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German Pages 527 [552] Year 2018
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Lukas Stolz
Der Höhepunkt des Hebräerbriefs Hebräer 12,18 – 29 und seine Bedeutung für die Struktur und die Theologie des Hebräerbriefs
Mohr Siebeck
Lukas Stolz, geboren 1984; 2008 lic. theol., STH Basel; 2008 − 15 FEG-Pastor; seit 2015 als freischaffender Lehrer und Evangelist tätig; 2017 Promotion, STH Basel.
ISBN 978-3-16-155754-5 / eISBN 978-3-16-155939-6 DOI 10.1628/978-3-16-155939-6 ISSN 0340-9570 / eISSN 2568-7484 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohrsiebeck.com
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Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Printed in Germany.
Für Mirjam, Jaela, Pierin, Sarah und Josia
Vorwort VIhsou/j Cristo.j evcqe.j kai. sh,meron o` auvto.j kai. eivj tou.j aivw/naj. (Hebr 13,8)
Das vorliegende Buch ist meine überarbeitete Dissertation, die ich nach sechs langen Jahren theologischen Nachdenkens und Schaffens am 4. Mai 2017 an der Staatsunabhängigen theologischen Hochschule (STH) Basel erfolgreich verteidigen durfte. Bei der Überarbeitung meiner Dissertation bis Mitte September 2017 konnte ich einzelne neuere Publikationen zum Hebräerbrief berücksichtigen. Bedauerlicherweise kann ich im vorliegenden Buch aber nicht auf Einzelheiten der Arbeit von Christopher T. Holmes mit dem Titel „The Function of Sublime Rhetoric in Hebrews. A Study in Hebrews 12:18-29“ verweisen. Ich erfuhr von dieser bei WUNT II erscheinenden Studie zu „meinem“ Bibeltext erst Anfang August 2017 durch den Verlag. Mit Interesse habe ich die Dissertation von Holmes durchgesehen, die er mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Holmes sieht die rhetorische Erforschung des Neuen Testaments mit ihrem (vermeintlichen) Hauptfokus auf die rhetorische persuasio-Funktion der neutestamentlichen Schriften an ihren Grenzen angelangt. Im Werk De sublimitate (peri. u[youj), das „Dionysios Longinos“ bzw. „Dionysios [von Halikarnassos?] oder [Kassios?] Longinos“ zugeschrieben wird, findet Holmes die Darlegung einer rhetorischen Funktion eines Diskurses, die über die persuasio hinausgehe. Für die Anwendung der rhetorischen Perspektive von De sublimitate sieht er den Hebräerbrief als besonders geeignet, weil u. a. dessen stilistische Eloquenz und Adoption von rhetorischen Mitteln seit Langem anerkannt seien. Die Anwendung auf Hebr 12,18−29 begründet Holmes mit den (vermeintlichen) Grenzen der traditionellen Methoden des „rhetorical criticism“ bei der Interpretation dieses Textes. Holmes bemerkt in Hebr 12,18−29 eine aussergewöhnliche, bewegende Bildlichkeit (der Sprache). Der Abschnitt falle weiter auch durch die Verwendung seltener Worte und das Schüren von Emotionen auf. Holmes erkennt in dieser rhetorischen Komposition des Textes Übereinstimmungen zu De sublimitate und spricht in Bezug auf Hebr 12,18−29 von einer „sublime rhetoric“. Unabhängig von Holmes stelle ich in meiner Analyse zu Hebr 12,18−29 die oben erwähnten rhetorischen Charakteristika auch fest. Am Schluss der vorliegenden Arbeit versuche ich darzulegen, dass diese exakt den Vorgaben der rhetorischen Handbücher (von Aristoteles bis Quintilian) für eine gute peroratio einer Rede entsprechen. Der Leser meines Buches wird entscheiden müssen, ob mir das überzeugend gelun-
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Vorwort
gen ist. Auch wenn ich einiges anders sehe als Holmes (so deute ich die Sinai−Zion-synkrisis in Hebr 12,18−29 sowie die Ausführungen in 12,22−24 u. a. als Höhepunkt bzw. Zusammenfassung der theologischen Argumentation des Hebräerbriefs, dem bzw. der sehr wohl eine persuasive Funktion zu eigen ist), kommen wir bei einigen Dingen zum gleichen Schluss (so z. B. in der Identifikation vom „unerschütterlichen Königreich“ in Hebr 12,28 mit der „kommenden Welt“ in 2,5, der „Stadt des lebendigen Gottes“ in 12,22 und der „kommenden Stadt“ in 13,14). Ich möchte das Vorwort zu diesem Buch auch nutzen, um verschiedenen Personen und Institutionen meine Dankbarkeit auszudrücken. Ein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Jacob Thiessen, den ich nicht nur als einen die Bibel liebenden Theologen, sondern auch als Mensch sehr schätze. Der STH Basel samt ihren Professoren und administrativen Angestellten bin ich dankbar für die jahrelange Unterstützung meines Dissertationsprojekts. Für die hilfreichen Gutachten zu meiner Dissertation bedanke ich mich bei Prof. Dr. Christian Stettler und Prof. Dr. Martin Karrer. Mein Dank gilt weiter Prof. Dr. Jörg Frey und den Mitherausgebern für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe WUNT II. Dem Verlag Mohr Siebeck – insbesondere Klaus Hermannstädter und Susanne Mang – danke ich für die Realisation dieses Buches. Mein ganz grosser Dank gehört meiner geliebten Frau Mirjam Stolz (lic. theol.). Sie hat während den langen Jahren meines Doktorats auf Vieles verzichtet. Durch ihr ausserordentliches Engagement in Haus und Familie und durch ihre stetige Ermutigung zum Dranbleiben hat sie mir das Verfassen der Dissertation überhaupt erst ermöglicht. Ihr und meinen vier wunderbaren Kindern (Jaela, Pierin, Sarah und Josia) ist dieses Buch gewidmet. Jesus Christus − meinem Retter, Herrn und Lehrmeister − und meinem himmlischen Vater gilt mein grösster Dank. Die nötige Freude, Kraft und Ausdauer, an meiner Dissertation zu schreiben, sie zu vollenden und zu überarbeiten, haben sie mir geschenkt. Ihnen sei alle Ehre! Weisslingen (Schweiz), im September 2017
Lukas Stolz
Inhaltsverzeichnis Teil A
Einführung Kapitel I: Einleitung in die Arbeit ....................................................... 3 1 Ausgangslage ......................................................................................... 3 2 Fragestellung ......................................................................................... 5 3 Aufbau und Methodik .............................................................................. 6
Kapitel II: Einleitungsfragen zum Hebräerbrief ................................... 8 1 Literarischer Charakter .......................................................................... 8 2 Makrostruktur........................................................................................12 2.1 Forschungsüberblick .......................................................................12 2.2 Auswertung .....................................................................................19 3 Verfasserschaft ......................................................................................21 4 Abfassungszeit .......................................................................................23 5 Empfängerschaft und Abfassungszweck .................................................28 5.1 Forschungsüberblick .......................................................................28 5.2 Auswertung .....................................................................................32
Teil B
Exegese von Hebr 12,18−29 Kapitel I: Kontext und Abgrenzung ................................................... 41 Kapitel II: Grundstruktur von Hebr 12,18–29 .................................... 46 Kapitel III: Analyse von Hebr 12,18–21 ............................................ 51 1 Struktur .................................................................................................51 2 Einzelexegese ........................................................................................52 2.1 Vers 18 ...........................................................................................52
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Inhaltsverzeichnis
2.1.1 yhlafwme,nw|..........................................................................54 a. Exkurs: Irdisch-sinnlicher Sinai vs. himmlisch-immaterieller Berg Zion? ................................55 b. Die alternative Deutung: „zu einem (Berg), der (weil im Dunkel verborgen) ertastet werden muss“ ..........60 2.1.2 kekaume,nw| puri, – „zu einem mit Feuer Angezündeten und Lodernden (Berg)“ .........................................................63 2.1.3 gno,fw| kai. zo,fw| kai. que,llh| – „zu einem Dunkel und einer Finsternis und einem Sturmwind“ ................................67 2.2 Vers 19 ...........................................................................................69 2.2.1 sa,lpiggoj h;cw| – „zu einem Schall einer Posaune“ ...............69 2.2.2 fwnh/| r`hma,twn – „zu einer Stimme von Worten“ ..................70 2.2.3 parh|th,santo – „sie flehten“ ..................................................74 2.3 Vers 20 ...........................................................................................77 2.4 Vers 21 ...........................................................................................81 2.4.1 fobero,n – „furchtbar“............................................................82 2.4.2 to. fantazo,menon – „die Erscheinung“ ...................................83 2.4.3 Die Angst von Mose .............................................................84 3 Ertrag ....................................................................................................89
Kapitel IV: Analyse von Hebr 12,22−24 ........................................... 92 1 Struktur .................................................................................................92 2 Einzelexegese ........................................................................................94 2.1 Vers 22 ...........................................................................................94 2.1.1 Siw.n o;rei – „…zu[m] Zion, dem Berg“................................94 a. „Zion“ im Alten Testament ..............................................95 b. „Zion“ in der frühjüdischen Literatur und im Neuen Testament ..............................................................95 c. Die Bedeutung vom „Berg Zion“ in Hebr 12,22 ...............98 2.1.2 po,lei qeou/ zw/ntoj – „…zur Stadt des lebendigen Gottes“ ....98 a. Die Bedeutung der „Stadt Gottes“ ....................................98 b. Die Bedeutung des „lebendigen Gottes“ .........................100 2.1.3 VIerousalh.m evpourani,w| – „…zum himmlischen Jerusalem“ ..........................................................................104 a. Das Motiv eines himmlischen Jerusalems im Frühjudentum und im Neuen Testament .........................104
Inhaltsverzeichnis
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b. Ein Forschungsüberblick zum „himmlischen Jerusalem“ in Hebr 12,22 ...............................................108 c. Die bei der endzeitlichen Katastrophe offenbarte Gottesstadt .....................................................................111 d. Das Kommen der Stadt und die Parusie des Gottessohnes auf der Erde ..............................................114 e. Weitere Hinweise für ein „himmlisches“ Jerusalem auf der „Erde“ ................................................................117 2.1.4 muria,sin avgge,lwn – „zu den Myriaden von Engeln“ ...........120 a. Die um den göttlichen Richter auf der „Erde“ versammelten Engelsheere .............................................120 b. Der Prätext DanLXX 7,9ff und seine irdische Deutung .....121 2.1.5 panhgu,rei – „zu einer Festversammlung“ ...........................126 a. Die Festversammlung der Engel .....................................127 b. Die fröhliche Zion-Versammlung und ihr alttestamentlicher Hintergrund .......................................127 c. Die anbetende Engelschar und der Bezug zu Hebr 1,6 ....129 d. Exkurs: Hebr 1,6 und die Anbetung des Sohnes bei der Parusie als Argument für eine „irdische“ Lokalisierung von Hebr 12,22–24 ..................................130 2.2 Vers 23 .........................................................................................141 2.2.1 evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j – „zur Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln eingeschrieben sind“ ...........................................141 a. Der Begriff evkklhsi,a in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament ................................................142 b. Die zur Gottesbegegnung hinzugerufene Heilsversammlung am Jüngsten Tag ..............................145 c. Der Begriff prwto,tokoj in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament ................................................148 d. Der Begriff prwto,tokoj im Hebräerbrief ........................150 e. Die prwto,tokoi als Söhne Gottes und Erben der Welt ....151 f. Eingetragen im „Buch des Lebens“ ................................153 g. Die Bürgerliste und Jes 4,2–5 .........................................156 h. Die Identität der Erstgeborenen ......................................157 2.2.2 krith/| qew/| pa,ntwn – „zum Richter aller, zu Gott“ ...............162 a. Gott, der zu fürchtende Allrichter ...................................162
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Inhaltsverzeichnis
b. Individuelles Totengericht oder eschatologisches Weltgericht? ...................................................................165 c. Der Richter-Gott auf der Erde ........................................169 d. Der irdische Zion als Gerichtsberg .................................171 e. Ermahnung und Verheissung ..........................................173 2.2.3 pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn – „zu [den] Geistern der vollendeten Gerechten“ .................................................174 a. Die Geister der Verstorbenen am Ende der Zeit..............175 b. Die Identität und Bedeutung der „Gerechten“ .................178 c. Die Bedeutung des „Vollendet-Seins“ der Gerechten .....180 2.3 Vers 24 .........................................................................................194 2.3.1 diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ – „zum Mittler des neuen Bundes – [zu] Jesus“ ...........................................................194 a. Der Begriff mesi,thj in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament ................................................195 b. Das Korrespondenzverhältnis von mesi,thj und diaqh,kh ....................................................................196 c. Die hohepriesterliche Mittlerschaft Jesu und seine Selbsthingabe .................................................................197 d. Die hohepriesterliche Mittlerschaft Jesu und seine Fürsprache ......................................................................198 e. Die umfassende Bedeutung des Bundes-„Mittlers“ in Hebr 12,24..................................................................199 f. Der Begriff diaqh,kh in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament ................................................202 g. Der „neue Bund“ als der „bessere Bund“ ........................204 h. Der (unpolemische) Kontrast zum Alten Bund ...............207 i. Die umfassende Bedeutung des „neuen Bundes“ im Hebräerbrief ..............................................................213 j. Die Erwähnung des „neuen Bundes“ in Hebr 12,24 ........214 2.3.2 ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel – „zum Blut der Besprengung, das Besseres redet als Abel“ ..216 a. Das Blut der Besprengung ..............................................216 b. Das Blut, das Besseres redet als Abel .............................220 c. Exkurs: Das Blut in der Gegenwart Gottes und die Frage nach der Soteriologie des Hebräerbriefs ...............227 d. Zusammenfassung ..........................................................242
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Kapitel V: Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24 ............................ 244 1 Vollendete Bundesgemeinschaft mit Gott durch den Mittler Jesus ....... 244 2 Das „himmlische Jerusalem“ auf der „Erde“ ..................................... 245 2.1 Die bisherigen Argumente in der Übersicht ..................................245 2.2 Das auffällige Fehlen des Tempels ................................................246 2.3 Das vorauslaufende Eintreten Jesu in den Himmel und das „irdische“ Endziel ............................................................249 3 proselhlu,qate – nur „angenähert“ oder tatsächlich „hinzugetreten“? ................................................................................. 251 3.1 Die Frage nach einer realisierten Eschatologie ..............................252 3.2 Die Frage nach der Verankerung in der Vergangenheit .................254 3.3 Die Frage nach der Wirklichkeit – die Wichtigkeit des Heiligen Geistes und des Glaubens ...............................................255 3.4 Die seelsorgerliche und rhetorische Dimension .............................258 3.5 Die Frage nach der Mystik ............................................................258 3.6 Die Frage nach der kultischen Dimension .....................................261 3.7 Fazit ..............................................................................................265
Kapitel VI: Analyse von Hebr 12,25–29 ........................................... 266 1 Einleitung ............................................................................................ 266 2 Struktur ............................................................................................... 267 3 Einzelexegese ...................................................................................... 268 3.1 Vers 25 .........................................................................................268 3.1.1 Der Appell: den sprechenden Gott niemals abweisen! (V.25a) ...............................................................269 3.1.2 Das schuldhafte Abweisen Gottes durch die Israeliten nach der Kratophanie am Sinai (V.25b) ..............................270 a. Der Abgewiesene ...........................................................271 b. Die historische Situation.................................................272 3.1.3 Das Heil in Jesus und Gottes Weisung erteilendes Reden vom Himmel her (V.25c) .........................................275 a. Gottes Reden durch den Sohn .........................................276 b. Gottes Reden durch die Schriften ...................................278 c. Gottes Reden durch den Heiligen Geist und den Verfasser des Hebräerbriefs ............................................279
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d. Die zentrale christologische Rede Gottes und ihr Weisungscharakter .........................................................280 e. Das Reden Gottes durch den Sohn und das Reden des Blutes Jesu ...............................................................281 f. Der Kontrast „,vom Himmel herʻ vs. ,auf der Erdeʻ“ ......282 3.1.4 Die Warnung, sich ja nicht von Gott bzw. Jesus abzuwenden (V.25c) ...........................................................283 a. Das Echo auf Hebr 2,2f ..................................................284 b. „die wir uns […] abwenden“ ..........................................284 c. Die Gerichtswarnung ......................................................287 d. Die grössere Verantwortung ...........................................288 3.2 Vers 26 .........................................................................................289 3.2.1 Die Erschütterung am Sinai durch das Reden Gottes...........290 3.2.2 Die zukünftige Erschütterung von Erde und Himmel ..........291 a. Die Kosmos-Erschütterung und das Letzte Gericht ........292 b. Die „Verheissung“ der Katastrophe ................................296 3.2.3 Die Kosmos-Erschütterung und die Parusie Jesu.................299 3.3 Vers 27 .........................................................................................301 3.3.1 Was sind die saleuo,mena? ...................................................303 3.3.2 Auch „himmlische“ Dinge und die Menschen werden erschüttert werden ...............................................................304 3.3.3 „Vernichtung“, „Verwandlung“ oder „Veränderung“ der erschüttert-werdenden Dinge? .......................................306 3.3.4 Das Schicksal des irdischen Kosmos ...................................310 a. Argumente gegen die Annihilation des Kosmos .............310 b. Kontinuität und Diskontinuität .......................................316 3.3.5 Die Neuschöpfung der Welt ................................................319 3.3.6 Was alles unerschütterlich und bleibend ist .........................321 3.3.7 Fazit ....................................................................................324 3.4 Vers 28 .........................................................................................325 3.4.1 basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej – „da wir im Begriff sind, eine unerschütterliche Königsherrschaft zu empfangen“ ....................................................................326 a. Der alttestamentliche Prätext ..........................................326 b. Die Basileia Gottes und Jesu im Neuen Testament .........330 c. Die Basileia im Hebräerbrief ..........................................334
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d. Die Bedeutung der „unerschütterlichen Basileia“ ...........336 e. Was heisst es, dass die Gläubigen die Basileia „empfangen“? .................................................................339 3.4.2 e;cwmen ca,rin – „lasst uns Dankbarkeit haben“ ...................342 3.4.3 diV h-j latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| − „durch diese [Dankbarkeit] lasst uns Gott wohlgefällig dienen“ ..............343 a. Die Dimension des Kultus ..............................................345 b. Die Dimension der Ethik ................................................346 c. Die Dimension des Glaubens ..........................................347 3.4.4 meta. euvlabei,aj kai. de,ouj – „mit Ehrfurcht und Schrecken“ ...................................................................348 a. Die Ehrfurcht des Sohnes ...............................................349 b. Der Schrecken vor dem heiligen Richter ........................352 3.5 Vers 29 .........................................................................................353 3.5.1 „Denn auch unser Gott“ ......................................................354 3.5.2 Das bedrohliche Feuer des heiligen Gottes ..........................356 3.5.3 Das strafende Feuer des göttlichen Richters ........................357 3.5.4 Der markante Schlusspunkt .................................................361
Teil C
Auswertung Kapitel I: Einleitung ......................................................................... 365 Kapitel II: Hebr 12,18−29 als Höhepunkt des Hebräerbriefs ............ 366 1 Allgemeine literarische und rhetorische Hinweise ............................... 366 1.1 Die hohe Dichte von wiederholten Begriffen ................................366 1.2 Die frappanten inhaltlichen Entsprechungen zum exordium in Hebr 1,1–4 ................................................................................368 1.2.1 Der redende Gott.................................................................368 1.2.2 Die Theozentrik ..................................................................369 1.2.3 Weitere Parallelen ...............................................................371 1.3 Hebr 12,18–29 als letzte synkrisis .................................................371 1.4 Hebr 12,25–29 als letzte Warnung ................................................372 2 Allgemeine inhaltliche Hinweise .......................................................... 373 2.1 Der Sinai−Zion-Vergleich .............................................................373
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2.1.1 Was alles miteinander verglichen wird................................374 a. Das Verglichene in der expositio ....................................374 b. Das Verglichene in der exhortatio ..................................377 2.1.2 Diskontinuität und Kontinuität ............................................378 a. Die Diskontinuitäten.......................................................378 b. Die Kontinuitäten ...........................................................381 c. Wird die Sinai-„Offenbarung“ bzw. der Alte Bund abgewertet? ....................................................................382 2.1.3 Die Funktion des Vergleichs in Hebr 12,18–29 als Schlusserklärung und Zusammenfassung .......................385 a. Die synkrisis als bildgewaltige Schlusserklärung ...........385 b. Die synkrisis als abschliessende Zusammenfassung .......388 2.2 Der „Redende“ in Hebr 12,25 und die klimaktische Zusammenfassung eines Leitthemas .............................................390 2.2.1 Das Reden Gottes als Leitthema im Hebräerbrief................390 2.2.2 Die höhepunktartige Zusammenfassung des Themas in Hebr 12,25 ......................................................................392 2.3 Die „Verheissung“ Gottes in Hebr 12,26 und das abschliessende Aufgreifen eines zentralen theologischen Begriffs .........................................................................................392 2.4 Der eingehende futurisch-eschatologische Ausblick (Hebr 12,22–24 und 12,26–29) .....................................................393 3 Hebr 12,22−24 als theologische Zusammenfassung und rhetorische Klimax des Hebräerbriefs ................................................. 394 3.1 Hebr 12,22–24 als theologische Zusammenfassung.......................394 3.1.1 „Ihr seid hinzugetreten zur Stadt des lebendigen Gottes“ (Hebr 12,22)...........................................................394 a. Die Rekapitulation der Botschaft des Hinzutretens, Nahens und Hineingehens ..............................................394 b. Die Rekapitulation des Begriffs „der lebendige Gott“ und seiner Erklärungen .........................................395 c. Die Rekapitulation vom Motiv der Wanderschaft ...........396 d. Die Zusammenfassung aller im Hebräerbrief erwähnten futurisch-eschatologischen Zielorte ...............398 3.1.2 „Zu den Myriaden von Engeln“ (Hebr 12,22) .....................398 3.1.3 „Zu einer Festversammlung“ (Hebr 12,22) .........................399
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a. Die Rekapitulation von Hebr 1,6 und der Anbetung Jesu durch die Engel ......................................399 b. Die Rekapitulation von Hebr 4,9 und der zukünftigen „Sabbatfeier“ ..............................................399 3.1.4 „Zur Versammlung der Erstgeborenen“ (Hebr 12,23) .........399 a. Die Rekapitulation vom Motiv der Familie Gottes .........399 b. Die Rekapitulation vom Thema des Erbens ....................400 c. Die Rekapitulation von Hebr 11,28 und den Erstgeborenen Israels .....................................................400 d. Der zusammenfassende Charakter von evkklhsi,a ............401 3.1.5 „Zu Gott, dem Richter aller“ (Hebr 12,23) ..........................401 a. Die Rekapitulation aller Aussagen über die futurisch-eschatologische Gemeinschaft mit Gott ...........401 b. Die Rekapitulation aller Endgerichtsstellen im Hebräerbrief ..............................................................402 3.1.6 „Zu den Geistern der vollendeten Gerechten“ (Hebr 12,23) .......................................................................402 a. Die Rekapitulation vom Thema „Vollendung“ ...............402 b. Die Rekapitulation von Hebr 10,38a und dem Thema „Glauben“ ...........................................................403 c. Die Rekapitulation von Hebr 11,4–40 ............................403 3.1.7 „Zum Mittler des neuen Bundes – [zu] Jesus“ (Hebr 12,24) .......................................................................404 a. Die Zusammenfassung der Christologie im Hebräerbrief ..............................................................404 b. Die Zusammenfassung der Soteriologie des Hebräerbriefs (1) ............................................................405 3.1.8 „Zum Blut der Besprengung, das Besseres redet als Abel“ (Hebr 12,24) ........................................................406 a. Die Zusammenfassung der Soteriologie des Hebräerbriefs (2) ............................................................406 b. krei/tton und die Rekapitulation vom Thema der Überlegenheit Jesu bzw. der neuen Heilsordnung ...........407 3.2 Hebr 12,22–24 als rhetorische Klimax ..........................................407 3.2.1 Von der doppelten Aufforderung, hinzuzutreten, zur abschliessenden Zusage: „Ihr seid hinzugetreten!“ ........408 3.2.2 Die perfektivische Perspektive ............................................408
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a. Bei der Gottesstadt und damit am Ziel angekommen ......409 b. Das Heil erlangt..............................................................409 3.2.3 Die ausführliche Entfaltung zentraler Heilsbegriffe ............410 3.2.4 Die hohe Dichte von (wichtigen) Begriffen, die letztmalig verwendet werden ..............................................410 3.2.5 Die dem Gesamtschreiben entsprechende Theozentrik ........412 3.2.6 Die Zusammenfassung der theologischen Hauptbotschaft des Hebräerbriefs .......................................413 4 Hebr 12,25–29 als pointierte paränetische Zusammenfassung des Hebräerbriefs ................................................................................ 415 4.1 Die zusammenfassende Funktion des Appells in Hebr 12,25a .......415 4.1.1 Das Resümee der Ermahnung zur Vorsicht vor dem Abfall (Hebr 3,12) ..............................................................415 4.1.2 Das Resümee der Ermahnungen, auf den redenden Gott zu hören (Hebr 2,1; 3,7f.15; 4,7) .................................416 4.1.3 Das Resümee der Ermahnungen, die Rettung in Jesus nicht zu missachten (Hebr 2,3), am christlichen Bekenntnis festzuhalten (4,14; 10,23) und den durch Jesus ermöglichten Freimut nicht fortzuschleudern (10,35) 417 4.2 Die zusammenfassende Funktion der Aufforderung in Hebr 12,28b ..............................................................................419 4.2.1 Das Resümee der Ermahnungen, zu Gott hinzuzutreten (Hebr 4,16; 10,22) und die gottesdienstliche Versammlung nicht zu verlassen (10,25) ............................419 4.2.2 Das Resümee der Ermahnungen, die Sünde abzulegen (Hebr 12,1) sowie dem Frieden und der Heiligung nachzujagen (12,14) ............................................................419 4.2.3 Das Resümee der Ermahnungen, glaubensvoll zu leben (6,11f), das Bekenntnis der Hoffnung festzuhalten (10,23) und auszuharren (10,36) ......................................................420 4.3 Die zuspitzend-zusammenfassende Funktion der Gerichtswarnungen in Hebr 12,25bc–12,27 und 12,29 ..................421
Kapitel III: Hebr 12,18–29 und seine strukturell-rhetorische Funktion im Hebräerbrief ............................................... 423 1 Ist Hebr 12,18–29 die peroratio des Hebräerbriefs? ........................... 423 1.1 Die berechtigte Suche nach einer peroratio im Hebräerbrief .........423 1.2 Die Bedeutung der peroratio in der antiken Rhetorik ....................424
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1.2.1 Aristoteles und Anaximenes................................................424 1.2.2 Cicero .................................................................................425 1.2.3 Rhetorica ad Herennium .....................................................427 1.2.4 Quintilian ............................................................................427 1.3 Die Übereinstimmungen in Hebr 12,18–29 ...................................429 1.3.1 Der Funktionsbereich „Zusammenfassung“ ........................429 1.3.2 Der Funktionsbereich „Steigerung“.....................................430 1.3.3 Der Funktionsbereich „Versetzung in die Affekte“ .............431 1.4 Die Übereinstimmungen in anderen Textabschnitten ....................432 1.5 Fazit ..............................................................................................435 2 Hebr 12,18–29 als Redeschluss und die Funktion von Hebr 13 ........... 437
Teil D
Gesamtertrag und Ausblick Kapitel I: Gesamtertrag .................................................................... 443 Kapitel II: Ausblick .......................................................................... 444 Literaturverzeichnis ...........................................................................445 Register der antiken Texte und Stellen ..............................................477 Register der zitierten neuzeitlichen Autoren .....................................513 Personen- und Sachregister ...............................................................521
Abkürzungsverzeichnis Frühjüdische Schriften 4.Esr äthHen grBar grHen slawHen slawVitAd syrBar TestAs TestDan TestJak TestJud TestLev TestNaph TestSeb TestSim Weish
Esra-Apokalypse 1. (äthiopisches) Henochbuch Griechische Baruch-Apokalypse (3. Baruchbuch) 1. (griechisches) Henochbuch 2. (slawisches) Henochbuch Vita Adae et Evae (slawisch) Syrische Baruch-Apokalypse (2. Baruchbuch) Testamente der Zwölf Patriarchen. Asser Testamente der Zwölf Patriarchen. Dan Testament Jakobs Testamente der Zwölf Patriarchen. Juda Testamente der Zwölf Patriarchen. Levi Testamente der Zwölf Patriarchen. Naphtali Testamente der Zwölf Patriarchen. Sebulon Testamente der Zwölf Patriarchen. Simeon Weisheit Salomos
Werke Philos Abr. Aet. Agr. Cher. Conf. Congr. Decal. Deus Flacc. Fug. Gig. Her. Jos. Legat. Mos. Mut.
De Abrahamo De aeternitate mundi De agricultura De Cherubim De confusione linguarum De congressu eruditionis gratia De decalogo Quod Deus sit immutabilis In Flaccum De fuga et inventione De gigantibus Quis rerum divinarum heres sit De Iosepho Legatio ad Gaium De vita Mosis De mutatione nominum
Abkürzungsverzeichnis Opif. Post. Prob. Prov. QE Somn. Spec. Virt.
De opificio mundi De posteritate Caini Quod omnis probus liber sit De providentia Quaestiones et solutiones in Exodum De somniis De specialibus legibus De virtutibus
Verschiedene antike Autoren und ihre Schriften Aisch. Aischyl. Pers. Anaxim. Ar. rhet. Apoll. Rhod. Argon. Aristoph. Eccl. Aristot. Metaph. Rhet. Cic. Inv. Part. Diod. Bibl. Euseb. Hist. eccl. Her. Herod. Hist. Hom. Il. Od. Is. Philoct. Isokr. Or. Joseph. Ant. Apion. Lucian. Vit. auct. Men. Georg.
Aischines Aischylos Persae Anaximenes Ars rhetorica Apollonios Rhodios Argonautica Aristophanes Ecclesiazusae Aristoteles Metaphysica Ars rhetorica Cicero De inventione Partitiones oratoriae Diodorus Siculus Bibliotheca historica Eusebius Historia ecclesiastica Rhetorica ad Herennium Herodot Historiae Homer Illias Odyssea Isaios Philoctemon Isokrates Orationes Josephus Antiquitates Iudaicae Contra Apionem Lucianus Samosatensis Vitarum auctio Menandros Georgus
XXI
XXII Philostr. Her. Plat. Apol. Leg. Menex. Phaed. Phaedr. Phileb. Rep. Tim. Plut. Non Posse Num. Pomp. Them. Polyb. Hist. Ps.-Aristot. Mir. Mund. Quint. Inst. Tert. Pud. TestSal Thuk. Hist. Xen. Cyrop.
Abkürzungsverzeichnis Philostratos Heroicus Platon Apologia Socratis Leges Menexenus Phaedo Phaedrus Philebus De re publica Timaeus Plutarch Non posse suaviter vivi secundum Epicurum Numa Pompeius Themistokles Polybios Historiae Pseudo-Aristoteles Mirabilia De mundo Quintilian Institutio oratoria Tertullian De pudicitia Testament Salomos Thukydides Historiae Xenophon Cyropaedia
Zeitschriften und Reihen AJEC ANTC AOTC ATD.A AYB AzBG BBR BECNT BIS BTCP CBib.NT CBR CCSSc CEJL
Ancient Judaism and Early Christianity Abingdon New Testament Commentaries Abingdon Old Testament Commentaries Das Alte Testament Deutsch. Apokryphen Anchor Yale Bible Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte Bulletin for Biblical Research Baker Exegetical Commentary on the New Testament Biblical Interpretation Series Biblical Theology for Christian Proclamation Commentaire biblique. Nouveau Testament Currents in Biblical Research Catholic Commentary on Sacred Scripture Commentaries on Early Jewish Literature
Abkürzungsverzeichnis CRI.JTECL DCLY DSD ECC EQ ESEC EtB.NS EuroJTh FaMi FIOTL FiRe FN HCOT Hermeneia HO.NMO HTA.NT HThK.AT Int.BCTP IVP.NTC JATS JGRChJ JMAT JSHJ JThF LNTS LSTS LuVe MBI NAC NAC.SBT NCBC NIBC NICNT NICOT NSBT NTA.NF NTL NTSI NTTh NTTSD OPTAT Paideia PBM PNTC Read.NBC RevQum RPTh Rs.En
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Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum. Section 3: Jewish Traditions in Early Christian Literature Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook Dead Sea Discoveries Eerdmans Critical Commentary Evangelical Quarterly Emory Studies in Early Christianity Études bibliques. Nouvelle série European Journal of Theology Faith and Mission Formation and Interpretation of Old Testament Literature Fides Reformata Filología neotestamentaria Historical Commentary on the Old Testament Hermeneia – A Critical and Historical Commentary on the Bible Handbuch der Orientalistik. Abteilung 1: Der Nahe und Mittlere Osten Historisch-Theologische Auslegung. Neues Testament Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament Interpretation: A Bible Commentary for Teaching and Preaching IVP New Testament Commentary Journal of the Adventist Theological Society Journal of Greco-Roman Christianity and Judaism Journal of Ministry and Theology Journal for the Study of the Historical Jesus Jerusalemer theologisches Forum Library of New Testament Studies Library of Second Temple Studies In Luce Verbi Methods in Biblical Interpretation New American Commentary New American Commentary. Studies in Bible and Theology New Cambridge Bible Commentary New International Biblical Commentary New International Commentary on the New Testament New International Commentary on the Old Testament New Studies in Biblical Theology Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge New Testament Library The New Testament and the Scriptures of Israel New Testament Theology New Testament Tools, Studies and Documents Occasional Papers in Translation and Textlinguistics Paideia Commentaries on the New Testament Paternoster Biblical Monographs Pillar New Testament Commentary Readings: A New Biblical Commentary Revue de Qumran Religion in Philosophy and Theology Rhetorica Semitica. English
XXIV SBJT SBL.AcBib SBL.RBS SBL.StBL SDSS SHBC ShinKen SJSJ SpeChr STB STDJ StEAC TBN TG.ST ThKNT TrJ WBC WUNT II ZBK.AT ZBK.NT ZNT
Abkürzungsverzeichnis Southern Baptist Journal of Theology Society of Biblical Literature. Academia Biblica Society of Biblical Literature. Resources for Biblical Study Society of Biblical Literature. Studies in Biblical Literature Studies in the Dead Sea Scrolls and Related Literature Smyth and Helwys Bible Commentary Shingaku-Kenkyu – Theological Studies Supplements to the Journal for the Study of Judaism Spes Christiana Studien zu Theologie und Bibel Studies on the Texts of the Desert of Judah Studies on Early Christian Apocrypha Themes in Biblical Narrative Tesi Gregoriana. Serie Teologia Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Trinity Journal Word Biblical Commentary Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe Zürcher Bibelkommentare. Altes Testament Zürcher Bibelkommentare. Neues Testament Zeitschrift für Neues Testament
Sonst entsprechen die Abkürzungen grundsätzlich dem Abkürzungsverzeichnis in: S. M. Schwertner (Hg.), Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 2. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter, 1992.
Teil A
Einführung
Kapitel I
Einleitung in die Arbeit 1 Ausgangslage Dass Hebr 12,18–29 im Gesamtschreiben eine besondere strukturelle und theologische Bedeutung zukommt, wurde in der Forschung bereits mehrfach postuliert. So schreibt z. B. Grässer: „Hebr 12,18–29 ist vielleicht der theologisch bedeutsamste Abschnitt im ganzen Mahnschreiben“. 1 Schierse bezeichnet die Verse als „rhetorische Glanzleistung und gedanklichen Höhepunkt“2, Robinson als „the noble and impressive finale“3, Laub als „letzte[s] gewaltige[s] Szenarium“4, Lindars als „grande finale“5, Wider als „abschliessenden Höhepunkt“6, Westfall als „Climax“7 und Lee als „rhetorical climax of the letter“8. Gewisse Exegeten sehen in dem Abschnitt sogar eine Art „Schlusswort“9. So spricht z. B. Westcott von einem „solemn close of the main argument of the
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E. Grässer, An die Hebräer. Hebr 10,19–13,25, EKK 17/3, Zürich/Neukirchen: Benziger/Neukirchener, 1997, 302. 2 Vgl. F. J. Schierse, Verheissung und Heilsvollendung. Zur theologischen Grundfrage des Hebräerbriefes, MThS.H 9, München: Zink, 1955, 171f; seinem Urteil folgt z. B. A. Vögtle, Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos, KBANT, Düsseldorf: Patmos, 1970, 76. 3 Vgl. T. H. Robinson, The Epistle to the Hebrews, MNTC 13, London: Hodder and Stoughton, 1964, 188. 4 Vgl. F. Laub, Hebräerbrief, SKK.NT 14, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1988, 172. 5 Vgl. B. Lindars, „The Rhetorical Structure of Hebrews“, in: NTS 35.3/1989, 402; von einem „finale“ spricht z. B. auch J. Moffatt, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Hebrews, ICC, Edinburgh: T&T Clark, 1924, 213. 6 Vgl. D. Wider, Theozentrik und Bekenntnis. Untersuchungen zur Theologie des Redens Gottes im Hebräerbrief, BZNW 87, Berlin, New York: de Gruyter, 1997, 88. 7 Vgl. C. L. Westfall, A Discourse Analysis of the Letter to the Hebrews. The Relationship between Form and Meaning, LNTS 297, London, New York: T&T Clark, 2005, 301; an einer anderen Stelle bezeichnet sie 12,18–27 als „the climax of the discourse“ (ebd., 282). 8 Vgl. G. W. Lee, Today When You Hear His Voice. Scripture, the Covenants, and the People of God, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2016, 131. 9 Vgl. H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer, ThHK 16, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1988, 256; er spricht von einem „wohlkomponiertem Schlusswort“; ähnlich auch M. E. Isaacs, Sacred Space. An Approach to the Theology of the Epistle to the Hebrews, JSNT.S 73, Sheffield: JSOT Press, 1992, 87 (sie bezeichnet Hebr 12,18–28 als „the culminating exhortation with which he [sc. Hebr] concludes his sermon“).
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A. Einführung
epistle“10 und Backhaus vom „Finale des eigentlichen Predigt-Corpus“11. Für Lincoln und Witherington bildet der Abschnitt die peroratio des Hebräerbriefs.12 Die Besonderheit von Hebr 12,18–29 sehen einige Exegeten vor allem im zusammenfassenden Charakter des Abschnitts begründet. So betont z. B. Thompson: „In 12:18–29, the author reaches the rhetorical climax of the peroratio [sc. 10,32–13,25] and the entire homily, summarizing the content of the message with the same rhetorical intensity with which it began.“13 Nach Lane ist die Passage ein „magisterial résumé of themes and motifs introduced throughout the homily“14, nach Schierse „eine Zusammenschau aller eschatologischen Motive des Briefes“15. Einzelne Ausleger sehen zusätzlich oder auch nur in Hebr 12,18–24 bzw. 12,22–24 ein (besonderes) Finale. Nach Guthrie z. B. kann der erste Teilabschnitt als „the climax of the discourse“ angesehen werden.16 Backhaus bezeichnet ihn als „letzten Höhepunkt“ des Hebr.17 Zu Hebr 12,22−24 schreibt z. B. Barnard: „[I]t constitutes the climax of the book and encapsulates the essence of the author’s message“.18 Obwohl die besondere strukturelle und theologische Bedeutung von Hebr 12,18–29 (und einzelnen Teilen davon) immer wieder betont wurde, fehlt bis heute eine ausführliche Untersuchung des Textes auf die Frage hin, ob bzw. inwiefern ihm eine hervorragende Stellung im Hebräerbrief zukommt. Casey hat in ihrer 1976 publizierten Dissertation „Eschatology in Heb 12:14−29. An exegetical Study“ die Verse zwar eingehend analysiert19, ohne dabei aber die 10
Vgl. B. F. Westcott, The Epistle to the Hebrews. The Greek Text with Notes and Essays, London: Macmillan, 2. Aufl., 1892, 409. 11 Vgl. K. Backhaus, „Das Land der Verheissung: Die Heimat der Glaubenden im Hebräerbrief“, in: NTS 47.2/2001, 180. 12 Vgl. A. T. Lincoln, Hebrews. A guide, London, New York: T&T Clark, 2006, 32; B. Witherington, Letters and Homilies for Jewish Christians. A Socio-Rhetorical Commentary on Hebrews, James and Jude, Downers Grove/Nottingham: IVP Academic/Apollos, 2007, 51. 13 J. Thompson, Hebrews, Paideia, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2008, 266. 14 Vgl. W. L. Lane, Hebrews 9-13, WBC 47B, Nashville, TN: Nelson, 2000, 448; ähnlich schon J. Cambier, „Eschatologie ou hellénisme dans l’Épître aux Hébreux: une étude sur μένειν et l’exhortation finale de l’épître“, in: Sal. 11/1949, 62 („le résumé magistral de l’épître“). 15 Vgl. Schierse, Verheissung, 171. 16 Vgl. G. H. Guthrie, The Structure of Hebrews. A Text-Linguistic Analysis, NT.S 73, Leiden: Brill, 1994, 143. 17 Vgl. K. Backhaus, Der Hebräerbrief, RNT, Regensburg: Pustet, 2009, 435. 18 J. A. Barnard, The Mysticism of Hebrews. Exploring the Role of Jewish Apocalyptic Mysticism in the Epistle to the Hebrews, WUNT II 331, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 208. 19 Vgl. J. Casey, Eschatology in Heb 12:14-29. An exegetical Study, Diss. theol., Leuven: Katholiche Universiteit, 1976.
I. Einleitung in die Arbeit
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Frage nach der besonderen Stellung von Hebr 12,18–29 im Gesamtschreiben zu beantworten.20 In der 2006 erschienen Monographie „Zion Symbolism in Hebrews. Hebrews 12:18–24 as a Hermeneutical Key to the Epistle“ stellt Son zwar die besondere Bedeutung von Hebr 12,18–29 als „little epistle within the epistle“ fest21, aber er untersucht lediglich V.18–24.22 Zudem analysiert er den Text fast ausschliesslich auf seine These hin, dass der dortige Kontrast „Sinai−Zion“ die Basis ist für die vermeintlich im ganzen Hebr verwendete rhetorische Strategie, die Überlegenheit Jesu über verschiedene Figuren des Alten Testaments zu zeigen.23 Im Jahr 2016 erschien die überarbeitete Dissertation von Kibbe mit dem Titel „Godly Fear or Ungodly Failure? Hebrews 12 and the Sinai Theophanies“.24 Darin untersucht Kibbe Hebr 12,18–2925 lediglich auf folgende Frage hin: „[O]n what basis, and to what end, does Heb 12:18–29 present Israel’s request for a mediator at Sinai as an act of rebellion against God and a refusal to heed his voice from the mountain?“.26 Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, dieser Forschungslücke abzuhelfen und eine ausführliche Untersuchung von Hebr 12,18–29 in Bezug auf eine mögliche hervorragende Stellung im Hebräerbrief zu bieten.
