. Das aber wäre eine atemberaubende Konsequenz angesichts des relativ simplen Gedankengangs, der zu ihr geführt hat. Es liegt deshalb der Verdacht nahe, daß ich es mir zu einfach gemacht habe und daß die Begriffe des Todes und des Lebens komplexer sind, als sie nach meiner Analyse erscheinen. Habe ich nicht, könnte man argwöhnen, Leben und Tod vorschnell mit biologischem Leben und Tod gleichgesetzt, wo es doch eigentlich um Leben und Tod des Menschen geht - und somit den Fehler begangen, der nach Wittgenstein eine Hauptursache philosophischer Krankheiten ist, nämlich auf einen begrenzten Anwendungsbereich zu starren, statt sich die Vielfalt der Verwendungen des Begriffs vor Augen zu führen ?51 Einen Einstieg in diesen Einwand bietet der oben zitierte Slogan der Deutschen Schlaganfall-Stiftung. Ich habe zwar keine Ahnung, was seine Texter in Wirklichkeit damit ausdrücken wollten, aber mir scheint, er trifft sehr gut das Gefühl der Unzufriedenheit, das man mit dem Ergebnis dieses Kapitels haben kann. Das Anliegen des Arztes, der nicht weiß, wie er einen hirntoten Patienten behandeln soll, scheint nicht recht zu passen zu den in Abschnitt 2.2.2 angestellten Überlegungen, wie sich die syntropische Fähigkeit eines Wesens zur Charakterisierung des Lebens heranziehen läßt. Der Slogan bietet nun eine Erklärung für dieses Mißverhältnis: In 2.2.2 ging es um »Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten - einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen. « (PU §593).
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Leben und Tod
das Leben und Sterben des Körpers, doch der Arzt interessiert sich für den Menschen selbst. Die Frage ist, ob sich diese Unterscheidung fruchtbringend in die begriffliche Untersuchung des Todes einbringen läßt. 52
2.3.1 Leib und Seele »I rest easy in my contention that the body, like the unreality of motion, the bare particular, and the Absolute Idea, is an invention of philosophers. I think it is a bad invention. 1 invite you to consider carefully the possibility of discarding it.« (Peter Van lnwagen, »Philosophers and the Words >Human Body«Mensch< einfach nur als einen biologischen Begriff verstehen. Doch ja, wenn wir Mensch als ein betreffbares Ich oder einen betreffbaren Jemand verstehen.« (Klaus Steigleder, »Der Tod des Menschen als komplexes Phänomen«, S. 63).
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Ein Einwand
was ist ein Mensch, jenseits seines Körpers? Warum macht man diesen Unterschied nicht bei anderen Entitäten (»der Körper einer Zahnbürste«)? Und wie kommt man trotzdem dazu, beide Begriffe mit der Möglichkeit des Sterbens zu versehen? Ich werde diese Zweifel ernst nehmen und die uns geläufige Unterscheidung zwischen einem Menschen und seinem Körper darauf überprüfen, ob sie es tatsächlich zuläßt, den Tod des Menschen vom Tod seines Körpers abzuheben. Dieses Vorhaben beginnt im nächsten Kapitel, auf Anregung Van Inwagens 53, mit einem historischen Ausflug zum Ursprung dieser Unterscheidung (ihrer »Erfindung«) in der Entwicklung des griechischen Denkens zwischen Homer und Platon, sowie der weiteren Ausgestaltung bis hin zum Neuplatonismus Platins und ihrer Transformation im frühchristlichen Denken. Auch wenn dieser Rückblick kaum mehr als eine Skizze bietet, kann man erkennen, wie eine einleuchtende Erklärung sowohl für die Vertrautheit, als auch die Dubiosität der Differenzierung vom Tode des Menschen und dem Tod seines Körpers aussehen könnte. Es ist die Dubiosität des Gegenbegriffs zum Körper, des Begriffs der Seele, und dessen verzwickte Geschichte, denen der Tod sein eigentümliche Doppelleben zwischen Mensch und Körper zu verdanken hat. 54
Van Inwagen, »Philosophers and the Words >Human BodySeeleGeistSeelealsGliederSeeleGeist< kein eigentliches Wort. « (Snell, op. cit. S. 18, meine Emphase) .
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Homer
haucht sie aus oder sie entweicht aus einer tödlichen Wunde. 4 Das legt es nahe, in dem Ausdruck Psyche einfach eine Bezeichnung für Leben zu sehen - ähnlich der durch die Lutherbibel geläufigen Verwendung des Wortes »Lebensodem«. (Psyche ist etymologisch verwandt mit dem Verb psychein, »hauchen«. 5 ) Diese Verwendung wird durch verschiedene Formulierungen bei Homer gestützt, in denen von Menschen, die sich in Lebensgefahr befinden, gesagt wird, daß sie es riskierten, ihrer Psyche beraubt zu werden. 6 Ein anderes Indiz für das Verständnis von Psyche als Leben ist die Feststellung, daß der Ausdruck Psyche für Homer kein Teil seiner Psychologie war, also nicht zur Beschreibung der Seele in unserer heutigen Verwendung diente. 7 Dabei verfügte Homer durchaus über eine elaborierte Begrifflichkeit zur Beschreibung des Denkens, Fühlens und Wollens, aber nie werden diese Wörter auf die Psyche eines (lebenden) Menschen bezogen -denn von dieser ist, wie gesagt, nur im Blick auf seinen Tod die Rede. 8 Die beiden wichtigsten psychologischen Ausdrücke Homers sind Thymos und Naas. Der Naas (der spätere Nous) ist sowohl Sitz des Denkens, Vorstellens und der Einsicht, als auch ihr Gegenstand (Gedanke, Vorstellung). Im krassen Gegensatz zur Psyche erwähnt Homer den Naas in keiner seiner zahllosen Sterbebeschreibungen. 9 Das unterscheidet den Naas auch signifikant vom Thymos. Thymos wird manchmal in exakt denselben Redewendungen gebraucht wie Psyche, so daß es den Anschein hat, als bestehe zumindest eine Bedeutungsüberlappung, wenn nicht Synonymie. 10 Andererseits aber »Und der Atreus-Sohn stieß darauf den Hyperenor [. „] in die Weichen, und das Erz schöpfte die Eingeweide heraus, und die Psyche stürmte aus der geschlagenen Wunde, eilends[ ... ]« (II. 14.516ff.) 5 Vgl. Albrecht Schnaufer, Frühgriechischer Totenglaube, S. 198. 6 Z.B. wenn sich Achilles beklagt, er habe »seine Psyche drangesetzt«, um für seine Genossen zu kämpfen, nur um am Ende um seine Beute betrogen zu werden (II 9.322); oder wenn nach Odysseus' Rückkehr nach Ithaka von den Freiern gesagt wird, sie kämpften gegen ihn mm ihre PsycheTotenseelen< hatte, so daß sich das InterDadurch, daß der Bericht von der Hadesfahrt (wie auch die Beschreibungen vieler anderer Abenteuer) eine Erzählung in der Erzählung ist, hat Homer möglicherweise absichtlich noch einen Distanzierungsschritt eingebaut.
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Von der Leiche zum Sarg
pretationsproblem nach wie vor stellt, wie sich dieses Verständnis mit dem als Leben vereinbaren ließe. Untersuchungen von Gräbern haben gezeigt, daß tatsächlich in der mykänischen Epoche, in der die homerischen Epen spielen, der Glaube an eine Fortexistenz der Toten verbreitet war - ebenso wie auch in vielen anderen frühen Kulturen. 32 Es waren allerdings keine abgelöste Schatten, denen ein den Tod überdauerndes Leben und Wirken zugesprochen wurde, sondern es waren die Leichen selbst (als »lebendigen Leichen«), denen man dies zutraute. (Darauf deuten Lebensmittel als Grabbeigaben hin, sowie die zeitliche Begrenzung der postmortalen Rücksichtnahme auf die Spanne bis zum Zerfall der Leiche.) Diese Koppelung der Fortexistenz des Menschen an den Leichnam blieb auch in der Zeit nach der Jahrtausendwende lebendig (obwohl sich durch außergriechische Einflüsse die Bestattungsriten änderten und die Leichen nicht mehr beerdigt, sondern verbrannt wurden). Homer, der in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. gelebt hat, konnte also in seinen dichterischen Bildern auf eine verbreitete Vorstellung vom überdauern des Todes zurückgreifen, aber es war keine, die auf einer Trennung zwischen dem Verstorbenen und seiner Psyche beruhte. 33 Das stützt die Vermutung, daß die Konzeption der schattenhaften Psychai tatsächlich ein künstlerisches Produkt Homers, bzw. seines Umfelds, war, während die davon abweichenden, >lebhafteren< Beschreibungen postmortaler Existenz in seinen Epen auf schon sehr lange bestehende Vorstellungen von einem Weiterleben nach dem Tod zurückgegriffen haben. 3.1.3 Psyche und Soma bei Homer Die Überlegungen der letzten Abschnitte sind spekulativ, aber sie sprechen dafür, daß Homer unter Psyche primär Leben verstand und daß die Ausdehnung auf schattenhafte Bewohner der Totenwelt ein nicht realistisch gemeintes Produkt seiner dichterischen Kreativität war, kein Bestandteil des damaligen Sprachgebrauchs. Wenn das aber so ist, dann wird verständlich, in welchem (wie Snell es ausdrückt) Vgl. auch für das folgende Schnaufer, op. cit. Kap. 1 und 2. So ist auch zu erklären, daß sich auf archaischen Skulpturen und Bildern kaum Spuren von einem Totenreich Hades oder seinem gleichnamigen Herrscher gefunden haben (vgl. Robert Garland, The Greek Way of Death, S. 51 ff.).
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Die Vorsokratiker
»prägnanten Sinn« Homer keinen Begriff vom Körper hatte. Nach Homer lebt ein Mensch so lange, wie er noch Lebenskraft (Thymos) hat, bzw. wiedergewinnen kann. Verliert er diese Kraft endgültig, dann ist er eine Leiche (Soma). Abgesehen vom Verlust der Lebenskraft unterscheidet sich die Leiche aber nicht von dem lebenden Menschen. Insbesondere unterscheidet sie sich nicht dadurch, daß ihr ein Etwas namens Psyche entwichen ist; die Rede vom Entweichen der Psyche u.ä. besagt nur, daß das Leben aufhört. Erst mit den Veränderungen, die der Begriff der Psyche nach Homer durchlaufen hat (Van Inwagens »Erfindung des Körpers «), ließe sich deshalb aus der Feststellung, daß die Psyche beim Tode den Menschen verläßt, Kapital für die Unterscheidung zwischen Mensch und Körper schlagen.
3.2 Die Vorsokratiker »Der selige Apostel Paulus tat in seinem Briefe an die Korinther folgenden Ausspruch: >Geliebte, die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor GottLeben< und den sich daran anknüpfenden Bedeutungsentwicklungen empfunden wird. 35 Entwickelt hat sich der Ausdruck Psyche zunächt in eine ganze andere Richtung, er hat einen Teil der ursprünglichen Verwendung von Thymos eingenommen. Aus der Psyche allein als Leben wurde zwischen dem 7. und 5. Jahrhundert Psyche als das Belebende, als Lebenskraft, während sich Thymos auf das emotionale Leben beschränkte. Diese Entwicklung zeigt sich nicht nur in der Literatur, sondern besonders deutlich in den ersten Entwürfen eines kritisch durchdachten Weltbilds in der vorsokratischen Philosophie. 36 Denn die philosophische Beschäftigung mit der Psyche in der Antike war zwar vielschichtig, aber keineswegs so unbeständig und disparat, wie es der eingangs zitierte spätantike Spötter darstellt. 37 Schon von dem ältesten dieser Philosophen, Thales von Milet, Vgl. Claus, op. cit., S. 99. Nach Claus, op. cit. S. 68. Claus schreibt auch: »In both frequency and intensity, rather, Homeric interest in the underworld psyche exceeds that of any subsequent literary source to the end of the fifth century« (S. 98). Wären Homers Epen nicht die ganze Antike hindurch so extrem einflußreich geblieben und damit immer wieder zum Anknüpfungspunkt der Schriftsteller geworden, dann wäre möglicherweise die Vorstellung der nach dem Tod in den Hades entweichenden und dort herumdämmernden Psychai längst vergessen worden. Ein weiteres Indiz für die singuläre Rolle der von mir diskutierten Homer-Passagen in der ganzen Denkgeschichte bis hin zu Platon findet sich in Sokrates' Auflistung aller ängstigenden und deshalb von den Kriegern fernzuhaltenden Geschichten über die Unterwelt in Platons Staat (386c-387a). Es handelt sich (mit einer nicht einschlägigen Ausnahme) abermals nur um Textstellen aus dem PatroklosGeschehen der Ilias und den beiden Hadesfahrten in der Odyssee. Andere Homer-Passagen, geschweige denn andere Autoren, nennt Sokrates nicht. 36 Selbst Rohde, der in der Psyche bei Homer und >im Volksglaubetrockene Psyche die weiseste (sophotate) und beste (ariste) Glutwindprägnanten Sinnpythagoreischerhöheren< Lebewesen psychische Elemente eine wichtige Rolle spielen. Die entscheidende Frage aber ist, wie auch schon oben erörtert, ob diese Kriterien zugleich notwendige Bedingungen für die Zuschreibung von Leben sind, d. h. ob Aristoteles der Meinung war, daß ein Wesen, das eines seiner Seelenvermögen verliert, damit auch die Psyche verliert und also stirbt, oder ob es eine schwächere Lesart gibt, die diesen Schluß nicht zuläßt. Es gibt Autoren, die Aristoteles stark lesen, um ihn so für eine Verteidigung der Hirntod-Konzeption in Anspruch nehmen zu können. 98 Sie ziehen aus der Feststellung, daß kognitive Fertigkeiten, die ein Mensch ohne lebendes Gehirn nicht besitzen kann, von Aristoteles der menschlichen Psyche zugeordnet werden, den Schluß, daß ein Wesen ohne diese Fertigkeiten keine Psyche hat und folglich tot ist. Der inhaltliche Aspekt, ob sie also recht damit haben, das individuelle Leben an den Besitz bestimmter psychischer Eigenschaften zu knüpfen, wird weiter unten zu klären sein. Als Interpretation von Aristoteles' »De Anima« aber scheint mir dieses Bild der Beziehung zwischen dem Leben und der Fähigkeit zu den verschiedenen Lebensäußerungen nicht akzeptabel zu sein. Ein Indiz dafür, daß Aristoteles anderer Auffassung war, liefert seine knappe Beschreibung einer weiteren Lebensäußerung, der Fortpflanzungsfähigkeit (415 8 26 ff.): »die natürlichste (physikotatos) Leistung ist bei den lebenden Wesen, die ausgewachsen und nicht verstümmelt sind [ „ . ], die, daß sie ein anderes gleichartiges erzeuGarreth Matthews, »Life and Death as the Arrival and Departure of the Psyche«, und Alan Shewmon, »The Metaphysics of Brain Death, Persistent Vegetative State, and Dementia«.
