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German Pages [408] Year 2016
Internationale Schriften des Jakob-Fugger-Zentrums
Band 2
Herausgegeben vom Jakob-Fugger-Zentrum – Forschungskolleg für Transnationale Studien der Universität Augsburg
Harald Lesch / Bernd Oberdorfer / Stephanie Waldow (Hg.)
Der Himmel als transkultureller ethischer Raum Himmelskonstellationen im Spannungsfeld von Literatur und Wissen
Mit 29 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2365-7944 ISBN 978-3-7370-0618-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Jakob-Fugger-Zentrums für Transnationale Studien der Universität Augsburg und des Studiengangs Ethik der Textkulturen des Elitenetzwerk Bayerns. © 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: © Harald Lesch
Inhalt
Bernd Oberdorfer / Stephanie Waldow Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bernd Oberdorfer Gott im Himmel? Der Himmel als religiöser Imaginationsraum . . . . . .
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Lisanne Teuchert Der andere Teil der Schöpfung: Vom (ethischen) Sinn des Duals von Himmel und Erde in theologischen Schöpfungskonzeptionen seit Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dirk J. Smit “…on earth as it is in heaven”? On political potentials in theological metaphors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Johann Ev. Hafner Die Himmel. Wege zur Vervielfältigung von Welt im antiken Christentum
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Dietmar Mieth Der Himmel in mir. Die Interiorisierung des Himmels bei Meister Eckhart. „Was oben war, ist innen.“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Freimut Löser Meister Eckhart und der Himmel. Ein Planetentraktat und die deutschen Predigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Christoph Mittmann Zur Kosmographie in der japanischen Vormoderne
. . . . . . . . . . . . 153
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Inhalt
Maximilian Bergengruen Himmel und Hölle ökonomisch. Kredit und Bankrott in Adelbert von Chamissos ‚Peter Schlemihl‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Monika Schmitz-Emans Literarische Engel und ihre Funktionen. Zur ethischen Dimension von Darstellung und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Thomas Steppan Der Himmel auf Erden. Byzantinische Kosmologie auf luxuriösen Prachtböden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Cesare Giacobazzi Die Dialektik von Himmel und Erde zwischen Klassik, Romantik und Realismus am Bespiel von den Wahlverwandtschaften, Heinrich von Ofterdingen und Immensee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Lars Schneider Excepté peut-être une constellation: der Himmel im Spätwerk des Stéphane Mallarmé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Stephanie Waldow Denkraum der Besonnenheit. Zum Verhältnis von narrativer Ethik und Neuer Physik bei Carl Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Yulia Pasko „Weg der Dichter – Weg der Kometen“: einige Beobachtungen zu Himmel- und Sternmotiven in der Dichtung von Marina Zwetajewa und Boris Pasternak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Robert Vosloo Coping with the end? A look at Lars von Trier’s Melancholia
. . . . . . . 319
Aura Heydenreich Vom astronomischen Weltmodell zum literarischen Weltbild: Johannes Keplers “Somnium” zwischen faktualer Kosmographie und fiktionaler Selenographie – mit einem Kommentar zu Durs Grünbein “Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Inhalt
Harald Lesch / Harald Zaun Homo spaciens = Science-Fiction²? Die Evolution des Science-Fiction-Genres und der Traum vom Homo spaciens
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. . . . . . . 371
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Bernd Oberdorfer / Stephanie Waldow
Einleitung
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ Nicht erst Kants Ausspruch aus der Kritik der praktischen Vernunft weist den Himmel als ethisch relevanten Raum aus. Durch seine Betrachtung werden fundamentale Fragen nach dem Wert des menschlichen Lebens, der Stellung des Menschen im Kosmos und der Unterscheidbarkeit von Gut und Böse aufgeworfen. Der Himmel fungiert also als zentrale Projektionsfläche für ethische Fragestellungen. Diese werden im vorliegenden Band aus einer anthropologischtheologischen, ästhetischen und auch naturwissenschaftlichen Perspektive heraus untersucht. Dabei werden sowohl kulturspezifische Besonderheiten als auch kulturübergreifende Aspekte berücksichtigt und in ihrer Bedeutung für den Menschen und sein Verständnis vom Himmel in den Blick genommen. Ausgangspunkt für jene Projektionen ist vor allem die sinnliche Wahrnehmung des Himmels bei gleichzeitigem Wissen, dass diese Wahrnehmung stets begrenzt bleiben muss, da sich der Himmel aufgrund seiner ungeheuren Ausdehnung selbst im Zeitalter der modernen Raumfahrt einer restlosen Erkundung verweigert. Dieses Changieren zwischen Begrenzung und Entgrenzung gibt seit jeher Anlass zu zahlreichen Himmelsdeutungen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Sterne, denn nicht erst Wallensteins Satz „Die Sterne lügen nicht“ führt sie als wichtiges ethisches Bezugssystem ein. Bereits seit der Antike haben sich die Menschen in ihrem Bedürfnis nach Wahrheit, Wertorientierung und Sinnvergewisserung an den Sternen orientiert und so war der Blick in den Himmel integraler Bestandteil der menschlichen Lebenswelt. Der Himmel scheint demzufolge als ein Raum zu fungieren, über den jenseits von festen Orts-, Zeit- und Identitätszuschreibungen das Verhältnis von Individuum und Kosmos und die damit in Zusammenhang stehenden Grundfragen der menschlichen Existenz sowie deren Wertmodelle ausgehandelt werden. Interessanterweise entfalten wissenschaftliche wie religiöse Texte, die den Himmel als Projektionsraum einsetzen, bereits sehr früh eine enorme literarisch-
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rhetorische Kraft, die sich bis heute fortsetzt. Insbesondere die Beschreibung von (Himmels-)Phänomenen, die sich der wissenschaftlichen Fassbarkeit unmittelbar entziehen, macht den Einsatz literarischer Mittel offenbar unverzichtbar. Im Gegenzug ist zu beobachten, dass sich literarische Texte häufig den Naturwissenschaften, hier insbesondere der Astrophysik, annähern und dies nicht nur, um sich selbst durch den Rückgriff auf den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand zu authentifizieren, sondern auch, weil sie diese als ästhetisches Bezugssystem aufrufen. Dass es sich bei diesen Erzählweisen um spezifisch ethische Narrative handelt, zeigen die Beiträge dieses Bandes auf je unterschiedliche Weise, denn die diskutierten Texte sind in ihrer grenzüberschreitenden Eigenschaft immer wieder mit der Schwelle zwischen Sagbarem und Unsagbarem konfrontiert und loten vor allem die Bedingtheiten des sprechenden und wahrnehmenden Subjekts aus, welches sich in der Welt zu verankern sucht, indem es nach neuen Wertkonzepten sucht. Zwar hat die Forschung bereits vielfach Wechselwirksamkeiten zwischen Literatur und Wissen untersucht1, diese Wechselwirkungen sind aber bislang noch nicht in einem explizit ethischen Zusammenhang diskutiert worden. Der ethische Zugang zum Himmel eröffnet wichtige neue Fragehorizonte, die die hier versammelten vielfältigen disziplinären und interdisziplinären Ansätze mit Erkenntnisgewinn aufeinander zu beziehen erlauben und dabei auch die oftmals produktiven Wechselwirkungen von Literatur und Wissen aufzuzeigen vermögen. Neben der Entwicklung neuer Schreibmodelle, der Modifizierung des modernen Wissenschaftsethos oder der Erweiterung des Mythosbegriffs stehen vor allem Fragen nach dem menschlichen Wert- und Urteilsvermögen, der Grenze zwischen Mensch und Gott, dem Verhältnis von Determination und Selbstbestimmung oder nach dem Werden und Vergehen des Lebens im Mittelpunkt des Bandes. Bereits in den ältesten Kosmogonien wird der Himmel als Sitz des Göttlichen eingeführt und somit zu einem Ort der Wahrheit und der absoluten Erkenntnis. Derartige Vorstellungen haben sich bis in die Gegenwart gehalten. Während in der ägyptischen Mythologie der Himmel selbst als Gottheit verstanden wurde, 1 Vgl. exemplarisch: Alt, Peter André: Beobachtung dritter Ordnung. Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte kulturellen Wissens. In: Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart 2004, S. 186ff.; Borgards, Roland/Neumeyer, Harald/Pethes, Nicolas/Wübben, Yvonne (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013; Dotzler, Bernhard/Weigel, Siegrid: fülle der combination. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005; Heydenreich, Aura/Mecke, Klaus (Hg.): Quarks and Letters. Naturwissenschaften in der Literatur und Kultur der Gegenwart, Würzburg 2013; Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin/New York 2008; Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin/New York 2011; Vogl, Joseph: Poetologie des Wissens. In: Harun Mayer/ Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, S. 49ff.
Einleitung
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wird er – das zeigt der Beitrag von Oberdorfer – in der jüdischen und christlichen Tradition zu einem Teil der Schöpfung depotenziert, zugleich aber als der dem menschlichen Zugriff entzogene Ort wahrgenommen, an dem Gott ‚wohnt‘ und von wo er sich den Menschen offenbart. Eben dies lässt ihn dann auch als Sehnsuchtsort eschatologischer Vollendung in Gemeinschaft mit Gott erscheinen: Der „sky“ wird zum „heaven“. Allerdings bleibt der Himmel auch als sky eine religiös relevante Größe. An neueren theologischen Entwürfen im Gefolge Karl Barths arbeitet der Beitrag von Teuchert heraus, wie der kosmologische Himmel als dem menschlichen Zugriff relativ entzogener Bereich der Schöpfung sowohl für die Begrenztheit menschlicher Weltbemächtigung steht als auch neue Handlungsräume eröffnet. Smit wiederum untersucht, wie die religiöse Semantik des Himmels (als heaven) eine Dynamik des politisch-gesellschaftlichen Wandels „auf Erden“ entfalten kann. Der Beitrag von Hafner beleuchtet den interessanten Befund, dass in der frühchristlichen Literatur zum Teil vom Himmel im Plural gesprochen, der himmlische Bereich also als in sich differenziert wahrgenommen wird. So ist etwa in 1Kor 12 davon die Rede, dass Paulus im ‚dritten Himmel‘ gewesen sei. Auch apokryphe Texte wie die Paulus-Apokalypse oder die Himmelfahrt des Jesaja (2. Jh.) dokumentieren die dauerhaft latenten Vorstellungen von gestufter Wirklichkeit. Der Beitrag zeigt auf, wie die Einengung der Wirklichkeit in einen Kosmos immer wieder zerbricht, und diskutiert die damit in Zusammenhang stehenden ethischen Konsequenzen. Im Neuen Testament wird der ‚geöffnete Himmel‘ zum Synonym für die in Christus vollzogene Selbstvergegenwärtigung Gottes (vgl. Mk 1). Mit diesem Vorstellungskomplex verknüpft ist mithin die teleologische Vorstellung von einer Vollkommenheit und Glückseligkeit, in der sich die menschliche Bestimmung erfüllt. Das Wort Jesu vom in seinem Wirken angebrochenen „Reich Gottes“ bzw. „Himmelreich“ wurde in der christlichen Spiritualita¨ t sehr fru¨ h und lange Zeit als „Reich Gottes in euch“ gedeutet. Der Beitrag von Mieth stellt diesen Prozess der individuellen Interiorisierung als eine kontemplativ-ekstatische Antizipation und zugleich als eine Himmelsprojektion in die Seele dar. Bei Meister Eckhart findet sich die Vorstellung einer Entsprechung zwischen go¨ ttlich-intensiver Bemu¨ hung, sich im Kern der Seele zu beheimaten, und der Naturmetaphorik, wonach der Himmel fruchtbar dort in die Erde strebt, wo sie am niedersten ist. Heimat findet der Himmel dann auch in der „humilitas“, in der Endlichkeit des Menschen. Aber umgekehrt wird auch ein Durchbruch der Seele zur antizipatorischen Beheimatung im Himmel mitgedacht. Am Beispiel der „Gerechtigkeit“ zeige Eckhart, wie etwa „moralisches Sein“ aus dieser Beheimatung entspringt. In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Löser, der Eckharts Vorstellungen u¨ ber die Natur der Gestirne und deren geistliche Ausdeutung in den Mittelpunkt rückt. Die Himmelserscheinungen werden bei
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Eckhart auf die Seele des Menschen hin bezogen bzw. auf die vorgestellte Einheit von Gott und Seele. Im Anschluss daran diskutiert Löser die ethischen Auswirkungen auf das Frömmigkeitsverständnis des 15. Jahrhunderts. Mit Beginn der Neuzeit scheint diese Verbindung aufgrund der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“ und der menschlichen Verstrickung in die Sünde unverfügbar zu werden. So zeigt der Beitrag von Mittmann über die japanische Vormoderne auf, wie der Himmel in seiner mythisch-religiösen Qualität dekonsturiert wird. Diese religionskritische ‚Entmythologisierung‘ des Himmels greift auch auf das naturwissenschaftliche Wissen der Frühneuzeit zurück. An die Stelle eines ungebrochenen Verhältnisses zwischen Subjekt und Kosmos tritt nun der Zusammenhang von Literatur und Wissen. Diesen Übergang verdeutlicht Mittmann anhand der Texte von Yamagata Bantô. Mit der Aufkündigung des unmittelbaren Verhältnisses von Individuum und Kosmos wird aber auch eine Grenze zwischen dem paradiesischen Himmel und dem harten Erdenleben sowie zur Hölle als Ort der Bestrafung markiert. Diese Grenze animiert wiederum zu vielfältigen literarischen Ausgestaltungen. Bergengruen greift diesen Gedanken auf und beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Chamissos Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Teufelspakt steht. Bemerkenswert ist, und das greift der Beitrag vorrangig auf, dass die Dichotomie von Himmel und Hölle hier vor allem eine ökonomische Dimension besitzt. Um dieser spezifischen Ökonomie zu entgehen und um sich dem Teufelspakt letztlich zu entziehen, wählt Schlemihl den Weg der literarischen Produktion. Die Auseinandersetzung mit dem Himmel und auch mit der Dichotomie von Himmel und Hölle fungiert demnach nicht nur als wichtiges orientierungs- und sinnstiftendes Mittel, sondern auch als Moment der Produktivität. Es bringt den Menschen auf den rechten Weg und berät ihn in wichtigen Fragen, die sein gegenwärtiges Schicksal und seine Zukunft betreffen. Denn nicht umsonst bemerkt Wallenstein, als sein Schicksal entschieden ist: „Jetzt brauch ich keine Sterne mehr.“ Sowohl die Möglichkeit der Schicksalsdeutung durch eine Lektüre des Himmels als auch die Annahme, dass der Himmel ein Ort Gottes sei, ruft auch die Frage nach der menschlichen Freiheit und Selbstbestimmung auf den Plan. Gegen das Deutungsverlangen und den Versuch, das eigene Schicksal aus den Sternen ablesen zu können, wurde also stets auch die Autonomie des Menschen, seine Fähigkeit, nach dem eigenen Willen zu handeln, verteidigt. So wurde der Sternenhimmel zum Ausgangspunkt von philosophischen Betrachtungen, indem anhand von Himmelskonstellationen über die Stellung des Menschen im Kosmos bzw. über den anthropologischen Wert des Subjekts im Verhältnis zum ihn umgebenden Weltall nachgedacht wird. Diese Ambivalenz im Umgang mit dem Himmel und der sich daraus ergebende ethische Aushandlungsprozess ist bis in die Gegenwart hinein diskussi-
Einleitung
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onsbestimmend, denn gerade in einer sich als aufgeklärt verstehenden Gesellschaft steigt auch das Wissen um die fehlende Letztbegründetheit des menschlichen Lebens. Angesichts dessen wird der Himmel auch heute noch als wichtiges Bezugselement im Blick auf das menschliche Schicksal aufgerufen, wenn auch im Bewusstsein dessen, dass diese Orientierung nicht mehr ungebrochen funktioniert, denn – so wird immer wieder deutlich – der Himmel entzieht sich letztlich jeglicher Beschreibbarkeit und Fassbarkeit. Hier setzt auch der Beitrag von Schmitz-Emans an. Untersucht werden Ecos sog. ‚poetischen Listen‘, die sowohl Anspruch als auch Scheitern ausdrücken, das Unermessliche darzustellen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen sog. Engels-Listen und Wolken-Listen, in denen ganze Kataloge von Wesenheiten des Himmels aufgezählt werden. Als Beispiel fungiert u. a. Michel Serres La legende des anges. Auch in der bildenden Kunst werden anhand des Sternenhimmels zentrale ethische Fragestellungen diskutiert. Insbesondere dort, wo das Verhältnis von Mensch, Gott und Welt einer Umwertung unterzogen wird, werden Sternbilder aufgerufen, um den All-Zusammenhang auszudeuten. Anhand der prachtvollen byzantinischen Bodenbeläge zeigt der Beitrag von Steppan, wie der Vorstellung von Gott bzw. der Vorstellung eines Wechselspiels von Individuum und Kosmos Ausdruck verliehen wurde. Die räumliche Ordnung folgt hier einer christlichen Kosmologie und präsentiert auf diese Weise den Zusammenhang von Mensch, Gott und Welt. Dass diese Deutung letztlich auf die menschliche Lektürefähigkeit zurückgeht, macht nicht nur eine Reflexion über menschliches Erleben und Wahrnehmen notwendig, sondern lässt auch deutlich werden, dass der Himmel zu einer wichtigen Reflexionsfigur über die Möglichkeiten des Lesens und Schreibens überhaupt wird. Seit der Antike gilt der Sternenhimmel daher als Symbol des poetischen Schriftbildes und so werden an dessen Lektüre zentrale Fragen nach der Lesbarkeit und Sagbarkeit insgesamt aufgeworfen, da die Betrachtung der Sterne sich stets an der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen bewegt. Diese Grenze wird in der Literatur sprachlich ausgelotet und im buchstäblichen Sinne als Horizonterweiterung verstanden. Der Raum des Himmels übernimmt in Folge dessen eine zentrale poetologische Funktion. Dies greift vor allem die Literatur um 1800 auf und formuliert von hier ausgehend ihr literarisches Konzept, welches den Gedanken der Universalpoesie insofern weiterdenkt, als das Universum bzw. die Sternbilder als zu lesende Bilder mit in den Deutungsprozess hineingenommen werden. Die Sternbilder fungieren als Chiffren, die in der Literatur zu einer universalen Sprache umgeformt werden. So beschäftigt sich der Beitrag von Giacobazzi etwa mit der Dialektik von Himmel und Erde in der Klassik und Romantik bis hin zum Realismus. Zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jhs. wird der Zusammenhang von Schriftbild und Sternenbild zu einer unmittelbaren Korrespondenz ausgeweitet.
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Die Konstellation der Schriftzeichen wird analog zu einem Sternbild gelesen. So verdeutlicht Schneider mit seinem Aufsatz, dass Mallarmé Wo¨ rter als autarke Klangko¨ rper versteht. Im Zuge der Verra¨umlichung in Mallarmés Text Coup de dés erscheint die Sprachpartitur als Sternenbild an einem „poetischen Himmel“. Dieser Himmel ist jedoch kein Ort der Wahrheit. Mallarmé konzipiert infolgedessen den Dichter als Pendant zu Nietzsches Weltscho¨ pfer als Wu¨ rfelspieler, der aus einem poetischen Imperativ heraus leere (Sprach-)Universen entwirft im Bewusstsein dessen, dass die Wu¨ rfel (Sterne) auch ha¨ tten anders fallen ko¨ nnen. Auf diese Weise wird auch der Zusammenbruch der kosmischen Ordnung thematisiert und damit die Verlorenheit des einzelnen Subjekts in der Welt kenntlich gemacht. Dieser Zusammenbruch erneuert sich durch die Erkenntnisse der Neuen Physik, u. a. auch durch Albert Einsteins Feststellung einer Relativität von Raum und Zeit. Wie diese Auswirkungen in der Literatur und Philosophie aufgenommen werden und welche narrativen Konsequenzen daraus gezogen werden, diskutiert der Beitrag von Waldow. Auf der Basis von Warburgs und Cassirers kulturphilosophischen Überlegungen wird für Carl Einstein eine narrative Ethik in Anspruch genommen, die sich in Auseinandersetzung mit der Neuen Physik entwickelt und die das Sagbare als Trägersubstanz des Unsagbaren einführt. Die fehlende Verankerung des Menschen in der Natur führt also zur Entstehung eines sog. zweiten oder auch poetischen Himmels. Dieser poetische Himmel besitzt u. U. sogar mythische Qualität. Liest man die literarischen Himmelsbetrachtungen auf ihre mythische Erzählweise hin, erneuert sich ihr Funktionsspektrum. Die mythische Erzählung ist dann nicht mehr nur auf die Vergangenheit ausgerichtet, um von dort aus unerzählbare Leerstellen aufzudecken und Begründungszusammenhänge für die Gegenwart zu liefern, sondern insbesondere auch auf die Erzählbarkeit der Zukunft. So zeigt der Beitrag von Pasko, dass der Himmel in der Lyrik von Marina Tsvetaeva und Boris Pasternak, die beide übrigens eine große Affinität zu Rilkes Astropoetik und damit auch zu seinen Überlegungen bezüglich eines zweiten poetischen Himmels aufweisen, ein ethischer und mythisch-religiöser Raum wird. Die zerbrochene Verlässlichkeit des Kosmos artikuliert sich in der Gegenwart auch in Angstvisionen über den bevorstehenden Untergang der Welt. Bildkräftig und wirkmächtig aufgegriffen hat dies namentlich die Kunstform Film. Der Beitrag von Vosloo entfaltet dies am Beispiel von Lars von Triers Film Melancholia, der das Weltende quasi-astronomisch durch den Zusammenprall eines Planeten mit der Erde eintreten lässt. Vosloo interpretiert den Film vor dem Hintergrund biblisch-prophetischer Warnungen vor einer Rücknahme der verheißenen Welterhaltung durch Gott selbst (z. B. Jeremia 4). Von Trier konzentriert sich auf die Haltungen der Protagonisten im Angesicht der unmittelbar bevorstehenden kosmischen Katastrophe; das Spektrum reicht von suizidaler
Einleitung
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Verzweiflung über ein stoisches oder zynisches Hinnehmen des unvermeidlichen Geschehens bis hin zum Versuch, dem Fatalismus humane Eigenwürde in Gestalt mitmenschlicher Fürsorge entgegenzusetzen. Neben den anthropologischen, theologischen und ästhetischen Aspekten ist der Blick in die Sterne auch wissenschaftsgeschichtlich von Interesse. Bereits seit der Antike verbinden sich mit dem Himmel und seinen Gestirnen die Prozesse des Werdens und Vergehens. Dementsprechend wird schon früh versucht, mithilfe der Lektüre des Himmels Aufschluss über den Ursprung allen Lebens zu erlangen. Insbesondere die Wechselwirksamkeit von Himmel und Erde und der Einfluss des Himmels auf die irdischen Geschehnisse stehen dabei im Fokus. Zu einer grundsätzlichen Neuerung führten die von Kopernikus mit Bezug auf Aristarch formulierten Ideen. Er griff die seit Jahrtausenden angenommene zentrale Stellung der Erde im Universum an und führte stattdessen das heliozentrische Weltbild ein. Die Veröffentlichung des kopernikanischen Systems regte weitere astronomische und mathematische Untersuchungen an und war die Grundlage für wichtige Entdeckungen durch Kepler und Galilei bis hin zur großen Synthese durch den englischen Physiker Isaac Newton. Die Bewegungen am Himmel wurden berechenbar. Vorhersagen über die Planetenbahnen, über die Mond- und Sonnenfinsternisse wurden transparent durch die Anwendung logisch-mathematischer Prinzipien. Die neuen Erkenntnisse hinterfragten nicht nur bisherige wissenschaftliche Annahmen, sondern auch die Stellung des Menschen im Verhältnis zum Kosmos insgesamt und damit auch das Verhältnis von Mensch und Gott, weshalb vor allem die Kirche dagegen vorging. Heydenreich etwa wirft einen Blick auf die mediengeschichtlichen Umbrüche um 1600, die zu neuen Beobachtungsverfahren in der Astronomie führten und die nicht nur das kopernikanische Weltbild epistemologisch fundierten, sondern auch neue narrative Muster entstehen ließen. Im Zentrum des Beitrags steht Keplers Somnium seu astronomia lunaris und die Frage, wie ein Beobachter vom Mond aus die Phänomene des Alls beschreiben würde. Zur Seite gestellt werden diesen Überlegungen einige ausgewählte Texte von Durs Grünbein, die Keplers Text kosmo-poetisch kontextualisieren. Die ‚Objektivierung‘ des Himmels durch die quantitative Astronomie im 16. Jahrhundert stand im krassen Widerspruch zur subjektbezogenen Astrologie, die sich eines geozentrisch-anthropozentrischen Koordinatensystems bedient und für über 3000 Jahre die beherrschende Himmelslehre darstellte. Nicht zuletzt weil die Verbindung von Mensch und Himmel in der Astrologie das zentrale Thema darstellt, musste eine Versachlichung der Himmelsphänomene zwangsläufig zur völligen Trennung der Astronomie von der Astrologie führen. Für die europäische Aufklärung war die Hinwendung zur empirisch überprüfbaren, quantitativen Himmelsbeobachtung und der korrespondierenden Entwicklung mathematisch-physikalischer Theorien ein eminent wichtiger erster Schritt hin
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zum modernen Bild von der Welt als Ganzem. Inzwischen hat die Wissenschaft auch Milliarden von Lichtjahren entfernte Galaxien entdeckt, hat durch das Weltraumteleskop Swift neue Erkenntnisse bezüglich des Kosmos erworben, aber stets im Wissen darum, dass all diese Errungenschaften immer noch vorläufig sind. Zentraler Motor auch der wissenschaftlichen Forschung scheint dabei stets die Frage nach der Stellung des Menschen im Universum zu sein. Dies zeigt auch der Beitrag von Lesch und Zaun, die die Auswirkungen der modernen Raumfahrt aufzeigen und deren Faszination auf den Menschen diskutieren. Vor Augen geführt wird u. a. auch, wie sich diese Faszination in den literarischen Ausgestaltungen der Science-Fiction Literatur wiederfindet und was diese über die Erwartungshaltung des Menschen gegenüber dem Kosmos aussagen.
Bernd Oberdorfer
Gott im Himmel? Der Himmel als religiöser Imaginationsraum
Prolog: Engel und Spatzen, Torten und Kuchen – Heinrich Heines Himmel bei der Einreise nach Deutschland Im Spätherbst 1843 – genauer: „im traurigen Monath November“ – reist der Dichter Heinrich Heine, von Frankreich aus kommend, in das Gebiet des politisch noch nicht geeinten Deutschland ein.1 An der Grenze, die ja auch eine Sprachgrenze ist, vernimmt er mit froher Wehmut deutsche Klänge: Ein „kleines Harfenmädchen sang (…) mit wahrem Gefühle und falscher Stimme (…) von Liebe und Liebesgram, Aufopfrung und Wiederfinden dort oben, in jener besseren Welt, wo alle Leiden schwinden“. Der wie selbstverständlich „dort oben“ lokalisierten „besseren Welt“ kontrastiert das „irdische Jammerthal“, in dem die „Freuden (…) bald zerronnen“ sind, während erst im „Jenseits (…) die Seele schwelgt verklärt in ew’gen Wonnen“. Der Reisende erkennt darin „das alte Entsagungslied, das Eyapopeya vom Himmel“, mit welchem dem „Volk“, dem „großen Lümmel“, das Fehlen diesseitigen Genusses erträglich gemacht werden soll durch die Aussicht auf jenseitige, ‚himmlische‘ Freuden. Diejenigen, die diesen jenseitsvertröstenden „Text“ verfassten, „tranken“ freilich selbst – wie Heine unterstellt – „heimlich Wein“, obwohl sie „öffentlich Wasser (predigten)“. Sie warteten also keineswegs auf den „Himmel“, sondern gönnten sich den Genuss, den sie anderen verweigerten, bereits auf Erden. Genau dies propagiert Heine nun in dem „neue(n) Lied“, das er dem „alte(n) Entsagungslied“ entgegensetzen will: „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.“ Das Glück, das bisher erst für den „Himmel“ erwartet wurde, soll es jetzt schon „auf Erden“ geben. Nicht nur „wächst hienieden Brod genug für alle Menschenkinder“, so dass niemand mehr „darben“ muss. Nicht nur die Grundversorgung – das Überlebensnotwendige – ist also gesichert. 1 Heinrich Heine: „Deutschland. Ein Wintermährchen“, in: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (= Düsseldorfer Ausgabe), Bd. 4, bearbeitet von Winfried Woesler, Hamburg 1985, 89ff., hier Caput I, 91ff.
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Sondern auch Luxus und Genuss – wörtlich: „Rosen und Myrten, Schönheit und Lust“ – sollen allgemein verbreitet sein. Heine bündelt das in dem Schlachtruf: „Zuckererbsen für Jedermann“! Der Himmel ist mithin zur Erde gebracht. Was bisher vom Himmel erwartet wurde, wird jetzt zur irdischen Wirklichkeit. Der Himmel wird damit gleichsam entvölkert. Er ist kein Sehnsuchtsort der leidenden Menschheit mehr. Er kann getrost „den Engeln und den Spatzen (überlassen)“ werden. Wir Menschen haben da im besten Sinn nichts mehr zu suchen. Heine wäre allerdings nicht Heine, wenn er sich nicht gleichsam eine Hintertüre oder Hintertreppe zum Himmel offenlassen würde. Selbst dann nämlich – fügt er hinzu –, wenn „uns Flügel nach dem Tod (wachsen), so wollen wir Euch besuchen dort oben, und wir(,) wir essen mit Euch die seligsten Torten und Kuchen“. Das Leben nach dem Tod – sollte es eines geben – lässt die irdischen Freuden also nicht hinter sich zugunsten einer anämischen, leiblosen (und deshalb auch freudlosen) Fortexistenz der Seele. Sondern wir nehmen die irdischen Genüsse geradezu in den Himmel mit und feiern dann mit den Engeln zusammen so etwas wie ein himmlisches Kaffeekränzchen. Selbst im Himmel geht es also irdisch zu. Dem Himmel auf Erden entspricht spiegelbildlich die Erde im Himmel. Nun spielt für dieses „neue“, „bessere“ Lied Europa eine entscheidende Rolle. Ja, es ist geradezu ein „Hochzeitskarmen“ zwischen Europa und der Freiheit: „Die Jungfer Europa ist verlobt mit dem schönen Geniusse der Freyheit, sie liegen einander im Arm, sie schwelgen im ersten Kusse.“ Die neue Wahrnehmung des Himmels – sie ist geschichtlich verortet in der Freiheitsgeschichte der europäischen Moderne, und dies schließt eine Befreiung von den kirchlichen Verwaltern des Himmels ein: „Und fehlt der Pfaffensegen dabey, die Ehe wird gültig nicht minder – es lebe Bräutigam und Braut, und ihre zukünftigen Kinder!“ Für den aus Frankreich Einreisenden, so wird man vermuten dürfen, ist es der Widerschein der Französischen Revolution, der in der „Seele“ – nicht zufällig in der Seele – „Sterne“ aufgehen lässt – nicht zufällig Sterne –, „(b)egeisterte Sterne“, wie Heine hinzufügt. Und er möchte diesen geerdeten Himmel über die Grenze nach Deutschland importieren, ist dann freilich sogleich2 mit der höchst irdischen Realität der preußischen Grenzkontrollen konfrontiert, die sein Gepäck unter anderem nach verbotenen Büchern durchsuchen – ohne zu ahnen, dass er sein gefährliches Freiheitsgut gleichsam in luftigem Aggregatszustand unsichtbar ins Land schmuggelt: „im Kopfe“ nämlich versteckt sind „der Zukunft Krondiamanten, die Tempelkleinodien des neuen Gotts, des großen Unbekannten“. Das „neue Lied“ besingt also nicht nur (um es einmal mit einem biblischen Zitat auszudrücken) „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ (Apk 2 Vgl. Caput II, a. a. O., 93f.
Gott im Himmel? Der Himmel als religiöser Imaginationsraum
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21), sondern es dient auch dem Kult des neuen, um nicht zu sagen: neuzeitlichen Gottes, der bislang unbekannten Freiheit. Noch die Kritik des religiös intonierten „Entsagungsliedes“, für die der Anfang von Heines Deutschland. Ein Wintermärchen steht, transportiert die kulturell eingespielte, reich instrumentierte, „alteuropäische“ religiöse Topik des Himmels, spielt mit ihr, durchbricht sie, kehrt sie um. Diese Topik verortet den Himmel räumlich „oben“, verbindet dies mit der raum-zeitlich changierenden Bestimmung des „Jenseits“, der temporalen Verschiebung auf „später“ und der Verheißung ewiger (d. h. entweder zeitlich nicht befristeter oder überzeitlicher) „Wonnen“. Die entsprechenden Gegenbegriffe lauten „Erde“, „hienieden“ (oder „unten“), „Diesseits“, „jetzt“ und irdische (zeitlich begrenzte, gegenwärtige) „Freuden“. Heine unterstellt, dass die Religion die Begriffspaare als Gegensätze auslegt und dabei jeweils die „himmlische“ Option auf Kosten der „irdischen“ vorzieht. Sein „neues Lied“ kehrt die Verhältnisse um, macht aber, genau genommen, noch mehr: Es durchbricht die Entgegensetzung, indem es üblicherweise dem Himmel zugeordnete Attribute nun der Erde zuschreibt – die Sterne sind in der Seele, die Wonnen ereignen sich „jetzt“. Und umgekehrt wird dann das Irdische himmlisch: Dort „oben“, im „Jenseits“, sollte es dort überhaupt etwas geben, gibt es Torten und Kuchen. Die religiöse Semantik des „Himmels“ impliziert aber keineswegs notwendig die Entsagungslogik, die Heine ihr kritisch unterstellt. In den religiösen Deutungstraditionen, die durch die Texte des Alten und Neuen Testaments geprägt sind, wird zwar in der Tat der Himmel in besonderer Weise mit Gott in Verbindung gebracht. Dies hat aber weder eine Entgötterung (oder präziser: Gottferne) der irdischen Wirklichkeit zur Konsequenz, noch muss daraus ein Ethos der Weltdistanz, Weltentsagung, Weltflucht folgen. Der Himmel entwertet die Erde nicht einfach. Er qualifiziert sie allerdings (im doppelten Sinn des englischen „qualify“, das „näherbestimmen“ und „relativieren“ bedeuten kann), d. h., sie gewinnt ihre (eigentliche) Bedeutung erst in ihrer Relation zum Himmel. Deshalb hat die Weise, wie vom Himmel gesprochen wird, Auswirkungen auf das Verständnis der Existenz „auf Erden“ bzw. ist umgekehrt Ausdruck irdischen Selbstverständnisses. Wie kommt es aber dazu, dass der Himmel als kosmologischer Ort zum religiösen Topos wird? Mit der nur im Englischen möglichen Unterscheidung gesagt: Wie wird der sky zum heaven? Oder noch genauer: Was hat der sky, dass er zum heaven werden kann? Und hat es für das Verständnis des sky Konsequenzen, dass er auch als heaven gedeutet wird? Diesen Fragen will ich im Folgenden nachgehen und begebe mich dazu auf Spurensuche in den kanonischen Texten des Christentums. Zu beachten ist dabei, dass diese kanonischen Texte nicht nur von heaven sprechen, sondern auch von sky. Mit anderen Worten: Es gibt auch
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Bernd Oberdorfer
eine religiöse Perspektive auf sky, nicht nur auf heaven. Oder noch anders gesagt: Auch religiös ist der Himmel nicht nur heaven, sondern auch sky.
1.
Eröffnete Räume: Der Himmel in den biblischen Schöpfungserzählungen
Interessanterweise beginnt die Bibel nicht mit heaven, sondern mit sky. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so setzt das erste Kapitel des Buches Genesis programmatisch ein und erzählt dann genau dies: wie aus dem ungeordneten „Tohuwabohu“ (Gen 1,2) 3 der Welt ein strukturiertes Ganzes wurde. Die Schöpfung erscheint hier als wohlgeplanter, kontinuierlicher, schrittweise aufeinander aufbauender Ausdifferenzierungsprozess, in dem auch der Himmel seinen Ort bekommt. Vorausgesetzt ist eine Art Ur-Meer, aus dem Gott gleichsam durch den Bau von Schutzwällen einen Lebensraum für Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt herausschneidet, der dann seinerseits noch einmal in sich strukturiert wird. Der Himmel ist eine Scheidewand, die die von oben andringenden Wassermassen aufhält und damit Räume eröffnet für Lebewesen, die im Wasser nicht überleben könnten, weil sie Luft zum Atmen brauchen; nur für die überlebensnotwendigen Niederschläge sind an diesem „Himmelszelt“ Düsen (oder auch: „Fenster“, vgl. Gen 7,11) angebracht, die sich gelegentlich öffnen. Die ‚oberirdische‘ Welt ist also zweigeteilt in eine ‚unterhimmlische‘ und eine ‚überhimmlische‘ Wirklichkeit. Das Wasser von unten hingegen wird nur partiell abgehalten; Gott grenzt Bereiche ab, wo es nicht hingelangen kann, und schafft so Lebensraum für Pflanzen und Landtiere; in Gestalt von Quellen und Flüssen öffnet sich die Erde von unten und macht das lebenserhaltende Wasser den Erdbewohnern zugänglich. Die Erde ist ein dem Wasser gleichsam abgerungener Lebensraum; sie ist begrenzt vom Meer, das dem Menschen ebenso wenig als Lebensraum zur Verfügung steht wie der Himmel. Dieser gehört in der Tat, mit Heine gesprochen, den Spatzen (von Engeln ist nicht die Rede). Der Himmel wird in diesem Text dezidiert als Teil der Schöpfungswirklichkeit angesprochen. Dies wird auch an der demonstrativen Nüchternheit erkennbar, mit der Sonne, Mond und Sterne behandelt werden. Sie erscheinen schlicht als Leuchtkörper, die Gott an die Himmelsfeste montiert, um die oberirdisch-unterhimmlischen Weltregionen mit Licht zu versorgen und dabei die Differenz zwischen Tag und Nacht zu markieren. Diese Nüchternheit steht in bewusstem und polemischem Kontrast zu den religiösen Kosmologien in Israels Umwelt, die der Sonne und den Gestirnen göttliche Qualität zuschrieben. In Genesis 1 sind sie 3 Luther übersetzt den hebräischen Ausdruck mit „wüst und leer“.
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depotenziert zu bloßen Funktionen für die unterhimmlische Lebenswelt ohne selbständige Bedeutung. Überhaupt ist in diesem Text der Himmel (selbst die sozusagen überhimmlische Sphäre jenseits der Himmelsfeste) auch nicht hervorgehoben als besonders Gott vorbehaltener Bereich. Gott als dem Schöpfer des Alls wird kein eigener ‚Lebensraum‘ innerhalb der Schöpfung zugeteilt. Auch in der zweiten, unmittelbar anschließenden Schöpfungserzählung (Gen 2,4bff) ‚wohnt‘ Gott nicht im Himmel. Und der Garten Eden ist ein dezidiert irdisches Paradies, und Gott geht dort abends spazieren, „als der Tag kühl geworden war“ (Gen 3,8). Noch Adams und Evas Vertreibung aus diesem Paradies zeigt an, dass es als spezifische Welt-, genauer: Erdregion verstanden wurde, die den Menschen nun nicht mehr zur Verfügung stand; sie mussten sich „jenseits von Eden“ ansiedeln. Die beiden ‚klassischen‘ religiösen Aufgabenbestimmungen für den Himmel kommen in den Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel also nicht vor: Weder als ‚Wohnort‘ Gottes noch als Verheißungsort für die Menschen kommt er in Betracht. Dennoch transportiert die nüchterne Kosmologie von Genesis 1 nicht nur vorwissenschaftliches Weltwissen in narrativem Gewand. Sie hat vielmehr durchaus einen religiösen Sinn: Sie kommuniziert die Verlässlichkeit der Welt, sie soll Weltvertrauen generieren. Die Welt ist von Gott so gemacht, dass uns der sprichwörtliche Himmel nicht auf den Kopf fallen kann. Dies bestätigt auf ihre Art auch die Sintfluterzählung (Gen 6–9), die die abgründige Möglichkeit thematisiert, dass Gott seine Verlässlichkeitszusage für die Welt wieder aufkündigt und die Düsen am Himmelszelt öffnet für einen Dauerregen, der die Bereichsdifferenzierung zwischen Erde und Wasser wieder zurücknimmt und Mensch und Tier den Lebensraum entzieht, auf den sie angewiesen sind. Die Pointe dieser Erzählung ist indes ihr Ende. Nachdem das Hochwasser abgeklungen ist, erkennt Gott zwar, dass der Anlass für die Sintflut nicht gegenstandslos geworden ist; weiterhin gilt: „Das Sinnen und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an“ (Gen 8,21, sinngleich mit Gen 6,5). Dennoch verpflichtet sich Gott selbst, dass so etwas nicht mehr vorkommen wird: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,22). Er schließt einen „Bund“ mit „allem Fleisch auf Erden“ (Gen 9,17), „dass hinfort nicht mehr alles Fleisch verderbt werden soll durch die Sintflut und hinfort keine Sintflut mehr kommen soll, die die Erde verderbe“ (Gen 9,11). Kosmisches Zeichen dafür ist bekanntlich der „in den Wolken“ erscheinende Regenbogen (Gen 9,13–16). Er zeigt sinnenfällig das Ende (und: die Endlichkeit) des Regens an. Wegen dieser weltorientierenden Abzweckung ist der Kosmos fast zwangsläufig aus der Perspektive der betrachtenden Menschen dargestellt. Sie nehmen die Gestirne eben (wie auch wir Heutigen!) als verschieden große Leuchtkörper am ‚bestirnten Himmel über ihnen‘ wahr, die sich – wie etwa die Sonne – in
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weitem Bogen vom einen Ende des Horizonts zum anderen bewegen. Insofern sind diese Texte natürlich „geozentrisch“. Es war aber von vornherein ein hermeneutischer Trugschluss, ihnen ein im wissenschaftlichen Sinn „geozentrisches Weltbild“ zu unterstellen bzw. die wissenschaftliche Verbindlichkeit eines solchen Weltbilds normativ aus ihnen abzuleiten. Allerdings zeigt die Wissenschaftsgeschichte eindrücklich, wie retardierend bei der Durchsetzung eines „heliozentrischen Weltbilds“ die religiöse Überzeugung war, dass der Glaube an den Schöpfergott und mehr noch an den Gott, der in Christus ‚zur Welt kommt‘, mit innerer Notwendigkeit ein „geozentrisches Weltbild“ impliziere, so dass die Annahme, die Erde sei nicht die Mitte des Kosmos, als Widerspruch zum christozentrisch akzentuierten Gottesverständnis erschien. Es dauerte Jahrhunderte, bis dieser Widerspruch ausgeräumt war – ausgeräumt jedenfalls von Seiten der Religion und in der religiösen Selbst- und Weltverständigung; aus der Sicht einer naturwissenschaftlich basierten Religionskritik wird die unermessliche Weite des Kosmos häufig durchaus weiterhin als negativer Gottesbeweis herangezogen.
2.
Wo Gott wohnt: Der Himmel als Ort Gottes
Die Schöpfungserzählungen stellen keine besondere Verbindung zwischen Gott und Himmel her.4 Es gibt aber im Alten wie (fast mehr noch) im Neuen Testament starke Traditionslinien, die Gott prominent im Himmel verorten und sein Wirken vom Himmel her erwarten. Mose muss auf den hohen Berg steigen, um die Gebote zu empfangen. Gott begleitet und führt sein Volk vermittels einer Feuer- bzw. Wolkensäule durch die Wüste. Manna und Wachteln fallen als Wüstennahrung nicht zufällig vom Himmel. Gottes „Thron“ ist im Himmel (Ps 11,4). Er regiert dort als König, umgeben von einem himmlischen Hofstaat. Jesus spricht Gott im Gebet schlicht als „Vater im Himmel“ an. Die basileia tou theou, d. h. das „Reich Gottes“ oder die „(Königs-)Herrschaft Gottes“, die Jesus mit seinem Auftreten für angebrochen erklärt, kann synonym auch als basileia ton ouranon, als „Reich bzw. Herrschaft des (präziser: der) Himmel“, bezeichnet werden.5 Nach der Auferstehung wird Jesus gemäß dem Lukas-Evangelium (Lk 24) und der Apostelgeschichte (Apg 1) in den Himmel entrückt und kehrt zum Vater zurück, von woher er den Jüngern seinen pfingstlichen Geist schickt (Apg 2).
4 Das mag im Blick auf Gen 1 damit zu tun haben, dass die sog. „Priesterschrift“ die Präsenz Gottes im Tempelkult betonte. 5 Zur pluralischen Version vgl. den Beitrag von Johann Ev. Hafner in diesem Band.
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Wie kommt es, dass die kosmologische Größe Himmel derart theologisch aufgeladen wird? Vermutlich werden hier bestimmte Vorstellungen von Gott mit Phänomenbeobachtungen verbunden. So ist der Himmel – jedenfalls in einer Zeit, in der das Fliegen eine ferne Utopie ist – ein der menschlichen Verfügung entzogener Raum, dessen Unermesslichkeit und Erhabenheit zugleich spürbar ist und der zudem einen massiven Einfluss auf die menschliche Lebenswirklichkeit hat (Tag und Nacht, Sonne und Regen, etc.). Unverfügbarkeit, Unermesslichkeit, zugleich Zugewandtheit und Angewiesenheit – das sind Attribute, die auch auf Gott und das menschliche Verhältnis zu Gott zutreffen. Deshalb legt es sich nahe, den kosmischen Raum der Unverfügbarkeit auch dem unverfügbaren Gott gleichsam als ‚Lebensraum‘ zuzuschreiben. Dabei dokumentieren die einschlägigen Texte komplexe Reflexions- und Aushandlungsprozesse über Ferne und Nähe, Entzogenheit und Zugewandtheit Gottes, über Grenzziehung und (legitime wie illegitime) Grenzüberschreitung zwischen irdischem und himmlisch-göttlichem Bereich. Einschlägig ist etwa die Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11), deren Pointe gerade ist, dass Gott das ‚himmelstürmerische‘ menschliche Projekt eines bis zum Himmel reichenden Hochhausbaus verhindert, weil damit die Menschheit sich über ihren zugewiesenen Lebensraum hinausbewegt. Fast barsch wird die Grenze im zweiten Teil des Jesajabuches eingeschärft: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ (Jes 55,8f) Allerdings schließt sich unmittelbar die Verheißung einer Überbrückung dieser Distanz von Gott aus an: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und lässt wachsen, dass sie gibt Samen zu säen und Brot zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende.“ (Jes 55,10f) Fast im Wortsinn überbrückend ist auch Jakobs Traum von der Himmelsleiter, auf der Engel auf und ab steigen, und oben steht Gott, identifiziert sich als der Gott Abrahams und Isaaks und verkündigt Jakob, dass er das Land, auf dem er jetzt liege, dermaleinst besitzen werde (Gen 28,13f). Und nach Jesu Taufe im Jordan öffnet sich der Himmel, Gott offenbart Jesus als seinen „geliebten Sohn“ und damit indirekt sich selbst als liebenden Vater und der Heilige Geist schwebt auf Jesus herab in Gestalt einer Taube. Sinnenfälliger kann die Grenzöffnung zwischen Himmel und Erde, Gott und Welt kaum dargestellt werden. Ohnehin wird – schon im Alten Testament – durchaus wahrgenommen und reflektiert, dass die Verortung Gottes „im Himmel“ eine problematische Begrenzung oder Einschränkung Gottes darstellen könnte. Klassisch für diesen
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Diskurs ist die Darstellung der Einweihung des salomonischen Tempels (1 Kg 8). „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?“, fragt Salomo da und fährt fort: „Der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe?“ (1 Kön 8,31) Gleichwohl soll diese Frage den Tempelbau keineswegs delegitimieren; sie verleiht nur dem Staunen darüber Ausdruck, dass Gott sich jenseits (oder diesseits) des Himmels, nämlich auf der Erde, verlässlich zugänglich macht: Wenn schon der Himmel ihn nicht fassen kann, wie hochunwahrscheinlich ist es dann, dass er in einen bestimmten, definierten, begrenzten irdischen Ort eingeht – und doch geschieht es!
3.
Zeichen am Himmel – Zeichen vom Himmel
Eine interessante Verbindung zwischen kosmologischen Himmelswahrnehmungen und der ‚Verortung‘ Gottes im Himmel stellt die religiöse Interpretation von Himmelsphänomenen als Verweis auf Gott bzw. als Zeichen für Gottes Wirken dar. Das gilt schon für den geregelten Lauf der Gestirne. „Die Himmel erzählen die Ehre (oder auch: die Herrlichkeit) Gottes“, beginnt der großartige Psalm 19, „und die (Himmels-)Feste verkündigt seiner Hände Werk“. Mit dem berühmten „Beschluss“ von Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ gesagt, erfüllt der „bestirnte Himmel über mir“ den Beter beim bloßen Anschauen „mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht“6. Die Gestirne sind eine sozusagen stumme Verkündigung. „Ein Tag sagt’s dem andern“, heißt es, „und eine Nacht tut’s kund der andern, ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme.“ Und doch „geht ihr Schall aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt“. An der Sonne wird in kühner Metaphorik Gottes weltordnendes Handeln exemplifiziert: „Er hat der Sonne ein Zelt am Himmel gemacht; sie geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen ihre Bahn. Sie geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende, und nichts bleibt vor ihrer Glut verborgen.“ Die hohe Bedeutung dieser kosmischen Gottesoffenbarung geht auch daraus hervor, dass der Psalm danach völlig unvermittelt auf ein Lob der Tora übergeht, des Gesetzes, das Gott seinem Volk gegeben hat: So wie Gott den Kosmos ordnet, so ordnet er auch die Geschichte und die Geschicke seines Volkes. Doch liest der Fromme nicht nur die regulären Himmelsbewegungen als Botschaft Gottes bzw. Botschaft über Gott. Mehr noch werden außergewöhnliche Himmelserscheinungen auf tiefere Bedeutung hin abgefragt. Besonders auf6 Immanuel Kant: „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, Bd. 6, 105ff., hier: 300.
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schlussreich ist in dieser Hinsicht der berühmte Stern von Bethlehem. Es sind ja drei Sterndeuter, denen das ungewöhnliche Licht am Himmel auffällt, und in der Erzählung in Mt 2 schließen sie daraus erstaunlicherweise unmittelbar, dass der „König der Juden“ geboren sein muss. Auch Herodes nimmt keineswegs Anstoß an dieser Deutung; im Gegenteil lässt er sogleich seine Religionsexperten in der Bibel recherchieren, für welchen Ort die Propheten das Erscheinen des messianischen Königs angekündigt haben. Mit anderen Worten: Sie schauen ins Buch, um den Himmel zu verstehen. Dass der Himmel etwas sagt, ist völlig unstrittig; was er sagt, muss aber aus der religiös-kulturellen Tradition durch Schriftauslegung erschlossen werden. Ist ein Komet am Himmel noch etwas sozusagen regulär Irreguläres, so wird im Alten Testament einmal die explizite Unterbrechung der Gestirnbahnen als Gotteszeichen erzählt. Im zehnten Kapitel des Buches Josua wird berichtet, dass Josua mit der Stadt Gibeon Frieden schließt, weshalb andere kanaanäische Städte mit vereinten Truppen die Stadt belagern, die daraufhin Josua um Hilfe bittet. In der folgenden militärischen Auseinandersetzung wird ausdrücklich Gott als Akteur genannt: Er lässt die Feinde vor Israel erschrecken, und als sie vor den israelitischen Truppen fliehen, lässt Gott „große Steine vom Himmel auf sie fallen bis Aseka, dass sie starben. Und von ihnen starben viel mehr durch die Hagelsteine, als die Israeliten mit dem Schwert töteten.“ (Jos 10,11). An diesem Tag spricht Josua in Anwesenheit des Volkes Israel mit Gott und sagt: „Sonne, steh still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon!“ Und auf dieses Wort hin „stand die Sonne still und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte.“ Zur Verifikation des unerhörten und auch in Zukunft einzigartigen Ereignisses wird gleich hinzugefügt: „Ist dies nicht geschrieben im Buch des Redlichen?“ Und weiter: „So blieb die Sonne stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen fast einen ganzen Tag. Und es war kein Tag diesem gleich, weder vorher noch danach, dass der Herr so auf die Stimme eines Menschen hörte; denn der Herr stritt für Israel.“ (Jos 10,12–14) Das Anhalten der Gestirne hat also einen doppelten Sinn: die pragmatische Funktion, den Zeitraum für die Rache an den Feinden auszudehnen, und die verbürgende Zeichenfunktion, Gottes Treue zu seinem Volk zu vergewissern. Auch hier handelt es sich noch um ein Himmelsphänomen, dessen Exzeptionalität freilich deutlich markiert ist. Die Erzählung davon soll natürlich auch demonstrieren, dass – in Umkehrung der Vaterunser-Bitte gesagt – Gottes Wille nicht nur „auf Erden“, sondern auch „im Himmel“ geschieht. Gott vermag auch den von der Erde aus unverfügbaren Teil der Schöpfung zu lenken. Mit dieser Unverfügbarkeit hat es zu tun, wenn „vom Himmel“ her ein außeralltägliches – rettendes, strafendes – Eingreifen Gottes erwartet wird. Besonders einschlägig ist die Erzählung im 2. Buch der Könige ( 2 Kg 1), wenn der Prophet Elia seine prophetische Berufung durch ein schauerliches Zeichen beglaubigen lässt: „Bin
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ich ein Mann Gottes“, sagt er zu einem Hauptmann, der ihn im Auftrag des israelitischen Königs Ahasja festnehmen soll, „so falle Feuer vom Himmel und fresse dich und deine fünfzig Mann“, und genau dies geschieht dann auch (2 Kg 1,10). Interessant ist der intertextuelle Kommentar im Neuen Testament: Als Jesus und seine Jünger auf ihrem Weg von Galiläa nach Jerusalem in einem Dorf der Samaritaner keine Aufnahme finden, wenden sich die erzürnten Jünger Jakobus und Johannes an Jesus: „Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre“ (Lk 9,55), was Jesus aber barsch zurückweist (vgl. 9,56) – in einer jüngeren Handschrift wird das erläuternde Jesuswort hinzugefügt: „Wisst ihr nicht, welches Geistes Kind ihr seid? Der Menschensohn ist nicht gekommen, das Leben der Menschen zu vernichten, sondern zu erhalten.“ (Lk 9,55b.56a) Dieser Zusatz – der in neueren Bibelausgaben ins Kleingedruckte verbannt worden ist, weil er in den ältesten Handschriften fehlt – sagt aber nur noch einmal explizit, was die kurze Szene implizit bereits enthält und was am Gesamtwirken Jesu deutlich erkennbar ist: Das eigentliche „Zeichen vom Himmel“ ist Jesus, und er ist nicht als Rächer, sondern als Retter gekommen.
4.
„Unsere Heimat ist im Himmel“: Der Himmel als Sehnsuchtsziel menschlicher Erfüllung
Wie bereits erwähnt, ist die Heilsbotschaft, mit der Jesus auftrat und für die er einstand, auf den Begriff des „Reiches Gottes“ bzw. des „Reiches des Himmels“ (wörtlich im Plural: „Reich der Himmel“) konzentriert. Jesu erste überlieferte Äußerung präsentiert diese Botschaft in einer sloganhaften Verdichtung: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist angekommen / angebrochen“ (Mt 3,2). Und in einem weiteren Wort identifiziert Jesus diesen Anbruch des Gottesreichs ausdrücklich mit seinem eigenen Wirken: „Wenn ich mit dem Finger Gottes Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20; vgl. Mt 12,27 – dort statt „Finger“ „Geist“).7 Jesus bringt gleichsam den Himmel auf die Erde. Noch einmal mit dem Vaterunser gesagt: Die Herrschaft Gottes gilt „nicht nur im Himmel“ als dem sozusagen angestammten Aufenthaltsort Gottes, sondern auch „auf Erden“. Dieser Ausweitung der (Sichtbarkeit der) Gottesherrschaft vom Himmel auf die Erde korrespondiert nun freilich eine Gegenbewegung, die das eschatologische Sehnsuchtsziel menschlicher Vollendung im Himmel verortet. „Unsere 7 Dass hier vom „Reich Gottes“ und nicht vom „Himmelreich“ die Rede ist, dürfte damit zusammenhängen, dass Jesus den Vorwurf zu widerlegen hat, er treibe die Dämonen „durch Beelzebub, ihren Obersten“ aus (Mt 12,24). Es geht also darum, ob Jesus eine teuflische oder eben die göttliche Macht repräsentiert.
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Heimat (genauer: Bürgerrecht) ist im Himmel“, schreibt Paulus im Philipperbrief (Phil 3,20). Für die Entwicklung dieser Vorstellung dürften mindestens drei Faktoren leitend sein: Zum einen impliziert das Sein „im Himmel“ die endgültig überbrückte Gottferne, die unverbrüchliche Gemeinschaft mit Gott, der eben der „Vater im Himmel“ ist. Zum anderen reflektiert die Annahme einer himmlischen Existenz die unabweisliche empirische Erfahrung der Entzogenheit der Verstorbenen: Sie sind der irdischen Wahrnehmung und Kommunikation nicht mehr zugänglich. Wenn man überhaupt an einer postmortalen Existenz festhalten will, dann kann man sie jedenfalls nicht mehr ohne weiteres „auf Erden“ verankern. Sie braucht einen neuen ‚Ort‘. Und soll dieser Ort positiv als Sehnsuchtsziel besetzt werden, dann bietet sich dafür der Himmel als Verräumlichung der Gottnähe an. Entsprechend etabliert sich dann auch ein ‚Ort‘ für die definitive Gottferne: die in der „Unterwelt“, also unter der bewohnten Erde, lozierte „Hölle“. Diese räumliche Ausgestaltung der religiösen Erwartungskomplexe „ewiges Leben“ und „ewige Verdammnis“ ist sicher massiv gefördert durch die antithetische Licht-Dunkel-Metaphorik, die als dritter prägender Faktor für die Annahme einer himmlischen Existenz zu nennen ist. Der Himmel als Inbegriff des Lichten, Hellen, Luftigen, Transparent-Weiten steht der Hölle als dem Signalwort für das Lichtlose, Dunkle, Stickige, Enge gegenüber. Der Himmel kann daher auch als der Ort erscheinen, an dem die irdischen Beengungen und Beklemmungen, die dunklen Seiten der Existenz verschwunden und überwunden sind.8 Freilich zeigt sich hier ein grundsätzliches Problem. Die Verortung „im Himmel“ vermag der kategorialen Andersartigkeit, der Unverfügbarkeit und Unanschaulichkeit der postmortalen Existenz Ausdruck zu geben. Aber sie versperrt jede Aussicht auf die konkrete Gestalt jenes „ewigen Lebens“, in dem doch in irgendeiner Form die irdische Existenz, das ‚gelebte Leben‘ aufbewahrt sein soll. Für das religiöse Bewusstsein entsteht hier eine dauernde Spannung zwischen der wahrgenommenen (und anerkannten) Unanschaulichkeit eines Lebens ‚nach dem Tode‘ und dem Bedürfnis nach einer konkretisierten Darstellung desjenigen „ewigen Lebens“, das doch als die Erfüllung des irdischen Lebens gelten soll und also in irgendeiner Kontinuität dazu stehen muss. Es ist deshalb kein Zufall, dass parallel (und in Konkurrenz) zur Vorstellung der 8 In säkularisierter Form, nämlich auf die Erfahrung des Fliegens bezogen, spricht sich diese Himmelswahrnehmung in Reinhard Meys bekanntem Lied „Über den Wolken“ aus: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“ Hier wird der kosmische Himmel (sky) zum Erfahrungs- und Veranschaulichungsraum für das, was die religiöse Tradition unter heaven thematisiert. Zu beachten sind aber die sprachlichen Distanzierungs- und Relativierungsindikatoren („wohl“, „sagt man“; auch die indirekte Rede).
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Heimat „im Himmel“, in die die Verstorbenen zurückkehren, auch das Bild der endzeitlichen Neuschöpfung eines „neuen Himmels und einer neuen Erde“ entwickelt wurde.
5.
„Neuer Himmel und neue Erde“: Die vollendete irdische Existenz als Sehnsuchtsziel
Bei dieser Neuschöpfung geht es um einen neuen Kosmos, in dem sich die Lebensbedingungen des „alten“ widerspiegeln, freilich ohne Gewalt, Hunger, Leiden und Tod. Die Menschen leben nicht „im Himmel“, sondern auf einer erneuerten Erde. Der „neue Himmel“ ist in diesem Vorstellungsrahmen nicht heaven, sondern sky. Für diese erneuerte irdische Existenz steht im Alten Testament der Begriff shalom. Er bezeichnet einen Frieden in umfassendem Sinn. Vielfältige Bilder entfalten unterschiedliche Dimensionen dieses Friedens und korrespondieren dabei gegenwärtigen Entbehrungs-, Gefährdungs- und Leiderfahrungen. So gehören sichere Grenzen dazu, verlässliche Ernten, geklärte Besitzverhältnisse, die gewährleisten, dass derjenige, der sät, auch die Früchte der Ernte genießt, etc. Zentral ist die Kategorie der Gerechtigkeit. In einzelnen Spitzenaussagen wird ein Völkerfrieden angekündigt, der darauf gründet, dass die Völker nach Jerusalem wallfahrten, um dort vom Gott Israels „Weisung“ zu erlangen (vgl. Jes 2,2–4; ähnlich Mi 4,1–4). Und von dem im Jesajabuch angekündigten „Gottesknecht“ (in dem die frühe Christenheit Christus erkannte) wird gesagt, dass er das „Recht“, d. h., eine gerechte Friedensordnung, zu den „Inseln“ trägt, also über die ganze bewohnte Erde ausbreitet (Jes 42,1–4). Sogar die Natur verliert ihre Gefährlichkeit und wird in die Friedensordnung einbezogen: „Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter“ (Jes 11,6–8). Es geht hier, noch einmal kurz gesagt, um eine erneuerte Erde unter einem erneuerten Himmel, nicht um eine Aufhebung des Irdischen in den Himmel hinein und auch nicht um den ‚Himmel auf Erden‘: Anders als bei Heine werden „Torten und Kuchen“ nicht im Himmel gegessen, sondern auf der Erde. Dennoch wird das irdische Leben nicht einfach fortgesetzt, sondern es wird unter veränderten Bedingungen neu geschaffen. Kontinuität und Diskontinuität greifen ineinander.
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6.
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Im Himmel – oder auf der neuen Erde: Darstellungsprobleme des „ewigen Lebens“
Dass die Vorstellungen eines Sehnsuchtsziels vollendeten menschlichen Lebens oszillieren zwischen einem „himmlischen“ Dasein und einer heilvoll erneuerten irdischen Existenz, verweist auf die grundsätzlichen Herausforderungen des Sprechens über ein „jenseitiges“ Daseinsziel: Dieses muss sich von der „diesseitigen“ Existenz kategorial unterscheiden – eine bloße unveränderte Verlängerung des irdischen Lebens wäre wenig verheißungsvoll –; es muss aber zugleich auch Züge des gelebten Lebens aufnehmen – sonst wäre es als Vollendung und/oder Erneuerung dieses Lebens nicht mehr erkennbar. Zweifellos akzentuiert die Vorstellung eines ewigen Lebens „im Himmel“ stärker die Dimension des Unanschaulichen, Diskontinuierlichen, ‚ganz Anderen‘. Zwar wird bei der Versicherung, ein Verstorbener sei jetzt „im Himmel“, in der Regel zwanglos ein Bereich „oben“, also oberhalb der Erde, assoziiert. Aber dieser Bereich ist meist nicht näher definiert; dieser Himmel ist kein geographischer Raum, der heaven hat nur rudimentäre Züge von sky. Als ‚Ort‘ für das „ewige Leben“ ist er nur schwach orchestriert: Neben der vollkommenen Gottesschau wird eigentlich nur der unablässige Lobgesang der Engel erwähnt, in den die Vollendeten einstimmen; kein Wunder, dass der sprichwörtliche „Münchner im Himmel“ sich da langweilt. Gelegentlich wird in elaborierten Angelologien eine Engelhierarchie entfaltet, in der sich die irdische Ständegesellschaft spiegelt. Auch kann zwischen unterschiedlichen Stufen des Himmels differenziert werden – was eine Rolle spielt bei der Frage, in welchen Himmel Mystiker während ihrer Visionen „entrückt“ werden. Beides hat allerdings in der Neuzeit kaum Nachfolger gefunden; den entsprechenden Versuch Swedenborgs hat Kant als „Träume eines Geistersehers“ verhöhnt.9 Freilich wurde die an Auskunftsverweigerung grenzende Kargheit und ‚Weltlosigkeit‘ dieser eschatologischen Perspektive immer wieder auch als religiös unbefriedigend empfunden. Hier bot die Annahme einer „neuen Erde“ unter einem „neuen Himmel“ einen Rahmen für die detail- und farbenreiche Beschreibung der vollendeten Existenz als wiedergefundenes Paradies, gar als „Schlaraffenland“. Konnte dabei die allzu irdische Ausmalung anstößig wirken, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass es durchaus ernst zu nehmende theologische Gründe gab und gibt, die eine stärker ‚weltförmige‘ Auskleidung der eschatologischen Existenz als angezeigt erscheinen lassen.10 Entscheidend sind 9 Vgl. Immanuel Kant: „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, 923ff. 10 Vgl. dazu meinen Beitrag: „‚Das kann doch nicht alles gewesen sein …‘ Fundamentalanthropologische Prolegomena zur Eschatologie“, in: Uwe Swarat/Thomas Söding (Hg.): Ge-
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ein christologisches und ein anthropologisches Argument, die eng zusammenhängen. Die christliche Überzeugung, dass „das Wort Fleisch geworden“ ist (Joh 1,14), dass Christus also „wahrhaft Mensch“ war und sein Menschsein nach der Auferstehung auch nicht hinter sich ließ, implizierte eine Hochschätzung der Leiblichkeit, die sich auch in dem Bekenntnis der leiblichen Auferstehung Jesu niederschlug. Entsprechend beschränkte sich die Heilshoffnung für die Menschen auch nicht auf die sich vom Leib loslösende Seele, sondern schloss den Leib ausdrücklich ein. Die Leiblichkeit gehört zum Menschsein selbst; sie bildet gleichsam eine Brücke zwischen ‚Diesseits‘ und ‚Jenseits‘. Das bedeutet dann, dass die leibliche Existenz des Menschen als geschichtliches, empfindendes, soziales Wesen ein konstitutives Moment seiner Identität darstellt, das in der Ewigkeit nicht einfach abgestreift sein kann. Andererseits kann weder Jesu Auferstehung noch die eschatologische Heilshoffnung als bruchlose Fortführung oder bloße Wiederherstellung des irdischen Daseins beschrieben werden. Schon die frühe Christenheit rang mit diesem Vorstellungs- und Darstellungsproblem. Dies zeigen die vielfältigen Erzählungen und Aussagen über den Status des auferstandenen Jesus ebenso wie die bohrenden Reflexionen des Paulus über die eschatologische Leiblichkeit im ewigen Leben der Christen (1 Kor 15).11 Hier wie dort geht es darum, Kontinuität und Diskontinuität zum gelebten Leben miteinander zu verbinden. So ist es etwa signifikant – um nur ein Beispiel zu nennen –, dass der auferstandene Jesus seine Wundmale weiterhin trägt, seine Präsenz aber dennoch anders dargestellt wird als im Blick auf seine vorösterliche Existenz. Für die weitere Reflexion und narrative Entfaltung des „ewigen Lebens“ eröffnete diese Konstellation ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Dabei konnten die Vorstellungsrahmen „im Himmel“ und „auf der neuen Erde“ durchaus auch ineinander verschwimmen, etwa in der Frage, ob es „im Himmel“ auch Tiere geben werde. Dies ist ein Indikator dafür, dass das religiöse Bewusstsein selbst Hemmungen zeigt, die eschatologische Existenz allzu konkret zu ‚verorten‘. Im Übrigen dokumentiert schon die neutestamentliche Jesusüberlieferung die Virulenz der Thematik: Konfrontiert mit der Fangfrage, mit wem eine Frau, die sieben Ehemänner überlebt hat, im Himmelreich verheiratet sein werde, weist Jesus die Fragestellung zurück und stellt fest, dass im Himmelreich nicht geheiratet werde (Mk 12,18–27). Lehnt er hier die allzu konkrete Übertragung irdischer Verhältnisse auf das Eschaton ab, so stellt er umgekehrt am Ende meinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie in ökumenischer Perspektive, Freiburg i.Br. u. a. 2013, 71ff. 11 Vgl. dazu meinen Beitrag: „‚Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?‘ Überlegungen zur Realität der Auferstehung in Auseinandersetzung mit Gerd Lüdemann“, in: Hans-Joachim Eckstein/Michael Welker (Hg.): Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, 165ff.
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des letzten Abendmahls eine direkte Verbindung her: Er werde von der Frucht des Weinstocks nicht mehr trinken, bis er erneut davon trinken werde „im Reich Gottes“ (Mk 14,25).
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Wo ist der Himmel?: Theologische Raumkonzepte im Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli
Das Abendmahl war im Übrigen in der Reformationszeit Anlass für einen heftigen Streit um Himmelskonzepte; dabei ging es auch um die Frage, inwieweit der Himmel (als heaven) verräumlicht werden kann und muss, m.a.W.: wieviel sky der heaven enthält. Die heftige Kontroverse zwischen Luther und Zwingli war vordergründig ein Streit um das Verständnis des „est“ in den Einsetzungsworten des Abendmahls. Bekanntlich insistierte Luther darauf, dass Jesus in dem „hoc est corpus meum“ seine wahre und wirkliche Gegenwart in dem Brot (und entsprechend dann auch im Wein) ankündigen wollte, das in der Abendmahlsfeier gereicht wird: „est“ heißt im strengen Sinne „ist“. Zwingli hingegen beharrte auf einer signifikativen Deutung. Das Wort „hoc est corpus meum“ konstituiert einen Verweisungszusammenhang; das im Abendmahl gereichte Brot bezeichnet Christus, erinnert an ihn und sein Heilswirken und lenkt so Verstand und Herz der Gläubigen hin auf den Grund ihres Glaubens: „est“ heißt „bedeutet“. Das Abendmahl ist für Zwingli daher ein Gedächtnis- und Bekenntnismahl der Gemeinde, die im rituellen Nachvollzug des Gründonnerstagsgeschehens sich der Heilsbedeutung der Selbsthingabe Jesu vergewissert. Im Hintergrund dieses Deutungsstreits um die Einsetzungsworte stand aber ein Dissens über Status und ‚Aufenthaltsort‘ Christi, der doch nach Bibel und Glaubensbekenntnis „aufgefahren (ist) in den Himmel“ und „zur Rechten des Vaters sitzt“. Für Zwingli implizierte dies ein räumliche Distanz Christi von der Erde. Dies gilt namentlich für seine „menschliche Natur“: Leibliche Existenz schließt notwendig räumliche Begrenzung ein – wer „im Himmel“ ist, kann nicht gleichzeitig „auf Erden“ sein. Luther12 setzte genau umgekehrt an: Weil es für ihn religiös zwingend war anzunehmen, dass Christus im Abendmahl wahrhaft und wirklich anwesend ist, musste er die Behauptung einer räumlichen Distanz Christi von der Erde grundsätzlich bestreiten. Er tat dies namentlich mit zwei Argumenten: Erstens lehnte er eine verräumlichte Vorstellung des Himmels als eines von der Erde entfernten Aufenthalts Christi strikt ab. Nicht wo der Himmel (sky) ist, da ist 12 Vgl. dazu auch meinen Beitrag: „‚Entsetzliche Speculationen‘? Überlegungen zur Argumentationslogik in Luthers Abendmahlslehre“, in: EvTh 74 (2014), 413ff.
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Christus, sondern wo Christus ist, da ist der Himmel (heaven). Wenn Christus also im Abendmahl ‚real präsent‘ ist, dann ist eben auch der Himmel auf Erden. Zweitens entwickelte er auf der Basis der Zwei-Naturen-Christologie eine Theorie, die es ihm erlaubte, auch die leibliche Präsenz Christi im Abendmahl festzuhalten. Ausgehend von der Überlegung, dass die menschliche Dimension Christi von seiner göttlichen nicht abgespalten werden darf, akzentuierte er die traditionelle dogmatische Lehre von der „Idiomenkommunikation“ dergestalt, dass seit der Auferstehung und Erhöhung die „menschliche Natur“ Christi an den Eigenschaften und Attributen der „göttlichen Natur“ Anteil hat. Einschlägig ist hier die Allgegenwart: Weil Gott – genauer: jede Person des trinitarischen Gottes – überall ist, kann auch der mit dem Gottessohn vereinte Mensch Jesus auf der Erde – und damit jedenfalls im Abendmahl – leibhaft-real gegenwärtig sein. Diese Entgrenzung des Leib-Konzepts ist von der reformierten Theologie nie akzeptiert worden (auch nicht von dem viel stärker als Zwingli auf Verständigung mit den Lutheranern ausgerichteten Calvin). Die Reformierten hielten vielmehr ebenso an einer kosmologischen Bestimmtheit des Himmels wie einer konstitutiven räumlichen Begrenztheit des Leibes fest. Ihr heaven bewahrt Züge des sky. Luther hingegen entkosmologisiert den theologischen Himmel radikal.13 Sein heaven ist kein sky. Kosmologische Einwände dürfen (und können) die Klarheit der theologischen Position nicht gefährden. Allerdings gründeten auch die Reformierten ihre theologische Überzeugung nicht auf eine entfaltete wissenschaftliche Kosmologie. Will man das Vorgehen charakterisierend vergleichen, so könnte man – unter anachronistischer Verwendung von Begriffen der modernen Philosophie – sagen, dass die Lutheraner eher „existenziell“ argumentieren, während die Reformierten „analytisch“ vorgehen, indem sie Begrenztheit als notwendiges Implikat der Leiblichkeit benennen und Räumlichkeit als notwendiges Implikat des Himmels. Es wäre wissenschaftsgeschichtlich interessant zu untersuchen, ob und inwieweit sich in den lutherischen und reformierten Konfessionskulturen unterschiedliche Formen und Strategien des Umgangs mit dem kosmologischen Weltbildwandel entwickelt haben. Das kann hier nicht geschehen. Systematisch läge bei einem „existenziellen“ Zugang jene Abkopplung des religiösen Diskurses von naturwissenschaftlichen Weltbildfragen nahe, die charakteristisch geworden ist für das ‚Mainstream‘-Christentum jedenfalls in Europa und (teilweise) Nordamerika, während der „analytische“ Zugang möglicherweise die gemeinsame Rationalitätsbasis der religiös-theologischen und der naturwissenschaft13 Es ist in dieser Hinsicht kein Zufall, dass im 20. Jahrhundert Rudolf Bultmann, der in seinem „Entmythologisierungs“-Programm die Loslösung der Botschaft des Evangeliums von ihrer Einkleidung in eine antike Kosmologie (genauer: ein ‚dreistöckiges‘ Weltbild aus Himmel, Erde und Unterwelt) forderte, Lutheraner war.
Gott im Himmel? Der Himmel als religiöser Imaginationsraum
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lich-kosmologischen Diskurse stärker zu akzentuieren erlaubt. Freilich schließen sich beide Zugänge ohnehin nicht wechselseitig aus, und auch eine exklusive Zuordnung zu jeweils einer Konfessionskultur dürfte kaum gelingen.
Literatur Heinrich Heine: „Deutschland. Ein Wintermährchen“, in: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (= Düsseldorfer Ausgabe), Bd. 4, bearbeitet von Winfried Woesler, Hamburg 1985. Immanuel Kant: „Kritik der praktischen Vernunft“, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, Bd. 6, 105ff. Immanuel Kant: „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, 923ff. Bernd Oberdorfer: „‚Das kann doch nicht alles gewesen sein …‘ Fundamentalanthropologische Prolegomena zur Eschatologie“, in: Uwe Swarat/Thomas Söding (Hg.): Gemeinsame Hoffnung – über den Tod hinaus. Eschatologie in ökumenischer Perspektive, Freiburg i.Br. u. a. 2013, 71ff. Bernd Oberdorfer: „‚Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?‘ Überlegungen zur Realität der Auferstehung in Auseinandersetzung mit Gerd Lüdemann“, in: HansJoachim Eckstein/Michael Welker (Hg.): Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen-Vluyn 2002, 165ff. Bernd Oberdorfer: „‚Entsetzliche Speculationen‘? Überlegungen zur Argumentationslogik in Luthers Abendmahlslehre“, in: EvTh 74 (2014), 413ff.
Lisanne Teuchert
Der andere Teil der Schöpfung: Vom (ethischen) Sinn des Duals von Himmel und Erde in theologischen Schöpfungskonzeptionen seit Karl Barth1
„Man kann über den Himmel an sich, über seine Natur mit großem Vorbehalt als das Eine dies sagen: daß er, indem die Erde als des Menschen Bereich ist, immer auch ist, und also dessen unveräußerliches Gegenüber bildet. Was in diesem unseren Bereich ist und geschieht, das ist und geschieht in der Gegenwart, im Angesicht und unter der Teilnahme dieses anderen Bereichs, dieses Gegenübers, des Himmels. Es gehört zur Erde als unserem Bereich, nach jenem hin offen zu sein. Und es gehört zum Geschehen in diesem unserem Bereich, daß es von jenem anderen Bereich her eingesehen ist, daß es immer auch in einer Beziehung nach dorthin und in einer Beziehung von dorther geschieht.“2
Was Karl Barth, einer der wirkmächtigsten evangelischen Theologen des 20. Jhs., in der Schöpfungslehre seiner Kirchlichen Dogmatik schreibt, drückt die grundlegende Dualität der Schöpfung aus. Himmel und Erde sind demnach nicht einfach als Hendiadyoin oder als Summanden zu verstehen, so als könnte man genauso gut von „der Welt“ im Singular sprechen, sondern als echtes Paar in gegenseitiger Abgrenzung und in aufeinander angewiesener Beziehung. Zugespitzt könnte man sagen: Die Erde ist nicht allein auf der Welt. Häufig spricht die Bibel in diesem Dual von Himmel und Erde: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (Gen 1,1). Und im letzten Buch der Bibel sieht Johannes einen neuen Himmel und eine neue Erde (Offb 21,1). Aus biblischer Sicht ist die Welt ge-
1 Überarbeitete Version meines Aufsatzes „Menschlicher Spielraum zwischen Himmel und Erde – fundamentalethische Aspekte des Himmels als Teil der Schöpfung bei Barth, Moltmann und Welker“, in: Schau ins Blau. Eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und Wissenschaft 5/2013, Online-Zeitschrift (www.schauinsblau.de). Die Einführung in den Diskurs über den Himmel als Geschöpf verdanke ich Magdalene L. Frettlöh, bei der ich ein entsprechendes Hauptseminar an der Ruhr-Universität Bochum besucht habe. 2 Barth, Karl: Die Lehre von der Schöpfung, Teil 3 (Die Kirchliche Dogmatik III/ 3). Zürich 1961, S. 493. Die große Vorsicht gründet im Anliegen, nicht außerhalb von Gottes offenbartem Handeln von der Schöpfung reden zu wollen, d. h. nur unter der Perspektive des Heilshandelns Gottes, das in der Offenbarung bezeugt ist, in „der Geschichte des Schöpfers mit seinem Geschöpf“ (ebd. S. 492).
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schaffen aus Himmel und Erde, die in einem dynamischen Wechselverhältnis zueinander stehen. Doch warum ist diese Einsicht wichtig? Was zunächst unspektakulär klingt, gehört zu den echten Wiederentdeckungen der Theologie im 20. Jahrhundert.3 Hatte die Bibel durchaus eine reiche und vielfältige Rede vom Himmel als Geschöpf, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, gekannt, war der Himmel im Lauf der Theologiegeschichte zunehmend in den Sog der Heilsfrage geraten, zu einem utopischen Ort jenseits des gesamten irdischen Daseins, also auch jenseits der Natur, geworden. Der Himmel wurde so „aus dem Weltbild förmlich herausgebrochen“4 und als weltferne, göttliche Sphäre thematisiert. Gegen den vorherrschenden theologischen Aufriss macht Barth den Himmel in der Schöpfungslehre zum Thema. Es geht nicht um den Himmel im Gegenstandsbereich der Soteriologie oder der Eschatologie, also nicht um den Heilsort, in den Gläubige nach ihrem Tod oder am Ende aller Tage zu kommen hoffen.5 Es geht tatsächlich um den kosmischen Himmel als Gegenüber zur Erde. Mit anderen Worten, es geht um „sky“, nicht um „heaven“. Mit meinem Beitrag möchte ich dieser Linie folgen und damit eine Brücke zu den naturwissenschaftlichen Beiträgen dieses Bandes schlagen, die den Himmel ebenfalls kosmologisch betrachten. Einerseits geht es mir also um den Himmel als Teil der Schöpfung, andererseits bleibt zwingend auch hier die Redeweise eine theologische: So wie „Natur“ nicht der gleiche Begriff ist wie „Schöpfung“, so redet die Theologie auch vom Himmel nicht als Naturphänomen, sondern als Geschöpf innerhalb einer theologischen Weltsicht. „Der andere Teil der Schöpfung“: Der Akzent in der Titelzeile meines Beitrags könnte so auf dem Begriff „Schöpfung“ liegen. Andererseits geht es mir im Folgenden darum, das Leben auf der Erde in Beziehung zu diesem (ihr immer schon mitgegebenen) Pendant zu beschreiben. Wo entfaltet diese duale Struktur sinnvolles Potential? Der Himmel kommt so als der Andere in den Blick, der Andere aus Sicht der Erde. Damit wird zum einen die exteriore Dimension des Himmels neu überdacht, zum anderen hoffe ich, aus der Alterität des Himmels ethische Perspektiven gewinnen zu können und dem Himmel als transkulturellem ethischem Raum gerecht zu werden.
3 Vgl. Thomas, Günter: „Hoffen auf einen ‚Neuen Himmel‘. Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht“, in: Evangelische Theologie 65 (5/2005), S. 382–397, hier S. 383 (dort das Stichwort „Wiederentdeckung“). 4 Link, Christian: Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie. Neukirchen-Vluyn 2012, S. 61f. 5 Vgl. Moltmann, Jürgen: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. Kap. VII: Himmel und Erde. München 1985 (Moltmann, Jürgen: Systematische Beiträge zur Theologie 2), S. 167– 192, hier S. 177.
Der andere Teil der Schöpfung
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Der Himmel als Begrenzung des menschlichen Handlungsspielraums: Karl Barth Die dialogische Existenz von Himmel und Erde ist das Eine, was Barth hervorhebt. Wie nimmt die Erde, wie nimmt der Mensch in dieser Beziehung den Himmel wahr? Während dem Menschen durch den Herrschaftsauftrag die Erde anvertraut ist, stellt der Himmel die mensch-entzogene Größe der Schöpfung dar; er bleibt ihm unsichtbar, unbegreiflich, unzugänglich und unverfügbar.6 Er symbolisiert das wirklich Unerforschliche und Unerkennbare7. Während der Mensch die Tiere der Erde benennt (Gen 2,19–20), bildet der Himmel den ihm unzugänglichen und unerkennbaren Bereich der Wirklichkeit.8 Zwar stößt der Mensch auch auf der Erde auf unerforschte Bereiche (z. B. den atomaren Mikrokosmos), diese sind aber nicht prinzipiell unerkennbar. Dagegen hat es der Himmel mit dem bleibend Unbegreiflichen und Geheimnisvollen zu tun9; mit der „Spitze aller Geheimnisse“10. Er verkörpert das bleibend Unzugängliche und Unverfügbare.11 Mit Barth gesprochen: „Der Himmel scheint also das Maß des dem Menschen Unerfaßlichen zu sein.“12 Der Himmel wird so bei Barth zur Grenze für das menschliche Handeln. Er ist „der Inbegriff der dem Menschen gesetzten Grenze.“13 Hybris ist es, einen Turm in den Himmel bauen zu wollen14, Hochmut, „von oben herab“ zu reden15, also: diese Grenze zu überschreiten. Ethisch betrachtet, kann diese Emphase auf der Begrenzung des menschlichen Handlungsspielraums Züge zum moralisierenden Zeigefinger haben, kann aber auch im Sinn ökologischer Ethik, Technikfolgenabschätzung und Imperialismuskritik noch immer Plausibilität entfalten. 6 Barth, a. a. O., S. 494. 7 S. ebd. Während Moltmann das Moment des Unsichtbaren auf den Himmel zu beziehen scheint, macht Welker mit Barth (vgl. Barth, a. a. O., S. 495) Sichtbares und Unsichtbares jeweils sowohl für den Himmel als auch die Erde aus (vgl. Welker, Michael: „Schöpfung des Himmels und der Erde, des Sichtbaren und des Unsichtbaren“, in: Martin Ebner, Paul D. Hanson (Hg.): Der Himmel. Neukirchen-Vluyn 2006 (Jahrbuch für biblische Theologie 20), S. 313ff.). 8 S. Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 168 unter Berufung auf Welker, Michael: Universalität Gottes und Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozeßdenken nach Whitehead. Neukirchen-Vluyn 21988 (Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 1), S. 203ff. 9 S. Barth, a. a. O., S. 494. 10 Barth, a. a. O., S. 495. 11 Vgl. „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ (Jes 55,8f.) 12 Barth, a. a. O., S. 496, Herv.i.O. 13 Barth, a. a. O., S. 495, Herv.i.O. 14 Vgl. Gen 11,4; Barth, a. a. O., S. 495. 15 Vgl. Ps 73,8.18; Barth, a. a. O., S. 495.
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Und auch für Barth begrenzt der Himmel nicht nur den Spielraum des Menschen, er eröffnet ihn auch. Allerdings kommt diese Seite der dialogischen Beziehung erst im folgenden Abschnitt wirklich zum Tragen.
Der Himmel als Eröffnung des menschlichen Handlungsspielraums Endlich eine säkulare Erde: Die Religionskritik Die Grenze zwischen Himmel und Erde lässt sich nicht nur als von oben herab gesetzt verstehen, sondern wurde auch vom Menschen vehement eingefordert und genutzt. Die Religionskritik des 19.Jh. besteht auf der Erde als säkularem Raum – ein Teil der Welt, in dem Gott nicht wohnt und bestimmt, sondern der Mensch. Wie Feuerbach schreibt, ist es das Gebot der Stunde, an die Stelle der Gottheit die menschliche Gattung oder Natur zu setzen, an die Stelle der Religion die Bildung – und eben auch an die Stelle des Jenseits im Himmel nach dem Tod die geschichtliche Zukunft, die Zukunft der Menschheit.16 „Den Himmel überlassen wir getrost den Engeln und den Spatzen“17, meint Heinrich Heine. Dass hier der naturale und der religiöse Himmel (Spatzen und Engel) in einem Atemzug genannt werden, zeigt allerdings wiederum, dass der geschöpfliche Himmel nicht nur in der Theologie in den Hintergrund getreten war.18 Auch diese säkularistische, emanzipative Wendung der Himmel-Erde-Grenze baut auf gut biblisches Fundament: Dem Menschen wird die Erde, werden die Tiere des Landes, des Meeres und auch noch die Lufttiere zur Benennung und Verwaltung übergeben. Der Mensch soll und darf dort herrschen. Die Entgötterung der dämonischen Naturwelt gehört zum Impetus des ersten Schöpfungsberichts, in einer Welt von Flussgeistern und Sternengöttern. Ein Freiheitsraum ist dem Menschen zur Gestaltung gegeben.19 Die Einräumung eines klar profanen, vom Himmel unterschiedenen und gottfreien Bereichs liegt damit in der Intention des Schöpfers und ermöglicht ihm allererst, ein echtes Gegenüber für den Menschen zu werden.20 Der Himmel 16 Feuerbach, Ludwig: Das Wesen der Religion (1845), Berlin 1913, S. 308, zit. nach Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 185. 17 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput I, zit. nach Miggelbrink, Ralf: „Die Lebensfülle Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch über die biblische Rede vom Himmel“, in: Martin Ebner, Paul D. Hanson (Hg.): Der Himmel. Neukirchen-Vluyn 2006 (Jahrbuch für biblische Theologie 20), S. 325–356, hier S. 338, Anm. 35. 18 Der Himmel fällt – und damit fällt auch Gott (s. Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 183). 19 Freilich intendieren biblische Texte im Zug der Entgötterung der Erde keine gleichzeitige Entgötterung des Himmels, wie das die Religionskritik z. T. tut, wo sie nicht eher auf Marginalisierung der Religion setzt oder sich indifferent verhält. 20 Vgl. etwa für Rahner Miggelbrink, a. a. O., S. 329: „Die Welt als menschlicher Freiheitsraum ist
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bedeutet dann auch, und das ist auch für die Entflechtung von Religion und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft positiv zu würdigen, eine partielle (durch die Erde repräsentierte) Gottlosigkeit der Welt.21 Bei allem Recht dieser Stoßrichtung – und auch die Theologie hat diese nicht nur kritisch, sondern auch positiv aufgenommen, z. B. Dietrich Bonhoeffers Gedanke eines religionslosen Christentums22– wirkt sie aber wie ein Akt der Abschiebung. Gott und Religion werden in den Himmel abgeschoben, um selbst auf Erden den eigenen Raum beanspruchen zu können.23 Der Himmel wird damit aber insgesamt irrelevant. Differenziert von einer bereichernden Beziehung zwischen Himmel und Erde zu sprechen, ist der Religionskritik nicht mehr möglich. Die ursprüngliche Entgrenzungsmetapher des Himmels ist zu einer Begrenzungsmetapher geworden.24 Das ist bedauerlich angesichts des differenzierten Duals zwischen Himmel und Erde, der für unser Weltverständnis doch etwas austragen kann, wie ich zu zeigen hoffe.
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Möglichkeitsbedingung menschlichen Freiseins vor Gott als dem personal Anderen.“ Er macht sich so „erreichbar als das personale Gegenüber menschlichen Handelns“. Vgl. auch ebd. S. 333f. Vgl. Miggelbrink, a. a. O., S. 324. Wie die Menschen damals Jesus ans Kreuz brachten, so verdrängen sie in der Neuzeit Gott aus Gesellschaft und Wissenschaft (vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. Christian Gremmels u. a., Gütersloh 1998 (Dietrich Bonhoeffer Werke 8), S. 529ff.). „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden; ebenso aber als philosophische und religiöse Arbeitshypothese (Feuerbach!)“ (ebd. S. 532). Kein Lebensbereich braucht Gott noch als Faktor der Mechanismen, die in ihm ablaufen: Die Moral und Politik werden durch die Philosophie, die Natur durch die Physik beschrieben „etsi Deus non daretur“. Die „Autonomie des Menschen und der Welt“ (ebd. S. 532) ist das Ziel dieses Vorgangs, der nicht mehr rückgängig zu machen ist. Bonhoeffer würdigt diesen Prozess als unumkehrbares Mündigwerden des Menschen, der zu verantwortlichem Leben fähig wird. Zudem sieht er ihn als Chance, die eigentümliche Ohnmacht der Macht Gottes in der Welt theologisch besser zu erfassen (vgl. Miggelbrink, a. a. O., S. 331f.). Vgl.: „Gott wird aus diesem Gestaltungsraum verdrängt in seine himmlische Jenseitigkeit, wodurch die Welt neuzeitlich zum Herrschaftsbereich des souveränen Menschen wird.“ (Miggelbrink, a. a. O., S. 326, unter Aufnahme Jüngels). „Die Vorstellung einer neutralen, von Gott getrennten Welt ergibt sich aus dem neuzeitlichen Willen, die Welt nicht mehr als gottdurchwirkte Realität, sondern als Freiheitsraum menschlicher Selbstbehauptung zu begreifen“ (Miggelbrink a. a. O., S. 329). Miggelbrink (a. a. O., S. 326f.) bemerkt: Hatten die Psalmbeter die grenzenlose Weite der Güte Gottes gepriesen, wenn sie die Metapher des Himmels heranzogen („denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, so weit die Wolken ziehen“ Ps 37,6; 57,11; 108,5), legt die neuzeitliche Metaphysik Gott auf seine Weltjenseitigkeit fest, wenn sie seinen Wohnsitz im Himmel bestätigt – „was dem rationalistisch-aufgeklärten Anspruch, die Welt als Gestaltungsraum des Menschen zu sichern, entgegenkommt“ (ebd. 326, unter Aufnahme Jüngels). Dort auch der Zusammenhang mit dem aufkommenden Monotheismus in Israel: der eine Gott umspannt die ganze Welt, Himmel und Erde.
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Der Himmel als Eröffnung, Ermöglichung und Erhaltung eines menschlichen Handlungsspielraums: Jürgen Moltmann Jürgen Moltmann bestimmt hingegen diese duale Beziehung deutlicher positiv. Wie wichtig er die inhärente Beziehungshaftigkeit der Schöpfung nimmt, zeigt sich schon in seinem Gesamtverständnis der Schöpfung als offenen Systems25, das originär von seiner Offenheit gegenüber der Umwelt lebt. In der Systemtheorie, die Moltmann hier rezipiert, finden zwischen Umwelt und System Wechselprozesse statt, die den Stoffwechsel des Systems am Laufen halten. Das System filtert gemäß seiner speziellen Funktionsweise bestimmte Umwelteinflüsse heraus, die es produktiv verarbeitet, und scheidet gewissermaßen die Ergebnisse wieder aus. Auf die Schöpfung übertragen bedeutet das, dass die Welt als Gesamtsystem eine Offenheit zu etwas anderem, zu einer Art Umwelt, braucht. Die Selbstabschließung jedes Systems bedeutet auf lange Sicht seinen Tod. Dementsprechend bedeutet Sünde für Moltmann, sich zu verkapseln, sich abzuschließen, Offenheit und Transzendenzfähigkeit zu verlieren. Ein lebendiger Organismus braucht immer wieder Elemente des Neuen. Das Neue hat in Moltmanns Entwurf eine heilvolle Funktion; es kann die Welt aus ihrem SichSelbst-Überlassen-Sein erlösen. Ohne das Neue, ohne Transzendenz wäre die Welt der ewigen Wiederkehr des Gleichen ausgesetzt, einer Endlosigkeit überlassen, die wenig mit der erfüllten Ewigkeit der biblischen Verheißungen gemein hätte.26 Die Quelle dieses Neuen ist nun der Himmel. Neben die Konnotation der „fundamentale[n] Unbestimmbarkeit“27 wie bei Barth tritt die Konnotation der „Offenheit der sichtbaren Welt […], die alle Grenzen übersteigt“28. Der Himmel steht dafür, dass die Welt „kein einheitliches, in sich geschlossenes Universum sein kann“29. Bezeichnet die Erde so den sichtbaren, verfügbaren, gestaltbaren Teil der Schöpfung, so der Himmel den offenen, unbestimmbaren, unsichtbaren, der das System Schöpfung für Gott offenhält. „In diesem Sinne ist sie ein ‚offenes System‘. Die bestimmte Seite dieses ‚Systems‘ nennen wir Erde, die unbestimmte Seite Himmel. Mit dem Ausdruck ‚Himmel‘ wird die gottoffene Seite der Schöpfung bezeichnet.“30. Gott wohnt seiner Schöpfung durch seine Anwesenheit im Himmel ein. Der Himmel erscheint gewissermaßen als Fenster der Schöpfung. Jederzeit findet ein 25 Vgl. Moltmann, Jürgen: „Schöpfung als offenes System“, in: Ders., Zukunft der Schöpfung. Gesammelte Aufsätze, München 1977, S. 123–139. 26 Vgl. Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 172. 27 A. a. O., S. 168. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 A. a. O., S. 172, Herv.i.O.
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Kreislauf zwischen dem System Schöpfung und seiner Umwelt Gott statt, die durch den Himmel verläuft. Die Welt „kreist nicht in sich selbst, weder in absoluter noch in relativer Vollkommenheit, sondern existiert in der Präsenz des Schöpfers und lebt aus dem ständigen Einfluß seines schöpferischen Geistes.“31. Die Welt ist somit notwendig dual strukturiert; es braucht den Himmel für die Lebens- und Zukunftsfähigkeit der Welt. Das Neue, das aus dem Himmel fließt, sind die schöpferischen Möglichkeiten Gottes für die Welt. Im Himmel liegen unerschöpfliche Potentiale, die in der Schöpfung verwirklicht werden können. „Mit dem ‚Himmel‘ wird der Bereich der schöpferischen Möglichkeiten und Kräfte Gottes bezeichnet.“32 Der Himmel erscheint so als Innovationsreservoir für das Weltsystem, als „Reich der Energien, der Möglichkeit (possibilitas) und der Mächtigkeit (potentia) Gottes“33. Von dort geht das schöpferische Handeln Gottes aus: Gott schafft den Himmel und damit die Möglichkeit für die Wirklichkeit der Welt, um von dort aus die Welt tatsächlich zu realisieren.34 Auch die Motivik der jüdischen und christlichen Tradition verbindet mit dem Himmel „Leichtigkeit, Behendigkeit, Schweben, Tanzen, Singen und Spielen“35, d. h. er ist „Raum des Möglichen, der zur utopischen Phantasie einlädt“36. Anders als unter den Bedingungen der Erd-Gravitation genießen die Geschöpfe im Himmel ungebundene Freiheit; mehr und ganz Anderes scheint hier möglich als im irdischen Lebensumfeld. Nicht nur Gottes Möglichkeiten liegen also im Himmel, sondern auch die Möglichkeiten der Geschöpfe, von Gott für sie geschaffen.37 Beflügelnde Vielfalt erfüllt den Himmel, während die Realisierung die Festlegung auf ein Konkretes erzwingt.38 Das Ideal der Gott-Welt-Beziehung, die sich durch den Himmel als Medium ereignet, läge in einer „unbehinderte[n] und grenzenlos fruchtbare[n] Kommunikation“39. Das ist Moltmanns Vorstellung des Eschatons, des neuen Himmels und der neuen Erde, wie sie von der Offenbarung des Johannes verheißen werden. Das System Schöpfung droht dann nicht mehr sich selbst abzuschließen und dem Tod zu verfallen, sondern steht in lebendigem und gesundem Austausch mit Gott. Gott wohnt dann nicht mehr nur im Himmel, sondern auch auf der Erde. 31 32 33 34 35 36 37
A. a. O., S. 171. A. a. O., S. 190. A. a. O., S. 174, Herv. fallengelassen. Vgl. ebd. A. a. O., S. 175. Ebd., Herv. fallengelassen. Vgl. ebd. Hier hätten die Kirchenväter Platon rezipiert, aber der Unterschied liege darin, dass Gott sich in seiner Liebe mehr für die Geschöpfe interessiere als für die Ideen. 38 So deutet Moltmann den biblischen Plural „die Himmel“ im Gegenüber zum Singular „die Erde“. 39 Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 191.
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Was heißt das alles für das Verhältnis der Erde zum Himmel – und für den menschlichen Handlungsspielraum? Die Welt hängt in ihrer Existenz von der Verwirklichung neuer Möglichkeiten ab, sie bietet sich dem Menschen offen dar, um diese Möglichkeiten zu verwirklichen. Das hat aktivierendes Potential. Der Mensch agiert als cooperator Dei, wie die klassische Dogmatik es ausdrückte. Der schöpferische Fluss von Möglichkeiten vom Himmel auf die Erde mündet bei Moltmann in der Mitarbeit der Menschen im Aufbau des Reiches Gottes. Menschen sind beteiligt daran, die Möglichkeiten aus dem Himmel für die Erde zu realisieren, und dabei das Gottesreich von Frieden, Gerechtigkeit und Liebe auszubreiten. Zusammenfassend lässt sich sagen: Gegenüber Barth kehrt Moltmann insgesamt die Blickrichtung um. Statt Begrenzung nach unten bedeutet der Himmel nun die Offenheit der Schöpfung nach oben.40
Der Himmel als „Einheit und Vielheit von ‚Transzendenz‘“41: Michael Welker Michael Welker hat diesen Himmelsdiskurs fortgeführt. Sein Konzept entwickelt die Beiträge Barths und Moltmanns weiter und bezieht vor allem Einsichten der Prozessphilosophie und -theologie mit ein. Welkers Himmelsausführungen sind umfangreicher, als in diesem Rahmen ausgeführt werden kann und muss. Einen Punkt, der mir für unseren Kontext relevant und gegenüber Barth und Moltmann neu scheint, möchte ich ausführen. Der Himmel symbolisiert die Spannung von Einheit und Vielheit von Transzendenz sowie von Partikularität und Universalität. Zunächst die Vielheit von Transzendenz: Wie wir bei Barth schon sahen, steht der Himmel für das Mensch-Entzogene, Unverfügbare, Unmanipulierbare. Vom Himmel her überkommen den Menschen naturale Kräfte, die er nicht steuern kann. Hitze und Kälte, Flut und Dürre, Blitzschlag und Hagel prägen und verändern das Leben auf der Erde, auch wenn die Menschheit sich im Lauf der Zivilisationsgeschichte gegen bestimmte Gefahren mehr oder weniger abgesichert hat. An diesen Vorgaben entlang bildet sich dann auch Kultur heraus. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Monats- und Jahresrhythmus wird von Festen und Kult begleitet. Welker beschreibt die stufenweise Anreicherung, die das Symbol des Himmels im Lauf der Zeit angezogen hat. Angesichts der Erfahrung machtvoller Eingriffe in das irdische Leben auf naturaler und kultureller Ebene 40 Vgl. Thomas, a. a. O., S. 385. 41 Welker, Michael: Schöpfung und Wirklichkeit. Neukirchen-Vluyn 1995 (Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 13), S. 59.
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nimmt es nicht Wunder, dass dem Himmel dann auch göttliche Kräfte zugeschrieben werden. Da das mehrere Götter oder eine Vielzahl an Engeln sein können, spricht Welker von sozialen Kräften, die in ihrem Gegeneinander und Zusammenspiel auf die Erde einwirken.42 Angesichts dieser mehrfach aufgefächerten Transzendenz ist es direkt tröstlich, den Himmel als Geschöpf zu begreifen. Der Mensch braucht nicht in Resignation oder Fatalismus unter dem mächtigen himmlischen Gegenüber zu verfallen. Es sind trotz allem keine numinosen Kräfte, keine Gottheiten oder Dämonen, die mit dem Menschen Willkür treiben. Die „verschiedenartigen Transzendenzen“43 des Himmels sind nicht von „koboldhafter Bizarrheit und schicksalhafter Willkür“, sondern unterliegen „einem letzten Zusammenhang von Ordnungen und Interdependenzen […], der prinzipiell erschließbar ist“44. Wird der Himmel als Geschöpf verstanden, bedeutet es auch, dass seine Transzendenz nur eine relative sein kann. Wie Welker es ausdrückt: ist der Himmel auch nur Geschöpf, dann besteht eine „letzte Homogenität der Wirklichkeit“45, auch der Himmel ist noch Gottes ordnendem Handeln unterstellt. Das heißt: mit dem Dual von Himmel und Erde ist der Schöpfung eine herausfordernde Transzendenz, eine echte Alterität eingeschrieben, die in diesem Dual aber auch ausgehalten werden kann und soll. Der Himmel, und nicht die Erde, ist es, auf den sich der Gedanke von Universalität gründen lässt – der Himmel allein. Universalität in der philosophischen oder ethischen Theoriebildung kann es nur auf der Grundlage von etwas außerhalb unserer historisch kontingenten, sozialen und kulturellen Institutionen geben. Bei Kant ist dies „das moralische Gesetz in mir“ – oder eben „der bestirnte Himmel über mir“ – so Welker.46 Unsere Welt ist immer die Erde, die Welt der Römer, die Welt eines Galiläers um die Zeitenwende, die Welt eines westlichen Theologen im Jahr 2016. Der Himmel aber verbindet die Menschen aller Zeiten und Erdteile. Sie sehen jeweils nur einen Ausschnitt des Himmels, bei den einen gerade dunkel, bei den anderen hell, und in der jeweiligen Gestirnkonstellation. Aber es ist derselbe Himmel – und zwar unserer Prägung entzogen. Welker baut auf den Himmel als Geschöpf den Gedanken einer interkulturellen Universalität, was in einem längeren Zitat abschließend deutlich wird: 42 Vgl. dazu Welker, Michael: „Himmel“, in: Erwin Fahlbusch (Hg.): Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Bd. 2. Göttingen 1989, S. 519ff. In der Hofstaat-Angelologie können Engel als Kollektivpersonen für Völker, Epochen, Gemeinden usw. stehen. S. zur Anreicherung des Symbols Himmel insgesamt ebendiesen Lexikonartikel. 43 Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, S. 61. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Welker, Universalität, S. 32f. Welker führt das bis in die Forderung einer nachneuzeitlichen, den Subjektivismus der Neuzeit verlassenden, Metaphysik, die er in der Prozessphilosophie angestoßen sieht.
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Wichtig ist, dass gerade das im Blick auf Gottes Treue geschöpfte Vertrauen auf die Einheit und Stetigkeit des Geschöpflichen trotz dieser evidenten Diskontinuitäts-, Differenz- und Fremdheitserfahrungen die Einheit des Himmels und eine letzte Einheit von geschöpflicher Transzendenz unterstellen lässt. Wichtig ist, dass der Himmel so zur Grundlage und zum Bezugspunkt realer Universalität werden kann, die die Völker, Kulturen, Klimata und Zeiten übergreift. Was immer die Geschöpfe und Regionen auf der Erde in Raum und Zeit voneinander entfernen und trennen mag, ihnen allen ist gemeinsam, dass sie unter dem Himmel leben mit seinen Gestirnen und den Ordnungen und den Rhythmen natürlicher und kultureller Art, die damit verbunden sind.47
An Welkers Ansatz bleiben Fragen bestehen, z. B. ob dieses Vertrauen auf die letzte Homogenität der Wirklichkeit nicht doch wieder eine partikulare Haltung, z. B. eine christliche, ist. Oder ob diese letzte Homogenität die Alterität des Anderen wirklich bestehen lassen und schützen kann.48 Dennoch möchte ich den Gedanken würdigen, dass mit dem Terrazentrismus unseres Denkens zugleich auch der Anthropozentrismus überwunden werden kann und umgekehrt.
Quintessenz Was bedeutet also der Himmel für das Verhältnis von Individuum und Kosmos? Was bedeutet er somit fundamentalethisch in der behandelten Diskussionslinie? Unter dieser Fragestellung erschien der Himmel seit der Religionskritik des 19. Jhs. als Schauplatz von Grenzverhandlungen zwischen göttlichem und menschlichem Zuständigkeitsbereich: Je nach dem drängen Menschen Gott hinaus in den Himmel, setzt Gott den Himmel als Grenze menschlichen Forschens und Herrschens, je nach dem wenden Menschen dem Himmel den Rücken zu oder zieht sich Gott selbst raumgebend aus der Erde in den Himmel zurück. Allen behandelten Autoren war es zudem gleichermaßen wichtig, einer Deifizierung des Himmels entgegenzuwirken. Wie Barth bestimmten alle behandelten Autoren den Himmel als den für den Menschen unzugänglichen und unverfügbaren Bereich der Schöpfung. Daraus lässt sich das bleibende Moment der Entzogenheit eines Teils der Schöpfung gegenüber den Schattenseiten einer selbstermächtigenden Weltbeherrschung des Menschen kritisch in Anschlag bringen. Denn ohne den Himmel verliert die Welt dieses Moment der Entzogenheit: Aus der vertikal gegliederten Schöpfung wird die einheitliche, plane und durchsichtige Welt, die dem menschlichen Zugriff unbegrenzt zur Verfügung zu stehen scheint. Mit 47 Welker, Schöpfung und Wirklichkeit, S. 62f. 48 Wie Harald Lesch im Anschluss an den Vortrag bemerkte, nimmt ein grundlegender Monismus bei einer Beeinflussung durch die Prozessphilosophie nicht Wunder.
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ihrer ‚gottoffenen‘ Seite verliert sie ihre Transzendenz. Ihr Geheimnis wird preisgegeben an die Freiheit des Menschen, aufzubrechen, wohin er will.49
Wegen des Moments der Unzugänglichkeit bildet der Himmel bei Barth die Grenze des menschlichen Handlungsspielraums und bewahrt ihn vor dem Hochmut zu meinen, die ganze Welt sei „durchgängig verfügbar und verfüge nicht über uns“50. Moltmann wendet das Blatt und zeigt die Notwendigkeit eines solchen Bereichs, der die Welt „nach oben offen“ hält, also die Funktionalität dieses Schöpfungsteils für die Erde. Welker gründet den Gedanken der Universalität auf dieses außermenschlich, aber innerweltlich Andere und spielt die Situation des Menschen im Kosmos zwischen Agoraphobie und Ordnungsvertrauen, Heimatgefühl und Fremdheitserfahrung durch. Klaustrophobie überkommt dafür Moltmann im Szenario einer himmelslosen, totalitär geschlossenen Welt. Begrenzung und Eröffnung des menschlichen Handlungsspielraums, Transzendenzfähigkeit und Zuwendung zur Erde sind fundamentalethische Momente, die im Symbol des Himmels als Geschöpf bewahrt sind. Sie bilden Pole, die in jeder materialethischen Debatte auszutarieren sind, z. B. bei Technikfolgenabschätzung oder medizinischer Forschung. Die Grenze zwischen Himmel und Erde ist eine fluide Grenze – sie bei jeder ethischen Entscheidung neu auszuloten spiegelt geradezu bildhaft die schwierigen Abwägungen menschlicher Handlungsmöglichkeiten unter Bedingungen der Moderne wider. Das Moment der Entzogenheit führt aber auch in epistemologische Debatten, nämlich zur Frage nach den Grenzen menschlicher Erkenntnis, und zum Umgang mit dem Fremden. Der Himmel symbolisiert das Verborgene, Undurchleuchtbare und Undurchdringliche an der Schöpfung – damit zu rechnen, kann bis zur Totalitarismuskritik Konsequenzen nach sich ziehen.
Exemplarische Anwendung Ich möchte das nur an einem Problemfeld andeuten, das uns auch ethisch in Zukunft immer mehr beschäftigen wird.51 Eine „plane, durchsichtige Welt“ ohne einen Raum der Zurückgezogenheit, ohne Recht auf Verborgenheit, bildet doch im Moment das Schreckensszenario einer durchgehend überwachten, von Nachrichtendiensten explorierten und durch Internetfirmen dokumentierten Welt. Ich erinnere noch einmal an das Eingangszitat von Barth: „es gehört zum Geschehen in diesem unserem Bereich, daß es von jenem anderen Bereich her 49 Link, Schöpfung, S. 61. 50 Welker, Universalität, S. 212. 51 Für die Anregung des Themas im theologischen Bereich überhaupt danke ich Hanna Reichel.
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eingesehen ist“. Einsichtnahme in alle Bereiche des Lebens – ließe sich das nicht als neuerlicher Versuch der Eroberung des Himmels deuten? Nehmen diese weitgehend anonymen Akteure nicht den Platz des universalen Beobachters ein, wie es traditionell Gott im Himmel war, der alles sieht, was im Verborgenen geschieht? 52 Undurchschaubar und unkontrollierbar wirkt die Datenakquise durch Abhören, Mitlesen oder Verfolgen des Browserverlaufs schon lange auf das medial vernetzte Individuum. Während es nur die helle Seite als transparent empfindet und nutzt, stellen sich immer mehr opake Seiten dieses schwer zu fassenden Gebildes heraus. Das Erschauern des Individuums angesichts des bestirnten Himmels lässt sich in diesem Bereich heute konkret nachvollziehen, denken wir uns den Himmel nur als eine räumlich und zeitlich universalisierte Dauerkamera. Auch in Bezug auf Speicherung und Gedächtnis werden quasigöttliche Funktionen angenommen: Das Internet vergisst nichts, heißt es, während z. B. die Prozesstheologie Gedächtnis und Erinnerung als eine wesentliche Bestimmung des Gottesbildes entwickelte. Hier könnte ein Bereich liegen, wo die Dualität der Schöpfung fruchtbar gemacht werden könnte: der Respekt vor der Entzogenheit einerseits, aber auch die konsequente Entmythologisierung dieses Raumes, eine Erinnerung an seinen nicht-göttlichen, menschengemachten Charakter – seine Rückholung also in den Bereich der Erde und damit in den Bereich der Gestaltbarkeit. Umgekehrt sollte sich Theologie darin bestärkt fühlen, ein Gottesbild nach dem Motto „big brother is watching you“ zu revidieren.
Literatur Barth, Karl: Die Lehre von der Schöpfung, Teil 3 (Die Kirchliche Dogmatik III/ 3). Zürich 1961. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. Christian Gremmels u. a., Gütersloh 1998 (Dietrich Bonhoeffer Werke 8). Link, Christian: Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie. Neukirchen-Vluyn 2012. Miggelbrink, Ralf: „Die Lebensfülle Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch über die biblische Rede vom Himmel.“, in: Martin Ebner, Paul D. Hanson (Hg.): Der Himmel. Neukirchen-Vluyn 2006 (Jahrbuch für biblische Theologie 20), S. 325–356. Moltmann, Jürgen: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. Kap. VII: Himmel und Erde. München 1985 (Moltmann, Jürgen: Systematische Beiträge zur Theologie 2), S. 167–192. 52 Vgl. dazu Oeming, Manfred: „Welt/Weltanschauung/Weltbild“ IV/2.: Altes Testament, in: TRE 35 (2003), S. 569–581, hier S. 572: „Von seinem überlegenen Standpunkt aus kann JHWH alles, was auf der Erde geschieht, übersehen, und als Supervisor umsichtig beurteilen und gegebenenfalls eingreifen.“
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Moltmann, Jürgen: Schöpfung als offenes System, in: Ders., Zukunft der Schöpfung. Gesammelte Aufsätze, München 1977, S. 123–139. Oeming, Manfred: „Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/2.: Altes Testament“, in: TRE 35 (2003), S. 569–581. Thomas, Günter: Hoffen auf einen „Neuen Himmel“. Erwägungen zu einer Welt ohne die Macht der Nacht, in: Evangelische Theologie 65 (5/2005), S. 382–397. Welker, Michael: „Himmel“, in: Erwin Fahlbusch (Hg.): Evangelisches Kirchenlexikon. Internationale theologische Enzyklopädie, Bd. 2. Göttingen 1989, S. 519–522. Welker, Michael: Schöpfung des Himmels und der Erde, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, in: Martin Ebner, Paul D. Hanson (Hg.): Der Himmel. Neukirchen-Vluyn 2006 (Jahrbuch für biblische Theologie 20), S. 313–323. Welker, Michael: Schöpfung und Wirklichkeit. Neukirchen-Vluyn 1995 (Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 13). Welker, Michael: Universalität Gottes und Relativität der Welt. Theologische Kosmologie im Dialog mit dem amerikanischen Prozeßdenken nach Whitehead. Neukirchen-Vluyn 2 1988 (Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie 1).
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We know that the Jews were prohibited from investigating the future. The Torah and the prayers instruct them in remembrance […] This does not imply, however, that for the Jews the future turned into homogeneous, empty time. For every second of time was the strait gate through which the Messiah might enter. [Walter Benjamin: “Theses on the Philosophy of History”] 1 Jewish Messianic thought […] constrained Christian thought to invent history […] The arrow of time is indeed an invention of Christianity, but only in so far as Christianity is the heir of traditional Judaism. Although, for Christians, the Messiah has come, that’s not enough: we have to think in terms of an earthly history […] after which […] celestial history will begin. This is […] the message of the Book of Revelation. Hegel and Marx are unthinkable without Saint John the Divine. [Umberto Eco: Conversations About the End of Time] 2 I don’t think theologically. I work with theological materials, but I think in terms of intellectual history, of actual history. I ask after the political potentials in the theological metaphors […] Nor do I think morally. I’m no Last Judge […] I want to understand what is going on out there. [Jacob Taubes: The Political Theology of Paul] 3 Contrary to what the term suggests, political theology is not theology […] The subject of political theology is not God but the state. It is not a branch of theology but a species of political theory, namely theological political theory. [Nicholas Wolterstorff, The Mighty and the Almighty] 4
1 Walter Benjamin: “Theses on the Philosophy of History”, in: Illuminations, New York 1977, p. 264. 2 Umberto Eco, Stephen Jay Gould, Jean-Claude Carriere & Jean Delumeau: Conversations About the End of Time, London 2000, p. 185. 3 Jacob Taubes: The Political Theology of Paul, Stanford 2004, p. 69 [my italics]. 4 Nicholas Wolterstorff: The Mighty and the Almighty. An Essay in Political Theology, Cambridge 2012, p. 112.
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Heaven on Earth In his monumental study Heaven on Earth: The Varieties of the Millennial Experience the controversial historian from Boston, Richard Landes, describes ten diverse historical movements, all under the umbrella term of millennialism.5 Although his emphasis is on their variety, he also argues for their trans-cultural nature. He is particularly concerned to point out their non-Jewish and nonChristian nature. “To illustrate the near universality of millennialismˮ, he explains, “to cut against the grain that assumes a Judeo-Christian origin for all millennialism, I selected for treatment here only non-Jewish and non-Christian movementsˮ6. The single most important common feature is their “apocalyptic perception of timeˮ7. Although the variety is large, “apocalyptic believers behold a dramatically different worldˮ8. They may be disturbed by present-day suffering and its causes, await a day of judgement, imagine redemption or foresee catastrophe and destruction, expect either progress or decay, anticipate the absolute eradication of evil or the ultimate reward for the faithful, this may all be imminent or far-away, but somehow they all look to the future, sharing a sense of something radically different to come. Heaven, for them, lies in the future. Their language of heaven is temporal rather than spatial.9 This “apocalyptic perception of time,” which he 5 Cf. Richard Landes: Heaven on Earth. The Varieties of the Millennial Experience, Oxford 2011. He is the Director of the Center for Millennial Studies at Boston University. The movements which he discusses include case studies of what he calls tribal millennialism (the suicidal Xhosa cattle-slaying in South Africa during the 19th century and the commodity millennialism of the Papuan cargo cults of the 20th), case studies of what he calls agrarian millennialism (the monotheist Pharaoh Akhenaten in the 14th century BCE and the Great Peace of Taiping during the 19th), case studies of modern (according to him so-called secular) revolutionary millennial movements (the French Revolution, 19th century Marxism, Bolshevik totalitarianism and Nazi genocidal millennialism) and finally case studies of what he calls postmodern millennialism (20th century UFO cults as well as enraged global jihadist movements). 6 Ibid., p. XI. 7 Ibid., p. 12. 8 Ibid. 9 The language, symbolism and imagery of heaven have of course always been extremely wideranging. Even within the limited sphere of the Christian tradition, the story of language of heaven and of changing images is complex and almost impossible to survey. For well-known attempts, see for example Bernard McGinn: Visions of the End. Apocalyptic Traditions in the Middle Ages, New York 1998; Colleen McDannell & Bernhard Lang: Heaven. A History, New Haven 1988 (translated into Dutch as De Hemel. Een Aardse Gechiedenis, Bloemendaal 1991); Jeffrey Burton Russell: A History of Heaven. The Singing Silence, Princeton 1997; Alister E. McGrath: A Brief History of Heaven, Oxford 2003; as well as the volume of essays Der Himmel. Jahrbuch für biblische Theologie (JBTh), Vol. 10, ed. by. Dorothea Sattler & Samuel Vollenweider, Neukirchen 2005. Very often, the expression “heaven” is not even used in these eschatological discourses, but in the Christian theological tradition an element of time, future, not yet, to be fulfilled, coming, is unmistakable in language of heaven, rather than cosmolo-
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finds prevalent throughout history and across cultures, can either take on eschatological form, anticipating a complete end to history (whether religious or secular), or it can take on millennial form, anticipating an apocalyptic transformation here on earth.10 Millennial belief is that “at some point in the future the world that we live in will be radically transformed”11 – and it is this kind of belief that he describes in Heaven on Earth. Since millennialism anticipates the destruction of the current world order it is “profoundly subversive”, since “the world that passes is not the natural world, but the political world that now exists”12. “Apocalyptic millennial beliefs”, he claims, “have a far greater direct impact on history than eschatological ones since they call for active participation in revolutionizing history”13. A first feature of this kind of belief – he claims – is that they always turn out to be false, but “wrong does not mean inconsequential”, he argues, “on the contrary, the more energetically wrong, the more consequential”, which is what he wants to illustrate with his case studies.14 A second feature of this kind of belief – he adds – is that “one person’s messiah is another’s antichrist”,15 and again this leitmotiv accompanies his case studies, often raising issues of conflict, violence and vengeance. There are often (although not always) messianic leaders and there are often “socially disruptive dimensions”16 resulting from such movements. He is aware that his claims are extremely controversial and contested. In short, Some historians object to maintaining so capacious a definition for millennialism that it includes virtually every radical movement in history […] My contention is that by understanding movements that share the simple combination of a millennial vision of the world transformed, and an apocalyptic belief in that transformation’s imminence, one can make sense of these movements in significant ways. They participate in an unusual and characteristic dynamic that is well worth understanding. These movements
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gical and spatial language. For a helpful collection of contributions on a variety of eschatological themes, symbolism and imagery, see The Oxford Handbook on Eschatology, ed. by Jerry L. Wells, Oxford 2008. In Well’s own contribution on “Heaven” (p. 399–412), he concludes, regarding “heaven as a moral source,” that “There is no doubt, historically speaking, that heaven has served for Western culture as a moral source of extraordinary power […] This is why the hope for such happiness remains an indispensable moral source, and why it will continue to do so until the kingdom comes in which God’s will is done on earth as it is in heaven” [ibid., p. 208ff.]. For a helpful systematic-theological exposition of the difference between cosmic and eschatological uses of the imagery, see for example Ralf Miggelbrink: “Die Lebensfülle Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch über die biblische Rede vom Himmel”, in: Sattler & Vollenweider: Der Himmel, p. 325–356. Landes: Heaven on Earth, p. 12ff. Ibid., p. 20. Ibid., p. 21. Ibid. Ibid., p. 14. Ibid., p. 15. Ibid., p. 21.
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form a natural grouping of socio-cultural phenomena that cut across all cultures and regions and periods of history. They are still with us. We are in their current.17
He constructs “a map of the terrain”18 of such movements, classifying them according to different forms.19 Although these movements may also be restorative (longing to return to a distant past), they are more often innovative (longing for a vision of a new future).20 Longing for something in future, they may either be radical and violent or transformative and peaceful.21 Being transformative and peaceful, they may either be passive and waiting or active and subversive.22 Apocalyptic scenarios that put their trust in God are often passive (although not always), and he refers to Paul’s views in 1 Cor 7 and Rom 13. Secular apocalyptic scenarios, however, are always activist, since “agency [is placed] in human hands […] [t]here is no God to await”23. While the “map of terrain”24 shows the enormous diversity of movements and scenarios, his simple claim becomes clear. There is a “great ‘activator’ of millennial hopes,” namely “apocalyptic expectations”, imaginaries of a different future, whether immanent or not.25 Heaven is thought not so much in spatial and cosmological terms, but in temporal and historical terms, whether as coming in history or the end of history, and these heavenly imaginaries inspire earthly activity, whether passive and waiting or transformative and subversive – as his catalogue of trans-cultural examples shows. 17 Ibid., p. 21f. 18 Ibid., p. 35. 19 Cf. ibid., p. 22ff. They range from “hierarchical, imperial and iconic” forms to “demotic, egalitarian, iconoclastic” forms. This distinction is helpful in order to classify the transcultural exemplars. The first type proceeds from a “top-down model of the ‘perfect’ society” (ibid., p. 22) and the second type proceeds from “the opposite conception of the universe” (ibid., p. 26). The first type “calls for the establishment of justice and peace imposed by a hierarchy on earth that mirrors the hierarchy in heaven” (ibid., p. 22). The second type “wants to replace top-down order with holy anarchy,” bringing a new form of heaven on earth” (ibid., p. 26). Of the first type he says: “One God, one emperor, and quite often, one religion […] Here heaven’s order becomes a model for that of earth, and just as one God rules in heaven, so on earth, the one king rules over a numerous, obedient, and grateful population […] Such an idea has particular attraction for clerical elites […] The rituals of the central temple create the capital of the empire, where court and cult become monumental […] [E]lites prefer hierarchical millennialism” (ibid., p. 23). Of the second type he says: “For these visionaries, freedom and justice in the messianic age will abolish all dominion of people over each other […] ‘No King but God!’ was the political formula of monotheism according (to) the apocalyptic Zealots of Jesus’ time” (ibid., p. 26). 20 Ibid., p. 27ff. 21 Ibid., p. 29ff. 22 Ibid., p. 33ff. 23 Ibid., p. 34. 24 Ibid., p. 35. 25 Ibid., p. 36.
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The Loss of Heaven While Landes argues for the trans-cultural nature of this phenomenon – the ethical implications of heaven conceived in historical rather than spatial imagery – by excluding Judeo-Christian case studies, another controversial scholar would argue that such notions were at the heart of the Judeo-Christian tradition, namely Jacob Taubes, in his dissertation Abendländische Eschatologie (1947), only translated into English more than sixty years later, as Occidental Eschatology.26 Occidental Eschatology27 first discusses “the nature of eschatology” and then gives an account of “the history of apocalypticism” before it tells the story of “the theological eschatology of Europe” ending with “the collapse of Christian eschatology” and the story of “the philosophical eschatology of Europe” concluding with “the eschatology of Marx and Kierkegaard”. The key to his argument is the way in which “the noncyclical concept of time of the Judeo-Christian tradition” provides a sense of “direction and end”.28 His story of apocalypticism begins in Israel’s situation of exile,29 continues from the prophets and Daniel to Jesus and early Christianity and eventually receives a crucial re-interpretation with Joachim of Fiore. A sense of history develops, of time as duration.30 An awareness of coming, of the “non-occurring event” of the end of history, becomes prevalent.31 History is experienced as linear, in terms of phases, periods, ages, before and after, past and future. The beyond is not seen but heard, in the 26 Jacob Taubes: Occidental Eschatology, Stanford 2009. Therefore, although his work was received by German philosophy and theology, including for example Jürgen Moltmann, his major reception in the English-speaking world, for example in the contemporary resurgence of political theology, is still taking place today. For Taubes’ essays, including several earlier ones, from the 1950s, see the posthumous collection Jacob Taubes: From Cult to Culture. Fragments Toward a Critique of Historical Reason, ed. by Charlotte E. Fonrobert & Amir Engel, with an introduction by Aleida Assmann, Jan Assmann & Wolf-Daniel Hartwich, Stanford 2010. 27 Probably inspired by Hans Urs von Balthasar’s Apokalypse der deutschen Seele (1937–1939). 28 Taubes: Occidental Eschatology, p. XIII. 29 The awakening of homesickness signals the start of our homecoming […] The base word exile contains all the layers of meaning revealed by apocalypticism and Gnosis in the course of time, throughout the drama of history. Stating that we are estranged from ourselves is the key which enables history to be understood as a pathway. All subsequent words and motifs of apocalypticism derive from the base word exile and the theme of self-alienation contained in it. Life is exiled in the world; the homeland of life is beyond the world. The beyond is beyond the world in its entirety. Apocalypticism introduces the dualistic feeling of God’s world, a world unidentifiable with the here and now. God’s world differs more and more markedly from the present world; it appears increasingly to be opposed to this world” (ibid., p. 27). 30 “The spatial image of the world corresponds to the temporal concept of the aeon” (ibid., p. 28). 31 Ibid., p. 65f.
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form of a call – from the stranger, who is coming into the world.32 The coming end gives meaning to history.33 This sense of history, however, undergoes radical changes. Already in Origen34 and Augustine35 early Christian universal eschatology is replaced by individual eschatology and the expectation of the kingdom is replaced by the doctrine of the church, before it is again challenged by Joachim of Fiore’s “theology of history” and “revolutionary eschatology”36. Theological eschatology (eventually) collapses and is replaced by the “philosophical eschatology of Europe”. From now on, it is eschatology without heaven, it is apocalypticism once heaven has been lost.37 The Copernican turn marks this loss of heaven, he says.
32 “If Hellas is called the ‘eye of the world,’ Israel can be said to be ‘the ear of the world’ […] The redeemer ‘calls from without.’ The beyond, which is not at home in this world, is heard as a call in the world […] The call is a fundamental symbol in the context of apocalypticism and Gnosis. Mandaean and Manichaean religion can be described, like Judaism, as the religions of the call. Hearing and believing are as closely linked in the writings of the New Testament as they are in Mandaean literature. Hearing corresponds to the call […] In this way, Mandaean, Manichaean, Jewish, Christian and Islamic religion belong together. They share the common foundation of apocalypticism. The elements which constitute the foundations of apocalypticism are the symbols of calling and hearing. The nonworldly comes into being through the call. That which is entirely other is audible in this world, but still as that which is entirely other. The call is emitted by ‘the stranger’” (ibid., p. 16ff.). 33 See for example Karl Löwith: Meaning in History, Chicago 1949, who quotes Taubes on two occasions, but also his own Occidental Eschatology (p. 31f.). A “dialectical logic” becomes possible, which is “essentially historical” (in opposition to Aristotelian logic) and makes “the eschatological interpretation of the world” possible – “determined by the question of the power of the negative” (ibid., p. 35). The power of the negative is radicalized by Marcion, he argues. Now the unknown God appears as the new God. “The negative statements about God – unrecognizable, unnameable, unrepeatable, incomprehensible, without form, without bounds, and even non-existent – all orchestrate the apocalyptic, Gnostic proposition that God is essentially contrary to the world […] The ‘new God’ (Marcion) is the ‘strange God,’ the God who does not exist in the world. But the ‘nonexistent God’ (Basilides) is an enormous power that embraces the world, annihilating […] and destroying it […] The God beyond, the God of apocalypticism and Gnosis, is by nature eschatological because he challenges the world and promises new things […] The original meaning of the expression becomes clear from the apocalyptic, Gnostic eschatology, and not from the static ontology of Hellenic, Hellenistic philosophy” (ibid., p. 39f.). 34 Ibid., p. 72ff. 35 Ibid., p. 79ff. 36 Ibid., p. 81f. According to Taubes, the “history of modern eschatology” can be told in the form of a summary of what happens to “the apocalyptic phrase God’s Kingdom on earth” (ibid., p. 85; [his italics]). “Each of the apocalyptic waves of the modern age is a variation on this theme, emphasizing one aspect of it” (ibid., p. 85). 37 This is integral to the well-known expression, repeated in different ways in his exchanges with Carl Schmitt, that “today everything is theology, except that which theologians speak about” (Taubes: The Political Theology of Paul, Ad Carl Schmitt, p. 37). For his relationship with Schmitt, see for example the appendices in The Political Theology of Paul, with his own account of the story (p. 97–106), as well as two letters (p. 107–114). For the fuller exchange of
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In the Copernican view of the world there is an earth but no heaven. The earth mirrors no heaven, and the reality of the world is gained by Copernican man, not by having the world emulate a superior archetype, but by revolutionizing the world in terms of an ideal that lies in the future […] The ethics of Copernican man is an ethics of the future. As heaven above has lost its moral significance [Wertgehalt], the moral will [Wertwille] is focused on the future. Because the Copernican realm has been emptied of its meaning, fulfilment for Copernican man lies in time and hence in history.38
The loss of heaven, which started long before as “ripple of anxiety”, now becomes “demonic fever”.39 Lutheran Protestantism, according to him, “founds a new church on the Copernican earth devoid of heaven”, with far-reaching implications, also for views of the world and ethics, morality and everyday day life.40 In the Lutheran world on the Copernican earth, life is “completely cut off from heaven” so that “the emperor can do as he pleases.”41 In the Copernican world of Protestantism, which no longer has a heaven above, he argues, a secular world becomes possible in which faith is dismissed from all ethical responsibility in society.42 “The Reformation effects an enormous reduction in the dogma concerning the hierarchical relations between earth and heaven.”43
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letters, see also Jacob Taubes: To Carl Schmitt. Letters and Reflections, tr. by Keith Tribe, with an introduction by Mike Grimshaw, New York 2013. Taubes: Occidental Eschatology, p. 88f. Ibid., p. 108. “According to the Ptolemaic system, heaven as God’s abode is above the earth, and so everything that happens on earth acquires symbolic meaning […] The Church in the Ptolemaic age is the charismatic church, which encapsulates the contemporaneity of the heavenly and the earthly […] The modern age dismisses this as an illusion and admits that this perspective is wrongheaded. Whereas the unity of earth and heaven seems secure in the massive architectural towers of the Romance cultures, a ripple of anxiety is felt in the Gothic towers […] about the impending loss of heaven. In the transition from the Ptolemaic to the Copernican worldview, the West is shaken by a demonic fever because of the loss of heaven, a fact now known to all” (ibid., p.107f.). Ibid., p. 110. “Copernican Christianity, which acknowledges the situation of an earth without a heaven, attacks the sacrament of the charismatic, Ptolemaic Church, which assumes the unity of heaven and earth […] Within the Ptolemaic world the natural moral order is the work of man as illuminated by the proximity of heaven and seeing itself as a response to God’s command. But under an empty heaven man’s efforts are totally insignificant as far as salvation is concerned […] In the case of Plato, whose philosophy of eros assumes this Ptolemaic unity of heaven and earth, justice is to be found in public, political life. However, for Kant, the philosopher of the Copernican earth, it is a matter for the individual endowed with practical reason” (ibid., p. 108). Ibid., p. 109. “Protestantism, particularly Lutheranism, is contemptuous of the workaday life, of the entire wicked world, which is now completely cut off from heaven […] Consequently, Protestantism detaches life from all Christian guidance and any possible reference to man’s vindication. In his kingdom […] [Christ] does not teach us how we should till, plough, sow, harvest, keep house, amass money, carry on wars, and rule over lands and people. In his earthly kingdom the emperor can do as he pleases” (ibid.). “The complete emancipation of this relinquished world finally makes possible a secular world in which all spirituality is subordinated to, and defenceless against, worldly power […]
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For sure, there is a (temporary) counter-wave in Thomas Müntzer’s “theology of revolution” and its aftermath in Münster and the Anabaptist dream of a “heavenly Jerusale”, but eventually “the final waves of the movement hit the coast of England and pour into Calvinistic Protestantism”.44 “The theological eschatology of Europe has come to an end”, the “collapse of Christian eschatology” has taken place.45 In the “Augsburg declaration”, he says, “Anabaptist tendencies of chiliasm” are sharply condemned and “expressly dismissed as a Jewish doctrine”.46 “[H]istory has moved to the Copernican earth, over which no divine heaven any longer is spread.”47 With this, the story of “the philosophical eschatology of Europeˮ has begun48 – and when that finally has run its course, his “study is not simply closed but is essentially resolved”49.
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Protestantism is more pessimistic than Catholicism because it recognizes that in the Copernican world, without a heaven, man’s good works cannot achieve salvation. And yet, it is more optimistic because life on earth is liberated from the demand that it emulates its archetype. Thus, Luther reveals himself to be the theological version of Machiavelli, and the state is empowered by the move with which its theological Machiavelli dismisses faith from all active responsibility within society” (ibid.). Ibid. Cf. Taubes: Occidental Eschatology, p. 106–118, esp. p. 119. “Müntzer’s theology is ultimately an eye-to-eye confrontation with Luther”. In pietism, the kingdom of God appears “in a weak and timid way” as something “within, (with) its real home in the human spirit,” while in the theology of the Enlightenment it appears as “the kingdom of reason”. Ibid., p. 118ff. Ibid., p. 120. Ibid., p. 125. Ibid., p. 125–194. Certainly, the age of a new eternal gospel is still expected (from Lessing: Erziehung des Menschengeschlechts, 1780), but this future – the end of all things, the end of time – becomes an immanent story of rationality, education, development, progress, progression, destruction, negation, revolution, change, improvement and transformation. The wish that “the Kingdom of God may come and that God’s will may be done of earth” remains “the wish of all who have good intentions,” but it will be an eternal future “on earth […] together with all those who have been raised to citizenship in heaven” (from Kant: The End of All Things, 1794). Prometheus now becomes a “saint in the philosophical calendar” (Marx) and “Antichrist becomes a title of honor” – as Taubes makes Feuerbach, Bruno Bauer, Marx and Nietzsche all part of his story. “It is time for the birth of something new […] [T]he good European, after Nietzsche, shakes off the last vestiges of Christianity […] [which] also spells the end for the history of European apocalypticism, for the corpus christianum has come undone, and that includes Protestantism” (Taubes: Occidental Eschatology, p. 90). According to Taubes’ account, Lessing, Kant and Hegel all struggle with this new cultural situation. After Hegel and his ambivalent Aufhebung, Marx’s “outwardness” and Kierkegaard’s “inwardness” represent the two major, albeit different, responses to the contemporary European feeling of exile or alienation, Taubes concludes. “In bringing to an end the classical, Christian world, an epoch of two and a half millennia, Hegel is in fact concluding the history of the Western spirit. A new epoch is beginning, which introduces a new aeon that is post-Christian in a more profound sense than that of the calendar. This epoch, in which the threshold of Western history is crossed, regards itself primarily as the no-longer of the past and the not-yet of what is to come […] It is as legacy and task, as no-longer and not-yet, that the opposition between
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In his complex reflections on Paul’s Letter to the Romans, The Political Theology of Paul, lectures at the FEST in Heidelberg shortly before his death, Taubes again addresses these issues.50 To understand Paul, Taubes says, one must ask “In what epoch are we living, what sort of a present time is this?”51 He takes his cue from what he calls “the nihilistic passageˮ52 in 1 Cor 7:29–31, where Paul advises readers to live “as if not” – as if they do not have, do not mourn, do not rejoice, do not marry, do not possess, do not have dealings with the world – because, Paul argues, “time has grown short”.53 The present form of the world is passing away – and this knowledge changes everything, the eschatological awareness radically affects all life and ethics.54 It also affects their views of politics, and therefore Taubes reads Rom 13 against this backdrop, also because Rom 13 argues in exactly the same way, when it claims that the moment has arrived, that salvation is close by, that time is short, that the day is near. Rom 13, according to him, says that time is under pressure, everything is passing away; the state is not important, therefore revolution is also not necessary. “That’s absolutely right, I would have given the same advice,” he says, “for heaven’s sake, don’t stand out!”55 Taubes calls this “nihilism as world-politics”56 and sees a similar stance in Walter Benjamin.57 The closest parallel to Rom 8’s sighing and groaning for a new
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high and lower realm, the rift between inside and outside as the outline of being, is passed on to the new generation at the end of the Western aeon” (ibid., p. 193). “With Hegel on the one hand and Marx and Kierkegaard on the other, this study is not simply closed but it is essentially resolved. For the entire span of Western existence is inscribed in the conflict between the higher (Hegel) and the lower (Marx and Kierkegaard) realms, in the rift between inside (Kierkegaard) and outside (Marx)” (ibid., p. 191). A critical review in fact claimed that “Taubes […] finds himself completely within the political-theological tradition of Ludwig Feuerbach, which seeks ‘to establish the Kingdom of Heaven here on earth’” [Christoph Schmidt: “Review Essay”, in: Hebraic Political Studies 2.2 (2007), p. 234]. Taubes: The Political Theology of Paul, p. 53. Ibid. Ibid. Ibid., p. 51ff. Ibid., p. 54. Ibid., p. 70. He quotes from Benjamin’s short Theologico-Political Fragment, and comments extensively (although he says it is a difficult text and it is not quite possible to understand the intentions): “Only the Messiah himself consummates all history, in the sense that he alone redeems, completes, creates its relation to the Messianic […] For this reason nothing historical can relate itself on its own account to anything Messianic. Therefore the Kingdom of God is not the telos of the historical dynamic; it cannot be set as a goal. From the standpoint of history it is not a goal, but end […] Therefore the order of the profane cannot be built up on the idea of the Divine Kingdom, and therefore theocracy has no political, but only a religious meaning. To have denied with utmost vehemence the political significance of the theocracy is the cardinal merit of Bloch’s Spirit of Utopia” (ibid., p. 70f.).