2 Fragestellung Die Hauptfragestellung dieser Arbeit lautet wie folgt: Kann Hebr 12,18–29 sowohl strukturell als auch theologisch als Höhepunkt des Gesamtschreibens gelten27, und falls ja, warum? Damit verknüpft ist auch die Frage, welche (rhetorische) Funktion die einzelnen Teile der Perikope – d. h. die expositio (V.18– 20
Casey geht es in ihrer Untersuchung primär um die eschatologische Orientierung in Hebr 12,14–29 (vgl. Casey, Eschatology, 601–631). 21 Vgl. K. Son, Zion Symbolism in Hebrews. Hebrews 12:18-24 as a Hermeneutical Key to the Epistle, PBM, Waynesboro, GA: Paternoster, 2005, 84. 22 Vgl. ebd., 77–103. 23 Vgl. ebd., 77; M. Karrer wendet in seiner Buchrezension gegen diese These mit Recht u. a. Folgendes ein: „Zum einen verwendet der Hebr das Stichwort ‚Zion‘ nie vor und ausser 12,22 sowie ‚Sinai‘ überhaupt nicht. […] ‚Zion‘ in 12,22 ist […] eher Ziel der Argumentation als Leseanweisung für alle Kapitel des Hebr (eine solche Leseanweisung würde ich in Kap. 1 erwarten)“ (vgl. RBL 01/2007, 2). 24 Vgl. M. Kibbe, Godly Fear or Ungodly Failure? Hebrews 12 and the Sinai Theophanies, BZNW 216, Berlin, Boston: de Gruyter, 2016. 25 Vgl. ebd., 182–212. 26 Vgl. ebd., 213. 27 Weiss z. B. weist dies klar zurück, wenn er zu Hebr 12,18–24 schreibt: „Sofern der Abschnitt […] fest in seinem Kontext integriert ist, stellt er keineswegs den ,gedanklichen Höhepunkt‘ des ganzen Hebr dar“ (vgl. H.-F. Weiss, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1. Aufl., 1991, 669); Gelardini z. B. sieht den Höhepunkt bzw. die höchste Stufe in 7,1–10,18 („Neuer Bund und Kultinstitution“) bzw. in
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A. Einführung
24) bzw. die sich darin besonders hervorhebende (weil positive) Zion-Vision (V.22–24) sowie die exhortatio (V.25–29) – bei einer möglichen klimaktischen Position einnehmen. Nicht zuletzt stellt sich auch die Grundsatzfrage, ob Hebr 12,18–29 überhaupt als eine Texteinheit gesehen werden kann. 28
3 Aufbau und Methodik In der Einführung (dem ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit) gehe ich im Folgenden auf die Einleitungsfragen zum Hebräerbrief ein.29 Ein besonderes Interesse gilt dabei erstens den beiden Fragen nach der Gattung und nach der Struktur des Hebr, weil sie für die Hauptfragestellung eine grosse Relevanz haben, sowie zweitens der Frage nach der Empfängerschaft und dem Abfassungszweck, da diese für die Exegese eine besondere Bedeutung haben. Der zweite und ausführlichste Hauptteil der Arbeit beinhaltet die Analyse von Hebr 12,18–29, die sich den vielen Auslegungsfragen zum theologisch äusserst vielfältigen und dichten Abschnitt Stück für Stück stellt und versucht, einen grossen Teil der Forschung zum Hebräerbrief und der weiteren relevanten Literatur zu berücksichtigen. Diese genaue Exegese ist für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit unverzichtbar. In der Textanalyse wende ich mich – mit Blick auf die Fragestellung – zunächst ausführlich dem engeren 8,7–9,10 rund um das Zitat aus JerLXX 38,31–34 (vgl. G. Gelardini, „Verhärtet eure Herzen nicht“. Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa be-Aw, BIS 83, Leiden: Brill, 2007, 81.83.299); Heath sieht den thematischen Höhepunkt („Thematic Peak“) in 8,1f und zwei exhortative Klimaxe („Hortatory Climax“) in 4,14–16 und 10,22–24 (vgl. D. M. Heath, „The Problem of Peak in Hebrews“, in: Neotest. 48.2/2014, 412). 28 Einige Exegeten sehen den Höhepunkt des Hebräerbriefs nicht erst mit 12,18, sondern mit 12,14 beginnend; vgl. z. B. Isaacs, Space, 17: „Heb. 12.14-29 is the epilogue (evpi,logoj) of the lecture“; Lane, Hebrews II, 495: „The homily reaches its pastoral and theological climax in 12:14–29“; von 14–29 schreibt auch Spicq: „Ce […] paragraphe […] pourrait être considéré […] come une récapitulation du thème moral de l’Épitre (cf. VI,4-20), et correspondrait alors à la péroraison de l’art rhétorique, o` evpi,logoj“ (vgl. C. Spicq, L’Épître aux Hébreux. Tome I. Introduction, EtB, Paris: Gabalda, 1952, 37; vgl. C. Spicq, L’Épître aux Hébreux. Tome II. Commentaire, EtB, Paris: Gabalda, 1953, 398: „La densité de cette conclusion est tout à fait remarquable. L’auteur y résume les idées essentielles de l’Epitre et unit harmonieusement“). 29 Ich lasse die umfangreich und kontrovers diskutierte Frage zum religionsgeschichtlichen Hintergrund des Hebräerbriefs aus (zu einem guten Überblick vgl. z. B. L. D. Hurst, The Epistle to the Hebrews. Its Background of Thought, SNTS.MS 65, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1990; J. Punt, „Hebrews, Thought-Patterns and Context: Aspects of the Background of Hebrews“, in: Neotest. 31.1/1997, 119–158; G. L. Cockerill, The Epistle to the Hebrews, NICNT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2012, 24–34); an verschiedenen Stellen in der Exegese von Hebr 12,18–29 werde ich auf mögliche Parallelen zum philosophisch-religiösen Umfeld des Verfassers eingehen (insbesondere zur VIerousalh.m evpoura,nioj in V.22 und zur tw/n saleuome,nwn meta,qesij in V.27).
I. Einleitung in die Arbeit
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Kontext und der Abgrenzung von Hebr 12,18–29 zu. Nach der Erfassung der Grundstruktur folgt dann eine detaillierte Vers-für-Vers-Auslegung. Den dritten Hauptteil der Arbeit bildet die Auswertung, wo die Frage, ob bzw. inwiefern Hebr 12,18–29 als struktureller und theologischer Höhepunkt des Gesamtschreibens gelten kann, eingehend beantwortet werden soll. Am Schluss der Arbeit steht ihr Gesamtertrag und ein Ausblick auf die weitere zu tätigende Forschung.
Kapitel II
Einleitungsfragen zum Hebräerbrief 1 Literarischer Charakter Der Hebräerbrief – wohl das „eleganteste Schreiben des NT“1 – wurde, „verleitet durch die paulinische Form der Inscriptio pro.j `Ebrai,ouj und den brieflichen Schluss 13,18–25“2, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts primär der literarischen Gattung Brief zugerechnet.3 Ab dann ist man u. a. mit Blick auf das fehlende Präskript zunehmend von dieser Klassifizierung abgekommen. 4 Die neueren Versuche, die literarische Form des Hebr anders zu beschreiben, sind zahlreich. Braun z. B. versteht den Hebr als „Predigt-Brief“, also als „Zwitter“5, Rissi als „theologische Meditation“6, Gelardini als „Synagogenhomilie“7. Nach Grässer ist für den Hebr „[m]öglicherweise […] keine der geläufigen Gattungsbezeichnungen anwendbar“.8 Dieses Urteil von Grässer scheint mir zu pessimistisch zu sein. Dass heute eine Mehrheit der Exegeten den Hebr als „brieflich ergänzte und versandte Predigt“ versteht9, ist gut begründet. Das Schreiben beginnt −wie das exordium in 1
So nach M. Karrer, Der Brief an die Hebräer. Kapitel 1,1-5,10, ÖTBK 20/1, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2002, 29: „Sein rhetorisch qualitätvoller Stil, sein ungewöhnlicher Wortschatz und seine Liebe zu Metaphern heben ihn von der Alltagskommunikation und Gebrauchsliteratur seiner Zeit ab“. 2 Vgl. E. Grässer, An die Hebräer. Hebr 1–6, EKK 17/1, Zürich/Neukirchen: Benziger/Neukirchener, 1990, 15. 3 Vgl. z. B. B. Weiss, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2. Aufl., 1897, 19f; noch Riggenbach bezeichnet das Schreiben als „Mahn- und Trostbrief“ und wehrt sich gegen die zu seiner Zeit aufkommende Klassifizierung des Hebr als „Abhandlung“ (vgl. E. Riggenbach, Der Brief an die Hebräer, KNT 14, Leipzig: Deichert, 1913, XVI). 4 Zu einer Übersicht der frühen Vertreter dieser Neuorientierung vgl. z. B. R. Perdelwitz, „Das literarische Problem des Hebräerbriefs“, in: ZNW 11/1910, 59f. 5 Vgl. H. Braun, An die Hebräer, HNT 14, Tübingen: Mohr Siebeck, 1984, 1. 6 Vgl. M. Rissi, Die Theologie des Hebräerbriefs. Ihre Verankerung in der Situation des Verfassers und seiner Leser, WUNT 41, Tübingen: Mohr Siebeck, 1987, 13. 7 Vgl. Gelardini, Synagogenhomilie. 8 Vgl. Grässer, Hebräer I, 15. 9 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 38; vgl. z. B. auch O. Michel, Der Brief an die Hebräer, KEK 13, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 8. Aufl., 1984, 35; A. Vanhoye, Structure and message of the Epistle to the Hebrews, SubBi 12, Roma: Editrice Pontificio Istituto
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
9
Hebr 1,1−410 deutlich zeigt − als Rede (vgl. auch 1.Joh 1,1ff) und endet – spätestens durch 13,22–25 ersichtlich – brieftypisch11. Dass der Hebr hauptsächlich als eine vorzutragende Rede verfasst ist, unterstreicht der an zahlreichen Stellen offenbar werdende Sprachstil, der aufs Hören angelegt ist12 (vgl. z. B. die häufigen Assonanzen13 und Alliterationen14). Diese Rede als Predigt näher zu bestimmen, scheint angesichts der Tatsache, dass wir über die urchristlichen Predigten im ersten Jahrhundert relativ wenig wissen15, zunächst gewagt zu sein. Mit Blick auf Hebr 13,22, wo der auctor ad Hebraeos sein Schreiben bzw. seine Rede als „Wort der Ermahnung“ bzw. „Rede der Ermahnung“16 (lo,goj biblico, 1989, 2; H.-F. Weiss, Hebräer, 37–41; G. Schunack, Der Hebräerbrief, ZBK.NT 14, Zürich: Theologischer Verlag, 2002, 12; Witherington, Hebrews, 20; P. T. O’Brien, The Letter to the Hebrews, PNTC, Grand Rapids/Nottingham: Eerdmans/Apollos, 2010, 20–22; Cockerill, Hebrews, 15f; M.-L. Hermann, Die „hermeneutische Stunde“ des Hebräerbriefs. Schriftauslegung in Spannungsfeldern, HBS 72, Freiburg i. Br.: Herder, 2013, 12–16; J. I. Griffiths, Hebrews and Divine Speech, LNTS 507, London, New York: Bloomsbury; T&T Clark, 2014, 17. Schon Dibelius äusserte sich ähnlich: „Der Hebräerbrief ist eine zum Brief gewordene Predigt; eine Predigt, die der Redner niederschrieb und, mit einer brieflichen Nachschrift versehen, an einen ihm bekannten Kreis von Christen sandte“ (vgl. F. Dibelius, Der Verfasser des Hebräerbriefes. Eine Untersuchung zur Geschichte des Urchristentums, Strassburg: Heitz, 1910, 13). 10 Hebr 1,1−4 wird von den meisten Exegeten als typisch rednerisches exordium gedeutet (↑ A.II.2.2). 11 Dazu, dass der briefliche Schluss nicht nur Hebr 13,22–25 umfasst (vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 40 und Hermann, Schriftauslegung, 14), sondern Hebr 13 als Ganzes (vgl. z. B. Lincoln, Hebrews, 25.33 und Backhaus, Hebräerbrief, 48), vgl. C.III.2. 12 Zu den ausführlichen Belegen vgl. z. B. Moffatt, Hebrews, lvi–lxiv; Witherington, Hebrews, 40–42; O’Brien, Hebrews, 21 und Cockerill, Hebrews, 11. 13 Vgl. z. B. avpisti,aj und avposth/nai in Hebr 3,12; parakalei/te und kalei/tai in 3,13; e;maqen und e;paqen in 5,8. 14 Vgl. z. B. die fünfteilige p-Alliteration in Hebr 1,1; pa/sa para,basij kai. parakoh, in 2,2; avpa,twr avmh,twr avgenealo,ghtoj in 7,3. 15 Zum Wenigen, das man aus den neutestamentlichen Schriften ableiten kann, vgl. z. B. J. C. Salzmann, Lehren und Ermahnen. Zur Geschichte des christlichen Wortgottesdienstes in den ersten drei Jahrhunderten, WUNT II 59, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 131f. Über „die“ jüdisch-hellenistische Synagogenpredigt und ihren möglichen Einfluss auf „die“ Predigt in urchristlichen Gemeinden wird seit Längerem geforscht und debattiert; vgl. dazu z. B. H. Thyen, Der Stil der jüdisch-hellenistischen Homilie, FRLANT 65, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1955; L. M. Wills, „The Form of the Sermon in Hellenistic Judaism and Early Christianity“, in: HThR 77.3−4/1984, 277−299; C. C. Black, „The Rhetorical Form of the Hellenistic Jewish and Early Christian Sermon: A Response to Lawrence Wills“, in: HThR 81.1/1988, 1−18; Hermann, Schriftauslegung, 156−193. 16 Sowohl im ausserbiblischen Griechisch (vgl. z. B. Aisch. 3,57; Plat., Menex. 236b) als auch im Neuen Testament (vgl. z. B. Apg 6,4; 1.Kor 2,4; 2.Kor 10,10; 11,6) hat der Begriff lo,goj auch die Bedeutung von „Rede“; somit hat das Übersetzen vom lo,gw| th/j paraklh,sewj als „Mahnrede“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 409) bzw. „hortatory speech“ (vgl. L. T. Johnson, Hebrews. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2006, 357) durchaus seine Berechtigung.
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A. Einführung
th/j paraklh,sewj) bezeichnet17, erachte ich dies aber durchaus als gerechtfertigt. Denn in Apg 13,15 steht der Begriff lo,goj paraklh,sewj offenbar für eine Predigt, die in der Synagoge üblicherweise auf die Lesung der Tora und der Propheten folgte (ähnlich z. B. auch Philo, Spec. 2,62).18 Dass der lo,goj th/j paraklh,sewj in Hebr 13,22 sehr wahrscheinlich ein terminus technicus für eine Predigt (d. h. eine belehrende Mahnrede in einem Gottesdienst) ist – wie es v. a. mit Verweis auf Apg 13,15 viele Exegeten postulieren19 −, legt auch 1.Tim 4,13 nahe. An dieser Stelle wird das gottesdienstliche „Vorlesen“ (avnagnw,sij) der Heiligen Schriften (vgl. z. B. NehLXX 8,8; 2.Kor 3,14; Apg 13,15) unmittelbar vor der gottesdienstlichen „Ermahnung“ (paraklh,sei) und „Lehre“ (didaskali,a|) erwähnt.20 Der Hebr als Predigt ist aber kaum im Zusammenhang mit einer gottesdienstlichen Lesung von einem ganz bestimmten alttestamentlichen Text zu sehen.21 Wenn man tatsächlich zwischen „der (direkt) schriftauslegenden
17 Mit Recht schreibt Cockerill zur Wendung: „[It] is a most apt description of Hebrews 1:1−12:29 or even 1:1−13:21. The entire book has been an exhortation to the perseverance in faith […]“ (vgl. Cockerill, Hebrews, 719). 18 Z. B. folgende Ausleger verstehen den in Apg 13,15 von Paulus und Barnabas durch die Synagogenvorsteher geforderten lo,gon paraklh,sewj als übliche Synagogen-„Predigt“: J. Roloff, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2010 [= 1981], 204; L. T. Johnson, The Acts of the Apostles, Sac.P 5, Collegeville, MN: Liturgical Press, 1992, 230 („sermon“); C. K. Barrett, A Critical and Exegetical Commentary on the Acts of the Apostles. Volume 1: Acts 1–14, ICC, London: T&T Clark, 1998, 629 („sermon“); W. Zhang, Paul Among Jews. A Study of the Meaning and Significance of Paul’s Inaugural Sermon in the Synagogue of Antioch in Pisidia (Acts 13:16-41) for his Missionary Work among the Jews, Eugene, OR: Wipf and Stock, 2011, 124f („sermon“). U. a. folgende Exegeten deuten die Rede von Paulus in Apg 13,16−47 als „Predigt“: M. F.-J. Buss, Die Missionspredigt des Apostels Paulus im Pisidischen Antiochien. Analyse von Apg 13,16–41 im Hinblick auf die literarische und thematische Einheit der Paulusrede, FzB 38, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 1980, 24f. u. ö.; Wills, „Form“, 279 („homily“); C. H. Talbert, Reading Acts. A Literary and Theological Commentary on the Acts of the Apostles, RNTS, Macon, GA: Smyth and Helwys, 2005, 120 („sermon“); C. S. Keener, Acts. An Exegetical Commentary – Volume 2, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2013, 2055 („homily“). 19 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 568; Witherington, Hebrews, 368; Backhaus, Hebräerbrief, 489; O’Brien, Hebrews, 538; Griffiths, Speech, 18f; J. I. Griffiths, Preaching in the New Testament. An exegetical and biblical-theological study, NSBT 42, London/Downers Grove: Apollos/Inter-Varsity Press, 2017, 104f. 20 Vgl. J. N. Kelly, A Commentary on the Pastoral Epistles. I Timothy – II Timothy – Titus, BNTC, London: Black, 1986 [= 1963], 105: „By exhortation is meant the exposition and application of Scripture which followed its public reading, in other words the sermon“; ähnlich auch H. Merkel, Die Pastoralbriefe, NTD 9/1, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1. Aufl., 1991, 38 und G. T. Montague, First and Second Timothy, Titus, CCSSc, Grand Rapids, MI: Baker, 2008, 101. 21 Nach Gelardini ist der Hebr eine Synagogenhomilie, die für den jüdischen Fastentag Tischa be-Aw konzipiert wurde und die Sidra Ex 31,(17b)18−32,35 sowie die Haftara Jer
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
11
homilia und dem themenzentrierten sermo“ unterscheiden darf22, dann ist der Hebr – wie Backhaus richtig betont − ein „schriftgebundener soteriologischer sermo“ bzw. ein „Christus-sermo“23 (vgl. v. a. Hebr 8,1: Kefa,laion de. evpi. toi/j legome,noij( toiou/ton e;comen avrciere,a( o]j evka,qisen evn dexia/| tou/ qro,nou th/j megalwsu,nhj evn toi/j ouvranoi/j). Die Bezeichnung des Hebr als „Synagogenhomilie“24 ist auch noch aus einem anderen Grund nicht angebracht. Sie scheint nämlich davon auszugehen, dass es in der hellenistisch-jüdischen Synagoge eine feste Predigtform gegeben hat und diese mehr oder weniger eins zu eins im urchristlichen Gottesdienst übernommen wurde.25 Beides ist zumindest fraglich.26 Sehr wahrscheinlich geht der Hebr als sermo nicht auf eine gehaltene Rede zurück, die erst nachträglich verschriftlicht und einer spezifischen Gemeinde versandt wurde.27 Das wiederholte konkrete Angesprochen-Werden von Christen auf ihre vergangene und gegenwärtige Glaubens- bzw. Lebenssituation hin (vgl. z. B. Hebr 5,11f; 6,10; 10,25.32–34) spricht vielmehr dafür, dass die Predigt bzw. Rede auf dem Papier entstand, um in der bestimmten Gemeinde gehalten bzw. vorgetragen zu werden28.
31,31−34 auslegt (vgl. Gelardini, Synagogenhomilie, 387f). Hermann hat gewisse fundamentale Probleme dieser These überzeugend dargelegt (vgl. Hermann, Schriftauslegung, 16; vgl. auch C. Mosser, RBL 12/2009). 22 Vgl. K. Backhaus, „Per Christum in Deum: Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief“, in: K. Backhaus, Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief, WUNT 240, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 57. 23 Vgl. Backhaus, „Per Christum“, 57.59; z. B. auch Hermann spricht sich für einen sermo aus (vgl. Hermann, Schriftauslegung, 14). 24 Vgl. neben Gelardini, Synagogenhomilie z. B. auch Thyen, Homilie, 106.118. 25 Vgl. z. B. Thyen, Homilie, 117−120 (vgl. insbesondere ebd., 118: „Für den Stil der synagogalen Homilie in der hellenistischen Welt haben sich die philonischen Traktate des allegorischen Genesiskommentars als wichtige Quelle erwiesen. […] Wie aus solcher jüdischen Homiletik christliche Predigt werden kann, zeigen uns deutlich der Hebr und der 1. Clem, deren Form ganz die der synagogalen Homilie ist“). 26 Vgl. z. B. J. Swetnam, „On the Literary genre of the ‚Epistle‘ to the Hebrews“, in: NT 11.4/1969, 261−269; C. C. Black, „Rhetorical“, 1−18; A. v. Stockhausen, „Christian Perception of Jewish Preaching in Early Christianity“, in: A. Deeg; W. Homolka, et al. (Hg.), Preaching in Judaism and Christianity. Encounters and Developments from Biblical Times to Modernity, SJ 41, Berlin, New York: de Gruyter, 2008, 49−70. 27 So z. B. mit Hermann, Schriftauslegung, 14: „Das Schreiben ist keine zuerst als Predigt gehaltene Rede, die im Nachhinein verschriftlich worden ist“; z. B. gegen Perdelwitz, „Problem“, 78: „Der Hebräerbrief ist ein, von einem Wanderprediger der nach-apostolischen Zeit gehaltener religiöser Vortrag […], eine Abschrift dieses lo,goj paraklh,sewj ist von einem aus Italien stammenden Hörer mit einem kurzen Geleitswort an einen Kreis befreundeter Christen nach Italien […] geschickt worden“. 28 So z. B. auch Hermann, Schriftauslegung, 16: „[D]er Hebr ist eine von vornherein schriftlich fixierte zugesandte Predigt, die in der Gemeindeversammlung vorgelesen werden
12
A. Einführung
2 Makrostruktur Die Frage nach der Struktur bzw. Gliederung war und ist eine der umstrittensten in der Forschung zum Hebräerbrief.29 Dies verdeutlicht der folgende (freilich nicht alle Vorschläge umfassende) Forschungsüberblick.30 2.1 Forschungsüberblick Bis weit ins 19. Jh. unterteilte man den Hebr mehrheitlich – oft in Analogie zu den (anderen) Paulusbriefen – in einen dogmatischen (1,1–10,18) und einen paränetischen Teil (10,19–13,25).31 Aber z. B. schon Bleek (1828) betonte die Unhaltbarkeit dieser Makrostruktur, weil Exposition und Paränese durch das ganze Schreiben zu stark ineinander „verflochten“ seien.32 Infolgedessen wurde z. B. von Delitzsch (1857) nach thematischen Kriterien gegliedert.33
sollte“; ähnlich auch Michel, Hebräer, 35: „Die Predigt soll vorgelesen werden und die Anwesenheit des Verfassers ersetzen“; W. L. Lane, Hebrews 1-8, WBC 47A, Nashville, TN: Nelson, 1991, lxxv: „Hebrews is a sermon prepared to be read aloud to a group of auditors“; neuerdings auch Griffiths, Preaching, 104f. 29 Vgl. M. E. Isaacs, „Why Bother With Hebrews?“, in: HeyJ 43.1/2002, 65: „Although it is generally agreed that Hebrews is the most well-structured of all the New Testament’s writings, there is no scholarly consensus as to exactly where one section begins and another ends“. 30 Zu einem detaillierteren und systematischeren Überblick vgl. z. B. Gelardini, Synagogenhomilie, 3–77 (sie beachtet die Literatur bis zum Jahr 2005). Auch der Artikel von Joslin bietet für die wichtigen Gliederungsentwürfe eine hilfreiche Übersicht (vgl. B. C. Joslin, „Can Hebrews be Structured?: An Assessment of Eight Approaches“, in: CBR 6.1/2007, 99– 129). 31 Vgl. z. B. F. A. Tholuck, Kommentar zum Briefe an die Hebräer, Hamburg: Friedrich Perthes, 2. Aufl., 1840, 81; A. Bisping, Erklärung des Briefes an die Hebräer, Exegetisches Handbuch zu den Briefen des Apostels Paulus III/2, Münster: Aschendorff, 1854, 31–33; G. Lünemann, Kritisch exegetisches Handbuch über den Hebräerbrief, KEK 13, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 3. Aufl., 1867, 275; zu einem neueren Beispiel für diese Art der Zweiteilung vgl. z. B. D. Guthrie, The Letter to the Hebrews. An Introduction and Commentary, TNTC 15, Leicester: Inter-Varsity Press, 1983, 58f. 32 Vgl. F. Bleek, Der Brief an die Hebräer. Einleitung, Berlin: Ferdinand Dümmler, 1828, 65; er selbst sieht einen Hauptteil, der bis 12,13 gehe und auf den ein „Anhang“ folge, der mit dem Zweck des Hauptteiles nur in einer „entfernten Verbindung“ stehe (ebd.). 33 Delitzsch sieht drei Hauptteile: a) 1,1−5,10 mit dem verbindenden Thema der „Erhabenheit“; b) 7,1–10,18 mit der Schilderung des Hohepriesters und seines Werkes; c) 10,19– 13,25 und „das rechte Verhalten in der Wartezeit“; dazu kommt der Übergangsteil in 5,1– 6,20 (vgl. F. Delitzsch, Commentar zum Briefe an die Hebräer. Mit archäologischen und dogmatischen Excursen über das Opfer und die Versöhnung, Leipzig: Dörffling und Franke, 1857, 1.200.264.476).
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
13
Diese Gliederungsmethode hat auch viel später noch seine Verfechter gefunden.34 Soden (1899) andererseits gliederte den Hebr unter rhetorischem Aspekt nach den (vermeintlichen) vier Bestandteilen einer antiken Rede35 und sollte damit – wie wir noch sehen – die Forschung bis heute massiv prägen. Nach literarischen Kriterien unterteilte Thien (1902) den Hebr in fünf Abschnitte, und zwar mittels drei für ihn entscheidenden Themenankündigungen in 2,17 (Pontife fidèle et miséricordieux), 5,9f (salut éternel et le grand-prêtre selon l’ordre de Melchisédech) und 10,38f (la foi).36 Von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf der Forschung waren die Dreigliederung von Nauck (1960) und die Fünfgliederung von Vanhoye (1963/1976). Nauck gliederte den Hebr nach dem Aufbau einer Predigt in einen Teil des Hörens (1,1–4,13), des Bekennens (4,14–10,31), und des Gehorchens (10,32– 13,17).37 Literarische Anzeichen für diese Dreiteilung waren für ihn die rahmenbildenden Entsprechungen am Anfang und am Ende der Hauptabschnitte: Der „Christus-Hymnus“ in 1,2b−4 entspreche dem „Logos-Hymnus“ in 4,12– 1338, die paränetische Passage in 4,14–16 jener in 10,19–3239 und die Aufforderung zur Erinnerung an die frühere Leidenszeit und zur Standfestigkeit in 34
Vgl. z. B. Schierse, Verheissung, 207–209: er vertritt eine thematisch-konzeptuelle Dreigliederung: „Die Gemeinde und das Verheissungswort“ (1,1–4,13), „Die Gemeinde und das Verheissungswerk“ (4,14–10,31) und „Die Gemeinde und das Verheissungsziel“ (10,32–13,25); ähnlich auch P. E. Hughes, A Commentary on the Epistle to the Hebrews, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1977, 3: sein Gliederungskriterium ist „Christ superior to/as“ (1,1–3: „to the prophets“; 1,4–2,18: „to the angels“; 3,1–4,13: „to Moses“; 4,14–10,18: „to Aaron“; 10,19–12,29: „as a new and living way“); Kapitel 13 beschreibt er als „concluding exhortations, requests, and greetings“. 35 Vgl. H. v. Soden, Hebräerbrief, Briefe des Petrus, Jakobus, Judas, HC 3/2, Freiburg i. Br.: Mohr Siebeck, 3. Aufl., 1899, 11: seine Gliederung beinhaltet ein prooi,mion mit einer pro,qesij (1,1–4,16), eine dih,ghsij pro,j piqano,thta (5,1–6,20), eine avpo,deixij pro,j peiqw, (7,1–10,18) und ein evpi,logoj (10,19–13). 36 Vgl. F. Thien, „Analyse de l’éptîre aux Hébreux“, in: RB 11/1902, 74–86. Die fünf Abschnitte sind: Einleitung (1,1–2,18), 1. Hauptteil (3,1–5,10), 2. Hauptteil (5,11–10,39), 3. Hauptteil (11,1–12,29) und Konklusion (13,1–25). Nach Thien werden die beiden ersten Themenkündigungen mit ihren „Doppelthemen“ im jeweiligen Hauptabschnitt in umgekehrter Reihenfolge abgehandelt: 3,1–4,13 (fidèle); 4,14–5,10 (miséricordieux); 7,1–28 (Melchisédech); 8,1–10,18 (salut). 37 Vgl. W. Nauck, „Zum Aufbau des Hebräerbriefes“, in: W. Eltester (Hg.), Judentum – Urchristentum – Kirche. FS Joachim Jeremias, BZNW 26, Berlin: de Gruyter, 2. Aufl., 1964, 206. 38 Vgl. Nauck, „Aufbau“, 205. Dazu komme, dass sowohl in 1,1–2 und 4,12–13 das Reden und Wort Gottes thematisiert werde (ebd.). 39 Vgl. ebd., 203f. vEcontej ou=n avrciere,a me,gan (4,14) z. B. stehe parallel zu vEcontej ou=n […] i`ere,a me,gan (10,19.21), kratw/men th/j o`mologi,aj (4,14) parallel zu kate,cwmen th.n o`mologi,an (10,23) und prosercw,meqa ou=n meta. parrhsi,aj (4,16) parallel zu prosercw,meqa meta. avlhqinh/j kardi,aj (10,22).
14
A. Einführung
10,32ff jener in 13,7ff.40 Diese Dreigliederung des Hebr wurde im Folgenden so oder ähnlich von zahlreichen Exegeten übernommen. 41 Vanhoyes Gliederung mit einer „introduction“ (1,1–4), fünf Hauptteilen (I: 1,5–2,18; II: 3,1–5,10; III: 5,11–10,39; IV: 11,1–12,13; V: 12,14–13,19) und einer „conclusion“ (13,20–21) sieht im Detail wie folgt aus: 42
40
Vgl. Nauck, „Aufbau“, 204f. Abgesehen vom Briefschluss identisch gliedert z. B. Karrer, Hebräer I, 6–9.74 (1,1– 4,13; 4,14–10,31; 10,32–13,25); Portalatin räumt dem exordium und postscriptum eine besondere Stellung ein, ansonsten ist auch sein Aufbau grundsätzlich gleich (1,5–4,13; 4,14– 10,31; 10,32–13,21; vgl. A. Portalatin, Temporal Oppositions as Hermeneutical Categories in the Epistle to the Hebrews, EHS.T 833, Frankfurt am Main, New York: Lang, 2006, 34ff; einige Exegeten sehen den Abschluss des zweiten Hauptteils nicht in 10,31 sondern schon in 10,18, folgen sonst aber – abgesehen von kleinen Differenzen beim Schluss – Naucks Gliederung; vgl. z. B. L. Neeley, „Discourse Analysis of Hebrews“, in: OPTAT 3−4/1987, 6; H.-F. Weiss, Hebräer, 47f; Backhaus, „Per Christum“, 63 (er lehnt sich auch in seiner thematischen Bezeichnung der drei Teile – „Hören“ – „Deuten“ – „Handeln“ – unverkennbar an Nauck an); Schunack, Hebräerbrief, 13–15; D. L. Allen, Hebrews, NAC 35, Nashville, TN: B&H Publishing Group, 2010, 90; zu einer anderen Dreiteilung des Hebr vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 29: 1,1–6,20 („Grundlegung: Der Weg des Erlösers“); 7,1–10,18 („Entfaltung: Das Hohepriestertum des Sohnes“); 10,19–13,21 („Folgerungen: Der Weg des Glaubens“). 42 Vgl. A. Vanhoye, La structure littéraire de l’épître aux Hébreux, SN 1, Paris: Desclée de Brouwer, 2. Aufl., 1976, 59. Der zweite Hauptteil besteht aus zwei Sektionen (3,1–4,14; 4,15–5,10), der dritte aus einer eröffnenden (5,11–6,20) und schliessenden exhortatio (10,19–39) und drei Sektionen (7,1–28; 8,1–9,28; 10,1–18), der vierte wiederum aus zwei Sektionen (11,1–40; 12,1–13). 41
15
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief Sujet:
a
1,1–4
Introduction
I
1,5–2,18
Le nom bien autre que celui des anges
Doctr.
V
Jésus, grand-prêtre digne du foi Jésus, grand-prêtre compatissant
Parén. Doctr.
IV B IV A
Exhortation préliminaire Jésus, grand-prêtre selon l’ordre de Melchisédech Jésus, grand-prêtre arrivé à l’accomplissement Jésus, grand-prêtre cause d’un salut éternel Exhortation finale
Parén. Doctr.
III f III C
Doctr.
Centre
Doctr.
III A
Parén.
III p
IV 11,1–12,13 A 11,1–40 B 12,1–13
La foi des anciens L’endurance nécessaire
Doctr. Parén.
II B II A
V 12,14–13,19
Des pistes droites
Parén.
I
z
Conclusion
II 3,1–5,10 A 3,1–4,14 B 4,15–5,10 III 5,11–10,39 p 5,11–6,20 A 7,1–28 B
8,1–9,28
C
10,1–18
f
10,19–39
13,20–21
Genre dominant:
Section homologue:
Division:
z
a
Abbildung 1: Gliederung des Hebräerbriefs nach Vanhoye
Die Gliederung basiert auf einer methodischen Untersuchung mittels fünf „indices littéraires“: 1) „l’annonce du sujet“, 2) „les mots-crochets“, 3) „le genre (exposé ou parénèse)“, 4) „les termes caractéristiques“ und 5) „les inclusions“.43 Auffallend ist die chiastische Anordnung, wobei die Passage Hebr 8,1–9,28 bzw. der Vers 9,11 bzw. Cristo,j als das erste Wort desselben das 43
Vgl. Vanhoye, La structure, 37. Später nimmt er noch ein sechstes Indiz dazu (vgl. ebd., 20: „symmetric arrangements“). Von Thien „übernimmt“ Vanhoye die Themenankündigungen in 2,17; 5,9f und 10,38f bzw. 10,35–39 (vgl. ebd., 38–48) und ergänzt sie mit jenen in 1,4 (Engelthematik; vgl. ebd., 38) und 12,13 („faites des pistes droites“ als „exigence concernant l’activité“ im Kontrast zur passiven „endurance dans les épreuves“ beginnend in 12,1; vgl. ebd., 48). Ein „mot-crochet“ im Sinne eines verbindenden Stichwortes ist z. B. a;ggeloj, das durch seine Position in 1,5 und 2,16 den Abschnitt mittels einer inclusio verbindet (vgl. ebd., 53f); mit den „mots-crochets“ lehnt sich Vanhoye an die Untersuchungen von Vaganay (1940) an (vgl. ebd., 24–37). Mit den „termes caractéristiques“ sind Leitworte gemeint, die in einem Abschnitt gehäuft vorkommen und ihn so abgrenzen (vgl. z. B. das Wortfeld rund um pisto,j und pi,stij in 3,1−4,14; vgl. ebd., 39); nach Gelardini war Descamps (1954) der erste, der diese Methode anwandte (vgl. Gelardini, Synagogenhomilie, 24f).
16
A. Einführung
Zentrum bzw. den Höhepunkt des Gesamtschreibens bildet.44 Vanhoye kommt zu dieser konzentrischen Gliederung, weil er auf der Sektionenebene thematische und auf der Makroebene konzeptuelle Entsprechungen sieht (I und V: „Eschatologie“; II und VI „Ecclésiologie“; III: „Sacrifice“).45 Vanhoyes fünfteilige Gliederung fand lange Zeit grossen Anklang. Recht getreu wurde sie z. B. von Attridge, Lane und Ellingworth übernommen. 46 Einen etwas abweichenden fünfteiligen Aufbau hat z. B. Mitchell.47 Dussaut gliedert den Hebr auf der Makroebene zwar in drei Teile (1,1–5,10/12; 5,11/13– 10,39; 11,1–13,21/25), aber er lehnt sich letztlich doch ganz stark an die fünfteilige Gliederung von Vanhoye an.48 Eine starke Anlehnung an Vanhoye zeigt sich neuerdings auch bei Massonnet.49 Für die Forschung wegweisend war nach der Gliederung von Vanhoye auch jene von Übelacker (1989), die sich am Redeaufbau des deliberativen Redetyps orientiert. Übelacker sieht folgende rhetorischen Elemente: das prooemium bzw. exordium (1,1–4), die narratio (1,5–2,18) mit der propositio (2,17f), die argumentatio mit probatio und refutatio (3,1–12,29), die peroratio (13,1–21) sowie das postscriptum (13,22–25) „mit Charakterisierung des literarischen Charakters von 1,1–13,21 als lo,goj th/j paraklh,sewj“.50
44
Vgl. Vanhoye, La structure, 237. Vgl. ebd., 225–235. 46 Vgl. H. W. Attridge, Hebrews, Hermeneia, Philadelphia: Fortress, 1989, 19 (exordium: 1,1–4; Teil I: 1,5–2,18; Teil II: 3,1–5,10; Teil III: 5,11–10,25; Teil IV: 10,26–12,13; Teil V: 12,14–13,21; postscriptum: 13,22–25); Lane, Hebrews I, cii–ciii (1,1–2,18; 3,1–5,10; 5,11– 10,39; 11,1–12,13; 12,14–13,25); P. Ellingworth, The Epistle to the Hebrews. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1993, vi (exordium: 1,1–4; 1,5–2,18; 3,1–5,10; 5,11–10,39; 11,1–12,13; 12,14–13,25). 47 Vgl. A. C. Mitchell, Hebrews, Sac.P 13, Collegeville, MN: Liturgical Press, 2007, 21 (Exordium: 1,1–4; 1,5–2,18; 3,1–6,20; 7,1–10,39; 11,1–12,13; 12,14–13,19; Postscriptum: 13,22–25). 48 Dussauts Abhängigkeit von Vanhoye zeigt sich z. B. darin, dass sein erster Hauptteil aufgeteilt ist in zwei „Kolonnen“ (1,1–2,18; 3,1–5,10), die exakt den zwei ersten Hauptteilen Vanhoyes entsprechen; der zweite Hauptteil stimmt mit dem dritten von Vanhoye überein, und dies bis in die sektionelle Aufteilung hinein (Dussaut hat einfach eine Sektion mehr, indem er den Abschnitt 8,1–9,28 in zwei Teile gliedert: 8,1–9,10 und 9,11–28); grössere Unterschiede gibt es dann ab 11,1: Dussaut erkennt Sektionsgrenzen in 11,31 und 12,29, wo Vanhoye keine sieht (vgl. L. Dussaut, Synopse structurelle de l’Epître aux Hébreux. Approche d’analyse structurelle, Paris: Les éditions du Cerf, 1981, 18; vgl. auch Gelardini, Synagogenhomilie, 36–39). 49 Vgl. J. Massonnet, L’épître aux Hébreux, CBib.NT 15, Paris: Les éditions du Cerf, 2016, 36–40 (prologue: 1,1−4; 1,8[sic!]–2,18; 3,1–5,10; 5,11–6,20; 7,1–10,18 („partie centrale“); 10,19–39; 11,1–40; 12,1–13; 12,14–13,19). 50 Vgl. W. G. Übelacker, Der Hebräerbrief als Appell. Bd. 1: Untersuchungen zu „exordium“, „narratio“ und „postscriptum“ − Hebr. 1-2 u. 13,22-25, CB.NT 21, Stockholm: Almqvist och Wiksell, 1989, 224ff. 45
17
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
Gliederungen unter rhetorischen Gesichtspunkten nehmen bis heute eine Vielzahl von Exegeten vor. Koester z. B. kennt folgende Elemente: „Exordium“ (1,1–2,4), „Proposition“ (2,5–9), „Arguments“ (2,10–12,27), „Peroration“ (12,28–13,21) und „Epistolary Postscript“ (13,22–25).51 Der Aufbau nach Lincoln sieht wie folgt aus: exordium (1,1–4), argumentatio (1,5– 12,17), peroratio (12,18–29), „Epistolary conclusion“ (13,1–25).52 Thompsons Gliederung hat ein exordium (1,1–4), eine narratio (1,5–4,13), eine probatio (4,14–10,31) und eine peroratio (10,32–13,25).53 Der Aufbau von Backhaus beinhaltet folgende Teile: exordium (1,1–4), narratio (1,5–4,13), propositio (4,14–4,16), argumentatio (4,14 [bzw. 5,1]–10,18), peroratio (10,19–12,29) und ein „[b]rieflicher Schluss“ (13,1–25).54 Witherington sieht als einer der wenigen nicht einen Redeaufbau nach dem deliberativen, sondern dem demonstrativen bzw. epideiktischen Redetyp und kommt zu folgendem Ergebnis: exordium (1,1–4); probatio (1,5–12,17) peroratio (12,18–29); „final parenesis“ (13,1–21); „epistolary closing“ (13,22–25).55 Tabelle 1: Rhetorische Gliederungen des Hebräerbriefs im Vergleich Übelacker (1989) exordium (1,1–4) narratio (1,5–2,18) propositio (2,17f) argument. mit probatio und refutatio (3,1–12,29) peroratio (13,1–21) postscriptum (13,22–25)
Koester (2001) exordium (1,1–2,4)
propositio (2,5–9) argument. (2,10– 12,27)
peroratio (12,28– 13,21) „Epistolary Postscript“ (13,22–25)
Lincoln (2006) exordium (1,1–4)
Witherington (2007) exordium (1,1–4)
Thompson (2008) exordium (1,1–4) narratio (1,5–4,13)
argument. (1,5–12,17)
probatio (1,5–12,17)
probatio (4,14– 10,31)
peroratio (12,18–29)
peroratio (12,18–29)
peroratio (10,32– 13,25)
„Epistolary conclusion“ (13,1–25)
„final parenesis“; „epistolary closing“ (13,1–25)
Backhaus (2009) exordium (1,1–4) narratio (1,5–4,13) propositio (4,14–4,16) argument. (4,14 [bzw. 5,1]–10,18)
peroratio (10,19– 12,29) „Brieflicher Schluss“ (13,1–25)
51 Vgl. C. R. Koester, Hebrews. A New Translation with Introduction and Commentary, AYB 36, New York: Doubleday, 2001, 84f. 52 Vgl. Lincoln, Hebrews, 24f. 53 Vgl. Thompson, Hebrews, 19. 54 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 43–48. 55 Vgl. Witherington, Hebrews, 46–51.