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Von der Leiche zum Sarg
gen.« Nun mag es zweifelhaft sein, ob es lebende Menschen ohne minimale kognitive Fähigkeiten gibt, aber fraglos gibt es lebende Menschen ohne generative Fähigkeiten, sei es daß sie sie verloren oder daß sie sie nie besessen haben. (Von Kindern könnte man immerhin noch sagen, sie hätten sie potentiell.) Die Fähigkeit sich fortzupflanzen kann also schwerlich eine notwendige Bedingung dafür sein zu leben. Aristoteles war sich dessen, wie das Zitat zeigt, vollkommen bewußt, trotzdem zählte er das generative Vermögen zum Ernährungsvermögen und also zur Psyche. Der Grund, scheint mir, liegt darin, daß es Aristoteles nicht darum ging zu erläutern, was es für ein bestimmtes Wesen heißt zu leben, sondern, was es für diese Art von Wesen heißt zu leben. In Abschnitt 2.2.2 habe ich großen Wert auf die Unterscheidung gelegt zwischen der Frage, wann ein Lebewesen, z.B. ein Mensch, lebt, und der Frage, wann, ganz generell, eine Entität ein Lebewesen ist. Meine Vermutung ist, daß es Aristoteles in seiner Beschreibung der verschiedenen Psychai ausschließlich um die zweite Frage ging. Ein Lebewesen ist nur, was zu einer Art gehört, die durch eine spezifische Psyche charakterisiert ist. Das aber setzt nicht voraus, daß alle Mitglieder dieser Art in allen Stadien ihres Lebens alle Vermögen aufweisen, die diese Psyche ausmachen. 99 Allenfalls läßt es den schwächeren Schluß zu, das jedes individuelle Lebewesen stets zumindest irgendeines dieser Vermögen haben muß, das aber steht bei Hirntoten, wie gerade das Erlanger Baby deutlich vorgeführt hat, außer Frage. Diese Interpretation des aristotelischen Seelenverständnisses hat den Vorteil, Aristoteles erheblich plausibler zu machen, zugleich kappt sie aber die Verbindung zur Hirntod-Konzeption. 100 Daß es Teil der menschlichen Psyche ist, denken, fühlen, handeln zu können,
Es sei noch einmal an die oben beschriebene Motte erinnert (vgl. Kap. 2, Fn. 33), die ihr generatives Vermögen erst zu einem Zeitpunkt erhält, an dem sie ihren Verdauungstrakt bereits eingebüßt hat, oder an sozial lebende Tiere wie Bienen etc., bei denen nur ein kleiner Teil der Population fortpflanzungsfähig ist. 100 Sie zeigt nebenbei auch, wie absurd die Ansicht Shewmons ist, man könne aufgrund von Aristoteles' Seelen-Konzeption den Hirntod als eine substanzielle Veränderung, eine Metamorphose, eines Menschen in ein >vegetatives Wesendie Kunst auch nicht rechnet und grübelt< [bouleuein])« (IV 8 [6] 42). 136 Vgl. Gerhard Dautzenberg, »Seele (naefaes - psyche) im biblischen Denken sowie das Verhältnis von Unsterblichkeit und Auferstehung«, daneben auch Eberhard Schokkenhoff, Ethik des Lebens, S. 115 ff„ Rappe, Archaische Leiherfahrung, S. 287 ff., und Rüsche, Blut, Leben und Seele. 137 Vgl. Rappe op. cit. S. 287.
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Von der vorchristlichen zur christlichen Philosophie
gehend parallele Seelen-Terminologie. Der zentrale Begriff der alttestamentarischen Anthropologie ist der der nefes, der dann im 3. Jahrhundert v. Chr. mit dem griechischen Wort Psyche übersetzt wurde. Die nefes ist wie die Psyche das leiblich empfundene Lebensprinzip, zugleich ist sie Trägerin von Empfindungen und kann auch für das menschliche Individuum selbst stehen. Im Tod verläßt sie den Menschen.138 Aber es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die nefes nach dem Tod weiterexistiert, sie wird so wenig dualistisch verstanden wie die griechische Psyche vor Platon oder zumindest Pythagoras. 139 Mit der politischen Ausdehnung Griechenlands im Hellenismus gewann die griechische Kultur Einfluß auf das jüdische Denken. Zum einen war Jerusalem nach der Erorberung durch Alexander Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts über hundert Jahre lang politisch unter griechischer Herrschaft, zum anderen führte die Septuaginta, die griechische Bibel-Übersetzung, zu einer weiten Verbreitung des Judentums in der griechischsprechenden Welt. Aus dem griechischen Judentum kamen zwei für die Adaption der griechischen Philosophie durch das Christentum höchst einflußreiche Männer, Philon von Alexandrien und der Apostel Paulus. Philon lebte etwa von 25 v. Chr. bis 50 n. Chr. Er erhielt in Alexandrien als Sohn reicher Eltern eine gründliche griechische Erziehung, die ihn dazu veranlaßte, eine Bibeldeutung auf der Basis eines weitgehenden Platonismus zu unternehmen. 140 In Bezug auf das Thema dieser Untersuchung teilte er die platonistische Auffassung menschlichen Lebens als Folge eines Abstiegs der Seelen (während andere Seelen nicht so weit sinken und, anstatt zu Menschen zu werden, als Ist die Nefes aber nicht dauerhaft entwichen, sondern kehrt sie zurück, dann lebt der Mensch wieder auf (vgl. Gottes Widererweckung eines leblosen Kindes in 1. Kön 17, 21 f.). Auch hier liegt eine deutliche Parallele zur Verwendung von Psyche/Thymos vor. 139 Dautzenberg weist ausdrücklich darauf hin, daß die nefes im Unterschied zu Homers Psyche keine eigenständige Fortexistenz nach dem Tode kenne (op. cit. S. 189). Wenn nun mein oben geschilderter Verdacht korrekt ist, daß Homer und seine Zeitgenossen selbst nicht an diese Schattenexistenz glaubten, dann rücken sich Psyche und nefes noch ein deutliches Stück näher. "" Vgl die folgende Zusammenfassung Henry Chadwicks: »Philo is not trying to pretend a veneer of hellenization; he is hellenized to the core of his being. To him theology is much more than dressing up Moses to look like Plato. Platonism was for him true in all its essential structure, and the fact that the cosmogony of the Timaeus could so easily be reconsiled with Genesis served not only to demonstrate the rationality of Moses but also to enhance the authority of the Timaeus.« (»Philo and the Beginnings of Christian Thought«, S. 154). 138
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Von der Leiche zum Sarg
Dämonen Gott Hilfsdienste erweisen). Der Körper ist auch für Philon ein Sarg der Seele, der diese an der Perfektionierung hindert. Der Körper, das sind die Fellkleider, die Gott der Genesis zufolge Adam und Eva anzog, als er sie aus dem Paradies verbannte (1 Mose 3, 21). Der beste Weg, sich der Versklavung durch den Körper zu entziehen und Gott nahe zu kommen, besteht darin, alle körperlichen Bedürfnisse zu ignorieren - also in der Apatheia. Nur so besteht die Chance einer mystischen (ekstatischen) Wahrnehmung Gottes.141 Philon war kein Christ, hatte aber großen Einfluß auf die christliche Auseinandersetzung mit der Philosophie. Die Notwendigkeit dazu ergab sich spätestens mit Paulus' Anstrengungen, auf seinen Reisen nicht nur die verstreut lebenden Juden, sondern alle Menschen überhaupt zu missionieren und so das Christentum aus einer jüdischen Sekte in eine eigenständige, für Nichtjuden offene Religion zu verwandeln. Dadurch wurden die Christen gezwungen, sich mit den außerhalb des Judentums herrschenden Weltanschauungen auseinanderzusetzen, und diese waren, zumindest bezogen auf die gesellschaftliche Oberschicht im römischen Reich, in erster Linie die Lehren Platons, Aristoteles' und der Stoiker. Diese Auseinandersetzung, geführt von den sogenannten >Apologeten< (u. a. Justin dem Märtyrer, Klemens von Alexandrien, Origenes), hatte nicht das Ziel, dem elaborierten philosophischen Weltbild ein anderes, alternatives christliches Weltbild gegenüberzustellen und als überlegen zu erweisen. Worum es ihnen ging, war vielmehr, wie schon bei Philon, der Versuch, die Vereinbarkeit, wenn nicht sogar notwendige Verbindung ihrer religiöser Überzeugungen mit den philosophischen Konzeptionen zu belegen. Ihrer Ansicht nach war eine >wahre Philosophiewahre Philosophiezweite TodEuthanasieEinzigartigegezeugtdie Toten< gebraucht, ist merkwürdig und bezeichnend. Sie erweckt den Eindruck, daß tote Menschen in irgendeinem Sinne noch existieren, nicht allein im Gedächtnis der Lebenden, sondern auch unabhängig von ihnen. Aber die Toten existieren nicht.« (Norbert Elias »über die Einsamkeit der Sterbenden«, S. 52)
Das Verhältnis zwischen Tod und Existenz war schon einmal, in Abschnitt 2.1.1, Thema, als es um die Frage ging, ob der Tod ein Zustand sei. Die Antwort lautete: Er ist kein Zustand, weil tot zu sein keine Eigenschaft ist, denn wäre es eine Eigenschaft, dann müßte daraus, daß sie jemandem zu einem bestimmten Zeitpunkt zukommt, folgen, daß es ihn zu diesem Zeitpunkt gibt, während es in Wirklichkeit die meisten toten Menschen schon längst nicht mehr gibt. Letzteres ist zwar nicht unstrittig, doch für das Argument oben reichte die Fest26 Ein gutes Beispiel dafür bietet die nahezu verärgerte Reaktion auf Green und Wiklers Argument in Georg Agich und Royce Jones, »Personal Identity and Brain Death: A Critical Response «. Die Autoren glauben, daß der Schluß von der Nichtexistenz auf den Hirntod zum einen höchst unplausibel ist und zum anderen am Thema vorbeigeht.
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Der Tod als Verlust metaphysischer Personalität
stellung aus, daß es sich zumindest um keine Contradictio in adjecto handelt, zu behaupten, daß es die meisten toten Menschen heute nicht mehr gibt. Das ewige Leben ist kein analytischer Teil unseres Todesbegriffs. Akzeptiert man nun aber, pace alle eschatologischen Vorstellungen, daß viele Menschen irgendwann nach dem Ende ihres Lebens aufhören zu existieren, so lautet die nächste Frage, wann dies geschieht, insbesondere ob es notwendigerweise mit dem Tod selbst zusammenfällt. Ist der Tod das Ende der Existenz? Das heißt, anders ausgedrückt: Gibt es wirklich keine toten Menschen? Was gegen diese Annahme spricht, ist nicht nur, wie Elias feststellt und wie oben am Ende von Abschnitt 4.1.1 angedeutet wurde, ganz generell unsere Rede über >die Totenin tausend Stücke gerissenRestautoRestautoRestauto< mit dem Auto identisch ist. Es ist also bei Teilen eines Ganzen (anders als bei abgetrennten ehemaligen Teilen) zumindest immer eine gute Frage, ob es möglich ist, daß das Ganze irgendwann, wenn die anderen Teile abgetrennt oder vernichtet worden sind, nur noch aus ihnen besteht, oder nicht. (Wie das Beispiel zeigt, ist es allerdings nur eine Frage, keineswegs eine Selbstverständlichkeit, ob ein Gegenstand bestehen bleibt, auch wenn eines seiner Teile vernichtet wird. Wäre statt des Spiegels das >Restautoabgebaut< wird.) Schwieriger ist die Entscheidung, wenn statt des Restkörpers das Gehirn zugrunde geht. Der Bewußtseinsstrom des Protagonisten wäre damit versiegt, doch weil P2 1 ausdrücklich nur eine hinreichende, keine notwendige Bedingung für seine Fortexistenz nennt, bleibt die Frage bestehen, ob der Protagonist durch die Vernichtung des Gehirns aufgehört hat zu existieren, oder ob er dann nur noch aus dem intensivmedizinisch betreuten Restkörper besteht. Entscheidend ist hier, daß man sich jedenfalls, wie eben ausgeführt, nicht einfach auf P 24 berufen kann, weil diese Prämisse nur unter der unzutreffenden Annahme, daß nach der Operation der Protagonist allein aus dem Gehirn im Bottich besteht, evident ist. Wie aber soll man dann die Frage beantworten, ob der Protagonist nach der Zerstörung des isolierten Gehirns mit dem gehirnlosen Restkörper identisch ist oder nicht? - Ich glaube, der beste Weg besteht darin, die Stoßrichtung von Shewmons Argument umzudrehen. Eben weil der Restkörper in seinem Gedankenspiel so große Ähnlichkeit mit einem hirntoten Menschen aufweist, ist es höchst unplausibel anzunehmen, daß der Protagonist nicht mit ihm identisch wäre, wenn das Gehirn im Bottich zerstört würde. So lange es beides gab, Körper und Gehirn, bestand er aus beidem, wie ein normaler lebender Mensch, geht nun aber das Gehirn zugrunde, dann besteht er >verstümmelt< weiter, genauso wie ein Mensch im dissoziierten Hirntod. Das ist letztlich der entscheidende Einwand gegen Shewmons Argument für die Hirntod-Konzeption. Nur weil durch C2 2 der Protagonist fälschlicherweise auf das Gehirn im Bottich reduziert und damit vollständig von seinem übrigen Körper abgetrennt wird, kann der (in P24 formulierte) Eindruck entstehen, als wäre es möglich, daß der gehirnlose Körper eines Menschen weiterlebt, ohne noch etwas mit diesem Menschen zu tun zu haben, insbesondere auch ohne daß es diesen Menschen noch gibt, was dann wiederum Shewmon zu dem Analogieschluß auf das Existenzende und folglich den Tod dissoziiert hirntoter Menschen veranlaßt hat. Für sich gesehen, ohne diese 202
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Zwischenfazit
trügerische Basis, ist diese Vorstellung aber haltlos all den Einwänden ausgesetzt, die ganz generell gegen die Hirntod-Konzeption und insbesondere gegen die Gleichsetzung von Hirntod und Existenzende sprechen. Deshalb mißlingt am Ende Shewmons Versuch, die Hirntod-Konzeption im Rekurs auf eine hinreichende Bedingung personaler Identität zu stützen, und zwar auch dann, wenn man die hinreichende Bedingung selbst zu akzeptieren bereit ist.