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creation is found in Benjamin’s Theologico-Political Fragment.58 Such a nihilistic understanding of Romans,59 for him, is different from a Lutheran understanding of church and state based on Rom 13, which “has nothing to do with Paul”.60 There are, according to Taubes, “two ways out of Paul,”61 out of this “as if not,” out of this negative political theology leading to this nihilistic world politics. “One is the way out into the church […] [b]ut there is another way out of Paul, which for me is the decisive one, that is, Marcion.”62 A major theme then becomes his encounter with “the Gnostic tendency” in the reception of Paul, from Marcion onwards, but eventually exemplified by Harnack with his “frightful theses.”63 For Taubes, this represents a one-sided history of reception. The elements are indeed present in the New Testament and also in Paul, namely in the fact that only a very thin thread links creation and redemption, and there is therefore the continuous danger that this thread can snap – which is what happens in this history of interpretation.64 Both these ways, ecclesiology and Gnosticism, represent for him fatal misunderstandings of Paul’s negative political theology. This is of course the terrain where contemporary discourses on political theology – to name only Agamben, Badiou, Critchley, and Zizek – still engage so actively with Paul and many of his
58 Cf. ibid., p. 70. “Benjamin has a Pauline notion of creation; he sees the labor pains of creation, the futility of creation. All of this is of course to be found in Romans 8: the groaning of the creature. Open this text and read it out loud, and then read Benjamin: You’re going to be amazed. Romans 8:18. That’s what Benjamin is talking about. That is the idea of decay, since it is without hope” (ibid., p. 72). 59 “I contend that this concept of nihilism, as developed here by Benjamin, is the guiding thread also of the ‘as if not’ in Corinthians and Romans. The world decays, the form of this world has passed […] [T]he relationship to the world is […] world politics as nihilism […] [B]ehind all this there is a profound nihilism at work […] it is at work as world politics, toward the destruction of the Roman Empire” (ibid., p. 72). 60 “This is why you can’t make Lutheran deals with Romans 13, unless you give up the entire frame, time is short and so on. Naturally, you can then beat down peasants with that and whatever other crimes were committed, and are committed, under these auspices. But this has nothing to do with Paul. Here we have a nihilistic view of the world, and concretely of the Roman Empire […] [T]his [Taubes is referring to Romans 8:19–29; emphasis added] is the anti-Caesar. Keep in mind: this is written to Rome, where the aura is the cult of the emperors” (ibid., p. 72f.). 61 Ibid., p. 56. 62 Ibid. 63 Ibid. 64 “Creation has no role in the New Testament. Whoever tries to talk you into this, I know that the theologians make a big deal out of it, but that leads nowhere, it’s just not there. There’s only one thing there: redemption. That’s the concern […] [T]he thread that links creation and redemption is a very thin one. A very, very thin one. And it can snap. And that is Marcion. There the thread has snapped. He reads – and he knows how to read! – the father of Jesus Christ is not the creator of heaven and earth” (ibid., p. 60).
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themes,65 but also with Taubes and many of his interlocutors (including Benjamin, Schmitt and Peterson).66
No Other Name Under Heaven From Taubes, as representative of radically negative political theology,67 we turn to a representative of positive political theology. In apartheid South Africa, another controversial figure, the ecumenical pastor and political activist Allan 65 See for example Ward Blanton & Hent de Vries (eds.): Paul and the Philosophers, New York 2013; John D. Caputo & Linda M. Alcoff (eds.): St. Paul among the Philosophers, Bloomington 2009; John Milbank, Slavoj Zizek & Creston Davis: Paul’s New Moment. Continental Philosophy and the Future of Christian Theology, Grand Rapids 2010; Douglas Harink (ed.): Paul, Philosophy, and the Theopolitical Vision, Eugene 2010; Cilliers Breytenbach (ed.): Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche, Neukirchen 2012 [especially the essays by Rolf Schieder, p. 213ff., and Andreas Arndt, p. 227ff.]. Of particular relevance is the work of Giorgio Agamben, for example The Kingdom and the Glory. For a Theological Genealogy of Economy and Government, Stanford 2011, which is a sustained conversation with Schmitt from beginning to end, but extended from political theology to economic theology, arguing that contemporary economy is also a form of secularized theology, and that “[t]he eternal life to which Christianity lay claim ultimately lies in the paradigm of the oikos, not in that of the polis” (appealing to Taubes, see Agamben, p. 3). 66 See for example the more general collections by Hent de Vries & Lawrence E. Sullivan (eds.): Political Theologies. Public Religions in a Post-Secular World, New York 2006, as well as William T. Cavanaugh, Jeffrey W. Bailey & Craig Hovey (eds.): An Eerdmans Reader in Contemporary Political Theology, Grand Rapids 2012. See also the more specific studies in contemporary political theology like the introductions in Jon Simons (ed.): From Agamben to Zizek. Contemporary Critical Theorists, Edinburgh 2010; Adrian Johnston: Badiou, Zizek, and Political Transformations. The Cadence of Change, Evanston 2009; Creston Davis, John Milbank & Slavoj Zizek (eds.): Theology and the Political. The New Debate, Durham 2005; Clayton Crockett: Radical Political Theology. Religion and Politics after Liberalism, New York 2013; Jeffrey W. Robbins: Radical Democracy and Political Theology, New York 2011. Specifically for the impact of Schmitt in the United States, see Francis Schüssler Fiorenza: “Prospects for Political Theology in the Face of Contemporary Challenges”, in: Politische Theologie. Neuere Geschichte und Potenziale, ed. By Michael Welker et.al., Neukirchen 2011, p. 41ff. Of special interest is the presence of influences (Paul, Taubes, Benjamin, Schmitt) and themes (nihilism, negativity and anarchy; the time is short; calling; commitment; faith; the Messiah and the one who restrains; resistance or resignation) in the work of Simon Critchley, see for example his The Faith of the Faithless. Experiments in Political Theology, London 2012. 67 See for example Marin Terpstra and Theo de Wit: “‘No Spiritual Investment in the World as it is’. Jacob Taubes’ Negative Political Theology,” in: Flight of the Gods. Philosophical Perspectives on Negative Theology, ed. by Ilse N. Bulhof & Laurens ten Kate, New York 2000, p. 319–352. In his negative political theology, Taubes’ agreement with Walter Benjamin and his differences with Carl Schmitt come very clearly to the fore. While Schmitt’s thought is a defence of positive political theology, in which political power in the form of the state represents religious, theological authority, for Taubes and Benjamin the future (the eschaton, the Messiah, redemption) may not be appropriated by worldly powers. Rather, detachment, withdrawal and refusal are necessary to invest authority and trust in worldly politics. This
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Boesak would help lead the anti-apartheid movement in ways that demonstrated the appropriation of eschatological motifs for present-day political purposes.68 In Boesak, many of these themes are real and alive – a vision for a radically different future, an alternative imagination, passion and urgency, anger directed at evil and injustice, a strong sense of calling, prophetic rhetoric, messianic convictions, moral appeals, transformative action, charismatic leadership, fascination with power.69 In him, the religious dream of a different future and the political calling to transformative action combine to such an extent that they can no longer be separated. He embodies political theology – or in South African rhetoric, black theology.70 In order to illustrate this intimate relationship between “heaven and attitude of negativity is possible because of the messianic expectation of the end, the coming of the Messiah, the radical future of the kingdom of God. Critiquing his friend Gershom Scholem’s understanding of messianism, Taubes argued in “The Price of Messianism” (in his From Cult to Culture, p. 3–9): “If one is to enter irrevocably into history, it is imperative to beware of the illusion that redemption […] happens on the stage of history. For every attempt to bring about redemption on the level of history without a transfiguration of the messianic idea leads straight into the abyss” (ibid., p. 9). 68 For introductions to Boesak, see for example his autobiographical Running with Horses. Reflections of an Accidental Politician, Cape Town 2009, as well as the collection of essays in his honour, Prophet from the South. Essays in honour of Allan Aubrey Boesak, ed. by P. Dibeela, P. Lenka-Bul & V. Vellem, Johannesburg 2014. In Landes’ terms, Boesak’s life and work probably offers a very concrete and real-life case study of transformative millennialism. In Taubes’ terms, it perhaps offers a case study of “the final waves of Anabaptism that poured over into Calvinistic Protestantism”. In Boesak’s The Tenderness of Conscience. African Renaissance and the Spirituality of Politics (Stellenbosch 2005), he would later complain that the deeply spiritual nature of the struggle had been forgotten and betrayed by the new power elites in democratic South Africa. 69 On the central role of power in his life and work, see for example D.J. Smit: “Resisting ‘Lordless Powers’? – Boesak on Power”, in: Prophet from the South, Johannesburg 2014, p. 11– 35 [for an overview as well as literature]. 70 The intimate relationship between “faith” and “politics” is the main theme of his autobiographical account of his “30 years as theologian and political activist” called Running with Horses. Reflections of an Accidental Politician (Cape Town 2009). The title comes from the book of the prophet Jeremiah and suggests that “Our problems now seem daunting but the real challenges still lie ahead. Our race with horses is still to come” (Peterson: Running with Horses, p. 16). Probably his most important book, called The Tenderness of Conscience. African Renaissance and the Spirituality of Politics (Stellenbosch 2005), is intended as “a humble contribution to a crucial struggle in search of the morrow that makes yesterday a foreign country” (Boesak: The Tenderness of Conscience, p. 4). A prize-winning study of biblical motifs fitting in this framework was called Die Vlug van Gods Verbeelding [translated: The Flight of God’s Imagination (Stellenbosch 2006)]. The final report of a three year study of economic globalization, done jointly between German and South African churches but under his leadership, was called Dreaming a Different World [also published in German as Gemeinsam für eine andere Welt. Globalisierung und Gerechtigkeit für Mensch und Erde (ERK/ URCSA 2010)]. The recent volume of essays to honour him was therefore called Prophet from the South (Johannesburg 2014) and together these essays describe his “spirituality of politics” (Boesak The Tenderness of Conscience). Just about all these studies witness to the same hopeful spirituality of transformative action – longing for “paradise now” in Landes’ words.
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earth” in his life and work, it would be possible to focus on just about any of his writings over several decades – academic studies, letters, speeches, papers, sermons, monographs, hymns71 – but perhaps it may suffice to refer to only three dramatic instances. The first illustration comes from a speech in which he challenged the President of the country. In 1981, P.W. Botha said that “the total onslaught against South Africa is a total onslaught against the kingdom of God”. One month later, during a speech before the Alliance of Black Reformed Christians in South Africa (ABRECSA), Boesak challenged the claims of the Botha apartheid government to be a so-called Christian state. He claimed the Reformed tradition in support of the Black experience of oppression and against the apartheid state and appealed to the Confessio Belgica, the same confessional document that was central to the self-understanding of the white Dutch Reformed churches, justifying apartheid biblically and theologically.72 Interestingly, however, Boesak did not appeal to Article 36 (on the relation between church and state, normally used to defend the apartheid state), but referred rather to Article 37, the last article, on eschatology and the Last Judgment. It is immediately clear why this eschatological vision could offer such comfort for those who suffer and who are unjustly accused and treated in history – and why Boesak was drawn to claim these convictions in the struggle. According to the Confession, it is namely a great comfort to know that in the end time the faithful will be publicly declared righteous, while their enemies and persecutors will be judged.73 71 See for academic work his Coming in out of the Wilderness. A Comparative Interpretation of the Ethics of Martin Luther King Jr. and Malcolm X (Kampen 1976) and Farewell to Innocence. A Socio-Ethical Study of Black Theology and Black Power (Johannesburg 1976) – also published as Black Theology, Black Power (London 1978); for speeches his Black and Reformed. Apartheid, Liberation, and the Calvinist Tradition, ed. by Leonard Sweetman (Maryknoll 1984) and If this is Treason, I am Guilty (Grand Rapids 1987); for sermons his Walking on Thorns. The Call to Christian Obedience (Geneva 1984), Die Vinger van God. Preke oor Geloof en die Politiek (Johannesburg 1979) and The Fire Within. Sermons from the Edge of Exile (Steenberg 2004); for hymns his contributions in Sing Halleluja! (Bellville 1987). 72 Cf. Allan A. Boesak: Black and Reformed. Apartheid, Liberation, and the Calvinist Tradition, Maryknoll 1984, p. 83ff. (the quote of Botha ibid., p. 98). One could illustrate the same point with reference to his appeals to Calvin, as another representative of the Reformed tradition. He often quotes Calvin and uses his thoughts to demonstrate his own dependence on Calvin. In Calvin’s exposition of the Christian life, the so-called meditation of the future life (or eternal life) indeed occupies a key position, according to some the key function in the argument. For an instructive discussion of the surprising way in which Calvin concludes his Institutes (1559) not with a traditional exposition of the doctrine of “the last things” but with a political discussion and his doctrine of civil government, see Michael Welker, “Calvin’s Doctrine of the ‘Civil Government’: Its Orienting Power in Pluralism and globalization,” in: Calvin Today. Reformed Theology and the Future of the Church, ed. by Michael Welker, Michael Weinrich & Ulrich Möller, Edinburgh 2011, p. 206–214. 73 Article 37 reads in full: “Finally we believe, according to God’s Word, that when the time
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Against this background, Boesak explained: “So the confession that Jesus Christ is Lord of my life is not spiritual escapism. It is a confession with profound implications for the whole of life. It is a fundamental theological affirmation of the place of the Christian in this world, and it firmly sets the limits of the powers of this world. It places us within the best tradition of the Christian church through the ages […] It is comfort, but it is more: it is […] quiet, subversive piety […] [I]n this struggle I am inspired by the words of the Belgic Confession: ‘The faithful and elect shall be crowned with glory and honour […] and their cause, which is now condemned by many judges and magistrates as heretical and impious, will then be known to the cause of the Son of God.’ This, also, is our tradition and is worth fighting for.”74
Similar motifs were already present in the accompanying letter to the Confessio Belgica, thrown into the courtyard of the castle during the night of 2 November 1563, addressed to King Philip II. The mood was also one of expressing innocence, claiming to be heard and judged fairly, and being willing to suffer whatever this confession may lead to.75 At the same time, it is clear that the letter’s appointed by the Lord is come (which is unknown to all creatures) and the number of the elect is complete, our Lord Jesus Christ will come from heaven, bodily and visibly, as he ascended, with great glory and majesty, to declare himself the judge of the living and the dead. He will burn this old world, in fire and flame, in order to cleanse it. Then all human creatures will appear in person before the great judge – men, women, and children, who have lived from the beginning until the end of the world. They will be summoned there by the voice of the archangel and by the sound of the divine trumpet. For all those who died before that time will be raised from the earth, their spirits being joined and united with their own bodies in which they lived. And as for those who are still alive, they will not die like the others but will be changed ‘in the twinkling of an eye’ from ‘corruptible to incorruptible.’ Then ‘the books’ (that is, the consciences) will be opened, and the dead will be judged according to the things they did in the world, whether good or evil. Indeed, all people will give account of all the idle words they have spoken, which the world regards as only playing games. And then the secrets and hypocrisies of men will be publicly uncovered in the sight of all. Therefore, with good reason the thought of this judgment is horrible and dreadful to wicked and evil people. But it is very pleasant and a great comfort to the righteous and elect, since their total redemption will then be accomplished. They will then receive the fruits of their labor and of the trouble they have suffered; their innocence will be openly recognized by all; and they will see the terrible vengeance that God will bring on the evil ones who tyrannized, oppressed, and tormented them in this world. The evil ones will be convicted by the witness of their own consciences, and shall be made immortal – but only to be tormented in the everlasting fire prepared for the devil and his angels. In contrast, the faithful and elect will be crowned with glory and honor. The Son of God will ‘confess their names’ before God his Father and the holy and elect angels; all tears will be ‘wiped from their eyes’; and their cause – at present condemned as heretical and evil by many judges and civil officers – will be acknowledged as the ‘cause of the Son of God.’ And as a gracious reward the Lord will make them possess a glory such as the heart of man could never imagine. So we look forward to that great day with longing in order to enjoy fully the promises of God in Christ Jesus, our Lord” [my italics]. 74 Boesak: Black and Reformed, p. 98f. 75 For example: “If it were granted to us, O most gracious Lord, to present ourselves before your
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tone is different from the speech by Boesak. In the letter the mood is passive – not so much one of being willing to continue fighting, but rather one of being willing to continue confessing and if necessary suffering for the sake of this witness, although it is obviously equally defiant over against the powers and the powerful of the day. In his speech the tone is different, namely active, subversive, fighting. In Landes’ terms, both voices are apocalyptic, but the letter is eschatological, waiting and passive, while the speech is millennial, transformational and active. The second illustration comes from his homiletic commentary on the Book of Revelation, called Comfort and Protest: The Apocalypse from a South African Perspective.76 This is apocalyptic language, from beginning to end, making deliberate use of the apocalyptic language of the Biblical Apocalypse. It was conceived in 1980, during the struggle years, and according to the foreword completed in 1985, after he had “experienced what he called an ‘angelic visitation’ˮ while in solitary confinement in Pretoria, almost like John on Patmos. The motto says it all: “For all those who, true to their faith, have struggled and fought with us; gone to jail and shared pain and bread with us. They are seeing the power of the beast. They shall see the victory of the Lamb.” In Occidental Eschatology, Taubes explained that the history of apocalypticism in the Judeo-Christian tradition can be told in terms of what happened with the Jewish apocalyptic material and with the Apocalypse of John. For him, losing interest in the Apocalypse, for whatever reason – which so often happened in history – meant “losing the key” to understand Jesus, Paul and early Christianity. Vice versa, whenever this key was found again, it meant rediscovering the political power of Revelation.77 For Boesak, rediscovering Revelation certainly beMajesty, in order that we may demonstrate our innocence concerning the crimes with which we are charged, and to demonstrate the righteousness of our cause: we would not seek this secret means in order to make known to you the bitter laments of your people by means of a silent petition or a written confession. We do so in this manner only because our enemies have filled your ears with so many false complaints and reports that we were not only prevented to appear before your face personally, but also chased out of your lands, murdered, and burned in whatever place we were found. At the very least, most gracious Lord, bestow to us in the name of God the privilege that no man may deny even beasts, namely, to permit our cries of complaint to reach your ears as it were from afar; so that, if having heard us, Your Majesty should judge us guilty, let the fires then be increased in number and let the pains and torments be multiplied in thy kingdom. On the contrary, if our innocence is revealed to you, let our innocence be recognized as a support and a refuge against the violence of our enemies” [my italics]. 76 Allan A. Boesak: Comfort and Protest. The Apocalypse of John from a South African Perspective, Philadelphia 1987. 77 “The dispute concerning the Apocalypse of John is evidence of the Christian Church’s disassociating itself from apocalypticism. To do so is to lose all insight into the connection between the teaching of Jesus and Pauline theology on the one hand, and apocalypticism on the other, which means losing the key to understanding early Christianity” (Taubes, Occidental Eschatology, p. 76). On the other hand, whenever this key was again found, as for
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came a form of active apocalypticism. In an introduction called “Underground Letters to a Persecuted Church” he explained his hermeneutical approach to Revelation. The seven chapters then provided a rhetorically powerful homiletic exposition – simultaneously pastoral (or comforting) and prophetic (or protesting).78 The third illustration comes from the same period, but was caused by a very specific and dramatic event. On 16 June 1976 the Soweto uprising of school children changed the face of South Africa for ever. On 16 June 1985, Boesak preached a sermon called “In the Name of Jesus” commemorating this event in an ecumenical gathering. During the preceding months, an ecumenical document called “A Theological Rationale and a Call to Prayer for the End to Unjust Rule” was developed in preparation for this commemoration. Uproar erupted in the media, public opinion was deeply divided and emotions ran high in church and political circles. Churches were divided and church leaders were divided. It was all happening during a state of emergency and within a very explosive situation.79 example in Joachim of Fiore’s theology of history, the Apocalypse again became prominent. “Joachim’s theology […] is founded on the Apocalypse of John,” which meant “leav[ing] behind Augustine’s doctrine of history” (ibid., p. 90). Contemporary Biblical scholarship of course provides ample illustration of the often inspiring history of reception of the Book of Revelation as a political-theological document, calling for apocalyptic expectations, whether passive waiting or active struggle. See e. g. Elisabeth Schüssler Fiorenza: The Book of Revelation. Justice and Judgment, Philadelphia 1995; Leonard L. Thompson: The Book of Revelation. Apocalypse and Empire, Oxford 1990. 78 “I must say it again: the whole of the Apocalypse is a letter written not for public consumption in marketplaces and city squares but as underground literature, to be read in secret meetings of the Christians, written in a way that would make it as difficult as possible for informers to understand. Under the circumstances, this message of John of Patmos could only have reached his readers through illegal channels. His intentions were to comfort, encourage, persistent faith and obedience to Messiah, the true Kyrios, the only Lord. Even though this faith was the faith of small, scattered minorities, it ultimately caused the mighty Roman empire to fall. In this way the Apocalypse becomes not only a source of hope for the church of today but also a firm basis for a Christian liberation theology (Schillebeeckx). In the fashion of the Apocalypse, our faith becomes a witness – even unto death – to the right of justice, humanity, and love to exist in this world. The Apocalypse is determined to keep the dream of God alive for God’s people. It is a protest against and a call for resistance to evil. It depicts the dream of a new creation and, for the sake of this new creation, the unending struggle against eternal destruction, against the primordial monster Leviathan who has shape of every power that proves itself an enemy of God and a destroyer of humanity. But there lies the secret: it is the faith in Jesus the Messiah who is Lord of combat and of victory, the Lamb who was slain and is at once the Rider on the white horse. He himself is in the midst of the struggle, with and for the sake of his church. This faith seeks neither to avoid suffering as a consequence of the struggle for the gospel nor to glorify suffering in some underhanded attempt at self-glorification” (Boesak: Comfort and Protest, p. 34f.). 79 A year later, in preparation for the 10 year celebration of the Soweto uprising, a volume was published with the title When Prayer makes News (Philadelphia 1986). The volume included
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The sermon is instructive. It deals with Acts 4: 9–10, 12. Asked by what power a cripple was healed, the apostles proclaim that it is by the name of Jesus, for there is no other name under heaven by which people are saved. The whole sermon develops this theme of the power in the name of Jesus – there is no other such name under heaven, is the refrain.80 The sermon ends with a call to pray the Lord’s Prayer together, “Our Father … who art in heaven … forgive us our sins, even that sin of being afraid to stand up and be counted for justice.”81 the Theological Rationale and the sermon by Allan Boesak, but also several theological essays and reports on the events and the different viewpoints and declarations. See Boesak, Allan & Villa-Vicencio, Charles (eds.): When Prayer Makes News. Reflections on the Call for a Day of Prayer for the End to Unjust Rule, Philadelphia 1986 (also published as A Call for an End to Unjust Rule, Edinburgh 1986). 80 Again, the confession that Jesus is Lord is a key motif in Boesak’s work, see for example the discussion in Nico N. Koopman: “Jesus Christ is Lord! – An indispensable parameter for theology in public life?,” in Prophet from the South, Johannesburg 2014, p. 36–48. For a recent discussion of this event in the context of a work on working for justice, see Nicholas P. Wolterstorff: Journey Toward Justice. Personal Encounters in the Global South, Grand Rapids 2013, p. 207, as well as the final chapter on “Hope”, p. 227–243, and for situating this reference in Wolterstorff ’s own restatement of political theology, see his The Mighty and the Almighty. An Essay in Political Theology, Cambridge 2012. 81 The sermon is presented as an exposition of Acts 5:29: “We must obey God rather than men.” “This is the key verse, my brothers and sisters. It is this verse which rings like a bell in the history of the Christian church whenever it is faced with persecution. It is a verse that has lifted people up, ordinary weak human beings, and made them stand firm and say with Martin Luther, ‘Here I stand, I can do no other’”. It is the same name in which Moses confronted the King of Egypt, in which Elijah challenged King Ahab, in which Jeremiah told King Jehoiakim to do justice, in which Ezekiel spoke judgment to the rulers of Israel, in which the prophets stood up to rulers who did not want to listen. When there was a call made to pray for the removal of those in power, many were upset and asked in whose name this call is made, but they must ask those people by saying it is done in the name of this Jesus, in the name of Jesus whom you have killed. Peter’s testimony was at the same time theological and political because he was dragged before the Sanhedrin to defend his actions before the political powers, puppets representing the political power of Caesar. “You see our struggle did not begin yesterday or in 1960 or in 1910; it is an old, old story”. This Jesus, who had been killed, was raised, and therefore the name of Jesus now brings healing, power, transformation in the world, also confrontation with the powers of evil in this world. In fact, it is a powerful name, but also a vulnerable name, that can be misused and betrayed – as it so often happened and still happens when the Christian church forsakes the poor and weak and justifies racism and apartheid. Even the government claims this name and says it is a Christian government. As long as this happens, the church should rise up in the name of Jesus. It is in this name that the church gathers for prayer – and the sermon concludes with a call to pray the Lord’s Prayer: “In this name we stand, in this name we pray for justice and for peace, in this name we pray for the crumbling of unjust structures […] To pray does not mean that I will now fold my hands and close my eyes and sit back and let God do all the work. To pray means that I will say to God, ‘I am now at your disposal. Use me, use me for peace, use me for justice, use me for compassion, use me for mercy, use me for love, use me for liberation so that your people can see and believe’ […] And so, my brothers and sisters gathered for this prayer service today, let us look upon the name of Jesus […] Let us stand in the name of Jesus […] Because we believe this, we shall stand, we shall be clear, we shall be counted, we shall speak so that they can hear from
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On earth as it is in heaven? It is no coincidence that the theme suggested to me as a theologian – on earth as it is in heaven – comes from the so-called Lord’s Prayer, the Our Father. One could of course argue that prayer is a very fundamental expression of human religiosity – and in that sense most certainly trans-cultural. It is even possible to argue that prayer (worship, ritual, cult) is something fundamentally human – in an evolutionary sense,82 in an anthropological sense,83 and as some have claimed, that human beings are “praying animals.”84 One could, perhaps, even argue that prayer is often born in a sense of longing, caused by experiences of negativity, whether of suffering, pain, guilt, fear, death, absence, alienation or exile, that prayer is often born in need, in “groaning and sighingˮ for something better, in the hope of change, renewal, redemption and salvation, in short, that prayer longs for some heaven on earth. However, it is clear that not all prayer (worship, ritual, cult) is necessarily such a longing for “on earth as it is in heaven.” Prayer could also arise from many other needs and motivations and take on many other forms, expressions, moods and Cape Town to Pretoria, from Port Elizabeth to Durban, from every little hovel in the country to the highest councils of authority. ‘Our Father,’ we will say, ‘who art in heaven, give us – all our people – our daily bread so that we will not die of hunger, and forgive us our sins, even that sin of being afraid to stand up and be counted for justice, and we will forgive them that trespass against us. And lead us not into temptation but deliver us from evil, for thine is the kingdom, for thine is the power, for thine is the glory for ever and ever. Amen’” (Boesak: When Prayer makes News, p. 39f.). 82 For an informative study on the development of religion in human evolution, from the Paleolithic to the Axial Age, see for example Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution, Cambridge 2011. 83 For an instructive inter-disciplinary approach to issues of human identity, including the development and nature of religious awareness, see the work of J. Wentzel van Huyssteen, for example his Alone in the World? Human Uniqueness in Science and Theology, Grand Rapids 2006, as well as his more recent work, including for example the collected essays in In Search of Self. Interdisciplinary Perspectives on Personhood, ed. by Wentzel van Huyssteen & Erik P. Wiebe, Grand Rapids 2011. 84 See for example the interesting argument in Robert W. Jenson: “The Praying Animal,” in his Essays in Theology of Culture, Grand Rapids 1995, p. 117–131. Like few other systematic theologians in recent years, Jenson has occupied himself with questions concerning time. It began with his doctoral dissertation in Heidelberg, reworked and published as Alpha and Omega. A Study in the Theology of Karl Barth, Edinburgh 1963, and continued in many other works, including “The Triune God,” in: Christian Dogmatics. Vol 1, ed. by Carl E. Braaten & Robert Jenson, Philadelphia 1984, p. 83–191; Story and Promise, Ramsey 1989; Systematic Theology, Volumes 1 and 2, Oxford: Oxford 1997; and the important essay “The Great Transformation,” in: The Last Things, ed. by Carl Braaten & Robert Jenson, Grand Rapids 2002, p. 33–42. It is no wonder that the essays dedicated to him was called Trinity, Time, and Church, ed. by Colin E. Gunton, Grand Rapids 2000. See also the doctoral dissertation by Anné H. Verhoef: Alfa en Omega. ’n Studie in die Trinitariese Denke van Robert Jenson, Stellenbosch 2008.
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religious sensibilities than this longing. Still, it would be possible to claim that this longing is indeed at the heart of the Our Father, that this prayer, taught by Jesus to the disciples, is in essence a longing for the kingdom to come and that this longing for a still outstanding future – that God’s will be done on earth as it is in heaven – therefore properly belongs to the heart of the Christian experience, faith and tradition. In reality, however, this has not always been the case, so that one should rather agree with Taubes that, whenever the eschatological sense was lost in history and for example exchanged for ecclesiology, for internal experiences or for individual expectations, the Lord’s Prayer still continued to be prayed, but it often lost this function of longing for something still to come.85 In similar way, whenever the eschatological sense was lost and exchanged for loyalty to the state or the empire, again prayer as longing for the kingdom lost its function. “One prays for the preservation of the state, since if, God forbid, it doesn’t remain, then chaos breaks loose, or, even worse, the Kingdom of God! That would be the worst thing that could happen.”86 Even so, for many it certainly was the case that the Lord’s Prayer was seen as a longing for the coming kingdom. In recent theological memory one could for example think of theologians like Karl Barth and Dietrich Bonhoeffer and of the central role of the prayer for the coming kingdom in their work and of the impact these contributions have had on so many others, also in South Africa.87 Prayed in 85 Cf. Taubes: Occidental Eschatology, p. 77. “There are occasions in the Church when even the plea for the Kingdom in the Lord’s Prayer is altered: Your Kingdom come is replaced by Your Spirit come. The spirit is sufficient for the Church, rendering apocalypticism dispensable. The Parousia not only becomes superfluous but Christians eventually pray for the end to be delayed, ‘for we do not wish to live it, and by praying for the delay of these things, we are promoting the continuation of Rome.’ This change is already noticeable in the First Letter to Timothy. He is not advised to pray for the dawn of God’s Kingdom but to offer quite a different prayer, ‘for kings and all who are in high positions that they may lead a quiet and peaceable life in all godliness and dignity.’ Far from representing a revolutionary faction, the Christian Church is overtly placatory to the empire […] well before its recognition by the Imperium. The Church no longer feels it is a community in exile and for Eusebius the empire and the congregation of believers are synonymous. Once Christianity has been raised to the status of the religion of the empire, any hope for God’s Kingdom is snuffed out. Ever since Constantine, even the Roman Empire has been referred to as ‘holy’ […] This state of affairs, in evidence since the days of Constantine, becomes an ideal in Augustine’s City of God, is effectually established by the policy of Charlemagne, and ends in the Christian Europe of the Western Holy Roman Empire” (ibid., p. 77). 86 Cf. Taubes: The Political Theory of Paul, p. 69f. “The interest in the power of the state – you have that in Christianity too, of course. One prays for the preservation of the state, since if, God forbid, it doesn’t remain, then chaos breaks loose, or, even worse, the Kingdom of God! That would be the worst thing that could happen.” 87 Both Karl Barth’s understanding of the Christian life as “calling on God,” followed by an exposition (of the first petitions) of the Lord’s Prayer, in his The Christian Life. Church Dogmatics IV/4, Grand Rapids 1981, as well as Dietrich Bonhoeffer’s lecture and later essay, “Thy
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Dirk J. Smit Kingdom Come. The Prayer of the Church-Community for God’s Kingdom on Earth,” in: Dietrich Bonhoeffer Berlin 1932–1933. Dietrich Bonhoeffer Works Vol. 12, english edition ed. by Larry L Rasmussen, Minneapolis 2009, p. 285–297, played important roles in the work of several South African theologians. Barth discussed the second petition, thy kingdom come, under the heading “The struggle for human righteousness”. In 1962, at the end of his academic career, Barth gave the Warfield Lectures in Princeton, on “evangelical theology.” In a simple way the 76year old theologian drew together his concerns about politics and prayer during a final question and answer session in the Princeton University Chapel. “Would you elucidate how ‘evangelical theology’ is related to politics?”, someone asked. “How are eschatology and sanctification related to political action?” “What do we mean when we speak of politics?” Barth responded, and provided his own, seemingly simple answer: “Politics is an aspect of what we have just called culture. Politics means the human attempt to create and uphold some sort of order and peace in the world. Even at best, politics will create only some sort of order or some peace, no more. The purpose of politics is to realize in some degree something like a human commonwealth. Now since ‘evangelical theology’ deals with God’s justice (God has revealed the justice of the covenant in Jesus Christ), it confronts all human attempts to create justice, order, peace, and so on with this superior justice. Thus there is an encounter here and to this extent ‘evangelical theology’ has to do with politics. Now, we also say that Jesus Christ is a King who came once and who will come again. If we look at the fact that he came – we then understand our sanctification. He came; and since he came, we are sanctified for the service of this King. But He will come again – here we then have eschatology. Christians look forward in hope to the new coming of the same King. So from both sides – from sanctification completed in Jesus Christ’s death and resurrection on to eschatology or his second coming in glory – Christianity has to do with politics. If Christians serve the King of Kings, then politics is something straightforward. Thus theology is itself political action. There is no theological word, no theological reflection or elucidation, there is no sermon and even no catechism for children which does not imply political meaning and as such enter into the world as a little bit of political reality. You cannot believe in the Kingdom which can and will come without also being a politician. Every Christian is a politician, and the church proclaiming the Kingdom of Jesus Christ is itself a political reality” (Karl Barth: “A Theological Dialogue,” in: Theology Today XIX.2 (1962), p. 171–177, specifically p. 175f. [my italics]). H. Russel Botman, for example, the late Rector of Stellenbosch University and former President of the South African Council of Churches, often quoted the Bonhoeffer’s “Thy Kingdom Come.” He concluded his doctoral dissertation, Discipleship as Transformation. Towards a Theology of Transformation, with a long quotation: “Then the sun rises on Jacob, and he proceeds into the Promised Land, limping because his thigh has been put out of joint. The way is clear; the dark door to the land of promise has been broken open. The blessing has come from out of the curse, and now the sun shines upon him. That the way of all of us into the land of promise leads through the night; that we also enter it as those who are perhaps curiously scarred from the struggle with God, the struggle for his kingdom and his grace; and that we enter the land of God and of our brother (and sister) as limping warriors – all these things we Christians have in common with Jacob. And we know that the sun is destined also for us, and this knowledge allows us to bear with patience the time of wandering and waiting and believing that is imposed upon us. But beyond Jacob, we know something else. We know it is not we who must go; we know the He comes to us … That is why we pray, ‘Thy kingdom come to us’” (H. Russel Botman: Discipleship as Transformation. Towards a Theology of Transformation, Bellville1993, p. 235). Botman would use these words and the motifs in Bonhoeffer’s thoughts repeatedly during later years, in some of his key speeches and papers. During recent years he became known for his inspiration behind the so-called “Hope Project” of Stellenbosch University, and it is not claiming too much to say that these motifs played a role in his vision of hope. A key biblical motif in his life and work was the Pauline “as if not” of 1 Cor 7:29–31, also central in Taubes’ thought and in some of the political theologies today. For that, see for example D.J. Smit: Om te leef asof nie. Meditasies opgedra aan Russel Botman, Wellington 2014. Nico N.
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this spirit, the Our Father’s petition “on earth as it is in heaven” can become both subversive and inspiring, as has so often been the case in history.88 I have not presented an argument or a thesis or a claim of any kind, but only responded to the theme suggested to me by remembering three contributions somehow dealing with “on earth as it is in heaven.” They have no direct relationship to one another. Furthermore, they are all three controversial and contested. All three, however, raise the question of political theology, once again such an important issue today, and all three do that by using language of heaven, not as Koopman, the Director of the Beyers Naudé Center for Public Theology in Stellenbosch recently published an exposition of the Lord’s Prayer called Cries for a Humane Life. Reflections on the Lord’s Prayer, Wellington 2014. He uses Barth’s work as point of departure: “Karl Barth said when we fold our hands in prayer to say the Lord’s Prayer we start the protest against the chaos of this world” (Koopman: Cries for a Humane Life, page xii) John W. de Gruchy contributed significantly to church and society issues in South Africa, in this same spirit and tradition of both Barth and Bonhoeffer. In August 2000 he deservedly received the Karl Barth Prize in Berlin, as acknowledgement of this. Many of his publications over several decades bear witness to this influence, from his doctoral thesis on the ecclesiology of Barth and Bonhoeffer, to popular works, like Cry Justice. Prayers, Meditations and Readings from South Africa, London 1986 and scholarly works, like Liberating Reformed Theology. A South African Contribution to an Ecumenical Debate, Grand Rapids 1991. See for example D. J. Smit: “Seeing Things Differently. On Prayer and Politics,” in: Theology in Dialogue. The Impact of the Arts, Humanities, & Science on Contemporary Religious Thought. Essays in Honor of John W. de Gruchy, ed. by Lyn Holness & Ralf K. Wüstenberg, Grand Rapids 2002, p. 271–284. Allan Boesak also makes use of Barth’s exposition of the second petition of the Lord’s Prayer, see his “‘The doing of the little righteousness’ – The ongoing search for justice after the TRC,” in: Living Theology, ed. by Len Hansen, Nico Kooman & Robert Vosloo, Wellington 2011, p. 569–584. This of course does not claim that these South African theologians understood Barth in the way he intended his own ideas about time, prayer, hope, and politics. It does not even claim that these theologians shared similar convictions in all respects. It only points to the fact that Barth’s ideas in this regard had an influential history of reception in South African circles. For the complexity of his own views, see for example Gerhard Sauter: “Why is Karl Barth’s Church Dogmatics Not a ‘Theology of Hope’? Some Observations on Barth’s Understanding of Eschatology,” in: Scottish Journal of Theology 52.4 (1999), p. 407–429 (on his views regarding time); from a different perspective, Nigel Biggar: The Hastening that Waits. Karl Barth’s Ethics, Oxford 1995 (for the implications for ethics and politics); and Gregor Etzelmüller: … zu richten die Lebendigen und die Toten. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen 2001 (for the role of symbolism and imagery of the end time in Barth’s thought). 88 The tradition of exposition of the Lord’s Prayer as guideline for life and ethics has been influential since the early church. A particular trajectory within this ethical exposition has been the emphasis on the subversive nature of this prayer, see for example Leonardo Boff: The Lord’s Prayer. The Prayer of Integral Liberation, Maryknoll, NY 1979; Michael H. Crosby: Thy Will be Done. Praying the Our Father as Subversive Activity, Maryknoll, NY 1977: “An analysis of the words of the Our Father as interpreted by the pagan environment surrounding the early community also reveals a practical reason for its secrecy: It represented a viewpoint and ideology counter to that which legitimized the institutions of that day. In the first and second centuries […] allegiance to the empire was determined by proclaiming the kingship of the emperors, the holiness of their name, and the submission to their will. To declare otherwise, as demanded by praying the Our Father, was to act subversively toward those powers and principalities”.
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space, but as future, or better, as contrast, as counter-factual, as negation, as reminder of what is not yet and therefore of possibilities for human agency “as if not”. All three demonstrate – in the words of Taubes – “the political potentials of theological metaphors.” Richard Landes claims that the spirit of millennialism that still confronts and challenges our world today in so many ways is based on a trans-cultural longing for heaven on earth – and that this spirit is both pervasive and dangerous, “They are still with us. We are in their current.”89 Jacob Taubes, together with so many other contemporary philosophers, claims that our contemporary world is still haunted by a spectre of questions and challenges that could be described as so many forms of political theology on an earth without heaven. Like Kant, he is filled with awe by the beauty of the night-sky, however, not by the stars, but by the darkness.90 Allan Boesak serves as one, albeit real and concrete example of political theology in action, an example how prayer can indeed make news, because a longing for God’s will to be done on earth as it is in heaven can become subversive, inspiring, active and politically powerful. Taken together, they may serve as three – arbitrarily chosen – examples that language of “heaven” can have ethical, in fact, political, function not only when used in a cosmic way, but also when used in a historical way, although these functions are widely different, heavily contested and fundamentally contradictory to one another.91 Taken together, they could serve as reminder that Kant, speaking in awe about the stars above and the law within, was referring to heaven not only in the first clause, but also (implicitly) in the second, and therefore not only in a spatial, but also – somehow – a temporal sense.92 89 Landes, Heaven on Earth, p. 22. 90 The very last paragraph of Occidental Eschatology concludes: “If, looking into the beauty of the night, man does not mistake it but sees the darkness for what it is […] then day will dawn in the human world, and the transition from insistence to existence will follow. When day dawns all measures will turn upside down […] The measure of God is the holy […] The holy is the terror that shakes the foundations of the world. The shock caused by the holy […] bursts asunder the foundations of the world for salvation […] It is the holy that passes judgment in the court of history” (Taubes: Occidental Eschatology, p. 194). 91 For a very helpful collection of essays, several of them dealing directly with the theme of this essay, see the volume by John Polkinghorne & Michael Welker (eds.): The End of the World and the Ends of God. Science and Theology on Eschatology, Harrisburg 2000. 92 Implied in Kant’s reference to the moral law within us was of course his thoughts concerning morality that he would gradually further develop over the years to come, for example also in Religion within the Limits of Reason Alone (1793/1794), New York 1960, when he considers what we can reasonably hope for. In Toward Perpetual Peace (1795) he would more fully develop the idea of an ethical commonwealth as the community of virtue that will assure perpetual peace, which he raised in Religion within the Limits of Reason Alone, yet still questions were left open, for example about his exact views regarding the moral destiny of the human species within the world of time and space and as outcome of human history. He calls Book Three of Religion within the Limits of Reason Alone “The victory of the good over the evil principle, and
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the founding of a kingdom of God on earth” and divides the argument of Book Three in two parts. He first gives a philosophical account on how to think about this founding of a (moral) kingdom of God on earth. There is only one true (rational and moral) religion, hidden within all the faiths of several kinds. Once “the principle of the gradual transition of ecclesiastical faith to the universal religion of reason, and so to a (divine) ethical state on earth, has become general […] even though the actual establishment of this state is still infinitely removed from us,” (Kant: Religion within the Limits of Reason Alone, p. 113) we have good reason to say that the kingdom of God has come to us. The “basis for a continual approach towards such a consummation” (ibid.) has been established, “as in a seed which is self-developing and in due time selffertilizing,” it is a principle “which one day is to illumine and to rule the world” (ibid.). In the second part he gives a historical account of how this gradual establishment of the sovereignty of the good principle is taking place on earth. Now he describes how Christianity appeared “completely forsaking the Judaism from which it sprang,” (ibid., p. 118) because Judaism, according to Kant, did not have a belief in a future life after death and in heaven and hell, which is almost automatically necessary for “the universal moral predisposition in human nature” (p. 117). The Teacher of the Gospel, Kant says, therefore announced himself to be an ambassador from heaven and he proclaimed the moral faith which alone renders human beings holy like their Father in heaven is holy. In his own person he gave them an example of a humanity alone pleasing to God and he is represented as returning to heaven from where he came, trusting in the power of the memory of his merit, teaching, and example, which he left behind (so that he could even say that he would be with his disciples until the end of the world). For Kant, the present time (in which he lived) is therefore the best period in the whole history of the church up to now, because the seed of true religious faith is growing and we may look forward to a continuous approximation of the church that will eternally unite all of humanity to constitute the visible representation of the invisible kingdom of God on earth. Therefore, “the kingdom of heaven is represented in this historical account not only as being brought ever nearer, in an approach delayed at certain times yet never wholly interrupted, but also as arriving” (ibid., p. 124f.).To this narrative (of the Gospels) is added the prophecy (of the Apocalypse), he says, of the consummation of this great world-change, in the image of a visible kingdom of God on earth and of happiness to be enjoyed and thus an account that closes with “the end of the world” (ibid., p. 125; [his italics]), “all this may be interpreted as a symbolic representation intended merely to enliven hope and courage and to increase our endeavours to that end” (ibid.). Therefore, “[T]his sketch of a history of after-ages, which themselves are not yet history, presents a beautiful ideal of the moral world-epoch […] which we can anticipate, i. e. prepare for in continual progress and approximation” (ibid., p. 126). For him this means that “[t]he appearance of the Antichrist, the millennium, and the news of the proximity of the end of the world – all these can take on their right symbolic meaning” (ibid.). Together, they “express the necessity of standing ready at all times” and “to consider ourselves as chosen citizens of a (divine) ethical state” (ibid.). The kingdom of God does not come in a visible form, for behold, the kingdom is within us. Taubes deals at length (and critically) with Kant, see Taubes: Occidental Eschatology, p. 137ff. “[T]he Kantian system is the philosophy of Copernican man. The Copernican world is an earth deprived of heaven which used to be an archetype to the earth […] Because the space between heaven and earth has become meaning-less, Copernican man seeks to revolutionize the world according to an ideal that can become a reality in the course of time. The ideal is no longer the Platonic idea which dwells on high, but is to be found in the future. In the Ptolemaic world, because it has a heaven over it, eros holds sway, pulling the upper and lower spheres closer to each other. In the Copernican world, where upper and lower have become meaningless, the spirit reigns, forging ahead through the dialectic. The philosophy of the Copernican man is the philosophy of the spirit, and from the outset Kant shows himself to be the philosopher of the spirit” (Taubes: Occidental Eschatology, p. 137).
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Johann Ev. Hafner
Die Himmel. Wege zur Vervielfältigung von Welt im antiken Christentum
Der Himmel ist nicht nur eine kosmologische Größe, sondern das entscheidende Merkmal, an dem ein Religionswissenschaftler feststellt, ob ein Artefakt oder ein Text als religiös zu betrachten ist. Wann immer eine Kultur mit einer zweiten Welt rechnet, die grundsätzlich von der irdischen getrennt ist, kann man ihr ‚Religion‘ zuschreiben. Dabei ist es zunächst egal, ob diese zweite Welt mit Göttern oder Geistern bevölkert ist, sie kann auch aus Elementen und Kräften bestehen. Aber diese Vorstellung eines Jenseits bringt eine Kultur dazu, ihre eigene Welt als kontingent zu sehen, als Variante einer besseren, helleren, schöneren Überwelt. Je nach Kosmologie liegt diese in der Vorzeit, in der Zukunft oder parallel darüber. Erzählungen, welche einflussreiche Kräfte allein in der hiesigen Welt lokalisieren, wie beispielsweise die Wirkung eines Baumgeistes, sortiert man besser unter Naturgeschichten. Wenn hingegen der Geist des Baumes in einem eigenen entzogenen Reich wohnt, das nur über spezielle Rituale oder Personen zugänglich ist, liegt ‚Religion‘ vor. Die andere Welt kann mit verschiedensten Begriffen bezeichnet werden. Dabei bietet sich in einer Kultur die Erfahrung desjenigen Bereiches an, der besonders entzogen und endlos erscheint. Bei Pazifikindianern ist es das Meer, in der nordischen Mythologie die Eiswelt. Allen Kulturen nahliegend ist die Anschauung des Himmels.1 Allerdings birgt ‚Himmel‘ – anders als ‚Meer‘ oder ‚Berge‘ Ambivalenzen, die zu weiteren Spekulationen Anlass geben: Der Himmel zeigt genau beobachtbare Regelmäßigkeiten wie den Sternenumlauf, bringt aber auch unvorhersehbare Katastrophen wie Sturm und Hagel. Und: Als Luftreich beginnt er bereits auf der Erde und ist nah; als Sternenzelt beginnt er hinter dem Horizont und ist fern. Daher liegt es nahe, die Überwelt ‚Himmel‘ noch einmal in Oben und Unten zu unterscheiden. Der folgende Text will nachzeichnen, wie sich der Himmel zu den Himmeln entwickelte. 1 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main 1997. Darin seine These von der Anschaulichkeit der Sterne in der Antike sowie der Trennung der Anschauung und Theorie nach Kopernikus.
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Johann Ev. Hafner
I.
Singularisierungen
1.
Singularisierung des Himmels – biblischer und christlicher Sprachgebrauch
In der Umgangssprache, in der Liturgie und in den Bibelübersetzungen verwenden wir das Wort ‚Himmel‘ meist im Singular, obwohl in den Originalsprachen Hebräisch immer und im koinê-Griechisch (für das NT) meist der Plural steht.2 Das ist umso bemerkenswerter, als es sich um zentrale Stellen in der Bibel oder im Gottesdienst handelt. Hier ein paar Beispiele: – Der erste Satz der Bibel „Ber’eshit bara’ ’elohim ’et ha-shamayim we-’et ha’arets“3 wird in der Einheitsübersetzung mit „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ übersetzt. Diesen Vers gab schon die Septuaginta singularisch mit „epoiêsen ho theos ton ouranon“ wieder. Die Jerusalemer Bibel, Tur-Sinai und sogar die wörtlich „verdeutschende“ Übersetzung Buber/Rosenzweig wählen den determinierten Singular: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“, wobei der andere Plural mit „die Wasser“ übersetzt wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Abschluss des Schöpfungsberichts Gen 2,1: „Und so wurden Himmel und Erde vollendet und ihr ganzes Gefüge“ (LXX: kai synetelesthêsan ho ouranos kai hê gê kai pas ho kosmos autôn). – „Lobt Gott vom Himmel her (min ha-shamayim, LXX: ex tôn ouranôn), lobt ihn in den Höhen (ba-meromim, LXX: en tois hypsistois)“ Ps 148,1. Das ist eine der wenigen Stellen, an denen die Septuaginta den Plural der hebräischen Bibel übernimmt. Auch neutestamentliche Wendungen werden singularisch übersetzt:4 – Der erste Satz des Herrengebets „patêr hêmôn ho en tois ouranois (wörtlich: der in den Himmeln ist)“ Mt 6,9a wird in der Einheitsübersetzung mit „Vater 2 Allgemeine Literatur: McDannell, Colleen/Lang, Bernhard: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt am Main 1990; Lumpe, Adolf/Bietenhard, Hans: Art. „Himmel“, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 15, Stuttgart 1991, Sp. 173–212; Colpe, Carsten/ Habermehl, Peter: Art. „Jenseitsreise“, in: ebd., Bd. 17, Stuttgart 1996, Sp. 490–543; Lerner, Jean-Pierre: Le monde des sphéres, Bd. 1: Genèse et triomphe d’une représentation cosmique; Bd. 2: La fin du cosmos classique, Paris 1996/97; Vorgrimler, Herbert: Die Geschichte des Paradieses und des Himmels, München 2008. 3 Laut Gesenius’ Handwörterbuch stammt shamayim vom assyrischen ´samû, pl. shamê ‚Himmel, Dach‘ ab. Der Begriff wird für Gottes Wohnung verwendet (vgl. Ps 2,4) oder als eines seiner Attribute „Gott der Himmel“ (Gen 24,3). Der Himmel hat Fenster (vgl. Gen 7,11) und Türen (vgl. Ps 78,23), steht auf Säulen (vgl. Hiob 26,11) und ist kreisförmig (vgl. Hiob 22,14). 4 Das hat bereits seine Vorbilder im NT selbst: Ouranos kommt bei Paulus 20-mal vor, davon 10mal im Plural; bei Matthäus 80-mal, davon 31-mal in „Königreich der Himmel“. In Mt 22,30 singularisiert Matthäus die Markus-Vorlage Mk 12,25: „Sie werden sein wie die Engel in den Himmeln“. Es gibt auch den umgekehrten Fall in Mt 19,21; 24,31; 24,36.
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unser im Himmel“ und in der Lutherbibel 1984 mit „Unser Vater im Himmel“ übertragen. – Das in der Liturgie gebräuchliche Gloria lautet auf Deutsch „Ehre sei Gott in der Höhe“5 von Lk 2,14: „Doxa en hypsistois theô.“ Dagegen haben die Zürcher und die Jerusalemer Bibel wie die Vulgata („in altissimis“) den griechischen Plural beibehalten. Die Singularisierung setzt sich fort in der dogmatischen Sprache: – Das Nicäno-Konstantinopolitanum wird offiziell gesprochen mit: „Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel (Singular im griechischen Original) und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt (Plural im Original: die sichtbaren und unsichtbaren [Dinge]) … und an Jesus Christus … Für uns Menschen … ist er vom Himmel (Plural im Original) gekommen … aufgefahren in den Himmel (Plural im Original)“. Das Credo wechselt eigenartiger Weise zwischen der Einzahl im ersten Artikel und der Mehrzahl im zweiten Artikel.6 Dieselbe Vermeidung des Plurals finden wir in anderen modernen Sprachen. Wo dennoch ein Plural verwendet wird, geschieht dies inkonsequent, wie in der King James Version „God created the heavens“, „Our father which art in heaven“. Dieses Bild folgt keiner Logik, aber man spürt die Verlegenheit der Übersetzungen, die zwischen dem hebräischen Himmelsplural auf der einen Seite und dem griechischen sowie lateinischen Himmelssingular auf der anderen Seite changieren. Üblicherweise wird die Singularisierung mit dem Argument erklärt, dass erstens im Hebräischen ein Flächenplural7 vorliege, der die maßlose Ausdehnung anzeigt, und dass zweitens der Ausdruck ein plurale tantum sei, ein ausschließlich in der grammatikalischen Mehrzahl vorkommendes Wort, das semantisch – analog ‚Hosen‘ – einen Singular bedeute.8 Bereits die Septuaginta lässt daher den Plural weithin fallen und übersetzt ‚Himmel‘ wie gesehen in Gen 1, Dtn 10 u. a. mit ouranos. Die lateinischen Texte folgen mit caelum. Die Singularisierung kann so weit getrieben werden, dass sogar explizit pluralische 5 Dagegen die Zürcher Bibelübersetzung: „Ehre sei Gott in den Höhen“; Jerusalemer: „Herrlichkeit in den Höhen für Gott“. 6 Im Vater-Artikel „Pisteueomen eis hena theon, patera, pantokratora, poiêtên oranou kai gês, horatôn kai aoratôn“, im Sohn-Artikel „katelthonta ek tôn ouranôn … kai anelthonta eis tous ouranous“. Das Apostolische Glaubensbekenntnis lautet „Ich glaube an Gott, den Vater den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“. Der Singular findet sich bereits im Original „Credo in Deum, patrem omnipotentem, creatorem caeli et terrae.“ 7 Vgl. die Übersetzung „Wasserfläche“ in von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose, Kap. 1–12,9, Göttingen 1949 (= ATD 2), S. 24; Torm, Frederik: „Der Pluralis ouranoi“, in: Zeitschrift für Neutestamentliche Wissenschaft 33 (1934), S. 48ff. 8 Tatsächlich kam der Himmel als Singular shemaya im Hebräischen kaum in Gebrauch.
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Ausdrücke wie „panta aorata/omnia invisibilia“ mit „die unsichtbare Welt“ zusammengefasst und singularisch wiedergegeben werden. Allerdings haben einige Stellen den Verdacht erregt, dass der Plural keine bloße Sprachform ist, sondern tatsächlich mehrere Himmel bedeutet. Die erste Stelle ist der erste Schöpfungsbericht. In Gen 1,8a gibt Gott dem Gewölbe (Singular rakia’), welches die oberen Wasser und die unteren Wasser ˙ (mayim) voneinander trennt, den Namen „shamayim“ (wie er auch das Licht „Tag“, die Finsternis „Nacht“ nennt). Das Wortspiel mayim-shamayim zeigt an, dass es mehrere Wasser gibt und ihnen mehrere Himmel entsprechen. Mit der Benennung bestimmt er die Biotope, in denen die Sterne „am Himmel“, die Fische „des Meeres“, die Vögel „des Himmels“ und die Tiere „des Feldes“ wohnen. Der Text unterscheidet klar zwischen der Einzahl des Gewölbes und der Mehrzahl der Himmel. Diese erhalten dazu noch die Funktion, den gesamten Bericht zu rahmen: Im summarischen Eröffnungssatz „Gott schuf die Himmel und die Erde“ und im Abschlusssatz „So schuf Gott die Himmel und Erde“ steht shamayim als Sammelbegriff für alles jenseits des Irdischen Befindliche, während ’erets alles Irdische bezeichnet. Offensichtlich besteht die Schöpfung aus zwei Teilen. Also: In einigen Versen ist ‚Himmel‘ das Gegenüber der irdischen Welt, in anderen Versen meint ‚Himmel‘ (als Firmament) einen integralen Teil der irdischen Welt. Die klassische Stelle für die Mehrzahl von Himmeln ist Dtn 10,14. Dort wird das Volk zur Einhaltung des Gesetzes mit der Schwurformel aufgefordert „Sieh, dem Herrn, deinem Gott, gehören der Himmel, der Himmel über den Himmeln (ha-shamayim ushme ha-shamayim) 9, die Erde und alles, was auf ihr lebt.“ Der Parallelismus legt nicht nur nahe, dass die Himmelswelt in ähnlicher Weise bewohnt und belebt ist wie die Erde, sie kennt auch noch einen Bereich über den Himmeln. Diese Stelle könnte man sprachwissenschaftlich als pleonastische Steigerungsform erklären, aber sie hat in der rabbinischen Tradition den Grund für Spekulationen gelegt, dass es vielerlei Himmel geben müsse.10 In den apokalyptischen Passagen werden kosmologische Fragen wichtig: Wird nur das Gewölbe, an dem die Gestirne befestigt sind, oder wird der gesamte Schöpfungsbau, Erde und die Himmel, zusammenbrechen? Laut Mt 24,36 werden die Sterne „vom Himmel (Singular, da hier das Firmament gemeint ist) fallen, … und die Kräfte des Himmels (Plural, da alle Weltschichten schwanken) werden erschüttert werden.“ Ähnlich formuliert der älteste christliche Text 1Thess 1,10, dass die Gläubigen den Sohn „vom Himmel her (Plural, da der Sohn 9 Wieder übersetzt die Septuaginta ausschließlich mit Singular: ho ouranos kai ho ouranos tou ouranou. Ähnlich Sir 16,18. 10 Vgl. Chagiga 12b. Ähnlich das Tempelweihgebet Salomos 1Kö 8,27. Vgl. Bietenhard, Hans: Die himmlische Welt im Urchristentum und Spa¨tjudentum, Tübingen 1951, S. 8.
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durch die verschiedenen Himmel steigen muss)“ zu erwarten haben, während er bei seiner Ankunft 1Thess 4,16 „vom Himmel (Singular, da hier die Parusie am Firmament gemeint ist)“ herabsteigt. Halten wir fest: Insgesamt finden wir in der hebräischen Bibel ausschließlich die pluralische Form, was aber offenließ, ob man dies stets als Singular oder auch wörtlich als Plural zu verstehen habe. Daher ist der Gebrauch im Neuen Testament und in der christlichen Tradition sehr uneinheitlich. Der moderne Gebrauch hat sich auf die Einzahl eingespielt, philosophisch aber blieb die Frage nach einer Mehrzahl von Himmeln stets offen.
2.
Die Singularisierung der Himmel – Aristoteles’ ‚De caelo‘
Der Sprachgebrauch wird nicht nur von religiösen Traditionen, sondern zusätzlich von einer zweiten Quelle beeinflusst: der hellenistischen Kosmologie. Der entscheidende Text für die Vereinfachung von ouranoi und kosmoi war Aristoteles’ Traktat „Über den Himmel“ Peri ouranou/De caelo, welcher das kosmologische Paradigma bis zu Kopernikus bildete sowie für die Äthertheorie bis ins 19. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung hatte. Aristoteles reagiert mit diesem Werk auf Vorstellungen einiger Vorsokratiker wie Anaximander, der auf unzählige Welten schloss, weil alles Seiende sich aus einem unbestimmten Grund (apeiron) erhebt und dahin wieder vergeht.11 Werden und Vergehen bezieht Anaximander auch auf die Welt und nicht nur auf Einzelseiendes. Die sogenannten Atomisten wie Leukipp oder Demokrit (ca. 460–370) und später Epikur (341–270) werden diesen Gedanken verlängern, indem sie eine unendliche Menge an Teilchen annehmen, aus denen sich durch Strudel und Wirbel unendlich viele Welten auf vielfältige Weise zusammensetzen.12 Eine ‚Welt‘/kosmos ist Epikur zufolge ein Ausschnitt aus dem Himmel mit eigenen himmlischen Körpern und einer Erde und ein Teilausschnitt des apeiron, das von einer losen oder dichten Grenze umgeben ist.13 Der Begriff ‚Himmel‘/ouranos meint also etwas Umfassenderes, das mehrere ‚Welten‘ enthalten kann.14
11 Vgl. Aristoteles: Über den Himmel, übersetzt und erläutert von Alberto Jori, Berlin 2009, S. 267 [im Folgenden Aristoteles: De caelo]. 12 Vgl. Dick, Steven J: Plurality of Worlds. The Extraterrestrial Life Debate from Democritus to Kant, Cambridge 1982, S. 8. 13 Epikur: „Brief an Pythocles“, zit. in Dick: Plurality of Worlds, S. 6. 14 Man darf dies nicht vorschnell mit der modernen Anschauung von Sonnensystemen im All parallelisieren. Mit kosmos ist das relativ Ganze gemeint, der Wirklichkeitsbereich, welcher den irdischen Beobachtern über den Gesichtssinn zugänglich ist („himmlische Erscheinungen“) und entspricht unserem Begriff vom Universum. Ouranos hingegen entspräche der Vorstellung, dass es mehrere Universen gibt. Um sein Thema klar zu fassen, unterscheidet
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Den Atomisten erschien der Gedanke von mehreren Welten zwingend, weil diese Welt begrenzt ist und nicht alle Atome, von denen es unendlich viele gibt, enthalten kann. Aristoteles greift dies in De caelo auf: Es könne nicht unendlich viel Materie geben, da dann die Welt unendlich wäre und es weder Mittelpunkt noch Begrenzung gäbe, dann aber auch keine Orientierung für gerichtete Bewegung und keine Bewegung schlechthin existierte, und das könne augenscheinlich nicht sein.15 Es könnte aber sein, dass endlich viel Materie auf mehrere Welten verteilt ist.16 Aber wenn es mehrere Weltmittelpunkte gäbe, wüssten die Körper nicht, wohin sie sich bewegen sollten. Unsere Erde wäre nicht mehr das Zentrum unserer Welt, sondern würde sich um eine andere Mitte bewegen. Das jedoch widerspräche ihrer Natur.17 Nur wenn es eine Welt mit einem Mittelpunkt und einem „einzigen äußersten Rand“18 gibt, kann Bewegung von einem Ausgangs- zu einem Zielort stattfinden.19 Außer mit diesen eher physikalischen Argumenten beweist er die Einzigkeit der Welt auch philosophisch: Der sichtbare Himmel sei ein materielles Einzelding und unterschieden vom Himmel als Begriff. Wie bei allen Dingen könnte man also meinen, es müsse mehrere Exemplare derselben Gattung geben. Jedoch, der Himmel enthält – so Aristoteles’ Festlegung – die Gesamtheit der Materie. In diesem, und nur in diesem Fall, kann es nur ein Exemplar innerhalb einer Gattung geben. Dieses Argument wird noch Thomas von Aquin im Hochmittelalter verwenden. Aristoteles hat damit den Kosmos singularisiert und durch einen Himmel umgrenzt. Als Differenzierungsgröße dient ihm der Begriff der Sphäre. Mit diesen Weltenkugeln versucht er Planetenbewegungen als perfekte Kreise zu erklären. Das führt zu einem komplizierten Modell von 55 Sphären,20 welches über die Einführungen von Epizyklen und Mittelpunktsverschiebungen bei Ptolemaios im 2. Jahrhundert seine kanonische Gestalt fand.
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Aristoteles gleich zu Beginn von De caelo drei Bedeutungen von ouranos: die oberste Region, der Bereich der Gestirne, das Ganze. Vgl. Aristoteles: De caelo 271b–275b. Platons Vorstellung, es gäbe fünf ideale Körper (Polyeder), hat Aristoteles zu dieser Überlegung gebracht, ob es entsprechend nicht fünf Welten geben müsse. In De caelo I, 8–9 geht Aristoteles nicht weiter darauf ein. Vgl. Aristoteles: De caelo, 276, b 15. Vgl. Aristoteles: De caelo, 277, a 11. Zudem will Aristoteles nicht zulassen, dass andere Welten andere Eigenschaften haben, denn überall walten dieselben vier klassischen Elemente. Vgl. Aristoteles: De caelo 302b. Bereits Eudoxos von Knidos (ca. 409–356) hatte als Auftragsarbeit für Platon ein System entworfen, um die Schleifenbewegung der Planeten als regelmäßige Kreise zu beschreiben. Es besteht aus Sphären, auf deren Äquator sich jeweils ein Planet befindet. Die Achse jeder Sphäre ist an einer umliegenden Sphäre befestigt, so dass die Kombination der kreisenden Sphären nicht-kreisförmige Bewegungen ergeben. Eudoxos nahm 27 Sphären an, Aristoteles erweitert dies durch gegenläufige Kugeln auf 55 Sphären. Vgl. den Kommentar von Alberto Joris, in: Aristoteles: De caelo, S. 300.
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Am Schluss seiner Ausführungen zur Einzigkeit des Himmels öffnet Aristoteles dann doch ein Fenster für weitere Spekulationen, und zwar kontraintentional durch seinen Versuch, es zu schließen: Wenn der Himmel die äußerste sich drehende Sphäre bilde, „wo, wie wir behaupten, auch alles Göttliche seinen Sitz hat“,21 dann könne außerhalb davon nichts im raumzeitlichen Sinne sein. Raum und Zeit fehlen dort, denn Zeit entsteht nur anlässlich rhythmischer Bewegung und Raum ist nur dort, wo einfache Körper sind oder sein könnten. Daher befinde sich außerhalb des Äußersten nur aiôn Ewiges, ein weder zeitlich Datierbares noch räumlich Lokalisierbares, aber doch irgendwie Seiendes.
II.
Pluralisierungen
Trotz der von Aristoteles so fest verteidigten Einzigkeit und Einheit des Kosmos blieben zwei Probleme: Aus astronomischen Zwängen hat Ptolemaios’ System die Planetensphären so weit entkoppelt,22 dass die Einheit aller Bewegungen im einen Kosmos aufgelöst wurde. Die anderen Sphären führen sozusagen ein Eigenleben unabhängig von unserer Erde. Zweitens blieb das Problem der äußersten Grenze und des Draußen. Das lässt sich nicht mit der Antwort beruhigen, hier würden nur physikalische Probleme verhandelt; an der äußersten Sphäre kippen physikalische in metaphysische Fragen. Kosmologie ist nicht unschuldig, sie provoziert Theologie.
1.
Verdoppelung der Welt – Platons Timaios
Den Grund hierfür hatte bereits Platon im Timaios-Dialog gelegt. Dort wird die Frage der Weltentstehung mit einem religiösen Mythos der Schöpfung beantwortet, der im Laufe des Traktats in eine physikalische (Lehre von den Elementen) und mathematische (Lehre von den Polyedern) Erklärung übergeht. Das Vorzeichen all dieser Erklärungen aber ist die Behauptung, dass der Weltmacher (demiourgos) das Sichtbare nach einem idealen Vorbild – vor allem sich selbst – geschaffen hat. Damit wird unterstrichen, dass die Welt nicht wie ein willkürlicher Bastelakt, sondern mit „Blick auf das Unvergängliche aidion“23 entstanden ist. Nun bleibt Platon nicht dabei stehen, die hiesige Welt sei als das 21 Aristoteles: De caelo, 278, b 15. 22 Vgl. den Kommentar von Alberto Joris, in: Aristoteles: De caelo, S. 312f.; Johansen, Thomas K: „From Plato’s Timaeus to Aristotle’s De caelo: The Case of the Missing World Soul“, in: Bowen, Alan C./ Wildberg, Christian (Hg.): New Perspectives on Aristotle’s De caelo, Boston 2009, 9ff. 23 Platon: Timaios 29a.
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Johann Ev. Hafner
Abbild eines abstrakten Vorbilds paradeigma zu denken, sondern erweitert in Politeia Buch 6 – direkt neben dem Höhlengleichnis – das Vorbild zu einer eigenen Welt. So entsteht eine zweite Hypersphäre neben oder über dem sinnlichen Kosmos, der selbst schon aus einem kugelförmigen Weltkörper und einer ebenfalls ihn umgebenden und kugelförmigen Weltseele besteht.24 Entgegen dem landläufigen Verständnis hat die sinnliche Welt nicht einfach ihr Vorbild im Geistigen, sondern alle sinnlich/geistig-Verhältnisse bzw. alle Körper/SeeleVerhältnisse25 dieser Welt haben ihr Vorbild in einer übernatürlichen Welt. „Merke also, sprach ich, wir sagen, daß dieses zwei sind und daß sie herrschen, das eine über das denkbare Geschlecht und Gebiet (genos kai topos), das andere über das sichtbare, damit du nicht, wenn ich sage ‚über den Himmel‘ meinst, ich wolle mit Worten spielen.“26 Nirgendwo unternimmt Platon einen Versuch, die beiden Sphären in einem physico-metaphysischen Kugel- oder Schichtenmodell zu vereinen. Sie liegen jenseits voneinander (epekeina). Nicht nur, dass Platon an dieser zentralen Stelle des sogenannten Liniengleichnisses zwischen einer der Art und dem Ort nach verschiedenen intelligiblen Welt und einer sichtbaren Welt unterscheidet, er legt ausdrücklich Wert darauf, das Wort ‚Himmel‘ nicht als Wortspiel verstanden zu wissen, d. h. er meint den uns sichtbaren Himmel, welcher zum mundus sensibilis gehört. Darüber aber gibt es eine weitere Welt aus Ideen. Diese bilden Zusammenhänge, Netze, Hierarchien von wiederum wenigstens zwei Gewissheitsgraden.27 Anders als in den mythologischen Geschichten von den Göttern, die konfus übereinander herfallen und mit monströsen Chimären streiten – vgl. seine Kritik an letzteren in Phaidros 209f. –, herrschen in jener Ideenwelt Regeln der Logik. „Die Innovation des Idealismus besteht darin, daß er die zweite Welt unter eine neuartige logische, vernunftbeherrschte, darum in gewisser Weise berechenbare oder machbare Verfassung gestellt hat.“28 Anstatt einzelne Urbilder anzunehmen, entwirft Platon einen lebendigen Ideenraum, in dem eine Idee die andere ergibt und alle von einer Superidee, dem Guten, verlebendigt werden.
24 Vgl. Platon: Timaios 34b. Genauer: Platon platziert die Weltseele gleich zweimal: als Kern und als Hülle des Weltkörpers. Vgl. Timaios 34a. Der entscheidende Unterschied zwischen Timaios und De caelo besteht darin, dass Aristoteles den Begriff der Weltseele durchweg vermeidet. Bei ihm wird die Welt nicht von einer eigenen Seele geordnet. 25 Nach Platon: Timaios 29c, entspricht dem sôma/psychê-Dual das epistemologische Verhältnis von wahrscheinlich/wahr (eikôs/alêthês). 26 Platon: Politeia 509d. 27 Platon nennt es Dianoetisches und Noetisches (Politeia 511e), dem Verstand bzw. der Vernunft Zugängliches. 28 Vgl. Sloterdijk, Peter: Sphären, Bd. 2: Globen, Frankfurt am Main 1999, S. 508. „Mit dem Sonnengleichnis vernimmt die Nachwelt die Unabhängigkeitserklärung der intelligiblen Kolonien vom Mutterland der Sichtbarkeit.“ Ebd. S. 512.
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Also: Obwohl Platon in Timaios 31a für nur einen Himmel plädiert,29 hat er an zentralen Stellen mehrere Welten angenommen. Der sichtbare Himmel muss sein Vorbild in einer zweiten Welt haben. Wir haben es also bei Platon nicht nur mit einer Verdoppelung der Welt in Körperliches und Geistiges zu tun, sondern mit einer Vermehrfachung von Welt, weil über Weltkörper und Weltseele eine Ideenwelt liegt.
2.
Verbindung von kosmologischem und theologischem Himmel – Ciceros ‚Traum des Scipio‘
Cicero ist ein frühes Beispiel für die Verbindung des naturphilosophischen Sphärenmodells des Aristoteles mit dem religiösen Himmelsmodell Platons. In ‚Scipios Traum‘, dem Schlussabschnitt von De re publica (54–52 v. Chr.),30 erzählt Scipio31 von seinem Besuch beim König von Numidien. Mit ihm entspinnt sich ein freundschaftliches philosophisches Gespräch, nach welchem Scipio zu Bett geht und tiefer träumt als sonst. Im Traum erscheint ihm sein Adoptiv-Großvater Scipio Africanus und erklärt ihm den gerechten Bau der Welt: Alle, die sich um das Staatswesen verdient gemacht haben, kommen in den Himmel zum „höchsten Gott, der das ganze Weltall regiert“ (Somnium Nr. 13). Die Menschen leben auf der Erde, einem „Globus, den du in der Mitte dieses Weltentempels siehst“ (Somnium Nr. 15). Das All bestehe aus neun Sphären, wovon der Fixsternhimmel die äußerste bildet (vgl. Somnium Nr. 17). Cicero lässt Scipio das pythagoräische Weltbild auffächern: Die Erde bildet die unterste, unbewegliche und neunte Sphäre, darüber kreisen die Mond-, dann die Merkur-, Venus-, Sonnen-, Mars-, Jupiter-, Saturnsphäre und ganz außen der Fixsternhimmel. Die Vision stellt die Winzigkeit und Vergänglichkeit der Erde angesichts der unermesslichen ewigen Kreise um sie herum heraus. Die Sterne werden für ungleich größer als die Erde gehalten (vgl. Somnium Nr. 16). Die Neunersphäre enthält zwei Grenzen: die Mondbahn und den Fixsternhimmel. Unterhalb des Mondes ist alles sterblich, darüber alles unsterblich. Unterhalb des Fixsternhimmels ist alles – mit Ausnahme der Seelen auf der Erde – passiv bewegt, darüber aktives 29 „Einzig und einmalig (heis hode monogenês) ist dieser Himmel gemacht“, denn der Weltenmacher hat nur ein Gesamtvorbild, nämlich sich selbst. 30 Zitiert als ‚Somnium‘ nach: Cicero: Gespräche über Freundschaft, Alter und die Freiheit der Seele, übers. und hg. v. Giebel, Marion, Stuttgart 2009. Vgl. De re publica. Vom Gemeinwesen, lat.-dt., hg. v. Büchner, Karl, Stuttgart 1997; Büchner, Karl: Somnium Scipionis. Quellen – Gestalt – Sinn, Wiesbaden 1976. 31 Es handelt sich um Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus (185–129 v. Chr.), den Sohn des Adoptivsohnes von Scipio, dem älteren „Africanus“ und Hannibal-Bezwinger. Er war erfolgreicher Militär, zweifacher Konsul und Freund von Polybios.
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Bewegen. Die Himmel zwei bis acht stellen eine Mischgröße dar: Sie sind aeterna/ unvergänglich, aber dennoch infixi/abhängig. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Identifikation der obersten Sphäre mit Gott. „[…] von ihnen [den Sphären] ist eine himmlisch und außen, welche alle übrigen umfasst, die als die höchste Gottheit selbst die anderen ordnend zusammenhält.“32 Als Himmel umfasst er die Welt, als Gott hält er sie aktiv zusammen. Damit wird die kosmologische und die theologische Funktion zusammen gedacht: Das Oberste ist zugleich die äußerste Weltenschale, welche die anderen enthält, als auch das höchste Wesen, das der Welt handelnd gegenübersteht und auf sie einwirkt. Der äußerste Himmel ist nicht additiv eine weitere Schale, sondern nimmt die Züge einer Person an. Das stufenweise Übersteigen der Himmel mündet in einem Letztgrund, dem Anfang aller Bewegung,33 der sich selbst und das ganze Weltall bewegt. Mit einer Ausnahme: den Seelen der Menschen. Sie bewegen sich selbst. Der Tugendhafte hat dort oben nach dem Tode seine Heimat und kann sich vom Ruhm auf Erden unabhängig machen. Des Menschen Seele gehört eigentlich nach ganz oben, denn sie ist das einzige Automobile und Unvergängliche auf Erden.34 Die Annahme eines Überhimmels ist also nicht nur eine kosmologische Notwendigkeit, sondern hat mit dem Erlösungsgedanken zu tun. Die ursprüngliche Funktion, die Totalität der Natur zu erklären, wird von der religiösen Funktion überlagert, das Ziel der Geschichte anzugeben. Strukturell ähnlich verlaufen die Welt-Pluralisierungen in der Erlösungsreligion Christentum. Es greift die Ambivalenz des biblischen Himmelsbegriffs auf, verlängert sie mit der eigenen Aufstiegsmetaphorik und kombiniert sie später mit den Mehrweltkonzepten der Metaphysik. Der Anfang liegt in einem einzigen Satz.
32 „quorum unus est caelestis, extimus, qui reliquos omnes complectitur, summus ipse deus arcens et continens ceteros“ Cicero: Somnium Nr. 17. 33 Cicero: Somnium Nr. 25 referiert Platons Beweis, dass Selbstbewegung ewig sein muss: „So kommt es, daß der Ursprung der Bewegung aus dem stammt, was sich selbst von sich aus bewegt: das aber kann weder geboren werden noch sterben; oder es würde der ganze Himmel mit Notwendigkeit zusammenstürzen, und die ganze Natur würde zum Stillstand kommen.“ 34 „Und wie diese Welt, die zu einem gewissen Teil sterblich ist, vom ewigen Gott (ipse deus aeternus) bewegt wird, so bewegt den vergänglichen Körper die unvergängliche Seele (animus sempiternus).“ Cicero: Somnium Nr. 24.
Die Himmel. Wege zur Vervielfältigung von Welt im antiken Christentum
3.
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Der erste Dreierhimmel – Paulus’ Bemerkung im Zweiten Korintherbrief
Der zweite Korintherbrief enthält die einzige Stelle im Neuen Testament, in der von einem höheren Himmel die Rede ist. Dort versucht Paulus sein immer wieder auftretendes Autoritätsproblem – Soll man ihm zuhören, dem Apostel, der Christus nie zu Lebzeiten begegnet ist? – mit Hilfe von Authentizität zu lösen.35 Der Brief gerät insgesamt zu einer erregten Selbstverteidigung: In 2Kor 3,1 bereits schlägt er das Thema an: „Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen?“, um dann breit über die Nöte und Sorgen eines Apostels zu berichten (Kapitel 3– 13). In 2Kor 11,1–12,13, der sogenannten Narrenrede, verliert er die Contenance; man hört dies in der Übersetzung nur schwach, aber der Ton ist extrem energisch. Paulus führt eine Liste von Argumenten auf, die für seine Autorität sprechen: Er sei von der Abstammung her Hebräer und Israelit (vgl. 2Kor 11,22). Er habe viel riskiert, wurde fünfmal ausgepeitscht, erlitt dreimal Schiffbruch, einmal Steinigung, Gefängnis, Überfälle, Hunger, Kälte und Flucht (vgl. 11,23–27). Er sorge sich um jede Gemeinde und leide mit den Schwachen (vgl. 11,28–29). Paulus unterstreicht, dass er dies nicht aufgrund eigener Fähigkeit tue, sondern dass er es in Schwachheit wie ein Narr erdulde. ‚Narr‘ klingt hochdeutsch etwas blass, auf bayerisch würde das so klingen: Ich mache den Deppen für alle anderen, aber ich mache es gern als „Diener Christi“. An dieser Stelle endet seine Aufzählung nicht und fährt zögernd fort. Um die Wiederholung sichtbar zu machen, stelle ich den Text in einer Tabelle dar: 12,1 „Ich muss mich ja rühmen; zwar nützt es nichts, trotzdem will ich jetzt von Erscheinungen und Offenbarungen sprechen, die mir der Herr geschenkt hat. 2a Ich kenne jemand, einen Diener Christi, 3a Und ich weiß, dass dieser Mensch ich weiß allerdings nicht, 2b ob es mit dem Leib oder ohne den Leib 3b ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, geschah, 2c nur Gott weiß es. 3c weiß ich nicht, nur Gott weiß es. 2d der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde;
4a in das Paradies entrückt wurde;36
35 Paulus hatte Probleme mit der Gemeinde in Korinth, wo eine starke Opposition entstanden war. Sie wurde wahrscheinlich von einem gewissen Apollos, bekannt aus 1Kor 3, angeführt und stellte ihn als Apostel in Frage. Zwar liegt kein Zitat der Gegenpartei vor, aber aus Paulus’ Entgegnung kann man schließen: Er gilt ihnen rhetorisch schwach (vgl. 1Kor 2,1–5; 2Kor 10,1), als zu selten anwesend, als Trittbrettfahrer, der Christus gar nicht persönlich gekannt hatte und dem folglich die Sendung durch Christus fehlt (vgl. 1Kor 9,1; 2Kor 11,5f.). 36 Obwohl die beiden Entrückungen in den dritten Himmel und in das Paradies parallel erzählt werden, handelt es sich nicht um zwei, sondern um ein Erlebnis. Vgl. Zmijewski, Josef: Der Stil der paulinischen ‚Narrenrede‘. Analyse der Sprachgestaltung in 2Kor 11,1–12,10 als Beitrag zur Methodik von Stiluntersuchungen neutestamentlicher Texte, Köln/Bonn 1978, S. 324f.
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(Fortsetzung) 4b Er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann. 5 Diesen Mann will ich rühmen; was mich 6a Wenn ich mich dennoch rühmen wollte, selbst angeht, will ich mich nicht rühmen, wäre ich zwar kein Narr, sondern würde die Wahrheit sagen. Aber ich verzichte darauf; höchstens meiner Schwachheit. 6b denn jeder soll mich nur nach dem beurteilen, was er an mir sieht oder aus meinem Mund hört.“
Paulus redet von sich in der dritten Person, um seine Identität zu verschleiern wie ein Patient beim Psychiater: ‚Ich hab da einen Freund, der hat ein Problem…‘ Er nimmt zwei Anläufe, sodass der Text eine Dublette aufweist. Zweimal betont er, dass er von einem tatsächlichen Erlebnis berichtet, das sich datieren lasse.37 Aber genauso betont er, dass sich nicht genau sagen lasse, ob es eine geistige Erleuchtung oder eine leibliche Entrückung gewesen sei. Weiterhin lasse sich nicht wiedergeben, was er dort gehört habe, weil es unsagbar sei. Zudem bleibe ihm selbst unklar, ob es sich um eine bewusste Audition oder um eine Ekstase handelte.38 Am Schluss nimmt er die ganze Erwähnung zurück: Nicht nach seinen Erleuchtungserfahrungen, sondern nach seinen Worten und Taten will er beurteilt werden. In diesem sich selbst unterbrechenden Text bringt Paulus zum Ausdruck, dass ihm die metaphysischen Details egal sind. Man muss die Meinung mancher Exegeten nicht teilen, Paulus schreibe hier eine Parodie auf ekstatische Erlebnisse. Aber dennoch muss die Bemerkung, dass er bis zum dritten Himmel kommt, im gesamten Duktus gelesen werden als ‚nur bis zum dritten Himmel‘.39 Als Folge seines Aufstiegs wird er nicht in intellektuelle Glückseligkeit versetzt, sondern von einem Engel Satans „mit Fäusten geschlagen, dass ich mich nicht überhebe“ (2Kor 12,7). Von nun an leidet Paulus an einem „Stachel im Fleisch“, d. h. Gott wollte, dass er in die Körperlichkeit zurückgestoßen wird und dort seinen Gemeindedienst versieht. 37 Ob es sich um sein Berufungserlebnis aus Gal 1,21 bzw. Apg 9,30 oder um ein anderes Erlebnis handelt, wird kontrovers diskutiert. Wenn „vor 14 Jahren“ korrekt ist, muss die Audition um ca. 40 n. Chr., also nach seiner Berufung stattgefunden haben, die um das Jahr 33 datiert wird. Vgl. Baird, William: „Visions, Revelation, and Ministry. Reflections on 2Cor 12:1–5 and Gal 1:11–17“, in: Journal of Biblical Literature 104 (1985) S. 651ff, hier S. 652. 38 Paulus verwendet in diesen wenigen Versen verschiedenste Begriffe: „Erscheinungen und Offenbarungen“ (optasias kai apokalypseis), Emporreißung (harpagesis). Aus der vagen Beschreibung lässt sich nicht bestimmen, welche Art von biblischem Transzendenzerlebnis (Erscheinung, Aufstieg, Vision, Traumgesicht) hier das Vorbild war. Vgl. Heininger, Bernhard: Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie, Freiburg 1996. 39 Vgl. Klauck, Hans-Josef: Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum, Tübingen 2008, S. 144.
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Wenn Paulus wollte, dass Erleuchtungen nicht als Argument für religiöse Autorität genommen werden sollen und dass er gar nicht darüber reden wolle, dann hat er das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigte. Denn wer sagt, dass er etwas gehört hat, es aber nicht sagen will; wer erzählt, dass er im dritten Himmel war, aber nicht schildert, wie es dort aussieht, der weckt die Neugier, die er verhindern will. Nichts ist so interessant wie ein angedeutetes Geheimnis!
III.
Multiplikationen
Der bekannteste und damals sehr verbreitete apokalyptische Text, das Henochbuch (1Hen), kannte trotz seiner angelologischen und kosmologischen Ausführlichkeit nur einen Himmel.40 Aber mit der Paulus-Passage ist der Singular des Himmels endgültig verloren. Von nun an wird spekuliert werden, wo es wie viele Himmel gibt und wie sie heißen, wenn der dritte von Paulus mit ‚Paradies‘ bezeichnet wird. Dieses Interesse wird durch die Erwähnung von „vielen Wohnungen im Hause“ des himmlischen Vaters im Johannes-Evangelium 14,2 verstärkt.
40 Der erste Teil, das sogenannte Wächterbuch 1Hen 1–36 (ca. 200 v. Chr.), enthält die klare Entgegensetzung zweier Bereiche: den Himmel, die Wohnung der Engel und die Erde, auf der die Menschen leben. Die Vermischung beider Bereiche bildet die Ursünde Azazels und den Grund für den Fall der Wächterengel. Spätere Teile des Buches beschreiben den einen Himmel mit Säulen, Seiten und seiner Höhe (vgl. 1Hen 18) bzw. mit seinen Kammern (vgl. 1Hen 47). Allerdings finden sich vereinzelte Andeutungen eines ‚oberen Himmels‘ (1Hen 39) und in der Endvision vom Aufstieg des Menschensohnes die Erwähnung eines „Himmels der Himmel“ (1Hen 70). Vgl. Uhlig, Siegbert: „Das äthiopische Henochbuch“, in: Jüdische Schriften in hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 5: Apokalypsen, Gütersloh 1984, S. 461ff. Das Thomasevangelium (ca. 50–100 n. Chr.) bewegt sich in der Vorstellung der Hebräischen Bibel, dass es über dem Himmel einen weiteren Himmel gibt. Vgl. EvTh 11,1: „Dieser Himmel [pe] wird vergehen, und der darüber [t-pe] wird vergehen!“ Auch die Apokalypse des Johannes (um 100 n. Chr.) nimmt sich angesichts vergleichbarer Texte nüchtern aus: Sie kennt nur einen Himmel. Er wölbt sich wie eine Buchrolle, die sich in 6,14 sogar zusammenrollt, über der Erde; alles darunter ist am Himmel, alles darüber ist im Himmel. Die endzeitlichen Katastrophen und Visionen spielen stets zwischen Erde und dem Himmel. Dreimal wird dem Seher ein Blick in den Himmel gewährt (vgl. Apk 4,1; 12,7; 19,11), ein paarmal ertönt eine Stimme aus dem Himmel (vgl. Apk 10,8; 16,1; 18,4). Ohne expliziten Ortswechsel werden besonders eindrückliche Zeichen im Himmel geschildert (Drachenkampf, die Erwählten Totengericht, vgl. Apk 12; 14; 20). Statt einer Aufschichtung von Himmeln beschreibt die Endvision die Ersetzung des ersten Himmels durch einen neuen Himmel (vgl. Apk 21,1).
90 1.
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Vom Dreier- zum Siebenerhimmel – Das Testamentum Levi
Eine der ältesten Erwähnungen eines dritten Himmels ist das ‚Testament des Levi‘ aus dem ‚Testament der zwölf Patriarchen‘, einem jüdischen Text, der im ersten oder zweiten Jahrhundert christianisiert wurde. Diese Quelle wird bereits von Origenes erwähnt und hat seine Ursprünge im zweiten Jahrhundert.41 Die zwölf Söhne Israels werden darin als Idealfiguren für Glaubenstreue und Gerechtigkeit gepriesen. Eine Passage darin, TestLevi 2–3, erzählt von zwei Träumen des Levi, in denen er eine Reise durch die verschiedene Himmel erlebt und oben als Priester eingesetzt wird. Bei seinem Aufstieg wird er von einem Engel begleitet42. Im ersten Himmel sieht er oben hängendes Meer; der zweite erscheint noch herrlicher und reicht weit in die Höhe. Vor dem Weitergang erklärt ihm der angelus interpres, dass diese Höhe in einen weiteren Himmel rage.43 Er erläutert von unten beginnend: Der unterste enthalte die Taten der Ungerechten; der zweite die gerichtsvollziehenden Mächte; der darüber liegende (also dritte) die Engelarmeen; der oberste (also der siebte), „große Herrlichkeit hoch über jeder Heiligkeit“ (3,4; vgl. 5,1); der darunter liegende (also sechste) die Engel des Angesichts mit ihrem Räucherwerk; der darunter liegende (also fünfte) die Engel, welche die Taten nach oben tragen; und der darunter liegende (also vierte) die Throne und Mächte, die Gott Lob singen. Schon aus der Umkehrung der Er-
41 Die extrem komplexe Debatte um seine Datierung kann hier nicht dargestellt werden. Viel spricht für die Annahme, dass TestLevi zusammen mit Levi-Texten der Kairoer Genizah auf eine aramäische Quelle (Aramaic Levi Document) zurückgeht, die bereits bei den Autoren der Qumran-Fragmente bekannt war. Vgl. Himmelfarb, Martha: Ascent to Heaven in Jewish and Christian Apocalypses, New York/Oxford 1993, S. 30; Slingerland, H. Dixon, The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Critical History of Research, Missoula 1977; Ulrichsen, Jarl H.: Die Grundschrift der Testamente der zwölf Patriarchen. Eine Untersuchung zu Umfang, Inhalt und Eigenart der ursprünglichen Schrift, Stockholm 1991; de Jonge, Marinus: Levi in Aramaic Levi and in the Testament of Levi, 1997, in: http://orion.mscc.huji.ac.il/symposiums/ 2nd/papers/deJonge97.html. 42 „Da befiel mich Schlaf, und ich sah einen hohen Berg und ich befand mich auf ihm. Und siehe: Die Himmel wurden geöffnet. Und ein Engel des Herrn sprach zu mir: Levi, tritt herein! Und ich betrat den ersten Himmel, und ich sah dort Wasser hängen. Und danach sah ich einen zweiten Himmel viel herrlicher und glänzender. Denn es war in ihm eine grenzenlose Höhe. Und ich sprach zu dem Engel: Warum ist das so? Und der Engel sagte zu mir: Wundere dich nicht über dieses, denn du wirst einen anderen Himmel sehen, (noch) glänzender und unvergleichlich. Wenn du dort hinaufgelangst: Wirst du vor dem Herrn stehen, und du wirst sein Diener sein.“ TestLevi 2, 5–10a (Übersetzung und Textkritik in: Becker, Jürgen: „Die Testamente der zwölf Patriarchen“, in: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 3: Unterweisung in lehrhafter Form, Gütersloh 2001, S. 48. 43 Einige Manuskripte beschreiben die Fortsetzung des zweiten Himmels als dritten Himmel. Vgl. Kugel, James L.: „Testaments of the Twelve Patriarchs“, in: Feldman, Louis H./ Kugel, James L./ Schiffman, Lawrence H. (eds.): Outside the Bible. Ancient Jewish Writings Related to Scripture, Vol. 2, Philadelphia 2013, 1697–1855, S. 1725.
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zählordnung (Himmel 1, 2, 3, 7, 6, 5, 4) deutet sich an, dass ein Redaktor die erste Version in eine detailliertere umgearbeitet hat.44
Testamentum Levi (100-200 CE)
3
2
1
1
2
3
4
5
6 7
Der Text kann als hervorragendes Beispiel für die Vervielfachung von Himmeln dienen. Die aramäische Quelle hatte wahrscheinlich nur einen Himmel – entsprechend ihrer Anlehnung an das Henochbuch45 – vorgestellt, kannte aber mehrere Arten von Engeln. Danach wurde ein dreifach geschichteter Himmel entworfen, was dem gängigen Schema ‚unterer irdischer Himmel – mittlerer Bereich der Engel – obere Wohnstatt Gottes‘ entspricht. Durch die verschiedenen Dienste der Engel entschied sich der Redaktor, weitere Himmel zwischen dem obersten und dem mittleren Himmel einzufügen: Die Angesichtsengel (sechster Himmel) erhalten für ihren rationalen Opferkult46 ebenso einen eigenen Bereich wie die Transportengel (fünfter Himmel), welche die guten Taten der Menschen 44 Der Bruch zwischen Darstellung von unten nach oben und von oben nach unten wird in den Textvarianten besonders deutlich, wo der fünfte Himmel zweimal erläutert wird: zuerst als Ort der ‚Heiligen‘, dann als Ort der Throne und Mächte. Anders sieht das Peter Schäfer, der Throne und Angesichtsengel in denselben Himmel setzt. Schäfer, Peter: „From Cosmology to Theology. The Rabbinic Appropriation of Apocalyptic Cosmology“, in: Elior, Rachel/ Schäfer, Peter (Hg.): Creation and Re-Creation in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of his Seventieth Birthday, Tübingen 2005, S. 39ff, hier S. 54. 45 Vgl. Himmelfarb: Ascent to Heaven in Jewish and Critical History, S. 32. 46 Diese typisch christliche Wendung findet sich auch in Justins erster Apologie 46 (um 150).
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Johann Ev. Hafner
auf Nachfrage der oberen Engel präsentieren.47 Dasselbe geschieht am unteren Rand des vormals mittleren Himmels: Der erste Himmel bleibt den Menschen, v. a. ihren Untaten, zugeordnet, der zweite wird für die Elemente48 bzw. die Mächte der Schlachtreihen eingerichtet, die von den Gerichtsengeln im dritten Himmel und von den Thronen im vierten Himmel unterschieden werden. Insgesamt türmen sich nun sieben Himmel auf. Offensichtlich führt die Angelologie zur Ausweitung der Kosmologie. Sie ist nicht einfach eine räumliche Übertreibung, sondern folgt der Notwendigkeit, die verschiedenen Gerichtsvorkehrungen und Engelsdienste unterzubringen. Jede transzendente Tätigkeit – Tatenspeicherung, Gerichtsvorbereitung, Gotteslob, Opferdarbringung – wird nicht nur funktional, sondern auch kosmologisch differenziert. Manche Forscher meinen, die Siebenzahl auf die babylonische Astrologie zurückführen zu können49, und folgern, dass die Autoren eine vorliegende Struktur auszufüllen hatten. Das erklärt aber nicht, dass im Verlauf der ersten Jahrhunderte auch Modelle mit fünf oder neun Himmeln entstanden.50 Viel besser lässt sich die Himmelsvermehrung aus der Tendenz verstehen, Liturgie immer weiter zu verfeinern. Was auf Erden in der Gottesverehrung nur angedeutet ist, kann im Himmel breit entfaltet gedacht werden: Lob, Fürbitte und Opfer werden in den drei oberen Himmeln 4 bis 6 dargebracht, aufs Irdische bezogene Vorgänge wie Erinnerung, Gericht und Strafe finden in den unteren drei Himmeln statt. Der erste Himmel ist durch ein hängendes Meer von den anderen Himmeln getrennt und – je nach Manuskript – Speicher für Blitze, Schnee und Hagel. Er scheint noch ein Teil der irdischen Welt zu sein, sowohl der Bereich, aus dem die Niederschläge kommen, als auch ein Spiegel, in dem sich die bösen Taten der Menschen reflektieren. Er enthält keine angelische oder gar göttliche Ausstattung. Man könnte daher von einer immanenten Transzendenz sprechen. Sie stellt keine eigene Welt dar, wohl aber den räumlich und zeitlich entzogenen Bereich der hiesigen Welt: die bewölkten Himmel und die irreversible Vergangenheit. Dieser Himmel symbolisiert das Problem der Begrenzbarkeit des Endlichen. Die 47 Vgl. Hollander, Harm W./de Jonge, Marinus: The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Commentary, Leiden 1985, S. 138f. 48 Hier weichen die Manuskripte stark voneinander ab. Die spätere Schrift 2Hen setzt Schnee und Eis in den ersten Himmel, um im zweiten die gefallenen Engel zu platzieren. 49 Vgl. die Angabe zu Adela Yarbro Collins in: Himmelfarb: Ascent to Heaven in Jewish and Critical History, S. 32f. 50 Die griechische Baruchapokalpyse erzählt von einer Himmelsreise durch fünf Himmel, das slawische Henochbuch (2Hen) und die Apokalypse des Abraham durch sieben Himmel. In gnostischen Texten, wie dem Apokryphon des Johannes, befinden sich die sieben Himmel in der materiellen Welt, wohingegen die obere Welt der Lichtfülle von Vierer- oder ZwölferHervorgängen aus Gott geschichtet wird.
Die Himmel. Wege zur Vervielfältigung von Welt im antiken Christentum
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irdische Welt wird von Grenzen umgeben und der Himmel ist die Membrane, dessen Unterseite zur Immanenz gehört, die Oberseite zur Transzendenz. Wer eine Grenze aber als Grenze erkennt, der hat sie schon überschritten und muss weitere Himmel annehmen. Bei der Beschreibung der Himmel herrscht Inflationsgefahr. Wir haben oben angedeutet, dass 2Kor 12 wie ein Stimulans wirkte, das in den nächsten Jahrhunderten zu weiteren Paulusapokalypsen geführt hat, u. a. zur griechischen Paulusapokalypse, einem ungemein verbreiteten Text (4./5. Jahrhundert), der später in vielen damaligen Sprachen vorlag und in seiner lateinischen Fassung Visio Pauli Einfluss auf mittelalterliche Jenseitsvorstellungen genommen hat, u. a. auf Dantes Göttliche Komödie. Weniger bekannt ist die koptische Paulusapokalypse, die erst Mitte des letzten Jahrhunderts neben anderen Apokalypsen in einem Codex der Nag Hammadi-Texte (NH 5,2) gefunden wurde.
2.
Vom Siebener- zum Zehnerhimmel – die koptische Paulusapokalypse
KoptApkPaul51 entspricht den Schriften, gegen die Irenäus von Lyon um 180 n. Chr. polemisiert.52 Daher kann man diesen Text mit gutem Grund um 150 datieren. Inhalt: Die in 2Kor 12 angedeutete Erleuchtung wird auf Paulus’ Weg nach Jerusalem zu seinen „Mit-Aposteln“ verlegt. In der Rahmenhandlung befindet er sich gerade auf dem Berg von Jericho. Ein Kind, welches sich als der Heilige Geist vorstellt,53 tritt an ihn heran und mahnt ihn, er solle seinen Geist erwecken. Anstatt in die Ferne und ins Horizontale zu schweifen, weist ihn das Kind an, nach oben zu blicken, was Paulus tut. Sogleich wird er in den dritten Himmel erhoben. Von dort steigt er in den vierten Himmel, wo er auf seine irdische Existenz und die Mit-Apostel in der irdischen Welt hinunterschaut. Dann sieht er, wie göttergleiche Engel eine Seele auspeitschen und eine Art Gerichtsver51 Zu unterscheiden von der koptischen Fassung der bekannten Visio Pauli! Text in: Nag Hammadi Deutsch. Eingel. u. übers. v. Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für KoptischGnostische Schriften, hg. v. Schenke, Hans-Martin/ Bethge, Hans-Gebhard/Kaiser, Ursula Ulrike, New York/Berlin 2001. 52 Irenäus formuliert das Problem, das koptApkPaul löst: Nach gnostischen Vorstellungen müsste der materielle Paulus im Bannkreis des psychischen Demiurgen verbleiben und könnte nur bis zum dritten Himmel aufsteigen. Irenäus zitiert: Paulus hätte mittels seines „inneren Menschen“, der „für den Demiurgen unsichtbar sein soll“, weiter gehen müssen, um mehr zu erfahren. Genau das macht Paulus in ApcPaul! Irenäus will dagegen festhalten, dass der Mensch auch in seiner Leibverfassung in den Himmel gelangen kann. 53 Im Übrigen hatte auch der Gnostiker Valentinus eine Kindesvision (Fragment 7 = Hippolyt: Refutatio 6,42,2). Dort stellt sich das Kind als der Logos vor.
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handlung über sie halten. Drei Zeugen werden gehört, was angesichts der Vergehen Zorn, Mord und der moralischen Blindheit nicht zur Entlastung der Seele führt. Sie wird in den Leib zurückgestoßen.54 Aufgestiegen in den fünften Himmel – die Mit-Apostel begleiten ihn nun – begegnet ihm ein großer Engel mit einem Stab, der für den Gerichtsvollzug steht. Der sechste Himmel wird von einem Pförtner bewacht, aber der Geist bahnt den Weg. Im siebten Himmel begegnet er einem Greis,55 der ihn fragt, wo er hingehe und wo er herkomme. In einem kleinen Dialog offenbart Paulus, dass er eigentlich dorthin gehen wolle, wo er herkomme.56 Er führt weiter aus, er wolle zu den Toten, die in der Gefangenschaft schmoren, um sie zu befreien. Der alte Mann57 droht, dass er den siebten Himmel nicht wieder verlassen könne, da er von den Herrschaften – ein Name für die Weltenengel – umgeben sei. Doch durch ein nicht näher erklärtes Zeichen bahnt sich Paulus den Weg weiter nach oben. Im achten Himmel begegnet er der Ogdoas,58 der göttlichen Achtfach-Entfaltung. Paulus übersteigt nun auch noch seine Mit-Apostel, um zu nicht weiter genannten Mit-Geistern zu gelangen.59 Und selbst hier hört die Apokalypse nicht auf, sondern steigert sich weiter in den neunten und schließlich in einen zehnten Himmel, wo Paulus seine „Mitgeister“ trifft. Sie grüßen ihn, als ob sie auf ihn gewartet hätten; dort oben ist die Gemeinschaft – im Vollsinn des Wortes Konspiration – der Pneumabesitzer.
54 Ein Verstorbener wird also nicht in die Hölle verbannt, sondern muss über Reinkarnation, genauer Wiedereinleibung, zurückkehren und es von neuem versuchen. Das Gericht ist kein eschatologisches Geschehen, sondern eine Zwischenprüfung auf dem Weg nach oben. Vgl. koptApkPaul NH 5,2,22. 55 Vgl. Dan 7,9, der Hochbetagte im weißen Gewand. 56 Der Erlösungsweg als Rückkehr zum Ursprung allen Seins ist ein gnostisches Motiv. 57 Der Greis im siebten Himmel als Herrscher über die „Mächte und Gewalten“ (die aus anderen Paulusbriefen bekannten weltbestimmenden Kräfte), bleibt in seinem erdverhafteten Blick gefangen. Dem eingeweihten Leser ist klar, dass es sich um den Demiurg handelt, der sich für die üble materielle Welt verantwortlich zeichnet. Er ist ein ziemlich blinder und blöder Gott, der nicht weiß, was er tut, wenn er erschafft. Seine Dummheit ermöglicht es Paulus, ihn zu überlisten. Offensichtlich weiß der Greis nicht, dass über ihm noch weitere Himmel liegen, spricht er doch nur über Paulus’ Rückkehr. 58 Der koptische Text übernimmt den griechischen terminus technicus Ogdoas. Nach Irenäus: Adversus haereses 1,11,1 sind das die zwei Tetraden Arretos/Sige und Nous/Aletheia sowie Logos/Zoe und Anthropos/Ekklesia. 59 Das ist eine versteckte Kritik an den großkirchlichen Apostelautoritäten. Klaucks Deutungs‚Schlüssel‘ (vgl. Klauck: Die apokryphe Bibel, S. 155f.), hier werde unter Bezug auf Eph 4,9f. Paulus zum Seelengeleiter und Mittlerwesen, widerspricht dem gesamten Duktus des Textes, der nach oben führt. Beim Dialog im siebten Himmel dient Paulus’ Auskunft über sein Reiseziel nur zur Ablenkung. Der Greis fällt auch darauf herein und blickt nach unten. Der Text spielt mehrfach mit den Blickrichtungen. Die verurteilte Seele im vierten, der Greis im siebten, Paulus im dritten Himmel blicken nach unten. Im ersten und sechsten Himmel blickt Paulus nach oben. Nur wer aufblickt, gelangt nach oben.
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Die Himmel. Wege zur Vervielfältigung von Welt im antiken Christentum
Coptic Apocalypse of Paul (ca. 150-200 CE)
Paul 1
2
3
4
5
6 7
10 8 9
Die Pointe des Vorbildtexts 2Kor 12 wird vollkommen umgedreht: Für den historischen Paulus findet die christliche Existenz im Fleisch statt, welches durch einen „Stachel“ daran erinnert wird, dass es Fleisch ist und bleibt. Der Ausflug in den Himmel wird nur als Episode geschildert. Hingegen schildert die Paulusapokalypse die Himmel als die wahre Welt,60 die Erde als Fluchort gefallener Seelen. Die Mehrzahl der Himmel ermöglicht es, die noch irdisch orientierten Himmel von den transzendenten Himmeln zu unterscheiden. Die Erde-HimmelDifferenz kann damit noch einmal nach oben projiziert und dupliziert werden. Dieser Unterscheidungsvorgang ist beliebig wiederholbar, so dass feinste Stufenfolgen aus dem Immanenten ins Transzendente entstehen.61 Damit kann Ethik vertagt werden: Es kommt weniger auf die moralische Bewährung in der 60 Erleuchtung besteht dann nicht einfach in einer einzelnen Inspiration hier auf Erden – Gnostiker tragen ohnehin einen Geistsamen in sich, sondern in einer Himmelsreise des Geistes. Der Geistsamen ist aber nur latent vorhanden, er fängt an zu strahlen, wenn er in die richtigen Sphären gelangt. Erleuchtung ist dann das von-selbst-zum-strahlen-Kommen. 61 Bereits im dritten Himmel spaltet sich die Perspektive: Paulus blickt nach unten und sieht in der Schöpfung sich und die zwölf Apostel, die er eben noch oben sah. Er existiert in einer zweifachen Seinsweise: Die irdisch-leibliche unten und spiegelgleich die himmlisch-geistige oben. Eigenartigerweise begleiten ihn die zwölf Apostel auf seinem Weg durch die Himmel, so dass man von drei Seinsweisen reden muss: dem unerleuchteten Zustand auf Erden, dem erwachenden Zustand auf der Himmelsreise und dem vollerleuchteten Zustand ganz oben. Man kann hierin bereits die gnostische dreiteilige Anthropologie sehen: Fleisch, solange man unter dem ersten Himmel bleibt; Seele, wenn man sich auf dem Weg durch die Himmel befindet; Geist, sobald man im obersten Himmel ankommt.
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irdischen Biographie an, da Untaten in einem unteren Prüfhimmel verhandelt werden und die Wanderseele neu beginnen muss. Von der koptApkPaul aus gesehen ist die ursprüngliche Paulus-Entrückung in 2Kor 12 ein Misserfolg: Paulus musste im dritten Himmel umdrehen. Der gnostische Text hingegen erzählt, was der historische Paulus verheimlicht hatte: Im Geiste ist er noch sieben Himmel weiter gereist. Hier liegt eine Logik der Überbietung vor: nicht drei, nicht fünf oder sieben, zehn Himmel sollen es sein. Von seiner erhöhten Warte erscheinen die Hoffnungen der Gemeindechristen plötzlich nichtig und klein. Wenn die Vervielfachung von oberen Wirklichkeitsstufen einmal begonnen hat, ist sie nicht mehr zu stoppen. Zwar liegt noch kein Begriff von unendlicher Reihung und Schichtung vor, aber der Text liebt es, immer weiter zu eskalieren. Andere gnostische Systeme komplizieren62 die Himmelsschichtung noch weiter durch die Aufteilung in obere Lichtwelt, untere Lichtwelt, Mitte, untere Welt, Materie. Von Basilides sind nur wenige Fragmente und Referate überkommen. Auch wenn seine Darstellung bei Irenäus63 dessen eigener Häretikersystematik folgt, ist doch glaubhaft, dass Basilides 365 Himmel angenommen hat, von denen jeder ein Machwerk des jeweils höheren ist. Der höchste Gott rückt so in immer weitere Ferne.64 Dies umso mehr, wenn die Himmel nicht als Glissando von Übergängen vorgestellt werden, sondern als Aneinanderreihung von Barrieren. Die Multiplikation von Himmeln nivelliert nicht zwangsläufig die Differenz von immanenter und transzendenter Welt, sie kann auch zu deren Spreizung führen. Umso wichtiger werden Vorstellungen, diese Kluft zu überwinden. Als anschauliches Beispiel soll der wenig bekannte Text „Die Himmelfahrt Jesajas“ dienen.
62 Diese Tendenz ließe sich auch an jüdischen Texten aufzeigen. Einen Kulminationspunkt bildet „Sefer ha-razim“, ein Katalog magischer Rituale aus dem 7./8. Jahrhundert, dessen Anfänge in das 3. Jahrhundert zurück reichen. Dieses populäre Werk geht von der SiebenerGliederung der Himmel aus und differenziert diese in Lager, Dienste und Stufen. Auch hier werden die unteren Himmel dem Gericht, die oberen dem Gotteslob zugeordnet. Der siebte Himmel bleibt dem Thron Gottes und seinen monströsen Thronengeln vorbehalten. Vgl. Rebiger, Bill/ Schäfer, Peter (Hg.): Sefer ha-Razim. Das Buch der Geheimnisse, Bd. 2: Einleitung, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2009. 63 Vgl. Irenäus: Adversus haereses 1,24,3–7. Anders bei Hippolyt: Refutatio 7, wonach Basilides drei obere Filiationen, eine mittlere Achtheit (Planetensphären) und eine untere Siebenheit angenommen habe. 64 Als weiteres Bespiel und enge Parallele kann das vor kurzem rekonstruierte Judas-Evangelium (ca. 150–200 n. Chr.) dienen. Darin erläutert Jesus seinen Jüngern die Entstehung der Welt aus mehreren Lichtwolken. Die erste davon gliedert sich in 12 Reiche, davon jedes in 6 Himmel, von denen jeder 5 Firmamente enthält. Jedes Reich, jeder Himmel, jedes Firmament wird von je einem Lichtwesen und unzähligen Engeln bewohnt. Vgl. EvJud 14–22.
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3.
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Überwinden der himmlischen Entfernung – Die Ascensio Jesaiae
AscJes65 hebt die Himmelsvervielfachung auf ein theologisch höheres Niveau. Seine Grundschicht besitzt Parallelen zu Qumran-Texten. Die Rahmenhandlung bildet die schon in Hebr 11,37 erwähnte Legende vom Martyrium des Propheten Jesaja unter König Manasse. In diesen Bericht (AscJes 1–2 und 5) hat ein Redaktor eine Himmelsvision Jesajas eingefügt (AscJes 3–4 und 6–11), ohne sich Mühe zu machen, die Übergänge zu verbergen.66 Derselbe oder ein weiterer Redaktor hat christliche Passagen interpoliert. Der Grundtext war in der Spätantike sowohl auf christlicher (Origenes, Epiphanius, Hieronymus) als auch auf jüdischer Seite ( jSanh X,2; bSanh 103b) 67 bekannt; wie breit seine Wirkung war, lässt sich aber nicht rekonstruieren. Man muss annehmen, dass der Endtext wegen seines häretischen Gehalts vor allem in heterodoxen Gruppen gelesen wurde.68 Aufgrund seiner noch unbefangenen Engelchristologie und der Nähe zu Inthronisationsvorstellungen in den Henoch-Texten und der frühen Abstiegsund Erhöhungschristologie stammt er meiner Meinung nach aus dem 1. oder 2. Jahrhundert. Inhalt: Der Text erzählt den Aufstieg des Propheten Jesajas durch das Firmament und die sieben Himmel. Dabei bemerkt er die Zweiteilung der unteren Himmel in eine edlere und mindere (linke) Seite. Er schreitet staunend durch die immer lichter und weiter werdenden Sphären, wobei er jeweils eine trennende Lufthülle (offensichtlich hat jeder Himmel sein eigenes kleines Firmament) durchwandern muss. Er bewundert die leeren Kronen und Throne in den oberen Himmeln, die für die Erlösten sind. Auf seiner Reise wird er von einem Erklärengel begleitet, der sich unten noch „Herr“ und oben „Genosse“ nennen lässt. Wie der angelus interpres in der Johannesapokalypse verbietet dieser dem Propheten, die Throne und Gestalten in den ersten Himmeln anzubeten, obwohl sie ihm herrlich erscheinen.69 Einschließlich des fünften Himmels übertrifft jeder Himmel den anderen an Herrlichkeit und Erkenntnisklarheit, und in jedem Himmel übertrifft die Herrlichkeit des Throns in der Mitte die der Engel zur 65 Textausgabe und Kommentar: Hammershaimb, Erling: „Das Martyrium Jesajas“, in: Jüdische Schriften in Hellenistisch-Römischer Zeit, Bd. 2: Unterweisungen in erzählender Form, Gütersloh 1973, S. 15ff. 66 Nur in AscJes 1,5–6a kündigt der Redaktor an, dass später noch eine Vision folgen werde. 67 Vgl. Hammershaimb: Das Martyrium Jesajas, S. 17 und 19. 68 Die lateinische Rezension stammt übrigens aus katharischen Kreisen. Vgl. Schneemelcher, Wilhelm: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolische Apokalypsen und Verwandtes, 5. Aufl., Tübingen 1989, S. 548. 69 Bereits im zweiten Himmel hat dieser die Anbetung des dortigen Thronengels durch den Propheten zurück gewiesen. Vgl. AscJes 7,21: „Bete nicht an weder Engel noch Thron, die zu den sechs Himmeln gehören, weshalb ich [der anonyme Begleitengel, Christus incognito] gesandt bin, dich zu führen, bis ich es dir sagen werde im siebten Himmel.“
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Rechten und diese wiederum die Herrlichkeit der Engel zur Linken. So kommt es sukzessive zur Transzendenzsteigerung, bis er – ganz oben angekommen70 – die Dreiheit erblickt, den „Herrn der Herrlichkeit“ und daneben seinen „Geliebten“ sowie den „Engel des Geistes“, eine frühe Form der Trinität.71 Jetzt kehrt sich die Bewegungsrichtung um: Der Herr gebietet dem Begleitengel, der sich nun als Christus zu erkennen gibt, er solle bis zum Firmament und zur Erde hinabsteigen. Das ist die volkstümliche Narration des Inkarnationsmotivs. Die Evangelien schweigen sich darüber aus, wie die Menschwerdung von statten ging. Auch das theologisch reflektierte Johannesevangelium spricht einfach vom Herabkommen des Sohnes „vom“ oder „aus“ dem Himmel.72 Umso größer war das Bedürfnis, den Abstieg anschaulich zu machen. Vom siebten Himmel aus begibt sich Christus in die unteren Himmel und nimmt dabei Gestalt der jeweiligen Sphäre an, damit ihn keiner der Engel erkenne.73 Alles soll verborgen bleiben bis zu dem Tag, wenn Gott am Ende seine Stimme erhebt.74 Hierauf beginnt ein zäher Be70 Im siebten Himmel muss Jesaja seinen Leib verlassen und ein „höheres Gewand“ (AscJes 9,9) anziehen, um noch aufnahmefähig zu bleiben. Als er vor den Herrn tritt, um ihn anzubeten, nimmt er selbst die Gestalt eines hohen Engels an (neben allen Engeln, allen Gerechten und den Urvätern Adam, Abel, Seth). Vgl. AscJes 9,28. 71 Gott wird hier eher als Binität plus Geist vorgestellt. Der „Engel des Heiligen Geistes“ ist einer unter weiteren Gott umgebenden Wesen. Er erfüllt die Funktion eines himmlischen Protokollanten, überragt aber darin die anderen höchsten Engel. Vgl. AscJes 9,36. Er selbst betet Gott an, sitzt aber in der Endvision zur Linken Gottes. Die Herrschaft über alle Fürsten und Engel (auch über den Engel des Heiligen Geistes!) wird von Gott zusammen mit Christus ausgeübt. Vgl. AscJes 10,11. 72 ek/apo tou ouranou Joh 3,13, in 6,33 einfach anôthen „von oben“. Aus Angst vor Kosmologie haben Theologen immer wieder Vorstellungsverbote verhängt. Vgl. nur Bietenhard: Die himmlische Welt im Urchristentum und Spa¨ tjudentum, S. 84. Der Himmel sei nur als Woher des Wirkens Gottes zu verstehen, nicht als Wo seines Aufenthalts. 73 Narrativ wird solche Täuschungschristologie bereits Basilides zugeschrieben und im Apokryphon des Johannes entfaltet, wenn der Seher erstmals Christus schaut: „(Und siehe, ich) sah im (Licht ein Kind; es stand) bei mir. Als ich (es) aber betrachtete, (wurde) es wie ein alter Mann. Und er (änderte seine) Gestalt (ein weiteres Mal) und wurde zu einem kleinen (Menschen). Es war (keine Vielheit) vor mir, sondern es war da eine (Gestalt) mit vielen Formen im (Licht). Und die (Erscheinungen) offenbarten sich gegenseitig, (und) die (Gestalt) hatte drei Formen. […] Sei nicht kleinmütig. Ich bin der, der (mit euch ist) alle Zeit. Ich (bin der Vater), ich bin die Mutter, ich bin der Sohn.“ AkrJoh 2,1–9.11–14 (Nag Hammadi II,1. Übersetzung Lüdemann/Janßen). Die Polymorphie Christi erklärt hier nicht nur die Angelophanie des Erlösers, sondern auch das dreifaltige Wesen Gottes. Allerdings darf in der Gnosis nicht mehr von ‚Wesen‘ im dogmatischen Sinn gesprochen werden, da alles Bild und Erscheinung ist, das Wesen Gottes bleibt unerkennbar und dem Nous vorbehalten. Dies ist der Grund, weshalb die gnostische Theologie in einen Bilderreigen zerstiebt. 74 Wir haben es hier mit einem in die präinkarnatorische Zeit versetztes Messiasgeheimnis zu tun. Vgl. AscJes 11,39: „Und Jesaja ließ ihn [Hiskja] schwören, daß er dies dem Volke Israel nicht erzählen würde […]“ Mehrfach wird auf der Himmelsreise Jesaja erklärt, dass er den Namen des „Geliebten“ nicht hören wird, bis er oben angekommen ist. Vgl. auch AscJes 11,17: „daß er allen Himmeln und allen Fürsten und jedem Gott dieser Welt verborgen war.“ Das Motiv, mehrere Himmel unerkannt zu passieren, war in gnostischen Kreisen beliebt, wie zwei
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richt, wie Christus in den sechsten, in den fünften etc. Himmel absteigt. Christus zeigt sich noch in Himmel 7 und 6 in seiner herrlichen Gestalt, in Himmel 5 und 4 anverwandelt er sich der Gestalt der dort waltenden Engel, ab Himmel 3 muss er jeweils ein Losungswort sprechen. Er passiert das von Satan, „Fürst der Welt“, beherrschte Firmament, wird den Luftengeln darunter gleich und kehrt in die Jungfrau Maria ein. Nach einer summarischen Erzählung des irdischen Wirkens Christ75 dreht sich die Bewegungsrichtung ein weiteres Mal. Unmittelbar nach der Kreuzigung und dem Abstieg zum Engel der Unterwelt beginnt der Rückstieg durch die Sphären hinauf als Triumphzug. Diesmal erscheint Christus in den Himmeln in seiner eigenen Gestalt, und jetzt erkennen ihn Satan und alle Engel als ihren „Herrn“. Es bedarf keines Kampfes, auch und gerade am Firmament, wo die streitsüchtigen Engel wohnen.76 Die Überwältigung besteht vor allem darin, dass sie sich überlistet wissen, haben sie doch Christus nicht absteigen sehen. An AscJes sind zwei gegenläufige Tendenzen sichtbar. Zum einen folgt dieser Text durch mehrfache Unterscheidungen dem Trend zur Himmelsdifferenzierung: sieben Himmel; oben hierarchisiert in Gott, Christus, Geist, Gerechte; unterschieden in die fünf unteren und die zwei oberen Himmel; unterschieden in Luftschicht und eigentlichem Wohnort; unterschieden in linke und rechte Seite; unten abgegrenzt durch das Firmament. Dadurch rückt Gott in weite Ferne. Zum anderen: Die Vielheit der Himmel macht den Abstand von Gott und Welt als ein transzendentales Glissando vorstellbar.77 Der Abstand zwischen Gott und Welt wird durch Christus mittels List überbrückt; nur er scheint den Gesamtaufbau und die notwendigen Passwörter zu kennen.78
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weitere Texte aus dem 2. Jahrhundert belegen. Vgl. Evangelium der Maria EvMar 9,2 (die Seele steigt unerkannt ab, aber sichtbar auf); Dialog des Erlösers 38,7 (auch Jesus muss sich mühen, aufzusteigen). Mit Textüberlieferungen ist wenig über die damalige Verbreitung ausgesagt, doch zeigt die Tatsache, dass die drei zitierten Texte (AscJes, EvMar, DialSalv) aus verschiedenen Quellen (Codex Berolensis, Nag Hammadi) stammen, dass diese Motive geläufig waren. Vgl. AscJes 11,1–20. Die Passage von der Vita Jesu ist eine christliche Interpolation und fehlt in der lateinischen und in den altslawischen Übersetzungen. Vgl. Vielhauer, Philipp: Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, S. 524. „Und ich sah ihn [den Herrn], und er war im Firmament, aber er hatte sich nicht verwandelt in ihre Gestalt, und alle Engel des Firmamentes und Satan sahen ihn und beteten ihn an.“ AscJes 11,23. Bilder von Rolltreppen in und aus dem Himmel gibt es immer wieder: von der Engelsleiter im Buch Genesis über die Engelshierarchien bei Pseudo-Dionysios bis zum mystischen Einstieg in die innere Geburt bei Jakob Böhme. Aber in diesem Modell bildet die Menschwerdung nur noch die letzte und unterste Wandlung in einer Reihe von Metamorphosen. Hier liegt der häretische Gehalt des Textes: Die ursprüngliche und eigentliche Zuwendung Gottes ist eine In-Spiritualisation in die Gestalt der höchsten Engel. Erst in den unteren und dunkleren Himmelsschichten wird der Abstieg zur Inkarnation.
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Ascensio Jesaja 6-11 (70-200 CE) GOD Angel of the Spirit
triumph
transformation
passwords
Beloved "Lord"
Mary Jes + "Angel" 5
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Der Text muss also das theologische Problem der Entfernung lösen, das er selbst erzeugt hat: Wie bleibt ein transzendentes Wesen erreichbar, wenn es in unerreichbare Himmel erhoben wurde? Irgendwann hat die Vervielfachung der Himmel ihre innere Grenze, will sie nicht an Inflation ersticken.79
IV.
Die Funktion der Vervielfachung von Himmeln
– Sprachpragmatische Funktion: Himmelsvorstellungen dienen dazu, Erzähllücken zu schließen wie im Falle von Paulus’s Erwähnung seiner Entrückung oder im Falle des Pleonasmus „Himmel der Himmel“ in Dtn. Sie bieten den Raum, die antike Kosmologie von den Planetenbewegungen mit dem biblischen Weltbild der Schöpfung zu kombinieren. Und sie erweisen sich als 79 Nicht zuletzt deshalb wurden Himmelsmultiplikationen in der Spätantike kritisiert. Ein prominentes Beispiel war die Häretisierung von Himmelsauf- und Himmelsabstiegen, die man unter dem Namen Origenismus zusammenfasste. Die Synode von 543 beschloss mit ihren 24 Anathematismen gegen die Origenisten, man dürfe nicht sagen, Christus sei den Cheruben ein Cherub, den Seraphen ein Seraph … geworden (viertes Anathema). Dies wurde durch die 15 Anathematismen auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel 553 bekräftigt (siebtes Anathema). Vgl. Evans, James A.: The Age of Justinian. The Circumstances of Imperial Power, London/New York 1996.
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notwendig, wenn man die liturgischen Dienste und Gerichtsrequisiten getrennt unterbringen will. In der Thronwagen-Mystik des Judentums hat dies detailverliebte Zuordnungen ausgelöst, die wir ansatzweise in koptApkPaul und AscJes gesehen haben. – Moralische Funktion: Mehrere Himmel antworten auf die Frage der Gerechtigkeit, ob die Guten und die weniger Guten sich denselben Himmel teilen müssen. Sünder verbleiben in den unteren Sphären, Heilige thronen in TestLevi und AscJes oben; Cicero bringt Tugendhaftigkeit und oberste Sphäre in direkte Verbindung. Allerdings haben sich in der Antike moralisch gestufte Himmel nur schwach ausgebildet. In der Petrusapokalypse tragen die Seligen „den gleichen Glanz“ (grApkPetr 5), während nur die Verdammten nach Gruppen (Lästerer, Ungerechte, Ehebrecher,…) unterschieden und unterschiedlich gefoltert werden.80 – Religionstheoretische Funktion: Himmel dienen der Unterscheidung von Transzendentem und Immanentem. Wenn einmal zwei Himmelsschalen übereinander vorgestellt werden, kann dieser Vorgang immer weiter wiederholt werden. Ein Himmel bildet die Korrespondenz zur Erde. Wie oben so unten – wie unten so oben. Ein zweiter Himmel aber steht – kosmologisch gesprochen – in keinem direkten Kontakt mit der Erde. Er bildet entweder den oberen Teilbereich des ersten Himmels oder eine eigene neue Sphäre. Hat die Duplikation einmal begonnen, steht ihrer Wiederholung nichts mehr im Wege. Ein dritter und vierter Himmel kann angefügt werden, da sie vom Ausgangspunkt entfernt liegen, und je weiter die Erdung in die Ferne rückt, desto unbändiger können sich Teilungsvorgänge entfalten. Zwar werden Symbolzahlen wie Drei oder Sieben oder Zehn als Gliederungsprinzip verwendet, doch bieten diese Gliederungen nur interne Aufteilungen der Himmel, sie beantworten nicht das Problem ihrer Ganzheit. Denn stets bleibt die Versuchung des n+1: ‚Warum nicht einen noch transzendenteren Himmel hinzufügen?‘ Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, die Transzendenzgrenze zu ziehen: am unteren Rand durch die Trennung von Irdischen/Sublunarem und Überirdischen oder am oberen Rand durch die Trennung von Angelischem und Göttlichem. Wenn das Christentum aus der antiken Kosmologie übernimmt, dass das Firmament nur die erste von verschiedenen geschaffenen, unterschiedlich großen Planetensphären bildet, und wenn im Laufe der ersten Jahrhunderte immer klarer definiert wird, dass auch die angelischen Himmelsbewohner keine göttlichen Emanationen, sondern nur Kreaturen sind, dann muss es die obere Grenze deutlicher machen. Deshalb wird im 80 Erst in äthApkPetr wird eine Stufenhölle entworfen: Abgründe, Feuerschlünde, Fäkalgruben, Pfählfelsen, der Reinigungssee Acherusia und der heilige Berg. Aber auch hier gilt: Die Qual wird vielfarbig, die Seligkeit blass geschildert.
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Mittelalter in einer Art Rindenwachstum über dem Fixsternhimmel noch der Kristallhimmel gelegt, darüber als Puffer das primum mobile und darüber das Empyreum. Das Problem dieser religiösen Produktivität ist nicht die anthropologische Kontingenz-, sondern die theologische Transzendenzbewältigung. An irgendeinem Punkt muss eine Religion die Vervielfachung der Himmel begrenzen und den Grenzgedanken eines nicht mehr steigerbaren Himmels einführen. An dieser Stelle müsste man in der Geschichte fortfahren und auf die zwei grundsätzlichen cölestischen Komplexitätsreduktionen hinweisen, die in der Geschichte des Christentums noch folgen werden: entweder die Verinnerlichung des Himmels in der Mystik bzw. der Theosophie,81 oder die Expandierung des Himmels durch Verunendlichung im ‚Das Buch der 24 Philosophen‘82 bzw. bei Nikolaus von Kues. In beiden Fällen werden die Himmel wieder einkassiert.
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81 „Der rechte Himmel ist allenthalben / auch dem orthe / wo du stehest und gehest / wann dein geist die innerste geburt Gottes ergreifft / und durch die Siderische und fleischliche hindurch dringe / so ist er schon im Himmel.“ Böhme, Jakob: „Morgen-Röte im Aufgangk“ [1612], in: Böhme, Jakob: Morgenröte/ De Signatura Rerum, hg. v. van Ingen, Ferdinand, München 2009, S. 19, ähnlich S. 339. 82 „Deus est sphaera infinita.“, so die erste Definition Gottes in: Hudry, Françoise (Hg.): Liber viginti quattour philosophorum, Turnhout 1997, (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis CXLIII A), übersetzt durch Flasch, Kurt: Was ist Gott? Das Buch der 24 Philosophen, München 2011. Vgl. hierzu Sloterdijk: Sphären, Bd. 2: Globen, Frankfurt am Main 1999, S. 435ff.
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Dietmar Mieth
Der Himmel in mir. Die Interiorisierung des Himmels bei Meister Eckhart. „Was oben war, ist innen.“1
Vorausblick „Als Himmel wird ein jenseits der irdischen Welt liegender, transzendenter Ort bezeichnet, der als Wohnstätte Gottes, der Engel, der Heiligen und der mit ewigem Leben belohnten Frommen gilt.“2 In der Neuzeit wird der Himmel auch als erträumter Raum des überzeitlichen Wiedersehens betrachtet. Schließlich setzt sich bei vielen modernen Theologen, freilich ohne kirchliche Bestätigung, die Einsicht eines „Abschieds vom Himmel“ durch: Der Mensch kehrt in Gott zurück, ohne deshalb ein dem irdischen ähnliches zweites Leben zu erhalten. Der Himmel ist eine „mythologische Phantasie“.3 Bei Meister Eckhart (1260–1328) wird der Himmel als göttliche Innerlichkeit des Menschen antizipiert. Bei ihm findet sich die Vorstellung einer Entsprechung zwischen göttlich-intensiver Bemühung, sich im Kern der Seele zu beheimaten, und der Naturmetaphorik, wonach der Himmel fruchtbar dort in die Erde strebt, wo sie am niedersten ist.4 Gott macht es deshalb dem Menschen leicht: Er darf sich niedersetzen und am Boden bleiben, um sich dort finden zu lassen. Heimat findet der Himmel in der „humilitas“, in der demütigen Besinnung auf die Erdhaftigkeit und Endlichkeit des Menschen. Umgekehrt gilt: Ein Durchbruch der Seele zur antizipatorischen Beheimatung im Himmel ist möglich.5 Am Beispiel der „Demut“ und der „Gelassenheit“ zeigt 1 Pr. 14, DW I, 237,9. Zitationsweise für Meister Eckhart: DW= Deutsche Werke, hg. v. Josef Quint, Georg Steer, 5 Bde seit 1936, Stuttgart; LW= Lateinische Werke, derzeit hg. v. Loris Sturlese, 5 Bde; Pr.= Predigt, weitere Abk.: RdU= Reden der Unterweisung; BgT= Buch der göttlichen Tröstung; VeM= Vom edlen Menschen; In Joh= Johannes-Kommentar. Zitiert werden Werk, Bandnummer, Seitenzahl und gegebenfalls Zeilenzahl, bei LWauch die Nummer (n.) des Textes. 2 Bernhard Lang: „Himmel“, in: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hg. v. Peter Eicher, Neuausgabe 2005, Bd. 2, München 2005, 146–152, hier: 146. 3 Vgl. unter Hinweis auf Karl Rahner, Karl Barth u. a. Bernhard Lang a. a. O. 150f. 4 Vgl. Pr.48, DW II, 413–415; Ferner: Pr.54b, DW II, 566,4f. 5 Für diesen Aufstieg ist das Bild der Himmelsleiter Jakobs bei Eckhart durch eine ständige
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Dietmar Mieth
Eckhart, wie man dorthin gelangen kann, indem man sich zurücknimmt und lernt, sich zu „überlassen“. Am Beispiel der „Gerechtigkeit“ zeigt Eckhart, wie „moralisches Sein“ aus dieser Beheimatung entspringt.
1.
Die kosmologische Ortlosigkeit Gottes im Vaterunser-Kommentar
Der Vaterunser-Kommentar ist ein Frühwerk Meiser Eckharts.6 Zunächst spricht Eckhart vom „desiderium“ (Ps. 137,1), dem Begehren, das wir auf den Himmel richten, dann von unserer Würde als Erben des Himmels („dignitatis hereditas“). Dann kommt die zentrale Aussage: „Dic: … hoc dictum pater in caelis… quod caelum vel potius caeli caelorum simus, si patrem deum esse volumus in nobis.“ „Sage, dass dies gesagt ist für uns, damit wir (selbst) Himmel oder vielmehr Himmel der Himmel (1 Könige 8,27) sind, wenn wir wollen, dass Gott in uns der Vater ist.“7 Mit „Vater“ ist hier der Ursprung von allem gemeint. Man darf das nicht bildlich-familiär verstehen. Der Beter, so Eckhart, wird in die Region des Himmels erhoben. Er betont freilich neben der Nähe des Ursprung-Himmels in uns zugleich seine unendliche Distanz zum Irdischen. Man muss dies mit der Vorstellung verbinden, dass der göttliche Bereich wie ein sich drehendes Rad durch uns hindurchgeht, sich nähert und wieder entfernt. Das „Innen“, von dem Eckhart spricht, ist keine magische Fixierung, sondern ein Hineingenommensein des Menschen in die – ihn von innen, nicht von außen her erreichende – Bewegung Gottes. Seine Aussage setzt Eckhart in einige von den Kirchenvätern herangezogenen Zitate hinein, eine Technik, mit welcher er bisherige Traditionen weiterführt, indem er sie neu beflügelt. In seinem wundervollen, reichhaltigen Kommentar widerlegt Markus Vinzent unerleuchtete Charakterisierungen von Eckharts Vater-unser-Traktat als „unoriginell“. Eckhart führt in der Innerlichkeit zum „Himmel der Himmel“: „Wir wollen (wünschen) den Vater in uns“. Dieser Satz Eckharts wendet sein Zitat der Stelle 1 Könige 8,27 in eine andere Richtung, denn dieses Bibelwort lautet wörtlich: „Gott lebt nicht wirklich auf der Erde! Sieh, der Himmel und der Himmel der Himmel können Dich (Gott) nicht enthalten.“ Damit betont Eckhart die kosmologische Ortlosigkeit Gottes. Für Eckhart gibt es nur einen „Ort“ Gottes: in uns selbst. Dieser Ort ist aber nicht substanziell fest, Rotation „oben – unten, unten – oben“ ersetzt. Man könnte dafür als Bild einen PaternosterAufzug in Bewegung als heranziehen. 6 Der neue Text, ediert, eingeleitet und kommentiert, steht bei Markus Vinzent, Meister Eckhart: On the Lord’s Prayer, Eckhart Texts and Studies 2, Leuven/Paris/Walpole 2012, 98–160. 7 A. a. O. 106f.
Der Himmel in mir. Die Interiorisierung des Himmels bei Meister Eckhart
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sondern eine Übergangsstelle. „Unser eigenes inneres Sein“ ist der Himmel, insofern er als Gottes „Ort“ (metaphorisch) gemeint ist. Vinzent verbindet diese Aussagen mit Eckharts perspektivisch gestufter Anthropologie in der späten Lesepredigt „Vom edlen Menschen“.8 Ich komme darauf zurück. Aber zunächst will ich auf die Parallele von „Himmel“ und „Reich Gottes in uns“ bei Eckhart eingehen, um die Interiorisierung der Transzendenz von dieser Seite her darzustellen.
2.
Die Innerlichkeit des Himmels oder: das „Reich Gottes in uns“9.
Das Wort Jesu in Lk 17,21 („Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“) wurde in der christlichen Spiritualität sehr früh und lange Zeit als „Reich Gottes in euch“ gedeutet. Dieser Prozess der individuellen Interiorisierung war eine kontemplativ-ekstatische Antizipation und zugleich eine Himmelsprojektion in die Seele.10 Man soll Gott nicht außerhalb seiner selbst erfassen und verehren, sondern als Eigenes, das in einem ist; zudem soll man nicht dienen und wirken um eines Worumwillen, weder um Gottes willen, noch um die eigene Ehre, noch um irgendetwas sonst außerhalb, vielmehr allein um des eigenen Seins und Lebens willen. Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott so sehen, als stünde er dort und sie hier. So ist es nicht. Gott und ich wir sind eins. Mit Erkennen nehme ich Gott in mir auf, mit Liebe trete ich in Gott ein… Gott und ich, wir sind eins in diesem Wirken: er wirkt und ich werde.11
Die Dichte der Einheit wird von Gottes Selbstmitteilung in seinem dauerhaft aktuellen Wirken, das sein Sein ausmacht („actus purus“, „lûter wurken“) erzwungen.12 Dieser Zwang kann auch umgedreht werden: „Unsere Seligkeit tut ihm (Gott) so not, dass er uns in sich lockt mit all dem…Ich will Gott niemals dafür danken, dass er mich liebt, denn er kann es nicht lassen, ob er will oder nicht, sein Wesen zwingt ihn dazu. Ich will ihm dafür danken, dass er es in seiner Güte nicht lassen kann mich zu lieben.“13 In der Predigt „Scitote regnum“, „erkennt das Reich“, heißt es noch einmal ausdrücklich: „daz rîche gotes ist in uns“14. Eckhart verfolgt eine verinnerli8 Vgl. a. a. O. 203f. 9 Vgl. Dietmar Mieth: Meister Eckhart, München 2014, 95ff. 10 Vgl. Magdalena Bussmann, „Reich Gottes, historisch“, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe (s. o. Anm. 2) 15–26, hier 20f. 11 Pr. 6, DW I, 113f. 12 Zur „Wirklichkeit“ als Wirken Gottes vgl. ausführlich Mieth: Meister Eckhart, 16–24, 80ff. 13 DW III, 268,5–269,7. 14 Pr. 68, DW III, 142,2.
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Dietmar Mieth
chende Deutung des Bibelwortes „regnum Deum intra vos est“, „das Reich Gottes ist in eurer Mitte“ (Lk 17.21), wie dies z. B. auch Luther u. a. tun. Diese verinnerlichende, zugleich individualisierende Deutung tritt damit scheinbar an die Stelle einer sozialen Ausdeutung. Denn das Bibelwort Jesu meint ja das Reich „unter euch“ oder „in eurer Mitte“, d. h. es bildet einen neuen sozialen Anfang. Einen neuen sozialen Anfang sieht und will auch Meister Eckhart.15 Aber die Sozialität geht durch den Prozess der inneren Aneignung des „Reiches“ in jedem Menschen hindurch. Gott ist „im“ Menschen schon immer als „Gabe“. Dies wird bewirkt durch einen geschichtlichen, aber zugleich die Geschichte transzendierenden Wendepunkt: durch die Verwandlung der „Natur“ des Menschen aufgrund der Inkarnation, der Menschwerdung Christi. Zu dieser bewirkten Innerlichkeit gehört auch der wahre Reichtum als Präsenz des überreichen Gottes in der Seele. Diese Präsenz wird freilich nicht als „anthropologische Konstante“, sondern nur als prozessual hineinleuchtende Präsenz verstanden: „Ich habe eine Kraft in der Seele, die ständig Gott empfängt.“16 Eckhart unterscheidet drei weltliche Perspektiven der „Reiche“: Reich der Endlichkeit („mundus“) , Reich des Fleisches und Reich des Teufels.17 Dazu heißt es dort: „der werlt rîche sol man überwinden mit der armuote des geistes“. Das gilt einerseits für religiöse Gemeinschaften, in denen diese Welt-Überwindung bereits gegenwärtig gelebt werden soll. Da aber Eckhart nicht nur die äußere, sondern viel deutlicher die innere Armut lehrt18, bezieht er seinen geistigen Armutsbegriff auf alle Menschen, die Gott, in welcher Ausgangslage auch immer, nachfolgen wollen. „Reich“ und „Reichtum“ haben mit Fülle zu tun, gleichsam als Gegenstücke zu „arm“ im Sinne des Mangels an Gütern. Diese Fülle offenbart sich im Nichtwissen, Nichtwollen und Nichthaben. Unter „Armut“ behandelt Eckhart die radikale Reduktion des Irdischen, unter Reichtum gleichsam das göttliche „Füllhorn“, das sich in ein leeres Gefäß ergießt. Gottes Reichtum und sein Reich gehören zusammen.19 Wiederum geht es im universalistischen Sinne um den inneren Menschen, der jedem zugänglich ist. Die innere Gottesnachfolge schließt weder Juden noch Muslime aus, sondern das göttliche „Angebot“ des wahren Reichseins in seinem doppelten Sinne – Anteil am Reichtum haben und zum Reich gehören – ist übergreifend. Diese Innerlichkeit für alle wird auch in Eckharts weiteren Kommentaren zur Vaterunser-Bitte deutlich: „Dein Wille geschehe“ bedeutet Verzicht auf jeden Eigenwillen, ja auf jedes Eigenwollen. Dies hat Markus Vinzent in seiner neuen 15 Vgl. Dietmar Mieth: Christus, das Soziale im Menschen – Texterschließungen zu Meister Eckhart, Düsseldorf 1972. 16 Pr. 11, DW I, 182,8f. 17 Vgl. Pr. 33, DW II, 150f. 18 Vgl. Pr. 52, DW II, 486–506. 19 Vgl. Pr. 38, DW II, 232,3f.