18
A. Einführung
Einen weiteren grundlegenden Gliederungsvorschlag brachte Guthrie (1994).56 Die komplexe Gliederung, die dem „discourse“ des Hebr gerecht werden will, beachtet insbesondere die Abfolge von expositio und exhortatio und kennt neben der Einleitung (1,1–4) – vereinfacht gesagt – zwei von der expositio dominierte Hauptteile (1,5–2,18: „The Position of the Son in Relation to the Angels“; 4,14–10,25: „The Position of the Son, Our High Priest, in Relation to the Earthly Sacrificial System“), in welche zwei grössere exhortative Abschnitte eingeflochten sind (3,1–4,13; 5,11–6,12), sowie einen von der exhortatio dominierten Schlussteil (10,26–13,19).57 Einer, der Guthrie in seiner Gliederung mit gewissen Abweichung folgt, ist z. B. O’Brien.58 Im Folgenden sollen noch vier neuere, für die Forschung vielleicht wegweisende Gliederungsvorschläge kurz besprochen werden. 1) Gelardini (2007) vertritt eine konzentrische Makrostruktur mit fünf Hauptteilen: 1,1–2,18 (A: „Erhöhter und erniedrigter Sohn“); 3,1–6,20 (B: „Unglaube der Väter und Söhne“); 7,1–10,18 (C: „Neuer Bund und Kultinstitution“); 10,19–12,3 (B‘: „Glaube der Söhne und Väter“); 12,4–13,25 (A‘: „Erniedrigte und erhöhte Söhne“). Das absolute Zentrum des Hebr bildet dabei 8,7–9,10 rund um das Zitat aus JerLXX 38,31–34.59 2) Heil (2010) untersucht den Hebr – wie andere vor ihm60 – auf chiastische Strukturen. Nach ihm besteht das Schreiben auf der ersten Ebene („First Macrochiastic Level“) aus drei grösseren Blöcken, die einander chiastisch zugeordnet sind.61 A) Hebr 1,1–5,10: Be Faithful in Heart to Grace from the Son and the High Priest B) Hebr 5,11–9,28: We Await the High Priest Who Offered Himself to Intercede A‘) Hebr 10,1–13,25: By Faith with Grace in Heart Let us Do the Will of the Living God Abbildung 2: Grobe Gliederung des Hebräerbriefs nach Heil
Auf der zweiten Ebene („Second Macrochiastic Level“) unterteilt er die drei Blöcke in 3 mal 12 Einheiten, wobei jeweils Einheiten, die Mose zum Thema haben, im Zentrum stehen (Hebr 3,1–6: „Jesus as Son Faithful beyond Moses“; 56
Vgl. dazu der ausführliche Überblick bei Gelardini, Synagogenhomilie, 45–51. Vgl. Guthrie, Structure, 117.144. 58 Vgl. O’Brien, Hebrews, 34. 59 Vgl. Gelardini, Synagogenhomilie, 83. 60 Vgl. z. B. V. S. Rhee, „Chiasm and the Concept of Faith in Hebrews 11“, in: BS 155.619/1998, 327–345; V. S. Rhee, „Chiasm and the Concept of Faith in Hebrews 12:129“, in: WThJ 63.2/2001, 269–284; V. S. Rhee, „Christology, Chiasm, and the Concept of Faith in Hebrews 10:19-39“, in: FN 16.31−32/2003, 33–48; D. M. Heath, Chiastic Structures in Hebrews. A Study of Form and Function in Biblical Discourse, Diss. theol., University of Stellenbosch, 2011. 61 Vgl. J. P. Heil, Hebrews. Chiastic Structures and Audience Response, CBQ.MS 46, Washington, DC: Catholic Biblical Association of America, 2010, 5. 57
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
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Hebr 8,1–6: „High Priest of the Things Shown to Moses“; Hebr 11,20–31: „Moses a Model of Faith in Christ“).62 3) Nach Martin und Whitlark (2011) liegt der Schlüssel zur Struktur und zur Argumentation des Hebr im rhetorischen Stilmittel der synkrisis. Sie erkennen fünf für die Gliederung des Hebr grundlegende epideiktische synkrises: I. „Messengers/Angels vs. Jesus“ (1,1–14; 2,5–18); II. „Moses vs. Jesus“ (3,1– 6); III. „The Aaronitic High Priests vs. Jesus (5,1–10); IV. „The Levitical Priestly Ministry vs. the Melchizedekian Priestly Ministry (7,1–10,18); V. „Mt. Sinai vs. Mt. Zion“ (12,18–29).63 In einem jüngeren Artikel haben sie ihren Entwurf um fünf deliberative synkrises ergänzt, die inhaltlich mit den epideiktischen verknüpft seien (I. 2,1–4; II. 3,7–4,11; III. 4,14–16; 5,11–6,20; IV. 10,19–12,17; V. 12,25–29).64 4) Griffiths (2014) sieht im Hebr – in Anlehnung an Wills65 – „repeated cycles of exposition of OT texts and exhortations“. 66 Die Exposition des alttestamentlichen Prätexts unterteilt er jeweils in „exemplum/exempla“, womit das Zitat bzw. die Anlehnung des/an den alttestamentlichen Text/es gemeint ist, und in „explanation and application“ des jeweiligen Textes.67 Der erste Zyklus erkennt er z. B. in 1,5–2,4, wobei die „Exempla“ aus der „catena of OT texts“ in 1,5–13 bestehen, die „Explanation and Application“ in 1,14 und 2,2–4 und die „Exhortation“ in 2,1 zu finden ist.68 Griffiths unterteilt den Hebr schliesslich in den Prolog, 11 Zyklen und den Briefschluss (13,20–25).69 2.2 Auswertung Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, wenn nun eine ausführliche Auswertung aller Gliederungsvorschläge sowie eine eigene Makrostrukturanalyse folgen würde. Ich beschränke mich primär auf jene Punkte, die für die Frage nach der strukturellen Bedeutung von Hebr 12,18–29 relevant sind. Sicher hat Karrer Recht, wenn er die Begrenztheit jeder Gliederung betont.70 Vielleicht gewährt der Verfasser sogar ganz bewusst „der Unsicherheit der
62
Vgl. Heil, Structures, 13f. Vgl. M. W. Martin; J. A. Whitlark, „The Encomiastic Topics of Syncrisis as the Key to the Structure and Argument of Hebrews“, in: NTS 57.3/2011, 423. 64 Vgl. M. W. Martin; J. A. Whitlark, „Choosing What Is Advantageous: The Relationship between Epideictic and Delibarative Syncrisis in Hebrews“, in: NTS 58.3/2012, 399. 65 Vgl. Wills, „Form“ 280–283. 66 Vgl. Griffiths, Speech, 28. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd., 29. 69 Vgl. ebd., 29f. 70 Vgl. Karrer, Hebräer I, 74. 63
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A. Einführung
Gliederung“ ihren „Platz“, und zwar „zugunsten der eigenaktiven Wahrnehmung der Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser“.71 Dennoch sind sich viele Exegeten trotz unterschiedlicher Gliederungsmethoden über gewisse Hauptbrüche bzw. Neuansätze einig. Dies gilt zunächst für Hebr 4,13/1472 und 10,18/1973 bzw. 10,31/3274. Noch mehr gilt es aber für Hebr 12,29/13,1.75 Von daher scheint es mir nicht ungerechtfertigt zu sein, dem Ende von Hebr 12 eine besondere strukturelle Bedeutung für das Schreiben beizumessen. Was das für eine Bedeutung ist, muss eine genauere Analyse zeigen. Aufgrund der Forschungsergebnisse zur Struktur des Hebräerbriefs ist es ebenso zulässig, von der Existenz eines rhetorischen Schlusswortes bzw. einer rednerischen peroratio im Hebr auszugehen. In 1,1–4 weist der Hebr nämlich ein typisch rednerisches exordium76 „mit einem ersten Inhaltsüberblick [des Hebr]“77 auf, was auch von zahlreichen den Hebr nicht rhetorisch gliedernden 71
Vgl. Karrer, Hebräer I, 74. Vgl. z. B. Nauck, „Aufbau“, 203f (und alle die ihm folgen; vgl. z. B. Karrer, Hebräer I, 237f); Guthrie, Structure, 117.144 (und alle die ihm folgen; vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 179); sowie die den Hebr rhetorisch gliedernden Thompson, Hebrews, 19 und Backhaus, Hebräerbrief, 46f; neuerdings z. B. auch Cockerill, Hebrews, 79.218f; diesen Hauptbruch bzw. Neuansatz sehen z. B. schon B. Weiss, Hebräer, 126 und Schierse, Verheissung, 199.208. 73 Vgl. z. B. Delitzsch, Hebräer, 476; Lünemann, Hebräerbrief, 275; Soden, Hebräerbrief, 11; Neeley, „Discourse“, 6; Grässer, Hebräer I, 29; H.-F. Weiss, Hebräer, 47f; Gelardini, Synagogenhomilie, 83.326; Backhaus, Hebräerbrief, 47.355; Cockerill, Hebrews, 80.460–463. 74 Vgl. z. B. Nauck, „Aufbau“, 204; Hegermann, Hebräer, 6; M. Karrer, Der Brief an die Hebräer. Kapitel 5,11-13,25, ÖTBK 20/2, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008, 242f; Thompson, Hebrews, 19. 75 Vgl. z. B. Lünemann, Hebräerbrief, 417 (13,1–25 = „Schlussermahnungen“ und Briefschluss); Westcott, Hebrews, 429 (das Kapitel 13 sei „a kind of an appendix to the Epistle“); Hughes, Hebrews, 4 (13,1–25 ist der letzte Teil seiner siebenteiligen Gliederung); Hegermann, Hebräer, 6 (13,1–25 = „Schlussteil“); Grässer, Hebräer III, 343 (13,1–21 = „Schlussparänese […] mit oratorischem Abschluss“); Ellingworth, Hebrews, 52 (13,1–21 = „Concluding Exhortation and Prayer“); Lincoln, Hebrews, 25 (13,1–25 = „Epistolary Conclusion“); Witherington, Hebrews, 51 (13,1–25 = „epistolary closing“); Karrer, Hebräer II, 348 (13,1–21 = „Konkretionen: Leben und Ethik der Gemeinde“); Backhaus, Hebräerbrief, 48 (13,1ff = „brieflicher Schluss“); Cockerill, Hebrews, 80 (13,1–25 ist der letzte Teil seiner vierteiligen Gliederung); selbst Lane, der als Vanhoye-Schüler in 12,14–13,25 den fünften Hauptteil des Hebr sieht (vgl. Lane, Hebrews I, ciii), behandelt das Kapitel 13 unter dem Stichwort „Life within the Confession Community“ separat (vgl. Lane, Hebrews II, 491ff) und sieht in 13,1–21 die „conclusion to the homily“ (ebd., 497). 76 Zur Bedeutung vom exordium (bzw. principium bzw. prooi,mion) in der antiken Rhetorik vgl. z. B. J. Martin, Antike Rhetorik. Technik und Methode, HAW 2/3, München: Beck, 1974, 60–75. 77 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 43; vgl. z. B. auch Johnson, Hebrews, 63: „In a single complex sentence extending through four verses, the author announces major themes“; D. J. MacLeod, „The Finality of Christ: An Exposition of Hebrews 1:1-4“, in: BS 162.646/2005, 72
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
21
Exegeten anerkannt wird.78 Infolgedessen scheint es durchaus berechtigt, irgendwo im Hebr auch eine entsprechende peroratio im Sinn einer amplifizierenden Zusammenfassung79 zu suchen. Die Frage, ob Hebr 10,19–12,2980, 12,18–2981, 12,28–13,2182; 13,1–2183 oder 13,20f84 als solche gelten kann, kann freilich erst später beantwortet werden (↑ C.III.1).
3 Verfasserschaft Ti,j de. o`` gra,yaj th.n evpistolh.n, to. me.n avlhqe.j qeo.j oi=den – „Wer aber den Brief geschrieben hat, in Wahrheit, das weiss [nur] Gott“. Diese von Eusebius (Hist. eccl. 6,25,14) zitierte Aussage des Origenes’ scheint in Bezug auf die Abfassung des Hebräerbriefs tatsächlich der Weisheit letzter Schluss zu sein.85 Lange Zeit wurde in der Kirchengeschichte der Hebräerbrief dem Paulus zugeschrieben.86 Neuerdings macht sich z. B. auch Voulgaris für die paulinische Verfasserschaft stark.87 Die Argumente gegen diese Sicht sind m. E. nicht – wie Salevao bemerkt –„überwältigend“ („overwhelming“).88 Aber u. a. das im
229: „In these four opening verses the author briefly set forth some of the main doctrinal themes of the epistle, drawing particular attention to Christ’s three functions as Prophet, Priest, and King“; sowie O’Brien, Hebrews, 45: „The opening paragraph is a carefully crafted sentence that encapsulates many of the key themes that will developed in the following chapters“. 78 Vgl. z. B. Lane, Hebrews I, 5–9; Grässer, Hebräer I, 47f; H.-F. Weiss, Hebräer, 49; Mitchell, Hebrews, 39f; Allen, Hebrews, 95f; A. Vanhoye, A different Priest. The Epistle to the Hebrews, Rs.En, Miami, FL: Convivium Press, 2011, 25; Cockerill, Hebrews, 86f; mit Vorsicht auch Karrer, Hebräer I, 109f; Koester steht mit seiner These eines grösseren, 1,1– 2,4 umfassenden exordium ziemlich alleine da (vgl. Koester, Hebrews, 84). 79 Vgl. z. B. M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München: Artemis, 3. Aufl., 1990, 97; mehr zur Bedeutung der peroratio nach der antiken Rhetorik unter C.III.1.2. 80 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 48. 81 So z. B. Lincoln, Hebrews, 25 und Witherington, Hebrews, 51. 82 Vgl. Koester, Hebrews, 85. 83 So z. B. Übelacker, Hebräerbrief, 220–224. 84 So z. B. Vanhoye, Structure, 109 und Grässer, Hebräer III, 400. 85 Freilich war für Origenes der Inhalt bzw. die Lehre des Hebr paulinisch, nur die Identität der die paulinischen Gedanken niederschreibenden Person war für ihn offen (vgl. Euseb., Hist. eccl. 6,25,14). 86 Vgl. dazu den Überblick bei Grässer, Hebräer I, 19–21. 87 Vgl. C. S. Voulgaris, „Hebrews: Paul’s Fifth Epistle From Prison“, in: GOTR 44.1−4/1999, 199–206. Auch Swetnam hat sich jüngst für die Abfassung des Hebräerbriefs durch Paulus ausgesprochen (vgl. J. Swetnam, Hebrews. An Interpretation, SubBi 47, Rom: Gregorian and Biblical Press, 2016, 15f). 88 Vgl. I. Salevao, Legitimation in the Letter to the Hebrews. The Construction and Maintenance of a Symbolic Universe, JSNT.S 219, London, New York: Sheffield Academic,
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A. Einführung
ganzen Schreiben fehlende Pau/loj89 sowie die mit dem paulinischen Selbstverständnis (vgl. Gal 1,11f) kaum vereinbare Aussage in Hebr 2,3 ([swthri,a] u`po. tw/n avkousa,ntwn eivj h`ma/j evbebaiw,qh) spricht doch deutlich gegen Paulus als Autor90 (vgl. z. B. auch 1.Kor 1,6, wo Paulus to. martu,rion tou/ Cristou/ evbebaiw,qh evn u`mi/n offenbar auch auf sein eigenes vollmächtiges Wirken im Heiligen Geist bezieht91). Auch ein paulinisches pseudepigraphon scheint aus diesen Gründen kaum wahrscheinlich. 92 Neben Paulus wurden zahlreiche andere Personen als Verfasser des Hebräerbriefs vorgeschlagen93, wobei vor allem Barnabas94, Lukas95 und Apollos96 besonders zu erwähnen sind. Solange man aber keine Abschrift des Hebr aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. mit dem Namen des Verfassers findet, bleibt jede Verfasserhypothese das, was sie ist: mehr oder weniger glaubwürdig, aber nicht beweisbar.97
2002, 96; dass tatsächlich „major differences of theology, language and style between Hebrews and the Pauline corpus“ vorhanden sind (vgl. Salevao, Legitimation, 96), wurde z. B. auch von Black teilweise überzeugend in Frage gestellt (vgl. D. A. Black, „On the Pauline Authorship of Hebrews (Part 1): Overlooked Affinities between Hebrews and Paul“, in: FaMi 16.2/1999, 32–48). 89 So z. B. auch Allen, Hebrews, 38. 90 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 7; gegen D. A. Black, „Autorship I“, 34. 91 Vgl. A. C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians. A Commentary on the Greek Text, NICNT, Grand Rapids, MI: W.B. Eerdmans, 2000, 94; G. T. Montague, First Corinthians, CCSSc, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2011, 34f. 92 Vgl. C. K. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon. The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews, WUNT 235, Tübingen, Germany: Mohr Siebeck, 2009, 214: „Hebrews should be classified as a Pauline pseudepigraphon“; nur schon die Aussage in Hebr 2,3 spricht deutlich gegen ihre These (so z. B. auch Cockerill, Hebrews, 7). 93 Vgl. den Überblick bei Grässer, Hebräer I, 21. 94 So z. B. schon Tert., Pud. 20,2f; neuerdings z. B. R. Riesner, „Der Hebräer-Brief nach altkirchlichen Zeugnissen“, in: EuroJTh 11.1/2002, 15−29; R. v. Houwelingen, „Riddles around the Letter to the Hebrews“, in: FiRe 16.2/2011, 154 („[p]ossibly Barnabas“). 95 Origenes will erfahren haben, dass entweder Clemens Romanus oder Lukas der Verfasser des Hebräerbriefs ist (vgl. Euseb., Hist. eccl. 6,25,14). Für Delitzsch ist dieses Zeugnis in Bezug auf Lukas plausibel: „[Der Hebräerbrief ist] ein Werk des Paulus, welches in seiner vorliegenden Gestalt durch Lucas vermittelt ist“ (vgl. Delitzsch, Hebräer, XXVf.). Neuerdings spricht sich v. a. Allen für die lukanische Verfasserschaft aus (vgl. D. L. Allen, Lukan Authorship of Hebrews, NAC.SBT 8, Nashville, TN: B&H Academic, 2010). 96 So z. B. Luther (vgl. die Stellenangaben bei Riggenbach, Hebräer, XLIf, Anm. 41) und Bleek, Hebräer I, 423–430; neuerdings (mit Vorsicht) z. B. auch G. H. Guthrie, „The Case for Apollos as the Author of Hebrews“, in: FaMi 18.2/2001, 54 („Well, the proposal that Apollos wrote the Book of Hebrews may not be certifiable, but perhaps it is as close as we are going to get“) sowie Cockerill, Hebrews, 10 („Of course his authorship cannot be confirmed“). 97 Mit Recht sagt z. B. Johnson zu der Apollos-Hypothese, die auch mir imponiert: „The number of points connecting Apollos to Hebrews is impressive, but we cannot suppose that Apollos uniquely possessed those qualities“ (vgl. Johnson, Hebrews, 44).
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
23
Man tut darum gut daran, sich auf eine allgemeine, sich aus einer genauen Analyse des Hebr ergebende Beschreibung des Verfassers zu beschränken. Eine treffende Beschreibung bietet z. B. Kistemaker: „We know that the writer was a Jewish Christian whose native tongue was Greek. He was an educated person who knew the Scriptures by way of the Septuagint. He had preached the gospel in Italy and knew the people there, although at the time he composed the epistle, he was far removed from them. As a teacher of the Scriptures, he was an acquaintance of Timothy and knew about his imprisonment. He was neither an apostle nor had he followed Jesus.“98
Ich gehe mit Kistemaker davon aus, dass das postscriptum in 13,22–25 mit hilfreichen Hinweisen auf die Person des Verfassers und sein Beziehungsnetz nicht ein „pseudo-paulinischer Briefschluss“ „von fremder Hand“ ist99, sondern vom Verfasser selbst stammt. Mit Recht schreibt dazu Backhaus: „Der Brauch, dass der diktierende Verfasser, oft mit eigener […] Hand (vgl. 1.Kor 16,21; Gal 6,11; Kol 4,18; 2.Thess 3,17f), ein Postskript anfügte, war im Briefverkehr verbreitet und bot gewissermassen einen letzten, persönlichen Handschlag […]. Daher ist dieses Begleitbillett weniger auffällig, als oft angenommen wird. […] Dass die Schlusszeilen dem Hebr nachträglich in pseudepigraphischer Absicht einen paulinischen Anstrich geben sollen, ist unwahrscheinlich […]. Nicht apostolische Vollmacht begründet die Bitte des Vfs. um Annahme seines Schreibens, sondern die Kürze seiner Ausführungen! Das Imitat wäre zudem so intelligenzlos ausgefallen, dass den Lesern der ersten Jahrhunderte nicht einmal aufgefallen wäre, dass sich hier ein höchst sublimer Paulus meldete.“100
4 Abfassungszeit Ebenso kontrovers diskutiert wie die Verfasserfrage wird die Frage nach der Abfassungszeit des Hebräerbriefs. Ein grosser Teil der Exegeten datiert den Hebr zwischen 70–100 n. Chr.101 98
S. J. Kistemaker, „The Authorship of Hebrews“, in: FaMi 18.2/2001, 67. Grässer, Hebräer III, 409f; vgl. z. B. auch G. J. Steyn, „The Ending of Hebrews Reconsidered“, in: ZNW 103.2/2012, 235–253. 100 Backhaus, Hebräerbrief, 488. 101 So z. B. Michel, Hebräer, 58 (die Zerstörung des Tempels sei vorausgesetzt); Grässer, Hebräer I, 25 („in den achtziger oder neunziger Jahre“); H.-F. Weiss, Hebräer, 77 („zwischen 80 und 90“); Karrer, Hebräer I, 97 („zwischen 80 und 100“); Salevao, Legitimation, 104 („between 70 and 96 CE“); Schunack, Hebräerbrief, 12 („80–90“); Backhaus, Hebräerbrief, 36 („in den achtziger oder frühen neunziger Jahren […] verfasst“); Hermann, Schriftauslegung, 31f (nach 70); J. A. Whitlark, Resisting Empire. Rethinking the Purpose of the Letter to „the Hebrews“, LNTS 484, London, New York: Bloomsbury; T&T Clark, 2014, 11 („between 79 C.E. and 82 C.E.“); mit Vorsicht datiert auch Moore nach 70 (vgl. N. J. Moore, Repetition in Hebrews. Plurality and Singularity in the Letter to the Hebrews its Ancient Context and the Early Church, WUNT II 388, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 33.219). 99
24
A. Einführung
Weil der 1. Clemensbrief den Hebr an mehreren Stellen aufgreift102, ist eine Datierung des Hebr mindestens vor dem Jahrhundertende geboten.103 Nicht wenige Forscher sehen aber einen weiteren terminus ante quem in der Tempelzerstörung im Jahr 70 und datieren den Hebr infolgedessen irgendwo zwischen 45–70 n. Chr.104 Dass der Hebr vom alttestamentlichen Priester- bzw. Opferdienst in der Gegenwartsform spricht (vgl. v. a. 5,1–4; 7,27f; 8,3–5; 9,7f; 10,1– 3.11; 13,10f), wurde früher sehr oft als Hinweis für eine Abfassung vor 70 angeführt.105 Mittlerweile hält jedoch eine Mehrheit der Exegeten diese Argumentation für nicht stichhaltig.106 Zunächst wird betont, dass auch Josephus sowie der 1. Clemensbrief nach dem Jahr 70 über den Tempel- bzw. Opferkult in der Präsensform sprechen.
102
Vgl. dazu z. B. D. A. Hagner, The Use of the Old and New Testaments in Clement of Rome, NT.S 34, Leiden: Brill, 1973, 179–195; P. Ellingworth, „Hebrews and 1 Clement: Literary Dependence or Common Tradition?“, in: BZ 23/1979, 262–269 und J. Thiessen, „Die Rezeption neutestamentlicher Schriften im 1. Clemensbrief und in den Ignatiusbriefen“, in: S. Grosse; H. Klement (Hg.), Für eine reformatorische Kirche mit Biss. FS Armin Sierszyn, STB 9, Wien: Lit, 2013, 299–301. 103 Lona z. B. datiert der Mehrheit der Forscher folgend den 1. Clemensbrief auf „das letzte Jahrzehnt des ersten Jahrhunderts“ (vgl. H. E. Lona, Der erste Clemensbrief, KAV 2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998, 77); zu einer Datierung vor dem Jahre 70 n. Chr. vgl. z. B. T. J. Herron, Clement and the Early Church of Rome. On the Dating of Clement’s First Epistle to the Corinthians, Steubenville, Ohio: Emmaus Road Publishing, 2008. 104 So z. B. Riggenbach, Hebräer, XLVIII (66–70); A. Strobel, Der Brief an die Hebräer, NTD 9/2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 4. Aufl., 1991, 11 („um 60 n. Chr.“); Ellingworth, Hebrews, 33 („not long before AD 70“; falls der Hebr in Rom verfasst wurde: „not long before 64“); D. A. DeSilva, Perseverance in Gratitude. A Socio-Rhetorical Commentary on the Epistle „to the Hebrews“, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2000, 20 („before 70 A. D.“); Johnson, Hebrews, 40 („between 45 and 70“); Witherington, Hebrews, 29 („the late 60s near the end of Nero’s reign“); O’Brien, Hebrews, 20 („much of the evidence supports a time before 70“); K. Erlemann, „Antiochia und der Hebräerbrief – eine Milieustudie“, in: R. v. Bendemann; M. Tiwald (Hg.), Das frühe Christentum und die Stadt, BWANT 198, Stuttgart: Kohlhammer, 2012, 124 („typisches Schreiben der sechziger Jahre“); P. Church, Hebrews and the Temple. Attitudes to the Temple in Second Temple Judaism and in Hebrews, NT.S 171, Leiden: Brill, 2017, 16 („I suggest […] that the temple was still standing when Hebrews was written“); Lane datiert den Hebr auch früh (vgl. Lane, Hebrews I, lxvi: „between the aftermath of the great fire of Rome [A.D. 64] and Nero’s suicide in June, A.D. 68“), er stützt sich dabei aber explizit nicht auf das Argument der Tempelzerstörung, sondern auf andere Argumente (ebd., lxiii–lxvi). 105 Vgl. z. B. Bleek, Hebräer I, 433 und Westcott, Hebrews, xlii; neuerdings z. B. auch Erlemann, „Antiochia“, 123: „[D]er alte Kult scheint nach Hebr 8,13 und 10,1–13 zwar seinem Ende nahe, aber noch intakt zu sein“. 106 Vgl. z. B. Lane, Hebrews I, lxiii; Karrer, Hebräer I, 96f und Cockerill, Hebrews, 39.
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
25
Als Josephus-Belegstellen werden primär folgende vorgebracht: Ant. 3,151ff107; 3,224–257108; Apion. 2,77109; 2,193–198110. Ant. 3,151ff scheint mir aber als Vergleich mit dem Hebr kaum geeignet, da die dort besprochene priesterliche Aktivität ein Teil der historischen Beschreibung des Stifthüttenbaus ist (vgl. 3,102ff). Auch der Verweis auf Ant. 3,224ff ist m. E. problematisch, da Josephus dort expressis verbis die mosaischen „Gebote“ umschreibt (vgl. 3,224: Nuni. d’ ovli,gwn tinw/n [sc. nomw/n] evpimnhsqh,somai). Die Erwähnung von gegenwärtigen Opfern für die Kaiser (und das römische Volk) in Apion. 2,77 ist offenbar rhetorisch motiviert, wie z. B. Barclay feststellt: „[I]t would damage the argument to make explicit that the daily sacrifices for Rome were no longer being offered“111. Das Gleiche gilt scheinbar auch für die Beschreibung des priesterlichen Tempeldiensts mittels Gegenwartsformen in Apion. 2,193ff: „Josephus is writing at a time when there is no temple of the one God. Nonetheless, in this treatise, as in Antiquities, the Jerusalem temple and its priests play a central role in his depiction of the constitution. This is not just because Josephus was a priest and had a personal interest in portraying matters so, but apparently because for him, as for most of his contemporaries, it was not possible to imagine the Judean tradition without its religious expression, and it was hard to imagine the worship of God without temple, priests, and sacrifice.“112
Weil die präsentische Schilderung des alttestamentlichen Priester- bzw. Opferdienstes im Hebr weder apologetisch noch als (im positiven Sinn) identitätsstiftend erklärt werden kann, scheinen mir folglich auch die beiden JosephusStellen aus Contra Apionem als Vergleichsstellen wenig tauglich. Anders sieht es auf den ersten Blick bei 1.Clem 40f aus. 113 Clemens Romanus schreibt z. B. in 41,2: „Nicht überall, Brüder, werden regelmässige Brandopfer (qusi,ai evndelecismou/, vgl. ExLXX 29,42), Gelübdeopfer ([qusi,ai] euvcw/n), oder Sünd- und Schuldopfer ([qusi,ai] peri. a`marti,aj kai. plhmmelei,aj) dargebracht (prosfe,rontai), sondern allein in Jerusalem. […] Auch wird
107
Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, XLVII, Anm. 50. Vgl. z. B. ebd. und Johnson, Hebrews, 39 (4.224–257 = 3,224ff). 109 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, XLVII, Anm. 50 und Karrer, Hebräer I, 97. 110 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, XLVII, Anm. 50 und Koester, Hebrews, 53. 111 J. M. Barclay, Against Apion, Flavius Josephus: Translation and Commentary 10, Leiden: Brill, 2007, 279, Anm. 769; vgl. ebd., 210, 267: „It is hard to see what else Josephus could have appealed to here as a mark of special Judean honor to the emperors, and he prefers to present the Judean constitution in its ideal, temple-focused form, rather than admit its present damaged state“. 112 Ebd., 279, Anm. 769. 113 In ihrer Argumentation gegen eine Auswertung der Präsensstellen im Hebr für eine Datierung vor 70 verweisen z. B. Karrer und Cockerill auf 1.Clem 40f (vgl. Karrer, Hebräer I, 97; Cockerill, Hebrews, 39, Anm. 170). 108
26
A. Einführung
(dort) nicht an jedem Ort geopfert (prosfe,retai), sondern vor dem Tempel beim Altar […].“114
An dieser Stelle wird der Opferdienst im Tempel als gegenwärtig beschrieben, auch wenn der Tempel sehr wahrscheinlich bereits zerstört ist. Freilich muss man bedenken, dass die präsentische Opferschilderung in 40,4f und 41,2 eine anschauliche Darlegung des alttestamentlichen Gesetzes ist (vgl. 40,3 und 41,3, wo vom göttlichen „Ratschluss“ die Rede ist). Ob dies auch für alle Präsensstellen im Hebr zutrifft und 1.Clem 40f somit als Vergleichsstelle gelten kann, ist zumindest fraglich. Verschiedene Exegeten verstehen die Präsensstellen im Hebr allerdings auch unabhängig von möglichen Parallelen zu Josephus und dem 1. Clemensbrief als rhetorisch begründet und sprechen ihnen infolgedessen jegliche Bedeutung für die Datierungsfrage ab.115 Eine rhetorische Funktion gewisser Präsensstellen ist durchaus nicht auszuschliessen. Aber mindestens in Hebr 8,4 scheint mir der Präsensstil doch auch auf die Abfassungszeit des Hebräerbriefs hinzudeuten, wenn es dort heisst: „Wenn er [sc. Jesus] also auf Erden wäre, wäre er nicht einmal Priester, da es die gibt, die die Geschenkopfer gesetzesgemäss darbringen“116 (eiv me.n ou=n h=n evpi. gh/j( ouvdV a'n h=n i`ereu,j( o;ntwn tw/n prosfero,ntwn kata. no,mon ta. dw/ra). Dass Jesus nach dem Hebr nicht Priester auf der Erde sein kann, erklärt Karrer überzeugend durch dessen Nicht-Erfüllen der genealogischen Voraussetzungen: Jesus ist kein Levit (vgl. 7,13f!).117 Mit Recht schreibt nun Gordon zu Hebr 8,4: „The verse as usually interpreted is referring to Christ in his heavenly session, and it therefore has a contemporary reference: Christ had been on earth, and the point of the statement derives from the author’s belief that at the time of writing he was in a different realm. If so, to interpret the second half of the verse, referring to the activity of priests on earth, in a purely generalizing, timeless way is to mix the categories of the general and the specific within the one verse.“118
114 So meine eigene Übersetzung; Lona z. B. übersetzt sehr ähnlich (vgl. Lona, Clemensbrief, 428). 115 Vgl. z. B. das Fazit der ausführlichen Analyse von Porter: „[O]ne cannot, I believe, use the verb tenses to establish such a date. The use of the present tense verb is a very important one in this book, but in the contexts we have examined it serves a more important function of bringing to the foreground the heightened contrast between the Levitical system, seen by the author as no longer valid, and the background of the sacrificial work and function of Jesus Christ“ (vgl. S. E. Porter, „The Date of the Composition of Hebrews and Use of the Present Tense-Form“, in: M. D. Goulder; S. E. Porter, et al. (Hg.), Crossing the Boundaries. Essays in Biblical Interpretation in Honour of Michael D. Goulder, BIS 8, Leiden: Brill, 1994, 313). 116 So die Übersetzung von Karrer, Hebräer II, 98. 117 Vgl. ebd., 107f; so z. B. auch O’Brien, Hebrews, 289f. 118 R. P. Gordon, Hebrews, Read.NBC, Sheffield: Phoenix, 2008 [= 2000], 31f.
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
27
Ein solche Vermischung hält Gordon zu Recht für problematisch. 119 Es liegt vielmehr nahe, dass der Verfasser von einem aus seiner Sicht gegenwärtig-intakten priesterlichen Opferdienst auf der Erde ausgegangen ist, was eher für eine Abfassungszeit des Hebr vor 70 n. Chr. spricht. Zugegeben: Die „abstrakte Formulierung“ des Verfassers in 8,4 könnte tatsächlich widerraten, „ihn historisch zu überstrapazieren“.120 Meines Erachtens ist aber ein anderes Argument von Johnson für eine Frühdatierung bestechend: „Still, if the Jerusalem temple had been destroyed, it is difficult to imagine that the argument of Hebrews would have proceeded in exactly the same way (cf. Barn. 16,4): one would think that some reference would naturally be made, not to a covenant growing obsolescent and a cult being ineffective, but rather to a covenant proven to be broken and a cult demonstrated by God’s action as a thing of the past. The argument from silence, to be sure, must be used carefully, but this is a case in which, given the entire structure of the argument, silence on this point of the actual fate of the Jewish cult demands of the author an almost incredible delicacy, if in fact the temple had been destroyed.“121
Dieses Argument wird auch nicht durch die Tatsache entkräftet, dass sich der Hebr „nicht am herodianischen Tempel, sondern an der Stiftshütte [orientiert]“122. Denn mit Recht betont Erlemann: „Nur die Stiftshütte, nicht aber der Tempel wird traditionsgeschichtlich auf das Urbild der himmlischen Wohnung Gottes zurückgeführt (Ex 25,9.40; 26,30; vgl. Apg 7,44). Auf diese Tradition rekurriert Hebr 8,5 expressis verbis.“123
Auch wenn der Hebr den Tempel aus diesem theologischen bzw. rhetorischen Grund nicht erwähnt: Der herodianische Tempel war zu Beginn der christlichen Bewegung der von der überragenden Mehrheit der Juden anerkannte und respektierte Ort des alttestamentlichen Priester- bzw. Opferkultes.124 Infolgedessen wäre die bewusste Nicht-Erwähnung der für das jüdische Volk so einschneidenden Zerstörung dieses Ortes in der Argumentation des Hebr für den Neuen Bund und dessen Opfer bzw. dessen Hohepriester bei einer mutmasslichen Abfassung nach 70 kaum nachvollziehbar. Sie wäre es auch dann nicht,
119
Vgl. Gordon, Hebrews, 32. So Karrer, Hebräer II, 108. 121 Johnson, Hebrews, 39; vgl. z. B. auch DeSilva, Hebrews, 20 und Witherington, Hebrews, 27. 122 Grässer, Hebräer I, 25. 123 Erlemann, „Antiochia“, 123. 124 Vgl. z. B. E. P. Sanders, Judaism. Practice and Belief. 63 BCE−66 CE, London: SCM Press, 1992, 52: „The overwhelming impression from ancient literature is that most firstcentury Jews, who believed in the Bible, respected the temple and the priesthood and willingly made required gifts and offerings“. 120
28
A. Einführung
wenn nach 70 tatsächlich noch gewisse Opfer dargebracht worden wären.125 Denn das umfassende Opferwesen nach alttestamentlichem Vorbild126 – gerade auch das für den Hebr so wichtige Jom Kippur-Ritual (vgl. z. B. 9,6ff) – war durch die fehlende Tempelinfrastruktur zweifelsfrei nicht mehr aufrecht zu erhalten, womit auch die Priester (zumindest vorübergehend) „ihre wesentlichen Aufgaben“ verloren127. Ich spreche mich darum für eine Abfassung des Hebräerbriefs vor dem Jahr 70 aus.128
5 Empfängerschaft und Abfassungszweck 5.1 Forschungsüberblick Die in P46 bezeugte inscriptio PROS EBRAIOUS um das Jahr 200 n. Chr.129 sowie die Angaben von Clemens Alexandrinus (vgl. Euseb., Hist. eccl. 6,14,4: avpesta,lh pro.j `Ebrai,ouj) und Tertullian (Pud. 20,2: ad Hebraeos) zeigen, dass der Hebr früh als an Juden bzw. Judenchristen adressiert verstanden wurde (vgl. Apg 6,1; 2.Kor 11,22; Phil 3,5130). Ob dies auf eine der Wahrheit entsprechende Tradition zurückgeht131 oder bloss eine Schlussfolgerung aus dem Inhalt des Schreibens ist132, lässt sich nicht überprüfen. Auch unabhängig von
125 Zu möglichen Opferungen nach der Tempelzerstörung vgl. z. B. Michel, Hebräer, 56f sowie K. W. Clark, „Worship in the Jerusalem Temple after A.D. 70“, in: NTS 6.4/1960, 269–280. 126 Vgl. dazu Sanders, Judaism, 103–118. 127 Vgl. G. Stemberger, „Das Priestertum Israels nach 70 n. Chr.“, in: S. Hell (Hg.), Priestertum und Priesteramt. Historische Entwicklungen und gesellschaftlich-soziale Implikationen, Synagoge und Kirchen Band 2, Wien: Lit, 2012, 271. 128 So z. B. neuerdings auch Griffiths mit einem durchaus auch plausiblen Argument: „[T]he writer’s insistence on the inadequacy of the sacrificial system to deal with sin suggests that the temple still presented a physical draw (or that at least acted as a focal point for Jews outside Palestine), and therefore points to a date before AD 70 for Hebrews’ composition“ (vgl. Griffiths, Speech, 10). 129 Zur Diskussion rund um die Datierung von P46 vgl. z. B. J. R. Royse, Scribal Habits in Early Greek New Testament Papyri, NTTSD 36, Leiden: Brill, 2008, 199–201. 130 Was die ~Ebrai/oi, in Bezug auf Juden bzw. Judenchristen in den erwähnten neutestamentlichen Stellen genau meinen, ist freilich umstritten; zu vier verschieden Bedeutungsmöglichkeiten von ~Ebrai/oi, eivsinÈ kavgw, in 2.Kor 11,22 vgl. z. B. M. E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians. Volume I, ICC, Edinburgh: T&T Clark, 2005 [= 1994], 723–727; sie selbst favorisiert die Deutung auf die Fähigkeit, aramäisch zu sprechen, sowie das Jude-Sein ab Geburt (ebd., 730). 131 Vgl. z. B. Delitzsch, Hebräer, XXVIIIf und Witherington, Hebrews, 24f. 132 So z. B. Hegermann, Hebräer, 10; Thompson, Hebrews, 7 und Hermann, Schriftauslegung, 26.
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
29
dieser inscriptio sehen zahlreiche Exegeten in der Empfängerschaft Judenchristen133, wobei häufig Jerusalem als Ort der Gemeinde angegeben wird134. Nach Lane und Witherington befinden sich die judenchristlichen Adressaten aber in Rom.135 Für Dunnill ist der Hebr „an encyclical letter addressed to a series of small churches of predominantly Jewish Christians, most probably in Western Asia Minor“. 136 Verschiedene Exegeten vermuten in den angeschriebenen Judenchristen gar konvertierte Essener bzw. Qumraniten.137 Neuerdings sieht Allen in den Adressaten ehemalige Priester.138 Viele Vertreter der judenchristlichen Adressatenhypothese sehen die Empfänger in der Gefahr, zum jüdischen Glauben bzw. Kult zurückzukehren139 oder zumindest Kompromisse mit demselben einzugehen140. Der Verfasser versuche dem mit seiner Argumentation über die Überlegenheit des Neuen Bundes mit seinem Hohepriester Jesus zuvorzukommen.141 Den Grund für die Attraktivität des jüdischen Glaubens sieht Witherington im Druck durch die römische Ge-
133
Repräsentativ für die überragende Mehrheit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vgl. z. B. Lünemann, Hebräerbrief, 35–49 sowie B. Weiss, Hebräer, 19–30; neuerdings z. B. Lane, Hebrews I, lii–lv; B. Lindars, The Theology of the Letter to the Hebrews, NTTh, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1991, 4–15; J. Dunnill, Covenant and Sacrifice in the Letter to the Hebrews, SNTS.MS 75, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1992, 24–29; Witherington, Hebrews, 25–33; K. Jaroš, Das Neue Testament und seine Autoren. Eine Einführung, UTB 3087, Köln: Böhlau, 2008, 144; Houwelingen, „Riddles“, 157f; O’Brien, Hebrews, 10–13; Griffiths, Speech, 9; Moore, Repetition, 33f. 134 Vgl. z. B. B. Weiss, Hebräer, 29; Voulgaris, „Hebrews“, 199; Houwelingen, „Riddles“, 158; Massonnet, Hébreux, 27. 135 Vgl. Lane, Hebrews I, lviii-lx und Witherington, Hebrews, 32. 136 Vgl. Dunnill, Covenant, 23. 137 Vgl. z. B. Y. Yadin, „The Dead Sea Scrolls and the Epistle to the Hebrews“, in: C. Rabin; Y. Yadin (Hg.), Aspects of the Dead Sea Scrolls, ScrHie 4, Jerusalem: Magnes, 1958, 36–53; ähnlich z. B. auch H. Kosmala, Hebräer, Essener, Christen. Studien zur Vorgeschichte der frühchristlichen Verkündigung, StPB 1, Leiden: Brill, 1959, 11 (vgl. auch seine Ausführungen zu Hebr 6,1f; ebd., 30–38); zurückhaltend auch F. F. Bruce, The Epistle to the Hebrews, NICNT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1990, 8: „[T]he recipients of the epistle were probably Jewish believers in Jesus whose background was […] the nonconformist Judaism of which the Essenes and the Qumran community are outstanding representatives, but not the only representatives“. 138 Vgl. Allen, Hebrews, 65–70; zu den älteren Vertretern dieser Hypothese vgl. ebd., 65. 139 Vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 13: „They are apparently in danger of returning to a ‚reliance on the cultic structures of the old covenant‘. This would involve a return to Judaism and an abandoning of the Christian community“. 140 Vgl. z. B. Hughes, Hebrews, 11. 141 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, XXVIf; vgl. auch Griffiths, Speech, 9f.