4.3 Zwischenfazit
Damit ist auch der zweite Versuch gescheitert, den Tod als Ende des personalen Lebens zu verstehen und daraus die Hirntod-Konzeption herzuleiten. Vor allem hat sich aber erneut der Verdacht bestätigt, wie verführerisch die alte Idee ist, daß es so etwas gibt im Menschen wie einen Seelenkern. Denn nichts anderes steckt letztlich hinter Shewmons Argument. Wenn man zeigen kann, daß mit dem Gehirn auch die Seele den Körper verläßt, dann ist bewiesen, daß ein hirntoter Mensch keine Seele mehr hat. Doch die Idee ist falsch - nicht weil mehr zur Seele gehört als das Gehirn, sondern weil es die Seele als Trägerin all dessen, womit die Tradition sie versehen hat, überhaupt nicht gibt. Das dritte Kapitel hatte gezeigt, daß die sich geschichtlich entwickelnden Vorstellungen von Leben und Tod stark durch die Janusköpfigkeit des Seelenbegriffs geprägt waren, einerseits für das biologische Leben, bzw. dessen Ursprung, zu stehen, andererseits für das mentale Leben. Dabei ist es kaum zu bezweifeln, daß man das Ende des biologischen Lebens als »Tod« bezeichnen muß. Gegenstand dieses Kapitels war nun die Frage, ob es sinnvoll oder sogar unumgänglich ist, daneben auch noch das Ende des mentalen Lebens als einen Tod anzusehen. Denn dann hätte man u. U. eine Grundlage gehabt, an der Hirntod-Konzeption festzuhalten, auch wenn man die im zweiten Kapitel begründete Ansicht teilt, daß biologisches Leben nicht unbedingt auf ein funktionierendes Gehirn angewiesen ist. Doch die Antwort ist negativ, das Ende des mentalen Lebens ist kein Tod. Das Anliegen, mit dem Personenbegriff unsere Sonderstellung als Akteure in der Welt auszuzeichnen, ist berechtigt, steht aber in keinem Zusammenhang mit der Todes-Debatte. Versuche, diesen Zusammenhang auf die eine oder andere Weise herzustellen, scheitern daran, daß sie entweder zu einem sonderbaren Personen- oder 1'r 203
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zu einem unhaltbaren Todes-Verständnis führen. Aus metaphysischer Sicht bleibt somit die Ausgangsfrage eindeutig beantwortet: Tot ist ein Mensch genau dann, wenn er nicht mehr lebt, im biologischen Sinn des Lebens, und dieser Zeitpunkt ist mit dem dissoziierten Hirntod noch nicht erreicht. Trotzdem ist die Hirntod-Debatte noch nicht entschieden. Es gibt einen Einwand gegen die in diesem Kapitel angestellten Überlegungen, der zu dem dritten argumentativen Grundpfeiler der Hirntod-Konzeption überleitet, mit dem sich dann das folgende, fünfte Kapitel auseinandersetzen wird.
4.4 Moralische Personen und verantwortliche Personen » „. dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).« (Immanuel Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«)
Es könnte der Eindruck entstanden sein, daß ich den wichtigsten Aspekt der Personalität ganz aus meinen Überlegungen ausblenden würde, Personalität als Grundvoraussetzung menschlicher Würde. Dabei stand bereits im Mittelalter der Personenbegriff - bedingt durch die Verwendung von »persona« für die sozialen Rollen und durch die Rückübertragung aus der Verwendung für Eigenschaften Gottes -für eine herausgehobene soziale Stellung eines Menschen. 47 Personen waren Würdenträger (so wie wir auch heute noch von »Personen des öffentlichen Lebens« reden), und deshalb achtunggebietend. Auch der philosophische Begriff der Person ist seit dem dreizehnten Jahrhundert unmittelbar mit dem Begriff der Würde verknüpft. 48 Die Person nimmt in der in der Hochscholastik aufkommenden Konzeption einer eigenständigen Ontologie moralischen Seins den zentralen Ort ein. Sie gehört nicht zur Ordnung der Dinge, Eine weitere Quelle dieser Bedeutung des Personenbegriffs liegt in der lateinischen Übersetzung der biblischen Versicherung, daß Gott kein »Ansehen der Person« kenne (vgl. den o.g. Artikel »Person« im Historischen Wörterbuch der Philosophie 7, Sp. 282). 48 Vgl. für das folgende die ausführliche Darstellung der Geschichte des Personenbegriffs von Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. 47
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Moralische Personen und verantwortliche Personen
sondern zu der des Moralischen. Aus dieser Tradition, vermittelt durch Samuel Pufendorfs Ethica universalis und Christian Wolffs Philosophia practica universalis, stammt Kants Personenbegriff. Nach der oben zitierten Passage aus der Grundlegungsschrift sind Personen diejenigen Wesen, deren Natur dafür sorgt, daß man sie nicht nach Belieben behandeln darf. Personen im Sinn dieser Definition sind also ebenfalls dadurch gekennzeichnet, daß sie sind wie wir, aber nicht in ihren Fähigkeiten (wie die metaphysischen Personen), sondern in ihrem berechtigten Anspruch auf Rücksichtnahme, auf Achtung. Man kann Personen, die diesen Anspruch mit uns teilen, deshalb als moralische Personen bezeichnen. Es gibt neben dem metaphysischen und moralischen noch einen weiteren Personenbegriff, den z.B. Thomas Hobbes verwendet, wenn er im »Leviathan« das Kapitel über >Personen, Autoren, und die Vertretung von Dingen< mit der Definition einleitet: »A Person, is he, whose words and actions are considered, either as his own, or as representing the words or actions of another man, or of any other thing to whom they are attributed, whether Truly or by Fiction.« 49 Personen in diesem dritten Sinn sind Wesen, denen man etwas zurechnen kann, die man für ihre Taten verantwortlich machen kann. Dieser Begriff einer verantwortlichen Person hängt eng mit den anderen beiden zusammen, weil die Vermutung nahe liegt, daß genau diejenigen Personen eine moralische Rücksichtnahme erfordern, die auch moralisch verantwortlich gemacht werden können, und daß die Grundlage für beides letztlich in der Vernunft zu finden ist, also der Fähigkeit, die die metaphysischen Personen auszeichnet. 50 Unabhängig davon, ob diese Vermutung zutrifft, ist es aber wichtig, die Begriffe auseinanderzuhalten. 51 Es ist weder absurd, noch begrifflich •• Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 16. 50 Das war, wie das Zitat oben schon andeutet, die Position Kants. Die meisten Charakterisierungen von Personalität, die Kant gibt, gleichen deshalb eher derjenigen von Hobbes, als der in dem Eingangszitat. So definiert er beispielsweise in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten »Person« als »dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind«. (MdS AA IV, S. 223) 51 Die Verwendung des Personenbegriffs sowohl für die moralisch zu respektierenden, wie für die moralisch verantwortlichen Wesen findet sich auch im juristischen Sprachgebrauch, wo »Person« für alle potentiellen Träger subjektiver Rechte und Pflichten steht. Das erlaubte es schon Hobbes in dem oben erwähnten Kapitel des Leviathan, den Begriff von Menschen auf Menschengruppen, Korporationen, auszudehnen. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Begriffsprägung der »juristischen Person« schließt an diese Tradition an. ~
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ausgeschlossen, daß jemand eine moralische Person ist, ohne die Bedingungen metaphysischer Personalität zu erfüllen und ohne selbst moralisch für sein Handeln verantwortlich zu sein. Gegenstand dieses Kapitels war die Frage, ob sich die HirntodKonzeption dadurch rechtfertigen läßt, daß man annimmt, daß es neben dem biologischen Tod auch einen personalen Tod, verstanden als Ende der metaphysischen Personalität, gibt. Nachdem diese Frage verneint wurde, und es offenkundig auch keinen Sinn macht, den Tod mit dem Verlust moralischer Verantwortlichkeit gleichzusetzen, bleibt nun der Verdacht, daß ein Mensch genau dann tot ist, wenn er keine moralische Person ist, d. h. nicht mehr unter dem Schutz ethischer Verbindlichkeiten steht, der uns und unseresgleichen auszeichnet vom Rest der Welt. Dies ist der Leitgedanke des fünften Kapitels dieser Untersuchung.
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»Wenn der Hirntod nicht als Tod des Menschen akzeptiert wird, darf [... ] selbst bei einer Zustimmung nicht explantiert werden, das würde letztlich das Ende der Transplantationsmedizin bedeuten.« (Prof. Dr. med. Bauer) »Wenn ein Hirntoter ein Lebender ist, dann ist - darüber kann man nicht mit schwierigen Argumenten hinwegtäuschen - das Abstellen der Beatmung eben Euthanasie und dann stellt die Organentnahme eine Tötung dar und ich frage mich immer, warum sollte sie eigentlich straffrei bleiben, weil es für einen guten Zweck ist oder weil derjenige selbst eingewilligt hat[ .. .] Eins möchte ich jedenfalls feststellen. Organentnahme als straffreies Tötungsdelikt ist wohl für keinen Arzt eine ethische Grundlage. « (Prof. Dr. med. Geisler) »Ich könnte kein Organ entnehmen, wenn ich nicht voll überzeugt wäre, daß dieser betreffende Patient verstorben ist. [„ .] Ich will nur sagen, daß die Argumentation für die enge Zustimmungslösung nichts daran ändert, daß wir nicht töten werden. Ich möchte dies abschließend auch für die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie, deren Präsident ich zur Zeit bin, sagen. Das kommt für die deutsche Chirurgie nicht in Frage.« (Prof. Dr. med. Pichlmayr) (Alle Zitate sind dem Protokoll der Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages am 29. 6.1995 entnommen)
Im ersten Kapitel habe ich behauptet, daß es primär eine philosophische Angelegenheit sei, die Frage zu beantworten, ob ein hirntoter Mensch tot sei oder nicht. Die entsprechende Antwort fand sich dann in den Kapiteln 2 und 4: Der Hirntote ist nicht tot, weil sein biologisches Leben noch nicht zu Ende ist und weil es keinen guten Sinn macht, zwischen seinem Leben und seinem biologischen Leben zu unterscheiden. Doch es bleibt das Gefühl der Unangemessenheit dieser philosophischen Lösung, von dem oben schon einmal im zweiten Kapitel in Abschnitt 2.3 die Rede war. Schließlich wurde die HirntodDebatte nicht im luftleeren Raum philosophischer Zirkel entfacht, sondern ergab sich, wie beschrieben, unmittelbar aus der ethischen Notlage der modernen Medizin. Die Hirntod-Konzeption bot den rettenden Ausweg aus den Aporien, in die die Intensiv- und Transplantationsmedizin schon bald nach ihrem Entstehen geraten waren, A. 207
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einen Ausweg, der nun durch die vergleichsweise blutarmen akademischen Reflexionen über syntropische Fähigkeiten, metaphysische Personen und die Geschichte des Seelenbegriffs verschüttet zu sein scheint. Das Gefühl der Unangemessenheit entsteht, weil diese philosophischen Überlegungen in einem deutlichen Mißverhältnis zu der weitreichenden Konsequenz ihres Ergebnisses zu stehen scheinen. Denn ohne Hirntod-Konzeption, so zumindest die zitierte Elite der deutschen Transplantationsmedizin, gibt es keine ethisch vertretbare Transplantationsmedizin. Ein fraglos segensreicher Zweig der modernen Medizin muß folglich untergehen, weil die Philosophen zeigen können, daß hirntote Menschen nicht tot sind. Das ist, bei allem fachlichen Selbstbewußtsein, eine irritierende Feststellung. Man kann dahinter eine Verwechslung des Boten mit der Botschaft argwöhnen. Schließlich ist der Philosoph nicht dafür verantwortlich, daß die Welt anders beschaffen ist, als es die Verfechter der Hirntod-Konzeption gerne hätten. Doch diese Reaktion greift zu kurz. Es ist nicht nur schade, annehmen zu müssen, daß die Welt so beschaffen ist, daß Organverpflanzungen unmoralisch sind, es ist vor allem äußerst unwahrscheinlich. Eine Überlegung, die zu dem Ergebnis kommt, daß diese medizinisch Technik, die trotz aller Auswüchse vielen Menschen erheblich nützt und kaum jemandem schadet, verwerflich sei, bietet allen Grund, noch einmal sorgfältig die einzelnen Gedankenschritte abzuklopfen.