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Ausgabe und seinem Kommentar nachgewiesen.20 Eckharts eigenes in den Handschriften überliefertes „Gebet“ macht dies auch deutlich. „Ich sage mein Paternoster so…, dass wenn wir sagen ‚zu uns komme dein Reich‘, dann beten wir zu Gott, er solle uns von uns selbst befreien.“ „Reich“ als eine göttliche Wirklichkeit steht bei Eckhart in Verbindung mit „adelig“ und „wirdekeit“ als Kennzeichen des von daher gezeichneten neuen Menschen21 Die Präsenz von Gottes „Reich“ als innere Gabe steht in Verbindung mit Eckharts Gnadenlehre: Die Gnade begleitet im Werden, weil sie schon im „Grunde“ da ist.22 Eckhart sieht die Gnade als ein präventives, jedem menschlichen Handeln zuvorkommendes, Angebot aus dem göttlichen Heilsplan. Daher macht er aus dieser Perspektive keine Unterscheidung von Schöpfung und Erlösung. Im Unterschied zu „konsekutiven“ Fassungen der Rechtfertigungslehre bei Thomas von Aquin und bei Martin Luther vertritt er eine „präventive“ Fassung.23 Dabei darf man freilich das „Zuvorkommende“ nicht zeitlich verstehen. Gott kommt „zuvor“, aber im prinzipiellen Sinne seiner zeitlosen „Erstheit“.24 Gottes Handeln „startet“ nicht die Geschichte zu einer bestimmten Zeit, weil Gott so handelt, dass daraus Zeit erst entsteht. Die besondere Beziehung zwischen „reich“ und „adelig“ kann in der Predigt „Homo quidam nobilis“ (zu Lk 19,12) nachgezeichnet werden. Die geschenkte „Reichheit“ (das englische „richness“ drückt dies gut aus) ist Gottes Selbsterschließung und Selbsthingabe ohne Vorbehalt, reine „Barmherzigkeit“. Gott „muss“, seinem Wesen entsprechend, stets ein Gebender sein. Deshalb geht die gute Lebensführung, wie Erich Fromm richtig gesehen hat, vom „Haben“ zum „Sein“.25 Der Mensch selbst adaptiert durch die Öffnung seines verschlossenen Selbst Gottes selbstloses Entgegenkommen.26 Der Mensch ist durch seine Öffnung für die Offenbarkeit Gottes „rîcher“ in der Rückkehr zu Gott, von dem er kommt.27 Im Hintergrund der Dialektik von Selbstverlust und Selbstgewinn steht dabei die 20 Vgl. Meister Eckhart, On the Lord′s Prayer, Leuven 2012 (s. o. Anm. 6). 21 Vgl. Vom edlen Menschen, DW V, 109–119, Pr. 21, DW I, 367; Loris Sturlese, Homo Divinus, Stuttgart 2007. 22 Vgl. Pr. 11, DW 1, 176–189. 23 Vgl. Dietmar Mieth: Meister Eckhart, 213–217; weitergeführt in: Monika Bobbert, Dietmar Mieth: Das Proprium der christlichen Ethik, Luzern 2015, 183–198. 24 Zur „Erstheit“, aus der durch Auslegung Erkenntnisse „abduziert“ werden können, vgl. im Anschluss an Charles Peirce: Hermann Deuser: Religionsphilosophie, Berlin 2009, 30f. und dazu Mieth: Meister Eckhart, 2014, 31–36. 25 Vgl. Erich Fromm: Haben oder Sein, Stuttgart 1978. 26 Vgl. Pr. 15, DW I, 245,11. 27 Ich bevorzuge hier „Offenbarkeit“ anstelle des Wortes „Offenbarung“, um damit Eckharts vernunftoffene Intention zu erfassen. Vgl. auch Mieth: Meister Eckhart, 31–46.
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Variante eines Jesuswortes bei Mk 10, 30: „jetzt (schon) in dieser Zeit wird man alles an Gütern Aufgegebene in verwandelter Form wieder gewinnen“, d. h. der Gewinn des vorbehaltlosen Schenkens wird bereits in diesem irdischen Leben erreicht. Diese Bewegung aus dem Status des „Habens“ in den Status des „Seins“ wird so beschrieben, gut verstehbar auch in Mittelhochdeutsch: Dirre mensch kumet richer wider hain, denn er us gegangen was. Der alsus usgegangen wäre sin selbes, der sölti im selber aigenlicher wider geben werden, und alliu ding, als er su gar gelassen hat in der manigvaltikait, das wirt im allzemal wider in der einvaltikait, wan er sich selber und alliu ding in dem gegenwertigen nu der einikeit vindet, und der alsus usgegangen wäre, der kam vil adelicher hain, den er us gegangen was. Dirre mentsch lebt nu in ainer ledigen frîhait und in ainer lutern bloshait, wan er enhat sich enkainer ding ze underwinden noch an ze nemende lutzel noch vol: wan alles das gottes aigen ist, das ist sin aigen.28
Im Hintergrund stehen genau die Worte Jesu – Mk 10,29.30 und Lk 18, 29.30 –, die ebenfalls die Dialektik von Verlust und Gewinn widerspiegeln, die sich auch Lk 17,33 findet: Wer verliert, gewinnt. So wie Eckhart vom inneren Reich Gottes spricht, so spricht er auch von der „inneren Stadt“29. Die „Stadt“ ist ein Gleichnis der gesicherten Seele, diese ist eine „geheiligte Stadt“, weil sie Gott geweiht ist. Ähnlich heißt es über Lk 7,14 (die Stadt Naim): Die (innere) Stadt ist geordnet, befestigt und behütet.30 Eckhart verlegt „Reich“, „Stadt“ und z. B. in der deutschen Predigt über die Tempelaustreibung31 alles nach innen: Das innere Reich, die innere Stadt und der innere Tempel sollen gereinigt und geheiligt werden. Ohne Befreiung von innen keine Befreiung außen. Die Befreiung von innen ist bei Eckhart eine transzendierende Möglichkeit und zugleich – unter Einbeziehung von Kurt Flaschs Kritik an der „Mystik“32 – eine nachweisbare innere Erfahrung. Eckhart sagt selbst: Gott mit dir – da geschieht die Geburt. Es darf niemanden unmöglich erscheinen, dort hin zu kommen… Kann man es nicht erreichen, so soll man doch danach begehren. Hat man das Begehren nicht, so begehre man, dass man das Begehren erfahre. David spricht: ich habe nach einem Begehren des Begehrens nach Gerechtigkeit verlangt.33
28 29 30 31 32
A. a. O. 215,11. Vgl. Pr. XXXVI, LW IV, 90, zu Lk. 7,11f. ferner Pr. 2 und 86 zu „castellum“, „bürglein“. Vgl. Pr. 18, DW 1, 296–307, hier: 296.8. Vgl. Pr. 1, DW I, 4–20. Vgl. Kurt Flasch: Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006, 16–21. Flasch hat darin m. E. jedoch recht, dass „Mystik“ nicht als erklärende „Erkenntnisquelle“ für Meister Eckhart herangezogen werden kann. Es ist auch meistens, schon seit dem 19. Jahrhundert, umgekehrt: „Mystik“ wird gern von Eckhart her bestimmt. 33 Pr. 38, DW II, 245,1–10.
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Schon die „Reden der Unterweisung“ über das Begehren als Voraussetzung des geistlichen Vollzuges der Eucharistie schlagen dieses Thema an: „Hat man kein Begehren, so reize man sich dazu und bereite sich dafür und richte sich danach…“34 Man muss in Eckharts metaphorischer Sprache das Begehren dem Leib, den Willen dem Herzen und die Erkenntnis dem Hirn zuordnen. Alle drei Möglichkeiten, verstanden als besondere Anstrengungen, Begehren, Wollen, Erkennen, erreichen aus eigener Kraft Gott nicht, weil er allen Bemühungen entzogen bleibt. Aber gerade dieses „Nicht“, der Entzug des Erlebnis-Merkmales, ist das, was Eckhart als „Erfahrung“ begreift. Das Beispiel dafür ist der „Morgenstern mitten im Nebel“, den man nicht physisch sieht.35 Angelus Silesius macht daraus: „Morgenstern der finstern Nacht“. Die zweite Strophe seines Lieder fängt im Sinne Meister Eckharts an: „Sieh, der Himmel ist in dir!“ Eckhart verspricht seinen Zuhörern/Zuhörerinnen in der Predigt: Ich sage aber noch mehr – erschreckt nicht, denn diese Freude ist euch nahe, und sie ist in euch –: es ist von euch keiner von so grobschlächtiger oder so geringer Erkenntniskraft, noch so weit davon entfernt, dass er diese Freude nicht wahrlich in sich finden könnte, mit Freude und mit Erkenntnis: ehe ihr heute aus dieser Kirche heraus kommt, ja ehe ich heute zu Ende gepredigt habe. Jeder kann es ebenso gewiss in sich finden, erleben und haben, wie Gott Gott ist und ich Mensch bin! Seid dessen gewiss, denn es ist wahr, und die Wahrheit spricht es selber aus.36
Eckhart versucht diese Unmittelbarkeit der Erfahrung mit einem Exkurs über die Samariterin am Brunnen zu beweisen. Denn die Samariterin ist die Ferne, die Fremde, die noch Unbelehrte, die am Ende des Gesprächs die Hände über dem Kopf zusammen schlägt und von da ab von Jesus zur Ankündigung seiner Botschaft vorausgeschickt wird. Dieser Exkurs ist hier gleichsam eine Predigt in der Predigt. An anderer Stelle bestätigt er diese Auffassung ausdrücklich: Liebe Kinder, ich bitte euch, dass ihr den einen Sinn euch merkt. Ich bitte euch darum um Gottes willen, und ich bitte euch, dass ihr es durchführt um meinetwillen und diesen Sinn stets bewahrt. Alle, die auf die Weise in der Einheit sind, von der ich vorhin gesprochen habe, wenn diese (auch) ohne Anschauung davon sind (‚âne bildunge‘), so dürfen sie nicht wähnen, dass diese Anschauung mehr wiegen würde oder dass sie (ohne diese Anschauung) aus der Einheit herausgefallen wären. Wenn das einer denken würde, wäre er im Unrecht. Man könnte sagen, es wäre Ketzerei. Denn ihr sollt wissen, dass da in der Einheit weder Konrad noch Heinrich (als solcher) ist. Ich will Euch sagen, wie ich mich der Leute annehme: ich strenge mich an, dass ich meiner selbst und aller
34 RdU, DW V, 274,2–4. 35 Vgl. Pr. 9, DW I, 154ff. 36 Pr. 66, DW III, 113,8–114,2, 119,3–9.
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Menschen vergesse, und ich füge mich für sie (stellvertretend) in Einheit. Dass wir in Einheit bleiben, dazu helfe uns Gott.37
Bei der philosophischen Interpretation Eckharts bleibt ein durch die bereits dargelegten Perspektiven nicht gedeckter „Rest“, die Autorität seiner „Wahrheits“- Behauptungen in vielen Predigt-Schlüssen. Eine Wahrheit, die sich selbst durch ihn aussagt38, die „unmittelbar aus dem Herzen Gottes“ kommt, für die Eckhart sein Leben „zum Pfande“ setzt39, das sind schon starke Worte, die an den Jesus des Johannesevangeliums erinnern und damit Eckhart als unmittelbar gegenwärtige Quelle des erhöht sprechenden Christus auftreten lassen. Ein solcher persönlicher Anspruch ist schwer zu überbieten. Es umschließt aber auch die Möglichkeiten der Rezipienten, die diese Wahrheit bereits in sich tragen („Ihr tragt doch Wahrheit gewiss in euch“40) und diese nur, anlässlich der Predigt, in sich selbst suchend aus sich herausholen müssen. Es ist die ursprungsnahe Autorität der Innerlichkeit, die hier nicht nur objektiv, sondern auch von Eckhart subjektiv beschworen wird.
3.
Erfahrung als individuelle Glaubensvergewisserung in einer „communicatio divinae vitae“ (spirituelle Kommunikation in der Predigt)
Der Weg der Erfahrung ist ein Weg nach innen. Auf diesem Wege wollen die Menschen aber etwas erspüren – im Sinne des lateinischen „experiri“ bzw. der „cognitio Dei experimentalis“, ein Wort, das oft als Kennzeichen für „Mystik“ gebraucht wird.41 Die entsprechenden korrespondierenden Termini fehlen bei Eckhart nicht: „gevar werden“, „bevinden“ oder „enpfinden“.42 Er spricht dabei nie von einer außerordentlichen Erfahrung im Sinne einer fachlich theologisch als „gratia gratis data“ bezeichneten tiefgreifenden Veränderung, und wenn er den „raptus“ – in die himmlische Sphäre – anhand von biblischen Figuren (Petrus, Paulus) beschreibt, tut er dies ohne besondere Pointe, ebenso, wie er der „Verzückung“ keine besondere Bedeutung zumisst. Wir haben es also bei Eckharts Gebrauch von „Erfahrung“ mit einer Verfestigung von innerer Gewissheit aufgrund von allgemein zugänglicher Empfänglichkeit für Erkenntnis zu tun. Ich 37 38 39 40 41 42
Pr. 64, DW III, 89–90,7. Vgl. Pr. 2, DW I, 41,5f. Vgl. Pr. 2, DW I, 44.7. Pr. 5b, DW I, 95,6. Vgl. Hans Geybels: Cognitio Dei experimentalis, Leuven 2007. Vgl. die Wortstatistiken in den Bänden DW I–III und V.
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bevorzuge dafür den Ausdruck „Erfahrenheit“.43 Sie entsteht aus dem wiederholten Durchlaufen von Erkenntnisgewinn in einem „Training“ mit Grundtexten der Offenbarung, die zugleich dem philosophischen Durchdenken offenstehen. Am Anfang dieses innerlichen Weges zur Erfahrenheit steht ein Sich-findenlassen, statt ein Suchen im Sinne des Befolgens von verordneten Rezepten.44 In sich „aufgefunden“ wird ein emphatischer, wenn auch ungesicherter Zustand im Zeichen der unbedingten Annahme durch Gott. Diese Annahme ist im Ursprung, im Zusammenfall von Schöpfung, Erlösung und Vollendung gnadenhaft ausgeschüttet. So geht bei Eckhart gleichsam die Gnade der Natur voraus. Aus dieser Ursprungserfahrung geht ein neu verortetes Selbst hervor, das kontingent-leiblich bleibt, aber gerade darin den Wegweiser von sich weg findet. Daraus wiederum ergibt sich eine Lebensführung im Sinne eines Woraus statt eines Woraufhin und eines Worumwillen („leben âne warumbe“) als (überholende, transzendierende) Kritik der von Zielen angezogenen voraus planenden Vernunft.45 In diese Motive einer innerlichen Gewissheit sind die Antworten der „Meister“ eingeordnet. Sie interessieren Eckhart sowohl wegen seiner Orientierung an den Möglichkeiten des Intellektes als auch von seiner Vermittlungsoption her. Sich aussprechen schließt zugleich ein Publikumsbewusstsein ein, für das der Prediger sich ausspricht. Es ist eine Art der Selbstinszenierung. In gewisser Weise macht der Wechsel der Sprachebenen bei Eckhart den Zauber seiner Inszenierung aus: Jemandem zuzuhören, der seine Gedanken mit allen Kräften vorführt, ja geradezu aufführt, inszeniert und sich dabei provokativ bewusst ist, dass er etwas für alle tut – „schaut, was ihr alle tut“46 – worin ihm aber nicht alle folgen können, das ist das eine, und von jemanden mit seinen Fragen angenommen und aufgenommen zu sein, das ist das andere. Was die Meister sagen, findet sich öfter in dem inszenierten Diskurs, der mit expressiven Botschaften endet, als in dem pastoral-spirituellen Diskurs, in welchem Eckhart von der Lesemeisterfunktion in die Lebemeisterrolle wechselt. Georg Steer zeigt z. B. an der Predigt 109 „streng parallel konstruierte Doppeltriaden“ auf. Sie ergäben einen „color rhythmicus“47, den Markus Vinzent auch für die lateinischen Predigten nachzeichnet.48 Die Predigt 109 „Nolite timere
43 Vgl. Dietmar Mieth: „Experiential Ethics and Religious Experience. Some Reflections in Respect to Meister Eckhart“ (im Druck, hg. v. Stoshi Kikushi, Leuven: Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensem). 44 Vgl. Pr. 15, DW I, 253,6–8. 45 Vgl. K.H. Witte: Meister Eckhart. Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, Freiburg-München 2013, und John Connolly: Living Withourt Why. Meister Eckhart′s Critique of the Medieval Concept of Will, Oxford 2014. 46 Pr. 109, DW IV,2, 769. 47 DW IV, 2, Anm. 766. 48 Vgl. Markus Vinzent: „Eckharts Bildsprache in den lateinischen Predigten“, in: Sprachbilder
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eos“ ist für mich genau das Beispiel einer ungehemmt abstrakten und zugleich ekstatischen Predigt, die aber zugleich von einer unerhört „eindringlichen Hörerzuwendung“49 gekennzeichnet ist. Eckhart will sprechen, wie er „nie gesprochen“ hat. Er spricht vom Entwerden Gottes in der Gottheit und vom Einstieg in die Gottheit am Leitfaden der Vernunft: „Alle Geschöpfe tragen sich in meine Vernunft ein, so dass sie darin auf geistige Weise sind. Ich allein führe alle Geschöpfe zu Gott zurück. Achtet darauf, was ihr alle tut.“50 Alle sollen mitgenommen werden in die Einsicht, dass Schöpfung keine Einbahnstraße ist, sondern durch den Menschen hindurch einen offenen Rückweg hat. Eckhart redet hier mit begrifflicher Klarheit, zugleich aber mit existentieller Intensität.
4.
Die Priorisierung der Einheit mit Gott vor der „visio beatifica“ im Himmel51
„Qui autem te et alia novit, non propter illa beatior, sed propter te solum beatus est.“ „Wer Dich zugleich mit anderem erkennt, ist nicht wegen dieses Anderen glücklicher, sondern er ist allein auf dich bezogen glücklich.“52 Eckhart bezeichnet es nämlich als „Irrtum, wenn gesagt werde, dass die Seligkeit in einem reflexiven Akt der Erkenntnis beruhe, in welchem der Mensch weiß, dass er Gott erkennt.“53 Im Grunde des Gemütes erinnert die Seele immer, erkennt sie immer, liebt sie immer. Augustinus hat in seinem Buch über die Unsterblichkeit der Seele gesagt, dass auch in der Befestigung der Innerlichkeit der Seele diese ihre Unsterblichkeit empfängt. … Es geht aber darum, Gott allein zu erkennen und nichts zugleich, zusätzlich oder außerhalb … Daher, wenn ich etwas objektiv zugleich mit Gott oder außerhalb Gotts erkennen würde, dann wäre ich noch nicht selig. Nur einzig der Vater ist nämlich im Himmel.54
(Vgl. Mt. 23,9). Das Wesentliche ist die Einheit ohne explizites Differenzbewusstsein. Eckhart meint also: Das ewige Leben, die vollständige Erfüllung der Seligkeit, besteht in der Erfahrung der „himmelsväterlichen“ Gottheit. Damit schließt Eckhart in seinem Spätwerk an sein Frühwerk über das Vaterunser an. Seligkeit löst die Erkenntnisdifferenz auf, entspricht also nicht einem Zugleich
49 50 51 52 53 54
und Bildersprache bei Meister Eckhart und in seiner Zeit, Meister Eckhart Jahrbuch Nr. 9 (2015). Hg. v. Cora Dietl und Dietmar Mieth, 1–26, hier, S. 23. Steer, DW IV,2, 762, Anm. 5. Pr. 109, DW IV,2, 768,22–769,25. Vgl. Vor allem die Lesepredigt „Vom edlen Menschen“ und dazu die lateinischen Parallelen, die Vinzent aufzeigt. In Joh. n.107, LW III, 93.3. Ich pointiere die Übersetzung anders als in LW. In Joh. n.108, 93,6f., vgl. ähnlich n.679, 594,1. In Joh n.680, LW III, 594,6.
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von Zweien. Dieses Zugleich von dem „Zwei-Einen“55 gehört vielmehr an den „Umkreis der Ewigkeit“ , d. h. in das Bewusstsein der Differenz. Heißt das etwa: Himmel ist ohne Bewusstsein, er ist da, ohne präsenter Gegenstand der Erkenntnis zu sein? Genau das sagt Eckhart auch in einem anderen Spätwerk, der Lesepredigt „Vom edlen Menschen“. Hier unterscheidet Eckhart wie auch sonst die Abenderkenntnis von der Morgenerkenntnis. Natürlich weiß er, dass die Eule der Minerva, also die Philosophie, am Abend fliegt. Die Abenderkenntnis, die der Offenbarung als Offenbarkeit folgt, schaut unterschiedslos56. Wer einer ist, erkennt Gott und Geschöpfe „in einem“. Eckhart sieht natürlich das Dilemma: Was habe ich von einer Einheit, die ich nicht wahrnehme? Er formuliert Frage und Antwort folgendermaßen (ich paraphrasiere): „Wenn der Mensch Gott schaut, dann weiß er auch und erkennt, dass er Gott schaut. Daher scheint es einigen Leuten plausibel, dass die Blume und der Kern der Seligkeit in der Erkenntnis liegt, in der der Geist erkennt, dass er Gott erkennt. Denn, wenn ich alle Wonne hätte und davon aber nichts wahrnähme, was würde mir das bringen und was für eine Wonne wäre das denn? Und doch sage ich gewiss nicht, was diese Leute sagen! Denn das allein ist wahr: die Seele wäre zwar in ihrer reflexiven Selbstwahrnehmung nicht selig, wenn es nicht so wäre, sie also nicht schauen würde, dass sie schaut. Aber dies ist nicht der (wahre) Grund der Seligkeit: Denn das erste, woran die Seligkeit liegt, ist, dass die Seele Gott nackt, d. h. völlig für sich und allein, d. h. wiederum: ohne sich selbst, schaut. Denn daher stammt sie mit dem Wissen darum, die Liebe dazu und das Bewusstsein der Endlichkeit, das alles ist davon abgleitet. Die Seele ruht still vollkommen und ausschließlich in Gottes Sein, sie weiß nicht als eben dieses Gottes-Dasein. Wenn sie darüber hinaus noch zusätzlich weiß und erkennt, dass sie Gott schaut, erkennt und liebt, das ist dann ein Ausschlag und ein Reflex auf das, was der Seinsordnung folgt. Denn niemand erkennt sich als weiß als der, der vorher auch schon weiß ist…. Darum sagt unser Herr herzlich und gut; das ewige Leben ist Gott allein erkennen als den wahren Gott, nicht: erkennen, dass man Gott erkennt. Das ist die Wurzel und der Grund der Seligkeit.“
Eckhart wendet sich hier nicht gegen die reflexive, bewusste Gottesschau im Himmel, er sieht sie nur als abgeleitet an: von dem, was bereits „innen“ da ist, ohne ständig reflex zu sein. Ich sehe darin eine relationale Prozesstheologie – fließende Beziehungen – oder eine theologische Strukturontologie57. Alles ist aus der ursprünglichen Einheit einer theologischen Offenbarung/Offenbarkeit abgeleitet. Man muss nicht daran denken, damit es ist. Es wird nicht durch Denken hervorgebracht. Aber wer sich dessen vergewissern will, denkt daran, woher er kommt, bevor er daran denkt, wohin er geht. Wenn er daran denkt,
55 Vgl. BgT, LW V und Pr.86, DW III, 4. 56 Vgl. dazu und zu den folgenden Zitaten: VeM, DW V, 116,14–19. 57 Im Sinne von Heinrich Rombach: Strukturontologie, Freiburg i.Br. 1971.
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Dietmar Mieth
woher er kommt – „Bruder Eckhart, wann ginget ihr aus dem Haus?“58 –, weiß er, wohin es mit ihm geht. Wenn er ohne Worumwillen dem Ursprung nahe sein will, dann hilft ihm dabei die Entsprechung zwischen Gottes Selbst-Enthöhung und der Demut.
5.
„Der Himmel in mir“ – durch Enthöhung Gottes und Demut des Menschen59
„Wenn du dich demütigst, so kommt Gott von oben herab und in dich. Die Erde würde gern dem Himmel entfliehen, aber: flieht sie niederwärts, so kommt sie zum Himmel, flieht sie aufwärts, so kann sie ihm doch nicht entfliehen… Er jagt sie in einen Winkel und drückt seine Kraft in sie und macht sie fruchtbar. Warum? Das Alleroberste fließt in das Niederste.“ Eckhart fährt fort. „Mir kam der Gedanke gestern Abend: Gottes Höhe liege an meiner Niedrigkeit… ich dachte, dass Gott enthöht werden müsste, nicht absolut, sondern vielmehr innen, und dies (die Enthöhung durch Verinnigung) besagt so viel wie enthöhter Gott… Was oben war, wurde innen. Du sollst geinniget werden, und zwar von dir selber in dich selber.“60 Witte spricht hier vom „Kern der Demutslehre“: Die Enthöhung Gottes geschieht durch die menschliche Einsicht in die eigene Endlichkeit. Demütigen wird metaphorisch bei Eckhart auch durch „sich niedersetzen“ ausgedrückt.61 In diesem Sinne kann man einen Blick auf seine Metaphorik von Sitzen und Stehen werfen, in welcher dialektisch die jeweilige Überlegenheit einer Haltung charakterisiert wird. Ganz ähnlich setzt Eckhart in der Predigt über die heilige Elisabeth das zornige Aufbegehren (den „irasciblis“ im Strebevermögen) gegen eine Demut, die mit „Tiefmut“ verwechselt wird.62 Eckhart „enthöht“ zwar Gott ins Innere des Menschen63, aber er empfiehlt zugleich die Niedrigkeit (humilitas, Demut) als menschliche Anziehungskraft für die Menschensuche Gottes. Mit einem Naturbeispiel erläutert Eckhart: Wo das Erdreich am tiefsten ist, da ist die Sonne fruchtbar. In der Höhe ist es dagegen kalt und unfruchtbar.64 Die „humilitas“ als die Bereitschaft, die eigene Geschöpf58 59 60 61
Pr. 109, DW IV,2, 772,2. Vgl. Pr. 14, DW I, 230ff., die folgenden Zitate: 233,5–8, und dazu Witte LE III, 1ff. A. a. O. 237,4–10. Vgl. Karl Heinz Witte: Predigt 14, „Surge illuminare Iherusalem“, In: Lectura Eckhardi, hg. v. Georg Steer und Loris Sturlese, Bd. III, 1–32, hier: 20. 62 Vgl. Pr. 30, DW II, 141,5–142. 63 Vgl. Karl Heinz Witte: „Eckhart lesen und mit ihm leben“, in: Meister Eckhart Gesellschaft: Jahrbuch 7(2013), 195ff. 64 Vgl. Pr. 48, DW II, 413–415.
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lichkeit und Fehlerfähigkeit anzuerkennen, geht über in die Überlassenheit. Loslassen, sich neu einlassen und sich überlassen können – das sind Schritte, die Eckhart unter dem Begriff „Gelassenheit“ einführt. Dabei geht es zugleich darum, die Gottesbilder zu lassen, Gottessuche geschieht im Bewusstsein des Gefundenwerdens seitens des suchenden Gottes.
Exkurs: Die metaphorische Dialektik von empfangendem Sitzen und aufrechtem Stehen65 In einer späteren Predigt über Maria Magdalena zitiert Eckhart sein Lob des „Stehens“ der tätigen Martha66. Eine explizite Reflexion über das „Sitzen“ findet sich in beiden Predigten. Sie sind durch die Figur der Maria Magdalena, welche Eckhart entsprechend seiner Zeit und ihrer Legenden mit Maria von Bethanien zu Füßen Jesu (Luk 10, 38–42) identifiziert, aufeinander kontrovers bezogen, weil ja in Pr. 86 bei Maria (Magdalena) die Bequemlichkeit des Sitzens getadelt und in Pr. 55 dagegen die größere Empfänglichkeit der tieferen Haltung (an Magdalena) gerühmt wird. „Sitzen“ wird übrigens bei Eckhart auch auf die Platzierung Christi zur Rechten des Vaters und auf die Platzierung der Menschennatur „oberhalb der Engel“ bezogen.67 Besonders anschaulich sind Sitzen und Stehen in der Pr. 19 zusammengefasst: „Das Haus Gottes ist die Einheit seines Seins… Darum steht die Einheit bei Gott und hält Gott zusammen und fügt nicht hinzu. Da sitzt er in seinem Höchsten, in seinem Esse, alles (ist) in ihm, nichts außer ihm“.68 Das „Sitzen“ wird von Eckhart auch anders definiert: „(Sitzen) bedeutet Ruhe und meint, wo keine Zeit mehr existiert.“69 Wir haben also differente Verwendungen: als Bequemlichkeitskritik, als Demutshaltung, als Trauerhaltung70, als Platzierung oberhalb der Dimension von Zeitlichkeit, Körperlichkeit und Vielheit als dem kreatürlichen „Hindernis“Bereich. 65 Ich greife hier zurück auf: Dietmar Mieth: „Eckharts Frauenpredigten“, in: Jörg Voigt, Berward Schmidt, Marco A. Sorace (Hg.): Das Beginenwesen in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 2015, 264–289, hier: 271–275. 66 Vgl. Pr. 86, DW III (Maria Magdalena und Martha) und Pr.55, DW II (Magdalena). 67 Vgl. DW I, Pr. 5 a, 77,7f. und 86, 6. (Das Motiv entspricht hier Ps. 8) Von den Engeln heißt es freilich auch, daß sie bei Gott „sitzen“ (DW I, 315,5). Die von Christus angenommene und damit verwandelte Menschennatur steht freilich deshalb höher. Das Sitzen Christi variiert auch, vgl. DW II, Pr. 35,179,5: „wâ sitzet Kristus? Er ensitzet niergen…“ Vgl. auch DW IV, Pr. 90, 57,20: „dar umbe saz Kristus in dem tempel, daz ist in der sêle“. 68 DW I, 314,1f. 69 DW II, Pr. 35, 180,1. 70 So die Anspielung in Pr. 55, DW II, 580,9: die Haltung der Gebrochenheit nach dem Tod eines geliebten Ehemannes. (Hier ist die Trauerarbeit der Frauen im Blick.)
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Doch die expliziten und reflektierten Verwendungen des „Stehens“ überwiegen, insbesondere in der spirituellen Beschreibung eines Zustandes, der „ohne Hindernisse“ durch kreatürliche Bedrängnisse ist. Etwa: „ledig und frei in allen seinen Werken stehen.“71 Dieses Motiv wird in der Predigt über Maria und Martha ausgebaut. Das „Stehen“ ohne Hindernisse und Vermittlung, der aufrechte Gang im Handeln, ist gleichsam Marthas Markenzeichen.72
6.
Die diesseitige Vorverlegung der Auferstehung In der Intimität der Seele … empfängt die Seele ihre Unsterblichkeit…das ewige Leben ist dies: dass sie ausschließlich dich als Gott erkennen, nichts sonst… Wenn ich etwas zusätzlich als Objekt außer Gott erkennen würde, wäre ich nicht selig.73
In den Predigten über das Auf(er)stehen („surge“-Predigten) sagt Eckhart zu den bereits auf der Bahre Liegenden: Junger Mann, junges Mädchen – steh jetzt schon auf! Drei Mal predigt Eckhart über den jungen Mann von Naim, den Jesus auferweckt74, zwei Mal über das Mädchen, das er vom Totenbett holt.75 Schon jetzt gilt: „So viel die Seele in Gott ruht, so viel ruht er in ihr.“ (299, 2f.) Der innere Weg des Auferstehens geht vom natürlichen Licht zum Licht der Engel und dann zum göttlichen Licht. (vgl. 306f.) Ähnlich heißt es in einer anderen Predigt über den jungen Mann von Naim: „Es ist eine Kraft in der Seele, die ist weiter als der Himmel, der so unglaublich weit ist, so weit, dass man es nicht ausdrücken kann, und diese Kraft reicht noch viel weiter.“76 In dieser Kraft spricht der göttliche Vater zu seinem Sohn: „Jüngling, steht auf.“ Dorthin gelangt das Begehren weiter als die Erkenntnis, das Begehren ist maßlos. Aber das Begehren endet auch: Erst da wo es finster ist, da leuchtet Gott … in den Grund, der grundlos ist.77 Der Jüngling ist die Vernunft, denn Vernünftigkeit ist „jung“.78 Gnade ist immer voraus: ein Einwohnen und Mitwohnen der Seele in Gott. Seligkeit ist Gnade.79 71 DW I, Pr. 1, 9,5; vgl. wiederholend: 11,11, 13.6, 17.11. Vgl. auch DW I, Pr. 2, 26,1: „vrî und ledic stüende… âne hindernisse“, wiederholend 26,6, und im Gegenzug 30,1,. „wan si an eigenschaft gebunden stânt“. Vgl, auch 34,8: „alle dinc stânt wesentlîche in im“. Vgl. auch: DW II, 431, 8; 447,2; 491,8; 492,7, 495, 3.5.; 497,2; 499, 5.6; 500, 4.8; 504, 7. Ferner DW II, Pr.86, 485–492 mehrfach. 72 Vgl. 485, 4–6; 488, 4.12; 487, 9f.; 488,4–13; 489, 2–8; 492, 1. 73 In Joh. n. 679, LW III, 593. 74 Vgl.Pr. 18, DWI, 296ff.; Pr. 42, DW II, 301ff.; Pr. 43, DW II, 316ff. 75 Pr. 84 und 85, DW III, 454 ff und 458ff. 76 Pr. 42, DW II, 301 ff; 302–310, hier: 302,2–4. 77 A. a. O. 303–309. 78 Pr. 43, DW II, 322–324. 79 A. a. O. 326–330.
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Parallel sind die Predigten über die Erweckung des Mädchens80 In einer Predigt über den nach seiner niederwerfenden Christuserfahrung sich „erhebenden“ Paulus („surrexit Paulus“) spricht Eckhart vom „finsteren Licht“, wie es Ps. Dionys geprägt hat: Der Himmel hat in sich selbst Licht und leuchtet doch nicht. Wo das Feuer in sich selbst ist, da leuchtet es nicht. Wir prüfen am Himmelslicht das Gotteslicht. Es gibt aber keinen Zugang aus der Erfahrung üblicher Helligkeit. Licht dieser Art ist nämlich nicht zu sehen, nur zu empfangen. Das Göttliche Licht bedeckt alles Licht. Aber das Licht, das Gott ist, leuchtet in der Finsternis.81 Eckhart kann die Auferstehung auch spirituell-praktisch betrachten, als eine „ars resurgendi“, eine Kunst des Wiederaufstehens. Dies Motiv findet man bei Eckhart, während das mittelalterliche Motiv einer „ars moriendi“, einer Kunst des Sterbens bei ihm fehlt.82 In der Predigt „Si consurrexistis cum Christo“, „wenn du auferstehst mit Christus“ (zu Kol 3,1) heißt es: „Manche Leute stehen miteinander auf, aber sie stehen nicht mit Christus auf.“83 Der Himmel, heißt es dort ebenfalls, ist eine Stätte aller Dinge, und er hat doch selbst keine Stätte, sondern gibt allen Dingen ihren Ort. Wer auferstanden ist mit Christus, davon gibt es ein Zeichen: er sucht Gott über die Zeit hinaus, also ohne die Zeit. Der Himmel ist oberhalb der Zeit und ist doch eine Angelegenheit der Zeit. In seinem Lauf, also planetarisch, ist er eine Angelegenheit der Zeit – und er ist doch, insofern Raum und Zeit überschreitend, selbst ohne Zeit – diese entsteht erst durch den „Sturz“ des Himmels in die Zeit. Sieht man dagegen den Himmel transzendierend, dann ist Alles da in einem Jetzt.84
7.
Der spirituelle innere Himmels-Raum: Gelassenheit als Überlassenheit85
Die Gelassenheit stellt Eckhart auch als innere Ruhe und Frieden dar. Ein Bild dafür ist das Schiff vor Anker im Wellengang (…) Ferner hat er eine Grundpassivität im Sinne des Geschehenlassens vor Augen. Etwa in dem Sinne: lass Gott, der in dir ist, in dir geschehen. An Marias Beispiel zeigt er den Zusammenhang mit „fiat“, aber auch an der Vaterunserbitte „fiat voluntas tua“, die er 80 Vgl. „Puella surge“: Pr. 84 und 85, DW III, 454–458, mit dem Thema „ûfstân“, vgl. 468f. 81 Die Zitate aus: Pr. 71, DW III, 212–227. Vgl. zu Eckharts Motiven: Angelus Silesius: Morgenstern der finstern Nacht, wo es zu Beginn der zweiten Strophe heißt: „Sieh der Himmel ist in dir.“ 82 Vgl. Alois Haas: „Mors mystica“, in: ders., Sermo mysticus, Freiburg/Schw. 1979, 392–480. 83 Pr. 35, DW II, 175,4. 84 Vgl. Pr. 35, DW II, 173–183. Daraus die Zitate. 85 Vgl. Dietmar Mieth: „Gelassenheit“, in: Erbe und Auftrag 90 (2014), 246–255.
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dem Wortlaut folgend übersetzt: „geschehe Wille dein“.86 Damit vermeidet er, dass man den Willen Gottes („dein Wille geschehe“) erst festlegt, um ihn dann zu vollziehen. Ich übersetze Eckharts „Gelassenheit“ deshalb gern mit „Überlassenheit“, denn nach dem Loslassen der falschen Selbstorientierung und nach dem sich Einlassen mit der „Wirklichkeit“ Gottes kommt das radikale „SichÜberlassen“ – und dann daraus leben. Gelassenheit ist ein Merkmal der „Innerlichkeit“ im Gottesverhältnis. Denn Gott ist für Eckhart nicht außen, sondern innen. Das Innere des Menschen ist sein einziger ortloser Ort. Gott ist also für Eckhart nicht gegenständlich, als wäre er über uns, neben uns oder vor uns. Er kann nicht außerhalb des Menschen gedacht werden. Das heißt nicht, dass er für den Menschen verfügbar ist oder gar, dass der Mensch an seine Stelle tritt und dann nur eine Gottesidee fruchtbar verwaltet. Gott ist nicht im Menschen fixiert, aber er geht durch seine Seele jederzeit und damit auch „jetzt“ hindurch. Es ist ein Prozess, keine Fixierung. Ich habe dies mit einem Paternoster-Aufzug zu erklären versucht, der zwei Wendepunkte, oben und unten, hat, aber in ständiger Bewegung bleibt – „in continuo fluxu“, wie Eckhart sagt. Dieser Bewegung kann man sich überlassen. Nun hat man den Eindruck, sich am extremen Rande des Möglichen zu bewegen. In der Tat, es geht schon in der gelebten Überlassenheit um das „ultimum potentiae“, um die höchste und grenzwertige Möglichkeit des Menschen. Dies geschieht als Durchstrich und Durchbruch, nicht ständig, also indem wir immer daran denken, aber jederzeit und jetztzeitig möglich. Es ist aber nicht Leistung sondern Einschwingen in die Selbstverausgabung Gottes, die der Mensch als Gabe und Gnade empfängt. Eckhart drückt dies oft steil und emphatisch aus, aber er sprach auch aus einer inneren Gewissheit, an der seine Zuhörerinnen und Zuhörer gern in einer Predigt als Kommunikation göttlichen Lebens teilnahmen. Eckhart entfaltet das „Lassen“ als Grundthema schon in den „Reden der Unterweisung/Unterscheidung“, als er der junge Prior des Erfurter Dominikanerklosters war: „Darum fang bei dir selbst an und lass dich.“87 Dieses Motiv wird immer wieder erneut aufgegriffen. Später heißt es: „In Wahrheit, ließe ein Mensch ein Königreich oder die ganze Welt, behielte sich aber selber, so hätte er nichts gelassen. Ja, wenn aber der Mensch sich selbst lässt, was er dann behält, Reichtum, Ansehen oder dergleichen, so hätte er (doch) alles gelassen.“88 Wo ist dann das Ende der Anstrengung, so fragen die Zuhörer? Eckhart antwortet: „So lange soll man sich lassen lernen, bis man nicht Eigenes (mehr) behält.“89 Oder in der Predigt: „Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und 86 87 88 89
Vgl. Markus Vinzent (Anm. 6), 226ff. RdU 3, DW V, 193.3. A. a. O.194,4f. A. a. O. RdU 21, DW V 282, 11.
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der niemals auch nur einen Blick auf das verschwendet, was er gelassen hat und der dabei beständig bleibt, in sich selbst nicht schwankend und ohne jede Unbeständigkeit, der Mensch allein ist gelassen.“90 Mit dem schon erwähnten Wort – „Nimm Dich selber wahr, und wo du dich findest, da lass von dir ab“ – versucht Eckhart in den „Reden der Unterweisung/ Unterscheidung“ sein dominikanisches und städtisches Umfeld aus dem Wettstreit über die richtigen Weisen und Wege, Gott nahe zu kommen, heraus zu lenken. Stattdessen beseitigt er in den konkurrierenden spirituellen Methoden die Garantieerklärungen der jeweiligen Seelenführer, ohne sie deshalb zu desavouieren. Er lässt alle „Weisen“ (Demut, Gehorsam, Armut, Herzensgebet u. a.m.) zu und fordert nur die persönliche Eignung sowie die Prüfinstanz: Verzicht auf Eigenwillen, innere Distanz und eben die beschriebene Gelassenheit: „Gott hat das Heil des Menschen nicht an eine besondere Lebensweise gebunden. Man soll vielmehr alle guten Weisen in die eigene Weise ziehen.“91 Einen Schritt weiter geht Meister Eckhart, wenn er fordert, Gott zu lassen. Diese Forderung ist mehrdeutig, d. h. von der jeweiligen Perspektive abhängig: „Kein Rat ist besser, um Gott zu finden, als der, dass man Gott lässt.“92 Dies ist hier in dem Sinne „Gott zulassen“ gemeint, weil Gott der Sucher ist, der den Menschen findet, wo dieser sich finden lässt. Es ist also zu unterscheiden zwischen „Gottlassen“ als lassen der Gottesbilder und „Gott lassen“ als das Zulassen des wirkenden Gottes, wie es in dem schönen Wort zum Ausdruck kommt: „Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt er und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen bist, sondern als das, was du jetzt bist.“93 Die Predigt „Qui audit me“ setzt diesen Gedanken, Gott sein und wirken zu lassen, fort: Der Mensch, der so in Gottes Liebe steht… dieser Mensch muss sich selbst und diese ganze Welt gelassen haben. Gäbe es einen Menschen, dem die ganze Welt gehörte, und er ließe sie um Gottes willen wieder so sein, wie sie war, als er sie empfing, dem würde unser Herr die ganze Welt und das ewige Leben dazu wieder schenken… Ein anderer Mensch aber, der weder Leibliches noch Geistliches zu lassen oder herzugeben hätte, der würde am meisten lassen. Denn: wer sich selbst einen Augenblick ohne Vorbehalt lassen würde, dem würde alles gegeben… Der Mensch, der gelassen hat und gelassen ist und niemals zurückblickt auf das, was er gelassen hat, und dabei beständig bleibt, unbewegt und unwandelbar in sich selbst , nur dieser Mensch ist gelassen.94
90 91 92 93 94
Pr. 12, DW I, 203,2–5. RdU 17, DW V, 251,10–14. RdU 11, DW V, 225.3. RdU, DW V, 234,5. Pr. 12, DW I, 202f.
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Der ethische Himmels-Raum: Gerechtigkeit Dem gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit. Wäre es so, dass Gott nicht gerecht wäre, so würden sie nicht eine Bohne (d. h. nicht im Geringsten) auf Gott achten. Sie stehen (nämlich) so fest in der Gerechtigkeit und sind so rückhaltlos aus sich heraus gegangen, dass sie (vergleichsweise) weder der Höllenpein, noch der Himmelsfreude, noch einer Sache sonst Respekt erweisen. Ja, würde alle Peinigung, die je in der Hölle oder auf Erden gelitten ward und gelitten werden wird, der Gerechtigkeit hinzugefügt, sie würde es nicht im geringsten beeinflussen, so fest halten sie an Gott und an der Gerechtigkeit … Wer den Unterschied von Gerechtigkeit und Gerechtem versteht, der versteht alles, was ich sage.95
Die Haltung der der Gerechtigkeit anhängenden Gerechten ist gleichbleibend in Freude und Leid. Im Mittelalter hängt „Gerechtigkeit“ sprachlich noch enger mit „Richtigkeit“ und „Geradheit“ zusammen. Gerechtigkeit ist Wesensausdruck der Gerechten, sie können nicht anders sein. Diese Aussage Eckharts, in der es im Wort „Unterschied“ (im Zitat oben) zugleich um Distinktion und Beziehung geht, ist ein Gottesprogramm und zugleich ein Lebensprojekt. Denn, von der Inquisition in Köln (1326) angeklagt, sagt Eckhart, es sei sein „Eifer für die Gerechtigkeit“ gewesen, dessentwegen er verfolgt werde.96 Es ist ihm existentiell wichtig, so über Gott und sich zu denken. Mit „Gerechtigkeit“ als Inbegriff des moralischen Seins gibt Eckhart, bei aller sonstigen Namenszurückhaltung, Gott einen pars pro toto Namen, der das lautere Sein Gottes in sich selbst erfasst – so wie an anderer Stelle, aber nicht so dominant und signifikant, die „Barmherzigkeit“. Das Sein ist Gott, Gott ist das Sein in der Weise des Denkens und er tritt mitteilsam hervor aus einem Grund, den er als Barmherzigkeit und Liebe zeigt. Er zeigt ihn aber, genauer noch, wenn man Eckharts Gewichtung ernst nimmt, als Gerechtigkeit. Denn Gerechtigkeit genügt dem höchsten Kriterium der Vernunft: Die Liebe ist dem Willen zugeordnet, der zusammenhält, was vernünftig zusammengehört. Gott ist, wie Flasch dies mit Recht deutet, moralisch „anerkennungswürdig“ vor dem Forum der Vernunft als Gerechtigkeit.97 Das ist nicht austauschbar. Da Gerechtigkeit ein transzendentales Phänomen ist, das Gott gleich kommt und ihn vom Sein her ausdrückt, besteht menschliche Abkünftigkeit von dieser Herkunft und ihrem Hervortreten. Insofern der gerechte Mensch ein gleicher Sohn der Gerechtigkeit ist, schwebt er in einer Beziehung, die ihn aus der Gerechtigkeit in seinem eigenen Gerechtsein nährt. D. h. nach damaliger Auffassung auch: in seinem moralischen „Richtigsein“, in seiner „Geradheit“, sprich auch in seiner „Wahrhaftigkeit“. Die bei Eckhart so zentral präsente Gottesgeburt ist m. E. nicht als Metapher zu verstehen, sondern als ein 95 Pr. 6, DW I, 103,1–105,2. 96 Vgl. die Kölner Prozessakten: Pro.Col. I, n.77, LW V 275,19. 97 Vgl. Flasch: Meister Eckhart, München 2010.
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Wort für das Sein als Prozess, als Geschehen, bei welchem die Beziehungsgrößen aus der lebendigen Beziehung wechselseitig sich entstehen lassen: ein Geschehen der Korrelation. Aus der Korrelation Gott – Gerechtigkeit – Mensch als Gerechter ergibt sich, theologisch gesprochen, die Dynamik von Eckharts Rechtfertigungslehre, die Antwort auf die Frage, wie der Mensch gerecht bzw. „richtig“ wird. Er wird es, weil er es abkünftig, aus der Gnade seines Seins, schon ist bzw. sein kann. Die Gerechtigkeit Gottes wird gleichsam auf der eigenen Lebensspur im Rückwärtsgang eingelöst: „Indem die Gerechtigkeit spricht, rechtfertigt sie, indem der Gerechte die Gerechtigkeit hörend empfängt, wird er gerechtfertigt.“98
Schlussbetrachtung: „Wie im Himmel, so auf Erden.“ Abschließend werfe ich einen Blick auf die theologischen Probleme, mit denen Eckharts Himmelsvorstellung nicht nur seine Zeit, sondern auch uns heute konfrontiert. Wir fassen nochmals zusammen: Die Vaterunserbitte „Fiat voluntas tua sicut in caelo et in terra“, „Geschehe Wille dein wie im Himmel so auf Erden“, versteht Eckhart so: Der Wille Gottes bewegt den Himmel im Herzen und, wenn dies geschieht, dann schaffen die so bewegten Menschen den „Himmel“ auch auf Erden. Das theologische Problem ist dann das „exta nos“ Gottes. Gott scheint an Intensität im Menschen zu gewinnen, aber an „Höhe“ zu verlieren. Der „Bestirnte Himmel“ Immanuel Kants weckt noch planetarische Übermaße im Sinne der Schöpfung. Eckharts Weltbild ist nicht planetarisch, sondern innerlich. Eine Brücke zum „Urknall“ gibt es aber doch: den in seiner Fülle „überkochenden“ („bullitio Dei“99) Gott. Aber das Wesentliche geschieht eben nicht „oben“, sondern innen. Es gibt noch mehr Probleme: Eckharts Himmel ist ohne Mythen, d. h. ohne narratives Nacheinander von Äonen. Denn Eckhart erwähnt kein Fegfeuer, er spricht nicht vom jüngsten Gericht und erwähnt die Hölle nur als inneren Zustand. Er denkt nicht in geschichtlichen Epochen, sondern im Rundlauf („Paternoster-Aufzug“), daher gibt es keine Eschatologie. Wenn der Himmel immer schon reale Gegenwart ist, sind Äußerstes und Innerstes zugleich weit entfernt und ganz nah beieinander. Eckhart hätte wie seine Zeitgenossin Margarete Porete vom „fernnahen“ Gott sprechen können. Das Unterste ist im Obersten auf die Weise des Obersten und umgekehrt – dies aber alles „in continuo fluxu“, in ständiger Bewegung. Alles ist zugleich ausgerichtet und umkehrbar.100 Stufen wir 98 Lib. Par. Gen. n.147, LW I, 616. 99 Vgl. Bernard McGinn: The Mystical Thought of Meister Eckhart, New York 2001, 71ff. (The Metaphysics of Flow). 100 Das Motiv findet sich bei Rilke: „Vue des anges les cîmes des arbres sont les racines“ oder:
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z. B. die transzendierenden Möglichkeiten des Menschen in Begehren, Wollen und Denken, dann ist diese Hierarchie bei Eckhart auch umkehrbar: das scheinbar blinde Begehren reicht dann weiter als Wille und Vernunft. Indem sich Eckhart weigert, die Dinge nebeneinander zu stellen, sondern sie wechselseitig auseinander hervorgehen lässt, freilich mit einer inneren göttlichen Quelle, ist er mit dem philosophischen „Realismus“ der anderen großen Dominikaner, Albertus Magnus und Thomas von Aquin, nicht so leicht zu vereinbaren. Das sahen die Gutachten in Avignon, wohin sein Prozess verlegt wurde, ziemlich genau.101 Eckhart führt uns aber m. E. nicht in eine monistische Enge, sondern in eine perspektivenreiche Weite. Er kannte noch die ganze Tradition, die Bibel ohnehin wörtlich, er baute die Steine dort ab, wog und formte sie neu, und baute dann mit diesen Steinen ein „Christentum“ wieder auf. Das macht ihn verführerisch oder, wie die Bulle von 1329 sagt: er wollte mehr wissen als nötig ist. Was ist denn nötig? Und wer entscheidet das? Er selbst sagt in der Armutspredigt im Hinblick auf die präexistente „Ungeborenheit“: „Dies zu wissen, ist nicht not.“102 Der Himmel als „transkultureller ethischer Raum“? Eckharts faktische Transkulturalität ist ein spannendes Thema, das ausgiebig in der Münchner Tagung „Meister Eckhart – interreligiös“ (2014) betrachtet wurde. Ist Eckhart in eine allgemein religiöse Sprache übersetzbar? Dies ist bis zu einem gewissen Grade möglich. Freilich ist ein allgemeiner Religionsbegriff umstritten, einerseits, weil „Religion“ eine kolonialistisch-imperialistische Zuschreibung für ähnliche religiöse Verhaltensweisen war, andererseits, weil der explizite Glaube sich auch mal gern von einem regulierenden Oberbegriff „Religion“ absetzt (Karl Barth). Aber Eckhart bleibt ein christlicher Theologe, der zwar seine Herkunft aus einer bestimmten Offenbarung, die er als „Offenbarkeit“, als offen zugängliche Ersterkenntnis beschreibt, nicht aufgibt, zugleich aber die Verantwortung spürt, diese Bestimmtheit ohne Grenzziehung auszudrücken. Seine Einladung erfolgt ins Haus der Herkunft, besteht aber nicht darauf, dass dieses Haus nur das eigne Haus ist. Das ist der geistig-kulturelle Grund und Boden, auf dem es sich, wie ich meine, lohnt, auch heute nach Eckharts Theologie zu fragen.
„Blumen stürzen in die Wurzelknollen.“ Vgl. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd.2, Wiesbaden 1957, 507. 539. Zu Rilkes Motiven in der Nähe zu Meister Eckhart vgl. Isabelle Raviolo, „Rilke“, in: Encyclopédie des mystics rhénans, éd. Anne Vannier, Paris 2011; Steer, Georg: Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckarts, in: Norbert Fischer (Hg.), Gott in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, Hamburg 2014, S. 361–380. 101 Zum kontroversen Freiheitsverständnis im Eckhart-Prozess vgl. Quero-Sanchez, Andres: „Libertas enim filiorum non excludit accipere filios et Deum dare. Eine philosophische Darlegung des in Eckharts Prozess beanstandeten Freiheitsversta¨ndnisses“, in: Dietmar Mieth, Britta Müller-Schauenburg (Hg.), Mystik Recht und Freiheit, Stuttgart 2012, 123–157. 102 Pr.52, DW II, 504,3.
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Literatur Meister Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1–3 [Predigten] und Bd. 5 [Traktate] hg. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. 4,1 [Predigten] hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003 und Bd. 4,2 [Predigten] hg. von Georg Steer, Stuttgart 2003ff. Meister Eckhart: Die lateinischen Werke. Bd. I–V. hg. von Konrad Weiß, Loris Sturlese u. a. Stuttgart 1936–2007. Meister Eckhart, On the Lord’s Prayer. Introduction, text, translation, and commentary. Hg. von Vinzent, Markus, Leuven 2012. Bobbert, Monika/Mieth, Dietmar: Das Proprium der christlichen Ethik, Luzern 2015. Bussmann, Magdalena: „Reich Gottes“, historisch, in: Handbuch Theologischer Grundbegriffe, S. 15–26. Connolly, John: Living Withourt Why. Meister Eckhart′s Critique of the Medieval Concept of Will, Oxford 2014. Deuser, Hermann: Religionsphilosophie, Berlin 2009. Flasch, Kurt: Die Geburt der „Deutschen Mystik“ aus dem Geist der arabischen Philosophie, München 2006. Ders: Meister Eckhart, München 2010. Fromm, Erich: Haben oder Sein, Stuttgart 1978. Geybels, Hans: Cognitio Dei experimentalis, Leuven 2007. Haas, Alois: „Mors mystica“, in: ders.: Sermo mysticus, Freiburg/Schweiz 1979, 392–480. Lang, Bernhard: „Himmel“, in: Neues Handbuch Theologischer Grundbegriffe, hg. v. Peter Eicher, Neuausgabe 2005, Bd. 2, München 2005, 146–152. McGinn, Bernard: The Mystical Thought of Meister Eckhart, New York 2001. Mieth, Dietmar: Christus, das Soziale im Menschen. Texterschließungen zu Meister Eckhart, Düsseldorf 1972. Ders: „Experiential Ethics and Religious Experience. Some Reflections in Respect to Meister Eckhart“ (im Druck, hg. v. Stoshi Kikushi, Leuven: Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensem). Ders: „Eckharts Frauenpredigten“, in: Jörg Voigt, Berward Schmidt, Marco A. Sorace (Hg.), Das Beginenwesen in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 2015, 264–289. Dietmar Mieth, „Gelassenheit“, in: Erbe und Auftrag 90 (2014), 246–255. Quero-Sanchez, Andres: “Libertas enim filiorum non excludit accipere filios et Deum dare. Eine philosophische Darlegung des in Eckharts Prozess beanstandeten Freiheitsversta¨ndnisses“, in: Dietmar Mieth, Britta Müller-Schauenburg (Hg.), Mystik Recht und Freiheit, Stuttgart 2012, 123–157. Raviolo, Isabelle: „Rilke“, in: Encyclopédie des mystics rhénans, éd. Anne Vannier, Paris 2011. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke, Bd.2., Wiesbaden 1957. Rombach, Heinrich: Strukturontologie, Freiburg i.Br. 1971. Steer, Georg: „Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckarts“, in: Norbert Fischer (Hg.), „Gott“ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, Hamburg 2014, S. 361–380. Sturlese, Loris: Homo Divinus, Stuttgart 2007.
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Dietmar Mieth
Vinzent, Markus: Meister Eckhart „On the Lord’s Prayer“, Eckhart Texts and Studies 2, Leuven-Paris-Walpole 2012. Vinzent, Markus: „Eckharts Bildsprache in den lateinischen Predigten“, in: Sprachbilder und Bildersprache bei Meister Eckhart und in seiner Zeit, Meister Eckhart Jahrbuch Nr. 9 (2015), hg. v. Cora Dietl und Dietmar Mieth, S. 1–26. Witte, Karl Heinz: Predigt 14, „Surge illuminare Iherusalem“, in: Lectura Eckhardi, hg. v. Georg Steer und Loris Sturlese, Bd. III, 1–32, 2009. Ders: Meister Eckhart: Leben aus dem Grunde des Lebens. Eine Einführung, FreiburgMünchen 2013. Ders: „Eckhart lesen und mit ihm leben“, in: Meister Eckhart Gesellschaft, Jahrbuch 7 (2013).
Freimut Löser
Meister Eckhart und der Himmel. Ein Planetentraktat und die deutschen Predigten
Aufbau des Teleskops Meister Eckhart (ca. 1260–1328) gilt als bedeutender deutscher Prediger des Mittelalters. Er gilt als jemand, der die deutsche Sprache entscheidend beeinflusst hat, die Literatur dazu (man denke an Eckharts âne eigenschaft und an Musil). Er gilt, insbesondere in Frankreich, Italien, England, den USA und Japan als der bedeutendste deutsche Philosoph des Mittelalters. Er wird, obwohl Kurt Flasch immer wieder Versuche unternommen hat, „ihn aus dem mystischen Strom zu retten“, immer noch als Mystiker geführt – als bedeutendster deutscher Mystiker des Mittelalters. Dass er einen ‚Planetentraktat‘ geschrieben haben könnte und sich auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht mit der Frage der Sterne und des Himmels beschäftigt haben könnte, lag bisher nicht in der Reichweite der Forscherteleskope. Ich bin Meister Eckharts Himmelsauffassungen im Lauf meiner Beschäftigung mit ihm an drei Stellen und zu drei verschiedenen Zeiten begegnet: – Einmal fand ich im Jahr 1989 im österreichischen Stift Melk einen Traktat über die Planeten, der die Himmelserscheinungen geistlich auslegt und für den sich die Frage stellte, ob er von Meister Eckhart stammen könnte.1 – Zum zweiten bin ich bei der Entdeckung einer bis dahin unbekannten Eckhart-Predigt in einer Handschrift der Frage begegnet, ob Meister Eckhart den Mond als Hefe oder als Hebamme des Himmels bezeichnet.2 – Und drittens ergab sich im Frühjahr 2014 in München auf einer Tagung der internationalen Meister Eckhart-Gesellschaft über die Internationalität und Aktualität Meister Eckharts die Frage, ob die Art und Weise, wie Jacques
1 Freimut Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ‚Von der sel wirdichait vnd aigenschafft‘ (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999. 2 Freimut Löser, Als ich mê gesprochen hân. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, ZfdA 97 (1986), S. 206–227.
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Derrida eine bedeutende Predigt Meister Eckharts interpretiert, in der dieser auch über die Gestirne spricht, so stehen bleiben kann.3 Alle diese Fragen lassen sich nur durch eine annähernde Gesamtschau darauf beantworten, welche Rollen die Planeten und der Himmel in Eckharts Texten spielen, wobei ich mich hier auf seine deutschen Texte konzentrieren muss. Welcher Kosmos eröffnet sich, wenn Eckhart vom Kosmos spricht?
Beobachtung 1: Ein Planetentraktat im Fokus ‚Planetentraktate‘ sind, der Definition Francis B. Brévarts zufolge,4 „[p]arawissenschaftliche, meist in Prosa geschriebene Texte, die in […] schwankender Ausführlichkeit über die Eigenschaften der sieben Planeten sowie über deren Einfluß auf den Menschen (Mikrokosmos) bzw. die Welt berichten. […] Als Gliederungsgerüst ergibt sich die – zuletzt von Ptolemäus festgelegte – Planetenfolge, in der Regel beginnend mit dem obersten (erdfernsten) Wandelstern Saturn […]“.
Dies alles ist in dem geistlichen Traktat, von dem die Rede ist, nur insofern der Fall, als die charakteristische Reihenfolge der Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond gewahrt wird. Die Auslegung entspricht freilich nicht dem naturwissenschaftlichen Ansatz, sondern sie folgt geistlichen Regeln und zielt auf eine religiös-spirituelle Thematik, die die Eigenschaften der Planeten allegorisch ausdeutet. Der benediktinische Laienbruder Lienhart Peuger, der im Jahr 1418 zu Beginn der dortigen Reform in das Stift Melk eintrat, hat dort als Bibliothekar der Laienbrüder fungiert, mehr als 25 Handschriften geschrieben und zwei seiner großen Folianten mit Predigten und Kurztraktaten gefüllt: Dort hat er das Werk des Anregers der Melker Reform, des bedeutenden Wiener Theologen Nikolaus von Dinkelsbühl, mit gut 60 Predigten Meister Eckharts vereint. In einer dieser Handschriften begegnet auch der genannte Traktat, der in seiner Überschrift als Ein churtze awslegung von den planeten geistleich non M. Nicolai bezeichnet wird. Damit wird ausgesagt, dass der Text nicht von Magister Nikolaus stammt; und so stellte sich die Frage, ob er von Meister Eckhart herrühren könnte. Denn zum einen war in ihm die Auslegung der sieben Planeten enthalten, wie sie auch in der Predigt Nr. 67,1 begegnet, die so vom ersten Eckhart-Herausgeber Franz 3 Freimut Löser, Meister Eckhart – postmodern? Gedanken zu Predigt 9 (Quasi stella matutina), in: MEJb 10, S. 49–74. 4 Vgl. Francis Brévart, Artikel ‚Planetentraktate‘, in: Kurt Ruh u. a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 7, Berlin, New York 21989, Sp. 715–723, hier Sp. 715f.
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Pfeiffer unter Eckharts Namen gedruckt worden war.5 Des Weiteren fanden sich in diesem Traktat zahlreiche Stellen, die an Predigtstellen Meister Eckharts erinnern. So sind etwa Aussagen über den Himmel, ganz ähnlich oder fast gleichlautend in Eckharts Predigt 61 zu lesen; ich stelle Auszüge aus dem Traktat links den entsprechenden Passagen der Predigt rechts gegenüber: pey dem himel sol man sunder vier ding Vier dinc sol man prüeven an dem himel: versten: Das ist das er staͤ t ist vnd rain vnd daz er stæte ist und reine und beheltet alliu pehalt alle ding an im und macht mit seim dinc in im und daz er vruhtsam ist. influzz dy nydern ding fruchtpaͤ r. Dy vier ding sol ein mensch an im haben, Disiu dinc suln sîn an dem menschen, der der ein himel well sein der wanung gots. Des ein himel sîn sol, dâ got inne wonet: daz er sî ersten sol er staͤ t sein als der himel stæte, als der himel stæte ist. Diu schrift sprichet:] swaz dem guoten menschen zuokumet, daz enwandelt in niht. Vriundes wille mit sînes vriundes willen ist éin wille. Alsô ist ez zemâle mit also das sein willen nach dem willen gots dem menschen, der éinen willen mit gote sey. hât: übel und guot, liep und leit ist im alles einez. Dar umbe sprichet unser herre: wann das haws, das awff einn vels pawt ist ‚swelch hûs gebûwet ist ûf einen stein, daz das ist sicher vnd vesst envellet niht‘.6
5 Franz Pfeiffer, Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts. Band 2: Meister Eckhart, Aalen 1962 [Leipzig 1857] (künftig: Pf.). 6 Meister Eckharts Werke werden zitiert nach: Meister Eckhart. Die deutschen Werke, Bd. 1–3 [Predigten] und Bd. 5 [Traktate] hg. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. 4,1 [Predigten] hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003 und Bd. 4,2 [Predigten] hg. von Georg Steer, Stuttgart 2003ff. Sowie: Konrad Weiß, Loris Sturlese u. a. (Hg.): Meister Eckhart. Die lateinischen Werke. Bd. I–V, Stuttgart 1936–2007. Hier: DW III, Pr. 61, S. 40,6–41,3. Übersetzung ebd. S. 511: „Viererlei soll man an dem Himmel erkennen: daß er beständig ist und alle Dinge in sich umfaßt und daß er fruchtbar ist. Diese Dinge sollen sich bei einem Menschen vorfinden, der ein Himmel sein soll, in dem Gott wohnt: daß er beständig sei, wie der Himmel beständig ist. [Die Schrift sagt:] Was dem Menschen zufällt, das verwandelt ihn nicht. Der Wille eines Freundes ist mit dem Willen eines Freundes ein ‹einziger› Wille. Ganz so ist es mit dem Menschen, der einen Willen hat mit Gott: Übles und Gutes, Lieb und Leid ist ihm völlig eins. Darum sagt unser Herr: ‚Jedes Haus, das auf einen Fels gebaut ist, das stürzt nicht ein‘ ‹Matt. 7,24›.“
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(Fortsetzung) Zwm andern mal so ist der himel rain. wer Ze dem andern mâle vinden wir reinicheit ein trüebs wasser siecht, der mag seiner und lûterkeit an dem himel, als man merken mac an dem wazzer: swenne ez trüebe gestalt dar inn nicht erchennen. ist, swaz man danne dar über heltet, daz enbildet sich niht in daz wazzer, wan ez mit dem ertrîche vermenget ist. Swenne ez aber lûter und unvermenget ist, swaz man danne dar über heltet, daz bildet sich dar în. Alsô Also ist des menschen sel: dy weil sy mit ist ez mit dem menschen: die wîle er mit den tzeitleichen dingen in ir selber gemengt ist, irdischen dingen gemenget ist, sô enkan er so mag sy die rainchait gots des himlischen sîne reinicheit noch gotes lûterkeit niht bekennen.8 herscher nicht erchennen.7
Eine weitere genauere Überprüfung und Detailvergleiche ergaben, dass es sich bei dem geistlichen Planetentraktat von der Hand des Laienbruders Peuger nicht um ein Werk Eckharts, sondern um eine Kompilation Peugers handelt, die alle greifbaren Stellen aus Texten Meister Eckharts versammelt, in denen dieser die Planeten und andere Himmelsphänomene behandelt und ausdeutet. Eine dieser Stellen ist zudem wegen ihrer textkritischen, philologischen Bedeutung von hohem Wert. Im Traktat heißt es: wann ye nahenter dy sunn der erden ist, ye mynner sy chrafft der frucht hat. Der man, der ein hefen des himels haisst, der ist der erden nahenter dann chain stern vnd hat natürleich prechen vnd ist ettwann liecht vnd ettwann vinster. Also ist es vmb dy sel: ye nahenter sy den tzeitleichen dingen ist, ye vnedler sy ist.9
7 Planetentraktat nach der Handschrift Melk, Stiftsbibliothek, cod. 705 (Me2), fol. 433ra–439ra. 8 DW III, Pr. 61, S. 42,3–8. Übersetzung ebd. S. 511: „Zum zweiten finden wir am Himmel Reinheit und Lauterkeit, wie man am Wasser beobachten kann: Wenn es trüb ist, so bildet sich das, was man darüber hält, nicht im Wasser ab, denn es ‹= das Wasser› ist mit Erde vermengt. Wenn es aber lauter und unvermengt ist, dann bildet sich das, was man darüber hält, darin ab. So ‹auch› ist es mit dem Menschen: Solange er mit den irdischen Dingen vermengt ist, so kann er seine Reinheit und Gottes Lauterkeit nicht erkennen.“ 9 Me2 [Anm. 7], f. 437rb. Meine Übersetzung: Denn je näher die Sonne der Erde ist, umso weniger fruchtbringende Kraft hat sie. Der Mond, der eine ‚Hefe des Himmels‘ genannt wird, der ist der Erde näher als irgendein anderer Stern und hat natürliche Mängel und ist manchmal hell und manchmal finster. Genauso ist es mit der Seele: je näher sie den zeitlichen Dingen ist, umso unedler ist sie.
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Beobachtung 2: Der Mond als Hefe oder als Hebamme? Der in der Eckhart-Forschung inzwischen bekannte Hintergrund der Stelle ist folgender:10 In der von Josef Quint kritisch edierten Predigt 68 Scitote, quia prope est regnum dei scheint Eckhart einen ähnlichen ebenso ungewöhnlichen Vergleich zu benutzen: Der himel ist ouch reine und klâr sunder alle vlecke âne den mânen. Die meister heizent in eine hebeamme des himels, daz niderste bî der erden.11 Hier freilich ist nicht von der „Hefe“, sondern von der „Hebamme“ die Rede. Allerdings war es der Editor Quint, der den Text dergestalt konjiziert, ‚verbessert‘ hat. Die Predigt ist an dieser Stelle nur in einer Handschrift überliefert; und diese nennt den Mond – wie der Melker Traktat auch – eyne¯ heuen des hemels. Der Editor Quint hielt heuen aber für „offenbar verderbt“, für „entstellt aus mhd. hebeamme“. Zur Erklärung verwies er auf Eckharts Genesiskommentar, wo dieser von luna quasi Lucina spreche.12 Lucina aber sei der Name der Geburtsgöttin (Juno).13 Die von Eckhart in der deutschen Predigt 68 angeführten meister, die den Mond demnach als Hebamme des Himmels bezeichnen müssten, konnte Quint freilich nicht identifizieren. Es gibt sie auch nicht. Die wahre Ansicht Eckharts fand sich über den ‚Umweg‘ der eben zitierten Stelle aus dem Traktat und einer gleichlautenden Textstelle aus einer ebenfalls in der Melker Handschrift überlieferten vollständigen Predigt: Der man, der ein hefen [!] des himels ist, der ist der erden nahenter dann chain stern vnd hat vil prechen; er ist ettwann liecht vnd etwann vinster.14 Es handelt sich dabei aber nicht um die kritisch edierte Predigt Nr. 68 , sondern um eine Stelle aus einer Predigt, die Quint noch unbekannt war und die ich erst 1989 entdeckt und als Predigt Meister Eckharts zum Textwort Lc 21,25–28 erkannt habe.15 Der einzige Textzeuge einer bis dahin unbekannten Predigt stützte damit den einzigen Textzeugen einer bekannten und kritisch edierten
10 Vgl. zum Folgenden: Freimut Löser, Einzelpredigt und Gesamtwerk. Autor- und Redaktortext bei Meister Eckhart, editio 6 (1992), S. 43–63, hier S. 46–48. 11 DW III, Pr. 68, S. 147,4–6; Übersetzung ebd., S. 532f.: „Der Himmel ist auch rein und klar ohne alle Flecken, wenn man vom Monde absieht. Die Meister nennen ihn eine Hebamme des Himmels, das Unterste ‹dicht› bei der Erde.“ 12 In Gen. n. 106, LW I, S. 261,1f. 13 DW III, S. 147, Anm. 2. 14 Me2 [Anm. 7], fol. 297vb. Meine Übersetzung: Der Mond, der ein hefen des Himmels ist, der ist der Erde näher als irgendein anderer Stern und hat viele Mängel; er ist manchmal hell, manchmal finster. 15 Freimut Löser, Nachlese. Unbekannte Texte Meister Eckharts in bekannten Handschriften, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter, hg. von Volker Mertens / Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 125–149, hier S. 138–141.
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Predigt gegen eine Konjektur des damaligen Herausgebers.16 Denn beide Handschriften nennen, wie auch der Traktat, den Mond ein hefen des Himmels. War man erst einmal auf diese Merkwürdigkeit aufmerksam geworden, ließen sich einige Parallelen aus Eckharts lateinischem Werk identifizieren, wo Mond und Erde als faex (=Hefe!) bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um einen von Eckhart in den lateinischen Werken mehrfach verwendeten Vergleich zur Illustration der (auch den deutschen Werken keineswegs fremden) Vorstellung, dass die Mondsphäre Hefe und Bodensatz, sprich: die unterste der Himmelsphären, die Erde das unterste der Elemente sei. So erklärt die niedrige Position des Mondes seine Flecken und seine Schadhaftigkeit im Vergleich zum reinen Himmel und macht damit die ganze Predigt Eckharts besser verständlich. Diese Predigt 68 der kritischen Edition gilt dem Textwort ‚Scitote quia prope est regnum dei‘ ‚wizzet, wan daz rîche gotes iu nâhe ist‘ [Lc 12,31]. Dem mittelalterlichen Dominikanermissale zufolge ist die liturgische Zeit dieser Predigt der zweite Adventssonntag. Eckhart predigt an diesem Tag über die Frage, was es heißt, dass das Reich Gottes uns nahe ist, und er bringt das Reich Gottes, freilich auf ganz andere Weise, als man das gewohnt ist, in Zusammenhang mit dem Himmel (DW III, S. 144–148), wenn er zusammengefasst sagt: Gott sei in allen Dingen den Kreaturen glîche nâhe. Das Auge erkenne den Himmel, weil es ihm glîche sei. Das heißt: Sol diu sêle got bekennen, sô muoz si himelisch sîn. Denn schon die antike Lehre sage, dass der Himmel keinen fremden Eindruck aufnehme; Eckhart entspricht hier der Aristotelischen Lehre, dass der Himmel inkorruptibel sei; das bedeutet Eckhart zufolge, geistlich ausgelegt: In der Seele, die Gott erkennen soll, darf nichts sein, weder Freude noch Kummer, weder Hoffnung noch Furcht, weder Liebe noch Leid. Der Himmel sei ouch an allen enden glîche verre der erden. Alsô sol ouch diu sêle glîche verre sîn allen irdischen dingen, daz si dem einen niht næher ensî dan dem andern. Dâ diu edel sêle ist, dâ sol si eine glîche verre haben von allen irdischen dingen, von hoffenunge, von vröude und jâmer; swaz des ist, daz sol zemâle ûferhaben sîn. Der himel ist ouch reine und klâr sunder alle vlecke âne den mânen. Die meister heizent in eine hebeamme [nein: eben eine hefe!] des himels, daz niderste bî der erden. Den himelen berüeret noch stat noch zît. Alliu lîplîchiu dinc enhânt dâ keine stat; und der die schrift volgründen kan, der bekennet daz wol, daz der himel keine stat enhât. Er enist ouch niht in der zît; sîn louf ist unglouplich snel. Die meister sprechent, daz sîn louf ist sunder zît; mêr: von sînem loufe kumet diu zît. Niht enist, daz die sêle sô sêre hinder in gotes bekantnisse als zît und stat.
16 Vgl. – inhaltlich ähnlich – DW I, Pr. 9, S. 156,2–4: und dâ von, daz er der erde næher ist dan kein sterne, sô hât er zwêne schaden: daz er bleich und vleckeht ist und daz er sîn lieht verliuset. Übersetzung ebd. S. 465: „Davon aber, daß er der Erde näher ist als irgendein Stern, hat er zwei Nachteile: daß er bleich und fleckig ist und daß er sein Licht verliert.“
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Zît und stat sint stücke, und got ist éin. Her umbe, sol diu sêle got bekennen, sô muoz si in bekennen obe zît und obe stat.17
Die Lehre vom Mond als Hefe und Bodensatz und niederstes Element des Himmels bedingt hier seine fleckige Schadhaftigkeit. Die himmlische Seele soll nicht mondhaft der Erde nahe sein, sondern fern von allen irdischen Dingen, hoch erhaben, rein und klar. Eckhart verbindet eine Reihe von Lehren über den Himmel; er sei: – überall der Erde gleich fern, – rein und klar und inkorruptibel (mit Ausnahme eben des bodensatzhaften Mondes, der der Erde näher ist als die anderen Himmelskörper), – unberührt (und unberührbar) von Statt und Raum und damit ohne Ort, – jenseits der Zeit, nämlich schnell im Umlauf, der von der Zeit unberührt ist und Zeit erst generiert. Alle diese Aussagen überträgt Eckhart (denn „das Reich Gottes ist nahe bei uns!“) auf die menschliche Seele und leitet daraus ‚Verhaltensregeln‘ ab, die die Seele himmlisch machen können: – sie muss allen irdischen Dingen fern sein; – sie muss rein und erhaben und vom Irdischen nicht korrumpiert sein; – sie muss jenseits von Ort und Zeit sein; – sie muss sich von allem, was Teil und Stück ist, fernhalten und zum Einen streben. Auf diese Weise wird das Reich Gottes als menschliche Seele und Himmel in uns erkennbar. Der Himmel, die Sterne und die Planeten werden gewissermaßen auf das Irdische zurückgewandt, um jene Freiheit vom Irdischen auszudrücken, die oft im Zentrum von Eckharts Lehre steht. Die Sterne signalisieren eine Welt der Erhabenheit über Raum und Zeit, über Leid, aber auch über Freude, eine Welt der reinen Gotteserkenntnis. 17 DW III, Pr. 68, S. 147,1–148,4. Übersetzung ebd. S. 532f.: „Der Himmel ist weiterhin an allen Orten gleich fern von der Erde. So auch soll die Seele gleich fern sein von allen irdischen Dingen, so daß sie dem einen nicht näher sei als dem andern. Wo die edle Seele ist, da soll sie sich gleich fernhalten von allen irdischen Dingen, von Hoffnung, von Freude und Jammer; was es auch sei, das soll ihr völlig entrückt sein. Der Himmel ist auch rein und klar ohne Flecken, wenn man vom Monde absieht. Die Meister nennen ihn eine Hebamme [Hefe!] des Himmels, das Unterste ‹dicht› bei der Erde. Den Himmel berührt weder Raum noch Zeit. Alle körperlichen Dinge haben darin keine Stätte; und wer die Schrift zu ergründen vermag, der erkennt das wohl, daß der Himmel keine ihn bestimmende Statt ‹= Ortung› hat. Er steht auch nicht innerhalb der Zeit; sein Umlauf ist unglaublich schnell. Die Meister sagen, sein Lauf ist zeitlos; von seinem Laufe aber kommt die Zeit. Nichts hindert die Seele so sehr an der Erkenntnis Gottes wie Zeit und Raum. Zeit und Raum sind Stücke, Gott aber ist Eines. Soll daher die Seele Gott erkennen, so muß sie ihn erkennen oberhalb von Zeit und Raum.“
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Beobachtung 3: Meister Eckhart, Jacques Derrida und der Himmel Eine zweite ‚Himmelspredigt‘ Meister Eckharts, die Predigt 9 (Quasi stella matutina) ist berühmt geworden; und dies über die Eckhart-Forschung hinaus, weil sie der Text ist, auf den Jacques Derrida seine Eckhart-Deutung aufgebaut hat.18 Diese findet sich in einem Vortrag, den Derrida 1987 unter dem Titel „Comment ne pas parler“ in Jerusalem gehalten hat.19 In diesem Text nimmt Derrida insgesamt dreimal explizit Bezug auf Eckhart (und zwar ausschließlich eben auf dessen Predigt 9 Quasi stella matutina). Dabei scheidet er sein eigenes Verfahren der Dekonstruktion scharf von der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita und Meister Eckharts, die – im Gegensatz zu Derrida selbst – eine „Hyper-Essentialität ins Werk“ setzen würden. Derrida nimmt Bezug auf Eckharts Aussage, Gott sei „weise ohne Weisheit, gut ohne Gutheit, gewaltig ohne Gewalt.“20 Das Wort ‚ohne‘ verwandle seine rein phänomenale Negativität in Bejahung – im selben Wort und in derselben Syntax. Derrida wendet sich zugleich gegen die von Eckhart angeblich konstruierte „Hyper-Essentialität“, übernimmt aber dessen sprachliches Verfahren der gleichzeitig negierten (gewissermaßen ins ‚Ohne‘ gesetzten) Aussage. Denn Derrida geht es darum, zu fragen, wie man sprechen kann ohne zu sprechen. Was kann man vom Unsagbaren sagen? Derrida hat gesehen, wie Eckhart hier durch die Verwendung des ‚ohne‘ die reine Negierung in eine positive Bestimmung verwandelt. Gott ist nicht einfach nicht wîse, er ist wîse âne wîse: ein Absolutes, das wîse einschließt und ausschließt. Das Unbestimmbare, das Eckhart so zu benennen versucht, überragt – wie es der Himmel tut – Sein und Raum und Zeit und alle Kategorien und es überragt die Subjekt-Objekt-Relation als solche. Das Sein ist Gott damit nicht genommen, sondern eben, wie Eckhart sagt, überhöht: Grobe meister sprechent, got sî ein lûter wesen; er ist als hôch über wesene, als der oberste engel ist über einer mücken. Ich spræche als unrehte, als ich got hieze ein wesen, als ob ich die sunnen hieze bleich oder swarz. Got enist weder diz noch daz. […] Daz ich aber gesprochen hân, got ensî niht ein wesen und sî über wesene, hie mite enhân ich im niht wesen abegesprochen, mêr: ich hân ez in im gehœhet.21 18 Vgl. zum Folgenden: Löser, Meister Eckhart – postmodern? [Anm. 3]; Eckharts Predigt 9 in DW I, S. 138–158. 19 Ich zitiere die deutsche Ausgabe: Jaques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen. Herausgegeben von Peter Engelmann, Wien 1989. 20 DW I, Pr. 9, S. 463 [= Übersetzung von Quint]. 21 DW I, Pr. 9, S. 145,7–146,3 und 146,4–6. Übersetzung ebd. S. 463: „Grobsinnige Meister sagen, Gott sei ein lauteres Sein; er ist so hoch über dem Sein, wie es der oberste Engel über einer Mücke ist. Ich würde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte, wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist weder dies noch das. […] Wenn ich aber gesagt habe, Gott sei kein Sein und sei über dem Sein, so habe ich ihm damit nicht das Sein abgesprochen, vielmehr habe ich es in ihm erhöht.“
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Eckhart setzt, um diese Überhöhung des göttlichen Seins aussagen zu können, gerade auch hier Himmelsvergleiche ein (hôch, der oberste engel ist über, sunne). Gott wird so das Sein nicht abgesprochen, und Gottes Sein wird auf diese Weise tatsächlich erhöht; räumlich erhöht, aber jenseits jeden Raumes; sprachlich erhöht, aber jenseits der Sprache. Benutzte man zur Darstellung von Eckharts Methode die Methode Heideggers und Derridas (die sie von Eckhart hergeleitet haben), dann ließe sich Gottes Sein bei Eckhart so schreiben:
Die mittelalterlichen Schreiber der Handschriften, die die Predigt überliefern, haben dies verstanden. Sie überliefern den Satz, damit sei Gott das Sein nicht abgesprochen, sondern letztlich sogar erhöht, korrekt und klar. Sie haben aber auch verstanden, dass diese Wahrheit durch die Autorität des Predigers und des Textes gestützt ist und dass sie gleichzeitig eine ethische Aussage enthält. Für den Basler Drucker, der 1522 diese Predigt druckte, steht dieser ethische Aspekt der Predigt in einer eigens formulierten Einleitung sogar im Vordergrund. Er bezieht sich dabei auf das Textwort vom Morgenstern im Nebel: Disiu wort leit man gemeinlîche zuo den heiligen götlichen lêrêren, die mit ir tugentrîchem lebenne unde götlîcher kunst den weltlîchen herzen, diu mit den crêatûren verhaftet in dem nebel […] oder vinsternüsse der unwizzenheit als die blinden ûf dem wege zu˚ ewigem heile irre gênt, geschinen unde geliuhtet hânt, als […] dirre heiliger vater, des wir hiute gedenken, sant Dominicus genant, ein ûfenthalter der kristenheit und ein stifter bredier ordens, den er, ze verkündenne daz gotes wort unde ze helfenne dem armen sünder, ane gevangen und ûf gesetzet hât. Nû sprichet diu geschrift, er habe geliuhtet als ein morgensterne in dem tempel gotes.22
Die heiligen Lehrer wie Eckharts Ordensgründer Dominikus werden auf diese Weise zu Beispielen, Vermittlern, Vorbildern, deren tugendhaftes Leben Eckharts Himmelsvergleich zufolge wie der Morgenstern als Wegweiser leuchtet; in der Predigt geht es dem Baseler Druck zufolge dementsprechend um die Frage, was (eigentlich zu˚ reden) gu˚ t sey. Mindestens für die Rezipienten der Eckhart’schen Predigt hat sie also einen eminent ethischen Aspekt. Der himmlische Morgen22 Basler Taulerdruck, Zitat nach DW I, S. 141. Meine Übersetzung: Diese Worte legt man ganz allgemein im Blick auf die heiligen von Gott durchdrungenen Lehrer aus, die mit ihrem tugendhaften Leben und mit ihrer göttlichen Kunst den weltzugewandten Herzen geschienen und geleuchtet haben, die, im Nebel oder in der Finsternis der Unwissenheit den Geschöpfen verhaftet, auf dem Weg zu ewigem Heil wie die Blinden in die Irre gehen. So wie dies der Heilige Vater getan hat, dessen wir heute gedenken, der Heilige Dominikus, ein Erhalter der Christenheit und ein Stifter des Ordens der Prediger, den er begonnen und mit einer Regel ausgestattet hat, um das Wort Gottes zu verkünden und dem armen Sünder zu helfen. Jetzt also sagt die Heilige Schrift, er habe im Tempel Gottes wie ein Morgenstern gestrahlt.
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stern im Nebel des irdischen Lebens wird von ihnen als Wegweiser zu einem rechten, tugendhaften Leben gesehen. Man könnte sagen, solche spätmittelalterlichen Eckhartrezipienten binden seine Aussagen noch stärker ins Irdische zurück als er selbst; die ethischen Fragen werden jetzt denkbar konkreter und die Predigt soll vor Verunreinigungen schützen. Eckhart wendet sich in der Predigt vor allem aber auch der Frage zu, wie das Verhältnis des Menschen zu Gott gedacht werden kann. Er wählt auch dazu die Sprache der Sterne. Diese Stelle hat Derrida ebenfalls bewegt. Die Sterne dienen gewissermaßen als Lebenskompass, den rechten Weg zu finden: ‚Als ein morgensterne miten in dem nebel‘. Ich meine daz wörtelîn ‚quasi‘, daz heizet ‚als‘, daz heizent diu kint in der schuole ein bîwort. Diz ist, daz ich in allen mînen predigen meine.23 Das nimmt Bezug auf den Textbeginn: ‚Als ein morgensterne miten in dem nebel Quasi stella matutina in medio nebulae und als ein voller mâne in sînen tagen et quasi luna plena in diebus suis lucet und als ein widerschînendiu sunne et quasi sol refulgens, alsô hât dirre geliuhtet in dem tempel gotes‘. sic iste refulsit in templo dei [Sir 50,6f.]. […] Waz ist ‚got‘ und waz ist ‚tempel gotes‘? 24
Die Übersetzung ist hier recht genau; man sieht das an meiner Wortsynopse des im Original natürlich nacheinander folgenden lateinischen Zitats und seiner deutschen Übersetzung durch Eckhart. Eckharts Schlüssel ist das dreimal wiederholte quasi, mit dem er sich in einer grammatischen Spekulation beschäftigt: Ich meine daz wörtelîn ‚quasi‘, daz heizet ‚als‘, daz heizent diu kint in der schuole ein bîwort.25 Eckharts Auslegung, die mehr von der Grammatik als der Übersetzung von quasi (= als) inspiriert ist, gipfelt in der Feststellung: Der mensche […] sol sîn als ein morgensterne: iemermê gote gegenwertic und iemermê bî und glîch nâhe und erhaben über alliu irdischiu dinc und bî dem worte [das Gott ist] sîn ein bîwort26. Man könnte sagen, dass sich Eckharts Theologie hier einerseits 23 DW I, Pr. 9, S. 154,7–9. Übersetzung ebd. S. 465: „‚Wie ein Morgenstern mitten im Nebel.‘ Ich richte mein Augenmerk nun auf das Wörtlein ‚quasi‘, das heißt ‚gleichwie‘; das nennen die Kinder in der Schule ein ‚Beiwort‘. Dies ist es, auf das ich’s in allen meinen Predigten abgesehen habe.“ 24 DW I, Pr. 9, S. 141,1–7; Übersetzung ebd. S. 462: „‚Wie ein Morgenstern mitten im Nebel und wie ein voller Mond in seinen Tagen und wie eine strahlende Sonne, so hat dieser geleuchtet im Tempel Gottes‘ ‹Jes. Sir. 50, 6/7›. […] Was ist „Gott“, und was ist ‚Tempel Gottes‘?“ 25 DW 1, Pr. 9, S. 154,7f. Übersetzung in Anm. 23. 26 DW 1, Pr. 9, S. 156,9–157,2. Übersetzung ebd. S. 465: „Der Mensch […], der muß sein wie ein Morgenstern: immerzu Gott gegenwärtig und immerzu ‚bei‘ ‹ihm› und gleich nahe und erhaben über alle irdischen Dinge und muß bei dem ‚Worte‘ ein ‚Beiwort‘ sein.“
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der Himmelslehre, andererseits der grammatikalischen Ebene bedient: Das lateinische quasi oder das mittelhochdeutsche als (nhd. ‚wie‘) werden nicht von ihrer Semantik oder Wortbedeutung her ausgelegt, sondern von ihrer grammatikalischen Funktion und ihrer Wortklasse her gesehen: Quasi ist ein bîwort; also signalisiert es, dass wir bî dem wort ein bî-wort sein sollen. Eckharts interpretatorischer Ansatz für Quasi stella beruht damit nicht auf der Bedeutung eines Wortes (quasi) auf lexikalischer Ebene. Quasi deus, also wie Gott zu sein wäre dem Denker der Einheit, Eckhart, viel zu wenig. Es ist die grammatikalische Ebene (des bî-wort), die die wahre Bedeutung trägt: Wir sollen nicht nur wie Gott sein (quasi deus), sondern als Bei-Wort dem Wort ganz nahe. Gegen Ende der Predigt wendet sich Eckhart unmittelbar den Sternen zu, um sein Verständnis von bîwort zu erklären; er kann dies tun, weil sich seiner Ansicht nach die Ordnungsstrukturen der Planetenlaufbahnen und der Sprache entsprechen: Als der vrîe sterne, nâch dem vrîtac genant ist, Vênus: der hât manigen namen. Als er vor der sunnen gât und er ê ûfgât dan diu sunne, sô heizet er ein morgensterne; als er der sunnen nâch gât, alsô daz diu sunne ê undergât, sô heizet er ein âbentsterne. Etwenne loufet er ob der sunnen, etwenne bî niden der sunnen. Vor allen sternen ist er alwege glîch nâhe der sunnen; er enkumet ir niemer verrer noch næher und meinet einen menschen, der hie zuo komen wil, der sol gote alle zît bî und gegenwertic sîn, alsô daz in niht von gote müge geverren weder glücke noch unglücke noch kein crêatûre.27
Die Besonderheit des ‚freien‘ Sterns Venus ist es, der Sonne immer gleich nah zu sein. Gerade so wie das Adverb für das Verb, so ist die Venus ein ständiger Begleiter der Sonne, morgens und abends. Dieser Stern hat Bedeutung, er meinet. Er meint das Verhältnis zwischen Mensch und Gott, er bedeutet den Menschen, der sich nicht von Gott entfernen lässt und der alle Zeit bei Gott ist; aber er ist auch – und das ist entscheidend – vrî; er ist engster Begleiter Gottes aus freiem Willen. Es folgt die eingangs besprochene Stelle über den Mond als Hefe. Der ist, wie wir gesehen haben, wenn er der niederen Erde nahe ist, schadhaft, bleich und fleckig, wenn er aber der Sonne nahe ist, ist er voll und von ihrem Licht über-
27 DW I, Pr. 9, S. 155,3–155,11. Übersetzung ebd. S. 465: „So wie der ‚freie Stern‘, nach dem der ‚Freitag‘ benannt ist, die Venus: der hat manchen Namen. Wenn er der Sonne voraufgeht und eher aufgeht als die Sonne, so heißt er ein ‚Morgenstern‘; wen er aber hinter der Sonne hergeht, so daß die Sonne eher untergeht, so heißt er ein ‚Abendstern‘; manchmal läuft er oberhalb der Sonne, manchmal unterhalb. Von allen Sternen ist er der Sonne beständig gleich nahe; er kommt ihr niemals ferner noch näher und zeigt damit an, daß ein Mensch, der hierzu kommen will, Gott allezeit nahe und gegenwärtig sein soll, so daß ihn nichts von Gott entfernen kann, weder Glück noch Unglück noch irgendeine Kreatur.“
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strahlt. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: Ie mêr diu sêle erhaben ist über irdischiu dinc, ie kreftiger si ist.28 Eckharts Beispiele sind mehr als Beispiele oder Allegorien. Sie sind direkte Aussagen. Durch sie spricht Gott. Die Grammatik der menschlichen Sprache und der Wortlaut der heiligen Schrift sprechen die gleiche Sprache wie die Sprache der Planeten. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ableiten lässt, lautet: Der niht dan die crêatûren bekante, der endörfte niemer gedenken ûf keine predige, wan ein ieglîchiu crêatûre ist vol gotes und ist ein buoch. Der mensche, der hie zuo komen wil, dâ von hie gesprochen ist – hie gât alliu diu rede zemâle ûf – der sol sîn als ein morgensterne: iemermê gote gegenwertic und iemermê bî und glîch nâhe und erhaben über alliu irdischiu dinc und bî dem worte sîn ein bîwort.29
Die grammatikalische Funktion des Adverbs, der Abend- und Morgenstern und der Mond – sie alle verweisen auf dieselbe Aussage; die menschliche Sprache und die Planeten verkünden im Gleichklang: Wir sollen Gott gleich sein; und zwar nicht, indem wir ihm nur gleichen, sondern indem wir ihm immer ganz gleich, ganz nahe sind. Jeder kann diese Sprache und diese Spuren Gottes in der Sprache und im Himmel lesen. Eckhart steht mit der Vorstellung von der Welt als Buch Gottes, das wir nur zu lesen lernen müssen, um Gott zu erkennen, im Mittelalter nicht alleine, sondern rekurriert auf eine weitverbreitete Vorstellung. Die Zeichenhaftigkeit seiner Welt ist damit eine andere als die Zeichenhaftigkeit der postmodernen Welt. Die Spuren von Eckharts Buch der Natur sind entschlüsselbar und sie führen alle in die gleiche Richtung, die Derrida so interpretiert: „Die Predigt ersetzt […] nicht so sehr das Wort, das dessen gar nicht bedarf, sondern die Unfähigkeit zu lesen, zu lesen in einem echten „Buch“, welches wir sind, als Kreaturen, und die Beiworthaftigkeit, die wir eben dadurch sein müssen.“30
Ich lese die Predigt anders: Sie ist kein Ersatz, wir müssen nicht beiworthaft sein, sondern wer Gottes Fußspuren lesen kann, der bedarf keiner Predigt; und dann kann auch ein Prediger schweigen, weil die Auslegung der letzten Wahrheiten eben durch Gottes Fußspur selbst erfolgt. Auch das ist kein Ersatz, sondern die Zeichenhaftigkeit der Welt, die, recht gelesen, immer dieselbe Aussage enthält, in allen ihren Zeichen, in unserer eigenen Sprache wie in der Sprache der Sphären. 28 DW I, Pr. 9, S. 156,6f. Übersetzung ebd. S. 465: „Je mehr die Seele über irdische Dinge erhaben ist, um so kräftiger ist sie.“ 29 DW I, Pr. 9, S. 156,7–157,2. Übersetzung ebd. S. 465: „Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennen würde, der brauchte an keine Predigt zu denken, denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch. Der Mensch, der dazu gelangen will, wovon im voraufgehenden gesprochen wurde – hierauf läuft die ganze Predigt mit allem hinaus –, der muß sein wie ein Morgenstern: immerzu Gott gegenwärtig und immerzu ‚bei‘ ‹ihm› und gleich nahe und erhaben über alle irdischen Dinge und muß bei dem ‚Worte‘ ein ‚Beiwort‘ sein.“ 30 Derrida, Wie nicht sprechen [Anm. 19], S. 84.
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Auch die Beiworthaftigkeit, die dem Menschen zugesprochen wird, ist kein Ersatz (Derrida), sondern sie wird auf die zweite Person der Trinität hin gesagt, die eben das Wort ist. Beiwort ist der Mensch in der Zuordnung zum Sohn und damit in Gott, rehte glîch. Und mit dem Blick in den Himmel wird der Mensch nicht, wie in der Antike, in die Ewigkeit vergöttlicht, in der er zum Sternbild wird, sondern er wird, wie der Abend- und Morgenstern engster Begleiter der Sonne ist, als gleichzeitig freiester und engster Begleiter Gott ganz nahe gebracht: wenn Gott das Wort ist, ist der Mensch Bei-Wort.
Beobachtung 4: Eckhart erklärt den Himmel Die Sonne spielt in dieser Predigt, wie überhaupt häufig bei Eckhart, eine große Rolle: Ich spræche als unrehte, als ich got hieze ein wesen [Sein], als ob ich die sunnen hieze bleich oder swarz. Got enist weder diz noch daz.31 So hat es Eckhart in der gerade behandelten Predigt 9 formuliert. In derselben Quasi-stella-Predigt kurz darauf wird derselbe Vergleich in fast gleichen Worten noch einmal gebraucht, diesmal allerdings mit Bezug auf die Frage, ob Gott gut sei: Got enist guot noch bezzer noch allerbeste. Wer dâ spræche, daz got guot wære, der tæte im als unrehte, als ob er die sunnen swarz hieze.32 Und ebenfalls in dieser Predigt, in der – schon wegen des Bibelwortes quasi stella matutina – die Gestirne, wie wir gesehen haben, eine besondere Rolle spielen, nimmt Eckhart die Sonne ein drittes Mal als Beispiel, um die Tatsache zu charakterisieren, dass Gott sich selbst verschenkt: Diu sunne gibet irn schîn und blîbet doch dâ stânde, daz viur gibet sîne hitze und blîbet doch viur; aber got gemeinet daz sîne, wan er von im selber ist, daz er ist, und in allen den gâben, die er gibet, sô gibet er sich selben ie zem êrsten.33
Himmelserscheinungen (hier die Sonne) fungieren bei Eckhart primär als Beispiele, um in der Predigt Eigenschaften Gottes zu erklären: Das strahlende Licht der Sonne schwarz zu nennen, wäre so, als würde man Gott, der weder dies noch das ist, der kein geschöpfliches Sein hat, als Sein (ens) bezeichnen oder ihn ‚gut‘ 31 DW I, Pr. 9, S. 146,1–3. Übersetzung ebd. S. 463: „Ich würde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte, wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist weder dies noch das.“ 32 DW I, Pr. 9, S. 148,5–7. Übersetzung ebd. S. 463: „Gott ist nicht gut noch besser noch allerbest. Wer da sagte, Gott sei gut, der täte ihm ebenso unrecht, wie wenn er die Sonne schwarz nennen würde.“ 33 DW I, Pr. 9, S. 149,7–10. Übersetzung ebd. S. 463: „Die Sonne gibt ihren Schein und bleibt doch an ihrem Ort stehen; das Feuer gibt seine Hitze und bleibt doch Feuer; Gott aber teilt das Seine mit, weil er aus sich selbst ist, was er ist und in allen Gaben, die er gibt, gibt er zuerst stets sich selbst.“
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nennen. Das ist eher eine rhetorische Figur zur Veranschaulichung. Die dritte hier angeführte Sonnenstelle führt dagegen durch den Kontrast in den Kern. Gott und die Sonne verhalten sich unterschiedlich. Die Sonne bleibt dort, wo sie ist und wie sie ist, auch wenn sie Wärme und Licht abgibt. Gott hingegen gibt sich selbst. Anders als die Sonne strahlt er nicht nur Licht ab, sondern er strahlt sich selbst ganz aus. So hat dies Eckhart in der Quasi-stella-Predigt formuliert. Er verwendet das Beispiel der Sonne und der Gestirne in seinen Predigten aber häufiger. Im Einzelfall kann Eckhart sogar, angeregt vom Bibelwort, eine ganze Predigt (Predigt 93) der Erklärung Mariens aus der Natur der Gestirne widmen: ‚Quae est ista, quae ascendit quasi aurora consurgens, pulchra ut luna, electa ut sol‘? [Cant. 6,9] Disiu wort stânt geschriben in der minne buoche: ‚wer ist disiu, diu dâ ûfstîget als ein morgenrôt, schœne als der mâne, ûzerwelt als diu sunne?‘ An disen worten suln wir merken drîe wirdicheit unser vrouwen.34
Eckhart folgt dabei in dieser Predigt ganz traditionellen exegetischen Linien (vgl. DW IV, 1, S. 124–137): Die Geburt Mariens wird zum Morgenrot, in dem die Nacht des Alten Testaments vergeht und der Tag des Neuen Testaments anbricht. Der zweite Vergleich mit dem Mond bezieht die bezeichnende Qualität des Mondes als Niedersten aller Himmelskörper (außer der Erde) jetzt nicht auf seine Schadhaftigkeit, sondern auf die Demut, die der Demut Mariens gleichgesetzt wird. Die noch größere Demut Christi korreliert der Erde (und hier spielt Eckhart auf die klassische Etymologie humus-homo-humilis an). Daz ander: ‚schœne als der mâne‘. Durch zwei dinc glîchet er unser vrouwen dem mâne daz er der niderste plânête ist und der minste sunder einen, der noch minner ist. Der bezeichent unsern herren Jêsum Kristum, wan er der minste was an der dêmüeticheit dar næhst Marîâ. Sant B e r n h a r t sprichet: ‚diu kiuscheit unser vrouwen behaget gote wol, aber durch die dêmüeticheit wart si gotes muoter‘.35
Mit all dem bleibt Eckhart in den Bahnen der Tradition. Die folgende Auslegung erscheint hingegen ungewöhnlich: Der Mond wirkt optisch größer als die anderen Sterne, weil er niedriger (und der Erde näher) positioniert ist als die anderen Sterne. Ist er zunehmend, d. h. am niedrigsten (und gleichzeitig größer), 34 DW IV,1, Pr. 93, S. 124,1–4. Meine Übersetzung: Diese Worte stehen im Hohen Lied, dem Buch der Liebe, geschrieben: ‚Wer ist diese, die da aufsteigt wie ein Morgenrot, schön wie der Mond, auserwählt wie die Sonne?‘ An diesen Worten sollen wir dreierlei Würde unserer Herrin erkennen. 35 DW IV,1, Pr. 93, S. 133,83–87. Meine Übersetzung: Das Zweite: ‚Schön wie der Mond‘. Wegen zweierlei Sachen vergleicht er unsere Herrin Maria mit dem Mond, nämlich, dass er der niedrigste Planet ist und der geringste, außer einem, der noch geringer ist [= die Erde]. Der bedeutet unseren Herren Jesus Christus, denn der war der Geringste seiner Demütigkeit gemäß, am nächsten zu ihm dann Maria. Der Heilige Bernhard sagt: „Die Keuschheit unserer Herrin gefiel Gott sehr, aber die Mutter Gottes wurde sie aufgrund ihrer Demut.“
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sind alle Geschöpfe, die zu dieser Zeit empfangen werden, größer und kräftiger. Die Erde als niederstes Element vereint damit durch ihre Anziehung die Kraft aller Gestirne, die diese in sie ergießen, auf sich: Daz ander ist, daz der mâne grœzer schînet dan ander sternen. Daz ist dâ von, daz er niderre ist dan andere plânêten. Dar ane ist bezeichent diu volkomene barmherzicheit unser vrouwen, wan swenne der mâne zuonimet, sô sint alle crêatûren lîphaftiger und kreftiger, die danne werdent enpfangen, dan als er abenimet. Alsô ist ez umbe die erden. Diu ist diu minste under den elementen und diu niderste, wan ir ieglich zehenstunt grœzer ist dan daz ander, daz wazzer und diu luft und daz viur. Dar umbe swebet daz ertrîche mitten in dem himel, wan aller sternen kraft loufet zesamene in den andern elementen und vert durch sie, wan ûf dem ertrîche vereinet sich eines ieglîchen sternen kraft sunderlîchen durch die stæticheit des ertrîches, daz niht umbeloufet als diu andern element. Dar umbe würket diu kraft des liehtes unglouplîchiu dinc ûf dem ertrîche. Alsô ist ez umbe unser vrouwen: alle die volkomenheit, die got ie gelegen mohte an keine crêatûre, die hât si enpfangen.36
Die dritte Eigenschaft Mariae macht sie der Sonne vergleichbar, denn wie diese ist sie ein Fass des Lichtes, dass das göttliche Licht in sich aufnimmt und ausstrahlt, ohne selbst Erzeuger dieses Lichtes zu sein. Diu dritte wirdicheit unser vrouwen ist dâ bewîset, dâ er sprichet ‚ûzerwelt als diu sunne‘. Wan diu sunne ist ein vaz des liehtes und enist daz lieht selber niht, wan si daz lieht in ir hât und giuzet ez in alle crêatûren, wan kein crêatûre geborn noch volbrâht möhte werden âne hilfe des liehtes. Wol erschînet si des nahtes niht, sô giuzet si ir lieht in die sternen. Dar umbe heizet si daz êrste vaz des liehtes, daz si grôziu dinc würket an edeln steinen und an manigen dingen ûf ertrîche, daz man götlîcher werke kraft vindet an den steinen.37 36 DW IV,1, Pr. 93, S. 133,87–135,98. Meine Übersetzung: Das Zweite ist, dass der Mond größer erscheint als andere Sterne. Das kommt daher, dass er niedriger ist als andere Planeten. Damit wird die vollkommene Barmherzigkeit unserer Herrin bezeichnet, denn wenn der Mond zunimmt, sind alle Geschöpfe, die zu dieser Zeit empfangen werden, von größerem Umfang und stärker als die, die dann empfangen werden, wenn er abnimmt. Genauso ist es mit der Erde. Die ist das geringste und niedrigste von allen Elementen, denn von diesen ist jedes zehnmal größer als das andere, nämlich das Wasser, die Luft und das Feuer. Deshalb schwebt die Erde mitten im Himmel, denn die Kraft aller Sterne strömt zusammen in den anderen Elementen und fährt durch sie, denn auf der Erde vereinen sich die Kräfte jedes einzelnen Sterns, besonders wegen der Beharrungskraft der Erde, die nicht umläuft wie die anderen Elemente. Deshalb bewirkt die Kraft des Lichtes auf der Erde unglaubliche Dinge. Genauso ist es mit unserer Herrin: Jegliche Vollkommenheit, die Gott jemals an irgendein Geschöpf legen konnte, die hat sie alle empfangen. 37 DW IV,1, Pr. 93, S. 136,111–116. Meine Übersetzung: Die dritte Würde unserer Herrin ist dort aufgezeigt, wo er sagt: ‚auserwählt wie die Sonne‘. Denn die Sonne ist ein Fass des Lichts und ist nicht selbst das Licht, denn sie hat das Licht in ihr und gießt es in alle Geschöpfe, denn kein Geschöpf könnte ohne Hilfe des Lichtes geboren oder hervorgebracht werden. Freilich scheint sie in der Nacht nicht; sie gießt aber doch ihr Licht in die Sterne. Deshalb heißt sie das erste Fass des Lichtes, weil sie große Dinge an edlen Steinen und an vielen Dingen auf der Erde bewirkt, sodass man die Kraft göttlicher Werke in den Steinen findet.
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Generell lässt sich sagen: Eckhart nutzt die traditionellen Mittel des mehrfachen Schriftsinns der Exegese und kombiniert sie mit naturwissenschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit. Auch in Predigt 93, wie überhaupt häufig in seinen Predigten, sind es der Mond, vor allem aber der Schein der Sonne und ihr Licht, die ihm als Beispiele dienen.38 Für Eckhart zentral ist in diesem Kontext stets der Gedanke der ‚Vermitteltheit‘ des Lichtes; das Licht der Sonne (die im Übrigen nicht eigentlich Licht-Quelle, sondern nur „ein Fass des Lichts“ ist) wirkt dabei nicht direkt ein, sondern über das Medium der Luft und der Verbreitung über andere Dinge, also indirekt: Dar umbe ist diu werlt durch sie geschaffen, daz der sêle ouge geüebet und gesterket werde, daz si daz götliche lieht lîden mac. Als der sunnen schîn, der sich niht enwirfet ûf daz ertrîche, er enwerde bewunden in dem lufte und gebreitet ûf anderiu dinc, sô enmöhte ez des menschen ouge niht gelîden: alsô ist daz götlîche lieht alsô überkreftic und klâr, daz ez der sêle ouge niht gelîden enmöhte, ez enwerde gestætiget und ûfgetragen bî materie und bî glîchnisse und enwerde alsô geleitet und gewenet in daz götlîche lieht.39
Dabei wird von Eckhart abermals klargestellt, dass das Licht nicht eigentlich von den Dingen seinen Ausgang nimmt, sondern von der Sonne selbst:
38 Dabei kommt es in manchen Predigten vereinzelt zu fast naturkundlichen Beobachtungen, etwa wenn dem Feuer und der Sonne eine ‚Wurzel‘ attestiert wird, die es – im Gegensatz zur Sonne, die diese ‚Wurzel‘ in sich behält – in die Dinge werfe: DW II, Pr. 41, S. 294,6–14: Ein glîchnisse: daz viur daz wirfet wol sîne wurzel ûz in daz wazzer mit der hitze, wan als man daz viur abetuot, sô blîbet dâ wol eine wîle diu werme in dem wazzer und ouch in dem holze; nâch gegenwerticheit des viures sô blîbet dâ als lange diu hitze, als kreftic daz viur gewesen ist. Aber diu sunne erliuhtet wol den luft und durchliuhtet in; si wirfet aber ir wurzel niht dar în; wan swenne diu sunne niht mê gegenwertic enist, sô enhân wir ouch niht mê liehtes. Alsô tuot got mit den crêatûren: er wirfet sînen schîn der genüegede in die crêatûren; aber die wurzel aller genüegede die hât er aleine in im selben behalten dar umbe, daz er uns aleine ze im haben wil und ze niemanne anders. Übersetzung ebd. S. 692: „Ein Gleichnis: Das Feuer wirft wohl mit der Hitze seine Wurzel in das Wasser aus, denn, wenn man das Feuer wegnimmt, so bleibt da gleichwohl die Hitze ‹noch› eine Weile im Wasser und auch im Holze; ‹auch› nach dem Gegenwärtigsein des Feuers bleibt die Hitze da noch dementsprechend lange, wie das Feuer kräftig gewesen ist. Die Sonne jedoch erleuchtet wohl die Luft und durchleuchtet sie; nicht aber wirft sie ihre Wurzel hinein; denn, wenn die Sonne nicht mehr gegenwärtig ist, so haben wir auch kein Licht mehr. So auch hält es Gott mit den Kreaturen: er wirft ‹wohl› seinen Abglanz des Genügens in die Kreaturen; die Wurzel aber alles Genügens, die hat er allein in sich selbst behalten, weil er uns einzig für sich und für niemanden sonst haben will.“ 39 DW II, Pr. 32, S. 134,6–135,5. Übersetzung ebd. S. 661: „Die Welt ist um ihretwillen zu Ende geschaffen worden, daß der Seele Auge geübt und gestärkt werde, auf daß sie das göttliche Licht aushalten könne. So wie der Sonne Schein sich nicht auf das Erdreich wirft, ohne von der Luft umfangen und über andere Dinge ausgebreitet zu werden, sonst könnte ihn des Menschen Auge nicht aushalten: ebenso ist das göttliche Licht so überstark und hell, daß der Seele Auge es nicht aushalten könnte, ohne daß es ‹= der Seele Auge› durch die Materie und durch Gleichnisse gekräftigt und emporgetragen und so geleitet und eingewöhnt würde in das göttliche Licht.“
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Diu sunne wirfet irn schîn in den luft und der luft enpfæhet daz lieht und gibet ez dem ertrîche und gibet uns in dem selben, daz wir bekennen underscheit aller varwen. Swie nû daz lieht sî formelîche in dem luft, sô ist ez doch wesenlîche in der sunnen. Der schîn gât eigenlîche ûz der sunnen und entspringet in der sunnen und niht in dem luft, mêr:ez wirt von dem luft enpfangen und von dem luft vürbaz geboten allem dem, daz liehtes enpfenclich ist.40
Auch die Tatsache, dass das Licht der Sonne seinen Seinsgrund in der Sonne hat, in seiner Wirkung aber ausstrahlt, lässt sich auf das göttliche Licht und seine Wirkung auf den Menschen beziehen. Unter diesem Wirkaspekt betrachtet ist das göttliche Licht nicht so rein und klar wie in seinem Ausgangspunkt, ist es eben durch die Medialität gebrochen: Daz wesen der sêle ist enpfenclich des învluzzes götlîches liehtes, aber niht als lûter noch als klâr, als ez got geben mac, mêr: in einer umbewîlunge. Man sihet daz lieht der sunnen wol, dâ si sich giuzet ûf einen boum oder ûf ein ander dinc; mêr: in ir selben enkan man ez niht begrîfen.41
Es ist immer wieder dieses System des quasi abgestuften Lichts, das Eckhart aufgreift.42 Abgestuft und klar gegliedert ist bei Eckhart ganz traditionell aber auch das System der hierarchisch geordneten verschiedenen einzelnen Himmel: Der himel, der daz êwige nû berüeret, dâ die engel inne sint, der ist unbewegelich unde berüeret sich niht. Aber der himel, der dâ nâch der nêhest ist nâch dem, der daz êwige nû berüeret, dâ die engel inne sint, unde zwischen dem himel, dâ diu sunne ane stât, der wirt berüeret von des engels îndrucke, daz er ze hundert jâren ein teil umbe gât. Aber der himel, dâ diu sunne stât, der wirt berüeret von des engels îndrucke, daz er zem jâre einest umbe gât. Aber der himel, dâ der mâne ane stât, der wirt berüeret von dem îndrucke des engels, daz er ze dem mânôt einest gât, ieglîcher dem êwigen nû unde ie nêher, ie unbeweglîcher, ie verrer und ungelîcher dem êwigen nû unde ie bewegelîcher.43
Eckhart betrachtet so den Himmel und die Sterne nie isoliert, sondern immer in ihrer Wirkung auf Erde, Menschen, Pflanzen und Tiere. Dahinter steht die 40 DW IV,1, Pr. 104, S. 599,384–395. Meine Übersetzung: Die Sonne wirft ihren Schein in die Luft und die Luft empfängt das Licht und gibt es der Erde und gibt uns dadurch die Möglichkeit, dass wir den Unterschied aller Farben erkennen. Wie zwar das Licht der Form nach in der Luft ist, so ist es doch seinem Sein nach in der Sonne. Der Schein kommt eigentlich aus der Sonne und entspringt in der Sonne und nicht in der Luft; vielmehr wird es von der Luft empfangen und von der Luft weitergereicht allem dem, das für das Licht empfänglich ist. 41 DW II, Pr. 47, S. 401,10–402,3. Übersetzung ebd., S. 710: „Das Sein der Seele ist empfänglich des Einflusses göttlichen Lichtes, nicht aber so lauter noch so klar, wie es ‹= das göttliche Licht› Gott zu geben vermag, sondern in einer Umhüllung. Man sieht das Licht der Sonne wohl, wo sie sich auf einen Baum oder auf etwas anderes ergießt; in ihr selbst aber kann man es nicht fassen.“ Vgl. auch DW II, Pr. 47, S. 406,4–7. 42 Ein weiteres Beispiel dafür bietet an mehreren Stellen die Predigt 71 über die Entrückung Pauli (DW III, S. 212,3–213,5; 219,3–10 und 227,6–228,5). 43 Pf. Pr. 16, S. 75,27–75,37.
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Vorstellung von Engeln, die jeden einzelnen dieser Himmel „rüeren“ und die Sphären damit bewegen: Ein ander wîs ‚huop er ûf sîniu ougen‘. Dâ mite lêret er uns: als daz oberste element niendert sô wol gewürken mac dan in dem grunde der erde – dâ würket ez golt und silber und edelgesteine – und waz dâ vermenget ist mit der erde, als loup und gras und böume: daz treget in im eine glîcheit des himels und des engels, der den himel rüeret, und lenget und breitet und hüttet sich, daz diu sunne und der sternen kraft vil in in mügen würken, und sliuzet des engels natûre in sich und würket glîche dem engel, doch gar verre.44
Die Wirkung der Sterne aber reicht so bis ins Erdreich: Dar umbe sprichet er: ‚er huop von unden ûf sîniu ougen und sach in den himel‘. Ez sprichet ein kriechischer meister, daz der himel bediutet als vil als ein ‚hütte der sunnen‘. Der himel giuzet sîne kraft in die sunnen und in die sternen, und die sternen giezent ir kraft enmitten in daz ertrîche und würkent golt45 und gesteine alsô, daz daz gesteine hât kraft ze würkenne wunderlîchiu werk. Einiu hânt die kraft, daz sie an sich ziehent bein und vleisch. Kæme ein mensche dar, er müeste gevangen sîn und enmöhte niht dannen komen, er enkünde denne liste, dâ mite er sich dannen lœste. Ander gesteine ziehent an sich gebeine und îsen. Ieglich gesteine und krût ist ein hiuselîn der sternen, daz in im beslozzen hât eine himelische kraft. Alsô als der himel giuzet sîne kraft in die sternen, alsô giezent sie die sternen vürbaz in daz gesteine und in diu kriuter und in diu tier.46
Damit zeigt sich nicht nur die Anziehungskraft der Sonne und der Sterne, sondern umgekehrt (wie im Magnetismus) auch der Kreaturen auf die Sterne:
44 DW II, Pr. 54b, S. 568,8–27. Übersetzung ebd., S. 739f.: „Auf noch eine andere Weise ‚hob er auf seine Augen‘. Mit ihr lehrt er uns, daß so, wie das oberste Element nirgends so gut zu wirken vermag wie in dem Grunde der Erde – dort bewirkt es Gold und Silber und Edelsteine – und in allem, was mit Erde vermischt ist, wie Laub und Gras und Bäume: das trägt in sich eine Gleichheit mit dem Himmel und mit dem Engel, der den Himmel bewegt, und ‹es› streckt und breitet sich und bildet eine Hütte, auf daß die Sonne und der Sterne Kraft viel in ihnen zu wirken vermögen, und ‹es› schließt des Engels Natur in sich und wirkt ähnlich dem Engel, wenngleich sehr entfernt ‹nur›.“ 45 Vgl. auch dieselbe Predigt an einer anderen Stelle: Die meister sprechent, daz die sternen giezent alle ir kraft in den grunt des ertrîches, in die natûre und in daz element des ertrîches und würkent dâ daz lûterste golt. (DW II, Pr. 54a, S. 551,2–4) 46 DW II, Pr. 54a, S. 554,4–555,6, Übersetzung ebd. S. 736: „Darum spricht er: ‚Er hob von unten herauf seine Augen und sah in den Himmel‘. Es sagt ein griechischer Meister, daß der Himmel soviel bedeutet wie eine ‚Hütte der Sterne‘. Der Himmel gießt seine Kraft in die Sonne und in die Sterne, und die Sterne gießen ihre Kraft mitten in die Erde und bewirken Gold und Edelsteine dergestalt, daß die Edelsteine Kraft haben, wundersame Wirkungen hervorzubringen: die einen haben die Kraft, Knochen und Fleisch anzuziehen. Käme ein Mensch in die Nähe, so müßte er gefesselt sein und könnte nicht loskommen, wenn er nicht über Künste verfügte, mit denen er sich davon löste. Andere Edelsteine ziehen Knochen und Eisen an. Jeglicher Edelstein und ‹jedes› Kraut ist ein Häuschen der Sterne, das eine Himmelskraft in sich beschlossen hält. So wie der Himmel seine Kraft in die Sterne gießt, so gießen die Sterne sich in die Edelsteine und in die Kräuter und in die Tiere.“
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Daz vierde, daz er meinet, daz ‚er sîniu ougen von unden ûfhuop‘, dâ meinet er, daz wir mit ganzem herzen ûfklimmen süln mit begerunge ze dem himel und in in und süln alle unser begerunge legen ûf got und ûf die hœhste hœhe, niht under got noch mit gote, wan alliu obern dinc hânt allermeist gelegenheit ze würkenne in dem, daz under in ist. Dâ von sint alle crêatûren, die lîphaft sint, ein köder der sunnen und der sternen, und würket in dem steine ir kraft und ir glîcheit. Als diu sunne an sich ziuhet den viuhten luft, als gibet si dem steine ir glîcheit und ir kraft, daz er ungesihticlîche einen brâdem und eine kraft von im læzet, daz etlich îsen an sich ziuhet und etlich vleisch und bein; der im nâhe kumet, der muoz dâ blîben.47
Letztlich streben alle Erscheinungen nach Einheit in Gott; und für diese Einheit, die sich stets in einem Prozess des Widerspiegelns realisiert, der die Gegensätze zugleich aufhebt und bestehen lässt, findet Eckhart ein Bild: den Widerschein des Lichts im Spiegel: Ich nime ein becke mit wazzer und lege einen spiegel dar în und setze ez under daz rat der sunnen: sô wirfet diu sunne ûz irn liehten schîn ûz dem rade und ûz dem bodem der sunnen und envergât doch niht. Daz widerspil des spiegels in der sunnen daz ist in der sunnen sunne. Und er ist doch daz er ist. Alsô ist ez umbe got. Got ist in der sêle mit sîner natûre und mit sînem wesene und mit sîner gotheit. Und er enist doch niht diu sêle. Daz widerspil der sêle daz ist in gote got. Und si ist doch daz si ist.48
Das in die Sonne zurückgespiegelte Licht der Sonne ist in der Sonne Sonne und bleibt doch gespiegeltes Licht. Der aus der menschlichen Seele zurückgespiegelte Gott ist in Gott Gott, weil er sich ganz in die Seele gegeben hatte; und doch bleibt Gott Gott und die Seele Seele. Alles entscheidend für Eckhart ist die Beziehung zwischen beiden – eine Beziehung, die Differenz und Einheit zugleich bestehen lässt. Eckhart erkennt diese Einheit im Licht der Sonne, in den einzelnen Sternen,
47 DW II, Pr. 54b, S. 567,2–10. Übersetzung ebd. S. 739: „Das vierte, das er meint, wenn er ‚seine Augen von unten erhob‘, damit meint er, daß wir von ganzem Herzen mit Verlangen zum Himmel und zu ihm hinaufklimmen und all unser Verlangen auf Gott und auf die höchste Höhe richten sollen, nicht unter Gott noch bei Gott, denn alle oberen Dinge sind am meisten in der Lage, in dem zu wirken, was unter ihnen ist. Daher sind alle Kreaturen, die körperhaft sind, ein Köder der Sonne und der Sterne, und der ‹d. h. der Köder› bewirkt in dem Steine ihre ‹d. h. der Sonne und der Sterne› Kraft und ihre Gleichheit ‹d. h. die Gleichheit mit Sonne und Sternen›. So wie die Sonne die feuchte Luft anzieht, so gibt sie dem Stein Gleichheit mit sich und ihre Kraft, so daß er unsichtbar einen Dunst und eine Kraft aus sich entläßt, was gewisses Eisen und gewisses Fleisch und Knochen anzieht; wenn einer ihm nahekommt, muß er da verhaften.“ 48 DW IV,2, Pr. 109, S. 771,50–55. Meine Übersetzung: Ich nehme ein Becken mit Wasser und lege einen Spiegel hinein und setze es unter das Rad der Sonne: So wirft die Sonne ihren strahlenden Schein aus dem Sonnenrad und aus ihrem Grund hinaus und vergeht dabei doch nicht. Der Widerglanz des Spiegels in der Sonne, der ist in der Sonne Sonne. Und er bleibt doch das, was er ist (Widerglanz). Genauso ist es mit Gott. Gott ist in der Seele (des Menschen) mit seiner Natur und mit seinem Sein und mit seiner Gottheit. Und er ist doch nicht die Seele. Das Widerspiel der Seele ist in Gott Gott. Und sie bleibt doch das, was sie ist (Seele).
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im Mond, im Verhältnis der Sonne und der Sterne zur Erde und im Verhältnis des Himmels zur Erde. Die vielleicht ‚poetischste‘ Stelle dabei ist in Eckharts Predigt 48 zu finden, wo er gewissermaßen die ‚Liebesgeschichte‘ zwischen der ‚scheuen‘ Erde und dem fruchtbar überbordenden Himmel ins Zentrum rückt: Ein meister sprichet: alliu glîchiu dinc minnent sich under einander und vereinent sich mit einander, und alliu unglîchiu dinc vliehent sich und hazzent sich under einander. Nû sprichet ein meister, daz niht enist sô unglîch einander als himel und erde. Daz hât daz ertrîche bevunden in sîner natûre, daz ez dem himel verre ist und unglîch. Her umbe hât ez in gevlohen ûf die niderste stat, und dar umbe ist daz ertrîche unbewegelich, daz ez dem himel iht genâhe. Des ist der himel gewar worden in sîner natûre, daz in daz ertrîche gevlohen hât und die niderste stat besezzen hât. Dar umbe ergiuzet er sich alzemâle in vruhtbærlîcher art in daz ertrîche, und wellent daz die meister, daz der breite, wîte himel niht enbehalte als breit als einer nâdel spitze, er engebe ez alzemâle in vruhtbærlîcher art in daz ertrîche. Dar umbe heizet daz ertrîche diu vruhtbærlîcheste crêatûre under allen zîtlîchen dingen.49
Der Seinskern des Himmels ist seine Fruchtbarkeit, eine Fruchtbarkeit, die sich verströmen muss. Auf der Suche nach der Bedeutung dieser Satzaussage aus dem Buch der Natur kann Eckhart soweit gehen, zu sagen, dass die Demut der Erde und des Menschen, den himmlischen Gott dazu zwingt, sich auszugießen: Ze glîcher wîs alsô spriche ich von dem menschen, der sich selben vernihtet hât in im selben und in gote und in allen crêatûren: der mensche hât die niderste stat besezzen, und in den menschen muoz sich got alzemâle ergiezen, oder er enist niht got. Ich spriche ez bî guoter wârheit und bî der êwigen wârheit und bî iemerwernder wârheit, daz sich got in einen ieglîchen menschen, der sich ze grunde gelâzen hât, muoz alzemâle ergiezen nâch aller sîner vermügenheit alsô ganz und gar, daz er in allem sînem lebene noch in allem sînem wesene noch in sîner natûre noch in aller sîner gotheit niht enbeheltet, er enmüeze ez alzemâle ergiezen in vruhtbærlîcher art in den menschen, der sich gote gelâzen hât und die niderste stat besezzen hât.50 49 DW II, Pr. 48, S. 413,1–414,8. Übersetzung ebd. S. 712: „Ein Meister sagt: Alle gleichen Dinge lieben sich gegenseitig und vereinigen sich miteinander, und alle ungleichen Dinge fliehen sich und hassen einander. Nun sagt ein Meister, nichts sei einander so ungleich wie Himmel und Erde. Das Erdreich hat es in seiner Natur empfunden, daß es dem Himmel fern und ungleich ist. Darum ist es vor dem Himmel geflohen bis an die unterste Stätte, und darum ist das Erdreich unbeweglich, damit es dem Himmel nicht nahe. Der Himmel aber hat es in seiner Natur wahrgenommen, daß das Erdreich ihn geflohen und die unterste Stätte bezogen hat. Darum ergießt er sich ganz und gar in befruchtender Weise in das Erdreich, und die Meister halten dafür, daß der breite, weite Himmel nicht die Breite einer Nadelspitze zurückbehalte, sich vielmehr rückhaltlos in befruchtender Weise in das Erdreich gebäre. Darum heißt das Erdreich die fruchtbarste Kreatur unter allen zeitgebundenen Dingen.“ 50 DW II, Pr. 48, S. 415,1–415,9. Übersetzung ebd. S. 712: „Ebenso sage ich von dem Menschen, der sich selbst zunichte gemacht hat in sich selbst, in Gott und in allen Kreaturen: Dieser Mensch hat die unterste Stätte bezogen, und in diesen Menschen muß sich Gott ganz und gar ergießen, oder – er ist nicht Gott. Ich sage bei guter und bei der ewigen und immerwährenden
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Fazit: Für Meister Eckhart ist der ferne, unerreichbare Himmel die Sprache, das Unsagbare zu sagen. Die Sprache der Gestirne folgt der gleichen Grammatik wie die menschliche Sprache. Gott spricht im Himmel. Seine Worte sind lesbar. Die Stellung des Menschen im Kosmos ist die eines mit Allem verbundenen Teiles. Im Wahrheit, daß Gott sich in einen jeglichen Menschen, der sich bis auf den Grund gelassen hat, seinem ganzen Vermögen nach völlig ergießen muß, so ganz und gar, daß er in seinem ganzen Leben und in seinem ganzen Sein und in seiner Natur und auch in seiner ganzen Gottheit nichts zurückbehält, das er nicht alles in befruchtender Weise ergießen muß in den Menschen, der sich Gott gelassen und die unterste Stätte bezogen hat.“ Vgl.: DW I, Pr. 14, S. 233,5– 235,3: De erde ist dat alre verste van dem hemele inde hait sych gecrumpene in eynen wynkele inde schampt sych inde solde gerne deme schonen hemel intflyn van eynem wynkel zo deme anderen. wat were dan ire inthalt? (300v) Vloet sy nederwert, sy komet zo deme hemele; vloet sy vpwartz, sy in mach eme doch neyt intflyn. hey jaget sy in eynen wynkel inde drocket syne craft in sy inde macht sy vrochtber, war omb? dat alre ouerste dat vloyst in dat nederste [Eyn]. Eyn sterne der is bouen der sonnen; dat is der ouerste sterne; der is edeler dan de sonne; der vloisset in de sonne inde verlochtet de sonne, inde alle den schyne, den de sonne hait, den hait sy van desseme sternen. wat meynt dan, dat de sonne neit in schynet also waile des nachtes as des dages? dat meynt, dat de sonne altzomalle alyne neit creftich in is van ir seluer; dat etzwat gebrechafticheit is in der sonnen, dat seit ire wayl, dat sy dunkel is an eyme ende, inde des nachtes [nachtes] nemet ir der mant inde de sternen eren schyne, inde de driuent sy anders wair; dan schynet sy anders wair in eyn ander lant. Der sterne in vloysset neit aleyne in de sonne, meir hey vlosset dorch de sonne inde dorch alle sternen inde vloisset in de erde inde macht sy vrochtber. also is it vmb den rechten oitmoedegen mynschen, der onder sych geworpen hait alle creatoren inde sych onder got drocket; dat in leist got neyt dorch synne goitheit, hey in gusset sych altzomaile in den mynschen; hey wirt getwongen dar zo, dat hey it van noit doyne mois. woltu nu hoege syn inde verhauen syn, (301r) so mostu neder syn van der vloit des blodes off des vlisches, want eynne voirtzele aller sunden inde aller vlecken dat is verborgen bedrogen houart, jnde in is neit dan leit inde weye nauolgende. Also is de oitmodicheit eyne wortzele alles goiden inde dar na volgende is. Übersetzung ebd. S. 485f.: „Die Erde ist das vom Himmel Allerfernste und ist in einem Winkel zusammengekrochen und schämt sich und würde gern dem schönen Himmel entfliehen von einem Winkel zum andern. Was ‹aber› wäre dann ihr Halt? Flieht sie niederwärts, so kommt sie zum Himmel; flieht sie aufwärts, sie kann ihm doch nicht entfliehen. Er jagt sie in einen Winkel und drückt seine Kraft in sie und macht sie fruchtbar. Warum? Das Alleroberste fließt in das Niederste. Ein Stern ist oberhalb der Sonne: das ist der oberste Stern, der ist edler als die Sonne; der fließt ‹mit seinem Licht› in die Sonne und erleuchtet die Sonne, und alles Licht, das die Sonne hat, das hat sie von diesem Stern. Was besagt es denn, daß die Sonne nicht ebensowohl des nachts wie des tags scheint? Das besagt, daß die Sonne ganz allein von sich aus nicht kräftig ist; daß ein gewisser Mangel in der Sonne ist, das seht ihr wohl ‹daran›, daß sie an einem Ende dunkel ist, und des nachts nehmen ihr der Mond und die Sterne ihr Licht und treiben sie anderswohin: dann scheint sie anderswo in ein anderes Land. Jener ‹oberste› Stern fließt ‹mit seinem Licht› nicht allein in die Sonne, sondern er fließt durch die Sonne und durch alle Sterne und fließt in die Erde und macht sie fruchtbar. Ganz so ist es mit dem recht demütigen Menschen, der alle Kreaturen sich unterworfen hat und sich unter Gott drückt: Gott unterläßt es in seiner Gutheit nicht, sich völlig in einen solchen Menschen zu ergießen; er wird gezwungen dazu, es notwendig tun zu müssen. Willst du nun hoch sein und erhoben, so mußt du niedrig sein, ‹entfernt› von der Flut des Blutes und des Fleisches, denn eine Wurzel aller Sünden und aller Flecken ist die verborgene, verhohlene Hoffart, und ihr folgt nichts als Leid und Weh nach. Die Demut hingegen ist eine Wurzel alles Guten und folgt ihr nach.“
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Mikrokosmos wirken die Gesetze des Kosmos, wenn man sie nur wirken lässt. Der Einfluss der Gestirne manifestiert sich nicht im blinden Schicksal, sondern in der Freiheit des Menschen. Nur Gott, insofern er Gott ist, ist gezwungen: Sich selbst ganz zu geben und sich in die menschliche Seele, sofern sie demütig ist, zu gießen, ganz so wie die Sterne ihre Wirkkräfte in die Erde ergießen und wie sich die Fruchtbarkeit des Himmels in die Erde ergießen muss. Unter ethischen Aspekten betrachtet kann die Sprache des Himmels lesbar gemacht werden und vor einem Verirren im irdischen Nebel schützen, kann Einheit und Differenz beschrieben werden, kann rechte Demut als Grundbedingung der Vergöttlichung benannt und kann die Beziehung zwischen Erde und Himmel, zwischen Mensch und Gott als Grundbedingung des Kosmos erkannt werden.
Abbau des Teleskops und Rückkehr zur Erde: Eckharts Himmel im 15. Jahrhundert Der eingangs erwähnte ‚Planetentraktat‘ des Kompilators Lienhart Peuger nutzt als Dispositionsgrundlage dieses Traktats die bisher nicht in die große kritische Eckhart-Edition aufgenommene Predigt, die der erste Eckhart-Herausgeber Franz Pfeiffer unter der Nummer 67,1 gedruckt hatte. Diese bisher noch nicht erforschte Predigt gilt Lc 21,26: Virtutes caelorum movebuntur. Disiu wort sprichet unser here in dem êwangeliô unde bediutent sich alsô: ‚die krefte der himel werdent sich bewegen.‘51 Nach der Übersetzung des Schrifttextes wird in einem ersten Schritt definiert, was der Himmel ist; ein Unerreichbares, Verborgenes; denn: got der ist alsô heimelich verborgen under der klârheit der schoenen gotheit, daz kein mensche mit vernunft von ir eigen nâtiurlîchen maht mac komen zuo der anschouwunge der wunne sînes götlîchen antlitzes.52
Der verborgene Gott muss aber nicht irgendwo im Himmel dort oben oder jenseits der Sterne gesucht werden. Da Gott nicht irgendwo, sondern in der Seele verborgen ist, ist die Seele ein zweiter Himmel: Nû sprichet sant Augustînus, daz sich got verbirget in der sêle innekeit mit den werken der gnâde, dâ er sich in der sêle an offenbâret, alsô heimlîche, daz ez nieman mac wizzen wan der mensche, in dem ez ist alsô tougenlîchen verborgen. Wan sant Paulus sprach 51 Pf, Pr. 67,1, S. 209, 35–210,1. Meine Übersetzung: Die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Diese Worte sagt unser Herr im Evangelium und die verdeutscht man so: ‚Die Kräfte der Himmel werden sich bewegen.‘ 52 Pf, Pr. 67,1, S. 210,1–5. Meine Übersetzung: Gott ist unter der Klarheit der schönen Gottheit so heimlich verborgen, dass kein Mensch mit seiner Vernunft aus deren eigener natürlicher Kraft zur Anschauung der Freude seines göttlichen Antlitzes gelangen kann.
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‚allez, daz in dem menschen ist, daz ist verborgen.‘ Dâ von ist diu sêle ein götlîcher himel und ein geistlîcher, dâ got sîniu volkomeniu werc inne ruowende tougen unde heimelîche volbringet. Hie von sprichet got durch den wîssagen ‚nement war, ich schepfe in iu einen niuwen himel.‘53
Im Folgenden (Pf, S. 210,28–212,26) werden Himmel und Seele in Relation gesetzt: Weil der Himmel êwic und in seinem Lauf umbegengic ist und bis in die niedersten Geschöpfe înfliezende ist, bedarf auch die himmlische Seele dieser drei Eigenschaften; sie muss ewig sein, umlaufend und also in Gott zurückkehren und sich dem Einfluss öffnen. Dem folgt ein knapper zweiter Teil, in dem – nur sehr gerüsthaft – der ‚Einfluss‘ der sieben Planeten auf die Seele benannt wird; dieses Gerüst54 nutzt der Kompilator und füllt es mit weiterem Eckhart-Material. Ich greife nur den Beginn zum ersten Stern Saturn und zum sechsten Stern Merkur heraus: Der erst stern haist Saturnus vnd ist ein erfrewer, der am himel der sel sol sten mit englischer rainchait vnd pringt zelan das anschauwn der gothait. Da von der herr Ihesus spricht saͤ lig sind die rainn wann sy˙ wern got sehen. Dar vmb ist dy sel ein lawtrichait, dy˙ in seim willen want vnd ist ein wart in seiner verstentichait vnd ein leben in seiner ynnichait vnd ein liecht in seim werch.Vnd das peweis ich da mit, wann was got aws im würcht, das erchennt er vor in im. wan in got mag chain ding vallen, das nicht got ist. Vnd als dy˙ sel in got ist, also ist sy˙ auch got.55
Dass seine Seele in Gott ist, nein dass sie Gott selbst sei – das ist für einen Laienbruder des 15. Jahrhunderts, der ansonsten von einer starken Christus- und
53 Pf, Pr. 67,1, S. 210,8–16. Meine Übersetzung: Nun sagt der Heilige Augustinus, dass sich Gott mit den Werken der Gnade im Innersten der Seele verbirgt, wo er sich in der Seele offenbart, und zwar auf so heimliche Weise, dass es niemand wissen kann außer der Mensch, in dem es so heimlich verborgen ist. Denn Sankt Paul sagte ‚alles, was im Menschen ist, ist verborgen.‘ Daher ist die Seele ein göttlicher und geistlicher Himmel, in dem inne ruhend Gott seine vollkommenen Werke verborgen und heimlich vollbringt. Davon sagt Gott durch den Propheten: ‚Nehmt wahr, ich schaffe in Euch einen neuen Himmel.‘ 54 Vgl. für den Saturn und den Merkur Pf, 67,1, S. 212,40–213,3 und 213,23–26: Alsô wirt an dem himel der sêle Saturnus der engelischen reinekeit unde bringet ze lône anschouwunge der gotheit, wan unser herre sprach ‚sêlic sint, die reiniu herze habent, wan sie unser werdent sehen.‘ […] Dar nâch wirt Mercurius der gewinner, sô diu sêle alliu dinc gît umbe got, unde bringet ze lône daz guot der gotheit, dâ mite ist beslozzen des himelrîches rîcheit, wan unser herre sprach ‚sêlic sint die armen des geistes, wan daz himelrîche daz ist ir.‘ 55 Me2 [Anm. 7], fol. 433ra–b. Meine Übersetzung: Der erste Stern heißt Saturn und ist ein ‚Erfreuer‘, der am Himmel der Seele mit engelhafter Reinheit stehen soll; und er bringt als Lohn die Anschauung der Gottheit. Davon sagt der Herr Jesus: ‚Selig sind die Reinen, denn sie werden Gott sehen.‘ Deshalb ist die Seele eine Lauterkeit, die in seinem Willen wohnt und ist ein Wort in seiner Verständigkeit und ein Leben in seiner Innigkeit und ein Licht in seinem Werk. Und das beweise ich dadurch: alles, was Gott aus ihm wirkt, das erkennt er zuvor in sich selbst. Denn in Gott kann kein Ding fallen, das nicht Gott ist. Und insofern die Seele in Gott ist, insofern ist sie auch Gott.