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A. Einführung
sellschaft/Obrigkeit bzw. in der Erleichterung, die ein Anschluss an die jüdische Gemeinschaft als anerkannte religio licita gebracht hätte.142 Lindars hingegen vermutet den Grund in der Unsicherheit der Adressaten bezüglich der Vergebung von Sünden, die sie nach der Taufe begangen haben: „[T]hey knew from their Jewish past that atonement for sin is constantly attended to in Jewish liturgy. The return to the Jewish community thus offered a practical way of coping with a problem which was deeply felt and not adequately provided for in the Christian teaching which they had received.“143
Der judenchristlichen Adressatenhypothese steht die heidenchristliche gegenüber, die ebenso von zahlreichen Exegeten vertreten wird.144 Als Begründung, dass die Empfänger Heidenchristen sein müssen, wird oft auf die Warnung in Hebr 3,12 verwiesen, nicht durch Unglauben vom „lebendigen Gott“ abzufallen. So schreibt z. B. H.-F. Weiss: „Gegen diese These vom judenchristlichen Charakter der Adressaten des Hebr spricht […] eindeutig sein internes Zeugnis: Nach Hebr 3,12 stehen die Adressaten nicht in der Gefahr eines „Rückfall“ in ihre jüdische Vergangenheit, sondern in der Gefahr des Abfalls vom Glauben überhaupt.“145
Auch nach Backhaus ist die Warnung „die Sprache der Heidenmission“.146 Eine weitere Stelle, die nach verschiedenen Exegeten für eine heidenchristliche und gegen eine judenchristliche Empfängerschaft spricht, ist Hebr 6,1ff.147 So betont z. B. H.-F. Weiss: „Die in Hebr 6,1ff zitierten Topoi der christlichen Elementarbelehrung spiegeln ganz in der Art eines jüdischen ‚Proselytenkatechismus‘ bestimmte Topoi der traditionellen jüdischen Heidenmissionspredigt wider und sind somit nur in einem an Heidenchristen gerichteten Schreiben sinnvoll.“148
142
Vgl. Witherington, Hebrews, 28; mit Vorsicht z. B. auch O’Brien, Hebrews, 13. Lindars, Theology, 14. 144 So z. B. schon E. M. Roeth, Epistolam Vulgo „Ad Hebraeos“ Inscriptam Non Ad Hebraeos Id Est Christianos Genere Judaeos Sed Ad Christianos Genere Gentiles Et Quidem Ad Ephesios Datam Esse, Frankfurt: Schmerber, 1836; neuerdings z. B. Hegermann, Hebräer, 10; H.-F. Weiss, Hebräer, 71; B. D. Ehrman, The New Testament. A Historical Introduction to the Early Christian Writings, New York: Oxford University Press, 2. Aufl., 2000, 378; Karrer, Hebräer I, 100f; Whitlark, Resisting, 12–16. 145 H.-F. Weiss, Hebräer, 71. 146 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 24; vgl. ebd., 152f: „Von daher [sc. bezüglich des Prädikats ,der lebendige Gott‘] mag 3,12 auf die pagane Herkunft des Grossteils der Adressaten schliessen lassen“. 147 Vgl. z. B. auch Karrer, Hebräer I, 100: „Wichtige Motive werden bei einer Anrede an ursprüngliche Nichtjuden bes. plastisch (wie die Abkehr von toten Werken und das Eintreten in den Glauben an Gott 6,1)“. 148 H.-F. Weiss, Hebräer, 71. 143
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
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Einige Exegeten sehen die Adressaten als Gemeinde/n, die sowohl aus Judenchristen als auch aus Heidenchristen besteht/en.149 Andere wehren sich gegen eine Unterscheidung zwischen Heiden- und Judenchristen.150 Nach Grässer z. B. sind „in den Adressaten Christen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft zu sehen“.151 Die überragende Mehrheit aller Exegeten, die nicht eine rein judenchristliche Empfängerschaft sehen, geht vor allem aufgrund von Hebr 13,24b (VAspa,zontai u`ma/j oi` avpo. th/j VItali,aj) davon aus, dass der Hebr an eine oder mehrere Gemeinden in Rom geschrieben wurde.152 Grässer, der die Echtheit von Hebr 13,22–25 bestreitet, lässt den Zielort offen153; mit M. Dibelius geht er gar davon aus, dass der Verfasser nicht auf eine spezifische Gemeinde, sondern auf die ganze Kirche blickt.154 Über den Abfassungszweck äussern sich die Vertreter der heidenchristlichen bzw. gemischten bzw. allgemein-christlichen Adressatenhypothese unterschiedlich. Nach einigen Exegeten versucht der Verfasser des Hebräerbriefs der bedrohlichen „Müdigkeit und Glaubensschwäche“155 bzw. „Glaubensmüdigkeit“156 bzw. „Glaubensermüdung“157 bzw. „Glaubenskrise“158 der adressierten Christen entgegenzuwirken. Backhaus sieht die Glaubensmüdigkeit in einer vom Mittelplatonismus beeinflussten „negative[n] Theologie“ begründet:
149 Vgl. z. B. Ellingworth, Hebrews, 23; Koester, Hebrews, 49f; P. Pokorný; U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, UTB 2798, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 687; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 8. Aufl., 2013, 447; S. Muir, „Social Identity in the Epistle to the Hebrews“, in: J. B. Tucker; C. A. Baker (Hg.), T&T Clark Handbook to Social Identity in the New Testament, London: Bloomsbury, 2014, 430. 150 Vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 20. 151 Vgl. Grässer, Hebräer I, 24; ähnlich z. B. auch Schunack, Hebräerbrief, 11. 152 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 49f; Schunack, Hebräerbrief, 11; Pokorný; Heckel, Einleitung, 687; Backhaus, Hebräerbrief, 25f; Whitlark, Resisting, 4–12; nach Hegermann ist wegen der Spätdatierung des Hebr „an eine andere Christengemeinde Italiens zu denken“ (vgl. Hegermann, Hebräer, 10); H.-F. Weiss lässt den konkreten Ort in Italien offen (vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 76). 153 Vgl. Grässer, Hebräer I, 22f. 154 Vgl. ebd., 24f bzw. M. Dibelius, „Der himmlische Kultus nach dem Hebräerbrief“, in: M. Dibelius, Botschaft und Geschichte. Zweiter Band: Zum Urchristentum und zur hellenistischen Religionsgeschichte, Tübingen: Mohr Siebeck, 1956, 161f. 155 Vgl. E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief, FRLANT 55, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 4. Aufl., 1961, 10. 156 Vgl. Grässer, Hebräer I, 24 und Backhaus, „Per Christum“, 55. 157 Vgl. Schnelle, Einleitung, 447. 158 Vgl. T. Lewicki, „Weist nicht ab den Sprechenden!“. Wort Gottes und Paraklese im Hebräerbrief, PsThSt 41, Paderborn, Zürich: Schöningh, 2004, 99.
32
A. Einführung
„Gerade die Neigung, Gottes analogielose Hoheit zu betonen, führte am Ende zu einem ,ermüdenden‘ Gottesbild (vgl. 5,11; 6,12; 12,3.12–14), zu jener Gottvergessenheit im Alltag, die der Auctor ad Hebraeos beklagt, und, daraus resultierend, zu einer Lebensweise etsi Deus non daretur.“159
Nach Grässer ist es eine „typische“ Glaubensmüdigkeit der zweiten christlichen Generation, „wie sie sich beim Nachlassen der ersten Begeisterung einstellt“.160 Schunack präzisiert den Glaubensschwund der „2. und 3. Generation“ dahingehend, dass die Adressaten in Gefahr stehen, „träge im Hören auf das Wort Gottes zu werden und existenziell von der Gewissheit des Heils abzukommen“.161 Salevao sieht einen anderen Abfassungszweck: Nach ihm stehen die Adressaten – eine Hauskirche in Rom162 bestehend aus Menschen verschiedenster Gesellschaftsschichten163 – vor allem wegen des Drucks einer ihnen gegenüber feindschaftlich gesinnten Gesellschaft164 in der unmittelbaren Gefahr eines möglichen Rückfalls ins Judentum („a possible relapse into Judaism“)165. Auch Ehrman vermutet, dass der Verfasser Angst hat, dass einige der Adressaten versucht sind („are being tempted“), „to convert away from Christianity to nonChristian Judaism, perhaps to escape persecution“.166 Whitlark hingegen sieht die Adressaten in Gefahr, sich der dominanten römischen Kultur anzugleichen: „Hebrews […] in its figured critiques of the imperial culture combats the temptation to abandon the community and its confession of Jesus Christ in order to identify with the ideology of the dominant in the hope of gaining social mobility, access, or preference.“167
5.2 Auswertung Der Ort der Adressaten scheint mir mit Blick auf Hebr 13,24b auf der Hand zu liegen. Die Notiz VAspa,zontai u`ma/j oi` avpo. th/j VItali,aj so zu deuten, dass sich der Verfasser in Rom befindet und von der dortigen Gemeinde und anderen Christen in Italien Grüsse übermittelt168, kann m. E. nicht überzeugen. Mit Recht schreibt schon Zahn dazu:
159
Backhaus, „Per Christum“, 55. Vgl. Grässer, Hebräer I, 24. 161 Vgl. Schunack, Hebräerbrief, 11. 162 Vgl. Salevao, Legitimation, 131. 163 Vgl. ebd., 135 („people of different strata of society“). 164 Vgl. ebd., 133ff. 165 Vgl. ebd., 133. 166 Ehrman, New Testament, 378. 167 Whitlark, Resisting, 198. 168 So z. B. Houwelingen, „Riddles“, 156. 160
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
33
„Wollte er [sc. Hebr] aber ähnlich wie 1 Kr 16,19; Rm 16,16 einen ihm gar nicht eigens aufgetragenen Gruss von der ganzen Christenheit des Landes, in welchem er sich befindet, ausrichten, so würde er auch ai` evkklhsi,ai th/j vItali,aj oder dgl. geschrieben haben.“169
Es ist viel plausibler, dass sich der Verfasser nach Hebr 13,24b ausserhalb Italiens befindet und italienischen Christen Grüsse von ihren Landsleuten aus seinem Umfeld übermittelt.170 Dafür, dass die Gemeinde/n der Adressaten nun nicht irgendwo in Italien, sondern in Rom selbst zu suchen ist/sind, sprechen zunächst die zahlreichen Anlehnungen an den Hebräerbrief durch Clemens Romanus in seinem ersten Brief an die Korinther171, die zeigen, dass der Hebr ein grundlegendes Schreiben für die römische/n Gemeinde/n war.172 Auch die fast identische Beschreibung der Gemeindeleiter in Hebr 13,7 (h`gou,menoi) und 1.Clem 1,3; 21,6 (prohgou,menoi) deutet auf eine römische Empfängerschaft hin. 173 Unter anderem nach Hebr 13,24a, wonach die Adressaten von ihren Führern unterschieden werden (VAspa,sasqe pa,ntaj tou.j h`goume,nouj u`mw/n), ist der Hebr sehr wahrscheinlich an eine einzelne Hausgemeinde geschrieben174, wovon es in Rom offenbar zahlreiche gab (vgl. z. B. auch Röm 16,3–5.10f.14f)175. Der Hauptgrund, warum sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit einem lo,gw| th/j paraklh,sewj an die Gemeinde richtet, ist mit Blick auf die zentrale Argumentation im Schreiben, dass der Neue Bund mit Jesus als einmaligem Opfer und himmlischem Hohepriester den Ersten Bund mit seinem Kult an Heilseffektivität bei Weitem übertrifft (vgl. insbesondere 4,14–5,10; 7,1– 10,18, 12,18–24), evident: Einige in der Gemeinde stehen in der Gefahr, das christliche Bekenntnis (vgl. 4,14: kratw/men th/j o`mologi,aj, 10,23: kate,cwmen th.n o`mologi,an th/j evlpi,doj avklinh/) – als Bekenntnis zu Jesus als dem wahren 169
T. Zahn, Einleitung in das Neue Testament. Zweiter Band, Leipzig: Deichert, 1899,
153. 170 So z. B. auch Lincoln, Hebrews, 38: „It makes much better sense that a writer elsewhere would single out for special mention among his companions those who were compatriots of the recipients than that someone writing from within Italy would include greetings from all believers across Italy“. 171 Zu den Stellen vgl. z. B. Thiessen, „Rezeption“, 299–301. 172 Ähnlich auch Koester, Hebrews, 49: „External evidence also supports a Roman destination [of Hebrews]. First Clement, which was written in Rome near the end the first century, incorporates material from Hebrews“. 173 Vgl. auch Koester, Hebrews, 49. Wenn die Aussage in Hebr 13,14 ouv ga.r e;comen w-de me,nousan po,lin tatsächlich eine Kritik gegenüber Rom als ewiger Stadt ist (vgl. J. A. Whitlark, „‚Here we do not have a city that remains‘: A figured critique of Roman imperial propaganda in Hebrews 13:14“, in: JBL 131.1/2012, 171–174), dann ist auch diese Stelle ein Hinweis auf Rom als Wohnort der Adressaten. 174 Vgl. Lane, Hebrews I, lv; Koester, Hebrews, 49.73f und Mitchell, Hebrews, 13. 175 Vgl. W. L. Lane, „Social Perspectives on Roman Christianity during the Formative Years from Nero to Nerva: Romans, Hebrews, 1 Clement“, in: K. P. Donfried (Hg.), Judaism and Christianity in First-Century Rome, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1998, 196–244.
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A. Einführung
Hohepriester (3,1) und Sohn Gottes176 (4,14; vgl. 1,2.5.8 u. ö.) – für den jüdischen Glauben aufzugeben. 177 Mit Recht verneint Loader, dass der Verfasser den Alten Bund nur als Folie braucht, „um die Einmaligkeit und Herrlichkeit der christlichen Botschaft hervorzuheben“.178 Denn: „[S]eine Ausführungen hören nach solchen positiven Gegensätzen nicht auf, sondern führen unmittelbar zu einer Entwertung des alten Bundes“ (mit Verweis auf 8,13 und 10,18).179 Nun war aber der jüdische Glaube für manche in der römischen Hausgemeinde kaum nur darum so attraktiv, weil die Zugehörigkeit zum normativen Judentum als einer römischen religio licita einen gewissen Schutz bot und das Bekenntnis zum Alten Bund auch der Druck von der jüdischen Synagoge wegnahm.180 Soziale Repressionen als Anhänger einer jüdischen Sekte sind mit Blick auf Hebr 10,32–36 und 12,1–7 bei den Adressaten gewiss vorhanden gewesen. Aber wenn der Druck von aussen der Hauptgrund für die Attraktivität des jüdischen Glaubens gewesen wäre, dann hätte der Verfasser „wohl mit anderen Waffen gekämpft, als mit dem Nachweis der Erhabenheit der neutestamentlichen Heilsanstalt über die alttestamentliche“, wie schon Lünemann mit Recht betont.181 Die alttestamentliche Heilsordnung selbst war mit ihrem Opfer- und Priesterwesen offenbar eine „attraktive Alternative“ zum neutestamentlichen Gottesdienst.182 Klar: Der Tempel mit seinem Opferkult war in Jerusalem und nicht
176 Nach Gordon spricht die christologische Emphase des Hebr dafür, dass die Gemeinde Probleme hatte mit ihrer „original confession of Jesus as the ‚Son of God‘“ (vgl. Gordon, Hebrews, 15); vgl. z. B. auch S. D. Mackie, „Confession of the Son of God in Hebrews“, in: NTS 53.1/2007, 114–129 sowie S. D. Mackie, „Confession of the Son of God in the Exordium of Hebrews“, in: JSNT 30.4/2008, 437–453. 177 Der alternativen Deutung der Adressatensituation von Backhaus (↑ A.II.5.1) hat jüngst Kraus überzeugend widersprochen (vgl. W. Kraus, „Jesus als ‚Mittler‘ im Hebräerbrief“, in: A. Taschl-Erber; I. Fischer (Hg.), Vermittelte Gegenwart. Konzeptionen der Gottespräsenz von der Zeit des Zweiten Tempels bis Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr, WUNT 367, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, 301−303). 178 Vgl. W. Loader, Sohn und Hoherpriester. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Christologie des Hebräerbriefes, WMANT 53, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1981, 257; Backhaus z. B. deutet den Vergleich der beiden Heilordnungen als „rhetorische Strategie“, um den „hohen Rang des gegenwärtigen Heilsstatus“ auszuweisen (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 28). 179 Loader, Sohn, 257; der Begriff „Entwertung“ ist allerdings zu heftig: Der Alte Bund hat bzw. hatte nach dem Verfasser des Hebräerbriefs sehr wohl seinen Wert, er verweist jedoch auf die grosse Schwäche der alten Heilsordnung (↑ B.IV.2.3.1.h; ↑ C.II.2.1.2.c). 180 Z. B. gegen Ehrman, New Testament, 378 und Witherington, Hebrews, 28. 181 Vgl. Lünemann, Hebräerbrief, 25. 182 Vgl. Hermann, Schriftauslegung, 335: „Der irdische, aaronitische Opferkult ist für den Vf des Hebr obsolet, erscheint den Adr aber als attraktive Alternative zu ihrem Gottesdienst“.
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
35
in Rom. Aber die jüdische Diaspora war durch Tempelsteuer, Tempelgeschenke und Wallfahrten mit Opferungen fest mit dem Tempel und seinem Kult verbunden.183 Die Bedeutung des Tempels für die Diaspora als Ort, der durch die alttestamentlichen Opfer Sündenvergebung und Heil für das ganze jüdische Volk brachte (vgl. z. B. LevLXX 16,33f: peri. pa,shj sunagwgh/j evxila,setai […] evxila,skesqai peri. tw/n ui`w/n Israhl avpo. pasw/n tw/n a`martiw/n auvtw/n a[pax tou/ evniautou/), zeigt z. B. die „weltweite“ jüdische Empörung über das Vorhaben des römischen Kaisers Gaius Caligula, sein Standbild im Tempel aufzurichten.184 Sehr wahrscheinlich liegt die „Attraktivität des irdischen Opferkults“ für die Adressaten des Hebr darin begründet, dass er „angesichts neuer Sünden durch wiederholte Opfervollzüge die Möglichkeit zu je neuer Vergebung öffnete“.185 Nicht unwahrscheinlich scheint mir, dass die Gefahr der Judaisierung der römischen Christen mit Irrlehrern innerhalb oder – wahrscheinlicher – ausserhalb der Hausgemeinde in Verbindung stand. Hebr 13,9a warnt nämlich vor „verschiedenartigen und fremden Lehren“ (didacai/j poiki,laij kai. xe,naij), die nach V.9b offenbar (auch) im Zusammenhang mit dem Einhalten von gewissen Speisevorschriften bzw. mit dem Teilnehmen an gewissen Kultmahlzeiten stehen (kalo.n ga.r ca,riti bebaiou/sqai th.n kardi,an( ouv brw,masin evn oi-j ouvk wvfelh,qhsan oi` peripatou/ntej). Unter anderem mit Blick auf die im frühen Christentum spannungsvoll diskutierte Frage nach der Geltung von jüdischalttestamentlichen Essens- bzw. Reinheitsgeboten für Heiden- bzw. Judenchristen (vgl. z. B. Mk 7,1–19; Apg 10f; Röm 14; 1.Kor 8–10) macht es durchaus Sinn, in den brw,masin jüdische Essensregeln bzw. jüdische Kultmahlzeiten zu sehen186, deren Wichtigkeit von gewissen Leuten hochgehalten wurde (vgl. z. B. auch Kol 2,16.21; 1.Tim 4,3). Aber selbst wenn der Verfasser mit den brw,masin an die alttestamentlichen Opfer anspielen sollte187, würde dies auf judaisierende Irrlehrer hinweisen. Die Tatsache, dass das jüdische Opferwesen und die jüdische Glaubenspraxis für manche in der römische Hausgemeinde eine Versuchung war, spricht nun dafür, dass die Mehrheit der Adressaten Judenchristen waren (im Sinn von ethnischen Juden, die an Jesus als den Messias glauben).188 Allerdings ist es 183
Vgl. z. B. Sanders, Judaism, 52f.127.237. Vgl. M. Goodman, Judaism in the Roman World. Collected Essays, AJEC 66, Leiden: Brill, 2007, 47f. 185 Vgl. Hermann, Schriftauslegung, 336; ähnlich z. B. auch schon Lindars, Theology, 14. 186 So z. B. auch Loader, Sohn, 257f; N. H. Young, „‚Bearing His Reproach‘ (Heb 13.914)“, in: NTS 48.2/2002, 253–255; Witherington, Hebrews, 360f; O’Brien, Hebrews, 519f; Cockerill, Hebrews, 695f. 187 Vgl. z. B. M. E. Isaacs, „Hebrews 13.9-16 Revisited“, in: NTS 43.2/1997, 281. 188 Nach der Vertreibung der Juden bzw. Judenchristen aus Rom im Jahr 49 n. Chr. (vgl. Apg 18,2) scheint das judenchristliche Element in den römischen Gemeinden bei der Abfassung des Römerbriefs wieder präsenter zu sein, wenn wahrscheinlich 50 Prozent der Namen 184
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A. Einführung
keineswegs auszuschliessen, dass auch Heidenchristen (gerade auch ehemalige Proselyten und Gottesfürchtige) in der Gefahr stehen konnten, ihre Hoffnung (wieder) auf die jüdisch-alttestamentliche Heilsordnung zu setzen. Auf jeden Fall können Hebr 3,12 und 6,1f weder als Belege für eine rein heidenchristliche Empfängerschaft gelten noch als Argumente gegen die These, dass die Empfänger des Hebr in der Gefahr stehen, das christliche für das jüdische Bekenntnis aufzugeben. Denn eine „Busse von toten Werken“ (6,1) hatten die Juden gleich wie die Heiden nötig, weil die nekra. e;rga (vgl. 9,14) offenbar die nicht zielführenden, weil nicht rechtfertigenden moralischreligiösen Anstrengungen meinen.189 Auch der Unterweisung im Glauben an Gott (6,1) bedurften Juden, weil „die Botschaft von Jesus Christus als Sohn Gottes auch eine Explikation dessen ist, was post Christum über Gott zu sagen ist“190: „Da man von Christus nicht anders reden konnte denn in Relation zu Gott, war auch die Gottesrede eine andere“.191 Dies erklärt auch, warum sich der Rückfall ins Judentum und der in Hebr 3,12 erwähnte Abfall vom lebendigen Gott nicht widersprechen müssen.192 Lincoln sagt mit Recht: „[F]or the writer ‚the living God‘ is precisely the God who has been shown to be alive in the divine speaking and acting in Jesus Christ so that any response, whether by Jew or Gentile, which did not do sufficient justice to such an understanding would be a turning away from the living God.“193
Zusammenfassend lässt sich Folgendes über die Adressaten und den Hauptabfassungszweck des Hebr sagen: Der Verfasser richtet sich mit seinem Mahnschreiben sehr wahrscheinlich an eine Hausgemeinde in Rom, die mehrheitlich aus Judenchristen besteht und aus der einige (nicht alle!)194 in Gefahr stehen, das christliche Bekenntnis aufzugeben und ihre Hoffnung (wieder) auf das alttestamentliche Opferwesen und die jüdische Glaubenspraxis zu setzen. Wich-
in der Grussliste am Schluss des Briefes jüdisch sind (vgl. C. G. Kruse, Paul’s Letter to the Romans, PNTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2012, 2.574f). 189 Vgl. z. B. Käsemann, Gottesvolk, 155; E. Grässer, An die Hebräer. Hebr 7,1–10,18, EKK 17/2, Zürich/Neukirchen: Benziger/Neukirchener, 1993, 162; ähnlich Backhaus, Hebräerbrief, 324 („alles irdisch verhaftete Tun“). 190 Vgl. R. Kampling, „Sich dem Rätsel nähern: Fragen zu den Einleitungsfragen des Hebräerbriefes“, in: R. Kampling (Hg.), Ausharren in der Verheißung. Studien zum Hebräerbrief, S BS 204, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2005, 26. 191 Ebd. 192 Gegen Backhaus, Hebräerbrief, 24: „Nicht der ‚Rückfall‘ in das jüdische Kultwesen ist die Gefahr, sondern der ‚Abfall vom lebendigen Gott‘“. 193 Lincoln, Hebrews, 37. 194 Thomas hat überzeugend dargelegt, dass der Verfasser des Hebräerbriefs von einer gemischten Leserschaft ausgeht („mixed audience“), wobei ein Teil (nahe) am Abfallen ist, ein anderer jedoch nicht (vgl. C. A. Thomas, A Case for Mixed-Audience with Reference to the Warning Passages in the Book of Hebrews, New York: Lang, 2008, 181–237; 278–280).
II. Einleitungsfragen zum Hebräerbrief
37
tig ist dabei zu bemerken, dass der Verfasser den gefährdeten Teil der Adressaten nicht als bereits Abgefallene sieht. Erschreckende Worte wie z. B. in Hebr 6,3–6 entsprechen kaum der tatsächlichen Situation der Adressaten (vgl. nämlich 6,9, wonach der Verfasser in Bezug auf jene „vom Besseren überzeugt [ist] und von dem, was zum Heil führt“195). Die Worte sind vielmehr im Zusammenhang mit der rhetorischen Strategie des Verfassers zu sehen, die Empfänger durch Furcht (und wahrscheinlich auch Scham) von falschen Wegen abzuhalten.196
195
So nach der Übersetzung von Grässer, Hebräer I, 346. Vgl. DeSilva, Hebrews, 254 zu Hebr 6,4ff: „The goal of the warning is […] to arouse fear in the hearts of the addressees of pursuing any path that would show lack of regard for God and his gifts and promises“; ähnlich z. B. auch Grässer, Hebräer I, 346 (mit Verweis auf Delitzsch, Hebräer, 221): „[E]r [sc. der Verfasser des Hebräerbriefs] hält den Angeredeten ‚diesen äussersten Fall‘ vor, ‚um sie heilsam zu schrecken‘. Sie sollen achtgeben, dass aus ihrer Stumpfheit nicht völliger Abfall wird“. 196
Teil B
Exegese von Hebr 12,18−29
Kapitel I
Kontext und Abgrenzung Die Frage, welches der für Hebr 12,18–29 inhaltlich relevante engere Kontext ist bzw. mit welchen vorangehenden Versen unser Abschnitt eine Sinneinheit bildet, wurde in der Forschung sehr unterschiedlich beantwortet. Vanhoye und seine Nachfolger sehen in Hebr 12,14−29 eine Einheit1, Michel und andere in 12,12–292. Zunehmend werden aber auch zwei grössere Sinneinheiten vertreten, nämlich 12,4–293 bzw. 12,1–294. Meines Erachtens spricht viel dafür, Hebr 12,1–17 1) einheitlich5 und 2) in einer gewissen thematischen Verbindung zu V.18–29 zu lesen. Zu 1): Obwohl Hebr 12,1–3 als Scharnier inhaltlich mit der in 11,1–40 beschriebenen Wolke der Glaubenszeugen verbunden ist, eröffnen die Verse hin-
1
Vgl. Vanhoye, Structure, 31f.106f (vgl. auch Vanhoye, La structure, 205−210). Vanhoye sieht in Hebr 12,13 und dem Zitat aus SprLXX 4,26 (trocia.j ovrqa.j poiei/te) die Ankündigung des neuen Themas „(christian) behaviour“, das in 12,14 mit dem Ruf nach zwischenmenschlichem Frieden und nach Heiligung eröffnet werde und in 13,21 seinen Abschluss finde; der Unterabschnitt 12,14–29 werde durch eine inclusio markiert (vgl. ca,rij in V.15 und V.28 bzw. qeo,j in V.15 und V.29). Vanhoye folgen z. B. Dussaut, Synopse, 128–131 (jener erkennt zusätzlich eine inclusio zwischen den „deux vertus“ in V.14 [eivrh,nh und a`giasmo,j] und V.28 [euvla,beia und de,oj]); sowie Lane, Hebrews II, 404–408 (er betont die die Abschnittsgrenze markierende Funktion der folgernden Konjunktion dio, in V.12 und V.28). 2 Vgl. Michel, Hebräer, 448. Die in 12,12ff folgenden „Einzelmahnungen“ würden nicht wirklich zu den vorhergehenden Bildern von Wettkampf und Züchtigung passen. Ähnlich z. B. auch Braun, Hebräer, 420. 3 Vgl. z. B. DeSilva, Hebrews, 445ff (er nennt den Abschnitt „In Training for the Kingdom“); Gelardini, Synagogenhomilie, 359f (die in Hebr 12,4–17 beschriebene göttliche Zucht bilde die Voraussetzung zum Antritt des himmlischen Landeserbes [12,22ff]); sowie Karrer, Hebräer II, 313–315 (der Abschnitt mit ethischer Stossrichtung nehme den zweiten Teil der „These“ von 10,32–39 und deren Kernaussage „Aus Glauben wird der Gerechte leben“ auf – vgl. dikaiosu,nh in 12,11, di,kaioi in 12,23, zh,somen in 12,9 und qeo,j zw/n in 12,22 –, wobei es in 12,4–17 um die Erziehung und in 12,18–29 um die Motivation zu einem vollendeten Leben gehe). 4 So z. B. Grässer, Hebräer III, 225 (er bezeichnet den Abschnitt als „Glaubensparänese“); Westfall, Discourse, 263–282 (sie betont v. a. das verbindende Thema des Rennlaufes, wobei 12,18–24 den Ort des Wettkampfs definiert, nämlich ein himmlisches Stadion); Allen, Hebrews, 568–570 (er spricht vom „Encouragement to Run with Endurance and Pursue Peace“). 5 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 534 und Johnson, Hebrews, 312f.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
sichtlich des starken toigarou/n, des Stilwechsels (von einer historischen Aufzählung zu einer pastoralen exhortatio) und der Schwierigkeit, Jesus unter die alttestamentlichen Glaubenszeugen zu positionieren, offenkundig einen neuen Abschnitt.6 Weiter macht eine Unterteilung von Hebr 12,1–17 zwischen V.11/12 oder V.13/14 wegen mindestens drei gewichtiger thematischer Verbindungen innerhalb des Abschnitts keinen Sinn: a) die Aufforderung in V.12 liest sich leicht als eine Fortsetzung von V.3 (i[na mh. ka,mhte […] evkluo,menoi); b) die trocia, in V.13 entspricht dem tre,cwmen in V.2; c) prwtoto,kia in V.16 knüpft an die Sohn-Thematik in V.5ff an. Zu 2): Die einheitliche Paraklese, den avgw/na zu laufen (12,1), nicht zu ermatten (12,3), die Hände und Knie aufzurichten (12,12) und Bahn für die Füsse zu machen (12,13), setzt ein Laufziel voraus, welches in 12,22ff näher definiert wird. Ebenso stehen die Ausdrücke „[die] vor ihm liegende Freude“ (12,2) und die nachherige (u[steron) „friedvolle Frucht der Gerechtigkeit“ (12,11) mit ihrer auch eschatologischen Ausrichtung7 in enger Verbindung zur später ausführlich beschriebenen fröhlich-friedlichen Gotteswelt. Weiter besteht eine inhaltliche Klammer zwischen dem Hinschauen auf den sich zur Rechten Gottes gesetzt habenden Jesus (12,2; vgl. 12,3: avnalogi,sasqe to.n toiau,thn) und Hebr 12,24, wo Jesus vor Augen geführt wird als der, der bei Gott ist (12,23f). In ähnlicher Weise lässt sich eine Verbindung erkennen zwischen dem o;yetai to.n ku,rion (12,14) und Hebr 12,23 und dem Vor-Gottes-Angesicht-Treten.8 Weiter bilden die (Gottes-)Sohn-Thematik in 12,5ff, die prwtoto,kia (12,16) und die evkklhsi,a prwtoto,kwn (12,23) einen roten Faden. Wenn die Wendung r`i,za pikri,aj in 12,15 (vgl. DtnLXX 29,18) ein Rückgriff auf das Versagen der Exodus-Generation ist (vgl. parapikrasmo,j in Hebr 3,7)9, bereitet sie die Warnung in Hebr 12,25 vor. Mit dem begründenden bzw. folgernden10 ga,r in der Bedeutung von „denn“ schliesst der Autor den Abschnitt auch formal an die vorangehenden Verse an. Die Frage ist aber, was genau er in Hebr 12,18ff begründen bzw. an welche(n) Vers(e) genau er sich anschliessen will.
6
So z. B. auch Lane, Hebrews II, 403f. Vgl. N. C. Croy, Endurance in suffering. Hebrews 12:1-13 in its rhetorical, religious, and philosophical context, SNTS.MS 98, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1998, 207f. 8 So z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 429. 9 Vgl. D. M. Allen, Deuteronomy and Exhortation in Hebrews. A Study in Narrative Representation, WUNT II 238, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 87. 10 Zum begründenden Aspekt vgl. Grässer, Hebräer III, 302, zum folgernden vgl. Lane, Hebrews II, 440. 7
I. Kontext und Abgrenzung
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Vornehmlich wird ga,r in Bezug auf Hebr 12,16f und die Warnung gelesen, nicht wie Esau zu sein/werden, der sein Erstgeburtsrecht für eine Speise verkaufte.11 V.18ff begründe diese Warnung insofern, dass „[t]he peril of disregarding the Christian privileges“ proportional zu deren Grossartigkeit sei.12 Ähnlich formuliert es Casey: „[T]he Sinai-Sion contrast stands as an illustration of what the Christian stands to lose if he rejects his birthright. Further, the contrast points to the greater sin which is Christian rejection.“13 Auch H.-F. Weiss sieht Hebr 12,18ff durch das einleitende ga,r im Zusammenhang mit V.16–17. Die Verbindung besteht nach ihm allerdings darin, dass beide Abschnitte die Glaubensparänese in V.14–15 begründen und verdeutlichen, was für die Adressaten auf dem Spiel stünde, wenn sie von Gottes Gnade abkämen.14 Nach Attridge ist V.18ff eine mehr positive Begründung von V.14 mit dem Ruf, dem Frieden und der Heiligung nachzujagen;15 Spicq sieht zu V.14 zusätzlich noch eine Verbindung mit V.12–13.16 Meines Erachtens spricht einiges dafür, das begründende „denn“ auf den ganzen Teilabschnitt 12,12–1717 zu beziehen.18 In gewisser Hinsicht knüpft
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So z. B. schon Tholuck, Hebräer, 435 und Soden, Hebräerbrief, 100. Vgl. Westcott, Hebrews, 410. 13 Vgl. Casey, Eschatology, 308. Fast identisch formuliert es z. B. auch Thompson, jedoch unter seinem dualistischen Deutungshorizont: „Thus the people should not, like Esau, give up their inheritance the sake of material things because they have not come […] to a sanctuary in the world of sense“ (vgl. Thompson, Hebrews, 267). Grässer sieht V.18ff vor allem in V.17 und der – von ihm postulierten – dortigen Vorschau auf das eschatologische Gericht verankert, was ihn zu folgendem Schluss bringt: „Endgültig verworfene ‚EsauChristen‘ können die Angeredeten – obwohl die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen ist – im Ernst gar nicht mehr werden wollen, stehen sie doch nicht am sinnenfälligen Sinai, sondern am unsichtbaren Zion, im himmlischen Jerusalem. Dem hohen Rang entspricht allerdings als Kehrseite der (mögliche!) tiefe Fall“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 303; vgl. auch Schierse, Verheissung, 172f!). 14 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 669; ähnlich auch Schunack, Hebräerbrief, 205); Letzterer betont aber mehr die ermutigende Zusage der Heilsgewissheit als die Warnung. 15 Vgl. Attridge, Hebrews, 372. 16 Vgl. Spicq, Hébreux II, 403. 17 Zur Zusammengehörigkeit von Hebr 12,12–17 vgl. z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 427. 18 So z. B. schon Delitzsch, Hebräer, 635. Zwar scheint es grammatikalisch naheliegender, das ga,r in V.18 parallel zum ersten ga,r in V.17 und als solches von V.16 abhängig zu lesen; aber das zur Konjunktion gehörende proselhlu,qate als ein Verb der Bewegung passt inhaltlich besser zu V.12–13 (vgl. z. B. trocia.j ovrqa.j poiei/te toi/j posi.n u`mw/n). Die Erklärung von Cockerill, dass der Autor nach der Warnung in 12,14−17 den Adressaten versichern würde, „that they, unlike Esau, ‚have not come‘ into a state of judgment (12:18-21)“ (vgl. Cockerill, Hebrews, 642), vermag nicht zu überzeugen; Hebr 12,18–21 ist – wie wir noch sehen werden – keine Gerichtsschilderung. 12
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Hebr 12,18–29 mit der zentralen Warnung vor dem Abfall in V.25 zwar wahrscheinlich an die Warnung an, nicht wie Esau zu sein/werden (V.16–17).19 Aber offenbar will der Abschnitt angesichts der ausführlichen Darstellung des Heilsguts (V.22–24) und des einer Heilsgewissheit nahekommenden Zuspruchs proselhlu,qate20 (V.22; vgl. V.28: basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej) als ermutigender Ansporn auch V.12–13 und die Aufforderung, den Weg (zum Ziel) weiter zu gehen, begründen.21 Die Warnungen in V.14, nach der Heiligung zu jagen, und V.15, keinen Mangel an der Gnade Gottes zu haben bzw. nicht verunreinigt zu werden, finden ihre Begründung in V.18–29, wo die bedrohliche Heiligkeit Gottes und die darum äusserst nötige Heiligkeit und Reinheit der Menschen – die durch die göttliche Gnade in/durch Jesus und sein/em Blut möglich ist – besonders betont wird.22 Trotz dieser kontextuellen Anknüpfung von Hebr 12,18–29 ist aber die Abgrenzung zu den vorangehenden Versen doch auch sehr stark, und zwar aus vier formalen und inhaltlichen Gründen. 1) Die für Hebr 12,12–17 prägende imperativisch-ermahnende Stossrichtung wird durch 12,18–24 als einem relativ langen lehrhaft-expositionellen Teil abrupt unterbrochen.23 2) Beim Übergang V.17b zu V.18a kommt es zu einem markanten Wechsel des Subjekts (bzw. der Personalform des Verbes) und der Zeitform. 24 19 Die Frage, wie genau, ist jedoch nicht eindeutig zu klären, da der Verfasser weder in V.18ff noch in V.25 die Esau-Thematik aufgreift. Wahrscheinlich spielt der von einigen Exegeten erkannte Schluss a minore ad maius, als Christ ja nicht wie Esau zu sein/werden, der sein Erstgeburtsrecht veräussert hat (V.16), insofern man ein viel grösseres Erbe zu verlieren hat, eine gewisse Rolle. Dies gilt wohl ebenso für den damit inhaltlich zusammenhängenden Schluss „Wenn Esau verworfen wurde bzw. keinen Raum zur Busse fand (V.17), wieviel mehr bzw. weniger dann ihr, wenn ihr eine viel grössere Segnung Gottes ablehnen würdet!“ Auf jeden Fall schwängen alle mit V.16–17 verknüpften Schlüsse – aus dem genannten Grund der Nichterwähnung der Esau-Thematik – nur zwischen den Zeilen mit. 20 Zu der Bedeutung des Verbs vgl. B.V.3. 21 Ähnlich DeSilva, Hebrews, 463. 22 Zur bedrohlichen Heiligkeit Gottes vgl. z. B. Hebr 12,18–21 und die dazu parallelen Wendungen in V.23 (krith/| qew/| pa,ntwn) und V.29 (o` qeo.j h`mw/n pu/r katanali,skon); zur nötigen Gnade in Jesus vergleiche V.24 mit 2,9 und 10,29, wonach die Gnade Gottes und der stellvertretende Opfertod Jesu untrennbar zusammen gehören. 23 Ähnlich D. S. Long, Hebrews, Belief − A Theological Commentary on the Bible, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2011, 222: „Hebrews interrupts the flow of admonitions by a theophanic temple vision. Verses 18–24 might seem out of place. They lack the imperative structure that characterizes this section“. 24 Vgl. eu-ren („er fand [Aorist]“) mit proselhlu,qate („ihr seid gekommen“ [Perfekt]); vgl. dazu auch Guthrie, Structure, 73. Der Bruch erscheint umso grösser, als dass V.17b und 18a – hinsichtlich der Konjunktion ga.r – eigentlich parallel verlaufen. Das Argument des Subjektwechsels fällt auch dann nicht weg, wenn man V.18a (Ouv ga.r proselhlu,qate) in Verbindung zu V.17b (i;ste ga.r) liest, weil in V.16b–17 das handelnde Subjekt durchwegs Esau ist.
I. Kontext und Abgrenzung
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3) Mit dem Bezug zu Israel am Sinai (V.18–21) kommt es zu einem klaren thematischen Bruch mit den Ausführungen über Esau (V.16–17).25 Mehr noch: Mit dem Sinai−Zion-Vergleich wird ein hinsichtlich des ganzen Abschnitts 12,1–17 neues Thema eingeführt. 4) Dieser formale und inhaltliche Bruch wird dadurch verstärkt, dass die exhortatio in V.25–29 nicht diejenige von V.12–17 fortsetzt, sondern die expositio in V.18–24 auswertet.26 Gar noch stärker ist unser Abschnitt von dem Schlusskapitel abzugrenzen. Denn auch wenn es in Hebr 13,1ff unbestreitbar inhaltliche Verbindungen zu Hebr 12,18–29 gibt27, handelt es sich doch angesichts des grossen formalen Unterschieds – hier ein inhaltlich einheitliches bzw. eng in einander verwobenes Stück über den irdischen Sinai und das himmlische Zion, da eine „katalogische[…] Paränese“28 – ebenso sicher um einen sehr „abrupten Übergang“, wie es z. B. Hegermann und Grässer formulieren29. Der Übergang von o` qeo.j h`mw/n pu/r katanali,skon (12,29) zu h` filadelfi,a mene,tw (13,1) könnte nicht unvermittelter sein.30 Und er bleibt wegen der Absenz einer im Hebr sonst häufigen Folgerungspartikel31 auch dann unvermittelt, wenn 13,1 in einer gewissen Form an 12,28 anschliessen möchte. Koester steht darum mit seiner These, Hebr 12,28–13,21 als einheitlichen Abschnitt zu betrachten32, zu Recht ziemlich alleine da. Die klare Abgrenzung von Hebr 12,18–29 gegenüber seinem Kontext wird durch die nun folgende Strukturanalyse noch weiter verdeutlicht; sie zeigt den Abschnitt nämlich als eine wohlkomponierte Einheit. 25 Hegermann spricht von einer „überraschenden Wendung in seiner [sc. Hebr] Gedankenführung“ (vgl. Hegermann, Hebräer, 256). Wie stark der Bruch ist, wird auch deutlich, wenn man die beiden aufeinanderfolgenden Wendungen in V.17b und 18a inhaltlich mit einander vergleicht („denn er f a nd keinen Raum für meta,noia“ … „denn ihr s e i d nicht g e k o m m e n yhlafwme,nw| kai. kekaume,nw| puri.“). 26 Angesichts dieser Gründe bezeichnet Guthrie den Übergang von V.17 zu V.18 mit Recht als einen „high-level shift“ (vgl. Guthrie, Structure, 73). 27 So hat z. B. die Wendung latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| in V.28 für die ab 13,1 folgenden ethisch-paränetischen Verse eine wichtige Scharnierfunktion (vgl. dazu auch Westfall, Discourse, 283ff). 28 Vgl. H. Löhr, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief, BZNW 73, Berlin, New York: de Gruyter, 1994, 75. 29 Vgl. Hegermann, Hebräer, 266 und Grässer, Hebräer III, 347; ähnlich auch Spicq, Hébreux II, 415 („brusque transformation“). 30 Vgl. Schunack, Hebräerbrief, 219: „Die Reihe der Ermahnungen setzt in V.1 ohne syntaktische und kompositorische Verknüpfung mit dem zuvor Dargelegten ein“; sowie A. J. Wedderburn, „The ‚Letter‘ to the Hebrews and Its Thirteenth Chapter“, in: NTS 50.3/2004, 394: „[W]e abruptly leave the solemn warnings not to neglect the word that God has spoken […] and plunge into a series of miscellaneous exhortations without any preparation“. 31 Ou=n kommt im Hebr dreizehnmal vor, dio, neunmal, a;ra zweimal; toigarou/n einmal und auch toi,nun einmal; vgl. auch den Ausdruck dia. tou/to, der zweimal verwendet wird. 32 Vgl. Koester, Hebrews, 554ff.