5.1 Die ethische Grundannahme über den Tod »Wisset ihr nicht, liebe Brüder [... ] daß das Gesetz nur herrscht über den Menschen, solange er lebt? Denn eine Frau ist an ihren Mann gebunden durch das Gesetz, solange der Mann lebt; wenn aber der Mann stirbt, so ist sie los vom Gesetz, das sie an den Mann bindet. Wenn sie nun eines anderen Mannes wird, solange ihr Mann lebt, wird sie eine Ehebrecherin geheißen; wenn aber ihr Mann stirbt, wird sie frei vom Gesetz, so daß sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn sie eines anderen Mannes wird.« (Paulus, Röm. 7)
Am Anfang der Hirntod-Debatte stand kein theoretisches, sondern ein praktisches Problem. Die Mediziner in den sechziger Jahren interessierte eigentlich nicht, ob ihre hirntoten Patienten tot waren, sie interessierte, wie sie sie behandeln durften, d. h. welche Rechte und welche Verpflichtungen sie ihnen gegenüber hatten. Nur weil die 208
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Die ethische Grundannahme über den Tod
Ärzte darüber hinaus der damals selbstverständlichen Überzeugung waren, daß man zu diesem Zweck unbedingt wissen muß, ob die Patienten noch leben oder nicht, haben sie sich um eine neue Todeskonzeption bemüht. Das medizinische Interesse an der HirntodDebatte richtete sich also nicht einfach auf den Tod als Ende des Lebens, sondern auf den Tod als ein ethisch höchst bedeutsames Ereignis, quasi als eine Wasserscheide in den moralischen Beziehungen eines Menschen zu seiner Umwelt, von der ab man plötzlich sehr viel weniger für diesen Menschen tun muß und sehr viel mehr mit ihm anstellen darf als zuvor. Die These, daß mit dem Tod ein solcher moralischer Umschwung verbunden ist, kann man als die »ethische Grundannahme über den Tod« bezeichnen. Sie besagt, daß sich mit dem Tod eines Menschen schlagartig die moralischen Verpflichtungen ihm gegenüber verringern. Das moralische Gesetz, so der Apostel Paulus, herrscht zum einen nur über die Lebenden (das ist in einer säkularen Welt wenig kontrovers), zum andern aber, wie sein Witwen-Beispiel zeigt, auch nur gegenüber den Lebenden. Deshalb, so die allgemeine Überzeugung, darf man mit Eintritt des Todes plötzlich viel mehr mit und muß man viel weniger für den Patienten machen, und deshalb ist es so wichtig, den Tod hinreichend genau zu lokalisieren. Daß der Tod in unserer Gesellschaft die in der ethischen Grundannahme ausgedrückte Schwellenfunktion hat, zeigt sich vor allem dort, wo sich die ethischen Bindungen in der rechtlichen Bedeutung des Todes spiegeln. Mit dem Tod endet im Strafrecht z.B. die Möglichkeit, ein Tötungsdelikt oder eine Körperverletzung dem Menschen gegenüber zu begehen. Zivilrechtlich ist er das Ende der Rechtspersönlichkeit und damit der Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Ehen hören auf zu existieren, das Vermögen wird vererbt, Erziehungsberechtigungen wechseln, Verträge werden unter Umständen fällig (z. B. Lebensversicherungen) oder hinfällig (z.B. Mietverträge) etc. Die ethische Grundannahme über den Tod macht also sofort verständlich, weshalb die Ärzte so stark an einer genauen Lokalisation des Todes interessiert waren und heute noch sind. Wenn der Tod einen Umschwung in den ethischen und rechtlichen Bindungen bedeutet, ist es wichtig zu wissen, wann er eintritt, wann also beispielsweise die Lebensversicherung fällig wird oder eine Organentnahme aufhört, eine Körperverletzung zu sein. Die Grundannahme macht aber auch verständlich, in welchem ~
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Sinn man es in der Hirntod-Debatte nicht mit den kritischen Konsequenzen der Kapitel 2 und 4 bewenden lassen kann. Wenn aus ethischer Sicht der Tod als ein Ereignis verstanden wird, mit dem ein Mensch seine ethische Position verliert, dann ist es zumindest nicht selbstverständlich, daß dieser Verlust mit dem Ende des biologischen Lebens zusammenfällt. Vielleicht ist ein hirntoter Mensch aus moralphilosophischer Sicht schon tot, selbst wenn er biologisch noch am Leben ist. Keine Analyse des Todesbegriffs ist befriedigend, die nicht darauf eingeht, daß wir dem Tod eine so große ethische Bedeutung zumessen. Die Frage ist nur, auf welche Weise diese Bedeutung in die Analyse einfließen sollte. 5.1.1 »Tod« als normativer Begriff »Hat der Verschollene die Todeserklärung überlebt, so kann er [. .. ] ihre Aufhebung beantragen. « (§30 Abs. 1 Verschollenheitsgesetz)
Eine mögliche Antwort ergibt sich aus der Feststellung, daß es auch schon vor der Entwicklung der Intensiv- und Transplantationsmedizin gelegentlich Situationen gab, bei denen es zumindest aus rechtlicher Sicht auf eine minuziöse Festlegung eines Todeszeitpunkts ankam, etwa bei der Frage der Erbfolge zweier nahezu gleichzeitig sterbender Ehepartner. Die Lösung durch die Rechtsprechung bestand darin, die Gleichzeitigkeit der Todeszeitpunkte der beiden Gatten zu stipulieren, so lange nicht erwiesen war, daß der eine vor dem anderen gestorben war. 1 Eine Möglichkeit, dem Bedürfnis nach einer schärferen Bestimmung des Todes entgegenzukommen, besteht also in der stipulativen Festlegung. Eine solche Stipulation ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn man bereit ist, die ethische Grundannahme als begriffliche Wahrheit anzusehen. Es gäbe dann neben dem deskriptiven Todesbegriff (als Ende des Lebens) einen normativen Todesbegriff, dem zufolge es eine begriffliche Wahrheit ist, daß ein Mensch genau dann tot ist, wenn die anderen Menschen ihrer Pflichten ihm gegenüber (weitestgehend) entbunden sind. Doch eine solche radikale Lösung des Problems der Todesdefinition hat enge Grenzen. Das zeigt sich, wenn man einen Bereich
Vgl. Hanack, »Todeszeitbestimmung, Reanimation und Organtransplantation«, S. 1320.
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betrachtet, in dem sich der Gesetzgeber noch stärker veranlaßt sah, einen Todeszeitpunkt künstlich zu bestimmen, als bei der Erbfolge: dort, wo ein Mensch einfach spurlos verschwindet. Es gibt ein eigenes Gesetz, das Verschollenheitsgesetz, das die Festlegung eines Todeszeitpunkts für verschollene Menschen regelt, d. h. eines Zeitpunkts, von dem ab eine Reihe der mit dem Tode verbundenen rechtlichen Änderungen wirksam werden, z.B. die Auflösung von Ehen oder die Fälligkeit von Lebensversicherungen. Insofern ist es das Paradigma einer normativen Todeszeitpunkts-Bestimmung. Am Verschollenheitsgesetz zeigen sich nun aber auch die Grenzen, die eine solche stipulative Lösung hat, denn es kann nur für einige der rechtlichen Vorschriften Geltung beanspruchen, nicht für alle. Für das strafrechtliche Tötungsverbot z.B. ist der durch das Verschollenheitsgesetz bestimmte Todeszeitpunkt irrelevant. Wer einem amtlich totgeglaubten aber quicklebendigen Menschen ein Messer in die Rippen stößt, kann sich vor Gericht nicht darauf berufen, bloß Leichenschändung begangen zu haben. Denn natürlich kann jemand offiziell für tot erklärt werden, ohne wirklich tot zu sein. Wie das Eingangszitat zeigt, trägt das Verschollenheitsgesetz diesem Umstand ausdrücklich Rechnung. Das Gesetz versucht also gar nicht, einen Todeszeitpunkt zu stipulieren, sondern es nennt einen Zeitpunkt, von dem ab man in gewissen Zusammenhängen so tun darf, als sei der Mensch tot, auch wenn man dies nicht genau weiß. Es ist das Resultat einer Güterabwägung zwischen den Rechten und Interessen des Verschollenen auf der einen Seite und den Rechten und Interessen der Angehörigen und der Allgemeinheit z.B. an geordneten Eigentumsverhältnissen. Die Verbote des Strafgesetzbuches aber, sowie die dahinter stehenden ethischen Normen handeln vom »wirklichen « Tod. Man könnte gleichwohl versucht sein, ähnliche Abwägungen auch mit Blick auf den »wirklichen« Todeszeitpunkt anzustellen, also auf der einen Seite in Betracht zu ziehen, bei welcher Datierung des Todes die Belange des Sterbenden am besten geschützt sind und auf der anderen, welche sonstigen Rechte und Interessen eine Rolle spielen sollten. Diese Position ist in den letzten Jahren von einer ganzen Reihe von Theoretikern vertreten worden.2 Doch das wäre ein aus medizinischer Sicht enttäuschender Zug. Denn dann wäre die Frage, So schreibt Robert Veatch: »i have consistently maintained that death should be the name we give to the condition under which it is appropriate to initiate a series of be-
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wann ein Mensch tot ist, gleichbedeutend mit der Frage, wann sich die Pflichten ihm gegenüber reduzieren, während hinter der Hirntod-Debatte die Hoffnung steht, daß sie eine Rechtfertigung dafür bieten kann, daß sich diese Pflichten an einem bestimmten Punkt verringern.
5.1.2 Moralische Personalität und die Suche nach einem moralischen Todesbegriff Es gibt aber auch einen anderen, aussichtsreicheren Weg, der ethischen Grundannahme gerecht zu werden, ohne den Todesbegriff als normativ anzusehen. Man kann sich fragen, ob nicht der durch die ethische Grundannahme behauptete Abbruch unserer moralischen Stellung in der Welt eine Grundlage in den Veränderungen hat, denen ein Mensch im Tod unterworfen ist. Das wäre der Fall, wenn es eine Eigenschaft gäbe, auf der unsere moralische Stellung beruht, die mit dem Tod schlagartig verloren geht. Diese Überlegung nimmt den Vorbehalt auf, mit dem das vorige Kapitel schloß. Wenn der Tod im Verlust der Personalität besteht, dann nicht im Sinne metaphysischer, sondern moralischer Personalität, d. h. im Verlust derjenigen Merkmale, die dafür verantwortlich sind, daß man mit uns und unseresgleichen zu Lebzeiten bestimmte Dinge nicht tun darf und andere Dinge für uns tun muß. Die Frage, mit der ich mich deshalb im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschäftigen werde, ist, ob es eine Eigenschaft gibt, für die sich erstens plausibel machen läßt, daß sie für unsere moralische Personalität verantwortlich ist, und zweitens, daß sie mit dem Tod des Gehirns verloren geht. Findet sich eine derartige Eigenschaft, dann steht es einem frei, einen moralischen Todesbegriff als Ausdruck für den Verlust der moralischen Personalität neben den biologischen für den Verlust des biologischen Lebens zu stellen und zu konstatieren, daß ein hirntoter Mensch zumindest in moralischer Hinsicht tot sei. Die Behauptung, daß es sich bei dem Verlust der moralischen Personalität um einen Tod handele, kann sich dabei auf die ethische Grundannahme über den Tod stützen, der zufolge unser moralischer Status mit Eintreten des Todes schlagartig abbricht. Die Frage ist also,
haviors that are normally initiated when we call someone dead.« (»Whole-Brain, Neocortical, and Higher Brain Related Concepts«, S. 180.)
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Biologisches Leben als Basis moralischer Personalität
ob es eine derartige Eigenschaft gibt. Gegenstand des folgenden Abschnitts 5.2 ist als erste Kandidatin, das biologische Leben selbst.
5.2 Biologisches Leben als Basis moralischer Personalität
Der Tod ist das Ende des biologischen Lebens. Wenn man also wissen möchte, weshalb wir mit dem Tod plötzlich unseren Status als moralische Personen verlieren, liegt es nahe, diesen Umschwung auf den Wert des biologischen Lebens zurückzuführen, das im Tod verloren geht. Die These, daß die Ehrfurcht vor dem Leben die Basis alles Ethischen bildet, ist besonders eindrücklich von Albert Schweitzer vertreten worden, dessen Konzeption ich deshalb im folgenden Abschnitt vorstellen möchte, bevor ich daran anschließend auf die prinzipiellen Probleme zu sprechen komme, vor denen jeder Versuch steht, unsere moralische Personalität an das biologische Leben zu knüpfen.
5.2.1 Albert Schweitzers Ehrfurcht vor dem Leben »Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahns, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte.[ ... ] Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort >Ehrfurcht vor dem Leben< vor mir.« (Albert Schweitzer, »Aus meinem Leben und Denken«)
Der Ausgangspunkt von Schweitzers Überlegungen ist eine globale und wenig kontroverse philosophiehistorische Feststellung. Der philosophischen Ethik vor ihm sei es nicht gelungen, einen dauerhaften ethischen Fortschritt zu erzielen, d. h. einen Grundbestand ethischer Prinzipien zu erarbeiten, auf denen die folgenden Philosophen aufbauen konnten. Die Geschichte der Ethik sei statt dessen voll von Neuanfänge und Wiederbelebungsversuchen, denen aber immer nur eine begrenzte Dauer beschieden gewesen sei, bevor sie wieder zugunsten anderer Konzepte verworfen worden seien. 3 Schweitzer »Warum ist die Begründung der Ethik immer nur teilweise und zeitweise, aber nie dauernd gelungen? Warum ist die Geschichte des ethischen Denkens der Menschheit die Geschichte unbegreiflicher Stillstände und Rückschritte? Warum gibt es hier keinen
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empfindet diese Situation als höchst unbefriedigend, und er erklärt den Mißstand daraus, daß es der Ethik bislang eben immer noch nicht gelungen sei, ein wirkliches Grundprinzip des Sittlichen zu finden, aus dem sich dann die verschiedenen berechtigten ethischen Prinzipien als Partikularprinzipien, als »Fragmente« (KE 118), ableiten ließen. Daß dieses Prinzip so lange im Verborgenen blieb, liegt, Schweitzer zufolge, an einem Kardinalfehler aller philosophischen wie auch religiösen Ethiken, dem Anspruch, den Sinn des Lebens aus dem Sinn der Welt abzuleiten. Wir können zwar feststellen, so Schweitzer, daß viele Teile der Welt so zweckmäßig eingerichtet sind, daß sie in der Regel eine ihnen eigene Vollkommenheit erreichen, aber für die Welt als ganzes läßt sich ein derartiger Zweck nicht feststellen. (Zudem wäre es ja auch angesichts unserer kosmischen Winzigkeit vermessen anzunehmen, daß in einem solchen Weltzweck den Menschen eine spezifische Rolle zukäme.) 4 Angesichts dieser Rätselhaftigkeit des Weltzwecks steht die traditionelle Philosophie vor dem Dilemma, entweder auf kurzlebige Sophistereien auszuweichen, die die eigene Lebensanschauung in die Welt projizieren (z.B. Kant folgend durch >Postulate der praktischen VernunftgedankenlosIch denke, also bin ich.< [... ]Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet >Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.instinktive< Grundtatsache, das moralische Streben, das sich beim Menschen neben die reine Lebensbejahung schiebt. »Die Lebenbejahung strengt sich an, Lebensverneinung in sich aufzunehmen, um anderen Lebewesen in Hingebung zu dienen und sie, eventuell durch Selbstaufopferung, vor Schädigung oder Vernichtung zu bewahren.« (KE 310). Diese Hingebung zugunsten von anderem Leben als dem eigenen, versöhnt als Weltbejahung die individuelle Lebensbejahung mit der individuellen Lebensverneinung. 8 Wer sein Leben für andere opfert, widerspricht nicht dem eigenen Willen zum Leben, sondern macht deutlich, daß dieser individuelle Lebenswille auf dem allgemeinen Wert allen Lebens basiert. 9 Wie allerdings die Balance zwischen individueller Lebensbejahung und Lebensverneinung zugunsten anderer auszusehen hat, ist nicht allgemeingültig zu bestimmen. Vielmehr gehört es zum Wesen der Ethik, daß dieser Ausgleich immer wieder als problematisch erlebt und trotzdem gesucht werden muß. Jeder Mensch steht ständig vor der Aufgabe, sowohl sich selbst vervollkommnen, als auch, sich für andere hingeben zu müssen. So viel zu Albert Schweitzers Konzeption einer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Ausgangspunkt dieses Abschnitts war die Frage, ob man die ethische Annahme über den Tod darauf zurückführen könne, daß sich der Status eines Menschen als moralische Person daraus erklärt, daß er biologisch am Leben ist, und daß, wie im zweiten Kapitel gezeigt, mit dem Tod das biologische Leben des Menschen endet. Die Konzeption Schweitzers scheint eine positive Antwort zu geben: Wenn das ethische Grundprinzip in der Ehrfurcht vor dem Leben liegt, dann ist es klar, daß sich der moralische Status eines Menschen schlagartig ändert, sobald er nicht mehr lebt. Doch dieser Eindruck trügt, die Ethik Schweitzers bietet, wie sich im folgenden zeigen wird, keinen Grund, den Verlust des biologischen Lebens für den Verlust moralischer Personalität verantwortlich zu machen, und zwar teilweise aus Gründen, die nichts mit Schweitzers spezieller Konzeption zu tun haben, sondern sich gegen jeden Versuch richten, »Ethik entsteht dadurch, daß ich die Weltbejahung, die mit der Lebensbejahung in meinem Willen zum Leben natürlich gegeben ist, zu Ende denke und zu verwirklichen versuche. « (KE 328) 9 »Ethik besteht also darin, daß ich die Nötigung erlebe, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Damit ist das denknotwendige Grundprinzip des Sittlichen gegeben. « (KE 331)