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Marienfrömmigkeit geprägt und ein Anhänger des Klostergehorsams ist,56 eine gewaltige These. Diese These wird deshalb in andere Richtungen gelenkt, beispielhaft zu sehen am sechsten Planeten: Der sechst stern haist Mercurius der ein gewinner der sel ist, dy˙ alle ding vmb got geit, vnd pringt zw lan das guet der gothait, in dem der schatz des himelreichs peslozzen ist. Da von sprach der herr Ihesus „saͤ lig sind dy˙ armen des geists, wan ir ist das reich der himel.“ Der waͤ r ein rechter armer mensch des geists, der als das hiet, das got peschaffen hat, vnd da pey˙ an seim geist chain aigen schafft leiden möcht. […] wann dy˙ armut des geists ist ein pleiben in got. vnd mit dem hat der mensch got mer gegenwürtigen dann sich selber.57
Das ist noch gut Eckhartisch gedacht. Aber der Kompilator fährt fort, jetzt mit noch mehr eigenen Formulierungen: dy˙ recht willigen armen des geists solten inn chlöstern sein vnd solten zw der tugent chewsch vnd geharsam halten. Aber ir ist wenig, die dar inn gegen got genuegsam seinn. wann gieng ettleichem nwͤ r ein ay˙ ab, er mürmlet dar vmb. Das sind dy˙ fleischleichen, dy mer lust suchen dann rechte natturfft vnd an der stat ab nemen da sy˙ solten zwͤ nemen. von den sand Augenstin spricht: „ich han nicht pesser funden dann dy˙ im chlaster zwͤ nemen vnd han auch nicht pöser funden dann dy˙ dar inn abnemen.“ […] Dar vmb ist es an tzweifel war, das all die inn chlöstern dy ir fleisch mer an rechte nat lieb haben dann dy˙ sel, das dy˙ ny˙ mer zw eim volprachten leben chömen mügen. vnd also machen sy˙ in zw ir selbs schaden einn strikch dar an sy in der hell erhangen wern.58
Peuger hat also Eckharts ‚Himmelstexte‘ in einen auch moraldidaktisch ausgerichteten Traktat für seine Mitbrüder verwandelt: Rechte Arme leben in Klöstern, sind keusch und gehorsam und kehren sich von den Sünden ab, indem sie die Sünden und die Sünder verachten. Eckharts unaufgeregtes Ethos verwandelt der 56 Vgl. Löser, Meister Eckhart in Melk [Anm. 1]. 57 Me2 [Anm. 7], fol. 435rb–va. Meine Übersetzung: Der sechste Stern heißt Merkur, der ein ‚Gewinnbringer‘ der Seele ist, die alle Dinge um Gottes willen gibt, und der bringt das Gut der Gottheit zum Lohn, in dem der Schatz des Himmelreiches beschlossen ist. Davon sagte der Herr Jesus: ‚Selig sind die Armen des Geistes, denn ihrer ist das Reich der Himmel.‘ Der wäre ein rechter armer Mensch des Geistes, der alles das hätte, das Gott geschaffen hat, und dennoch an seinem Geist keinerlei Eigenschaft erleiden wollte. […] denn die Armut des Geistes ist ein Bleiben in Gott. Und damit hat der Mensch Gott gegenwärtiger als sich selbst. 58 Ebd., fol. 435va–b. Meine Übersetzung: Die rechten willigen Armen des Geistes sollten in den Klöstern sein und sollten zu der Tugend Keuschheit und Gehorsam halten. Aber derer sind wenig, die dort drinnen Gott gegenüber genügsam sind. Denn fehlte manchem nur ein Ei, dann würde er deshalb murren. Das sind die Fleischlichen, die mehr nach Lust suchen als nach rechter Notdurft und die an der Stelle abnehmen, wo sie zunehmen sollten (als geistliche Menschen nämlich). Über die sagt Sankt Augustin: ‚Ich habe keine Besseren gefunden als die, die im Kloster zunehmen, und ich habe auch keine Böseren gefunden als die, die dort drinnen abnehmen.‘ […] Deshalb ist es zweifellos wahr, dass alle, die in den Klöstern ihren Körper ohne rechte Not dazu mehr lieben als ihre Seele, dass die niemals zu einem vollkommenen Leben gelangen können. Und so knüpfen sie sich zu ihrem eigenen Schaden einen Strick, an dem sie in der Hölle erhängt werden.
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Anhänger der Klosterreform im 15. Jahrhundert in ganz konkrete ethische Anweisungen: Im Kloster leben, keusch sein, kein Fleisch essen. Und neben dem Himmel droht nun auch, was bei Eckhart nie eine Rolle spielte, die Hölle. In der Kompilation aber gewinnt der Text auch neue Qualitäten, die Eckhart für ein ungebildetes Publikum verständlich machen und seine Himmelslehre in durchaus treffende eigene Worte fassen: al stern enphahen ir liecht von dem chlarn schein der sunn, vnd doch venus […] am lawtristen. Also süllen alle vnsre werch chrafft vnd lawtrichait des volchömen liechts enphahen vnd süllen in der tugent der lieb, dy˙ all ander tugent v¨ber scheint mit irm liecht als dy sunn dy stern, vor got lewchten. Wann als got in dem gestirnten vnd vmblawffunden himmel nicht anders ist dann ein peweger vnd ein prunn der infliessunden chrafft, also ist er auch hier in der sel ein peweger der freihait vnsers willen zw im selber vnd zw allen gueten dingen.59
Der unbewegte Beweger im Zentrum des Universums will auch den Menschen bewegen, aber er lässt ihm ganz ohne Determination durch die Gestirne die Freiheit des Willens.
Literatur Meister Eckhart: Die deutschen Werke, Bd. 1–3 [Predigten] und Bd. 5 [Traktate] hg. von Josef Quint, Stuttgart 1958–1976; Bd. 4,1 [Predigten] hg. von Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, Stuttgart 2003 und Bd. 4,2 [Predigten] hg. von Georg Steer, Stuttgart 2003ff. Meister Eckhart: Die lateinischen Werke. Bd. I–V. hg. von Konrad Weiß, Loris Sturlese u. a., Stuttgart 1936–2007. Francis Brévart: Artikel ‘Planetentraktate’, in: Kurt Ruh u. a. (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Band 7, Berlin, New York 21989, Sp. 715–723, hier Sp. 715f. Jaques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1989. Freimut Löser: Als ich mê gesprochen hân. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes, ZfdA 97 (1986), S. 206–227. Ders.: Einzelpredigt und Gesamtwerk. Autor- und Redaktortext bei Meister Eckhart, editio 6 (1992), S. 43–63.
59 Ebd., fol. 436rb. Meine Übersetzung: Alle Sterne empfangen ihr Licht vom klaren Schein der Sonne und doch Venus […] am lautersten. Genauso sollen alle unsere Werke die Kraft und Lauterkeit des vollkommenen Lichtes empfangen und sollen vor Gott leuchten in der Tugend der Liebe, die alle anderen Tugenden mit dem Licht so überstrahlt wie die Sonne die Sterne. Denn so wie Gott in dem bestirnten und umlaufenden Himmel nichts anderes als ein Beweger und ein Brunnen der einströmenden Kraft ist, genauso ist er auch hier in der Seele ein Beweger der Freiheit unseres Willens zu ihm selbst und zu allen guten Dingen.
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Ders.: Nachlese. Unbekannte Texte Meister Eckharts in bekannten Handschriften, in: Die deutsche Predigt im Mittelalter, hg. von Volker Mertens / Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1992, S. 125–149. Ders.: Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ‘Von der sel wirdichait vnd aigenschafft’ (Texte und Textgeschichte 48), Tübingen 1999. Ders.: Meister Eckhart – postmodern? Gedanken zu Predigt 9 (Quasi stella matutina), in: MEJb 10, S. 49–74. Franz Pfeiffer: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts. Band 2: Meister Eckhart, Aalen 1962 [Leipzig 1857].
Christoph Mittmann
Zur Kosmographie in der japanischen Vormoderne
Eine Betrachtung des Himmels als ethischen Raum eröffnet eine Vielfalt an möglichen Perspektiven und Fragenstellungen. Im Folgenden werden sowohl die Aspekte der Ethik der Beschreibung des Himmels als auch der beschriebenen Ethik des Himmels am Beispiel des bürgerlichen Gelehrten Yamagata Bantô (1748–1821) erörtert.
Traditionelle Himmelsbeschreibungen und Aufnahme der Naturwissenschaften Himmel und Kosmos sowie deren Beziehung zur Erde und den Menschen sind eines der wichtigen Themen, denen man in der japanischen Geistesgeschichte ununterbrochen begegnet. So beschrieben beispielsweise die Gründungsmythen Kojiki und Nihonshoki die Genese des japanischen Archipels und die Beziehung des Kaiserhauses zur Sonnengottheit Amaterasu. Darüber hinaus werden in diesen Quellen die Hierarchie der einzelnen Familien sowie deren Beziehungen zum Kaiserhaus und den Gottheiten dargelegt, wodurch eine Verbindung zwischen beiden geschaffen wird, die bis in die Gegenwart fortwirkt: Zwar ist das mythische Zeitalter der Gottheiten längst vergangen, durch die fortwährende Tradierung der Mythen und Familientraditionen existiert und wirkt es allerdings bis in die Gegenwart fort. Neben diesen Mythen halten mit der Übernahme des Buddhismus und des chinesischen Staatsmodells, welches den Kaiserhof zum Zentrum des Staates und der Zivilisation macht, deren jeweiligen Kosmologien Einzug in das Denken der japanischen Gelehrten und Adligen. Diese Vorstellungen koexistieren bis in die Vormoderne hinein und stehen in einem konstanten, gegenseitigen Diskurs.1 1 Watanabe, Hiroshi: A History of Political Thought, 1600–1901, International House of Japan, Tokyo 2012, auch Sagara, Tôru: Nihon no jukyô 1 日本の儒教1 [Konfuzianismus in Japan 1], Perikansha, Tokyo 1992. Alle Begriffe und Zitate sind vom Autor übersetzt worden.
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Obschon auch der christliche und islamische Glauben den Gelehrten vor allem durch den Austausch mit Seefahrern und Anhängern dieses Glaubens spätestens seit Mitte des 16. Jahrhunderts bekannt war, hinterließen die Glaubensinhalte zuerst keinen prägenden Einfluss in den existierenden Diskursen. Vielmehr wurden vor allem die Methoden und Erkenntnisse der westlichen Naturwissenschaften rezipiert und in das eigene Wissen integriert. Das Parade-Beispiel hierfür ist sicherlich die Astronomie, welche vor allem für die Navigation und die Kompilation neuer Kalender eine wichtige Rolle spielte2. Dieser Wissenstransfer wurde jedoch nur in kleinem Rahmen und durch die Initiative einzelner Gelehrter durchgeführt. Das Verbot des Christentums im Jahre 1633 führte dazu, dass dieser Transfer weiter eingeschränkt wurde, da dieses sich auf fast alles Westliche erstreckte.3 Erst Reformen des Shoguns führten hundert Jahre später dazu, dass europäische Schriften fortan wieder in einem etwas größeren Maßstab eingeführt und übersetzt werden durften. Das Resultat war ein stetiger Anstieg der rezipierten Werke sowie ein immer grösser werdender Einfluss westlichen Denkens auf die Diskurse der Gelehrten.4 Diese Veränderungen waren untrennbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden. Während der knapp dreihundert Jahre andauernden Herrschaft der Familie der Tokugawa (ca.1600–1868) entwickelten sich die einzelnen Burgstädte der japanischen Feudalherren immer mehr auch zu kulturellen und wirtschaftlichen Zentren und die bürgerliche Kultur erlebte einen rasanten Aufschwung. Damit einhergehend blühte auch die Bildung immer weiter auf.5 Innerhalb dieser historischen Veränderungen kam den Händlern eine immer wichtigere Rolle für das Funktionieren des Reiches zu und die Stadt Osaka konnte sich in der Folge nicht nur als wirtschaftliches Zentrum Japans etablieren, sondern auch zu einem der Hauptorte für Bildung und Gelehrsamkeit entwickeln. Denn um diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufgaben meistern zu können, war für die Händler neben der praktischen Schulung Bildung ein unabdingbarer Bestandteil der Ausbildung. Der Zugang zu dieser Bildung wurde zunehmend von den Händlern selbst gewährleistet, indem sie eigene private Akademien gründeten. Diese versahen sie zu Beginn zwar noch mit einem recht eng gefassten, oftmals konfuzianischen Curriculum, das jedoch sukzessive erweitert wurde und auch die neuen Wissensformen und Inhalte der Europäer mehr und mehr beinhaltete. Hierfür konnte auf die vielen japanischen Über2 Nakayama, Shigeru: A History of Japanese Astronomy, Harvard University Press, Cambridge 1969. 3 Kôsaka, Shirô: Higashi ajia no shisô taiwa 東アジアの思想対話 [ Dialoge zu ostasiatischen Anschauungen], Perikansha, Tokyo 2014, S. 53ff. 4 Ebd., S. 66. 5 Fujimoto, Atsushi; Maeda, Toyokuni; Umata, Ayako und Hotta, Akio: Ôsaka fu no rekishi 大阪 府の歴史 [Geschichte der Präfektur Osaka], Yamakawa Shuppansha, Tokyo 2015, S. 190ff.
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setzungen naturwissenschaftlicher Werke aus dem Westen zurückgegriffen werden. Eine der berühmtesten dieser Akademien war die Kaitokudô, die 1724 in Osaka von Händlern gegründet wurde und bis 1869 existierte. Auch hier wurden zu Beginn vor allem konfuzianische Werte vermittelt, aber auch hier hielten die naturwissenschaftlichen Übersetzungen vermehrt Einzug in die Diskussionen und das Denken der Mitglieder. Innerhalb dieser Veränderungen wurden nun vermehrt traditionelle Konzepte, Taxonomien und Begriffe einer kritischen Betrachtung unterworfen. Eines der zentralen Themen der daraus resultierenden Debatten war, wie die Methoden und Erkenntnisse der empirischen Naturwissenschaften zu anderen Wissenssystemen zu positionieren seien.6 Die Gelehrten und Anhänger der einzelnen Strömungen, wie etwa der rangaku [niederländische Studien], der kokugaku [nationale Studien] oder der einzelnen buddhistischen Schulen kamen dabei zu teils sehr gegensätzlichen Antworten und positionierten sich, je nach Perspektive, im Spektrum zwischen einer völliger Übernahme des importierten Wissens (Shiba Kôkan 1747–1818) und dessen Kritik und Ablehnung (Motoori Norinaga 1730–1801). Der bürgerliche Gelehrte Yamagata Bantô positioniert sich in diesem Diskurs mit seinem Yume no shiro [Anstelle von Träumen] eindeutig auf der Seite der Unterstützer dieses neuen Denkens. Allerdings bedeutet dies nicht, dass er dabei alle traditionellen Vorstellungen und Werte fallen ließ. Vielmehr kombinierte er beides zu seiner eigenen, spezifischen Form des Wissens. Als Fundament für diese dienten ihm die naturwissenschaftliche Astronomie und deren Kosmologie, denen er das komplette erste Buch seines Werkes widmete und auf die er im weiteren Verlauf der Diskussion immer wieder zurückgreift.
Ethik des Wissens Yamagata gliedert das Yume no shiro in zwölf Bücher mit jeweils einem eigenen Titel, jedoch erscheint dies vielmehr als eine Übersicht der diskutierten Themen, denn er selbst folgt dieser Gliederung nicht im Geringsten (Die einzelnen Bücher tragen die Titel Astronomie, Geographie, Das mythische Zeitalter, Das historische Zeitalter, Systeme, Regierung, Konfuzianismus, Verschiedene Schriften, Irrlehren, Atheismus I, Atheismus II, Verschiedene Debatten). Vielmehr verbindet er Aussagen zu einzelnen Themen wie es seiner Argumentation zu Gute kommt und nicht gemäß dieser anfänglichen Einteilung. So spinnt er ein Netzwerk von Aussagen und thematischen Einheiten, die sich um die eingangs erwähnten Punkte drehen. Im Vorwort nennt Yamagata sogleich die Ziele, die er mit seinem 6 Watanabe 2012.
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Werk verfolgt, nämlich unter Anwendung des neuen naturwissenschaftlichen Wissens die schriftlichen Quellen der jeweiligen etablierten Traditionen einer kritischen Analyse zu unterziehen und so deren Irrlehren aufzuzeigen und zu widerlegen, um diese schließlich durch seine eigenen Erkenntnisse zu verbessern oder gar ersetzen zu können.7 Eines der zentralen Themen, das Yamagata durch das gesamte Werk hindurch immer wieder anspricht, ist die Glaubhaftigkeit einzelner Personen und schriftlicher Quellen. Die Grenzen und Inhalte des Wissens sowie die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis sind dabei die Leitthemen, die er immer wieder im Yume no shiro aufgreift. Dabei steht für ihn immer die Verifizierbarkeit jeglicher Aussagen im Vordergrund. Um diese gewährleisten zu können, müssen sämtliche Aussagen entweder durch Augenzeugen oder empirische Beobachtungen und Experimente überprüfbar und nachvollziehbar sein. Idealerweise sind beide Arten des Beweises vorhanden. Ohne wenigstens eine dieser Anforderungen zu erfüllen, ist eine Aussage für ihn bloße Spekulation und hat somit keinen Wahrheitsgehalt. Nach seiner Meinung lassen sich Augenzeugenberichte nur überprüfen, wenn sie niedergeschrieben worden und somit unabhängig von der betreffenden Person überprüfbar sind. Somit stellt die Einführung der Schrift in Japan eine wichtige Zäsur für ihn dar: Die Schrift wurde während der Herrschaft des Kaisers Ôjin (270–310) nach Japan gebracht. Die Glaubhaftigkeit von Ereignissen und Berichten nach dieser Zeit ist unverkennbar. Aufzeichnungen zu früheren Geschehnissen sind dagegen nichts weiter als Erzählungen und Mythen und daher unglaubwürdig. Zwar hört man von Schriftzeichen aus dem Zeitalter der Gottheiten, jedoch ist über diese nichts Genaues bekannt.8
Vor deren Einführung musste sich eine Gesellschaft auf mündliche Tradierungen verlassen, was dazu führt, dass jede Generation sich nur auf Aussagen verlassen kann, die maximal drei Generationen zurückreicht. Die Einfuhr der Schrift aus China ist für ihn also gleichzeitig der Beginn verlässlicher historischer Aufzeichnungen. Alles, was weiter in der Vergangenheit liegt, gehört für ihn in das Reich des mythischen Zeitalters und kann somit keinen Anspruch auf Wahrheit geltend machen. Schriftliche Quellen über diese Zeit sind nach seinem Verständnis nichts weiter als Fabrikationen späterer Generationen, da die Verfasser unmöglich über genaue Kenntnisse über jene Geschehnisse verfügen konnten. Yamagata definiert hier somit den Zeitrahmen, aus dem und über den glaubhafte 7 Yamagata, Bantô: Yume no shiro『夢の代』[Anstelle von Träumen], in: Nihon shisô taikei Band 43: Yamagata Bantô, Tominaga Nakamoto『富永中基・山片蟠桃』, Iwanami shoten Tokyo 1973 [1820], S. 164. 8 Ebd., S. 272: 日本ヘ渡リシコトハ、応神天皇ノ御宇ニシテ、ソノ後ノコトハ事実明白 ナリ。ソレマデノコトハ、口授伝説ニシテ実ヲ得ズ。神代ノ文字ト云コトキキ及べ ドモ、如何ヲ知ラズ。
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Aussagen zu erwarten sind und verdeutlicht gleichzeitig, welch zentrale Rolle die Schrift für ihn spielt. Unter diesen Gesichtspunkten wendet er sich jenen Werken zu, die ein Weltbild oder eine Kosmologie beschreiben. Dabei sind es vor allem die Genealogie des jeweiligen Werks, darin enthaltene chronologische und historische Daten sowie verwendete Begriffe und Stile, die er betrachtet, um die Authentizität der diskutierten Werke zu überprüfen. Zu den japanischen Gründungsmythen äußert er sich sehr kritisch: Da alles aus der vorschriftlichen Zeit auf mündliche Tradierungen zurückzuführen ist, kann man den einzelnen Aussagen keinen Glauben schenken. Dies umso mehr, da zur Zeit der beschriebenen Gründung der Welt einzig die Gottheiten existierten und es logischerweise keine Zeugen gab. Dies allein belegt für ihn schon, dass die Gründungsmythen nichts weiter als die Werke späterer Generationen sind.9 Weiterhin zeigt er durch intertextuelle Vergleiche der chronologischen Angaben von Geschehnissen oder Personen, dass die niedergeschriebenen Ereignisse die unmöglichsten Zeitspannen oder Unterschiede in den Zeitangaben hervorbringen.10 Um diese Aussagen zu untermauern, bezieht Yamagata sich auch auf die Tatsache, dass das Kalenderwesen erst mit der Übernahme des chinesischen Modell eines Zentralstaates ab dem Jahr 645 in Japan eingeführt wurde und folglich jegliche exakte Aussagen über Zeitspannen vor diesem Datum noch unglaubwürdiger werden. Dieser Kritik fügt er eine ausführliche linguistische Analyse zur Dekonstruktion der Mythen hinzu. Zu Yamagatas Lebzeiten und auch heute noch bezeichnet der Begriff kami gemeinhin übernatürliche Wesen. Auch ist es möglich, dass eine Person postum in deren Kreis eintritt und fortan als solche verehrt wird. Für Yamagata geht dies auf den Einfluss der chinesischen Schrift und des Buddhismus zurück: Vor deren Ankunft in Japan wurde der Begriff als Höflichkeitsausdruck für Personen verwendet, die wichtige Ämter und Positionen innerhalb der Gesellschaft innehatten. Erst durch die Ankunft des Buddhismus und dessen Lehren zu übermenschlichen Existenzen, änderte sich die Auffassung, und der Begriff wurde fortan mit übernatürlichen Konnotationen verwendet.11 Für den Konfuzianismus ist dagegen das Konzept von Himmel ten 天 und Mandat des Himmels tenmei 天命 von zentraler Bedeutung. Auch diesen spricht Yamagata jegliche übernatürlichen Bedeutungen ab, indem er darlegt, dass die Begriffe Himmel und Mandat des Himmels ursprünglich von den Weisen rein metaphorisch verwendet worden seien. Himmel steht hierbei als Synonym für 9 Ebd., S. 293. 10 Ebd., S. 272f. 11 Ebd., S. 491.
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Moral, Mandat des Himmels bedeutet dementsprechend, dass eine Person aufgrund ihrer moralischen Integrität und politischen Fähigkeiten die Menschen regiert und nicht etwa durch die Gunst des Himmels. Verleugnet sie diese moralischen Werte oder ignoriert sie, so wird sie von den Menschen abgesetzt und das Mandat an eine geeignetere Person übertragen. Diese Definition geriet jedoch im Laufe der Zeit in Vergessenheit und veränderte sich hin zu den Konzepten mit den übernatürlichen Konnotationen von Himmel und Mandat des Himmels.12 Weiterhin wird diese historische und linguistische Textkritik durch eine naturwissenschaftliche ergänzt. Auch hier sind sowohl verifizierbare Erfahrungen, vor allem in Bezug auf Aussagen über die Erde, als auch verifizierbare Beobachtungen und Experimente in Bezug auf Aussagen über den Kosmos von fundamentaler Bedeutung. Yamagata betrachtet hier vor allem die durch die Seefahrt erzielten Fortschritte und gewonnenen Erkenntnisse als ausreichende Beweise dafür, dass dieses Wissen den klassischen Quellen überlegen ist und es daher einer sehr kritischen Neubewertung dieser klassischen Schriften bedarf.
Ethik des Himmels Die Grundlage für diese Stoßrichtung der Kritik an den traditionellen Kosmologien bildet die naturwissenschaftliche Astronomie sowie die Kosmologie und das Weltbild, welche auf deren Erkenntnissen beruhen. Entsprechend nehmen diese auch den Großteil des ersten und zweiten Buches des Yume no shiro ein. In diesen skizziert er dem Leser kurz die Genese der astronomischen Traditionen in China, Japan und Europa und ergänzt diese schließlich mit den aktuellen in Japan bekannten Lehren. Als Grundlage für diese Ausführungen dienen Yamagata vor allem die japanischen Übersetzungen der Werke von William Whiston (1667–1752) 13 und John Keill (1671–1722) 14, deren niederländische Ausgaben nach Japan importiert wurden. Mit diesem Abriss der Geschichte der Astronomie greift er zugleich das Thema der Historizität sowohl der einzelnen Schriften als auch des darin dargestellten Wissens auf. Die sukzessive Entwicklung der Naturwissenschaften ist für Yamagatas Argumentation grundlegend und er führt im Werk dem Leser immer wieder vor Augen, dass dies vor allem durch die kritische Auseinandersetzung mit den alten Quellen möglich wurde, 12 Ebd., S. 487ff. 13 Yamagata beruft sich hier zwar auf Whiston, aber er gibt nicht genau an, welches Werk er verwendet hat. Die Übersetzung des Gelehrten Hashimoto Sôkichi (1763–1836) seiyôtenwa 『西洋天話』 [Gespräch über den westlichen Himmel] stimmt mit den meisten Passagen des Yume no shiro überein, allerdings existiert gegenwärtig kein Exemplar mehr. 14 Shizuki, Tadao: Rekishô shinsho『暦象新書』Manuskript, 1802.
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welche nötig wird, da die vorherigen Verfasser oftmals nicht über die gegenwärtigen Erkenntnismöglichkeiten verfügten. Gleichzeitig legitimiert er hierdurch seine eigene Kritik.15 In der japanischen Geschichte der Astronomie und Geographie kommt Yamagata dabei vor allem die Rolle eines Vermittlers zu, da er selbst die Naturwissenschaften wohl zu einer Säule seines Denkens machte, deren Theorien und Methodik aber nicht aktiv weiterentwickelte. Im Anschluss daran beschreibt er im zweiten Buch ausführlich die Geographie der Erde, ohne sich dabei allein auf Japan oder Asien zu beschränken. Vielmehr stellt er sehr detailliert die übrigen Kontinente dar und welche Rolle vor allem die Seefahrt für die Gewinnung dieser Erkenntnisse spielte. Für ihn ist die Kugelgestalt der Erde eine Selbstverständlichkeit genauso wie deren Eigenrotation, was beides durch die Seefahrt und naturwissenschaftliche Untersuchungen bewiesen worden ist. Neben einer Auflistung der einzelnen Länder und Kontinente geht er nicht im Detail auf die einzelnen Bewohner und deren Sitten ein. Allerdings erklärt er, dass diese alle ihre eigenen Charakteristika haben und dass diese auf die jeweilige Umgebung zurückzuführen sei. Die Erde gliedert er in verschiedene Klima-Zonen, welche alle ihre eigene spezifische Flora und Fauna beherbergen. Diese Naturbeschreibung ergänzt er um weitere natürliche Phänomene wie etwa Vulkanismus, Klima oder die Gezeiten. Insgesamt wird hier dem Leser eine präzise geographische Beschreibung der Erde präsentiert. Mit diesen Ausführungen verdeutlicht Yamagata, dass Ereignisse in der Natur keineswegs im Wirken irgendwelcher Gottheiten ihren Ursprung haben, sondern vielmehr auf natürliche Prozesse zurückzuführen sind: So ist beispielsweise ein Gewitter nicht etwa mit dem Schicksal eines Menschen verbunden, sondern ein rein meteorologisches Phänomen.16 Gleiches gilt für die natürlichen Bodenschätze, die aus den Bergen zu Tage gefördert werden. Auch hier existiert keine Gottheit, die diese den Menschen überlässt.17 Noch detaillierter ist die Beschreibung des Sonnensystems, in welchem diese Erde sich befindet. Diese umfasst alle Himmelskörper des Sonnensystems, die Umlaufbahnen der einzelnen Planeten um die Sonne, Newtons Lehren der Gravitation und die Zusammenhänge, die zwischen Planeten und Monden bestehen, wie beispielsweise die Gezeiten. Obwohl ihm kleinere Missverständnisse unterlaufen (so lokalisiert er die Fluten der Gezeiten an den Seiten der Erde, die zwischen mondzugewandter und mondabgewandter Seite liegen), entspricht die so präsentierte Beschreibung des Sonnensystems dem zeitgenössischen Wissensstand. 15 Yume no shiro, S. 207f. 16 Ebd., S. 179/80. 17 Ebd., S. 348/9.
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Darüber hinaus besteht für ihn kein Zweifel, dass alle Planeten und Monde bewohnt sind, auch wenn sich über das konkrete Aussehen dieser Lebensformen keine Aussage treffen lässt, da dies nichts anderes wäre „als eine der vielen unsäglichen Spekulationen wie sie typisch für die Buddhisten sind“.18 Sicher ist jedoch, dass die dortigen Lebensformen nicht den terrestrischen gleich sind, sondern vielmehr je nach Distanz des Planetenorbits zu seiner Sonne und den dadurch unterschiedlichen Lebensbedingungen sehr unterschiedlich sein könnten. Um diese Aussage zu untermauern, verwendet er eine Analogie zu seinen eigenen Beobachtungen der Lebewesen in den heißen Quellen Beppus auf der Insel Kyûshû: Sicherlich könnte man einwenden, dass auf Venus und Merkur keine Bewohner existieren, da diese Planeten der Sonnen nahe sind und innerhalb deren Hitzezone kreisen. Allerdings leben in den heißen Quellen Beppus der Provinz Bungo auch Fische. Setzt man diese in normales Wasser, so sterben sie innerhalb eines Tages. Dem entsprechend können auch Bewohner in der Hitze der Umgebung der Sonne existieren.19
Dieses so konstituierte Sonnensystem ist keineswegs ein Sonderfall im Kosmos. Vielmehr existieren gemäß Yamagata unzählige Sterne, die alle über ihr eigenes Sonnensystem verfügen können. Je nach Volumen des Sterns variiert dessen Strahlkraft und somit die Größe des Systems, das er mit Energie versorgen kann, welche für Yamagata auch die Grundvoraussetzung jeglichen Lebens darstellt. Diesen Kosmos unterteilt Yamagata in zwei Arten von Gebieten: den einzelnen Sonnensystemen, die potentiell immer Leben beherbergen können, und den dazwischen liegenden dunklen Bereichen, die zwar auch Himmelskörper enthalten, allerdings kann hier kein Leben existieren, da diese nicht von einer Sonne mit Licht versorgt werden.20 Dementsprechend benennt er diese Bereiche meikai [helle Welt] beziehungsweise ankai [dunkle Welt]. Um diese Ausführungen zur Kosmologie noch verständlicher zu machen, fügt er dem Yume no shiro seine eigene Karte des Kosmos bei (Abb. 1). In diesem sind Kometen die einzigen Himmelskörper, die zwischen diesen beiden Welten pendeln. Die Daten, auf die er sich dabei bezieht, stammen größtenteils aus Beobachtungen des Kometen Halley Bopp. Die Struktur dieses Kosmos wird dabei durch die Gesetze der Gravitation aufrechterhalten, die die Bewegungen und Positionen der Himmelskörper im Kosmos bestimmen. Gemäß Yamagata wurde dieser Kosmos weder durch eine übergeordnete Existenz geschaffen noch hervorgebracht noch gibt es einen raumzeitlichen 18 Ebd., S. 222. 19 Ebd., S. 219: 金・水ノ二星ニ人民アルマジキト云モノハ、太陽ニ近ク熱ニスグルヲ以 テ也。シカルドモ豊後別府ノ温泉ニ魚アリ。魚ヲ水ニ放テバ一日ニ死ス。シカラバ 熱中ニ人民アルマジキニモアラズ。 20 Ebd., S. 216.
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Ursprung oder ein räumliches Ende des Kosmos. Selbst wenn es einen Ursprung gegeben haben sollte, so ist dies unmöglich für die Menschen nachvollziehbar: „Über den Ursprung des Universums existieren zwar viele Erklärungen, allerdings gehen sie alle von einer Schaffung der Welt aus und sind nicht akzeptabel“.21
Abbildung 1: Yamagata Bantô: Daikyoku kôsei kaku meikai no zu, 1820, Tusche auf Papier, Einschub im Yume no shiro.
Schließlich sind für Yamagata die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen einem historischen Wandel unterworfen, der Stand der zeitgenössischen Naturwissenschaften ist keinesfalls Ziel und Ende dieses Wandels, sondern vielmehr als eine der unzähligen Entwicklungsstufen anzusehen und wird somit auch künftig verändert und erweitert werden.22 Wenn für die Erkenntnis der Menschen etwas weiterhin unerklärlich bleibt, so ist dies also nicht etwa auf das Wirken einer übernatürlichen Wesenheit zurückzuführen, sondern vielmehr der begrenzten Mittel der Gelehrten geschuldet und eine allfällige Lösung ist von zukünftigen Generationen zu erwarten. Innerhalb dieses Gedankenmodells gibt es somit keinen Platz für irgendwelche Gottheiten.
21 Ebd., S. 149: 天地ノ初メサマザマノ論アリトイエドモ、ミナ天造草昧ノ世ノコトニシ テトルニ足ラズ。 22 YNS, S. 214.
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Kritik an den traditionellen Kosmologien Mit dieser ausführlichen naturwissenschaftlichen Beschreibung des Kosmos wird gleichzeitig der Grundstein für jene Kritik gelegt, die im Yume no shiro an den einzelnen Glaubensrichtungen der Menschen geübt wird. Yamagata argumentiert hier, dass deren Kosmologien sich einzig auf die überkommenen dogmatischen Texte vergangener Tage stützen, deren Verfasser bei weitem nicht über das naturwissenschaftliche Wissen verfügten, das nun zur Verfügung steht. In seiner Kritik zielt er vor allem auf die Dekonstruktion des jeweiligen Weltbilds und der Gottheiten beziehungsweise der übernatürlichen Wesen ab, die sich im Zentrum der jeweiligen Lehre befinden. Durch die Darstellung seiner atheistischen Kosmologie negiert er gleichzeitig das Fundament der japanischen Gründungsmythen, indem er die Existenz der Gottheiten, die in diesen Mythen die Welt hervorgebracht haben und in deren Zentrum stehen, nun mit naturwissenschaftlichen Argumenten zu widerlegen sucht. Selbst wenn die dort dargestellten Geschehnisse stattgefunden hätten, so wäre es für den Menschen auf Grund der Zeitspanne zwischen diesen und der Niederschrift der Mythen unmöglich, über derart genaues Wissen zu verfügen. Wie oben bereits dargestellt, kombiniert Yamagata diese Kritik mit seiner linguistischen Analyse der Texte. Diese führt er nun konsequent fort und greift die zeitgenössischen Schriften der nationalen Schule auf, die den Versuch unternehmen, diese Mythen mit den naturwissenschaftlichen Lehren in Einklang zu bringen. Explizit bezieht er sich dabei auf Hatori Nakatsune (1757–1824) und dessen Sandaikô [Gedanken zu den drei Welten] sowie auf seinen Lehrer Motoori Norinaga. Gemäß dieser Schrift bestand die Welt zu Beginn aus den drei miteinander verbundenen Ebenen Himmel, Erde und Unterwelt, welche sich dann im Laufe der Zeit voneinander entfernten, um schließlich die drei kugelförmigen Himmelskörper Sonne, Erde und Mond zu bilden. Die Sonnengottheit Amaterasu, die ursprünglich im Himmel residierte, wird nun in der Sonne selbst lokalisiert, wohingegen die Gottheit der Unterwelt fortan im Mond ihr Reich hat. Das Kaiserhaus befindet sich in diesem Weltbild auf der Erde und erhält die Verbindung zwischen diesen drei Welten, und die Kombination von naturwissenschaftlicher Astronomie mit dem Kosmos der kokugaku ist somit weder für Motoori noch für Hatori ein größeres Problem. Allerdings ist deren Kosmos noch voll von Gottheiten, was gleichzeitig zusammen mit der Genese der Welt der Hauptkritikpunkt Yamagatas an deren Schriften ist. Auch hier fügt er zur weiteren Erläuterung eine Serie von zehn Abbildungen ein (Abb. 2), um die dort vertretene Genese der Welt nachzuzeichnen, nur um sie schließlich als eine große Dummheit zu verwerfen: Für
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ihn ist dies „eine seltene Lehre ohnegleichen. Deren Ingeniosität sollte man nacheifern, ihrer Ignoranz jedoch nicht.“23
Abbildung 2: Yamagata Bantô: Kritik zur Schrift Sandaikô, Tusche auf Papier. Abgebildet sind von rechts nach links die Abbildungen eins, zwei, sieben, acht und zehn.
Weiterhin richtet er seine Kritik auch auf buddhistische Schriften. So konfrontiert er die buddhistische Kosmologie des Sumeru24 mit dem naturwissenschaftlichen Kosmos und dem modernen geographischen Wissen und sucht so zu beweisen, dass die in diesen Schriften beschriebene Welt nicht existiert und alleine auf deren falschen Aussagen basiert: der Berg Sumeru, sowie die über ihm lokalisierten Ebenen und das Paradies existieren nach dieser Beweisführung nicht. Selbst wenn das Paradies existieren würde, so gäbe es doch keine Beschreibungen davon,, „da es keine Zeugen gibt, die davon berichten könnten“.25 Auch die vier in den vier Himmelsrichtungen lokalisierten Kontinente sowie die anderen Berge und Meere dieser Welt sind mittels des durch die Seefahrt gewonnenen geographischen Wissens ins Reich der Mythen verbannt worden. Allgemein spricht Yamagata den alten Schriften, die geographische Aussagen enthalten, jeglichen Wahrheitsanspruch ab: „Über die Geographie existierten früher viele Lehren. Diese sind aber alle Trugschlüsse und heute nicht mehr heranzuziehen“.26 23 Yume no shiro, S. 196: 其知及ベシ、其愚及ブベカラズナリ其知及ベシ、其愚及ブベカ ラズナリ。 24 Dieser Berg befindet sich im Zentrum der flachen Erde, umgeben von sieben Meeren und sieben Bergen, die in konzentrischen Kreisen abwechselnd um diesen angeordnet sind. Innerhalb des ersten Meers befindet sich je ein Kontinent in den vier Himmelsrichtungen. Auf dem südlichen Kontinent befindet sich die Welt der Menschen. Auf dem Gipfel existieren unter anderem die vier himmlischen Könige während Sonne und Mond um ihn Kreisen. Nach: Arakawa, Hiroshi: Nihonjin no uchu¯kan 日本人の宇宙観[Die Kosmologie der Japaner], Kiikuniya shoten, Tokyo 2001. 25 Yume no shiro, S. 459. 26 Ebd., S. 260: 地理ノコトニオイテハ、古ヘサマザマノ説アリテ、ミナ妄説ナルコト、 今以テ引合セミルベシ。
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Im Gegensatz zu diesem rein auf alten Texten basierenden Weltbild lässt sich das heliozentrische Weltbild mittels geeigneter Beobachtungen und Instrumente verifizieren. Wieder fügt er noch eine Abbildung hinzu, die auf einen Blick die Fehlerhaftigkeit dieses Weltbildes zeigen soll und so seine Kritik weiter unterstreicht (Abb. 3). In diese Kritik schließt er auch das Christentum und den Islam mit ein, allerdings erwähnt er diese nur am Rande und führt keine ausführliche kritische Analyse durch.
Abbildung 3: Der Berg Sumeru, Tusche auf Papier.
Richtet Yamagata seine Kritik zu Beginn hauptsächlich auf die einzelnen Schriften, so versucht er im nächsten Schritt, diese Kritik auf die Gesellschaft auszuweiten. In diesem Zusammenhang macht er unter anderem die buddhistischen Schulen und die Lehren des Shinto dafür verantwortlich, dass die Menschen keine adäquaten Lösungen für die fortwährend auftretenden Herausforderungen und Probleme finden, mit denen sie von der Natur konfrontiert werden. Anstatt den Ursachen für Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Feuer, welche einen riesigen Einfluss auf die Landwirtschaft oder die Bewohner der Städte hatten, mittels Beobachtungen und Studien auf den Grund zu gehen und diese so wenn auch nicht zu verhindern aber doch zumindest zu lindern, wenden die Menschen sich lieber an die Tempel und Schreine, damit diese bei den Gottheiten intervenieren und so künftige Unglücke von den Menschen abwenden. Dies wird natürlich von den Mönchen und Priestern gefördert, allerdings nicht um den Menschen zu helfen sondern vielmehr um ihre eigene gesellschaftliche Stellung behaupten und den Reichtum vermehren zu können.27 Anknüpfend an diese Kritik, versucht Yamagata im Yume no shiro, verschiedene Lösungsmöglichkeiten vor allem für die wirtschaftlichen Schwierig27 Ebd., S. 451f.
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keiten und Probleme aufzuzeigen, mit denen er und seine Zeitgenossen sich konfrontiert sahen. Weitaus wichtiger erscheint ihm aber, die Rezipienten zu eigenen Überlegungen und Anstrengungen anzuregen. Um dieses Motiv in der Praxis anzuwenden, gilt es, die überkommenen Lehren und Methoden zu widerlegen und durch neue zu ersetzen. Auch zu diesem Zweck weist er in seinem Werk immer wieder darauf hin, dass alle Lehren, Theorien und deren Ergebnisse auf keinen Fall finale Erkenntnisse sind, sondern vielmehr durch das Hinzuziehen neuer Quellen und Methoden sowie deren neuen Kombinationen und dem damit einhergehenden Fortschritt der Erkenntnismöglichkeiten der Menschen diese Erkenntnisse fortwährend zu überprüfen und gegebenenfalls zu verwerfen sind.
Fazit Mit seiner Dekonstruktion der mythischen und religiösen Kosmologien und seiner Zurückweisung alles Übernatürlichen beschreibt Yamagata einen Kosmos, der bereits einer historischen Entwicklung unterworfen ist und in dem den Personen und Geschehnissen ein jeweils eigener Platz in Raum und Zeit zukommt. Wie oben gezeigt, ist es dem Menschen nun möglich, diesen im Rahmen seiner jeweiligen Möglichkeiten zu verstehen und er ist nicht mehr auf die Gunst irgendwelcher Gottheiten angewiesen oder deren Launen ausgesetzt. Gleichzeitig ist dieser Kosmos durchgängig durch das Prinzip ri 理 verbunden. Es ist dem Menschen nicht nur möglich, durch eigene Beobachtungen und Studien sich diesem Prinzip anzunähern und es begreifbar zu machen, sondern es ist gleichzeitig auch eine Aufgabe und Pflicht, die dem ri des Menschen entspringt. Diese Ausführungen zeigen gleichzeitig auch, dass Yamagata weiterhin in der Tradition des Neo-Konfuzianismus steht: Auch hier ist der Himmel die Grundlage aller Dinge, Gelehrsamkeit und Studium gakumon 学問 sind das Mittel, um zu einem Weisen zu werden und nicht etwa ein passives Warten auf die Erleuchtung. Dies bedeutet, durch Untersuchungen, das Wissen ständig zu erweitern kakubutsu chichi 格物致知, um so letztlich zum Prinzip der Dinge kyûri 窮理 zu gelangen.28 Allerdings gilt das Interesse bei Yamagata nicht mehr dem Studium der klassischen Schriften allein, vielmehr wird es nun auf das Studium der Natur und des Kosmos gerichtet und erfährt somit eine Wendung hin zu einem eher praktisch ausgerichteten Wissen, was er allerdings weiterhin mit dem neo-konfuzianischen Begriff kakubutsu chichi ausdrückt. Dieses Kombinieren von Methoden und Wissen verschiedener Traditionen ist zu Yamagatas Lebzeiten weit 28 Ebd., S. 214 und Watanabe, S. 111ff.
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verbreitet, seine spezifische Art und Weise ist jedoch einzigartig. In seiner Kritik an zeitgenössischen Gelehrten ist für ihn hierbei das größte Übel, dass diese trotz all der verfügbaren neuen, vor allem naturwissenschaftlichen, Kenntnissen und Beweisen immer noch ihren alten Überzeugungen folgen und Versuche unternehmen, diese zu verteidigen.29
Literatur Hiroshi Arakawa: Nihonjin no uchu¯kan 日本人の宇宙観 [Kosmologie der Japaner], Kiikuniya shoten, Tokyo 2001. Tadamichi Arisaka: Yamagata Bantô to Osaka no Yôgaku 山片蟠桃と大阪の洋学 [Yamagata Bantô und die europäischen Studien in Osaka], Sôgensha, Osaka 2006. Atsushi Fujimoto/Toyokuni Maeda/Ayako Umata/Akio Hotta: Ôsaka fu no rekishi 大阪府 の歴史 [Geschichte der Präfektur Osaka], Yamakawa Shuppansha, Tokyo 2015. Shirô Kôsaka: Higashi ajia no shisô taiwa 東アジアの思想対話 [Dialoge zu ostasiatischen Anschauungen], Perikansha, Tokyo 2014. Tôru Sagara: Nihon no jukyô 1 日本の儒教 1 [Konfuzianismus in Japan 1], Perikansha, Tokyo 1992. Hiroshi Watanabe: A History of Political Thought, 1600–1901, International House of Japan, Tokyo 2012. Bantô Yamagata: Yume no shiro 夢の代 [Anstelle von Träumen], in: Nihon shisô taikei Band 43: Yamagata Bantô. Tominaga Nakamoto, Iwanami shoten, Tokyo 1973 [1820].
Abbildungen Abbildung 1: Yamagata (1820), S. 217. Kansai University Library. Abbildung 2: Yamagata (1820), S. 192ff. Kansai University Library. Abbildung 3: Yamagata (1820), S. 217. Kansai University Library.
29 Ebd., S. 454.
Maximilian Bergengruen
Himmel und Hölle ökonomisch. Kredit und Bankrott in Adelbert von Chamissos ‚Peter Schlemihl‘
1.
Teufelspakt ökonomisch
In Adalbert von Chamissos 1813 entstandener, 1914 veröffentlichter Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte geht es um einen Menschen, der den offenen Himmel, genauer gesagt: Den Schein von „Sonne“ (PS 1814, 28) 1 und „Mond“ (PS 1814, 34), scheut wie der Teufel das Weihwasser, weil er mit eben diesem einen Vertrag abgeschlossen hat; einen Vertrag, der ihn um seinen Schatten gebracht hat. Letzterer ist nämlich nicht sichtbar, wenn die erwähnten Himmelskörper leuchten. Peter Schlemihl steht mithin zwischen nicht weniger als Himmel und Hölle. Dieses dichotomische Verhältnis – das ist die These, die in diesem Aufsatz entfaltet werden soll – wird über Geld bzw. Kredite verwaltet und über Literatur im dreifachen hegelschen Sinne aufgehoben. Am Ende der Geschichte sieht Peter Schlemihl, wie sich Thomas John, dessen ‚Karriere‘ in vielerlei Hinsicht Parallelen mit seiner aufweist, vor einem göttlichen Gericht verantworten muss. Der Sünder flüsterte mit letzter Kraft die Worte: „Justo judicio Dei judicatus sum; Justo judicio Dei condemnatus sum“2 (PS 1814, 79) – ‚Ich bin durch das gerechte Urteil Gottes gerichtet; ich bin durch das gerechte Urteil Gottes verdammt‘. Um diesem Schicksal zu entgehen, tut Schlemihl „Buße“ (PS 1814, 94). Und es sieht so aus, als ob der von John angesprochene gerechte Gott die Buße annehmen und Schlemihl, anders als John, vielleicht richten, aber nicht verdammen würde. 1 Da in diesem Aufsatz der Schlemihl dezidiert an die (ökonomie-)historische Situation zum Zeitpunkt der Entstehung in den napoleonischen Kriegen zurückgebunden wird, wird die Erzählung nach der Editio princeps von 1814 zitiert, die in Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Hg. von Joseph Kiermeier-Debre. München 1999, wiedergegeben wird (Sigle: PS 1814). Alle anderen Texte werden nach Chamisso, Adelbert von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Volker Hoffmann. München 1975, zitiert (Sigle SW). Vgl. zur Editionssituation Immer, Nikolas; Glaubrecht, Matthias: „Peter Schlemihl als Naturforscher. Das zehnte Kapitel von Chamissos Märchenerzählung in editionsphilologischer und wissenschaftshistorischer Perspektive“, in: Editio 26 (2012), S. 123ff., hier S. 124ff. 2 In Anlehnung an Joh 7, 24 (Vulgata; man beachte die Namensähnlichkeit John/Johannes).
168
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Doch bevor es soweit kommt, bevor Schlemihl also in den Himmel der Wissenschaften und der Kunst eintreten darf, muss er die tiefsten Tiefen der Hölle durchwandern. An deren unterster Stelle soll der Teufelspakt geschlossen werden. Der Graue hält Peter Schlemihl ein Dokument entgegen, das dieser nur noch, mit Blut versteht sich, zu unterschreiben braucht. Auf diesem Dokument finden sich die folgenden Worte: „‚Kraft dieser meiner Unterschrift vermache ich dem Inhaber dieses meine Seele nach ihrer natürlichen Trennung von meinem Leibe‘“ (PS 1814, 53). Schlemihl unterschreibt – nicht; und dies, obwohl der Teufel ihm nicht nur ein gutes Angebot gemacht hat, sondern, im Sinne des modernen Handels- und Kreditwesens, ein Angebot, das er eigentlich überhaupt nicht ausschlagen kann: „‚Merken Sie Sich’s, Schlemihl, was man Anfangs mit Gutem nicht will, das muß man am Ende doch gezwungen. Ich dächte noch, Sie kauften mir das Ding ab‘“ (PS 1814, 63). Zwei Begriffe in diesem Zitat verdienen eine besondere Betrachtung. Erstens der des Kaufens („Sie kauften mir das Ding ab“) und zweitens der des Zwangs („das muß man am Ende doch gezwungen“). Beides hat unmittelbar miteinander zu tun. Der Graue hat nämlich vor diesem eigentlichen Teufelspakt eine Art von Vorläufer-Vertrag mit Peter Schlemihl abgeschlossen. Auch diese vorläufige Form des Teufelspaktes war bereits ökonomisiert, dergestalt dass es nicht nur ein Pakt, sondern ein „Handel“ (PS 1814, 21) war. Es ging um Peter Schlemihls „Schatten“, für den der Graue, man merke auch hier auf die ökonomische Terminologie, „den höchsten Preis“ noch für „zu gering“ erachtete. Wenn er aber Schlemihl doch bat, „mir diesen Ihren Schatten zu überlassen“, dann nicht für eine bestimmte Summe Geldes, das wäre ja genau der abgelehnte Preis, sondern für eine unbestimmte, nämlich „Fortunati Glücksseckel“ (PS 1814, 19f.), dem sich unbegrenzt Geld und Gold entnehmen lässt. Der zweite, eigentliche Teufelspakt besteht nun darin, dass der Graue Peter Schlemihl anbietet, ihm seinen Schatten, von dem Schlemihl bemerkt hat, dass er ohne ihn nicht durch die Welt kommt, ihn also begehrt wie kein zweites Gut, zurückzuverkaufen – und zwar um keinen geringeren Preis als seine Seele. Der Zwang besteht also in einer geschickten Verkettung von zwei Geschäften, von denen das eine, der Schattenkauf, die Voraussetzung für das eigentliche, den Seelenkauf darstellt.3 Damit wird eine geschickte Selbstreflexion des gesamten Vorgangs auf Ebene der Performanz erreicht: Das Geschäft mit dem Schatten ist nicht das eigentliche Geschäft, sondern eine Art von Schatten, den der Seelenkauf 3 White, Ann und John: „The Devil’s Devices in Chamisso’s ‚Peter Schlemihl‘. An Article in Seven-League Boots“, in: German Life and Letters 45 (1992), S. 220ff., sprechen von „Reifmachen“ (S. 224 u. ö.), was wohl im Sinne von ‚Anfixen‘, ‚Anfüttern‘ etc. verstanden werden soll.
Himmel und Hölle ökonomisch
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vorauswirft. Dieses Schattengeschäft, diese Schattenwirtschaft kommt nun begrifflich zu sich selbst, wenn sein/ihr Gegenstand ein Schatten ist.4
2.
Schatten: bürgerlich
Es gibt zwei Passagen, in denen durch eine kalkuliert missbräuchliche Wortverwendung deutlich wird, was es mit dem Schatten in Peter Schlemihls wundersamer Geschichte auf sich hat. Kurz bevor sich Rascal, der Schadensgeist, der Schlemihl zusammen mit dem Schutzgeist Bendel dient,5 von seinem Herrn trennt, kommt es zu einem bemerkenswerten Wortwechsel. Schlemihl ruft: „‚Wie kann ein Knecht gegen seinen Herrn – – ?‘ Er [Rascal] fiel mir ganz ruhig in die Rede: ‚Ein Knecht kann ein sehr ehrlicher Mann seyn und einem Schattenlosen nicht dienen wollen‘“ (PS 1814, 49). Der Begriff ‚schattenlos‘ ist im Deutschen nicht geläufig, wohl aber ‚ehrlos‘; und genau dieser letzte Begriff wird von Rascal implizit angesprochen, wenn er sich selbst als einen „ehrliche[n] Mann“ bezeichnet und sich damit von seinem schattenlosen Herrn zu unterscheiden behauptet. Einen Schatten zu haben und Ehre zu haben, ist, wie die fast selbstverständliche Ersetzung deutlich macht, in der sprachlichen Logik Rascals nicht weit voneinander entfernt. Es ist wiederum Rascal, anhand dessen durch eine weitere enharmonische Verwechslung der Begriff des ‚Schattens‘ eine zusätzliche semantische Kontur bekommt; in diesem Falle nicht als Sprechender, sondern als Gesprächsgegenstand zwischen den beiden Förstersleuten, die über die Heiratsfähigkeit von Schlemihls ehemaligem Diener diskutieren: „‚Er muß sehr viel gestolen haben.‘ — ‚Was sind das wieder für Reden! Er hat weislich gespart, wo verschwendet wurde.‘ — ‚Ein Mann, der die Livree getragen hat!‘ — ‚Dummes Zeug! er hat doch einen untadlichen Schatten‘“ (PS 1814, 64). Der Förster spielt in seiner letzten Replik, ‚er hat doch einen untadlichen Schatten‘, mit der Redensart ‚einen untadeligen Ruf haben‘. Die Ersetzung des 4 Dies als historische Konkretisierung der Analysen der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, in denen der Graue, als Teufel, die „phantastische Personifikation der kapitalistischen Warenwelt“ darstellt (Freund, Winfried: Adelbert von Chamisso: ‚Peter Schlemihl‘. Geld und Geist. Ein bürgerlicher Bewußtseinsspiegel. Entstehung – Rezeption – Didaktik. Paderborn u. a. 1980, S. 31). 5 Vgl. zur Konzeption des Schutz- und Schadensgeistes im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert: Vf.: „Dämonomanie. Verfolgungswahn, Magnetismus und Vererbung in E.T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘“, in: Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Hg. von Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters. Paderborn 2014, S. 145ff., hier S. 151f. Vgl. zur Polarität der Dienerfiguren auch Herdman, John: „Terror, Pursuit and Shadows“, in: Ders.: The Double in Nineteenth-Century Fiction. Basingstoke 1990, S. 21ff., hier S. 43.
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Rufs durch den Schatten macht deutlich, dass Letzterer in die Nähe dieses Rufs, und zwar genauer gesagt des guten Rufs, gerückt wird. Guter Ruf und Ehre, das sind also die zwei Begriffe, die im Peter Schlemihl durch die jeweiligen Ersetzungen als semantisch verwandt, ja als weitgehend synonym mit dem Begriff des Schattens gekennzeichnet werden.6 Beinahe jedenfalls. Denn aus der Rede der Eheleute wird auch deutlich, dass die Förstersfrau keinesfalls davon überzeugt ist, dass Rascal ein Mann von einem untadeligen Ruf ist. Der Förster, der diesen Verdacht vielleicht insgeheim auch hegt, beruhigt sich und sie mit dem Hinweis auf den Schatten. Daraus erhellt, dass der Schatten nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem guten Ruf und einem ehrlichen Lebenswandel sein muss, sondern bisweilen nur den Anschein davon darstellen kann. Es ist niemand Geringeres als Immanuel Kant, der in seiner Anthropologie den schmalen Grat zwischen wirklicher und scheinbarer Ehre beschrieben hat. Unter der Überschrift „Ehrsucht“ schreibt er: „Sie“, also die Ehrsucht, „ist nicht Ehrliebe, eine Hochschätzung, die der Mensch von anderen, wegen seines inneren (moralischen) Werts, erwarten darf, sondern Bestreben nach Ehrenruf, wo es am Schein genug ist“.7 Bei Rascals Schatten geht es also um Ehrenruf und den Schein der bürgerlichen Ehre. Trotzdem kann auch die reale Ehre mit dem Begriff des Schattens bezeichnet werden, wie die Gegenprobe zeigt. Denn keinen Schatten zu haben, bedeutet für Schlemihl aus dem System der Ehre und der bürgerlichen Reputation ausgeschlossen zu sein. Vieles erinnert in diesem Zusammenhang an die Beschreibungen aus Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre bzw. aus Infamie, wenn Christian aus dem Zuchthaus und später aus der „Festung“ zurück in seine
6 Deutungen, die in diese Richtung gehen – z. B. Freund: Adelbert von Chamisso. ‚Peter Schlemihl‘. Geld und Geist, S. 34f.; Wilpert, Gero von: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart 1978, S. 36ff. – arbeiten sich, kritisch oder affirmierend, an Thomas Manns Diktum vom Schatten als „Symbol aller bürgerlichen Solidität und menschlichen Zugehörigkeit“ ab (Mann, Thomas: „Chamisso“, in: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Band IX: Reden und Aufsätze. Frankfurt a. M. 1960, S. 56), das von Wiese, Benno von: Geschichte der deutschen Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen. Band I. Düsseldorf 1956, S. 109f., kanonisiert wurde. Hierzu auch Hoffmann, Ernst Fedor: „Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Brentano, Hoffmann und Chamisso“, in: Lebendige Form. Interpretationen zur deutschen Literatur. Festschrift für Heinrich E. K. Henel. Hg. von Jeffrey L. Sammons, Ernst Schürer. München 1970, S. 167ff., hier S. 182f. 7 Kant, Immanuel: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, in: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Band XII. Frankfurt a. M. 1978, S. 609 (= § 82, AB 237). Vgl. zur Ehre als einer Art Parallelsystem zum Recht im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert Vf.: „Das neue Recht und der neue Körper. Wagners ‚Kindermörderin‘ zwischen Anthropologie und Rechtstheorie“, in: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Hg. von dems., Roland Borgards, Johannes Lehmann. Würzburg 2001, S. 37ff.
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„Vaterstadt“ kommt und dort wie ein „schändliches Tier“8 behandelt wird. Eine solche Infamie deutet sich auch bei Schlemihl an, wenn seiner Umwelt bewusst wird, dass er keinen Schatten besitzt: „Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh’ ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämtlichen literarischen Strassenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu rezensiren und mit Koth zu bewerfen anfing“ (PS 1814, 22f.). Lassen wir vorerst die literarische Selbstreflexion, die durch den Begriff des Rezensierens gestiftet wird, beiseite und halten vielmehr fest, dass ein Infamer, der seine Ausgrenzung einer körperlichen Missbildung verdankt, einen anderen, nämlich Peter Schlemihl, an seine Stelle setzt, sozusagen um sich freizukaufen. Auch dem Protagonisten der Erzählung fehlt es quasi an einer körperlichen Normalform, nur dass in diesem Falle der Sozialkörper gemeint ist und auch nur dessen Abbild im Schatten. Erfahrungen der Infamie – oder genauer: der beinah erlebten Infamie – finden sich in der gesamten Erzählung. Immer wieder ist davon die Rede, dass Peter Schlemihl dem „Hohn der Jugend“ oder der „hochmüthige[n] Verachtung der Männer“ ausgesetzt ist. Er rangiert, wie er schreibt, in der „öffentliche[n] Meinung“ (PS 1814, 26) ganz unten und notiert am Ende dementsprechend über sich: „durch frühe Schuld von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen“ (PS 1814, 86). Der Vergleich mit Schillers Verbrecher geht jedoch deswegen nicht ganz auf, weil Peter Schlemihl, mit Foucault zu sprechen, keinen „Zusammenstoß mit einer Macht“,9 zumindest mit keiner staatlichen, gewärtigen muss. Darüber hinaus eignet ihm etwas, das ihm erlaubt, sich der Erfahrung von Infamie in letzter Sekunde zu entziehen: „Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie“ (PS 1814, 23; Herv. MB). Seine finanzielle Potenz bewahrt Schlemihl also vor der Schattenseite der bürgerlichen Gesellschaft, die ihm trotz oder wegen des fehlenden Schattens droht. Es ist jedoch nicht so, dass das Geld ihm sozusagen a priori die Rolle eines ehrlichen Bürgers von gutem Ruf verschafft. Vielmehr scheinen sich Geld und guter Ruf in einem prekären Balanceverhältnis zu befinden.
8 Schiller, Friedrich: „Verbrecher aus verlorener Ehre“, in: Ders.: Werke. Band XVI: Erzählungen. Hg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 12f. 9 Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen. Übers. von Walter Seittler. Berlin 2001, S. 23.
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Schatten ökonomisch
Im letzten Kapitel war vom Schatten als einer sozialen Funktion die Rede. Zu Anfang wurde jedoch gesagt, dass der Teufelspakt und das ihm vorausgehende Schattengeschäft eine dezidiert ökonomische Dimension besäßen. Es gibt eine Passage, die den damit beschriebenen Übergang von der sozialen in die ökonomische Sphäre aufzeigt: Einst erschien unter den Badegästen ein Handelsmann, der Bankerot gemacht hatte, um sich zu bereichern; der allgemeine Achtung genoß, und einen breiten, obgleich etwas blassen Schatten von sich warf. Er wollte hier das Vermögen, das er gesammelt, zum Prunk ausstellen, und es fiel sogar ihm ein, mit mir wetteifern zu wollen. Ich sprach meinem Seckel zu, und hatte sehr bald den armen Teufel so weit, daß er, um sein Ansehen zu retten, abermals Bankerot machen mußte und über das Gebirg ziehen (PS 1814, 42).
Der Handelsmann ist eine zweite Parallelfigur zu Schlemihl, ähnlich der Johns, anhand deren sich mittels Gemeinsamkeiten und Differenzen einiges über Peter Schlemihl erfahren lässt. Halten wir vorderhand fest, dass es sich bei diesem Geschäftsmann um einen, mit Kant zu sprechen, ehrsüchtigen und nicht ehrliebenden Zeitgenossen handelt. Der Erzähler Schlemihl legt ihm dezent einen betrügerischen Bankrott zur Last. Der Kaufmann hat sich also nicht deswegen zahlungsunfähig gemeldet, weil er mit seinem betriebswirtschaftlichen Latein oder Geld am Ende war, sondern weil er seine Gläubiger prellen und deren Geld für sich zurückbehalten wollte („um sich zu bereichern“). Und doch genießt er in den Augen der Mitbürger „Achtung“. Diese falsche Achtung hat er wohl nicht zuletzt durch das qua Betrug erhaltene Geld und seine Bereitschaft, es unter die Leute zu bringen, erworben. Im Gegensatz zu Rascal drückt sich nun der nicht vorhandene moralische Innenwert des Handelsmanns nicht im falschen Schein eines vollständigen Schattens aus, vielmehr ist der Schatten in sich differenziert: Er ist „breit“, wie der Kaufmann ja auch vor einem breiten Publikum Achtung erwarten zu können glaubt. Aber er ist auch „blass“, weil der Anspruch des Schattens, nämlich ein wahrhafter äußerer Abglanz der inneren moralischen Werte zu sein, nicht eingehalten werden kann. Man könnte es auch ökonomisch ausdrücken: Um die Bonität, also den untadeligen Ruf in puncto Rückzahlung von Krediten, ist es nicht halb so gut bestellt, wie der Werfer des Schattens, trotz oder wegen dessen Breite, den Leuten weiß oder eben schwarz machen möchte (sein blasser, also nicht mehr ganz schwarzer Schatten verweist dabei zusätzlich auf den Grauen; doch das nur nebenbei). Es liegt auf der Hand, dass hier eine gewisse Ähnlichkeit zu Peter Schlemihl vorliegt. Wie dieser keinen Schatten hat, weil er sich am Anfang der Geschichte
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ins Unrecht gesetzt hat, so hat der Kaufmann durch das Unrecht eines vorgetäuschten Bankrotts zumindest einen blassen Schimmer von Schatten. Diese halbwertige Ähnlichkeit verweist auf eine zweite: Beide verfügen über eine große Menge Geldes, das sie zur Aufrechterhaltung ihrer bürgerlichen Reputation benötigen. Die entscheidende Differenz liegt lediglich darin, dass die Geldmenge des Kaufmanns endlich ist, daher muss er irgendwann einen zweiten, jetzt jedoch nicht mehr betrügerischen, sondern ganz und gar realen „Bankerot“ (PS 1814, 42) anmelden, während Peter Schlemihls Mittel „unerschöpflich“ sind (PS 1814, 41). Die Ähnlichkeiten sind also so groß, dass der Verdacht auf der Hand liegt, dass auch die unerschöpflichen Mittel Schlemihls in irgendeiner Weise etwas mit Unrecht, Kredit und Bankrott zu tun haben, nur eben nicht im Bereich der endlichen, sondern denen der unendlichen Geldmittel. Gehen wir also davon aus, dass sich in einer ökonomischen Allegorese die Übergabe von Fortunati Glückssäckel vom Grauen an Schlemihl tatsächlich als ein Kreditgeschäft beschreiben lässt. Die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, wäre die, wer der Kreditgeber ist. Sie ist schnell beantwortet: der Graue. Wo aber läge, so gesehen, das Unrecht bzw. die „Schuld“ (PS 1814, 86)? Denn im Gegensatz zum Kaufmann und seinen im Konkurs leer ausgegangenen Gläubigern war bei Schlemihl niemals ausgemacht, dass der Kredit zurückgezahlt werden sollte. Er hat also den Grauen als Kreditgeber keineswegs geprellt. Dennoch verweist der Verlust des Schattens, verstanden als äußerer Anschein seines moralischen und bürgerlichen Werts, vor allem aber die Assoziation mit einem Teufelspakt darauf, dass Peter Schlemihl bei dem Kreditvertrag10 mit dem Grauen auch ökonomisch gesehen eine Schuld auf sich geladen hat. Nur: welche?
4.
Bürgerliche und adlige Verwendungsweise von Kredit: die Nationalökonomie
Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage an, wie Schlemihl mit seinem unendlichen Kredit umgeht. Oben wurde schon genannt, dass er „Gold zu vollen Händen“ (PS 1814, 23) unter die Leute wirft. Bendel hilft seinem Herrn, „Gelegenheiten [zu] ersinnen“, um das „Gold zu vergeuden“ ( PS 1814, 41). Ziel ist es, „Pracht“ und „Überfluß“ (PS 1814, 39) zu erzeugen. Verschwendung und Luxus
10 Dies als Konkretisierung der in der Forschung des Öfteren festgehaltenen, durchaus richtigen, aber sehr allgemein gehaltenen „Äquivalenzrelation zwischen Schatten und Geld“ (z. B. Brandl, Edmund: Emanzipation gegen Anthropomorphismus. Der literarisch bedingte Wandel der goethezeitlichen Bildungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1995, S. 311).
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sind also die Stichworte, die Peter Schlemihls ökonomische Strategie beschreiben. Diese ökonomischen Verwendungsweisen werden deutlich als adlige gekennzeichnet. Es ist kein Zufall, dass Peter Schlemihl erst als „König von Preußen“ reist und später als „Graf Peter“ angeredet wird (PS 1814, 39f.). Lassen wir einmal beiseite, dass durch die Scheinhaftigkeit des Geldes eine Scheinhaftigkeit der Existenz produziert wird (sozusagen ein frühes ‚Kleider machen Leute‘) und schauen rein auf die Beschreibung der ökonomischen Verhaltensweisen, dann haben wir mit dieser Adels-Attribution eine präzise Beschreibung eines reinen Ausgabe-Modells, das nicht auf Gewinn und Re-Investition dieses Gewinns setzt. Der Protagonist der Erzählung ist also alles andere als ein Warenproduzent oder Kaufmann, der, wie man zu dieser Zeit noch ohne pejorativen Unterton sagen kann, eine „Spekulation“, verstanden als eine auf Gewinn ausgerichtete Geschäftstätigkeit,11 vorantreibt und diesen Gewinn wiederum in seinem Geschäft einsetzt. Vielmehr ist sein einziges Sinnen und Trachten die reine Ausgabe der Mittel (ein Gleiches galt ja bereits für den Handelsmann). Es gibt nur eine einzige Situation in der Erzählung, in der Peter Schlemihl erwägt, eine bürgerliche, also mithin ertragsorientierte Wirtschaftsweise, zu verfolgen. Das ist zu dem Zeitpunkt, da er heiraten möchte (auch das im Übrigen ein „Handel“, PS 1814, 36) und danach strebt, Grundbesitz in großem Stil zu erwerben; Grundbesitz, mit dem er, zumindest der Möglichkeit nach, landwirtschaftlich arbeiten und sich mithin der „Urproduction[]“,12 also dem, wie man im 19. Jahrhundert dachte, Prototypen aller ökonomischen Verfahrensweisen widmen könnte. Aber diesen Einstieg in die bürgerliche Wirtschaftsweise verhindert Rascal als eine Art Doppelgänger des Grauen, wenn er den Kauf der Ländereien verunmöglicht: „überall war ihm ein Fremder zu vorgekommen“ (PS 1814, 47). Daraus erhellt: Mit dem Verkauf des Schattens als eines äußeren Anscheins innerer moralischer Werte hat sich Peter Schlemihl auch gegen eine bürgerliche 11 Goethe, Johann Wolfgang: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Abt. I. Band IX. Hg. von Wilhelm Voßkamp, Herbert Jaumann unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt a. M. 1992, S. 392. Vgl. Vf.: „Ökonomisches Wagnis/Literarisches Risiko. Zu den Paradoxien des Kapitalerwerbs im Poetischen Realismus“, in: Literatur als Wagnis, Literature as a Risk. Hg. von Monika Schmitz-Emans et al. DFG-Symposion 2011. Berlin u. a. 2013, S. 208ff. 12 Wilhelm Roscher gibt dem zweiten Teil seines Systems der Volkswirthschaft den Titel Nationalökonomie des Ackerbaues und der verwandten Urproductionen (Stuttgart 1860). Hier führt er aus, dass der „Ackerbau[]“ den „Uebergang […] zum städtischen Gewerbefleiß[]“ darstellt (S. 49), dass also die „Anfänge“ des Gewerbefleißes ursprünglich mit dem des Ackerbaus identisch waren und sich „erst allmälich […] daraus entfalten“ hätten (S. 57). Dieser Nationalkökonomik des Handels und Gewerbefleißes ist dann der dritte Band gewidmet.
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Verwendung seiner Mittel, also gegen den Gedanken einer auf Re-Investition bedachten Produktion (bzw. Handelstätigkeit), und für eine adlige ökonomische Verfahrensweise entschieden, also für eine Strategie der reinen Verausgabung. Und wenn er, wie bei seinen Heiratswünschen, erwägt, von dieser Entscheidung zurückzutreten, dann greift der Graue, als ein ökonomisch-metaphysischer Okkasionalist, ins Geschehen ein und bringt ihn wieder auf den ‚richtigen Weg‘. Die Gegenüberstellung von adliger und nicht-adliger Verwendungsweise von Kapital lässt sich bei näherem Hinsehen als eine Ausformulierung von Adam Smith’ Investitionstheorie aus dem Reichtum der Nationen lesen. Auf Smith, mit dem sich die deutschsprachige Ökonomie, wenn auch kritisch, sehr früh „beschäftigt“ hat,13 weist bereits der Graue hin, wenn er zu Peter Schlemihl sagt: „Ein Jeder denkt auf seinen Vortheil in dieser Welt; Sie sehen, daß ich auf Ihren zugleich bedacht bin“ (PS 1814, 78). Dieses Bonmot stellt eine parodistische Interpretation der vielleicht bekanntesten Stelle aus dem Reichtum der Nationen dar. Die Gewerbetreibenden, heißt es dort, unterstützen das „Allgemeinwohl“ nicht „bewußt“, sondern vielmehr dadurch, dass sie, von „ihre[r] Eigenliebe“ getrieben, „ihre eigenen Interessen wahrnehmen“. So, schreibt Smith, werden die Menschen „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen“ sie „in keiner Weise beabsichtigt“ haben.14 Der Graue behauptet also, in dem kleinen ökonomischen Gemeinwesen, das Peter Schlemihl und er darstellen, nicht nur die Rolle des einen Geschäftspartners, sondern darüber hinaus auch die der invisible hand zu spielen. Der damit aufgerufene Name Adam Smith steht – und das nicht nur parodistisch – für eine Kritik des Luxus, weil dieser eine nicht-produktive Form der Mittelverwendung darstellt. Prägend für Smith’ Konzept von Luxus ist nämlich, zumindest im Reichtum der Nationen, die Unterscheidung von „produktive[r] und unproduktive[r] Arbeit“. Damit stellt er den individuellen Aspekt am Luxus, nämlich die Verschwendung von betrieblichen Kapitalien, in den Vordergrund seiner Überlegungen: „Ein wohlhabender Mann kann, zum Beispiel, sein Einkommen für eine üppige und luxuriöse Tafel, zum Unterhalt einer großen Schar Dienstboten und einer Menge Hunde und Pferde ausgeben“. Dieser Teil seines Einkommens wird dann von Gästen und Dienstpersonal verbraucht, die für ihren Konsum nicht die geringste Gegenleistung bieten. Der Teil aber, den er jährlich spart und als Kapital investiert, um einen Gewinn zu erzielen, wird zwar auf gleiche Art und auch beinahe in der gleichen 13 Büsch, Johann Georg: Abhandlung von dem Geldumlauf. Hamburg und Kiel 21800, T. I, Vorbericht, o. S. Vgl. Priddat, Birger P.: Produktive Kraft, sittliche Ordnung und geistige Macht. Denkstile der deutschen Nationalökonomie im 18. und 19. Jahrhundert. Marburg 1998, S. 65ff.; S. 111ff. 14 Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Übers. und hg. von Horst Claus Recktenwald. München 2009, S. 17. 371.
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Zeit verbraucht, doch von ganz andern Leuten, nämlich von Arbeitern, Fabrikanten und Handwerkern, die ihren Jahreskonsum mit Gewinn reproduzieren.15
Es sollte offensichtlich geworden sein, dass die adlige Kapitalverwendung Peter Schlemihls der des von Smith kritisierten wohlhabenden Mannes entspricht: reine Verausgabung der Mittel, keine Reinvestition; also eine, um den oben angeführten Begriff von Smith aufzugreifen, unproduktive statt produktive Verwendung der Mittel. Kurz: Durch die ‚Hilfe‘ des Grauen avanciert Schlemihl zum Gegenbild der Tugenden der klassischen Ökonomie.
5.
Unendlicher Kredit: der preußische König
Was bei der hier erfolgten Charakterisierung von Schlemihls adliger Kapitalverwendungsweise als Gegenmodell der klassischen Ökonomie noch nicht genügend gewürdigt wurde, ist die Tatsache, dass die Geldmittel, über die Schlemihl verfügt, wie ich zeigen konnte, Ähnlichkeiten mit einem Kredit, wenn auch einem unendlichen, aufweisen, dessen Rückzahlung nicht vereinbart wurde. Was ist das aber für ein Kredit? Dass Schlemihl, wie oben gezeigt, mit dem König von Preußen verwechselt wird, ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung. Es gibt zu dieser Zeit nämlich nur einen Menschen im preußischen Staat, der über unendlichen Kredit verfügt – und das ist der Souverän; er allerdings zu einem sehr hohen Preis. Bekanntlich waren die napoleonischen Kriege für alle beteiligten Parteien sehr kostenintensiv; so kostenintensiv, dass zum Beispiel in Österreich ein Staatsbankrott16 die Folge war. Preußen erging es kaum besser. Bereits im Jahre 1797 hatte der Staat Schulden in Höhe von 48 Millionen Reichstalern; eine Summe, die sich nach der Niederlage von Jena und Auerstedt und dem Frieden von Tilsit noch einmal entscheidend erhöhen sollte, weil Preußen durch die Gebietsverkleinerung die Haupteinnahmequellen wegbrachen und zusätzlich Kontributionszahlungen zu leisten waren.17 1806 kommt es zu einer Ausgabe von Staatspapiergeld in Form von Tresorscheinen mit Zwangskurs, der sich jedoch in 15 Ebd., S. 272. 286. 279. Vgl. Vf., Weder, Christine: „Einleitung“, in: Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne. Hg. von Maximilian Bergengruen, Christine Weder. Göttingen 2011, S. 7ff., hier S. 13ff. 16 Vgl. hierzu Brand, Harm-Hinrich: „Der Österreichische ‚Staatsbankrott‘ von 1811“, in: Staatsfinanzen, Staatsverschuldung, Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte. Hg. von Gerhard Lingelbach. Köln u. a. 2000, S. 55ff. 17 Vgl. hierzu: Winter, Martin (Hg.): Staatsbankrott! Bankrotter Staat? Finanzreform und gesellschaftlicher Wandel in Preußen nach 1806. Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, 12. Mai bis 28. Juni 2006 in Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, S. 10.
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der Folge nicht halten lässt und in einen Normalkurs umgewandelt wird. Im Juli 1808 steht dieser auf dem absoluten Tiefstand von 27 % des Ausgabewertes.18 Preußen begegnet den fallenden Kursen und dem drohenden Staatsbankrott mit einer erneuten Kreditaufnahme, in diesem Falle mit Anleihen in den Niederlanden und einer inländischen Zwangsanleihe bei Wohlhabenden, beides jedoch ohne Einwirkungen der königlichen Giro und Lehnbanco von 1765, der das Recht der Notenemission an sich oblag, ihre Arbeit 1806 jedoch einstellen musste.19 Man muss hinzufügen, dass im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts Berlin, der Ort, an dem sich Chamisso meistenteils aufhält (auch wenn der Schlemihl auf dem Gut Cunersdorf entstanden ist), der zweite entscheidende Bankenplatz neben Frankfurt am Main ist. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts werden einige wichtige (Privat-)Banken gegründet, an seinem Ende kommen noch einmal welche dazu. In Frankfurt ist die bekannteste Privatbank N. M. Rothschild & Sons, in Berlin hat das Bankhaus Mendelssohn & Friedländer, das 1803 in J. & A. Mendelssohn umbenannt wird, eine herausragende Stellung.20 Es handelt sich bei den genannten Geldhäusern freilich noch nicht um Aktienoder Effektenbanken (Industriefinanzierungen durch Obligationen und Aktien beginnen erst zwanzig Jahre später),21 sondern um solche, deren Hauptaufgabe im Devisen-Wechsel und in den genannten Staatsanleihen liegt. Letztere können nämlich zu dieser Zeit durch „Personen, die der industriellen und commerciellen Klasse angehören“,22 also Privatbanken oder Merchant Bankers, lanciert werden. Schlemihl bekäme freilich als Privatmann, wenn er einen Kredit benötigte, diesen im frühen 19. Jahrhundert nicht durch eine Bank, sondern durch die seit der Frühen Neuzeit bestehenden privaten Kredit-Netzwerke qua „Schuldschein[]“ o. ä. (sehr anschaulich wird dieses System noch einmal bei Keller in den
18 Ebd., S. 49; 19. 19 Hierzu Wandel, Eckhard: „Banken und Versicherungen im 19. und 20. Jahrhundert“. München 1998 S. 6f.; Pohl, Hans: „Banken und Bankgeschäfte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Europäische Bankengeschichte. Hg. von Hans Pohl. Frankfurt a. M. 1993, S. 196ff., hier S. 200ff.; Born, Erich: „Geld und Währungen im 19. Jahrhundert“, in: ebd., S. 177ff., hier S. 182ff. 20 Hierzu Pohl, Hans; Jachmich, Gabriele: „Einführung“, in: ebd., S. 13ff., hier S. 15; Liedtke, Rainer: N M Rothschild & Sons. Kommunikationswege im europäischen Bankenwesen im 19. Jahrhundert. Köln 2006, S. 15ff.; Pohl, Hans, Banken und Bankgeschäfte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, S. 199. 21 Wandel, Eckhard, Banken und Versicherungen, S. 8. 22 Nebenius, Carl Friedrich: Der öffentliche Kredit. Dargestellt in der Geschichte und in den Folgen der Finanzoperationen der großen europäischen Staaten seit Herstellung des allgemeinen Land- und Seefriedens, ihrer Maßregeln zur Begründung oder Befestigung öffentlicher Creditanstalten, und der Begebenheiten in der Handelswelt, deren Wirkung damit zusammen getroffen. Karlsruhe 1820, S. 143.
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Vorreden zu den Leuten von Seldwyla beschrieben).23 Aber um einen solchen Kredit handelt es sich hier nicht. Die Geldmittel, die Schlemihl erhält, wirken vielmehr so, als ob er wie ein Souverän einen Finanzminister, Notenbanker oder privaten Bankier, in diesem Falle: den Grauen (in Goethes Faust II wird es ein anderer Teufel, nämlich Mephisto, sein),24 besäße, der Anleihen am Markt platzieren könnte bzw. eine Notenpresse besäße, die um den Preis der Inflation Papiergeld drucken könnte, für das Schlemihl zahlungskräftige Goldstücke erhält. Mit diesen Maßnahmen dreht Schlemihl, wie die Finanzminister der kriegsführenden Parteien, die Bedeutung des Wortes ‚Kredit‘ auf den Kopf. Dieser Begriff kommt bekanntlich, über den Umweg des Französischen und Italienischen, aus dem Lateinischen. Creditum ist das Partizip Perfekt Passiv von lateinisch ‚credere‘. Und so besagt der Begriff Kredit nicht nur, dass es sich um eine Vereinbarung über die Vergabe von Geldmitteln, „gebaut auf Treu und Glauben“25 handelt, sondern auch, viel allgemeiner, um eine Glaub- und Vertrauenswürdigkeit ganz allgemein. ‚Bei jemandem Kredit haben‘ heißt eben gerade nicht nur, dass man sich Geld geliehen hat, sondern auch und vor allem, dass dieser jemand an einen glaubt und ihm Vertrauen schenkt. Formeln wie die eben genannte, kommen aus dem Geschäft der privaten Bankiers im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zu den später aufkommenden Aktienbanken handelt der Privatbankier, wenn er einen Kredit vergibt, auf der Basis persönlichen Vertrauens, weil er vollständig persönlich haftet. Dementsprechend werden Kredite auch nur am Ort der Bank vergeben. Nur durch persönlichen Kontakt kann das genannte persönliche Vertrauen hergestellt werden.26
23 Keller, Gottfried: „Vorrede zu ‚Die Leute von Seldwyla‘“. Zweiter Band, in: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Band IV: Die Leute von Seldwyla. Hg. von Thomas Böning. Frankfurt a. M. 1989, S. 284. Vgl. zu den Kreditnetzwerken von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert: Muldrew, Craig: Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England. Basingstoke 1998, S. 95ff.; Clemens, Gabriele B.; Reupke, Daniel: „Kreditvergabe im 19. Jahrhundert zwischen privaten Netzwerken und institutioneller Geldleihe“, in: Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300–1900. Hg. von Ders. Trier 2008, S. 211ff., hier S. 212f. 24 Vgl. zu Chamissos Kenntnis von Goethes ‚Faust I‘: Fink, Gonthier-Louis: „Peter Schlemihl et la tradition du conte romantique“, in: Recherches Germaniques 12 (1982), S. 24ff., hier S. 43, zu Chamissos eigenem Faust-Versuch und den Bezügen zum ‚Schlemihl‘: Schwann, Jürgen: Vom ‚Faust‘ zum ‚Peter Schlemihl‘. Kontinuität und Kohärenz im Werk Adelbert von Chamissos. Tübingen 1984, S. 81ff.; 183ff.. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, ob Goethe bei der Abfassung des Faust II Bezug auf Chamisso nimmt. 25 Weber, Georg Michael von: Über das Baierische Credit- und Schuldenwesen. Sulzbach 1819, S. 5. 26 Wandel, Eckhard, Banken und Versicherungen, S. 2.
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Was genau einen glaubwürdigen Kreditnehmer in dieser Zeit, unabhängig in welchem System er sich Geld ausleiht, auszeichnet, beschreibt Chamisso in der „1838 erschienenen neuen französischen Übersetzung des ‚Peter Schlemihl‘“, die wiederum Hitzig in seiner Vorrede zur Stereotypausgabe des Schlemihl kommentierend auf Deutsch wiedergibt. In dieser Vorrede zitiert Chamisso aus einem in Frankreich damals gebräuchlichen Schulbuch, dem Traité élémentaire de physique eines René-Just Haüy aus dem Jahr 1803 (21806). Dort wird in T. II., § 1002 eine Definition des Schattens gegeben, die Chamisso zitiert und Hitzig so verdeutscht: „Ein nicht leuchtender [besser: lichtundurchlässiger] Körper kann nur teilweise von einem leuchtenden Körper erhellt werden. Der lichtlose Raum, welcher auf der Seite des nicht beleuchteten Teils liegt, ist das was man Schatten nennt“.27 Den, Zitat Hitzig, „Scherz“ (alle Zitate: SW I, 777f.), den sich Chamisso mit der Wiedergabe der weiteren Ausführungen dieses Schulbuchs macht, beruht auf der Einführung des Begriffs ‚solide‘, der im Französischen nicht nur einen festen, sondern ganz allgemein einen geometrischen Körper bezeichnet. In Hitzigs Übersetzung von Chamissos Vorwort, in dem dieser Haüy zitiert, heißt es weiter: „Schatten bezeichnet also im eigentlichen Sinne einen körperlichen Raum [besser: ‚einen geometrischen Körper‘: ‚le solide‘], dessen Gestalt zugleich von der Gestalt des leuchtenden Körpers, von der des beleuchteten [besser: lichtundurchlässigen] und von ihrer gegenseitigen Stellung gegen einander abhängt“ (SW I, 778).28 Der Schatten ist also, das macht Chamissos Scherz aus, le solide. Das ist insofern ein Scherz, weil es nicht viele Dinge gibt, die so flüchtig sind wie ein 27 In Chamissos Vorrede heißt es: „Un corps opaque ne peut jamais être éclairé qu’en partie par un corps lumineux, et l’espace privé de lumière qui est situé du côté de la partie non éclairée, est ce qu’on appelle ombre“ (SW I, 786). 28 In Chamissos Vorrede heißt es: „Ainsi l’ombre, proprement dite, représente un solide dont la forme dépend à la fois de celle du corps lumineux, de celle du corps opaque, et de la position de celui-ci à l’égard du corps lumineux“ (SW I, 786). Dieser physikalische Exkurs korrespondiert mit dem ursprünglichen Untertitel des ‚Schlemihl‘, der diesen als „Beitrag zur Lehre des Schlagschattens“, der später ebenfalls noch bei Haüy bzw. Chamisso thematisiert wird (in der besagten Stelle geht es ja um den Kernschatten), ausweisen sollte. Hierzu Renner, Rolf Günter: „Schrift der Natur und Zeichen des Selbst. ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘ im Zusammenhang von Chamissos Texten“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), S. 653ff., hier S. 655. Vgl. auch die von dieser Passage ausgehende medienhistorische Interpretation: Lommel, Michael: „Peter Schlemihl und die Medien des Schattens“, in: Athenäum 17 (2007), S. 33ff., und die Auslassungen von Brüggemann, Heinz: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte der Wahrnehmung. Über Adelbert von Chamissos literarische Analyse visueller Modernität“, in: Bild und Schrift in der Romantik. Hg. von Gerhard Neumann. Würzburg 1999, S. 143ff., der den ‚Peter Schlemihl‘ von der Praxis des Schattenriss-Zeichnens her denkt (ähnlich auch Braun, Peter: „Reiseschatten. ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘ von Adelbert von Chamisso“, in: Schwellentexte der Weltliteratur. Hg. von Reingard M. Nischik, Caroline Rosenthal. Konstanz, S. 143ff., hier S. 151ff.).
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Schatten29 – und dieser daher eigentlich ganz und gar nicht solide ist. Die geometrische Terminologie macht es aber möglich, Schatten und Solidität miteinander zu verbinden. Dass diese paradoxale Gleichsetzung nicht nur im Bereich des Physischen, sondern auch und vor allem im Bereich des Ökonomischen gilt, das machen die nächsten beiden Sätze deutlich, die kein Zitat mehr aus einem Schulbuch, sondern Original-Text Chamisso (in der Übersetzung Hitzigs) sind: Von dem zuletzt erwähnten Soliden ist nun die Rede in der wundersamen Historie des Peter Schlemihl. Die Finanzwissenschaft belehrt uns hinlänglich über die Wichtigkeit des Geldes; die des Schattens ist minder allgemein anerkannt. Mein unbesonnener Freund hat sich nach dem Gelde gelüsten lassen, dessen Wert er kannte, und nicht an das Solide gedacht. Die Lektion, die er theuer [hat] bezahlen müssen, soll, so wünscht er, uns zu Nutze kommen, und seine Erfahrung ruft uns zu: Denket an das Solide! 30
Die über das Geometrie-Buch zum Ausdruck gebrachte Einheit zwischen Schatten und Solidem wird in diesen Ausführungen, hier nun freilich im Bereich des Ökonomischen, ausgefaltet, wenn behauptet wird, dass im Folgenden „von dem zuletzt erwähnten Soliden“ die Rede sein soll, dann aber promiscue vom „Schatten“ gesprochen wird, der in der Finanzwissenschaft nicht genügend berücksichtigt wird. Schatten und Solides werden also als gleichbedeutend gesetzt; das gilt natürlich auch für das Gegenteil: Schattenlos zu sein, heißt also nicht nur ehrlos, nicht nur bar eines bürgerlichen Rufs, einer bürgerlichen Reputation zu sein, wie oben beschrieben, sondern auch und vor allem bar jeglicher finanzieller Solidität zu sein. Damit ist besagt, dass in der „Finanzwissenschaft“ vielleicht die theoretische Lehre, wie Kredite vergeben, eingesetzt und verzinst werden, beschrieben wird, aber nicht die viel praktischere Frage behandelt wird, was eigentlich die Kreditwürdigkeit, die Solidität eines Schuldners ausmacht. Dieser Frage widmet sich nun, wenn auch nur im Gewande des Exemplarischen und Metonymischen, Peter 29 Braun, Peter, Reiseschatten, S. 150, argumentiert allerdings, das Schlemihls Schatten durchaus eine gewisse Dinglichkeit und Festigkeit hat. Vgl. zu dieser Passage auch Kuzniar, Alice A.: „‚Spurlos … verschwunden‘. ‚Peter Schlemihl‘ und sein Schatten als der verschobene Signifikant“, in: Aurora 45 (1985), S. 189ff., hier S. 192, wobei ich die damit verbundene Prämisse nicht teile, dass der Schatten für eine semantische „Unbestimmbarkeit“ (ebd.) steht (ähnlich Neubauer, Wolfgang: „Zum Schatten-Problem bei Adelbert von Chamisso oder zur Nicht-Interpretierbarkeit von ‚Peter Schlemihls wundersamer Geschichte‘“, in: Literatur für Leser. Hg. von Harald Weinreich. München 1986, S. 24ff. hier S. 31 u. ö.). Gerade die hier angesprochene Stelle macht den Schatten sehr wohl bestimmbar, nämlich über die angesprochene „Finanzwissenschaft“, allerdings mit allen Freiheiten eines romantischen Textes. 30 In Chamissos Vorrede heißt es: „C’est donc de ce solide dont il est question dans la merveilleuse histoire de Pierre Schlémihl. La science de la finance nous instruit assez de l’importance de l’argent, celle de l’ombre est moins généralement reconnue. Mon imprudent ami a convoité l’argent dont il connoissait le prix et n’a pas songé au solide. La leçon qu’il a chèrement payée, il veut qu’elle nous profite et son expérience nous crie: songez au solide“ (SW I, 786).
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Schlemihl sozusagen ex negativo, wenn er anhand einer „theuer“ bezahlten „Lektion“ beschreibt, was es bedeutet, kreditunwürdig zu sein.31 Nun könnte man denken, dass die Kreditunwürdigkeit sich vor allem auf Privatmänner wie Schlemihl, John und den betrügerischen Bankrotteur mit dem hellen Schatten bezöge. Die oben genannte Verwechslung von Schlemihl und preußischem König und die Erwähnung nicht bedienter Kredite und des Bankrotts beim Kaufmann machen jedoch deutlich, dass hier, aus gegebenem Anlass, auch auf das Thema der preußischen Finanzmisere angespielt wird. Man muss dazu wissen, dass das Schiff, auf dem der preußische König vor der Ankunft Napoleons einen großen Teil des Staatsschatzes verladen ließ, eben jenen Teil, von dem er zum Beispiel im Jahre 1807 seine Kriegskosten bestritt, keinen anderen Namen als „Solide“ trug. Diese „mobile Staatskasse“32 bestand tatsächlich aus Solidem (lt. ‚solidus‘ bedeutet nichts anderes als ‚Goldmünze‘),33 an die der Staat durch die Ausgabe von, wie es Goethe nannte, „Zauber-Blätter[n]“34 gekommen war, die sich nur zu schnell als wertloses Papiergeld bzw. wertlose Anleihen erweisen bzw. erwiesen haben. Damit ist der für die europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts charakterisierende Zusammenhang von „Geld“, „Schulden“ und „Krieg“ angesprochen, auf den Chamisso im Laufe seines Lebens immer wieder zurück gekommen ist.35 Mit einiger satirischer Übertreibung und auch nur im Modus der Andeutung wird im Schlemihl also die Anleihe- bzw. Geldpolitik der europäischen Staaten im Zeitalter der napoleonischen Kriege, allen voran die Preußens, mit Fortunati Glücksäckel verglichen und von dort ausgehend eine, allgemeinere, Paradoxie entwickelt, wie man sich mit dem Besitz von Krediten kreditunwürdig machen kann. Denn für Peter Schlemihl gilt wie für den König von Preußen, ja alle Teilnehmer der napoleonischen Kriege,36 dass er paradoxerweise genau des Guts,
31 Dies gegen ahistorische Versuche, im ‚Schlemihl‘ eine marxsche Kapitalismuskritik avant la lettre zu sehen (so z. B. bei Treichel, Hans-Ulrich: „Der Schatten des Verschwindens. Adelbert von Chamisso: ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘ (1814)“, in: Deutsche Novellen. Von der Klassik bis zur Gegenwart. München 1993, S. 37ff., hier S. 39; Flores, Ralph: „The Lost Shadow of Peter Schlemihl“, in: German Quaterly 47 (1974), S. 567ff., hier S. 577). 32 Winter, Martin (Hg.), Staatsbankrott! bankrotter Staat?, S. 23f. 33 Vgl. hierzu auch die Anmerkungen des Herausgebers Volker Hoffmann in SW I, 786. 34 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Hg. von Albrecht Schöne. 2 Bde. Frankfurt a. M. 2003, Band I, S. 252 (V. 6157). 35 Chamisso: Richtspruch, SW I, 570. Vgl. zu Chamissos Richtspruch, in dem dieser sich, als Abschluss einer im ‚Morgenblatt für gebildete Stände‘ ausgetragenen Debatte, für den Primat des Geldes gegenüber, wie es die Position Wilhelm Wackernagels war, Schwert und, wie es die Position Karl Simrocks war, Schreibfeder aussprach: Hörisch, Jochen: „Schlemihls Schatten – Schatten Nietzsches. Eine romantische Apologie des Sekundären“, in: Athenäum 5 (1995), S. 11ff., hier S. 26f. 36 Hierzu am Beispiel Frankreichs: Brand, Jürgen: „Die Assignaten oder: der revolutionäre
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das er genießt, unwürdig wird: Er verliert, gerade weil er unendlichen Kredit hat, seine Kreditfähigkeit. Und das wiederum heißt, ich habe es oben ausgeführt, seine Glaubwürdigkeit in jeglicher Hinsicht.37 Es sollte deutlich geworden sein, worin das Verbindungsglied zwischen unendlichem Kredit und dem (Vor-)Teufelspakt liegt: Der Mensch, sei es der Privatmann, sei es der Souverän, verliert, wenn er einen unendlichen Kredit in Anspruch nimmt und nicht an dessen Rückzahlung denkt, seine irdische und himmlische Glaubwürdigkeit. Letztere ist die Voraussetzung für seine Verbindung mit Gott, den Taufbund, in dem sich der Mensch ebenfalls gegenüber jenem verpflichtet, nämlich an ihn zu glauben und der Tatsünde zu entsagen.38 Der unendliche Kredit als Vorvereinbarung zum Teufelspakt entzieht dem Menschen jedoch seine Kredibilität oder Glaubwürdigkeit und macht ihn dadurch unfähig, seinen Verpflichtungen gegenüber Gott nachzukommen. Mit Rekurs auf eine für das Deutsche typische Etymologie, auf die von Friedrich Nietzsche39 bis zum Investor George Soros40 immer wieder aufmerksam gemacht wurde, könnte man sagen, dass hier die sprachliche Ableitung des (metaphysischen) Begriffs „Schuld“ (PS 1814, 86) von dem (ökonomischen) der ‚Schulden‘ anhand der Figur Peter Schlemihl noch einmal nachvollzogen wird.41 Wie in der Teufelsliteratur der Frühen Neuzeit ist der Vertrag mit Gott jedoch durch einen Teufelsbund nur außer Kraft gesetzt, nicht gelöscht;42 es ist also Peter
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Bankrott“, in: Staatsfinanzen, Staatsverschuldung, Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, S. 39ff., hier S. 42. Dies gegen Breithaupt, Fritz: „Urszenen der Ökonomie. Von Peter Schlemihl zur Philosophie des Geldes“, in: Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Hg. von Marianne Schuller, Elisabeth Strowick. Freiburg i. Brsg. 2001, S. 185ff., hier S. 187; 190; der davon ausgeht, dass dem ‚Schlemihl‘ keine konkrete ökonomische Denkfigur zugrunde liegt, sondern in ihm eine Art überhistorische Urszene der Ökonomie beschrieben wird. Hierzu Vf.: Nachfolge Christi/Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007, S. 55ff. (zum Taufbund); Vf.: „Warum Frauen mit dem Teufel schlafen, Männer hingegen mit ihm Verträge abschließen wollen. Diabolische Figurenlehre in Harsdörffers ‚Schau-Plätzen‘“, in: Dynamische Figuren. Gestalten der Zeit im Barock. Hg. von Joel B. Lande, Robert Suter. Freiburg i. Brsg. 2013, S. 77ff. (zur Parodie des Taufbunds im Teufelskontrakt). Nietzsche, Friedrich: „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, in: Ders.: Kritische Studienausgabe. Band V. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. München 1983, S. 297, diskutiert die Theorie, „dass […] jener moralischer Hauptbegriff ‚Schuld‘ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff ‚Schulden‘ genommen hat“. So wird Soros in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 11. 4. 2013 (http://www. sueddeutsche.de/wirtschaft/george-soros-zur-euro-krise-die-schuld-fuer-die-schulden-1.16 45930; Zugriff: 5. 3. 2015) wiedergegeben. Vgl. hierzu auch, freilich ohne Blick auf die historische Finanzwissenschaft und Kreditpraxen: Flores, Ralph, The Lost Shadow, S. 578. Vgl. hierzu Vf.: „Warum Frauen mit dem Teufel schlafen, Männer hingegen mit ihm Verträge abschließen wollen. Diabolische Figurenlehre in Harsdörffers ‚Schau-Plätzen‘“. Auch Loeb,
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Schlemihl möglich, zu Gott zurückzukehren, nämlich dadurch, dass er, wie in den Teufelsexempeln in der Frühen Neuzeit, den Namen Gottes mehr oder weniger zufällig ausruft („‚Wo ist er [John]? bei Gott, ich will es wissen!‘“, PS 1814, 78; Herv. MB) 43 und kraft dieses nun aufgerufenen Namens den Teufel vertreiben kann, manifest in den Worten: „‚So beschwör’ ich Dich im Namen Gottes, Entsetzlicher! hebe Dich von dannen und lasse Dich nie wieder vor meinen Augen blicken!‘“ (PS 1814, 79; Herv. MB). Im Gegenzug kommt Schlemihl wieder in den Genuss der Möglichkeit einer moralischen, freilich nicht finanziellen Kredibilität (denn auch danach ist er „ohne Schatten“, PS 1814, 80).
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Himmlische und literarische Verschwendung
Nun wäre es bei einem adligen Vermittler der Geschichte wie Chamisso (Schlemihl hat ihn zum „Bewahrer“ seiner Geschichte, die er ihm in Form eines „Heft[s]“ überlassen hatte, „erkoren“; Herausgeber ist jedoch der ebenfalls adlige Fouqué, wie das Titelblatt deutlich macht, PS 1814, 11; 96) 44 mehr als verwunderlich, wenn es bei der bisher rekonstruierten Abwertung der adligen ökonomischen Strategie der reinen Verausgabung bliebe. Und in der Tat wird Peter Schlemihl, nach seiner Rückwendung zur irdischen und himmlischen Bonität, keineswegs ein protestantischer Leistungsethiker45 und Kaufmann mit wachsendem Investitionsvolumen. Nur ganz zu Beginn erwägt er, auf eine investitionsbasierte Handlungsweise umzusteigen und tatsächlich im bürgerlichen Sinne zu wirtschaften, und dies, wenn auch eventuell nur metaphorisch, ganz an deren Grundstock, nämlich in der Landwirtschaft: „Ich rafte mich auf, um ohne Zögern mit flüchtigem Überblick Besitz von dem Felde zu nehmen, wo ich künftig ärnten wollte“ (PS 1814, 86). Aber im weiteren Verlauf der Novelle werden diese Pläne nicht umgesetzt. Vielmehr ist es so, dass Peter Schlemihl, nachdem er Fortunati Glückssäckel abgeschworen hat, ein zweites Instrument in Besitz nimmt, das eine verdächtige Nähe zu diesen aufweist, weil es der gleichen sagenhaften Tradition entstammt: Ernst: „Symbol und Wirklichkeit des Schattens in Chamissos ‚Peter Schlemihl‘“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 15 (1965), S. 398ff. 405, argumentiert in diese Richtung, allerdings ohne historische Bezüge. 43 Vgl. zu diesem Motiv in der Frühen Neuzeit Vf.: Nachfolge Christi/Nachahmung der Natur, S. 248f. Vergleiche zur genannten Passage bei Chamisso auch Flores, Ralph, The Lost Shadow, S. 582. 44 Siehe das Titelblatt zur Erstausgabe in PS 1814, S. 5. 45 Hierzu Weber, Max: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I. Tübingen 1978, S. 1ff.
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Die Rede ist von den „Siebenmeilenstiefel[n]“, mit denen Schlemihl von nun an reist (PS 1814, 85). Kurzer Exkurs zu den Quellen: Das Motiv von Fortunati Glücksäckel entnimmt Chamisso dem Volksbuch Fortunatus von 1509, das ihm freilich in der Form eines Jahrmarktsdrucks aus dem 18. Jahrhunderts vorliegt.46 Bereits im Jahre 1806 hatte er auf dieser Grundlage, lange vor Tiecks Fortunat (1815/1816), ein Dramenfragment mit dem Titel Fortunati Glücksäckel und Wunschhütlein verfasst.47 Wie der Titel schon sagt, geht es dabei nicht nur um ein „Säckel“, dem sich unbegrenzt Gold nehmen lässt, sondern auch um ein „Hütlein“, „das, auf leichten Wunsches Flügel, / Schnell durch des Raumes Grenzen trägt den Mann“ (SW I, 73). Die im Schlemihl zitierten Siebenmeilenstiefel, deren Ursprung im Däumlings-Märchen (Le petit poucet) liegt, das sich in Charles Perraults Histoires ou contes du temps passé bzw. Contes de ma Mère l’Oye von 1697 findet und von Tieck im Jahr 1811 unter dem Titel Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen dramatisiert wurde,48 sind, wenn man so will, eine Variante des Hütleins, da es sich bei diesem wie bei den „Zauberstiefeln“49 um eine im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaft schnelle Ortsveränderung handelt. Die Siebenmeilenstiefel sind also schon aus der Tradition heraus, aber auch der Sache nach das, wenn auch leicht variierte, Pendant zu Fortunati Glückssäckel: Meilen- statt Geldvermehrung.50 Allerdings muss man hinzufügen, dass die Wirkung der Siebenmeilenstiefel im Schlemihl durch „Hemmschuhe“ (PS 1814, 89) abgemildert wird. Es kommt also zu einer Depotenzierung des fantastischen und vielleicht noch immer teuflischen Instrumentariums.
46 Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers Hoffmann in SW I, 787f. 47 Vgl. zum Fortunatus-Stoff und seiner Renaissance in der Romantik allgemein: Hörisch, Jochen, Schlemihls Schatten – Schatten Nietzsches, S. 16f., und speziell bei Chamisso: Wambach, Annemarie: „‚Fortunati Wunschhütlein und Glückssäckel‘ in neuem Gewand. Adelbert von Chamissos ‚Peter Schlemihl‘“, in: The German Quarterly 67 (1994), S. 173ff. 48 Die Gebrüder Grimm erwägen noch 1810 (in ihrer handschriftlichen Sammlung der Kindermärchen von 1810, die sie Brentano zur Verfügung stellen), den „Daümling“ oder „petit poucet“ (Grimm, Jakob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 2007, S. 27) in ihre Sammlung aufzunehmen. Tatsächlich veröffentlichen sie jedoch später nur Varianten dieses Sujets: „Daumesdick“ und „Daumerlings Wanderschaft“, in denen die Siebenmeilenstiefel nicht vorkommen (Kinder und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Original Anmerkungen der Brüder Grimm. Hg. von Heinz Rölleke. Stuttgart 1980, Band I, S. 197; 221). 49 Tieck, Ludwig: „Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen“, in: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Band V. Hg. von Uwe Schweikert. Frankfurt a. M. 1986, S. 751. 50 Vgl. zum Zusammenhang der beiden Motive auch Arendt, Dieter: „Peter Schlemihl und Erasmus Spikher. Globetrotter einer verzweifelten Romantik oder Das „Selbst“ am „Haken“ des Herrn Dapertutto“, in: Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur. Hg. von ErnstUlrich Pinkert. Kopenhagen 2000, S. 62ff., hier S. 69.
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Mit diesen Siebenmeilenstiefeln reist nun der Protagonist der Erzählung durch die ganze Welt.51 Sein Restgold verwendend, sucht er nach neuen Betätigungsfeldern. Eines davon wird zumindest angedeutet, nämlich das karitative. Dieses lernt er während seiner Krankheit kennen: „Ich genas unerkannt im Schlemihlio, und erfuhr noch mehr, ich war in Bendel’s Vaterstadt, wo er aus dem Überrest meines sonst nicht gesegneten Goldes dieses Hospitium, wo Unglückliche mich segneten, unter meinem Namen gestiftet hatte“ (PS 1814, 93). Es ist jedoch nicht Peter Schlemihl selbst, sondern Bendel, der das Krankenhaus „gestiftet hatte“. Außerdem gilt im frühen 19. Jahrhundert die karitative Tätigkeit als unökonomisch, auch und besonders im Hinblick auf ihr Ziel, nämlich den Armen zu helfen. Bei Hegel heißt es zum Beispiel, auf James Steuart bezugnehmend, dass sogar Luxus die „sittlichere“ und vor allem gesamtvolkswirtschaftlich positive Verwendung von Kapital gegenüber der karitativen Gabe darstellt,52 weil hier Produktions- und Geldzirkulation angekurbelt würden, während die Spende zu keiner Form der Belebung volkswirtschaftlicher Aktivitäten führe. Aber wie gesagt, es ist ja auch Bendel, der diesen Weg einschlägt, nicht Peter Schlemihl selbst. Letzterer verwendet sein Restgeld für einen ganz anderen Weg, der in unmittelbarem Zusammenhang mit den Siebenmeilenstiefeln steht: „und ich fing sogleich als privatisirender Gelehrter meine neue Lebensweise an“ (PS 1814, 89). Was damit genau gemeint ist, wird im Folgenden erklärt, wenn Peter Schlemihl eine Art von Rückblick auf sein Leben hält: „Ich habe, so weit meine Stiefel gereicht, die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in ihrem Wechsel, die Erscheinungen ihrer magnetischen Kraft, das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreiche, gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgend ein Mensch“ (PS 1814, 95). Schlemihl wird also, wie Alexander von Humboldt und Chamisso selbst, ein dezidiert empirischer Naturwissenschaftler ohne „naturphilosophisch[en] […] Kram“ (SW II, 67), der mit seiner Forschungsreise die seines Autors vorwegnimmt.53 51 Vgl. zur Reiseroute und deren geographischen Grundlagen: Immer, Nikolas; Glaubrecht, Matthias, Peter Schlemihl als Naturforscher, S. 139ff. 52 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. Hg. von Emil Angehrn, Martin Bondeli, Hoo Nam Seelmann. Hamburg 2000, S. 120. Vgl. hierzu auch Priddat, Birger P.: Theoriegeschichte der Wirtschaft. München 2002, S. 41f. 53 Vgl. hierzu Swales, Martin: „Mundane Magic. Some Observations on Chamisso’s ‚Peter Schlemihl‘“, in: Forum for Modern Language Studies 12 (1976), S. 250ff., hier S. 261f.; Pavlyshyn, Marko: „Gold, Guilt and Scholarship“, in: The German Quarterly 55 (1982), S. 49ff., hier S. 52f.; Walach, Dagmar: „Adelbert von Chamisso: ‚Peter Schlemihls wundersame Geschichte‘“ (1814), in: Romane und Erzählungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen. Hg. von Paul Michael Lützeler. Stuttgart 1981, S. 285ff., hier S. 294. Zu Chamissos naturwissenschaftlich-empirischer ‚Wende‘ 1812 und zu seiner Weltreise 1815–1818 vgl. die Ausführungen des Herausgebers Hoffmann in SW II, S. 674ff.; 684f.; Blamberger, Günter:
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Nun erinnert die so beschriebene neue Lebensweise nur durch den „Fleiß“ (PS 1814, 86) an die des smithschen Kaufmanns; ansonsten bleibt es bei der Verschwendung. Denn auch in seinem neuen Betätigungsfeld arbeitet Peter Schlemihl nicht so, dass er etwas produziert, was – zumindest materiellen – Gewinn bringt und er so eine bestehende Produktion fortführen und vergrößern (und mithin an der materiellen Förderung des Gemeinwesens mitarbeiten) kann. Durch diesen Reflex auf die Abhängigkeit von Geldgebern, die für wissenschaftliche Expeditionen dieser Zeit galt, darauf hat Pavlyshyn eindringlich hingewiesen,54 wird deutlich, dass wir es nach wie vor mit einem reinen Ausgabemodell zu tun haben. Und dennoch gilt das, was Schlemihl macht, zumindest in der Logik der Geschichte, als Folge seiner Buße und mithin als Abkehr von seiner teuflischökonomischen Lebensweise. Das klingt nach einem Widerspruch. Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass es einen Vermittler gibt, der an der Ausgrenzung Peter Schlemihls nicht teilnimmt und ihm von Anfang an eine hohe Form von Sympathie entgegenbringt – und das ist der Bewahrer der Geschichte ‚Adelbert von Chamisso‘: „ich hatte ihn lieb“ (PS 1814, 11). Das gilt auch umgekehrt, zum Beispiel wenn man berücksichtigt, dass Peter Schlemihl in einem Traum nicht nur Mina, nicht nur Bendel, sondern auch seinen „liebe[n] Chamisso“ (PS 1814, 23) erscheinen lässt: „es hatte aber Keiner einen Schatten, und was seltsamer ist, es sah nicht übel aus“ (PS 1814, 80). Für Peter Schlemihl gehört also auch ‚Chamisso‘ in seine Gruppe der Schattenlosen; eine Kategorie, die, wie Schlemihl deutlich macht, zumindest aus ästhetischer Perspektive, nicht nur negativ zu beurteilen ist. Genau dieser Perspektivenwechsel, also von der moralischen zur ästhetischen Ebene, ist es auch, der ‚Chamisso‘ Schlemihl positiv, ja freundschaftlich, ja beinah identifizierend betrachten lässt. Denn das, was Schlemihl nach seiner moralischen Wende, die aber wie gesagt nicht zur bürgerlichen Geschäftstätigkeit führt, tut, ist dem, was der fiktive Vermittler des Textes mit Namen ‚Chamisso‘ (wie auch der reale Chamisso) 55 macht, sehr ähnlich. Wie, ich habe es oben bereits zitiert, Schlemihl die Natur erforscht („die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhlen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre in Ihrem Wechsel, die Erscheinungen „‚Ein anderer ist nun der wirkliche Anfang‘. Die Weltreisenden Peter Schlemihl und Adelbert von Chamisso“, in: Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig. Würzburg 1996, S. 109ff., hier S. 114ff.; ansatzweise auch Fink, Gonthier-Louis, Peter Schlemihl et la tradition du conte romantique, S. 49; Weiß, Gernot: „Südseeträume. Schlemihls Suche nach dem Glück“, in: Aurora 56 (1996), S. 111ff., hier S. 112f. 54 Vgl. Pavlyshyn, Marko, „Gold, Guilt and scholarship“, S. 58ff. 55 Keinesfalls sollte man die beiden jedoch vermischen, wie dies z. B. Treichel, Hans-Ulrich, Der Schatten des Verschwindens, S. 43, tut.
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ihrer magnetischen Kraft“ et cetera et cetera), dabei „gelehrte Werk[e]“ (ebd.), die sich jedoch bei näherem Hinsehen als literarische erweisen („Tieckius, De rebus gestis Pollicis“; also Tiecks oben genanntes Däumchen-Drama), liest und schreibt („Meine Historia stirpium plantarum utriusque orbis“, PS 1814, 96), so macht es auch ‚Chamisso‘ – und zwar als Vorbild von Schlemihl, auch hier in einem Traum: Da träumt’ es mir von Dir, es ward mir, als stünde ich hinter der Glasthür Deines kleinen Zimmers, und sähe Dich von da an Deinem Arbeitstische zwischen einem Skelet und einem Bunde getrockneter Pflanzen sitzen, vor Dir waren Haller, Humboldt und Linné aufgeschlagen, auf Deinem Sopha lagen ein Band Göthe und der Zauberring, ich betrachtete Dich lange, und jedes Ding in Deiner Stube, und dann Dich wieder, Du rührtest Dich aber nicht, Du hattest auch nicht Athem, du warst todt (PS 1814, 24).
Stellen wir die Todesfantasie ein wenig zurück und beginnen bei den Gemeinsamkeiten der beiden Passagen: In beiden Fällen wird eine Tätigkeit eines privatisierenden Gelehrten beschrieben, der naturwissenschaftliche Studien betreibt und diese Studien in literarische, rezeptiv wie produktiv, übergehen lässt. Diese Gemeinsamkeit ist alles andere als ein Zufall. Der Erzähler Peter Schlemihl beschreibt anhand seines Traums eine Situation, die seinem eigenen Zustand derzeit – er ist zu diesem Zeitpunkt noch weit von seiner moralischen Wende entfernt – zuwiderläuft. In dem Augenblick aber, da er sich vom teuflischen Kredit des Grauens lossagt, ist es ihm möglich, diesen Zustand einzuholen. Dass Chamisso in diesem Traum als tot beschrieben wird, macht deutlich, dass dessen Position als vakant beschrieben wird und mithin von Peter Schlemihl später eingenommen werden kann. Nun bleibt die Frage, warum, wenn auch implizit, zuerst in der Erzählung die deutsche Adaptation der Nationalökonomie als Gegenmodell zum Teufelspakt bzw. dessen ökonomischer Vorform angeboten, aber dann eben gerade nicht ergriffen wird. Denn das Modell, das Schlemihl von Chamisso übernimmt, ist, wie oben beschrieben, zwar keines, das moralisch wie ökonomisch verwerflich ist (und in der Novelle verworfen wird), aber es besitzt doch einige Ähnlichkeiten mit dem ursprünglich teuflischen Modell: Man denke an den fantastischen Ausgangspunkt (Glücksäckel/Siebenmeilenstiefel) und die verschwenderische, nicht auf Investition und Re-Investition angelegte Arbeitstätigkeit. Aber vielleicht ist das ja gerade die metaphysische Pointe dieser Novelle: Beschrieben wird nicht ein einfacher, sondern ein zweifacher Paradigmenwechsel. Peter Schlemihl lernt erstens, dass das genaue Gegenteil zur irdischen und himmlischen Ökonomie, also die Logik von unendlichem Kredit und Bankrott, ins moralische Nichts führt. Er lernt aber auch, zweitens, und zwar nicht zuletzt durch die Sympathie seines Vermittlers, dass man deswegen nicht
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einer protestantischen Leistungs-Ethik verfallen muss, innerhalb deren „Luxus“ als absolut „verwerflich“ klassifiziert wird.56 Es gibt, wie er erfährt, einen dritten Weg, der das adlige Modell des Luxus, der Verschwendung, ja sogar das der moralischen Versuchung integrieren kann, ohne sich gleich dem himmlischen Gerichtsurteil aussetzen zu müssen, nämlich – und hier kommen wir zu einer Selbstreflexion des literarischen Textes – wenn die Angebote des Teufels erstens nur depotenziert angenommen und zweitens literarisch eingesetzt werden.57 Denn nur mit den Mitteln des bürgerlichen Kreditwesens und der bürgerlichen Leistungsethik lässt sich weder auf der Gegenstandsebene noch auf der der Verfahrensweise romantische Literatur herstellen. Romantische Literatur ist vielmehr, wie Schlemihl am Ende erfährt, zumindest wenn man in der Lage ist, einen stylus luxurians zu führen bzw. literarisch zu luxurieren,58 verwandt mit einer Ökonomie der Verschwendung. Und vor allem bedarf es zu ihrer Herstellung ein wenig der Zauberei. Es muss nicht unbedingt ein Teufelspakt, nicht die bedingungslose Geldvermehrung in Papiergeld und Kriegsanleihen sein. Aber die Mittel, insbesondere die der Täuschung von Augen und Fantasie, sind grundsätzlich die richtigen. Denn eine „wundersame Geschichte“, wie der Schlemihl im Untertitel genannt wird, wird gerade nicht auf der Basis reiner Kredibilität oder Glaubwürdigkeit geschrieben. Zwar ist sie nicht, wie Thomas Mann treffend bemerkt hat, „wunderbar im Sinne des Außernatürlichen“, aber doch zugleich weit vom „Realistisch[en]“ entfernt.59 Kurz gesagt: Romantische Literatur zur verfertigen, ist eine Gratwanderung zwischen der moralischen Ökonomie des Himmels und der Verschwendung geistiger Mittel in der Hölle.
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56 Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Band I, S. 167. 57 Vgl. zu dieser frühneuzeitlichen Tradition am Beispiel des Simplicissimus Teutsch: Vf.: Nachfolge Christi/Nachahmung der Natur, S. 235ff. 58 Vgl. hierzu: Vf.,Weder, Christine, „Einleitung“, in: Luxus. Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne, S. 25f. 59 Mann, Thomas, Chamisso, S. 48.
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Literarische Engel und ihre Funktionen. Zur ethischen Dimension von Darstellung und Vermittlung
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Schattenwesen und paradoxe Boten. Engel als Repräsentanten und Simulanten
Wer zu wissen glaubt, wie Engel aussehen (nämlich anthropomorph und geflügelt) und was sie tun (nämlich als Boten Gottes zu wirken), wird von neueren Engelsdarstellungen in Literatur und Kunst vielfach überrascht: Engel können sehr unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen, und an ihre Rolle als Gottes-Boten sind sie offenbar nicht gebunden. Ein erstes Beispiel bietet das Engelsbrevier von Raoul Schrott und Arnold Mario Dall’O (2001).1 Die zahlreichen, jeweils ganzseitigen Bilder im Buch sind Reproduktionen von Werken des Graphikers Dall’O.2 Sie zeigen rätselhaft wirkende Motive und Motivkombinationen; viele wirken, als habe sich eine semitransparente Folie über eine tiefer liegende Schicht von Bildern gelegt und als sehe man so mehr als ein Bild gleichzeitig. Darstellungen menschlicher und tierischer Körper sowie von Blumen und Pflanzenteilen wechseln ab mit skizzenhaften Abbildungen unbelebter Objekte; Abbildungen, die an naturkundliche Werke erinnern, sind mit Reproduktionen alter Drucke und Buchseiten kombiniert; Gegenständliches und abstrakte Formen finden sich kombiniert. Neben Motiven, die mit Engeln assoziiert sind – darunter u. a. ein gezeichneter Putto –, verweisen viele Text- und Bildelemente auf die Sphäre des Sakralen und Rituellen. Manche Bilder werden durch Bildlegenden (siehe unten) in eine assoziative Beziehung zu Heiligenlegenden gesetzt. Raoul Schrott hat zwei Sorten von Texten beigesteuert: einen in 20 Kapitel gegliederten Haupttext, der Erinnerungen und Reflexionen eines Erzählers enthält, an ein Tagebuch oder einen Brief erinnert3 und wohl an eine Frau 1 Raoul Schrott/Arnold Mario Dall’O: Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Ein Brevier, Frankfurt a. M. 2006. 2 Die originalen Druckvorlagen sind 1999–2000 entstanden und messen im Original 20–28,5 cm; kombiniert wurden verschiedene Techniken: Zeichnung, Photographie, Siebdruck und Linoleumstempel auf Papier. 3 Der Klappentext des Buches spricht von einer „Sammlung von Briefen über die Liebe, die
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adressiert ist.4 In die mit jedem der 20 Kapitel neu anhebenden, netzwerkartig verknüpften Aufzeichnungen fließen vielfältige Reminiszenzen an Imaginäres, an Engel, Heilige und mythische Figuren ein. – Eine zweite Textebene besteht aus den (bereits erwähnten) Bildlegenden zu Dall’Os Graphiken.5 Schrotts Text ist mit der Geschichte der Vorstellungen über Engel eng vernetzt. Er zitiert Motive aus verschiedenen, teilweise frühen Kulturen und Diskursen. Zentral ist das Thema einer Verknüpfung, Korrespondenz und Kommunikation zwischen der Gegenwart und einem imaginierten, ersehnten, in Geschichten und Bildern repräsentierten Jenseits. Explizit wird der frühmittelalterliche Diskurs über Engel in Erinnerung gerufen, das Bild implizit in einen Bezug zur Angelologie des Dionysius Areopagita gesetzt.6 Kap. VIII. ist einer zusammenfassenden Wiedergabe der an Dionysius anschließenden Engelslehre des Scottus Eriugena gewidmet; Kap. IX. erinnert an die Engelsvisionen der biblischen Propheten, an die Himmelsboten (mal’ak, mal’ach); Kap. X. spricht von den babylonischen Engeln, von der babylonischen Provenienz der „Kerubim“ und ihrer Erscheinung; Kap. XI. erinnert an die Engelsbegegnung Mohammeds, der vom Erzengel Gabriel die Suren des Koran eingegeben bekam. In Kap. XII. und XIII. geht es um Hermes, den Gott der Diebe, laut Schrott „der eine Engel, bevor es überhaupt noch die Engel gab“.7 Mit all dem geht es stets auch um die Vorstellbarkeit des Himmels, und die Bilder Dall’Os werfen unter anderem die Frage nach der Erkennbarkeit von Engeln und Heiligen auf. Als Bilder in ein Buch integriert, das (seinem Titel zufolge) von Heiligen, Engeln und vom Himmel handelt, suggerieren sie, dass alle abgebildeten Objekte, auch die Pflanzen, Früchte, Blumen, Käfer, Würmer, Schlangen, ja die Körperteile und Geräte und vielleicht sogar die Buchstaben und sonstigen Zeichen, die hier reproduziert sind, Engel sein könnten. Im buchstäblichen Sinne („Boten“) sind sie dies ja
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himmlische und die irdische“, das „Erotikon eines Flaneurs“, das zugleich ein „dichterisches Bekenntnis“ sei. Das Buch selbst wird als Raoul Schrotts „Angelographie“ charakterisiert. Das schreibende Ich bewegt sich offenbar zwischen Irland und dem europäischen Kontinent hin und her und hat sich in eine Frau verliebt, die in seinen Fantasien immer wieder auftaucht, ohne für den Leser eine konkrete Gestalt anzunehmen. Neben den Graphiken stehen jeweils kurze Texte, die durch diese Platzierung signalisieren (oder suggerieren), dass sie einen Kommentar, eine Interpretationshilfe zu den Bildern darstellen. Tatsächlich werden aber nicht die Bilder beschrieben oder ihre Motive identifiziert, sondern es werden Heilige genannt und kurze Informationen über ihr Leben oder ihren Tod (oftmals den eines Märtyrers) gegeben. Die Texte sind damit in doppeltem Sinn „Legende“: Heiligen-Legende und Bildlegende. Dem Leser und Betrachter bleibt es dann überlassen, zwischen diesen kurzen Informationen und den Bildern Verbindungen zu entdecken oder herzustellen. Vgl. Schrott/Dall’O: Das Geschlecht der Engel, S. 6, 9, 11. Ebd., S. 85.
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auch, sobald man sie als verschlüsselte Zeichen betrachtet, die eine zu entschlüsselnde Botschaft vermitteln wollen.8 Das Wort „Engel“, aus dem griechischen „angelos“ („Bote“) abgeleitet, gilt als Übersetzung des hebräischen Wortes „mal’ach“, das nicht nur „Bote“ bedeutet, sondern auch für die „Schattenseite Gottes“ steht. Wo Engel verhandelt werden, in welcher Gestalt und welchem Kontext auch immer, geht es also nicht bloß um Mediation und Kommunikation, sondern auch um etwas, das in seiner Botenrolle als die „Schattenseite“ dessen gedacht wurde, als dessen Mittler es fungiert. Im Horizont einer Metaphorik, für die Licht, Wahrheit und Offenbarung miteinander verknüpft sind, rückt der Bote – als die Schattenseite der Wahrheit – als etwas in den Blick, das nicht selbst die Wahrheit ist. Ein Moment der Defizienz oder Privation erscheint ihm demnach inhärent. Die Geschichte der „Engel“ ist stets auch die Geschichte der Reflexion über die Relation zwischen Mitzuteilendem und Mitteilung, Darzustellendem und Darstellung. Dass die Frage nach der Sprache der Engel die Angelologen nachhaltig beschäftigt hat, überrascht nicht.9 In ästhetischen (poetologischen, bildtheoretischen und musikästhetischen) Kontexten ist an das Konzept einer Engelssprache wiederholt angeknüpft worden, so noch in jüngerer Zeit durch Michel de Certeau.10 Ein kleiner Exkurs über Engelskonzepte:11 Die Geschichte der Engel beginnt lange vor der abendländischen Kulturgeschichte. Bereits in den archaischen 8 Als Engel interpretiert werden übrigens auch meteorologische Erscheinungen. „Was es an Engeln zu sehen gibt, ist unter www.pfrr.alaska.edu/~pfrr/aurora anzuschauen“, so heißt es; gemeint ist eine Website über Nordlichter. (Der Internet-Link funktioniert mittlerweile – Flüchtigkeit der Engel! – nicht mehr; die Hauptseite www.pfrr.alaska.edu existiert allerdings noch: eine Seite des Geophysikalischen Instituts der University of Alaska, Fairbanks, die Bilder und Informationen zum Phänomen der Aurora Borealis [Nordlicht] anbietet.) In Kap. XX. beschreibt der Erzähler eine Sonnenfinsternis über dem Atlantik, die er mithilfe einer camera lucida betrachtet, als eine „Welttheatervorstellung […], die ihr Engel da aufführt“ (Schrott/Dall’O: Das Geschlecht der Engel, S. 143). 9 Zum Motiv der Engelssprache vgl. u. a. Gustav Fechner: „Von der Sprache der Engel“, in: Ders.: Vergleichende Anatomie der Engel, in: Ders.: Kleine Schriften, Leipzig 21913, S. 144ff. – Jean-Louis Chrétien: „Le langage des anges selon la scolastique“, in: Critique. Revue générale des publications françaises et étragères, Tome XXXV. No. 387/388 (1979), S. 674ff. 10 Michel de Certeau: „Le parler angélique. Figures pour une poétique de la langue“, in: La lingustique fantastique. Sous la direction de Sylvain Autoux, Jean-Claude Chevalier, Nicole Jacques-Chauin, Christiane Marchello-Nizia, Paris 1985, S. 114ff. Den Hinweis auf de Certeaus Überlegungen verdanke ich Bernhard Teuber. 11 Zur Orientierung über Engel und ihre Funktionen vgl. u. a.: Art. „Engel“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. III, Freiburg/Basel/Rom/Wien 1995, Sp. 646ff. (versch. Verfasser). – Art. „Engel“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. II, Tübingen 31958, Sp. 465ff. (versch. Verfasser) – Georges Tavard: Die Engel. Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. II, hg. von Michael Schmaus, Alois Grillmeier u. a., Freiburg 1968. – Michael Glasmeier: „Angelologische Bibliographie“, in: Tumult 6 (1983), S. 9ff. – Malcolm Godwin: Engel. Eine bedrohte Art, München 1990. – Walter Schmitz: „Säkularisation und Utopie. Die Gestalt des Engels in der Deutschen Literatur der Moderne“, in: Kunst und Kirche 54 (1991), S. 254ff. – Uwe Wolff
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Kulturen stellte man sich geflügelte, vogelartige Wesen vor, die sich zwischen verschiedenen Sphären – einer oberen, himmlischen und einer unteren, irdischen – hin und her bewegen. Entsprechende Zeugnisse aus der Vorstellungswelt der babylonisch-assyrischen und der iranisch-persischen Religionen sind überliefert. In der griechischen und römischen Mythologie gibt es Genien, Halbgötter und andere Wesen, die sowohl einem räumlichen als auch einem ontischen Zwischenraum angehören. Sokrates entwickelt die Vorstellung eines daimon; Platon spricht analog dazu von Genien und Dämonen (Platon: Symposion, 202d– 203a, 232). – Den alttestamentarischen Jahwe umgibt ein Hofstaat von Engeln, die seine Minister und Boten sind. Schon im Buch Genesis ist von Engeln die Rede – anlässlich der Episode von der Vertreibung Adams aus dem Paradies (1. Mose 3,23–24). Ausgelöst wurde diese Vertreibung – so jedenfalls in der späteren, apokryphen Überlieferung – durch einen gefallenen Engel: Luzifer. Seit alttestamentarischen Zeiten begleiten Engel die Geschichte der Menschen. Die neutestamentarischen Berichte erwähnen ebenfalls viele Engelserscheinungen. Eine systematische Angelologie enthalten aber weder das Alte noch das Neue Testament. Schon die Angaben über die Zahl der Engel sind widersprüchlich bzw. ungenau. Allerdings dokumentiert sich ein facettenreiches Wissen über Engel. Das Buch Hiob (38,4–7) bietet ein Indiz dafür, dass die Engel schon vor der Schöpfung der materiellen Welt existiert haben könnten. Neben ihrer Botenrolle dienen die Engel auch als Wächter, insbesondere an den Pforten des Paradieses (1. Mose 3,24), sowie als Schutzengel. Engel wissen mehr als die Menschen, aber nicht alles, wie Jesus betont, als er die Ungewissheit der Stunde seiner Wiederkehr erwähnt (Markus 13,32). Das Neue Testament berichtet mehrfach von Auseinandersetzungen zwischen dem göttlichen Heer der Engel und dem Teufel mit seinen Dämonen (Matthäus 8,28–32; 9,32–43; Markus 7,25–30; Lukas 11,14– 25; Apostelgeschichte 5,16 etc.). Über die Engel und ihre Bedeutung für den christlichen Kult hat es in der Geschichte der Theologie divergente Meinungen gegeben. Paulus spricht sich gegen die Engelsverehrung aus; das Erste Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) erklärt den Engelsglauben dann aber doch zu einem Teil der christlichen Lehre, auf der 1. Synode von Laodicea 343 wird der Engelskult (im Sinne der Anbetung der Engel) indes zum Götzendienst erklärt. Eine spätere Synode von 787 erlässt genaue Bestimmungen zur Engel- und Erzengelverehrung. Diverse Kirchenväter widmen sich dem Thema Engel. Augustinus bemüht sich um den Nachweis einer anfänglichen Schöpfung der Engel durch Gott. Thomas von Aquin (genannt „doctor angelicus“) beschäftigt sich mit dem Thema intensiv. Noch Johannes Paul II. bekräftigt 1986 die Existenz von Engeln (Hg.): Das große Buch der Engel, Freiburg 1994. – Friedmar Apel: Himmelssehnsucht. Die Sichtbarkeit der Engel in der romantischen Literatur und Kunst sowie bei Klee, Rilke und Benjamin, Paderborn 1994.
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als Bestandteil der kirchlichen Lehre und des christlichen Glaubens insgesamt. – Dass man als Mensch Engel sehen kann, ist keineswegs selbstverständlich; meist bleiben sie unsichtbar und zeigen sich allenfalls Auserwählten. Engelsvisionen von christlichen Heiligen und Mystikern sind in vielen Varianten überliefert. Eine Systematik der Engel und ihrer Hierarchien entwickelte bereits im 5. Jahrhundert der sogenannte Dionysius Areopagita – basierend auf verschiedenen Überlieferungen. Gregor der Große, Thomas von Aquin, die Scholastiker, Dante und Johannes vom Kreuz haben sich später auf ihn berufen. Dionysius’ Schrift über die „Himmlische Hierarchie“ entstand als Kompilation aus komplexen Informationen der Kirchenväter über die Engel. Dionysius vergleicht die Engel mit ungetrübten Spiegeln, die geeignet sind, das göttliche Licht aufzunehmen. Die Hierarchie der Engel wird als eine „heilige Ordnung“ beschrieben, in der sich die Schönheit der Schöpfung selbst spiegle. In den Engeln erfolgt laut Dionysius jeweils die erste, ursprüngliche göttliche Erleuchtung, und sie tragen die höheren Offenbarungen dann an die Menschen weiter. Dionysius differenziert zwischen neun „Chören“ der himmlischen Wesen, die in drei „Hierarchien“ zusammengefasst sind. Die erste Hierarchie genießt das Privileg, immer bei Gott zu sein; ihr gehören die Seraphim, die Cherubim und die Throne an. Die zweite Hierarchie besteht aus den Herrschaften, den Kräften und den Gewalten, die dritte aus den Fürstentümern, Erzengeln und Engeln. Alle Namen und Wesenheiten der Glieder in der himmlischen Hierarchie werden ausführlich kommentiert. Auf Dionysius beziehen sich noch die christlichen Mystiker mit ihren Engelsvorstellungen (so etwa Hildegard von Bingen, Jakob Böhme und Angelus Silesius). – Weitläufig beschrieben wurde die Engelswelt im 18. Jahrhundert von Emanuel Swedenborg. Dieser war überzeugt, Gespräche mit Engeln und Geistern, insbesondere mit Verstorbenen, führen zu können; er unternahm visionäre Ausflüge in eine andere Welt und protokollierte diese anschließend. Der Mensch könne, so Swedenborgs Überzeugung, allerdings die Engel nicht mit seinen physischen Augen, sondern nur mit denen seines Geistes sehen. Die Engel der religiösen Vorstellungswelten des Judentums, des Christentums und des Islams sind in erster Linie immer „angeloi“, Boten – und sie werden oft als Grenzgänger charakterisiert. Ihre Flügel deuten darauf hin – als Vehikel und Symbole des Ortswechsels, als Ausdruck der Unabhängigkeit von irdischen Bindungen. Vorbehalte gegenüber sinnlichen Darstellungen des Göttlichen hatten in der jüdischen Kultur zum Bildnisverbot geführt, insbesondere zum Verbot, Gott bildlich zu repräsentieren. Auf bildliche Repräsentation mochte die neue christliche Religion nun aber nicht verzichten, schon wegen der Überzeugungs- und Explikationskraft visueller Darstellungen. Gesucht wurden Bilder, welche einerseits einprägsam waren, andererseits der Spiritualität des Gemeinten
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gerecht wurden,12 zugespitzt gesagt: Figuren der Vermittlung zwischen Sinnlichem und Unsichtbarem – also ‚Engel‘. Gemalte Engel haben im Kontext christlicher Kultur eine analoge Funktion wie „echte“ Engel: Sie sollen zwischen Göttlichem und Menschlichem vermitteln. Als Folge der Abwertung des Sinnlich-Phänomenalen befindet sich die bildende Kunst, auch und gerade die Sakralkunst, allerdings in einem ständigen Legitimationsnotstand. Bilder können mittelalterlicher Bildtheologie zufolge höchstens versinnlichen, was von der Schrift immer schon gesagt ist.13 Gerade die Skepsis der (westkirchlichen) Theologie gegenüber dem Bild motiviert allerdings die bildenden Künstler des christlichen Mittelalters zur Entwicklung neuer Darstellungsstrategien. Da die Bilder als Umsetzungen derjenigen Berichte und Erzählungen fungieren, aus denen die Heilsgeschichte besteht, nehmen sie zunehmend selbst epische Qualitäten an. Sie spinnen den Text der heiligen Schrift erzählend aus oder ranken sich – als „Texte“ in dienender Funktion – kommentierend, interpretierend und vermittelnd um den heiligen Basistext. Während in der Ostkirche das Mysterium des Göttlichen im Bild präsent ist, erzählen in der Westkirche die Bilder von dem, was sie nicht zu vergegenwärtigen vermögen – eben, weil sie dies nicht vermögen. Aus ästhetischer und kunstgeschichtlicher Sicht ist der Engel per se ein besonders signifikantes Bildmotiv. Denn gerade Engelsdarstellungen in der abendländischen Kunst stehen im Zeichen der Reflexion über Wesen und Funktion der Bilder. Gemalte Engel verweisen auf die Kunst als Visualisierung von Unsichtbarem: des an sich unsichtbaren Wortes sowie des im Wort übermittelten göttlichen Logos. Engel auf Sakralgemälden sind als Veranschaulichungen des Wortes Gottes Sinnbilder dieser Gemälde selbst, insofern diese Visualisierungen des Gotteswortes zu sein beanspruchen. – Im Zeichen der Dichotomie von Sinnlichem und Übersinnlichem spitzt sich ein Konflikt zu, der 12 Zu den wichtigsten Fragen, die seit der Ausbreitung des Christentums kontrovers erörtert wurden, gehörte die nach der Darstellbarkeit der Heilslehre – insbesondere im Medium der bildenden Kunst, da Bilder in einer noch weitgehend analphabetischen Welt ja einerseits unverzichtbare Medien der Belehrung waren, andererseits aber in einer Kultur und Religion des Wortes doch besonderer Rechtfertigung bedurften. 13 Ostkirche und Westkirche entzweien sich schließlich hinsichtlich der Einschätzung der Bilder: Während aus byzantinischer Sicht das Göttliche im Sichtbaren real präsent sein kann, wodurch die Bilder als mögliche Erscheinungsformen des Heiligen nobilitiert werden, sieht die westliche Kirche in Bildern nur Repräsentationen, die im Dienst der Glaubensdidaktik und Homiletik stehen. Kein Sinnlich-Konkretes kann die Realpräsenz des Göttlichen verbürgen – mit der einzigen Ausnahme von Brot und Wein im Sakrament der Eucharistie. Von Gregor dem Großen wird zwar die Nützlichkeit der Bilder für die Analphabeten eingeräumt, doch damit ist deren ausschließlich pragmatisch legitimierter Ersatzcharakter zugleich klar bekräftigt. Während die Ikone der Ostkirche „Heilscharismatik“ (Heinz-Georg Held: Engel. Geschichte eines Bildmotivs, Köln 1995, S. 33) besitzt und selbst zum Gegenstand der Verehrung wird, besitzt das Altar- oder Heiligenbild im römischen Kult nur illustrativen Charakter.