Kapitel II
Grundstruktur von Hebr 12,18–29 Die Grundstruktur von Hebr 12,18–29 ist auf der ersten Ebene zweigeteilt und besteht – für den Hebr typisch1 – aus einer expositio (V.18–24), d. h. einem lehrhaften Teil, und einer exhortatio (12,25–29), d. h. einem paränetischen Teil.2 Für die enge Zusammengehörigkeit der beiden Teile spricht 1) die Tatsache, dass to.n lalou/nta in V.25 direkt an V.24 anknüpft (ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti), und 2) der die expositio offensichtlich evaluierende bzw. applizierende Charakter von V.25–293. Letzterer zeigt sich dadurch, dass der Autor eine Vielzahl von Ausdrücken bzw. Themen aufgreift, die in V.18–24 verwendet bzw. abgehandelt wurden. 4 Mit Recht sehen darum viele Exegeten in Hebr 12,18–29 eine Einheit.5 Für die Erfassung der Grundstruktur von Hebr 12,18–29 ist weiter die Zweiteilung der expositio von entscheidender Bedeutung. Obwohl die V.18–24 1
Vgl. z. B. die Übersicht bei Guthrie, Structure, 144. So z. B. Schierse, Verheissung, 172; Robinson, Hebrews, 188; Hegermann, Hebräer, 256 und Grässer, Hebräer III, 302. Guthrie teilt Hebr 12,18–24 dem Begriff „exhortation“ zu (vgl. Guthrie, Structure, 133.144); allerdings betont er gleichzeitig: „Semantic borrowing from the expositional material is especially noted at Heb. 12:18-24“ (ebd., 141). 3 Den auswertenden Aspekt betont z. B. Grässer, Hebräer III, 302; von „application“ spricht z. B. Moffatt, Hebrews, 219. 4 So richtig Attridge, Hebrews, 379. Vgl. z. B. den Gebrauch von paraitei/sqai (V.19.25), die Verbindung von crhmati,zonta (V.25) mit V.19–20 und das Wortfeld evpoura,nioj/ouvrano,j (V.22f.25). Mehr Verknüpfungen werden unten bei der Analyse der chiastischen Struktur des Abschnitts erörtert; zum Gesamtüberblick vgl. B.VI.1. 5 Vgl. z. B. Delitzsch, Hebräer, 635; Westcott, Hebrews, 409; Riggenbach, Hebräer, 409; Moffatt, Hebrews, 213; Schierse, Verheissung, 172; Robinson, Hebrews, 188; Hegermann, Hebräer, 256; Attridge, Hebrews, 379; Grässer, Hebräer III, 302; Strobel, Hebräer, 236ff; Backhaus, „Land“, 180; W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief, BZNW 116, Berlin, New York: de Gruyter, 2003, 113; Westfall, Discourse, 283; Lincoln, Hebrews, 32; S. D. Mackie, Eschatology and Exhortation in the Epistle to the Hebrews, WUNT II 223, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 66; Karrer, Hebräer II, 330. Gegen die z. B. von Lane vertretene Einheit von Hebr 12,14– 29 und deren konzentrische Gliederung – A) V.14–17: exhortatio; B) V.18–24: expositio; A‘) V.25–29: exhortatio (vgl. Lane, Hebrews II, 446) – spricht neben dem oben aufgezeigten klaren Bruch zwischen V.17 und V.18 auch die Tatsache, dass das einfache Paar expositio und exhortatio strukturell exakt dem u. a. angesichts der a-fortiori-Argumentation eng verwandten Abschnitt Hebr 1,5–2,4 entspricht (1,5–14: expositio; 2,1–4: exhortatio). 2
II. Grundstruktur von Hebr 12,18−29
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grammatikalisch gesehen aus einem einzigen langen Satz bestehen, werden sie durch den eine Anapher bildenden Kontrast ouv […] proselhlu,qate (V.18) versus avlla. proselhlu,qate (V.22) markant in zwei (auch inhaltlich stark kontrastierende) Blöcke zergliedert: V.18–21 und V.22–24.6 Dies verdeutlicht auch die Tatsache, dass der erste Block mit der Erwähnung von „Mose“ (V.21a) und der zweite mit derjenigen von „Jesus“ (V.24a) endet – der Mittler des Alten Bundes wird offenbar bewusst dem Mittler des Neuen Bundes gegenübergestellt.7 Da die exhortatio keine Anhaltspunkte für eine auch nur annähernd klare Unterteilung bietet8, kann man die Grundstruktur von Hebr 12,18–29 also auch als dreigeteilt sehen, bestehend aus drei ähnlich langen Blöcken, wobei der kürzeste in der Mitte ist.9 Ein deutlicher Hinweis, dass diese Dreiteilung durchaus der Absicht des Autors entspricht, sind die vielen ausgeprägten Bezüge des dritten zum ersten Teil.10 Vorrangig ist dabei die den Abschnitt Hebr 12,18–29 auch nochmals klar abgrenzende inclusio zu nennen, die durch die Erwähnung von pu/r in V.18 und V.29 gebildet ist.11 Auffällige Verbindungen bestehen weiter durch den doppelten Gebrauch der Begriffe fwnh, (V.19a.26) und paraitei/sqai (V.19b.25)12, die zwei inhaltlich verwandten Wortpaare e;kfobo,j […] kai. e;ntromoj (V.21) und euvlabei,aj kai. de,ouj (V.28)13, den offensichtlichen Bezug von evpi. gh/j […] crhmati,zonta (V.25) zu V.19–20 (insbesondere zu fwnh/| r`hma,twn) und jenen vom saleu,ein der Erde (V.26) zu V.18–19 (insbesondere zu sa,lpiggoj h;cw|, vgl. z. B. Ex 19,18f!).
6 So fast alle Exegeten. Heil hingegen unterteilt Hebr 12,12–29 nach seinem umfassend chiastischen Strukturansatz in folgende einander entsprechende Teile: A) V.12–17; B) V.18– 20; C) V.21a; D) V.21b (Mwu?sh/j ei=pen); C‘) V.21c; B‘) V.22–27; A‘) V.28–29 (vgl. Heil, Structures, 367f.374ff). Auch Gelardini hebt sich durch ihre Gliederung von der Mehrheit ab, indem sie wie folgt gliedert: A) V.14–15: „Herr“; B) V.16–17: „Erstgeborenenrecht“; C) V.18: „nicht hinzugetreten“; D) V.19: „Wort“; D‘) 20–21: „Gebot“; C‘) V.22: „sondern hinzugetreten“; B‘) V.23: „Erstgeborenen“; A‘ V.24: „Jesus“ (vgl. Gelardini, Synagogenhomilie, 353, Anm. 212). 7 Vgl. z. B. auch Vanhoye, La structure, 206f. 8 Grässer sieht Hebr 12,25–29 zweifach untergliedert: auf die drohende Warnung in V.25–27 folge ein ermunternder Aufruf in V.28–29 (vgl. Grässer, Hebräer III, 302). Man kann dem durchaus zustimmen, aber die Unterteilung ist insofern viel schwächer als in V.18–24, als dass die V.25ff und V.28f nicht kontrastieren, sondern einander ergänzen (↑ B.VI.2.). 9 Die V.18–21 bestehen aus 273 Buchstaben, V.22–24 aus 253 und V.25–29 aus 427. 10 Die Bezüge vom dritten zum zweiten Teil beschränken sich auf den zu fürchtenden Gott (vgl. V.25f.28f mit V.23) und die eschatologische basilei,a (vgl. V.28 mit V.22–24). 11 Diese inclusio haben z. B. schon folgende Exegeten konstatiert: Michel, Hebräer, 448; G. W. Buchanan, To the Hebrews, AncB 36, Garden City, N.Y: Doubleday, 1972, 226; Vanhoye, La structure, 209 und Mackie, Eschatology, 66. 12 Dies wurde auch von Dussaut beobachtet (vgl. Dussaut, Synopse, 131). 13 Vgl. z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 455.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Ein weiterer Hinweis für die intendierte Dreiteilung von Hebr 12,18–29 mit Hebr 12,22–24 als Mittelteil ist der chiastisch-konzentrische Aufbau14 von V.22–24. Wenn man Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w| als ein Glied zusammenfasst15, dann hat man sieben jeweils durch das abgrenzende kai, definierte Glieder.16 Dass kai. krith/| qew/| pa,ntwn (V.23b) nun nicht einfach nur das vierte Glied ist, sondern vielmehr das strukturelle Zentrum von Hebr 12,22–24 bildet17, wird durch die Beobachtung, dass das dritte (evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j) und vierte Glied (pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn) 1) sich grammatikalisch exakt entsprechen, 2) einen Gleichklang bilden und 3) inhaltlich mindestens stark verwandt sind,18 m. E. eindeutig belegt. Die konzentrische Struktur wird weiter ausgebaut durch die – angesichts der für den Hebr wichtigen synkrisis „Engel versus Jesus“ (1,4ff) – inhaltlich sehr passende Verbindung vom zweiten (kai. muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei) und fünften Glied (kai. diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/).19 Auf den ersten Blick weniger zusammen zu passen scheinen das erste (Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w|) und siebte Glied (kai. ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel). Wenn man aber Zion und Jerusalem sowohl „lokal-historisch“ als auch „ontologisch-soteriologisch“ als den Ort ansieht, wo Jesus sein erlösendes Blut vergossen hat, macht auch diese letzte Verbindung durchaus Sinn. 20
14
Chiastisch-konzentrische Strukturen sind für den Hebr nicht untypisch. Eine solche Struktur findet sich z. B. gemäss breiter Anerkennung in 1,1–4 (vgl. z. B. D. J. Ebert, „The Chiastic Structure of the Prologue to Hebrews“, in: TrJ 13.2/1992, 163–179; Lane, Hebrews I, 6f und Backhaus, Hebräerbrief, 83f; allerdings divergieren die drei Exegeten in der genauen Gliederung). 15 Inhaltlich spricht viel dafür (vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 465f); vgl. dazu mehr unter B.IV.1. 16 Vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 482, Anm. 201; Martin; Whitlark, „Syncrisis“, 436; Cockerill, Hebrews, 650, Anm. 39; zu der Auseinandersetzung mit der 8-Glieder-These und anderen Gliederungsansätzen vgl. B.IV.1. 17 Vgl. Spicq, Hébreux II, 408; Dussaut, Synopse, 130 und Eisele, Reich, 398; vgl. auch Heath, der in Hebr 12,22–24 fünf Glieder erkennt und dabei V.23b als Zentrum ausmacht (vgl. Heath, Structures, 258). 18 Zu 1): vgl. die identische Reihenfolge a) Nomen im Dativ, b) substantiviertes Adjektiv im Genitiv und c) Partizip Perfekt Passiv im Genitiv; zu 2): vgl. das durch die vier Genitivendungen entstehende doppelte homoioteleuton; zu 3): ob man die beiden Menschengruppen mit einander identifiziert oder nicht – in jedem Fall sind doch beides Gruppen von Menschen. 19 Vgl. Dussaut, Synopse, 130. 20 Vgl. Eisele, Reich, 398. Zu seiner abweichenden Siebnergliederung (Siw.n o;rei und po,lei qeou/ zw/ntoj sind nach Eisele zwei Glieder, auf die sich die beiden letzten Glieder in V.24 beziehen) vgl. B.IV.1. Die Erklärung von Dussaut (vgl. Dussaut, Synopse, 130), dass sowohl das erste als auch das siebte Glied „deux réalités liées à la vie“ seien (vgl. po,lei qeou/ zw/ntoj und ai[mati r`antismou/), scheint mir weniger überzeugend.
II. Grundstruktur von Hebr 12,18−29
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Dass in Hebr 12,22–24 Gott strukturell die zentrale Stellung einnimmt21 und Jesus – durch den markanten Schlusskontrast mit Mose (V.21) – auf einer anderen Ebene gleichzeitig die Klimax bildet22, ist angesichts der theologischen Hauptbotschaft des Hebräerbriefs „per Christum ad Deum“ (vgl. z. B. 7,25: tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew/|, 10,22: parrhsi,an eivj th.n ei;sodon tw/n a`gi,wn evn tw/| ai[mati VIhsou/)23 kein Widerspruch. In V.18–21 und V.22–24 sind durch die Schlussposition allerdings nicht nur die beiden Bundesmittler betont, sondern auch die Worte, die den jeweiligen Bund begründen. Im jeweils letzten Glied der beiden langen polysyndeta geht es nämlich um das „göttliche“ Reden der den Alten Bund einrichtenden Zehn Gebote (V.19: fwnh/| r`hma,twn) bzw. das Sprechen des Blutes Jesu, das die Neue Diatheke etabliert (V.24: ai[mati r`antismou/ […] lalou/nti).24 Ein Versuch, die komplexe Grundstruktur von Hebr 12,18–29 zusammenzufassen, stellt das folgende Textschaubild dar.25
21 Wenn man das zentrale Glied krith/| qew/| pa,ntwn inhaltlich als „zu Gott, dem Richter aller“ versteht, steht Gott sogar im absoluten Zentrum des Abschnitts (↑ B.IV.2.2.2.a). 22 Die klimaktische Position von Mose in 12,18–21 und Jesus in 12,22–24 betonen z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 669; Westfall, Discourse, 277 und Backhaus, Hebräerbrief, 441f.447f. 23 ↑ C.II.3.2.6. 24 Ähnlich z. B. auch Thompson, Hebrews, 267: „The author maintains the distinction between God’s word in the past and in the last days (cf. 1:1–2a) in 12:18–29, focusing on the contrast between Israel’s hearing of the word at Sinai (12:19–21) and the community’s hearing of the word in the heavenly sanctuary that speaks better than (the blood of) Abel (12:24)“; sowie Lewicki, der das Sprechen Gottes als Hebr 12,18–29 koordinierendes Motiv bezeichnet (vgl. Lewicki, Wort Gottes, 111f). 25 Die Einzüge entsprechen im ersten und dritten Teil hauptsächlich der Syntax (die V.19c–20 hängen von fwnh/| r`hma,twn in V.19b ab; V.21 als Parenthese ist V.19c beigeordnet; V.25b.c ist V.25a untergeordnet, die V.26–27 ihrerseits der Wendung to.n avpV ouvranw/n in V.25c), im mittleren Teil aber der konzentrischen Struktur. Fett markiert sind die Begriffe, die durch ihre wörtlichen Entsprechungen die Hauptverbindungen zwischen dem ersten und letzten Teil schaffen; kursiv sind jene Begriffe, die eine schwächere Verknüpfung darstellen. Die vier parallelen Pfeile stellen den zweifachen klimaktischen Kontrast dar: 1) „Mose vs. Jesus“ (= Hauptkontrast); 2) „die Bundesworte am Sinai vs. die Bundesworte am Zion“.
expositio
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B. Exegese von Hebr 12,18−29 Ouv ga.r proselhlu,qate yhlafwme,nw| [o;rei] kai. kekaume,nw| [o;rei] puri. kai. gno,fw| kai. zo,fw| kai. que,llh| kai. sa,lpiggoj h;cw| kai. fwnh/| r`hma,twn h-j oi` avkou,santej parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon( ouvk e;feron ga.r to. diastello,menon\ ka'n qhri,on qi,gh| tou/ o;rouj( liqobolhqh,setai\ kai,( ou[tw fobero.n h=n to. fantazo,menon( M w u? s h/ j ei=pen e;kfobo,j eivmi kai. e;ntromojÅ
exhortatio
avlla. proselhlu,qate Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w|( kai. muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei kai. evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j k a i . k r i t h/ | q e w/ | pa,ntwn kai. pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn kai. diaqh,khj ne,aj mesi,th| V I h s o u/ kai. ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {AbelÅ Ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta eiv ga.r evkei/noi ouvk evxe,fugon evpi. gh/j paraithsa,menoi to.n crhmati,zonta( polu. ma/llon h`mei/j oi` to.n avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi( ou- h` fwnh. th.n gh/n evsa,leusen to,te( nu/n de. evph,ggeltai le,gwn\e;ti a[pax evgw. sei,sw ouv mo,non th.n gh/n avlla. kai. to.n ouvrano,nÅ to. de. e;ti a[pax dhloi/ th.n tw/n saleuome,nwn meta,qesin w`j pepoihme,nwn( i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,menaÅ Dio. basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej e;cwmen ca,rin( diV h-j latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| meta. euvlabei,aj kai. de,ouj\ kai. ga.r o` qeo.j h`mw/n pu/r katanali,skonÅ Abbildung 3: Grundstruktur von Hebr 12,18–29
Kapitel III
Analyse von Hebr 12,18–21 1 Struktur Hebr 12,18–21 ist gekennzeichnet durch ein langes polysyndeton, bestehend aus sieben zu proselhlu,qate gehörenden Dativobjekten1, die auffallend artikellos aneinandergereiht sind. Auch wenn sich ihre Reihenfolge im Groben am alttestamentlichen Prätext orientiert2, scheint doch sowohl ein formales als auch ein inhaltliches Gliederungsprinzip vorhanden zu sein, das die sieben Glieder in drei Gruppen einteilt. Formal bilden yhlafwme,nw| [o;rei]3 und kekaume,nw| [o;rei]3 puri. mit den zwei Partizipien im Passiv die erste Gruppe, die drei Nomina gno,fw|, zo,fw| und que,llh| die zweite und die beiden Nomina mit jeweils einem Genitivattribut sa,lpiggoj h;cw| und fwnh/| r`hma,twn die dritte4, wobei die formale Zusammengehörigkeit der letzten Gruppe durch den chiastischen Aufbau (A, B, B‘, A‘) besonders stark betont wird. Nach Cockerill unterscheiden sich die drei Gruppen auch inhaltlich, weil die erste Gruppe den Tastsinn, die zweite den Sehsinn und die dritte den Hörsinn betreffe.5 Dem kann man jedoch nur dann zustimmen, wenn man bei kekaume,nw| [o;rei] puri, den Aspekt des Sehens demjenigen des Tastens unterordnet – was angesichts der offenbaren Betonung der Gefährlichkeit des Feuers (vgl. Hebr 12,29) durchaus Sinn macht – und bei que,llh| den Sehsinn vor dem Hörsinn akzentuiert sieht (vgl. das verbindende Element der Dunkelheit in der trias gno,fw| kai. zo,fw| kai. que,llh|). Der durch ihre brevitas auffallenden Reihe mit den sieben Zielangaben wird ab V.19c ein längerer Anhang beigefügt, der aus einem die fwnh.n r`hma,twn näherbestimmenden Relativsatz, einem letzterem als Begründung untergeordneten Nebensatz (V.20) sowie einer V.19c beigeordneten Parenthese besteht.
1 Zu yhlafwme,nw| und kekaume,nw| puri, als zwei eigenständigen Gliedern vgl. B.III.2.1.1.b. 2 ↑ B.III.2.1. 3 Zur Verknüpfung mit dem im Hintergrund stehenden Berg Sinai vgl. B.III.2.1.1.b bzw. B.III.2.1.2. 4 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 647. 5 Ebd.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
2 Einzelexegese 2.1 Vers 18 Ouv ga.r proselhlu,qate yhlafwme,nw| kai. kekaume,nw| puri. kai. gno,fw| kai. zo,fw| kai. que,llh| „Denn ihr seid nicht hinzugetreten zu einem zu Ertastenden (Berg), und zu einem mit Feuer Angezündeten und Lodernden (Berg) und einem Dunkel und einer Finsternis und einem Sturmwind […]“
Der Verfasser des Hebräerbriefs malt seinen Adressaten die „Theophanie“ am Berg Sinai vor Augen. Auch wenn nicht explizit vom „Berg Sinai“ die Rede ist6, ist im Blick auf Hebr 12,20 (ka'n qhri,on qi,gh| tou/ o;rouj) und 12,22 mit dem gegenübergestellten Siw.n o;rei klar an ihn gedacht. Unterstrichen wird dies durch DtnLXX 4,11–12 als dem alttestamentlichen Text, an den sich der Verfasser anlehnt und wo es explizit um den Berg Sinai geht (e;sthte u`po. to. o;roj kai. to. o;roj evkai,eto puri.). Die Parallelen von Hebr 12,18–19 zu DtnLXX 4,11–12 sind frappierend. Tabelle 2: Gegenüberstellung von Hebr 12,18–19 und DtnLXX 4,11–12 Hebr 12,18–19
DtnLXX 4,11–12
Ouv ga.r proselhlu,qate yhlafwme,nw| kai. k e k a u m e , n w | p u r i . kai. gno,fw| kai. zo,fw| kai. q u e , l l h | kai. sa,lpiggoj h;cw| kai. fwnh/| r`hma,twn( h-j oi` a v k o u , s a n t e j7 parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon
kai. prosh,lqete kai. e;sthte u`po. to. o;roj kai. to. o;roj e v k a i , e t o p u r i . e[wj tou/ ouvranou/ sko,toj gno,foj q u , e l l a fwnh. mega,lh kai. evla,lhsen ku,rioj pro.j u`ma/j evk me,sou tou/ puro,j fwnh.n r`hma,twn u`mei/j h v k o u , s a t e […]
Keine andere Schilderung der Ereignisse am Berg Sinai in der Tora trifft den Wortlaut von Hebr 12,18−19 so genau wie DtnLXX 4,11−128, weshalb die These
6 Die u. a. von D, Y, 1739, 1881 und M bezeugte Einfügung von o;rei ist sekundär (z. B. gegen Riggenbach, Hebräer, 411 und Michel, Hebräer, 461). Dafür spricht neben der handschriftlichen Gewichtung die unterschiedliche Position des Wortes in den Handschriften, die es bezeugen (vgl. B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2. Aufl., 1994, 605). 7 Vielleicht lehnt sich Hebr hier schon nicht mehr an Dtn 4,12 an, sondern an den Folgetext (↑ B.III.2.2.3). 8 In ExLXX 19,16–19 fehlen ausser sa,lpiggoj h;coj (vgl. V.16: fwnh. th/j sa,lpiggoj h;cei) und dem Feuer alle wichtigen Begriffe. ExLXX 20,18–21 bietet lediglich die Parallele zum Trompetenschall (o` lao.j e`w,ra […] th.n fwnh.n th/j sa,lpiggoj), zur furchtsamen Abweisung des Hörens der Gottesrede (V.19) und zum Begriff des Dunkels (V.21: eivj to.n gno,fon). In DtnLXX 5,22–27 ist das Verb prose,rcesqai mit Bezug auf das Objekt Berg auf die Person des Mose beschränkt (V.27: pro,selqe su,), der Verfasser des Hebr hat aber klar das Volk Israel als Agens im Auge (vgl. proselhlu,qate mit oi` avkou,santej); weiter fehlt der Begriff fwnh. r`hma,twn, und das Feuer in Verbindung mit dem Verb kai,ein findet sich erst nach
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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einer reminiszenzartigen Entnahme aus mehreren Texten9 dem Sachverhalt nicht gerecht wird. Gewiss, es bleibt eine freie Anlehnung an DtnLXX 4,11–12: Der Verfasser fügt yhlafwme,noj hinzu, ersetzt sko,toj bei gleichzeitiger Reihenfolgeänderung durch zo,foj und substituiert fwnh. mega,lh durch sa,lpiggoj h;coj (vgl. ExLXX 19,16).10 Seine Ausführungen über die Gottesbegegnung am Sinai beginnt der Autor mit dem begründenden ga,r mit der Bedeutung „denn“ und verweist damit auf V.12–17.11 Mit dem folgenden proselhlu,qate grenzt er sich jedoch formal und thematisch gleichzeitig auch stark von den unmittelbar vorangehenden Versen ab.12 Das Verb prose,rcesqai in der Grundbedeutung „herankommen“, „hinzutreten“, „kommen zu“ oder „gehen zu“13 kommt im Hebr siebenmal vor (4,16; 7,25; 10,1.26; 11,6; 12,18.22). Mit proselhlu,qate in Hebr 12,18 greift der Verfasser offenbar DtnLXX 4,11 auf14, wo Mose zum Volk sagt: Prosh,lqete kai. e;sthte u`po. to. o;roj. Vor diesem Hintergrund sollte ouv proselhlu,qate mit „ihr seid nicht hinzugetreten“15, und nicht mit „ihr seid nicht gekommen“16 oder gar „ihr seid nicht angekommen [sc. ans Ziel gelangt]“17 übersetzt werden. Denn in Dtn 4,11 geht es nicht um ein Ankommen nach einer Reise (Israel war bereits
gno,foj und qu,ella. Diese Differenzen können nicht durch die Tatsache wettgemacht werden, dass DtnLXX 5,25–27 die in DtnLXX 4,11−12 nicht erwähnte Bitte, das Reden Gottes nicht mehr hören zu müssen, bietet. Vielmehr scheint es so, dass sich der auctor ad Hebraeos erst in Hebr 12,19b an DtnLXX 5,25ff; 18,16 oder ExLXX 20,18f anlehnt (↑ B.III.2.2.3). 9 So z. B. F. Schröger, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, BU 4, Regensburg: Pustet, 1968, 207ff und Grässer, Hebräer III, 303 (bezüglich ExLXX 19,16−19; DtnLXX 4,11f und 5,22f); ähnlich Allen, Deuteronomy, 88ff (bezüglich DtnLXX 4,11f und 5,22–27). 10 Zu den Gründen vgl. die später folgende Exegese zu den verschiedenen Wörtern. 11 ↑ B.I; die Wendung ouv ga,r kommt im Hebr siebenmal vor (2,5; 2,16; 4,15; 6,10; 9,24; 12,18; 13,14 (davon 2,16; 4,15; 9,24; 13,14 auch mit avlla,, „sondern“); ga,r alleine über 90mal. 12 ↑ B.I. 13 Vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin, New York: de Gruyter, 6. Aufl., 1988, 1428. 14 So konstatiert von vielen; vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 670 und Lane, Hebrews II, 459. 15 Vgl. z. B. Hegermann, Hebräer, 256; Grässer, Hebräer III, 302 und Karrer, Hebräer II, 309; ähnlich z. B. Braun, Hebräer, 429 („herangetreten“) und Backhaus, Hebräerbrief, 434 („hinzugeschritten“); vgl. z. B. auch Spicq, Hébreux II, 403 („approchés“); DeSilva, Hebrews, 464 („drawn near“) und Koester, Hebrews, 542 („approached“). 16 Vgl. z. B. Thompson, Hebrews, 267; Allen, Hebrews, 588; O’Brien, Hebrews, 477 und Cockerill, Hebrews, 645, die alle mit „[you] have not come“ übersetzen. 17 Vgl. z. B. Johnson, Hebrews, 328 zu 12,22 „[T]hey have, in principle and in their imagination, […] reached the goal of their pilgrimage“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
in der Nähe des Bergs einquartiert!) und der Prätext betont das aktive Hinzuschreiten des Volkes (mit e;sthte als dem Resultat). Freilich ist bei der positiven Zusage proselhlu,qate! in Hebr 12,22 sekundär durchaus der Aspekt der Zielankunft vorhanden (↑ C.II.3.2.2.a). Das Perfekt von proselhlu,qate mit seinem resultativen Charakter18 beleuchtet neben dem vorhergehenden Geschehen des Hinzutretens auch das sich auf die Gegenwart auswirkende Ergebnis des Vor-dem-Berg-Stehens (und subsumiert so e;sthte in DtnLXX 4,11).19 Um was es sich genau beim (Nicht-)Hinzugetreten-Sein handelt – ob z. B. ein kultisches oder eschatologisches Konzept im Hintergrund steht –, kann erst nach der Analyse des positiven proselhlu,qate in Hebr 12,22 erörtert werden.20 Im Folgenden sollen nun die einzelnen Dativobjekte untersucht werden. 2.1.1 yhlafwme,nw| Bei der ersten Zielangabe des Hinzutretens yhlafwme,nw| – von yhlafa,ein „(etwas mit den Händen) betasten, berühren“21 – stellt sich bei den Auslegern die Frage, ob das Partizip substantiviert zu verstehen ist – entweder als neutrum absolutum („zu etwas Bestastbarem“)22 oder maskulin in Bezug auf den im Hintergrund stehenden o;rei Sinai („zu einem bestastbaren [Berg])“23 – oder als adjektivisches Partizip mit dem Bezugswort puri, („zu einem betastbarem Feuer)24. Auf den ersten Blick scheint Letzteres naheliegender.25 Allerdings hat schon Riggenbach darauf hingewiesen, dass die Wendung „ein betastbares Feuer“ etwas „Widersinniges“ sei, insofern sich jeder die Finger verbrennen würde, der es berühre.26 Grässer versucht diesen Einwand zu entkräften, indem er sagt, dass die „Unnahbarkeit des Feuers […] kein Argument gegen seine grundsätzliche materielle Greifbarkeit“ sei; der Hebr ziele nämlich auf die 18 Vgl. E. G. Hoffmann; H. v. Siebenthal, Griechische Grammatik zum Neuen Testament, Riehen: Immanuel-Verlag, 2. Aufl., 1990, § 194k. 19 Ähnlich z. B. auch Ellingworth, der von einer „lasting condition“ spricht (vgl. Ellingworth, Hebrews, 670). 20 ↑ B.V.3. 21 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1779f. 22 So die Mehrheit der Exegeten. Vgl. z. B. Soden, Hebräerbrief, 100; Moffatt, Hebrews, 214; Spicq, Hébreux II, 403; Braun, Hebräer, 430; H.-F. Weiss, Hebräer, 671; Lane, Hebrews II, 460; Koester, Hebrews, 542; Backhaus, Hebräerbrief, 439; Cockerill, Hebrews, 646. 23 So z. B. Ellingworth, Hebrews, 671f; Schunack, Hebräerbrief, 204; Allen, Hebrews, 588f. 24 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 410 („material fire“); Schierse, Verheissung, 173, Strobel, Hebräer, 237; Grässer, Hebräer III, 304. 25 Yhlafwme,nw| liest sich durch das folgende kai, recht flüssig mit dem formal identischen kekaume,nw| als Beschreibung zu puri,. 26 Vgl. Riggenbach, Hebräer, 410.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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„Sinnlichkeit“ jener spezifischen Gottesoffenbarung im Gegensatz zur „unsichtbar-immateriellen Glut“ in V.29 (pu/r katanali,skon).27 Diese Argumentation ist jedoch aus zwei Gründen problematisch: 1) Die Beschreibung Gottes als pu/r katanali,skon in Hebr 12,29 bietet für sich genommen keinerlei Anhaltspunkte für eine solche metaphysische Interpretation. Im Gegenteil: Das „verzehrende Feuer“ scheint ausgesprochen materiell zu sein, insofern es ein reales Gerichtsfeuer ist, das Gottes Widersacher tatsächlich verzehren wird (vgl. Hebr 10,27: evsqi,ein).28 2) Das Feuer ist (zusammen mit den anderen in V.18ff erwähnten Phänomenen) formal primär in Kontrast zu den ab V.22 geschilderten Eigenheiten Zions gesetzt (ouv […] avlla,) – der Kontrast zu V.29 ist, wenn er überhaupt da ist, höchstens sekundär. Ein explizit betastbares Feuer wird in V.22 jedoch in keiner Weise kontrastiert, was gegen die Verbindung von yhlafwme,nw| mit puri, spricht.29 Anders sieht es aus, wenn man yhlafwme,nw| als substantiviertes Partizip nimmt (in Bezug auf den betastbaren Sinai oder die materielle, sinnlich wahrnehmbare Erscheinung Gottes), dann wäre ein sinnvoller Kontrast zu einem himmlischen, von der Erde aus nicht betastbaren oder gar immateriellen o;roj Zion gegeben. Grammatikalisch spricht auf jeden Fall nichts dagegen, weil der attributive Gebrauch des Partizips im Hebr durchaus nichts Ungewöhnliches ist.30 Allerdings stellt sich nun die Frage, ob durch yhlafwme,nw| tatsächlich der Gegensatz irdisch-himmlisch bzw. materiell-immateriell vorherrscht, wie dies eine grosse Mehrheit der Exegeten feststellt. a. Exkurs: Irdisch-sinnlicher Sinai vs. himmlisch-immaterieller Berg Zion? Schon Calvin war von einer Gegenüberstellung von einem irdisch-materiellen Berg Sinai und einem himmlisch-geistlichen und darum unbetastbaren Berg Zion überzeugt.31 Für die neuere Forschung war die Untersuchung von Thompson bahnbrechend, der yhlafwme,nw| im Kontrast zu evpoura,nioj in 12,22 als ein 27
Vgl. Grässer, Hebräer III, 304; vgl. dazu auch Schierse, Verheissung, 175f. So interessanterweise auch Grässer selbst (vgl. Grässer, Hebräer III, 339); vgl. dazu mehr unter B.VI.3.5.3. 29 Ähnlich auch Wider, Theozentrik, 97 und Allen, Deuteronomy, 89. 30 Vgl. Hebr 1,14 (tou.j me,llontaj); 2,3: (tw/n avkousa,ntwn); 2,11 (o[ te ga.r a`gia,zwn kai. oi` a`giazo,menoi); 2,18 (toi/j peirazome,noij); 3,2 (tw/| poih,santi) u. ö..; ohne Artikel vgl. z. B. 10,5 (eivserco,menoj); 11,1 (evlpizome,nwn − ouv blepome,nwn); 11,3 (evk fainome,nwn to. blepo,menon gegone,nai); in unmittelbarer Nähe zu yhlafwme,nw| stehen oi` avkou,santej in 12,19, to. diastello,menon in 12,20 und to. fantazo,menon in 12,21. 31 Vgl. J. Calvin, Commentarius in epistolam ad Hebraeos, Ioannis Calvini opera omnia. Series II, Opera exegetica Veteris et Novi Testamenti 19, Genève: Droz, 1996, 228: „Ita mons Sinai manibus palpari potest, mons vero Sion nonnisi spiritu comprehenditur“; ähnlich später auch Tholuck, Hebräer, 433: „[D]ieses Prädikat [dient] dazu, die niedere Stufe des A. B. [sc. Alten Bundes] zu zeigen, denn im N. B. findet ein pneumatisches prose,rcesqai pro.j to.n qeo,n statt“. 28
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
„code-word for ‚earthly‘ in a metaphysical sense“ verstanden hat.32 Nach Thompson liegt der Gegenüberstellung „Sinai versus Zion“ ein „metaphysical dualism“ zugrunde, der ganz in der Entsprechung zum platonischen Gegensatz „irdisch-sinnliche Welt versus immaterielle Ideenwelt“ stehe.33 Dieser Gegensatz gelte unter anderem auch für die Themen Heiligtum und Opfer im Hebr: Das himmlische Heiligtum und das Opfer Christi sind darum den irdischen Pendants überlegen, weil sie „not material“ sind. 34 Dieser metaphysisch-dualistischen Interpretation von yhlafwme,nw| hat sich eine Vielzahl von Exegeten angeschlossen.35 Die meisten von ihnen verstehen das Partizip als Überschrift für die ganze Sinai-Offenbarung, die dieselbe gegenüber der neuen Gottesoffenbarung abwertend darstelle.36
32 Vgl. J. W. Thompson, „‚That Which Cannot be Shaken‘: Some Metaphysical Assumptions in Heb 12:27“, in: JBL 94.4/1975, 582 (vgl. auch J. Thompson, The Beginnings of Christian Philosophy. The Epistle to the Hebrews, CBQ.MS 13, Washington, DC: Catholic Biblical Association of America, 1982, 45). Vor Thompson haben dies ähnlich u. a. folgende Exegeten vertreten: Moffatt, Hebrews, 214f; Spicq, Hébreux II, 403ff; Robinson, Hebrews, 184; H. Montefiore, A Commentary on the Epistle to the Hebrews, BNTC 16, London: Adam and Charles Black, 1964, 228; Casey, Eschatology, 316.499. 33 Vgl. Thompson, „Metaphysical“, 582. 34 Vgl. Thompson, Beginnings, 106 („It [sc. heavenly sanctuary] is ‚greater and more perfect‘ because it is not material“) und 108 („the sacrifice of Christ is qualitatively superior because it is not material“). 35 Vgl. z. B. Attridge, Hebrews, 372; Isaacs, Space, 125; J. M. Scholer, Proleptic Priests. Priesthood in the Epistle to the Hebrews, JSNT.S 49, Sheffield: JSOT Press, 1991, 140; K. Backhaus, Der neue Bund und das Werden der Kirche. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristlichen Theologiegeschichte, NTA.NF 29, Münster: Aschendorff, 1996, 218; DeSilva, Hebrews, 465; Schunack, Hebr, 206; G. Gäbel, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie, WUNT II 212, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, 382; Johnson, Hebrews, 329; Lincoln, Hebrews, 60.67; S. Fuhrmann, Vergeben und Vergessen. Christologie und Neuer Bund im Hebräerbrief, WMANT 113, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2007, 131; K. Schenck, Cosmology and Eschatology in Hebrews. The Settings of the Sacrifice, SNTS.MS 143, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2007, 125.130f. In eine ähnliche Richtung geht auch die Deutung von Wenkel: „The old covenant (Mount Sinai) is characterized by what is palpable, touchable, and apprehensible through the senses while the new covenant (Mount Zion) is characterized by what is ephemeral, untouchable, and unseen“ (vgl. D. H. Wenkel, „Sensory Experience and the Contrast between the Covenants in Hebrews 12“, in: BS 173.690/2016, 222; vgl. auch ebd., 224 zu Hebr 12,22−24: „[W]hat they approached is not touchable and not apprehensible by the senses, as Mount Zion is in heaven“). 36 So z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 671f; Grässer, Hebräer III, 305 (trotz seines Bezugs zum Feuer) und Backhaus, Hebräerbrief, 439; nach Letzterem wird der Sinai durch den Begriff metaphysisch abqualifiziert und gehört zur „Sphäre des Fleisches“, zur „Schattenwelt“.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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Nur wenige Ausleger lehnen diese platonisierende Lesart von yhlafwme,nw| ab.37 Nach Lane ist die Interpretation von Thompson vor allem darum problematisch, weil der Hauptkontrast von Hebr 12,18–24 nicht metaphysischer Art sei, sondern auf die unterschiedliche Qualität der Gottesbeziehung hinaus laufe.38 Zion sei nur darum nicht betastbar, weil es „essentially future“ ist (vgl. Hebr 13,14).39 Ähnlich versteht Son den Gegensatz von yhlafwme,noj und evpoura,nioj, nämlich als einen räumlichen Kontrast („spatial contrast“): Zion kann nicht berührt werden, weil es transzendent ist.40 Cockerill verwirft den Kontrast irdisch–himmlisch sogar ganz, indem er das Partizip auf die betastbare „reality of the judgement on sin and exclusion from God“ bezieht.41 Svendsen sieht auch die Möglichkeit, dass sich der Autor mit yhlafwme,nw| an ExLXX 10,21 anlehnt, wo die neunte Plage als eine yhlafhto.n sko,toj (Wiedergabe von $vx vmyw) beschrieben wird, und dass er so das Sinai-Ereignis, den Alten Bund und das Gesetz als „anything but a blessing“ abqualifiziert.42 Meines Erachtens fehlt in der kritischen Auseinandersetzung mit der metaphysisch-dualistischen Interpretation von Thompson eine wichtige Frage: Ist die himmlische Welt, wie der Verfasser des Hebräerbriefs sie versteht, tatsächlich immateriell und darum nicht betastbar? Thompson bejaht dies, indem er vor allem auf Hebr 9,11 verweist, wonach das himmlische Zelt-Heiligtum ouv ceiropoi,htoj und ouv tau,thj th/j kti,sewj ist, was auf dessen Immaterialität hinweise.43 Diese Interpretation ist jedoch keinesfalls zwingend; man kann den
37 Zurückhaltend z. B. Pfitzner, der die irdisch-sinnliche Interpretation des Partizips bzw. der ganzen sinaitischen Gottesoffenbarung zwar teilt, aber den platonisch-metaphysischen Hintergrund ablehnt (vgl. V. C. Pfitzner, Hebrews, ANTC, Nashville, TN: Abingdon Press, 1997, 183). Wider wehrt sich bei teilweiser Übereinstimmung mit Thompson dagegen, alle Elemente des Kontrasts in eine kosmologische Perspektive einzuordnen (vgl. Wider, Theozentrik, 96.102). 38 Vgl. Lane, Hebrews II, 461. 39 Vgl. ebd. Dieser eschatologischen Interpretation folgt Witherington, wenn er von dem „currently intangible effect of drawing near to the second theophany“ spricht (vgl. Witherington, Hebrews, 340); vgl. auch D. S. Long, Hebrews, 224. 40 Vgl. Son, Zion, 93. Die Überbietung des irdischen Gottesbergs durch den himmlischen sei nicht darin begründet, dass der Himmel „an intellectual world“ ist, sondern „traditionally understood as the true dwelling place of God whereas the earthly sanctuary is only a copy of the true heavenly sanctuary“ (ebd.). 41 Vgl. Cockerill, Hebrews, 648, Anm. 26 (vgl. 646–648). 42 Vgl. S. Nordgaard Svendsen, Allegory Transformed. The Appropriation of Philonic Hermeneutics in the Letter to the Hebrews, WUNT II 269, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 232f; ähnlich neuerdings auch Church, Temple, 347: „The old covenant is characterised by darkness and gloom that is so thick that it can be felt“. Die Anlehnung an ExLXX 10,21 sehen auch andere, jedoch ohne inhaltliche Schlüsse zu ziehen (vgl. z. B. auch Attridge, Hebrews, 372 und Lane, Hebrews II, 460). 43 Vgl. Thompson, „Metaphysical“, 583 (vgl. Thompson, Beginnings, 106f).
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Kontrast auch zwischen einem „mit menschlichen Händen gemachten“ und einem von Gott gemachten Zelt sehen44 – Hebr 8,2, wonach Gott das himmlische Zelt „errichtet hat“ (e;phxen), deutet in diese Richtung. Dass der Verfasser sich den Himmel kaum im platonischen Sinn immateriell vorgestellt hat, zeigt Hebr 11,10 deutlich auf, wonach Gott der tecni,thj („Baumeister“) und dhmiourgo,j („Bildner“) der himmlischen Stadt ist (vgl. 11,16: h`toi,masen po,lin). Cockerill betont mit Recht, dass die zwei Begriffe kaum passend gewesen wären, „if the pastor had wished to describe God as the source of some ‚heavenly‘ noumenal world of ideas“.45 Diese Begriffe werden nämlich von Platon und auch von Philo als termini technici für den Schöpfer der materiellen Welt gebraucht.46 Man kann in Bezug auf die Wortwahl in Hebr 11,10 theoretisch von „anthropomorphen Begriffen“ ausgehen, die die „mittelplatonisch beeinflusste Sichtweise“ des Hebr nicht wirklich tangiert 47, aber diese Deutung bleibt spekulativ.48 Selbst wenn Hebr 12,22–24 einen Ort im Himmel beschreiben sollte49, stünde auf jeden Fall fest, dass er äusserst plastisch und darum durchaus betastbar geschildert wird, so dass Thompson selbst feststellen muss: „[T]he author uses no terms suggesting intangibility for the Christian experience at Zion“.50 Die Betastbarkeit ist beim Begriff ai-ma r`antismou/ (12,24) sogar explizit vorausgesetzt, insofern es kaum etwas anderes als das physische Blut Jesu meinen kann (vgl. Hebr 9,12: dia. de. tou/ ivdi,ou ai[matoj eivsh/lqen evfa,pax eivj ta. a[gia aivwni,an51). Indirekt gilt die Eigenschaft „betastbar“ auch für Jesus selbst, wenn man von einer leiblichen Auferstehung bzw. Erhöhung Jesu ausgeht, wie es z. B. Hebr 10,10 (prosfora, tou/ sw,matoj VIhsou/, vgl. 9,14: dia.