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Biologisches Leben als Basis moralischer Personalität
die moralische Personalität aus dem biologischen Leben zu begründen. 5.2.2 Das Problem, moralische Personalität aus biologischen Leben abzuleiten
Die immanente Rekonstruktion der Überlegungen Schweitzers kann nicht die vielen fragwürdigen Prämissen und Argumentationsschritte verdecken. Angefangen von der umfassenden Kritik aller Ethiken vor ihm, über die seltsame These, der Wille zum Leben könne dieselbe Funktion einnehmen wie Descartes' Cogito, bis hin zu dem in der Moralphilosophie verbreiteten, aber immer wieder halsbrecherischen Schritt von dem eigenen Wollen zur Evaluation des Wollens anderer Wesen, gibt es hinreichend gute Gründe, Zweifel an der Stimmigkeit von Schweitzers Ethik zu haben. Für das Thema dieser Untersuchung ist es aber gar nicht nötig, die Konzeption Schweitzers kritisch zu durchleuchten. Es reicht aus, zu prüfen, ob sie, angenommen sie sei wahr, die These stützt, daß moralische Personalität auf biologisches am Leben Sein gegründet ist, denn das Ergebnis dieser Prüfung fällt negativ aus. Erstens ist Schweitzers Begriff des Lebens nicht deckungsgleich mit dem des biologischen Lebens, und zweitens unterscheidet sich die Ehrfurcht vor dem Leben deutlich von der Achtung vor der moralischen Personalität. An einer zentralen Stelle von »Kultur und Ethik«, an der er erläutert, worin das Wesen des Willens zum Leben besteht, irritiert Schweitzer seine Leser mit einer sonderbaren Illustration: »Im blühenden Baum, in den Wunderformen der Qualle, im Grashalm, im Kristall: überall strebt er [i. e. der Wille zum Leben] danach, Vollkommenheit, die in ihm angelegt ist, zu erreichen.« (KE 302). Verblüffend ist die Einbeziehung des Kristalls in diese Liste, denn selbstverständlich wußte Schweitzer, daß Kristalle keine Lebewesen sind. Man kann diese Textstelle auch nicht als überschwengliche Ungenauigkeit beiseitewischen, denn Schweitzer hat in einer späteren Auflage des Buches einen Eiskristall ausdrücklich in eine ähnliche Liste an anderer Stelle eingeführt, in der er sich in der Erstausgabe ursprünglich nicht fand. 10 Eine bessere Erklärung der Erwähnung des Kristalls findet sich, 10 Diese modifizierte Textstelle wird dann von Peter Singer in seiner Kritik Schweitzers zitiert. Den Hinweis darauf, daß die Kristall-Passage erst später eingefügt wurde, gibt
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Der Tod als Verlust moralischer Personalität
wenn man weitere Textpassagen heranzieht, in denen Schweitzer den Willen zum Leben beschreibt. So sagt er beispielsweise in der Vorrede zu »Kultur und Ethik«: »In der Natur tritt uns der Geist als rätselhaft schöpferische Kraft entgegen. In unserem Willen zum Leben erlebt er sich in uns als welt- und lebensbejahendes und als ethisches Wollen« (KE 88). Und im unmittelbaren Anschluß an die zitierte Kristall-Passage schreibt er: »In allem, was ist, ist durch Ideale bestimmte, vorstellende Kraft am Werke.« (KE 302), um dann einige Seiten später anzuschließen: »Es genügt ihr [i. e. der Ethik] zu wissen, daß die gesamte Sinnenwelt eine Erscheinung von Kräften, das heißt von rätselhaft vielfältigem Willen zum Leben ist.« (KE 310). Die Zitate zeigen, daß es Schweitzer nicht um eine Ehrfurcht vor dem speziell biologischen Leben ging, sondern vor dem auf Zweckvervollkommnung ausgerichteten Wirken in der Natur generell. Er sah den Willen zum Leben, den jeder an sich selbst feststellen kann, nur als einen Teil des »Geistes«, d. h. einer in ihren Ursprüngen rätselhaften Kraft, die dafür sorgt, daß die Teile der Welt ihre Bestimmung, ihr Telos, erreichen 11 • Die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet, diesen Prozeß nicht zu behindern, ganz unabhängig davon, ob es sich beispielsweise um das Wachsen einer Pflanze oder eines Kristalls handelt. 12 Zur Rücksichtnahme speziell gegenüber Pflanzen, Tieren und Menschen verpflichtet diese Ethik erst deshalb, weil diese biologischen Wesen besonders gute aber auch fragile Instanzen des zweckgerichteten Wirkens in der Natur sind. Sie existieren eben nicht nur als Materie, die ihren Zweck bereits erreicht hat, sondern sind, wie schon bei Aristoteles, ihrem Wesen nach Möglichkeiten, sich weiter zu entwickeln und zu vervollkommnen, woran man sie auf zahllose Weise hindern kann aber eben nicht hindern darf. Ehrfurcht dieser Art ist uns allen vertraut. Steine zu zertrümmern erscheint uns gewöhnlich als moralisch unbedenklich, aber kaum jemand wird es seinem Kind erlauben, aus bloßer Lust die Stalaktiten einer neu entdeckten Tropfsteinhöhle herunterzuschlagen. Ebenso hat ein markanter z.B. eselsköpfiger Felsvorsprung beim Singers Übersetzer Jean-Claude Wolf in einer Anmerkung zur deutschen Übersetzung. Vgl. Singer, Praktische Ethik, S. 126. 11 Vgl. die Ausführungen in John Kleinig, Valuing Life, S. 47 ff. 12 »Vertiefte Welt- und Lebensbejahung besteht darin, daß wir den Willen haben, unser Leben und alles durch uns irgendwie beeinflußbare Sein zu erhalten und auf seinen höchsten Wert zu bringen.« (KE 298, meine Emphase).
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Bau einer Umgehungsstraße deutlich bessere Chancen, erhalten zu bleiben, als ein ganz normaler Steinblock. Unsere Alltagsmoral ist also durchaus bereit, dem Eigentümlichen und Bizarren einen Wert einzuräumen. Allerdings beschränkt sich unser alltäglicher Respekt auf das Spektakuläre, das zugleich auch etwas besonderes ist. So wird das Kind z.B. leichter die Erlaubnis erhalten, die Eiszapfen von der Regenrinne zu schlagen als die Tropfsteine in der Höhle. Hier unterscheidet sich Schweitzers Ehrfurcht von der alltäglichen. Er kann die Beschränkung auf das Besondere nicht akzeptieren. Für Schweitzer gebührt unsere Ehrfurcht nicht nur dem raren Berg-, sondern auch dem gewöhnlichen Eiskristall, nicht nur dem Edelweiß, sondern ebenso dem Gänseblümchen. Es ist nicht leicht zu sagen, worin für Schweitzer die Grenze des Lebens liegt, ob also nur der Kristall, oder auch der Kieselstein ein Produkt der Lebenskraft ist. Jedenfalls gibt es aber keinen speziellen Grund, seinen Lebensbegriff auf das biologische Leben zu beschränken. Diese Feststellung verleiht dem zweiten Grund, Schweitzer nicht für die Hirntod-Debatte in Anspruch zu nehmen, zusätzliches Gewicht, der darin liegt, daß die Ehrfurcht vor dem Leben gerade nicht den Wert erklärt, den wir unserem Leben beimessen, und den ich mit dem Begriff moralischer Personalität abgedeckt habe. Die Vorstellung, daß wir bis zu unserem Tod moralische Personen sind, d. h. auf besondere Weise geschützt und beachtenswert, lebt davon, daß uns damit eine Ausnahmestellung in der Welt zukommt. Das muß weder heißen, daß der Rest der Welt moralisch wertlos ist, noch daß es keine Umstände gibt, unter denen es geboten ist, die Achtung vor den Personen gegenüber der Rücksichtnahme vor anderem zurückzustellen. Es heißt aber, daß in der Regel Personen ganz anders zu achten sind als moralische Nichtpersonen. Da wir jedoch die Eigenschaft, am Leben zu sein, mit Tieren, Pflanzen, Bakterien, ja Schweitzer zufolge selbst mit Kristallen u.ä. teilen, ergibt sich daraus gerade keine Sonderstellung. Schweitzers Ethik gebietet zwar Ehrfurcht vor unserem Leben, aber eben nur so, wie sie auch Ehrfurcht vor dem Leben einer Blume und sogar dem »Leben « einer Eisblume fordert. Weil Eisblumen, wie auch echte Blumen und viele andere Lebewesen sicher keine moralischen Personen sind, ist nicht zu erkennen, daß Schweitzers Ethik eine Basis für unsere moralische Personalität und damit für einen zentralen Bestandteil der Ethik überhaupt liefert. Schweitzer selbst war anderer Ansicht. Er beansprucht ausPr 219
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drücklich, das Grundprinzip des Sittlichen gegeben zu haben, aus dem sich alle anderen ethischen Prinzipien ableiten lassen, auch wenn er diese Ableitung dann nicht vorführt. 13 Was er meint, ist offenbar, daß sich die unterschiedlichen Verpflichtungen gegenüber verschiedenen Lebewesen aus den stark voneinander abweichenden Vollkommenheiten ergeben, auf die das Leben dieser Wesen ausgerichtet ist. Man kann eben ein Menschenleben viel stärker fördern, resp. behindern als ein Blumenleben, woraus sich u. U. ein höherer Anspruch des Menschen auf Zuwendung und Rücksichtnahme ableiten ließe. Doch diese Begründung ist nicht hinreichend, um zumindest einen entscheidenden Unterschied zwischen moralischen Personen und anderen Lebewesen zu erklären, den unterschiedlich großen Schutz vor Vernichtung. Schweitzer hat mehrmals dazu Stellung genommen, daß die Lebensinteressen verschiedener Wesen so stark in Konflikt zueinander geraten können, daß jedenfalls eines der beiden in seiner Existenz bedroht ist, auch wenn in der Regel nicht beider Existenz auf dem Spiel steht. Er bezeichnet diese Situation als >Selbstentzweiung des Willens zum Lebenangewandten, relativen Ethik< den Grundsatz entgegen, alles Vernichten und Schädigen von Leben sei böse. Jeder Mensch sei der >grausigen NotwendigkeitLife's Uncertain VoyageEpisode< schließlich besteht einfach darin, daß der Australier gar kein Interesse daran hat, sich den Himalaya anzusehen (und deshalb natürlich auch keine Anstalten macht hinzureisen). Nun fragt Singer, welche dieser Episoden wir am liebsten durchleben würden, und er gelangt zu einer in seinen Augen wenig strittigen Rangordnung: 1-4-3-2. Am besten ist es, den anstrengenden, aber von großem Glück gekrönten Weg zu gehen, danach kommt das Leben, das gar nicht erst nach solchem Glück drängt, dann das, daß sich der Unerreichbarkeit des großen Glücks frühzeitig gewahr wird, und am elendsten ist schließlich ein Leben, dessen Anstrengungen zunichte werden in dem Augenblick, in dem der Erfolg zum Greifen nahe ist. Singer schlägt nun vor, Shakespeare, dem er den Titel seines Aufsatzes verdankt, und anderen berühmten Vorbildern zu folgen, und sich das ganze Leben als eine Art Reise vorzustellen, wie z.B. die Reise des Australiers in den Himalaya. Dann fällt es leicht, so Singer, entsprechende qualitative Unterschiede auch zwischen verschiedenen Leben zu treffen. Es gibt dann bessere und schlechtere Leben, und man kann leicht erklären, was die guten von den schlechten unterscheidet. Wie bei einer Reise besteht das Leben einer Person in seinen frühen Phasen überwiegend darin, sich auf die Zukunft vorzubereiten, zu planen, zu lernen, Weichen zu stellen, während später sozusagen die Erntezeit einsetzt, in der es mehr darum geht, Dinge zu vollenden, bis man im Alter schließlich das meiste erledigt und hinter sich gebracht hat und sich sozusagen auf der Heimreise des Lebens befindet. Je nachdem, wieviel Aufwand nötig ist, wie groß die Ernte ausfällt und wann das Leben endet, bemißt sich der Wert des Lebens. Dieses Bild ist kitschig und übersimplifiziert, aber es reicht, um zu erläutern, wie Singer es auf die hier diskutierten ethischen Fragen angewandt wissen möchte. Vor allem verspricht er sich davon, daß es hilft, die schrägen Unterschiede in der Bewertung junger gegenüber etwas älteren Menschen geradezurücken und damit auch das Ersetzbarkeitsproblem zu lösen. Wenn ein Mensch schon als kleines Kind stirbt, dann, so Singer, entgeht ihm zwar vieles, was ihm das Leben 276
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sonst zu bieten gehabt hätte, aber er hat in dieses Leben auch noch nicht viel investiert. Seine Reisepläne sind sozusagen gleich im ersten Reisebüro geplatzt (wie die Himalaya-Tour in der dritten Episode). Stirbt der Mensch dagegen erst gegen Mitte seines Lebens, dann erwarten ihn zwar, wie gesagt, erheblich weniger Präferenzerfüllungen als sie das Kind noch vor sich gehabt hätte, andererseits hat der Mensch für diese verbleibenden Erfüllungen aber schon eine Menge auf sich genommen, und dieses »investment in a life«, wie Singer es nennt73, verschafft ihm ein größeres Interesse daran, seine Projekte zu verwirklichen, als wenn er noch gar nicht mit seiner Planung begonnen hätte. Die dreißigjährige Mutter, von der oben schon die Rede war, steht zwar insofern deutlich schlechter da als ihr einjähriges Kind, als sie viel weniger vom Leben zu erwarten hat als dieses, andererseits hat die Mutter aber anders als das Kind in ihrem Leben auch schon sehr viel in die eigene Zukunft investiert, was durch ihren Tod vertan würde. Ist die Mutter beispielsweise Schriftstellerin und hat bereits die ersten hundert Seiten ihres neuen Romans fertiggeschrieben, dann hat sie ein stärkeres Interesse, das Buch zu vollenden, als ihre einjährige Tochter ein Interesse hat, ein Buch zu vollenden, die ja noch keine Mühe in ein Buchprojekt gesteckt hat. Folglich wiegt es schwerer, daß der Tod der Schriftstellerin die Fertigstellung des Buches vereitelt, als daß der Tod des Kindes verhindert, daß dieses als Erwachsene ein Buch schreibt. Das Ungleichgewicht zwischen dem Lebensinteresse des Kindes und dem seiner Mutter, von dem der klassische Utilitarismus ausgehen mußte, wird also bei Singer durch den an die Lebensinvestitionen geknüpften Interessenbegriff ausbalanciert, so daß es nicht mehr selbstverständlich ist, daß etwa im Verlauf von Geburtskomplikationen (von indirekten Gründen abgesehen) die Rettung des Kindes höher zu bewerten ist als die der Mutter. Mit zunehmendem Alter schwindet dann aber das Gewicht der Lebensinvestitionen, weil sich immer mehr Investitionen entweder ausgezahlt haben oder als Verluste abgeschrieben werden müssen. Wenn man einen älteren Menschen tötet, konterkariert man deshalb nicht nur vergleichsweise wenige zukünftige Präferenzerfüllungen, sondern vertut auch nur noch wenige noch offene Lebensinvestitionen des Opfers. Für Singer verläuft die Entwicklung des Lebenswerts einer Person im Laufe ihres Lebens also nicht stetig absteigend, wie 73