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auch jenseits des christlichen Denkens das Selbstverständnis künstlerischer Darstellung betrifft: das Problem der Repräsentation, ihres Wahrheitsanspruchs und ihrer Überzeugungskraft. Engel sind Anlässe, diesen Konflikt ins Bild zu setzen – als Boten, als Repräsentanten, als die „Schattenseite“. Engel thematisieren, so betrachtet, in der Sakralkunst die Unsichtbarkeit des Eigentlichen; sie sind Inbegriff des Repräsentanten, der sich auf Abwesendes bezieht, auf dieses nur zeigt, respektive dieses via negationis präsentiert. Etwas zu repräsentieren impliziert nicht, das Eigentliche sinnfällig zu machen, sondern einen Ersatz. Paradoxerweise sagt bzw. signalisiert jede Repräsentation also zugleich: „seht/ hört her, ich bin es“ und „ich bin es nicht“. Bilder tun so, als zeigten sie etwas (etwa eine Szene der Heilsgeschichte), und geben doch zugleich zu erkennen (wie könnten sie es auch verleugnen), dass sie Bilder sind. Auf Bildern, deren Thema die Unsichtbarkeit des Eigentlichen ist, wie etwa bei malerischen Darstellungen der Verkündigungsszene,14 wird diese Paradoxie auf die Spitze getrieben. Eine ethische Dimension – respektive: Anschlussstellen an ethische Reflexionen und Diskurse – gewinnt das, was ich hier das ‚Repräsentationsparadox‘ nennen möchte, dort, wo mit dem Zeigen, dem Sehen-Lassen ein wie auch immer genauer zu bestimmender ethischer Anspruch verknüpft ist, womöglich gar ein ethischer Imperativ, ein „Du-sollst“. Wenn der Herr Engel sendet, um seinen Willen an die Menschen zu übermitteln, wenn Engel auf das leere Grab des Auferstandenen deuten, wenn sie heilsgeschichtliche Ereignisse ankündigen oder auch nur mahnen und trösten, dann geht es ja stets um mehr als nur um theoretische Einsichten und neutrales Wissen. Der Minimalimperativ, der mit solchen (in der Grundstruktur paradoxalen) Botschaften einhergeht, ist der, etwas Signifikantes zur Kenntnis zu nehmen und sich fortan entsprechend zu verhalten. Bis heute ist der Engel ein Denkbild, das zur kritischen Reflexion über Konzepte der ‚Vermittlung‘ provoziert. Der Philosoph Kurt Röttgers erinnert an die These des Thomas von Aquin, dass Engel Körper ‚annehmen‘; diese Körperlichkeit entspricht dabei aber nicht der wahren Natur der Engel, sie ist nur etwas Angenommenes.15 Ihrer Natur nach nicht körperlich, haben Engel mit ihren Körpern „einen quasi spielerischen Umgang“; sie sind „Körpersimulanten“.16 Hans Blumenberg hat Engel als „Störer der Unmittelbarkeit“ charakterisiert; Röttgers, der an Blumenberg erinnert, charakterisiert sie pointierend als „Re-
14 Vgl. dazu Held: Engel, S. 142ff. 15 Kurt Röttgers: Teufel und Engel, Bielefeld 2005. Engel, so Thomas, sind Geistwesen, verglichen mit dem Menschen. Um sich im Raum zu bewegen, müssen sie aber körperlich sein; und sie müssen insbesondere einen Körper annehmen, wenn sie den Menschen als Mittler dienen und dabei räumlich erscheinen sollen („corpora assumant“, zit. ebd., S. 29). 16 Ebd.
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paraturexperten für eine verlorene Unmittelbarkeit“.17 Letztlich verweisen Engel darauf, dass ‚Unmittelbarkeit‘ ein uneinlösbares Versprechen ist, und markieren ein philosophisches Problem, nämlich „das der Paradoxien der Unmittelbarkeit“.18 Röttgers spricht von Engeln wie auch von Teufeln als „Konstrukt[en] für gewisse strukturelle Zusammenhänge“; es geht bezogen auf Engelsdiskurse und Engelsdarstellungen darum, „was Teufel und Engel anrichten“,19 wie sie ‚operieren‘; was ändert sich in Wissens- und Normensystemen, „wenn Teufel und Engel zugelassen werden“? 20 Diese Frage betrifft evidenterweise neben dem philosophischen Diskurs auch die Literatur und die Kunst. Betrachtet man Engel als Verweise auf das Problem der Vermittlung (bzw. konkreter: als ‚Körpersimulanten‘, die auf die Paradoxie der Unmittelbarkeit verweisen), so stellt sich vor allem die alte angelologische Frage nach ihren Erscheinungsformen und -modi mit verschärfter Dringlichkeit. Denn kein Erscheinungsbild der Engel kann ja mehr beanspruchen, das ‚richtige‘ zu sein.21 Auch die älteste auf alttestamentarische Engel bezogene Bezeichnung (mal’ach/mal’ak jhwh) suggeriert übrigens noch kein bestimmtes Erscheinungsbild. Engel ‚lösen‘ das Problem der Vermittlung nicht; sie stehen für das Vermittlungsproblem selbst, und zwar insbesondere, insofern sich eben die Frage nach ihrem Aussehen, ihrer Beschaffenheit, ihrem konkreten Wirken als Inbegriff der Vermittlungsfrage als solcher stellt. – An diese Überlegungen anknüpfend möchte ich auf ethische Anschlussstellen des Repräsentationsproblems aufmerksam machen – anlässlich der Engel, deren Funktion es in ihrer traditionellen Erscheinungsform auch gewesen ist, Impe-
17 Hans Blumenberg: „Die Weltzeit erfassen“, in: FAZ vom 24. 12. 1996, Nr. 300, zit. bei Röttgers: Teufel und Engel, S. 26. 18 Röttgers: Teufel und Engel, S. 25. Diesem Problemkomplex gilt Röttgers Buch über Engel und Teufel insgesamt. Die Figur des Teufels verweist, so Röttgers, auf ein philosophisches Problem: auf das der „Paradoxie[] der Einheit, […] der Einheit als gespiegelter“ (die damit schon keine Einheit mehr ist) (ebd.). An die Figur des Engels knüpft sich die Frage, ob Unmittelbarkeit ganz unmöglich sei (vgl. ebd., S. 26) – und so lassen gerade Engel die „Paradoxien der Unmittelbarkeit“ (ebd., S. 25) sinnfällig werden. Die Spannung Einheit/Vielheit sowie Unmittelbarkeit/Vermittlung sind „zentrale Themen dialektischen Denkens“ (ebd.) – und diese Probleme nehmen in Teufeln und Engeln Gestalt an – wodurch sie selbst sich „ebenfalls dem Problem der Vermittlung“ stellen (ebd.). – Der Teufel ‚löst‘ dabei ein Problem Gottes (welches aber letztlich ein Problem des Menschen ist, der sich Gott vorstellt), der Engel eines der Menschen; das gemeinsame „epistemische Grundproblem“ ist „die mythologische Notwendigkeit der Vermittlungsgestaltung“ (ebd.). 19 Ebd., S. 6. 20 Ebd., S. 7. 21 „Eine irgendwie geartete ‚natürliche‘ Gestalt des Engels hat sich im 20. Jahrhundert mehr und mehr aufgelöst, er hat kein ‚Wesen‘ mehr, was aber nicht heißt, dass er verschwindet; […] Zur reinen Funktion geworden, rein medial geworden, hört er auf, nützlicher Helfer beim Lösen des Problems der Metabasis zu sein, sondern ist eine der Erscheinungsweisen des Problems“ (ebd., S. 48f.).
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rative zu übermitteln und performativ an der Heilsgeschichte teilzuhaben – auch und gerade mit ihren eigenen paradoxalen Mitteln.
(2)
Globale Kommunikation und ethischer Appell: Angelologie bei Michel Serres
Um Engel geht es in Michel Serres’ Buch La Légende des Anges, das in einer illustrierten und in einer nicht-illustrierten Variante publiziert wurde – und zwar um Engel in der Mehrzahl, säkular und in vielfältigen Erscheinungsweisen.22 Als Dialog angelegt, der sich hauptsächlich zwischen der Flughafenärztin Pia und ihrem Freund Pantope entspinnt, ist Serres’ Engelslegende eine neue ‚Legende‘ zum traditionsreichen Bild des Engels – im Sinne einer neuen textuellen Explikation dieses Denkbildes, aber auch im Sinn einer Anleitung, Erscheinungen als Engel zu ‚lesen‘. Kulisse des Dialogs ist ein Pariser Flughafen; die Hauptfiguren tragen sprechende Namen. Pantope wirkt als Inspizient einer Fluggesellschaft und ist ständig auf Reisen. Pia – als Sprachrohr des Autors Serres selbst eine Art „Engel“ – kümmert sich als Flughafenärztin um Kranke und Notleidende. Sie vertritt die These, die Welt sei voller Engel. Vor allem auf dem Flughafen seien sie allenthalben zu sehen und zu hören.23 Nicht das Aussehen qualifiziert ein Phänomen zum Engel, sondern seine Funktion als Botschafter; darum ist dem Gestaltenreichtum der Engelswelt keine Grenze gesetzt. Pias Hinweis auf die Flugzeuge als stählerne Engel deutet bereits an, dass gerade die nicht-anthropomorphen, die natürlichen und technischen Zirkulationsprozesse hier ‚angelologisch‘ modelliert werden. Zu ihrer Engelsaufzählung gehören entsprechend auch verschiedene meteorologische Phänomene und Prozesse.24 Gerade die äußere Unähnlichkeit all dieser Engel signalisiert, dass keine Verkörperung notwendig, jeder Körper nur ein ‚angenommener‘ ist. Dass Engel keine spezifische 22 Michel Serres: La Légende des Anges, Paris 1993. – Dt.: Die Legende der Engel, übers. von Helmut Scheffel, Frankfurt a. M. 1995. 23 „[…] je n’y vois […] que des Anges, l’ancien nom des messagers: les hôtesses, les pilotes, le radio, tout le personnel volant venu de Tokyo et au départ […]; ces quinze avions sagement rangés, aile à aile […]; ces voitures jaunes de la poste, qui délivrent plis, paquets ou télégrammes; les appels de service, au micro; ces bagages qui défilent devant nous; les annonces incessantes qu’autant de voyageurs arrivent de Stockholm ou d’Helsinki, les ordres d’embarquer pour Berlin et Rome, Sydney ou Durban; ces passagers qui se croisent et se hâtent vers navettes et taxis, ces escaliers qui descendent et montent tout seuls propres marches… comme dans le rêve de Jacob… / Des Anges d’acier emportent des Anges de chair qui lancent sur des Anges d’ondes des Anges de signaux…“ (Serres: La Légende, S. 12). 24 „[Pia:] Dans ce monde d’ici que tu aimes, sais-tu que les Anges ne prennent pas toujours la forme humaine, mais se dissimulent dans les flux de la nature: les courants, les rayons… ou le vent?“ (Serres: La Légende, S. 25).
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Gestalt haben, sondern allein durch ihre Botenfunktion innerhalb von Prozessen der Kommunikation und des Transfers bestimmt sind, macht vor allem die illustrierte Ausgabe von Serres’ Buch sinnfällig; sie enthält eine Fülle von Abbildungen – darunter Bilder von Menschen, von Naturphänomenen, meteorologischen Prozessen, technischen Artefakten (vor allem Transport- und Verkehrsvehikeln), Flughafenbilder. Dargestellt sind Objekte, Prozesse und Räume, welche vor allem der Idee einer auf Kommunikation beruhenden globalen, von technischen Medien und Transportvehikeln geprägten Welt entsprechen. Hinzu kommen zahlreiche Bilder von Kunstwerken, reproduzierte Engelsbilder aus der Geschichte der Kunst. Serres’ Légende beschreibt (als Legende im Sinne von ‚Lesehilfe‘) also eine Welt, die von Engeln – im weiteren Sinn der Zirkulation von Botschaften – nicht allein maßgeblich geprägt ist, sondern letztlich aus Engeln besteht.25 Um die Allgegenwart dieser Boten geht es – und um das Leben mit ihnen. Die Idee des ‚Körpersimulanten‘ wird nicht allein dadurch, dass in so vielen unterschiedlichen Phänomenen ‚Engel‘ gesehen werden, besonders unterstrichen, sondern auch durch die Art von Diskurs, die durch das Buch selbst geführt wird. „Pia“ ist eine Maske, durch die der Autor spricht, ein geborgter Schein-Leib, eine Figuren-Simulation – und was immer sie sagt, muss unter diesem Aspekt einer letztlich paradoxalen ‚Verkörperung‘ gelesen werden, die unausweichlich stets auch eine Codierung, eine ‚Verschlüsselung‘ ist.26 (Im Zusammenhang damit bezieht Serres’ Légende in einem Zug Stellung zur Frage nach Modi der Darstellung, welche den verhandelten Themen entsprechen könnte; seine Option ist die poetische Rede – und Bebilderung –, nicht die theoretische Abstraktion.) Als Vorschlag zu einem neuen Blick auf Botschaften – einem Vorschlag, der bewusst mit poetischen Mitteln arbeitet, statt in Form einer abstrakten Theorie der Kommunikation vorgetragen zu werden – hat Serres’ Légende eine didaktisch-performative Dimension, welche der der traditionellen Legenden ähnelt: Nicht nur um die Mitteilung von Vorstellungen geht es, sondern auch darum, Haltungen zu vermitteln, auch und gerade ethische.27 Serres’ Figuren, sein Text, ja 25 „[Pia:] Ne voyez-vous pas que nous passons sans cesse comme des intermédiaires parmi des intermédiaires? Pourquoi donc et jusqu’à quand? A force de vivre ici, où passent des passagers, courent des courriers, transporteurs, coursiers, annonceurs, courtiers… par ce nœud de plusieurs réseaux connectés à l’univers… j’entends bruire des nuages d’Anges… […] sans voir leur destination finale“ (Serres: La Légende, S. 13). 26 Auf die Frage des Lesers nach einem „Schlüssel“ zum Buch erklärt der Autor den Engel selbst zum „Universalschlüssel“: „ – Messager, il franchit les espaces, les temps et les murailles, garde, marque, traverse les portes closes. Rien de fermé pour lui […].“ (Serres: La Légende, S. 242). Das Bild des Engels erlaubt es Serres, die menschliche, die natürliche und die technische Welt in einer Weise zu beschreiben, die deren Gleichartigkeit und Kohärenz betont. Als Denkbild vermittelt das Engelsbild also zwischen den ansonsten als different betrachteten Welten. 27 Unter dem Titel „La Légende“ folgt als Abschluss des Textes ein imaginärer Dialog zwischen
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das ganze Buch (insbesondere die illustrierte Variante) entsprechen als Mittler selbst dem Konzept des „Engels“, das hier propagiert wird. In dieser Eigenschaft haben sie die ‚engelstypische‘ Funktion, nicht nur etwas mitzuteilen, sondern seitens des Empfängers auch Haltungen zu stimulieren, welche indirekt oder direkt mit ethischen Fragen und praktischem Verhalten korrespondieren. Der Mensch selbst erscheint als „Engel“, insofern er kommuniziert (und zwar keineswegs nur, insofern er absichtsvoll kommuniziert) – und wohin er sieht, sieht er seinesgleichen. – Sommes-nous des Anges, nous aussi? – Nous communiquons entre nous à la vitesse de la lumière, nous nous déplaçons à celle du son et transformons les autres et le monde par nos paroles! 28
In Serres’ Vorschlag, die eigenen Mitmenschen als Engel zu sehen, liegt ein wichtiges Bindeglied zu ethischen Reflexionen; letztlich ist dieser Vorschlag selbst bereits Bestandteil eines ethischen Diskurses.29 In verschiedenen Teilen des Buchs geht es anlässlich des erweiterten Engels-Konzepts wiederholt explizit um soziale Fragen – und dies ist kein ‚Zitat‘ zur Légende, sondern deren integraler Bestandteil. So ist von solchen Engeln die Rede, welche die Botschaft der Armut und Not an die vermitteln, die solcher Botschaften bedürfen. Ausländische Arbeiter als Repräsentanten der unteren Schichten brächten „aux nantis les appels de la détresse“,30 so heißt es etwa anlässlich der in die Légende integrierten Geschichte der Armen und Notleidenden, die als Fremdkörper in mehr als einem Sinn unter den vielen Menschen auf dem Flughafen unterwegs sind. Kranke, Gebrechliche, Hilfsbedürftige – auch sie sind in der neuen Engelsstadt des Flughafens wichtige Boten. Und der Flughafen selbst als ein Ausgangsort für Reisen in alle Welt wird als ‚Mittler‘ betrachtet, der durch seine Funktion an diese Orte erinnert: auch und gerade an Orte der Armut, der Not, des Hungers, der Krankheit und des Sterbens. Wie Notleidende und Obdachlose auf dem Flughafen leben und sterben, wird explizit berichtet. Eine Episode auf dem Flughafen gilt dem Tod eines solchen Kranken und Obdachlosen, als dessen Name die Protagonisten noch glauben, das Wort „Gabriel“ vernommen zu haben. Das in der Nachbarschaft des Gabriel-Textes gezeigte Bild eines verwahrlosten Mannes ist keine Illustration im konventionellen Sinn; es gibt nicht vor, ‚Gabriel‘ zu „Autor“ und „Leser“: „Le lecteur: / – Pourquoi, aujourd’hui, s’intéresser aux Anges? / L’auteur: / – Parce que notre univers s’organise autour des messageries et qu’ils sont des messagers […]“ (Serres: La Légende, S. 241). 28 Serres: La Légende, S. 243. 29 Affinitäten zu Emmanuel Levinas’ Reflexionen über die ethische Dimension jeder erkennenden und interpretierenden Auseinandersetzung mit dem Anderen wären einer weiteren Erörterung wert. Vgl. etwa: Emmanuel Levinas: Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien 1986. 30 Serres: La Légende, S. 13.
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zeigen, sondern es ist ein geborgter photographischer Leib, ein ‚Körpersimulant‘ in mehrfachem Sinn (als Photo sowie als Photo eines unbekannten Anderen, dann auch als technisch reproduziertes Photo, das jemand anderes als Serres aufgenommen hat), es ist aber gerade in seiner mehrfachen Vermitteltheit ein ‚Engel‘.
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Engel-Scharen, Engels-Listen, Listen als „Engel“
Engel – das verbindet bei Serres die Erscheinungen auf dem Flughafen und die globalen Strömungen und Kräfte von Winden und Gewässern, die Reisenden, die Transportvehikel, die Wörter und Zeichen mit den Engeln der antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Imagination – sind keine Einzelerscheinungen; sie bilden Gruppen und agieren in Netzwerken. Diverse reproduzierte Einzelbilder zeigen Engel in Gruppen und Scharen; in Pias und Pantopes Gesprächen kommt es vielfach zu Aufzählungen, zu förmlichen Listen, und insbesondere ließe sich das Buch selbst als ‚Liste‘ beschreiben, wenn man einen entsprechend weiten Begriff der ‚Liste‘ zugrunde legt. In Umberto Ecos Buch Vertigine della lista von 2009 hebt dieser die „ernom[e], geradezu schwindelerregend[e]“ Vielzahl von Texten hervor, in denen Listen eine Rolle spielen.31 Unter „Listen“ versteht Eco Reihungen, Aufzählungen und Ansammlungen verschiedenster Art, durch welche jeweils eine bestimmte (manchmal große) Menge von Exemplaren zum Ensemble arrangiert wird.32 Die Weite und Unschärfe von Ecos „Listen“-Begriff mag kritisiert werden. Vielleicht ist der Begriff der „Liste“ nicht ideal gewählt; vielleicht ist es insbesondere problematisch, auch bestimmte Bildkompositionen (die eine Vielzahl analoger Erscheinungen darstellen) als „Listen“ zu charakterisieren statt den Begriff „Liste“ für verbale Reihenbildungen zu reservieren. Aber man könnte auf den Ausdruck „Liste“ verzichten (um stattdessen vielleicht von einer „Ansammlung“ zu sprechen) und dennoch Ecos entscheidendem Vorschlag folgen – nämlich auf die Effekte der Zusammenstellung von Gleichartigem in verbalen und bildlichen Darstellungen achten. Eco unterscheidet grob zwischen zwei Typen von Listen, die zwei verschiedenen 31 Umberto Eco: Vertigine della lista, Mailand 2009. – Dt.: Die unendliche Liste, übers. von Barbara Kleiner. München 2009, hier S. 7. 32 Ecos Darstellung bezieht sich dabei auf ganz verschiedene Typen von Listen: auf Aufzählungen in der Wissenschaft, in sachbezogenen Texten, aber auch auf Aufzählungen in literarischen Texten. Bemerkenswerterweise bezieht Eco in die Darstellung von Listen neben Texten auch viele Werke der bildenden Kunst ein. „Listen“, so wie er sie versteht, sind demnach nicht nur sprachliche Aufzählungen (Reihen von Eigennamen, Objektnamen, Objektbeschreibungen, Gegenstandsdarstellungen etc.), sondern auch zum Ensemble arrangierte bildliche Darstellungen.
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Funktionen entsprechen (und letztlich kann es von der einer Liste zugeschriebenen Funktion abhängen, wo man sie einreiht): Die einen haben praktische Zwecke (wie Einkaufszettel, Inventarien, Verzeichnisse von Besitztümern, Namensnennungen im Telefonbuch etc.), die anderen werden aus einer ganz eigentümlichen reflexiven Haltung des Schreibenden zu seiner Arbeit heraus verfasst: Sie drücken den Anspruch aus, eine immense Vielfalt von Dingen darzustellen – und signalisieren oft zugleich das Scheitern dieses Anspruchs. Die Liste mit ostentativ ‚vielen‘ Dingen (die Aufreihung vieler Namen, die Nennung vieler Objekte etc.) steht stellvertretend für die Darstellung ‚unüberschaubar‘ oder sogar ‚unermesslich‘ vieler Dinge oder Wesen – aber eben nur stellvertretend für eine solche (unmögliche) Darstellung. Dabei kann es zum einen um vorhandene Ganzheiten gehen, die der Aufzählende nur kontingenterweise nicht überschaut, weil seine Kompetenz und seine Kräfte nicht ausreichen. Aber es kann zum anderen auch um eine prinzipielle Unerfassbarkeit eines Gegenstandsfeldes (und, übertragen gedacht, um die prinzipielle Unfasslichkeit des damit konnotierten Themas) gehen. Ecos Erörterungen zur listenartigen, aufreihenden, aufzählenden, katalogartigen Darstellung setzen diese insbesondere in Beziehung zu dem Projekt, etwas Unermessliches, in seiner Ganzheit Unüberschaubares darzustellen.33 – Die poetische Liste, verfasst, um eine Idee der ‚Unendlichkeit‘ zu vermitteln, verweist als Aufzählung über sich hinaus. Sie sagt: Es gibt noch mehr als das, was ich nenne; sie sagt: Ich kann gar nicht alles nennen; sie sagt: Das prinzipiell Nennbare ist unerschöpflich – und außerdem kann man nicht alles sagen. „Listen“, so wie Eco sie versteht, verweisen also vielfach auf Darstellung als Problem – wobei für ihn die entscheidende Differenz zwischen einem älteren Vertrauen in vollständige und geschlossene Darstellungen und einer neuzeitlich-modernen Skepsis gegenüber Ganzheiten und Totalitäten besteht. Allerdings spricht er auch von Fällen, in denen dem, der etwas darzustellen unternimmt, keine Möglichkeit erschöpfender Darstellung zu Gebote steht – und das ist letztlich ein Problem, das sich nicht allein in bestimmten Epochen stellt. Entscheidend ist die Beobachtung, dass dort, wo sich das Wesen, das Eigentliche, die Wahrheit dem darstellerischen Zugriff entzieht, eine Zuflucht zu Ansammlungen genommen wird – zur Aufzählung von Akzidentiellem, von Details, Einzelinformationen und Einzelzügen.34 Die Liste, so wie sie bei Eco beschrieben wird, korrespondiert funktional der Denkfigur des Engels, der einen akzidentiellen Körper annimmt, um mit den Menschen kommunizieren zu können – und der dabei doch immer nur Repräsentant und ‚Körpersimulant‘ bleibt. Und so wie sich Engelsdarstellungen in der 33 Entsprechend wichtig werden Listen in Kulturen respektive bei Autoren, die nicht mehr hoffen können, die Welt als Ganzes zu überblicken. 34 Vgl. Eco: Die unendliche Liste, S. 15.
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Malerei als ästhetische Auseinandersetzung mit dem Problem der Undarstellbarkeit als solchem – in Röttgers pointierender Lesart: mit der Paradoxie von Vermittlung – deuten lassen, so suggeriert Eco eine sich auch und gerade in Listen dokumentierende Auseinandersetzung mit dem Darstellungsproblem. ‚Totalität‘, das Eine, Ganze und Wahre ist nicht zu haben; es bleiben Repräsentationen, die ihren eigenen Repräsentationscharakter (ihre Engelhaftigkeit) ostentativ zur Schau tragen. Zu den Bild-„Listen“, die Eco zeigt und kommentiert, gehören auffällig viele Bilder von Engelsscharen, begonnen beim Schutzumschlag des Buchs (in der deutschen Ausgabe). Dies bestätigt die Affinität des ‚Engels‘ zum Plural – oder, mit Eco gesagt, die Affinität zwischen Engel und Liste –, wie sie sich bereits an Engelsdarstellungen älterer Provenienz beobachten lässt, aber auch die Modellierungen neuer Engelskonzepte prägt. Wo „Listen“Form und Engelsmotiv zusammenkommen, verstärkt sich die Spannung zwischen Darstellung und einem Bewusstsein für Nichtdarstellbares, zwischen Mittlern und Unvermittelbarem, zwischen Repräsentation und Nichtrepräsentiertem; das Repräsentationsparadox wird doppelt sinnfällig.
(4)
Das Nichtkommunizierbare als Herausforderung: die Engel der Photographie
Wenn Serres viele seiner Engel an einem Flughafen lokalisiert, so ist nicht der Himmel als Raum göttlicher Transzendenz (heaven), sondern als Raum immanenter Bewegungen und Prozesse (sky), evoziert. Doch auch jenseits religiöser Glaubensinhalte und Vorstellungen – die in der Légende zitatweise, gleichsam als simulierte ‚Körper‘, eingesetzt werden – bleibt den Serres’schen Engeln (wie gezeigt) ihre ethische Dimension erhalten. Eindringlich ist von Boten menschlicher Not die Rede, deren Erscheinen appellativ wirkt, von Botschaften an die Reichen, von Mahnungen an deren Verantwortlichkeit, von inkarnierten moralischen Postulaten, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Pia, als Ärztin nicht zuletzt ein ‚Helferengel‘, interessiert sich für die Ethik der (neuen) Engel mindestens ebenso wie für ihre Ästhetik. Das mit dem Mittlerthema stets auch berührte Thema des Nichtkommunizierbaren respektive der Grenzen des Darstellbaren wird in literarischen und künstlerischen Kontexten nun insbesondere dort zum Problem, wo das (unerfüllt bleibende) Bedürfnis nach ‚vollständiger‘ und ‚angemessener‘ Darstellung zugleich eine ethisch-postulative Dimension hat: wenn man nach eigenem Selbstverständnis etwas vermitteln und etwas vermittelt bekommen soll – und diese Vermittlung doch zugleich als etwas Unmögliches erscheint. Etwas nicht darstellen zu können und das Darstellen doch zugleich nicht unterlassen zu dürfen, diese auf spezifische Weise paradoxe
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Herausforderung hat sich Schriftstellern und Künstlern vor allem angesichts von Exzessen totalitärer Gewalt und Vernichtung gestellt. Ob und wie literarische und künstlerische Darstellungen mit dem NS-Holocaust und anderen Fällen des Genozids umgehen können, ‚sollen‘ und ‚dürfen‘, wurde und wird so heftig wie kontrovers diskutiert – in jüngerer Zeit unter gegenüber den Nachkriegsjahrzehnten verschobenem Vorzeichen, insofern die Gefahr des Vergessens infolge des Aussterbens der Zeugen mit der Zeit eine andere Qualität gewonnen hat. Gerade mit zunehmendem zeitlichem Abstand hat auch das Postulat, Undarstellbares gleichwohl zum künstlerischen Thema zu machen, an Dringlichkeit vielleicht noch gewonnen – und zwar als immer auch ethisches Postulat. Dazu gehört vor allem eine Forderung des Gedenkens (70 Jahre ‚nach Auschwitz‘ aktuell wie zuvor), auch wo erfahrungsbasierte Erinnerungsbilder nicht mehr oder nur noch spärlich verfügbar sind. Das Postulat des Gedenkens betrifft aber nicht allein die Opfer totalitärer Gewalt. Auch der ‚ganz normale‘ Tod fordert – so eine in literarischen, philosophischen und künstlerischen Kontexten gerade in jüngerer Zeit nachdrücklich vermittelte Einsicht – dem Überlebenden etwas ab, freilich wiederum auf eine grenzwertige, mangels Einlösbarkeit paradoxale Weise. Dass man sich angesichts paradoxaler Vermittlungspostulate auf die Engel besinnt, ist – nach allem, was wir über Engel wissen – keine Überraschung. So etwa spricht Giorgio Agamben in „Der Tag des Gerichts“ über den „Engel der Photographie“ und über den von Photos suggerierten „Anspruch“ der Photographierten an den Betrachter auf Gedenken – wiederum im bewussten Rekurs auf ein Sinn-Bild, eine Metapher, wenn man so will.35 Die innere Paradoxie von Vermittlungen deutet sich dabei in der Rede vom photographischen Bild als dem „Ort eines Abstands, eines sublimen Risses zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und dem Intelligiblen, zwischen der Kopie und der Wirklichkeit, zwischen Erinnerung und Hoffnung“36 an: Die Fotografie erhebt den Anspruch, daß man sich an all das erinnert, die Fotos zeugen von all diesen Namen, genau wie das Buch des Lebens, das der neue apokalyptische Engel – der Engel der Fotografie – in der Hand hält – am Ende der Tage, das heißt eines jeden Tages.37
Das Denkbild des Engels, der Körperlichkeit und Präsenz simuliert, wird anlässlich der Photographie zum Gleichnis für eine Kunst und Literatur, die den
35 Giorgio Agamben: Profanierungen, übers. von Marianne Schneider, Frankfurt a. M. 2005, hier: „Der Tag des Gerichts“, S. 18ff. Ausgangspunkt der Reflexionen Agambens ist die Frage, was ihn an manchen Photographien fasziniere: „Die Fotografie ist für mich gewissermaßen der Ort des Jüngsten Gerichts, sie stellt die Welt so dar, wie sie am letzten Tag, am Tag des Zorns erscheint“ (ebd., S. 18). 36 Ebd., S. 21. 37 Ebd., S. 22.
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Anspruch auf ‚gelungene‘ Vermittlung gerade nicht erhebt, sondern in ihrer Eigenschaft als ‚Körpersimulant‘ (die Formulierung erscheint für Photos in mehr als einer Hinsicht treffend) die Kontingenz und Flüchtigkeit der eigenen Erscheinung gleich mitthematisiert – nicht ohne zugleich das paradoxale Postulat des Darstellens und das daran geknüpfte Postulat des Gedenkens in ihrer ganzen ethischen Gewichtigkeit bewusst zu machen. Im Bildrepertoire des Installationskünstlers Christian Boltanski findet sich eine erhebliche Zahl von Figuren, die an geläufige Erscheinungsbilder des Engels erinnern.38 Teilweise werden die Wesen von der „Schattenseite“ (erinnert sei an eine Bedeutungsdimension des hebräischen Wortes „mal’ach“) als Schattenwesen visualisiert. Zudem wählt Boltanski gern Sakralräume und an religiöse Kulte erinnernde Arrangements für seine Installationen. In solchen Arbeiten geht es um eine Inszenierung der Paradoxien des Nichtdarstellbaren; Boltanskis Bilder, Bildfolgen und Installationen sind paradoxe Boten und Mittler. Denn ihr Verweisungsgestus gilt einem Nicht-Vermittelbaren. Bilder von Toten, wie sie zum Gegenstand wichtiger Installationen geworden sind, vermitteln keine Erinnerungen an die Dargestellten und kein Wissen über sie; dazu trägt die Anonymität der Photoporträts bei, und sie wird durch die vielfache Verwendung unscharfer Bilder noch unterstrichen. Der Gestus des Repräsentierens und Vermittelns wird zitiert, aber die Botschaft bleibt defizitär. Das Konzept einer paradoxalen, zugleich versuchten und als scheiternd reflektierten Vermittlung wird dabei vor allem anlässlich von Bildern sinnfällig gemacht, die mit dem Themenfeld des Holocaust metonymisch verbunden sind; mit solchen Arbeiten knüpft Boltanski an eine Kunst, Literatur und Ästhetik an, die das Darstellungsparadox bezogen auf spezifische historische Erfahrungen (insbesondere die Lager und den Genozid) reflektiert. Andere Arbeiten jedoch gelten Toten, die ein alltägliches Leben gelebt und auf alltägliche Weise gestorben sind, deren Identität und deren Lebensgeschichte sich aber ebenfalls der Darstellung entzieht. Hier zielt die paradoxe Botschaft der Bilder und Bildinstallationen allgemeiner und grundlegender auf die Flüchtigkeit des eigenen Gegenstandes. Für beide Sorten von Arbeiten gilt: Die unscharfen Photos nicht (mehr) identifizierbarer Gestalten wirken wie hilflose Boten, die ihrem eigenen Auftrag nicht gerecht zu werden und das Bedürfnis des Betrachters nach Vermittlung nicht zu erfüllen vermögen – die damit
38 Zum Werk Boltanskis vgl. u. a.: Christian Boltanski: Advent and Other Times. Beiträge von: Gloria Moure, Christian Boltanski, José Jiménez, Jean Clair, Santiago de Compostela 1996; Ralf Beil (Hg.): Boltanski. Zeit. Ausstellungskatalog. Institut Mathildenhöhe, Darmstadt 2006, hierin u. a. Aleida Assmann: „Die Furie des Verschwindens. Christian Boltanskis Archive des Vergessens“, S. 89ff. – Auf Boltanski bezieht sich auch Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen, München/Wien 2006.
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aber die immanente Paradoxie des Boten als solche sinnfällig machen und so ihre Mittlerrolle gleichsam auf einem reflexiven Umweg erfüllen.39 Boltanskis paradoxe Bild-‚Engel‘ treten fast immer in Serien auf – in „Listen“Form, um den Sprachgebrauch Ecos zu übernehmen, der in seinem Listen-Buch auch eine Installation Boltanskis zeigt, übrigens unmittelbar nach der photographischen Darstellung einer jüdischen Gedenkstätte für Holocaust-Opfer.40 Auch im Œuvre Boltanskis wird der Eindruck einer paradoxalen, hinsichtlich ihres Vermittlungsanspruchs letztlich scheiternden Darstellung also durch die Struktur der Ansammlung unterstützt; Engel und „Liste“ treten wiederum in ein Bündnis, das der selbst-kritischen Auseinandersetzung mit Darstellungsmitteln gilt. Eine Beziehung zu ethischen Fragen haben diese Installationen nicht nur – wenn auch in besonders evidenter Weise –, wenn das Thema Holocaust berührt wird. Letztlich sind es jene grundsätzlichen Ansprüche der Toten auf Erinnerung, wie sie Agamben thematisiert, die hier zugleich in Erinnerung gerufen und hinsichtlich ihrer Einlösbarkeit dementiert werden.
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Wolken-Listen – ein Ausblick
Ein weiteres mit dem „Himmel“ (nicht nur mit ‚sky‘, sondern auch mit ‚heaven‘) metonymisch verknüpftes Motiv, an dessen literarischer und künstlerischer Behandlung sich die Paradoxien von Repräsentation sinnfällig machen lassen, ist neben dem des Engels das der Wolke. Diesem seien abschließend nur knappe Hinweise gewidmet, da die Beziehung zwischen Wolkendarstellungen und ethischen Aspekten weniger nahe zu liegen scheint; in religiösen Kontexten haben Engel oft eine moralisch-ethische Funktion, Wolken eher nicht. Betrachtet man das Wolkenmotiv allerdings im Horizont seiner religiösen Semantisierungen, so ergeben sich deutliche Parallelen zu dem des Engels: Sind Engel die „Schattenseite“ des Herrn, so ist die Wolke die Verhüllung, in der dieser sich zugleich zeigt und nicht zeigt. Verbindet sich mit geläufigen Engelsvorstellungen oft die Vorstellung des schnellen Vorüberflugs und der Ungreifbarkeit, so sind Wolken das Flüchtige und Ungreifbare schlechthin. Wolken-Bilder sind als Fixierungen des Flüchtigen gleichsam per se paradoxe Bilder. Was sie darstellen, ‚gibt‘ es nicht; im Moment des Dargestelltwerdens ändert es seine Gestalt ja schon wieder.41 39 Wichtige Erscheinungsformen von Boltanski-„Engeln“ sind neben Porträtphotos auch abgelegte Kleider, aufgehängte und aufgehäufte Relikte eines als absent zu denkenden Lebens. 40 Zu Boltanski vgl. Eco: Die unendliche Liste, S. 114f.: Abbildung von „Les archives de C. B. 1965–1988“. Die Ähnlichkeit der Installation Boltanskis mit der Yad Vashem-Gedenkstätte (vgl. ebd., S. 112) ist evident. 41 Vgl. dazu Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Wolken. Archiv für Mediengeschichte 5, Weimar 2005, S. 74f.
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Ansammlungen von Wolken-Bildern, Wolken-„Listen“ im Sinne Ecos, stehen im Zeichen einer mehrfachen Paradoxie: erstens (wiederum) als Fixierungen und bildliche ‚Materialisierungen‘ des Flüchtigen, Ungreifbaren, zweitens als Differenzierungen zwischen Übergänglichem (wo zwei oder mehr Wolken-Bilder sind, wird differenziert!) – sowie drittens teilweise durch Ansätze zur begrifflichen Klassifikation des an sich Unklassifizierbaren.42 Auch im Fall ästhetischer Wolkendarstellungen kommt die „Listen“-Form respektive die Form der Ansammlung und des Katalogs dem entgegen, was der Gegenstand als solcher suggeriert: Ungreifbarkeit, Nichtrepräsentierbarkeit. Auch Wolken lassen sich im Übrigen als ‚Körpersimulanten‘ beschreiben: Scheinen sie dem Betrachter nicht oftmals eine Stofflichkeit zu suggerieren, die sie gar nicht haben, scheinen sie nicht sogar konkreten Körpern (von Tieren, Menschen, Dingen) gleichzusehen? In der älteren Malerei geht es mit gemalten Wolken vielfach durchaus darum, Transzendentes zu signifizieren – und zwar indirekt, via negationis, durch Verdeckung und Verhüllung. Und selbst im Fall von malerischen oder photographischen Wolkendarstellungen, die demgegenüber nur an der Immanenz interessiert sind, also an Wolken als meteorologischen Phänomenen, geht es gleichwohl immer auch um die Visualisierung von an sich ‚Unsichtbarem‘: von Kräften, von ‚Strömungen‘, von ‚Spannungen‘ etc. Auch bezogen auf Naturkräfte, auf an sich unsichtbare Spannungen und Ströme erscheint das Bild als reduktiv und defizitär (und daran ändert auch die Technik der ‚bewegten Bilder‘ nichts). Ästhetische oder als ästhetisch rezipierte Wolkendarstellungen setzen sich mit der Paradoxie des Unternehmens ‚Wolkendarstellung‘ auseinander – als Grenzfälle von Repräsentation an der Grenze zur Nicht-Repräsentation.43 Dass auch in künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Motiv der Wolke die Form der „Liste“ dazu beiträgt, die implizite Paradoxie von Repräsentation noch deutlicher sinnfällig zu machen, illustrieren künstlerische Wolkenbild-Sequenzen, wie sie sich etwa in Gerhard Richters Atlas finden. Richters Atlas ist nicht nur ein „Wolken-Atlas“, aber er enthält eine Fülle von Wolkenbild-Serien – die für sich und in Verbindung mit den anderen Bildfolgen den paradoxalen Versuch visualisieren, das Flüchtige bildlich zu repräsentieren: die Flüchtigkeit von Himmelserscheinungen, die Flüchtigkeit von lebendigen Erscheinungen, die Flüchtigkeit menschlicher Tätigkeiten und Produkte, die Flüchtigkeit des Menschen selbst.44 Allein der Umstand, dass sich Wolken-„Listen“ (im Sinne Ecos) 42 Vgl. dazu Joseph Vogl in Engell/Siegert/Vogl: Wolken, S. 72. 43 Vgl. ebd., S. 6: „In wechselnden historischen Konstellationen situiert sich die Wolke als ausgeschlossene Ausnahme der Repräsentation, als Zeichen fürs Unsichtbare, als ultimatives Darstellungsobjekt.“ 44 Gerhard Richter: Atlas, hg. von Helmut Friedel. Köln 2006, 22011. – Insgesamt ist der Atlas Richters im Sinne Ecos übrigens eine Liste von Listen. Die zahlreichen Photos sind hier nach Gruppen von Gegenständen sortiert und entsprechend gruppenweise betitelt.
Literarische Engel und ihre Funktionen
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neben Serien von Darstellungen menschlicher Figuren und Lebensräume, neben Serien mit Aufnahmen sozialer Situationen und Interaktionen zeigen, lässt den Atlas Richters insgesamt zu einer „Liste“ werden, die uns die Vergleichbarkeit, ja eine oft übersehene Analogie zwischen den verschiedenen photographierten Sujets suggeriert: eben ihre Zeitlichkeit, ihre Flüchtigkeit – und ihr Appell an den Betrachter, sie als Botschaften zu interpretieren. Auf insgesamt ephemere, sich temporär verkörpernde oder auch nur konturierende Gebilde verweisend, thematisiert der Atlas mit seinen (vielfach unscharfen) Bildern ein breites Spektrum jener Erscheinungen, auf die sich Serres in seiner Angelologie bezieht. Als Ansammlung solch photographierter Boten, Simulanten und Repräsentanten steht er im Zeichen metaisierender Reflexion über Darstellung, ihre Notwendigkeit, ihre Grenzen, ihre Grenzüberschreitungen – und deren Appellcharakter.
Literatur Giorgio Agamben: Profanierungen, übers. von Marianne Schneider, Frankfurt a. M. 2005. Umberto Eco: Die unendliche Liste, übers. von Barbara Kleiner, München 2009. Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Wolken. Archiv für Mediengeschichte 5, Weimar 2005. Heinz-Georg Held: Engel. Geschichte eines Bildmotivs, Köln 1995. Kurt Röttgers: Teufel und Engel, Bielefeld 2005. Raoul Schrott/Arnold Mario Dall’O: Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Ein Brevier, Frankfurt a. M. 2006. Michel Serres: La Légende des Anges, Paris 1999.
Thomas Steppan
Der Himmel auf Erden. Byzantinische Kosmologie auf luxuriösen Prachtböden
Böden und Kosmologie – welch seltsame Begriffspaarung. Doch in byzantinischer Zeit waren die kostbaren, kunstvoll gestalteten Prachtböden Bedeutungsträger, die durchaus Konnotationen zu himmlischer und irdischer Macht und den darin eingebetteten Vorstellungen zur Kosmologie zu erzeugen vermochten. Doch dies zu behaupten, bedarf angesichts der großteils abstrakten Gestaltungsprinzipien einer grundlegenden und stichhaltigen Argumentation. Die Werke, die wir behandeln, sind in opus sectile gefertigt.1 Darunter versteht man eine Technik, bei der im Gegensatz zum klassischen Mosaik – dem opus tesselatum – nicht einheitlich groß standardisierte, würfelige Stifte, sondern in verschiedene Formen und Formate gesägte bzw. geschnittene, glatt polierte Platten aus Stein nach einem meist ornamentalen, manchmal aber auch figürliche Darstellungen enthaltenden Entwurf, möglichst fugenlos zu einem polychromen Flächenbelag zusammengesetzt sind.2 Bisweilen trifft man auch auf die Bezeichnung opus alexandrinum, wegen des in Alexandria vermuteten Ursprungs 1 Der Begriff basiert auf antiken Quellen zur Architektur. Sectilia pavimenta erstmals im 1. Jh. v. Chr. bei Vitruv (Vitruvii De architectura libri decem. Lateinisch und deutsch. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, 7.1.3,4) genannt, dann bei Sueton (Divus Iulius, Übersetzung Lateinisch-Englisch: http://penelope.uchicago.edu/ Thayer/L/Roman/Texts/Suetonius/12Caesars/Julius*.html, Div. Iul. 46 [2. Jh. n. Chr.]). Dagegen wurden Wandbeläge erst im 5. Jh. von Sidonius Apollinaris (Sidonius Apollinaris: Carmen 22: Burgus Pontii Leontii. Einleitung, Text und Kommentar von Norbert Delhey (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 40), Berlin 1993, 22.146) als sectilibus paries tabulis crustatus beschrieben. Plinius d. Ä. spricht von Inkrustationen als zu Bildern von Tieren und Objekten gestaltete Malereien in Stein (C. Plinius Secundus d. Ä.: Naturalis historia (Naturkunde), lateinisch-deutsch, hrsg. und übersetzt von R. König, Darmstadt 1973–2004 (32 Bände), 35.2–3) und auch Seneca vermittelt die Vorstellung von steinernen Einlegearbeiten (Seneca: Epistulae morales ad Lucilium (Briefe an Lucilius), lateinisch-deutsch, Sammlung Tusculum, Bd. 2, ed. R. Nickel, Düsseldorf 2009, Ep. 86.6). 2 Zur Technik siehe A. Meyer: „Mosaik“, in: A. Knoepfli/O. Emmenegger/M. Koller/A. Meyer: Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken, Bd. 2., Stuttgart 1990, S. 443ff.; H. Blümner: Technologie und Terminologie der Gewerbe und Künste bei Griechen und Römern, Bd. 3, Leipzig 1884, S. 399–498, hier S. 339ff.
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dieser Technik und seiner Rolle als eines ihrer bedeutendsten Produktionszentren der Spätantike. Aus den für opus sectile verwendeten Crustae3 wurde der Begriff „Inkrustationen“ abgeleitet. Weiters wird in der dürftigen Literatur die Technik des mit Einlagen versehenen Flachreliefs zumeist als Champlevé bezeichnet, wobei die ausgenommenen Hintergründe der Flachreliefs entweder durch passgenau zugeschnittene Steininlays oder durch eingefärbte Pasten aus Harz und Kalk aufgefüllt wurden. Opus sectile-Pavimente werden wegen ihrer hoch- und spätmittelalterlichen Verbreitung in Italien auch gerne als KosmatenBöden nach der Steinmetzendynastie der Cosmati bezeichnet.4 Dem opus sectile kam in der durch die konstruktiven und ästhetischen Rahmenbedingungen der Architektur festgelegten Gestalt eines Baus die wichtige Funktion der formalen und farblichen Erscheinung der Räume in meistens ornamental-dekorativen bzw. geometrischen und seltener auch figürlichen Bildern zu. Hauptsächlicher Gegensatz zu Wand- oder Fußbodenmosaiken ist das unterschiedliche Größenverhältnis des verwendeten Materials. Sind Mosaiken in ihrer Kleinteiligkeit darauf ausgelegt, aus einer bestimmten Entfernung betrachtet nicht mehr in ihren einzelnen Bestandteilen, sondern zu einem Bild verschmolzen wahrgenommen zu werden, oft mit illusionistischer Wirkung, zielt das opus sectile darauf ab, seine kostbare materielle Beschaffenheit auch im Einzelnen zu demonstrieren und stets die Fläche zu betonen. Dass bei Böden die aufgelöste Fläche auf den Betrachter eine beunruhigende Wirkung ausüben kann, mag mit ein Grund für die Vorliebe flächenbetonender Motivik gewesen sein. Mit opus sectile ausgestattete Räume verfügen über eine ausgeprägte Faszinationskraft, was sich an ihrem Auftreten in elitären Milieus ermessen lässt. Beeindruckt äußern sich auch die seit der Antike in Quellen überlieferten zeitgenössischen Betrachtungen, die bisweilen als enthusiastische Beschreibungen mit poesievollen Vergleichen aufwarten. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen. Die Bewunderung liegt einerseits an der edlen Beschaffenheit des Materials, das sich in vieler Hinsicht auszeichnet: durch seine Härte, die sich in der schwierigen Gewinnung äußert; durch sein Alter und seine Haltbarkeit, womit sinnbildhaft die Vorstellung von Zeitlosem korreliert; durch seine breite Farbenpalette und vielgestaltige Textur, mit denen das Wissen um unterschiedliche Provenienz samt ihren historischen Ansprüchen einhergeht, und denen – im Zusammenwirken mit der kristallinen Struktur und den leuchtenden, bisweilen oszillierenden Effekten wie Glanz und Schimmer – ästhetische Wahr3 Eigentlich „Rinden“, schon bei Vitruv die geläufige Bezeichnung für Wand- und Bodenapplikationen aus Stein oder Stuck (siehe Anm. 1). 4 Zum opus sectile in der byzantinischen Kunst – sei es in Pavimenten oder Wandinkrustationen – siehe Th. Steppan: „opus sectile“, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. VII, Stuttgart 2012/13, S. 423–528, hier S. 423ff.
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nehmungen der zu steinernen Bildern geronnenen, zeitlosen Schönheit und Lebendigkeit einer nach damaligen Vorstellungen im Schöpfungskosmos entworfenen Natur abgewonnen wurden. Sie schlugen sich in politischen und religiösen Bedeutungsebenen nieder. Andererseits wusste man, dass es für die Herstellung repräsentativer Ensembles einer anspruchsvollen künstlerischen Planung und präzisen, handwerklich aufwendigen Ausführung bedurfte. Die Werke beeindruckten durch ausgeklügelte formal- und farbästhetische Kompositionen, die sich zu komplexen, meist abstrakten, aber dennoch symbolträchtigen Bildern verdichten konnten. Die Summe der genannten Merkmale bestimmte den kostspieligen Charakter des opus sectile und seine Exklusivität für Ausstattungen privilegierter Ambienten, was die Bewunderung noch steigerte. Die Gestaltungsmöglichkeiten reichen von einfachen bis hin zu komplexen geometrischen Ensembles aus Platten unterschiedlichster Formen und Größen. Dabei wird häufig das Prinzip von rahmenden und gerahmten Komponenten befolgt, das den Einsatz emblematischer Partien fördert. Bei vielgestaltigen Arrangements verfügen die großflächigen Paneele in der Regel über rechteckige, quadratische oder kreisrunde Silhouetten, deren Formen die Rahmenplatten folgen. Einfassungen sowie zu füllende Restflächen sind jedoch häufig aus kleinteiligem Dekor zusammengesetzt. Den geometrischen Systemen mit zuweilen leitmotivischen Wiederholungen geht die Vorliebe für symmetrische Verläufe einher. Bei komplexen Pavimenten wurde nicht nur in den meisten Fällen die Architektur in der Komposition berücksichtigt bzw. nachvollzogen, sondern auch ihre Bespielung durch die Motive prononciert. Schließlich kam es in einigen Fällen zum Einsatz vegetabiler, zoo- und anthropomorph-figürlicher Kompositionen, die in der Regel als Stein-in-Stein-Intarsien ausgeführt wurden. Bereits unter den Römern erfreute sich das opus sectile größter Beliebtheit.5 Ihr Faible für das luxuriöse Material und seine anspruchsvolle Verarbeitung schlug sich in prachtvollen Pavimenten und Wandverkleidungen nieder. An den Wänden konkurrierten sie mit Malereien, als Bodenbeläge mit opus siginum, vor allem aber mit opus tesselatum. Doch galt opus sectile als die vornehmste Art der Raumdekoration. Seit augustäischer Zeit treten vermehrt den gesamten Boden des Raumes bedeckende Dekorationen auf. Im Laufe der Entwicklung wurden die Motive solcher Musterteppiche immer komplexer und nicht mehr nur im kontinuierlichen Verlauf, sondern auch auf einen zentralen Fokus hin organi5 M. E. Blake: The Pavements of the Roman Buildings of the Republic and Early Empire (Memoirs of the American Academy in Rome VIII), Rom 1930, S. 7ff., T. 1–50; M. Donderer: „Die antiken Pavimenten-Typen und ihre Benennungen“, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 102 (1987), S. 365–377, hier S. 365ff.; F. Guidobaldi: Sectilia pavimenta di Villa Adriana (Mosaici antichi in Italia, Studi Monografici), Rom 1994; K. Dunbabin: Mosaics of the Greek and Roman World, Cambridge 1999, S. 254ff.
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siert. Damals setzte auch der Trend zur Verwendung bei Repräsentationsbauten ein. Die Pavimente bestechen durch raffinierte, besonders farbenprächtige Muster komplexer kurvilinearer Entwürfe, die meistens um größere Scheiben angeordnet sind. Als Teil der prunkvollen Inszenierung von Repräsentationsbauten wurden seit dieser Zeit opulente Marmor-, Porphyr- und Granitplatten stattlichen Ausmaßes einbezogen, die den elitären Anspruch des herrschaftlichen Milieus unterstrichen. Die elegant schlichten Kompositionen trugen mit ihrer Ausgewogenheit und der erlesenen Kostbarkeit des Materials erheblich zur monumentalen Grandeur der Räume bei. So wird der Boden des Pantheon (Abb. 1) von einem System im Rapport alternierender Reihen aus großen Porphyr- und Granitscheiben und quadratischen Platten aus Pavonazzetto beherrscht, die von farblich kontrastierenden Rahmenplatten umgeben sind.6
Abb. 1: Rom, Pantheon, ½ 2. Jh., Grundriss mit Bodenbelag (erfasst von Babuty Desgodetz 1682)
Zahlreiche der frühchristlichen Repräsentationsbauten des ost- und weströmischen Reiches übernahmen die zu den charakteristischen Elementen der spätantiken Architekturausstattung zählenden Inkrustationsmethoden. Dem mit ihrer luxuriösen Pracht einhergehenden Ausdruck von Würde und Macht gesellten sich christliche Konnotationen hinzu. Biblische Vorstellungen von der aus kostbaren Steinen errichteten Himmelsstadt trugen das Ihre dazu bei, der antiken Tradition eine christliche Bedeutung zu verleihen, wodurch nicht nur die 6 K. de Fine Licht: The Rotunda in Rome. A Study of Hadrians Pantheon, Kopenhagen 1966, S. 100ff. und Abb. 111.
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architektonische Form, sondern auch die materielle Beschaffenheit des sakralen Raums als Abbild des himmlischen Herrschaftssitzes betrachtet wurde. Die Ordnung des Schmucks strukturierte die Böden und Wände, während die Formen, Ornamente und Figuren sie belebten und die glatten Oberflächen der kristallinen Materialien im eingefangenen Licht den kostbar farbigen, schimmernden und glänzenden Eindruck erzeugten, um sie gleichsam wieder zu entmaterialisieren und die den Raum bestimmenden Grenze aufzulösen. Außer Zweifel steht, dass in Byzanz Bodenbeläge und Wandverkleidungen aus Marmor während des gesamten Bestehens des Reiches für prunkvolle Raumausstattungen hoch im Kurs standen und seit dem 6. Jahrhundert auch die Fußbodenmosaiken erfolgreich verdrängten. Damit einhergehend setzte sich auch die Technik des opus sectile mehr und mehr durch. Ein Argument für den Siegeszug der Plattenbeläge dürfte sein, dass mit dem Ausklang der Spätantike die illusionistische Wirkung der Bilder zusehends an Faszination einbüßte und speziell für Fußböden der Eindruck einer soliden Standfläche der räumlichen Tiefenwirkung vorgezogen wurde. Hinzu kommt, dass figürliche Themen der christlichen Ikonographie nicht geeignet erschienen, um auf ihnen herumzutreten, während das pagan mythologische oder profane Repertoire der Antike immer mehr an Bedeutung, wenn nicht an Berechtigung verlor. So wurde der Boden – vor allem der in einem Kirchenraum – vermehrt zum Gegenstand symbolischer Formeln, sei es in zoomorphen, vegetabil-ornamentalen, vor allem aber abstrakt-geometrischen Bildern oder einer Kombination aus ihnen, wofür Plattenarrangements bzw. Plattenmosaiken sehr geeignet waren. Schwer wiegt, dass in Byzanz zusehends gewölbetragende Zentralbauten bevorzugt wurden. Für ihre innerräumliche Erscheinung ergab sich eine völlig andere Situation als bei den traditionellen Basiliken, die mit ihren offenen Dachstühlen oder Flachdecken das Programm autonomer und szenischer Bilder nur an den senkrechten Wänden entwickeln konnten, wodurch den Böden in der längsaxialen und damit horizontalen Ausrichtung des Raumes mehr Aufmerksamkeit zur Wahrnehmung von Bildern geschenkt werden konnte. Hingegen fordert die Kuppelbauten eigene Primärorientierung nach oben eine darauf abgestimmte Ordnung, in der erzählende Bildfolgen, wie sie bei Fußbodenmosaiken auftreten, irreführend wären. Hinzu kommt, dass sich seit dem 7./8. Jahrhundert der Trend zu innerräumlich komplexen, jedoch ausgewogen organisierten Bauten in kleinem Maßstab durchsetzte. Die preziosen Schreinen gleichenden Kreuzkuppelkirchen erhielten ein ganzheitlich komponiertes, ikonologisch mit der Architektur übereingestimmtes Ausstattungskonzept, in dem ein reiches figürliches Fußbodenmosaik nur als störend und mit den Wandmosaiken unnötig konkurrierend empfunden worden wäre. Neben den kulturgeschichtlichen Gründen, die für das Weiterführen der ästhetischen, prestigeorientierten Traditionen des Römischen Reiches verant-
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wortlich waren, lag es vor allem an den wirtschaftlichen Umständen, dass in Konstantinopel die größte Blüte der Marmor- bzw. Steinplattenverarbeitung spross, da man stets aus dem Vollen schöpfen konnte.7 Bei der Beschäftigung mit den Hauptwerken der opus sectile-Böden des Byzantinischen Reiches muss der Boden der Hagia Sophia in Konstantinopel an erster Stelle stehen. Für den Naosboden, der in weiten Teilen noch dem ursprünglichen Zustand der justinianischen Erbauungszeit entspricht, kamen großformatige Plattenverbände aus prokonnesischem Marmor zum Einsatz, die durch vier Verde Antico-Streifen das Areal der Quere nach in fünf Abschnitte unterteilen (Abb. 2). Inwieweit antike und darauf beruhende christliche kosmologische Vorstellungen – die für das Verständnis der baulichen Gestalt mit seinen ästhetischen und mathematischen Strukturen unverzichtbar sind – auch die Gestalt des Fußbodens mitbestimmten und den assoziierten Bildcharakter prägten, ist bisher noch nicht näher untersucht worden. Wir sollten uns daher mit den zeitgenössischen Texten befassen, die sich dazu äußern. Es sind dies rhetorisch kunstvolle Beschreibungen, die Aufschluss geben über die hohe Wertschätzung sowie über ein bildhaftes Verständnis der marmornen Boden- und Wandbeläge. Bei Prokop von Kaisareia und Paulus Silentiarius wird neben der Beschreibung des Materials und seiner Vielfärbigkeit auch seine unterschiedliche Herkunft als Anspielung auf die Oikumene des Reichs hervorgehoben. Prokop sieht weiters darin die wie von einem Maler in bunten Farben wiedergegebene, erstrahlende Natur und vergleicht sie mit einer Blumenwiese.8 Auch Silentiarios verwendet den Topos eines wie mit einem Pinsel gemalten Werks und verweist auf die Ähnlichkeit der farbigen Marmore mit blühenden Wiesen.9 Die Schilderungen untermauern das im 6. Jahrhundert herrschende Verständnis spätantiker Traditionen, wenn sie den klassischen Topos des Vergleichs mit den Blumenwiesen anstellen. Erst in späterer Zeit kamen spezifisch christliche Interpretationen hinzu, sei es in der Diegesis, einer legendarischen Erzäh-
7 J.-P. Sodini: „Marble and Stoneworking in Byzantium, Seventh–Fifteenth Centuries“, in: A. Laiou (Hrsg.): The Economic History of Byzantium: From the Seventh to the Fifteenth Century (= Dumbarton Oaks Studies 39), Washington D. C. 2002, S. 129ff.; Ders.: „Le goût du marbre, Études balkaniques“, in: Cahiers Pierre Belon 1 (1994), S. 179–201, hier S. 179ff. Das Plattenmaterial wurde nicht nur aus den diversen Steinbrüchen angeliefert, sondern gerade bei raren Sorten aus Spolien geschnitten oder bei schon verwendeten Platten im Ganzen wiederverwertet. Siehe G. Goodwin: „The Reuse of Marble in the Eastern Mediterranean in Medieval Times“, in: The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland 1 (1977), S. 17– 30; Zu byzantinischen Quellen über Marmor s. C. Mango: The Art of the Byzantine Empire 312– 1453. Sources and Documents, Englewood Cliffs N. J. 1972, S. 270, General Index: „Marble“. 8 Prokop: Bauten (= Prokop: Peri ktismaton), ediert und übersetzt von O. Veh, Darmstadt 1977, S. 30f. 9 Ekphrasis tou naou tes Agias Sophias, S. 605ff., S. 617ff., S. 647ff., S. 658ff., in: Prokop: Bauten (op. cit. Anm. 8) S. 336ff.
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Abb. 2: Istanbul, Hagia Sophia, 532—562, Grundriss mit Plattenboden (nach Van Nice) und graphisch hervorgehobenen Verde Antico-Streifen
lung zum Bau der Hagia Sophia von 995,10 in der die Verde Antico-Streifen als eine von Justinian initiierte Darstellung der vier Paradiesesflüsse proklamiert werden, während wenig später im selben Text ein weiterer, im Zuge der Erneuerungen nach dem Erdbeben von 558 entstandener Naosboden aus prokonnesischem Marmor erwähnt wird, der die Erde symbolisiere, während die grünen Marmorplatten die in das Meer strömenden Flüsse darstellten.11 Im 12. Jahrhundert vergleicht schließlich Michael Rhetor den Boden in seiner Weite und Gestalt mit dem Meer.12 Wichtig sind weiters die Beschreibungen des Großen Kaiserpalastes von Konstantinopel. So bemerkt Konstantin Manasses Compendium chronicum zu dem unter Justinian II. 685–95 ausgestatteten Justinianos bzw. Triklinos,13 dass 10 Diegesis der Hagia Sophia von 995, ed. Th. Preger, Scriptores originum constantinopitanarum, Bd. I, Leipzig 1901, S. 102f. 11 Ebd. S. 107f. 12 Zeilen S. 175ff., siehe C. Mango/J. Parker: „A Twelfth-Century Description of St. Sophia“, in: Dumbarton Oaks Papers 14 (1960), S. 233–245, hier S. 239. 243. 13 Compendium chronicum, Z. 3870f, ed. I. Bekker, Bonn 1837, S. 166. Weitere Details über das Paviment des Justinianos liefert das im 10. Jh. verfasste Zeremonienbuch Konstantins VII. (Konstantin VII. Porphyrogennetos: De ceremoniis, 1. 11, 1. 64, 2. 2: ed. A. Vogt: Le livre des cérémonies (2 Bde.), Paris 1935–39, I, 78. S. 20f., II, 96. 3; PG, Sp. 984B–985 A). Zu den Böden des Kaiserpalastes siehe auch H. Maguire, „The Medieval Floors of the Great Palace“, in: N.
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dessen omphalia (kreisförmige Plattenkompositionen) als Standorte der kaiserlichen Inszenierung für die dort stattgefundenen Empfangszeremonien dienten. Theophanes Continuatus Chronographia enthält zahlreiche Beschreibungen von Gebäuden im Kaiserpalast, wobei er ihren marmornen Boden- und Wandausstattungen auffällig viel Aufmerksamkeit widmet. Bei einigen der unter Kaiser Theophilos zwischen 829 und 842 errichteten Bauten legt Theophanes sein Augenmerk auf die verwendeten Marmorsorten sowie bei den Böden des sog. Margarites-Saales und des Mousikos auf ihre Ausführung in opus sectile.14 Des Weiteren erwähnt er in der Vita Kaiser Basileios I. (867–886) den Boden des Kainourgion.15 Wie schon bei den Beschreibungen des Fußbodens der Hagia Sophia begegnet auch hier die Vorstellung von den vier Flüssen. Die Beschreibung Kaiser Leons VI. (886–912) zu einer von Stylianos Zaoutzas errichteten Kirche hebt wiederum hervor, dass der kunstvoll gestaltete Plattenboden Teile aus Porphyr wie Flüsse umfasst, die wiederum von Kompositionen umgeben waren, welche die verschiedenen Blumen der Erde nachahmten.16 Welch hohe Wertschätzung die edlen Pavimente genossen, lässt sich anhand einer Ekphrasis der unter Michael III. 864 im Palast renovierten Marienkirche vom Pharos in einem Homilientext des Patriarchen Photios ermessen.17 Er spricht von einem Fußboden, dessen Tiergestalten und anderen Motive von so großer Kunstfertigkeit seien, dass er sich nicht davor scheut, ihren Schöpfer mit Phidias, Parrhasius, Praxiteles und Zeuxis zu vergleichen. Sogar Demokrit hätte beim Anblick des Bodens meinen können, er stünde kurz vor der Entdeckung seiner Atome, so wundervoll sei dies alles. Der Großteil der heute erhaltenen byzantinischen Steinschnittböden stammt aus der Zeit des 9. bis 12. Jahrhunderts und befindet sich in sakralen Bauten. Als Bestandteil repräsentativer Raumausstattungen waren sie in Konstantinopel gang und gäbe, wurden jedoch auch außerhalb der Kapitale vorzugsweise in Kirchen bischöflicher Zentren und bedeutender Klöster verlegt. Sakralräume mit Steinschnittböden verfügen bzw. verfügten in der Regel an den Wänden über marmorne Inkrustationen der Sockelzone des Mauerwerks und wenn nicht eine
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Necipog˘lu (Hrsg.): Byzantine Constantinople. Monuments, Topography and Everyday Life, Leiden/Boston/Köln 2001, S. 153–174. Ed. I. Bekker, Bonn 1838, S. 140.18f., S. 143.22f., S. 144.4f., S. 145.3f., S. 145.11ff. und 21f., S. 146.2–9 und 18f., S. 147.19f.). Erstmals tritt dafür die Bezeichnung synkope auf (S. 144.4f., S. 145.11f.). Nach Theophanes erhielt der Mousikos sogar seinen Namen wegen der kunstvollen Zusammenstellung seiner Marmorausstattung. Vita Basilii 89, ed. I. Bekker, Bonn 1838, S. 333.1–10. Leon VI: „Sermon 34“, in: Akakaios (ed.): Leontos tou Sophou panegyrikoi logoi, Athen 1868, ebd. S. 275–277. Homilia 10. 5, ed. C. Mango: The Homilies of Photius Patriarch of Constantinople, Cambridge Mass. 1958, S. 187; s. auch R. J. H. Jenkins/C. Mango: „The Date and Significance of the Tenth Homily of Photius“, in: Dumbarton Oaks Papers 9–10 (1955–56) S. 133–144, hier S. 134f.
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musivische, dann zumindest eine malerische Gestaltung der darüber liegenden Register. Sie sind also Teil eines umfassenden Ausstattungskonzepts. Die Gestaltungsprinzipien der mittelbyzantinischen Böden sind komplex. Bei Pavimenten aus viereckigen Marmorplatten können diese einzeln oder als Verband von einem oder mehreren opus sectile-Streifen eingefasst sein, wobei die räumliche Struktur berücksichtigt und auf Ausgewogenheit und symmetrische Anordnungen Wert gelegt wurde. Meistens zeichnete man bestimmte Bereiche – vor allem das Naoszentrum – besonders aus, indem man farblich hervortretende Gesteinssorten oder besonders große Platten verwendete, oder die Bereiche durch symbolische Plattenarrangements konnotierte, etwa in Kreuzesform. Ausgehend von Konstantinopel wurden die Plattenverbände häufig von großformatigen, zumeist kreisrunden oder viereckigen Scheiben aus Porphyr, Serpentin oder anderen kontrastierenden Steinsorten durchsetzt und daraus geometrische, oft komplexe Muster an den zentralen bzw. neuralgischen Stellen der Räume angelegt, die das gesamte Erscheinungsbild dominieren. Dabei konnten einzelne oder mehrere solcher Hotspots in den Plattenverband eingebettet sein. Bei Zentralbauten liegen sie vor allem unterhalb der Kuppel zwischen den tragenden Pfeilern oder Säulen, bei Basiliken im Mittelschiff, weiters an den entlang der Längsachse befindlichen, für die liturgischen Zeremonien besonders wichtigen Stellen. Diese ins Auge stechenden Felder werden von einem oder mehreren farblich alternierenden Streifen gerahmt bzw. umschlungen, die entweder aus einheitlichen Steinschnittflächen oder aus kleinteilig gemustertem Plattenmosaik bestehen. Gerne wurden auch die Füllflächen zu den äußeren Rahmen hin mit kleingliedrigen Ornamentrapporten gestaltet. Ein wesentliches Augenmerk lag auf dem Kontrast zwischen den einheitlich großflächigen und den minutiös ornamentierten Bereichen. Dabei galt nicht nur der Grundsatz variatio delectat, auch die so erzeugten Intarsieneffekte waren gewollt und wurden später noch von in sich gravierten Platten zoo- und anthropomorpher Figuren bereichert (u. a. im Pantokratorkloster in Konstantinopel, s. u.). Traf man in den vorherigen Jahrhunderten häufig Variationen von sonnen- und sternförmig um eine Rundplatte gesetzten Mustern an, treten diese in mittelbyzantinischer Zeit mehr in den Hintergrund und verbleiben hauptsächlich im Rapport von aufwendigeren Rahmensystemen. Hingegen wurde das sogenannte Omphalion zum bedeutendsten Motiv, das in zahlreichen Spielarten verbreitet wurde. Es handelt sich dabei um eine zentrale, in der Regel aus Spoliensäulen geschnittene, runde Scheibe, zumeist aus Porphyr – man spricht dann von der rota porphyretica – oder anderen besonders kostbaren Gesteinssorten, die manchmal alleine in ein Quadrat eingeschrieben ist, weitaus häufiger jedoch mit weiteren vier sie in den Ecken umgebenden Scheiben, die für gewöhnlich durch rahmende, manchmal verknotete Bordüren miteinander verschlungen sind. Dieser sogenannte Quincunx wird in einer Quelle des 12. Jh. als πενταόμφαλον
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beschrieben.18 Der Boden im Mausoleum I der Euphemiakirche am Hippodrom in Konstantinopel vom 7. Jh. (Abb. 3) weist mit dem kontinuierlich verwendeten Muster auf die Herkunft dieses Motivs hin.19
Abb. 3: Istanbul, Euphemia-Kirche am Hippodrom, Mausoleum I, 7. Jh. (nach Angold)
Doch die meisten Böden zeigen das Sujet isoliert und hervortretend inszeniert, wobei es in der Regel entlang der Mittelachse des Baus positioniert ist. Ein frühes Beispiel des Pentaomphalon liegt in der Bema-Kirche der Kalenderhane Camii in Istanbul (Abb. 4). Im frühen 11. Jahrhundert tritt das Motiv u. a. im Katholikon der Megiste Laura am Athos nach dem Eingang in den Naos der Hauptkirche auf,20 oder gleich zweimal im Naos der Koimesis-Kirche in Nicaea.21 Ein im Bukoleon-Palast in Konstantinopel in Teilen erhaltener, vermutlich auf Veranlassung Kaiser Nikephoros Phokas (968–69) verlegter mittelbyzantinischer Boden belegt seine mehrfache isolierte Verwendung,22 und schließlich auch jener in der Südkirche des Pantokrator-Klosters in Konstantinopel (Abb. 15–16). 18 M. Angold: „Inventory of the so-called Palace of Botaneiates“, in: The Byzantine Aristocracy IX to XIII Centuries, BAR Intern. Ser. 221, Oxford 1984, S. 254–266. 19 U. Peschlow: „Zum byzantinischen opus sectile-Boden“, in: R. M. Boehmer / H. Hauptmann (Hrsg.): Beiträge zur Altertumskunde Kleinasiens. Festschrift für Kurt Bittel, Mainz 1983, S. 440, T. 90.1. Die Motivik geht auf nordsyrische Pavimente zurück (ebd. S. 438). Der das Pentaomphalosmotiv bereits enthaltende Entwurf, hier jedoch in einem fortlaufenden Rapport, begegnet erstmals in Antakya. 20 P. Mylonas: „Le plan initial du catholicon de la Grande-Lavra au Mont Athos et la genèse du type du catholicon athonite“, in: Cahiers archéologiques 32 (1984), S. 89–112, Abb. 5. 21 O. Wulff: Die Koimesiskirche in Nicäa und ihre Mosaiken nebst den verwandten kirchlichen Baudenkmälern, Straßburg 1903, T. VI; H. Kier: Der mittelalterliche Schmuckfußboden unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1970, Abb. 318. 22 N. Asgari: „I˙stanbul Temel Kazılarından Haberler – 1983“, in: Aras¸tırma Sonuçlan Toplantısı 2 (1984), S. 43–62, hier S. 46. 56f., fig. 13–15; S. Eyice: „I˙stanbul’da Bizans Imparatorlarının Sarayiı“, in: Sanat Tarihi Aras¸tırmaları Dergisi I/3 (1988), S. 31–53, hier S. 31, Abb. 51–53. Genauso jener im Mausoleum des Orhan Gazi in Bursa von ca. 1065: S. Eyice: „Two Mosaic
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Abb. 4: Istanbul, Kalenderhane Camii, sog. Bema-Kirche, 12. Jh. (nach Striker/Kuban)
Das berühmteste Beispiel eines erweiterten Omphalion aus insgesamt 16 in ein Quadrat eingeschriebenen Kreisen liegt im Naos der Hagia Sophia in Istanbul unter der Kuppel (Abb. 5). Es ist mit großer Sicherheit nicht in die Erbauungszeit sondern in mittelbyzantinische Zeit zu datieren.23 Die zentrale Scheibe besitzt einen Durchmesser von 3,15 Metern und war ursprünglich aus Porphyr, muss jedoch nach dem Kuppeleinsturz von 1346 ersetzt worden sein. Eine fundierte wissenschaftliche ikonologische Deutung dieses eigentümlicherweise relativ unregelmäßigen Feldes steht noch aus, doch der Umstand, dass hier nachweislich seit 1200 die byzantinischen Kaiserkrönungen erfolgten,24 wiegt schwer. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier um das Porphyroun omphalion handelt, Pavements from Bithynia“, Dumbarton Oaks Papers 17 (1963), S. 373–384, hier S. 374ff., fig. II; Y. Demiriz: Örgülü bizans dös¸eme mozaikleri, Istanbul 2002, S. 15ff. 23 E. M. Antoniades: Ekphrasis tes Hagias Sophias, II, Athen–Leipzig 1908, S. 38f.; E. Unger: „Das Weltbildmosaik der Sophienkirche in Konstantinopel“, in: Forschung und Fortschritte 11 (1935) S 445–447; A. M. Schneider: „Byzanz. Vorarbeiten zur Topographie und Archäologie der Stadt“, in: Istanbuler Forschungen 8 (1936) 34ff., Abb. 7; R. L. Van Nice, Saint Sophia in Istanbul: „An Architectural Survey“, Washington D.C. 1965, T. 10; Peschlow (op. cit. Anm. 19) S. 444; V. Hoffmann (Hrsg.): Die H. Sophia in Istanbul. Bilder aus sechs Jahrhunderten und Gaspare Fossatis Restaurierung der Jahre 1847 bis 1849, Bern 1999, S. 228, Nr. 75 (S. Schlüter); Demiriz (op. cit. Anm. 22) S. 34ff. 24 Antonij von Novgorod: „Pilgerbericht“, ed. Ch. Loparev, St. Peterburg 1899, S. 15; G. P. Majeska: Russian Travelers to Constantinople in the Fourteenth and Fifteenth Centuries, Washington D. C. 1984, S. 422f.
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das Konstantin VII. in seinem Zeremonienbuch erwähnt und das dem Kaiser als Standort vor den Bematüren während der Liturgie diente.25 Jedenfalls belegen die Quellen, dass auch in der Hagia Sophia in mittel- wie in spätbyzantinischer Zeit Omphalosmotive der zeremoniellen Herrscherinszenierung dienten.
Abb. 5: Istanbul, Hagia Sophia, Omphalion, ¾ des 9. Jh.s (nach Pedone)
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Motivmodifikationen, die mit den modularen Grundformen von Kreis und Quadrat variieren, etwa mit dem System der Quadrathalbierung mit einem Kreis im zentralen Quadrat und kleineren mit ihm verflochtenen Kreisen in den Quadratecken. Die vier Scheiben können aber auch kreuzförmig um die zentrale Rundplatte angelegt sein, wie u. a. im PantokratorKloster in Konstantinopel (s. u.). Quincunx und Kreuzesform wurden miteinander kombiniert, was in erweiterter Form auch beim Zentralmotiv im Naos des Katholikons des Athosklosters Iberon geschah (Abb. 7–9) 26. Das Omphalion 25 De cerimoniis, ed. J. J. Reiske BC 15; vgl. P. Schreiner: „Omphalion und Rota porphyretica. Zum Kaiserzeremoniell in Konstantinopel und Rom“, in: Byzance et les Slaves, études de civilisation. Mélanges Ivan Dujcˇev, Paris 1979, S. 401ff.; A. Berger: „Omphalos“, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst, Bd. VII, Stuttgart 2012, Sp. 418–423, hier Sp. 419ff. 26 D. Schlumberger: L’épopée byzantine à la fin du dixième siècle, I, Paris 1896, S. 453, Abb. a; Kier (op. cit. Anm. 21) S. 25f., Abb. 314f; P. M. Mylonas: „Notice sur le Catholikon d’Iviron“, in: J. Lefort/N. Oikonomidès/D. Papachryssanthou: Actes d’Iviron I. Des origines au milieu du XIe siècle, Paris 1985, Bd. I, S. 3–91, hier S. 64ff.; P. Mylonas: „Παρατηρήσεις στο καθολικό Ιβήρων“ in: Πέμπτο Συμπόσιο Βυζαντινής και Μεταβυζαντινής Αρχαιολογίας και Τέχνης. Πρόγραμμα και περιλήψεις ανακοινώσεων, Athen 1985, S. 66–68, hier S. 66f; Th. Steppan: „Der byzantinische Opus-sectile-Boden im Athoskloster Iberon“, in: L. Madersbacher/Th. Steppan (Hrsg.): De re artificiosa. Festschrift für Paul von Naredi-Rainer zu seinem 60. Geburtstag, Regensburg 2010, S. 165–184.
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konnte auch durch einen Ring mit gleichmäßig verteilten Kreisen um die zentrale Rota erweitert werden. Über acht mit der zentralen Rota verflochtene Kreise verfügen etwa die Ringe des wohl noch ins 9. bis 10. Jahrhundert zu datierenden Feldes der Kirche Johannes des Täufers im Hebdomon in Konstantinopel (Abb. 6) 27. Hingegen zeigt der Boden in der Metamorphosis-Kirche in Kalolimnos/I˙mralı Adası28 alternierend sechs mit dem Zentrum verflochtene und sechs frei liegende Kreise.
Abb. 6: Istanbul, Kirche Johannes des Täufers im Hebdomon, 9/10. Jh. (nach Demangel)
Die zumeist aus den Erbauungsdaten und den architekturgeschichtlichen Befunden abzuleitenden Datierungen der Böden lassen den Schluss zu, dass sich im Laufe der mittelbyzantinischen Jahrhunderte, speziell seit komnenischer Zeit, eine Bereicherung der gestalterischen, dekorativen Mittel einstellte, sowohl hinsichtlich der Entwürfe der groß angelegten Kompositionen, die immer komplexer und umfassender wurden, als auch hinsichtlich der zusehends minutiöser und raffinierter gestalteten kleinteiligen Muster. Auf diese Weise wich die zurückhaltende, in erster Linie von der schieren Ästhetik des Materials geprägte, klassische Eleganz einer bunten, vermehrt symbolbeladenen, barocken Gesamterscheinung, die immer mehr den Charakter eines anspruchsvoll gestalteten Kunstwerkes annahm und zuguterletzt auch gegenständliche Darstellungen miteinbezog. Zu welchen wahren Meisterleistungen an Kunstfertigkeit und inhaltlicher Konzeption im 11. und 12. Jahrhundert entstandene Pavimente 27 R. Demangel: Contribution à la topographie de l’Hebdomon, Paris 1945, S. 21ff., S. 32, Abb. 8f., T. III, Vf.; Peschlow (op. cit. Anm. 19) S. 442, S. 444, T. 93.3; M. Restle: „Konstantinopel“, in: Reallexikon zur byzantinsichen Kunst, Bd. IV, Stuttgart 1989, Sp. 366–737, hier. Sp. 465f., Abb. 47; Demiriz (op. cit. Anm. 22) S. 68ff. 28 Peschlow (op. cit. Anm. 19) S. 444, T. 93.1; Demiriz (op. cit. Anm. 22) S. 31ff.
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geraten konnten, soll im Folgenden anhand zweier besonders eindrucksvoller Beispiele im Katholikon von Iberon am Athos und in der Südkirche vom Pantokrator-Kloster in Konstantinopel aufgezeigt werden.
Abb. 7: Athos, Katholikon des Klosters Iberon, Naos Richtung Osten, 10./11. Jh., Fußboden 11. Jh.
Der Boden des Katholikon von Iberon (Abb. 7–9) wurde zwischen der Mitte und dem Ende des 11. Jahrhunderts verlegt. Seine Datierung resultiert aus einer Kette von Beobachtungen am Baugefüge und historischen Untersuchungen anhand der Quellen zur Geschichte des Klosters. Er zählt zu den am besten erhaltenen und kunstvollsten byzantinischen opus sectile-Böden, die es gibt, und blieb über sein beinahe tausendjähriges Bestehen so gut wie unbeeinträchtigt. Der Boden ist zusammengesetzt aus einem Verband von verschiedenformatigen und verschiedenfarbigen Marmorplatten und sie umgebenden Streifen bzw. sie ergänzenden Feldern aus reich ornamentiertem und vielfarbigem Dekor in Plattenmosaik. Die Kombination aus gerahmten und rahmenden Komponenten und deren formale und farbliche, systematisch geordnete Vielfalt erzeugen den Eindruck einer monumentalen Intarsie. Dabei nahm man Bedacht auf eine symmetrische, formal aber auch chromatisch ausgewogene Ponderierung und berücksichtigte die baulich vorgegebenen, ästhetischen und nutzungsspezifischen Strukturen der Räume. Hochrangige Bereiche sind durch aufwendige geometrische Kompositionen und ins Auge stechendes Material deutlich hervorgehoben. Sie liegen hauptsächlich entlang der Längsachse und betonen die architektonischen Determinanten, sind zugleich aber auch Indikatoren für die zentralen Schauplätze der liturgischen Handlungen und Teil ihrer feierlichen Inszenierung: Das Zentralmotiv liegt in der von den kuppeltragenden Säulen festgelegten Naosvierung, mit einem in ein Quadrat eingeschrieben System von ornamental gerahmten Kreisflächen und sie ergänzenden Füllfeldern. In der Mitte eine runde Porphyrscheibe, die umgeben wird von kreuzförmig (vier) und diagonal (acht) angeordneten kleineren Trabanten aus Prophyr und grünem
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Marmor, die im Uhrzeigersinn durch ondulierende Ornamentbänder miteinander verflochtenen sind. Der quadratische Rahmen aus rotbraunen Marmorplatten wird abermals eingefasst von einem polychromen Plattenfries aus alternierend angeordneten, gerahmten Kreisen und Vierecken, verbunden durch ein gegen den Uhrzeigersinn verlaufendes Ornamentband. Kiers Konstruktionsschema veranschaulicht das angewandte System der Quadrathalbierung durch Einschreiben von Quadraten an den Seitenmittelpunkten. Hinzu kommt, dass die Gesamtkomposition mit der über ihr liegenden Kuppel und dem sie umschreibenden Naosquadrat konfiguriert, wie auch die beiden Verlaufrichtungen der Ornamentbänder mit dem an hohen Festtagen in eine Drehbewegung versetzten, vor und zurück schwingenden Radleuchter korrespondieren.
Abb. 8: Athos, Katholikon des Klosters Iberon, Zentralmotiv des Fußbodens, 11. Jh.
Der Boden von Iberon ist einer der anspruchvollsten, die sich aus mittelbyzantinischer Zeit erhalten haben. Sein Reichtum an geometrischen Figuren, ihre Komplexität und der üppige Einsatz dekorativer Details samt der abwechslungsreichen Ornamentik entsprechen dem fortgeschrittenen Stadium, das solche Pavimente während des 11. Jahrhunderts auszeichnet. Dennoch kann man ihn als klassisch bezeichnen, da er der makedonischen Tradition abstrakter Gestaltung entspricht und noch keine figürlich-szenischen Platten einbindet, die bei besonders prunkvollen Böden seit komnenischer Zeit üblich wurden. Das
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Abb. 9a: Athos, Katholikon des Klosters Iberon, 10. und 11. Jh., Grundriss (nach Mylonas)
Arrangement des Paviments dokumentiert einen ganzheitlichen, minutiös geplanten und mit der Architektur in Einklang stehenden Entwurf, der die Kenntnis des Baus, seiner Maße und Ordnungen voraussetzt. Das äußerst kostbare Material – darunter Porphyr, Serpentin, Thessalische Breccie, Chalzedon und prokonnesischer Marmor von teils beachtlichem Format – lässt auf Lager schließen, wie sie nur in Konstantinopel zur Verfügung standen, zumal nur eine hauptstädtische, im kaiserlichen Milieu verankerte Werkstatt in der Lage war, ein solches Werk überhaupt auszuführen. Das Kloster erhielt im Typikon Kaiser Konstantins IX. Monomachos eine Reihe von Privilegien und Schenkungen. Iberon wurde in den Jahren vor 1080 sogar zum kaiserlichen Kloster
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Abb. 9b: Athos, Katholikon des Kloster Iberon, Schema des Zentralmotivs (nach Kier)
ernannt, ein Titel, der in den Urkunden aus der Zeit Kaiser Alexios I. Komnenos (1081–1118) allerdings nicht mehr auftritt.29 Einen terminus ante quem liefert seine restriktive Politik, welche die Pfründe des Klosters empfindlich minimierte.30 Um die gestaltungsgeschichtlichen Zusammenhänge zu eruieren und zu einer inhaltlichen Deutung vorzudringen, müssen wir unseren Blickwinkel erweitern. Eine Vielzahl christlicher Kunstwerke besitzen Kompositionsformeln, die mit jenen der Steinschnittböden eng verwandt sind. Das gilt für die gesamte Omphalos-Motivik und für den Quincunx besonders. Der Bogen spannt sich von der frühchristlichen Kunst bis ins späte Mittelalter. In der byzantinischen Kunst sind es vor allem Werke, die in einem liturgischen Kontext stehen, sei es Miniaturen, Goldschmiede- bzw. Emailarbeiten, Bronzetore, Elfenbeinskulpturen oder marmornen Chorschranken. Dabei existiert eine Reihe von Miniaturen des 11. Jahrhunderts, die durch ihre formale und numerische Ordnung eine auffällige Nähe zu Fußbodenmotiven wie jenem in Iberon aufweisen: etwa die Miniatur des Christus εν δόξη im Tetraevangeliar der Biblioteca Palatina in Parma (Abb. 10),31 oder das endzeitliche Bild des himmlischen Herrschers als Eingangsillustration zur Osterlesung aus dem Johannesevangelium in einem Lektionar in Athen32 (Abb. 11).
29 J. Lefort: „Histoire du monastère d’Iviron, des origines jusqu’au milieu du Xie siècle“, in: J. Lefort/N. Oikonomidès/D. Papachryssanthou: Actes d’Iviron I. Des origines au milieu du Xie siècle, Paris 1985, Bd. I, S. 3–91, hier S. 24. 30 Steppan (op. cit. Anm. 26) S. 165ff. 31 Parma, Biblioteca Palatina, Cod. 5, fol. 5r: G. Galavaris: Ελληνική Τέχνη. Ζωγραφική βυζαντινών χειρογράφων, Athen 1995, S. 115. 236. 32 Athen, Nationalbibl., Cod. 2645, fol. 1r: A. Marava-Chatzinicolaou/Ch. Toufexi-Paschou: Catalogue of the Illuminated Byzantine Manuscripts of the National Library of Greece, Vol. I: Manuscripts of New Testament Texts 10th-12th century, Athen 1978, S. 139ff., Abb. 314; G. Galavaris: The Illustrations of the Prefaces in Byzantine Gospels, Wien 1979, S. 94f., Abb. 87.
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Abb. 10: Parma, Bibl. Palatina, Cod. 5: Tetraevangeliar, Konstantinopel, 2. Hälfte 11. Jh., fol. 5r (nach Galavaris)
Diese Miniaturen sind nicht nur Textillustrationen, sondern reflektieren die liturgischen Handlungen, für die sie geschaffen wurden. Ihre Gestalt ist untrennbar mit den zu feiernden Festen und ihren Hymnen und Gebeten verbunden und steht für die in der Liturgie zu bekennende Lehre und das Mysterium der Eucharistie. Daher sind die Kompositionen hieratisiert und rhythmisch ritualisiert, ganz nach dem feierlichen Klang der Liturgie. Der Organisation der Bildfelder, den geometrischen Formen und Zahlen und der Ornamentik kommt dabei eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Wie der Sakralbau und seine Ausstattung drücken sie die kosmische Dimension der Kirche aus, die erste Parusie Christi und seine ewige Herrschaft im Himmel, die sich bei seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten enthüllt. Wie Galavaris nachwies, korrespondieren die Darstellungen mit dem Dankesgebet der Anaphora33 und beziehen sich auf den Hymnus der Seraphim, der Pseudo-Germanos zufolge Christus als den zu opfernden großen König und den himmlischen König feiert, der durch die Kommunion von den Gläubigen empfangen wird,34 wie auch seine Wiederkunft am Ende der Zeiten sich auch im Großen Einzug eröffnet. Die Kongruenz mit der 33 Ebd., S. 162ff. 34 Patrologia Graeca 98, S. 432f.
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Abb. 11: Athen, Nat.-Bibl., Cod. 2645: Lektionar, Konstantinopel, 2. Hälfte 11. Jh., fol. 1r (nach Marava-Chatzikolau/Toufexi-Paschou)
abstrakten Motivik der Pavimente kann daher nicht alleine aus allgemein ästhetischen Prinzipien erschlossen werden. Die ikonologische Dimension wird durch jene liturgischen Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts erhärtet, bei denen Darstellungen in ein Kirchengebäude eingestellt sind. Dazu zählen die Himmelfahrtsbilder in den Homilien des Jakobus von Kokkinobaphos (Abb. 12) 35, welche die Rolle der Kirche und der Liturgie für das Erlangen des paradiesischen Heils fokussieren. Ähnlich verhält es sich im Autorenbild der liturgischen Homilien des Gregor von Nazianz in einer luxuriösen Sinai-Handschrift aus Konstantinopel (Abb. 13) 36, und in den Titelbildern zweier liturgischer 35 1.: Cod. Vat. gr. 1162, fol. 2v: s. I. Hutter/P. Canart: Das Marienhomiliar des Mönchs Jakobos von Kokkinobaphos, Zürich 1991, S. 19ff.; H. C. Evans/W. D. Wixom (Hrsg.): The Glory of Byzantium. Art and Culture of the Middle Byzantine Era A. D. S. 843ff., New York 1997, S. 107ff; 2.: Paris, Bibliothèque Nationale, Cod. gr. 1208, fol. 3v: s. Ch. Förstel: Trésors de Byzance. Manuscrits grecs de la Bibliothèque nationale de France, Paris 2001, S. 32f. 36 Sinai, Katharinenkloster, Cod. gr. 339, fol. 4v: s. George Galavaris: The Illustrations of the Homilies of Gregory Nazianzenus (Studies in Manuscript Illumination Nr. 6), Princeton 1969, S. 21f., S. 255ff., T. LXXIV, Abb. 377; K. Weitzmann/G. Galavaris: The Monastery of Saint Catherine at Mount Sinai. The Illuminated Manuscripts, vol. I: From the Ninth to the Twelfth Century, Princeton N. J. 1990, S. 140ff., T. CXLIII, Abb. 472.
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Rollen, eine in Athen37, die andere im Johanneskloster auf Patmos38. Die dargestellten Architekturen – die den Typus einer Kreuzkuppelkirche zitieren, zeigen prachtvolle Marmortäfelungen, die eindeutig an Pavimente in opus sectile erinnern. Der zur Schau gestellte Sakralraum bestätigt die ikonologischen Strukturen einer von der Liturgie bestimmten Kunst.
Abb. 12: Rom, Bibl. Vaticana, Cod. gr. 1162: Homilien des Jakobus von Kokkinobaphos, Konstantinopel, ½ 12. Jh., fol. 2v (nach Huter/Canart)
Doch können wir mit unserer Interpretation noch weiter gehen? Wie jeder Ordnungswahrnehmung eine Bedeutungswahrnehmung einhergeht39 und der Zusammenhang von materiellen, formalen, ästhetischen und ikonologischen Faktoren gerade bei religiös bestimmten Kunstwerken unauflöslich ist40, zeigt sich, dass auch die Byzantiner ihrer Vorstellung von Gott und der Welt in ab37 Byzantine Art: A European Art. 9th Exhibition of the Council of Europe, Athen 1964, 341f., Nr. 358. 38 Patmos, Johanneskloster, Cod. 707: ebd. 342, Nr. 359; Galavaris: „Ελληνική Τέχνη“ (op. cit. Anm. 31) Nr. 186, 253; Evans/Wixom (op. cit. Anm. 35) S. 110f. 39 E. Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 16. 40 H. von Einem: „Aufgaben der Kunstgeschichte in der Zukunft“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 5 (1936), S. 1–6, hier S. 3; D. Frey: Kunstwissenschaftliche Grundfragen. Prolegomena zu einer Kunstphilosophie, Wien 1946, S. 21; H. Lützeler: Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft, Freiburg 1975, S. 1003ff.
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Abb. 13: Sinai, Katharinenkloster, Cod. gr. 339: Homilien des Gregor von Nazianz, Konstantinopel, Ende 11. Jh., fol. 4v (nach Galavaris)
strakt-schematischen Formeln Ausdruck verliehen, die als semantische Modelle die zeitliche und räumliche Ordnung zusammengehörig verständlich machten. Genau darum geht es auch beim Omphalos. Die Vorstellung eines Mals, das den Mittelpunkt der Welt bezeichnet, wurde in Byzanz von der Antike übernommen. Hinzu kam die im Judentum verbreitete Vorstellung, wonach Jerusalem bzw. der Berg Zion der Nabel der Welt sei,41 die christlich interpretiert auf den Golgathahügel in der Grabeskirche übertragen wurde und schließlich in der Idee der axis mundi zwischen irdischem und himmlischem Jerusalem ihren Niederschlag fand. Nach byzantinischer Auffassung spiegelte sich das Himmelreich in Konstantinopel, das seit der Übertragung der Kreuzesreliquien zum „Neuen Jerusalem“ wurde. Der Palast des Kaisers wurde als Widerschein des Himmlischen Hofs angesehen und die Passagen im Zeremonienbuch Kaiser Konstantins VII. Porphyrogenetos belegen, dass Omphalia als zeremonielle Standplätze des Kaisers dienten,42 der dadurch zum ideellen Mittelpunkt der Welt stilisiert wurde. Kreisform und Porphyr sind dabei konstitutive Bestandteile der herrschaftlichkosmischen Symbolik. Auch für die Hagia Sophia in Konstantinopel ergibt sich der Bezug zur Inszenierung des Kaisers. Im Zeremonienbuch wird mehrfach ein Omphalion vor der mittleren Türe zum Bema als sein Standplatz erwähnt und als 41 Ph. S. Alexander: „Jerusalem as the Omphalos of the World: on the History of a Geographical Concept“, in: Judaism 47 (1997), S. 147–158. 42 De ceremoniis, 1.11, 1.64, 2.2, ed. A. Vogt: Le Livre des Cérémonies, 2 Bde., Paris 1935–39, I: 78.20f., II: 96.3.
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πορφυρούν ομφάλιον beschrieben.43 Das im südöstlichen Bereich unter der Naoskuppel erhaltene Omphalion war der Platz für die Kaiserkrönung.44 Dabei dürfte die ursprüngliche rota porphyretica – die nach Antonij von Novgorod wie jene von Iberon von einem Kupferring umgeben war – beim Kuppeleinsturz von 1346 zerstört und durch die heutige zentrale Granitscheibe ersetzt worden sein. Eine vergleichbare Funktion dürften die Omphalos-Motive der Hagia Sophia in Nikaia (s. o.) und des Omphalion in der Theotokos Chrysokephalos-Kirche in Trapezunt in den Exilreichen zu Zeiten nach der Eroberung Konstantinopels 1204 ausgeübt haben. Das Substrat, aus dem die Omphalos-Motivik und ihre Bedeutung hervorgingen, ist die christliche Kosmologie. In platonisch-pythagoräischer Tradition sah man das Universum nach Zahlen und einem geometrischen Muster geordnet, aus denen der Kreis und die Kugel als Letztes und Vollkommenstes hervorgehen. Gemeinsam mit dem Quadrat bzw. dem Würfel steht sie in der von Gott geschaffenen Welt für die Erde, während die Zwölfzahl bzw. der Dodekaeder für das Universum zu seiner Zierde aufgespart wurde. Ptolemaios’ Almagest und seinen Hypothesen der Planeten zufolge lagern um die in der Mitte ruhende kugelförmige Erde die acht Sphären der sieben Planeten und des Fixsternhimmels als kristallene Kugelschalen.45 So erinnern Pavimente wie jener von Iberon an ein Planetarium des um die Erde bewegten Universums mit seinen beiden entgegengesetzten Drehungen – die eine, die allen Himmelskörpers gemein ist, und die andere, welche die Planeten noch zusätzlich vollziehen. In der Zwölfzahl eröffnet sich auch der über den Himmelsglobus ziehende Zodiakus, durch den sich die Planeten zu bewegen scheinen. Dem Vorwurf einer allzu spekulativen Interpretation kann man entgegenhalten, dass auch im Fußboden des PantokratorKlosters in Konstantinopel diese Thematik aufgegriffen wurde (s. u.). Wir wissen, dass eine Abschrift des Almagest im Besitz Kaiser Leons VI. (886–912) war und dass Kaiser Manuel I. Komnenos 1158 eine solche dem normannischen Fürsten Wilhelm I. schenkte. Eine Parallele bietet zudem die einst im Oktateuch von Smyrna enthaltene Miniatur von Schöpfer und Kosmos (Abb. 14) 46. Man kann die Interpretation noch fortsetzen. Im Quincunx sind analog zur Gestalt der Kreuzkuppelkirche die vier grundlegenden kosmischen Symbole enthalten: das Zentrum, das Kreuz, der Kreis und das Quadrat. Das Zentrum steht für den Ursprung, das Absolute, und definiert die vertikale Achse zum Zenit am Fixsternhimmel. Der Kreis bzw. die Sphaira sind Symbol für das Unendliche, 43 Schreiner (op. cit. Anm. 25) S. 401ff.; Berger (op. cit. Anm. 25) S. 419ff. 44 Loparev (op. cit. Anm. 24) S. 15; Majeska (op. cit. Anm. 24) S. 422f. 45 B. L. van der Waerden: „Astrologie, Astronomie“, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart 1999, S. 1135–1137, 1145–1149, hier S. 1145ff. 46 K. Weitzmann/M. Bernabò: The Byzantine Octateuchs (= The Illustrations in the Manuscripts of the Septuagint II), Princeton N. J. 1999, S. 15, T. 16.
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Abb. 14: Ehem. Smyrna, Evang. Schule, Cod. A1: Oktateuch, Konstantinopel, 12. Jh., fol. 2r (verschollen, nach Buberl)
das Transzendente und Göttliche, während das Quadrat die Erde, das Begrenzte und Materielle bezeichnet. Das Kreuz schließlich, das Raum und Zeit wie ein Kompass ordnet, verbindet Himmel und Erde. Das Omphalion ist nicht nur eine Chiffre für das Universum, sondern auch ein Sinnbild der Achse zwischen Himmel und Erde.47 An dieser Stelle sollten wir nochmals die Illustrationen zum Beginn des Johannesevangeliums betrachten. Byzantinische wie auch westliche Majestas-Bilder sind Ausdruck der erwarteten Zukunft und der ewigen Gegenwart Gottes. Dass sie häufig Quincunx, Kreis und Quadrat verwenden, führt zu Zusammenhängen mit computistischen bzw. kosmologischen Diagrammen, welche die Verbindung von Schöpfung und Eschatologie unterstreichen.48 Das Diagrammschema veranschaulicht in der Kreuzesform die Rückkehr zur göttlichen Ordnung durch den Opfertod Christi und beschwört die Wiederkunft 47 G. Prokopiou: Ο κοσμολογκός συμβολισμός στην αρχιτεκτονική του βυζαντινού ναού, Athen 1980, S. 128. 48 B. Kühnel: The End of Time in the Order of Things. Science and Eschatology in Early Medieval Art, Regensburg 2003, S. 222ff., S. 247.
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Christi am Ende der Zeiten als den Gipfel der Erlösungsidee in der göttlichen Ordnung allen Seins. Es passt zu diesem soteriologischen Charakter, dass in Byzanz verschiedenfarbige Marmorplatten mit Naturdarstellungen wie Paradieseflüssen oder Blumenwiesen im Frühling assoziiert wurden. Selbst Philagathos, Homilist am Hofe Rogers II., meinte, das opus sectile-Paviment der Cappella Palatina würde sich gegenüber einer Frühlingswiese nur darin unterscheiden, dass Blumen verwelken, hier jedoch eine immer blühende Wiese bestehe, die in sich den ewigen Frühling bewahre.49 Das aufwändigste und wohl berühmteste aller byzantinischen opus sectilePavimente liegt in der Südkirche und im Durchgang zum Heroon des Pantokrator-Klosters (Zeyrek Camii) in Istanbul (Abb. 15–20) 50. Nach der Reinigung und Fixierung durch das Byzantine Institute of America in den 50er-Jahren wurde es wegen der Funktion der Südkirche als Moschee größtenteils durch einen Holzboden verdeckt, sodass es dem Besucher verborgen bleibt und sich auch dem Großteil der heute lebenden Forscher nur durch die von Underwood und Megaw publizierten Fotografien, Pläne und Beschreibungen, sowie wenige kleine aufklappbare Öffnungen im Bretterbelag erschließt, obwohl es sich um den bedeutendsten erhaltenen Teil der einst so prächtigen Ausstattung des Kirchenkomplexes und ein Seinesgleichen suchendes Meisterwerk handelt.51 Der opus sectile-Boden erstreckt sich über den gesamten Naos. Sein quadratischer Zentralbereich liegt zwischen den vier kuppeltragenden (in osmanischer Zeit durch Pfeiler ausgetauschten) Säulen und ist in neun (3 x 3) Quadrate eingeteilt (Abb. 15–16). In dem aus Quincunx- und Kreuzesschema kombinierten System bargen das mittlere (größere) und die vier in den Ecken liegenden Felder kreisförmige sowie die in den Längs- und Querarmen befindlichen Partien rechteckige Platten. Sie wurden alle in osmanischer Zeit entnommen, waren jedoch mit Sicherheit aus rotem Porphyr, Verde Antico bzw. anderen kostbaren Gesteinssorten.52 Um sie verlaufen dreiteilige, an den axialen Verbindungsstellen verflochtene, hell-dun49 F. da Cerami: Omelie per i vangeli domenicali e le feste di tutto l’anno, ed. G. Rossi Taibbi, Bd. 1, Omelie per le feste fisse, Palermo 1969, S. 175. 50 P. Schweinfurth: „Der Mosaikfussboden der komnenischen Pantokratorkirche in Istanbul“, in: Archäologischer Anzeiger 1954, Sp. 253–260, fig. 1f.; P. Underwood: „Notes on the Work of the Byzantine Inst. in Istanbul: 1954“, in: Dumbarton Oaks Papers 9/10 (1956), S. 291–300, hier S. 299f., fig. 114–116; A. H. S. Megaw: „Notes on Recent Work of the Byzantine Institute at Istanbul“, in: Dumbarton Oaks Papers 17 (1963), S. 333–371, Abb. A–C, T. 1–6; R. Ousterhout: „Architecture, Art and Komnenian Patronage at the Pantokrator Monastery“, in: N. Necipog˘lu (Hrsg.): Byzantine Constantinople. Monuments, Topography and Everyday Life, Leiden/Boston/Köln 2001, S. 133–150; Demiriz (op. cit. Anm. 22) S. 45ff. 51 Die in jünster Zeit durchgeführten Restaurierungen in der Südkirche sind bisher durch keine Publikation erschlossen. Inwieweit die Arbeiten auch den Boden betreffen, ist mir unbekannt. 52 Megaw (op. cit. Anm. 50) S. 335.
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Abb. 15: Istanbul, Pantokrator-Kloster (Zeyrek Camii), Südkirche, Fußboden, 12. Jh. (nach Megaw)
Abb. 16: Istanbul, Pantokrator-Kloster, Südkirche, Zentralmotiv (nach Megaw)
kel kontrastierende Rahmenbänder, die auch das gesamte quadratische Zentralmotiv säumen, das wiederum nach einem schlichten Plattenrahmen von einem System aus miteinander durch Saumbänder verflochtenen kreisförmigen und rechteckigen Platten entlang der Säulenstellungen des Vierungsbezirkes eingefasst wird. Der Naosboden wird durch die in den vier Kreuzarmen liegen-
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den schmalen Flächen mit ihren abermaligen Abfolgen aus in Quadraten eingeschriebenen runden sowie sich mit ihnen abwechselnden rechteckigen Platten komplettiert, wobei in den deutlich aufwendiger gestalteten Bereichen im Osten und Westen die großen Zentralfelder beim Eingang in den Naos (Abb. 17) und vor der Mitte des Templons (Abb. 18) mit den sie flankierenden Rechtecken zu einer Einheit zusammengefasst sind, denen jeweils zu beiden Seiten Rechteckpaneele mit eingeschriebenem Quincunxschema folgen, die äußersten Eckfelder jedoch fast vollständig verlorengingen.
Abb. 17: Istanbul, Pantokrator-Kloster, Südkirche, Zodiakos (nach Megaw)
Abb. 18: Istanbul, Pantokrator-Kloster, Südkirche, Samson-Motive (nach Megaw)
Durch das einstige Templon abgeschieden, sind im Bereich des Bemas noch drei nebeneinander liegende Pentaomphaloi mit dazwischen liegenden längsgerichteten Rechteckpaneelen in den Plattenverband eingelassen, während seitlich des einstigen Altares vor der Apsis zwei vergleichbare, hier jedoch querliegende und minutiös gerahmte Rechteckpaneele liegen. Der meisterhafte Entwurf entspricht den in der mittelbyzantinischen Kunst ausgereiften, komplexen geometrischen und mit der Architektur gänzlich harmonierenden Systemen, wie sie in so vollendeter Art und Weise nur in höchstrangigen Prachtbauten ausgeführt wurden. Hinzu kommt – und das unterscheidet dieses Werk von den wenigen erhaltenen Böden vergleichbar hohen Anspruchs –, dass an zahlreichen für die Bespielung des Raumes bedeutenden Stellen unter Berücksichtigung der geometrischen
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Ausgewogenheit des Gesamterscheinungsbildes Felder mit feinsten geometrischen, vegetabilen, figürlichen und sogar szenischen Einlegearbeiten ausgestattet wurden. Das betrifft in erster Linie jene mit eingeschriebenen kreisförmigen Scheiben ausgestatteten Paneele, die sich entlang der Mittelachse vom Eingangsbereich des Naos bis zum Templon hin entwickeln: das Feld direkt nach dem Eingang in den Naos (Abb. 17), die fünf Felder im Quadrat unter der Kuppel (Abb. 16), jenes vor dem Templon (Abb. 18), sowie die Felder im westlichen und östlichen Rahmenstreifen zwischen den Kuppelpfeilern und schließlich noch die Rahmen der beiden rechteckigen Felder, die das Quadrat vor dem Templon flankieren. Aus weißem Marmor gefertigte Tiefreliefs (Abb. 19a und 19b) bilden dabei die dargestellten Formen und zugleich die Matrix für die sie kontrastreich umschließenden Inlays aus dunklen Marmoren bzw. an kleineren Füllstellen verwendeten Champlevé-Pasten.53
Abb. 19a und b: Istanbul, Pantokrator-Kloster, Südkirche, Samson erschlägt die Philister; Greifenmotiv (nach Megaw)
Dabei sind manche Reliefs noch mit Gravuren versehen, doch ist vieles davon durch Abrieb verlorengegangen. Während die Scheiben von geometrischen, sparren- und blattförmigen Ornamentringen umgeben sind – wobei hier neben den Intarsien auch noch kleinstteiliger Dekor in opus tesselatum zur Anwendung kam – wurden die Eckzwickel der von Kreisflächen eingenommen Quadrate und Rechtecke je nach zur Verfügung stehender Größe entweder nur mit Tiergestalten ausgestattet, oder mit bewohnten Weinranken, deren kreisförmige Binnenfelder zum Teil miteinander kämpfende oder reißende Tiere und mythologische Fabelwesen, sowie menschliche Figuren (Schildträger) zeigen. Im Falle des zentralen Paneels vor der Templonmitte sind die Rankenmedaillons mit szenischen Darstellungen versehen. Bei den vier größeren (drei davon erhalten) handelt es sich mit großer Sicherheit um Themen aus dem Leben Samsons, mit Samsons Löwenkampf, Samsons Forttragen der Tore von Gaza und Samson, wie 53 Underwood (op. cit. Anm. 50) S. 299f.
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er die Philister erschlägt. Die kleineren konnten bisher nicht entschlüsselt werden, denn der Verlust der eingeritzten Binnenzeichnungen lässt die rein flächig gewordenen, rudimentären Figuren nur mehr anhand der Matrixkonturen erkennen. Daneben befinden sich in den Rahmenleisten der angrenzenden rechteckigen Platten weitere Tiere und Jagdszenen sowie an spätantike nilotische Szenen erinnernde Fische und eine schwimmende menschliche Figur. Das Paneel im Westen des Naos, direkt nach dem Eingang, verfügt zudem – neben der originalen Porphyrrota – noch über besonders reich gestaltete Rahmenringe, deren innerster in 16 Felder eingeteilt ist (Abb. 17). Die vier Felder an den Achsenkoordinaten zeigen Büsten der vier Jahreszeiten, ihre Attribute haltend, vor schwarzem Hintergrund, während die jeweils drei dazwischenliegenden, also insgesamt zwölf Felder den Zodiakus vor abwechselnd rotem und schwarzem Hintergrund wiedergeben. Die hier zum überwiegenden Teil verlorenen Intarsien der Quadratzwickel zeigen noch einzelne Figuren in den Rankenfeldern, darunter eine Kampfszene mit einem Reiter. Schließlich konnten für die übrigen, zerstörten Felder entlang der Westmauer des Naos anhand von Spuren in den einstigen Setzgründen und Marmorfragmenten, die in den darüber errichteten osmanischen Plattformen eingelagert waren – darunter Fische, sonstige Tiere, Wald- und Jagdszenen – vergleichbare Rahmenleisten nachgewiesen werden, wie sie auch im Osten vor dem einstigen Templon noch in Teilen existieren. Nach gängiger Meinung wurde der kostbare Naosboden unter Kaiser Johannes II. Komnenos im Zuge der ab 1118 als erstes errichteten Südkirche (dem eigentlichen Katholikon) ausgeführt, während jener Bereich im später an der Nordwand ausgebrochenen Zugang in das zwischen die Kernräume von Südund Nordkirche (unter Aufgabe ihrer einst dort befindlichen Außenhallen) eingebaute, vor 1136 entstandene Heroon – das seither als Grablege der Komnenen fungierte – erst unter Kaiser Manuel I. (1142–1180) hinzukam, anzunehmenderweise als Teil eines das gesamte Heroon umfassenden Paviments, von dem aber sonst keine Spuren mehr auszumachen sind. Dieser im Durchgang befindliche und noch ein Stück ins Heroon hineinragende Belag (Abb. 20) schließt unmittelbar an den Schmuckboden der Südkirche an und wurde in völlig übereinstimmender Weise gestaltet: drei dreiteilige verflochtene Paneele aus einem Quadrat mit eingeschriebenem Kreis und seitlich es flankierenden Rechteckplatten, wieder mit zahlreichen, auch figürlichen Intarsien, deren szenische, kaum noch auszumachende Darstellungen von Salzenberg als Taten des Herkules gedeutet wurden (was jedoch Megaw schon in Frage stellte). Der Belag besitzt zwischen den beiden im Durchgang liegenden Paneelen eine vertiefte rechteckige Ausnehmung (245 x 64 cm) mit den Spuren von sechs hier eingelassenen Stützen, die allem Anschein nach dazu dienten, den von Niketas Choniates erwähnten Sockel bzw. das Gestell des Salbsteins Christi zu tragen, der an dieser Position gleichermaßen von der Klosterkirche wie vom
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Abb. 20: Istanbul, Pantokrator-Kloster, Fußboden im Bereich zwischen Südkirche und Heroon (nach Megaw)
Heroon aus verehrt werden konnte. Die von Ephesos nach Konstantinopel transferierte Kapitalreliquie war, so Choniates, 1169/70 in einer feierlichen Zeremonie am Bukoleon-Hafen in Empfang genommen und von Manuel auf dessen eigenen Schultern zur Marienkirche am Pharos getragen worden. Erst zehn Jahre später, also kurz vor seinem Tod, gelangte der Salbstein auf Veranlassung des Kaisers ins Pantokrator-Kloster, um in heilvoller Nähe neben seinem Grab untergebracht zu werden.54 Das würde bedeuten, dass die Datierungsspanne zwischen dem Fußboden der Südkirche und jenen Bereichen im Durchgangsbereich etwa ein halbes Jahrhundert beträgt, was angesichts der gestalterischen Kongruenz zwar einigermaßen erstaunlich, aber grundsätzlich möglich wäre. Ein Indiz für eine näher beisammen liegende, wenn nicht gleichzeitige Entstehung des gesamten Paviments während der Herrschaft Manuels ist der in der Südkirche einverwobene Samson-Themenkreis, dessen Szene mit den von Samson weggetragenen Stadttoren von Gaza einen Bezug auf Manuel, der den Salbstein Christi trug, herauslesen lässt. Weiters galt gerade Manuel als glühender Anhänger der Astrologie, weshalb der für eine byzantinische Kirchenausstattung einzigartige Zodiakus besser zu ihm als zu seinem Vater passen würde, wenn auch einzuräumen ist, dass uns die Quellenlage über Johannes II. schlechter informiert. Doch bleibt das am schwersten wiegende Argument für eine zumindest die 54 Niketas Choniates: Historia, hrsg. Von I. Bekker (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae, Bd. 23), Bonn 1835, S. 289f; C. Mango: „Notes on Byzantine Monuments“, in: Dumbarton Oaks Papers 23/24 (1970), S. 372ff.
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Südkirche betreffende frühere Datierung, dass der Fußboden kaum über Jahrzehnte im Rohzustand, ohne jeden Schmuckbelag existiert haben dürfte, zumal die im Zuge bzw. nach der Restaurierung verfassten Publikationen keinerlei Spuren eines älteren Paviments erwähnen. Das gilt im Übrigen auch für das 1136 im Typikon des Klosters bereits erwähnte Heroon, doch ist das Areal bis auf jenen Durchgangsbereich zur Südkirche bis zum Estrich blankgelegt. Andererseits fällt auf, dass das Typikon zwar die Szenen des Mosaikschmuckes und teilweise sogar ihren Anbringungsort aufzählt, jedoch kein Wort über den Boden verliert. Entweder es gab ihn noch nicht, oder er war in diesem Zusammenhang nicht erwähnenswert, da nur die ikonischen Bilder erfasst werden sollten. Bis zu einer neuerlichen Untersuchung des Bodens, bei der auch die Situation in den beiden Narthices und in der verlorenen südlichen Außenhalle der Südkirche mitzuberücksichtigen wäre, bleiben daher folgende Datierungsvarianten offen: 1. Der Boden der Südkirche und des Heroons wurde bereits unter Johannes II. verlegt; in diesem Fall wäre der Salbstein an besagter Stelle nachträglich eingelassen worden (nach Niketas Choniates lag Manuels Grab nahe einem breiten Eingang ins Heroon, an jener Stelle, wo die Mauer einen Bogen formt). 2. Noch vor der Errichtung des Heroons entstand unter Johannes II. das Paviment der Südkirche, während der Durchgangsbereich seinen Boden entweder unmittelbar nach der Errichtung des Heroons (noch ohne Salbsteinimplantat) oder erst in den späten Herrschaftsjahren Manuels (mit Salbstein) erhielt. 3. Der gesamte Bereich hatte bereits einen Bodenbelag unter Johannes II., dieser wurde aber durch einen neuen unter Manuel II. unter Einbeziehung des Salbsteins ersetzt. Ungeachtet dessen vermittelt der Boden eine Vorstellung davon, welch luxuriösen, ästhetisch vollendeten und inhaltlich bis ins kleinste Detail durchdachten Charakter eine so prominente kaiserliche Stiftung wie das Pantokrator-Kloster im 12. Jahrhundert besaß. Er ist Ausdruck des komnenischen Herrscher- und Dynastieverständnisses und seiner in jeder Hinsicht über griffig plumpe Machtdemonstration erhabenen, geistreichen Inszenierung. Die Einbindung antikfrühchristlicher Themen, seien es reale Tiergestalten oder mythologische Wesen der Erde und des Meeres, um die Breite und Ordnung des geschöpften Kosmos vor Augen zu führen, Jagdszenen, Tierkämpfe und bukolische Darstellungen, sind als bewußter Rückgriff auf eine die gesellschaftlichen Strukturen ausdrückende, mit Macht und Herrschaft konnotierte Bildwelt zu werten.55 Hinzu kommen die christlichen Themen, die auch frühchristliche Vorbilder reflektieren, seien es die Samson-Szenen56 und die mit Personifikationen versehenen Bilder zum Jahreskreis, oder der Zodiakusreif (auch wenn er nur mehr in spät55 Ousterhout (op. cit. Anm. 50) S. 142ff. 56 E. Kitzinger: „The Samson Floor at Mopsuestia“, in: Dumbarton Oaks Papers 27 (1973), S. 133–144, hier S. 135ff.
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antik-frühchristlichen Synagogen, signifikanterweise aber auch in zeitgenössischen mittelalterlichen Bildern im Westen begegnet), die erneut die kosmologische Dimension (s. o. den Boden von Iberon) in den Blickwinkel rücken. Wie Ousterhout feststellte, lassen diese auch in der Bauplastik der Kirchen des Pantokratorklosters zu bemerkenden Bezüge auf spätantik-frühchristliches Erbe einerseits einen Zusammenhang mit dem vor Ort (einem spätantiken oikos, der zu den bestgelegenen Bauplätzen in Konstantinopel zählte, vermutlich bekannt als tes Hilaras57) gelegenen Vorgängerbau vermuten (ein erheblicher Teil des Baumaterials ist wiederverwendet), andererseits zeugen sie von einem grundlegenden Geschichtsbewußtsein der Komnenen, das zum Ausdruck ihres Selbstverständnisses gehörte. Wie schon das Typikon des Klosters von einem Heroon spricht, einem spätantiken Begriff, der sich gezielt an das Mausoleum Konstantins und seiner Nachfolger in der nahe gelegenen Apostelkirche anlehnt, um damit auf die Verbindung der komnenischen Herrscherfamilie mit der konstantinischen hinzuweisen und die kaiserliche Stiftung des Pantokrator-Klosters in einen historischen Kontext einzubetten, so wurden auch die spätantik-frühchristlichen, geschichtsträchtig Macht und Herrschaft demonstrierenden Themen des Fußbodens mit den komnenischen Kaisern assoziiert. Die SamsonSzenen waren dafür bestens geeignet, galt er doch als Inbegriff des mutigen Herrschers und als einer der alttestamentlichen Heroen, deren Taten mit jenen der Kaiser verglichen wurden. Eine Parallelerscheinung sind die ausführlichen Samson-Zyklen in den illustrierten Oktateuchen, deren revidierte Bildredaktion möglicherweise aus dem Milieu des Komnenenhofs hervorging.58 Von dort stammt auch der im 12. Jahrhundert verfasste Roman des Digenes Akrites, in dessen Palast ein mit Mosaiken ausgestatteter Speisesaal homerische und mythologische Szenen, die Geschichte Alexanders des Großen, sowie alttestamentlichen Heldenzyklen Moses, Davids, Joshuas und Samsons enthält.59 Dabei ist die Auswahl der vier Samsonszenen deckungsgleich mit jener im Fußboden des Pantokrator-Klosters.60 Dass auch der Zodiakus nicht nur spätantik-frühchristliche Traditionen und Vorstellungen der kosmischen Ordnung reflektiert, sondern die in der Komnenendynastie verbreitete, unter Manuel I. gipfelnde Faszination für Astrologie, liegt auf der Hand. Die in zeitgenössischen Texten mit wissenschaftlicher Akribie verfassten Abhandlungen zu Schicksal, Vorbestim57 P. Magdalino: Constantinople médiévale. Études sur l’évolution des structures urbaines, Paris 1996, S. 46. 58 J. Lowden: The Octateuchs: A Study in Byzantine Manuscript Illumination, University Park Pennsylvania 1992, S. 57ff.; Weitzmann/Bernabò (op. cit. Anm. 46) I: S. 286ff., S. 325f., II: T. 1490–1533. 59 Grottaferrata-Ausgabe: Digenis Akritis, The Grottaferrata and Escorial Versions, hrsg. und übersetzt von E. Jeffreys, Cambridge 1998, Digenis Akritis VII, S. 63ff. 60 Ousterhout (op. cit. Anm. 50) S. 147.
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mung und eigenem Willen sind Ausdruck dieser vom Hof geförderten, jedoch von kirchlichen Vertretern verurteilten Ideologie, derer sich die Komnenen für ihre herrscherlichen und dynastischen Interessen bedienten. Selbst für die Wahl des Samson-Themenkreises lässt sich ein astrologischer Kontext und damit ein Bezug zu den Vorstellungen des durch Prädestination auserwählten, idealen Herrschers herstellen,61 waren doch seine Geburt, seine Stärke und seine ruhmreichen Taten durch göttliche Vorsehung vorbestimmt (Richter 14–16). So vermittelt der Fußboden des Pantokrator-Klosters in seinen zu Bildern geronnenen ideologischen Botschaften auf unmissverständliche Weise, wie die mit Samson und Konstantin dem Großen sich in eine Reihe stellenden Komnenkaiser die Idee des schicksalshaft durch göttliche Fügung vorherbestimmten und dadurch gleichermaßen legitimierten wie befähigten Herrschers zelebrierten.
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Cesare Giacobazzi
Die Dialektik von Himmel und Erde zwischen Klassik, Romantik und Realismus am Bespiel von den Wahlverwandtschaften, Heinrich von Ofterdingen und Immensee
Liebe als säkularisiertes Himmelreich Es gibt keinen Liebesbegriff, der nicht aus seinem epochalen Hintergrund heraus zu verstehen ist. So sind Liebeserklärungen – seien sie fiktiv in einem literarischen Werk oder für das Leben geltend rein pragmatisch vorgetragen – immer nur vor dem Hintergrund ihrer Zeit aufzufassen, denn Liebeserklärungen zielen auf etwas ab, das nur in diesem Zusammenhang Geltung hat. In dem, was der Liebende unter „Liebe“ versteht, und in der Art, wie er die Liebe bekennt, fließen zwangsläufig die Erfahrungen mit ein, die in seiner Zeit möglich sind. Allerdings gründet der in einer Liebeserklärung fundierte Liebesbegriff auch z. T. in einer epochenüberschreitenden Vorstellung: Liebe wird prinzipiell als Übergangsmöglichkeit zu einer anderen Wirklichkeit, als Schwelle zu einer anderen Welt aufgefasst. Derjenige, der an einen geliebten Menschen denkt, denkt auch immer die Welt mit, in der sich die Liebe entfalten kann. Die liebeserklärende Sprachhandlung ist von dem Glauben des Vortragenden beseelt. Wird seiner Liebe entsprochen, so kommen die Liebenden in eine Welt, die ganz anders ist als jene, in der sie bis dahin ohne Liebe leben mussten. Der epochale Unterschied zeigt sich uns erst, wenn wir uns die Frage stellen, wie diese Andersartigkeit aufgefasst wird. Sie konkretisiert sich sozusagen ex negativo daraus, was die gegebene Welt ist, in der das Liebesgefühl entstanden ist. Dadurch wird die neue Welt von der alten abhängig gemacht, denn in einer Existenz, in der Liebe erfahren wird, gibt es genau das, was in einer Existenz ohne Liebe entbehrt wird. Es ist also kaum verblüffend, wenn die Welt in den Diskursformen der Liebeserklärung auf eine Weise konzipiert wird, die uns nicht an das Diesseits, sondern an das Jenseits denken lässt. Der Himmel wird somit prinzipiell von den Menschen als jene Welt betrachtet, in der das möglich ist, was ihnen die Erde nicht gestattet. Das Gefühl dessen, was die Erde verweigert, hängt seinerseits mit dem zusammen, was sich der Mensch in seinem eigentümlichen Horizont zu wünschen fähig ist. Da in der Vormoderne bzw. im Mittelalter ein Paradies auf dieser Erde von den Menschen nicht vorstellbar war, wurde der Himmel bloß anhand von rein irdi-
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schen Kategorien gedacht. So z. B. dachten die Menschen an das Paradies als freudige Variante ohne Leiden des irdischen Lebens.1 Die diesseitigen Freuden wurden in den Himmel übertragen und mit den jenseitigen Prädikaten der Vollkommenheit und der Unendlichkeit versehen. Die Anwesenheit des Himmelsvaters war jedoch nicht zu erleben. Im Gegensatz dazu wird Gott in der Moderne – besser gesagt: in jener Moderne, die in der deutschen Klassik gründet – nicht mehr als eine dem Menschen verwehrte Präsenz gedacht. Der moderne Mensch kann wohl die göttliche Wirkung auf der Erde erkennen. Er kann z. B. die Sprache Gottes in der Natur als göttliche Offenbarung deuten. Das, was irdisch ist, kann grundsätzlich als erkennbares Zeichen des Göttlichen aufgewertet werden. Eine privilegierte Erfahrung des Göttlichen auf der Erde ist für den modernen Menschen ohne weiteres die menschliche Liebe, sodass sie sogar die Merkmale einer zwar säkularisierten doch immerhin himmlischen Erfahrung besitzt. Durch die Liebe meint der moderne Mensch in der Tat das zu erkennen, was die Anwesenheit Gottes am unmittelbarsten in dieser Welt offenbart. Die Liebe zeichnet sich eben als jene irdische Wirklichkeit aus, die die Menschen unvermittelt als Gottes Wirkung empfinden und erfahren können. Liebe ist somit identisch mit der universalen „Würckungskrafft“, wie sie in Goethes Urfaust bezeichnet wird2, und wo „Würckungskrafft“ erlebt wird, wird auch „Liebe“ erlebt.3 Es ist nicht mehr die Erde, die – wie im Mittelalter – ins Himmelreich verlegt wird. Umgekehrt wird das Himmelreich auf die Erde herangeholt. Folglich hört es auf, eine fremde Wirklichkeit zu sein, welche menschliche Denkkategorien nicht aufzufassen vermag. Die in ihm erfahrene Glückseligkeit ist daher auch nicht so geartet, dass sie die Menschen nicht nachvollziehen können, wie es sich z. B. der puritanische Theologe Richard Baxter vorstellte.4 Da der Himmel, d. h. Gott und 1 Wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit drückt Lorenzo Valla (1405–1457) diese Auffassung aus: So Bernhard Lang: „Unser ganzer Körper wird von einem süßen Wohlbehagen erfüllt werden, ‚das bis ins Mark hinein erbeben lässt, so dass kein Liebesgenuss damit vergleichbar ist‘“ (S. 73) […] Die Mutter Gottes „wird dich an ihre jungfräuliche Brust drücken, an der sie Gott selbst gestillt hat“ […] Was mich betrifft, so bedrückt und verzehrt mich meine tägliche Sehnsucht, einige Menschen wiederzusehen […] Vgl. Bernhard Lang: Himmel und Hölle: Jenseitsglaube von der Antike bis heute, München 2003, S. 75. 2 Johann Wolfgang Goethe: „Urfaust“, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Zürich 1977, S. 10. 3 Vgl. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, Zürich 2008 (1991), S. 213. 4 Eine asketische bzw. völlig weltfremde Möglichkeit dessen, wie Gott und sein Himmel gedacht wird, wird im 17. Jahrhundert von dem puritanischen Theologe Richard Baxter geliefert, der ein klassisches Werk über den Himmel verfasst. Unter dem Titel The Saint’s Everlasting Rest (Der Heiligen ewigen Ruhe, 1649) versucht er, mit so vielen Einzelheiten wie möglich einen theozentrischen Himmel zu beschreiben, d. h. einen Himmel der Seligen, die den Herrn ohne Unterlass lobpreisen. Da es für so ein himmlisches Paradies keine Vorstellung geben kann, bedarf es des Glaubens, also eines Wissens ohne direkte Erfahrung, damit es für die Menschen wieder denkbar wird. Geglaubt werden muss, dass ein Paradies ohne die Freude, die man auf
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sein Raum, auf die Erde verlagert werden, sind sie menschlich erfahrbar und deshalb dem Menschen weder fern noch einer ihm unbekannten Welt angehörend. Der Gott, bei dem der Glaube gilt, ist aus diesem Grund nicht nur als transzendentes Wesen gedacht, sondern als immanente Präsenz, dessen Wirkung die Menschen wahrnehmen und genießen können. Die bis dahin nur himmlisch gedachte Freude wird tatsächlich auch als Möglichkeit des Irdischen gedacht. Die Liebe als transzendente Erfahrung auf der Erde zu betrachten und der Erde göttliche Prädikate zuzuschreiben, diese beiden Ansichten gehen dann ineinander über, ja beide Ansichten sind zirkulär begründet. Da der Mensch im Sich-Begegnen der Liebenden Gott findet, frevelt derjenige, der sie trennt, gegen die Gottheit selbst. Keine andere, keine geringere Einstellung steht hinter dem kleinen Gedicht Hölderlins, das den Titel trägt Das Unverzeihliche: Wenn ihr Freunde vergeßt, wenn ihr den Künstler höhnt,/Und den tieferen Geist klein und gemein versteht,/Gott vergibt es, doch stört nur/Nie den Frieden der Liebenden.5
Man darf die Freuden der Liebenden nicht vereiteln, weil ihr Glück direkt von Gott kommt. In den Liebenden und um sie herum ist das konkret anstehende Paradies vorverwirklicht, denn sie sind bereits in einen neuen, kommenden Zustand der Welt durchgebrochen. Das, was sie als real empfinden, zeigt deutlich jenes Himmelreich, das die Freunde Hegel und Hölderlin mit ihrem begeisterten Stichwort „Reich Gottes“ meinten.6 Diese Anschauung kann als eine der wichtigsten Konsequenzen des deutschen Pantheismus betrachtet werden, und als ein Beispiel dafür, wie die Liebe in der klassischen Moderne vorgestellt wird.
der Erde erfahren kann, also im leeren ewigen Raum des Himmels, eine andere Art Freude möglich macht und zwar jene der reinen Kontemplation. Weder der menschliche Verstand und wahrscheinlich noch weniger die menschliche Erfahrung könnten so einen Zustand als glücklich auffassen. Denn so ein Himmelreich als belohnende, rettende, andere Welt ist untauglich, einem Bewusstsein gerecht zu werden, das nach der Anerkennung und Aufwertung menschlicher Fähigkeiten strebt. Zwar bleibt dieses Bild das ganze 18. Jahrhundert hindurch lebendig, doch wird es allmählich durch ein anderes, den Menschen in den Mittelpunkt rückendes Bild verdrängt. Vgl. Bernhard Lang, ebd., S. 80. 5 Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe, Bd. 1, Hg. von F. Beissner und J. Schmidt: Frankfurt a. M. 1969, S. 32. 6 „… so hat Hölderlin beim Abschied von Tübingen 1793 mit Hegel einen ‚Bund‘, dem er die Losung ‚Reich Gottes‘ gegeben hatte“. Michael Franz: Tübinger Platonismus: die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel, Tübingen 2012, S. 128.
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Die Wahlverwandtschaften: der Himmel auf der Erde Die Wahlverwandtschaften von Goethe bezeugen am deutlichsten, wie der Mensch den im Jenseits leer gewordenen Himmel im Diesseits plant und zu realisieren versucht, damit er darin sein Liebesglück finden und aufbewahren kann. Dieser Plan erweist sich allerdings als Traum, der bald ausgeträumt wird, und das, was ein Paradies hätte sein sollen, stellt sich eher als Hölle heraus. So inszenieren die Wahlverwandtschaften, wie sich der Anspruch des modernen rationalen Menschen verflüchtigen muss, den Himmel auf die Erde zu übertragen. Gleichzeitig zeigt sich, wie die als Tat artikulierte Liebeserklärung – die Schaffung einer glückseligen Welt, die als Auswirkung einer perfekten Liebe gedacht ist und die ihr angemessen sein soll – kein Versprechen ist, das der Mensch halten kann. Die Antwort auf die Frage, warum dem diesen Liebesbekenntnis innewohnenden Versprechen nicht entsprochen werden kann, lässt sich mit dem Paradoxon erklären, auf das es gründet: auf der einer Seite wird es als Angebot einer Lebenswelt artikuliert, die himmlische bzw. nach Vollkommenheit strebende Eigenschaften hat, so wie ungetrübte Harmonie, ungestörte Geschlossenheit und lückenlose Schönheit; auf der anderen Seite basiert dieses Vorhaben auf rationaler Vernunft, die zwar den Menschen auszeichnet, die aber auch auf seine Grenzen verweist.7 Diese Art Liebeserklärung zeichnet sich also durch eine rationale Pragmatik aus, die aber durch Vorstellungen eines überirdischen Glückes kontaminiert wird. Diese demaskiert sich als Erbe einer transzendenten Idee, denn sie strebt nach einem vollkommenen Zustand, d. h. nach einem Paradies in irdischen Gewändern. In diesem Paradoxon wirkt anscheinend eine epochale „Determination“, die eine kontingente auf den Horizont der klassischen Epoche hinweisende Beschaffenheit erkennbar werden lässt. In der Narration finden wir schon einen Hinweis auf diese „Determination“: Der Entwurf der Wahlverwandtschaften scheint aus der taghellen Vision eines Landvermessers hervorgebracht zu sein, denn die Erzählung zeichnet sich bis auf das tragische Ende durch eine epische Anschaulichkeit und Gelassenheit aus, die zwangsläufig einen wachen und beherrschenden Verstand voraussetzt. Allerdings ist die Sprache des Romans doppelt konnotiert: Sie präsentiert sich zwar in einem abgeklärten geselligen Ton, doch ist in ihr ein rätselhafter furchterregender Einschlag nicht zu überhören. Besonders in einer zweiten Lektüre werden 7 „Werden uns nicht die ersten und wesentlichsten Grundansichten unserer selbst und aller Dinge verschroben und verfälscht, wenn wir mit der Voraussetzung daran gehen, dass Alles von außen, nach Begriffen und durchdachten Absichten, durch persönliches, mithin individuelles Wesen hervorgebracht und eingerichtet sei“ Arthur Schopenhauer: „Fragmente zur Geschichte der Philosophie“, in: Julius Frauenstädt (Hrsg.): Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Leipzig 51888, S. 105.
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zahlreiche Anspielungen auf das tragische Ende der Geschichte erkennbar. Darüber hinaus bringen selbst die einzelnen Dinge eine doppelte Natur zutage. So tritt der Kahn zuerst als ein fröhliches Lustgefährt ins Bild, doch am Ende scheint er so finster wie Charons Nachen. Die bedrohliche Präsenz des Unheilvollen in jeder verständigen Äußerung, die Nachtseite jedes kleinen Wortes deuten unmissverständlich auf den Widerspruch zwischen der beherrschten Form des Romans und seiner unabwendbaren Tragik. Das zur göttlichen Perfektion neigende Vorhaben des Landvermessers erweckt ahnungslos dunkle Mächte, die dann zum tragischen Ende führen. Seine kultivatorischen Bemühungen, die einen irdischen Garten für die nach Vollkommenheit strebenden Menschen verwirklichen wollen, erscheinen als Freveltat, die erbarmungslos bestraft wird. Die menschliche Schuld liegt demzufolge in der Anmaßung, das eigenhändig zu schaffen, was Gott dem Menschen verwehrt hat: das Paradies. Anstatt eines Paradieses entsteht daher die Hölle. Somit wiederholt sich, was in der Genesis erzählt wird: Derjenige, der so wie Gott sein will, wird verdammt. Die Vorstellung des auf das irdische Glück übertragenen Himmelreichs sitzt aber tiefer als jede Vernunft und der vernünftige Mensch der klassischen Moderne – so wie er in den Wahlverwandtschaften zum Ausdruck kommt – glaubt das Paradies zu finden, auch wenn er das rationale Denken beiseite lässt. Das Streben nach Vollkommenheit charakterisiert nicht nur den Menschen, wenn er rational handelt oder – besser gesagt – wenn er glaubt, nach der gängigen Rationalität zu handeln. Die Anmaßung, Gott auf der Erde zu begegnen, beseelt den Menschen, auch wenn er dem Rausch einer kompromisslosen Liebe verfällt, so dass er alles vergisst, was er bis dahin war und hatte. Die ungehemmte vernunftwidrige Liebe von Eduard zu Ottilie gründet sicherlich in derselben Vermessenheit, den Himmel auf der Erde zu wollen. Das, was ihn bewegt, entsteht in diesem Falle aus einem begeisterten Zustand, der ihn dazu bringt, den ganzen mit Verstand und Engagement ausgedachten Plan eines Lebens über den Haufen zu werfen. Denn die im Liebesrausch vergötternde Idealisierung der Geliebten lässt einerseits die alte Welt – den ausgeträumten Traum – als Täuschung erscheinen und anderseits offenbart sich eine neue perfekte Welt durch diese Idealisierung. Ottilie erlöst Eduard aus einem ihm bewusst geworden unerfüllten Leben, ja sie führt ihn in die für ihn vermeintlich bestimmte Welt. Sie ist aber als Rettende – also als göttliche Erscheinung – von einem von Eduard freilich nicht erkannten Paradoxon geprägt: Von der rettenden Geliebte bekommt Eduard den Liebesbeweis dadurch, dass sie sich durch die Liebe ihm gleich gemacht hat. Die von ihm angehimmelte Gestalt ist auch diejenige, die seine Gestalt übernimmt. Wir könnten in diesem Falle sogar eine Art „frevelhafte“ Säkularisierung der christlichen Lehre der Menschwerdung Gottes erkennen, denn sie wird in einer irdischen Form gedacht: Die Liebende rettet den Geliebten und führt ihn in eine
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heile Welt dadurch, dass sie sich in ihn verwandelt. Hier wirkt anscheinend dieselbe Einbildung des modernen Menschen, auf der Erde das Göttliche nachzuahmen, sich ihm ähnlich zu machen. Die „Sünde“ von Eduard besteht aber nicht nur in der Wahnvorstellung, göttliche Eigenschaften zu besitzen. Seine Schuld ist nicht nur jene der Selbsttäuschung, durch die er dann selbst Opfer wird. Die Selbsttäuschung geschieht aufgrund einer Selbsteinschätzung, die in eine Liebesbeziehung führt, welche von der Struktur der Beherrschung geprägt ist. Aus diesem Grund bekommt sie eine ethische Relevanz, denn derjenige, der Dank der Liebe so wie Gott sein will, verrät das Menschliche in der Liebeserfahrung und missbraucht sie. Somit gründet die Liebeserfahrung im Endeffekt in einem Willen zur Macht, der sich dadurch zeigt, dass die Liebe von Ottilie zu Eduard die Auslöschung ihrer selbst voraussetzt. Eduard findet also in Ottilie den Menschen, der sich selbst vergessend nach seinem Ebenbild formen lässt. Das Ergebnis ist eine Liebe, die in mehr als menschliche, in allzu menschliche Abhängigkeitsverhältnisse mündet. Der Wunsch, ein irdisches Paradies schaffen zu wollen, und der Wille zur Macht, Menschen zum eigenen Ebenbild zu formen, gründen in derselben Machtvorstellung und sie gehen damit ineinander über. Allerdings wohnt die Gegenmacht, die der Erfüllung der beiden Möglichkeiten im Wege steht, schon der Aussichtslosigkeit der beiden Versuche inne: der Mensch kann weder den Himmel auf die Erde bringen noch andere Menschen nach dem eigenen Bild formen. Wohin dieses Scheitern führt, ist eine unabwendbare Tragödie, die den Menschen seine Grenzen schmerzlich, ja tödlich erfahren lässt.