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So z. B. Grässer, Hebräer II, 146, der ja eigentlich selbst den dualistischen Ansatz vertritt. 45 Vgl. Cockerill, Hebrews, 541. 46 Vgl. z. B. Plat., Tim. 29a (o` ko,smoj o` te dhmiourgo,j, vgl. 41a; 42e); Philo, Opif. 135 (der göttliche tecni,thj als Schöpfer des Menschen; vgl. Her. 133.225); Mut. 18 (ko,smou […] ou- dhmiourgo,j, vgl. 29); Deus 30 (Gott als dhmiourgo,j und tecni,thj „von allen [geschaffenen] Dingen“); vgl. auch Weish 13,1 (tecni,thj als Schöpfer der Welt) und Joseph., Ant. 1,155 (dhmiourgo.n tw/n o[lwn, vgl. 1,272). 47 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 390. 48 Genauso spekulativ ist eine Verbindung der Begrifflichkeiten mit der philonischen Annahme der Erschaffung einer körperlosen Ideenwelt (ko,smoj nohto,j) in Gottes Geist, durch die er dann die wirkliche Welt erschaffen hat (vgl. Philo, Opif. 15ff; vgl. die gute Erwiderung von C. Rose, Die Wolke der Zeugen. Eine exegetisch-traditionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 10,32−12,3, WUNT II 60, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 220ff). 49 Meine Analyse zu Hebr 12,22–24 führt mich zu einem anderen Schluss (↑ B.V.2). 50 Thompson, Beginnings, 45; so auch Braun, Hebräer, 430: „Die Unbetastbarkeit der Himmelswelt hier widerspricht bei Hb freilich der lokalen Himmelsschilderung 1,3“. 51 Zur ganzen Diskussion über die Bedeutung der Wendung und die Frage nach dem Verhältnis zwischen irdischem und himmlischem Heilsgeschehen vgl. B.IV.2.3.2.c.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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pneu,matoj aivwni,ou e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| qew/|) in Verbindung zu 13,20 nahelegt.52 Gewiss wäre es aber verfehlt, wenn man aus den oben genannten Argumenten auf eine irdische Materialität der himmlischen Welt schliessen würde. Eine körperlose, unbetastbare Immaterialität im philosophischen Sinn ist aber dem Verfasser des Hebräerbriefs genauso fremd.53 Was ist von den alternativen Deutungen von yhlafwme,nw| zu halten? Gegen die von Svendsen vorgeschlagene Reminiszenz an yhlafhto.n sko,toj von ExLXX 10,21 spricht, dass in Hebr 12,18 nicht das Adjektiv yhlafhto,n, sondern das Partizip yhlafwme,non steht, und es nicht erklärbar ist, warum der Autor die formale Änderung hätte vornehmen sollen.54 Cockerills Interpretation von yhlafwme,nw| im Sinn eines betastbaren Gerichtsgeschehens ist nicht überzeugender, weil es naheliegender wäre, yhlafwme,nw| in der Bedeutung von „betastbar“ auf die physischen Phänomene (wie z. B. das Feuer) selbst zu beziehen als auf deren (postulierte) übertragene Gerichtsbedeutung. Auch die eschatologische (Lane) und die transzendente Auslegung (Son), wonach der himmlische Gottesberg in der Zukunft verborgen ist und noch nicht betastet werden kann oder schlicht ausser Reichweite in der Transzendenz liegt, ist problematisch. Denn beide sind nur sehr schwierig mit dem Perfekt proselhlu,qate in Verbindung zu bringen, das – ob nur rhetorisch oder unter dem Aspekt realisierter Eschatologie, ist nicht entscheidend55 – die Hörer als beim Berg Zion stehend beschreibt. Der Gottesberg ist – zumindest grammatikalisch – für sie nicht mehr zukünftig oder transzendent, sondern in Reichweite. Weil alle bisherigen Deutungen von yhlafwme,nw| m. E. nicht befriedigen, möchte ich aufgrund einer ausführlichen Untersuchung des Wortfeldes rund um yhlafa,ein und dessen Vorkommen in der LXX und der antiken Literatur eine alternative Deutungsmöglichkeit aufzeigen.
52 Vgl. dazu z. B. Moffitt, Atonement, 229–285. Wie diese himmlische Selbstdarbringung zum irdischen Heilshandeln steht, bleibt zu klären (↑ B.IV.2.3.2.c). 53 So z. B. auch E. Adams, „The Cosmology of Hebrews“, in: R. Bauckham; D. R. Driver (Hg.), The Epistle to the Hebrews and Christian Theology, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009, 134. Auch der Verweis auf einen Gebrauch von yhlafa,ein bzw. yhlafhto,j bei Platon (vgl. Thompson, Beginnings, 45) hält bei einer genaueren Überprüfung nicht stand. In Phaed. 99e kommt das Verb zwar vor, jedoch nicht im metaphysischen, sondern im metaphorischen Sinn (yhlafw/ntej oi`` polloi. w[sper evn sko,tei). In Tim. 28b und 31c braucht Platon ein anderes Wort: a``pto,j (so auch bemerkt von Nordgaard Svendsen, Allegory, 232). Thompsons Hinweis, dass in einem jüdischen bzw. christlichen Gebet Gott als avyhla,fhtoj verstanden wurde (vgl. Thompson, „Metaphysical“, 582f, Anm. 14), tut ebenso wenig etwas zur Sache, weil dies ja nicht zwingend auch für die himmlische Welt gegolten haben muss. 54 Die Partizipialform lässt den Leser mindestens genauso schnell an andere LXX-Stellen mit dem Verb yhlafa,ein denken (↑ B.III.2.1.1.b). 55 Zu den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten vgl. B.V.3.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
b. Die alternative Deutung: „zu einem (Berg), der (weil im Dunkel verborgen) ertastet werden muss“ Das Verb yhlafa,ein beschreibt in der LXX einerseits das „Tasten“ mit den Händen (vgl. PsLXX 113,15 und 134,17: cei/raj e;cousin kai. ouv yhlafh,sousin)56 – in NahLXX 3,1 ist es die Jagdbeute (qh,ra), die nicht angetastet werden soll (ouv yhlafhqh,setai) –, andererseits das „Handhaben“ von etwas (vgl. SachLXX 3,9: yhlafh,sw pa/san th.n avdiki,an, 9,13: yhlafh,sw se w`j r`omfai,an). Am häufigsten wird das Verb jedoch in einer ganz konkreten Bedeutung verwendet, nämlich für das „Betasten“ von etwas, das man nicht sieht, weil es dunkel oder man selbst blind ist. Gemäss GenLXX 27,22 betastet der blinde Isaak seinen Sohn Jakob (vgl. 27,12.21!). In DtnLXX 28,29 ist die Rede von dem Fluch, am Mittag umherzutappen, w`sei. yhlafh,sai o` tuflo.j evn tw/| sko,tei. Nach RiLXX 16,26 will der blinde Simson die Säulen im Philistertempel betasten. In HiobLXX 5,14 werden die Weisen geschildert, wie sie am Mittag tasten wie in der Nacht (yhlafh,saisan i;sa nukti,). In HiobLXX 12,25 ist die Rede von den Häuptern des Volkes, die in der Finsternis tappen (yhlafh,saisan sko,toj). Schliesslich beschreibt JesLXX 59,10 Menschen, die sich an der Wand entlang tasten wie Blinde (yhlafh,sousin w`j tufloi. toi/con). Dieser Sprachgebrauch von yhlafa,ein im Sinn eines Tastens oder Tappens in der Dunkelheit ist in der gesamten antiken Literatur ebenso gut bezeugt57, besonders auch bei Philo – in zwei von vier Stellen verwendet er das Wortfeld um yhlafa,ein in diesem Zusammenhang.58 Dafür, dass yhlafwme,nw| in Hebr 12,18 auch im Sinn des Be- oder Ertastens in der Dunkelheit gedeutet werden sollte, sprechen gewichtige Gründe, die im Folgenden ausgeführt werden. 1) Der Sinai wird vom Verfasser des Hebräerbriefs als verhüllter, ganz und gar verdunkelter Berg geschildert. Das hendiadyoin gno,foj („Dunkel“; vgl. Dtn 4,11) und zo,foj („Finsternis“) betont die fast undurchdringbare Finsternis.59 Auch qu,ella („Sturm“) lässt sich in diese Beschreibung eines verdunkel-
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Vgl. Weish 15,15, wo das Nomen yhla,fhsij in diesem Zusammenhang vorkommt. Vgl. z. B. Hom., Od. 9,416 (geblendete Zyklopen tasten umher); Aristoph., Eccl. 314f (tastendes Suchen im Dunkeln); Aristoph., Pax 691 (evyhlafw/men evn sko,tw| ta. pra,gmata); Plat., Phaed. 99b (yhlafw/ntej oi`` polloi. w[sper evn sko,tei); Plut., Non Posse 12 (ta.j tufla.j […] yhlafh,seij). Offenbar ist auch Apg 17,27 in diesem Zusammenhang zu deuten, nämlich dass die Menschen den unsichtbaren, verborgenen Gott suchend ertasten (vgl. das nachgesetzte kai. eu[roien); die anderen Stellen im Neuen Testament, wo das Verb vorkommt, sind Lk 24,39 und 1.Joh 1,1 (jeweils in Bezug auf das Betasten Jesu). 58 Vgl. Leg. All. 3,231 (Camw.j ga.r e``rmhneu,etai w``j yhla,fhma i;dion de. tou/ mh. o``rw/ntoj to. e;rgon tou/to); Her. 250 (w``j mhde.n dioi,sein tuflw/n evn meshmbri,a| kaqa,per evn baqei/ sko,tw| yhlafw,ntwn [= Anlehnung an DtnLXX 28, 29]); die anderen Stellen sind Mut. 126 und Somn. 1,114 (= Anlehnung an ExLXX 10,21). 59 ↑ B.III.2.1.3. 57
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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ten Berges einreihen, weil der Gewittersturm mit einer Dunkelheit bewirkenden Wolkenmassierung einhergeht. DtnLXX 4,11 als alttestamentliche Vorlage von Hebr 12,18 bestätigt dies: Qu,ella ist dort die Übersetzung von lpr[ („Wolkendunkel“).60 Das diesen drei Ausdrücken vorangestellte pu/r ist dabei kein Widerspruch zu diesem absoluten Dunkel des Berges. Es ist nämlich mit Blick auf den alttestamentlichen Hintergrund kein den Berg erhellendes Feuer.61 Im Gegenteil: Das Feuer erzeugt einen gewaltigen Rauch, der den Sinai noch mehr verbirgt (vgl. Ex 19,18). Zu diesem allgemeinen Bild der Verborgenheit passt auch der Ausdruck fwnh/| r`hma,twn in Hebr 12,19, insofern es eine Anlehnung an DtnLXX 4,12 ist, wo es heisst, dass man zwar eine Stimme von Worten hörte, aber keine Gestalt sehen konnte (o`moi,wma ouvk ei;dete).62 2) Die Übersetzung von yhlafwme,nw| als „zu einem (Berg), der (weil im Dunkel verborgen) ertastet werden muss“ entspräche sehr genau dem breit anerkannten Hauptkontrast der beiden Gottesberge in Hebr 12,18–24, nämlich dem unterschiedlichen Zugang zu Gott: Am Sinai ist Gott (zusammen mit dem Berg) verborgen63 und unnahbar, am Zion ist Gott unverhüllt und frei zugänglich (vgl. Hebr 12,23: qew/|!).64 3) Mit dieser Deutung des Partizips würde die Absenz von o;roj, die in der Vergangenheit bereits kontrovers diskutiert wurde65, eine einleuchtende Erklärung finden: Sie wäre eine rhetorische Finesse des Verfassers, insofern die
60 Vgl. L. Koehler; W. Baumgartner, Hebräisches und aramäisches Lexikon zum Alten Testament. Band 1, Leiden: Brill, 3. Aufl., 2004 [=1995], 840f; lpr[w !n[ $Xx entspricht sko,toj gno,foj qu,ella in der LXX. 61 In Dtn 4,11 wir das Brennen des Berges im gleichen Atemzug mit der grossen Finsternis genannt (vgl. Hebr 12,18!). 62 Die dunkelhafte Verborgenheit als Hauptcharakterisierung der Sinai-„Theophanie“ (neben der Furchtbarkeit, ↑ B.III.3) verträgt sich gut mit der Beschreibung des Alten Bundes bzw. dessen Heilsmittel als Schatten (vgl. Hebr 8,5; 10,1) und der Betonung der (von einem irdischen Standpunkt aus geltenden) Unsichtbarkeit Gottes (vgl. Hebr 11,1.27). 63 Vanhoye lehnt es wegen der Auslassung des Gottesnamens in Hebr 12,18–21 sogar ab, von einer „théophanie au plein sens du terme“ zu sprechen; Gott sei „complètement absent“ (vgl. A. Vanhoye, „Le Dieu de la Nouvelle Alliance dans l’épître aux Hébreux“, in: J. Coppens (Hg.), La notion biblique de Dieu. Le Dieu de la Bible et le Dieu des philosophes, BEThL 41, Gembloux: Duculot, 1976, 321); zur Diskussion dazu vgl. B.III.3. 64 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 461; Koester, Hebrews, 549 und Martin; Whitlark, „Syncrisis“, 437. Selbst Grässer und Backhaus, die – wie gesehen – von einer dualistischen Interpretation von yhlafwme,nw| ausgehen, betonen diesen Hauptkontrast (vgl. Grässer, Hebräer III, 310 und Backhaus, Hebräerbrief, 435–437). 65 Vgl. z. B. Spicq, Hébreux II, 403: „Son omission est le symbole de l’abolition de l’économie et du culte anciens“; Casey, Eschatology, 318: die Auslassung habe das Ziel, die Beschreibung zu generalisieren (so auch Lane, Hebr, 460), „[it] is the whole old covenant which our author describes under the guise of the Sinai theophany […] which is a less than perfect [sc. tangible] encounter“; Attridge, Hebrews, 372: die Auslassung richte die Auf-
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Verborgenheit von o;roj im Text dem effektiven Verborgen-, weil VerdunkeltSein entspräche.66 4) Die Tatsache, dass das Be- oder Ertasten in der Dunkelheit der Normalgebrauch von yhlafa,ein in der LXX ist und der Verfasser des Hebräerbriefs als ein in der griechischen Bibel tief verwurzelter Mensch erscheint67, legt es nahe, auch in Hebr 12,18 von diesem Sprachgebrauch auszugehen.68 Das Verbot in Hebr 12,20, den Berg zu berühren (qigga,nein), das von einigen Exegeten parallel zu yhlafwme,nw| (im Sinn von „betastbar“) gelesen wird69, spricht nicht gegen die oben ausgeführte alternative Deutung. Denn es kommt nach dem Partizip und macht auch unabhängig von diesem Sinn, erwähnt zu werden.70 Fazit: Es spricht vieles dafür (und nichts dagegen), dass yhlafwme,nw| die Bedeutung von „zu einem, der ertastet werden muss“ bzw. „zu einem zu Ertastenden“ hat und sich auf den von Rauch, Dunkel, Finsternis und Wolken ganz und gar verhüllten Berg71, ja – wie noch ausführlicher gezeigt wird – auf die „Theophanie“ selbst bezieht (Gott ist verborgen). Damit kann man das Partizip durchaus als eine Art Überschrift für Hebr 12,18–21 sehen, insofern auch das Hören einer unbestimmten fwnh/| r`hma,twn in 12,19 und das offen formulierte diastello,menon in 12,20 (vgl. Ex 19,13, wonach explizit Jahwe spricht) Bilder für die eigentliche Verborgenheit Gottes in der „Theophanie“ am Sinai sind. Allerdings ist die Sinai-Erscheinung, wie sie der Verfasser des Hebräerbriefs merksamkeit „on the positive pole of the antithesis“; Karrer, Hebräer II, 332: die Nichterwähnung des Sinai könnte auf ein Offenlassen für den samaritanischen Bezug zum Berg Garizim hindeuten. 66 Ähnlich Backhaus, Hebräerbrief, 439, der von einer „inszenatorische[n] Pointe“ redet; wahrnehmbar sei „der Berg nicht als solcher, sondern nur das finstere Gewölk, das ihn verbirgt“. 67 Gheorgitha spricht von einem „vast knowledge of Jewish Scriptures“ des Verfassers (vgl. R. Gheorghita, The Role of the Septuagint in Hebrews. An Investigation of its Influence with Special Consideration to the Use of Hab 2:3-4 in Heb 10:37-38, WUNT II 160, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 99). 68 Vielleicht ist es darum auch kein Zufall, dass in Hebr 12,17 von der vergeblichen tränenreichen Reue Esaus über den „Verkauf“ seines Erstgeburtsrechts die Rede ist (vgl. GenLXX 27,34!) und in 12,18 das Verb yhlafa,ein verwendet wird, das in GenLXX 27 dreimal (!) in Bezug auf den blinden Isaak vorkommt. 69 Ellingworth spricht z. B. von einer stilistischen Variante (vgl. Ellingworth, Hebrews, 671). 70 Nämlich als ein klimaktisches Beispiel der „unerträglichen“ Anordnungen Gottes (vgl. 12,20a): Wie furchtbar ist der Berg und die darauf präsente (freilich verborgene) Gegenwart Gottes, wenn nicht einmal ein (unschuldiges) Tier den Berg berühren darf! 71 Ich deute das substantivierte Partizip also maskulin in Bezug auf den im Hintergrund stehenden o;rei Sinai (vgl. z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 671f und Schunack, Hebräerbrief, 204); dafür sprechen die parallele Position yhlafwme,nw| in V.18 und o;rei in V.22 (beides sind die ersten Glieder) sowie die hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich das folgende kekaume,nw| ebenfalls auf ein im Hintergrund stehendes o;rei bezieht.
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darstellt, nicht nur von Verborgenheit, sondern in grossem Mass auch von Unnahbarkeit und Furchtbarkeit gekennzeichnet, wie es auch der nächste Ausdruck kekaume,nw| puri, aufzeigt. 2.1.2 kekaume,nw| puri, – „zu einem mit Feuer Angezündeten und Lodernden (Berg)“ Die ersten beiden (zusammenhängenden) Fragen, die sich bei der Interpretation der zweiten Zielangabe kekaume,nw| puri. stellen, sind die nach deren äusseren Verhältnis zu yhlafwme,nw| und jene nach den inneren Bezüglichkeiten (wie verhält sich das Partizip zum Nomen und umgekehrt). Es werden folgende Übersetzungsvarianten vertreten: a) „zu einem betastbaren und brennenden Feuer“72; b) „zu etwas Betastbarem und etwas Brennendem, zu einem Feuer“73; c) „zu einem brennenden Feuer“74 bzw. „zu […] brennendem Feuer“75; d) „zu einem betastbaren [Berg] und einem mit Feuer brennenden [Berg]“76. Die Probleme von Variante a) wurden bereits verdeutlicht (↑ B.III.2.1.1). Gegen b) spricht die Tatsache, dass in DtnLXX 4,11 als dem Text, an den sich der Autor anlehnt, das Verb kai,ein direkt auf pu/r bezogen wird (evkai,eto puri,). Klar für d) und damit gegen c) spricht, dass in DtnLXX 4,11 puri, eine Näherbeschreibung des Brennens des Berges ist (to. o;roj evkai,eto puri,), und zwar als dativus instrumenti oder causae.77 Zudem ist es naheliegender, dass, wenn der Autor das erste Partizip substantiviert verstanden haben will – wie es alle Vertreter von c) anerkennen –, er das zweite Partizip jenem gleich deuten lässt.78 72
Vgl. Schierse, Verheissung, 175f und Grässer, Hebräer III, 304. Vgl. DeSilva, Hebrews, 464 („to something palpable and burning, to fire“), ähnlich Cockerill, Hebrews, 642. 74 Vgl. z. B. Michel, Hebräer, 459; ähnlich z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 434 („zu einem lodernden Feuer“) sowie Johnson, Hebrews, 328 und Mitchell, Hebrews, 281; beide übersetzen mit „to […] a blazing fire“. 75 Vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 668; Schunack, Hebräerbrief, 204 und Karrer, Hebräer II, 309; ähnlich z. B. auch Hegermann, Hebräer, 256 („zu aufgeflammtem Feuer“) und Witherington, Hebrews, 338 („to […] burning fire“). 76 Vgl. O’Brien, Hebrews, 477: „to a mountain that can be touched and that is burning with fire“; ähnlich z. B. auch Bruce, Hebrews, 352; Allen, Deuteronomy, 90; Allen, Hebrews, 588; Vanhoye, Hebrews, 391. 77 Das Argument von Allen, dass der Dativ puri, in der Verbindung mit kai,ein in der LXX und auch im NT nie Subjekt sei, ist allerdings nichtig (vgl. Allen, Deuteronomy, 90), weil der Dativ von proselhlu,qate her sowieso gegeben ist und z. B. in JesLXX 4,5 pu/r das Subjekt zu kai,ein in Partizipform ist (puro.j kaiome,nou, vgl. auch Herod., Hist. 1,86 [kaio,menon pu/r]). Ein auf den ersten Blick mögliches Argument für c), nämlich die Parallele zu pu/r katanali,skon in Hebr 12,29, fällt weg, wenn man bedenkt, dass es dort um eine zitierte feste Wendung geht. 78 Ähnlich Ellingworth, Hebrews, 672. 73
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Weil der Berg Sinai in Hebr 12,18 zwar im Hintergrund steht, aber seine Nennung sowohl bei yhlafwme,nw| als auch bei kekaume,nw| rhetorisch bewusst unterlassen wird79, scheint mir folgende Übersetzung der ersten beiden Dativobjekte angebracht: „zu einem zu Ertastenden (Berg), und zu einem mit Feuer Angezündeten (Berg)“. Kekaume,nw| – ein Partizip Perfekt von kai,ein, d. h. „anzünden“ oder „brennen“ (letzteres bei Passivformen) 80 – mit „einem Angezündeten“ wiederzugeben, ist m. E. passender, als nur von „einem Brennenden“ zu sprechen. Der Verfasser des Hebräerbriefs bringt nämlich offenbar bewusst nicht das von der Imperfektform evkai,eto in DtnLXX 4,11 erwartete kaiome,nw|, sondern die Perfektform, um damit auch die Brandstiftung zu betonen.81 Da dem Perfekt aber immer ein resultativer Charakter zu eigen ist, ist das Bild eines vom Feuer lodernden Berges mit eingeschlossen. Daraus ein rein irdisches Feuer im Gegensatz zu einer ewigen „immateriellen Glut“ (vgl. pu/r katanali,skon in Hebr 12,29) abzuleiten82, geht jedoch zu weit. Denn das Feuer, das den Berg anzündet (und nicht selbst angezündet wird), kann durchaus ein göttliches Feuer sein, wie es auch die alttestamentlichen Sinai-TheophanieTexte und Philo verstehen.83 Zur Bedeutung des Feuers in den Sinai-Theophanie-Texten ist des Weiteren zu sagen, dass nach Ex 24,17 das Feuer (tlka Xa; pu/r fle,gon) am Gottesberg 79 Das Nicht-Genannt-Sein des Berges entspricht seinem Verborgen-Sein durch Wolkendunkel und Rauch. 80 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 803f. 81 Vgl. Michel, Hebräer, 461 („angezündetes Feuer“); Braun, Hebräer, 429 („in Brand gesetztes Feuer“); Vanhoye, Hebrews, 391 („the mountain was burnt with fire“). 82 So z. B. Riggenbach, Hebräer, 411; Braun, Hebräer, 430 und Grässer, Hebräer III, 305. 83 Vgl. z. B. ExLXX 19,18a (katabebhke,nai evpV auvto. to.n qeo.n evn puri,, MT: dry Xab hwhy wyl[); DtnLXX 4,12 (evla,lhsen ku,rioj pro.j u`ma/j evk me,sou tou/ puro,j); Philo, Decal. 44 (pu/r ouvrani,on); Decal. 46 (evk me,sou tou/ rue,ntoj avp’ ouvranou/ puro.j); vgl. auch Gen 15,17 mit der ersten von Feuer begleiteten alttestamentlichen Erscheinung Gottes. In der alttestamentlichen Forschung wird Ex 19,18a(-c) mit dem Hinabsteigen Jahwes im Feuer als sich literarisch und inhaltlich vom Kontext, der den Sinai als immerwährenden Wohnort Gottes verstehe (vgl. z. B. Ex 19,3!), abhebend gesehen. Als Quellen gelten u. a. eine priesterliche Redaktion (vgl. z. B. T. B. Dozeman, God on the Mountain. A Study of Redaction Theology and Canon in Exodus 19-24, SBL.MS 37, Atlanta, GA: Scholars, 1989, 101f), eine deuteronomistische (vgl. z. B. B. Renaud, La théophanie du Sinaï. Ex 19-24. Exégèse et théologie, CRB 30, Paris: Gabalda, 1991, 55ff) oder eine noch spätere „Pentateuch-Redaktion“ (vgl. W. Oswald, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literargeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19−24 und deren historischem Hintergrund, OBO 159, Freiburg: Universitätsverlag, 1998, 210ff). Umstritten ist auch, ob das Feuer in Ex 19,18 in der Verbindung mit dem Rauch und der Erschütterung ursprünglich an einen Vulkan denken lässt (dafür ist z. B. T. B. Dozeman, Commentary on Exodus, ECC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009, 455; dagegen ist z. B. C. Dohmen, Exodus 19−40, HThK.AT, Freiburg i. Br.: Herder, 2004, 70). Tatsache bleibt, dass das Feuer nach Ex 19,18a als ein himmlisches, göttliches Feuer verstanden wurde.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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ein sichtbarer Ausdruck (harm; ei=doj) „der Herrlichkeit“ Jahwes (dwbk; do,xa)84 und damit auch ein Bild seiner Grösse ist.85 Vor allem ist das Feuer aber auch ein Zeichen der furchtbaren und unnahbaren Heiligkeit Gottes.86 Die Furchtbarkeit des Sinai-Feuers, dem man nicht zu nahe treten kann/will, bringt Dtn 5,4 auf den Punkt: „Ihr fürchtetet [~tary; evfobh,qhte] euch vor dem Feuer und stiegt nicht auf den Berg“ – das verzehrende Feuer (Ex 24,15; Dtn 4,24) wird als lebensbedrohende Gefahr wahrgenommen (vgl. Dtn 5,25). Allerdings ist es deswegen nicht automatisch ein Gerichtsfeuer wie in anderen alttestamentlichen Texten87; es ist dies nur potentiell unter der Bedingung, dass man als sündiger Mensch dem heiligen Gott im Feuer über die Grenzen hinaus naht.88 Ein wichtiger Aspekt des Sinai-Feuers ist auch die häufige Verbindung mit dem Reden Gottes im Deuteronomium: Jahwe spricht „mitten aus dem Feuer“ (Xah $wtm; evk me,sou tou/ puro,j)89 – der Ausdruck setzt sehr wahrscheinlich die reale Präsenz Jahwes im Feuer voraus.90
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Vgl. z. B. auch Dtn 5,24; Jes 10,16 und Hes 1,27f. Vgl. Dtn 5,24, wonach das Feuer ein Zeichen der Herrlichkeit und Grösse (ldg) Jahwes ist. Gewiss ist das Feuer damit zusammenhängend auch ein Ausdruck der „divine power“ (vgl. D. T. Olson, „Literary and Rhetorical Criticism“, in: T. B. Dozeman (Hg.), Methods for Exodus, MBI, New York: Cambridge University Press, 2010, 51). 86 Vgl. z. B. Dohmen, Exodus, 69. Interessant ist diesbezüglich die Analogie von Ex 3 zu Ex 19: gemäss Ex 3,5 steht das „göttliche“ Feuer des Dornbusches in direktem Zusammenhang mit dem „Heiligen Boden“ (Xdq-tmda) und dem Verbot, nicht näher heranzutreten, was Ex 19,12 (Grenze der Heiligkeit!) bzw. Ex 19,18 und dem brennenden Berg entspricht (vgl. F. Polack, „Theophany and Mediator: The Unfolding of a Theme in the Book of Exodus“, in: M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction − Reception − Interpretation, BEThL 126, Leuven: Leuven University Press, 1996, 135). Zur Verbindung von Feuer und der Heiligkeit Jahwes vgl. z. B. auch Jes 6,2f: Die wegen der Nähe zu Gott brennenden Wesen (~yprX) rufen: twabc hwhy Xwdq. 87 Vgl. z. B. Gen 19,24; Dtn 9,3; 33,22; Ps 29,7; Ps 97,6; Jes 30,27; Nah 1,6. Der Sinai ist keine Gerichtstheophanie (so richtig H. Pfeiffer, Jahwes Kommen von Süden. Jdc 5, Hab 3, Dtn 33 und Ps 68 in ihrem literatur- und theologiegeschichtlichen Umfeld, FRLANT 211, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2005, 90). Son (Zion, 34: das Sinai-Feuer „expresses the idea of God’s punishment“) macht den Fehler, das die Feinde vernichtende Xa hlka in Dtn 9,3 mit Dtn 4,24 und Jahwes Selbstoffenbarung an Israel als verzehrendes Feuer einfach gleichzusetzen. 88 Vgl. T. B. Dozeman, „Introduction“, in: T. B. Dozeman (Hg.), Methods for Exodus, MBI, New York: Cambridge University Press, 2010, 6: „Natural forces like thunder, lightning, darkness, and fire signal the nearness of God to Israel and the danger of the divine holiness“. 89 Vgl. Dtn 4,12.15.33; 5,4.22.24.26; 9,10; 10,4. Ähnlich z. B. Ps 18,14; 29,7. 90 So überzeugend dargelegt durch I. Wilson, Out of the Midst of the Fire. Divine Presence in Deuteronomy, SBL.DS 151, Atlanta, GA: Scholars, 1995, 53–81. 85
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Die Frage ist jetzt, was der Verfasser des Hebräerbriefs selbst unter dem Sinai-Feuer verstanden hat. Nach einigen Exegeten hat er an ein göttliches Gerichtsfeuer gedacht.91 Diese Sichtweise führt dann z. B. bei Grässer dazu, die ganze Sinai-Offenbarung als „Schattenspiel und Vorspiel des Weltgerichts“ (vgl. Hebr 12,25–28) zu lesen.92 Gemäss Hebr 10,27 erwartet der Verfasser tatsächlich ein eschatologisches Gericht (evkdoch. kri,sewj) mit einem Feuer des göttlichen Zorneseifers (puro.j zh/loj).93 Aber dieses Feuer wird „die Widersacher verschlingen“ (evsqi,ein me,llontoj tou.j u`penanti,ouj), was der auctor ad Hebraeos vom Sinai-Feuer nirgends andeutet. Weil er auch mit seiner sonstigen Schilderung des Sinai-Ereignisses zwar durchaus eine bedrohliche Kulisse, aber in keiner Weise die Szenerie eines Gerichts im Sinn eines Strafgeschehens vor Augen malt94, sollte man das Feuer nicht als Metapher für das göttliche Richten, sondern – entsprechend dem Zeugnis der Tora – vielmehr als Ausdruck der unnahbaren und furchtbaren Heiligkeit Gottes sehen (vgl. z. B. auch äthHen 14,22): Das Feuer des heiligen Gottes tötet (nur), wenn man ihm (als sündiger Mensch) zu nahe kommt! Der Sinai (und mit ihm Gott) ist also nicht nur verborgen (yhlafwme,nw|), sondern wegen seines Zustandes des durch das Feuer der göttlichen Heiligkeit Angezündet-Seins (kekaume,nw|) auch unnahbar und sehr zu fürchten!95 Zum Schluss sei hier noch kurz auf die Frage eingegangen, ob der Verfasser des Hebräerbriefs bei dem Sinai-Feuer (sowie den anderen Naturphänomenen) an vermittelnde Engelsmächte gedacht hat.96 Son führt als Argument dafür Hebr 1,7 an, wo in Anlehnung an PsLXX 103,4 von den Engeln als puro.j flo,ga die Rede ist.97 Diese Stelle – ja gar der gesamte Abschnitt über die Engel (1,4– 14) – sei auf dem Hintergrund der Sinai-Offenbarung und der Mittlerschaft der Engel zu lesen, wie es Hebr 2,2 nahelegen würde.98 Selbst wenn in Hebr 2,2 tatsächlich an eine sinaitische Tora-Mittlerschaft der Engel gedacht sein 91
So z. B. Michel, Hebräer, 461; Son, Zion, 89 und Cockerill, Hebrews, 646ff. Vgl. Grässer, Hebräer III, 305 (unter Bezugnahme auf Schierse, Verheissung, 179); ähnlich z. B. auch Cockerill, Hebrews, 646: „the place of terrifying judgment described in V. 18–21“. 93 Das Gericht steht im Zusammenhang mit dem endzeitlichen „(Gerichts-)Tag (des Herrn)“ in 10,25 (vgl. dazu z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 535.539). An ein eschatologisches Gerichtsfeuer ist wohl auch in Hebr 6,8 gedacht ([kata,ra] h-j to. te,loj eivj kau/sin); vgl. z. B. Lane, Hebrews I, 143. 94 Vgl. z. B. auch Wider, Theozentrik, 102–105; die Schilderung des Verfassers des Hebräerbriefs zielt auf andere Dinge (↑ B.III.3). 95 So auch Philo, QE 2,47, wonach Gott den Berg mit Feuer umgeben hat, damit niemand ohne seine Sicherheit zu riskieren sich ihm nähern konnte; so habe Gott den Berg als „unzugänglich und unnahbar“ gezeigt. 96 So z. B. schon Schierse, Verheissung, 176; neuerdings (andeutend) auch Cockerill, Hebrews, 119. 97 Vgl. Son, Zion, 122f. 98 Vgl. ebd., 108. 92
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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sollte99, wäre ein Bezug des Sinai-Geschehens zum vorhergehenden Abschnitt nicht zwingend.100 Bezüglich Hebr 1,7 ist zu sagen, dass der Ausdruck puro.j flo,ga parallel zu pneu,mata („Winde“) steht und mehr die Veränderlichkeit der Engel im Gegensatz zur Ewigkeit des Sohnes (vgl. Hebr 1,8) verdeutlicht101, als einen Bezug zum Sinai-Geschehen herstellen zu wollen. Weil auch im Frühjudentum Belege für eine explizite Identifikation der sinaitischen Naturphänomene mit Engelsmächten fehlen102, besteht daher kein Grund zu Annahme, dass der Verfasser des Hebräerbriefs an eine das Feuer (und die anderen Phänomene) vermittelnde Engelsmacht gedacht hat. 103 2.1.3 gno,fw| kai. zo,fw| kai. que,llh| – „zu einem Dunkel und einer Finsternis und einem Sturmwind“ Die nächsten drei Begriffe bilden eine Reihe (drei Nomina!), die sich an jene in DtnLXX 4,11 anlehnt (sko,toj gno,foj qu,ella, vgl. auch ExLXX 10,22 und DtnLXX 5,22). Der Verfasser des Hebräerbriefs ersetzt dabei wohl bewusst sko,toj durch zo,foj, insofern der Dativ zo,fw| euphonisch besser zu gno,fw| passt als sko,tei.104 99
↑ B.III.2.2.2. Es besteht auch die Möglichkeit einer Apologie gegen eine Engelchristologie (vgl. z. B. G. J. Steyn, „Addressing an Angelomorphic Christological Myth in Hebrews?“, in: HTS 59.4/2003, 1107–1128) oder eine Engelsoteriologie (vgl. z. B. T. Haraguchi, „Hebrews 1-2 in the Light of Songs of the Sabbath Sacrifice [4QShirShabb; 11QShirShabb; MasShirShabb]“, in: TFo 46/2006, 81–96). Am wahrscheinlichsten ist aber wohl die rein rhetorische Funktion der synkrisis (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 93f), nämlich auf dem Hintergrund der jüdischen Wertschätzung der Engel die Erhabenheit des Sohnes noch stärker werden zu lassen. Erst in Hebr 2,2 würde dann ein Bezug zum Sinai hergestellt, und zwar nur, weil die dortige Wort-Mittlerschaft der Engel – die Voraussetzung für den Schluss a minore ad maius bildend – der paränetischen Spitze dient, das Heilswort Christi nicht abzulehnen. 101 So z. B. Grässer, Hebräer I, 82. Der Begriff leitourgo,i lässt noch auf eine weitere Antithese schliessen: Die Engel sind Diener, der Sohn ist Herrscher (vgl. G. J. Steyn, A Quest for the Assumed LXX Vorlage of the Explicit Quotations in Hebrews, FRLANT 235, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2011, 81; Steyn bietet auch eine Erklärung für die Abweichung von der LXX-Lesart pu/r fle,gon; vgl. ebd., 79). 102 Philo deutet in seinen Beschreibungen der Begleiterscheinungen der Sinai-Theophanie nirgends die vermittelnde Präsenz von Engeln an (vgl. Decal. 44ff; QE 2,45–47). In äthHen 60,11–22 ist zwar die Rede von den Naturkräften als Geistern/Engel, allerdings nicht in Bezug auf das Sinai-Geschehen; das gleiche gilt für Jub 2,2f, wonach Gott am ersten Schöpfungstag Engel des Feuers, des Windes, der Wolken und der Dunkelheit usw. schafft – in Jub 1,3f wird gesagt, dass Gottes Herrlichkeit wie ein Feuer auf der Spitze des Sinai war. 103 So auch Grässer, Hebräer III, 306. 104 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 461. Umgekehrt wird das eher ungewohnte zo,foj in gewissen Handschriften ersetzt durch das gewohntere (und in DtnLXX 4,11 vorkommende) sko,toj bzw. sko,tei/ (P46, Y) oder sko,tw| (a2, D1, 1739); vgl. dazu Attridge, Hebrews, 371, Anm 2. Der Dativ sko,tw| (maskulin!) entspricht dem attischen Griechisch (vgl. Grässer, Hebräer III, 305, Anm. 44). 100
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Das neutestamentliche hapax legomenon gno,foj bedeutet „Dunkel von finsterem Gewölk“105 (vgl. Dtn 4,11, wo es die Wiedergabe von !n[ – „Gewölk“106 – ist). Nach ExLXX 20,21 ist es der „Ort“, wo Gott verborgen präsent war (eivj to.n gno,fon ou- h=n o` qeo,j). Philo deutet gno,foj, aufbauend auf diese Stelle (im Sinn des Wohnortes Gottes), in Mos. 1,158 spiritualisierend als „gestaltlose, unsichtbare, körperlose urbildliche Wesenheit der Dinge“107 (vgl. auch Post. 14; Gig. 54; Mut. 7). Für den Hebr ist eine spiritualistische Deutung jedoch nicht erhärtbar.108 Gno,foj scheint in Hebr 12,18 vielmehr ein Ausdruck für die undurchdringliche Verborgenheit Gottes am Sinai zu sein (vgl. die Funktion der Wolkensäule als gno,foj in ExLXX 14,19f). Das zweite Nomen zo,foj bedeutet „Finsternis“109 und wird sowohl in der Umwelt als auch im Neuen Testament vornehmlich für das Dunkel der Unterwelt gebraucht.110 Dass der Verfasser des Hebräerbriefs mit der Wortwahl bewusst an diese Tradition anknüpft und auf einen Gerichtscharakter der SinaiErscheinung anspielen möchte111, scheint mir kaum wahrscheinlich. Naheliegender ist, dass der Verfasser zo,foj synonym zu sko,toj in DtnLXX 4,11 versteht und das LXX-Wort nur darum ersetzt, weil sich der Dativ zo,fw| rhetorisch besser zu gno,fw| fügt als sko,tei.112 Die Parachese113 gno,fw| kai. zo,fw| steigert auf jeden Fall den finsteren Eindruck der Szenerie114 und verdeutlicht die absolute Unsichtbarkeit und klausurhafte Verborgenheit Gottes. Das Schlusswort der trias bildet qu,ella, was „Sturm, Wirbelwind“115 bedeutet (vgl. z. B. Hom., Il. 6,345ff). In der alttestamentlichen Vorlage DtnLXX 4,11 105
Vgl. Bauer, Wörterbuch, 325. Vgl. Koehler; Baumgartner, Lexikon I, 811f. 107 Vgl. L. Cohn (Hg.), Philo von Alexandria. Die Werke in deutscher Übersetzung. Band I, Berlin: de Gruyter, 1962, 2. Aufl., 258 (griechisch: ei;j te to.n gnofo,n […] eivselqei/n le,getai toute,stin eivj th.n aveidh/ kai. avo,raton kai. avsw,maton tw/n o;ntwn paradeigmatikh.n ousi,an). 108 Vgl. R. Williamson, Philo and the Epistle to the Hebrews, ALGHJ 4, Leiden: Brill, 1970, 42. 109 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 687. 110 Vgl. z. B. Hom., Od. 20,356; Il. 21,56; Aischyl., Pers. 839; 2.Petr 2,4.17; Jud 6.13. In der LXX fehlt das Wort. 111 So andeutungsweise Ellingworth, Hebrews, 672 (mit Verweis auf Jud 6 und Hebr 12,26). 112 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 461. 113 Vgl. F. Blass; A. Debrunner; F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 16. Aufl., 1984, § 488,2. 114 So richtig Backhaus, Hebräerbrief, 440. 115 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 742. Nach Ps.-Aristot. (Mund. 395a,5ff) bedeutet qu,ella „ein mit Wucht unversehens anspringender Wind“ (vgl. U. Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band II. Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin, New York: de Gruyter, 1996, 1126f). 106
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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(vgl. 5,22 und ExLXX 10,22) ist es die Wiedergabe von lpr[ – „Wolkendunkel“116 –, was eigentlich nicht zwingend an einen Sturm denken lassen muss und in der LXX sonst auch mit dem entsprechenderen gno,foj („Dunkel“) übersetzt wird (vgl. z. B. ExLXX 20,21; 2.SamLXX 22,10; JesLXX 60,2).117 Der Verfasser des Hebräerbriefs wird mit dem Ausdruck sowohl die Verborgenheit der Gotteserscheinung – ein Sturm geht natürlicherweise mit einer Dunkelheit bewirkenden Wolkenmassierung einher – als auch deren Furchtbarkeit verdeutlicht sehen – in einem Sturm tritt einem eine die menschliche Kontrolle erschütternde und darum beängstigende Macht entgegen (vgl. z. B. Ps 55,9; 107,25ff; Spr 1,27; Jes 17,13). Der letztgenannte Aspekt der Gotteserscheinung wird im folgenden Vers weiter ausgeführt. 2.2 Vers 19 kai. sa,lpiggoj h;cw| kai. fwnh/| r`hma,twn( h-j oi` avkou,santej parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon „[…] und zu einem Schall einer Posaune und einer Stimme von Worten, deren Hörer flehten, dass ihnen kein Wort mehr hinzugefügt werde […]“
Nach den hauptsächlich visuell wahrnehmbaren Phänomenen (Hebr 12,18) werden zwei akustisch wahrnehmbare geschildert118 – die beiden letzten Glieder der Siebnerreihe. 2.2.1 sa,lpiggoj h;cw| – „zu einem Schall einer Posaune“ Mit dem h;coj sa,lpiggoj, dem „Schall“119 einer „Posaune“120, lehnt sich der auctor ad Hebraeos an ExLXX 19,16 (fwnh, th/j sa,lpiggoj h;cei) an121, wo es die Wiedergabe von rpX lq ist (die Stimme bzw. der Schall eines Schopharhorns).122 Es gibt m. E. zwei mögliche Gründe, warum der Autor an dieser
116
Vgl. Köhler/Baumgartner, Lexikon I, 840f. Die Sturm-Interpretation von lpr[ in der LXX ist wohl von anderen TheophanieTexten beeinflusst (vgl. z. B. 2.Kön 2,1.11; Hiob 38,1; 40,6; und insbesondere Ps 18,10–14 und 97,2–4, wo das Wort im Zusammenhang mit Gewitterphänomenen vorkommt). 118 Die Klimax liegt im „göttlichen“ Reden (vgl. Hebr 12,24.25). 119 Die Übersetzung „Schall“ ist auf dem Hintergrund von Ex 19,16 (fwnh. th/j sa,lpiggoj h;cei me,ga) passender als die neutrale Grundbedeutung „Klang“ bzw. „Geräusch“ (vgl. Bauer, Wörterbuch, 708). 120 Vgl. ebd., 1483. 121 Vgl. auch ExLXX 19,19 (evgi,nonto de. ai` fwnai. th/j sa,lpiggoj probai,nousai ivscuro,terai) und 20,18 (pa/j o` lao.j e`w,ra […] th.n fwnh.n th/j sa,lpiggoj). Das Substantiv h;coj in Verbindung mit sa,lpigx kommt in der LXX nur einmal vor, und zwar in Ps 150,3 (aivnei/te auvto.n evn h;cw| sa,lpiggoj); es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Verfasser des Hebräerbriefs – freilich nur sprachlich – auch von dieser Stelle beeinflusst ist. 122 Nicht zu verwechseln mit dem Widderhorn in Ex 19,13 (vgl. Dohmen, Exodus, 70ff). 117
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Stelle von seiner Vorlage DtnLXX 4,11f abweicht: 1) die in 4,11 auf qu,ella folgende fwnh. mega,lh ist dem Verfasser des Hebräerbriefs sprachlich zu nahe an der fwnh/| r`hma,twn (4,12) gewesen123; 2) die Substitution von fwnh. mega,lh durch sa,lpiggoj h;coj soll der distanzierten Darstellung der Gotteserscheinung am Sinai zudienen124. Selbst wenn der Tausch der Begrifflichkeiten nur aus sprachlichen Gründen erfolgte und der Autor auf dem Hintergrund von Ex 19,19 den Posaunenschall als Stimme Gottes verstanden haben sollte (wie z. B. auch Philo125), so steht der Ausdruck h;coj sa,lpiggoj doch in jedem Fall für die Verborgenheit Gottes bzw. seines Redens, weil das Volk die göttlichen Worte nicht verstanden bzw. nur als „Schall von einer Posaune“ wahrgenommen hat. 126 Vom alttestamentlichen Hintergrund her gesehen verdeutlicht der Posaunenschall zudem die Furchtbarkeit der Gotteserscheinung am Sinai. Der Klang der sa,lpiggoj war nach ExLXX 19,16 nämlich so laut (me,ga, vgl. 19,19: fwnai, th/j sa,lpiggoj probai,nousai ivscuro,terai sfo,dra), dass das ganze Volk „erschrak“ (evptoh,qh) und – gemäss 20,18 – „sich fürchtete“ (fobhqe,ntej). Backhaus sagt darum mit Recht, dass die Posaune als „Herrschafts- und Heiligkeitssignal“ die bedrohliche Akustik verstärke.127 2.2.2 fwnh/| r`hma,twn – „zu einer Stimme von Worten“ Der letzte Ausdruck in der Reihe fwnh/| r`hma,twn ist wieder der alttestamentlichen Vorlage DtnLXX 4,11f entnommen (vgl. 4,12; hebr.: ~yrbd lwq). Nach Dtn 4,12 ist die „Stimme der Worte“ die Stimme Gottes, der mitten aus dem
123 Und die Interpretation der „grossen“ bzw. „lauten Stimme“ als Posaunenschall liegt durchaus nicht fern, wenn nach ExLXX 19,16 die „Stimme der Posaune“ (fwnh, th/j sa,lpiggoj) „laut ertönte“ (h;cei me,ga) und in 19,19 die fwnai. th/j sa,lpiggoj in einem Zug mit der fwnh, Gottes erwähnt wird. 124 Für den jüdischen Leser liegt es nahe, die fwnh, mega,lh sogleich als die Stimme Gottes zu interpretieren (vgl. Dtn 4,12: kai. evla,lhsen ku,rioj); der Trompetenschall lässt (trotz Ex 19,19) mehr Interpretationsspielraum zu. 125 Nach Decal. 32ff wird das göttliche Reden (der „Zehn Worte“) von den Menschen als Schall (h=coj, vgl. Ex 19,16!) wahrgenommen, der in Verbindung mit einer sa,lpiggi steht; die Bemerkung in Decal. 35, dass die Stimme bzw. der Schall anschwoll (evzwpu,rei) und am Ende lauter als am Anfang war, macht dann endgültig klar, dass Philo an Ex 19,19 denkt (evgi,nonto de. ai` fwnai. th/j sa,lpiggoj probai,nousai ivscuro,terai sfo,dra). 126 Vgl. Ex 20,18. Zu einer Vertiefung der Thematik der Unverständlichkeit von Gottes Reden am Sinai vgl. die Ausführungen zu fwnh/| r`hma,twn unter B.III.2.2.2. 127 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 440. Auch mag die Posaune hier ein Alarmzeichen sein (vgl. Koester, Hebrews, 549), jedoch gewiss nicht im Sinne eines endzeitlichen Weck- oder Gerichtsignals (vgl. Mt 24,31; 1.Kor 15,52; 1.Thess 4,18; Offb 8,2ff), sondern im Sinne einer Warnung vor Gottes bedrohlicher Heiligkeit.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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Feuer zu dem Volk redete (evla,lhsen ku,rioj […] evk me,sou tou/ puro,j),128 und die Worte sind gemäss Dtn 4,13 die Zehn Gebote, die den Bund Gottes mit seinem Volk bildeten.129 Es stellt sich jedoch die Frage, wie der Verfasser des Hebräerbriefs die fwnh. r`hma,twn verstanden hat. Grundsätzlich kann der Genitiv r`hma,twn ein genitivus auctoris sein im Sinn von „eine Stimme bzw. ein Klang von Worten“130, ein genitivus qualitatis im Sinn von „eine Stimme mit Worten“131 oder ein genitivus epexegeticus im Sinn von „eine Stimme, bestehend aus Worten“ sein.132 Dass der Verfasser das Wortpaar fwnh/| r`hma,twn offensichtlich parallel zu sa,lpiggoj h;cw| gelesen haben will – es liegt hier nämlich ein kunstvoll kreierter Chiasmus vor133 –, spricht aber klar für den genitivus auctoris134: Der Schall von einer Posaune entspricht der fwnh/| von Worten. Allerdings bedeutet das nun nicht zwingend, dass die fwnh, lediglich als unpersönlicher „Schall“ oder unpersönliches „Getön“ verstanden werden muss.135 Der auctor ad Hebraeos gebraucht fwnh, nämlich durchwegs für die Stimme von Gott (vgl. 3,15; 4,7). Dazu kommt, dass auch der Begriff r`h/ma („das Gesagte“, „das Wort136) stets – wenn auch nicht im Plural – hinsichtlich des Wortes Gottes (vgl. 6,5; 11,3) oder des Sohnes verwendet wird (1,3). Diese Linie setzt sich fort, weil bei den r`h,masin in 12,19 gemäss der Vorlage DtnLXX 4,12f gewiss an den durch Gottes 128 Die Betonung von Dtn 4,12 liegt darauf, dass das Volk die Stimme Gottes zwar hörte, aber keine göttliche Gestalt sah (fwnh.n r`hma,twn u`mei/j hvkou,sate kai. o`moi,wma ouvk ei;dete avllV h' fwnh,n). 129 „Und er verkündigte euch seinen Bund, den zu halten er euch gebot: die zehn Worte [~yrbdh trX[; ta. de,ka r`h,mata]“; vgl. dazu z. B. E. Otto, Deuteronomium 1,1–4,43, HThK.AT, Freiburg i. Br.: Herder, 2012, 559. 130 So verstehen den Genitiv z. B. H. Windisch, Der Hebräerbrief, HNT 14, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl., 1931, 112 („Wortgetön“); Spicq, Hébreux II, 403 („une clameur de paroles“); Braun, Hebräer, 431 („Wortgetön“); Hegermann, Hebräer, 256 („Schall von Worten“); Grässer, Hebräer III, 307 („Getöse“ bzw. „Schall von Worten“); Lane, Hebrews II, 462 („sound of words“); Schunack, Hebräerbrief, 206 („Wortgetön“); Backhaus, Hebräerbrief, 440 („Wortschall“). 131 Vgl. z. B. Attridge, Hebrews, 373 („voice with words“); D. A. Hagner, Hebrews, NIBC 14, Peabody, Mass: Hendrickson Publishers, 1990, 224 („voice speaking words“); H.-F. Weiss, Hebräer, 668 („Wortesstimme“); O’Brien, Hebrews, 480 („a voice speaking words“). 132 Die prädikative Interpretation des Genitivs von Moffatt – „a voice whose words made those who heard it refuse to hear another syllable“ (vgl. Moffatt, Hebrews, 214; ähnlich auch Robinson, Hebrews, 188) – scheint mir, von der folgenden Satzstruktur mit dem relativen Anschluss (vgl. h-j, bezogen auf die fwnh,) her gesehen, ausgeschlossen. 133 sa,lpiggoj (A) h;cw| (B) kai. fwnh/| (B‘) r`hma,twn (A‘). 134 So auch Schunack, Hebr, 206. 135 Vgl. die unter Anm. 130 erwähnten Exegeten; nach Bauer gibt es zwei Grundbedeutungen von fwnh,: 1) „Klang“, „Ton“, „Geräusch“; 2) „Stimme“ (vgl. Bauer, Wörterbuch, 1736). 136 Vgl. ebd., 1472.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Stimme verkündeten Dekalog gedacht ist.137 Das Bitten der Zuhörer, das Reden Gottes nicht mehr hören zu müssen (12,19b) – eine klare Anlehnung an Ex 19,18–21 bzw. Dtn 5,22–27 (beide Texte folgen unmittelbar der Dekalog-Offenbarung!) – verdeutlicht dies. Auch wenn die Worte grammatikalisch als Urheber der fwnh/| definiert sind, schwingt somit also doch die Stimme Gottes im Hintergrund mit.138 Aber die Stimme Gottes wird durch ihren Ausgangspunkt (den Worten!) als stark verborgen, ja fast anonymisiert dargestellt.139 Dies scheint auch für die r`h,mata selbst zu gelten. Auch wenn der Verfasser mit r`h,mata an die Zehn Gebote gedacht haben wird, so spricht der verwirrliche Ausdruck fwnh. r`hma,twn im Sinn von „eine Stimme, ausgehend von Worten“ nicht gerade für ein verständliches Vernehmen von exakten Worten. Mit Recht darf man darum annehmen, dass der auctor ad Hebraeos mit gewissen alttestamentlichen Texten davon ausgeht, dass das Volk die Zehn Gebote nicht wirklich verstanden hat. 140 Nach Ex 20,18 nimmt Israel die Worte des Dekalogs als Donner (tlwqh) und Schopharhorn wahr (rpXh lwq).141 Gemäss Ex 19,19b– 20,1 und Dtn 5,4f verstand allein Mose das Reden Gottes und musste es dem Volk vermitteln.142 Bezeichnenderweise bringt der Verfasser des Hebräerbriefs mit der Anspielung auf Ex 19,13 in Hebr 12,20 ein nach der alttestamentlichen Vorlage explizit durch Mose vermitteltes Gebot (Ex 19,10.14; vgl. Hebr 9,19!). Neben der Verborgenheit von Gottes Reden (bzw. seiner selbst!) betont die Wendung fwnh, r`hma,twn aber auch die Furchtbarkeit der „Theophanie“ am Sinai.143 Einerseits geschieht dies gerade durch die dargestellte Unverständlichkeit der Worte144, andererseits durch den aufgegriffenen alttestamentlichen Prätext (Dtn 4,12), wonach es eine Stimme ist, die aus dem Feuer redet, was gemäss Dtn 5,24ff das Volk in grosse Furcht versetzt – in Dtn 5,25b ist sogar direkt von der Furcht vor der Stimme Gottes die Rede.145 137 Den Dekalog angesprochen sehen z. B. auch Delitzsch, Hebräer, 638; Riggenbach, Hebräer, 411 und Karrer, Hebräer II, 333. Andere sprechen nur allgemein von „Geboten“ bzw. „Gesetzgebung“ (vgl. z. B. Braun, Hebräer, 431 und Grässer, Hebräer III, 307). 138 Die Übersetzung „eine Stimme von Worten“ scheint mir daher am passendsten (vgl. Delitzsch, Hebräer, 637). 139 Vgl. Koester, Hebrews, 549: „[W]ords of an anonymous voice issue a warning out of the darkness“. Mit der Verborgenheit der Stimme Gottes geht der Hebr über seine Vorlage DtnLXX 4,12f hinaus, wo der Ausdruck fwnh, r`hma,twn mit der Verborgenheit der Gestalt Gottes in Verbindung gebracht wird. Ob dies in einem Zusammenhang mit der Angst vor einer anthropomorphen Darstellung Gottes steht (vgl. Philo, Decal. 32f!), ist allerdings fraglich. 140 So z. B. Casey, Eschatology, 320. 141 So dargelegt bei Oswald, Israel, 42f. 142 Vgl. C. Houtman, Exodus. Volume 2, HCOT, Kampen: Kok, 1996, 456f. 143 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 462. 144 Etwas nicht zu verstehen, löst natürlicherweise Unbehagen aus. 145 Ea.n prosqw,meqa h`mei/j avkou/sai th.n fwnh.n kuri,ou tou/ qeou/ h`mw/n e;ti kai. avpoqanou,meqa.