»>Life's Uncertain Voyage«Life's Uncertain VoyageLeben< die Rede ist, kann allerdings nicht das Leben im Sinne des am Leben Seins gemeint sein, wie es im zweiten Kapitel ausgeführt wurde. Die Biographie, von der Rachels spricht, ist nicht an das Leben im biologischen Sinn gebunden, sondern soll ja gerade dazu dienen, einen für ethische Belange relevanten Lebensbegriff auszuzeichnen. Es geht also genau genommen um die Frage, von welchem Stadium der Existenz eines Menschen an man nichts mehr mit ihm anstellen kann, was Einfluß auf den Wert seines Daseins auf der Welt insgesamt hat - und hier lautet die triviale Minimalantwort: man kann ihm sicher nicht mehr mereologisch schaden, wenn es ihn nicht mehr gibt. Die Grenzen seiner Existenz beenden die Möglichkeiten, ihm mereologisch zu schaden, sei es dadurch, daß man ihm etwas vorenthält, oder dadurch, daß man ihn in einen schlechteren Zustand versetzt, als er es sonst gewesen wäre. Diese Minimalauskunft ist für die Annahme, daß man jemandem nach dem Hirntod nicht mehr auf die für moralische Personen charakteristische Art schaden könne, aber nur dann hilfreich, wenn man die im vierten Kapitel diskutierte Ansicht teilt, daß der Hirntod zugleich das Ende unserer Existenz ist (vgl. 4.2). Dann kann man, wie Lukrez es in dem Eingangszitat dieses Abschnitts für die Leiche beschreibt, die Sorge um das Schicksal des verbleibenden hirntoten Körpers als sentimentale Verirrung betrachten, die daher resultiert, daß man »die eigene Person nicht von der Leiche« trennen kann. Doch unter der Prämisse, daß mit dem Hirntod die Existenz endet, braucht man ohnehin keine ethischen Überlegungen zur Verteidigung der Hirntod-Konzeption, sondern kann sich ganz auf das ontologische Argument verlassen. Hält man hingegen daran fest, daß weder der Hirntod, noch auch normalerweise das Ende des biologischen Lebens (vgl. 4.2.2) mit dem Ende des Existenz zusammenfallen, dann ist es zumindest nicht selbstverständlich, daß das Schicksal, das uns zwischen diesen Grenzen blüht (also als hirntoter oder biologisch toter Mensch), überhaupt keinen Einfluß auf den Wert unserer Biographie hat. Jedenfalls steht es, wie Lukrez richtig bemerkt, in krassem Widerspruch zu unseren verbreiteten Überzeugungen. Zwar stimmt es, daß uns am Tod in aller Regel hauptsächlich stört, daß er uns ein Weiterleben vorenthält. (Das war das Ergebnis von Abschnitt 5.5.5.2.) Aber es ist uns auch keineswegs gleichgültig, was mit unserer Leiche geschieht, und zwar deshalb nicht, weil wir das Gefühl haben, daß es unser Leben insgesamt beschädigt, wenn sie übel trakA- 317
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tiert wird. So haben wir keine Mühe, das Wehklagen von Priamos und Hekabe zu verstehen, die zusehen müssen, wie Achilles ihren Sohn Hektor nicht nur tötet, sondern anschließend die Leiche mit dem Kampfwagen durch den Staub schleift. Wir würden auch nicht wollen, daß dies mit uns geschieht - auch dann nicht, wenn niemand zusieht und keine Angehörigen darunter leiden müßten. Kaum jemand wäre bereit, sich postum auf einem Rummelplatz ausstellen zu lassen (sei es auch für einen wohltätigen Zweck), und selbst die seriöse Variante, sich in der Pathologie von Medizinstudenten sezieren zu lassen, stößt viele Menschen ab, weil sie es als unwürdig erachten, daß das irdische Dasein von jemandem wie ihnen auf diese Weise zu Ende geht. Natürlich könnte es sein, daß wir damit bloß einem verbreiteten Vorurteil aufgesessen sind und sich diese Überzeugungen letztlich als haltlos erweisen werden, aber zumindest sind sehr gute Gründe nötig, um das plausibel zu machen. Noch weniger einleuchtend ist die Annahme, daß die Grenze, von der ab man einem Menschen nicht mehr mereologisch schaden kann, bereits beim dissoziierten Hirntod überschritten ist. Sie steht im direkten Widerspruch zu dem Unbehagen, das viele Menschen bei der Vorstellung befällt, sich selbst in diesem Zustand zu befinden, und manche Menschen sogar zu der Feststellung veranlaßt, daß sie lieber richtig tot als bloß hirntot wären. Sie wollen eben ihr Leben nicht damit beenden, tagelang ohne Bewußtsein und ohne jede Chance für eine wache Zukunft als bloßer Gegenstand medizinischer Pflege und Behandlung dahinzuleben. Sie haben eine andere Vorstellung davon, wie ihr Leben insgesamt aussehen sollte, und empfinden ein Leben mit einem solchen hirntoten Appendix als weniger wert als eines, das zu Ende geht, sobald mit dem Tod des Gehirns alle Aussicht auf Wiedergenesung zerronnen ist. Man kann unterschiedlicher Meinung darüber sein, inwieweit das stimmt, ob also ein kürzeres Leben wirklich besser ist als eines, dem noch eine Phase des Hirntods folgt, aber die Ansicht, daß es für die Biographie eines Menschen überhaupt keine Rolle spielen sollte, ob er die letzten Tage seines Lebens hirntot auf einer Intensivstation liegt, oder ob man seine medizinische Behandlung mit Eintritt des Hirntods abbricht und ihn fertig sterben läßt, ist schwer nachzuvollziehen. Vertreten wird diese Auffassung von James Rachels, der ausdrücklich bestritten hat, daß die Biographie eines Menschen erst mit 318
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seiner Existenz endet. 103 Er ist der Überzeugung, daß bereits ein unwiderruflicher Bewußtseinsverlust, wie er beispielsweise bei einem chronischen apallischen Syndrom und erst recht beim dissoziierten Hirntod auftritt, hinreichend dafür ist, daß das Leben dieses Menschen im biographischen Sinn zu Ende ist. Rachels begründet diese Ansicht damit, daß eine Biographie eine zeitübergreifende Komplexität erfordert, die Menschen mit derart schweren Hirnschädigungen nicht mehr herstellen könnten. Doch dieses Argument ist nicht stichhaltig. Ein stark hirngeschädigter Mensch kann zwar selbst die Verbindungen zu seiner Vergangenheit nicht mehr herstellen (also sich erinnern, etwas bereuen etc.), aber daraus folgt nicht, daß es für den Wert des komplexen Gesamtlebens irrelevant wäre, was mit ihm nach dem Bewußtseinsverlust geschieht. Der zeitübergreifende Zusammenhang wird schon dadurch hergestellt, daß dieser Mensch früher einmal Pläne und Vorlieben für seine Zukunft gehabt hat, die man jetzt mit dem letzten Stadium seines Lebens vergleichen kann, so daß man das Leben des Menschen danach beurteilen kann, inwieweit sie eingetreten sind - z.B. als tragisch, wenn er immer einen schnellen Heldentod auf dem Schlachtfeld sterben wollte, und statt dessen Jahrzehnte bewußtlos im Pflegeheim verbringt. 104 Während es also höchst zweifelhaft ist, daß man der Biographie eines hirntoten Menschen gar keinen mereologischen Schaden mehr antun kann, unabhängig davon, was man anstellt, ist es offensichtlich, daß es viele Schäden gibt, die man ihm tatsächlich nicht mehr zufügen kann. Einen Hirntoten kann man nicht mehr daran hindern, seine Projekte durchzuführen, und man kann nicht mehr dafür sorgen, daß er sich schlecht fühlt. Man kann ihn betrügen, aber nicht überlisten, ihn mißachten, aber nicht enttäuschen, usw. Die Tatsache, daß die Schadensmöglichkeiten einem Hirntoten gegenüber so stark eingeschränkt sind, stützt nicht die Hirntod-Konzeption, sie führt aber wieder einmal dazu, daß man auch aus der schadensbasierten Perspektive zu einer ethischen Bewertung der Behandlung Hirntoter kommen kann, ohne auf die Gleichsetzung des Hirntods mit dem Ende der moralischen Personalität angewiesen zu sein. Einern hirn-
Rachels, The End of Life, S. 55 ff. Deshalb ist es auch viel plausibler anzunehmen, daß man dem Gesamtleben eines Lebewesens, das sich noch nie seiner Zeitlichkeit bewußt war (also in Singers Sinn noch nie eine Person war) und es auch niemals sein wird, mereologisch nicht schaden kann. Weil das hier aber nicht mein Thema ist, gehe ich darauf nicht weiter ein.
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toten Menschen Organe zu entnehmen, die ein anderer Mensch zum überleben braucht, durchkreuzt bei dem Hirntoten weder eine attraktive Zukunft, noch leidet er darunter, noch versetzt es ihn in einen elenderen Zustand oder ist per se etwas Würdeloses. Ob es ihm gleichwohl schadet, das hängt nur davon ab, wie es sich in sein bisheriges Leben einfügt, und dafür ist es vor allem wichtig, ob es mit seinen früheren Wünschen übereinstimmt oder nicht. Je besser es zu seinen eigenen Vorstellungen von seinem Leben paßt, desto geringer ist der Schaden, den man an seinem Leben anrichtet, wenn man ihn durch eine Explantation tötet, und um so wahrscheinlicher ist es, daß die Explantation ethisch gerechtfertigt ist. (Möglicherweise verleiht es seinem Leben sogar einen letzten zusätzlichen Wert, wenn er einem anderen Menschen mit einer Organspende aus der Not hilft.) Die Hoffnung aber, daß sich die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Ende der moralischen Personalität auf die Annahme stützen könnte, daß man jemandem einen mereologischen Schaden an der Biographie zufügt, wenn man ihn tötet, wird enttäuscht. Alles spricht dafür, daß man einem Menschen, solange er überhaupt noch existiert, auch Schaden zufügen kann. Das provoziert die Frage, ob man mit dem Verständnis des Tötens als einem mereologischen Schaden wirklich eine angemessene Grundlegung des Tötungsverbots gefunden hat, oder ob es nicht nötig wäre, abermals weiter zu suchen nach dem Schaden, den man jemandem antut, wenn man ihn umbringt. Die beiden folgenden Abschnitte werden zeigen, weshalb ich sowohl skeptisch bin, ob dadurch die epikureische Herausforderung befriedigend pariert wird, als auch prinzipiell bezweifle, daß man auf diesem Weg überhaupt zu einem vollwertigen Tötungsverbot gelangt.
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5.5.5.4 Noch einmal die epikureische Herausforderung »Etwa ein halbes Jahr nach dem Tod des Großvaters schrieb der Buchdrucker meinem Vater, daß die Mutter jetzt jeden zweiten Tag im Gasthof esse. Was für eine Nachricht! Großmutter, die zeit ihres Lebens für ein Dutzend Menschen gekocht und immer nur die Reste aufgegessen hatte, aß jetzt im Gasthof! Was war in sie gefahren? [. .. ] Die Briefe meines Onkels wurden ganz hysterisch, handelten nur von der >unwürdigen Aufführung unserer lieben Mutter< und gaben sonst nichts mehr her. Das weitere habe ich von meinem Vater. Der Gastwirt hatte ihm mit Augenzwinkern zugeraunt: >Frau B. amüsiert sich ja jetzt, wie man hört.«< (Bertolt Brecht, »Die unwürdige Greisin«)
Die epikureische Herausforderung lag in der Feststellung, daß der angebliche Schaden des Todes (zumindest in den Fällen, in denen der Tod mit der Vernichtung zusammenfällt) keinen Geschädigten zurückläßt, was widersinnig zu sein scheint. Das Verständnis des Tötens als eine Form von rückwirkender Schädigung umging diese Provokation zwar mit dem Hinweis darauf, daß es weitere (z.B. postmortale) Schädigungen gebe, für die das gleiche gelte, doch am Ende krankte dieser Vorschlag an eben der epikureischen Idee, daß ein Schaden, der einen nicht >antrifft< (weil er erst entsteht, wenn man selbst diese Phase seines Lebens schon hinter sich gelassen hat), keine wirkliche Bedrohung darstellt. Das Verständnis des Tötens als mereologisches Schaden ist in dieser Hinsicht einleuchtender. Weil mereologische Schäden der Biographie stets zu Zeiten der Biographie auftreten, kann man nicht behaupten, daß sie den Geschädigten nicht antreffen. Trotzdem bin ich unsicher, ob damit wirklich Epikurs Überlegung ihren Stachel verloren hat. Schließlich betrifft einen dieser mereologische Schaden sozusagen nur am Rande. Der Schaden ist zwar da, wenn der Geschädigte da ist, aber daß es diese Form von Schaden ist, d. h. daß mit dem, was dem Opfer geschieht, tatsächlich das Leben zu Ende ist, das stellt sich u. U. erst in dem Augenblick heraus, in dem das Opfer nicht mehr existiert. Nach wie vor bleibt der Eindruck, daß man ihm also nicht wirklich schadet. Diesen Eindruck aufzuklären ist das Ziel dieses Abschnitts. Hier kommt Bertolt Brechts Großmutter ins Spiel, von der in dem Eingangszitat die Rede war. Brecht beschreibt in der kurzen »Kalendergeschichte« mit dem Titel »Die unwürdige Greisin« das Leben seiner Großmutter, die sich nach dem Tode des Großvaters von ihren Kindern und Enkeln, für die sie bis dahin aufopfernd geA- 321
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sorgt hat, weitgehend abkoppelt und ein eigenständiges, lebensfrohes Alter verbringt. Brecht charakterisiert das Verhalten seiner Großmutter als einen Wechsel von der Knechtschaft in die Freiheit 105 , ganz im Unterschied zu seinem Onkel, der, wie zitiert, die »Aufführungen der lieben Mutter« als »unwürdig« verdammt, weil sie nicht im Einklang mit dem braven bürgerlichen Leben stehen, das die Mutter bislang geführt hat. Vermutlich hatte Brecht recht und sein Onkel unrecht, aber viel wichtiger ist das, worin beide übereinstimmen, nämlich in der Bewertung der letzten Lebensjahre der Großmutter als Teil ihres Lebens insgesamt. Für Brecht hatten diese Jahre einen positiven Einfluß auf das Leben, sie führten dazu, daß die Großmutter »das Brot des Lebens aufgezehrt [hat] bis auf den letzten Brosamen«, daß sie also, in einer gängigeren Metapher, ein erfülltes Leben gehabt habe, während der Onkel diese Jahre als Schandfleck ihres Lebens ansah. Beide nehmen demnach eine mereologische Perspektive auf die Schädlichkeit bzw. Nützlichkeit dieser Zeit ein. Es ist charakteristisch für das distanzierte Verhältnis der Großmutter zu ihrer Familie, daß man wenig darüber erfährt, wie sie selbst diese Jahre eingeschätzt hat, aber es ist zumindest gut vorstellbar, daß sie weder das Urteil ihres Enkels, noch das ihres Sohnes geteilt hat, sondern daß sie sich für einen lustbetonten Lebensabend entschieden hat, weil ihr der Wert ihres Lebens als ganzes relativ gleichgültig war. Wenn das stimmt, dann hat sie die Freiheit gewählt nicht nur gegenüber den Konventionen ihrer Umgebung, sondern auch gegenüber den Zwängen ihres bisherigen Lebens. Die allermeisten Menschen stehen hin und wieder vor der Frage, inwieweit sie ihr Handeln danach ausrichten sollten, wie es zu ihrem Leben insgesamt paßt, oder ob sie es primär auf die zu erwartende Zukunft abstimmen sollten. Häufig kommt dabei ein Kompromiß heraus. Prinzessin Diana hat in der letzten Zeit vor ihrem Tod keineswegs ignoriert, daß sie die Exfrau des britischen Thronfolgers war, sondern hat sich dem weitgehend angepaßt, aber sie hat sich dadurch nicht davon abhalten lassen, mit einem notorischen Playboy zu flirten, und das vermutlich nicht deshalb, weil sie es für ihr ganzes Leben besser fand, so zu handeln, sondern weil sie es für ihr augenblickliches Leben vorzog. Die meisten Menschen stimmen darin mit ihr Der letzte Satz seines Berichts lautet pathetisch: »Sie hatte die langen Jahre der Knechtschaft und die kurzen Jahre der Freiheit ausgekostet und das Brot des Lebens aufgezehrt bis auf den letzten Brosamen. « (Brecht, Kalendergeschichten, S. 97).