Heinrich von Ofterdingen: der poetische Himmel Im romantischen Roman Heinrich von Ofterdingen von Novalis wird eine Möglichkeit der Liebeserfahrung eröffnet, die die Gefahren bewusst macht, die der modernen transzendenten Vorstellung des Liebesglückes inne wohnen. So wird eine Lösung des Paradoxons gefunden, ein Himmelreich zu erreichen, das das Menschliche zwar „potenziert“, doch in den ihm zugänglichen Möglichkeiten bleibt. Diese Lösung wird in einer Art Zwischenraum erkannt, der zwar nicht dem Himmel gehört, doch eine Aufhebung des gewöhnlichen Lebens und seiner Vorstellungen und Gedanken erlauben kann. Der Widerspruch wird damit nicht aufgehoben, aber in einen für den Menschen zugänglichen Bereich verlegt: in die Poesie. In der Poesie kann ein himmlisches Liebesglück einen Raum finden, auch wenn es nur in Form eines Traums, einer Ahnung oder einer Sehnsucht ist. Himmlisches Liebesglück kann nur auf diese Weise erfahren werden, denn es zeigt sich sonst dem „kritischen“ Romantiker allein in den irdischen Eigenschaften der Unvollkommenheit und
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der Vergänglichkeit. Aber gerade das, was auf das Irdische zurückführt, treibt den romantischen Dichter an, die irdischen Grenzen zu überschreiten und ein Gefühl des Himmels zu erahnen und sich davon ein Bild zu machen, sei es auch ein verschwommenes. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn Novalis das Werk Heinrich von Ofterdingen nicht von einem modernen Landvermesser, sondern von einem mittelalterlichen Dichter konzipieren lässt. Er nimmt das Scheitern der das Himmelreich planenden menschlichen Vernunft im Kauf und verlegt die Erfüllung dieses Plans auf das Poetische. Denn nur in der vergänglichen, verschwommenen Erfahrung des Poetischen kann sich der Romantiker eine dem Menschen zumutbare himmlische Freude vorstellen. So geschieht die erste Begegnung der Liebenden – ihr erstes Liebesglück und gegenseitiges Bekenntnis ihrer Liebe – im Rausch eines Tanzes. Sie erkennen sich als Liebespaar, ohne ein Wort zu sagen, d. h. ohne das, was den Menschen als vernünftiges Wesen auszeichnet: die Sprache. Größer könnte der Unterschied zu den wort- und gedankenreich geplanten Liebeserklärungen in den Wahlverwandtschaften nicht sein. In Goethes Roman kann nur das geschehen, was zuerst in einer konzipierten Darstellung geplant wurde, sei sie eine sprachlich oder eine durch technisches Wissen erarbeitete Skizze. Der romantische Dichter braucht Worte bzw. Darstellungen erst wenn das Paradies verflogen ist, in dem das Liebesglück geschah. Die Sprache kommt also dann in Betracht, wenn es darum geht, aus der Perspektive eines von der Geliebten getrennten Dichters ein verlorenes Moment des Liebesglückes zurück zu gewinnen. Die durch die Sprache lebendig gemachte Wirklichkeit setzt also keine Präsenz dessen voraus, was sie benennt, sondern im Gegensatz dazu ist die Abwesenheit bzw. die Unerreichbarkeit des Glücks dafür notwendig. Die Dichtung wird erst aufgerufen in dem Moment, wo erkannt wird, dass das Liebesglück weder beständig noch vollkommen sein kann. Zu dieser Erkenntnis kommt der Dichter schon, wenn sich der Rausch der ersten Begegnung mit der Liebe beim Tanzen verflüchtigt hat und er einsam in seinem Bette von morgendlichen Träumen heimgesucht wird. Es ist eben die Erfahrung des Verlustes, die seine Liebe zu Mathilde prägt und unendlich macht. Denn gerade die zu früh gestorbene Geliebte erweckt in ihm die poetische Kraft, die die Erfahrung der Unendlichkeit poetisch in der Form einer Sehnsucht möglich machen kann. Das verlorene himmlische Liebesglück kann dann nur als durch die Poesie hervorgerufenes Paradies wieder zurückgewonnen werden. Es ist nicht mehr ein Geschehen seines Lebens, was sein Liebesglück ausmacht, sondern eher ein künstlich herbeigeführter Himmel, also eine Art „künstliches Paradies“. Nicht aber eine chemische Reaktion von bestimmten Stoffen ist im Spiel, sondern bloß jene Sprache der Poesie, die vermag, himmlische Welten zu erschließen, indem sie sie benennt. Heinrich kann sich in der poetischen Darstellung ein Bild der
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verlorenen Geliebten machen, das sie ihm erst recht als eine himmlische Erscheinung vor Augen führt. Es kommt ihm vor, ihre poetische Gestalt habe dieselbe Substanz und dieselbe Dauer wie die Gestirne des Universums. In der Dichtung ist also etwas denkbar, dem das irdische Leben absolut widerspricht, denn es zeigt die Prädikate einer himmlischen Wirklichkeit, so z. B. jenes der Ewigkeit: „Aus ihren großen ruhigen Augen sprach ewige Jugend“.8 Es ist die Sprache der Augen – also ein Produkt aus irdischer Materie –, die Zeitlosigkeit verspricht. In dieser Unmöglichkeit – die vergängliche Materie sollte Unvergängliches hervorbringen – stecken die Grenzen dessen, was versprochen wird: Es handelt sich nur scheinbar um eine himmlische Wirklichkeit, denn sie lässt sich bald als träumerisches Bild einer poetischen Wirklichkeit erkennen. Sie zeigt sich kurzum als Produkt menschlicher Einbildung, als Reflex eines Reflexes, und im Endeffekt als verschwommene Widerspiegelung einer potenzierten Sehnsucht dessen, was nicht erreichbar ist und was sich nicht einmal genau vorstellen lässt.
Immensee: der Himmel als Flucht vor dem irdischen Leben Für das romantische Bewusstsein kann das Glück vollkommener paradiesischer Liebe nur aus der Perspektive von dessen Verlust poetisch bzw. künstlich wiedergewonnen werden. Erst in der ernüchterten Wirklichkeit eines einsamen Erwachens kann der romantische Dichter die andere Wirklichkeit, jene der glücklichen Liebenden, in der verschwommenen Welt der Dichtung wiedergewinnen. Erst also die unumgänglichen irdischen Erfahrungen des Verlustes und der Entbehrung machen ihn für die himmlische Erfahrung des vollkommenen Liebesglücks offen. Die Erde ist insofern der Grund, in dem der poetische Traum des Himmels überhaupt möglich wird. Theodor Storms Novelle Immensee dokumentiert nun eine radikale Umwandlung dieses romantischen Bewusstseins. Reinhard, dem Helden der Novelle, fehlt vollkommen das Bewusstsein der Wechselbeziehung zwischen Himmel und Erde und der grundlegenden Einheit, die sie bilden. Er erkennt schon als Kind eine einzige Welt, in der er leben will: die Welt seiner Einbildung, d. h. jene Welt, die nur eine sprachliche bzw. gedankliche Konsistenz hat. Er verdrängt die irdische Erfahrung der Entbehrung und des Verlustes und drückt sich vor der Mühe, eine konkrete Planung seines Glückes für das Leben zu entwerfen und sie in die Tat umzusetzen. Das faktische Leben vollkommen ignorierend widmet er sich bloß der sprachlichen Darstellung eines Liebesglücks, das so fern und fabelhaft ist, wie sich die Menschen nur das Paradies vorstellen können. Das ist alles, was er der Geliebten, der bodenständigen Elisabeth, anzubieten hat. So ist er 8 Wolfgang Frühwald (Hrsg.): Novalis: Heinrich von Ofterdingen, Stuttgart 1987, S. 99.103.
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in der herrlichen Welt seiner Einbildung zwar ein triumphierender Held. Allerdings ist er höchstens bloß ein Held der Rede, der Erzählung und der Dichtung, ein Held also einer Inszenierung, wofür er vor den Mitmenschen – Lehrern, Eltern, Freunden und vor allem seiner Geliebten – keine Verantwortung trägt. Reinhard entscheidet schon als Kind, dass sein Glück aus Vorstellungen und deren Darstellungen bestehen soll. Dieses von ihm selbst inszenierte eigene Glück verlegt er zwar nicht in den Himmel, doch es besteht aus einer erdichteten Welt, die frei von irdischen Unzulänglichkeiten ist. Sie erinnert in gewissem Sinne an eine alte Auffassung des Himmelreichs: Es bietet genau das, was das Leben verweigert. Seine Vorstellungen und deren Darstellungen haben aber die pragmatische Funktion, ihm eine vertraute unkomplizierte Wirklichkeit zur Verfügung zu stellen, damit er sich vor den Aufgaben und den Schwierigkeiten des Lebens drücken kann. Insofern können wir bei dieser Stormischen Figur eine Art Säkularisierung der Himmelsvorstellung feststellen, denn sie übt eine Funktion für das irdische Leben aus und zwar als Verdrängung von Niederlagen und als Verklärung einer nüchternen Existenz. Sie ermöglicht ihm z. B. jene Triumphe in Konflikten, in die er im wirklichen Leben nicht einmal eingeht: Das, was eine erduldete Niederlage ist, verwandelt sich in eine fiktive bzw. imaginäre Darstellung eines Triumphs, in der er die Heldenrolle spielt.9 So stellen etwa die langen Briefe, die er aus der Entfernung der Geliebten schreibt, die poetische Verklärung einer Liebe dar, die es nur in seiner bloß aus Sprache bestehenden Welt gibt. Somit wird Elisabeth nur als poetische Figur behandelt, die ausschließlich in seiner Phantasiewelt einen Platz hat. Als Lebensgefährtin wird sie also verkannt, denn die Frau, die er annehmen kann, ist nur diejenige, die er verinnerlicht hat. Elisabeth gehört aber einer Welt an, in der ihre Existenz eine solide irdische Grundlage braucht. Diese besteht sicherlich aus der materiellen Sicherheit, die ihr der Mann anbietet, aber auch aus dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Tradition und einer Gemeinschaft, gegenüber denen sie eine Verantwortung trägt. So ist ihre Antwort auf die Frage Reinhards, warum sie 9 Weil der Lehrer Elisabeth gescholten hatte, zeigt Reinhard sein Missfallen dadurch, dass er „seine Tafel zornig auf den Tisch“ stoßt. Da aber seine Revolte vom Lehrer nicht bemerkt wird, ersetzt er ihre ausgebliebene Wirkung dadurch, dass er ein Gedicht schreibt. Aber Reinhard verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen Vorträgen; stattdessen verfasste er ein langes Gedicht; darin verglich er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer grauen Krähe, Elisabeth war die weiße Taube; der Adler gelobte, an der grauen Krähe Rache zu nehmen, sobald ihm die Flügel gewachsen sein würden. Dem jungen Dichter standen die Tränen in den Augen; er kam sich sehr erhaben vor. (Michael Holzinger (Hrsg.): Theodor Storm: Immensee und frühere Erzählungen, North Charleston, USA 2013, S. 7.) Nietzsche hat diese Neigung zur Kompensation des Phantastischen beschrieben und deren Gefahr erkannt: „Ich will der phantastischen Selbstüberhebung Einhalt tun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebärden, sie ist ein Labsal für Augenblicke, von geringerem Lebenswerthe: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will“ (Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd 9, S. 156f.).
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den Schulfreund Erich heiratet, „Meine Mutter hat es gewollt“10 weder als eine Entäußerung ihrer Verantwortung, noch als ein Einbüßen ihrer Freiheit zu verstehen, denn sie hat eben die Welt gewählt, in der ihre Eltern zu Hause sind und in der ihr eine menschliche Existenz möglich scheint. Sie übt ihre Freiheit dementsprechend auch dadurch aus, dass sie auf das ihr von Reinhard angebotene künstliche Paradies verzichtet. Ganz anders geartet ist die Freiheit, die Reinhard gewählt hat. Da er mit seiner „rein poetischen“, den Himmel versprechenden Liebeserklärung alles aufgegeben hat, was er und Elisabeth vom irdischen Leben hätten haben können, durfte er in einem freien Spiele leben und jene Freude am Stoff- und Formtrieb genießen. Somit konnte er seine eigenen freien Möglichkeiten entfalten, ohne dass er sich mit den Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der Erde auseinandersetzen musste. Ja, er hat sich wie ein kleiner Gott gefühlt, der sein eigenes Paradies auf der Erde schaffen konnte. Allerdings entsteht die trübe Stimmung, in die er beim endgültigen Abschied von Elisabeth verfällt, womöglich aus dem Bewusstsein eines ins Leere laufenden Versuches, eine kleinbürgerliche langweilige irdische Lebenspraxis mit der den Himmel versprechenden Poesie zu ersetzen. Doch auch Elisabeth bleibt nach der Trennung in nostalgischer Stimmung zurück. Dafür spielt mit Sicherheit auch bei ihr das Bewusstsein einer Unmöglichkeit eine wesentliche Rolle: Obwohl sie von Erich alles bekommen hat, was sie sich materiell auf der Erde wünschen konnte, sehnt sie sich womöglich nach dem Himmel, in dem im kantianischen Sinne Interesselosigkeit, Zweckfreiheit und Begriffslosigkeit des Wohlgefallens am Schönen herrschte. In ihrer irdisch erfüllten Existenz musste sie darauf verzichten, das zu suchen, was ihr auf der Erde eine Vorstellung des Paradieses hätte geben können. Diese wurde gerade durch die Bequemlichkeit ihres sicheren Lebens verhindert, das auf Planung und Befriedigung von irdischen Interessen ausgerichtet war. Sie konnte nicht durch das Imaginäre ihr Leben mit Elan und Leidenschaft bereichern. Beim Verfolgen eines Lebensziels, beim Treffen von Entscheidungen, die auf Materielles beschränkt waren, hat sie einen wesentlichen Teil von sich selbst verwüstet. Am Ende steht auch Reinhard enttäuscht da, denn die radikale Wahl für ein poetisches Himmelsreich hat ihm die Freude eines in der Lebenspraxis verankerten Lebens verwehrt. Das, was er sich zutraut, ist das Leben, das er nicht gelebt hat. Anstatt das poetische Paradies auf eine romantische Weise als unentbehrliche Polarität im sich bedingenden Gegensatzpaar Himmel/Erde zu erfahren, hat er es als Flucht vor dem Leben zur Anwendung gebracht/eingesetzt/verstanden. Sein Versteck war die Darstellung eines Lebens, das er bloß als fiktives Spiel gelebt hat. Seine imaginative Potenz hat das Fiktive auf eine Weise radikalisiert, 10 Theodor Storm, ebd., S. 23.
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so dass er nur eine illusorische Existenz geführt hat. Insofern bleibt er genauso wie Elisabeth in einer Polarisierung gefangen, die das Gefühl eines nicht gelebten Lebens hinterlässt. Denn nur eine konfliktlose Gegensätzlichkeit à la Novalis zwischen Himmel und Erde, die das Gegenteilige nicht ausschließt, erlaubt eine (wenn auch unbeständige und provisorische) Erfahrung mit beiden Welten zu machen. So entgegengesetzt ähnlich konnten Elisabeth und Heinrich nur getrennt aneinander anwesend bzw. abwesend sein. Zusammenfassend können wir in der Dialektik von Himmel und Erde zwischen Klassik, Romantik und Realismus ein Gegensatzpaar feststellen. Bei der Klassik hat der irdische Pol die Oberhand, beim Realismus der himmlische und im Falle der Romantik können wir von einer offenen Synthese sprechen. Denn auf ihre eigene Weise haben diese moderne Epochen die Dialektik als Liebesmotiv bzw. in der Diskursform der Liebeserklärung konzipiert und behandelt. War in der Vormoderne der Himmel nur als Raum sinnlicher Genüsse gedacht, so hat der moderne Mensch gewagt, als irdisches Wesen den Himmel zu entwerfen. Literarische Werke bezeugen, in welcher Weise dieses Wagnis gestaltet wird und wie es zum Scheitern verurteilt ist. In der Klassik wird die Erde am Beispiel von den Wahlverwandtschaften von Goethe überschätzt und als eine Herrscherin gedacht, die den Himmel erobert. Anstatt aber eines Himmelreichs schafft der Mensch eine Hölle und darin wiederholt sich die biblische Verdammnis der Vertreibung derjenigen aus dem Paradies, die so wie Gott sein wollen. Im Realismus wird wie im Beispiel der Novelle Immensee von Storm der Held auf eigene Weise tragisch untergehen. Seine Schuld besteht darin, dass er sich einen eigenen Himmel besorgt, der ausschließlich aus sprachlichen Phantasiebildern besteht. Dabei verkennt er und vergisst vollkommen das irdische Leben. Im Unterschied zu den Figuren in den Wahlverwandtschaften ist seine Verdammnis eine rein persönliche Tragödie und geschieht in einem undramatischen und langweiligen Alltag: Er lebt in einer eigenen Welt und einsame und ereignislose Tage sind bis in die älteren Jahre hinein seine realistische Hölle. Im romantischen Roman Heinrich von Ofterdingen wird eine konfliktlose Polarität zwischen Himmel und Erde inszeniert, die das Gegenteilige nicht ausschließt, sondern braucht, um sich selbst zu erfahren. Der romantische Held erfährt die himmlische Freude der Liebe aus der einzigen Perspektive, die dem irdischen Menschen gewährt wird: aus jener des Verlustes und der Abwesenheit. Gerade das, was hier auf der Erde fehlt, wächst in der Form einer Sehnsucht und materialisiert sich in der Form eines Strebens nach dem, was im Hier und Jetzt nie erreicht werden kann. So findet die Tragik des Lebens im Roman Heinrich von Ofterdingen eine poetische Perspektive, die Räume für eine versöhnliche Komödie offenlässt.
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Literatur Michael Franz: Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel, Tübingen 2012. Johann Wolfgang Goethe: „Urfaust“, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, Zürich 1977. Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe, Bd. 1. Hg. v. F. Beissner und J. Schmidt, Frankfurt a. M. 1969. Bernhard Lang: Himmel und Hölle. Jenseitsglaube von der Antike bis heute, München 2003. Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, Zürich 2008 (1991). Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd 9., Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Hg. v. Wolfgang Frühwald, Stuttgart 1987. Arthur Schopenhauer: „Fragmente zur Geschichte der Philosophie“, in: Julius Frauenstädt (Hrsg.): Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Leipzig 51888. Theodor Storm: Immensee und frühere Erzählungen, Hg. v. Michael Holzinger, North Charleston, USA 2013.
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Excepté peut-être une constellation: der Himmel im Spätwerk des Stéphane Mallarmé1 L’ensemble me fascinait comme si un astérisme nouveau dans le ciel se fût proposé ; comme si une constellation eût paru qui eût enfin signifié quelque chose! Paul Valéry: Le Coup de dés. Lettre au directeur des marges (1920)
Stéphane Mallarmé doziert und schreibt in einer bewegten Zeit. Die politischen und religiösen Ordnungen des Ancien régime sind aus den Verankerungen gerissen. Die Gegenwart gleicht einem Sturm von Ereignissen, die sich jeder Kontrolle entziehen.2 Das moderne Leben ist im Fluss,3 es fordert Anpassung und Neuausrichtung.4 Es zwingt, wie Erich Auerbach betont, sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinschaft, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen wie nie zuvor.5 Das Weltwissen muss immerfort hinterfragt, überprüft und aktualisiert werden. Dies geschieht in sämtlichen Gesellschaftsbereichen: der Politik, den Wissenschaften, der Presse und auch in der Literatur. Diese überwindet ihr zeitloses Themenspektrum und erkundet den konkreten Alltag. Sie wird zeitgemäß und zu einem Phänomen ihrer Zeit. Dies hat zur Folge, „daß in einer Gesellschaft ohne Stabilität, ohne Einheit, [auch] keine stabile, definitive Kunst geschaffen werden kann“6. Der realistische Roman verfährt wie die Tageszeitungen, deren Feuilletons ihm offen stehen. Er informiert in immer neuen Anläufen über eine Wirklichkeit, die ihm vorauseilt. Er ist aus dem Dis1 Dieser Beitrag ist teilidentisch mit einem Kapitel der Studie: Die page blanche in der Literatur und bildenden Kunst der Moderne, Paderborn 2015. 2 Michel Foucault spricht von einer „wilden Ontologie“. Vgl. ders.: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 2010 [1966], S. 291. 3 Hartmut Rosa beschreibt die Moderne im Zeichen der Beschleunigung. Vgl. ders.: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin 2012. 4 Paul Valéry spricht von einem „Zeitalter des Provisorischen“. Ders.: „Ich sagte manchmal zu Stéphane Mallarmé“ [1932], in: Ders.: Werke, Bd III: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 278. 5 Erich Auerbach: Mimesis, Bern 2001 [1946], S. 427. 6 Stéphane Mallarmé: „Über die literarische Entwicklung. Umfrage von Jules Huret“ [1891], in: Ders.: Werke, hg. v. Gerhard Goebel/Bettina Rommel, Bd II: Kritische Schriften, Gerlingen 1998, S. 61ff. Dies entspricht Friedrichs Beobachtung, dass der rasche Stilwechsel in der Moderne im Grunde gar keiner ist. Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956, S. 108.
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kursuniversum der belles lettres herausgetreten, um bei der Geschichtsschreibung und den positiven Wissenschaften Anschluss zu finden.7 Somit steht er in ausgeprägtem Gegensatz zur Mallarmé’schen Dichtkunst, die diesen Schritt nicht mitgeht. Freilich begrüßt Mallarmé die Aufhebung des klassischen Formzwangs.8 Er achtet die Freiheit, „nicht mehr am Pult singen zu müssen“9. Dennoch kann er sich nicht damit anfreunden, in einer Zeit zu leben, die „das Leben der Schönheit überdauert hat“10. Wie Johannes Hauck hervorhebt, schließt das „Selbst- und Weltverhältnis, das dem Subjekt [in einer] bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft […] eingeprägt wird“11 die ästhetische Erfahrung aus. Die moderne Erziehung basiert nicht auf den Grundlagen von Religion oder Philosophie, sondern auf denen der positiven Wissenschaft.12 Sie kultiviert eine Lesehaltung, die Texte auf ihren Informationsgehalt reduziert. Mit dem Ergebnis, dass Dichtungen und Dichter an Wert verlieren. Die Vorzüge der modernen Massenkommunikation werden ihnen nicht zuteil: Comme le Poëte a sa divulgation, de même il vit; hors et à l’insu de l’affichage, du comptoir affaissé sous les exemplaires ou de placiers exaspérés: antérieurement selon un pacte avec la Beauté qu’il se chargea d’apercevoir de son nécessaire et compréhensif regard, et dont il connaît les transformations.13
Die soziale und ökonomische Ausgrenzung veranlasst Mallarmé hingegen nicht dazu, in den Chor des Literaturbetriebs einzustimmen. Im Gegenteil: Er schenkt „Ideen, die praktisch sind, [die] Unaufmerksamkeit, die auf der Straße Passanten einheimsen“.14 Er verachtet literarische Schulen sowie „alles, was ihnen ähnelt“15, 7 Roland Barthes: „Effet de réel“, in: Communications 11 (1968), S. 84ff. 8 „[…] en dehors des préceptes consacrés, est-il possible de faire de la poésie? On a pensé que oui et je crois qu’on a eu raison.“ Stéphane Mallarmé: „Sur l’évolution littéraire“ [1891], in: Ders.: Œuvres complètes, Paris 1945, S. 867. 9 Mallarmé: „Entwicklung“, S. 61. Zur „Verskrise“ vgl. ferner Michel Murat: Le coup de dés de Mallarmé. Un recommencement de la poésie, Paris 2005, S. 21ff. 10 Stéphane Mallarmé: „Das Wunder der Zukunft“ [1864], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen [1995], übers. v. Carl Fischer u. Rolf Stabel, München 2000, S. 127ff. 11 Johannes Hauck: „Nachwort“, in: Mallarmé: Sämtliche Dichtungen, S. 314. 12 Vgl. Bettina Rommel: „Mallarmé: Lesestrategien in einer Massenkultur“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 168. 13 Stéphane Mallarmé: „Étalages“ [1892], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 378. „Wie der Dichter Verbreitung findet, so lebt er auch; abgeschieden von nichtsahnender Plakatierung, vom Zahltisch, der zusammensackt unter den Exemplaren, und von entnervten Buchhandelsvertretern: von jeher gemäß einem Pakt mit der Schönheit, die wahrzunehmen mit notwendigem und begreifendem Blick, er sich zur Aufgabe machte, und deren Wandlungen er kennt.“ Stéphane Mallarmé: „Schaufensterauslagen“ [1892], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 299. 14 Stéphane Mallarmé: „Die Musik und die Literae. Vorteilhafte Ortsveränderung“ [1894], in: Ders.: Werke, S. 74ff. 15 Mallarmé: „Schaufensterauslagen“, S. 299.
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und verweigert jede Vermarktung seiner Kunst. „Wozu auch Handel treiben mit etwas, was vielleicht man nicht verkaufen kann, weil es sich nicht verkaufen lässt?“16 Mallarmé reagiert auf das ihm oktroyierte Randdasein, indem er den verwahrlosten Bohémien17 zum fürstlichen Verächter der Zeit erhebt:18 „Der Mensch kann Demokrat sein, der Künstler halbiert sich und muß Aristokrat bleiben“19, heißt es mit Strenge. Der Künstler, „sei er Dichter, Sänger, Maler oder Bildhauer“20, schwebt hoch über der demokratischen Masse.21 Mallarmé nimmt sich ein Beispiel an Joris-Karl Huysmans’ Charakter Des Esseintes. Angewidert vom profanen Alltag, verzieht er sich in den Elfenbeinturm der Ästhetik.22 Aus höchster Höhe auf das moderne Aufschreibesystem23 herabblickend, entwirft er, so die erste These, eine Literatur gegen den Strich.24 Er reagiert auf die Verpöbelung des Buches durch Billigausgaben mit luxuriösen Handschriften auf altem „Holland- oder Japanpapier“25. Er macht die Massenzur Elitekommunikation.26 Schließlich hält er den Romanen und geschwätzigen Reportagen ein Sprachkunstwerk entgegen, das sich selbst genug ist. Ein Werk, von dem Foucault schreibt, dass es am Ende einer historischen Entwicklung steht, die die Sprache „direkt und für sich in das Feld des Denkens rückt“27. Der späte Mallarmé versinnbildlicht sein Œuvre bekanntlich als einen Sternenhimmel. Dabei, so die zweite These, ist seine Poetik mit einer Handvoll philosophischer Texte vernetzt, die Friedrich Nietzsche in den Jahren 1881 bis 1888 verfasst. In ihnen fungiert der Himmel als ein Spieltisch „für göttliche 16 Ebd. 17 Dieser wird u. a. als unerhörter Bettlerjunge porträtiert. Vgl. Stéphane Mallarmé: „Pauvre enfant pâle“ [1864], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 274f. 18 Vgl. Stéphane Mallarmé: „Ketzereien, die Kunst betreffend. Die Kunst für alle“ [1862], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 272. Auf die Ausgangsposition der Schwäche verweist Hauck: „Nachwort“, S. 313. 19 Mallarmé: „Ketzereien“, S. 270. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Zur gegenseitigen Wertschätzung beider Autoren vgl. Joris-Karl Huysmans: À rebours [1884], Paris 1977, S. 293ff.; Stéphane Mallarmé: „Prose“ [1885], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 1472f. 23 Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800, 1900, München 2003. 24 Monika Schmitz-Emans spricht von einer Poetik der Umkehrung. Dabei entgeht ihr der nahe liegende Bezug zu Huysmans’ epochalem Roman. Vgl. dies.: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München 1995, S. 177. 25 Mallarmé: „Schaufensterauslagen“, S. 298. 26 Wie Rommel hervorhebt, sind seine Texte auch an ein weibliches Publikum adressiert. Vgl. Rommel: „Lesestrategien“, S. 176. 27 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966], Frankfurt/M. 1993, S. 369. „C’est qu’au début du XIXe siècle, à l’époque où le langage s’enfonçait dans son épaisseur d’objet et se laissait, de part en part, traverser par un savoir, il se reconstituait ailleurs, sous une forme indépendante, difficile d’accès, repliée sur l’énigme de sa naissance et tout entière référée à l’acte pur d’écrire.“ Foucault: Les mots et les choses, S. 313.
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Würfel und Würfelspieler“28. Ein solches Bild aufnehmend, so die dritte These, entwickelt Mallarmé das Konzept einer auf den Seitenhimmel gewürfelten Sprache, das mit jeder herkömmlichen Sprachverwendung bricht. Sein Coup de dés (1897) macht das bewährt individuell-repräsentative Schreiben zu einem anonym-suggestiven (Ent-)Wurf auf einem weißen Blatt. Jede so entstehende Anordnung von Sprachbausteinen ist das Ergebnis eines Spielstreichs. Dabei zeugt die sie umgebende Weiße von einer anfänglichen und endlichen, sprich absoluten Möglichkeit, dass die Würfel auch anders hätten fallen können. Sie steht für das Schweigen jenseits der Sprache, das Nichts, das nicht ist, weil es, wie Derrida zeigt, mit der Schrift einhergeht.29 Die literarische Leistung dieses Textes ist ebenso einfach wie enorm.30 Sie hat aber, so die vierte These, ihren Preis. Der aus der Metaphysik ausscherende Dichter erliegt den Verlockungen einer reinen, weißen Potentialität. Folglich weiß er Nietzsches Optimismus nicht zu teilen. Mallarmé würfelt im Zeichen einer malheureuse constellation. Jede seiner Schreibhandlungen führt unweigerlich ins désastre.
I
Einsprüche
Mallarmé beobachtet die Evolution des Buchmarktes mit Sorge.31 Da sich die großen Verlagshäuser auf billige Massenware spezialisieren, kommt es zu einer Begrenzung des Sortiments. Die „elementaren Interessen […] der Zahl“32 schneiden randständige Genres – vor allem die Dichtung – vom Markt und damit von der Öffentlichkeit ab. Um dieser Entwicklung entgegenzuarbeiten, erwägt Mallarmé politische Maßnahmen zum Erhalt der literarischen Tradition. Er erwägt ein Stipendienwesen nach dem Modell angelsächsischer Fellowships.33 Er sieht aber ein, dass so etwas in Frankreich, mangels entsprechender Institutionen, nicht durchführbar ist. Realistischer scheint ihm eine Besteuerung von Klassikerausgaben. Da Verleger wie Hachette und Garnier nach Ablauf des Urheberrechts zu den Alleinerben der großen Autoren werden und sie kein unternehmerisches Risiko ein28 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, München/Ravensburg 2009 [1883–1885], S. 126. 29 Jacques Derrida: „La double séance“ [1970], in: Ders.: La dissémination, Paris 2006, S. 308. 30 Das zeigt bereits die Reaktion eines seiner ersten Leser, Paul Valéry. Vgl. Stéphane Mallarmé: „Ein Würfelwurf“ [1897], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 221ff. 31 Vgl. Rommel: „Lesestrategien“, S. 174f. 32 Mallarmé: „Schaufensterauslagen“, S. 196. 33 „Chaque logis collégial séculairement isole un groupe de ces amateurs qui se succèdent, s’élisant. […] Cette condition, l’élu, universitairement gradué. Il n’aura, sa vie durant, qu’à toucher sa prébende. Invariablement.“ Stéphane Mallarmé: „La musique et les lettres“ [1894], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 636.
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gehen,34 wäre es gerecht, wenn sie einen Teil ihrer Erlöse an ein Büro abführten, das „dem Bücher-Depot beim Ministerium des Inneren“ oder der Nationalbibliothek anzuschließen wäre. Die so erzielten Einnahmen ließen sich in Form von Preisen oder Druckkostenzuschüssen an Nachwuchsautoren ausschütten.35 Diese Förderung ökonomisch und symbolisch unbezahlbarer Genres scheitert indes am Widerstand der Großverleger.36 Demnach hält die Nivellierung des Buchmarktes ungebremst an. Sprachlich dominieren realistische Beschreibungen und der Reportagestil einer Tagespresse, „die sich ganz beschränkt aufs Öffentliche“37. Die Trivialität der Zeitungsberichte, deren Fiktionalität er klar durchschaut,38 verachtend, prüft Mallarmé in Le spectacle interrompu (1875) das Potential von Traumberichten, indem er einen Zirkusunfall in „eines der Dramen aus der Geschichte des Kosmos“39 verwandelt. Vom Ergebnis überzeugt, wundert er sich, weshalb „nicht in jeder […] Stadt ein Verein der Träumer besteht […], um eine Zeitschrift zu fördern, die Geschehnisse wie im Traum schildert“40. Das Projekt einer Traumzeitschrift wird indes nicht ernsthaft verfolgt.41 Ein weiteres Problem ist der Ausbau der staatlichen Alphabetisierungsprogramme.42 Das moderne Schulwesen produziert pragmatische Leser, die den Zeitaufwand ihrer Lektüre mit deren Nutzen verrechnen.43 Daran wäre nichts zu bemängeln, wenn die Poesie von diesem Lektürekonzept44 verschont bliebe. Doch ebendies ist nicht der Fall. Die Zöglinge lesen alle Schrifterzeugnisse mit derselben Haltung. Mit schweren Folgen: Da „die Blumen des Bösen mit Schrifttypen gedruckt [sind], deren Aufblühen […] die Blumenbeete [einer] zweckorientierten Zeitungstriade schmückt“45, kommt es immer häufiger dazu, dass „die 34 „Je signale, que le risque manque à réimprimer nos classiques, au fur et à mesure de la demande. Le bénéfice attendu de cette entreprise doit porter sur les conditions matérielles, de luxe ou de bon marché, que dicte l’intérêt: élever un monument, divulguer. Invention de caractères, de format, illustrations, le papier d’une époque présenté au chef-d’œuvre constitue un apport propre ou monayable.“ Mallarmé: „La musique et les lettres“, S. 638. 35 Mallarmé: „Die Musik und die Literae“, S. 89ff. 36 Vgl. Roger Pearson: „Les Chiffres et les Lettres: Mallarmé’s Or and the Gold standard of Poetry“, in: XIX 2 (2004), S. 44ff. 37 Mallarmé: „Schaufensterauslagen“, S. 296. 38 „Artifice que la réalité, bon à fixer l’intellect moyen entre les mirages d’un fait […].“ Stéphane Mallarmé: „Un Spectacle interrompu“ [1875], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 276. 39 Stéphane Mallarmé: „Eine abgebrochene Schaustellung“ [1875], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 147. 40 Ebd. 41 Erst die Surrealisten werden sich daran machen, diesen Traum zu realisieren. 42 Vgl. Rommel: „Lesestrategien“, S. 169. 43 Vgl. Hauck: „Nachwort“, S. 313. 44 Vgl. Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer „inneren“ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999, S. 9ff. 45 Mallarmé: „Ketzereien“, S. 268.
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Erstbesten in ein Meisterwerk hinein[poltern]“46, das nicht für sie vorgesehen ist. Mallarmé betrachtet das unbefugte Betreten der Poesie als Profanation. Um das aristokratische Genre vor der steigenden alphabêtise47 der demokratischen Masse zu hüten, fordert er dessen Ausgliederung aus dem Lehrplan: L’heure qui sonne est sérieuse. L’éducation se fait dans le peuple, de grandes doctrines vont se répandre. Faites que s’il est une vulgarisation, ce soit celle du bon, et non celle de l’art […]. Que les masses lisent la morale, mais de grâce ne leur donnez pas notre poésie à gâter.48
Parallel dazu erschwert er den Zugang zur Dichtung, indem er sie mit einer Aura des Heiligen umgibt: „Alles Heilige und was heilig bleiben will, hüllt sich in Mysterium. Die Religionen verschanzen sich hinter Geheimnissen, die sich allein dem Auserwählten offenbaren: die Kunst hat die ihren.“49 Die heilige Wirkung des Kunstwerks, die durch eine prunkvolle Ausstattung und einen sehr hohen Kaufpreis verstärkt wird, soll den profanen Leser dazu animieren, „das Meßbuch zu schließen“, ehe ein „entweihender Gedanke es befleckt“50.
46 Ebd. 47 Vgl. Rommel, der den Begriff mit Bezug auf Jacques Lacan benutzt. Vgl. dies.: „Lesestrategien“, S. 168. 48 Stéphane Mallarmé: „Hérésies artistiques. L’art pour tous“ [1862], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 260. „Die Stunde, die schlägt, ist ernst: die Erziehung geschieht im Volk, große Lehren werden sich verbreiten. Sorgt dafür, daß, wenn es eine Vulgarisierung geben wird, es die des Guten sei, nicht die der Kunst […]. Die Massen mögen die Moral lesen, aber bitte laßt sie nicht unsere Dichtkunst besudeln.“ Stéphane Mallarmé: „Ketzereien, die Kunst betreffend. Die Kunst für alle“ [1862], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 272. 49 Mallarmé: „Ketzereien“, S. 268. Zur rituellen Fundierung des Kunstwerks vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie [1935], Frankfurt/M. 1963. 50 Ebd. Dass diese Strategie funktioniert, belegt Jules Huret, der den Dichter tatsächlich als einen Heiligen porträtiert: „Taille moyenne, barbe grisonnante, taillée en pointe, un grand nez droit, des oreilles longues et pointues de satyre, des yeux largement fendus, brillant d’un éclat extraordinaire, une singulière expression de finesse tempérée par un grand air de bonté. Quand il parle, le geste accompagne toujours la parole, un geste nombreux, plein de grâce, de précision, d’éloquence; la voix traîne un peu sur les fins de mots en s’adoucissant graduellement : un charme puissant se dégage de l’homme, en qui l’on devine un immarcescible orgueil, planant au-dessus de tout, un orgueil de dieu ou d’illuminé devant lequel il faut tout de suite intérieurement s’incliner […].“ Mallarmé: „Sur l’évolution littéraire“, S. 866.
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II
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Suggestionen
Die bewusste Isolation der Poesie vollzieht sich auch auf medialer Ebene. So reagiert Mallarmé auf das „ausgebreitet-volle Blatt“51 der Zeitungen mit dem „geschlossenen Erzeugnis“52 des Buchs. Die Tageszeitung entnimmt dem Druck „das Blatt […], wie es seine Prägung erfuhr, den Fluß eines Textes zeigend, im Anfangsstadium, roh“53. Das Buch jedoch verbirgt „durch das Einschreiten der Faltung“54 ein Geheimnis, das es vor den Blicken Neugieriger zu schützen gilt. Mallarmés Abneigung gilt gleichwohl nicht nur den offen einsehbaren Blättern, sondern auch der dort fixierten Sprache. Er schmäht die „unerschrockene Vordergründigkeit“ einer Rede, deren alleiniges Ziel es ist, „die Banalität auseinanderzufalten“55. Aus diesem Grund distanziert er sich auch von den Parnassiens. Sie behandeln die „Themen nach den alten Philosophen und Rhetoren […], indem sie die Gegenstände direkt präsentieren“56. Sie begehen Verrat am Mysterium der Dichtung, deren Zweck es nicht ist, die Dinge zu zeigen, sondern „sie entstehen zu lassen, hervorzurufen, zu evozieren“57: Nommer un objet, c’est supprimer les trois quarts de la jouissance du poëme qui est faite de deviner peu à peu: le suggérer, voilà le rêve. C’est le parfait usage de ce mystère qui constitue le symbole: évoquer petit à petit un objet pour montrer un état d’âme, ou inversement, choisir un objet et en dégager un état d’âme, par une série de déchiffrements.58
Gerhard Regn hat das hier anformulierte Programm einer suggestiven Beschreibung erörtert.59 Er zeigt Mallarmé als einen „Meister der Verrätselung“, der seinen Lesern die größte intellektuelle Anstrengung abverlangt; mit dem Effekt, 51 Stéphane Mallarmé: „Das Buch, Instrument des Geistes“ [1885], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 301. 52 Ebd., S. 300. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 301. 55 Stéphane Mallarmé: „Das Mysterium in der Literatur“ [1896], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 306. 56 Mallarmé: „Entwicklung“, S. 67. 57 Ebd. 58 Mallarmé: „Sur l’évolution littéraire“, S. 869. „Einen Gegenstand nennen heißt dreiviertel des Genusses am Gedicht zu tilgen, der daraus besteht, allmählich zu erraten: die Sache suggerieren, das ist der Traum. Der vollkommene Gebrauch dieses Geheimnisses ist es, der das Symbol entstellt: nach und nach einen Gegenstand erstehen lassen, um einen Seelenzustand zu zeigen, oder umgekehrt einen Gegenstand wählen und daraus einen Seelenzustand hervorgehen lassen, vermögen einer Reihe von Entzifferungen.“ Mallarmé: „Entwicklung“, S. 67. 59 Gerhard Regn: Konflikt der Interpretationen. Sinnrätsel und Suggestion in der Lyrik Mallarmés, München 1978.
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dass die Masse ihm mit „Fassungslosigkeit, Ironie, sonorem Zorn“ sowie „Bekundungen von Hilflosigkeit“ begegnet.60 Die entscheidende Kritik wird aber der Sprache selbst zuteil. Mallarmé entdeckt, dass das Wort von der Wirklichkeit abgeschnitten ist: Les langues, imparfaites en cela que plusieurs, manque la suprême: penser étant écrire sans accessoires, ni chuchotement mais tacite encore l’immortelle parole, la diversité, sur terre, des idiomes empêche, personne de proférer les mots qui, sinon se trouveraient, par une frappe unique, elle-même matériellement la vérité.61
Die ersehnte Verschmelzung von Signifikant und Signifikat übersteigt die Fähigkeiten des evozierenden Dichters. Seine Rede versagt, wenn sie Objekte „durch Anklänge auszudrücken versucht“62. Aus dieser „ontologischen Unstimmigkeit von Realität und Sprache“63 wird sodann die radikalste Konsequenz gezogen. Wenn die Natur für sich statthat und ihr nichts hinzuzufügen ist,64 so die Überlegung, gilt dies auch für die Dichtkunst: „[D]ie Literatur existiert […] allein, ausschließlich Allem“65, heißt es in La musique et les lettres (1895). Ihr Anliegen kann deshalb nicht darin bestehen, „eine […] Anzahl von Edelsteinen zu nehmen und deren Namen auf Papier zu schreiben“66. Stattdessen ist es ihre Aufgabe, „ohne Hemmnis des konkreten Rückgriffs“67 auf die natürliche Dingwelt, Edelsteine zu produzieren. Mallarmé erläutert dies am Beispiel einer (Kunst-)Blume: Je dis: une fleur! Et hors de l’oubli où ma voix relègue aucun contour, en tant que quelque chose d’autre que les calices sus, musicalement se lève, idée même et suave, l’absente de tous bouquets.68
60 Paul Valéry: „Brief über Mallarmé“ [1927], übers. v. Dieter Steland u. Elmar Tophoven, in: Ders.: Werke, S. 260. 61 Stéphane Mallarmé: „Crise de vers“ [1886], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 363f. „Die Sprachen, unvollkommen insofern, als sie mehrere sind und die erhabenste fehlt: da Denken ein Niederschreiben – ohne Zubehör noch Flüstern, sondern verschwiegen noch – der unsterblichen Rede ist, hindert die Verschiedenheit, auf Erden, der Idiome jedermann, die Worte auszusprechen, die andernfalls, durch eine einmalige Prägung, sich stofflich als die Wahrheit selbst entdeckten.“ Stéphane Mallarmé: „Verskrise“ [1886], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 282. 62 Mallarmé: „Verskrise“, S. 282. 63 Vgl. Friedrich: Struktur, S. 93. 64 Stéphane Mallarmé: „Musik und Literatur“ [1894], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 273. 65 Ebd. 66 Mallarmé: „Entwicklung“, S. 71. 67 Mallarmé: „Verskrise“, S. 287. 68 Mallarmé: „Crise de vers“, S. 368. „Ich sage: eine Blume! Und aus dem Vergessen, in das meine Stimme jeglichen Umriß verbannt, erhebt sich musikalisch, als etwas anderes als die gewußten Kelche, Idee selbst und lieblich, die allen Sträußen fehlende.“ Mallarmé: „Verskrise“, S. 287.
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Wie Friedrich bemerkt, liegt die Idee der Blume nicht im außersprachlichen Objekt,69 sondern sie entspringt dem Wort. Damit wird die platonische Sprachmetaphysik auf den Kopf gestellt. Derrida offenbart, wie der Mallarmé’sche Mime70 die Nachahmung einer Präsenz (Idee) zugunsten der ‚Vorahmung‘ einer Nicht-Präsenz (Idee) verwirft.71 Die auf einer leeren Bühne (Seite) agierende Figur (Schrift) zeigt „nichts als die Idee, die nicht ist“72. Ihre Kunst ist der externen Realität enthoben.73 Die Seite (Bühne) ist der metaphysisch grundlose Grund für den Palast der Sprache (Choreographie), der nichts Endliches abbildet; für einen Text, der aus dem differentiellen Zusammenspiel autarker Elemente heraus „das Unendliche entfesselt“74: Les mots, d’eux-mêmes, s’exaltent à mainte facette reconnue la plus rare ou valant pour l’esprit, centre de suspens vibratoire; qui les perçoit indépendamment de la suite ordinaire, projetés, en parois de grotte, tant que dure leur mobilité ou principe, étant ce qui ne se dit pas du discours: prompts tous, avant extinction, à une réciprocité de feux distante ou présente de biais comme contingence.75
So wird Dichtung zum Aufruf an den Leser, sich einem Sprachzauber hinzugeben.76 Poésie pure – als eine die Welt und den Dichter weißende „linguistische Tätigkeit“77 – ist die unheimliche Andeutung früherer Texte wie Le démon de
69 Vgl. Friedrich: Struktur, S. 97. In diesem Zusammenhang steht die von Valéry überlieferte Anekdote vom Dichter, der sein Gegenüber, den Maler Edgar Degas (1834–1917), belehrt: „Ce n’est point avec des idées, mon cher Degas, que l’on fait des vers. C’est avec des mots.“ Paul Valéry: „Poésie et pensée abstraite“ [1939], in: Ders.: Œuvres, S. 1324. 70 Stéphane Mallarmé: „Mimique“ [1886], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 310ff. 71 Mallarmé spricht von der „Übertragung einer Struktur in eine andere“. Mallarmé: „Verskrise“, S. 285. 72 „Rien que l’idée qui n’est rien. L’idéalité de l’idée est ici, pour Mallarmé, le nom, encore métaphysique, encore nécessaire pour marquer le non-étant, le non-réel ou le non-présent […].“ Derrida: „Séance“, S. 257. 73 Dies ist der Punkt, an dem Regns z. T. ergiebige Lektüren abreißen. 74 Stéphane Mallarmé: „Die Musik und die Literae“, S. 105. 75 Stéphane Mallarmé: „Le mystère dans les lettres“ [1896], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 386. „Die Wörter erregen von sich aus sich zu manch einem Facettenschillern, das sich herausstellt als das kostbarste oder für den Geist, dies Zentrum vibrierenden Schwebens, tauglichste; der sie, von der gewöhnlichen Abfolge unabhängig, auf Grottenwände projiziert sieht, für die Dauer ihrer Beweglichkeit, Grundsatz, denn ebendies läßt von der Rede sich nicht sagen: schnell bereit allesamt, vor ihrem Erlöschen, zu einer Wechselbeziehung von Feuern, über Entfernungen hinweg oder schräghin, wie zufällig.“ Mallarmé: „Mysterium“, S. 309. 76 Dies ist kein traditioneller Zauber: „Pour Mallarmé, il ne saurait y avoir d’autre magie que la littérature, laquelle ne s’accomplit qu’en faisant face à elle-même d’une manière qui exclut la magie.“ Maurice Blanchot: Le livre à venir [1959], Paris 1990, S. 308. Hans Blumenberg sieht im Buch „ein magisches Instrument des Wahns“. Vgl. Ders.: „Das leere Weltbuch“ [1981], in: Ders.: Die Lesbarkeit der Welt [1981], Frankfurt/M. 1996, S. 321. Zum Okkultismus Mallarmés vgl. Friedrich: Struktur, S. 102f. 77 Stéphane Mallarmé: „Unheimliche Analogie“ [1864], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 137.
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l’analogie (1874). In späten Texten wird sie hingegen mit einer Konsequenz betrieben, die Mallarmé zum Ahnherrn der modernen Dichtung macht.78
III
Klang und Konstellation
Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Sonett Ses purs ongles (1864), dessen lyrische Sprechinstanz in der Parenthese der Verse sieben und acht buchstäblich ausgeklammert wird: „(Car le Maître est allé puiser les pleurs du Styx / Avec le seuil objet dont le Néant s’honore)“79. Das (Sprach-)Zentrum des Gedichts ist leer, der Sprechgegenstand sprachlich vernichtet. Es bleibt ein offener Raum zur Stunde null (ce minuit), ein leeres, andeutungsweise möbliertes Zimmer (salon vide) sowie ein dahinsterbender Spiegel, auf dessen Fläche sich so etwas wie das Sternbild des großen Bären abzeichnet.80 Die höchst komplexe Syntax und das bizarre Vokabular machen den Text zu einer rätselhaften Wortkaskade, die als Teil einer Sprachstudie ausgegeben wird: J’extrais ce sonnet, auquel j’avais une fois songé d’une étude projetée sur la parole: il est inverse, je veux dire que le sens, s’il en a un (mais je me consolerais du contraire grâce à la dose de poésie qu’il renferme, ce me semble) est évoqué par un mirage interne des mots mêmes.81
Der erwähnte Umkehreffekt resultiert daraus, dass das Sonett keinerlei Sinn artikuliert, sondern im Zusammenspiel der Wörter Sinneffekte generiert. Im Grunde ist es kaum mehr als eine autarke Konstellation auf einer weißen Seite. Daher ist es verständlich, dass man das vorausgehende Manuskript posthum mit dem Titel Sonnet allégorique de lui-même (1935) versehen hat. Doch obwohl einiges für einen dezentrierten Text avant la lettre spricht, weist die Einschränkung, er sei so schwarz-weiß wie nur eben möglich,82 darauf hin, dass das Experiment nicht vollständig geglückt ist. Bei näherer Betrachtung wird die Sprachkonstellation über den Spiegel mit dem Universum in Bezug gesetzt. Die schwarz-weiße Schreibschrift gibt sich als Negativ der weiß-schwarzen Sternschrift zu erkennen. Das ist die erklärte Absicht des frühen Mallarmé:
78 Vgl. Zur revolutionären Stellung Mallarmés vgl. u. a. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle. Lautréamont et Mallarmé, Paris 1974. 79 Stéphane Mallarmé: „Ses purs ongles…“ [1864], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 1488. 80 Vgl. Mallarmé an Cazalis im Juli 1868. Ebd., S. 1490. 81 Ebd., S. 1489; [eigene Übersetzung]. „Ich entnehme dieses Sonett einer geplanten Studie über das Wort. Es ist verkehrt insofern als der Sinn, wenn es denn einen hat (ich hoffe auf das Gegenteil aufgrund des Grades an Poesie, den es beinhaltet), durch eine Spiegelung der Wörter untereinander evoziert wird.“ 82 Ebd.
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J’avais, à la faveur d’une grande sensibilité, compris la corrélation intime de la Poésie avec l’Univers, et, pour qu’elle fut pure, conçu le dessein de la sortir du Rêve et du Hasard et de la juxtaposer à la conception de l’Univers.83
Folglich trifft Ses purs ongles sehr wohl eine Aussage: über sich selbst. Es zeigt sich als Sprachkosmos. Die schwarzen Wörter strahlen an einem weißen Seitenhimmel und suggerieren dem Betrachter einen Sinn. Die Strahlkraft liegt in ihrer Klangqualität, auf die der Titel – gesprochen: „C’est pur son“ – hindeutet. Dies erklärt nicht zuletzt die dominante Reimstruktur „en x“, die gegebenenfalls Lexeme einfordert, die in der französischen Sprache nicht existieren. So heißt es in einem Schreiben an Eugène Lefébure (1838–1908): Enfin, comme il se pourrait toutefois que, rythmé par le hamac, je fisse un sonnet, et que je n’ai que trois rimes en ix, concertez-vous pour m’envoyer le sens réel du mot ptyx: ou m’assurer qu’il n’existe dans aucune langue, ce que je préférerais beaucoup afin de me donner le charme de le créer par la magie de la rime.84
Indem Mallarmé die Schrift zur Aufzeichnung von Klangwerten benutzt, rückt er die reine Dichtung in die Nähe zur Musik: „Die Schrift […] nimmt ihre Rechte gegenüber dem Sturz der nackten Töne wieder auf“85, schreibt er in Le mystère dans les lettres (1886). So wird der Dichter zum Spieler auf der absoluten Wortklaviatur. Seine Texte sind sinnfrei, seine Himmelsmusik indes, „die äußerste Zerrissenheit der Instrumente, Folge [des stets] vorübergehenden SichZusammenschlingens, klingt wahrhafter, […] lichtvoller argumentierend, als je ein Räsonieren es vermochte.“86 Die hier erwogene Korrelation von Dichtung und Universum vollzieht sich im Rahmen eines neutralisierten Kosmos. Dieser moderne Kosmos, so Rémy Brague, ist ethisch indifferent: „Das Weltbild, das nach Kopernikus, Galilei und Newton aus der Physik hervor[geht], ist das Spiel wilder Kräfte […].“87 Nietzsche beschreibt ein solches Spiel mit den für Mallarmé relevanten Worten: 83 Mallarmé nach Lloyd James Austin: „Mallarmé et le rêve du Livre“, in: Ders.: Essais sur Mallarmé, Manchester 1995, S. 75; [eigene Übersetzung]. „Ich habe, dank einer großen Feinfühligkeit den geheimen Zusammenhang der Dichtkunst mit dem Universum begriffen, und, damit erstere rein sei, beschlossen, sie dem Traum und dem Zufall zu entreißen und sie der Konzeption des Universums gegenüberzustellen.“ 84 Mallarmé an Lefébure am 3. Mai 1868. Mallarmé: „Ses purs ongles…“, S. 1488; [eigene Übersetzung]. „Kurzum, wie es jedenfalls sein könnte, dass ich, im Rhythmus der Hängematte, ein Sonett schreibe und nicht mehr als drei Reime auf ix habe, besprechen sie sich, um mir den tatsächlichen Gehalt des Wortes ptix zu schicken, oder aber mir zu versichern, dass er in keiner Sprache existiert, was ich sehr bevorzugen würde, um mir den Reiz zu verschaffen, ihn durch die Magie des Reims zu erzeugen.“ 85 Mallarmé: „Mysterium“, S. 308. 86 Ebd. 87 Rémy Brague: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006, S. 237.
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Es gibt also nur ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit? […] ja, vielleicht gibt es nur ein Reich, vielleicht gibt es weder Willen noch Zwecke und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche die Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit.88
Und der moderne Mensch ist schlicht nicht im Stande, sich diesem Spiel zu entziehen: Vielleicht sind unsere Willensakte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und eitel dazu, unsere eigene Durchschnittlichkeit zu begreifen: die nämlich, daß wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren Absichten und Handlungen nichts mehr tun, als das Spiel der Notwendigkeit zu spielen. Vielleicht! 89
Auf gut Französisch: „Toute pensée émet coup de dés.“ In diesem Zusammenhang erscheint Mallarmé als konsequenter, fast zynischer, Wiedergänger seiner antiken Vorfahren, die ihr Haupt zu den Sternen erhoben, um in deren Gesetzen ein Vorbild für Kunst und Lebensführung zu finden. Eine schweigende UnOrdnung am Himmel betrachtend, die unendlich viele Auslegungen erlaubt, kommt er als nachahmendes Wesen nicht umhin, sich ihren Plan und ihre Gestaltung zu eigen zu machen. Somit übertragt er das Spiel des Zufalls – das Würfelspiel – auf die Materie, die Nietzsche vorerst außer Acht lässt: die Sprache.90
IV
Himmlische Würfe
Die geradlinigste Umsetzung der poésie pure ist zweifelsfrei der Coup de dés (1897). In ihm sprengt die Erkundung des Form-, Klang- und Sinnpotentials die Ordnung der Schrift. Angeregt von der Gestaltung der Werbeplakate,91 experimentiert Mallarmé mit Schriftarten und -größen. Darüber hinaus befreit er Wörter und Wortgruppen aus dem Syntagma. Er verstreut sie über den Raum von Doppelseiten.92 Ebendies wird als Novum des Textes benannt. Mehr, so Mallarmé, sei unter gegebenen Umständen – auch er nimmt Rücksicht auf sein Publikum – nicht möglich:
88 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, München 2003 [1881], S. 122. 89 Ebd. 90 Nietzsches 1873 verfasste Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ erscheint bekanntlich erst posthum. 91 Vgl. Blumenberg: „Weltbuch“, S. 316. 92 Vorläufer dieser Technik sind René Ghil (1862–1925), Paul Leclercq (1872–1956) und Francis Poictevin (1854–1904). Vgl. Murat: Coup, S. 85.
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[…] il ne m’appartient pas, hormis une pagination spéciale ou de volume à moi, dans un Périodique, même valeureux, gracieux et invitant qu’il se montre aux belles libertés, d’agir par trop contrairement à l’usage.93
Das im Umfeld der Erwägungen zu freiem Vers- und Prosagedicht entstandene Werk ist aber „mehr als ein Entwurf“94. Es soll ein Prototyp für ein neues Genre sein.95 Ein Anspruch, der in mehrerlei Hinsicht eingelöst wird. Der verräumlichte Text erschließt sich dem Leser nicht durch das kontinuierliche „Hin und Her des Blicks, eine Zeile beendet, zur nächsten, um von neuem anzufangen“96. Die sehr „auf Distanz bedachte Schreibweise, die […] Wortgruppen oder Einzelteile heraushebt“, stört den Lektürefluss, variiert das Tempo und bietet dem Leser zugleich „ein simultanes Bild der Buchseite […], diese als Einheit gesehen wie sonst der Vers oder die ganze Zeile“97. Durch die mehrfach im Text betonte Simultangestalt – jeté simultanément, voir soudain – öffnet sich dem Leser eine „zweite Dimension“98 des Gedichts. Ist dies einmal geschehen, kann der Text nicht mehr wie gewöhnlich linear gelesen werden. Das Lesen verliert sich zwischen den Ebenen von Syntagma und Paradigma. So offenbart sich die Verräumlichung der Sprache als ein höchst effizientes Mittel zur Verabsolutierung des Textes. „Die Erzählung“, so heißt es, „ist vermieden“99. Der Würfelwurf ist ein autarkes Sprachuniversum. Über das Kalligramm des großen Bären gibt auch er sich als eine Sternschrift zu verstehen. Das bezeugt einer seiner ersten Leser, Paul Valéry: Là, le prestige se produisait; là, sur le papier même, je ne sais quelle scintillation de derniers astres tremblait infiniment dans le même vide interconscient, où comme une matière de nouvelle espèce, distribuée en amas, en traînées, en systèmes, coexistait la Parole! Cette fixation sans exemple me pétrifiait. L’ensemble me fascinait comme si un astérisme nouveau dans le ciel se fût proposé ; comme si une constellation eût paru qui eût enfin signifié quelque chose ! — N’assistais-je pas à un événement de l’ordre universel […]? 100
93 Stéphane Mallarmé: „Un coup de dés“ [1897], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 456. „[…] doch ich darf mir nicht erlauben, außer einer neuartigen Raumverteilung, in einer mutigen, reizvollen und einladenden Zeitschrift, die sich schönen Freiheiten zur Verfügung stellt, zu sehr wider die Gepflogenheiten zu handeln.“ Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 225. 94 Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 225. 95 Ebd. Vgl. Murat: Coup, S. 7. 96 Mallarmé: „Instrument“, S. 302. 97 Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 223. 98 Paul Valéry: „Über den Würfelwurf von Mallarmé“ [1920], in: Ders.: Werke, Bd III: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 248f. 99 Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 223. 100 Paul Valéry: „Le coup de dés. Lettre au directeur des marges“ [1920], in: Ders.: Œuvres, S. 624. „[…] hier vollzog sich sich das Wunderbare, hier, auf dem Papier, bebte unendlich
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Bei näherer Betrachtung handelt es sich abermals um ein univers à l’envers. Die Würfel fallen schwarz auf weiß: „[…] man schreibt nicht licht auf dunkles Feld, das Alphabet der Sterne nur kündet sich so, angedeutet oder unterbrochen, der Mensch verfolgt schwarz auf weiß.“101 Monika Schmitz-Emans beschreibt den Coup de dés als das Negativ zum Positiv der Sternschrift.102 Dabei wird das Weiß, „die [sämtliche Wörter] umgebende Stille“103, zum sichtbaren Bestandteil des Textes: Le papier intervient chaque fois qu’une image, d’elle-même, cesse ou rentre, acceptant la succession d’autres et, comme il ne s’agit pas, ainsi que toujours, de traits sonores réguliers ou vers – plutôt, de subdivisions prismatiques de l’Idée, l’instant de paraître et que dure leur concours, dans quelque mise en scène spirituelle exacte, c’est à des places variables, près ou loin du fil conducteur latent, en raison de la vraisemblance, que s’impose le texte.104
Das Zitat zeigt, wie Schrift und Leere einander umschreiben. Das Schwarze und das Weiße sind auf unauflösbare Weise miteinander verwoben. Darüber hinaus will das Gedicht nicht nur linear und flächig gelesen werden: „Darauf hinzuweisen ist noch, daß aus diesem extremen Denkprozeß […], oder sogar durch das Schriftbild, sich für den, der laut lesen will, eine Partitur ergibt.“105 Das Werk ist demnach eine kontrapunktische Prosa: „Die […] Typographie im Hauptmotiv, einem Nebenmotiv und Einschüben bestimmt die […] Gewichtung beim mündlichen Vortrag und die Stellung, in der Mitte, oben, unten auf der Seite, weist hin auf steigende oder fallende Intonation.“106 Folglich ist der Schrift- zugleich ein Klangraum. Michel Murat bemerkt, wie über das Schriftbild Seh- und Hörsinn zugleich angesprochen werden, ohne dass ihnen eine alltäg-
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rein das Funkeln entferntester Sterne in jener zwischenbewußten Leere, in der, wie eine neuartige Materie, als Ballungen, Schwärme, Systeme verteilt, das Wort gleichzeitig da war! Diese beispiellose Verdichtung versteinerte mich geradezu. Dieses Gebilde erregte mich, als habe sich ein neues Sternbild am Himmel gezeigt; als sei eine Konstellation erschienen, von der sich endlich eine Bedeutung hätte ablesen lassen! – War ich nicht Zeuge eines Ereignisses von kosmischem Rang […]?“ Valéry: „Würfelwurf“, S. 246. Stéphane Mallarmé: „Das Buch betreffend. Beschränktes Handeln“ [1894], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 289. Schmitz-Emans: Schrift, S. 166. Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 223. Mallarmé: „Un coup de dés“, S. 455. „Das Papier drängt sich immer dann auf, wenn ein Bild sich von selbst verliert oder zurücktritt, anderen das Kommen überlassend und, da es sich nicht wie sonst um regelmäßige klingende Aussagen oder Verse handelt – eher um prismatische Nebenformen des Grundgedanken, im Augenblick ihres Auftretens und während der Dauer ihres Mitspielens in einer geistig exakten Inszenierung, fällt der Text an immer anderer Stelle, nach dem Gebot der Wahrscheinlichkeit, dem verborgenen Leitmotiv näher oder fernen, wieder ins Auge.“ Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 223. Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 223ff. Ebd., S. 225.
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liche Nachricht mitgeteilt wird.107 Wie die Fächergedichte macht auch der Coup de dés keinerlei Aussage über einen Würfelwurf. Stattdessen macht er eine Aussage über sich selbst: als Sprachwurf. Schreiben ist nicht länger mimetisches Abbilden, sondern kombinatorisches Spielen: „Wozu dient das alles? – Zu einem Spiel“108 kokettiert Mallarmé in Le mystère dans les lettres. Einem Spiel, das, wie Derrida zeigt, jeder Form von Tiefe entbehrt.109 Der Dichter wird vom Subjekt zur Funktion,110 er teilt sich nicht mit, sondern tätigt den Wurf und wird so zum Sprachweltschöpfer. Er handelt wie Nietzsches Demiurg, der ebenfalls ein Würfelspieler ist. Also spricht Zarathustra: O Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir deine Reinheit, daß es keine ewige Vernunft-Spinne und Spinnennetze gibt – daß du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, daß du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler.111
Folglich entspricht das Weiß der Seite dem Schwarz des leeren Ideenhimmels. Die gestürzten Wörter sind das Pendant der gefallenen Sterne. Der Dichter und der Weltschöpfer entwerfen leere Universen. Ihre dem Würfelbecher entsprungenen Konstellationen verweilen „in der Erscheinung eines zeitgebundenen Raums […] bar jeder Bedeutung, nur Präsenz.“112 Ihr Spiel folgt keinem moralischen, sondern, so Valéry, einem poetischen Imperativ.113 Beide würfeln aus Überdruss am Unentschiedenen, damit überhaupt entschieden wird.114 Ihre Schöpfung ist ein Ritual der Kontingenz: „Stets ist es der Zufall, der seine Idee verwirklicht […] in ihm ist das Absurde – er bezieht es mit ein […] und macht es zu schaden: das erlaubt dem Unendlichen zu sein.“115 Der Dichter kann sich über den Zufall erheben, indem er ihn bejaht. Sprich: Er kann nach dem Gesetz des Zufalls schaffen. Seine Dichtung ist dann exakt so, wie es der Zufall will.116 Wie der Hauptsatz des Coup de dés vermerkt, ist dieser Erfolg jedoch nicht von Dauer. Denn: „Ein Würfelwurf löscht den [anfänglichen] Zufall 107 108 109 110 111
112 113 114 115 116
Murat: Coup, S. 160f. Mallarmé: „Die Musik und die Literatur“, S. 274. Jacques Derrida: „La dissémination“ [1969], in: Ders.: La dissémination, Paris 2006, S. 349ff. Michel Foucault: „Die Objekt gewordene Sprache“ [1966], in: Ders.: Die Ordnung der Dinge, S. 367. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883–1885], München/Ravensburg 2009, S. 126. Ferner heißt es: „Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit den Göttern Würfel spielte, daß die Erde bebte […] – denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von schöpferischen neuen Worten und Götter-Würfen.“ Ebd., S. 178. Mallarmé: „Igitur“ [1869], in: Ders.: Sämtliche Dichtungen, S. 185. So formuliert u. a. Valéry: „Würfelwurf“, S. 247. So argumentiert Blumenberg zu Igitur. Blumenberg: „Weltbuch“, S. 321. Mallarmé: „Igitur“, S. 199. Dieser Gedanke findet sich ebenfalls bei Nietzsche: „Alles „Es war“ ist ein Bruchstück, ein grausamer Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: „aber so wollte ich es!“ Bis der schaffende Wille dazu sagt: „Aber so will ich es! So werde ich’s wollen!““ Nietzsche: Zarathustra, S. 109.
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nicht aus.“117 Die Würfel hätten auch anders fallen können. Kurz: Es gibt keinen definitiven Wurf.118 Stets kündet die die Schrift umgebende weiße Leere von der Möglichkeit von etwas anderem. Sie birgt die Einladung zu einem neuen Streich.119 Und so wird das Ende des einen zum Anfang des anderen Wurfes.120 Der Dichter ist also Gefangener eines unendlichen (Würfel-)Spiels, das sich allein in der Sprache abspielt.
V
Im Bann des Absoluten – das Weiße und die Dichtung
Mallarmés weiße Seiten öffnen sich wie ein Fächer zwischen Welt und Wort.121 Sie zerteilen das Band von Signifikat und Signifikant und verhelfen der Sprache zu einem eigenen Sein. Das weiße Papier, so Foucault, wird zu einem Ort, „wo es weder Laut noch Sprecher geben kann“, wo die Sprache „nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes [mehr] zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern“122. Das „unparteiische [weiße] Schweigen“123 ist die Basis für ein „Zusammenwirken der Formen“124, welche sich „im gegenseitigen Widerschein [entzünden] wie ein virtuelles Gleiten von Feuern über Edelsteinen“125. So wird die Seite zur Bühne für ein „einsam verschwiegenes [Lettern-]Konzert“, für Verse, „die nichts […] sagen, sondern singen wollen“126. Der Klang der Elemente verleiht der Sprache „extravagante Werte“127. Die ihr entspringenden Sinneffekte haben die Kraft von Zaubersprüchen.128 Die Seite ist ein Ort für mächtige Sprachuniversen. Hier lässt sich das „Geschriebene auf ungewohnte Weise herrichten“129. Dies ist die Voraussetzung des Coup de dés. So heißt es in Le livre. Instrument spirituel (1895): […] pourquoi un jet de grandeur, de pensée ou d’émoi, considérable, phrase poursuivie, en gros caractère, une ligne par page à emplacement gradué, ne maintiendrait-il le lecteur en haleine, la durée du livre, avec appel à sa puissance d’enthousiasme: autour, 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129
Mallarmé: „Würfelwurf“, S. 253ff. Vgl. Derrida: „Séance“, S. 279. Ebd., S. 346. Vgl. Derrida: „Dissémination“, S. 424. Vgl. Gerhard Neumann: „Die absolute Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans“, in: Poetica 3 (1970), S. 203. Foucault: „Die Objekt gewordene Sprache“, S. 366. Mallarmé: „Die Musik und die Literae“, S. 107. Ebd. Mallarmé: „Verskrise“, S. 285. Mallarmé nach Friedrich: Struktur, S. 104. Paul Valéry: „Mallarmé“ [1944], übers. v. Henriette Bessel, in: Ders.: Werke, S. 346. Vgl. Friedrich: Struktur, S. 104. Mallarmé: „Instrument“, S. 303f.
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menus, des groupes, secondairement d’après leur importance, explicatifs ou dérivés, le semis de fioritures.130
Das die Schrift umgebende weiße Schweigen ist hingegen kein anfänglicher Grund. Das Nicht-Geschriebene ist das „textinterne Relat“, von dem sich das Geschriebene differenziert, um überhaupt Geschriebenes zu sein,131 denn „Meditieren ohne Spuren zu hinterlassen verflüchtigt sich“132. Wie Derrida bemerkt, ist das Weiße immer auch Bestandteil des syntaktischen Gewebes, das als (Segel-) Tuch, Vorhang, Stickwerk, Spinnennetz etc. metaphorisiert wird.133 Es ist Grund und Form zugleich.134 Das Weiße oszilliert zwischen den Polen des weißen Raumes und der Summe aller weißen Zwischenräume. Es ist so wie ein irreduzibles Dazwischen (antre), das alles aufnimmt, um sich von dem, was sich einschreibt, markieren zu lassen.135 Selbst hat es weder Form noch Bedeutung. Da das absolute Schweigen nicht existiert, kann es, so Derrida, weder einen weißen Ursprung noch eine Theologie des Textes geben.136 Tatsächlich zeigt sich das anfängliche und endliche Weiße stets vor dem Hintergrund eines bereits erfolgten Schreibaktes: Appuyer, selon la page, au blanc, qui l’inaugure, son ingénuité, à soi, oublieuse même d’un titre qui parlerait trop haut : et, quand s’aligna, dans une brisure, la moindre, disséminée, le hasard vaincu, mot par mot, indéfectiblement le blanc revient, tout-àl’heure gratuit, certain maintenant, pour apprendre que rien au-delà et authentiquer le silence.137
130 Stéphane Mallarmé: „Le livre, instrument spirituel“ [1885], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 381. „Weshalb – wollte ein beachtenswerter Wurf von Größe, Denken oder Erregung, fortlaufender Satz in Blockschrift-Typen, eine Zeile pro Seite in gestufter Anordnung, den Leser nicht, für die Dauer des Buches, in Atem halten, an seine Fähigkeit, sich zu begeistern, appellierend: ringsumher erklärende oder abgeleitete Grüppchen, zweitrangig ihrer Gewichtigkeit nach – eine Aussaat von Schnörkeln.“ Mallarmé: „Instrument“, S. 303. 131 Vgl. Schmitz-Emans: Schrift, S. 170. 132 Mallarmé: „Beschränktes Handeln“, S. 289. 133 „Les blancs s’appliquent toujours […] à quelque tissage : c’est „le blanc souci de notre toile“, „la blancheur banale des rideaux“, le blanc des Albums […] et des éventails […] du drap de lit ou du drap mortuaire, linceul […].“ Derrida: „Séance“, S. 317. 134 „Ces voiles, toiles, pages sont à la fois le fond et la forme, le fond et la figure, passant alternativement l’un dans l’autre, tantôt l’exemple figurant l’espace blanc de leur inscription ce qui se découpe, tantôt le fond sans fond sur lequel ils s’élèvent.“ Ebd., S. 318. 135 Vgl. Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989, S. 69. 136 Derrida: „Séance“, S. 308ff. 137 Mallarmé: „Mystère“, S. 387. „Der Seite gemäß auf das Weiß, das ihr die Weihe gibt, seine Unschuld zu stützen, ganz für sich und die den Titel selbst vergessen hat, der zu laut reden würde: und wenn in einem ausgebreiteten Zerbrechen, dem zartesten nur, der Wort für Wort besiegte Zufall sich aneinanderreihte, kommt unausbleiblich das Weiß zurück, eben noch unbewiesen, untrüglich jetzt, den Schluß zu ziehen, daß nichts darüber hinaus, und das Schweigen zu beglaubigen.“ Mallarmé: „Mysterium“, S. 310.
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Demnach ist die jungfräuliche Weiße immer schon von der Feder durchtrennt. Deren Schwünge erzeugen die apparence fausse eines weißen Ursprungs, der nicht ist und, wenn überhaupt, so lediglich im mystischen Diskurs – als weiße Ekstase – erfahren werden kann.138 Von einem solchen Ursprung ist der späte Mallarmé besessen. Die „weiße Sorge unserer Segel“ (Salut) lässt sich mit Hauck als ein „Bann der Weiße“139 interpretieren. Der Dichter wähnt sich als „Gefangener einer absoluten Formel“, wohl wissend, „daß, freilich, nur ist, was ist“140. D. h., jedes Gedicht ist nicht mehr als eine vorübergehende Konstellation. Allein die Stille jenseits der Schrift ist absolut. Nur das Gedicht, das sich über das Schweigen ausschweigt, das „nichts über nichts sagt“141, das im Vorhof der Sprache, sprich, im Akt des Würfelns verharrt. Valéry schreibt von einer „glühenden Zone, in der nichts Gesondertes besteht, darin nichts dauert, darin nichts endet, als ob die Zerstörung, sobald ihr Werk getan, sich selbst zerstörte“.142 Jener ungeschiedene, ebenso erfrischende wie zerstörerische weiße Schaum ist die Heimstatt einer absoluten (Nicht-)Schrift: „rien, cette écume, vierge vers“ (Salut). Diese lässt sich zwar denken. Schreiben lässt sie sich indes nicht. Der Poet kann das absolute Weiß lediglich artikulieren, indem er es schwärzend verneint. Das ist seine Lektion an den Schüler: À quoi sert de te préciser, enfant le sachant, comme moi, lequel n’en conserva notion que par une qualité ou un défaut d’enfance exclusifs, ce point, que tout ce qui maintenant s’offre, véhicule ou placement à l’idéal, y est contraire — presque une spéculation sur la pudeur de qui songea, pour son silence — ou défectueux, pas direct et légitime dans le sens que tout à l’heure voulut s’étirer ton âme. Vicié. Comme jamais malaise ne suffit, j’éclairerai, assurément, de digressions prochaines en le nombre qu’il faudra, cette réciproque contamination de l’œuvre et des moyens […].143
Das Weiße wird somit zur „Chiffre des Unsagbaren“144, das jeder Schreibakt (-wurf) verfehlt. Mallarmé scheitert am noch unbeschriebenen Blatt, welches ihm 138 139 140 141 142
Vgl. Derrida: „Dissémination“, S. 337. Hauck: „Nachwort“, S. 320. Mallarmé: „Die Musik und die Literae“, S. 103. Blumenberg: „Weltbuch“, S. 302. Paul Valéry: „Letzter Besuch bei Mallarmé“ [1923], in: Ders.: Werke, Bd III: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 254. 143 Stéphane Mallarmé: „L’action restreinte“ [1894], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 371. „Wozu dir näher erklären, ein Kind würde es wissen, gleich mir, der ich nur einen Begriff davon bewahrte durch, unvereinbar, einen Besitz oder Mangel an Kindheit, eben dies, daß alles, was gegenwärtig man dem Ideal entgegenbringt, vermittelnd oder seinen Ort beschreibend, ihm widerspricht – fast spekulierend auf dein Schamgefühl und auf dein Schweigen zielend – oder mangelhaft ist, nicht direkt und legitim im gleichen Sinne, wie soeben eine Begeisterung es wollte, und lasterhaft. Da ein Unbehagen niemals hinreicht, werde ich, versicherlich, nicht säumen abzuschweifen und so oft als nötig, um diese wechselseitige Verunreinigung des Werkes und der Mittel zu erhellen […].“ Mallarmé: „Beschränktes Handeln“, S. 291. 144 Schmitz-Emans: Schrift, S. 173.
Excepté peut-être une constellation
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sein Weiß verwehrt.145 Es ist die Klippe, an der das Dichterschiff zerschellt, das Riff, auf dem es in Einzelteile zerbirst, der Ort, an dem der große Wurf zu einer Konstellation von (Sprach-)Trümmern, zu einem désastre wird. Daher geht die (Sprach-)Reise, das (Sprach-)Spiel endlos weiter, schwarz auf weiß: „Toute pensée émet coup de dés“,146 lautet das bereits erwähnte Nebenmotiv des Würfelwurfs. Valéry bezeichnet Mallarmés Poetik mit Recht als einen „Modus des Entwerfens“147; einen Modus mit Ausblick auf zwei Extreme. Das erste ist die Selbstaufhebung, verkörpert durch Igitur. Dieser gelangt an, „wo er angelangen muss, und sieht die Grenze, die ihn vom Tode trennt.“148 Er zahlt den Einzug ins Absolute mit seinem Leben. So steht er für einen sich selbst weißenden Text, für die Erlösung der Missgeburt, von der in Don du poëme (1865) die Rede ist. Das zweite Extrem ist das der Weltaufhebung: Das Ausagieren der absoluten Möglichkeit in einem Buch, das „das Prinzip aller […] möglichen Werke enthält“149. Wenn es stimmt, dass „die Welt [allein] dazu da [ist], auf ein schönes Buch hinauszulaufen“150, kann und wird sie untergehen (weißen), sobald „erst ihr Geheimnis dargestellt, ihr Ausdruck gefunden ist“151. Beide Wege führen ins Weiße und künden davon, dass die Poetik gegen den Strich sich gegen sich selbst kehrt. Unmittelbar vor seinem Ableben macht Mallarmé ernst: Die abolition seiner selbst vor Augen, will er die Poesie mit sich ins Absolute reißen: „Brûlez par conséquent!“152, lautet seine Verfügung bezüglich aller unveröffentlichten Universen. Der zu Lebzeiten gescheiterte Dichter will sein Werk im Tode vollenden. Dass die Hinterbliebenen ihm diesen letzten Willen verwehren,153 erlebt er nicht mehr.
Literatur Auerbach, Erich: Mimesis, Bern 2001 [1946]. Austin, Lloyd James: Essais sur Mallarmé, Manchester 1995. Barthes, Roland: „Effet de réel“, in: Communications 11 (1968), S. 84–89. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/M. 1963 [1935]. 145 146 147 148 149 150 151
Vgl. Stéphane Mallarmé: „Brise marine“ [1865], in: Ders.: Œuvres complètes, S. 38. Mallarmé: „Un coup de dés“, S. 457ff. Valéry: „Würfelwurf“, S. 250. Mallarmé: „Igitur“, S. 217. Valéry: „Brief“, S. 266. Mallarmé: „Entwicklung“, S. 71. Paul Valéry: „Stéphane Mallarmé“ [1933], in: Ders.: Werke, Bd III: Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 311. 152 Zitiert nach: Henri Mondor: Vie de Mallarmé, Paris 1941, S. 801. 153 Hier ist v. a. die posthume Edition der angeblichen Fragmente des Livre zu nennen. Vgl. Jacques Scherer: Le Livre de Mallarmé, Paris 1957.
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Bickenbach, Matthias: Von den Möglichkeiten einer „inneren“ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999. Blanchot, Maurice: Le livre à venir, Paris 1990 [1959]. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1996 [1981]. Brague, Rémy: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung im westlichen Denken, München 2006. Derrida, Jacques: La dissémination, Paris 2006. Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Wien 1989. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1993 [1966]. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 2010 [1966]. Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956. Hauck, Johannes: „Nachwort“, in: Mallarmé: Sämtliche Dichtungen, S. 312–330. Huysmans, Joris-Karl: À rebours, Paris 1977 [1884]. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme. 1800, 1900, München 2003. Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique. L’avant-garde à la fin du XIXe siècle. Lautréamont et Mallarmé, Paris 1974. Mallarmé, Stéphane: Œuvres complètes, hg. v. Henri Mondor, Paris 1945. Mallarmé, Stéphane: Sämtliche Dichtungen, übers. v. Carl Fischer u. Rolf Stabel, München 2000. Mallarmé, Stéphane: Werke, hg. v. Gerhard Goebel/Bettina Rommel, Bd II: Kritische Schriften, Gerlingen 1998. Mondor, Henri: Vie de Mallarmé, Paris 1941. Murat, Michel: Le coup de dés de Mallarmé. Un recommencement de la poésie, Paris 2005. Gerhard Neumann: „Die absolute Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans“, in: Poetica 3 (1970), 188–225. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883–1885], München/Ravensburg 2009. Pearson, Roger: „Les Chiffres et les Lettres: Mallarmé’s Or and the Gold standard of Poetry“, in: XIX 2 (2004), S. 44–60. Regn, Gerhard: Konflikt der Interpretationen. Sinnrätsel und Suggestion in der Lyrik Mallarmés, München 1978. Rommel, Bettina: „Mallarmé: Lesestrategien in einer Massenkultur“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 166–185. Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin 2012. Scherer, Jacques: Le Livre de Mallarmé, Paris 1957. Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München 1995. Schneider, Lars: Die page blanche in der Literatur und bildenden Kunst der Moderne, Paderborn 2015. Valéry, Paul: Œuvres complètes, II Bde, hg. v. Jean Hytier, Paris 1957–1960. Valéry, Paul: Werke, VII Bde, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt/M. 1989–1995.
Stephanie Waldow
Denkraum der Besonnenheit. Zum Verhältnis von narrativer Ethik und Neuer Physik bei Carl Einstein
1.
Die Erkenntniskrise der Neuen Physik
Die Problematik der Unterscheidung zwischen einem Erkenntnissubjekt und einem Erkenntnisobjekt hat in der Philosophie eine lange Tradition, man denke nur an Kant oder Ernst Mach. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie zeigte, dass die Definition von Raum und Zeit von der Wahl des Bezugssystems abhängt, in dem sich das jeweilige Subjekt bzw. die jeweilige Messapparatur befindet, stellte er nicht nur die bisherigen Erkenntnisse der klassischen Physik auf den Prüfstand, sondern lieferte zugleich auch neue Impulse für die philosophische Diskussion. Das abstrakte erkenntnistheoretische Dilemma erlangte besondere Brisanz aufgrund der empirischen Beobachtungen Einsteins. Der ambivalente Charakter von Licht als Teilchen und/oder Welle z. B. im Doppelspaltexperiment führte vor Augen, dass offenbar Beobachtungssubjekt und Messapparatur die Beobachtung beeinflussende Faktoren sind. Einstein konnte zeigen, dass zwar die Lichtgeschwindigkeit zur neuen konstanten Größe wird, da sie in jedem Bezugssystem identisch ist; Raum und Zeit aber nicht mehr – wie noch in Interialsystemen der Newton’schen Physik – absolute Bezugsgrößen darstellen. Diese Neuerungen führten zu der Annahme, dass es auf der Welt keinen ruhenden Punkt mehr gibt, da sich alles relativ zueinander bewegt. Insbesondere die Philosophie und die Literatur reflektierten über die Auswirkungen der Neuen Physik auf das Weltverständnis des Menschen und die damit einhergehenden veränderten Wertvorstellungen. Durch die empirische Nachweisbarkeit der Relativität von Raum und Zeit stellte sich nun erneut die Frage, ob nicht auch das menschliche Sein letztlich relativ sei, sich also in Abhängigkeit vom jeweiligen Bezugssystem herausbilde. Vor diesem Hintergrund wurden auch Phänomene wie die kollektive Erinnerung oder die kulturelle Identität in Frage gestellt, da die Zeitachsen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich als relativ zueinander erwiesen. So bemerkte etwa Ernst Cassirer:
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Jetzt werden nicht nur die räumlichen und zeitlichen Bestimmungen gegeneinander vertauschbar, sondern es scheinen sich auch alle inneren, für das subjektive Bewußtsein unaufheblichen Unterschiede des Zeitlichen selbst, alle Differenzen der Richtung, die wir durch die Worte Vergangenheit und Zukunft bezeichnen, zu nivellieren.1
Begriffe wie Unstetigkeit, Wahrscheinlichkeit und Wechselwirksamkeit erhielten neue Brisanz und mit ihnen die Erkenntnis, dass Wirklichkeit weder determiniert noch objektiv beschreibbar ist. Es entwickelte sich ein Weltbild, in dem mehrere Modellierungen von Wirklichkeit gleichzeitig nebeneinander bestehen konnten. Im Folgenden wird es um die kulturwissenschaftliche Rezeption der Einstein’schen Relativitätstheorie gehen, die freilich eine auf die erkenntnistheoretischen Probleme zugespitzte war und die nicht immer die Zustimmung des Physikers fand. Ich fuhr gestern mit meiner Frau nach Scharbeutz und fand einen geradezu heroisch kindlichen Mann, der tatsächlich von diesem Mutterboden der Bildhaftigkeit und der denkraumformierenden Magie nichts wußte und der trotz seines schwerleidenden Zustandes (Herz) gespannt wie ein Schuljunge im Kino meinen Bildern folgte und unter steten unerbittlichen Nachfragen die Stichhaltigkeit meiner Schlüsse prüfte. Nur bei Kepler und der Ellipse habe ich, glaube ich, nicht gut bestanden; sonst war er mit mir zufrieden.2
2.
Zur ethischen Qualität der Relativitätstheorie: Ein Denkraum der Besonnenheit
Wie von Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl aufgezeigt wurde, haben sich auch Ernst Cassirer und Aby Warburg mit den Gedanken Einsteins befasst und ihn sogar zu Gesprächen getroffen, um ihn mit den jeweils eigenen Ideen zu seiner Theorie zu konfrontieren.3 Während es Cassirer mehr darum ging, eine Verbindung zwischen Kant und Einstein nachzuweisen, versuchte Warburg vor allem durch seine Arbeit an dem Bilderatlas, dem sog. Mnemosyne-Projekt, Einstein davon zu überzeugen, dass es eine Wechselwirksamkeit zwischen Magie und Mathematik gäbe. Beiden, Cassirer und Warburg, war jedoch gemeinsam, dass sie die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie dazu nutzten, eine ethische Komponente herauszuarbeiten. 1 Ernst Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, in: ders. Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki. Bd. 10, Hamburg 2001, S. 120. 2 Warburg Institute Archive, London. Aby Warburg an Fritz Saxl. 05. September 1928. Zit. nach: Horst Bredekamp/Claudia Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin 2015, S. 72. 3 Horst Bredekamp/Claudia Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin 2015.
Denkraum der Besonnenheit
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Ernst Cassirer Cassirer hat sich intensiv mit Einsteins Relativitätstheorie auseinandergesetzt und ihr auch einen eigenen Aufsatz gewidmet: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Hier betrachtet Cassirer das Phänomen der Relativität vor allem aus einer historischen Perspektive heraus und zeigt auf, dass die Erkenntnis von der Relativität der Dinge bereits in der Antike vorhanden, dort allerdings negativ besetzt war. Sie wurde als Eingeständnis gelesen, der Wahrheit nicht gewachsen zu sein. In der modernen Philosophie – angefangen bei Leibniz und später bei Kant – gab es nach Cassirer eine positive Wendung in der Bewertung der Relativität, in die sich, so Cassirer weiter, auch die Ideen der modernen Physik integrieren lassen.4 Bereits Kant habe mit seiner Transzendentalphilosophie gezeigt, dass Raum und Zeit nicht als Dinge mit einem eigenen Sein zu bestimmen seien, sondern als Erfahrungen bzw. Erkenntnisquellen gelesen werden müssten. Sie [die Transzendentalphilosophie] betrachtet Raum und Zeit nicht mehr als Dinge, sondern als „Erkenntnisquellen.“ Sie sieht in ihnen nicht selbständige Gegenstände, die irgendwie vorhanden sind und deren wir durch Experiment und Beobachtung habhaft werden können, sondern „Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung.“ […] Diese Grundauffassung tritt schon in der Inauguralschrift deutlich hervor. Schon hier wird ein absoluter Raum oder eine absolute Zeit, die eine von den empirischen Körpern und von den empirischen Ereignissen abgesonderte Existenz besäßen als Unding, als eine bloße begriffliche Fiktion […] verworfen.5
Der absolute Raum und die absolute Zeit existieren für Kant also nur als Idee; genau jenen Punkt stellt Cassirer hier auch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, indem er Kant zitiert: Der absolute Raum ist also nicht als ein Begriff von einem wirklichen Objekt zu verstehen, sondern als eine Idee, welche zur Regel dienen soll, alle Bewegung in ihm bloß als relativ zu betrachten. Einstein tue demzufolge nicht mehr, aber auch nicht weniger, als den philosophischen Ansatz der Transzendentalphilosophie mathematisch zu beweisen. Aus der Relativitätstheorie zitierend hält Cassirer fest: Wenn demnach Einstein es als den Grundzug der RT bezeichnet, daß durch sie dem Raume und der Zeit „der letzte Rest physikalischer Gegenständlichkeit“ genommen werde, so zeigt sich, daß die Theorie hierin nur dem Standpunkte des kritischen Idealismus die bestimmteste Anwendung und Durchführung innerhalb der empirischen Wissenschaft selbst verschafft.6
Durch den „Raub der Gegenständlichkeit“ vollzieht sich für Cassirer ein Wandel von einer Abbildtheorie zu einer Funktionstheorie, da es nichts mehr gibt, was 4 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 55. 5 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 77f. 6 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 79.
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sich unhintergehbar abbilden und festhalten lässt. Daraus folgt für Cassirer, dass Wahrheit immer systembezogen und nicht allgemein gültig ist und dass es kein absolutes Urbild mehr gibt. An dessen Stelle tritt der Begriff. Abermals Kant zitierend bemerkt Cassirer: Nach der kritischen Grundansicht ist der Gegenstand kein absolutes Urbild, dem unsere sinnlichen Vorstellungen, als seine Abbilder, mehr oder weniger entsprechen und gleichen, sondern er ist ein – Begriff, worauf in Bezug Vorstellungen synthetische Einheit haben.7
Die Tatsache, dass Wirklichkeit nicht mehr länger als verlässliche Konstante fungiert, hatte für Cassirer die Konsequenz, dass auch das menschliche Sein fortan eine unbestimmbare Größe darstellte. Wir besitzen nicht länger ein an sich bestehendes, absolut-determiniertes Sein, von dem wir die Gesetze unmittelbar ablesen und dem wir sie als seine Attribute anheften können. Was in Wahrheit den Inhalt unseres empirischen Wissens ausmacht, ist vielmehr der Inbegriff der Beobachtungen, die wir zu bestimmten Ordnungen zusammenfassen und die wir, dieser Ordnung gemäß, durch theoretische Gesetzesbegriffe darstellen können.8
Jede Erkenntnis bedarf nach Cassirer eines eigenen Begriffs von Wirklichkeit. Damit zusammen hängt die Einsicht in die Vielgestaltigkeit der Welterkenntnis und des Weltverständnisses. Es gibt also keinen absoluten Weltgrund, sondern eine pluralistische Auffassung von Wirklichkeit. Der Fortschritt der erkenntnistheoretischen Analyse bewährt sich eben darin, daß durch ihn die Annahme einer Einfachheit […] der Wirklichkeitsbegriffe mehr und mehr als Täuschung erkannt wird. […] Hier treten auch dem Ganzen der theoretischwissenschaftlichen Erkenntnis andere Form- und Sinngebungen von selbständigem Typus und selbstständiger Gesetzlichkeit – wie die ethische, die ästhetische Form – gegenüber. Es erscheint als eine Aufgabe einer wahrhaft allgemeinen Erkenntniskritik, daß sie diese Mannigfaltigkeit, diesen Reichtum und diese Vielgestaltigkeit der Formen der Welterkenntnis und des Weltverständnisses, nicht nivelliert und in eine rein abstrakte Einheit zusammendrängt, sondern daß sie sie als solche bestehen läßt.9
Diese pluralistische Auffassung von Wirklichkeit ist für Cassirer jedoch kein Ausdruck von Beliebigkeit, sondern macht gerade das ethische Anliegen einer humanen Vielfältigkeit deutlich. Die spezifische Ethik, die Cassirer hier in Auseinandersetzung mit Einstein und Kant entfaltet, verfolgt vor allem drei Anliegen.
7 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 57. 8 Ernst Cassirer: „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik“, in: Zur modernen Physik, Darmstadt 1957 (zuerst Göteborg 1937), S. 127–376, hier S. 279. 9 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 118.
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Erstens macht Cassirer auf die ästhetische Form aufmerksam, in der die verschiedenen Modi der Weltwahrnehmung in Relation zueinander gebracht werden und die für ihn darum ethische Qualität besitzt. Insbesondere in literarischen Texten sieht Cassirer eine Vielfältigkeit der Weltwahrnehmungen gegeben. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Pluridimensionalität eines ästhetischen Textes und liest den literarischen Text als symbolische Form, da dieser Sinnlichkeit und Sinn in ein produktives Wechselverhältnis bringe.10 Denn zwischen dem Sinnlichen und Geistigen knüpft sich hier eine neue Form der Wechselbeziehung und der Korrelation. Der metaphysische Dualismus beider erscheint überbrückt, sofern sich zeigen lässt, daß gerade die reine Funktion des Geistigen selbst im Sinnlichen ihre konkrete Erfüllung suchen muß, und daß sie sie hier zuletzt allein zu finden vermag.11 Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewusstsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.12
Hier hatten die Bibliothek Aby Warburgs und der Kreis um denselben großen Einfluss auf das Denken Cassirers. Allein die Anordnung der Bibliothek fordert den Leser auf, so Cassirer, sich Gedanken über eine Theorie der Symbolisierung zu machen, denn sämtliche Texte seien um einen gemeinsamen ideellen Mittelpunkt gruppiert. Die freie Kraft des Bildens tritt der als objektiv erfahrenen Welt entgegen und bewahrt in ihr die Sinnlichkeit des Seins. Symbole bilden also nicht eine bereits gegebene Wirklichkeit ab, sondern sie entwerfen sie allererst. Hier ist Cassirer erstaunlich nah an den Vorstellungen Warburgs. Auch Warburg versteht das bewusste Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt als kulturellen Akt. Der dadurch entstandene Zwischenraum kann daran anschließend künstlerisch gestaltet werden, um diesem Distanzbewusstsein schließlich eine soziale Dauerfunktion verleihen zu können. Nach Cassirer werden die über die Sinnesreize laufenden Kontakte mit der Außenwelt symbolisch zu etwas
10 Vgl. dazu auch Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Allegorische Intertextualität als Erinnerungsschreiben der Moderne. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg, Paderborn 2006. S. 140–142. 11 Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. I, Die Sprache, Darmstadt 1954, S. 19. 12 Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, S. 175f.
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Sinnhaftem verarbeitet. Dies ist konstitutiv für die menschliche Existenz und bildet den Grundzug für das humane Dasein. Sprache, Mythos und Kunst sind alle an der Distanzierung beteiligt und damit Träger der kulturellen Leistung. So kann die objektivierende Kraft der symbolischen Formen die archaische Urangst und Unmittelbarkeit bewältigen. Dies verdeutlicht, dass Cassirers Symbolisierungsprozess im Spannungsfeld zwischen Mythos und Aufklärung angesiedelt ist. Gemeinsam ist Warburg und Cassirer letztlich die Vorstellung von einer ästhetisch gestalteten Welt, die in eine gesellschaftliche Form überführt werden soll. So bilden die symbolischen Formen einen Spannungsbogen zwischen der Vergangenheit – der mythischen Erfahrungswelt – und der Zukunft als ethisches Programm. Ein weiteres Indiz für die enge Verbindung von Narration und Ethik. Zweitens trägt die Pluralität der Weltmodelle dazu bei, den eigenen Standpunkt nicht normativ und absolut in den Mittelpunkt zu rücken und die Begegnung mit dem jeweils Anderen offen zu gestalten. Die Relativität ruft also letztlich zu einem humanen Miteinander auf. Sie [die Relativität, Hervorhebung der Autorin] widerspricht […] jedem Versuch, ein einzelnes Bestimmtes, ein besonderes Bezugssystem zur Norm für alle übrigen zu machen. […] Aus diesem Gedanken heraus wird die mechanische Weltanschauung überwunden.13
Damit ist drittens ein neuer Erkenntnisbegriff verbunden, der, wie mit Warburg gezeigt werden soll, einen Denkraum der Besonnenheit eröffnet. Erkenntnis, die ein humanes Anliegen verfolgt, entfaltet sich erst im Zusammenspiel der Wissenschaften und Künste. Denn anders als seine Zeitgenossen, sah Cassirer die Möglichkeit einer logisch-rationalen Vorgehensweise durch die Relativitätstheorie nicht grundsätzlich gefährdet. An die Stelle der Absolutheit der Elemente bzw. der Absolutheit des Seins trete nun die Absolutheit der Beziehungen, die allerdings bestimmten Gesetzen unterworfen seien. Die Veränderungen innerhalb der Erfahrungselemente und die Tatsache, dass jedes einzelne von ihnen niemals an sich, sondern nur immer in Beziehung auf andere gegeben ist, bildet daher keinerlei Einwand gegen die Möglichkeit, objektiv-realer Erkenntnis, sofern nur die Gesetze ebendieser Beziehungen selbst feststehen. Die Konstanz und Absolutheit der Elemente wird preisgegeben, um dafür die Beständigkeit und Notwendigkeit der Gesetze zu gewinnen.14
Für ihn stand also, wie auch für Warburg, eine Vermittlung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit denen der Philosophie und Literatur im Vordergrund. Allein in der Vermittlung von Ratio und Irratio, in der Wechselwirk13 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 83. 14 Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, S. 51.
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samkeit von Magie und Mathematik, wie es Warburg dann formuliert, sieht Cassirer eine Möglichkeit der humanen Welterkenntnis gegeben.
Aby Warburg Warburgs Auseinandersetzung mit Einstein verlief vor allem über seine Beschäftigung mit Kepler. Für ihn war Kepler eine Übergangs- bzw. Schwellenfigur, weil er sich sowohl zur Astronomie als auch zur Astrologie hingezogen fühlte. Trotzdem spricht er [Kepler] vom Planeten Mars wie ein alter Heidenpriester […]: „Lange hat Mars den Bemühungen der Astronomen standgehalten, jedoch der treffliche Heerführer Tycho hat in 20jährigen Nachtwachen alle seine Kriegslisten erforscht und aufgezeichnet. Dadurch ermutigt, habe ich, Kepler, es unternommen, die Stellen, wo sich Mars befindet, mit Tychonischen Werkzeugen genau zu erforschen und mit Hilfe der Mutter Erde umging ich all seine Krümmungen. Mars hat endlich meine Herzhaftigkeit eingesehen, die Feindschaft aufgegeben und sich treu gezeigt.“15
Wie Cassirer sah auch Warburg den Gewinn der Relativitätstheorie erstens in der Pluralität der Weltmodellierungen gegeben und zweitens in der Aufhebung der strikten Trennung in ein Erkenntnissubjekt und -objekt. Beides sei zu erreichen durch die Wechselwirkung von einer kosmologischen Mathematik und einer magischen Praktik, wie er sie durch Kepler vertreten sah und wie er sie letztlich auch Einstein unterstellte. Durch die Verbindung beider Zugänge werde die Geschiedenheit von Subjekt und Objekt aufgehoben – beide befänden sich fortan in einem gemeinsamen Denkraum. Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versuchte.16
Jene Vereinigung von Magie und Mathematik zu einem Denkraum der Besonnenheit verfolgte Warburg einerseits evolutionsgeschichtlich, andererseits verstand er sie aber auch als co-existierende Pole, die im Menschen bereits angelegt seien. Er beschreibt den Zusammenhang von Magie und Mathematik als einen Pendelgang, der unverzichtbar sowohl für die menschliche Wahrnehmung als auch für die Wissenschaft sei. Seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek bezeichnet Warburg in Anlehnung an Schillers Konzept einer ästhetischen Erziehung des Menschen, die ebenfalls im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Sinn 15 Aby Warburg: Per monstra ad sphaeram. Sternglaube und Bilddeutung. Vortrag in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923–1925, hg. v. Davide Stimilli. Hamburg/München 2008, S. 124. 16 Aby Warburg: „Heidnisch-Antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920)“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Abt. 1, 1.2, hg. v. Horst Bredekamp et al., Berlin 1998, S. 534.
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das Humane entdeckt, als ein „Handbuch zur Selbsterziehung des Menschengeschlechts“. Die Bibliothek, die fast ausschließlich aus Fragmenten besteht, folgt im Aufbau der Spannung zwischen einer Welt rationaler Erfahrung und einer Welt magischer Kräfte. Laut einem Vortrag von Warburg sollte die Bibliothek den Schnittpunkt zwischen der Entwicklung von der mythischen hin zur wissenschaftlichen Weltauffassung einerseits und der Wiederkehr des Verdrängten andererseits darstellen. Diese „gedächtnismäßige Gestaltung“ des Schnittpunkts, der Schwelle, ist allein der Kunst vorbehalten und evoziert ein spezifisches „Bildgedächtnis“, so Warburg weiter.17 Besonders der Zwischenbereich zwischen den verschiedenen Künsten und Wissenschaften hat Warburg am meisten interessiert. Denn erst in der Spannung und Paradoxie, im Lösen von Bilderrätseln, lässt sich ein produktives Potenzial ausmachen. So folgt auch die Bibliothek keiner chronologischen Katalogisierung, vielmehr ist die Anordnung der Bücher einem dynamischen Konzept verpflichtet, in dem das eine Buch das Verlangen nach dem anderen hervorrufen soll. Warburg baut hier auf die Produktivität der Nachbarschaft. Er selbst beschreibt die Bibliothek als Labyrinth, das einem „sozialen Gedächtnis“ verpflichtet sei. So entwirft die Bibliothek die Suche nach einem kulturellen Gedächtnis, die Suche nach einem Grund aller Gestaltung. In dem Moment, wo sich der Ursprung der Gestaltung entzieht und sich als Leerstelle zu erkennen gibt, setzt sich die Textbewegung umso nachdrücklicher durch. Gefordert wird also eine Wahrnehmung, die sich jenem „Pendelgang zwischen mythischer und wissenschaftlicher Auffassung im Spiegel künstlerischer Gestaltung“ verschreiben solle.18 Hier wird, ebenso wie bei Cassirer, auch das ethische Anliegen seines Wahrnehmungsbegriffs deutlich. Nur im Zusammenspiel von Mythos und Logos, von Ratio und Irratio bzw. von Magie und Mathematik könne sich der Mensch zu einem humanen Menschen ausbilden. Relativität, so die kulturwissenschaftliche Lesart Warburgs, bedeutet in erster Linie Verabschiedung von der Absolutheit der einen als gegeben verstandenen Wirklichkeit hin zu einer pluralen Weltauffassung, in der die unterschiedlichen Weltmodelle sich wechselseitig ergänzen und in ein ethisches Miteinander treten. So gesehen ist der Denkraum der Besonnenheit ein eminent ethischer Raum. Vor diesem Hintergrund ist auch Warburgs Projekt des Bilderatlasses Mnemosyne zu verstehen. Jenen Denkraum, der durch die Verbindung von Magie und Mathematik entsteht, sah Warburg durch die Bildsymbole, die er im Mnemosyneprojekt aufzuzeigen begann, präsentiert. In enger Auseinandersetzung mit Cassirers Symbolphilosophie entwickelt er schließlich seine eigene Theorie der Bildsymbolik.19 Die Bildsymbole bewegen sich nach Warburg sowohl zwischen 17 Warburg: „Heidnisch-Antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten“, S. 199. 18 Zit. nach Bredekamp/Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch, S. 76. 19 Vgl. dazu folgendes Zitat: „In seiner Philosophie der Symbolischen Formen wird das Problem
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einer magisch-aufklärerischen als auch zwischen einer destruktiv-konstruktiven Perspektive. Aus diesem Grund sind sie Ausdruck jener Relativität, die Voraussetzung für die Eröffnung des Denkraums der Besonnenheit ist. Warburg überträgt hier Einsteins Konzept der Relativität auf seine Bildsymbole und entwickelt daraus eine ethisch-ästhetische Theorie. Diese Theorie versucht er schließlich Einstein selbst nahe zu bringen und besucht ihn in Scharbeutz:20 Grund der Reise: Die ästhetischen Werte sind relativistisch zu betrachten. Einerseits haben sie eine Schwere der Prägung, die den Maximalwerten als intensiva und extensiva eine mnemische Dauer verbürgt. Anderseits sind diese Prägewerte „gefühllose“ Monaden ohne Fenster, die erst durch Berührung mit dem selektiven Wollen der Epoche zu Funktionen der Anziehung oder Abstoßung von Leben werden.21
Neben dem ästhetischen Wert der Relativität wird in dem Zitat aber auch deutlich, dass den Bildsymbolen die Fähigkeit innewohnt, eine Verbindung zwischen Erkenntnissubjekt und Objekt herzustellen und so der Geschiedenheit von Ich und Welt entgegenzuwirken. Ein Anliegen, welches bereits Cassirer der Relativitätstheorie unterstellt hatte. Erst durch die Wahrnehmung und Betrachtung des Subjekts, das in seine jeweiligen historisch-kulturellen Gegebenheiten eingebettet ist, entfaltet das Bildsymbol seine ganze Wirkungsmacht. Die ästhetischen Werte, von denen hier die Rede ist, bezeichnen die den Bildsymbolen inhärenten Energien, die ihre maximale Wirkungskraft ausbilden, wenn sie sich zwischen Subjekt und Objekt in das Gedächtnis eintragen können.22 Insofern spiegeln die Bildsymbole das ethische Anliegen, welches Cassirer und Warburg in Auseinandersetzung mit Einsteins Relativitätstheorie herausarbeiten, ästhetisch wider und eröffnen auf diese Weise einen ethisch-ästhetischen Denkraum der Besonnenheit.
in großen und klaren Linien umfaßt; in Einzelstudien Begriffsform im mythischen Denken (1922), Sprache und Mythos (1925), Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) wird dieses Urproblem der symbolischen Ursachensetzung ergänzend und erweiternd behandelt. Die letzteren Studien sind im engen Zusammenhang mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg entstanden, die das Problem des Symbolischen von anderer Seite her zu erforschen sich zum Ziele gesetzt hat.“ (Aby Warburg: „Ernst Cassirer. Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf“, in: Ders.: Werke in einem Band, hg. v. Sigrid Weigel u. a., Berlin 2010, S. 701). 20 Vgl. dazu Bredekamp/Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch, S. 57. 21 Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. v. Horst Bredekamp u. a., Abt. 7.7, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, hg. v. Karen Michels/ Charlotte Schoell-Glass, S. 339. 22 Vgl. dazu auch Bredekamp, der darauf hinweist, dass Warburg hier den Begriff von der „Fensterlosigkeit der Monade“ bei Leibniz stark macht. (Bredekamp/Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch, S. 58.). Außerdem: Ders.: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004. S. 17ff.
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Narrative Ethik und Neue Physik bei Carl Einstein
Dem Kunsthistoriker Carl Einstein waren die Überlegungen Cassirers und Warburgs nicht unvertraut – er studierte zwischen 1904 und 1908 einige Semester bei Ernst Cassirer in Berlin und kannte auch die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburgs. Und so möchte ich im Folgenden aufzeigen, dass Carl Einsteins Auseinandersetzung mit der Neuen Physik wesentlich von der kulturwissenschaftlichen Rezeption Cassirers und Warburgs beeinflusst war und er auf dieser Basis eine narrative Ethik entfaltet hat. Wie auch für Cassirer und Warburg, hat für Carl Einstein die Relativitätstheorie vor allem einen ästhetischen Prägewert. In dem Roman Bebuquin wird darauf hingewiesen, dass die Kunst perspektivenabhängig sei und daher immer mehrere Sichtweisen zugleich präsentieren müsse, um nicht eine Sichtweise absolut zu setzen. „O Kunst“, seufzte Bebuquin, „du bist gewaltig, wenn man Perspektiven wegschickt, ersehnte Veränderung der Zustände, wie ist eine Sache zugleich wahr und falsch, es kommt auf den Standpunkt an.“23
In Carl Einsteins Texten nimmt die Verabschiedung des Kausalitätsgedankens und die Kritik an der Geschiedenheit von Erkenntnissubjekt und Objekt eine zentrale Stellung ein. Insbesondere der Zweifel an einer als objektiv gegebenen Wirklichkeit dominiert seine Texte; und ähnlich wie für Cassirer war für ihn damit auch die Annahme verbunden, dass das menschliche Sein keine determinierte Größe sei. Aus dieser Erkenntnis heraus muss er auch der gegenständlichen Kunst, die sich um 1910 herausbildet, eine Absage erteilen. Hier würde an der Vorstellung einer unveränderlich existierenden Wirklichkeit festgehalten und diese repressive Faktizität würde nur der „vollendete Idiot abbilden“.24 Die Abwendung von der Faktizität ist bei Einstein aber nicht nur Ausdruck seines Zweifels an einer objektiv gegebenen Wirklichkeit, sondern kann auch als eine Abkehr vom Subjekt/Objekt-Dualismus gelesen werden. Abbildung setze ein dualistisches Wirklichkeitsverständnis voraus, in dem das Objekt immer nur vom Selben aus gedacht werde und damit der Herrschaft des Subjekts unterworfen sei. […] ich ist das erste Objekt – eine grobe Gum(m)ierung schlechter Beobachtung weil man sein will. Und diese Objekte kämpfen mit dem Ich – das sie fressen will. […] In der Willensbetonung des Erkennens wuchert Ich, der Kapitalisierung der Empfindungs-
23 Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders (1912), Berlin 2014, S. 54. 24 Carl Einstein: Fragmente zum Bebuquin. PNL XVIII. Zit. nach Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Einsteins. München 1976, S. 28.
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momente Ich zahlt die unendliche Rente der Eitelkeit und bedeutet Ermordung sämtlicher Nichtichs.25
An die Stelle der Abbildlichkeit, die für Einstein Resultat einer Festschreibung vom Selben aus bedeutet, setzt er eine Ethik des Sehens, die die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt in den Mittelpunkt rückt. „Nicht die Kantisch Descartsche Außenwelt / (also sehen als Spaltung) sondern sehen als dialektische funktionsbindung […] (im Sehen wie im Tun verbindet man sich funktional mit dem Objekt) / wir stehen nie ausserhalb der welt als pure betrachter, sondern eine variierende funktionsgemeinschaft besteht zwischen S und O.“26 „Sehen S/O // ist eine komplexe funktion. sehen plus empfinden, denken etc. zwischen sichtbar und unsichtbar (empfindung).“27
Er knüpft hier an die Ideen von Cassirer an, der, ebenfalls in Auseinandersetzung mit Kant, einen Übergang von einer Abbildtheorie zur Funktionstheorie beschrieben und sich damit gegen den Versuch gewendet hat, ein einzelnes Bezugssystem zur Norm für alle Übrigen zu machen. In seiner Arbeit über Georges Braque weist Einstein erneut auf die Ethik des Sehens, hier des Schauens, hin. Jetzt wurde die Aufgabe gestellt, schauend Wirklichkeit und Gestalten zu erzeugen. Nun geht es nicht mehr um ein fatales resigniertes Anerkennen des Gegebenen, sondern um Bildung neuer Realität. […] Wirklichkeit bedeutet nicht mehr ein Dasein, sondern eine metamorphotische Funktion, welche den Menschen und die Umwelt verbindet. […] Es leuchtet ein, dass mit solcher Unfixierbarkeit der Welt […] Zufall, irrationale Faktoren und Unordnung erheblich an Bedeutung gewinnen und Kunst zum Mittel der Abänderung des Wirklichen wird. Damit erlangt das noch nicht Sichtbare, das im Überfall der Visionen deutlich wird, primäre Geltung. […] Nun bricht auch die Vorstellung von einer konstanten Person zusammen […] Nun gilt nicht mehr das Stabile der Person, sondern vor allen Dingen die subversive Kraft der Verwandlungen.28
Im Übrigen setzt er sich hier intensiv mit Goethe auseinander, dem er unterstellt, dass er ein Objekt voraussetzen würde, das per se nicht gegeben sei. Bei Goethe schaue das Subjekt vom Selben aus und beziehe das Geschaute allein zurück auf sich selbst.29 Dementsprechend setzt Einstein sich von Goethes Ästhetik des Schauens ab und entwickelt seine Ethik des Sehens. Einstein, der in der Tradition Cassirers steht, geht von einer Wechselwirksamkeit von Sehendem und Gese25 Carl Einstein: Konvolut mit Romanfragmenten zur Fortsetzung des Bebuquin. S. 8, S. 25. PNL XXI. Zit. nach Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Einsteins, S. 13. 26 Einstein: Konvolut mit kunsttheoretischen Notizen, S. 3. PNL J I. 27 Einstein: Konvolut mit kunsttheoretischen Notizen, S. 3. PNL J I. 28 Carl Einstein: „Braque der Dichter“, in: ders.: Werke. Bd. 3: 1929–1940, hg. v. Marion Schmid u. Liliane Meffre, Wien/Berlin 1985. S. 155–355, hier S. 337. 29 Vgl. dazu auch das sog. „Türmer-Lied“ im Faust II: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Der Tragödie Zweiter Teil, in: ders.: Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 7/1, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 1994, S. 436.
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henen aus. Demzufolge gibt es keinen absoluten Standpunkt, von dem aus geschaut werden kann, sondern der Standpunkt muss stets als Teil des Sehens einbezogen werden. Die Aufgabe des Subjekts sei die schauende Erzeugung von Wirklichkeit, und der Ort, an dem dieses Schauen seinen Platz hat, ist die Kunst. Wirklichkeit ist fortan keine stabile und determinierte Größe mehr, sondern als Wechselwirkung von Ich und Welt zu denken. Die Vorstellung von der Wechselwirksamkeit hat darüber hinaus zur Folge, dass es keine feste Idee mehr von einem Subjekt gibt, denn an die Stelle der Konstanten Subjekt und Objekt tritt nun die Relation und die subversive Kraft der Verwandlungen. Diese subversive Kraft der Verwandlungen hat, wie bei Cassirer, ethische Bedeutsamkeit und ist nicht Ausdruck einer bloßen Lust an der Pluralität und an der Bildung neuer Wirklichkeiten. Es geht erstens um eine Humanität der Vielfalt, die einer einmal gesetzten Wirklichkeit eine Absage erteilt und auch andere Wirklichkeitsmodelle neben sich bestehen lässt. Zweitens hat dies zur Folge, dass das Objekt nicht vom Subjekt aus festgeschrieben, sondern in seiner Unbestimmbarkeit belassen wird. Allerdings um den Preis der Einsicht in die Kontingenz des Lebens. Wirklichkeit ist also nicht durch ein Mehr an Rationalität zu bestimmen, sondern durch das staunende Schauen und den Einbezug des Unberechenbaren oder wie Warburg es formulieren würde: des Magischen.30 Wir fürchten Erkenntnis, weil ihre Ursprünge uns unbekannt bleiben; aller Glaube an die Logik hat seine Wurzeln in der Furcht vor diesem Automatismus.31 Insbesondere der Kunst kommt hier eine zentrale ethische Aufgabe zu: sie kann Wirklichkeit dahingehend abändern, dass sie auch das nicht Sichtbare und nicht Sagbare miteinbezieht. Somit ist sie eine Form der Erkenntnis, die nicht an die Idee eines Ursprungs gekoppelt ist. Jene Überlegungen spielen auch in Carl Einsteins Roman Bebuquin auf der narrativen Ebene eine große Rolle. Bereits hier, also noch bevor er sich theoretisch mit der Relativitätstheorie auseinandergesetzt hat, entfaltet Einstein eine Narration, die Ausdruck jener Pluralität von Wirklichkeit ist und die sich gegen eine Subjekt-Objekt-Trennung ausspricht. Entsprechend heißt es im Roman: „Es gibt so viele Welten“.32 Einstein selbst hat seinen Text als „Totenbuch des Ich“ bezeichnet und greift damit allen Ansätzen vor, die Bebuquin als einheitliche und substanzhafte Figur zu analysieren versuchen.33 Die übrigen Figuren können als
30 Carl Einstein: Nachruf 1832–1932, in: ders.: Werke. Bd. 3. 1929–1940, hg. v. Marion Schmid und Liliane Meffre, Wien/Berlin 1985. S. 126. 31 Ebd. 32 Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders, S. 29. 33 Einstein: Konvolut mit kunsttheoretischen Skizzen, S. 18.
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sog. „aurenfiguren“34 bezeichnet werden. Gemäß der Aufhebung der Subjekt/ Objekt-Geschiedenheit sind sie Beziehungen und sprachliche Assoziationsfelder Bebuquins. Wie eng die Figuren aneinander gebunden sind, verdeutlicht u. a., dass Bebuquin niemals allein auftritt, häufig Eigenschaften und Äußerlichkeiten bei mehreren Figuren gleichzeitig wahrnehmbar sind und sich die Figuren zueinander wie Spiegel verhalten. So enthält der franz. Name Bebuquin (bébé und Mannequin/Puppe, Marionette) sowohl den Hinweis auf die Infantilität, die ihn mit LippenKNABE verbindet, als auch das Marionettenhafte, welches auf Euphemia verweist, die als eine „Wachspuppe in billiger Erstarrnis“ bezeichnet wird. Darüber hinaus wird oft nicht klar, welche Figur spricht. Einstein verzichtet weitgehend auf die Markierung von direkter und indirekter Rede, was zur Folge hat, dass die Sprachgrenzen der einzelnen Figuren verschwimmen, wie etwa an folgendem Beispiel deutlich wird: So vernichtet eins den anderen, bemerkte hierzu der jugendliche Maler Heinrich Lippenknabe. Ich bin darauf dressiert, überall Negationen aufzufinden. Ja, trotzdem: die Gemütlichkeit der Vernichtung ist das Interessanteste… Bebuquin sagte: Das Verdienst Schopenhauers…35
Die Idee des Subjekts wird hier in ein ständig wechselndes Relationsgefüge aufgelöst, die Gestalten, so Einstein, sollen „Folgen oder Äquivalente von Sprachund Wortgruppen sein.“36 Es ist vor allem die Kategorie des Anderen, die hier eine große Rolle spielt und die eben nicht vom Selben aus beschrieben werden kann. Ich und Anderer treten in ein Wechselverhältnis und bleiben letztlich unbestimmbar. So heißt es im Roman: wir wollen nie glauben, dass zwei ganz verschiedene Körper das gleiche Zentrum besitzen.37 Eine zentrale Rolle spielt dabei die Symbolkraft der Sprache, die Einstein in Auseinandersetzung mit Warburgs Bildsymbolen entfaltet, wie u. a. Briefe an Fritz Saxl, dem engsten Vertrauten Warburgs und Leiter der Bibliothek, dokumentieren.38
34 Carl Einstein: Fragmente zum Bebuquin. Kuvert 13. „Selbstmord“. PLN G. Zit. n. Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Carl Einsteins, S. 89. 35 Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 22. 36 Einstein: Konvolut mit kunsttheoretischen Skizzen, PLN J II. Stichwort „Sprache“, S. 4. 37 Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 10. 38 Vgl.: Carl Einstein: Brief von Carl Einstein an Franz Saxl, 30. Januar 1930 (London, Warburg Institute). Zit. nach Uwe Fleckner: Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biografie, Berlin 2006. S. 339. „Ich habe mit großem Interesse Ihre Arbeiten, sowie die Veröffentlichungen ihres Instituts, verfolgt. Es wäre mir lieb wenn zwischen Ihnen, Ihrem Institut und unserer Zeitschrift, eine Verbindung hergestellt werden könnte. Gerade Ihre Forschungsmethoden erwecken meine stärkste Teilnahme und es wäre mir lieb von
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Auch Carl Einsteins Symbole bewegen sich zwischen Magie und Aufklärung, zwischen Zerstörung und Lebensbejahung, zwischen Logik und Alogik. Ich gestehe zu, dass hier das Alogische nicht ausreicht, weil jedes Axiom das andere widerlegt. Denken Sie daran, dass man mit dem Satze vom kausalen Denken eben gerade auf das Unkausale kommt. […] Es gibt viele Logiken, mein Lieber, in uns, welche sich bekämpfen und aus deren Kampf das Alogische hervorgeht.39 Wir müssen einsehen, dass das Phantastischste die Logik ist.40
Einstein überträgt hier Warburgs ästhetischen Prägewert der Relativitätstheorie auf sein Schreiben und entfaltet eine Sprachsymbolik, die jener Pluralität von Wirklichkeit geschuldet ist und die versucht, die Geschiedenheit von Ich und Welt aufzuheben. Zwar kann sich auch die Kunst das „Absolute nicht erschleichen“, dennoch weist die ästhetische Form über die Kausalität hinaus und integriert auf diese Weise das nicht Sagbare und die Pluralität des Seins. Das Symbol gab die Vor- und Nachfolgen der Form, das Empirische und ein Fremdes. […] Die Form weist auch über die Kausalität hinaus, zugleich besitzt sie vorzüglichere Eigenschaften als die Idee, sie ist mehr als ein Prozess. Vor allem aber mag sie sich mit jedem Organ und Ding zu verbinden; da ihre Verpflichtung an die Gegenstände denkbar lose ist, gebietet sie diesen ohne Vergewaltigung.41
Einsteins Symbolverständnis verfolgt hier einen ethischen Anspruch, da das zu Beschreibende nicht repräsentiert wird – ihm wird keine Gewalt angetan, es wird nicht vergewaltigt. Das Symbol bewegt sich zwischen dem was ist und dem, was noch nicht ist, dem Fremden oder auch Unsagbaren. Im Übrigen knüpft Einstein hier nicht nur an Warburg an, sondern auch an Cassirers Idee der symbolischen Form und wendet sich damit nochmals – ebenso wie Cassirer – gegen Goethe, für den das Symbol noch die Fähigkeit hatte, das Ganze des Weltgeschehens gemäß dem Prinzip pars pro toto zu kristallisieren. Jedes Haar waren tausend Formen […] und sein Leib barst fast im Kampfe zweier Wirklichkeiten. Dabei überkam ihn eine wilde Freude, dass ihm sein Gehirn aus Silber fast Unsterblichkeit verlieh, da es jede Erscheinung potenzierte, und er sein Denken ausschalten konnte, dank dem präzisen Schliff der Steine und der vollkommen logischen Ziselierung. Mit den Formen der Ziselierung konnte er eine neue Logik schaffen, deren sichtbare Symbole die Ritzen der Kapsel waren.42
In Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Prägewert der Relativitätstheorie entfaltet Einstein eine Symbolik, die an die Stelle eines konstanten Subjektes und
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Ihnen Arbeiten zu bekommen: z. B. vom Menschen als Mikrokosmos, über symbolische Körperdarstellung, über die Tierzeichen und Horoskope.“ Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 17, 19f. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 13. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 25. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 11.
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einer objektiven Wirklichkeit deren Beziehung zueinander setzt. Im Wissen darum, dass sich Elemente wie Subjekt, Objekt, Natur, Kultur oder Raum und Zeit relativ zueinander verhalten, entwickelt Einstein mit seiner Symbolik jenen Denkraum der Besonnenheit. Dieser Raum zeichnet sich durch eine hohe ethische Qualität aus, da er sowohl der Kausalität eine Absage erteilt als auch der Geschiedenheit von Ich und Welt. So gesehen eröffnet das Symbol einen Raum, in dem ein ethisches Miteinander von Ich und Welt möglich scheint und in dem eine Humanität der Vielfalt im Mittelpunkt steht. Es mag nicht besonders erstaunen, dass dieser Denkraum der Besonnenheit insbesondere mit der Symbolik des Himmels in Zusammenhang gebracht wird. Gleich zu Beginn ruft Nebukadnezar in das sich vor ihm ausbreitende Weltall: Euphemia holte einen Abendmantel, und Nebukadnezar ergriff ein Sprachrohr und bellte in die sich breit aufrollende Michstraße: Ich suche das Wunder.43
Nichts geringeres als das Wunder wird mit dem Kosmos assoziiert. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit: Ich will nicht eine Kopie, keine Beeinflussung, aus meiner Seele muss etwas ganz Eigenes kommen.44 Viel Freude bereitete es ihm, mit der Unendlichkeit umherzuspringen, wie Kinder mit Bällen und Reifen. Hier glaubte er, in keinem Hinübergehen in die Dinge zu stehen, er merkte, dass er in sich sei.45
Allerdings, in der Tradition der französischen Moderne stehend, wird in Bebuquin mehr als deutlich, dass diese Einheit keine gegebene ist und der Himmel dementsprechend auch kein orientierungsstiftender Horizont mehr sein kann. So heißt es in einem Lied, das Heinrich Lippenknabe anstimmt: Um uns tanzt der Kosmos voll Finessen, doch fällt auf mich kein Schimmer.46
Allein die Kunst mit ihrer symbolischen Form ist es, die einen zweiten – poetischen – Himmel entwirft, um auf diese Weise den Verlust, der durch die transzendentale Obdachlosigkeit entstanden ist, zu kompensieren. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Wahn und Wirklichkeit und schließlich zwischen Individuum und Kosmos werden hier zur Disposition gestellt. Er sah, wie die Brüste sich in dem fein geschliffenen Edelsteinplatten seines Kopfes zu mannigfachen fremden Formen teilten und blitzten, in Formen, wie sie ihm keine
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Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 10. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 8. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 13f. Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 24.
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Wirklichkeit bisher zu geben vermochte. […] Nebukadnezar starrte in den Spiegel, sich gierig freuend, wie er die Wirklichkeit gliedern konnte, wie seine Seele das Silber und die Steine waren, sein Auge der Spiegel.47
Anhand der Himmelssymbolik werden in Bebuquin so existenzielle Fragen wie nach dem Zusammenhang von Gott und Welt, von der Stellung des Menschen gegenüber dem Kosmos oder dem Ort Gottes überhaupt aufgeworfen. Gott ist das, was sich jeglicher logischen Erfassung entzieht, ist das, was nicht beschrieben werden kann. Auf einer metapoetischen Ebene wird er zum Symbol des Symbols, an ihm kristallisiert sich die Idee einer Vereinigung von Sinn und Sinnlichkeit und nicht zuletzt: Das Symbol Gottes scheint ein ethisches Miteinander von Ich und Welt möglich zu machen. Genau so wie die unmenschliche Mathematik, prächtig und leidenschaftlich. Gott ist die Erregung, die den Körper übertrifft. Gott ist der Tod, den wir über uns hinaussterben. (…) O, wie soll ich ihn tanzen. Ich müsste Sterne in die Hände raffen. Sonnen mir unter die Sohlen legen. Mein Mund ein grenzenlos Orchester. Und das Blech und die Pauke vielfach besetzt.48
Einsteins Symbolik greift also die Überlegungen Warburgs und Cassirers auf und vereint die beiden Pole Sinn und Sinnlichkeit. Seine Sprachsymbolik ist nicht nur Ausdruck der Pluralität von Welt – „und das Blech und die Pauke vielfach besetzt“ – sie bewegt sich darüber hinaus zwischen dem, was ist und dem, was noch nicht ist. So kommt dem Symbol eine eminent ethische Aufgabe zu, es bringt nicht nur Logik und Alogik, Mathematik und Magie in eine Wechselbeziehung, sondern lässt auch das Sagbare zur Trägersubstanz des Unsagbaren werden: „Mein Mund ein grenzenlos Orchester.“
Literatur Horst Bredekamp/Claudia Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin 2015. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004. 47 Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 10. 48 Einstein: Bebuquin oder die Dilletanten des Wunders, S. 47.
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Ernst Cassirer: „Zur Einsteinschen Relativitätstheorie“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. v. Birgit Recki, Bd. 10, Hamburg 2001. Ernst Cassirer: „Determinismus und Indertiminismus in der modernen Physik“, in: Ders. Zur modernen Physik, Darmstadt 1957 (zuerst Göteborg 1937), S. 127ff. Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. I, Die Sprache, Darmstadt 1954. Ernst Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994. Carl Einstein: Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. (1912) Berlin 2014. Carl Einstein: Nachruf 1832–1932, in: Ders.: Werke, Bd. 3, 1929–1940, hg. v. Marion Schmid und Liliane Meffre, Wien/Berlin 1985. Uwe Fleckner: Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biografie, Berlin 2006. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. Der Tragödie Zweiter Teil, in: Ders.: Sämtliche Werke, 1. Abt. Bd. 7/1, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 1994. Heidemarie Oehm: Die Kunsttheorie Einsteins, München 1976. Stephanie Waldow: Der Mythos der reinen Sprache. Allegorische Intertextualtiät als Erinnerungsschreiben der Moderne. Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Hans Blumenberg, Paderborn 2006. Warburg Institute Archive, London. Aby Warburg an Fritz Saxl. 05. September 1928. zit. nach: Horst Bredekamp/Claudia Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin 2015. Aby Warburg: Per monstra ad sphaeram. Sternglaube und Bilddeutung. Vortrag in Gedenken an Franz Boll und andere Schriften 1923–1925, hg. v. Davide Stimilli, Hamburg/ München 2008. Aby Warburg: Heidnisch-Antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), in: Ders.: Gesammelte Werke, Abt. 1, 1.2, hg. v. Horst Bredekamp u. a., Berlin 1998. Aby Warburg: Ernst Cassirer. Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf, in: Ders.: Werke in einem Band, hg. v. Sigrid Weigel u. a., Berlin 2010. Aby Warburg: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. v. Horst Bredekamp u. a., Abt. 7.7, Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, hg. v. Karen Michels/Charlotte Schoell-Glass, Berlin 2001.
Yulia Pasko
„Weg der Dichter – Weg der Kometen“: einige Beobachtungen zu Himmel- und Sternmotiven in der Dichtung von Marina Zwetajewa und Boris Pasternak
Himmel und Sterne gehören zu Motiven, die in der Dichtung des „silbernen Zeitalters“ oft vorkommen und als wichtige Elemente der Kosmologie und des dichterischen Universums einiger bedeutender Vertreter dieser Epoche fungieren. Die Bedeutung von Sonne, Sternbildern, Himmel wurde in den zahlreichen Untersuchungen zu Marina Zwetajewa und Boris Pasternak thematisiert, aber im Schatten von anderen Themenkomplexen wie Intertextualität, allgemeine Kosmologie, Metaphorologie und Leitmotivik in der Dichtung. In diesem Zusammenhang besteht das Ziel der vorliegenden Studie darin, die ersten Beobachtungen über die obengenannten Themen zu liefern, sie zu systematisieren, außerdem die erwähnten Motive als selbständigen Themenkomplex darzustellen und seine Bedeutung im Kontext des ganzen Schaffens der Dichter zu erläutern. Die Wahl gerade dieser zwei Dichter für die Untersuchung der angekündigten Fragen erklärt sich nicht nur dadurch, dass die angegebenen Motive einen bedeutenden Platz in ihrer Dichtung einnehmen. Da dies der erste Schritt zu einer umfangreicheren Studie zur Himmelsthematik bei Marina Zwetajewa, Boris Pasternak und den Dichtern der deutschen Romantik ist, war die Nähe zur deutschen Kultur, die das Schaffen von M. Zwetajewa und B. Pasternak kennzeichnet, entscheidend. Diese zwei Dichter standen der deutschen Kultur so nah wie keine anderen. Das erste, was dabei in den Sinn kommt, ist der Briefwechsel zwischen R. M. Rilke, B. Pasternak und M. Zwetajewa (1926), ein literarisches, poetisches Dreieck. Aber das ist nicht der einzige Faden, der die Dichter mit der deutschen bzw. deutschsprachigen Kultur verbindet. M. Zwetajewa hat deutsche Wurzeln dank ihrer Mutter, schon als Kind sprach sie fließend Deutsch und hat auch Gedichte in dieser Sprache verfasst, die leider verloren gegangen sind. Sie selbst schrieb in ihren Tagebüchern, dass ihre Erziehung und ihre Bildung vom deutschen Geist durchdrungen sei, einen besonders starken Einfluss haben die Romantiker auf sie ausgeübt, darunter E. T. A. Hoffmann, A. von Chamisso und F. Hölderlin, Dichter des „Sturm und Drang“, sie liebte Werke von H. Heine und H. von Kleist, später begeisterte sie sich für R. M. Rilke.
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Einen Einfluss der europäischen und in erster Linie der deutschen Kultur hat auch B. Pasternak gespürt. Deutsch war die Fremdsprache, die er am besten beherrschte. Mit der deutschsprachigen Kultur gab es in seiner Familie eine starke Verbindung, er selbst war mehrmals in Deutschland, u. A. hat er einen Teil seiner Studienzeit in Marburg verbracht. Unter seinen frühen dichterischen Versuchen und Skizzen findet man Übersetzungen von R. M. Rilke und eigene Werke, die sehr von Motiven der deutschen Romantik geprägt und beeinflusst sind („Geschichte einer Kontra-Oktave“). Auch in seinen veröffentlichten Werken sind Zitate und Anspielungen aus N. Lenau, H. Heine, E. T. A. Hoffmann; seine besondere Aufmerksamkeit gehört J. W. von Goethe: Gestalten aus Goethes Werk begegnen in seinen Gedichten, seine Übersetzung des „Faust“ bleibt bis heute die meist gelesene. Pasternak und Zwetajewa haben sich gekannt, sie verbindet auch ein Briefwechsel, außerdem sind ihre Lebenslinien und Familienlinien unglaublich ähnlich und symmetrisch, wie C. Ciepela es ausdrückte1. Umso interessanter wird eine vergleichende Studie sein, die dem Himmel als einer bedeutenden Kategorie in ihrem Schaffen gewidmet ist.
Himmel als wichtige Raumkategorie Der Himmel ist eine prägende Dimension des poetischen Raums von beiden Dichtern. Das Streben nach oben ist eins der wichtigsten Leitmotive in der Lyrik von M. Zwetajewa. Schon in frühen Gedichten, die sie als Schülerin veröffentlichte, sieht man das Streben, den poetischen Raum durch den Drang nach oben zu erweitern.2 Dieser Drang begleitet die Dichterin ihr ganzes Leben lang: В заоблачную Песнопенную высь – Двумолнием Осмеливаюсь – и вот … (Благая весть, 1921) 3
In die Himmelhöhe, in die Liederhöhe als Blitz wage ich – und … (Frohe Kunde, 1921) [Übersetzung der Autorin]
Dieses Leitmotiv bestimmt eindeutig die Erzählperspektive und den Erzählblick des lyrischen Ichs, was auch B. Pasternak bemerkt und worüber er in seinem Gedicht zu Zwetajewas Todestag im Jahre 1943 geschrieben hat: 1 Catherine Ciepela: The same solitude. Boris Pasternak and Marina Tsvetaeva. London 2006. S. 3. 2 Vgl. Danija Salimowa, Julija Danilowa: Wremja i prostranstwo kak kategorii teksta. Moskwa 2009. S. 124. 3 Marina Zwetajewa: Izbrannaja lirika. Moskwa 2007. S. 89.
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„Weg der Dichter – Weg der Kometen“
Лицом повернутая к Богу, Ты тянешься к нему с земли, Как в дни, когда тебе итога Еще на ней не подвели. (Памяти Марины Цветаевой, 1943) 4
Mit dem Gesicht zu Gott gewandt, Du strebst nach ihm Wie an jenen Tagen, an denen dir noch keine Schlusslinie gezogen wurde. (Zum Gedenken Marina Zwetajewas, 1943) [Übersetzung der Autorin]
Der Himmel als Raumkategorie definiert nicht nur die Erzählperspektive des lyrischen Ichs, sondern prägt und formt es als Gestalt. Im Gedicht „Ich weiß, ich sterbe bei Dämmerung…“ aus dem Jahr 1920 nennt sie sich „Tochter des Himmels“, sie ist diejenige, die zum Himmel für den letzten Gruß fliegt und ihre Lebensuhr nach der Naturuhr einstimmt, denn sie träumt davon und wünscht sich, dass ihre „Fackel zweimal erlischt“, bei der Morgen- und Abenddämmerung. Das lyrische Ich „steht auf Erden mit einem Bein“, befindet sich zwischen Himmel und Erde, bewegt sich frei zwischen diesen Dimensionen, und diese Freiheit wird oft gleichzeitig von zwei Themen begleitet: Liebe und Dichtung – Liebende und Dichter sind frei, können etwas, was den anderen unzugänglich und verborgen bleibt. Die unsichtbaren Flügel des lyrischen Ichs schaffen somit die Opposition „Himmel – Erde“, eine räumliche Spannung für seine Existenz, die entscheidend für die Musik, Dynamik und den Rhythmus von Zwetajewas Dichtung ist. Für Pasternak war der Himmel als poetische Dimension von Anfang an sehr wichtig, das beweist einer seiner frühen Lyrikbände „Zwilling in Wolken“, das das Sternenmotiv und die Sternbilder thematisiert. Genauso wie bei Zwetajewa gibt es auch bei Pasternak die Opposition „Himmel – Erde“, aber der Raum bei Pasternak ist viel komprimierter als bei M. Zwetajewa. Um den Himmel zu erreichen fliegt sie oder schaut nach oben, Pasternaks Himmel ist der Erde viel näher. Das wird durch den Kontakt von Himmel und Erde erreicht, der seinen Ausdruck einerseits in Verdinglichung, andererseits in Personifizierung findet.
4 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. Moskwa 2006. S. 202.
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Он тучами был, как делами, завален. В ненастья натянутый парус Чертежной щетиною ста готовален Bрезалася царская ярость.
Er war mit Wolken wie mit Arbeit beladen.
Тучи, как волосы, встали дыбом Над дымной, бледной Невой. Кто ты? О, кто ты? Кто бы ты ни был, Город — вымысел твой. («Петербург», 1915) 5
Wolken sträuben sich wie Haare
На кустах растут разрывы Облетелых туч. У сада Полон рот сырой крапивы: Это запах гроз и кладов. («Три варианта», 1915) 6
An Büschen wachsen Wolkenfetzen
(„Petersburg“, 1915) [Übersetzung der Autorin]
(„Drei Varianten“, 1915) [Übersetzung der Autorin]
Die Metaphern und Vergleiche, die wir in Pasternaks Lyrik sehen, beruhen auf unerwarteten Kombinationen vom Himmelobjekt und einem Alltagselement, auf ihrem Kontakt7, was oft verblüffend wirkt. Boris Gasparov behauptet, Pasternak verfolge die dahin ziehenden, weglaufenden Gegenstände oder Augenblicke8, was das Wesen des Impressionismus als Strömung der bildenden Kunst kennzeichnet, dessen bedeutender Vertreter sein Vater war. Außerdem zerstückelt er die Welt nicht, er nimmt sie als etwas Ganzes wahr, in ihrer Einheit mit allem und allen. Der Alltag sei für Pasternak von großer Bedeutung, die Position des lyrischen Ichs ist „zwischen Alltag und Dasein“ („byt i bytije“), er macht keinen Unterschied zwischen den Elementen, aus denen die Welt besteht, alle sind gleich und gleichberechtigt, alle bilden die Welt als eine Einheit. Die Aufgabe des Dichters sieht er in der Wiedergabe dieser Einheit, der „magischen Welt der allgemeinen Entsprechungen“. Die Kontaktmetaphern und Vergleiche unterstreichen außerdem die optische Täuschung, die wir als Zuschauer jedes Mal erleben, wenn wir in den Himmel sehen: Wolken „wachsen“ an den Zweigen und Häuser „berühren“ den Himmel. Mithilfe von stilistischen Mitteln, die so eine verdinglichte und direkte Beschreibung dieses Effekts erzeugen, wird dies nochmals betont und führt zu einer besonderen Wahrnehmung des Raums, der auf einmal kleiner und komprimierter wirkt, gleichzeitig wirkt die Gestalt des lyrischen Ichs dadurch größer, fundamentaler. Der Raum, in dem alles so nah zueinander ist und die gewöhnlichen Raumverhältnisse ihre Kraft verlieren, ruft bestimmte Assoziationen hervor, die mit der bildenden Kunst verbunden sind: 5 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. S. 73ff. 6 ebd., S. 79. 7 Alexander Zholkovskij: Poetika Pasternaka. Inwarianty. Struktury. Interteksty. Moskwa 2011. S. 11ff. 8 Boris Gasparov: Pasternak: po tu storonu poetiki. Moskwa 2013. S. 21.
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Z. Bsp. mit dem Kubismus, bei dem die Proportionen nicht eingehalten werden, oder mit dem Primitivismus, den man mit der naiven Sichtweise eines Kindes vergleichen kann. Bei den Kubisten (bspw. G. Braque und P. Picasso) sieht man die „gestörten“, „falschen“ Verhältnisse, bei denen man auch nicht immer verstehen kann, wo die Häuser enden und die Bäume beginnen, ob es überhaupt Häuser oder Berge sind. Ähnlich stellt Pasternak die Einheit aller Elemente seines Universums dar. Wenn man an weitere Parallelen zwischen der Dichtung Pasternaks und der bildenden Kunst denkt, so kommen die Bilder von H. Rousseau in den Sinn, in erster Linie ein Selbstportrait, auf dem er sich als einen Dirigenten darstellt, der wie ein Riese die ganze Welt als Orchester zu dirigieren scheint. Das lyrische Ich in der Dichtung von Pasternak ist in bestimmtem Sinne auch ein Riese, für den es keinen Unterschied zwischen alltäglichen Gegenständen und Himmelsobjekten gibt, was an weiteren Beispielen noch deutlicher wird. Somit ist die Positionierung des lyrischen Ichs, das bei Pasternak oft die Gestalt des Beobachters annimmt, ähnlich wie bei M. Zwetajewa entscheidend für die Erzählperspektive und prägend für das Bild vom lyrischen Ich, dem Alter Ego Pasternaks.