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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Das Reden Gottes nach Hebr 12,19 sieht z. B. Hegermann als durch Engel vermittelt, wobei er auf Hebr 2,2 verweist.146 Die Frage ist aber, was der Verfasser des Hebräerbriefs in 2,2 unter den a;ggeloi versteht, wenn er von dem diV avgge,lwn lalhqei.j lo,goj spricht. Für die Mehrheit der Exegeten liegt es auf der Hand, dass bei den avgge,loij an die himmlischen „Boten“ gedacht ist, die die Sinai-Tora (= lo,goj) vermittelt haben.147 Als Argumente können der unmittelbare Kontext mit der Engel/Jesus-synkrisis (1,4–14) und vielleicht auch gewisse Parallelen zu frühjüdischen bzw. jüdisch-christlichen Texten gelten.148 Da aber Hebr 2,1 mit dia. tou/to und der Aufforderung, auf das Gehörte zu achten, offensichtlich an Hebr 1,2a anknüpft149, besteht auch die Möglichkeit, Hebr 2,2a (o` diV avgge,lwn lalhqei.j lo,goj) inhaltlich parallel zu Hebr 1,1 (o` qeo.j lalh,saj […] evn toi/j profh,taij) zu lesen.150 Auf jeden Fall werden die Propheten – gemeint sind in Hebr 1,1 alle durch Gottes Geist autorisierten alttestamentlichen Sprecher des Wortes Gottes151 – im Alten Testament auch als a;ggeloi bezeichnet (2.Chron 36,15; Jes 44,26; Hag 1,13; vgl. auch 11QPsa 151, wo der a;ggeloj der LXX mit aybn wiedergeben wird).152 In den avgge,loij von Hebr 2,2 deshalb nur irdische Boten zu sehen153, scheint von Hebr 1,4–14 her gesehen allerdings eher unwahrscheinlich zu
146
Vgl. Hegermann, Hebräer, 257. Vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 185; Lindars, Theology, 38; Löhr, Umkehr, 81; Grässer, Hebräer I, 102; Wider, Theozentrik, 128; Backhaus, Hebräerbrief, 106; J. VanderKam, „Jewish Apocrypha and the New Testament“, in: A. B. McGowan (Hg.), Method and Meaning. Essays on New Testament Interpretation in Honor of Harold W. Attridge, SBL.RBS 67, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2011, 324; Griffiths, Speech, 51. 148 Typischerweise erwähnt werden dabei v. a. Gal 3,19; Apg 7,38.53; Jub 1,27–29; und Joseph., Ant. 15,136 (vgl. z. B. Lane, Hebrews I, 37f). Dazu ist allerdings zu sagen, dass sich der Plural avgge,lwn sowohl in der Josephus-Stelle (vgl. Grässer, Hebräer I, 102, Anm. 23) als auch in Apg 7,53 (vgl. J. Thiessen, „Die Stephanusrede im Kontext des hellenistischen Judentums“, in: J. Thiessen (Hg.), Die Apostelgeschichte des Lukas in ihrem historischen Kontext – drei Fallstudien, STB 10, Wien: Lit, 2013, 111–114) sehr wahrscheinlich auf menschliche Boten bezieht. Die verbleibenden Stellen sprechen – entgegen Hebr 2,2 – von nur einem vermittelnden avgge,lw| (zur Identifikation desselben mit Gott selbst in Apg 7,38 vgl. Thiessen, „Stephanusrede“, 44–49). 149 So z. B. auch Grässer, Hebräer I, 98f, der die Engel-Interpretation vertritt. Das prose,cein h`ma/j toi/j avkousqei/sin entspricht dem evla,lhsen h`mi/n evn ui`w/| (verdeutlicht wird es durch die gemeinsame Wir-Rede). 150 Die Differenz zwischen dia, und evn ist kein Gegenargument, insofern sie auch zwischen den parallelen Ausdrücken lalei/sqai dia. tou/ kuri,ou (2,3) und evla,lhsen h`mi/n evn ui`w/| (1,2) besteht (zur Identifizierung von ku,rioj mit Jesus bzw. dem Sohn vgl. Lewicki, Wort Gottes, 52ff). 151 So richtig H.-F. Weiss, Hebräer, 139; Mose ist gewiss miteingeschlossen (vgl. Dtn 18,15!). 152 Mose wird z. B. auch in 4Q377 1 II,11 die Rolle eines $alm zugeschrieben, wahrscheinlich im Zuge einer Divinisierung (vgl. C. H. Fletcher-Louis, All the Glory of Adam. Liturgical Anthropology in the Dead Sea scrolls, STDJ 42, Leiden, Boston: Brill, 2002, 141ff), die dem Hebr allerdings völlig fremd ist (vgl. Hebr 12,21). 153 Vgl. L. H. Silbermann, „Prophets/Angels: LXX and Qumran Psalm 151 and the Epistle to the Hebrews“, in: A. Finkel (Hg.), Standing before God. Studies on Prayer in Scriptures and in Tradition with Essays. In Honor of John M. Oesterreicher, New York: KTAV, 1981, 91–101. 147
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
sein. Meines Erachtens wird Karrer der Sachlage am gerechtesten, wenn er sowohl himmlische als auch irdische Gottesboten (Engel, Mose, Propheten) angesprochen sieht.154 Der Einwand von Cockerill, o` lo,goj spreche zwingend für ein bestimmtes Ereignis und damit für die Vermittlung der Sinai-Tora durch die Engel155, überzeugt m. E. nicht. Denn der bestimmte Ausdruck o` lo,goj könnte auch dadurch erklärt werden, dass der Verfasser von der Einheitlichkeit des Redens Gottes durch die sinaitische Tora und die spätere prophetische Weisung ausgeht.156 Mit Blick auf die wahrscheinlich auch menschliche Wort-Mittler umfassende Bedeutung von Hebr 2,2 und die Tatsache, dass in Hebr 12,18–21 die Präsenz von Engeln nirgends erwähnt wird, ist ein durch Engel vermittelndes Reden zu bezweifeln. Wenn die Vermittlung der verborgenen r`h,mata ein Thema ist, dann die von Mose (vgl. Hebr 9,19!157; 12,20).
2.2.3 parh|th,santo – „sie flehten“ Die fwnh. r`hma,twn wird durch einen längeren Relativsatz näher bestimmt: h-j oi` avkou,santej parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon. Als Texte, auf die der Autor möglicherweise hier anspielt, werden Ex 20,18f, Dtn 5,23–27 und Dtn 18,16 genannt.158 Dem Inhalt nach könnten alle Passagen den Hintergrund bilden, sprachlich entspricht jedoch DtnLXX 18,16 Hebr 12,19b eindeutig am besten. Dort sagt Mose, dass das Volk („du“) Folgendes erbeten habe (hv|th,sw): ouv prosqh,somen avkou/sai th.n fwnh.n kuri,ou tou/ qeou/ h`mw/n.159 Kunstvoll wird in Hebr 12,19b durch das sich auf die fwnh,n (V.19a) beziehende Relativpronomen h-j – einen relativen Anschluss bildend – nochmal ein besonderes Gewicht auf die Stimme von Worten gelegt160: Die fwnh. r`hma,twn
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Vgl. Karrer, Hebräer I, 154. Vgl. Cockerill, Hebrews, 119, Anm. 9. 156 Vgl. z. B. Jer 7,23–28, wonach die Stimme und die Botschaft, die das Volk am Sinai gehört hat, die gleiche ist durch alle Zeiten der Geschichte Israels (vgl. dazu C. M. Maier, Jeremia als Lehrer der Tora. Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches, FRLANT 196, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2002, 107ff.113), sowie Jes 5,24, wo mit hwhy trwt wohl nicht nur das Gesetz des Mose (vgl. z. B. Neh 7,6.10), sondern auch die Weisung des Propheten gemeint ist (vgl. Jes 1,10; 8,16). 157 Nach dieser Stelle ist jedes Gebot des Gesetzes (pa,shj evntolh/j kata. to.n no,mon) von/durch Mose (u`po. Mwu?se,wj) vermittelt geredet (lalhqei,shj). 158 Für Ex 20,18f sind z. B. Westcott, Hebrews, 411 und Johnson, Hebrews, 329; für Dtn 5,23–27 plädieren z. B. Lane, Hebrews II, 462 und Allen, Deuteronomy, 91; Dtn 18,16 wird z. B. von Folgenden favorisiert: B. Weiss, Hebräer, 335 und Grässer, Hebräer III, 307. 159 In ExLXX 20,18f wird das Volk nicht als hörend, sondern als sehend geschildert (o` lao.j e`w,ra th.n fwnh.n). Zudem fehlt das Verb prosti,qhmi (beides ist in den zwei Dtn-Stellen anders). DtnLXX 18,16 ist DtnLXX 5,23–27 vorzuziehen, weil die Stelle eine direkte Bitte bietet (vgl. dagegen DtnLXX 5,24: eva.n prosqw,meqa h`mei/j avkou/sai th.n fwnh.n kuri,ou tou/ qeou/ h`mw/n e;ti kai. avpoqanou,meqa), die in der Einleitung von Mose erst noch mit dem Verb aivtei/n explizit als solche definiert wird (vgl. paraitei/sqai in Hebr 12,19, das das Verb aivtei/n steigernd aufgreift). 160 So richtig beobachtet von Michel, Hebräer, 461. 155
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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erscheint als die Klimax aller vorhergegangenen Beschreibungen der „Theophanie“.161 Dass als Kern des Sinai-Geschehens das Reden „Gottes“ gesehen werden soll, verdeutlicht auch die Charakterisierung der versammelten Volksgemeinde als oi` avkou,santej.162 Umstritten ist, was die „Hörer“ machten: „Baten“ sie darum, dass kein Wort mehr an sie gerichtet würde, oder „verbaten“ sie es sich (im Sinn eines Zurückweisens oder Sich-Verweigerns), dass noch ein Wort mehr an sie gerichtet würde?163 Das Verb paraitei/sqai kann grundsätzlich beide Bedeutungen haben: „sich erbitten“ (vgl. z. B. Herod., Hist. 1,24.90; Plat., Apol. 27b; Mk 15,6) oder „sich verbitten“ bzw. „zurückweisen“ (vgl. z. B. Philo, Post. 2; Joseph., Ant. 3,212; 5,237; Apg 25,11; 1.Tim 4,7).164 Als Argument für die Interpretation von parh|th,santo im Sinn von „sie wiesen es zurück“ wird oft der Gebrauch desselben Verbes in Hebr 12,25 angeführt, wo es zweifelsfrei diesen Sinn hat (ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta)165. Gelegentlich wird auch auf Hebr 3,7–4,11 als Paralleltext verwiesen166, was auf den ersten Blick durchaus sein könnte, weil dort auch von den Israeliten als „Hörer“167 die Rede ist, die Gottes Wort (4,2: o` lo,goj th/j avkoh/j, vgl. 12,19!) mit Auflehnung (3,16), Ungehorsam (3,18; 4,6) und Unglaube (3,19; 4,2) begegnet waren. Wenn paraitei/sqai in Hebr 12,19 tatsächlich als „zurückweisen“ zu verstehen wäre, würde demnach die nachvollziehbare und nach Dtn 5,28 und 18,17 als „richtig“ deklarierte Bitte um die Beendigung der Gottesrede und die Mittlerschaft von Mose als „böswillige und ungläubige Abwendung der Offenbarungsrede“ uminterpretiert.168 161
So z. B. auch Lane, Hebrews II, 460 („the cumulative effect“). So mit Recht Hegermann, Hebräer, 257. Möglicherweise lehnt sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit oi` avkou,santej noch nicht an Dtn 18,16, sondern an Dtn 4,12 an (fwnh.n r`hma,twn u`mei/j hvkou,sate). 163 Für die erste Variante sind z. B. Lane, Hebrews II, 462f; Johnson, Hebrews, 329; Backhaus, Hebräerbrief, 434.440f; O’Brien, Hebrews, 480; Cockerill, Hebrews, 642 und Kibbe, Fear, 11f. Für die zweite sind z. B. Moffatt, Hebrews, 215; Windisch, Hebräerbrief, 113; Spicq, Hébreux II, 404; Michel, Hebräer, 462; G. Stähelin, Art. avite,w ktl., ThWNT I (1933/1966), 195; Braun, Hebräer, 431; Hegermann, Hebräer, 257; H.-F. Weiss, Hebräer, 672; Grässer, Hebräer III, 307; Schunack, Hebräerbrief, 206f und Koester, Hebrews, 543. 164 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1246; Stähelin, avite,w ktl., 195. Zu einer dazwischen stehenden Bedeutung im Sinne von „sich entschuldigen“ vgl. z. B. Lk 14,18f. 165 ↑ B.VI.3.1.1. Schon die frühen Textzeugen a* und 048 haben offenbar V.19 in Verbindung zu V.25 gelesen, insofern sie das auf den ersten Blick „störende“ mh, vor prosteqh/nai weggelassen haben. 166 So z. B. Casey, Eschatology, 324; Grässer, Hebräer III, 309; 324; Koester, Hebrews, 543; zurückhaltend Michel, Hebräer, 461. 167 Das Verb avkou,ein kommt in Hebr 3,7–4,11 5-mal vor, davon in 3,16 und 4,2 wie in 12,19 als Partizip Aorist. 168 Vgl. Grässer, Hebräer III, 307. Andere sind jedoch trotz der Interpretation von V.19 von V.25 her in ihrer Antwort auf die Schuldfrage zurückhaltender (so z. B. Schunack, Hebräerbrief, 207). 162
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Es gibt nun aber einige gewichtige Einwände gegen diese Deutung von Hebr 12,19b. Erstens spricht die in V.20 folgende Aussage ouvk e;feron to. diastello,menon – eine Begründung der Reaktion der Hörer (ga,r!) – klar gegen ein schuldhaftes Zurückweisen der Gottesrede.169 Die Furcht vor Gott (vgl. fobero,j in V.21!) war gemäss dem Verfasser des Hebräerbriefs bei den Israeliten aufgrund der himmlischen (unerklärlichen, bedrohlichen) fwnh. r`hma,twn und wegen des Gebotes, sich dem Berg bei Todesstrafe nicht zu nahen, so gross, dass sie eine direkt fortgeführte Rede Gottes schlicht und einfach „nicht ertragen konnten“.170 Ein zweiter Einwand ergibt sich aus dem in Hebr 12,19b aufgegriffenen Text aus DtnLXX 18,16, insofern dort das Volk um die Mittlerschaft des Mose bittet (hv|th,sw).171 Drittens spricht der verneinende Partikel mh, vor prosteqh/nai gegen die negative Lesart von paraitei/sqai (im Sinn von „zurückweisen“).172 Viertens gibt es plausible Gründe, die paraithsa,menoi in 12,25 nicht auf die in V.19 beschriebenen Hörer und deren Reaktion auf die Gottesrede zu beziehen, sondern auf die Wüstengeneration insgesamt.173 Fünftens ist Hebr 3,7–4,11 als Paralleltext zu 12,19 auf den zweiten Blick mehr als fraglich.174 Sechstens ist ein offenkundiger Widerspruch zur Tora, die die Bitte 169
Vgl. z. B. auch Lane, Hebrews II, 463 und Backhaus, Hebräerbrief, 441. So interpretiert ouvk e;feron z. B. auch H.-F. Weiss (vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 668), obwohl ihn dies bei seiner postulierten Verbindung von Hebr 12,19 zu 12,25 in Erklärungsnöte bringt, weil in V.25 ja von Schuld die Rede ist (ouvk evxe,fugon!); Weiss spricht sodann von Schuld, die „bedingt [ist] durch den sinnenfälligen Schrecken der Ohrenzeugen“ (vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 672). 171 Könnte der Entscheid des Gebrauches des Verbes paraitei/sqai von der dortigen Wendung hv|th,sw para. kuri,ou mit beeinflusst gewesen sein? 172 Nach Blass; Debrunner; Rehkopf, Grammatik, § 429,2 gibt es zwar bei Verben mit negativem Sinn die Möglichkeit eines pleonastischen mh, (vgl. z. B. Gal 5,7 und evtl. Lk 22,34), aber das Verb paraitei/sqai hat (im Gegensatz zu den Verben in Gal 5,7 und Lk 22,34) auch einen positiven Sinn. Da dies sogar der primäre Sinn ist (vgl. Bauer, Wörterbuch, 1246; das Verb ist eine Steigerung von aivtei/n „bitten“) und das Verb in Hebr 12,19 das erste Mal verwendet wird, liegt es näher, das Verb im Sinne von „erbitten“ und mh, als effektive Negation zu verstehen (vgl. auch den durchwegs positiven Gebrauch von paraitei/sqai in der LXX). In diesem Sinn übersetzt z. B. auch DeSilva, obwohl er von der inhaltlichen Verbindung von V.19 und V.25 ausgeht (vgl. DeSilva, Hebrews, 465). 173 Vgl. z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 451; dazu mehr unter B.VI.3.1.2.b. 174 1) Den Hintergrund von Hebr 3,7–4,11 bilden nicht die Ereignisse am Sinai, sondern diejenigen in Kadesch-Barnea (vgl. z. B. O. Hofius, Katapausis. Die Vorstellung vom endzeitlichen Ruheort im Hebräerbrief, WUNT 11, Tübingen: Mohr Siebeck, 1970, 117–139; R. C. Gleason, „The Old Testament Background of Rest in Hebrews 3:7-4:11“, in: BS 157.627/2000, 290ff; Cockerill, Hebr, 174ff). 2) Der lo,goj th/j avkoh/j, dem die Hörer in Hebr 3,7–4,11 mit Unglauben und Ungehorsam begegnen, ist Evangelium (vgl. 4,2.6), die „Predigt der Verheissung“ ( Grässer, Hebräer I, 205.), nämlich in die kata,pausin, das Land Kanaan bzw. das himmlische Vaterland (11,16), einziehen zu dürfen. In Hebr 12,19 nimmt der lo,goj jedoch auf etwas diametral Entgegengesetztes Bezug: einerseits auf das unverständliche, bedrohlich empfundene Reden Gottes (fwnh/| r`hma,twn), andererseits auf ein die 170
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der Israeliten als gut bzw. richtig bewertet (vgl. Dtn 5,28; 18,17: wbyjyh; ovrqw/j), für den Hebr kaum wahrscheinlich, zumal die Wertung durch Gottes direkte Rede geschieht und der Verfasser vor dieser stets Hochachtung beweist (vgl. z. B. 1,5.13; 3,7ff). Es scheint mir darum passender, paraitei/sqai im „positiven“ Sinn zu verstehen und parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon wie folgt zu übersetzen: „[S]ie flehten175, dass ihnen [d. h. den Hörern] kein Wort mehr hinzugefügt werde“.176 Mit dem „unerwünschten“ zusätzlichen lo,goj wird einerseits auf die unverständlichen r`h,mata der himmlischen Stimme Bezug genommen177, andererseits aber auch auf das in V.20 erwähnte Gebot. 2.3 Vers 20 ouvk e;feron ga.r to. diastello,menon\ ka'n qhri,on qi,gh| tou/ o;rouj( liqobolhqh,setai „[…] denn sie konnten nicht ertragen, was angeordnet wurde: ‚Wenn auch nur ein Tier den Berg berührt, soll es gesteinigt werden‘ […]“
In Hebr 12,20 begründet (vgl. ga,r) der Verfasser die Bitte, das Reden Gottes nicht mehr hören zu müssen, mit der für die Hörer untragbaren Schwere eines göttlichen Gebotes: Sie konnten das, was das Gebot impliziert, nämlich die bedrohliche Heiligkeit Gottes, aus Angst nicht ertragen. Der Prätext, auf den hier angespielt wird, ist ExLXX 19,12f, wonach Gott durch Mose dem Volk am Sinai gebietet, sich hinsichtlich der tödlichen Konsequenzen zu hüten, auf den Berg zu steigen oder einen Teil des Berges zu unnahbare Heiligkeit Gottes verdeutlichendes und darum untragbares Gebot ohne Verheissung (V.20). 3) In Hebr 3,7–4,11 liegt die Schuld der Hörer letztlich in dem praktischen „Unglaube[n] und Ungehorsam gegenüber der göttlichen Verheissung“ (vgl. Löhr, Umkehr, 94) – Widers Definition von pi,stij in Hebr 4,2 als einem Glaube, der nicht auf den Inhalt des Wortes Gottes bezogen ist, sondern sich dessen schöpferischen Wirkkraft widerstandslos preisgibt (vgl. Wider, Theozentrik, 169), greift angesichts von Hebr 3,18f und dem Hintergrund von Kadesch-Barnea zu kurz –, in Hebr 12,19 dagegen ist das Volk in keiner Weise einem expliziten Wort Gottes ungläubig oder ungehorsam. 175 Zu dieser Übersetzung vgl. z. B. C.-P. März, Hebräerbrief, NEB.NT 16, Würzburg: Echter, 1989, 79 und Lane, Hebrews I, 437 („beg“); sie entspricht dem Verb als Steigerung von aivtei/n besser (vgl. 1.Sam 20,6.28; Esth 4,8; 7,7) als „bitten“ (vgl. z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 434; Johnson, Hebrews, 326 [„ask“]). 176 Wörtlich: „dass ihnen nicht hinzugefügt würde ein Wort“. Dass mit auvtoi/j nicht die r`h,mata, sondern die Hörer gemeint sind, liegt nach DtnLXX 18,16 (prosqh,somen) auf der Hand. Der Infinitiv Aorist Passiv prosteqh/nai (die Lesart prosqei/nai von Kodex A ist sekundär, vgl. Grässer, Hebräer III, 307, Anm. 18) – von prosti,qhmi mit der Grundbedeutung „hinzufügen“ (vgl. Bauer, Wörterbuch, 1439) – könnte zusammen mit dem Akkusativ lo,gon theoretisch einen AcI bilden (vgl. Michel, Hebräer, 462); allerdings macht es inhaltlich mehr Sinn, lo,gon als Objekt aufzufassen. 177 Wobei hier wohl gilt, was schon Calvin gesagt hat, dass das Volk nicht die Worte Gottes („Dei verba“) nicht mehr hören wollte, sondern Gottes direkte Stimme („Deum ipsum loquentem“; vgl. Calvin, Hebraeos, 229); ähnlich auch O’Brien, Hebrews, 480.
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berühren (qigei/n ti auvtou/). Jeder – ob Tier oder Mensch (eva,n te kth/noj eva,n te a;nqrwpoj) –, der den Berg berührt, muss nämlich getötet werden (qana,tw| teleuth,sei), entweder gesteinigt oder erschossen (li,qoij liqobolhqh,setai h' boli,di katatoxeuqh,setai). In Hebr 12,19 wird das Gebot stark gekürzt: ka'n qhri,on qi,gh| tou/ o;rouj( liqobolhqh,setai.178 Die brevitas des wiedergegebenen Gebotes dient seiner Zuspitzung: 1) Schon das Berühren des Berges hat den Tod zur Folge (wieviel mehr dann das Hinaufgehen in die Gegenwart Gottes)179; 2) schon ein Tier wird bei Übertretung des Gebotes getötet (wieviel mehr dann ein Mensch).180 Auffallend ist, dass in Hebr 12,20 vom qhri,w| anstatt – wie in ExLXX 19,13 – vom kth,nei die Rede ist. Offenbar hat der Autor diese Veränderung bewusst vorgenommen.181 Qhri,on ist nämlich gemäss der LXX der terminus technicus für ein „Wildtier“182, wohingegen kth/noj die Kategorie „Haustier“ bzw. „Herdentier“ bezeichnet.183 Das Gebot erfährt demnach eine weitere Zuspitzung: 178
Zwei lange, teilweise redundante Verse werden auf einen kurzen Satz reduziert; aus Ex 19,12 übernimmt der Hebr qigei/n und tou/ o;rouj, aus 19,13 liqobolhqh,setai (bei Streichung der inhaltlich unnötigen li,qwn), den Bezug zum „Tier“ (dazu mehr unten) und sehr wahrscheinlich auch eva,n, was zu ka'n umgestaltet wird (vgl. zu Letzterem auch Braun, Hebräer, 433). ka'n hat hier die konzessive Bedeutung von „wenn auch nur“ (vgl. Blass; Debrunner; Rehkopf, Grammatik, § 374). 179 Vielleicht wird dies durch das Vorziehen des Verbes qigga,nein „berühren“ (vgl. Bauer, Wörterbuch, 735) vor a[ptein (eigentlich naheliegender; vgl. o` a`ya,menoj tou/ o;rouj in ExLXX 19,12) noch mehr betont. Denn das letztere Verb bedeutet neben „berühren“ auch (stärker!) „anfassen“ im Sinne von „ergreifen“ bzw. „festhalten“ (vgl. z. B. Plat., Phaedr. 260e; Joh 20,17): schon das Berühren (mit den Fingerspitzen) ist tödlich! Nicht ausschliessen kann man jedoch, dass qigga,nein einfach nur sprachlich geläufiger war (vgl. Hebr 11,28). 180 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 308; Schunack, Hebräerbrief, 207; O’Brien, Hebrews, 481. 181 Karrer vermutet, dass qhri,on auf eine abweichende LXX-Vorlage zurückgeht (vgl. Karrer, Hebräer II, 333). Zu seiner Begründung, die LXX kenne qhri,on auch zur Übertragung von hmhb (in ExLXX 19,13 mit kth/noj wiedergegeben), ist jedoch Folgendes zu sagen: hmhb wird in der von ihm angeführten Belegstelle Dtn 28,26 nur darum als qhri,on übersetzt, weil es sich nach dem Kontext um ein Wildtier handelt (vgl. z. B. auch Dtn 32,24; Hiob 40,15). 182 Vgl. z. B. den Gebrauch in Ex 23,12; Lev 26,22; Dtn 7,22 (Letztere haben die Wendung qhri,a [ta.] a;gria); und in 2.Sam 23,10; PsLXX 104,11; Hos 2,14 (qhri,a tou/ avgrou/); und in Ex 23,29; Dtn 28,26; Hes 29,5 (qhri,a th/j gh/j); und in Lev 26,6 (qhri,a ponhra,); und vor allem in Lev 17,13; Dtn 32,24; Hiob 37,8 (wo qhri,on bzw. qhri,a appositionslos verwendet wird). Mit wenigen Ausnahmen gibt qhri,on dabei hyx wieder. Im Neuen Testament setzt sich diese Wortbedeutung fort (vgl. z. B. Mk 1,13; Jak 3,7; Offb 6,8). 183 Vgl. z. B. Ex 9,3 (mit Aufzählung); Lev 25,7 (toi/j kth,nesi,n sou); Num 16,32 (ta. kth,nh auvtw/n). Im Neuen Testament vgl. Lk 10,34; Apg 23,24; Offb 18,13 (vgl. dazu auch Bauer, Wörterbuch, 924). Aufgrund dieser klaren inhaltlichen Unterscheidung der LXX zwischen qhri,on und kth/noj (vgl. z. B. auch Lev 26,22) kann die These von Ellingworth, dass qhri,on als Überbegriff „Tier“ Haustiere miteinschliesse ( Ellingworth, Hebrews, 674f), nicht überzeugen. LXX
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Wenn schon das unbewusst streunende Wildtier bei Berührung des Berges dem Tod geweiht ist, wieviel mehr dann ein bewusst handelnder Mensch.184 Der hier zugrunde liegende Schluss a minore ad maius gilt sehr wahrscheinlich auch für den Kontrast der Sündlosigkeit des Tieres bzw. Sündhaftigkeit des Menschen185 und hat das Ziel der Abschreckung186. Ob die Erwähnung der Steinigung als Hinrichtungsart betont, dass man nicht einmal beim Töten des Gesetzesbrechers dem Berg zu nahe kommen darf187 oder dass nur so ein verunreinigendes bzw. Schuld und Strafe nach sich ziehendes Berühren des mit dem Sakrosankten in Kontakt gestandenen Tieres vermieden werden kann188, ist nicht zu entscheiden. Beide Interpretationen würden aber die bedrohliche Heiligkeit des Berges bzw. Gottes unterstreichen (vgl. Ex 19,12f mit 19,23 [avfo,risai to. o;roj kai. a`gi,asai auvto,]!). Mit der Betonung der bedrohlichen Heiligkeit Gottes ist auf jeden Fall die wesenshafte Sündhaftigkeit der Sinai-Gemeinde mitangesprochen.189 Infolgedessen erscheint es naheliegender, in der Aussage ouvk e;feron nicht „die fehlende Bereitschaft der Hörenden zum Gehorchen“ zu sehen190, sondern deren nicht als Schuld angerechnete Angst angesichts der bedrohlichen Heiligkeit Gottes: „Sie konnten“ das Gebot der Tiersteinigung – to. diastello,menon bezieht sich in erster Linie auf das Tier191 –, das für die bedrohliche Heiligkeit Gottes stand, „nicht ertragen“192; sie waren als mit Sünde behaftete Geschöpfe schlicht nicht im Stande dazu.193 Dass die im „Angesicht“ der unerträglich be-
184 So richtig Casey, Eschatology, 326. Die Unvernünftigkeit des Tieres betonen z. B. auch Riggenbach, Hebräer, 412 und Schröger, Verfasser, 208. Vielleicht gilt zudem auch der von Braun angeführte Schluss: Wenn schon die unterste Kategorie von Geschöpf durch den Berg gefährdet ist, wieviel mehr dann die höchste (vgl. Braun, Hebräer, 433). 185 Wenn nicht einmal ein unschuldiges Tier den Berg berühren darf, wieviel weniger dann der Mensch; so schon Calvin, Hebraeos, 229 („innoxium animal“); vgl. auch Grässer, Hebräer III, 308. 186 So auch Braun, Hebräer, 433. 187 Vgl. Attridge, Hebrews, 373 und Backhaus, Hebräerbrief, 441. 188 Vgl. Dohmen, Exodus, 68 und Casey, Eschatology, 326. 189 Vgl. Witherington, Hebrews, 340: „Being a sinner in the presence of the holy God is an unbearable, frightening experience that can be lethal“. 190 Vgl. Grässer, Hebräer III, 309. 191 So richtig Johnson, Hebrews, 329. 192 Vgl. z. B. K. Weiss, Art. fe,rw, ThWNT IX (1973), 61; Hegermann, Hebräer, 257; Attridge, Hebrews, 373; Lane, Hebrews II, 463; Koester, Hebrews, 543. Müssig ist es darüber zu diskutieren, ob die Bedrohung durch die Todesstrafe untragbar war oder die im Gebot implizierte Heiligkeit Gottes; beides gehört untrennbar zusammen. In Bezug auf das „(Er)tragen“ interessant, aber sehr wahrscheinlich rein zufällig ist die Tatsache, dass der mit der Heiligkeit Gottes eng verwandte Begriff „Herrlichkeit“ im Hebräischen (dwbk) zuerst „Schwere“ bedeutet (vgl. Koehler; Baumgartner, Lexikon I, 436). 193 Ähnlich Wider, Theozentrik, 104: „Solches ,Nicht Ertragen‘ lässt […] eine im Wesen des Geschöpflichen liegende Grenze ahnen“.