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überein, daß sie in ihrem Lebensvollzug beide Perspektiven berücksichtigen, die zukunftsorientierte, dem kommenden Leben zugewandte, und diejenige sub specie aeternitatis, die auf das Leben insgesamt gerichtet ist. 106 (Es ist auch schwer, sich dem zu entziehen und entweder ein Leben zu führen, ganz ohne Rücksicht darauf, wie dieses Leben als ganzes aussieht, und ohne den Versuch, ihm eine gewisse Integrität und damit auch einen Wert zu verleihen, oder ein Leben zu führen allein mit Blick auf den Wert des Lebens insgesamt.) Akzeptiert man aber, daß wir Wesen sind, denen beides am Herzen liegt, sowohl das Leben insgesamt, wie auch das Leben, das vor uns liegt, dann wird klarer, weshalb die These, Töten bestehe im mereologischen Schädigen des Lebens insgesamt, ein Unbehagen übrigläßt. Die These erklärt das Schädliche am Töten allein aus seinen Auswirkungen auf den lebenswert und spart damit die viel verwirrendere Konsequenz aus, die der Tod für das vor uns liegende Leben hat - nämlich daß da nichts mehr vor uns liegt. Weil wir auch sonst im Leben nicht bereit sind, das Schädliche eines Ereignisses allein daran zu messen, was es zum lebenswert insgesamt beiträgt, ist es so wenig einleuchtend, daß wir im Fall des Todes dazu gezwungen sein sollten. Darin, scheint mir, liegt immer noch der Stachel der epikureischen Herausforderung. Ein Schaden, der sich gar nicht an seinen Auswirkungen auf das zukünftige Leben abschätzen läßt, ist uns fremd. Wir können nicht mit ihm umgehen, weil wir nicht wissen, welchen Stellenwert wir ihm einräumen sollen. Normalerweise wägen wir einen Schaden daran, wie er aus beiden Perspektiven erscheint, doch eben dies funktioniert nicht, wenn die zukunftsorientierte Perspektive wegbricht. Wir können dann immer noch beurteilen, wie groß der Schaden sub specie aeternitatis ist, für unser Leben insgesamt, aber wir wissen nicht wie groß der Schaden ist, der sich für uns daraus ergibt. Denn dazu fehlt uns, bildlich gesprochen, die zweite Koordinate. Dieses Manko ist nicht zu beheben. Die Aussicht, keine Zukunft mehr vor sich zu haben, ist der Aussicht auf eine schlechte Zukunft
106 Diese Unterscheidung deckt sich weitgehend mit Ronald Dworkins Unterscheidung zwischen Erfahrungsinteresse (experimental interest) und kritischem Interesse (critical interest), von der ich für diese Überlegungen stark profitiert habe. (Life's Dominion, Kap. 7).
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nicht assimilierbar. Es gibt eben (ganz abgesehen von den problematischen relationalen Schädigungen) zwei verschiedene Arten, wie sich ein Ereignis schädlich auswirken kann, mereologisch und kausal, auf das Ganze und auf die Zukunft. Wir sind es gewohnt, Ereignisse daran zu messen, wie nützlich oder schädlich sie in beiderlei Hinsicht sind, um daraufhin zu beurteilen, ob sie ein Schaden für uns sind oder nicht. Beim Tod dagegen findet sich nur die eine Dimension, die mereologische, ein Urteil auf der anderen, zukunftsorientierten Achse ist dagegen aus dem von Epikur genannten Grund unmöglich. Deshalb bleibt das Unwohlsein, nicht wirklich behaupten zu können, der Tod sei ein Schaden, Töten also ein Schädigen. Die einzigen, für die das nicht gilt, die folglich keine Mühe haben dürften, den Tod in seiner Schädlichkeit zu beurteilen, sind Menschen, denen es ohnehin allein auf den Wert des Lebens insgesamt ankommt. Das Idealbild eines solchen Menschen findet sich historisch in unmittelbarer Nachbarschaft zu Epikur, in der Stoa. Nun wäre es sicher unbefriedigend, wenn sich die These, daß man jemandem schadet, wenn man ihn tötet, als beschränkt auf diesen eher exotischen Personenkreis erweisen würde - insofern wird die Skepsis dieses Abschnitts nicht ausgeräumt-, doch der Hinweis auf die Stoiker führt zudem noch zu einem ganz anderen Einwand gegen die Ansicht, das Verwerfliche am Töten liege darin, den lebenswert insgesamt zu schädigen. Dieser Einwand ergänzt den durch die epikureische Herausforderung hervorgerufenen Eindruck, daß etwas prinzipiell faul an der schadensbasierten Grundlegung des Tötungsverbots ist.
5.5.6 Die stoische Herausforderung - und ein skeptisches Fazit »Mach dir daher lebenswert das Leben ganz und gar, indem du alle Beunruhigung dafür von dir tust. Kein Gut hilft dem Besitzer, wenn die Seele nicht auf dessen Verlust vorbereitet ist; keines Dinges Verlust aber ist leichter als dessen, was nicht vermißt werden kann, wenn es verloren geht. Folglich: gegen das, was auch den Mächtigsten zustoßen kann, ermanne und härte dich. « (L. Annaeus Seneca, »An Lucilius«, 4.6)
Epikur war der Ansicht, daß es am Tod nichts zu fürchten gebe, weil er kein Übel sei. Darin unterschied sich die epikureische Todesauffassung von ihrer zeitgenössischen Konkurrenz, der Stoa. Wie oben ausgeführt (vgl. 3.5.2), sahen die stoischen Philosophen den Tod sehr wohl häufig als Übel an, allerdings (wie alle anderen Übel auch) nicht 324
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als ein unvermeidliches Obel. 107 Man kann sich dagegen rüsten, indem man so lebt, daß man, wie Epiktet es einmal bildlich ausgedrückt hat, jederzeit an Bord des Schiffes gehen kann, wenn der Steuermann, d. h. der Tod, plötzlich zur Abfahrt ruft. 108 Das stoische Ideal der Apathie impliziert, daß einem der Tod nichts anhaben kann, und zwar in dem Sinn, daß das Leben, das man führt, nicht davon betroffen werden kann, wenn ihm plötzlich ein Ende gesetzt wird. Der Tod ist für das Leben des stoischen Weisen kein mereologischer Schaden. Es ist gut, wie es ist, und es wäre nicht besser gewesen, wenn noch mehr hinzugekommen wäre. Wahrscheinlich ist dieses stoische Ideal unerreichbar (und auch wenig erstrebenswert), aber wenn es überhaupt möglich sein sollte, ihm nahe zu kommen, dann hätte die These, daß man einem Menschen, den man tötet, nur einen mereologischen Schaden zufügen kann, zur Folge, daß man einem stoischen Weisen nicht schadet, wenn man ihn tötet. Das ist zunächst nicht erstaunlich, sondern ein erwünschter Effekt einer Lebenskunst, die sich in gewalttätigen Zeiten bewähren mußte. Wenn einem jederzeit marodierende Banden begegnen können oder das Leben von der Gunst eines launischen Kaisers abhängt, dann muß es ein großes Glück sein, einen Zustand erreichen zu können, der nicht nur angenehm ist, sondern einen darüber hinaus immun macht gegen Schädigungen durch andere. Fatal aber wäre es, wenn man daraus den Schluß ziehen müßte, daß man den stoischen Weisen, weil man ihm dadurch nicht mereologisch schaden kann, folglich bedenkenlos umbringen dürfte. Es kann nicht sein, daß das Tötungsverbot auf Wesen beschränkt ist, die ihr
Leben so eingerichtet haben, daß es mehr wert wäre, wenn es länger dauern würde. Deshalb ist es unbefriedigend, das Tötungsverbot auf die mereologische Schädigung gründen zu wollen, wie es in Abschnitt 5.5.5 diskutiert wurde, wie es aber auch schon den beiden utilitaristischen Positionen zugrunde lag. Die stoische Herausforderung, daß man einem Stoiker durch seinen Tod keinen mereologischen Schaden zufügen kann, tritt neben die epikureische, daß ein Schaden für die allermeisten Menschen niemals nur eine mereologische, sondern im'"' Die Betonung liegt hier auf dem »häufig«. Gerade Seneca betont immer wieder, wie gut es für das Leben sei, daß der Tod stets als Ausweg für unerträgliche oder schmachvolle Situationen offen stehe (vgl. seine »Trostschrift an Marcia«, 22) . 108 Epiktet, »Das Handbüchlein der Moral «, Abschnitt 7. ~
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Der Tod als Verlust moralischer Personalität
mer auch eine zukunftsorientierte Dimension hat, während die Vernichtung eines Menschen diesem gerade keine zu schädigende Zukunft übrigläßt. Beide Herausforderungen zusammen lassen in meinen Augen wenig Zweifel daran, daß die These, das Verwerfliche am Töten liege in seiner mereologischen Schädlichkeit, falsch ist. Man schadet zwar häufig dem Leben eines Menschen als ganzes, wenn man ihn tötet, aber eine tragfähige Grundlage für das Tötungsverbot bietet diese Feststellung nicht. Was folgt daraus für diese Untersuchung? Man kann das negative Ergebnis zum Anlaß nehmen, eine bessere Erläuterung des Schadens zu suchen, den man dadurch anrichtet, daß man jemanden tötet. Doch gerade der Hinweis auf das stoische Ideal spricht gegen diesen Weg und für eine viel radikalere Reaktion. Das stoische Ziel, sich gegen schädliches Verhalten zu immunisieren, ist ja sehr vernünftig, und es ist auch nicht an diese spezielle Ethik geknüpft, sondern entspricht einer basalen Strategie praktischen Denkens, der auch beispielsweise ein Schulkind folgt, das sich mit Gleichgültigkeit gegen die Hänseleien der Mitschüler wappnet. Das grundsätzliche Problem jeder schadensbasierten Ethik liegt nun darin, daß diese kluge Strategie nicht den schon angesprochenen Nebeneffekt haben darf, mit der Immunisierung des Opfers zugleich auch den Täter zu exkulpieren. Es mildert nicht das Gemeine der Hänseleien, wenn der Gehänselte sie an sich abprallen läßt, und es verringert nicht Neros Schuld, daß
er zwar Senecas Tod befehlen, dessen Leben dadurch aber nicht beschädigen konnte. Ich beende deshalb die Suche nach einer schadensbasierten Grundlegung des Tötungsverbots mit der Überzeugung, daß kein derartiger Versuch erfolgversprechend sein wird. Am Töten ist mehr verwerflich, als nur, daß man dem Opfer dadurch einen Schaden zufügt - worin auch immer dieser Schaden angesichts der epikureischen Herausforderung bestehen mag. 109 Deshalb ist es auch nicht 109 Es gibt ein weiteres, generelles Argument sowohl gegen die These, daß das Tötungsverbot allein durch den Schaden gerechtfertigt werden kann, den man damit bei dem Opfer anrichtet, wie auch gegen die beiden utilitaristischen Grundlegungen des Tötungsverbots: Sie schützen zugleich auch solche Entitäten, bei denen wir nicht im Traum daran denken würden, sie unter ein besonderes Vernichtungsverbot zu stellen, zum einen Korporationen (wie Firmen, Staaten, Vereine etc.) und zum anderen das, was ich als >fragmentale Personen< bezeichne, d. h. die Einzelpersönlichkeiten, die ein Mensch in Verlauf einer psychischen Erkrankung, der multiplen Persönlichkeitsstörung, entwickelt. Ich habe die Herausforderung, die in diesen beiden >Opfergruppen
sterblichenBehausung< der Seele allenfalls noch Gegenstand der Pietät (wie ein geerbtes Möbelstück oder die im Nachklang einer Verliebtheit eingetrocknete Rose) . Nicht der Mensch hat seinen Wert mit dem Tod eingebüßt, sondern der Körper hat mit dem Austritt der Seele den ihm geliehenen, externen Wert verloren, der ihm aus sich selbst heraus ohnehin niemals zustand. Natürlich paßt ein solcher Seelenkern nicht mehr in den Menschen, den die moderne Medizin behandelt, weder in das Gehirn, noch anderswohin. Er paßte auch schon nicht mehr recht in das Bild des Sterbens, das im achtzehnten Jahrhundert Moses Mendelssohn zeichnete. Geradezu mitleiderregend ist es, wie die Seele in seiner Darstellung von den körperlichen Verfallsprozessen in die Ecke gedrängt wird, so daß sie schließlich nur noch durch das Schlupfloch einer Fortexistenz außerhalb des Körpers gerettet werden kann. In der modernen Medizin ist nun zwar vordergründig von der Seele überhaupt nicht mehr die Rede, aber zumindest Rudimente davon scheinen noch in der Vorstellung vom Tod als plötzlichem Abbruch oder Umschlag mitzuschwingen - Rudimente, die sich bei Licht besehen mit dem (zunehmend steuerbaren) Prozeß des Sterbens genauso wenig in Einklang bringen lassen, wie die Existenz einer Seele mit Mendelssohns Verfallsprozessen. Das also ist die zweite Erklärung für die offenkundige Attraktivität der ethischen Grundannahme über den Tod. Noch offen ist aber die Frage nach den Konsequenzen für die Hirntod-Debatte und die Ethik der Transplantationsmedizin.