Sterne als mehrdeutige Symbole Wenn der Himmel im Allgemeinen sowohl bei Zwetajewa als auch bei Pasternak eindeutig als eine bedeutende Raumkategorie bezeichnet werden kann, die zur Positionierung und Prägung der Gestalt des lyrischen Ichs beiträgt, so sind die Sterne, die einen besonderen Platz in ihrer Dichtung einnehmen, – in erster Linie bei Zwetajewa – Gestalten, die für vieles stehen und vieles symbolisieren. Die Ästhetik des Symbolismus als Strömung in der Kultur und namentlich in der Poesie hat einen großen Einfluss auf beide Dichter ausgeübt. Marina Zwetajewa vereinigt in ihrer Poesie verschiedene Kulturen (russische, antike, europäische, vor allem deutsche) und hat vielleicht zum Teil deswegen sich im Symbolismus als Dichterin erfahren, den Einklang mit ihrer Weltanschauung gespürt9. Denn die Poesie der Symbolisten ist dazu da, die Aufmerksamkeit auf die Vieldeutigkeit der komplizierten Welt zu lenken, das Wesen der Dinge zu entdecken. Als eine hervorragende Figur unter russischen Symbolisten sah Pasternak gerade Zwetajewa, worüber er in seinem Essay „Menschen und Standorte“ 1956 schrieb.10 Als Symbolisten und Futuristen bezeichnet man auch B. Pasternak, in erster Linie in Bezug auf seine frühe Dichtung. 9 Oksana Bernat: Simwolika i simwolizm w poesii M. Zwetajewoj. Tscheljabinsk 2013. S. 39. 10 Boris Pasternak: „Menschen und Standorte“, in: B. Pasternak: Temy i wariatsii. Moskwa 2006. S. 5ff.
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Mit den Gestalten von Sternen erscheint bei Zwetajewa das Thema von Makrokosmos und Mikrokosmos, denn das lyrische Ich sieht die Sterne nicht nur im Himmel, sondern auch im Menschen. Куполок твой золотенький Ясны звезды – под лобиком. Голосок твой тоненький, Ты сама колоколенка. (Молодой колоколенкой…, 1918) 11
Dein goldenes Kuppelchen Klar sind die Sterne unter der Stirn Deine feine Stimme – Du bist selbst ein Glockentürmchen. (Das junge Glockentürmchen…, 1918) [Übersetzung der Autorin]
Die Vorstellung vom Menschen und seinem Körper als Mikrokosmos wird in den Werken der frühen Romantik thematisiert. Diese Idee wird oft in den Werken von Novalis aufgegriffen und verwirklicht. In „Hymnen an die Nacht“ (1800) untersucht er den Makrokosmos – das lebendige und antropomorphe Universum, dessen Erkenntnis den Mikrokosmos – die Geliebte – zurückgeben kann. Der Dichter verleiht der Nacht Züge, die einer Frau eigen sind, und gewinnt in der Nacht, im Kosmos, die Hoffnung wieder. Er verwandelt seine Geliebte in ein Gestirn und stützt sich dabei auf antike Legenden. Novalis verbindet antike und christliche Vorstellungen von der Welt und versucht, ein harmonisches Weltbild zu schaffen. In seiner Welt gibt es keine Angst vor dem Tod, denn dieser ist nur eine Etappe der ewigen Verwandlung des Mikrokosmos und seiner Kommunikation mit dem Makrokosmos. Diese Kommunikation mit dem Makrokosmos kann man als eines der wichtigen Motive in der Dichtung Zwetajewas bezeichnen. Das Gespräch wird zum Teil durch das Lesen möglich, denn eine der vieldeutigen und spannendsten Vorstellungen ist diejenige vom Himmel als einem Sternbüchlein, das die Spur von Gottes Mantel ist. Ибо бег он – и движется, ибо звездная книжица Вся: от Аз и до Ижицы – След плаща его лишь (Бог, 1922) 12
Denn er [Gott] ist Lauf – und bewegt sich, Denn das ganze Sternbüchlein ist nur die Spur seines Mantels. (Gott, 1922) [Übersetzung der Autorin]
Aus dieser Metapher geht hervor, dass Gott Dichter und Schriftsteller zugleich ist, die Sterne und Gestirne – seine Gedichte. Aber diese Metapher wirft gleichzeitig viele Fragen auf und zwar: Wenn der Himmel ein Buch ist, was ist dann die Erde? Kann man Gott und Dichter auf eine Stufe stellen? Was vereinigt sie? Bei dieser Frage taucht das Thema der Worthaftigkeit des Schöpfungsaktes auf, so wie es bei Hans Blumenberg behandelt wurde13. Die Welt, das ganze Universum entstand 11 Marina Zwetajewa: Molodoj kolokolenkoj… http://www.tsvetayeva.com/poems/molodoj_kol. php. 12 Marina Zwetajewa: Bog. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/bog.php. 13 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1986. S. 23.
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durch Nennen und Namengebung, wurde also mit Worten wie ein Gedicht oder ein anderer Text geschaffen, was mithilfe von so einer Metapher unterstrichen und betont wird. In dieser Gedichtreihe „Gott“ geht es nicht nur um die Fragen „Wer ist Gott?“ und „Wo ist Gott?“, sondern auch implizit um die Frage „Wer ist Dichter?“, eine Frage die mehr oder weniger in einem großen Teil von Zwetajewas Gedichten zum Vorschein kommt und als Grundfrage ihres Schaffens bezeichnet werden kann. Als Ergänzung zu diesem Thema und auch als Antwort auf die Frage kann die Gedichtreihe „Dichter“ behandelt werden. Wiederum sind hier Sterne, genauer gesagt: Kometen im Spiel: – ибо путь комет Поэтов путь: жжя, а не согревая. Рвя, А не взращивая – взрыв и взлом. Твоя стезя, гривастая кривая, Не предугаданная календарем! (Поэты, 1923) 14
– denn der Weg der Kometen Ist der Weg der Dichter: brennend, nicht wärmend. Zerreißend, nicht pflanzend – Ausbruch, Einbruch. Dein Weg, krumme Linie, Vom Kalender nicht vorsagbar, nicht vorsehbar! (Dichter, 1923) [Übersetzung der Autorin]
Der Dichter als Komet ist auch eine Metapher, die nicht eindeutig interpretierbar ist. Was als Erstes auffällt, ist eine gewisse Aggression, die mithilfe einer Partizipienreihe erzeugt wird, auch als Hyperbelreihe verstanden werden darf und gleichzeitig das Thema der Mission des Dichters aufgreift. Ein Dichter ist nicht derjenige, der harmlose Gedichte schreibt, durch seine Gedichte vermittelt er Botschaften, Wahrheit (brennend, nicht wärmend), er ist zwischen Himmel und Erde, mitten im historischen Geschehen, in einem dramatischen Konflikt mit seinem komplizierten, nicht vorhersehbaren Schicksal, wofür die Metapher der „krummen Linie“ steht. Ein Dichter „redet nicht mit Worten, sondern mit Planeten und Vorzeichen“, besitzt also eine besondere Stärke und ein Wissen, die vom Himmel kommen und die er vom Himmel bekommt. Der Dichter, der durch seine Gabe abgesondert von anderen steht und als Hellseher dargestellt wird, als derjenige, der ein Gespür für den Zeitgeist seiner Epoche hat, ist ein wichtiges Thema für die russische Dichtung, deren Programmgedicht oder Manifest das Gedicht von Alexander Puschkin „Prophet“ („Prorok“, 1826) ist.
14 Marina Zwetajewa: Poety. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/poety.php.
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А. С. Пушкин Пророк
A. Puschkin Prophet
Духовной жаждою томим, В пустыне мрачной я влачился, — И шестикрылый серафим На перепутье мне явился. Перстами легкими как сон Моих зениц коснулся он. Отверзлись вещие зеницы, Как у испуганной орлицы. Моих ушей коснулся он, — И их наполнил шум и звон: И внял я неба содроганье, И горний ангелов полет, И гад морских подводный ход, И дольней лозы прозябанье. И он к устам моим приник, И вырвал грешный мой язык, И празднословный и лукавый, И жало мудрыя змеи В уста замершие мои Вложил десницею кровавой. И он мне грудь рассек мечом, И сердце трепетное вынул, И угль, пылающий огнем, Во грудь отверстую водвинул. Как труп в пустыне я лежал, И бога глас ко мне воззвал: «Восстань, пророк, и виждь, и внемли, Исполнись волею моей, И, обходя моря и земли, Глаголом жги сердца людей».
Getrieben von des Geistes Gier, darbt’ ich in Wüsten, als sich zeigte ein sechsflügliger Seraph mir, wo sich der Weg zum Kreuz verzweigte. Und seines Fingers Lichtgebild berührte meine Augen mild: und Seher-Augen, furchtlos wahre, erwachten wie erschreckte Aare. Und in mein Ohr sein Finger drang, und es erfüllte Schall und Klang: und ich vernahm des Himmels Beben, der Engel sternumwehten Flug, des Meergetiers verborgnen Zug, das Tasten erdennaher Reben. Und er griff tief in meinen Schlund und riß die Zunge aus dem Mund, die eitle, sündhafte und bange. Und durch erstarrter Lippen Rand stieß seine blutbespritzte Hand den weisen Stachel ein der Schlange. Und meine Brust sein Schwert durchstob, und ihr mein bebend Herz entrang er, und in die offne Wunde schob er eine Kohle, flammenschwanger. Ich lag im Wüstensand wie tot, und Gottes Stimme mir gebot: Steh auf, Prophet, und sieh und höre, verkünde mich von Ort zu Ort und, wandernd über Land und Meere, die Herzen brenn mit meinem Wort. Übersetzung von E. Groeger15
Zwetajewa greift dieses Thema auf, entwickelt die imperativische letzte Zeile aus Puschkins Gedicht und verwandelt die Gestalt des Propheten in die Gestalt des Kometen. Bemerkenswert ist die abergläubische Beladenheit dieses Symbols, denn früher galt der Komet als böses Vorzeichen. Dementsprechend entsteht die Frage danach, ob der Dichter, der auf die Erde als Botschafter kommt, ein Fluch oder ein Segen ist. In der Auffassung des Themas „Dichter und Dichten“ sieht man auch die Spuren der Romantik, wie z. B. in diesen Versen:
15 Alexander Puschkin: Prorok. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-144/2.
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Стихи растут, как звезды и как розы […] О мир, пойми! Певцом — во сне — открыты Закон звезды и формула цветка. (Стихи растут, как звезды и как розы, 1913) 16
307 Gedichte wachsen wie Sterne und Rosen […] O, Welt, du sollst verstehen! Vom Sänger wurden im Traum entdeckt das Gesetz des Sterns und die Formel der Blume. (Gedichte wachsen wie Sterne und Rosen, 1913) [Übersetzung der Autorin]
Traum und Träumen als andere, zweite Realität, die dem Künstler offen ist, Dichter als Sänger, „die Formel der Blume“, die an die blaue Blume der Romantik in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ erinnert, – dies alles aktualisiert den Kontext der deutschen Romantik, der auf M. Zwetajewa eine große Wirkung ausübte und ihr Schreiben prägte. Genauso einflussreich war die deutsche Romantik für B. Pasternak. Darüber schreibt Karen Evans-Romaine in ihrer Arbeit „Boris Pasternak and the Tradition of German Romanticism“, sie unterstreicht Pasternaks Begeisterung für Details, die alle miteinander verbunden sind und eine Einheit mit dem ganzen Universum bilden, seine Idee, dass Kunst und Natur eins sind; dabei bezieht sie sich nicht nur auf ihre eigenen Analysen und Beobachtungen, sondern auch auf den Forschungsdiskurs.17 Das Auge für Details und Einheit von allen und allem sieht man in den oben zitierten Fragmenten aus Pasternaks Gedichten, ähnlich geht er auch mit Sternen als Elementen seines Universums um. С полу, звездами облитого, К месяцу, вдоль по ограде Тянется волос ракитовый, Дыбятся клочья и пряди. (С полу, звездами облитого…, 1916) 18 Ночь тиха. Ясна и морозна ночь, Как слепой щенок – молоко, Всею темью пихт неосознанной Пьет сиянье звезд частокол. Будто каплет с пихт. Будто теплятся. Будто воском ночь заплыла. («Болезнь», 1916) 19
Der Boden ist mit Sternen begossen (Vom Boden, mit Sternen begossen…, 1916) [Übersetzung der Autorin]
Der Pfahlzaun trinkt den Glanz der Sterne wie ein blinder Welpe die Milch. („Krankheit“, 1916) [Übersetzung der Autorin]
16 Marina Zwetajewa: Stihi rastut, kak zwjozdy i kak rosy. http://www.tsvetayeva.com/poems/ stihi_rastut_kak.php. 17 Karen Evans-Romaine: Boris Pasternak and the Tradition of German Romanticism. München 1997. S. 8f. 18 Boris Pasternak: S polu, zwjozdami oblitogo. http://www.b-pasternak.ru/vse-stixotvoreniya/ s-polu-zvezdami-oblitogo. 19 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. S. 126.
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Hier sieht man wieder eine Metapher und einen Vergleich, die auf der Kombination des „Hohen“ und „Alltäglichen“ beruhen, von Alltag und Dasein, byt i bytije. Das Oben und das Unten sind eins, was wiederum mithilfe von einem abstrakten „Kontakt“ gezeigt wird. Charakteristisch für Pasternak ist auch die Personifizierung, die die Grundlage seines berühmten Sternen-Gedichtes bildet: Звезды летом Рассказали страшное, Дали точный адрес. Отпирают, спрашивают, Движутся, как в театре.
Die Sterne im Sommer Erzählten Schreckliches, Gaben genau die Adresse an. Machten auf, fragten laut, Schritten wie auf Bühnen dann.
Тишина, ты – лучшее Из всего, что слышал. Некоторых мучает, Что летают мыши.
Stille, du bist das Beste Von allem, das ich je gehört. Einige quält entsetzlich, Wie eine Fledermaus schwirrt.
Июльской ночью слободы Чудно белокуры. Небо в бездне поводов, Чтоб набедокурить.
Die Vorstadtjulinächte Sind so herrlich blondgelockt. Himmel – sachzwangträchtig – Unheilstiftend bockt.
Блещут, дышат радостью, Обдают сияньем, На каком-то градусе И меридиане.
Glitzern, hauchen freudig-zart, Schütten ihren hehren Glanz Aus auf einen Breitengrad Und auf einen Meridian.
Ветер розу пробует Приподнять по просьбе Губ, волос и обуви, Подолов и прозвищ.
Wind versucht die Rose zu Heben auf die Bitten von Lippen, Haaren, guten Schuhn, Säumen, Namen voller Hohn.
Газовые, жаркие, Осыпают в гравий Все, что им нашаркали, Все, что наиграли. 191720
All, die hitzig und erregt, Streuen in den Schotter, Alles, was den Stecken dreckt, Das, was sie verbockten. 191721 (Übersetzung von Eric Boerner)
Genauso wie die Kontaktmetaphern und Vergleiche ergänzt diese Personifizierung das Bild des lyrischen Ichs, dem alles gleich nah ist, eines Riesen, der ganz leicht und einfach mit „großen“ Gegenständen „hantiert“. Dieser Umstand verdeutlicht nochmals die Erzählperspektive. Interessante Gedanken zu Pasternaks Erzählperspektive liefert eine der Studien von A. Zholkovskij, in der er 20 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. S. 95. 21 Boris Pasternak: Sterne im Sommer. http://home.arcor.de/berick/illeguan/pasternak2.htm.
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anhand seiner Beobachtungen zur Schlussfolgerung kommt, dass das lyrische Ich von Pasternak meistens vor dem Fenster steht, und wenn es nicht direkt erwähnt wird, ist diese Fensterperspektive trotzdem vorhanden, das erkennen wir an Bewegungen von Sonnenstrahlen oder an denen einer Gardine im Fenster. Seinen Mikrokosmos hat er um sich herum, im Unterschied zu Zwetajewa, die ihren Mikrokosmos in sich trägt. Das Fenster ist oft eine Grenze zwischen seinem Mikrokosmos und Makrokosmos. Diese Perspektive lässt an das Motiv des Fensters in der deutschen Romantik denken, bspw. an das Bild von C.D. Friedrich „Frau am Fenster“, das die Haltung der Romantiker treffend illustriert: abgewandt von der realen Welt, mit dem Gesicht zur inneren Welt des Menschen, das Streben nach dieser anderen Welt, dessen Grenze das Fenster gerade symbolisiert. Interessanterweise korrelliert dieses Gemälde mit einem berühmten Foto von L. Gomung aus dem Jahr 1936, auf dem wir Pasternak vor dem Fenster sehen. Er ist aber nicht ganz dem Fenster zugewandt, sondern nur mit einer Seite. Er gehört sowohl der Welt an, die im Haus drin ist, als auch der Welt, die er durch das Fenster sieht. Und gerade dieses Foto illustriert am besten die Besonderheit des Erzählblicks des lyrischen Ichs Pasternaks. Diese Zugehörigkeit zu Alltag und Dasein, zu Realität und Fantasie macht ihn frei in seinem Umgang mit Himmelobjekten, die sowohl mit alltäglichen Gegenständen zusammengebracht als auch personifiziert werden können. Weitere Beispiele dafür können an der Gestalt der Sonne in seiner Dichtung gezeigt werden. Как обещало, не обманывая, Проникло солнце утром рано Косою полосой шафрановою От занавеси до дивана. (Август, 1953) 22
Wie versprochen, ohne zu lügen, Drang die Sonne am frühen Morgen Als schräger Safranstreifen Von der Gardine zum Sofa. (August, 1953) [Übersetzung der Autorin]
Die angeführte Strophe zeigt eine bestimmte Kommunikation zwischen dem lyrischen Ich und der Sonne, die ihm versprochen hat, am frühen Morgen zu kommen. Ähnliches sieht man im oben zitierten Gedicht „Sterne im Sommer“, im dem die Sterne auch etwas erzählen, – das lyrische Ich versteht also die Sprache der Sterne, des Universums. Die Sonne wärmt sich auf der Eisscholle, trägt einen Turban – dies alles sind sehr plastische Bilder, die deutlich werden lassen, dass Pasternak in seiner Dichtung wie ein Maler vorgeht und mit Worten wie mit Pinselstrichen ein Gemälde schafft. Die Schilderung der Sonne bei Pasternak hebt sich nicht von anderen Himmelobjekten ab, wobei bei Zwetajewa es gerade umgekehrt ist. Die Sonne nimmt
22 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. S. 244.
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in ihrer Kosmologie eine besondere Stellung ein, sie ist Zentrum der Welt, des Universums, des Makrokosmos und Mikrokosmos. Затменные – солнца в венце стрел! (Георгий, 1921) 23
Finstere – Sonnen im Kranz der Pfeile! (Georg, 1921) [Übersetzung der Autorin]
Солнцем жилки налиты – не кровью – На руке, коричневой уже. Я одна с моей большой любовью К собственной моей душе. (Солнцем жилки налиты – не кровью…, 1913) 24
In meinen Adern fließt die Sonne, nicht das Blut, Auf der Hand, die schon braun geworden ist. Ich bin allein mit meiner großen Liebe Zu meiner eigenen Seele. (In meinen Adern fließt die Sonne, nicht das Blut…, 1913) [Übersetzung der Autorin]
M. Zwetajewa empfindet eine besondere Verwandtschaft mit der Sonne und dadurch mit der ganzen Welt, die zusammen mit dem Drang und Blick nach oben zu den Leitmotiven ihrer Dichtung gehört. Два солнца стынут,– о Господи, пощади! - Zwei Sonnen werden kälter – Gott, hilf! Одно – на небе, другое – в моей груди. Du musst! – Die eine – droben, die andre – in meiner Brust. Как эти солнца,– прощу ли себе сама? Как эти солнца сводили меня с ума!
Wie treiben mich – ob ich es mir selbst verzeih? – Wie trieben mich die beiden zur Raserei!
И оба стынут – не больно от их лучей! И то остынет первым, что горячей.
Und werden kälter – bereiten nun keine Pein! Zuerst erlischt die Heißere von den zwein.
(«Два солнца стынут,– о Господи, пощади!», 1915) 25
(„Zwei Sonnen werden kälter – Gott, hilf! Du musst!“, 1915) 26
Diese starke Identifizierung mit der Sonne, den Naturerscheinungen im Einzelnen und der Natur im Allgemeinen hat ihre Wurzeln in Zwetajewas Weltverständnis. Die Welt befindet sich im ständigen Werden und Verändern, ewiger Kreislauf der Grundelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde. Der Mensch als Teil dieses Kosmos und Universums ist in diese Bewegung involviert und genauso wie 23 Marina Zwetajewa: Izbrannaja lirika. S. 80. 24 Marina Zwetajewa: Solntsem zhilki nality – ne krowju. http://www.tsvetayeva.com/poems/ solncemzilki.php. 25 Marina Zwetajewa. Dwa solntsa stynut – o Gospodi, poschadi! http://www.tsvetayeva.com/ poems/dwasolncastynut.php. 26 Marina Zwetajewa. Liebesgedichte. Auswahl, Übersetzung aus dem Russischen und Nachwort von Alexander Nitzberg. Stuttgart 2012. S. 60.
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der Kosmos besteht er aus Licht und Nacht, aus Sonne und Sternen.27 Dies korreliert wiederum mit der Behauptung der Romantiker von der Einheit aller Erscheinungen in der Welt. Wenn die Sonne bei Pasternak und Zwetajewa verschieden dargestellt und geschildert wird, so kann man trotzdem merken, dass die beiden Dichter die Sonne als etwas Verwandtes und Nahes empfinden. Einer der Gründe dafür kann die Nähe zur Romanik und der romantischen Philosophie sein, die Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos, der Natur und des Menschen, die von Pasternak als „magische Welt der allgemeinen Entsprechungen“ interpretiert wird. A. Zholkovskij, der sich mit der Intertextualität in der Dichtung Pasternaks beschäftigt hat, veröffentlichte eine interessante Beobachtung bezüglich eines seiner Gedichtbände, der „Meine Schwester das Leben“ heißt. Laut seiner Studie geht dieser Titel auf den Vers von P. Verlaine zurück („La vie est laide, encore c’est ta soeur“, in seinem Buch „Sagesse“) und über Verlaine auf die Hymnen von Franz von Assisi „Il cantico di Frate Sole“, die ihre Quelle in den biblischen Psalmen finden. In diesen Hymnen spricht er den Himmel (die Sonne, den Mond, die Sterne) und die Elemente als Brüder und Schwestern an. Diese Verwandtschaft kann als das brüderliche Gefühl in Mönchsgemeinschaften interpretiert werden. Diese Brüderlichkeit ist nicht nur in der Stimmung der Gedichte aus diesem Band zu spüren, sondern ist auch der Weltanschauung Pasternaks eigen und korreliert mit der futuristischen Einstellung des frühen Pasternak und von Majakowski. Dies kann als gewisses „Sterne duzen“ bezeichnet werden, wie der Dichter W. Chlebnikov, ein Zeitgenosse der genannten Dichter, es formuliert hat.28 Somit ist der Mensch solchen makrokosmischen Größen wie Himmel, Ferne, Ewigkeit gleichgestellt. Zusammenfassend kann man an dieser Stelle sagen, dass die Himmelsthematik und die Sternmotive bei Zwetajewa und Pasternak anhand von Metaphern und Vergleichen gezeigt werden, die zwei Richtungen aufweisen. Zum einen ist es die Richtung vom Menschen zum Himmel, aufwärts: wenn Zwetajewa Augen wie Sterne beschreibt, wenn der Dichter zu einem Kometen wird, wenn das lyrische Ich sich als Tochter des Himmels bezeichnet. Die andere Richtung folgt abwärts, ist eine Bewegung vom Himmel zum Menschen: Beim lyrischen Ich Zwetajewas fließt nicht Blut, aber Sonne in ihren Adern, sie hält die Sonne in der Hand. Bei Pasternak lesen wir beispielsweise, dass alles ein Ebenbild seiner hadernden Lippen sei, Adam selbst ist ein Universum, die Erde ist ein Riemen seiner Sandalen und die Sonne befindet sich zwischen seinen Lippen; die Himmelsobjekte, die im Kontakt mit der Erde sind, und die 27 Ljubov Spesivtseva: Twortschestwo M. I. Zwetajewoj 1910–1920-ch godov: Traditsii simwolizma i awangardizma. Astrachan 2008. S. 28. 28 Alexander Zholkovskij: Poetika Pasternaka. Inwarianty. Struktury. Interteksty. S. 117ff.
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Gespräche, die Sterne und die Sonne mit dem lyrischen Ich führen, weisen eben diese Bewegung abwärts auf. Die erste Perspektive ist eher für Zwetajewa charakteristisch, die zweite sieht man häufig bei Pasternak.
Himmel als ethischer Raum Vom Himmel als einer wichtigen und bestimmenden poetischen Dimension bewegen wir uns über die Symbolhaftigkeit der Sterne zum Himmel als ethischem Raum. Die Vorstellungen vom Himmel sind stark durch die Religion geprägt, im Christentum wird der Himmel mit Gott assoziiert und als sein Reich verstanden. Das Fliegen selbst ist ein Symbol der Auferstehung, der Himmelfahrt. Der Archetyp des Fliegens verkörpert auch die Heiligkeit, die Überschreitung der Grenzen, die Freiheit, den Wunsch, die Erde zu verlassen, und im Himmel Ruhe zu finden.29 Eine der wichtigsten Fragen für einen Dichter ist die Frage nach seinem Platz in der Welt, nach seiner Rolle, nach seiner Mission. Das lyrische Ich von Marina Zwetajewa gibt eine Antwort auf diese Frage, man merkt, dass das Leben des Dichters zwischen Himmel und Erde stattfindet, wobei ihn mit dem Himmel immer ein unsichtbarer Faden verbindet. Seine Gabe sondert ihn von anderen ab. Die Parallelen zur deutschen Romantik, die im Kontext von Zwetajewas Bildung und Belesenheit in ihrer Dichtung zu sehen sind, können auch an dieser Stelle weitergezogen werden. Novalis stellt Dichter und Priester auf eine Stufe, das poetische Gefühl ist für ihn mit dem Gefühl der Prophezeiung, dem religiösen Gefühl verwandt. Dies korreliert mit der schon erwähnten Gestalt des Propheten bei A. Puschkin und seiner Interpretation der Mission des Dichters, „die Herzen mit dem Wort zu brennen“. Im Rahmen dieses Fragen- und Gestaltenkomplexes spielen im Schaffen Zwetajewas die Gedichte und Gedichtzyklen eine besondere Rolle, die sie anderen Dichtern widmet, in erster Linie Wladimir Majakowski, Ossip Mandelstam und Alexander Blok, die sie als große Dichter anerkennt und schätzt. Das Dichten ist eine himmlische Gabe, der Dichter selbst ist auch himmlisch, er hat Flügel und kann fliegen, ist Seraph, Adler. Die Zugehörigkeit des Dichters zum Himmel ist das Thema eines Gedichtes, das zum Todestag von M. Woloschin geschrieben wurde, in dem sie seine Beerdigung beschreibt:
29 Danija Salimowa, Julija Danilowa: Wremja i prostranstwo kak kategorii teksta. S. 125.
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Ветхозаветная тишина, Сирой полыни крестик. Похоронили поэта на Самом высоком месте.
Beerdigt wurde der Dichter An der höchsten Stelle.
Так и во гробе еще – подъем Он даровал – несущим. …Стало быть, именно на своем Месте, ему присущем.
Er befindet sich demnach an seinem Platze, Der ihm eigen ist.
Выше которого только вздох, Мой из моей неволи. Выше которого – только Бог! Бог – и ни вещи боле.
Höher ist nur mein Seufzer Aus der Gefangenschaft. Höher ist nur Gott! Gott und mehr nichts.
Всечеловека среди высот Вечных при каждом строе. Как подобает поэта – под Небом и над землею.
Dort, wo der Dichter sein muss – Unter Dem Himmel und über der Erde.
После России, где меньше он Был, чем последний смазчикРавным в ряду – всех из ряда вон Равенства – выходящих. В гор ряду, в зорь ряду, в гнезд ряду, Орльих, по всем утесам. На пятьдесят, хоть, восьмом году – Стал рядовым, был способ!
In die Reihe der Berge, der Dämmerungen, der Adlerneste Ist er [der Dichter] wenigstens im 58. Lebensjahr eingegangen.
Уединенный вошедший в круг Горе? – Нет, радость в доме! На сорок верст высоты вокруг Солнечного да кроме
Vierzig Werst der Höhe, und kein Gesicht außer dem der Sonne und dem des Mondes.
Лунного – ни одного лица, Ибо соседей –нету. Место откуплено до конца Памяти и планеты. 193230
Denn es gibt keine Nachbarn. Der Platz ist abgekauft bis zum Ende des Gedächtnisses und des Planeten. 1932 [Übersetzung der Autorin]
In der angeführten Strophe geht es in erster Linie darum, wie die Dichterseele in den Himmel gelangt, dorthin, wo sie hingehört, in eine Reihe mit Bergen, Dämmerung und Adlernesten. Wenn man die Kontexte berücksichtigt, in denen Himmel- und Sternmotive das Thema der Dichtung und des Dichtens begleiten, so kann und darf man die Ankunft im Himmel als Rückkehr der Seele dorthin betrachten, woher sie gekommen ist. Die Gestalt des Dichters ist also mit religiösen Vorstellungen verbunden, Zwetajewa setzt im gewissen Sinne die Linie 30 Marina Zwetajewa: Ici – Haut. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/ich_haut.php .
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fort, die man bei Puschkin im Gedicht „Prophet“ beobachtet. Der Dichter wird hier aber nicht mit Gott gleichgesetzt, was im Kontext der oben angeführten Überlegungen über den Himmel als einer Spur von Gottes Mantel wichtig zu betonen ist. Im Unterschied zu Zwetajewa kann man explizite Äußerungen, die etwas von seinem Glauben ahnen lassen, in der frühen Lyrik von Pasternak nicht finden, sie kommen erst in Gedichten von Jurij Zhivago zum Vorschein. Das erste Gedicht in dieser Reihe verdient eine besondere Erwähnung in Bezug auf die Frage der Ethik des Dichters. Гамлет Гул затих. Я вышел на подмостки. Прислонясь к дверному косяку, Я ловлю в далеком отголоске, Что случится на моем веку.
Hamlet Leiser ward’s. Ich trat hinaus zur Szene, Langsam wie durchs Rahmenholz die Tür, Such im fernen Nachhall zu verstehen, Was in meiner Zeit und mir passiert.
На меня наставлен сумрак ночи Тысячью биноклей на оси. Если только можно, Aвва Oтче, Чашу эту мимо пронеси.
Tausendfach in meine Richtung zielen Operngläser, starr im Dämmerlicht. Lass an mir den Kelch vorüberziehen, Vater, wenn es irgend möglich ist.
Я люблю Твой замысел упрямый И играть согласен эту роль. Но сейчас идет другая драма, И на этот раз меня уволь.
Recht ist mir dein vorbestimmtes Planen, Diese Rolle hab ich im Gefühl, Doch vollzieht sich hier ein andres Drama Und für diesmal lass mich aus dem Spiel.
Но продуман распорядок действий, И неотвратим конец пути. Я один, все тонет в фарисействе. Жизнь прожить — не поле перейти. 194631
Alles läuft an straff gespannten Fäden, Endzeit stellt sich unumgänglich ein. Unter Pharisäern stehe ich – allein. Kein Spaziergang ist das Leben. 1946 Übersetzung von Eric Boerner32
Das lyrische Ich vereinigt und trägt in sich gleichzeitig einige Gestalten: Hamlet als Shakespeares Figur; der Schauspieler, der auf die Bühne tritt und der sich langsam in Christus verwandelt. Die Zeilen „Such im fernen Nachhall zu verstehen,/Was in meiner Zeit und mir passiert“ lassen auch an einen Dichter denken. Wenn man dieses Gedicht (und auch alle anderen Gedichte aus diesem Zyklus) unter dem Blickwinkel der Autorschaft betrachtet, dann entsteht ein „verschachteltes“ Verhältnis zwischen Boris Pasternak und diesem Gedicht. Das Gedicht hat gleichzeitig zwei Autoren – Jurij Zhivago und Boris Pasternak. Im Gedicht sieht man das lyrische Ich Zhivagos. Zhivago ist aber auch im bestimmten Sinne das lyrische Ich von Pasternak und sein Alter Ego. Das Gedicht 31 Boris Pasternak: Temy i wariatsii. S. 227. 32 Boris Pasternak: Hamlet. http://home.arcor.de/berick/illeguan/pasternak3.htm.
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weist somit einige (inter-)textuelle Schichten auf, denn das Gedicht ist einerseits ein selbständiger Text, andererseits ist es mit dem Text des Romans verbunden und trägt in sich die Tragödie von Shakespeare und das Neue Testament, dazu noch implizit die berühmte Aussage Shakespeares „Die ganze Welt ist Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.“ Das kann und darf dann folgendermaßen interpretiert werden: Ein Dichter steht wie auf einer Bühne, auf ihn sind alle Blicke gerichtet, auch der Blick des Himmels (Sterne als Operngläser), und hat seinen Weg voller Leiden zu gehen, der mit dem Weg von Christus vergleichbar ist. Hier sieht man wieder die Verbindung der Mission des Dichters und Religion, die auch für M. Zwetajewa charakteristisch ist. Man kann also anhand einiger Gedichte zum Schluss kommen, dass die Ethik des Dichters zum großen Teil mit der Religion und dem Himmel als einem besonderen Raum verbunden ist.
Zusammenfassung Für beide Dichter ist der Himmel ein wichtiges Element ihres poetischen Raums, das auch die Erzählperspektive und den Erzählblick des lyrischen Ichs bestimmt und definiert. Als Leitmotiv tritt im Rahmen dieses Themenkomplexes bei beiden Dichtern eine besondere Nähe zum Himmel, Verwandtschaft mit dem Makrokosmos, mit Sonne, Himmel und Sternen auf, die zum Teil auf den intertextuellen Kontext ihrer Dichtung zurückzuführen ist, in erster Linie auf die deutschen Romantiker. Himmel- und Sternmotive gehören zweifellos zu Leitmotiven in der Dichtung Zwetajewas und Pasternaks, ihre Darstellung weist zwei Richtungen auf: vom Menschen zum Himmel, wenn der Mensch zum Himmel steigt, – dies ist für Zwetajewa charakteristisch, was auch völlig der Beobachtung der ZwetajewaForschung entspricht, in der behauptet wird, das Streben nach oben durchdringe ihr Werk. Die Richtung vom Himmel zum Menschen sieht man häufiger bei Pasternak, wenn der Himmel zum Menschen „herunterkommt“, diesen Eindruck gewinnt man dank der so genannten Kontaktmetaphern, die die Beziehung eines Himmelobjekts mit einem Alltagselement zeigen. Somit wird das Alltägliche mit dem Großen gleichgestellt, was völlig der Lebensphilosophie Pasternaks entspricht, für den alles wichtig ist, sowohl der Mikrokosmos als auch der Makrokosmos. Das Religiöse bei der Auseinandersetzung mit der Frage „Wer ist Dichter?“ lässt die Themenkomplexe der Dichterethik unmittelbar mit dem Himmel als ethischem Raum verbinden und macht Parallelen zwischen dem Schöpfungsakt der Welt und dem Schöpfungsakt des Gedichtes deutlich. Die Welt kann als Makrokosmos und das Gedicht als Mikrokosmos interpretiert werden, denn die
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Yulia Pasko
Schöpfung bedeutet nicht zuletzt Namensgebung und führt auf diesem Weg zu Blumenbergs „Worthaftigkeit des Schöpfungsaktes“33, die die Metapher „Text ist eine Welt“ rechtfertigt und somit das Schaffen eines Gedichtes und das Schaffen der Welt auf bestimmte Weise gleichsetzt.
Literatur Oksana Bernat: Simwolika i simwolizm w poesii M. Zwetajewoj. Tscheljabinsk 2013. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1986. Catherine Ciepela: The same solitude. Boris Pasternak and Marina Tsvetaeva. London 2006. Karen Evans-Romaine: Boris Pasternak and the Tradition of German Romanticism. München 1997. Boris Gasparov: Pasternak: po tu storonu poetiki. Moskwa 2013. Boris Pasternak: Temy i wariatsii. Moskwa 2006. Ders.: „Menschen und Standorte“, in: Boris Pasternak: Temy i wariatsii. Moskwa 2006, S. 5– 64. Ders.: Sterne im Sommer. http://home.arcor.de/berick/illeguan/pasternak2.htm (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Ders.: Hamlet. http://home.arcor.de/berick/illeguan/pasternak3.htm (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Alexander Puschkin: Prorok. http://gutenberg.spiegel.de/buch/-144/2 (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Danija Salimowa/Julija Danilowa: Wremja i prostranstwo kak kategorii teksta. Moskwa 2009. Ljubov Spesivtsewa: Twortschestwo M. I. Zwetajewoj 1910–1920-ch godov: Traditsii simwolizma i awangardizma. Astrachan 2008. Alexander Zholkovskij: Poetika Pasternaka. Inwarianty. Struktury. Interteksty. Moskwa 2011. Marina Zwetajewa: Izbrannaja lirika. Moskwa 2007. Dies.: Liebesgedichte. Auswahl, Übersetzung aus dem Russischen und Nachwort von Alexander Nitzberg. Stuttgart 2012. Dies.: Molodoj kolokolenkoj http://www.tsvetayeva.com/poems/molodoj_kol.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Dies.: Bog. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/bog.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Dies.: Poety. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/poety.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Dies.: Stihi rastut, kak zwjozdy i kak rosy. http://www.tsvetayeva.com/poems/stihi_rastut_ kak.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Dies.: Solntsem zhilki nality – ne krowju. http://www.tsvetayeva.com/poems/solncemzilki. php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). 33 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main 1986. S. 23.
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Dies.: Dwa solntsa stynut – o Gospodi, poschadi! http://www.tsvetayeva.com/poems/ dwasolncastynut.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015). Dies.: Ici – Haut. http://www.tsvetayeva.com/cycle_poems/ich_haut.php (zuletzt eingesehen am 24. 03. 2015).
Robert Vosloo
Coping with the end? A look at Lars von Trier’s Melancholia
Introduction In the book of Jeremiah, we read that the prophet has the following vision: I looked at the earth, and lo, it was waste and void; and to the heavens, and they had no light. I looked on the mountains, and lo, they were quaking, and all the hills moved to and fro. I looked, and lo, there was no one at all, and all the birds of the air had fled. I looked and lo, the fruitful land was a desert, and all the cities were laid in ruins, before the Lord, before his fierce anger (Jeremiah 4:23–26).
This prophetic vision stands in stark contrast to the creation story of Genesis 1, where we read about chaos turning into order and light entering the darkness. In Jeremiah 4, however, the movement is from order to chaos, from light to darkness. This poem is indeed, as the biblical scholar Kathleen O’ Conner puts it, “like a film played in reverse, elements of the world disappear one by one until chaos returns”1. Four times we are reminded in these verses that the prophet “looked.” What the prophet sees, moreover, is not goodness and beauty but desolation and destruction; even the heavens had no light, and there were no birds in the sky. The prophet’s vision is different from the poet’s exclamation in Psalm 19:1: “The heavens are telling the glory of God; and the firmament proclaims his handiwork.” When the prophet looks at the sky, he is not moved to wonder and praise, but his dark vision expresses anguish and pain, which he feels in his own body (cf. Jeremiah 4:19). Given the emphasis of our conference on “sky/ the heavens” and “heaven” as transcultural ethical space, I would like to engage in this essay with the film Melancholia, directed by the avant-garde and controversial Danish director Lars von Trier. In Melancholia there are several pivotal scenes where the characters look at the sky, the reason being the danger that a rogue planet – called Mel1 Kathleen M. O’Conner: Jeremiah. Pain and Promise. Minneapolis 2011, p. 51.
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ancholia – might collide with the earth. Von Trier, whose other films include Breaking the Waves (1996), The Idiots (1998), Dancer in the Dark (2000), Dogville (2003), Manderlay (2005), Antichrist (2009), and Nymphomaniac (2013), has been described as contemporary cinema’s foremost provocateur, and his work has solicited a mixed reception, in the process inviting commentary from a wide array of perspectives. His 2011 feature film Melancholia, which was released amidst controversy because of some ill-considered remarks by von Trier at the Cannes Film festival,2 has also been analysed from various perspectives. In this essay my focus is especially on the various ways the main characters cope with the possible threat of the end of life on earth (as exemplified in the way they look at the sky). It is argued in the process that the film invites comparison to what can be described as prophetic eschatology, and as such is not merely about the end of history, but about the end in history. When viewed on this level, the possible ethical and political meaning and significance of the film come sharper into focus.
Looking at Melancholia Melancholia begins with an eight-minute-long Prologue that consists of 16 powerful and intriguing extended visual shots.3 The opening shot shows a closeup of Justine – the main protagonist of the film (brilliantly played by Kirsten Dunst, who received the best actress award for this role at the Cannes Film Festival) – slowly opening her eyes, with birds falling from the sky.4 Maybe this 2 Responding to a question in an interview about his German roots, Von Trier claimed to have some understanding and a little bit of sympathy for Hitler and then jokingly claimed to be a Nazi. Shortly after the interview von Trier apologized saying “I am not anti-Semitic or racially prejudiced in any way, nor am I a Nazi.” However, at a meeting of the board of directors of the Cannes Film Festival the next day, von Trier was declared persona non grata at the festival with immediate effect [cf. Manohla Dargis, “A Provocateur Steals Cannes Spotlight”, in: The New York Times (19 May 2011), http://www.nytimes.com/2011/05/20/movies/at-cannes-lars-vontriers-melancholia-and-jafar-panahi.html?_r=0 [Accessed 24 August 2016]. 3 For a shot-by-shot analysis of the Prologue, see Manohla Dargis, “This is How the End Begins”, in: The New York Times (30 December 2011), http://www.nytimes.com/2012/01/01/movies/ awardsseason/manohla-dargis-looks-at-the-overture-to-melancholia.html [Accessed 24 August 2016]. 4 The image of the birds falling from the sky is reminiscent of the poem in Jeremiah 4 with its reference to the birds that have fled the sky. The Holocaust survivor and Nobel peace prize winner, Elie Wiesel, has written in this regard: “As for the birds of the sky that have fled, I understood the prophet’s imagery only when I returned to Auschwitz and Birkenau in the summer of 1979. Then and only then did I remember that, during the tempest of fire and silence, there were not birds to be seen on the horizon: they had fled the skies above all the death-camps. I stood in Birkenau and remembered Jeremiah” (Elie Wiesel: Five Biblical Portraits. Notre Dame 1981, p. 126).
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scene of Justine opening her eyes already acts as a kind of invitation for the viewer to look closely, not merely in order to see what is visible, but also in order to see how we look.5 The second shot shows a manicured garden with a sun dial, with the uncanny detail that the objects cast two shadows.6 The third shot focuses on Brueghel’s painting Hunters in the snow as it starts to burn, a painting that features briefly later in the movie, and also appears in Andrei Tarkovsky’s film Solaris.7 Another memorable shot in the Prologue is one where Justine floats on water in her wedding dress with a bridal bouquet of flowers in her hands, alluding to John Everett Millais’s painting Ophelia. The Prologue climaxes in a moving still of the collision between Melancholia and the earth, leaving the viewer in no doubt about the outcome of the film. The Prologue, which has been described as “a masterpiece in miniature that is a palimpsest of literary, artistic and cinematic allusions”8 and “one of the most affective sequences in recent cinema history”9, is set to the Prelude of Wagner’s Tristan and Isolde. As one critic puts it: “We are bathed in the ambience of the unresolved ‘Tristan chord,’ with its brooding, somber mood of unfulfilled longing”10. The Prelude to Tristan and Isolde features at crucial times throughout the film, every time starting from the beginning.11 The scenes from the Prologue, 5 One is reminded of Lyotard’s remark that the aim of all art is “to make seen what makes one see, and not what is visible” (Jean-François Lyotard, “The Sublime and the Avant-Garde”, in: The Lyotard Reader, ed. by Andrew Benjamin. Oxford 1989, 196–211, here: p. 207). Cf. Sarah French and Zoë Shacklock, “The Affective Sublime in Lars von Trier’s Melancholia and Terrence Malick’s the Tree of Life”, in: New Review of Film and Television Studies 12.4 (2014), p. 339–356. 6 This scene reminds one of the garden with its topiary in Alain Resnais’ Last Year at Marienbad. 7 Cf. Dargis, “A Provocateur Steals Cannes Spotlight”, http://www.nytimes.com/2011/05/20/ movies/at-cannes-lars-von-triers-melancholia-and-jafar-panahi.html?_r=0 [Accessed 24 August 2016]; Steven Shaviro, “MELANCHOLIA, or, the Romantic Anti-Sublime”, in: Sequence 1.1 (2012). http://reframe.sussex.ac.uk/sequence/files/2012/12/MELANCHOLIA-or-The-Roman tic-Anti-Sublime-SEQUENCE-1.1–2012-Steven-Shaviro.pdf (accessed July 2, 2016), p. 10. 8 Dargis, “This is How the End Begins”, p. 1. 9 French and Shacklock, p. 339. French and Shacklock write in this regard: “Displaced from the intellect and cognition, the ‘meaning’ of the sequence is instead grounded in the body. The experiential and visceral qualities produce an embodied form of knowledge that occurs prior to signification or linguistic understanding” (ibid., p. 340). 10 Shaviro, p. 12. 11 The music critic Alex Ross has described the use of Wagner in Melancholia as “clumsy, unoriginal and perverse,” and complained that “von Trier dwells so relentlessly on the opening of the prelude that it turns into a kind of cloying signature tune; repetition robs the music of its capacity to surprise and seduce the reader” [Alex Ross. “Melancholia, bile”, in: The Rest is Noise (blog post, 19 November 2011). (accessed July 2, 2016)]. However, Shaviro argues that Ross fails to grasp the full implications of von Trier’s use of the Prelude. He writes: “And indeed, for all that von Trier repeats the Prelude to Tristan, he never gives us the second half of the peace, the Liebestod (‘love-death’) with which it is supposed to conclude. That is to say, we get the continual build-
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although not taken directly from the rest of the film, introduce many of the movie’s themes and prefigure several of the later scenes in the film, as well as open a window onto the inner life of Justine. Following the Prologue, the rest of the film is divided into two equal-length parts or chapters, named after Justine and her sister, Claire, respectively. In the first part (Justine), the focus is on the lavish wedding reception of Justine and her husband Michael. They arrive two hours late, after the stretch limousine that they travelled in, could not get around the bend on the way to the reception venue. The reception took place at a luxurious estate, with a beautiful waterfront mansion, an eighteen-hole golf course, meticulous gardens, and stables. Upon their arrival at the estate – owned by Justine’s sister Claire (played by Charlotte Gainsbourg) and her husband John (played by Kiefer Sutherland) – we find Claire and John waiting outside, with Claire clearly upset about the newly-weds’ late arrival. Before entering the house, Justine looks back towards the sky, intrigued by a star she does not recognise. John – mistakenly – answers that it is Antares, the main star in the Scorpio constellation. The wedding reception is a strange affair, portraying a wealthy dysfunctional family and their guests in an opulent setting. Justine’s boss and Michael’s best man, Jack (Stellan Skarsgård) makes the first speech at the reception, indicating that his interest in Justine is related to her brilliance in coming up with taglines for their advertising company. Claire and Justine’s father Dexter (John Hurt), who had earlier played silly pranks at his table by hiding spoons in his pocket, refers in his rather clumsy speech to his ex-wife as domineering. The sisters’ mother Gaby (Charlotte Rampling) immediately responds with icy-cold cynicism that she does not believe in marriage and later again expresses her disdain for the wedding rituals. Notwithstanding the utter opulence and excess, the reception is devoid of any real sense of festivity. The various activities and rituals, such as guessing the number of beans in a bottle, cutting the wedding cake, and the throwing of the wedding bouquet, come across as hollow, trivial and joyless. In an ironic scene the guests move out to the golf course and send fire balloons into the sky with love messages written on them. Justine looks through John’s expensive telescope at the one balloon, prefiguring the way several of the main characters will look at the sky in the second part of the film, although then not to see something “sent up” but to track the potentially fatal course of Melancholia towards Earth.
up of tension, but we never get the release of any sort of catharsis […] Ross objects that von Trier’s version of Wagner is not ‘sublime.’ But von Trier’s whole effort is to hollow out the sublime, and present us with a vision of world destruction that is not spectacular or stunning. We are given the prospect – or better, the tableau – of the end of the world as paralysis and impossibility, rather than as an achieved finality” (Shaviro, p. 13f.).
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Justine tries to meet the expectations of her at the reception (often with fake smiles), but it becomes more and more clear that she is not able to keep up the appearances as she acts progressively in disruptive ways. She suffers from serious depression, and in her melancholic state she often withdraws from the guests, for instance to take a bath, to put her nephew Leo (played by Cameron Spurr) to sleep, or to go outside on the golf course. One of the interesting scenes in Melancholia occurs when Justine in her melancholic state dashes around in the library and rearranges the art books on the display shelves. She replaces books with images of 20th-century modern art with some books on older art. The images of the paintings by the Russian avantgarde painter Malevitch are replaced with books with images of older art works, including Brueghel’s Hunters in the Snow and Millais’s Ophelia (art works alluded to in the Prologue). Several commentators have pointed out how this is indicative of the Romantic aesthetics that characterizes the film, and that the rejection of modernism is dramatized within the narrative.12 The relationship with her husband Michael also deteriorates as the reception progresses. In one of the scenes Michael gives Justine a photo of an apple orchid that he bought, but Justine responds with indifference. Although she mentions that she will always keep the photo with her, it is left behind on the couch when she exits the room. Justine also resists Michael’s advances to become intimate, but later has sex with a stranger on the golf course. In the end a devastated Michael leaves the estate, seemingly accepting the reality of their failed relationship in which he cannot get through to Justine. The first part of Melancholia ends with Claire and Justine going horse riding. When Justine’s horse (called Abraham) resists going further, Justine looks to the sky and notices that the star Antares has disappeared from the Scorpio constellation. Claire also looks anxiously to the sky, and thus a more ominous tone is introduced into the film. In the second part of the film (Claire) the setting is still the estate where the wedding reception took place, and this chapter opens with Justine returning to the mansion, clearly in a desolate state. Her depression has deepened, as indicated in the scenes where we see her total impassivity and immobility when being helped into the bath, or when, after tasting her favourite dish – meatloaf prepared especially for her by Claire to cheer her up – she says: “It tastes like ashes.” Justine seems to mirror the description of melancholia provided by Freud in his well-known 1917 essay “Mourning and Melancholia”: “A profoundly 12 Shaviro, for instance, writes: “The scene suggests that modernist abstractions, with their rationally ordered geometric grids, are emblematic of social control and instrumental reason […] for Justine the abstract paintings symbolize the demand that she go on with the ritual, fulfilling everyone else’s expectations with a smile, no matter how sick and disgusted she feels inside. According to Melancholia, then, modernism stands for emotional pacification, enforced optimism, and a therapeutic regimentation of the soul” (ibid., p. 28).
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painful dejection, cessation of interest in the outside world, loss of the capacity to love, inhibition of all activity, and a lowering of the self-regarding feelings”13.14 Some critics have also pointed out the resemblance between the unmoving, sad angel in Albrecht Dürer’s famous engraving Melancholia 1.15 Later in the film, Justine expresses in a conversation with Claire her harsh view that the earth is evil, therefore “we don’t need to grieve for it […] nobody will miss it”. When Claire responds with the question “But where would Leo grow up?”, Justine merely states: “When I say we are alone, we are alone. Life is only on earth, and not for long.” Amidst the depiction of Justine’s melancholia, the second part of the film shows the rise of Claire’s anxiety in light of the threat posed by the planet Melancholia. She often goes online to try and get more information about the planet, and when John confronts her in this regard she acknowledges her fears to him, saying: “I am afraid of that stupid planet.” John tries to console her: “That beautiful planet you mean. It is going to be the most beautiful experience of our lives.” John tells Claire that she should trust the scientists who say that Melancholia will miss the earth. Despite John’s attempt to reassure her, Claire (and the horses in the stables) remain anxious. She finds a website on the internet that speaks of the earth and Melancholia’s “dance of death”. Amidst Claire’s anxiety, John – who embodies a type of modernist scientific rationality – often looks through his state-of-the-art telescope towards the sky and meticulously observes the path of Melancholia. He shows Claire a primitive but ingenious device (after an idea by their young son Leo): a circle of wire on the end of a stick that one can adjust to encompass the planet in the sky, and then if one looks through it later, one can see if the planet is advancing or retracting. Zˇizˇek has interpreted this 13 Sigmund Freud. “Mourning and Melancholia”, in: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Volume XIV (1914–1916): On the History of the Psycho-Analytic Movement, Papers on Metapsychology and Other Works. London 1975, p. 237–258, here: p. 244; cf. Siobhan Lyons, “The Dialectics of Crisis. The Romanticised Apocalypse in J.G. Ballard’s The Drowned World and Lars von Trier’s Melancholia”, in: Diffractions 1 (2013) p. 1–21, here: p. 13. 14 Much has been written on the depiction of Justine’s melancholia in the film. See, for instance, the book Melancholia – Wege zur psychoanalytischen Interpretation des Films (edited by Zwiebel and Blothner, 2014), with seven psychoanalysts and one film scholar offering readings of the film. Matthew Bell’s recent book Melancholia: The Western Malady (2014) has on its cover an image from the film Melancholia (the image of Melancholia and the earth just before the planetary collision). Several of the discussions on the portrayal of melancholia in Melancholia also refer back to the work by Panofsky, Klibansky and Saxl Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion, and Art (1964). For an interesting discussion of the link between melancholy and the ancient god Saturn, as well as for a discussion of Dürer’s Melancholia 1, see Richard Kearney: Strangers, Gods and Monsters. Interpreting Otherness. London and New York 2003, p. 163ff. 15 Cf. Iulia Micu. “Wandering in the Apocalyptical Schlaraffenland. Symbols, Tropes and Motifs in Lars von Trier’s Melancholia”, in: Ekphrasis 2 (2012), p. 117–130, here: p. 122.
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device in Lacanian terms: “This circle is the circle of fantasy enframing reality, and the shock arrives when the Thing breaks through and spills over into reality”16. John seems to be vindicated when Melancholia indeed passes the earth in a spectacular fly-by. Following this, Claire can even say that the planet looks friendly. When she looks with the wire device at Melancholia, she is clearly relieved to see the planet moving further away. However, given the strange slingshot orbit of Melancholia’s dance of death with the earth, John, despite his attempts to reassure Claire with reference to the predictions of the scientists, has visibly become worried about the path of Melancholia. The ever-calculating John now looks anxiously through his telescope, and his previous confidence seems to have vanished. As a man of action, John tries to prepare for the unlikely event of a planetary collision; however, upon realizing that Melancholia will ultimately collide with the earth, and probably due to the fact that his realism dictates that nothing can be done in such a situation, he commits suicide in the stables through an overdose of pills (the pills that an anxious Claire had bought earlier). Meanwhile Claire too has a shock experience outside on the terrace when she looks through the wire device at Melancholia and sees that it is in fact moving closer to the earth. After searching for John and finding him dead in the stable, she grabs Leo and tries to escape, but the flat battery of the car, and later the golf car, does not allow them to get away. Whereas John is unable to deal with the reality, and Claire remains anxious and behaves frantically, one sees in the second part of the film a certain progression in Justine’s ability to cope with the situation. She seems to remain calm, seemingly accepting at this stage the fact of the end, and maybe even welcoming it.17 With Melancholia’s collision with the earth a foregone conclusion, the discussions between Claire and Justine grow in intensity. In a pivotal scene, Claire tells Justine that she wants them to face the end together in a “nice” way, drinking a glass of wine on the terrace as the planet approaches. Justine’s response is harsh: You want me to have a glass of wine on the terrace? […] How about a song? Beethoven’s Ninth? […] Maybe we can light some candles? […] Do you know what I think of your plan? […] I think it is a piece of shit.
Justine deflates Claire’s attempt at creating some kind of ritual (in this sense she acts in a similar way as her mother at the wedding reception). Meanwhile, it has also dawned on Leo (whose age is not given in the film, but he looks about 7 or 8 years old) that the planet will hit the earth. In a conversation 16 Slavoj Zˇizˇek: Event. Philosophy in Transit. London 2014, p. 19. 17 At one stage Justine says to Claire: “If you think I am afraid of the planet, then you’re stupid.” And in another scene, Claire follows Justine outside at night and she sees her lying naked next to the water bathing in the light of Melancholia.
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with Justine, Leo recalls his father’s realistic remark that when this happens there is nothing that one can do. Justine (whom Leo calls Aunt Steelbreaker) responds in an unexpectedly “pastoral” manner, saying to Leo that his father has forgotten something – he has forgotten about the “magic cave”. Justine and Leo then go out to cut some sticks (a scene also alluded to in the Prologue). Justine acts lovingly towards Leo, stroking his hair. At the same time the coming end is indicated by crawling insects rising to the forest floor. Justine and Leo build a tepee with the sticks, thus creating a fragile looking “sanctuary”. The film ends with Justine, Leo and Claire entering the “magic cave”, moments before the impact of Melancholia (with Justine leading Claire in). Justine’s last words are “Close your eyes” (reversing in some sense the movement of the first scene where Justine herself opens her eyes). Justine, Claire and Leo hold hands, and with different facial expressions and body language they await the collision, which happens in the final scene, set again to Wagner’s Prelude to Tristan and Isolde.
Coping with Melancholia Melancholia is clearly a disaster movie of a different kind, and it is not so much interested in a spectacular depiction of a cosmic catastrophe as in the way in which the different characters cope with the reality of the end of life on Earth. Justine progressively grows stronger in her ability to remain calm and act. With regard of the reactions of John and Claire, Jon Pahl has rightly pointed out that “John’s conventional rationality (one can trust ‘science’) is shown to be superficial, and Claire’s conventional morality (one should be ‘happy’) is shown to be fleeting”18. Zˇizˇek too has pointed out that “the film is about the different ways the main characters deal with the impending catastrophe (with responses ranging from suicide to cynical acceptance)”19. I agree with Zˇizˇek’s broad assessment, although I think we should consider the description of Justine’s response as a mere cynical acceptance of the end a little bit more carefully. In some way, it is indeed true that Justine accepts the reality of the end in a rather stoic way, and she does state that life on Earth is evil. Yet, how is one to interpret Justine’s active symbolic imagination in the last scenes of the film? Can one not argue that Justine’s character is more complex and dynamic, and that some of her seemingly cynical and fatalistic statements earlier are indeed challenged by the way in which she copes with the end? Should these earlier statements not be placed within the larger narrative framework of the film? 18 Jon Pahl. “Film Review: Melancholia”, in: Journal of Religion and Film 16.1 (2012), p. 1–2, here: p. 1. 19 Zˇizˇek, p. 16.
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Matthew Shields has argued along these lines in his interesting article “From the Sublime to the Romantic: Lars von Trier’s Melancholia,” observing that “Melancholia lays out an eschatological injunction-to-life, rather than its repudiation”20. Shields criticizes – rightly in my view – the readings of Melancholia that suggest that the film proposes a fatalistic and nihilistic acceptance of the prospect of global annihilation. He points to a certain development in Justine in which her response to Leo in the final act is at odds with her harsh position expressed in the response to Claire’s wish to meet the end in a “nice” way. Shields writes: Something has fundamentally here changed for Justine: the very meaningless act she berates Claire for attempting in the preceding scene is precisely what she herself creates in these final moments. All of those supposed bad-faith illusions Claire proposed and she rejected now find themselves embraced […] She embraces what can only be called, in this light, an illusion, a fiction, an act that refuses to accept this truth as the truth […] Justine chooses not to surrender to the truth of Melancholia – the fact that the end is inevitable – but is prompted to forge a moment, however fleeting, however quiet, that functions independently of this truth and that, in turn, seeks to protect her, Leo, and Claire’s humanity from the degradation of the fact of their bare life (the fact of Melancholia).21 What Shields hints at is that the direct confrontation with the truth22 (the fact that the end is evitable) is what stirs in us, something irreducible that is at the heart of our very humanity. As he puts it: “The paradox is therefore that exposure to the end does not imply the disappearance of meaning, but, on the contrary, is the very impetus for the emergence of meaning as such.”23 Drawing on Kierkegaard, Catherine Pickstock too has hinted at a more dynamic understanding of Justine’s character in what she calls “Lars von Trier’s Kierkegaardian film”. She notes:
20 Matthew Shields. “From the Sublime to the Romantic. Lars von Trier’s Melancholia”, Bright Lights Film Journal 75 (2012), p. 1–9, here: p. 2. 21 Ibid., p. 7f. 22 Shields has argued that Melancholia differs from some of von Trier’s previous movies, such as Breaking the Waves, Dancer in the Dark, Dogville and Manderlay which all centre on the question of ethics (with an emphasis on how the characters treat each other). In Melancholia the focus is not so much on the way the characters respond to each other with hospitality, grace and justice, but rather on how they will respond to the truth of Melancholia’s destruction of the earth. Hence Shields concludes: “Truth, not ethics, is the governing thought of this new von Trier universe” (ibid., p. 5). Some of von Trier’s own remarks on truth and melancholia in an interview resonate with this emphasis, when he notes about Justine: “Her hankering for truth is too colossal. I think that goes for melancholics in general. We have high demands on truth”. 23 Shields, p. 9.
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Justine […] in contrast to her married sister Claire, who celebrates finite life as all there is, and in refusal of the debased aesthetic life of advertising, welcomes the approach of the rogue planet Melancholia which will destroy the earth, since she believes, with Schopenhauer, that “life is evil.” (Yet, as the film ends, as the planet is on the brink of collision, Justine invokes the third religious path of “the leap”).24
If one challenges the view of Melancholia as a statement of a nihilistic or fatalistic acceptance of the end in favour of viewing the acceptance of the inevitable end as an injunction to life,25 some space is created to interpret spatial symbolic metaphors and rituals as closely connected to categories rich with temporal meaning. In the process any ahistorical and ethically neutral interpretations of the film become problematic.
Melancholia and prophetic eschatology In his book The Promised End: Eschatology in Theology and Literature, the Oxford theologian Paul Fiddes makes some interesting distinctions with regard to the term eschatology, a term usually associated in Christian theology with a concern with “the last things”. He observes: “The end in view may be of various kinds; it might be the end of history and the cosmos, or it may be an end in history such as the Old Testament prophets envisaged.”26 Fiddes refers specifically to the vision of the prophet in Jeremiah 4 (which should be understood in the light of the threat posed by an invading army), and speaks in this regard of what he calls prophetic eschatology, which he distinguishes from other eschatological categories, such as apocalyptic eschatology that envisages the end of history and the cosmos.27 Although one should be careful not to make too sharp distinctions in this regard,28 I want to argue in this essay that the film Melancholia shows some 24 Catherine Pickstock: Repetition and Identity. Oxford 2013, p. 133. 25 See also Rupert Read’s remark about Melancholia: “Crucially: at the final moments, at the death, one does not want ge[n]ocide any more, not even fictively. One wants life” [Rupert Read. “An Allegory of a ‘Therapeutic’ Reading of a Film. Melancholia”, in: Sequence 1.2 (2014), p. 1–11, here: p. 3]. He continues: “Thankfully, Justine too pulls back from wanting death, at the death […] [W]ith the worst thing that can happen now (it would seem) utterly inevitable, with hope gone, now, at last, Justine manages to emerge into living in the present” (ibid.). 26 Paul S. Fiddes: The Promised End. Eschatology in Theology and Literature. Oxford 2000, p. 23; [emphasis added]. 27 For some critical remarks on the details of Fiddes’s argument, see Andrew Chester: The Future of Hope and Present Reality. Tübingen 2012, p. 61ff. 28 Jindo writes in this regard: “It is usually said that prophetic eschatology is more historically orientated, while apocalyptical eschatology is mythically orientated. This statement should be revised as follows: in principle, prophetic eschatology is a history understood mythically, whereas apocalyptic eschatology is a myth understood historically” [Job. Y. Jindo. “On Myth
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provocative correspondences (amidst differences) with what Fiddes describes as prophetic eschatology. Viewed in this way, we are invited to see the film not merely as commentary on the end of life on Earth (and people’s reaction to it), but indeed as a powerful portrayal of the end in history that has cultural and political application. Such an interpretation – in my view – helps us to see the close interconnection between the two main parts of Melancholia. In an article “The End of the World of the End: Lars von Trier’s Melancholia and Political Theory,” Milo Sweedler (2013) suggests along these lines that Melancholia can be read as an allegory of two contrasting ways of conceiving the end of time. He sees the first narrative thread of the movie, with its focus on the idleness, banal concerns and petty intrigues of the characters, as a portrayal of the “end of history” as theorized by Alexandre Kojève and later in Francis Fukuyama’s manifesto of a post-ideological word of triumphant neoliberalism, The End of History and the Last Man (1992).29 The other narrative thread in the movie, Sweedler argues, presents an apocalyptic vision of the end of time, but this should not be understood as an arbitrary astrological event, but could be read symptomatically as discontent with the Fukuyaman post-political world. As Sweedler puts it: “If the first narrative segment, which one might dub ‘the world of the end,’ presents a post-historical world, the second offers the spectacle of the annihilation of this world”.30 The second segment is thus about the “the end of the world of the end”; therefore, Sweedler argues that “the destruction of the Earth at the end of the film serves no purpose other than to stand in complete and utter negation of the world portrayed on the screen.”31 What makes Sweedler’s interpretation interesting for me is the way in which he historicizes the film. The astrological event displayed in the second part of the film thus becomes tightly interwoven with the commercialized and banalized life displayed in the first part, and serves as a cultural and political critique of it. In this sense, it is not dissimilar to the prophet Jeremiah’s dark vision in Jeremiah 4, with its judgment on the malaise of his time. In his discussion of the poem in Jeremiah 4:23–26 the American Old Testament scholar Walter Brueggemann comments: “It is not a blueprint for the future. It is not a prediction. It is not an act of theology that seeks to scare into repentance. It is, rather, a rhetorical attempt to engage this numbed, unaware and History in Prophetic and Apocalyptic Eschatology” in: Vetus Testamentum 55.3 (2005), p. 412–415, here: p. 412]. 29 Cf. Sweedler’s online article (2013). For another version of the article, see Simon-López and Yeandle (2013). 30 Milo Sweedler. “The End of the World of the End. Lars von Trier’s Melancholia and Political Theory” (web article, 2013) (accessed July 2, 2016). 31 Ibid.
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community in an imaginative embrace of what is happening.”32 Maybe one can argue in similar vein that von Trier’s depiction of the planet Melancholia’s dance of death with the earth can be seen as a way to engage the numbness and oblivion that might well be characteristic of our current global community of communities. In the process we are challenged to face the realities of our communal existence in more imaginative ways.
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Vom astronomischen Weltmodell zum literarischen Weltbild: Johannes Keplers “Somnium” zwischen faktualer Kosmographie und fiktionaler Selenographie – mit einem Kommentar zu Durs Grünbein “Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond” Kepler Dann kam ein Dämon aus Levania, der zog Im Kegelschatten der Eklipse – alles schlief, In jedem Jahr sich einen Träumer mit nach oben. Er war es, der die Regenbögen bog, Die See zum Rückzug von den Wattenküsten rief, Bereit, sich um den Globus spukhaft auszutoben. Die so Erwählten reisten allwärts auf dem Strahl Des Lichts, das durch die Zeiten fällt und blendet. Sie wurden Eigenbrötler, Pioniere, so genial Wie solitär. Und manches Herz blieb monogam. Für den Poeten war der Auftrag früh beendet, Wenn ihn Levanias Abgesandter zu sich nahm.1
Der Titel des Gedichtes Kepler bildet eine Ausnahme in Durs Grünbeins Gedichtband Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond: Er bezieht sich tatsächlich auf das Gedicht, das es betitelt. Das tun viele andere Gedichttitel in diesem Band nicht. Die referentielle Struktur der Titel zielt nicht auf die Semantik der Gedichte ab. Die Titel sind Namen von Mondkratern. Sie verweisen auf die Topographie des Mondes und auf dessen kulturelle Genealogie: Euclides, Philolaos, Ptolemaeus, Copernicus, Tycho, Armstrong und eben Kepler. Sie symbolisieren den Prozess der Kartografierung des Mondes, der nicht durch Messungen und Triangulationen erfolgt ist, sondern durch Beobachtungen aus der Ferne und durch kulturelle Projektionen. So heißen umfangreiche Territorien des Mondes „Mare“, obwohl es keine hydrographischen Hinweise darauf gibt, dass es jemals Wasser auf dem Mond gegeben hätte. Grünbeins Gedichtband spielt mit der Asymmetrie zwischen der Fülle der kulturellen Projektionen auf den Mond, die sich in mindestens 2.000 Jahren verschriftlichten Kulturguts materialisiert ha1 Grünbein, Durs: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond, Berlin 2014, S. 52.
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ben, und der Geschichte seiner wissenschaftlichen Beobachtung mit optischen Instrumenten zum Beispiel durch Galileo Galilei und Johannes Kepler, die mit der Erfindung des Teleskops um 1610 beginnt. Diese Erkundung gipfelte in der ersten Mondlandung 1969 durch den Astronauten Neil Armstrong. Dieser Höhepunkt der Erkundung des Mondes wird imaginativ vorweggenommen in einem Text namens Somnium sive astronomia lunaris2 von 1634, zu Deutsch: Der Traum oder Mondastronomie3. Und zwar von einem Autor, der zur wissenschaftlichen Konzeptualisierung des kopernikanischen Weltmodells entscheidend beitrug – Johannes Kepler. Ihm gelang beides: die kopernikanische Astronomie durch die Keplerschen Gesetze mathematisch zu formalisieren und eine imaginäre Mondlandung als Traumdarstellung zu diskursivieren – um das neue heliozentrische Weltbild zu verbreiten.4 Grünbein betreibt in seinem Gedichtband eine Art Selenografie – ein Projekt der Mondkartierung durch die Poesie –, wobei weniger die Mondgeografie relevant ist, sondern vielmehr die Genealogie kultureller Mondvorstellungen. Sowie es keine semantisch legitime Beziehung zwischen den Toponymen des Mondes und seiner Geografie gibt, scheint es auch keine direkte Referenz zwischen Gedichttiteln und Gedichten zu geben. Die semantischen Beziehungen innerhalb des Gedichtbandes sind viel komplexer, vielschichtiger, ergeben sich erst über Umwege der Intertextualität und Koreferentialität. Auch die Bezüge zum Prätext und wissenschaftshistorischen Kontext des Grünbeinschen Gedichts lassen sich nur über Umwege herstellen, die in diesem Aufsatz rekonstruiert werden sollen. Und zwar anhand von Keplers Somnium, der der wichtigste Prätext zu Grünbeins Gedicht ist. Der Aufsatz widmet sich hauptsächlich dem Text Keplers, versteht sich aber zugleich auch als wissenshistorischer Kommentar zu Grünbeins Gedicht. Keplers Erzählung ist einer der ersten Texte der Frühen Neuzeit, die die Grenzen der irdischen Sphären überschreiten und zu einer imaginären Reise zum Mond einladen. In der englischsprachigen Sekundärliteratur gilt er als eines der ersten Zeugnisse der science fiction Literatur der Frühen Neuzeit.5 Ins Eng2 Kepler, Johannes: Joannis Keppleri Somnium seu Opus Posthumum de Astronomia Lunari, Faksimiledruck der Ausgabe 1634, hrsg. von Martha List u. Walther Gerlach, Osnabrück 1969. 3 Kepler, Johannes: Der Traum, oder: Mond-Astronomie. [Somnium sive astronomia lunaris], aus dem Lat. v. Hans Bungarten, hrsg. u. mit einem Leitfaden für Mondreisende von Beatrix Langner, Berlin 2011. 4 An dieser Stelle sei mein Dank an Klaus Mecke vom Erlanger Institut für Theoretische Physik ausgesprochen. Dieser Aufsatz verdankt seine gegenwärtige Form nicht zuletzt den zahlreichen Ideen, die in unterschiedlichen Dialogen während unserer gemeinsamen Forschungsarbeit am Erlanger Zentrum für Literatur- und Naturwissenschaft (ELINAS) und vor allem im Rahmen des gemeinsamen Vortrags für die Augsburger Tagung „Der Himmel als transkultureller ethischer Raum“ entstanden sind. 5 Paxson, James: „Keplers’s Somnium has often been thought of as the first work of modern
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lische ist Keplers Text bereits zweimal übertragen, ediert und kommentiert worden.6 In der germanistischen Forschung hingegen ist Keplers Text bisher weitgehend unerschlossen geblieben. Auch Keplers Text ist eine Beschreibung von Beschreibungen, die Beschreibung von Mond-Vorstellungen je nach Wissensstand und Beobachterperspektive. Zusammengetragen wurde – bei Kepler wie bei Grünbein – jeweils ein Palimpsest, das zwischen astronomischen Beobachtungen, Messungen und jahrhundertelanger Astrofiktion oszilliert. Beide Texte verweisen explizit auf ihre Prätexte: Grünbeins Gedicht durch seinen Titel, Keplers Somnium dadurch, dass ihm in der Erstausgabe Plutarchs Text De facie lunae7 in einer von Kepler selbst angefertigten Übersetzung8 beigefügt wurde. Bei Grünbein steht das Szenario der Rückkehr des fiktiven Kosmonauten „Cyrano von Bergerac“ im Vordergrund, bei Kepler das des Aufwachens aus dem Traum. Epistemologisch ist damit in beiden Fällen eine Neu-Perspektivierung verbunden, ein neue Blick, den man auf die Erde richtet, wissend um das geistige Abenteuer der Re-Konzeptualisierung des Mondes als Erdsatellit und – so Blumenbergs Terminus in der Einleitung zu Galileis Sidereus nuncius – der „Stellarisierung“ der Erde als Himmelskörper.9 Die Gedichte zeigen, wie ein Himmelskörper zum Kompendium kultureller Projektionen wurde. Sie führen vor, dass in der Epoche von Keplers Somnium, dem Beginn des 17. Jahrhunderts, der Mond nicht nur ein harmloses Traummotiv romantischer Projektion ist, sondern ein Kampfgebiet metaphysischer, theologischer und naturphilosophischer Weltanschauungen. Über ihn, über die Definition des Mondes als Erdsatelliten, wird auch die sublunare oder supralunare Stellung der Erde konzeptualisiert.
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science fiction.“, in: Ders.: „Kepler’s Allegory of Containment, the Making of Modern Astronomy, and the Semiotics of Mathematical Thought“, in: Intertexts 3 (1999), S. 105ff., hier S. 106. Vgl. hierzu Evans, Arthur B.: „The Origins of Science Fiction Criticism: ‚From Kepler to Wells‘“, in: Science Fiction Studies 26 (1999), H. 2. S. 163ff.; Campbell, Mary Baine: „Alternative Planet: ‚Kepler’s Somnium (1634) and the New World‘“, in: The Arts of 17th-Century Science: Representations of the Natural World in European and North American Culture, hrsg. von Claire Jowitt u. Diane Watt, Aldershot 2002, S. 232–249; Poole, William: „Kepler’s Somnium and Francis Godwin’s The Man in the Moone: Births of Science-Fiction 1593–1638“, in: New Worlds Reflected: Travel and Utopia in the Early Modern Period, hrsg. von Chloë Houston u. Andrew Hadfield, Farnham, Surrey 2010, S. 57ff. Vgl. hierzu Kepler, Johannes: Kepler’s Dream, hrsg. von John Lear. Berkeley 1965 bzw. Kepler, Johannes: Kepler’s Somnium, the Dream, or Posthumous Work on Lunar Astronomy, hrsg. von Edward Rosen, Madison u. a. 1967. Vgl. Romm, James S.: „Lucian and Plutarch as Sources for Kepler’s Somnium“, in: Classical and Modern Literature: A Quarterly 9 (1989) H. 2, S. 97ff. Kepler, Johannes: Joannis Keppleri Somnium seu Opus Posthumum de Astronomia Lunari, Faksimiledruck der Ausgabe 1634, hrsg. von Martha List u. Walther Gerlach, Osnabrück: Zeller 1969. Hier erschien auch: Plutarch: Accedit Plutarchi libellus: De facie quae in orbe lunae apparet, e Graeco latine redditus a Joanne Kepplero, S. 97ff. Blumenberg, Hans: Die kopernikanische Wende, Frankfurt am Main 1965, S. 156.
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Einige Fragen, die sich daran anknüpfen lassen, sind: Wie lässt sich der doppelte Übergang zuerst vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltmodell und dann hin zum heliozentrischen Weltbild beschreiben? Welche ethischen Fragestellungen werden angesichts eines solchen Übergangs virulent? Wie stehen Astronomie und Literatur in der Modellierung dieser Übergänge zueinander im Verhältnis? Hat die fiktionale Traumdarstellung einer Mondreise eine Funktion für die Durchsetzung der kopernikanischen Vision? Lassen sich vergleichbare Verfahren der Beobachtung, Darstellung, Durchsetzung und Objektivierung des Weltmodells bzw. des Weltbilds in Wissenschaft und Literatur ausmachen? Wären dann beide – Wissenschaft und Literatur – in ihrer je eigenen Art Weisen der Welterzeugung? 10
Diesen Fragen wird der vorliegende Aufsatz nachgehen, doch dafür ist zunächst die Unterscheidung zwischen Weltmodell und Weltbild, wie sie Hans Blumenberg eingeführt hat, zu erläutern.
Vom Weltmodell zum Weltbild 1961 führte Hans Blumenberg eine Differenzierung zwischen Weltmodellen und Weltbildern ein.11 Diese erweist sich als sehr folgenreich nicht nur in systematischer Hinsicht, sondern auch, wenn man sie in ihren historischen Dimensionen bedenkt. Als Weltmodell bezeichnet Blumenberg eine Totalvorstellung der empirischen Wirklichkeit, die von dem jeweiligen Stand der Naturwissenschaften abhängt und die Gesamtheit der Aussagen vereint, die in den Naturwissenschaften als etabliertes Wissen gelten.12 Damit sind mehrere definitorische Kriterien genannt, die den Zweck und die Methode der Wissensgewinnung in den Naturwissenschaften charakterisieren: Da man als Ausgangsprinzip die „Einheit der Natur“ hat, baut das Wissen im Idealfall aufeinander auf. Es wird ein geschlossenes Gedankengebäude errichtet, 10 Ich beziehe mich hier auf Goodman, Nelson: Ways of worldmaking, Indianapolis 61992. 11 Blumenberg, Hans: „Weltbilder und Weltmodelle“, in: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft 30 (1961), S. 67ff. Vgl. hierzu auch Friedrich, Udo: „Weltmetaphorik und Wissensordnung in der Frühen Neuzeit“, in: Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens, hrsg. von Martin Schierbaum, Berlin 2009, S. 193ff. 12 Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, S. 69.
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das die Funktionsmechanismen eines Weltmodells beschreibt. Innerhalb dieses Weltmodells soll die Wissenssynthese – zumindest innerhalb einer Disziplin, zum Beispiel der Physik – möglichst widerspruchsfrei konzeptualisierbar sein. Das Weltmodell besteht aus einzelnen Wissensteilbereichen, die unzählige methodische Schwellen der Überprüfung und Falsifizierbarkeit durchlaufen haben. Die Ansprüche, denen etabliertes Wissen genügen muss, sind: mathematische Konsistenz und Rigorosität einerseits und experimentelle Überprüfbarkeit, Wiederholbarkeit, Reproduzierbarkeit andererseits. Dennoch ist ein Weltmodell nicht statisch. Es ändert sich ständig, weil die Forschergemeinschaft stets daran arbeitet, Teile davon oder es als Ganzes zu falsifizieren bzw. weiterzuentwickeln. Der letztendliche Geltungsanspruch ist der der Entkontextualisierung,13 das heißt der Verifizierbarkeit in jedem Kontext. Der Geltungsanspruch bezieht sich aber nur auf den jeweiligen Bereich, auf den die Theorie Zugriff hat bzw. für den sie eine gewisse explikative Reichweite beanspruchen kann. Dem gegenüber steht das Weltbild: Blumenberg zufolge liegt der Fokus in der Konzeptualisierung des Weltbildes nicht auf dem Weltentwurf – das wäre die Funktion des Weltmodells –, sondern vielmehr auf dem Selbstentwurf des Menschen in Bezug auf das geltende oder das von den Wissenschaften propagierte Weltmodell. Es geht erstens um die axiologische Dimension seiner Selbstdefinition, also um die Reflexion über die Werte, die seine Haltung und Handlungen bestimmen. Des Weiteren geht es um die teleologische Dimension seines Handelns im Hinblick auf die gesetzten Ziele und um die pragmatische Dimension seines Handelns hinsichtlich der intendierten Zwecke und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel in der empirischen Wirklichkeit und der sozialen Lebenswelt. Darüber hinaus geht es auch um die Erkundung und Entfaltung der Dimensionen seiner Autonomie angesichts der identifizierten Bedürfnisse, der gegebenen Zwänge und der erkannten Spielräume und Freiheitsgrade zur Selbstbestimmung der Spielregeln.14 Im Falle des Weltmodells ist die empirische Wirklichkeit Objekt der menschlichen Erkenntnis. Im Falle des Weltbildes kann der Mensch nicht von sich selbst abstrahieren oder sich ins Jenseits katapultieren, um die Welt zu erkennen. Er ist ein Teil von ihr und muss sich in Bezug dazu selbst orientieren, positionieren und letztendlich definieren. Die Differenzen sind somit klar. Die Kernfrage, die sich die Naturwissenschaften für die Konzeptualisierung eines Weltmodells stellen, ist: Wie funktio13 Zur Methode der Entkontextualisierung in der Physik vgl. Klaus Mecke: „Narrated Nature. A Narratology of Physics“, in: Aura Heydenreich und Klaus Mecke (Hrsg.): Physics and Literature. Theory – Populrazation – Aestheticization, Berlin/New York, erscheint 2017. 14 Blumenberg: Weltbilder und Weltmodelle, S. 69.
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niert die Natur? Nach welchen Naturgesetzen? Im Falle des Weltbildes stellt sich die Frage: Wie definiert sich der Mensch im Hinblick auf die gegebenen und wechselnden – vielleicht auch konkurrierenden? – Weltmodelle? In der Physik nimmt man also per se eine objektivierende Perspektive zum Objekt der Erkenntnis ein, wissend darum, dass die individuelle Perspektive eines Menschen letztendlich keine Rolle spielt. Der Mensch ist zwar das Subjekt der Erkenntnis, aber es geht nicht um ihn. Im Falle der Konzeptualisierung des Weltbildes ist das Verhältnis reflexiv: Die Weise, wie die Erkenntnis ausfällt bzw. formuliert wird, wirkt sich implizit und unmittelbar auf die Selbstdefinition des Menschen aus. Während die Naturwissenschaften eine Totalvorstellung von den Funktionsmechanismen der empirischen Wirklichkeit entwerfen, fragen sie nicht danach, wo der Mensch sich darin positioniert und was diese Position für seine Selbstdefinition bedeutet. Die Astronomie ist ein Sonderfall, weil sich hier, wie wir sehen werden, die Perspektiven überschneiden.
Keplers Somnium sive astronomia lunaris Keplers Somnium markiert textstrukturell den Übergang vom naturphilosophischen zum naturwissenschaftlichen Denken. Der Text führt poetisch und leseperformativ vor, dass mit dem Beginn der Etablierung der Naturwissenschaft Weltmodelle generiert werden, die sich im bestehenden Weltbild nicht mehr integrieren lassen, sondern von diesem divergieren – um es sodann zu revolutionieren. Am Beispiel des Somnium soll gezeigt werden, wie literarische Texte als interdiskursive Medien sich genau an dieser Schnittstelle des Übergangs zwischen Weltmodell und Weltbild situieren und unterschiedliche wichtige Problemkomplexe verhandeln: Erstens die Frage nach dem notwendigen Umdenkprozess des Menschen im Vollzug des Übergangs von einem Weltmodell zum neuen: Wie ist dieses neue Weltmodell für den Menschen überhaupt zugänglich bzw. nachvollziehbar? Zweitens die nach der interdiskursiven Verflechtung des neuen Weltmodells mit herkömmlichen Diskurstraditionen: Ergeben sich durch die neuen diskursiven Kombinationen auch neue Modelle der Kohärenzstiftung, die zur Genese des Narrativs des neuen Weltbildes beitragen und zusätzlich zu seiner Legitimierung, Verbreitung und letztendlich Objektivierung führen? Wie lassen sich dann alte Diskurstraditionen im Lichte neuer Erkenntnisse aus der Beobachtung der Naturphänomene sowohl einbinden als auch neu deuten?
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Kepler begann seinen Mondtext 1610 zu schreiben, im gleichen Jahr, als Galilei Sidereus nuncius15, die Nachricht von den neuen Sternen16, veröffentlichte, in der er durch die Beobachtung der Jupiter-Monde als Planeten-Satelliten einen endgültigen empirischen Beweis für das kopernikanische Weltmodell erbrachte. Das zu verbreiten war damals noch ein mutiger Akt der offenen Subversion. Giordano Bruno war 1600 auf dem Scheiterhaufen gestorben. Galileis Prozess und Widerrufung des Dialogs über die zwei Weltsysteme17 erfolgte zeitgleich mit der Drucklegung des Somnium 1633–1634. Keplers Bücher standen schon seit 1616 auf dem Index Librorum Prohibitorum. Wie geht nun Kepler als Mathematiker und Astronom mit dem Wissen um die kopernikanische Astronomie rhetorisch und argumentativ um? Durch welche Verfahren wird das Wissen um das kopernikanische Weltmodell zur Erzählung, das heißt zur allegorischen Weltbild-Vorstellung? Wie stehen Fakt und Fiktion zueinander in Relation? Wie führen Fiktionen zur Erkenntnis von Fakten? Man könnte behaupten, dass das Somnium für Kepler ein Lebenswerk darstellt, denn er schrieb daran 25 Jahre lang, bis zum Ende seines Lebens. Parallel dazu entstanden alle seine maßgeblichen astronomischen Schriften, die zur Konzeptualisierung der Keplerschen Gesetze führten und die er im Kommentar des Somnium ausführlich zitiert: Von seiner frühen Dissertation unter der Betreuung von Johannes Mästlin in Tübingen18 zum Mysterium Cosmographicum,19 zur Astronomia Nova20 und dem Harmonice Mundi21. Kepler hatte zudem mit seiner Epitome astronomiae copernicanae22 das erste umfassende Lehrbuch zur kopernikanischen Astronomie vorgelegt. Sofort, nachdem das Buch erschienen war, wurde es von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt.
15 Galilei, Galileo: Sidereus Nuncius magna, longeque admirabilia spectacula pandens, Venetiis: Apud Thomam Baglionum 1610. 16 Galilei, Galileo: Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, hrsg. von Hans Blumenberg, Frankfurt am Main 1965. 17 Galilei, Galileo: Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico e copernicano, hrsg. von Ottavio Besomi, Padova 1998; Galilei, Galileo: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. Das ptolemäische und das kopernikanische, übers. u. erläutert von Emil Strauss, hrsg. von Roman Sexl u. Karl von Meyenn, Stuttgart 1982. 18 Vgl. hierzu Westman, Robert S.: The Copernican question. Prognostication, skepticism, and celestial order, Berkeley 2011, S. 311ff. 19 Kepler, Johannes: „Mysterium cosmographicum“, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. von Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1938. 20 Kepler, Johannes: „Astronomia Nova“, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. von Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1937. 21 Kepler, Johannes: „Harmonice mundi“, in: Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. von Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1940. 22 Kepler, Johannes: „Epitome astronomiae copernicanae“, in: Gesammelte Werke, Bd. 7, hrsg. von Walther von Dyck u. Max Caspar, München 1953.
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Das mag der Grund dafür sein, dass Kepler sein Somnium zeitlebens nicht drucken ließ. Sein Werk sah das Drucklicht erst posthum, 1634, vier Jahre nach seinem Tod. Veranlasst wurde der Druck von Keplers Sohn. Vollständig ins Deutsche übersetzt – einschließlich des Kommentars – wurde der Text erst 2011.23 Der Aufbau des Somnium ist schnell erzählt: Die Rahmengeschichte situiert den Ich-Erzähler in den Kontext der Geschichte Böhmens 1608 und signalisiert seine Neugierde, die ihn dazu motiviert, sich der Lektüre der böhmischen Literatur zuzuwenden. Wichtigste Lebensereignisse des Ich-Erzählers in der Extradiegese sind der Schlaf nach der Buchlektüre und die Betrachtung des Mondes. Im Schlaf träumt der Ich-Erzähler wiederum davon, dass er ein Buch liest. Es ist die Geschichte des isländischen Helden Duracotus, der mit seiner Mutter Fiolxhilde in Island lebt. Fiolxhilde ist Zauberkünstlerin, ihr Hauptgeschäft ist die Herstellung von Windsäckchen, die sie mit Kräutern füllt und an Schiffsherren verkauft, die damit die Winde günstig zu steuern versuchen. Duracotus, als neugieriger Geist, widersteht nicht der Versuchung, herauszufinden, was diese magischen Säckchen im Innersten zusammenhält. Er reißt eines auf und bringt die Mutter so um den Gewinn ihres Lebensunterhalts. Als Strafe für diesen Akt der curiositas verkauft die Mutter Duracotus an einen Schiffsherrn. Somit wagt sich der Bestrafte unfreiwillig ins Unbekannte, überschreitet in einem symbolischen Akt die „Säulen des Herkules“, landet in Norwegen bei Tycho Brahe und vereint dort Beruf mit Berufung als Lehrling des führenden Astronomen seiner Zeit. Man beachte hier die Umkehrung des curiositas-Topos, wie ihn Blumenberg anhand von Dantes Odysseus Episode in der Divina Commedia und Petrarcas Brief über den Mont Ventoux beschrieben hat.24 Im Unterschied zu den früheren mittelalterlichen Texten entpuppt sich hier die scheinbare Bestrafung als Belohnung, findet Duracotus doch durch den Ausstoß ins Unbekannte seine Berufung in der Erforschung weit umfassenderer Grenzen, derjenigen zwischen den irdischen und himmlischen Sphären. Man beachte außer der inversio, der Figurenumkehrung, auch die Figur der Metalepse, denn Duracotus’ lebensverändernde Begegnung mit Tycho Brahe und seine Berufung zur Astronomie weisen deutliche Parallelen zwischen der Erzählerstimme in der Intradiegese und der der Extradiegese auf und ermuntern somit zum Denken der metaleptischen Überschreitung zwischen der Ontologie der Erzählebenen. Duracotus kommt aus Norwegen zurück nach Island, erzählt seiner Mutter die unglaublichen Geschichten seiner Forschungen der letzten Jahre – und sie er23 Kepler, Johannes: Der Traum, oder: Mond-Astronomie. [Somnium sive astronomia lunaris], aus dem Lat. v. Hans Bungarten, hrsg. u. mit einem Leitfaden für Mondreisende von Beatrix Langner, Berlin 2011. 24 Blumenberg, Hans: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, Frankfurt am Main 1973, S. 136ff.
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widert, dass ihr diese durch magisch-astrologische Praktiken bereits längst vertraut waren. Sie zu beschreiben oder gar zu betreiben, sei jedoch lebensgefährlich. Deshalb bedürfe es zum weiteren Austausch über die astronomischen Erkenntnisse eines Initiationsrituals, der durch Riten vollzogen wird: Nach der Verhüllung der Köpfe unter einem dunklen Tuch folgt die magische Beschwörung einer dämonischen Gestalt aus Levania. Levania, so Kepler in seinen Anmerkungen, ist die hebräische Bezeichnung für den Mond.25 Hier sei darauf hingewiesen, dass die Kopplung zwischen Astronomie und Astrologie in der Frühen Neuzeit durchaus legitim war. Fast alle Astronomen waren zugleich Astrologen. Richard Westman zeigt in The Copernican Question,26 dass es oft Wechselwirkungen zwischen den astronomischen und den astrologischen Fragestellungen gab. Jedenfalls hatte die Astrologie die Funktion, das Wissen der Astronomie zu anthropologisieren: Sie projizierte es auf den menschlichen Erfahrungshorizont. Man war damals davon überzeugt, dass die Konjunktionen der Gestirne einen entscheidenden Einfluss auf menschliche Schicksale hätten. Die Berechnung und Beobachtung, aber vor allem die Vorhersagekraft des astronomischen Wissens beeinflusste strategische Kriegs- und Machtentscheidungen. Mit der magischen Anrufung des Dämons aus Levania beginnt die allegorische Traumerzählung einer Reise zum Mond. Doch diese Traumerzählung enthält eine Fülle von Verweisen auf astronomische Beobachtungen, mathematische Berechnungen, physikalische Naturgesetze. Sie impliziert äußerste Nüchternheit, tiefste Rationalität. Sie entlarvt sich dadurch als diskursives allegorisches Konstrukt, das der Vermittlung des kopernikanischen Weltmodells dient. Die Erzählung endet mit dem brüsken Erwachen des Ich-Erzählers in der Extradiegese. Kepler hat seiner zwanzigseitigen Erzählung 223 Endnoten hintangefügt, die hundert Seiten umfassen. Dieser Kommentarteil des Somnium verwurzelt den Text sowohl im wissenschaftshistorischen Kontext als auch in einer starken philologischen Tradition: Plutarch, Philolaos und Aristarchus sind seine Legitimationsinstanzen gleichermaßen. Die 223 Anmerkungen enthalten aber vor allem auch wissenschaftliche Erklärungen, die sich auf das kopernikanische Weltmodell berufen. Im Gegensatz zur fiktionalen Kosmographie in der Traumerzählung, in der Diegese, bilden sie eine faktuale Kosmographie in der Metadiegese. Der Text ist also ein hybrides Gebilde zwischen allegorischer Traumerzählung und wissenschaftlichem Traktat, wobei der Traum sich durch seine Erzählkohärenz als literarische Konstruktion selbst entlarvt. Im Gegensatz dazu weist die faktuale Kosmographie der Endnoten in der Metadiegese keine Kohärenz, sondern größte Disparatheit auf: Die Endnoten 25 Vgl. Kepler: Traum. Kommentar 42, S. 39. 26 Westman, Robert S.: The Copernican question. Prognostication, skepticism, and celestial order, Berkeley 2011.
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stehen als fragmentarische Bezüge relativ erratisch nebeneinander da. Der Text führt performativ vor, wie sich der Übergang vom ptolemäischen zum kopernikanischen Paradigma und die Herausbildung des Weltbilds aus dem Weltmodell vollzieht: Zu Zeiten Keplers gab es zwar Beobachtungen, Messungen und mathematische Berechnungen, die das kopernikanische Weltmodell bestätigten, aber es gab noch keine adäquate kohärente Erzählung, die diskursübergreifend Sinn stiftete und das neue, mathematisch berechnete und bewiesene Weltmodell auf den menschlichen Erfahrungshorizont projizierte. Ohne die Kohärenz eines Narrativs, einer Erzählung, die den Menschen und die Frage nach seinem Ort in den Mittelpunkt setzt, ergeben die Endnoten für sich genommen, wiewohl sie einem wissenschaftlichen Weltmodell entspringen, kein Weltbild. So wird dieser große, kaum bekannte hybride Text zu einem der ersten literarischen Zeugnisse der kopernikanischen Literatur – aus der Feder einer ihrer wissenschaftlichen Hauptakteure, einer Feder also, die durchaus auch im Schreiben mathematischer Formeln geübt war.
Argumentationsstruktur des Somnium Somit können die Ziele der Argumentation im Somnium nachvollzogen werden. Das Weltmodell, das zunächst auf den spezialdiskursiven mathematischen Berechnungen, geometrischen Symmetrieprinzipien, astronomischen Beobachtungen basierte, wird durch die Fiktivierung27 unter Einbeziehung des poetisch Imaginären entfaltet und entwickelt sich allmählich zu einem allumfassenden und interdiskursiv legitimierten Weltbild. Dies geschieht durch eine vierfache Argumentationsagenda: erstens eine positive, die den Traum und das Imaginäre einbezieht, um ein physikalisches Gedankenexperiment poetisch performativ vorzuführen. Hier wird mit vergleichbaren wissenschaftlichen und literarischen Verfahren vorgeführt, aufgrund welcher wissenschaftlichen Argumente das Kopernikanische Weltmodell legitimiert werden kann. Zweitens wird mit dem poetischen Mittel der allegorischen Traumreise zum Mond der Beobachterblick perspektiviert, indem er vom Erdstandpunkt dekontextualisiert wird. Drittens wird durch optische Verfahren – die der Camera obscura – der menschliche Blick objektiviert und vom sinnlich-räumlichen Sehen des menschlichen Auges entkoppelt. Das optische Experimentalsystem ist aber viertens auch als allegorisches Verfahren dem Text performativ eingeschrieben, wie noch zu zeigen sein wird. Diese Schritte werden argumentativ vollzogen, um letztendlich die Einheit der 27 Ich gebrauche den Terminus „Fiktivierung“ im Sinne Wolfgang Isers in: Iser, Wolfgang: „Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?“, in: Funktionen des Fiktiven, hrsg. von Dieter Henrich u. Wolfgang Iser, München 1983, S. 121ff.
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Natur zu demonstrieren – dass die Erde sich wie der Mond und alle anderen Planeten dreht und dass auf dem Mond die gleichen physikalischen Naturgesetze gelten wie auf der Erde. Doch hinter dieser positiven Argumentationsagenda versteckt sich zugleich auch eine subversive. Denn Keplers Text gelingt zugleich die Widerlegung der Thesen seiner Gegner auf verschiedenen Ebenen: 1) gegen die metaphysische Auffassung der aristotelischen Tradition, die besagte, dass es eine absolute Grenze gibt zwischen dem sublunaren Bereich der irdischen, sich stets verändernden Phänomene und dem supralunaren Bereich der himmlischen, ewig unveränderlichen Phänomene.28 „An den göttlichen Äther, den wir ein Reich der Ordnung, dazu unverrückbar, unwandelbar und unveränderlich nennen, grenzt der gänzlich wandelbare, veränderliche und, kurz gesagt, vergängliche und sterbliche Bereich.“29 2) astronomisch gegen das geozentrische Weltbild Ptolemäus’. 3) Keplers Somnium schließt auch eine Exegese-Kontroverse ein: Welches ist das Verhältnis des „Buchs der Natur“ zur Heiligen Schrift? Oder: Gibt es alternative Deutungsverfahren des sog. „Buchs der Natur“, und ließen sich diese über die christliche Exegese mit der Heiligen Schrift vereinbaren? Das heißt, gibt es alternative Auslegungsverfahren zur Allegorese in der augustinischen Tradition?
Erzählebenen und Erzählerstimmen Die folgende Abbildung zeigt einen Faksimile-Abdruck der Erstausgabe des Somnium von 1634. Bereits die Materialität der Zeichen, die Schrifttype, Schriftgröße und der Schriftsatz, deuten auf unterschiedliche Erzählregister hin. Mindestens fünf ontologische Erzählebenen, die von unterschiedlichen Erzählinstanzen eingeführt werden, sind zu unterscheiden: 1. Die historische Rahmensetzung in der Diegese, Böhmen um 1608. Dieser entkommt der Erzähler erster Ordnung, indem er einschläft und träumt. 2. Der Erzähler zweiter Ordnung liest im Traum ein Buch. 3. Durch diesen Erzähltrick 28 Vgl. hierzu die Erläuterungen von Alberto Jori über Platons und Aristoteles’ astronomische Vorstellungen im Kontext der griechischen Astronomie in: Aristoteles: Werke. In deutscher Übersetzung, Bd. 12, Teil III: Über den Himmel, übers. von Alberto Jori, Berlin 2009, S. 285ff.; Waerden, Bartel Leendert van der: Die Astronomie der Griechen. Eine Einführung, Darmstadt 1988; Dicks, D. R.: Early Greek astronomy to Aristotle, London 1970; Dreyer, John L.: A History of astronomy from Thales to Kepler, New York 1953. 29 Aristoteles: „Über den Himmel“, Buch 1. Kap. 2, in: Werke, in deutscher Übersetzung, Bd. 12. Teil III, übers. von Alberto Jori, Berlin 2009, S. 22ff. (268b11–269b18).
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Abb. 1: Faksimileausschnitt der Erstausgabe des Somnium: Seite links: Beginn der Rahmenerzählung. Seite rechts: Beginn der Binnenerzählung des Dämons aus Levania.
wird ein Erzähler dritter Ordnung eingeführt: Duracotus, der Protagonist des Buches im Traum, der seinen Lebensweg von der Astrologie zur Astronomie erzählt. Durch einen magischen Ritus wird ein Erzähler vierter Ordnung beschworen, der Dämon aus Levania, der träumende Erdbewohner auf einer allegorischen Reise zum Mond begleitet. Sodann wird der Rahmen geschlossen. Es gibt eine perfekte Symmetrie zwischen der Öffnung und der Schließung der vier Erzählebenen bzw. der Ein- und Abführung von Erzählerstimmen: Als ich in meinem Traum bis hierhin gekommen war, riss mich ein Sturm mit prasselndem Regen aus dem Schlaf, und zugleich verlor sich das Ende des in Frankfurt beschafften Buches. Und so verließ ich den erzählenden Dämon und die Zuhörer, den Sohn Duracotus mit seiner Mutter Fiolxhilde, deren Häupter verhüllt waren, kehrte zu mir selbst zurück und fand tatsächlich meinen Kopf auf dem Kissen und meinen Körper in Decken gehüllt.30
Selbst die Geste der Verhüllung des Kopfes wird doppelt angeführt, sowohl in der Diegese bei der Rahmenöffnung und -schließung als auch in der Metadiegese. Schließlich folgt fünftens ein ausführlicher Kommentar, der seinerseits weder einen Erzähler noch Erzählkohärenz aufweist. Er wird vielmehr von der Stimme 30 Kepler: Traum, S. 26.
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der wissenschaftlichen auctoritas geführt und weist Autorität in doppelter Hinsicht auf: naturphilosophische und philologische gleichermaßen.
Diskursregister und Interpretationsperspektiven Jede dieser auch in der Schrifttype unterschiedenen Diskursebenen ermöglicht die Interpretation des Textes nach einem anderen Diskursregister, die es hier sorgfältig zu unterscheiden gilt: Der historische Rahmen weist auf den politischen Diskurs der Zeit hin, auf die konfessionellen und kriegerischen Auseinandersetzungen des dreißigjährigen Krieges, auf die unübersichtlichen Interessenlagen und die entsprechenden Bedrohungen und Zensurakte. Angesichts dessen scheint die Entrückung durch die fiktionale Traumerzählung legitim. Der Traum ermöglicht die „Fiktion“ des Heliozentrismus. Er markiert die erste Grenzüberschreitung, den Akt der Fiktivierung. Unter der Lizenz der Fiktionalität löst sich die Referentialität des Realen als Legitimierungsfolie ab und stellt den Text frei für das Spiel mit dem Imaginären. Im Spiel kehrt das Reale wieder, aber in einem neuen Kontext, in dem des „Als-Ob“, symbolisiert durch eine komplexe Rahmung, in der das Spiel des Imaginären neue Korrelationsmöglichkeiten zulässt. So wird der fiktive Standpunkt legitimiert: denn nur von hier aus kann das neue, visionäre, heliozentrische Weltmodell so beschrieben werden, dass die Schreibweise den Leser zum Umdenken motiviert. Einerseits verharmlost die Fiktion die Kühnheit des neuen Weltmodells, andererseits aber wird der Traum selbst doppelt subvertiert. Erstens ist er ein Traum im Buch. In den Anmerkungen verweist Kepler darauf, dass er seinen Protagonisten träumend darstellt, „um die Philosophen in dieser Art von Literatur nachzuahmen“.31 Zweitens ist der Traum selbst geschriebene Literatur, die sich selbstbewusst aus dem überlieferten Traum-Schrifttum speist und unterschiedliche Traditionen aufweist: Ciceros Somnium Scipionis, Macrobius’ Kommentar zu Ciceros Werk und viele andere allegorische Traumnarrative des Mittelalters, wie Dean Swinford gezeigt hat.32 Das Buch im Traum ist die Biographie Duracotus’, der den Diskurs der Astronomie einführt, ihn aber mit magischen Praktiken verwebt, weshalb die Mondreise des Dämons nötig ist, der die kopernikanischen Fakten allegorisch darstellt. 31 Kepler: Traum. Kommentar 2, S. 27. „ut imitarer Philosophos in hoc genere scriptionis.“ (Kepler, Johannes: „Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari“, in: Gesammelte Werke, Bd. 11.2, hrsg. von Volker Bialas u. Helmuth Grössing, München 1993, S. 317ff., hier: S. 332). 32 Vgl. Swinford, Dean: Through the daemon’s gate. Kepler’s Somnium, medieval dream narratives, and the polysemy of allegorical motifs, New York 2006.
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Der Traum erlaubt die spielerische Verteidigung des Kopernikanismus unter dem Schutzmantel der Fiktion. Doch der Text hat eine klare epistemologische Agenda, weshalb er auch als ein wissenschaftliches Gedankenexperiment gelesen werden kann: Im Somnium werden die Leser, d. h. die Erdbewohner, dazu eingeladen, sich vom irdischen Standpunkt temporär zu verabschieden und ihren Beobachterstandpunkt imaginativ auf den Mond zu verlagern. Wozu? Sie sollen zum Umdenken animiert werden. Der Geozentrismus soll durch das Fingieren eines mystischen Selenozentrismus als Illusion entlarvt werden. Denn auch die fiktiven Mondbewohner nehmen an, dass der Mond still steht, während sich alles andere – auch die Erde – um sie dreht. Das erweist sich als Fiktum – und was daraus als Faktum von den lesenden Erdbewohnern abgeleitet werden soll, ist, dass sich die Erde dreht. So beschreibt die Erzählerstimme des Dämons aus Levania aus homodiegetischer Perspektive die Wahrnehmung der Erdbewegungen vom Standpunkt der Mondbewohner: Obwohl145 man sie [die Erde] sich nämlich überhaupt nicht vom Ort bewegen sieht, vollführt sie an146 ihrem Platz eine Kreisbewegung um sich selbst, im Gegensatz zu unserem Mond, und zeigt nacheinander eine bewundernswerte147 Fülle verschiedener Flecken, die sich beständig von Osten148 nach Westen verschieben.33 [Kommentar]
Im Kommentar heißt es später: 145) Die Erdkugel bewegt sich in Wahrheit von der Stelle und durchwandert den Tierkreis im Lauf eines Jahres. Für die Mondbewohner dagegen scheint sie völlig an einem Ort zu ruhen. Denn sie haben keine Hilfsmittel, um diese Bewegung sinnlich wahrzunehmen. Sie glauben also, dass vielmehr die Sonne in 12 ½ ihrer Nacht-TagEinheiten diese Bewegung in umgekehrter Richtung vollzieht. Genau dasselbe geschieht auch uns Erdbewohnern mit der Sonne.34 [Kommentar]
Um das wissenschaftlich zu plausibilisieren, wird die vierte Rahmungsebene eingeführt, die der Autobiographie Duracotus’. Das entscheidende Ereignis hier ist seine astronomische Ausbildung unter der Anleitung Tycho Brahes. Brahe war im 16. Jahrhundert einer der angesehensten Astronomen Europas. Er hatte am liberalen rudolphinischen Prager Hof ein Observatorium aufgebaut, das über Jahrzehnte hinweg die präzisesten Messungen und Beobachtungen für die Berechnung der Planetenrotationen lieferte. Mit diesen Instrumenten beobachtete 33 Kepler: Traum, S. 21. „145Etsi enim loco nequaquam moveri cernitur; 146intra tamen locum suum, contrà quam nostra Luna, gyratur, et 147admirabilem macularum varietatem successivè explicat, assiduè ab 148ortu in occasum translatis maculis.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 328). 34 Kepler: Traum. Kommentar 145, S. 73. „145. Terrae globus verè loco movetur, permeans Zodiacum anni spacio: at Lunicolis planè videtur loco quiescere; quia nulla habent adminicula, sensu notandi hunc motum: putant igitur, potiùs Solem in duodecimsemis Nychthemeris suis, illum motum perficere in plagam oppositam: quod idem et nobis Terricolis vsu venit circa eundem Soelm.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 353f.).
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Brahe 1593 erstmals eine Supernova, was ihn davon überzeugte, dass die Kristallkugeln des geozentrischen Universums nur heuristische Annahmen und keine ontologischen Entitäten sind und abgeschafft gehörten. Kepler war Brahes Nachfolger als Leiter des Observatoriums am Prager Hof und beobachtete seinerseits einen neuen Stern, eine Supernova im Fuße des Schlangenträgers. 1604 erschien seine Schrift, die dieses Phänomen beschreibt: De Stella nova in pede Serpentarii.35 Die Tatsache, dass bei der Beobachtung keine Parallaxe vorlag, wurde von ihm so gedeutet, dass der Stern sich viel weiter weg als der Mond befinden musste: in der Sphäre der Sterne. Da dieser Stern aber nie zuvor beobachtet wurde, war er ein Beleg dafür, dass die sogenannte Fixsternsphäre durchaus veränderlich ist. Kepler deutete diese Erscheinung als zusätzliches Argument gegen das geozentrische und für das heliozentrische Weltbild. Sodann konnte er aufgrund von Tycho Brahes umfassenden Messungen und Beobachtungen die Keplerschen Gesetze ableiten. Diese narrative Ebene und ihr wissenschaftshistorischer Hintergrund erfüllen die wissenschaftliche Legitimationsfunktion für das, was folgen wird, auf der scheinbar höchsten Stufe der Fiktionalität: die kopernikanische Erzählung des Dämons von Levania im fünften, allegorischen Diskursregister. Mit dem Wechsel des Standpunktes von der Erde zum Mond beginnt die allegorische Mondreise. Die Mitte der Erzählung ist der Schnittpunkt zweier Weltbilder: Das Genre dieses Abschnitts, die allegorische Fiktion, ist dem geozentrischen Weltbild verpflichtet, das Wissen darin entspricht dem kopernikanischen Weltmodell, das durch die Allegorese zum Weltbild entfaltet werden soll. Definitionsgemäß ist die Allegorie nicht nur das „poetische Verfahren zur Erzeugung von Uneigentlichkeit durch eigens zu diesem Zweck geschaffene literarische Ausdrucksmittel“36, sondern auch diejenige „erzählende und/oder lehrhafte literarische Gattung, in der der Sinn durch Verweis auf eine zweite Bedeutungsebene konstituiert wird.“37 Der doppelte Boden der Allegorie wird durch die palimpsestische Überschneidung zweier Weltbilder in der Erzählung des Dämons poetisch funktionalisiert. Nach dem magischen Beschwörungsritus folgt die Erzählung des „Dämons aus Levania“, der sich diskursiv der astronomischen Expertensprache annähert. Kepler merkt dazu an: „Diese Geister sind die Wissenschaften, in denen sich die Gründe der Dinge offenbaren. Mich erinnerte an diese Allegorie das griech. Wort 35 Kepler, Johannes: De Stella nova in pede Serpentarii, et qui sub ejus exortum de novo iniit, trigono igneo, Libellus Astronomicis, Physicis, Metaphysicis, Meteorologicis & Astrologicis Disputationibus endoxois & paradoxois plenus, Pragae 1606. 36 Scholz, Bernhard: „Allegorie2“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, hrsg. von Georg Braungart u. Jan-Dirk Müller, Berlin 32007, S. 40–44, hier S. 40. 37 Blank, Walter: „Allegorie3“, in: Reallexikon, S. 44ff., hier S. 44.
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daemon, das sich herleitet von ‚wissen‘, und fast bedeutungsgleich mit ‚der Wissende‘ ist.“38 Der Wissenschaftshistoriker Edward Rosen, der die erste kommentierte englische Übersetzung des Somnium vorlegte, weist in seinem Kommentar auf die alte griechische Tradition des Dämons als Wissensträger im Unterschied zur manichäisch-christlichen Konnotation des Begriffs mit dem Bösen.39 Dieser Unterscheidung ist die Forschung gefolgt: Dean Swinford40 und Fernand Hallyn41 interpretieren das Reden des Dämons auch als allegorisches Diskurskonstrukt. James Paxson situiert Keplers Text in die genealogische Tradition anderer wichtiger allegorischer Texte des Mittelalters, wie die Martianus Capellas, Bernardus Silvestris, Dantes und Chaucers.42
Das magische Ritual der Beschwörung des Dämons aus Levania Vor der Beschwörung hebt die Mutter ausgerechnet diesen Dämon als Wissenden hervor, den „sanfteste[n] und unschuldigste[n]37 […], [der] durch 21 Zeichen38 herbeigerufen [wird].“43 In der Anmerkung dazu erläutert Kepler, dass die Bezeichnung Astronomia Copernicana genau 21 Buchstaben hat.44 Entsprechend hat der Dämon im Traum vor allem astronomische Beobachtungen, Messerzählungen und mathematische Modellierungen zu bieten. Doch wie vollzieht sich der Beschwörungsritus? Auf doppelte Weise – in der Diegese und in der Metadiegese. In der Erzählung vollzieht die Mutter einen magischen Beschwörungsritus. Im Text wird darauf hingewiesen, dass die Kopfverhüllung Teil der Tradition, des vereinbarten Rituals ist. Sodann erscheint die Stimme des Erzählers vierter Ordnung, die des daimons der Kopernikanischen Astronomie: 38 Kepler: Traum. Kommentar 34, S. 37. 39 Kepler, Johannes: Kepler’s Somnium, the dream, or posthumous work on lunar astronomy, hrsg. von Edward Rosen, Madison u. a. 1967. 40 Swinford, Dean: Through the daemon’s gate. Kepler’s Somnium, medieval dream narratives, and the polysemy of allegorical motifs, New York 2006. 41 Hallyn, Fernand: The poetic structure of the world. Copernicus and Kepler, New York, Cambridge, Mass. 1990. 42 Paxson, James: „Kepler’s Allegory of Containment, the Making of Modern Astronomy, and the Semiotics of Mathematical Thought“, in: Intertexts 3 (1999), S. 105ff., hier S. 105. 43 Kepler: Traum, S. 10. „et vel 37maximè omnium mitis atque innoxius 38viginti et vno characteribus evocatur.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 322). 44 Kepler: Traum. Kommentar 38, S. 38. „38. Quaerendo, quae causa hujus numeri mihi fuerit, non plus profeci, quàm quod totidem inveni literas, seu characteres in vocibus ASTRONOMIA COPERNICANA; quodque totidem sunt formae conjunctionum inter binos planetas, quorum sunt numero septem. Et jucundum hoc accedit, totidem etiam esse jactus binarum tesserarum Cubicarum. Est quippè 21 Numerus Trigonicus, basi 6. Allegoria Evocationis est ex Delrio et Magia desumpta; subest autem sensus Grammaticus. Evocatur, id est, enunciatur.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 336).
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„Die Mutter44 ging voraus bis zur nächsten Weggabelung45, erhob ein Geschrei und brachte einige wenige Wörter46 hervor, mit denen sie ihre Bitte äußerte. Nachdem sie ihre Riten47 vollendet hat, kehrt sie zurück, gebietet mit ausgestreckter rechter Hand47 Schweigen und setzt sich neben mich. Kaum hatten wir das Haupt49 mit dem Gewand (wie es vereinbart war) verhüllt, da erhebt sich das Gekrächz50 einer stammelnden und dumpfen Stimme. Und sofort beginnt sie auf folgende Weise zu sprechen […]“45.
Dieser zentralen Szene in der Diegese, die als magische Praxis ausgewiesen ist, korrespondiert eine dreifache Anmerkung Keplers in der Metadiegese, im Kommentar. Es ist die einzige Stelle im Kommentar, an dem die Endnoten sich in dieser Art verdichten. Das ist auch untypisch für einen normalen wissenschaftlichen Kommentar. Es sei denn, es seien andere besondere Leseanweisungen damit verbunden. Was verbirgt sich dahinter?
Die Camera obscura als epistemische Experimentalanordnung Im Kommentar wird das magische Ritual mit einer performativen Experimentalpraxis in Verbindung gesetzt. Kepler beschreibt diese ausführlich; sie scheint ihrerseits ein regelmäßiges Ritual gewesen zu sein, das er am Prager Hof in der astronomischen Sternwarte vorführte. Ausgerechnet an dieser Stelle führt Kepler nicht nur ein Experiment vor den Augen der Leser durch, sondern weist auch ausdrücklich auf den epistemischen Wert dieses Experiments hin. Er verknüpft die Beobachtungsanordnung erstens mit einer Lehrmethode in der Astronomie, deren zentrales Dispositiv die Herstellung eines vom Rest der Realität abgeschiedenen, dunklen isolierten Raums ist, und zweitens mit der Notwendigkeit sprachlicher Prägnanz und Differenziertheit für die Beschreibung der Versuchsanordnung. Somit weist er der Stelle und implizit dem gesamten Text kognitive Signifikanz zu – auch im Erwerb astronomischer Erkenntnisse: 44, 46, 47) Auch das ist eine magische Zeremonie. Ihr entspricht in der Lehrmethode der Astronomie, dass diese überhaupt nicht lehrerhaft oder improvisierend ist; vielmehr bedarf jede klare Antwort der Ruhe, der Konzentration der Sinne, prägnanter Worte.
Kepler schildert im Kommentar die öffentliche Vorführung einer optischen Experimentalanordnung mithilfe der Dunkelkammer, der Camera obscura:
45 Kepler: Traum, S. 11. „mater 44seorsim à me se recipiens in 45proximum bivium, et 46pauculis verbis, clamore sublato, enunciatis, quibus petitionem suam proponebat; 47caeremoniisque peractis, revertitur, 48praetensâ dextrae manus palmâ silentium imperans, propterque me assidet. Vix49 capita vestibus (vt conventum erat) involveramus; cum ecce 50screatus exoritur blaesae et obtusae vocis; et stàtim in hunc modum, sed idiomate Islandico, infit.“ (Kepler, Johannes: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 323).
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In meinen Prager Jahren führte ich oft auf besondere Art ein bestimmtes Experiment vor, wenn Zuschauer oder Zuschauerinnen zu mir kamen. Ich zog mich dafür jedes Mal zunächst von den plaudernden Leuten zurück in einen nahegelegen Nebenraum meines Hauses, der zu meinem Zweck ausgewählt worden war, schloss das Tageslicht aus, passte ein ganz kleines Fenster in einen winzigen Rahmen ein und verhüllte eine Wand mit weißem Stoff. Sobald ich diese Vorbereitungen getroffen hatte, rief ich die Zuschauer. Das waren meine Zeremonien, meine Riten.46 [Kommentar]
Abb. 2: Camera obscura naturalis.
Camera obscura als optische Medientechnik der Frühen Neuzeit Die Camera obscura ist eine der zentralen optischen Medientechniken der Frühen Neuzeit. Sie situiert sich als technisches Dispositiv an der Schnittstelle zwischen den Wissensfeldern der Kunst und Naturphilosophie, denn sie wird nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Malerei, zum Beispiel von Leonardo da Vinci, eingesetzt. Sie ist die medientechnische Vorläuferin der Photographie und des Films. Es war Kepler, der, wie Breidbach nachwies, die lateinische Bezeichnung dieses optischen Dispositivs einführte. „Bislang taucht der Begriff Camera obscura erstmalig bei Johannes Kepler im Index der 1604 erschienenen Ad vittelionem paralipomena auf.“47 46 Kepler: Traum. Kommentar 44, 46, 47. S. 40 (inklusive des vorangehenden Zitats). „44. 46. 47. Haec quoque quoque magica ceremonia: cui respondet in ratione docendi Astronomiam, quod ea nequaquam est professoria seu extemporanea, sed indiget omnis expedita responsio quiete, recollectione sensuum, conceptisque verbis. In particulari observationis cujusdam praxi, quae mihi Pragae circa illos annos crebra erat, quoties me convenerunt spectatores spectatricesve; solitus ego sum prius ab illis colloquentibus me subducere in angulum domus proximum, ad hoc opus electum, diei lucem excludere, fenestellam aptare minutissimo ex foramine, parietem albo vestire; peractis ijs, advocare spectatores. Hae mihi ceremoniae, hi ritus.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari. S. 338). 47 Breidbach, Olaf, Kerrin Klinger u. Matthias Müller: Camera obscura. Die Dunkelkammer in ihrer historischen Entwicklung, Stuttgart 2013, S. 16.
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Durch sie wurde es erstmalig optisch möglich, dreidimensionale Raumwahrnehmungen in zweidimensionale Projektionen zu verwandeln. Die optische Staffelung der Schärfeebenen48 führt das zentralperspektivische Sehen technisch vor. So bringt die Dunkelkammer ein medial-ästhetisches Konzept des „neuen Sehens“ hervor, in dem sich neue Erkenntnis- und Darstellungsformen wechselseitig bedingen. Ihr Grundprinzip, ein Bild von außen durch die Vermittlung eines Lichtstrahls auf eine Fläche im Innern einer dunklen Kammer invertiert zu projizieren, wird in Keplers Somnium als optisches und zugleich performatives narratives Verfahren eingesetzt. Es hat eine epistemische Funktion: Als optisches Verfahren soll es den Lesern ein mentales Modell der kopernikanischen Vision vor Augen führen und gleichzeitig die alte ptolemäische Illusion als solche entlarven. So wie das Bild, das die Camera obscura auf eine gegenüberliegende Wand projiziert, invertiert wird, projiziert die Camera obscura in Keplers Text die Welt des wissenschaftlichen Kommentars auf die storyworld und stellt das ptolemäische Weltbild auf den Kopf. Durch diesen Akt der Projektion als Subversion wird der doppelte allegorische Boden der Traumerzählung optisch vorgeführt. Jedoch bezieht sich das „höhere Wissen“ für die Allegorese nicht mehr auf die scholastische Bibel-Exegese, sondern auf die Beobachtung der Natur: auf Messungen, genaue Berechnungen, geometrische Prinzipien und daraus resultierende Gleichungen. Meine Analyse baut auf die wissenschaftshistorische Lektüre des Somnium von Raz Chen-Morris, der zwar auf die Camera obscura in Keplers Text hinweist,49 diese aber lediglich als optisches Verfahren diskutiert. Meine Lektüre widmet sich den narratologischen Implikationen, die sich aus dem performativen Einsatz der Camera obscura als poetisches Verfahren für die Interpretation des Textes ergeben: im Hinblick auf die mehrfache Rahmung und auf die Technik der Perspektivierung und in Bezug auf die damit verbundenen Verfahren der Allegorisierung und der semantischen Umbesetzung der geozentrischen Termini, die diese als kognitive Konstrukte entlarven. Darüber hinaus soll in der vorliegenden Analyse gezeigt werden, dass ausgerechnet die Funktionsweise der Camera obscura als Verfahren der Visualisierung in diesem Text vorführt, dass Rahmung und Perspektivierung, Begriffsprägung und Semantisierung Prozedere sind, die einerseits in der wissenschaftlichen Theorieentwicklung und andererseits im literarischen Produktionsprozess zum Einsatz kommen. Sie gehen zwar unterschiedliche methodologische Wege der Wissensproduktion, sind aber als 48 Breidbach, Klinger, Müller: Camera obscura, S. 20. 49 Chen-Morris, Raz: „Shadows of Instruction: Optics and Classical Authorities in Kepler’s Somnium“, in: Journal of the History of Ideas 66 (2005) H. 2, S. 223ff. Vgl. auch: Gal, Ofer und Raz Chen-Morris: „Baroque Optics and the Disappearance of the Observer: From Kepler’s Optics to Descartes’ Doubt“, in: Journal of the History of Ideas 71 (2010) H. 2, S. 191ff.
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allgemeine Verfahren dennoch vergleichbar und dienen vor allem dem gleichen gemeinsamen Zweck: der Bewältigung von Komplexität. In Athanasius Kirchers Bild der begehbaren Camera Obscura wird die mehrfache Rahmung vorgeführt, die meiner Ansicht nach auch strukturell, als narratives Verfahren in Keplers Somnium poetisch inszeniert wird:
Abb. 3: Begehbare Camera obscura. Aus: Athanasius Kircher: Ars magna lucis umbrae, Rom 1646.
Camera obscura als Messinstrument der wissenschaftlichen Erkenntnis Und in der Tat verweist Kepler darauf, dass die Dunkelkammer auch der Prototyp eines Instruments der Beobachtung und Messung, also der Gewinnung von Erkenntnissen in der Astronomie ist. Sie wurde von ihm am Prager Observatorium wiederholt zur wissenschaftlichen Beobachtung von Sonnenfinsternissen eingesetzt: 49) Genau mit diesem Ritus (hui, auf die magische Art magisch!) hatten wir ein wenig früher, als ich mein Buch in Angriff nahm, die Sonnenfinsternis im Jahr 1605 […] beobachtet. Ihr, die ihr dabei wart, erinnert euch an den Gesandten von Pfalz-Neuburg. Auf dem Sonnenplatz des Lusthauses in den Gärten des Kaisers fehlte uns nämlich ein verdunkelter Raum. Deswegen verhüllten wir die Köpfe mit unseren Mänteln und schlossen so das Tageslicht aus.50 [Kommentar]
50 Kepler: Traum. Kommentar 49, S. 41. „49. Hoc ipso ritu (hui quàm magicà magico) observaveramus paulò prius, quàm libellum ego conciperem Eclipsin Solis, anno scilicet 1605 […]. Meministis qui interfuistis, Legati Palatini Neoburgici. In solario enim domus deliciariae in hortis Caesaris camerâ destituebamur obscurâ; quare pallijs obnubentes capita, ita diei lucem arcuimus.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 338).
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Die Camera obscura bildet den Prototyp eines Messinstruments:51 Durch sie wurde es möglich, dreidimensionale Raumwahrnehmungen in zweidimensionale Projektionen zu verwandeln. Sie bietet ein objektives Abbild der äußeren Realität, das auf die Wand projiziert wird. Damit wird das objektivierte Sehen vom einzelnen menschlichen Sehorgan entkoppelt. Denn diese Projektion ist nun für mehrere Menschen gleichzeitig nachvollziehbar. Es ist nicht die wörtliche oder zeichnerische Wiedergabe dessen, was ein Mensch durch ein Teleskop sieht, sondern es ist das Bild, das die Natur selbst zeichnet, bloß durch die Vermittlung eines Lichtstrahls. Damit ist das Kriterium der Intersubjektivität und Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Beobachtungen erfüllt. Durch die Projektion auf eine zweidimensionale Fläche ist die Einführung einer Messskala möglich, die bei der Beobachtung von Sonnenfinsternissen extrem wichtig ist: um den Parcours der Planeten im Vergleich zueinander so wie auch minimale Abweichungen, Verzögerungen usw. genau darzustellen. Die Euklidische Geometrie der Ebene bietet hierfür eine Skala für die Messung von Abständen und Winkeln.
Camera obscura – Vergleichbare Verfahren in der Wissenschaft und in der Narration Die performative Inszenierung der Camera Obscura macht auch die epistemologische Funktion der Narration deutlich. Sie plausibilisiert die Vergleichbarkeit der Verfahren zwischen Wissenschaft und Narration. Dieser Konnex ist nicht aus der zeitgenössischen Retrospektive hineinprojiziert, er wird vielmehr in der Semantik der Frühen Neuzeit mit reflektiert. Kepler selbst verwendet den Terminus narratio astronomica zum Beispiel im Titel seiner Schrift De Stella Incognita Cygni: Narratio Astronomica52 aus dem Jahr 1606. Die Camera Obscura markiert durch die Rahmung eine Trennung, die eine bestehende Welt in zwei teilt, in eine bekannte und eine entzogene. In der Wissenschaft entspricht dem die Isolierung eines Systems zum Zwecke der konzentrierten Beobachtung. Die so gespaltene Welt fokussiert die Aufmerksamkeit darauf, welches Wissen notwendig ist, um das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen und das neue Wissen zu objektivieren: ein legitimes wissenschaftliches Verfahren.
51 Ich bedanke mich an dieser Stelle bei Klaus Mecke, der die Dimensionen der Camera obscura als Messinstrument beschrieben hat. 52 Kepler, Johannes: De Stella Incognita Cygni: Narratio Astronomica, Pragae 1606.
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Somnium als narratives Gedankenexperiment Dem Akt der Fiktivierung, im Falle des Somnium die Fiktivierung einer allegorischen Reise zum Mond, entspricht in der Wissenschaft die explorative Phase der Forschung, in der Gegenhypothesen zum etablierten Wissen ausprobiert und Gedankenexperimente eingeführt werden, die die Variierung des Beobachterstandpunktes motivieren und herkömmliche Denkpositionen flexibilisieren: „Stellen Sie sich vor, dass…“; „Nehmen wir an, dass…“. Danach wird eine ganze hypothetische Erzählung ausgeführt, die auf ihre wissenschaftliche Plausibilität hin überprüft wird. Durch die neue Hypothese werden herkömmliche Denkpositionen neu konfiguriert, denn sie motiviert den Wechsel des Beobachterstandpunktes und das Einnehmen neuer Beobachtungsperspektiven. Für die astronomische Fragestellung im Somnium ist es die Übertragung des Beobachterstandpunktes auf den Mond und die Entwicklung der fiktiven Perspektive des Selenozentrismus. Die erweist sich als Fiktum, aber was als Fakt beobachtet werden soll, ist der Vorgang der Erd-Drehung – lateinisch volvere. 146) […] Was aber das tiefer verborgene Ziel dieser Geschichte angeht, so ergibt sich für uns eine hübsche Entgegnung. Alle schreien, die Bewegung der Sterne um die Erde und genauso die Unbewegtheit der Erde lägen offen vor Augen; ich entgegne, vor den Augen der Mondbewohner liege offen die Rotation unserer Erde, ihrer Volva, und ebenso die Unbewegtheit ihres Mondes. Wenn man nun sagt, die Mondsinne meiner Mondvölker würden getäuscht, erwidere ich mit gleichem Recht, die irdischen Sinne der Erdbewohner würden getäuscht, da sie bar der Vernunft seien.53 [Kommentar]
Das nutzt Kepler in der Diegese durch die ekphrastische Beschreibung der Perspektive der Mondbeobachter konsequent aus. Interessant sind hier seine neuen Begriffsprägungen: Die Mondbewohner werden nicht aufgrund ihres Standortes benannt, zum Beispiel als „Levanianer“, sondern aufgrund dessen, was sie vom Mond aus beobachten: die sich drehende Erde. Sie heißen „volven“, vom Lateinischen „volvere“, „sich drehen“. Dieser harmlose Trick dient einer anderen, folgenreicheren semantischen Umbesetzung, denn auch die Erde wird aus der Sicht der Mondbewohner umbenannt – in „volva“, die „sich drehende“. 89, 90) Es gefiel mir, die Erde, die wir Erdbewohner so nennen, aus der Vorstellung der Mondbewohner heraus Volva zu nennen. Wir nennen ja das nächtliche Leuchten von der weißlichen Farbe auf hebräisch Lebhana, […] auf griechisch Selene […], was weißlicher Glanz bedeutet, denn so erscheint der Mond uns, die wir auf der Erde weilen. 53 Kepler: Traum. Kommentar 146, S. 74. „Quantum verò attinet occultiorem illum scopum hujus fabulae, nascitur nobis amoena retorsio. Clamant omnes, oculis expositos esse motus siderum circa Terram, terrae quietem: regero ego, Oculis Lunarium expositam esse gyrationem nostrae Terrae, suae Volvae, quietem verò suae Lunae. Si dixerint, decipi Lunarium meorum populorum sensus Lunaticos: pari ego jure regero, decipi Terricolarum sensus terrestres ratione cassos.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 354).
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Dann ist es aber richtig, auch den Mondvölkern eine Benennung unserer Erde, die sie wie eine Art Mond wahrnehmen, zuzubilligen, die von der Erscheinungsform ihrer Gestalt abgeleitet ist. Ihnen erscheint aber diese Kugel am Himmel in ewiger Umdrehung […] Diese Umdrehung können sie aus der Abwechslung der Flecken erkennen, wie weiter unten erklärt wird. Aufgrund dieser Umdrehung also soll sie Volva genannt werden [von lat. volvere, umwälzen] 54. [Kommentar]
Die Erde wird in der Logik dieser Neusemantisierung konsequenterweise auch mit dem Erdmond analogisiert: Je nach Bewegung und Position heißt sie „NeuVolva“ und „Voll-Volva“ für die Mondbewohner, analog zum „Neumond“55 und „Vollmond“ aus Erdperspektive. Auch die Kartographie des Mondes ist mit direktem Bezug auf die der Erde angelegt, der Mond-Äquator heißt „medivolvanischer Kreis“56. Das, worauf der Text hier abzielt, ist die Rekonfiguration des geozentrischen Weltbildes durch die semantische Umbesetzung der Termini, die vor dem Hintergrund des heliozentrischen Weltmodells geprägt werden. Deshalb ist die Umbenennung der Erde in der Diegese nicht nur ein harmloser rhetorischer Trick, sondern von epistemologischer Relevanz. Sie führt zur Rekonzeptualisierung der Erde, das heißt zu ihrer Stellarisierung. Durch die Besetzung mit der heliozentrischen Semantik zielt der Text auf eine kognitive Rekonzeptualisierung der Art und Weise, in der die Leser ihre Wirklichkeiten, das heißt Weltmodelle und Weltbilder, konstruieren. Die Mondbewohner werden eingeteilt in die „subvolven“57, die die Erddrehung sehen, und „privolven“58, die sie nicht sehen können, weil sie auf der erdabgewandten Seite des Mondes leben. 54 Kepler: Traum, S. 52. Hinzufügung in eckigen Klammern im Original. „Quam nos Terram appellamus, Telluris incolae: eam ex imaginatione populorum Lunarium libuit appellare Volvam. Quemadmodum enim nobis nocturnum Luminare Hebraicè Lebhana dicitur à colore albicante, et dialecto Hetrusca (ex Punica, vt puto, derivatâ) Luna; Graecè Selene […], quod albicantum nitorem significat; quippè nobis in terra versantibus talis apparet: sic etiam populis Lunaribus, appallationem nostrae Telluris, quam illi loco alicujus Luna evident, ab apparitionis specie derivatam, tribui par est. Apparet verò ijs globus iste in coelo, perpetuâ cum volutione circa suum axem immobilem, cujus volutionis indicium desumere illis licet à macularum varietate, vt infrà dicetur. A volvendo igitur Volva dicatur, et Subvolvae vel Subvolvani, qui vident Volvam: Privolvae, qui sunt privati conspectu Volvae.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 343). 55 Kepler: Traum, S. 20. 56 Ebd. 57 Kepler: Traum, S. 18. „Über die Hemisphäre der Subvolven.“ „Carent conspectu Lunae, intellige tanquam inter sidera currentis. Nam cum eam inhabitent, vt jam finigimus: sic eam vident, vt nos nostram Terram.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 349). 58 Kepler: Traum, S. 17. „Über die Hemisphäre der Privolven.“ „Tarditas est à constitutione Lunae Apogaeo; et Privolvarum medij habent noctis medium eo tempore, quo nobis terricolis plenilunium videtur. Si ergò coeunt Luna plena et Apogaeum; Privolvis et nox culmulatè longa;
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Die angenehmste Betrachtung aller Leute in Levania ist die ihrer Volva, deren Anblick sie in gleichem Maß genießen wie wir den unseres Mondes. Der125 ist ihnen, wie auch besonders den Privolven, vollständig versagt. Und nach der beständigen Gegenwart der Volva heißt diese Hemisphäre die subvolvene, der andere nach der Abwesenheit der Volva die privolvene, weil sie des Anblicks der Volva beraubt sind.59
Die allegorische Ekphrasis hat hier zugleich eine epistemologische Funktion, denn somit werden Mondbewohner für die Leser als allegorische Konstrukte zum Zwecke der Heuristik der Narration entlarvt. Die Teilung und die entsprechende Fokalisierung der Perspektiven zwischen Erd- und Mondbewohner ist nötig, um alternative Beobachterstandpunkte plausibel zu machen. Sie wird in der Diegese konsequent durchgehalten. In der Metadiegese hingegen spricht die gleiche Stimme mal von „Mondbewohnern“,60 mal von „Volven“61. Hier vermischen sich die Begriffsprägungen der Diegese und der Metadiegese und auch die Beobachterperspektiven. Das hat seinen Grund, denn nach der Dekontextualisierung, womit die Befreiung des menschlichen Blicks von der begrenzten räumlichen Erdperspektive und die Verlagerung auf den Mond gemeint ist, ist der nächste wissenschaftliche Schritt die Entkontextualisierung zum Zwecke der Objektivierung.62 Nachdem sich beide Hypothesen – die geozentrische wie die selenozentrische – als falsch erweisen, müsste man eine übergeordnete Beobachtungsperspektive zweiter Ordnung einnehmen, von der aus man die Naturgesetze formulieren kann, ohne dass sie von Kontext oder Beobachterstandpunkt abhängig
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sin nova in apogaeo fit; Privolvis dies nocti magis aequantur, causis contrarijs se mutuò perimentibus.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 348). Kepler: Traum, S. 18. „Quam nos Terram appellamus, Telluris incolae: eam ex imaginatione populorum Lunarium libuit appellare Vovam. Quemadmodum enim nobis nocturnum Luminare Herbraicè Lebhana dictur […] sic etiam populis Lunaribus, appellationem nostrae Telluris, quam illi loco alicujus Lunae vident, ab apparitionis specie derivatam, tribui par est. Apparet verò ijs globus iste in coelo, perpetuâ cum voltutione circa suum axem immobilem, cujus volutionis indicium desumere illis licet à macularum varietate, vt infrà dicetur. A volvendo igitur Volva dicatur, et Subvolvave vel Subvolvani, qui vident Volvam: Privolvae, qui sunt privati conspect.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari. S. 343). Kepler: Traum. Kommentar 89, 90, S. 52. Kepler: Traum. Kommentar 89, 90, S. 52. Zur Methode der Entkontextualisierung in der Physik vgl. Klaus Mecke: „Narrated Nature. A Narratology of Physics“, in: Aura Heydenreich und Klaus Mecke (Hrsg.): Physics and Literature. Theory – Populrazation – Aestheticization, Berlin/New York, erscheint 2017. Für weitere wichtige Erläuterungen zur Vergleichbarkeit der Verfahren in den Erkenntnisprozessen der Physik bzw. der Literatur- und Literaturwissenschaft vgl. Klaus Mecke: „Narratives in Physics. Quantitative Metaphors and FORMULA ∈ tropes“, in: Hermann Blume (Hg.): Narrated Communities and Narrated Realities. Erzählen als Erkenntnisprozess und kulturelle Praxis, Amsterdam 2015, S. 31ff. Und: Ders. „Zahl und Erzählung. Metaphern in Erkenntnisprozessen der Physik“, in: Aura Heydenreich und Klaus Mecke (Hg.): Quarks and Letters. Naturwissenschaften in der Literatur und Kultur der Gegenwart, Berlin 2015.
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sind. Aus der methodisch komplexen Vorgehensweise der Beobachtung, Messung, mathematischen Modellierung und Formalisierung resultieren die Keplerschen Gesetze, die für jeden Standpunkt und für jeden Kontext gleichermaßen gelten. Die Analogie zwischen Erde und Mond ist keine Trope, sondern ein Fakt. Die wissenschaftlichen Beobachtungen entsprechen den semantischen Umfunktionierungen. Erde und Mond sind beide Himmelskörper, die eine Eigendrehung vollziehen und sich zudem gemeinsam um die Sonne drehen. Das zielt auf die Erdbewohner ab, die den Traum lesen werden und zum Umdenken („revolvere“) angeregt werden sollen. 146) Die Erdkugel dreht sich auch im Tagesverlauf einmal um ihre Achse. Diese Bewegung der Erde bietet sich den Augen der Mondbewohner dar, und sie haben keinerlei ersichtlichen Grund zu der Vermutung, dass sich nicht die Kugel der Volva um ihre Achse dreht, sondern vielmehr die ganze Welt (woran bei uns die Volksmeinung festhält), und dass mit ihr auch ihr eigener Wohnsitz, der Mond, um die Volva kreist und dabei alle Seiten ihrer Kugel nach und nach betrachtet, obwohl das tatsächlich wahr ist. […] Auch den Mondbewohnern bezeugt also der Augenschein, dass ihre Volva um die eigene Achse rotiert. Mag sie hier ihr Augenschein täuschen, oder mag er völlig gewisse Erkenntnis vermitteln, fest steht: Welche der beiden Möglichkeiten du auch wählen magst, der Augenschein bietet ganz gewiss ein Zeugnis dafür, dass die Mondbewohner – wenn es denn welche gibt – von der Rotation der Volva überzeugt sein müssen. Was zu beweisen war.63 [Kommentar]
Das ist Keplers ethische Perspektive auf den Himmel. Dank Keplers Erzählverfahren bleibt das kopernikanische Weltmodell in den Texttraditionen eingebettet. Die Wissenschaft kehrt aber die Deutungen der Texttraditionen um. Kepler betont in seinem Kommentar stets die imitatio veterum als barocke konventionelle Methode der poetischen Textproduktion. Jedoch lässt der Text ein ganz anderes Argumentationsziel erkennen: das der imitatio naturae, der Beschreibung der Naturphänomene aufgrund von Naturbeobachtungen. So eröffnet der Traum auch den doppelten Boden der allegorischen Auslegungstradition durch seine problematische Relation zwischen Fakt und Fiktion. Denn die Darstellung im Traum ist von der physischen Präsenz des Träumenden entkoppelt, so dass der Dargestellte im Traum einen ontologisch wie epistemologisch indifferenten Beobachterstandpunkt einnimmt. Dieser Beobachterstandpunkt im Traum erlaubt die spielerische Verteidigung des Kopernikanismus unter dem Schutzmantel der Fiktion, die als Raum des symbolischen Probehandelns angenommen wird. 63 Kepler: Traum. Kommentar 146, S. 73f. „Terrae globus etiam volvitur diurno spacio semel circa suum axem. Hic Tel […] luris motus est expositus oculis Lunicolarum: nec est vlla ipsis obvia causa suspicandi; quasi non ipse Volvae orbis circa suum axem tornetur […] pari ego jure regero, decipi Terricolarum sensus terrestres ratione cassos.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 354).
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Die Camera obscura ist also nicht nur ein komplexerer Schnittpunkt der Wissens- und Darstellungsdiskurse, sondern auch der Überschneidungspunkt unterschiedlicher Lesarten. Sie wird zwar in Form eines magischen Ritus eingeführt, doch der Kommentar weist auf das genaue Gegenteil hin. Dort wird sie als Beobachtungs- und Messinstrument der Objektivierung, der Sicherung von Erkenntnissen in der Astronomie evoziert. Kepler führt zudem, wie bereits gezeigt, mit der Darstellung des poetischen und des astronomischen Einsatzes der Camera Obscura vergleichbare Beobachtungs- und Darstellungsverfahren in der Praxis der beiden Diskurse vor. Doch es wird noch zu zeigen sein, dass sie auch als experimentelle performative Darstellungsanordnung inszeniert wird. Dies entspricht einer metanarrativen Reflexion des Schreibprozesses. Zugleich kann man aus ihrer Darstellungsanordnung eine wichtige Leseanleitung für den Text ableiten. Liest man die weiteren Ausführungen Keplers in seinem Kommentar zur performativen Experimentalanordnung, die er zu epistemischen Zwecken inszeniert, dann lässt sich diese Lesart dreifach belegen. Es geht nämlich um eine dreifache Umkehrung: die Umkehrung des Schriftbildes, die Umkehrung der Leserichtung und die Umkehrung des Weltbildes.
Camera obscura als narratives epistemisches Verfahren 44, 46, 47) Sobald ich die Vorbereitungen getroffen hatte, rief ich die Zuschauer. Das waren meine Zeremonien, meine Riten. Wollt ihr auch Zauber-Zeichen? Auf eine schwarze Tafel schrieb ich mit Kreide, was mir für die Zuschauer passend schien, in Großbuchstaben in umgekehrter Reihenfolge (Sieh da, der magische Ritus!), so wie die Juden schreiben.64 [Kommentar]
Zwei Botschaften transportiert dieser Beschreibungsausschnitt der performativen Experimentalanordnung. Erstens die metanarrative Reflexion des Schreibprozesses: Epistemologischer Ausgangspunkt des Somnium ist sein Ende, der wissenschaftliche Kommentar, der das kopernikanische Weltmodell in seiner wissenschaftlichen Kohärenz vorstellt. Den Hinweis dafür, dass sich dieser Text vom Ende her schreibt, ist der auf die hebräische Schreibweise, von rechts nach links. Diese Lesart lässt sich auch mit anderen Befunden im Text belegen. Denn der Himmelskörper, dem die imaginäre Reise galt, heißt Levania, die hebräische Bezeichnung für den Mond. Der Dämon wiederum, der den Leser mit wissenschaftlichen Erklärungen auf der imaginären Reise gleichsam als Cicerone führt, 64 Kepler: Traum. Kommentar 44, 46, 47, S. 40. [Ergänzung in Klammer im Original] [Kursivierung durch AH] „44. 46. 47. […] Hae mihi ceremoniae, hi ritus; vultis et characteres? In tabella nigra, quae mihi videbantur apta spectatoribus, cretâ perscripsi, literis capitalibus, literarum figurâ retrò versa (en ritum magicum) ut Hebraica scribuntur .“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 338).
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ist der Dämon von Levania. Der Dämon von Levania ist die Erzählerstimme des Gedankenexperimentes, der die Leser des Textes zur Umkehrung ihrer mentalen Weltvorstellungen animiert. Das heißt nicht mehr und nicht weniger als: Zur Umdeutung der Art, wie sie Wirklichkeiten konstruieren und implizit, wie sie das Weltmodell, in Bezug auf das sie sich als Menschen selbst definieren, zu einem Weltbild konfigurieren. Natürlich ist damit also – zweitens – auch eine Leseanleitung verbunden. Die Andeutung der Schreibweise verpflichtet auch zu einer bestimmten Umkehrung der Leserichtung. Nach der hebräischen Leserichtung zu lesen bedeutet, die Erzählung des Dämons vom Ende her zu lesen und die wissenschaftlichen Fakten des Kommentars als Ausgangspunkt für die Interpretation zu betrachten. Was bewirkt das in der Rezeption? Auch dafür gibt Kepler Anweisungen, die in der Sekundärliteratur bisher noch nicht berücksichtigt wurden: „Diese Tafel hängte ich draußen im Tageslicht mit ihrer umgekehrten Reihenfolge der Buchstaben in die Sonne. Jetzt kommt’s: Was ich geschrieben habe, das erschien umgekehrt auf der weißbespannten Wand, in richtiger Reihenfolge, und wenn ein Windhauch draußen die Tafel bewegte, gerieten die Buchstaben drinnen an der Wand in entsprechend flatternde Bewegung.“65 [Kommentar]
Die Camera obscura ist das optische Verfahren der Rahmung. Sie lässt vom realen Bild ein virtuelles projiziertes Bild entstehen. Dadurch ergeben sich zwei Beobachtungsperspektiven: die der Natur draußen und die des projizierten Bildes der Natur in der Dunkelkammer. Drei Dimensionen des projizierten Bildes der Camera obscura werden hier als Leseanleitungen geboten. Erstens die Richtung der Projektion des Bildes der Camera obscura: Von der äußeren Realität ins Innere – in den Text, der zu einem wichtigen Hilfselement zur Herausbildung des mentalen Konstrukts eines neuen Weltmodells ist. Zweitens wird mit der spiegelverkehrten Darstellung des Bildes die Umkehrung der Schreibweise und der Leserichtung suggeriert. Es geht also um ein re-writing und re-reading der vorhandenen wissenschaftlichen und kulturellen Schrifttradition. Drittens wird mit dem invertierten Bild, das auf die weiße Wand projiziert wird, die Umkehrung des Weltmodells suggeriert. Der Beobachter in der Kammer beschreibt das virtuell konstruierte Bild als optisches Artefakt. Zwischen dem Innen und dem Außen vollzieht sich die translatio, die in der geometrischen Optik durch das Loch in der Dunkelkammer und durch den Lichtstrahl erfolgt. Die narrative Entsprechung des Lichtstrahls der Dunkelkammer ist die dichte Setzung von Endnoten, die den Lesefluss stö65 Kepler: Traum. Kommentar 44, 46, 47, S. 40f. „ […] hanc tabellam foris sub dio, situ literarum everso suspendi in Sole; ut ita quae scripseram, ea introrsum ad album parietem pingerentur situ erecto, et si tabellam ventulus agitaret foris, literae intus motu vago parietem reciprocarent.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 338).
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ren. Sie haben als Funktion die permanente Zerstörung der narrativen Illusion. Sie führen den Blick des Lesers stets nach außerhalb des Textes, zum Kommentar, zur wissenschaftlichen Information. Durch die Relationen, die sich über die Endnoten zwischen der Diegese und der Metadiegese ergeben, erwächst der Camera obscura die Funktion, das äußere Bild des Kommentars in die Diegese zu projizieren und die fiktionale Erzählung, die im Bewusstsein des ptolemäischen Weltbildes dargestellt wird, zu subvertieren. Analog zum Doppelbild der Camera obscura vollzieht sich die translatio, der Denktransfer, durch die Allegorie,66 die nicht nur einen doppelten Boden, sondern auch eine zweifache Tradition aufweist: Die Allegorie kann entweder aufgrund einer Analogie gebildet werden, die die Ähnlichkeit zweier Bereiche betont. Das trifft im Falle der Rekonzeptualisierung der Erde und des Mondes zu, die ab dem Zeitpunkt beide als Himmelskörper gelten sollten.67 Zum anderen kann sich der Funktionsmechanismus der Allegorie aufgrund der inversio, der Umkehrung des Gesagten durch das Gemeinte artikulieren. Diese doppelte Konzeptionsmöglichkeit der allegorischen Schreibweise wird in Keplers Text durch die Doppelung des Dunkelkammerbildes und durch die Umkehrung des Bildes besonders treffend illustriert. Kepler selbst verweist in seinem Kommentar, wiederum im allegorischen Duktus, auf den Scheideweg, der mit der Vorführung dieses DunkelkammerExperiments eröffnet werden sollte, und fügt hinzu, dass es bei diesem allegorischen Scheideweg besonders um die Beachtung der Grenzen gehe. Das interpretiere ich als den Verweis auf die Grenzüberschreitung zwischen dem sublunaren und dem supralunaren Bereich, eine Trennung, die Platon im Phaidon postuliert hatte.68 Das war eine der Grundannahmen des ptolemäischen Weltbilds, an denen sowohl Aristoteles als auch die gesamte mittelalterliche Scholastik als unhinterfragbares Postulat festhielten. Auch diese sollen nun aufgrund der performativen Vorführung des Gedankenexperiments vom Leser in seinem Umdenkprozess hinterfragt werden. 45) Diejenigen von meinen damaligen Zuschauern, die noch am Leben sind, werden erkennen, sobald sie es sich ins Gedächtnis gerufen haben, was das für ein Scheideweg in
66 Zu den allegorischen Lesarten des Somnium vgl. auch: Hallyn, Fernand: The poetic structure of the world. Copernicus and Kepler, New York/Cambridge, Mass. 1990; Paxson, James: „Kepler’s Allegory of Containment, the Making of Modern Astronomy, and the Semiotics of Mathematical Thought“, in: Intertexts 3 (1999), S. 105ff. Paxson, James: „Revisiting the Deconstruction of Narratology. Master Tropes of Narrative Embedding and Symmetry“, in: Style 35 (2001) H. 1, S. 126ff. 67 Artikel „Allegorie“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik (HWdRh). Bd. 1, hrsg. von Gert Ueding, Tübingen 1992. 68 Plato: „Phaidon“, in: Werke. Bd. 1.4, hrsg. von Ernst Heitsch u. Carl Werner Müller, Übersetzung und Kommentar von Theodor Ebert, Göttingen 2004, S. 75.
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meiner Wohnung war. Ein Scheideweg im zugrundeliegenden Himmelsschema, und zwar in doppelter Hinsicht […] Auf diesen Schwanz muss der Astronom achten, um zu wissen, wann der Mond seine Grenzen erreicht. Damals war er an seiner südlichen Grenze am Ende des Stiers. Diese Position des Mondes lädt die Astronomen dazu ein, die Weite der Grenzen zu beobachten.69 [Kommentar]
Die Interpretationsanweisung ist deutlich: Das „höhere Wissen“ für die Allegorese bezieht sich nicht mehr auf die Exegese der Heiligen Schrift, sondern auf die genaue, intensive Beobachtung der Natur, der Positionen des Mondes und der anderen Konstellationen, und der mathematischen Modellierung von Naturgesetzen. Insofern bildet das optische Darstellungsverfahren der Camera obscura einen Schnittpunkt zwischen Beobachtung, Wissen und Darstellung im erkenntniskritischen, wissenschaftsgeschichtlichen und medienhistorischen Kontext.70 Im literarischen Text als Beobachtungsanordnung zweiter Ordnung kann Kepler diese Versuchsanordnung des vergleichenden Sehens performativ inszenieren. Durch die narrative Darstellungsanordnung, die durch die Camera obscura unterstützt wird, kann der Leser beobachten, wie die Ptolemäer beobachten und was sie dabei nicht sehen; er soll die Lehre der wissenschaftlichen Beobachtung demonstriert bekommen. So steht Keplers Somnium auch in der langen Tradition des platonischen Höhlengleichnisses, das vor allem aus erkenntnistheoretischer Perspektive gelesen wurde. Jedoch gibt es im platonischen Grundlagentext der Epistemologie ein zeitabhängiges Nacheinander der Wahrnehmung von Innen und Außen. Da die Beobachter nicht gleichzeitig innen und außen sein können, ist dazwischen die Zeit gegeben, um das Innen mit dem Außen abzugleichen und in ihren Konsequenzen zu bedenken. Durch die literarische Experimentalanordnung des Keplerschen Textes ist jedoch die Simultaneität der Innen- und Außenperspektive gewährleistet: So kann der Leser beobachten, wie man mit der Camera obscura beobachtet und was man dabei nicht sehen kann. In der Realität gibt es diesen unabhängigen, de69 Kepler: Traum. Kommentar 45, S. 41 „qui supersunt ex dictis meis spectatoribus, videbunt, vbi, quodnam id bivium fuerit, in habitatione mea recollegerint animis. At hic jam Astronomicum intelligitur bivium in schemate coelesti supposito, […] seu cauda Draconis, quae tunc erat in fine Aquarij; ad quam respiciendum est Astronomo, ut sciat, quando Luna sit in limitibus; vti quidem tunc erat in Austrino limite, in fine Tauri; qui situs Lunae invitat Astronomos ad observandam latitudinem limitum.“ (Kepler: Somnium seu opus posthumum de astronomia lunari, S. 338). 70 Zur Camera obscura als poetologische Medientechnologie vgl. auch Schmitz-Emans, Monika: „Optische Künste und Simulacren. Die Poetisierung optischer Reproduktionstechniken in Erzählungen über künstliche Menschenschöpfungen“, in: Das Unsichtbare sehen. Bildzauber, optische Medien und Literatur, hrsg. von Sabine Haupt u. Ulrich Stadler, Zürich, Wien 2006, S. 213ff., hier S. 214.
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kontextualisierten Beobachtungsstandpunkt nicht, denn man kann als realer Beobachter nicht gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Dunkelkammer stehen. Doch in Keplers Text, der als Versuchsanordnung zweiter Ordnung konzipiert ist, wird der Leser dazu angeregt, die Beobachtungsprozesse des Innen und des Außen simultan zu denken, in all ihren Widersprüchen. Denn zwar teilt die Camera obscura durch die Rahmung der Dunkelkammer das Innen vom Außen und schafft zwei ontologische Ebenen, die der Diegese und der Metadiegese. Sie bietet zwar eine Rahmung, um den Beobachtungsgegenstand zu isolieren, dennoch sprengt sie diesen Rahmen zugleich durch den Lichtstrahl, der die Figur der Metalepse symbolisiert, die Durchbrechung der Grenzen der erzählontologischen Ebenen. Zudem entlarvt sich die Rahmung auch deshalb als künstliche, weil im Innern das von außen projizierte Bild entsteht, das vom Lichtstrahl aufgrund der objektiven Naturgesetze der Optik transportiert wurde. Das ist eine entscheidende Umkehrung der Aussage des Höhlengleichnisses, denn der Blick konzentriert sich auf die äußeren Erscheinungen der Natur und nicht auf die innere Welt der Ideen. Durch die Camera obscura gelingt die Objektivierung des Sehens.
Die Differenzierung zwischen imago und pictura Zwar wurde der Projektionsmechanismus der Camera obscura von Kepler selbst als Analogie genutzt, um die Abbildung menschlicher Wahrnehmungen auf der Netzhaut und damit den Funktionsmechanismus des Auges zu beschreiben. Dennoch sieht Kepler entscheidende Unterschiede zwischen den Funktionen und Leistungen des Bildes, das im menschlichen Auge entsteht, und des Bildes, das durch die Camera obscura erstellt wird, und zwar genau im Hinblick auf die Objektivierung des wissenschaftlichen Sehens. So führte Kepler in seiner Ad vittelionem paralipomena die folgenreiche Unterscheidung zwischen imago und pictura ein. Die imago ist das Bild, das durch das menschliche Auge wahrgenommen wird und der menschlichen Physiologie und Psychologie zuzuschreiben ist. Deshalb kann es durchaus fehlerhaft sein: „die imago ist die Gesichtswahrnehmung eines Gegenstandes, aber mit irrtümlichen durch das Sehen bedingten Eigenschaften.“ Hingegen ist die pictura das Bild, das durch Lichtstrahlen transportiert wird, „das man z. B. mit einer Lochkamera, Sammellinse oder einem Hohlspiegel erzeugen kann“.71 Es ist ein durch geometrische Optik projiziertes Bild und somit das „wahre wissenschaftliche“ Bild in der Auffassung Keplers, weil es ungetrübt von den Fehlleis71 Kepler, Johannes: Schriften zur Optik 1604–1611, Frankfurt 2008, S. 27.
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tungen des menschlichen Auges ist und deshalb reproduzierbare Messungen ermöglicht, die das Bild objektivieren. So kommt es zu einer Neugewichtung des Verhältnisses zwischen Auge und optischem Apparat. Das Auge ist nicht mehr das alleinige Organ der wissenschaftlichen Beobachtung, es wird vielmehr zum epistemischen Problem aufgrund seiner Anfälligkeit für Fehler, optische Täuschungen und Illusionen. Seitdem misstraut der wissenschaftliche Blick den natürlichen Sinnen und konstituiert sich vielmehr über die Errichtung von Experimentalsystemen der methodisch kontrollierten Beobachtung.72 Dies geschieht vor dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen, die um 1600 herum Beobachtungs- und Erkenntnismodi als kognitive und soziale Praktiken treffen und die Metamorphosen des Sehens als historische Konstruktion prägen. Es gibt zu diesem Zeitpunkt, nach der Einführung des Teleskops, eine große Debatte um die Objektivierung der Beobachtung zwischen dem Auge als physiologischem Organ, das fehlerbehaftet ist, und dem Teleskop und der Camera obscura als optischen Instrumenten mit je eigenen Vor- und Nachteilen. Das Teleskop vergrößert zwar das Bild, doch wie lässt sich das Bild, das es erzeugt, objektivieren und intersubjektiv wahrnehmen? Das Sehen als kulturelle Praxis konstituiert sich also in wechselseitigem Bezug auf physiologisches Körperwissen, philosophisch-anthropologische Argumentationsfiguren, optische Wahrnehmungsverfahren und ästhetische Darstellungstechniken73. Zusammenfassend hat die Camera obscura die Funktion, das Bild einzurahmen, den Bildausschnitt von seinem Kontext zu trennen, den Beobachter zu isolieren, die Konzentration zu garantieren, das Sehen zu fokussieren. Wie Jonathan Crary gezeigt hat, löst sich damit das Sehen vom Körper und wird vom Standort und von den physiologischen Spezifika des Betrachters dekontextualisiert.74 Dieser Paradigmenwechsel war Kepler wichtig, hat er doch die Trennung als erster theoretisch postuliert und dann in innovativer Form narrativ inszeniert. Diese wichtige Diskussion, die noch bis heute gilt, hat Kepler durch seine intensive Beschäftigung mit der Physiologie des Auges und durch die wissenschaftliche Untersuchung der optischen Naturgesetze, die dem Projektionsbild der Camera obscura unterliegen, mit angestoßen. Aus all diesen Gründen konnte 72 Böhme, Hartmut: „Die Metaphysik der Erscheinungen. Teleskop und Mikroskop bei Goethe, Leeuwenhoek und Hooke“, in: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne, hrsg. von Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig, Berlin/New York 2003 (= Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert), S. 359ff., hier S. 366. 73 Köhnen, Ralph: Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens, Paderborn 2009, S. 15. 74 Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden u. a. 1996; bzw. Ders.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002.
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die Camera obscura zum „grundlegenden Modell der Wissensproduktion“ erklärt werden.75
Weltbild und Weltmodell: Palimpsestische Überlagerungen Zum Schluss des Aufsatzes soll die Unterscheidung Keplers zwischen pictura und imago mit der Unterscheidung Blumenbergs zwischen Weltmodell und Weltbild korreliert werden. Die pictura steht für das durch die geometrische Optik der Camera obscura generierte Bild. Sie liegt der Generierung eines Weltmodells aufgrund kontrollierter methodischer wissenschaftlicher Verfahren zugrunde. Die imago könnte dann mit der Generierung des Weltbilds aus dem überlieferten Schrifttum korreliert werden, bzw. für die psychologisch-kognitive Syntheseleistung der Subjekte stehen. Im Zentrum der Dämon-Erzählung überlagern sich die beiden Bild-Traditionen palimpsestisch. Das Daimon-Narrativ ist der Kreuzungspunkt dieser konkurrierenden Diskurse, es entbirgt durch die palimpsestische Überlagerung eine vielschichtige Wahrheit, verkörpert aber auch zugleich die Gefährlichkeit dieser Wahrheit, ist es doch ein diskursiver Konnex, der herangezogen wird, um die Neuordnung des Kosmos zu plausibilisieren. Der Text verfolgt keine Paradigmenwechselrhetorik, sondern präsentiert ein vielschichtiges palimpsestisches Bild, in dem Weltbilder und Weltmodelle miteinander überlagert werden und sich zugleich gegenseitig bedingen. Doch man sieht in diesem Text auch deutlich, wie sich die Ganzheit, die Totalität der Integration von Weltbild und Weltmodell aufzulösen beginnt. Die Narration hat hier eine entscheidende Funktion: Sie führt die Notwendigkeit der Loslösung vor. Sie demonstriert, dass es zunächst einmal methodisch unerlässlich ist, das Diskursregister des Weltbildes von dem des Weltmodells zu unterscheiden, um ihre jeweiligen Argumentationsmuster aufzuzeigen. Doch sodann folgt in einem nächsten Schritt auch die kritische Problematisierung dieser Trennung. Die Literatur als transdiskursives Medium führt diese Problematisierung vor: Diesmal nicht mehr als integratives Synthese-Modell, sondern um unterschiedliche Argumentationsmuster anzuführen, die man für die jeweilige Konstruktion von Weltmodellen bzw. Weltbildern in ihrer je eigenen Berechtigung ernst nehmen und berücksichtigen muss: mathematische Astronomie (Kopernikus), ex75 Ihde, Don: „Die Kunst kommt der Wissenschaft zuvor oder Provozierte die Camera obscura die Entwicklung der modernen Wissenschaften?“, in: Instrumente in Kunst und Wissenschaft: zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jahrhundert, hrsg. von H. Schramm, L. Schwarte u. J. Lazardzig, Berlin 2006, S. 417ff., hier S. 425.
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perimentelle Beobachtung (Brahe), Optik (Camera obscura), Experimentalphysik (Galilei), Philosophie, antike Literatur (Cicero, Plutarch), Theologie in ihren verschiedenen konfessionellen Ausprägungen und eben auch Astrologie (Girolamo della Porta) und die sogenannten magischen Praktiken. Der literarische Text führt dieses Wechselwirkungsfeld unterschiedlicher „Kräfte“ nicht nur vor, sondern er ist es per se! Sowohl der Traum als auch das Sehen und die diversen Bilder vom Mond erweisen sich als historische Konstruktionen, die aus den je gültigen wissenschaftlichen Beschreibungskonventionen hervorgehen. Sie sind semiotische Konstrukte, denen man Bedeutungen zuschreiben kann, je nachdem, wie und mit welchem Vorwissen man auf sie blickt: Aus der Perspektive der aristotelischen Antike, der christlich-augustinischen Tradition, aus der Perspektive der indigenen Religionen jenseits des Christentums oder aus der der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Astronomie. Durch die dichte Rahmung und durch den wissenschaftlich-philologischen Kommentar macht Kepler deutlich, dass frühere Theorien ihre Erklärungsfunktion erfüllt haben. Auch die kulturellen Texttraditionen, in denen sie eingebettet waren, haben ihre integrative wie kritische Funktion auf legitime Weise erfüllt. Nur müssen diese von Zeit zu Zeit angesichts neuer Erkenntnisse umfunktioniert werden. Der Text zeigt die Gratwanderung in der Zuschreibung von Faktum und Fiktum, und dass diese keine essentialistischen, sondern relationale Größen sind. Wissenschaft und Literatur haben in ihrem Verbund gleichermaßen die Funktion, Wissen interdiskursiv zu konstellieren, neue Unterscheidungen zu treffen und neue Welten dicht zu beschreiben, das heißt, mit Nelson Goodman, Welten zu erzeugen. Daraus ergibt sich die doppelte Codierung der Fiktion. Erkenntnistheoretisch ist sie defizitär: Eine Fiktion allein beweist nichts. Denkpragmatisch aber ist sie wichtig, denn sie erlaubt, Vorstellungen von den Dingen zu ordnen und nicht die Dinge selbst. Sie ermöglicht die Rekonfiguration bisheriger Diskurstraditionen und die Konstruktion neuer mentaler Modelle. Sie ermöglicht und organisiert nicht nur Erkenntnisdiskurse, sondern sie gewährt auch einen epistemischen Zugang zu den generierten Weltvorstellungen und sie führt Eigenschaften dieser generierten Weltvorstellungen vor: durch Exemplifikation.76
76 Elgin, Catherine Z.: „Making Manifest. The Role of Exemplification in Science and the Arts“, in: Principia: An International Journal of Epistemology 15 (2011), H. 3, S. 399ff.
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Schlussbemerkung Dieser Aufsatz konzentrierte sich auf den Nachweis der profunden Wechselwirkungen zwischen dem naturphilosophischen und dem literarischen Diskurs in der Vermittlung des doppelten Übergangs: von dem alten ptolemäischen Paradigma, in dem Weltmodell und Weltbild eine integrative Einheit bildeten, zum kopernikanischen Paradigma, in dem Weltmodell und Weltbild sich gleichsam beide neu durchsetzen, aber nicht mehr bedingungslos aufeinander projizierbar sind. In der Weise, wie sie voneinander divergieren und sich gegenseitig in Frage stellen, werden Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen dem naturphilosophischen und dem literarischen Diskurs manifest. Als Möglichkeiten der Erkenntnis, Darstellung und Repräsentation von Weltmodellen und Weltbildern sind beide Diskurse aufeinander angewiesen. Mehr als das: Sie setzen vergleichbare Verfahren der Darstellung, Repräsentation, Verbreitung und Objektivierung ein, die jeweils aus dem einen Diskurs in den anderen überführt werden. Ausgehend von dieser vergleichbaren Basis von wissenschaftlichen und narrativ-rhetorischen Verfahren wurde deutlich, dass es zwischen Literatur und Naturwissenschaft kein Verhältnis der Indifferenz, sondern eines der kontinuierlichen rekursiven Rückkoppelung gibt. Ideen, Konzepte und Verfahren beider Bereiche wechselwirken miteinander und werden im jeweiligen Expertendiskurs methodisch abgesichert. Es gibt einen kontinuierlichen Prozess des Re-Writing zwischen der literarischen und naturphilosophischen (zu Zeiten Keplers), später der naturwissenschaftlichen diskursiven Praxis, deren gemeinsames Ziel die Bewältigung der Komplexität ist. So stellt sich die Frage, ob die Dichotomie, die ab Galilei und Kepler zwischen formaler, mathematisierter Naturwissenschaft und der Imaginationskraft künstlerisch-literarischer Erzeugnisse nicht eher eine aus der Retrospektive konstruierte Rezeptionsperspektive ist, die zur gegenseitigen Profilierung und Legitimierung der Kulturen diente. Man müsste sich fragen: Wem dient diese rhetorische Aufrüstung der Konstruktion von Antipoden? Und was alles ging dabei verloren? Durs Grünbein selbst hatte mit seinem Essay Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen77 daran fortgeschrieben. An seinem Gedichtband Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond wird deutlich, dass er sich von seiner früheren Position distanziert.78 77 Grünbein, Durs: „Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen“, in: Ders.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995, Frankfurt am Main 1996, S. 89ff. 78 Vgl. zu dieser Einschätzung den Dialog mit Durs Grünbein: „Librationen: Durs Grünbein im Dialog zu ‚Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond‘ und ‚Vom Schnee oder Descartes in Deutschland‘“, in: Heydenreich, Aura u. Mecke, Klaus (Hrsg): Physik und Poetik. Produkti-
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Auch Keplers Somnium zeichnet ein völlig anderes Bild. Er argumentiert nicht platt antipodisch gegen die Tradition, sondern versucht – stark intertextuell in ihr verwurzelt – für das neue Weltbild zu argumentieren. Seine komplexe Rahmung wird nicht nur aufgebaut, weil das Ausgesprochene gefährlich ist, sondern auch, um unterschiedliche Diskursregister heranzuziehen. Seine Anmerkungen sind ein Palimpsest von Querverweisen auf Plutarch, Cicero, Lukian, Quintilian, Dante, Girolamo della Porta, Tycho Brahe, Copernicus, Galilei usw. Sie zeigen, dass Mathematiker, Philosophen, Literaten und Astronomen mit je eigenen diskursiven und mathematischen Mitteln an einem gemeinsamen Projekt der Bewältigung von Komplexität arbeiten.
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Harald Lesch / Harald Zaun
Homo spaciens = Science-Fiction²? Die Evolution des Science-Fiction-Genres und der Traum vom Homo spaciens
I.
Anmerkungen zum SF-Genre
a)
Historische Wurzeln – SF-ähnliche Schriften bis H. G. Wells Wer nicht Unerwartetes erwartet, wird das Unerwartete nicht finden. (Heraklit, griech. Philosoph, um 540–480 v. Chr.)
Sich in Gedanken verlieren, ohne dabei den Gedanken zu verlieren, sich an die Grenze des Undenkbaren wagen, die Realität für einen Moment verlassen und dabei das Spekulative bis zum Letzten ausreizen – diese Hohe Schule der transzendentalen Reflexion und geistigen Fokussierung auf ein bestimmtes Problem beherrschten die Vordenker der Antike, vornehmlich die griechischen Gelehrten, die ionischen Naturphilosophen und Kosmologen von Milet par excellence. Beflügelten das mediterrane Klima – die sonnen- und damit lichtreiche Umgebung, der kristallklare Blick zu den Sternen – oder ein kreativ-geistiger Urknall deren intellektuelle Weitsicht? Oder war es schlichtweg ein geografisch-historischer Zufall, dass sich bereits vor mehr als 2000 Jahren die ersten Menschen1 gedanklich mit außerirdischen Lebensformen und fremden, intelligenten Kulturen auseinandersetzten und diesen Gedankenfluss gottlob nicht dem Strom der Zeit anvertrauten, sondern auf Papyrus verewigten, so wie dies der griechische Philosoph Metrodorus von Chios (5.–4. Jh. v. Chr.) tat: „Die Erde als einzig bewohnte Welt im unendlichen Weltraum zu betrachten, ist so absurd wie die Behauptung, in einem ganzen Hirsefeld wüchse nur ein einziges Korn.“2 Dass Metrodorus und die anderen geistigen Vorväter der Exobiologie – von Platon über Lukrez bis hin zu Augustinus – damals völlig ohne Instrumentarium allein durch die Kraft ihres Geistes ferne Welten mitsamt deren Bewohnern 1 Eine übersichtliche Zusammenfassung hierzu bei: Buedeler, Werner: Geschichte der Raumfahrt, Künzelsau 1979, S. 41ff. 2 Zitiert nach: Drake, Frank/Sobel, Dava: Signale von anderen Welten. Die wissenschaftliche Suche nach außerirdischer Intelligenz, München 1998, S. 23.
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Harald Lesch / Harald Zaun
erkundeten und dabei nach den aperoi kosmoi („unzählig vielen Welten“) bzw. plures mundi („vielen Welten“) Ausschau hielten, also genau das abstrahierten, was heutige Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autoren wenigstens vom Ansatz her auf literarische und filmische Weise zu konkretisieren versuchen, stellt eine für die damalige Zeit bemerkenswerte intellektuelle Leistung dar. Von hoher Vorstellungs- und Einbildungskraft beseelt, schlugen die Erfinder der wissenschaftlichen Methode – unbeeinflusst von der Willkür der Götter3 – mit solchen Ideen, die ihrer Zeit weit voraus gewesen waren, erstmals eine Brücke zwischen „theoretischer“ Science und Fiction, ohne dabei natürlich auch nur im Ansatz Science-Fiction zu betreiben. Doch dank ihrer Gabe, Weitblick mit Fantasie zu paaren, antizipierten sie augenscheinlich vieles, was wir heute als wissenschaftliche Grundwahrheiten schätzen. Hat nicht beispielsweise der griechische Philosoph Aristarchos von Samos (310–230 v. Chr.) schon viele Jahrhunderte vor Nikolaus Kopernikus (1473–1543) erstmals an den Festen des geozentrischen Weltbildes gerüttelt und als Erster das heliozentrische Modell postuliert? Waren nicht die beiden Denker Leukippos aus Milet (um 450–370 v. Chr.) und Demokrit (um 460–370 v. Chr.) quellenmäßig nachweislich die ersten Menschen, die behaupteten, dass die Welt aus leerem Raum und kleinen, unsichtbaren, ewigen und unzerstörbaren Teilchen besteht, die sich jeweils in Form, Gestalt und Größe voneinander unterscheiden? 4 Und wies nicht der Weltentstehungsentwurf des ionischen Philosophen Anaximander (610–545 v. Chr.) urknall-ähnliche Züge auf ? Denn Anaximander zufolge war die Welt aus einem zeugungsträchtigen Keim des Heißen und Kalten – und zwar durch „Abtrennung“ entstanden. Für den Vorsokratiker stand anstelle der sagenhaften Götter am Anfang allen Seins das Ápeiron: „das Grenzenlose“, auf das später eine Art „Explosion“ folgte, aus der sich alle Himmelskörper bildeten. Diese Sicht auf den Beginn der Welt erinnert stark an das Big-Bang-Modell, demzufolge das uns bekannte Universum irgendwann zu keinem bestimmten Zeitpunkt und irgendwo an keinem bestimmten Ort, als Zeit und Raum noch nicht definiert waren, aus einem unendlich heißen, unendlich dichten Anfangszustand („Anfangssingularität“) von unvorstellbar hoher Energiedichte und Temperatur entsprang.
3 Walter, Ulrich: Zivilisationen im All. Sind wir allein im Universum?, Heidelberg/Berlin 1999, S. 3. 4 Beide Philosophen glaubten, dass Atome (griechisches Wort „atomos“ = „das Unteilbare“) aus dem gleichen „Stoff“ gemacht sind und sich untereinander verbinden können. Ein guter Überblick über die Anfänge des atomistischen Grundgedankens in der Antike bei: Röd, Wolfgang: „Die Philosophie der Antike I – Von Thales bis Demokrit“, in: Geschichte der Philosophie, Bd. I., hrsg. v. Wolfgang Röd, München 21988, S. 192ff.
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Es ist dieser intellektuellen Weitsicht zu verdanken, dass – kausal gesehen – die antiken Philosophen und Schriftsteller, allen voran Homer5, mit derlei weitreichenden Gedanken einen wichtigen Grundstein für das Aufkommen der utopischen und fantastischen Literatur legten. Nicht zuletzt deshalb, weil die Grundfesten ihres Gedankenmodells aus Fantasie und Fiktion bestanden. Bereits ihre Nachfolger, die griechischen Denker der Spätantike, festigten dieses Fundament mit weitaus konkreteren Spekulationen, in denen erstmals die Außerirdischen selbst im Mittelpunkt standen. So fantasierte der griechische Historiker und Priester Plutarch (46–120 n. Chr.) in seinem Buch „De facie in orbe lunae“ („Vom Gesicht in der Mondscheibe“) nicht nur über das Aussehen der von ihm dort vermuteten Mondbewohner, sondern gab ihnen auch erstmals einen Namen („Seleniten“). Mit seinem Werk versuchte der Anhänger der platonischen Philosophie, die Flecken der Mondscheibe auf naturwissenschaftliche Weise zu erklären.6 Inspiriert von Plutarchs Opus, griff der griechische Satiriker Lukian von Samosate (120–180 n. Chr.) einige Zeit später diese Idee auf, entwickelte sie weiter und legte mit seinem fantastischen Roman „Vera historia“ („Wahre Geschichte“) sogar den streng genommen ersten, gleichwohl nicht naturwissenschaftlich orientierten Raumfahrtroman vor. In ihm berichtet Lukian von einer Schiffsreise zum Mond, auf dem seine Helden eher zufällig stranden, um dort menschlichen Fabelwesen zu begegnen, die auf geflügelten dreiköpfigen geierartigen Pferden reiten und eine ausgesprochen kriegerische Ader haben. Ohne die antiken Autoren, insbesondere ohne Platons „Politea“, das klassische antike Beispiel einer utopischen Geschichte, in der ein fiktiver Entwurf eines vollendeten Staates und einer idealen Gesellschaft gezeichnet wird,7 wäre die von Sir Thomas Morus (1478–1535) im Jahr 1516 erschienene Erzählung „Utopia“ kaum denkbar gewesen. Diese gilt auch heute noch als ein Musterbeispiel für eine im Gewand einer utopischen Schrift versteckte Anklage gesellschaftspolitischer Missstände. Unter dem Eindruck dieser und anderer Abhandlungen schrieb schließlich der deutsche Astronom Johannes Kepler (1571–1630) mehr als 100 Jahre später als erster Wissenschaftler der Neuzeit einen mit Science-Fictionähnlichen Grundelementen bestückten Roman. Kepler, der selbst stark unter dem Einfluss der antiken Autoren stand – er übersetzte die von dem Griechen Lukian stammende Schrift „Vera historia“ ins Lateinische –, erzählt in seinem 5 Isaac Asimovs Ansicht nach wirken auch Homers Epen wie Science-Fiction. Siehe Isaac Asimov über Science Fiction, in: Science–Fiction–Special, Bd. 24 048, Berlin 1981, S. 225f.; Der phantastische Reiseroman ist eine der ältesten Literaturformen überhaupt. Vgl. Lexikon der Science-Fiction Literatur, Bd. 1, Heyne-Buch Nr. 7111, hrsg. v. Hans-Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn, Wolfgang Jeschke, München 1980, S. 17. 6 Vgl. Plutarch: Das Mondgesicht, Zürich 1968. 7 Ditfurth, Hoimar v.: „Reise zu den Sternen. Sinn und Unsinn der Science-Fiction“, in: Das Erbe des Neanderthalers. Weltbild zwischen Wissenschaft und Glaube, Köln 1992, S. 14.
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Werk „Somnium, seu opus posthumum de astronomia lunari“8 („Traum oder postumes Werk über die Astronomie des Mondes“) von einer fiktiven Reise zum Mond. In dem erst 1634 von seinem Sohn Ludwig postum veröffentlichten Werk, in dem „im Kern“ moderne SF geschildert wird,9 schickte Kepler seine Hauptfigur „in Ermangelung irgendeines rationalen Antriebssystems“10 erwartungsgemäß nicht mit einem Raumschiff, sondern auf traumwandlerische Weise zum Erdtrabanten. Sein Held träumt sich gewissermaßen zum Mond, um dort fantastische Dinge zu erleben – wie unter anderem die Begegnung mit lunaren schlangenartigen Höhlenbewohnern. Weit über den Mond hinaus und tiefer ins All als je zuvor entführte der bekannte französische Philosoph und Schriftsteller Voltaire (1694–1778) seine Leser mit seiner fantastischen Geschichte „Mikromegas“. Auch wenn in der genannten Publikation keine wissenschaftlich-technischen Elemente vorhanden sind, sehen einige SF-Kenner in der 1756 erschienenen Schrift den ersten modernen Science-Fiction-Roman. Mikromegas, so die Hauptfigur der Geschichte, ist ein kolossaler Außerirdischer von 40 Kilometer Größe, der bis zu zehn Millionen Jahre alt werden kann. Als er seine Heimatwelt, einen Planeten im Sternsystem Sirius, verlässt und das Sonnensystem besucht, landet er zuerst auf dem Gasplaneten Saturn. Hier begegnet er primitiven Lebensformen, die „nur“ 15.000 Jahre leben, bis er schließlich einen Abstecher zur Erde macht und noch seltsamere Lebewesen kennenlernt. Die für das SF-Genre wichtigste Zäsur vollzog sich aber erst im 19. Jahrhundert, als die fantastische Literatur quasi als Reaktion auf die Aufklärung und Industrialisierung mit Büchern wie „Frankenstein“ (Mary Shelley, 1818) oder „The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (Robert Louis Stevenson, 1886) den Fortschritt in Technik und Wissenschaft gezielt abwertete, bisweilen auch glossierte. Fortan waren die Protagonisten und Helden in diesen Romanen nicht mehr die Verfechter einer besseren Welt, sondern vielmehr auf der Flucht vor selbiger. Bezogen sich die früheren utopisch-fantastischen Geschichten nicht auf Gesellschaften, die durch technologischen Fortschritt verändert werden,11 so spiegelte sich seit dem 19. Jahrhundert aufgrund der Explosion naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Erkenntnisse und deren erfolgreicher Umsetzung in Technologie der Zeitgeist dieser Ära in der gesamten Literatur auf verschiedenen 8 Buedeler, Werner: A.a.0., S. 66f.; vgl. Lukian: Zum Mond und darüber hinaus, Zürich 1967. 9 Lombardi, Anna Maria: „Johannes Kepler. Einsichten in die himmlische Harmonie“, in: Spektrum der Wissenschaft, Biografie, hrsg. v Enrico Bellone, 4/2000, S. 97. Sagan, Carl: Unser Kosmos. Eine Reise durch das Weltall, München 1980, S. 77f. 10 Walter, Ulrich: A.a.0., S. 25. 11 „… das ist das Markenzeichen der echten Science-Fiction“. So Isaac Asimov über ScienceFiction, in: Science–Fiction–Special, a. a. O., S. 226.
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Ebenen wider: am stärksten aber im fantastischen Bereich. Es war damals – im Zeitalter der Kolonisierung – wohl so, wie es der H. G. Wells-Biograf Ernst Schenkel12 beschrieb: „Das 19. Jahrhundert ist das erste, das die Raumreise durch Zeitreisen ergänzt, vielleicht weil es eng wurde auf der bekannten Kartographie.“ Den entscheidenden Schritt in Richtung Science-Fiction machte der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe (1809–1849): Er ebnete den Weg für das SF-Genre, indem er seine Erzählungen mit wissenschaftlichen, abenteuerlichen und spekulativen Elementen ausschmückte, um ein spannendes Zukunftsszenario mit einer Tendenz zum Übernatürlichen zu entwerfen. Wie viele seiner Kollegen stand auch Poe ganz unter dem Eindruck des wissenschaftlichen Impetus und technischen Fortschritts seiner Epoche. Je stärker Wissenschaft und Technologie das damalige Leben der Menschen beeinflusste, desto intensiver beschäftigten sich Poe und seine Zeitgenossen mit deren positiven und negativen Auswirkungen auf die menschliche Existenz. Zwei Protagonisten, die dies fast zeitgleich auf unterschiedliche Weise umsetzten, waren Jules Verne (1828–1905) und Herbert George Wells (1866–1946). Zusammen mit Poe vermischten sie als Begründer der „Scientific Romances“ wissenschaftliche Aspekte mit prophetischen Visionen, wobei jeder auf seine Weise nahezu die gesamte Themenskala des späteren Science-Fiction-Genres andeutete und SF-Elemente wie Raumfahrt, Invasion aus dem All, Übermenschen und Zeitreisen reflektierte.13 Während der Optimist Verne in seinen Werken eine positive technische Welt projizierte, in denen Menschen mit wundersamen Maschinen den Mond, die Erde und den Ozean erforschten, dabei aber immer mit einem Fuß auf dem Boden der Tatsachen blieben,14 fokussierte sich der Essayist, Literaturkritiker und Wissenschaftsjournalist Wells indes weniger auf den technischen Aspekt als vielmehr auf die Reaktion des Menschen auf das Fantastische und malte die Zukunft der Menschheit eher in dunklen Farben: als Albtraum-Szenarium. „Die ‚warnende‘ Funktion dieser Romane wurde nur selten erkannt und dann häufig als unrealistisch abgelehnt, weil sie den Kritikern als zu pessimistisch erschien“, konstatiert der Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Schulz.15 Einerseits unterhaltend, andererseits technisch und gesellschaftskritisch akzentuiert, entwickelte Wells schlichtweg alle fundamentalen Plots des Science-Fiction-Genres. Obgleich Vernes 1865 ersonnene Reise zum Mond16 die „erste Weltraumfahrt der 12 Schenkel, Elmar: H. G. Wells. Der Prophet im Labyrinth. Eine essayistische Erkundung, München 2004, S. 82. 13 Schulz, Hans–Joachim: „Science-Fiction“, in: Sammlung Metzler, Realien zur Literatur, Bd. 226, Stuttgart 1986, S. 10. 14 „Er blieb immer mit einem Fuß fest auf dem Strand, während er vorsichtig einen großen Zeh in den Ozean steckte …“, Asimov, a. a. O., S. 239. 15 Schulz, Hans–Joachim: „Science-Fiction“, a. a. O., S. 16. 16 Verne, Jules: De la terre à la lune, o.O. 1865.
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SF“ war, die einen Schimmer von High-Tech vermittelte,17 und obwohl er der erste echte professionelle SF-Autor war,18 verbinden viele SF-Kenner mit dem Beginn der modernen Science-Fiction-Epoche in erster Linie den Namen H. G. Wells. Und dies völlig zu Recht, schließlich lag keiner mit seinen Vorahnungen und Prognosen so oft richtig wie Wells. Wenn Jules Verne seiner Zeit voraus gewesen ist, dann ist H. G. Wells der erste wahre Entdecker der Zukunft.
b)
Definition und ihre Definitoren
Science-Fiction – beinahe hat es den Anschein, als zielte dieses aus der Feder des US- Publizisten und Herausgebers der „Amazing Stories“, Hugo Gernsbach, 1929 entsprungene Kunstwort19 nur darauf ab, ein inzwischen in TV, Funk, Film und Literatur populäres Genre durch bewusste Abstraktion zu mystifizieren. Selbst der belesenste Experte dieser ursprünglich aus der utopisch-fantastischen Literatur entsprungenen Gattung muss immer wieder von neuem Berge von Büchern abtragen, um im Flach- und Hochland des SF und auf trivialer bis distinguierter Ebene nicht den Durch- und Überblick zu verlieren. Es mag beeindrucken, wie viele Subgenres diese Literaturform im Laufe der Jahre hervorgebracht hat. Auffallend ist, wie viele klassische Autoren und auch Naturwissenschaftler sich in diesem Kosmos bewegen. Ob in den SF-Untergattungen Planetary Romance, Science Fantasy, Space Opera oder Horror-SF – jeder Geschmack wird auf verschiedenen Niveaus bedient. Dass dennoch das breite Publikum, eventuell auch das Gros der Verleger beim Klang der Wortkombination Science-Fiction assoziativ an Raumschiffe, Planeten, außerirdische Lebewesen und Endzeitszenarien, an die Apokalypse respektive an Armageddon denkt,20 liegt in der Natur dieses Begriffes. Denn was Science-Fiction letzten Endes wirklich ist oder auch nicht, hängt offenbar vom subjektiven Ermessen des jeweiligen Betrachters ab. „Es gibt wahrscheinlich so viele Definitionen der Science-Fiction wie Definitoren“, konstatierte einmal der Grandseigneur dieser Literaturform, Isaac Asimov. Dass Asimov den Kern des Problems richtig herausschälte, zeigt das reichhaltige Schrifttum, in dem das Wortpaar Science-Fiction bislang zu Genüge erklärt und 17 Disch, Thomas M.: „Von der Erde zum Mond – in hundertundeinem Jahr. Wie Science– Fiction den Weltraum eroberte und wieder verlor“, in: Das Science-Fiction Jahr 2004, hrsg. v. Sascha Mamczak u. Wolfgang Jeschke, München 2004, S. 44. 18 „…der damit seinen Lebensunterhalt verdient“. Isaac Asimov über Science-Fiction, in: Science–Fiction–Special, Bd. 24 / 048, Berlin 1981, S. 229. 19 Näheres zur Ethymologie des Science-Fiction-Begriffes bei: Wuckel, Dieter/Cassiday, Bruce: The Illustrated History of Science-Fiction, Leipzig 1989, S. 102ff. 20 Disch, Thomas M.: „Von der Erde zum Mond – in hundertundeinem Jahr. Wie ScienceFiction den Weltraum eroberte und wieder verlor“, in: Das Science-Fiction Jahr 2004, hrsg. v. Sascha Mamczak u. Wolfgang Jeschke, München 204, S. 43.
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verklärt, manchmal aber auch mit gelungenen Metaphern etikettiert wurde. „In einem Science-Fiction-Werk dient die Wissenschaft nicht allein der Verschönerung. Sie ist vielmehr der Zauberstab, der die Erzählung auf eine höhere Ebene bringt“, schwärmt der französische SF-Autor Jean-Claude Dunyach. Kurz und knapp, aber nicht minder treffend, präzisierte Stephen Hawking diesen Sachverhalt: „Die Verbindung zwischen Science-Fiction und Wissenschaft führt in beide Richtungen. Die von der SF präsentierten Ideen gehen ab und zu in die wissenschaftliche Theorie ein. Und manchmal bringt die Wissenschaft Konzepte hervor, die noch seltsamer sind als die exotischste Science-Fiction“.21 Während der Blick in den altbewährten Brockhaus lehrt, dass Science-Fiction ein „Sammelbegriff für den breit gestreuten Bereich der Literatur ist, der sich v. a. seit dem Ende des 19. Jh. infolge des Interesses an technisch-wissenschaftlichen Aspekten aus der utopischen und fantastischen Literatur herausbildete und sich als Darstellung zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse etablierte“,22 sind sich die zeitgenössischen SF-Protagonisten immerhin in einem Punkt einig: Diese Literaturform zielt nicht allein darauf ab, die Zukunft auf irgendeine Weise vorherzusagen – egal, ob dies technische Entwicklungen oder gesellschaftliche Strukturen betrifft. Science-Fiction-Autoren verstehen sich nicht als Propheten. Wenn in Romane oder Filme neuartige Technologien einfließen, dann geschieht dies meist aus dramaturgischen Gründen, um eine Handlung voranzutreiben, zu erweitern, zu mystifizieren oder zu vereinfachen. Trotz aller Fantasie muss es aber mit Blick auf den Terminus technicus „Science-Fiction“ gestattet sein, die Bedeutung des Wortes Science hervorzuheben. Mögen wir im deutschsprachigen Raum diese Vokabel gemeinhin lapidar mit „Wissenschaft“ übersetzen, so verstehen Angloamerikaner hierunter ausschließlich Naturwissenschaft. Ergo muss Science-Fiction, will sie einen wissenschaftlich realistischen Blick in die Zukunft ermöglichen, wenigstens ein Mindestmaß an Erkenntnissen gegenwärtiger Wissenschaft reflektieren. Es sollte ein Dialog zwischen Science und Fiction bestehen, wie der SF-Schriftsteller Charles Sheffield fordert. „Zwischen Science-Fiction und Science Fact sollte es einen ständigen Ideenaustausch geben.“ Bleibt dieser aus, verkommt ScienceFiction schnell zu Science-Fiction², gewissermaßen zu einer Art Quadrat-Fiction, in der sich die Handlung zu weit von den auf wissenschaftlichen Daten beruhenden Extrapolationen entfernt. Beispiele von fantasy- und horrorlastigen SFFilmen oder Büchern, die ihre Leser und Zuschauer jenseits aller Wissenschaft in eine Traumwelt entführen, gibt es ja bekanntlich en masse. 21 Zitiert nach: So Neuhold, Uwe: „Noch Science – oder nur noch Fiktion? Die Technologien der Space Opera“, in: Das Science-Fiction Jahr 2004, a. a. O., S. 183. 22 Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim 191993, Bd. 20, S. 5.
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Die Macht der Bilder
Die Bandbreite von Science-Fiction-Geschichten reicht von den hoffnungsvollsten Visionen für die Zukunft der Menschheit bis hin zu den grauenhaftesten Befürchtungen eines apokalyptischen Untergangs unserer Spezies. Somit ist diese Literaturgattung ein sensibler Sensor wissenschaftlichen Fortschritts und menschlicher Ängste, aber auch ein Indikator menschlicher Träume: SF soll die Träume von einer besseren Zukunft bedienen. In Filmen, Fernsehserien und Romanen reflektiert Science-Fiction den jeweils aktuellen Zeitgeist. Zugleich ist sie aber auch ein Forum, in dem die ewigen Fragen der Menschheit und somit auch deren Rolle im Kosmos aufgeworfen werden. In den letzten Jahrzehnten sind die Inhalte vieler SF-Romane vor allem als Filme oder Fernsehserien bekannt geworden. „Science-Fiction ist nicht nur eine Literatur der Ideen, sondern auch der Bilder“, präzisierte es einmal der SFKenner Patrick Gyger.23 Dank der bildlichen Darstellung, den immer besser werdenden Special Effects, hat das Interesse für diese Unterhaltungssparte sukzessive zugenommen. In allen Variationen und Facetten feiern Science-Fiction-Filme große Erfolge – heute mehr denn je. Gigantische, imposante, kilometerlange Raumschiffe, die sich bereits zu Filmbeginn im schallfreien Vakuum mit lautem Getöse gemächlich über die Kinoleinwand schleppen, versetzen den Zuschauer sofort in die „Welt da draußen“. Zumindest in den Weltenräumen des Science-Fiction-Genres hat der Homo spaciens längst Fuß gefasst und ist bereits dorthin vorgedrungen, wo im besten Star Trek’schen Sinne noch kein Mensch zuvor gewesen war. Die Macht der Bilder und die Kraft der Akustik (Sensorround) faszinieren den Zuschauer (und Zuhörer) anscheinend mehr als die Lektüre anspruchsvoller Bücher à la „Starmaker“ von Olaf Stapledon.24 Gesellen sich dann auch noch möglichst exotische außerirdische Lebewesen hinzu, ist der Zuschauer schon mittendrin im farbenprächtigen und bilderreichen Science-Fiction-Kosmos. Dabei kommen die meisten Kinohits in der Regel mit geballter Actionkraft lautstark daher. Subtilere Spielfilme wie etwa „2001 – Odyssee im Weltraum“ – der selbst wie ein Monolith aus dem cineastischen „flachen“ Einerlei herausragt – fesseln den Zuschauer mit anderen Qualitäten. Sie orientieren sich stärker an „Science“, stärker an das im Rahmen der physikalischen Gesetze technisch Machbaren. Sie geben dem Handlungsrahmen mehr Raum und Zeit. Und sie geben den Bildern eine größere Entfaltungsmöglichkeit, sodass sie am Ende für 23 Gyger, Patrick: „Überlegungen zu den Ideen und Bildern der Science-Fiction“, in: Innovative Technologien aus der Science–Fiction für weltraumtechnische Anwendungen, hsrg. v. ESA Publications Division, September 2002, S. 7f. 24 Stapledon, Olaf: Der Sternenmacher, München 1969.
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sich allein sprechen können. Kubricks „2001“-Meisterwerk, das auf Arthur C. Clarkes 1951 geschriebener elfseitiger Kurzgeschichte „The Sentinel“ („Der Wächter“) basiert, steht exemplarisch für diesen Anspruch. Dass sich der Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ auf eine Reihe von Schlüsselsymbolen reduzieren lässt,25 zeigt sich schon zu Anfang des Streifens. Fortlaufende Bilder, die nur mit Musik untermalt sind, zeigen eine urzeitliche Affenhand, die den glatten schwarzen Monolith berührt und einige Szenen weiter den Weltraumhandschuh eines Astronauten, der das Gebilde auf ähnliche Weise touchiert. Nicht zu vergessen den berühmten symbolischen Schnitt von dem hochgeschleuderten Knochen auf das knochenförmig aussehende ebenfalls rotierende Raumschiff. So gesehen sind laufende Bilder heutzutage der wichtigste Katalysator, um Science-Fiction-Geschichten zu transportieren und zu verbreiten. Wohl deshalb assoziieren viele mit diesem Unterhaltungssektor automatisch all das, was auch verfilmt wurde – leider. Denn wenn das Visualisierte über das Geschriebene siegt, bleiben Fantasie und Imaginationskraft des Rezipienten auf der Strecke. Dies ist umso bedauerlicher, weil uns die echten, wahren Klassiker, die besten ScienceFiction-Geschichten, nicht in bewegten Bildern, sondern immer noch in Buchform begegnen.
II.
Zwischen Wunschdenken und Metaphysik
a)
Wenn Science wegmaterialisiert wird. Das Problem mit dem Beamen und der Zeitreise „Nichts Unwirkliches existiert.“ (Kir-kin-thas Gesetz der Metaphysik) Star Trek IV – Zurück in die Gegenwart
Im faszinierenden, keineswegs trivialen und dank zahlreicher außerirdischer Lebensformen höchst lebendigen Star-Trek-Universum reisen Erdlinge und Aliens wie selbstverständlich überlichtschnell durch Raum und Zeit, ja bisweilen sogar als Zeitreisende quer durch die vierte Dimension. Oft jedoch bewegen sie sich als reiner Materiestrom von Punkt A nach Punkt B. Heute hat sich dieser mit dem aus dem Englischen übernommenen Begriff „Beamen“ umschriebene Vorgang sogar umgangssprachlich als kaum mehr wegzudenkender Anglizismus etabliert. Doch so schön und praktisch der Beam-Vorgang auch immer sein mag – sein Realitätsfaktor ist gleich null. Nichts, aber auch gar nichts spricht dafür, dass dieser einmal in ferner Zukunft zum gängigen Transportmittel reifen könnte. 25 Baxter, Stephen: „Vorwort“, in: 2001: Odyssee im Weltraum. Der Roman zum Film. Überarbeitete Neuausgabe, München 2001, S. 11.
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Gewiss, die Vorstellung, sich in Sekundenschnelle über Tausende von Kilometern von einem Punkt zum anderen zu bewegen, ohne sich dabei selbst zu bewegen, ist ohne Frage sehr reizvoll. Auch wenn der erste Materietransmitter bereits 1958 in dem Film „The Fly“ („Die Fliege“) von Kurt Neumann nach einer Erzählung von George Langelaan beschrieben wurde, so ist doch die Erfindung des Beamens unweigerlich mit dem Namen des geistigen Vaters und Produzenten von Star Trek, Gene Roddenberry (1921–1991), verknüpft. Roddenberry war es, der den Star-Trek’schen Transportstrahl aus pragmatischen Gründen neben der Wells’schen Zeitmaschine bzw. überlichtschnellen Raumfahrt zur populärsten technischen Innovation und zum zugleich spektakulärsten Fortbewegungsmittel im Science-Fiction-Genre erhob. Angesichts des Problems, dass jede im Studio inszenierte Raumschifflandung nur unter großem logistischen, tricktechnischen und finanziellen Aufwand realisierbar war, entschied sich Roddenberry für den bequemsten, filmtechnisch billigsten und zugleich futuristischsten Weg. Was Roddenberry dabei in die Science-Fiction-Welt setzte, klingt vom Prinzip her einfach26 und logisch: Stellen Sie sich vor, Sie sind an Bord der alten Enterprise und betreten den Transporterraum. Nachdem ein Techniker die Zielkoordinaten in das Transportersystem einprogrammiert hat, nehmen Molekularbild-Scanner das Quantenauflösungsmuster Ihres ganzen Körpers auf und leiten jegliche Information als Echtzeit-Abbild weiter. „Das Objekt wird in einen subatomar unverbundenen Materiestrom umgewandelt (…). Wenn alles nach Plan geht, verlässt dieser Transporterstrahl das Schiff über eine der TransporterEmitterphalanxen, die den Materiestrom, eingeschlossen in einen ringförmigen Eindämmungsstrahl, zum Zielpunkt des Transports senden“, so EnterpriseChefingenieur Montgomery Scott („Scotty“). Sie würden also in Ihre einzelnen Bestandteile zerlegt, bevor diese per (oder mit annähernd) Lichtgeschwindigkeit durch den Raum zum Zielort bis zu einer Reichweite von bis zu 40.000 Kilometern gelotst und dort wieder molekülgerecht und punktgenau zusammensetzt werden. Dies alles schmerzlos, schnell, also ohne nennenswerten Zeitverlust – und unfallfrei, versteht sich. Um aber mit einem Beam-Manöver von Punkt A nach Punkt B zu gelangen, müssen schier unglaublich viele physikalische Gesetze überlistet werden. Man denke nur an das Heisenberg’sche Unbestimmtheitsprinzip („Unschärferelation“), wonach eine gleichzeitige Bestimmung von Position und Geschwindigkeit eines Partikels unmöglich ist. Aber genau diese beiden Informationen brauchen die Star-Trek-Quantenphysiker für einen fachgemäßen Scan. Schließlich muss jedes Partikel informationsgerecht verpackt werden. Ginge bei Ihrem Transport nur ein Atom Ihres Körpers verloren oder rematerialisierte auch nur eines davon 26 Zeilinger, Anton: Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik, München 2003, S. 122.
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beim Landemanöver an einer falschen Stelle, wären die Folgen verheerend. Denn nur wenn die Position jedes einzelnen Atoms punktgenau mitsamt den drei notwendigen Koordinaten (x, y und z) gespeichert ist und wenn jedes energetische Niveau eines Elektrons sowie die Eigenschaften eines jeden Moleküls en détail berücksichtigt wurde, lassen sich alle Partikel wieder an die richtigen Stellen des zu generierenden Körpers platzieren. Doch selbst der zurzeit schnellste und leistungsstärkste irdische Computer wäre nicht in der Lage, jedem einzelnen Atom ein entsprechendes Bit zuzuordnen – und umgekehrt. Gemäß dem Moor’schen Gesetz, dem zufolge sich die Rechnerleistung alle anderthalb Jahre verdoppelt, wären frühestens die Elektronengehirne des 23. Jahrhunderts einer solchen Mammutaufgabe qualitativ und quantitativ gewachsen. Wenigstens würde dies mit der Zeitskala von Star Trek annährend korrespondieren. Andererseits wäre die zu bewältigende Informationsmenge schlichtweg zu groß. Immerhin reden wir hier von 1028 Atomen, die zu speichern und zu befördern wären, also einer Zehn mit sage und schreibe 28 Nullen. Wie immens hoch dieser Datenberg ist, zeigt folgender Vergleich: Angenommen Sie speicherten alle erforderlichen Daten für Ihre Teleportation auf einer zehn Zentimeter dicken Festplatte von zehn Gigabyte und legten diese übereinander, dann ergäbe sich rein rechnerisch ein Stapel von Festplatten, der 10.000 Lichtjahre ins All reichen würde.27 „Es wäre einfacher, zu laufen“, meint hierzu der Quantencomputerexperte Samuel Braunstein von der englischen Universität in York lapidar. Aber selbst ein einsatzbereiter ausgereifter Quantencomputer wäre noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn bei einer Transformation von Materie in Energie würden unter Berücksichtigung der bekanntesten Formel Einsteins E = mc² ungeheure Kräfte freigesetzt, die zu bändigen wären. Bereits bei 50 Kilogramm Materie erhielten wir das energetische Äquivalent von 1000 Wasserstoffbomben, die eine Sprengkraft von jeweils einer Megatonne hätten. Zweifelsohne dürften derartige Transformationen alles andere als sicher und umweltfreundlich sein28, zumal auch Unmengen von Energie nötig sind, um den Beam-Vorgang überhaupt in Gang zu setzen. So oder so müssten auch die zwischen den Atomen herrschenden elektrischen Kräfte irgendwie überlistet werden, ganz zu schweigen von den Bindungsenergien in den Atomkernen, die bekanntlich millionenfach stärker sind als diejenigen von Elektronen. Falls der Entmaterialisierungsvorgang es zudem erforderte, bis auf die Ebene der Protonen, Neutronen oder gar den Quarks zu gehen, wäre alles noch viel verzwickter. Und von Strings & Co. wollen wir hier erst gar nicht reden … 27 Krauss, Lawrence M.: Die Physik von Star Trek, München 1997, S. 92. 28 Ebd., S. 85.
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Gewiss, die Gesetze der klassischen Physik erlauben durchaus die Teleportation, wie der Quantenphysiker Anton Zeilinger unterstreicht.29 Aber gesetzt den Fall, dass all diese im wahrsten Sinne des Wortes (sub-)elementaren Probleme irgendwie gelöst würden, bliebe da noch die unlösbare Aufgabe, die umgewandelte Materie auf annähernd Lichtgeschwindigkeit zu bringen. Es dürfte sich doch selbst im Star-Trek-Universum mittlerweile herumgesprochen haben, dass für die Beschleunigung von Materie auf 99,9 Prozent der Lichtgeschwindigkeit ein ungeheurer Energieaufwand vonnöten wäre. Lawrence Krauss, der sich eingehend mit der Physik von Star Trek beschäftigt hat, schätzt, dass allein eine einzige Transformation, den Transport und Materialisierung inbegriffen, 10.000mal mehr Energie verschlingen würde, als unser Planet mitsamt Bewohnern bisher verbraucht hat.30 Natürlich stellt sich hier auch noch eine ganz andere Frage: Kommt am Ende des ganzen Vorganges wirklich das Originalexemplar wieder zum Vorschein – und nicht etwa nur eine Kopie oder gar mehrere? Oder sind womöglich Kopie und Original nicht ein- und dasselbe? 31 Und berücksichtigt der „materielle“ Beam-Vorgang überhaupt Immaterielles? Wird jedes einzelne reproduzierte Atom des Körpers auch wirklich in seinem jeweiligen Zustand berücksichtigt, sodass eine vollkommen identische Person mit denselben Erinnerungen, Hoffnungen und Träumen des Originals dabei herauskommt? Was ist mit der rein geistigen Ebene? „Viele Religionen behaupten, dass die ‚Seele‘ nach dem Tod ‚weiterlebt‘. Was passiert mit ihr bei einem Transfer?“, fragt Lawrence M. Krauss wohl nicht zu Unrecht.32 Alles in allem bleibt die Erkenntnis, dass ausgerechnet eines der bekanntesten SF-Elemente, das Beamen, mit zu den extremsten Visionen dieses Genres zählt. Das Beamen „großer Objekte oder gar lebender Menschen“ wird auch „weiterhin reine Utopie bleiben“, konstatiert Anton Zeilinger nüchtern.33 Nicht zuletzt deshalb scheint in Bezug auf das Wort „Fiction“ eine exponentielle Aufwertung angebracht. Bezeichnen wir daher konsequentermaßen das Beamen, das fernab jeglicher „Science“, besser gesagt abseits des technisch Machbaren steht (wie die Zeitreise), nicht als nur Quadrat-Science-Fiction, sondern als Science-Fiction hoch drei (Science-Fiction3). Erfreuen wir uns aber dennoch daran, dass das vermeintlich Nichtmachbare wenigstens im fiktiven Star-Trek-Universum (meistens) wie am Schnürchen klappt. So fiktiv und fern jeglicher Realität das Beamen auch anmuten mag – die im Science-Fiction-Genre verklärte Zeitreise indes überbietet die futuristische Di29 30 31 32 33
Zeilinger, Anton: Einsteins Schleier, a. a. O., S. 123. So Krauss: A. a. O., S. 89. Vgl. hierzu Zeilinger, Einsteins Schleier, a. a. O., S. 125ff. Krauss: A. a. O., S. 83. Zeilinger, Anton: „Quanten-Teleportation“, in: Spektrum der Wissenschaft 6/2000, S. 30.
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mension solcher Überlegungen um Längen. Denn wenn die Autoren solcher Tagträume darum bemüht sind, den ewigen Getreuen der Zeit – den sich linear fortbewegenden, nimmer greifbaren Zeitpfeil – festzuhalten, ihn einzuholen oder seine Richtung zu verändern, begeben sie sich auf ein Terrain, das keinen realen Boden kennt. Bislang sind derlei Versuche nur in den Fantasiewelten der ScienceFiction-Autoren geglückt, auf belletristischer oder Sachbuchebene – oder in Hörund Computerspielen, Fernseh- oder Kinoproduktionen: sei es an Bord eines (annähernd) lichtschnellen oder gar überlichtschnellen Raumschiffes à la Enterprise oder auf höchst klassische Weise mit einer eigens dafür konstruierten Maschine wie in dem legendären Roman „Time Machine“ von H. G. Wells (1866– 1946). Genau zehn Jahre vor der Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie (1905), in der Albert Einstein die Zeit zur vierten Dimension erhob und zeitgleich von den Fesseln des Newton’schen Absolutheitsdiktats befreite, behandelte der englische Schriftsteller H. G. Wells in seinem inzwischen mehrfach verfilmten Klassiker den Faktor Zeit ebenfalls als selbstständige Dimension. „Es ist klar, dass jeder tatsächlich vorhandene Körper sich in vier Dimensionen ausdehnen muss: in Länge, Breite, Höhe und – in Dauer“, pointiert Wells’ Zeitreisender das entscheidende Charakteristikum der Zeit.34 Auch wenn Wells sich in seinem Roman in diesem Punkt nach Meinung des US-Astrophysikers Richard Gott III als „außerordentlich hellsichtig“ erwies,35 war er beileibe nicht der erste Mensch, der seinen Romanhelden durch die Zeit schickte. Bereits Mark Twain (1835–1910) thematisierte in seinem 1889 publizierten Buch „A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court“ die Zeitreise mit erzählerischen Mitteln, ohne allerdings – wie Wells – wissenschaftliche Erklärungsmuster voranzustellen. Auf welchem Wege sein Protagonist, der nach einem Streit durch den Schlag einer Eisenstange auf den Kopf eher zufällig in das England des 6. Jahrhunderts katapultiert wird und am Hof des legendären König Artus wieder erwacht, dorthin gelangt, bleibt nebulös.36 In seinem Buch, in dem Twain mit der romantischen Verklärung des Mittelalters und des Rittertums, die in seiner Epoche ungeahnte Höhen erreichte, hart zu Gericht ging, beschrieb er ebenso wenig die technischen Aspekte der Zeitreise wie Edward Bellamy (1850–1898) in seinem schon 1888 erschienenen Bestseller „Looking backward 2000–1887“.37 Freilich bewegt sich Bellamys Hauptfigur mit dem Strom der Zeit nach vorn und landet – wie Wells’ Held – in der Zukunft: allerdings in der Zukunft des Jahres 2000, wo eine friedliche, klassenlose Ge34 35 36 37
Wells, H. G.: Die Zeitmaschine, München 102004, S. 6. Gott III, Richard J.: Zeitreisen in Einsteins Universum, Hamburg 2002, S. 16. Twain, Mark: Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof, Zürich 2003. Dt. Fassung: Bellamy, Edward: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, Stuttgart 2001.
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sellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt sind, sozusagen im Schlaraffenland lebt. Heute wissen wir, dass es die Vision eines unverbesserlichen Optimisten war. Das Paradies ist nicht auf Mutter Erde zu finden. 15 Jahre nach der von Bellamy visionär vorweggenommenen Jahrtausendwende, 120 Jahre nach Wells’ „Time Machine“ und 110 Jahre nach Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins zählt die Zeitreise innerhalb der Science-Fiction-Gattung mit zu den derzeit populärsten und faszinierendsten Subgenres. Vormals noch vom Gros der Naturwissenschaftler als unseriöse Abart belächelt, ist das Spiel mit, um und über die Zeit heute in der Physik en vogue wie nie zuvor. Selbst seriöse Forscher wie Carl Sagan, Jim Al-Khalili, David Deutsch, Charles Bennett, Richard Gott, Stephen Hawking oder Michio Kaku wagten das Undenkbare und jonglierten gelegentlich rein gedanklich auf abstrakt-theoretischer Ebene mit der Zeit, wohl wissend, dass sich ihre Gedankenmodelle zwischen Spielerei und Spekulation bewegen. Wenn etwa der bekannte australische Physiker und Naturphilosoph Paul Davies seinen Bestseller „How to Build a Time Machine“38 nennt, spiegelt dies den aktuellen Zeitgeist innerhalb der Wissenschaft nur allzu deutlich wider, der auf Science-Fiction-Autoren eine doch so inspirierende Wirkung hat. „Heute sind Zeitreisen zu einer Spielwiese für theoretische Physiker geworden“, konstatiert der SF-Experte Uwe Neuhold nüchtern.39 Gefördert wurde dieser Spieltrieb vor allem in der letzten Dekade, als teilweise geistreiche, gleichwohl auch leicht esoterisch gefärbte Theorien und Strömungen die Physik überfluteten. Da war mal von Tachyonen, Multiversen, Parallelwelten, mal von Wurmlöchern, Superstrings, Warp-Antrieb oder eben von Zeitreisen die Rede, in denen das Großvaterparadoxon überwunden schien. Wer nämlich diesem Theorieansatz zufolge mit einer Zeitmaschine 100 Jahre zurück in die Vergangenheit flöge und seinen Großvater umbrächte, somit also die Voraussetzungen für sein späteres Dasein selbst zerstörte, bräuchte dank der Multiversum-Theorie mitsamt dessen Parallelwelten nicht mehr um seine Existenz bangen. Denn bei jeder Interaktion und Intervention des Zeitreisenden entstünde – so die Argumentation der Anhänger dieser Theorie – ein neues Universum: Die Zukunft des alten Kosmos bliebe ergo von jeder Handlung des Zeitreisenden unberührt. Seit Kip Thornes legendärem Artikel „Wormholes, Time Machines and the Weak Energy Condition“40 sind auch Raum- und Zeitreisen mit Hilfe von 38 Davies, Paul: How to Build a Time Machine, London 2001. 39 Neuhold, Uwe: „Noch Science – oder nur noch Fiktion? Die Technologien der Space Opera“, in: Das Science-Fiction Jahr 2004, München 2004, S. 257. 40 Morris, M.S./Thorne, K.S./Yurtsever, U.: „Wormholes, Times Machines and the Weak Energy Condition“, in: Physical Review Letters, Bd. 61, September 1988, S. 1446ff.
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Wurmlöchern in der Science-Fiction salonfähig. Einer der ersten, der seine Heldin zwecks intergalaktischer Völkerverständigung via Wurmlöcher durch Raum und Zeit schickte, war der US-Physiker Carl Sagan. Er konsultierte Thorne und verwertete dessen Vorschläge für seinen lesenswerten und ebenfalls erfolgreich verfilmten Roman „Contact“. In diesem SETI-Kultroman (SETI = Search for Extraterrestrial Intelligence), der in dem gleichnamigen Film mit Jodie Foster auch zu cineastischen Ehren gelangte, entwarf der Astrophysiker den aus der Sicht von SETI-Anhängern wahrhaften Idealtypus einer aufgeklärten und hochentwickelten Metakultur. Sagan zeichnet in seinem Buch das Bild einer Gesellschaft, deren kosmischinterkulturelle Annäherungstaktik darin besteht, zufällig oder absichtlich entsandte künstliche Signale aufzufangen, um den Absendern kurz darauf ein kryptisches Datenpaket zuzusenden, in dem in chiffrierter Form die Anleitung zum Bau eines interstellaren Raumschiffs deponiert ist. Wer den Code knackt, das nötige wissenschaftliche Verständnis sowie technisches Know-how mitbringt, um das Raumgefährt zu konstruieren, besteigt eine außerirdische Apparatur, mit deren Hilfe er auf einer Wurmloch-Autobahn durch den Hyperraum geschleust und in eine simulierte Projektion – ähnlich dem Holodeck im StarTrek-Universum – entlassen wird, in der der erste Kontakt zelebriert wird. Dabei nehmen die Außerirdischen nicht nur das Aussehen der geladenen Spezies an, sondern schlüpfen zudem in die Rolle einer möglichst vertrauten Person des Reisenden. In Sagans Roman erscheint der Protagonistin, Ellie Arroway, das Außerirdische in Gestalt ihres verstorbenen Vaters. Sein Antlitz entfaltet Vertrautheit und emotionale Wärme, und die Tatsache, dass er obendrein in Arroways Landessprache parliert, kommt der beidseitigen Kommunikation zugute.41 Von einer gänzlich anderen Voraussetzung geht Michael Crichton in seinem mittelprächtigen Verkaufsschlager „Timeline“ aus, dessen Leinwand-Version in den Kinos verdientermaßen schnell das Zeitliche segnete. Ausgehend von der komplexen, teils immer noch unübersichtlichen, nicht ausgereiften Quantentheorie reisen Crichtons Hauptfiguren unter Anwendung besagter Hypothese und entsprechender Technologie ins französische Mittelalter, um sich dort in den Wirren des Hundertjährigen Krieges zu verlieren. Mag sein, dass im subatomaren Kosmos, in dem scheinbar das Chaos regiert und „anarchistische“ Quantenteilchen das Sagen haben, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitunter auf einen Punkt konzentriert sind (oder auch nicht), so wie dies oft behauptet wird. Der Schlüssel zum Zugang aller Zeiten, mit dem Crichton bei seiner Fantasiereise durch die Zeit die Tür zum Frühmittelalter öffnet, ist jedoch, wie er selbst gesteht, ausschließlich im Reich der Phantasie und nirgendwo sonst zu finden.42 41 Sagan, Carl: Contact, München 2000. 42 Crichton, Michael: Timeline. Eine Reise in die Mitte der Zeit, München 2000, S. 566.
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Sicher ist auf jeden Fall, dass eine Zeitreise mit Hilfe der Quantentheorie oder gar kosmischer Strings, so wie sie Richard Gott III schon 1991 postulierte,43 dem Anspruch von Science in keiner Weise gerecht wird. Abseits aller Realität stehen vor allem die sogenannten Tachyonen (vom griech. „tachys“: schnell), jene vorzugsweise in Star Trek erdichteten, rein hypothetischen, überlichtschnellen Teilchen, welche die Spezielle Relativitätstheorie als möglich voraussagt und von deren Existenz der US-Physiker Gerald Feinberg 1967 erstmals überzeugt war.44 So schön die Idee der chronometrischen Transformation zurück in die Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft auch anmutet, so einfallsreich und komplex sie bislang in der Literatur, teils auch in TV-Serien und Kinofilmen umgesetzt wurde – ihr Realitätsfaktor ist ebenso wie das Beamen letztlich gleich null. Obzwar sie theoretisch möglich ist und die Gesetze der Physik nicht verletzt, ist die Zeitreise bloße „Fiction“. Dafür ist die Dimension, die sie zu bezwingen gedenkt, in ein viel zu enges physikalisches Korsett eingezwängt. „Die Zeit ist Sklave der Physik und sie endet mit der Physik“, charakterisierte einmal der USPhysiker John Archibald Wheeler wohl nicht zu Unrecht das Wesen der Zeit.45
b)
Das unlösbare Transport- und Informationsproblem
Es liegt in der literarischen Natur der naturwissenschaftlichen Sache: In belletristischen Romanen, die auf der Erde spielen, muss sich niemand über den Ursprung der Erde und ihrer Lebewesen Gedanken machen, auch nicht über den Transport und die Kommunikation der beteiligten Personen. Bei einer ScienceFiction-Geschichte hingegen sieht das ganz anders aus. Das Zusammentreffen von Lebewesen setzt etwas sehr Grundlegendes voraus: Beide Lebensformen müssen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein, um überhaupt zusammentreffen zu können. Hier stellt sich dem Naturwissenschaftler die Frage, wie die Protagonisten ins All befördert werden und wie sie untereinander bzw. mit ihren jeweiligen Heimatplaneten kommunizieren sollen. Grund für diese Schwierigkeiten ist der Raum, in dem die meisten ScienceFiction-Geschichten spielen: der Weltraum. Er erstreckt sich außerhalb der Erde und wirkt unvorstellbar groß und leer – und präsentiert sich trotz der scheinbar vielen Sterne als höchst dunkles Etwas. Seine im wahrsten Sinne des Wortes unbegreifliche Größe ist eine ideale Projektionsfläche für unsere Erwartungen, 43 Gott III, Richard J.: Zeitreisen in Einsteins Universum, a. a. O. 44 Feinberg, Gerald: „Possibility of faster than light particles.“ Physical Review Bd. 159 (1967), S. 1089ff. 45 Wheeler, John A.: „Jenseits aller Zeitlichkeit“, in: Die Zeit. Dauer und Augenblick, Serie Piper, Bd. 104, hrsg. v.: Heinz Gumin u. Heinrich Meier, München/Zürich 1989, S. 17.
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Ängste und Visionen. „Da draußen ist (fast) alles möglich!“ – lautet das Credo jedes (guten) Science-Fiction-Autors. Welche Voraussetzungen müssen aber zumindest erfüllt sein, damit es überhaupt zum Kontakt mit anderen Lebensformen im Kosmos kommt? Da wäre erst einmal die schon angesprochene immense Größe des Universums. Der nächste Stern ist knapp vier Lichtjahre von der Erde entfernt. Ein Lichtjahr entspricht annähernd 9,5 Billionen Kilometern. Mit der größten jemals von Astronauten erreichten Geschwindigkeit – die Apollo-Astronauten flogen mit elf Kilometer pro Sekunde zum Mond – benötigt man für ein Lichtjahr mehr als 28.000 Jahre Reisezeit. Wie sollen bei einem derartigen kosmischen Schneckentempo Reisende innerhalb einer menschlichen Lebensspanne zu anderen Planetensystemen gelangen? Die Antwort hierauf ist ebenso banal wie einleuchtend: Sie müssen einfach schneller fliegen, am besten so schnell wie möglich! Aber welche Geschwindigkeit müsste der Homo spaciens erreichen, um eine interstellare Raumfahrt zu etablieren? Wir würden aufgrund des heutigen Kenntnisstands die Lichtgeschwindigkeit als absolute, nur asymptotisch erreichbare Grenze für Bewegungen von Materie anführen. Science-Fiction-Autoren, die sich dieser bis heute von keinem einzigen Experiment verletzten Grenze beugen, können das Transportproblem umgehen, indem sie ihre Besatzung mit Fast-Lichtgeschwindigkeit auf die Reise schicken. Auf der anderen Seite werfen sie aber zugleich ein anderes Problem auf: das Informationsproblem. Denn je schneller die Astronauten fliegen, desto langsamer vergeht bei ihnen bekanntlich die Zeit, relativ gesehen zu den Uhren auf ihrem jeweiligen Heimatplaneten. Die Reisenden mögen dereinst in ferne stellare Systeme eintauchen und fremde Sterne und Planeten studieren, gleichwohl würden sie von ihren Abenteuern niemandem mehr zu Hause persönlich erzählen können. Denn je nach der Geschwindigkeit ihrer Raumschiffe würde sich die von der Relativitätstheorie hieb- und stichfest nachgewiesene Zeitdilatation vollends entfalten und zugleich bedingen, dass die mit Fast-Lichtgeschwindigkeit reisenden interstellaren Raumfahrer die Erde erst Jahrtausende nach ihrem Start wieder sehen und betreten könnten. Dann träfen sie nach ihrer Heimkehr auf keinen Verwandten, Bekannten oder Partner mehr, den sie in die Arme schließen könnten. Die Zeitdilatation kennt keine Gnade. Die Konsequenzen der Relativitätstheorie bekämen alle Lebewesen im All zu spüren – auch die fernen Nachkommen der Ankömmlinge aus dem All. Um zu erfahren, wer denn diese Personen sind, die behaupten, vor 5000 Jahren als Botschafter der Erde zum Stern Epsilon Eridani geflogen zu sein, müssten uralte Chroniken studiert oder Historiker befragt werden. Aber auch von der Reise selbst würde man auf der Erde kaum etwas erfahren, denn die einzige Möglichkeit, mit den Astronauten während ihrer Reise zu
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kommunizieren, wäre mittels elektromagnetischer Strahlung. Allerdings können auch diese Wellen sich nur mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Eine Nachricht aus 50 Lichtjahren Entfernung ist 50 Jahre unterwegs und für eine Antwort braucht es wiederum 50 Jahre, sodass jegliche Form eines Dialogs wegfiele. Sollte den Astronauten auf ihrer langjährigen Reise etwas Unerwartetes zustoßen, wären diese ganz alleine auf sich gestellt. Für die Crew von Apollo 13 war es einfach, die NASA-Zentrale in Houston um Hilfe zu bitten, als ihr Raumschiff durch einen explodierten Sauerstofftank so schwer beschädigt worden war, dass sie nur unter großer Lebensgefahr wieder heil zur Erde zurückkehren konnten. Die drei US-Astronauten waren weniger als eine Lichtsekunde von der Erde entfernt! Reisende zu anderen Planeten oder gar anderen Sternsystemen müssten jedes Problem in Eigenregie lösen. Das Problem von Transport und Information kann von den SF-Autoren also nur gelöst werden, wenn sie an den uns bekannten Naturgesetzen vorbei einen überdimensionalen Raum erfinden, in dem die Lichtschranke, die Zeitdilatation und alle damit einhergehenden Folgen nicht existent sind. Und in der Tat: Ohne den sogenannten Hyperraum kommt eigentlich kaum eine Geschichte aus. Der Hyperraum ist grenzenlos, kennt keine Energieschranke, ist zeitlos und ohne jede größere Gefahr und Anstrengung zu durchqueren. Unser normaler Weltraum mit seinen drei räumlichen Dimensionen und seiner Zeitdimension reicht für die Science-Fiction-Welt bei Weitem nicht aus. Deshalb bemühen die Autoren die allerneuesten Theorieansätze zur Quantengravitation, um das Konzept des Hyperraumes zu begründen. Sie meinen, diese Theoriefragmente würden ja bereits auf weitere Dimensionen hinweisen, ohne die die Physik gar nicht auskommt. So wird zum Beispiel die Stringtheorie, die mindestens elf Dimensionen fordert, als Zeuge aufgerufen. Auch die im SF-Kosmos so hochgeschätzten Schwarzen Löcher werden gerne als Eingangstor in diesen überdimensionalen Raum verwendet. Zur Klarstellung: Die zusätzlichen Dimensionen der Stringtheorie sind nur auf die allerwinzigsten, quantenmechanischen Längenskalen wirksam (10-33cm)! Sie sind nicht dafür geeignet, irgendwelche nichtquantenmechanischen, makroskopischen, materiellen Strukturen wie Raumschiffe oder Lebewesen durch das Weltall zu befördern. Die Welt der Strings kennt keine materiellen Teilchen und schon gar keine Lebewesen. Schwarze Löcher sind ebenso wenig für den Transport von Information oder Lebewesen geeignet, da sie aufgrund ihrer sehr starken Schwerkraft jede Art von materieller Struktur zerstören. Für Raumschiffe ist ein Schwarzes Loch eben auch kein Fluchtweg oder Notausgang. Wenn es überhaupt einen Zugang zu einem Überraum gibt, dann liegt dieser außerhalb des Universums. Das Fatale an dieser Aussicht ist, dass der Überraum mit uns in keinerlei kausaler Wechselwirkung steht und damit auch niemals zugänglich sein kann. Möglicherweise benötigt die
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Kosmologie einen Hyperraum, um den Anfang des Kosmos in einer alles übergreifenden Theorie zu erklären. Allerdings wäre eine solche Bedingung für uns nicht kausal definierbar und somit nicht verifizierbar. Überprüfbarkeit im Sinne einer Verifikation oder Falsifikation ist aber das unabdingbare Merkmal einer erfolgreichen naturwissenschaftlichen Theorie.46 Selbst eine einfach gestrickte SF-Geschichte muss Technologien voraussetzen, die erst in sehr weiter Zukunft, wenn überhaupt, zur Verfügung stehen.
c)
Das Problem der Strahlung
Ausschlaggebend für die Plausibilität erfundener Geschichten ist der Vergleich mit dem bereits Bekannten. Je mehr wir durch Satelliten und Sonden über die Eigenschaften des Weltraums erfahren, umso schärfer werden die Bedingungen für Science-Fiction-Autoren. Während die großen Space Operas wie „Star Wars“ oder „Star Trek“ überhaupt keinen Anspruch auf Plausibilität erheben und sich größtenteils jeder Erkenntnis über Naturgesetze und der damit zusammenhängenden Einschränkungen für Weltraumreisende verschließen, hat sich beispielsweise Arthur C. Clarke in seinen Romanen „2001 – Odyssee im Weltraum“ und „2010 – das Jahr, in dem wir Kontakt aufnahmen“ sehr bemüht, sich nicht allzu weit von der naturwissenschaftlichen Gegenwart zu entfernen. Aber auch ein sehr plausibles Szenario wie in „2001“, in dem der superintelligente Computer HAL 9000 die ganze Mission zum Scheitern bringt und sogar Astronauten tötet, wird durch neuere Ergebnisse zur Strahlungsintensität im Weltall zu Fall gebracht. Wir wissen heute, dass die empfindlichen Rechner mit hochkomprimierten Schaltkreisen unter dem Einfluss der kosmischen Teilchenstrahlung viel zu störanfällig sind, um sie für die automatische Steuerung von Raumschiffen zu verwenden. Die Bilder von den großen Kommandozentralen der Raumschiffe, vollgestopft mit hochentwickelten Computern und elektronischen Geräten, sind leider blanke Illusion. Schon der große Bildschirm auf der Brücke der Enterprise ist pures Wunschdenken. Die digitalen Schaltkreise hinter diesem Bildschirm wären viel zu anfällig gegen kosmische Strahlung. Nur durch Bleiwände könnte man die zentralen Computerkomponenten, jede noch so kleine elektronische Steuereinheit an Bord, vor den schnellen Teilchen der kosmischen Strahlung wirksam schützen. Das so entstehende enorme Gewicht des Raumschiffes würde die 46 „Eine Wahrheit in der Wissenschaft wird fast immer zuerst erahnt, dann behauptet, dann umstritten und dann bewiesen.“ Weizsäcker, Carl Friedrich v.: Die Einheit der Natur, München 82002, S. 126.
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Anforderungen an die Antriebstechnologien noch weiter erhöhen. Daher können große Strukturen nicht mehr von Menschenhand kontrolliert werden, sie verlangen nach enorm leistungsfähigen Elektronengehirnen mit gewaltiger Rechengeschwindigkeit. Das wiederum verlangt kürzere Informationswege, das heißt, die Verdrahtung muss enorm komprimiert sein. Dringt ein schnelles Proton der überall im Weltraum vorkommenden kosmischen Strahlung in solche elektronischen Systeme ein, so hat es die gleiche zerstörerische Wirkung wie in der Strahlentherapie bei Krebs, nur ist sie dort intendiert. Diese simplen Erkenntnisse bedeuten, dass die sich heute auf der Erde ablaufende immer weiterschreitende Verkleinerung von immer leistungsfähigeren elektronischen Geräten, Regelkreisen und Prozessketten nicht auf die Raumschiffe im Weltraum übertragen werden kann. Nanotechnologie, so wichtig sie für die Steuerung von komplexen technischen Kontrollprozessen auch sein mag, wird im Raum zwischen Planeten und Sternen kaum zur Anwendung kommen. Es sei denn, man schützt solche Anlagen durch Bleiwände. Selbst einfachste mobile Telefone würden dort draußen schlichtweg kaputtgehen. Dass wir auf der Erde solche Probleme nicht haben, verdanken wir der Atmosphäre und dem Erdmagnetfeld, die als Schutzschirme fungieren. Wir leben auf dem Boden eines Luftmeeres und innerhalb eines über mehrere zehntausend Kilometer in den Weltraum hineinragenden Magnetfeldes. Beide zusammen verhindern das Eindringen der Teilchen der kosmischen Strahlung, die einerseits von der Sonne auf die Erde trifft, andererseits aus dem interstellaren Raum kommt. Ein Raumschiff muss diese Art von Schilden ebenfalls aufbauen, um einen vergleichbaren Schutz zu haben. Das würde in der Praxis aber nicht funktionieren. Weder sind Raumschiffe in der Lage, vergleichbar große und dichte Atmosphären um sich herum noch dementsprechend großräumige Magnetfelder aufzubauen. Denn ein Magnetfeld hängt immer mit elektrischen Strömen zusammen. Ein räumlich sehr ausgedehntes Magnetfeld braucht deshalb ein räumlich sehr ausgedehntes Stromsystem. Ein Raumschiff mit der Länge von einem Kilometer kann also nur ein Magnetfeld erzeugen, das höchstens ein paar Kilometer in den Raum hinausragt. Mehr wäre nicht möglich. Wir können zusammenfassen: Je komplexer die Systeme, desto anfälliger sind sie. Dieses Grundgesetz der Prozesstechnik ist so unausweichlich wie die Naturgesetze. Ohne sehr aufwendige Schutzmaßnahmen kann man selbst heute bereits bekannte Technologien nicht im Weltraum nutzen. Möglicherweise ist die Technologie der 1980er- und 1990er-Jahre bereits das Maximum an Technik, das sich gerade noch ohne größere Störungen im All anwenden lässt.
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d)
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Der Alien-Faktor
„Von Aristoteles bis Kant haben sich die klügsten Männer den Kopf zerbrochen, ob in unserem Universum andere Erden und andere Lebensformen existieren. Und jetzt stehen wir kurz davor, endlich dieses Jahrtausende alte Geheimnis zu lüften“, schwärmte bereits vor 15 Jahren der weltweit bekannte, aber derweil nicht mehr wissenschaftlich aktive Planetenforscher Geoffrey W. Marcy.47 Während die irdischen Astronomen, Planetenjäger und Exobiologen in der Tat ihre Fühler in Gestalt von Radioteleskopen, Weltraumobservatorien und Raumsonden ausgestreckt haben, um außerirdisches Leben zu ertasten und nachzuweisen, tummeln sich in den fiktiven Universen der Science-FictionAutoren bereits auf unzähligen bewohnten fremden Welten unterschiedliche Lebensformen en masse. Gäbe es ein Wachsfigurenkabinett, in dem alle bisherigen in Literatur, Film und Hörspiel sowie Computersimulation an- und ausgedachten extraterrestrischen Figuren als kunstvolle Plastiken ausgestellt wären, platzte selbst das großräumige Metropolitan Museum in New York zwangsläufig aus allen Nähten. Allein im Star-Trek-Kosmos geisterten bislang mehrere Hundert verschiedene Lebensformen umher, von den unzähligen fremdartigen Geschöpfen in den farbenfrohen Star-Wars-Epen oder abenteuerlichen PerryRhodan-Episoden ganz zu schweigen. Wie viele davon seit Beginn der ScienceFiction-Ära in den virtuellen Romanwelten insgesamt schon zum Leben erweckt wurden, können sogar versierte SF-Experten nur schwer abschätzen, zumal der schillernde Alien-Zoo wöchentlich neue Gestalten, Ungestalten und Geistwesen willkommen heißt. Ein bunt gemischtes Konglomerat von Außerirdischen, die ihren gemeinsamen Nenner allenfalls darin finden, reine Fantasiegebilde jenseits aller Science zu sein. Schließlich haben wir bis heute nicht den geringsten wissenschaftlich fundierten Anhaltspunkt, wo sie sind, wie sie aussehen und ob es sie überhaupt gibt, auch wenn vieles dafür spricht, dass es sie geben muss. Selbst mit einer einzigen außerirdischen Mikrobe, geschweige denn einer wissenschaftlich verifizierbaren Spur außerirdischer Intelligenz, können die Exo-, Astro-, Xenobiologen und Bioastronomen unserer Tage – dies sei nochmals in Erinnerung gerufen – nicht aufwarten. Auch wenn die Planetenjäger seit 1995 mehr als 3500 Exoplaneten katalogisiert haben, ist bis auf den heutigen Tag noch keine zweite Erde in Sichtweite. Aber es ist alles nur eine Frage der Zeit. Schließlich gibt es Anlass zum Optimismus: 2014 kamen australische Astronomen um Charles Lineweaver von der Australian National University in Canberra/Australien bei einer Hochrechnung über die potenzielle Anzahl erdähnlicher Planeten in bewohnbaren Zonen zu 47 Bethge, Philip/Bredow, Rafaela von/Stampf, Olaf: „Oasen des Lebens im All“, in: Der Spiegel, Bd. 22 (31. 05. 1999).
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einem sehr überraschenden Ergebnis. Ausgehend von den Daten, die das NASAWeltraumteleskop Kepler von 2009 bis 2013 gesammelt hatte, und mit Blick auf die mindestens 200 Milliarden Sterne in der Milchstraße kam Lineweaver Anfang 2015 auf einen fantastischen Wert. „Unserer Studie zufolge besitzt fast jeder einzelne Stern in der Galaxis einen oder zwei Planeten in einer habitablen Zone.“48 Trotz allem ist ein Kosmogramm mit außerirdischem Absender oder ein intelligentes Piepsen aus den Tiefen des Alls, wonach die SETI-Forscher schon seit 1960 mit verschiedenen Suchprogrammen und -methoden weltweit händeringend suchen, bislang noch nicht eingegangen. Kein Forscher zog die lang ersehnte interplanetare Flaschenpost aus dem kosmischen Wellenmeer. So gesehen ist das Fundament, auf dem Science-Fiction-Autoren ihre Fantasiegebäude mitsamt extraterrestrischer „Mitbewohner“ errichten, samt und sonders ein virtuelles, ein höchst fiktives, das auf Wahrscheinlichkeiten oder persönlichem Glauben fußt. Dennoch sind wir felsenfest davon überzeugt, dass es sie, die Anderen, geben muss – irgendwo da draußen. Aber noch haben sie sich nicht gemeldet – weder in offizieller Mission noch auf „publikumswirksame“ Art und Weise. Und da noch kein eindeutiger, von der Wissenschaft allgemein akzeptierter Beweis für die Existenz außerirdischen Lebens vorliegt, ist auch das Fundament, auf dem Bioastronomen und Science-Fiction-Autoren ihre Fantasiegebäude mitsamt extraterrestrischen Mitbewohnern errichten, ebenfalls ein höchst imaginäres. Letzten Endes fußt es nämlich auf Wahrscheinlichkeiten oder persönlichem Glauben, da eine handfeste, greifbare und reale Vorlage schlichtweg fehlt. Selbst die legendäre Green-Bank-Gleichung von 1961, die Aufschluss über die mögliche Anzahl intelligenter Zivilisationen im Universum geben soll, basiert nur auf Wahrscheinlichkeiten, weil die Werte ihrer Faktoren ad libitum austauschbar sind. Die auch unter dem Namen „Drake-Formel“ geläufige Gleichung erweist sich bis heute als Gleichung ohne Wert, als ein „Kompositum von Unsicherheiten“, wie ihr Urheber, Frank Drake, sie selbst einmal charakterisierte.49
48 Timothy Bovaird/Charles H. Lineweaver/Steffen K. Jacobsen: „Using the Inclinations of Kepler Systems to Prioritize New Titius-Bode-Based Exoplanet Predictions“, OI: 10.1093/ mnras/stv221 – Cite as: arXiv:1412.6230. 49 Drake, Sobel: A. a. O., S. 93.
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Drake-Formel bzw. Greenbank-Gleichung : N = R fp ne fl fi fc L N Anzahl intelligenter Zivilisationen in der Galaxis, die im Moment auf Sendung bzw. kommunikationsbereit sind R mittlere Geburtenrate von geeigneten langlebigen Sternen in der Galaxis pro Jahr fp Bruchteil der Sterne, die Planeten bilden, besitzen und halten ne Anzahl der bewohnbaren erdähnlichen Planeten, die ihren Stern im richtigen Abstand (habitable Zone) umlaufen fl Bruchteil der Planeten, auf denen tatsächlich Leben entsteht fi Bruchteil der Planeten, auf denen intelligente Lebensformen herangebildet werden fc Bruchteil der intelligenten Zivilisationen, die die Technologie und Motivation haben, eine interplanetare Kommunikation zu etablieren L Lebensdauer einer technologischen Zivilisation; die Zeitdauer, in der E.T. auf Sendung ist
Daher haben Exobiologen und Science-Fiction-Autoren, die in ihren Projekten und Geschichten Außerirdischen eine Hauptrolle zuteilen, fürwahr alle Freiheiten und brauchen auf wissenschaftliche Pseudo-Formeln keine Rücksicht zu nehmen. Sie müssen ihre Fantasie nicht zügeln. Schließlich liegen in Bezug auf außerirdische Lebensformen keine wissenschaftlich verwertbaren konkreten Daten vor, die richtungweisend und somit auch einengend wären. Nein, der Alien-Faktor bleibt eine Unbekannte, eine Größe ohne Zahlenwert, die auch die besten wissenschaftlichen Prognosen, Computersimulationen oder Formeln nicht zu konkretisieren vermögen. Wo keine Fakten vorliegen, ist indes die Erfindungsgabe der Forscher und Schriftsteller gefragt. Dass sie in dieser Hinsicht geradezu vor Ideen sprühen, dokumentiert das reichhaltige, oft sehr unterhaltsame mediale Angebot an E.T. & Konsorten. Doch trotz aller akademischen und schriftstellerischen Imaginationsgabe fällt auf, dass die auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus lebenden Aliens, die in vielen Dokumentationen oder SF-Filmen über die Leinwand flimmern, oft eine humanoide Erscheinungsform haben. In den Szenarien der TV-Serien, Trivialromane oder SF-Klassiker, in denen Außerirdische in Erscheinung treten, aber auch bei Astrobiologen gibt es eine spürbare Tendenz zu menschenähnlichen Geschöpfen. Ist dies Zufall, fehlende Fantasie, pure Intention oder drückt sich hier anthropozentrische Hybris aus? Sind wir Menschen sogar in der SF das Maß aller Dinge, letzten Endes sogar das Maß für intelligente Aliens? Starten Sie doch einmal den Selbstversuch und denken Sie an einige Ihnen in Erinnerung gebliebene Aliens, die Ihnen irgendwann in Film, Fernsehen oder im Roman begegnet sind! Sobald Sie diese vor Ihrem geistigen Auge visualisiert haben, dominieren mit Sicherheit feindlich gesinnte E.T.s das Bild. Friedsame und freundliche Außerirdische à la E.T. sind im SF-Universum rare Geschöpfe. Beispiele für angriffslustige Aliens gibt es gerade im TV- bzw. Kinobereich reichlich: „Independence Day“, „Alien“, „Mars Attacks“ – und den Klassiker
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schlechthin: „Krieg der Welten“, dem ersten literarisch und zugleich filmisch umgesetzten interplanetaren Krieg zwischen unserer Spezies und einer außerirdischen Macht.50 Wohl nicht zu Unrecht schrieb Stanislaw Lem (1921–2006) einmal über den 1898 erschienenen Roman „War of the Worlds“ (Krieg der Welten) von H. G. Wells (1866–1946), dass dieser den Beginn der Genealogie des Science-FictionGenres markiere. Diese Geschichte bewege sich, so Lem, auch nach so vielen Jahrzehnten „noch immer wie ein nur einmal erreichter Gipfel über das Gewühl der Science-Fiction.“ Natürlich drängt sich auch hier die Frage auf, warum in den meisten SF-Fantasien unser blauer Planet von größtenteils bösen, meist blatternarbigen und triefäugigen Monstern heimgesucht wird, die uns „meist nur töten, erobern und vernichten“ wollen. Es stellt sich ferner die Frage, warum Andersartigkeit immer abstoßend in Szene gesetzt wird? Woher kommt dieses Faible für bizarre, kriegerische Kreaturen? Gewinnen hier menschliche Urängste und atavistische Instinkte die Oberhand oder versuchen die Schöpfer solcher Zeilen schlichtweg nur einen Spannungsbogen aufzubauen? Oder wollen sie sogar eine bestimmte Botschaft lancieren? Repräsentiert der Alien-Faktor automatisch das Böse? Der großartige H. G. Wells jedenfalls tat dies. In seiner fiktiven Geschichte über den ersten interplanetaren Konflikt, in den Erdbewohner unfreiwillig involviert wurden, gehen die Marsmenschen auf ihrem Eroberungsfeldzug genauso gnadenlos vor wie Wells’ reale Vorbilder: die irdischen Großmächte im ausgehenden Zeitalter des Imperialismus. Doch im Gegensatz zu den Erdlingen, die noch vor 100 Jahren den afrikanischen Kontinent aus Geltungssucht, Machtgier und zur Erlangung von neuen Rohstoffen kolonialisierten und ausplünderten, kämpfen bei Wells die Invasoren vom Roten Planeten freilich nicht zur Befriedigung banaler Eroberungslust oder pekuniärer Interessen. Vielmehr kämpfen diese ums nackte Überleben, da ihre Welt auszutrocknen droht. Wäre ihre Heimat nicht dem Untergang geweiht gewesen, hätten sie mit dem Nachbarn vom blauen Planeten möglicherweise weiterhin in friedlicher Koexistenz gelebt. Nicht alle vermeintlich „bösen“ Aliens in SF sind also wirklich böse. Die meisten Wissenschaftler, allen voran überzeugte SETI-Forscher, gehen sogar vom Gegenteil aus: Sie glauben an das Gute im Alien.
50 Schenkel, Elmar: H. G. Wells. Der Prophet im Labyrinth. Eine essayistische Erkundung, München 2004. S. 116.
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IV.
SF und Naturwissenschaften
a)
Extrapolation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Alien-Plot
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Innerhalb von Science-Fiction-Geschichten geht es immer um das „Was wäre, wenn…?“. Ausgehend von den bereits bekannten Fakten extrapolieren die Macher solcher Werke auf das potenziell Mögliche und Unbekannte. Obschon hierin auch philosophische oder soziologische Inhalte zu finden sind, werden doch an erster Stelle Extrapolationen irdischer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse thematisiert, sprich, Theorien und Modelle von außerirdischen Lebewesen, anderen Planeten, anderen Sternsystemen sogar bis zu anderen Universen. Denn gerade die Naturwissenschaften enthalten ein zeitliches Element, das in den Geisteswissenschaften kaum vorkommt: die Zukunft. Während in den Geisteswissenschaften soziologische, kulturelle und künstlerische Entwicklungen und Erkenntnisse der Vergangenheit und Gegenwart thematisiert werden und dabei historische Betrachtungen, also retrospektiv ausgerichtete Analysen, nachgerade zur Methode gehören, erhoffen sich die Naturwissenschaften eine Verbesserung ihrer Modelle und Theorien in der Zukunft. Sie legen großen Wert auf die Überprüfung des gegenwärtig Gedachten und Erkannten. Sie wollen testen können, ob Theorien falsch sind oder nicht, wohl wissend, dass die absolute Richtigkeit einer Theorie nicht aufgezeigt bzw. nachgewiesen werden kann, da Theorien immer nur auf dem aktuellen Erkenntnisstand beruhen. Eine neue Beobachtung kann eine seit Langem erfolgreiche Theorie über Nacht als falsch oder nur eingeschränkt gültig entlarven. Sie muss dann in der vorliegenden Form verworfen werden und durch eine neue, bessere Theorie ersetzt werden. Die neue Theorie gilt so lange, bis auch sie wieder durch eine noch bessere abgelöst wird. Aus dem Handlungs- und Arbeitsablauf „experimentieren – rechnen – denken – testen“ speist sich der Fortgang der experimentellen und theoretischen Naturwissenschaft, der in einem Paradigmenwechsel gipfeln kann. Für die Science-Fiction-Fangemeinde bietet gerade dieser handlungsorientierte Kern der Naturwissenschaften und technischen Disziplinen den idealen Nährboden für Erwartungen und Visionen. Typische Fragen, die immer wieder aufgeworfen werden, sind: Wieso sollen denn Relativitätstheorie und Quantenmechanik das Ende der naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten darstellen? Ist die Lichtgeschwindigkeit wirklich die Grenzgeschwindigkeit, oder liegt es nur an unserer Unwissenheit, dass wir noch nicht über diese Grenze hinausgekommen sind? Gibt es noch andere Dimensionen? Können wir in der Zeit reisen? Gelten die Naturgesetze überall im Universum und vor allem: Haben wir schon alle Naturgesetze gefunden, oder gibt es da noch weitere unbekannte Gesetze?
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Genau an dieser Stelle beginnt Science-Fiction auch für den naturwissenschaftlich interessierten Leser erst richtig attraktiv zu werden. Wo setzt der Autor in der heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntniswelt an? Wie viel von heute kann er verwenden, bevor er den wissenschaftlichen Boden verlassen muss, damit seine Geschichte an Dynamik gewinnt? Hier an dieser Schnittstelle entscheidet sich, ob es sich um wirkliche Science-Fiction handelt oder nur um Quadrat-Fiction, also reine Erfindung. Betrachten wir dazu den Plot einer typischen SF-Geschichte: Mehr oder weniger weit entwickelte Erdlinge treffen irgendwo im Universum auf andere Lebensformen, die als uralte Zivilisationen längst all jene Probleme gelöst haben, vor denen unsere Lebensform noch steht. Denn in den fernen Zukunftswelten stellen die kreativen Schriftsteller und Drehbuchautoren ihren Protagonisten in der Regel alles zur Verfügung, was überlebensnotwendig ist – insbesondere Energie. Während in der Realität die Endlichkeit der Ressourcen auf unserem Planeten ein wahres Problem darstellt, ist die Energiefrage im SF-Kosmos längst beantwortet. Wenn Captain James T. Kirk seinem Bordingenieur Scotty zuruft: „Energie!“, dann rast die Enterprise mit spielerischer Leichtigkeit überlichtschnell durchs Universum (siehe Kap. III d), um ferne Welten zu erkunden und auch außerirdische Zivilisationen zu studieren, mit ihnen zu streiten oder von ihnen zu lernen. Im Optimalfall trifft der Homo spaciens nach vielen Abenteuern, Missverständnissen und gescheiterten Kontaktversuchen auf Außerirdische, die ihm den rechten Weg zeigen. Vielleicht nehmen die Extraterrestren ihn sogar in den elitären galaktischen Club auf. Vielleicht importieren die Erdlinge das Wissen der Aliens und führen so die Menschheit in eine glücklichere Zukunft. Wie man es sehen mag – diese Auslegung hier spiegelt zweifelsfrei die hoffnungsvolle Variante wider. In der pessimistischen Version jedoch wiederholt sich gewissermaßen das Schicksal der von den zivilisierten Europäern entdeckten Indianerstämme. Die Entdecker töten die Entdeckten, ob absichtlich oder ungewollt. Schließlich kam doch unsere Vorliebe, technisch und kriegsstrategisch unterlegene Völker und Rassen rücksichtslos auszurauben, auszuplündern, zu unterdrücken, zu misshandeln, zu versklaven und nicht selten sogar ganze Kulturen auszumerzen, bei der Conquista und in der Ära des Imperialismus sehr deutlich zum Vorschein. Während der Conquista, dem mehr als ein Jahrhundert dauernden, von Spanien und Portugal in Gang gesetzten Prozess der Eroberung des mittel- und südamerikanischen Festlands ab 1492, fielen Scheinchristen und brutale Eroberer vom Schlage eines Hernán Cortés, Pedro de Alvarado oder Francisco Pizarro erbarmungslos über ahnungslose unschuldige Menschen her. Im Zeitalter des Imperialismus (Hochimperialismus) nahmen sich die europäischen Groß- und Mittelmächte – vom Eroberungswahn getrieben – die Freiheit heraus, Überseekolonien in Afrika und Asien zu etablieren, um den dortigen Bewohnern die
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Segnungen der Zivilisation in Gestalt von Mord und Todschlag zuteilwerden zu lassen. Die Liste der von Homo sapiens begangenen Grausamkeiten ließe sich nach Belieben fortsetzen. Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht, da sich unsere Art weiterhin von ihren atavistischen Instinkten nicht lösen kann und will. Angenommen, die Außerirdischen brächten nur 20 Prozent der Angriffslust auf, mit der unsere Vorfahren auf dieser Welt gewütet haben, dann bekommt eingedenk unserer eigenen blutrünstigen Geschichte auf einmal der Faktor Vorsicht eine besondere Note. Er wird zum guten Ratgeber, weil ungeachtet der immerfort zugeschriebenen positiven altruistischen Eigenschaften der Aliens ein „extraterrestrisches Restrisiko“ bleibt. Im Konzert der Superzivilisationen könnten eben doch raumfahrtbegeisterte und aggressiv-expansive Rassen mitmischen, die Imperialismus im größeren, sprich kosmischen Stil betreiben. Manch Spezies könnte eine gutgemeinte Visitenkarte, ein Funk- oder Signalfeuer, als Einladungskarte auslegen. Es könnte daher durchaus passieren, dass bösartige Außerirdische eines Tages auf ihren kosmischen Eroberungszügen unseren Planeten zerstören oder ihn als Rohstoffquelle ausbeuten, so wie dies in vielen Science-Fiction-Geschichten beschrieben wird.
b)
Naturgesetze – die Ultima Ratio
Kommen wir nochmals zurück auf unsere SF-Geschichte einfachster Bauart: Menschen treffen auf außerirdische Lebensformen. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es überhaupt zu diesem Zusammentreffen kommt? Nun, profan gesagt müssen zunächst beide Spezies zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Weitaus profaner ist jedoch die Conditio sine qua non, dass beide Kulturen schlichtweg existieren, sprich leben müssen. So banal dies klingt, dahinter versteckt sich eine wichtige Wahrheit: Lebewesen sind komplizierte materielle Strukturen, die sich deutlich von der Umgebung unterscheiden. Ganz gleichgültig, wie allgemein ein Autor das Phänomen Leben definiert, es ist an materielle Strukturen gekoppelt. Materielle Strukturen entsprechen Verbindungen von chemischen Elementen. Und jetzt kommt ein sehr wichtiger Aspekt: Das Periodensystem der Elemente kennt keine Lücken! Mit anderen Worten: Es gibt keine anderen chemischen Elemente als die, die wir schon kennen; ab und zu wird ein neues, künstlich hergestelltes Element ans Ende der Tabelle angefügt. Für einen Science-Fiction-Autor, der sich in seinen Erzählungen an den naturwissenschaftlichen Gesetzen orientiert, mutet dies wie eine kleine Katastrophe an, kann er doch nicht ad libitum weitere Elemente hinzudichten. Während Romanautoren sich des Hyperraums bedienen, um schnelle Reisen im All von Punkt A nach B zu ermöglichen, sind Wissenschaftler in der Realität bei den Bausteinen des Lebens auf die 92 stabilen Elemente „festgenagelt“. Wer sich als
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Autor am Stand der Wissenschaft orientiert, muss sogar noch viel mehr als „gegeben“ voraussetzen: Die atomaren und molekularen Vorgänge müssen bei den beiden sich irgendwo im Kosmos treffenden Lebensformen funktionieren, das heißt die Atome müssen sich zu Molekülen verbinden können. Die Bindungseigenschaften der Elemente hängen nur von deren Elektronenkonfigurationen ab. Die Naturgesetze, die den Aufbau der Atome und deren Bindungseigenschaften bestimmen, kann der Autor nicht umgehen. Nur Kohlenstoff kann Polymere, also langkettige Molekülverbindungen mit Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff eingehen. Das außerirdische Lebewesen wird deshalb so wie wir ein Kohlenwasserstoff-Lebewesen sein. Seine Moleküle müssen sich ebenfalls mit Energie versorgen, so wie unsere. Es darf sich nicht allzu energiereicher Strahlung aussetzen, sonst stirbt es, so wie wir. Wenn sich Lebensformen auf einem Planeten treffen, müssen wiederum viele selbstverständliche Bedingungen erfüllt sein, über die der Autor oft kein Wort verliert: Der Planet ist tatsächlich entstanden, seine Oberfläche wird umhüllt von einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre und er empfängt Strahlung von dem Stern, den er umkreist. Alle diese Vorgänge geschehen, weil Naturgesetze zusammenwirken. Jeder gute SF-Schriftsteller wird den vier fundamentalen Wechselwirkungen (Gravitation/Elektromagnetismus/ schwache Wechselwirkung/starke Wechselwirkung) ein Mindestmaß an Beachtung schenken müssen, denn: – Ohne Gravitation gäbe es keine materiellen Strukturen im Kosmos (Planeten, Sterne, Galaxien). – Ohne Elektromagnetismus gäbe es keine Materie (Atome, Moleküle), ohne Materie kein Leben. – Ohne Sterne gäbe es keine schwereren Elemente als Helium. – Ohne Kernfusion gäbe es keine Sterne. – Ohne Sterne gäbe es keine Energie für die Planeten. – Ohne den quantenmechanischen Tunneleffekt gäbe es Kernfusion.
Das Ineinandergreifen aller vier Wechselwirkungen als eine vernetzte Prozesskette kann auch ein Science-Fiction-Autor nur unter erheblichem Verlust an Plausibilität negieren.
c)
Der Communicator-Effekt: Das antizipierende Moment in der SF
Der von Captain James T. Kirk („Star Trek“) oft so lässig in Szene gesetzte aufklappbare Communicator ist sicherlich vielen noch in guter Erinnerung. Er ist wortwörtlich das „hand(y)festeste“ Beispiel dafür, dass ehemalige SF-Requisiten heute von der Realität längst eingeholt worden sind, obwohl besagte mobile Apparatur in der Originalserie auch dazu diente, die für den Beam-Vorgang
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nötigen genauen Koordinaten eines Besatzungsmitgliedes anzuzeigen. ScienceFiction kann dennoch Überlegungen und Erkenntnisse fördern, die später einmal reale Konturen gewinnen. Fraglos übt diese Literaturgattung auf die Wissenschaft eine inspirierende Wirkung aus, auch wenn einer der größten seiner Zunft, Stanislaw Lem, diesbezüglich anderer Meinung ist.51 Eingedenk dieses Umstandes hat die Europäische Weltraumorganisation ESA vor mehreren Jahren die ITSF-Arbeitsgruppe („Innovative Technologien aus der Science-Fiction“) ins Leben gerufen. Mit dem Ziel vor Augen, innerhalb des SF-Genres möglichst innovative Technologien und Konzepte ausfindig zu machen, „die sich vielleicht für weltraumtechnische Anwendungen weiterentwickeln lassen“52, durchforsteten SF-Autoren, Wissenschaftler und Laien aus Europa aktuelle und ältere Science-Fiction-Literatur sowie Illustrationen und Filme: laut Aussage eines Teilnehmers mit positivem Ergebnis. „Science-Fiction handelt, obwohl sie eher rational ist, oft von der Schönheit der Wissenschaft und ihren Errungenschaften. Sie kann daher die Wissenschaft inspirieren“, so Patrick Gyger.53 Retrospektiv gesehen ist die Weitsicht und ideenreiche kreative Kraft vieler SF-Autoren, bestimmte technische und soziale Entwicklungen zu antizipieren, ob dies nun jeweils Ausdruck blühender Fantasie, futuristischen Talents oder bloßen Zufalls war, recht beachtlich. Vor allem die Voraussagen fantasiebegabter Schriftsteller waren in der Vergangenheit präziser als jene, die Fachleute, sprich Futurologen vom Schlage eines Hermann Kahn, von sich gaben.54 Sieht man einmal von den bereits erwähnten rein fantastischen, fiktionalen Elementen innerhalb der SF ab (Zeitreise, Beamen usw.), haben manche Autoren mit Blick auf technische Erfindungen hin und wieder einen erstaunlichen Weitblick bewiesen. Wurden viele der beschriebenen futuristischen Literaturprodukte ihrer Zeit noch von den Kritikern mit einem milden Augurenlächeln quittiert, so wurden sie heute von der Realität längst eingeholt, wenn nicht sogar überholt. Wer hätte denn im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert jemals ernsthaft daran gedacht, dass die Verne’sche Mondreise (1865), Ultrageschwindigkeits-Projektilwerfer (1865), Bremsraketen (1869), planetare Landefähren (1928) und Raumanzüge für Außeneinsätze (1929) einmal Wirklichkeit würden? Wer hätte damals geahnt, dass ständig bemannte orbitale Raumstationen (1945), 51 „Diese Rolle gibt es nicht – die SF-Autoren kopieren bloß … die inspirierende Wirkung von SF ist gleich Null.“ Lem, Stanislaw/Beres, Stanislaw: Lem über Lem. Gespräche, Frankfurt a. M. 1986, S. 16. 52 Ratt, David: „Einleitung“, in: Innovative Technologien aus der Science–Fiction für weltraumtechnische Anwendungen, hsrg. v. ESA Publications Division, September 2002, S. 2. 53 Gyger, Patrick: Überlegungen zu den Ideen und Bildern der Science-Fiction, a. a. O., S. 7. 54 „ (…) der mit seinem IQ von 200 in seinen Prognosen außerordentlich danebenlag“, so Elmar Schenkel, H. G. Wells: A. a. O., S. 42. Siehe auch Hoimar v. Ditfurth: Reise zu den Sternen, a. a. O. S. 15.
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Fernmeldesatelliten auf der geostationären Umlaufbahn (1945), Sonnen- und Lichtsegel (1920, 1951, 1963) oder Atomraketenantriebe (1948/49) den heutigen Zeitgeist prägen würden? Am stärksten manifestiert sich diese Weitsichtigkeit bei den bereits aufgeführten Pionieren des SF-Genres: Jules Verne und Herbert George Wells. Von allen SF-Autoren haben sie den imaginären Flug des Zeitpfeils in die Zukunft am genauesten verfolgt. Während der technikfreundliche Jules Verne in seiner 1863 verfassten, aber erst 1994 veröffentlichten Schrift „Paris im 20. Jahrhundert“ sowohl benzinbetriebene Automobile, Faxgeräte und Telefone sowie den Siegeszug des Englischen als Weltsprache prophezeite, sagte H. G. Wells in seinem 1914 erschienenen Buch „Befreite Welt“ sogar den Abwurf der ersten Atombombe voraus.55 Gäbe es ein Ranking der treffsichersten SF-Autoren, belegten beide Schriftsteller die Spitzenplätze. Gleichwohl sei nochmals daran erinnert, dass derlei „Voraussagen“ von den meisten SF-Autoren ohnehin nicht im Sinne futuristischer Prognosen zu verstehen sind. Denn ungeachtet einiger Erfolge, die SFAutoren für sich verbuchen können, ist Science-Fiction genauso wenig eine Wissenschaft wie die Futurologie, die nach Ansicht des SF-Altmeisters Stanislaw Lem sogar ein großer „Schwindel“ ist.56 Nein, wenn futuristische Elemente in der Science-Fiction auftauchen, dienen sie vielmehr als intelligente Stilmittel, um eine Story inhaltlich und wissenschaftlich-technisch zu beleben. Wer ihnen im Nachhinein eine zu große Bedeutung zuschreibt, ignoriert oder vergisst, dass die Mehrzahl der in SF-Büchern und -Filmen beschriebenen technischen Apparaturen bzw. physikalischen Anwendungen abseits aller irdischen Realität sind – und auch bleiben werden. Selbst renommierte SF-Autoren, die oft richtig lagen, lagen freilich noch viel häufiger daneben.57
d)
Science-Fiction und Physik: À la Star Trek nach Alpha Centauri Geordi La Forge: „Man könnte meinen, die Gesetze der Physik seien plötzlich aus dem Fenster geworfen worden.“ Q.: „Warum auch nicht? Sie sind so lästig.“ (Star Trek/TNG)
Mit einer Distanz von 4,34 Lichtjahren zur Erde ist Alpha Centauri (α Cen) das erdnächste extrasolare Sternsystem überhaupt. In dem im Sternbild Centaurus 55 Wells, H. G.: Befreite Welt, Wells datierte den Abwurf der ersten Atombombe allerdings auf das Jahr 1953. Geographisch lag er noch weiter daneben: Seine Bombe detonierte nämlich über Berlin. 56 Lem, Stanislaw/Beres, Stanislaw: Lem über Lem, a. a. O., S. 246. 57 Schenkel: A. a. O., S. 42.
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(Zentaur) am südlichen Sternhimmel beheimateten Mehrfachsystem dominieren Alpha Cen A als gelber und Alpha Cen B als orangefarbener Hauptreihenstern das Geschehen. Beide vor 6,5 Milliarden Jahren entstandenen Sterne befinden sich in einer stabilen Phase und weisen ungefähr die Größe der Sonne auf, wohingegen der dritte im Bunde, Proxima Centauri, als Roter Zwergstern der jüngste und lichtschwächste, dafür aber mit 4,22 Lichtjahren Entfernung der erdnächste Stern ist. Über die Frage, ob letzterer wirklich der Dritte des vermeintlichen Trios im Alpha-Cen-Systems ist, gehen gegenwärtig die Meinungen der Experten auseinander. Höchstwahrscheinlich jedoch existiert in dem System mindestens ein Exoplanet. 2012 entdeckte ein Team um den Schweizer Astronom Stéphane Udry vom Genfer Observatorium in diesem System mit dem 3,6-Meter-Teleskop der Europäischen Südsternwarte (ESO) auf La Silla in Chile einen erdgroßen Planeten mit Exotenstatus.58 Alpha Centauri Bb zählt zu den bis auf den heutigen Tag entdeckten kleineren und masseärmeren Exoplaneten um einen sonnenähnlichen Stern, hat ungefähr die Masse der Erde und umkreist seinen Mutterstern in einer Entfernung von nur sechs Millionen Kilometern alle 3,236 Tage einmal. Damit umrundet er seinen Stern in fast 40-mal geringerem Abstand als die Erde die Sonne. Zwar konnten Wissenschaftler den Fund im Rahmen einer Nachfolgebeobachtung noch nicht bestätigten, dennoch sprechen Extrapolationen und Computersimulationen dafür, dass sich in diesem System noch andere Exoplaneten verstecken. Alles in allem also wäre das erdnächste Sternsystem Alpha Centauri auch in reisetechnischer Hinsicht ein lohnenswertes Fernziel, sofern eines nicht allzu fernen Tages die Raumfahrttechnik als Folge einer tiefgreifenden High-techRevolution einen unglaublichen Quantensprung erfährt, was zumindest in vielen Science-Fiction-Erzählungen bereits gelungen ist. Denn die bislang zur Verfügung stehenden Antriebe sind alles andere als tauglich, um den Weg zu den Sternen zu ebnen. Unabhängig davon, ob sie für bemannte oder unbemannte Missionen konstruiert wurden, erlauben sie bestenfalls interplanetare zeitaufwändige Flüge innerhalb des Sonnensystems – mehr aber nicht. Daher ist eine exoplanetare Exkursion nach Alpha Centauri Bb vorerst reines Wunschdenken, zumal die interstellaren Forschungsreisenden eine Strecke von mindestens 40 Billionen Kilometer zu bewältigen hätten. Mit der größten jemals von Menschen erreichten Geschwindigkeit – die Apollo-Astronauten flogen mit elf Kilometer pro Sekunde zum Mond – würde ein Raumfahrer für ein Lichtjahr mehr als 28.000 Jahre benötigen. Eine solche „Reisedauer (…) wäre nicht gerade ideal – besonders für eine menschliche Crew“, kommentierte lakonisch der 58 „An Earth mass planet orbiting Alpha Centauri B“, in: Nature (08. 11. 2012), Bd. 491, S. 207ff. [doi:10.1038/nature11572].
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amerikanische Physiker und Antriebstechniker Harold G. White, fügte jedoch hinzu: „Aber wenn sie einen Haufen Energie und einen entsprechenden Antrieb verwenden – was passiert dann?“ Ähnliches dachte sich auch der mexikanische Physiker und Star-Trek-Anhänger Miguel Alcubierre, als er 1994 den Warp-Antrieb mit einem wissenschaftlich-theoretischen Konzept aufzuwerten versuchte. Seine in dem Paper „The Warp Drive: Hyper-fast Travel Within General Relativity“59 veröffentlichten Berechnungen ergaben, dass durch die Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums rund um ein Raumschiff enorm große Distanzen mit bis zu zehnfacher Lichtgeschwindigkeit zurückgelegt werden können. „Mit einer rein lokalen Expansion der Raumzeit hinter dem Raumschiff und einer gegenüberliegenden Kontraktion vor ihm sind – von außen betrachtet – Überlichtgeschwindigkeiten möglich“, schrieb Alcubierre seinerzeit.
Vereinfacht gesagt geht es darum, die Raumzeit dergestalt lokal zu verzerren, dass diese sich vor dem Raumschiff zusammenzieht, aber dahinter dehnt. Auf diese Weise gleitet das Schiff mit der Raumzone wie ein Surfbrett auf einer Welle nach vorn. Während die Crew eines solchen Hyper-Raumschiffes in der WarpBlase eingeschlossen ist, verläuft der Flug für diese ganz normal. Innerhalb der Blase käme es auch nicht zu dem relativistischen Effekt der Zeitdilatation. Die Uhr würde für jeden mit Warp-Geschwindigkeit reisenden Raumfahrer wie gewohnt weiter ticken. „Außerhalb der Warp-Blase allerdings fänden extreme Raumzeitverzerrungen statt, da der Raum vor der Warp-Blase zusammengedrückt werden würde“, vermutet der weltbekannte US-Physiker Michio Kaku von der New York City University.60 „In lokaler Hinsicht geht die Geschwindigkeit nie über die des Lichts hinaus, denn das Licht wird praktisch mitgenommen“, schreibt Lawrence M. Krauss in seinem Trekkie-Bestseller „Die Physik von Star Trek“ aus dem Jahr 1996.61 Was Alcubierre einst mathematisch berechnete, testet Harold G. White derweil in der Praxis – im Kleinstmaßstab. Schließlich glaubt der Leiter des Warp-Antriebs-Projekts im Johnson Space Center der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA in Houston schon seit mehr als zehn Jahren, dass eine überlichtschnelle Reise à la Enterprise machbar ist, weil die Naturgesetze einen Warp-Generator prinzipiell erlauben. „Das Weltall dehnt sich seit 13,82 Milliarden Jahren aus. Und anhand von kosmischen Modellen wissen wir, dass in frühen Perioden explosive Ausdehnungen stattfanden, in 59 Alcubierre, Miguel: „The Warp drive: hyper-fast travel within general relativity“, in: Classical and Quantum Gravity, Bd. 11, Nr. 5 [doi:10.1088/0264–9381/11/5/001]. 60 Kaku, Michio: Die Physik des Unmöglichen. Beamer, Phaser, Zeitmaschinen, Reinbek 2008, S. 261. 61 Krauss, Lawrence M.: Die Physik von Star Trek, München 1996, S. 70.
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denen sich zwei Punkte in rasender Geschwindigkeit voneinander entfernten“, erklärte Harold G. White in Anspielung auf die kosmische Inflation der New York Times. „Die Natur kann dies. Also ist die Frage, können wir es auch?“62
Unter kosmischer Inflation verstehen Astronomen jene Phase, die sich 10-33 bis 10-30 Sekunden nach dem Urknall („Big Bang“) ereignete, als der Raum binnen des Bruchteils einer Picosekunde um einen Faktor zwischen 1030 und 1050 expandierte und sich mit der Zehn-Billion-Billionenfachen Lichtgeschwindigkeit63 auf die Größe des heute beobachtbaren Universums hinausdehnte. Im Anschluss hieran setzte sich das Aufblähen des Raumes gemäß dem Standard-UrknallModell fort, wie in den Friedmann-Gleichungen postuliert.64 Tatsächlich kollidiert die überlichtschnelle Expansion des Universums nicht mit der von Albert Einstein 1905 veröffentlichten Speziellen Relativitätstheorie, da diese nur eine überlichtschnelle Bewegung im Raum verbietet. Der Raum selbst jedoch vermag sich überlichtschnell auszudehnen, weil er weder mit Information noch Masse beschwert ist. Inspiriert von der überlichtschnellen kosmischen Inflation basteln White und sein Team im Labor schon seit einigen Jahren an einem Warp-Antrieb en miniature. Es ist ein Projekt von mehreren, mit dem sich die Crew um White auch heute noch zeitweise befasst. Aber mit Abstand das Zukunftsträchtigste in der Ideenfabrik Whites. Mithilfe von Lasern, Kameras, Spiegeln und einem Interferometer will er Raum und Zeit um ein Photon herum falten. Und zwar dergestalt, dass die Partikel bei gleichbleibender Geschwindigkeit eine größere Distanz zurücklegen. Gelänge es, die Flugbahn der Partikel zu verlängern und den Effekt zu messen, wäre dies ein kleiner Schritt auf dem langen Weg zu einem Warp-Antrieb. Um die Raumzeit experimentell zu verzerren, splittet White in seinem Experiment einen Laserstrahl in zwei identische Beams auf, von denen einer in einem Sensor verschwindet, während der andere hingegen durch einen Hochspannungs-Ringkondensator aus Keramik schießt, der gerade einmal den Umfang von einem Zentimeter hat. Käme es hier zu einer verschwindend geringen, aber messbaren Abweichung, wäre dies ein Indiz dafür, dass das Raum-ZeitGefüge unter Laborbedingungen in einem Ausmaß von eins zu zehn Millionen manipulierbar ist. Damit wäre zwar noch kein Vorläufer eines Warp-Antriebs gefunden. Aber sein „bescheidenes Experiment“ würde zumindest signalisieren, dass er den ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht habe, so White. 62 Hakim, Danny: „Exploring the Warp Factor“, in: New York Times, 23. 07. 2013 (Page D1). Online: http://www.nytimes.com/2013/07/23/science/faster-than-the-speed-of-light.html. 63 Vaas, Rüdiger: Tunnel durch Raum und Zeit. Von Einstein zu Hawking: Schwarze Löcher, Zeitreisen und Überlichtgeschwindigkeit, Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 2010, S. 146ff. 64 Blome, Hans-Joachim/Zaun, Harald: Der Urknall. Anfang und Zukunft des Universums, München 32015, S. 121.
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Doch wie in unserem realen Leben erweist sich auch in der virtuell-fiktiven Warp-Welt die Energiebeschaffung als größte Herausforderung. Denn für einen Star-Trek-Antrieb benötigen spätere Astro-Ingenieure eine ganz besondere Energieform. Für die Erzeugung einer Warp-Blase müssten sie nämlich exotische Materie mit negativer Energie respektive Energiedichte verwenden, die eine abstoßende Gravitationswirkung hat. Kurzum, Sie bräuchten einen Stoff, bei dem die Schwerkraft abstoßend und nicht anziehend wirkt. Und von diesem Stoff müsste eine exorbitant hohe Menge zur Verfügung stehen, um ein Raumschiff auf Überlichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Miguel Alcubierres erstes Warp-Modell etwa erforderte zehn Milliarden Mal mehr Energie als die gesamte sichtbare Masse des Universums hat, eines seiner späteren Konzepte benötigte nur noch die Energie einer Jupitermasse. Whites überlichtschneller Flitzer hingegen ist weitaus sparsamer, kommt er doch bereits mit 500 Kilogramm exotischer Materie aus. Äußerlich erinnert Whites Konstrukt an einen überdimensionierten Football, der von einem aus exotischer Materie bestehenden Ring umgeben ist. Dieser erzeugt eine Blase, in der das Raum-Zeit-Gefüge stabil bleibt, während der Raum vor dem Raumgefährt gestaucht und dahinter wieder gedehnt wird. Die Folge: Das Raumgefährt bewegt sich auf einer künstlich erzeugten Welle in der Raumzeit und überbrückt dabei Distanzen mit Überlichtgeschwindigkeit. „Stellen Sie sich einen Football vor, um den an einem Ring Pylonen befestigt sind. An dem Ring würde sich negative Vakuum-Energie befinden – mit diesem Trick könnte man den Warp-Antrieb verwirklichen“, erklärt White. Dennoch sind die Hürden nahezu unüberwindlich, da keiner weiß, ob im Universum diese wie auch immer geartete postulierte exotische Materieart überhaupt existiert. Keiner weiß, wo eine derart riesige Menge negativer Energie überhaupt zu finden wäre oder ob diese sogar künstlich hergestellt werden könnte? Angesichts dieser Fragen verwundert es nicht, dass der Chefwissenschaftler beim Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, Edwin F. Taylor, Whites Versuchsreihen zwar interessant, aber dennoch eine Spur zu futuristisch findet. „Meine persönliche Meinung ist, dass diese Idee momentan noch verrückt klingt. Aber lassen sie uns diese in 100 Jahren nochmals überprüfen.“65 Für den deutschen Ex-Wissenschaftsastronauten und Raumfahrtexperten Prof. Dr. Ulrich Walter von der Technischen Universität München bleibt der Traum vom Star-Trek-Antrieb dagegen reine Fiktion: „Der Warp-Drive basiert auf der Idee, durch Raumstauchung Entfernungen abzukürzen. Das geht nur durch den Einsatz riesiger Mengen negativer Energien, die als solche im Uni65 Hakim, Danny: Exploring the Warp Factor, a. a. O.
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versum aber nicht existieren. Mein Fazit lautet daher: Vergessen Sie diese Idee besser.“ Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass eines fernen Tages der Mensch über den Schatten der Physik springt und entweder ihre Gesetze manipuliert und biegt – oder neue entdeckt, von denen wir bislang noch keine Kenntnis haben. Ja, vielleicht leben da draußen schon seit Äonen metaintelligente Zivilisationen, die sich ihre eigene Physik zurechtgestrickt haben. Womöglich reichen sie nur jenen Kulturen die Hand, die ein bestimmtes technisches und geistiges Niveau erreicht haben. Ähnlich der obersten Direktive im Star-Trek-Kosmos, der zufolge die Vereinigte Föderation der Planeten nur mit Kulturen einen direkten Umgang pflegt, welche die licht- bzw. überlichtschnelle Raumfahrt beherrschen, nähmen sie in ihrem galaktischen Club nur jene auf, die den kosmischen Pisa-Test bestanden hätten. Am 5. April 2063 hat es Zefram Cochrane, der wahre Erfinder des WarpAntriebs, am eigenen Leib erfahren – wenigstens im Star-Trek-Universum der fiktiven Szenarien und Träume. Dort war er der Initiator und Zeitzeuge des Ersten Kontaktes. Und dank des von ihm konstruierten Warp-Antriebs gelang der Sprung zum Homo spaciens vollends. Er gipfelte im First Contact. Aber es dürfte in der realen Welt wohl eher darauf hinauslaufen, dass auch in 47 Jahren der Homo electronicus den Sprung zum Homo spaciens noch nicht gemeistert hat. Selbst in naher Zukunft wird Alpha Centauri, das erdnächste Sternsystem, weit weg von uns sein und unerreichbar – fast so fern wie der Traum vom Warp-Antrieb.
Literatur Alcubierre, Miguel: „The Warp drive: hyper-fast travel within general relativity“, in: Classical and Quantum Gravity, Bd. 11, Nr. 5 [doi:10.1088/0264–9381/11/5/001]. Al-Khalili: Schwarze Löcher, Wurmlöcher und Zeitmaschinen, Heidelberg/Berlin 2001. Asimov, Isaac über Sciene Fiction, in: Science-Fiction-Special, Bd. 24 048, Berlin 1981. Baxter, Stephen: „Vorwort“, in: 2001: Odyssee im Weltraum. Der Roman zum Film. Überarbeitete Neuausgabe, München 2001, S. 11. Bellamy, Edward: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, Reclam Universitätsbibliothek, Nr. 2660 (4). Blome, Hans-Joachim/Zaun, Harald: Der Urknall. Anfang und Zukunft des Universums, München 32015. Buedeler, Werner: Geschichte der Raumfahrt, Künzelsau 1979. Crichton, Michael: Timeline. Eine Reise in die Mitte der Zeit, München 2000. Davies, Paul: How to Build a Time Machine, London 2001.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Maximilian Bergengruen ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe. Prof. Dr. Cesare Giacobazzi ist Professor für Germanistik an der Universitá degli Studi di Modena e Reggio Emilia. Prof. Dr. Johann Ev. Hafner ist Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Christentum an der Universität Potsdam. Dr. Aura Heydenreich ist Akademische Rätin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturgeschichte der FAU Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Harald Lesch ist Professor für theoretische Astrophysik an der LMU München und Professor für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie in München. Prof. Dr. Freimut Löser ist Professor für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters an der Universität Augsburg. Prof. Dr. em. Dietmar Mieth ist Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Universität Tübingen. Christoph Mittmann ist Doktorand im Programm des Universitären Forschungsschwerpunktes Asien und Europa der Universität Zürich. Prof. Dr. Bernd Oberdorfer ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Augsburg. Dr. Yulia Pasko ist Dozentin für Germanistik an der Nationalen Forschungsuniversität Hochschule für Wirtschaft in Moskau.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. PD Dr. Lars Schneider ist Akademischer Oberrat am Institut für Romanische Philologie der LMU München. Prof. Dr. Dirk J. Smit ist Professor für Systematische Theologie an der Faculty of Theology, University of Stellenbosch, Südafrika. Prof. Dr. Thomas Steppan ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Innsbruck. Dr. Lisanne Teuchert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Universität Augsburg. Prof. Dr. Robert Vosloo ist Professor für Systematische Theologie an der Faculty of Theology, University of Stellenbosch Südafrika. Prof. Dr. Stephanie Waldow ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Dr. Harald Zaun ist Wissenschaftsautor und Wissenschaftshistoriker.