6.3 Von der Hirntod-Debatte zur Ethik der Transplantationsmedizin
Die wichtigste Konsequenz der Abkehr von der ethischen Grundannahme über den Tod liegt in der Entkoppelung der beiden Themen »Tod« und »Transplantation«. Der Tod eines Menschen ist ein Pro334
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zeß, der damit endet, daß dieser Mensch seine arttypische Zusammensetzung aus Körpe'rzellen verloren hat. Er kann langsam oder schnell ablaufen, bis hin zum Extrem plötzlicher Vernichtung. Mit dem Absterben des Gehirns ist ein wichtiger Markstein, ein Point of no return in diesem Sterbeprozeß passiert, aber noch nicht der Tod selbst. Das ist hier die relevante Auskunft zum Thema »Tod«. Für das Thema »Transplantation« ist es dagegen wichtig zu wissen, wie sich dieser Absterbeprozeß auf die ethische Situation dieses Menschen auswirkt, und das hängt davon ab, welche Eigenschaften eines Menschen ethisch relevant sind und wann der Mensch sie im Sterbeprozeß verliert. Weil es nicht länger zu erwarten steht, daß sich eine Eigenschaft darunter findet, an der die moralische Stellung des Menschen insgesamt hängt, macht es auch keinen Sinn, einen eigenen moralischen neben den biologischen Todesbegriff zu stellen, und also löst sich die Ethik der Transplantationsmedizin von der Lokalisation des Todes. Sie muß sich der Kette von Verlusten selbst zuwenden, die an die Stelle der ethischen Grundannahme treten. Jede Organentnahme nimmt einem Lebewesen sein Leben und ist somit ein Verstoß gegen die Ehrfurcht vor dem Leben. Daß dadurch ein Leben beendet wird, ist also stets ein Gesichtspunkt, der gegen eine Organentnahme spricht, aber er ist, wie die SchweitzerDiskussion gezeigt hat, nicht sehr stark. Ein wohlfundiertes ethisches Urteil über die Zulässigkeit einer Organentnahme kann sich nicht allein darauf beschränken, es muß auch die weiteren Verluste berücksichtigen, und das heißt, es muß sich auf Überlegungen stützen, wie ich sie schon an verschiedenen Stellen im fünften Kapitel exemplarisch vorgeführt habe. In Abschnitt 5.3.4 z.B. wurde erläutert, zu welcher Bewertung von Explantationen man gelangt, wenn man allein die Freude und das Leid betrachtet, die aus dieser Behandlung resultieren. Die endgültige Bewußtlosigkeit hirntoter (wie auch anderer schwerst hirnverletzter) Menschen sprach dabei für eine freizügige Organentnahme auch auf Kosten des anschließenden Todes des Spenders. In Abschnitt 5.4.2.2 stellte sich die Frage, inwiefern die Fähigkeit, Wünsche zu haben, Einfluß darauf hat, ob man jemandem Organe entnehmen kann. Weil ein Minimum an kognitiver Kapazität dazu gehört, Wünsche zu haben, die ein Hirntoter (im Unterschied etwa zu einem lebendigen Fisch) nicht hat, gab es auch aus dieser Sicht keine Einwände gegen eine Organentnahme. In den Abschnitten 5.5.4.4 und 5.5.5.3 schließlich ging es um die Frage, inwieweit man hirntoten Menschen noch schaden kann, sei es rückwir~
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Zur moralphilosophischen Überwindung der Hirntod-Debatte
kend oder mereologisch. Das Ergebnis bot ein wichtiges Korrektiv für die libertinären Antworten, die sich aus den ~eiden utilitaristischen Perspektiven ergeben hatten: Der Wert von Organentnahmen und dem daraus resultierenden Lebensverlust hängt aus dieser Sicht stark davon ab, wie sich dieses Daseinsende in das Gesamtleben des Betroffenen einfügt, ob es also beispielsweise seinen schon zuvor gehegten Neigungen und Überzeugungen entspricht oder nicht, und ob es unter würdigen Umständen geschieht, d. h. in dem Bewußtsein, einen Patienten am Ende einer menschlichen Biographie vor sich zu haben und kein geschichtsloses medizinisches Ersatzteillager. Dieses Bild der ethischen Situation einer Organentnahme, das sich allein aus den genannten moralischen Eigenschaften speist, wird durch weitere, teilweise schon kurz erwähnte Gesichtspunkte angereichert werden müssen, insbesondere durch die Vorbehalte, die sich aus der Berücksichtigung der phänomenalen Lebendigkeit ergeben. Dazu kommt, daß es nicht klar ist, wie dieser Fächer ethischer Gesichtspunkte gegeneinander gewichtet und abgewogen werden muß. Die Ethik der Transplantationsmedizin, aus der die Hirntod-Debatte maßgeblich entstanden ist, steht am Ende dieser Debatte also weder vor einem Trümmerhaufen, wie es zu Beginn des fünften Kapitels den Anschein hatte, noch hat sie den ethischen Universalschlüssel gefunden, den ihr die Hirntod-Konzeption versprach; in gewisser Weise steht sie nur wieder dort, wo sie schon zu Beginn gestanden hat, vor der Frage, ab wann man mit einem Menschen das tun darf, was man normalerweise nicht darf, nämlich ihm den Leib aufschneiden und seine wichtigsten Organe entnehmen. Der Irrweg in die Hirntod-Debatte sollte sie gelehrt haben, diese Aufgabe als ethisches Problem ernst zu nehmen. Daß es erfolgversprechend ist, den direkten ethischen Weg an Stelle der Hirntod-Debatte zu beschreiten, hat die Disziplin vorgemacht, die, wie oben beschrieben, den ersten Anstoß zur HirntodDebatte gegeben hatte, die Ethik der Intensivmedizin. Hier hat die Umorientierung der ethischen Aufmerksamkeit vom Tod zu den mit ihm verbundenen Verlusten schon lange eingesetzt. Der Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen erstreckt sich heute längst nicht mehr zwangsläufig bis zum Tod oder Hirntod, statt dessen hat sich die Einsicht durchgesetzt, auf die ja schon Papst Pius XII hingewiesen hat (vgl. oben Fn. 23 des ersten Kapitels), daß die Pflicht zur Lebensrettung und Lebensbewahrung wie jede medizinische Pflicht
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an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, die auch schon vor dem Tod wegfallen können. 2 Es steht zu hoffen, daß die medizinische Ethik der Organverpflanzungen diesem Erfolg nacheifern wird. Das Ziel dieses Buches war es nur zu zeigen, daß ihr nichts anderes übrig bleibt.
2 Als Beispiele für viele aus den letzten dreißig Jahren siehe H. G. Beger et al., »Grenzen der Intensivtherapie in der Chirurgie«, H. Menzel, »Kriterien für einen Behandlungsabbau«, J. Schara, »Was darf die Intensivmedizin? - Überlegungen zum Behandlungsabbruch«, P. Schölmerich, »Ärztliches Handeln an den Grenzen des Lebens«.
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»FANDO: Na gut, wenn du tot bist, mache ich mir aus deinem Bauch eine Trommel. DIE MUTTER: So etwas sagt man nicht! FANDO: Warum nicht, ist das eine Sünde?» (Fernando Arraball, Viva la muerte)
In der Einleitung habe ich angekündigt, daß es das Ziel dieser Untersuchung sei zu zeigen, warum der Deutsche Bundestag gut daran getan habe, im Sommer 1997 kein Transplantationsgesetz zu verabschieden, das den Hirntod als Tod des Menschen festschreibt. Erstens ist ein Hirntoter nicht tot, und zweitens ist es keine stipulativ zu entscheidende Frage, wann ein Mensch tot ist. Doch anders als der Senat von Indiana sein obskures mathematisches Gesetz hat der Bundestag das Vorhaben eines Transplantationsgesetzes nicht ganz aufgegeben. Er hat vielmehr in der Sitzung vom 25. 6.1997 einen Gesetzentwurf angenommen, der in den entscheidenden Passagen deutlich von dem ursprünglichen Entwurf abweicht. 1 Was also ist nun geltendes Recht? Die entscheidenden Passagen des neuen Transplantationsgesetzes lauten: »Die Entnahme von Organen ist unzulässig, wenn [„ .] nicht vor der Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist. « (§ 3 (2) TPG)
und: »Die Entnahme von Organen ist, [„ .] nur zulässig, wenn [„ .] der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist [. ..] « (§ 3 (1) TPG)
1 Bundestagsdrucksache 13/4355 zusammen mit dem Änderungsantrag Drucksache 13/8017. Das Gesetz ist veröffentlicht im Bundesgesetzblatt 1997, Teil 1, S. 2631 ff.
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Das Transplantationsgesetz formuliert damit zwei notwendige Bedingungen für die Organentnahme. 2 Erstens muß der Spender zumindest hirntot sein, und zweitens muß sein Tod »nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt « sein. Der Gesetzgeber zieht sich damit auf die in Deutschland wenig strittige Minimalaussage zurück, daß ein Mensch vor Eintreten des Hirntods noch nicht tot ist, erteilt also allen Teilhirntod-Konzeptionen eine Absage. Die Frage, welche weiteren Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Mensch tot ist, bleibt offen. Festgelegt wird nur, daß man es jedenfalls kunstgerecht feststellen muß, sowie auch (im § 16), daß es Aufgabe der Bundesärztekammer sei, Regeln zu formulieren, die das sicherstellen. Damit hat sich der Bundetag in der Bestimmung des Todes vorbildlich zurückgehalten. Dafür ist er allerdings in der ethischen Bewertung ein gewaltiges Risiko eingegangen. Indem er einerseits die Zulässigkeit von Explantationen an die Feststellung des Todes geknüpft hat, ohne andererseits sicher sein zu können, daß der Hirntod nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung für den menschlichen Tod ist, ist er das Risiko eingegangen, Organentnahmen bei Hirntoten gesetzlich zu verbieten. Es ist das Ergebnis meiner Untersuchung, daß genau dieser Fall eingetreten ist: Organentnahmen bei hirntoten Menschen sind nicht mit dem aktuellen Transplantationsgesetz vereinbar. Daran ändert auch die Selbstverständlichkeit nichts, mit der die Bundesärztekammer den gesetzlichen Auftrag, wissenschaftliche Standards für die Regeln der Todesfeststellung zu formulieren, in ein Privileg umdeutet, autonom über die Korrektheit der einen oder anderen Todeskonzeption zu befinden. 3 Die einschlägige Passage des Transplantationsgesetzes lautet: »Die Bundesärztekammer stellt den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in Richtlinien fest für 1. die Regeln zur Feststellung des Todes nach §3 Abs. 1 Nr. 2 und die Verfah2 Neben den zitierten Bedingungen sind vor allem die Anforderungen wichtig, daß Explantationen nur zulässig sind, wenn der Organspender vor seinem Tod zugestimmt hat oder er vor seinem Tod nicht ausdrücklich widersprochen hat und seine Angehörigen unter Berücksichtigung seines mutmaßlichen Willens nach angemessener Bedenkzeit zustimmen oder ebenfalls nicht widersprechen. 3 Das gilt auch für die parallele juristische Darstellung des Transplantationsgesetzes von Holzapfel und Holzapfel im »Deutschen Ärzteblatt« (»Rechtslage in der Transplantationsmed.izin: Sicherheit, Transparenz und Kontrollierbarkeit «).
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rensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 einschließlich der dazu jeweils erforderlichen ärztlichen Qualifikation.« (§ 16 (1) TPG)
Auch hier trennt der Gesetzgeber also sorgfältig zwischen zwei verschiedenen medizinisch aufzuweisenden Sachverhalten, dem Tod und dem Hirntod, und es gibt keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß die Bundesärztekammer über die Regelung von deren Feststellung hinaus die Aufgabe hätte, einen Zusammenhang zwischen beiden zu konstatieren. Die ganz selbstverständlich daherkommende Behauptung, die sich seit der Dritten Fortschreibung in der Einleitung in die Hirntod-Richtlinien der Ärztekammer findet: »Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt«4, ist also eine durch den gesetzlichen Auftrag nicht gedeckte bloße Meinungsäußerung. Weder ist es eine naturwissenschaftlich-medizinische Frage, ob hirntote Menschen tot sind (vgl. Abschnitt 1.5.1), noch waren die Bundestagsabgeordneten in ihrer Gesetzesdebatte irrtümlich dieser Meinung. Was man ihnen allerdings vorwerfen muß, ist, daß sie nicht geklärt haben, was es angesichts der offenkundig divergierenden Haltungen zur Hirntod-Konzeption sowohl im Bundestag, wie auch in der Gesellschaft insgesamt, heißen soll, daß die Bundesärztekammer wissenschaftliche Regeln zur Todesfeststellung formulieren soll, insbesondere welchen Todesbegriff sie dem zugrundezulegen hat. Es ist angesichts dieser Unklarheit kaum überraschend, daß die Bundesärztekammer als vehemente Verfechterin der Hirntod-Konzeption die Lücke nutzt und ganz selbstverständlich die Definitionsmacht nicht nur auf der naturwissenschaftlichen, sondern auch auf der begrifflich-philosophischen Ebene an sich zieht, um damit schnurstracks zum Status quo ante der Hirntod-Debatte zurückzukehren. Richtig wäre, wie gesagt, ein anderer Weg gewesen, die strikte Abkoppelung der Zulässigkeit von Explantationen von der Frage, wann ein Mensch tot ist. Was man für ein gut begründetes Transplantationsgesetz braucht, ist keine Festlegung des Todeszeitpunkts, sondern eine echte Ethik der Organverpflanzungen, und das bedeuIn der o. g. aktuellsten Version S. C-1381. Die Einleitung in die Zweite Fortschreibung enthielt statt dessen noch den weniger irreführenden Satz »Der Hirntod ist der Tod des Menschen « (S. B-2856).
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tet, eine philosophische Forschung, die sich zwar weniger um die Lokalisation des Todes sorgt, dafür aber die genuin ethischen Fragen in den Mittelpunkt rückt - z.B. Fandos Frage, ob es eine Sünde ist, aus dem Bauch seiner Mutter eine Trommel zu basteln.
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