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drohlichen Heiligkeit Gottes selbst unerträglich werdende Furcht als (entlastende) Erklärung für das Verhalten des Volkes in V.19 im Fokus unseres Verses liegt194, bestätigt auch der inhaltlich eng verwandte V.21 mit der Bezeichnung der Sinai-„Theophanie“ als fobero,n und der Betonung der Furcht des Mose. Die Heiligkeit des Berges bzw. Gottes ist nach dem Verfasser des Hebräerbriefs jedoch nicht nur bedrohlich und unerträglich, sondern auch absolut unnahbar. Dies ist eine weitere Zuspitzung des Prätextes. Nach Ex 19,10.13 galt das Verbot, den Berg zu berühren, nämlich nur für die zwei Tage der Heiligung bis zu dem Moment, wo das Schopharhorn erschallen würde; dann sollte das Volk zum Berg bzw. zu Gott hinaufsteigen. Die zeitliche Begrenzung bleibt in Hebr 12,19 unerwähnt, wodurch das Gebot als zeitlos und absolut erscheint. Der Grund liegt m. E. darin, dass der Verfasser eine vollkommene Heiligung im Alten Bund als unmöglich (vgl. z. B. Hebr 9,9; 10,10–14)195 und so das „Nicht-hinzutreten-Können“ bzw. das „Nicht-hinzutreten-Dürfen“ als das zeitlose Charakteristikum des Gottesvolkes in alttestamentlicher Zeit angesehen hat (vgl. z. B. Hebr 9,7f)196. Somit zielt die Erwähnung des Gebots der Tiersteinigung letztlich auf eine drastische Verdeutlichung der Unzugänglichkeit Gottes im Alten Bund. 197 Nicht unwahrscheinlich ist, dass dieses Thema der unnahbaren Heiligkeit Gottes ausschlaggebend für die Bezeichnung des Gebotes aus Ex 19,12f als to. diastello,menon gewesen ist. Wörtlich bedeutet das Verb diaste,llesqai nämlich „trennen“, „unterscheiden“198, was auch dem Normalgebrauch der LXX entspricht.199 To. diastello,menon hinsichtlich des das Fern-bleiben-Müssen implizierende Gebotes der Tiersteinigung auch als „das Trennende“ zu verstehen, könnte darum durchaus berechtigt sein.200 Allerdings würde diese Deutung
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Einige der wenigen Kommentatoren, die diesen Furcht-Fokus erkennen, sind: Backhaus, Hebräerbrief, 441 („Tremendum“) und Mitchell, Hebrews, 282. 195 Die Heiligung des Volkes als Vorbereitung zur Gottesbegegnung auf dem Berg (vgl. Ex 19,13) hat nach Ex 19,21ff dann ja auch tatsächlich ihr Ziel nicht erreicht. Nur Mose (mit Aaron) durfte schliesslich in die Gegenwart Gottes treten (19,24). 196 Vgl. dazu Attridge, Hebrews, 373f: „By referring to this command the author thus implicitly reiterates his earlier [9:8] critique of the old covenant and cult. There sanctity was preserved by exclusion“; ähnlich formulieren es Schierse, Verheissung, 177 und Grässer, Hebräer III, 308. Interessant, aber sehr wahrscheinlich zufällig, ist die Parallele der Zeitlosigkeit des Berührverbotes im Hebr zu der metaphysischen Unmöglichkeit, den Berg zu berühren, bei Philo (QE 2,45). 197 Ähnlich Backhaus, Hebräerbrief, 442. 198 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 378f. 199 Vgl. z. B. Gen 25,23; 30,35; Lev 10,10; Num 8,14; Dtn 19,2; Esr 8,24; PsLXX 65,14; Hos 13,15. 200 Vgl. Spicq, Hébreux II, 404.
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dann dennoch wohl eher im Hintergrund der Hauptbedeutung „das Angeordnete“201 stehen. Auf jeden Fall scheint to. diastello,menon ein bewusst die Gegenwart Gottes verhüllender Ausdruck zu sein. 202 Zum Schluss stellt sich noch die Frage nach dem Verhältnis von Hebr 12,20 zum vorangehenden Vers. Dass V.20 die Bitte in V.19, das Reden Gottes nicht mehr hören zu müssen, begründet, erscheint nämlich auf den ersten Blick sehr verwirrlich. Denn das Gebot der Tiersteinigung wurde zwei Tage vor der eigentlichen „Theophanie“, wie sie in Hebr 12,18–19 geschildert wird, an das Volk gerichtet (vgl. Ex 19,10ff). Kaum wird der Verfasser des Hebräerbriefs diese Tatsache ausgeblendet und das Gebot – kontextwidrig – als Teil der r`hma,twn in V.19 verstanden haben. Der Zusammenhang erschliesst sich vielmehr so, wie es schon B. Weiss erkannt hat: „[J]enes Gebot [sc. Ex 19,12f] liess den Berg als ein so unnahbares Heiligtum erscheinen, dass eine von ihm her erschallende Stimme sie in Furcht und Schrecken versetzte“.203 V.20 als Begründung der angstvollen Bitte in V.19 leuchtet umso mehr ein, wenn man zudem bedenkt, dass das Gebot der Tiersteinigung dem Volk (wie oben dargelegt) die bedrohliche Heiligkeit Gottes vor Augen geführt hat und dass es im Moment, wo es die fwnh.n r`hma,twn hört, das erste Mal in direktem (wenn auch nur akustischem) Kontakt mit diesem heiligen Gott stand – das Gebot der Tiersteinigung war ja ein von Mose vermitteltes Gebot (vgl. Ex 19,14). In V.21 folgt nun eine Beschreibung der Angst desselben Moses. 2.4 Vers 21 kai,( ou[tw fobero.n h=n to. fantazo,menon( Mwu?sh/j ei=pen\ e;kfobo,j eivmi kai. e;ntromojÅ „[…] und Mose (so furchtbar war die Erscheinung!) sprach: ,Ich bin voll Furcht und Zittern!‘ […]“
Mit Hebr 12,21 zeigt der Verfasser seine hohe rhetorische Kunst spielerischer Sprache. Als Parenthese (vgl. z. B. auch 7,20f) gestaltet, spielt der Vers, grammatikalisch gesehen, eigentlich eine Nebenrolle.204 Inhaltlich jedoch bildet er die Klimax der Schilderung der Sinai-Ereignisse (Hebr 12,18–21): Die „Theophanie“ war so furchtbar, dass sogar Mose zitterte!
201 Vgl. die in frühjüdischer bzw. neutestamentlicher Zeit geläufige übertragene Bedeutung des Verbes im Sinne von „anordnen“, „befehlen“ (vgl. z. B. Judith 11,12; Mt 16,20; Mk 5,43; 8,15; Apg 15,24; vgl. auch Bauer, Wörterbuch, 379). In dem Sinn übersetzen die meisten; vgl. z. B. Braun, Hebräer, 433 („die strikte Verordnung“); Johnson, Hebrews, 326 („what was commanded“); Backhaus, Hebräerbrief, 434 („was aufgetragen wurde“). 202 So richtig Michel, Hebräer, 462; vgl. die Ausführungen zu to. fantazo,menon unter B.III.2.4.2. 203 Vgl. B. Weiss, Hebräer, 335. 204 ↑ B.III.1.
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Innerhalb des eingeschobenen Verses selbst ist eine weitere Parenthese auszumachen: ou[tw fobero.n h=n to. fantazo,menon.205 Auch wenn damit der Fokus von Hebr 12,21 auf den Worten von Mose liegt 206, der kleine Einschub ist weit mehr als nur eine Erklärung, warum der Mittler des Alten Bundes die Worte des Erschreckens spricht. Er fasst nämlich auch die zwei Kernaussagen von V.18–20 zusammen: Die Sinai-„Theophanie“ ist 1) „furchtbar“ und 2) keine Offenbarung Gottes im eigentlichen Sinn, sondern nur eine unpersönliche „Erscheinung“ – Gott bleibt verborgen.207 2.4.1 fobero,n – „furchtbar“ Das Adjektiv fobero,j – in der Bedeutung „Furcht einflössend“, „furchtbar“208 – kommt in der LXX meistens als Attribut Gottes vor.209 Mindestens in drei Stellen ist dabei explizit die Furchtbarkeit Gottes als Richter betont (vgl. PsLXX 75,8.9.15; 95,4.10; 98,3.8; vgl. Philo, Gig. 47; Somn. 2,266). In Bezug auf die Sinai-Ereignisse kommt das Wort in der LXX jedoch nicht vor (vgl. aber Josephus210), dafür aber das dazugehörende Verb fobei/sqai (vgl. ExLXX 20,18: fobhqe,ntej pa/j o` lao.j, DtnLXX 5,5: evfobh,qhte avpo. prosw,pou tou/ puro.j) und das Nomen fo,boj (ExLXX 20,20). An diese Texte lehnt sich der Verfasser des Hebräerbriefs wahrscheinlich an – allerdings bei gleichzeitiger Bezugnahme auf die Aussage von Mose e;kfobo,j eivmi. Eine wichtige Verbindung von fobero,j in Hebr 12,21 besteht jedoch auch zu Hebr 10,27–31, wo das Adjektiv gleich zweimal vorkommt (sonst fehlt es im ganzen Schreiben!). In 10,27 ist die Rede von dem „furchtbaren Erwarten des [göttlichen] Gerichts“ (fobera.. […] evkdoch. kri,sewj), das die Widersacher Gottes durch Feuer verzehrt, und in 10,31 davon, wie fobero,n es ist, in die Hände des richtenden (vgl. V.27– 30!) Gottes zu fallen. Dass der Verfasser in Hebr 12,21 mit der Verwendung desselben Adjektivs wohlüberlegt eine Reminiszenz an Hebr 10,27–31 kreiert,
205 Kai, gehört zu Mwu?sh/j ei=pen (vgl. Hebr 1,7: kai. … le,gei); so richtig erkannt z. B. von Delitzsch, Hebräer, 639; Braun, Hebräer, 433; Ellingworth, Hebrews, 675 und Backhaus, Hebräerbrief, 434. 206 Die Übersetzung „und so furchtbar war die Erscheinung, dass Mose sprach…“ (vgl. z. B. Michel, Hebräer, 460; Allen, Hebrews, 588) mildert dies – fälschlicherweise – ab. 207 Zu diesen Kernaussagen vgl. B.III.3. 208 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1719. 209 Vgl. z. B. Dtn 10,17; 1.Chron 16,25; Neh 1,5; 4,8; 9,32; PsLXX 46,3; 88,8; 110,9; Dan 9,4; 2.Makk 1,24. Manchmal beschreibt das Adjektiv auch die Werke Gottes (PsLXX 65,3.5; 105,22; 144,6) oder es ist sonst mit der Gegenwart Gottes verknüpft (Gen 28,17; Ri 13,6). In den wenigen Stellen, wo kein Zusammenhang mit Gott besteht, bezieht es sich z. B. auf eine Wüste (Dtn 1,19; 2,7; 8,15; vgl. Jes 21,1) oder auf einen irdischen König (EsthLXX 5,1; Dan 2,31). 210 In Ant. 3,80 werden die Blitze (avstrapai,) am Sinai als foberai, bezeichnet; in 3,76 wird der Berg Sinai (allerdings vor der Theophanie) als fobero,j beschrieben.
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ist wahrscheinlich.211 Aber daraus zu folgern, dass damit die Begegnung mit Gott am Sinai „under the aspect of a judgment scene“ präsentiert werde212, ist nicht zwingend – in Hebr 12,18–21 ist nirgends die Rede von einer tatsächlichen Bestrafung des Volkes. Die Sinai-Erscheinung erscheint auf dem Hintergrund von Hebr 10,27–31 vielmehr als eine „Offenbarung“ der Heiligkeit Gottes, die richtend und vernichtend auftritt, wenn (potentiell!) man ihr als Sünder213 zu nahe kommt (vgl. Hebr 12,20!).214 Die Beschreibung der Sinai-Erscheinung als „furchtbar“ betont also auch die Sündhaftigkeit der menschlichen Teilnehmer, die die Furcht vor der Heiligkeit Gottes natürlicherweise zur Folge hat. 2.4.2 to. fantazo,menon – „die Erscheinung“ Das Verb fanta,zesqai in der Bedeutung „sichtbar werden, erscheinen“215 ist ein neutestamentliches hapax legomenon und kommt in der LXX nur in Weish 6,16 vor, wo die personifizierte Weisheit ihren Verehrern auf allen Wegen freundlich „erscheint“, sowie in Sir 34,9, wo das Herz (im Kontext von Weissagung, Zeichendeutung und Träumen) „phantasiert“, d. h. nichts „Reales“ schaut (vgl. die Parallele zu ma,taia). In der ausserbiblisch-griechischen Literatur wird das Verb oft in Bezug auf übernatürliche Phänomene verwendet, wie z. B. Erscheinungen von Geistern bzw. Toten (Lucian., Vit. auct. 5)216, Auditionen (Apoll. Rhod., Argon. 4,1285), Visionen (Herod., Hist. 7,15) und auch Theophanien (Ps.-Aristot., Mir. 108; vgl. Plat., Rep. 380d). Manchmal beschreibt das Verb – ähnlich wie in Sir 34,9 – ein trügerisches (nicht der Wirklichkeit entsprechendes) Scheinen (Plat., Phileb. 51a; Philo, Jos. 141; Spec. 1,26; vgl. fa,ntasma als „Trugbild“ bei Philo, Fug. 129; Somn. 2,162). Auf den ersten Blick könnte man aus diesem Befund mit Grässer schliessen, dass der Verfasser des Hebräerbriefs durch diesen „im wahrsten Sinne des Wortes ,gespenstischen‘ Begriff“ die Sinai-Offenbarung dualistisch abwertend „ganz der inferioren irdischen Sphäre“ zuweist217: Die Sinai-„Theophanie“ ist dann nur ein trügerisches Abbild der wahrhaftigen himmlischen Theophanie! Da aber die Phänomene in Hebr 12,18f als sehr real geschildert werden (vgl. 211
Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 463 und Allen, Deuteronomy, 65. Vgl. Lane, Hebrews II, 463; so der Grundtenor auch bei Cockerill, Hebrews, 650. 213 Vgl. die Betonung der Sünde in Hebr 10,26–29 als Voraussetzung für das göttliche Gericht. 214 In Hebr 10,26–31 geht es um das eschatologische Gericht, das bei Sündern in jedem Fall durchgezogen wird. 215 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1701; R. Bultmann; D. Lührmann, Art. fai,nw ktl., ThWNT IX (1973), 7. Das Verb kommt von fai,nein her, was „erscheinen lassen, zeigen“ (transitiv) bzw. „scheinen, leuchten“ (intransitiv) bedeutet (vgl. Bultmann; Lührmann, fai,nw, 1). 216 So ist das Substantiv fa,ntasma die gängige Bezeichnung für „(Toten-)Gespenst“ (vgl. z. B. Plat., Phaed. 81d; Tim. 71a; vgl. auch Weish 17,14; Mt 14,26; Mk 6,49). 217 Vgl. Grässer, Hebräer III, 309. 212
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z. B. auch die theoretische Möglichkeit des Hinzutretens), ist es wahrscheinlicher, dass der Verfasser den Begriff wertneutral verwendet.218 Das substantivierte Partizip to. fantazo,menon in der Bedeutung „das, was in Erscheinung getreten ist“219 scheint einfach ein stark verhüllender Ausdruck dafür zu sein, dass Gott sich durch die äusseren Phänomene am Sinai „gezeigt“ hat.220 Die Offenbarung Gottes ist wie das Partizip selbst unpersönlich und nur ableitbar aus den äusseren sichtbaren Begleiterscheinungen. 2.4.3 Die Angst von Mose Das ou[twj fobero.n der Parenthese weist auf die Aussage von Mose hin: e;kfobo,j eivmi kai. e;ntromoj. Die grosse Frage bei diesen Worten ist, an welchen Text bzw. an welche Tradition der Verfasser sich anlehnt. In DtnLXX 9,19 sagt Mose exakt die Worte e;kfobo,j eivmi, allerdings im Kontext vom späteren Bundesbruch des Volkes durch die Verehrung des Goldenen Kalbs, als er den vernichtenden Zorn Gottes fürchtet. Diese Tatsache hat eine Reihe von Exegeten bewegt, die Quelle der mosaischen Worte in einer haggadischen Sondertradition (zu der in Hebr 12,18ff geschilderten Gesetzgebungs-„Theophanie“) zu suchen.221 Auch wenn im Babylonischen Talmud das Bekenntnis von Mose im Zusammenhang mit seiner Besteigung des Sinais zum Empfang der Tora erwähnt wird, dass er sich gefürchtet habe, die Engel könnten ihn mit Feuer verbrennen222, bleibt die Annahme einer Sondertradition doch spekulativ und scheint mir auf den zweiten Blick auch nicht nötig zu sein. Denn es gibt eine nachvollziehbare Erklärung, warum der Autor die Aussage von Mose in DtnLXX 9,19 mit der früheren Sinai-„Theophanie“ (Dtn 4,11ff u. a.) in Verbindung bringt.223
218 Vgl. Braun, Hebräer, 434; Ellingworth, Hebrews, 676. Offen bleiben muss die Frage, ob der Autor diesen Begriff anderen möglichen Ausdrücken aus rhetorischen Überlegungen vorgezogen hat (vgl. Moffatt, Hebrews, 216). Tatsache ist auf jeden Fall, dass er mit fobero,n alliteriert. 219 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 673; ähnlich Backhaus, Hebräerbrief, 434 („was da erschien“). 220 So richtig Michel, Hebräer, 462; gegen H. Ramantswana, „Mount Sinai and Mount Zion: Discontinuity and continuity in the book of Hebrews“, in: LuVe 47.1/2013, 3; er übersetzt to. fantazo,menon mit „the sight“, liest das Nomen u. a. auf dem Hintergrund von Ex 24,17 und spricht von einem „visio Dei motif“. 221 So z. B. Westcott, Hebrews, 412; Riggenbach, Hebräer, 414; Spicq, Hébreux II, 405; Michel, Hebräer, 462; Hughes, Hebrews, 543. 222 Vgl. mShab 88b. 223 Die Annahme von Hegermann, dass der Autor „die genannte Mose-Aussage entsprechend den Andeutungen der biblischen Erzählung über die Gefahr für Leib und Leben, der sich alle Gottnahenden aussetzen (vgl. Ex 24,11a; 33,22), [verallgemeinert]“ (vgl. Hegermann, Hebräer, 258; ähnlich auch Lane, Hebrews II, 464) vermag das „Problem“ des offensichtlichen zeitlichen Widerspruchs nicht zu lösen.
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Die Verbindung basiert kaum auf einem groben Irrtum des Verfassers224, sondern sehr wahrscheinlich auf folgendem Gedankengang: Die Angst von Mose vor dem Gericht Gottes über die Sünde des Volkes mit dem Goldenen Kalb begründet sich in den zuvor am Fusse des Sinai erfahrenen erschreckenden Phänomenen der „Theophanie“. 225 Interessant ist, dass gerade der Kontext von Dtn 9,19 mögliche Anhaltspunkte für eine solche Verbindung bietet. Im Revue-passieren-Lassen des Bundesbruches am Sinai (Dtn 9,8ff) wird mit dem Hinweis auf „die Worte, die Jahwe auf dem Berg mitten aus dem Feuer mit euch geredet hatte am Tag der Versammlung“ (9,10) nämlich offensichtlich auf Dtn 4,12 angespielt. Weiter entspricht die Aussage „der Berg brannte mit Feuer“ (9,15: to. o;roj evkai,eto puri,, Xab r[b rhh) exakt derjenigen von Dtn 4,11.226 Wenn man jetzt bedenkt, dass das Sinai-Feuer und die daraus hervorgehenden Worte beim Volk grosse Furcht auslösten (vgl. Dtn 5,23ff), dann liegt der Gedanke nicht fern, dass Mose nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb dieses am „Tag der Versammlung“ offenbarte verzehrende Feuer nun auch fürchten musste – zumal eines der Worte mitten aus dem Feuer das Gebot „Du sollst dir kein Götterbild machen!“ gewesen war (Dtn 5,8). Ausgehend von der Annahme, dass der Verfasser des Hebräerbriefs das Zitat aus Dtn 9,19 kontextbewusst gewählt hat, stellt sich die Frage, wie sehr bzw. wenig das Thema der Sünde betont sein will. Karrer schliesst aus der Tatsache, dass in Hebr 12,21 die Schuld des Volkes „übergangen“ wird, dass nicht der Schuldaufweis, sondern der Hinweis auf die Schwäche alles Irdischen vorrangig sei.227 Nach Allen, O‘Brien und Cockerill legt der Verfasser jedoch ein besonderes Gewicht auf Sünde des Volkes.228 Für die letztgenannte Deutung sprechen folgende Gründe: 1) Der mit dem Ereignis rund um das Goldene Kalb verwandte Gedanken des Bundesbruches ist im Hebr klar präsent (vgl. Hebr 8,9 mit Dtn 9,16f); 2) gemäss DtnLXX 9,19 fürchtete Mose explizit den Zorn Gottes (e;kfobo,j eivmi dia. th.n ovrgh.n), der unbestreitbar mit der Sünde des Volkes zusammenhing; 3) eine Nichterwähnung der Schuld des Volkes erklärt sich
224 Vgl. z. B. Moffatt, Hebrews, 216 und Montefiore, Hebrews, 229. Diese Annahme wird der im Gesamtschreiben offenbarten ausgezeichneten Schriftkenntnis des Autors nicht gerecht. 225 So z. B. schon Tholuck, Hebräer, 438: „Wahrscheinlich hat jedoch unser Vf. die Sache so angesehen, dass der Schrecken, welcher den Gesetzgeber da ergriff, mit dem tiefen Eindrucke zusammenhing, welchen ihm die Erscheinung auf dem Berge gemacht hatte“. Nach dieser Deutung lässt der Verfasser des Hebräerbriefs die zwei verschiedenen „Theophanien“ nicht zu einer verschmelzen (so z. B. Koester, Hebrews, 544; Ellingworth, Hebrews, 675); er sieht vielmehr die spätere Aussage von Mose in einer Abhängigkeit der ersten Theophanie und darum sich selbst als berechtigt, die Worte auch auf jene zu beziehen. 226 Eine weitere, allerdings weniger relevante Übereinstimmung zwischen Dtn 4 und Dtn 9 ist die Bezeichnung Gottes als pu/r katanali,skon (vgl. Dtn 4,24; 9,3; Hebr 12,29). 227 Vgl. Karrer, Hebräer II, 334. 228 Vgl. Allen, Deuteronomy, 65f; O’Brien, Hebrews, 481f; Cockerill, Hebrews, 650.
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durch die brevitas im ganzen Abschnitt (Hebr 12,18–21).229 Die Betonung der Sündhaftigkeit des Volkes entspricht zudem auch dem Gebrauch des Wortfelds rund um den Begriff fo,boj im Hebr. Das Adjektiv e;kfobo,j in der Bedeutung „erschrocken“230 bzw. „voll Schrecken“231 (vgl. 1.Makk 13,2 und Mk 9,6) kommt im Hebr nur in unserer Stelle vor. In Hebr 2,15 ist aber die Rede von der „Todesangst“ (fo,bw| qana,tou), die die Menschen das ganze Leben hindurch geknechtet habe. Gray sieht dort mit Recht die Angst von sündigen Menschen (vgl. 2,11.17) vor dem göttlichen Gericht angesprochen, insofern dieses ja nach der Weltanschauung vom Verfasser des Hebräerbriefs auf den Tod folgt (vgl. 9,26f).232 Im Kontext mit dem göttlichen Gericht über Sünde wird – wie bereits erörtert (↑ B.III.2.4.1) – auch das Adjektiv fobero,j verwendet (vgl. 10,27.31). Auch wenn – wie gesagt – (u. a.) aufgrund des Gebrauchs des oben dargelegten Wortfelds die Deutung der Aussage von Mose in Hebr 12,21 als Angst vor dem göttlichen Strafgericht über die Sünde einleuchtet, so stellt sich doch sogleich die Frage, wie diese Furcht von Mose genau zu verstehen ist. Nach dem Prätext (Dtn 9,19) fürchtet Mose in erster Linie die Strafe, die das Volk treffen könnte.233 Aber dadurch, dass der auctor ad Hebraeos diesen Zusammenhang ausklammert, lässt er Mose als jemand erscheinen, der sich um seiner selbst willen vor Gott bzw. seiner Erscheinung fürchtet.234
229
Der Schluss, dass dadurch die ganze Sinai-Offenbarung als Gerichtsereignis dargestellt werde (vgl. Cockerill, Hebrews, 650; zurückhaltender Allen, Deuteronomy, 65), ist allerdings keinesfalls zwingend. Es geht in Hebr 12,21 auch um die Furchtbarkeit des göttlichen Gerichts unter der Bedingung, dass der Mensch gesündigt hat; dies ist aber wie gesehen in Hebr 12,18–20 kein Thema. 230 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 498. 231 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 434. 232 Vgl. P. Gray, Godly Fear. The Epistle to the Hebrews and Greco-Roman Critiques of Superstition, SBL.AcBib 16, Atlanta: Society of Biblical Literature, 2003, 118. Auch der zweite Grund für die Angst, nämlich die mit dem Tod eng verbundene teuflische Macht (vgl. Hebr 2,14), ist mit dem ersten insofern verknüpft, dass sowohl die LXX als auch das Neue Testament den Teufel als Ankläger kennt (vgl. Gray, Fear, 118f). Die Interpretation von Grässer, dass die Todesfurcht in Hebr 2,15 den „Schrecken vor der absolut sinnzerstörenden, zunichtemachenden Macht“ meint (vgl. Grässer, Hebräer I, 148), scheint mir zu sehr vom neuzeitlichen Denken und Empfinden geprägt zu sein. Für die Interpretation von Gray spricht, dass die erlösende Antwort auf die Todesfurcht das Hohepriester- bzw. Fürsprechertum Christi ist (vgl. Hebr 2,17!). Unsicherer, aber nicht unmöglich scheint mir in diesem Zusammenhang die Deutung Grays von der in Hebr 5,7 indirekt beschriebenen Todesangst Jesu: Er trägt die Sünde der Welt und fürchtet sich darum vor dem Zorn Gottes (vgl. Gray, Fear, 120). 233 Vgl. W. Brueggemann, Deuteronomy, AOTC, Nashville, TN: Abingdon Press, 2001, 118. 234 Die Aussage vieler Exegeten (vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 463), dass die biblischen Texte anlässlich der Sinai-Theophanie von keinem sich fürchtenden Mose wissen würden,
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Es gibt zwei mögliche Erklärungen für diese Akzentverschiebung: 1) Der Verfasser sieht Mose als Fürsprecher und Mittler des Volkes, der um die Gefahr weiss, wenn er zwischen dem sündigen Israel und dem zornigen Gott steht235; 2) Mose erkennt nach dem Autor seine eigene naturbedingte Sündhaftigkeit, die im Moment des grossen göttlichen Zornes über das Volk auch für ihn selbst gefährlich werden könnte.236 Sehr wahrscheinlich spielen im Denken des Verfassers beide Punkte eine Rolle.237 Selbst wenn diese in Hebr 12,21 geschilderte Angst von Mose moralisch gesehen keine Schuld vor Gott ist (sie ist nach der Argumentation des Hebr normal menschlich; vgl. Hebr 2,15), so stellt sie doch – wie die möglicherweise indirekt angesprochene Sündhaftigkeit von Mose – eine eher negative Charakterisierung238 des im Schreiben sonst durchwegs positiv beschriebenen Mittlers des Alten Bundes dar.239 Denn die Ausflucht, die Furcht des Mose sei als angemessene Art, Gott zu begegnen, positiv zu verstehen240, vermag aus drei Gründen nicht zu überzeugen: 1) Das Wortfeld rund um fo,boj als eine Angst vor Gericht hat einen negativen Grundton (vgl. v. a. Hebr 2,15 und die Verbindung mit der negativen „Knechtschaft“) − für die positive Gottesfurcht wird ein anderes Wortfeld verwendet (vgl. euvla,beia in Hebr 5,7; 12,28 und de,oj in 12,28)241; 2) die Aussage von Mose ist strukturell eng mit der angstvollen Reaktion der Hörer in 12,19f verbunden (vgl. das verbindende fobero,n) und ist
sondern sogar von einem das Volk beschwichtigenden (vgl. Ex 20,20!), stimmt nur vordergründig. Denn gerade Ex 20,20 zeigt, dass Mose sich des zu fürchtenden Gottes bewusst scheint: 1) Das „Fürchtet euch nicht!“ gilt nur für jenen speziellen Zeitpunkt der Gotteserscheinung, insofern Gott damals nur gekommen sei, um zu „prüfen“ (peira,sai, twsn) – d. h. nicht um zu richten (!); 2) als Ziel der Erscheinung wird trotz einer ersten Beschwichtigung explizit die Furcht vor dem die Sünde bestrafenden Gott genannt („und damit die Furcht vor ihm euch vor Augen sei, damit ihr nicht sündigt“). 235 Ähnlich Gray, Fear, 208; vgl. Dtn 1,37; 3,26; 4,21 und den Zorn Jahwes über Mose wegen des Volkes. 236 Nach Hebr 2,15 und 10,27.31 hat Angst nur der, der auch Sünde hat. 237 Vgl. dazu die Thematik des sündhaften, und darum ungenügenden vermittelnden Hohepriesters in Hebr 5,2f und 7,27. 238 So richtig gesehen von Backhaus, Hebräerbrief, 441: „[Es] tritt an unserer Stelle wenig vom Bild des treuen Glaubenshelden hervor“. 239 Vgl. Hebr 3,5 (Mwu?sh/j me.n pisto.j evn o[lw| tw/| oi;kw| auvtou/ w`j qera,pwn) und 11,24−26 (Mose nimmt in der Wolke der Zeugen als Vorbild des Glaubens neben Abraham die wichtigste Stellung ein) 240 Vgl. z. B. Johnson, Hebrews, 330 („It is precisely such fear of God that recognizes the truth about reality and enables people of faith to resist in the human threats“) und Karrer, der von „heilende[r] Gottesfurcht“ und einer „trotz Beklemmung hilfreiche[n] Gottesfurcht Moses“ spricht (vgl. Karrer, Hebräer II, 333f). 241 Vgl. auch Philo, Her. 24, wo die indirekte Aussage von Mose dediw.j kai. tre,mwn positiv verstanden wird.
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als solche eingebettet in den grossen Kontrast zwischen „negativer“ (weil Gottesdistanz ausdrückender) Angst am Sinai und positiver parrhsi,a in Zion242; 3) der zu e;kfobo,j parallele Begriff e;ntromoj verdeutlicht die Schwäche des Mose sogar bildlich. Das Adjektiv e;ntromoj 243 in der Bedeutung von „zitternd“244 ist kaum ein haggadischer Zusatz245, sondern vielmehr eine rhetorisch bedingte Beifügung des Autors246: Die Furcht des Mose soll in anschaulicher und noch intensivierterer Form beschrieben sein. In der Tatsache, dass fo,boj in der LXX sehr häufig mit tro,moj ein Wortpaar ähnlich einem hendiadyoin bildet, mag der Verfasser seine Rechtfertigung für das Hinzufügen von e;ntromoj gefunden haben.247 Das vordergründige Ziel der Information bezüglich der grossen Furcht von Mose ist klar: Wenn schon Mose als Freund und Vertrauter Gottes (vgl. z. B. Ex 33,11) und dessen grundsätzlich treuer Diener (vgl. Num 12,7; Hebr 3,2.5) vor Furcht zitterte, wie fobero,n muss dann die Erscheinung gewesen sein!248 Hintergründig geht es dem Autor aber gewiss auch um das Nicht-Vollkommen-Sein der Mittlerschaft von Mose. Dass Mose als „Mittler“ im Fokus steht249, belegt 1) die parallele Schlussposition von Mose und Jesus (↑ B.II), wobei Letzterer explizit als „Mittler“ (mesi,thj) bezeichnet wird, sowie 2) der in 12,19 erwähnte indirekte Ruf vom Volk nach dem Vermitteln der Worte
242
Dazu mehr unter ↑ C.II.2.1.2.a. Die Lesart e;ktromoj (a; D*) ist sekundär und „soll offensichtlich den Gleichklang mit e;kfobo,j hervorheben“ (so richtig H.-F. Weiss, Hebräer, 673). 244 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 544. 245 Die Tatsache, dass Mose in Apg 7,36 im Zusammenhang mit der Dornbusch-Erscheinung als e;ntromoj geno,menoj beschrieben wird – eine im Prätext (Ex 3,6) fehlende Aussage –, verleitet manche Ausleger zur Annahme, der Autor habe sich an diese Exodus-Haggada angelehnt (vgl. Delitzsch, Hebräer, 640; Spicq, Hébreux II, 405; Attridge, Hebrews, 374; Koester, Hebrews, 543f). Selbst wenn diese Sondertradition dem Hebräerautor tatsächlich bekannt gewesen ist: Dass er zwei zeitlich so weit auseinander liegende Theophanien in einander verwebt, scheint mir eher unwahrscheinlich. 246 So richtig Moffatt, Hebrews, 216. 247 Vgl. z. B. Gen 9,7; Ex 15,16; Dtn 2,25; 11,25; Ps 2,11; 55,6; Jes 19,16; Judith 2,28; 15,2; 1.Makk 7,18; 4.Makk 4,10; vgl. auch die gängige Wendung bei Paulus meta. fo,bou kai. tro,mou (2.Kor 7,15; Eph 6,5; Phil 2,12). In 1.Makk 13,2 findet sich gar die Verbindung der beiden Adjektive e;ntromo,j […] kai. e;kfoboj in Bezug auf das Volk (lao,j). Das Zittern gehört nach apokalyptischen Texten zu Gottesbegegnungen (vgl. z. B. äthHen 14,24f; 60,2f; 4.Esr 8,20f; vgl. a. Daniel 10,11). 248 Vgl. z. B. Spicq, Hébreux II, 404. Der Gedankengang „Wenn sogar Mose sich fürchtete, wie vielmehr dann das Volk“ (vgl. z. B. Braun, Hebräer, 434; Grässer, Hebräer III, 309), ist m. E. höchstens zweitrangig. 249 Vgl. z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 441 („Mittler des ersten Bundes“). 243
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Gottes (vgl. auch das in 12,20 zitierte Gebot) und 3) der Fürbitte-Kontext des Zitats aus DtnLXX 9,19.250 Weil Mittlerschaft für den Verfasser des Hebräerbriefs untrennbar mit dem Konzept „Bund“ verknüpft ist (vgl. v. a. 8,6: krei,ttono,j evstin diaqh,khj mesi,thj, 9,15: diaqh,khj kainh/j mesi,thj, 12,24: diaqh,khj ne,aj mesi,th|), erscheint die Schwäche vom Mittler Mose auch als Schwäche des von ihm vermittelten Ersten Bundes.251 Denn: Wenn selbst der Bundesmittler vor Gottes erscheinender Heiligkeit in Angst und Schrecken gerät und in der Ferne stehen bleiben muss252, wieviel weniger kann dann das Volk vor Gott bestehen und ihm nahe sein, und wie unvollkommen war dann der Alte Bund (vgl. Hebr 8,6−13)! Wenn – wie oben vermutet – bei der angstvollen Aussage des Mose ein Zusammenhang zur Sündhaftigkeit des Volkes (bzw. seiner selbst) besteht, dann offenbart der Verfasser hier zudem die Unfähigkeit des Ersten Bundes, Sünde (vollständig) zu bereinigen. 253 Der mosaische Schreckensruf stellt auf jeden Fall die Klimax der ganzen Beschreibung der Sinai-„Offenbarung“ dar.254
3 Ertrag Der Verfasser des Hebräerbriefs schildert in 12,18–21 die „Theophanie“ am Sinai vor allem unter dem Doppelaspekt Furchtbarkeit (der Erscheinung) und Verborgenheit (Gottes). Die Furchtbarkeit einerseits ist in den Ausdrücken pu/r (vgl. DtnLXX 5,4), qu,ella (vgl. z. B. DtnLXX 5,22; PsLXX 54,9), h;coj sa,lpiggoj (vgl. ExLXX 19,16) und fwnh. r`hma,twn (vgl. DtnLXX 5,25b) implizit enthalten. Gar noch stärker, aber auch implizit wird sie in V.19b und dem angstvollen „Flehen“ (vgl. DtnLXX 5,24–27 bzw. 18,16) und in V.20 mit dem (aus Furcht) Das-Gebotnicht-ertragen-Können thematisiert. Explizit und geradezu die Klimax des ganzen Abschnitts bildend wird die Furchtbarkeit in V.21 mit der kategorisierenden Aussage ou[tw fobero.n h=n to. fantazo,menon und den Worten von Mose e;kfobo,j eivmi kai. e;ntromoj betont. 250 Zu Mose und seiner Mittlerfunktion im Frühjudentum und Neuen Testament vgl. z. B. J. Lierman, The New Testament Moses. Christian Perceptions of Moses and Israel in the Setting of Jewish Religion, WUNT II 173, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, 49f.124–174. 251 Ähnlich z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 442. 252 Dass die Angst von Mose eine Distanz zu Gott ausdrückt, hat Schierse richtig erkannt (vgl. Schierse, Verheissung, 178). 253 Ähnlich Allen, Deuteronomy, 66: „Hebrews demonstrates Sinai’s inherent inability to deal with sin in the face of divine judgment“. Ob damit indirekt auch das Amt des alttestamentlichen Hohepriesters problematisiert wird, ist fraglich; auf jeden Fall ist der vermittlungsunfähige Aaron (er war selber massgeblich am Bundesbruch mit dem Goldenen Kalb beteiligt) im Hebr präsent (5,4). 254 So z. B. auch O’Brien, Hebrews, 481.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Die Verborgenheit Gottes andererseits „erscheint“ im Begriff yhlafwme,noj [o;roj] als dem nur zu ertastenden Gottesberg, in der den Berg verhüllenden trias gno,foj, zo,foj und qu,ella, in den beiden das Reden Gottes stark anonymisierenden Ausdrücken fwnh. r`hma,twn („eine Stimme, ausgehend von Worten“) und to. diastello,menon („das Angeordnete“)255 sowie als Klimax bei to. fantazo,menon („das, was in Erscheinung getreten ist“!). Weil zudem Gott in Hebr 12,18–21 signifikanter Weise an keiner Stelle erwähnt wird, scheint der Begriff „Kratophanie“ (oder „Hierophanie“) insgesamt besser als Beschreibung des Sinai-Geschehens zu passen als „Theophanie“.256 Gott ist zwar nach dem Hebr am Sinai nicht „complètement absent“257 (vgl. z. B. fwnh. r`hma,twn mit evpi. gh/j […] to.n crhmati,zonta in 12,25), aber ausserordentlich stark verborgen. Die Geschehnisse am Sinai sind nicht wirklich eine „Offen-barung“ von Gott selbst.258 Darum wurde bisher „Theophanie“ immer in Anführungsstrichen verwendet. Inhaltlich eng verknüpft mit der Verborgenheit Gottes ist die Unzugänglichkeit Gottes – das drittwichtigste Charakteristikum der Sinai-„Theophanie“. Dass Gott für sein Volk unzugänglich ist, verdeutlicht vor allem der Begriff kekaume,noj [o;roj] puri, (der Gottesberg ist, da er gänzlich mit Feuer entbrannt ist, unnahbar) in V.18 und das unter dem Aspekt der Zeitlosigkeit zitierte Verbot, den Berg zu berühren, in V.20 sowie die durch Angst offenbarte Unvollkommenheit von Mose als Mittler zu Gott in V.21.259 Die Sinai-„Offenbarung“ wird vom Verfasser des Hebräerbriefs weiter als „Geschehen […] von schreckender, unerträglicher Heiligkeit“ charakterisiert.260 Die bedrohliche Heiligkeit Gottes, die mit der Unzugänglichkeit Gottes direkt verbunden ist, wird verdeutlicht durch das göttliche pu/r in V.18 (vgl. Ex 3,4–5; 19,12.18), die sa,lpigx als Heiligkeitssignal in V. 19 und insbesondere durch das einen Bezirk der Heiligkeit definierende Gebot der Tiersteinigung in V.20 (vgl. Ex 19,12f mit 19,23 [avfo,risai to. o;roj kai. a`gi,asai auvto,]!) mit seinem ihm zugrunde liegenden Schluss a minore ad maius, der die unvorstellbar grosse Heiligkeit Gottes betont (wenn schon ein unbewusst streunendes, 255
Vielleicht gehört auch h;coj sa,lpiggoj in diese Reihe (vgl. Ex 19,19). Den Kratophanie-Begriff verwendet auch Johnson, Hebrews, 330; vgl. auch Vanhoye, „Dieu“, 321. 257 Gegen Vanhoye, „Dieu“, 321. 258 Vielleicht soll auch der fehlende Artikel bei allen sieben Dativobjekten in V.18–19 in diesem Zusammenhang ein bewusst „gesetztes“ Zeichen der Unkonkretheit der Gotteserfahrung darstellen; denn auch wenn der Artikel in Hebr 12,22–24 ebenso fehlt, so werden die Objekte dort jeweils durch Attribute doch klar spezifiziert (vgl. z. B. Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w|). 259 Letztlich können aber sowohl alle den Berg verhüllenden als auch die lähmenden, Angst hervorrufenden Phänomene der „Theophanie“ als Barrieren zu Gott verstanden werden; vgl. z. B. Mitchell, Hebrews, 285: „The entire scene in V. 18-21 confirms that under the Sinai Covenant access to God was limited by design“. 260 Vgl. Hegermann, Hebräer, 256. 256
III. Analyse von Hebr 12,18–21
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sündloses Wildtier bei Berührung des Berges dem Tod geweiht ist, wieviel mehr dann ein bewusst handelnder, sündhafter Mensch). Die Heiligkeit Gottes erscheint in Hebr 12,18–21 darum so bedrohlich, weil der Mensch am Sinai zwischen den Zeilen als wesensmässig sündenbehaftet erscheint (vgl. z. B. die Untersuchung zur Deklarierung der Sinai-„Theophanie“ als fobero,n in V.21). Mit dieser absoluten Unnahbarkeit des heiligen Gottes am Sinai entspricht der Verfasser des Hebräerbriefs auch der Überzeugung von Philo (vgl. QE 2,45): „Der göttliche Ort ist so unzugänglich und unnahbar, nicht einmal die reinste Seele/Vernunft kann auf diese Höhe steigen“ (a;batoj kai. avprospe,lastoj ou[twj evstin qei/oj cw/roj, ouvde. th/j kaqarwta,thj dianoi,aj tosou/ton u[yoj prosanabh/nai duname,nhj). Die Verborgenheit und Unzugänglichkeit Gottes am Sinai rechtfertigt nun aber in keiner Weise das Urteil von Casey: „[T]he Sinai event was not […] a true encounter with God“.261 Gottes Gegenwart ist in den in Hebr 12,18f geschilderten Erscheinungen spürbar bzw. hörbar, aber Gott selbst bleibt nach dem Verfasser des Hebräerbriefs hinter den Erscheinungen verdeckt; der Zugang zu ihm ist (noch) nicht offen. 262
261
Casey, Eschatology, 320. So z. B. auch März, Hebräerbrief, 78f: „Der Zutritt zu Gott ist noch verwehrt! Zwar wird Gottes Nähe durch aussergewöhnliche Erscheinungen bezeichnet, er selbst aber, den Vf [sic!] bewusst unerwähnt lässt, bleibt hinter diesen in undurchdringlichem Dunkel verborgen.“ 262
Kapitel IV
Analyse von Hebr 12,22−24 1 Struktur Hebr 12,22–24 besteht wie Hebr 12,18–21 (bzw. 12,18–19a) grammatikalisch aus einem langen polysyndeton aus mehreren zu proselhlu,qate gehörenden Dativobjekten. Wie viele thematisch und formal zusammengehörende Glieder es genau sind, ist umstritten. Die grosse Mehrheit der Exegeten betont jedoch mit Recht die Bedeutung der markanten Konjunktion kai, für die Gliederung.1 Dass das kai, in Hebr 12,22–24 der strukturelle Marker ist, verdeutlicht auch ein Blick auf den parallelen Text in V.18–19, wo die Konjunktion klar das gliedernde Element der Dativobjekte ist. Infolgedessen scheint auf den ersten Blick eine Grundstruktur bestehend aus acht Gliedern naheliegend zu sein: 1) Siw.n o;rei, 2) po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w|, 3) muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei, 4) evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j, 5) krith/| qew/| pa,ntwn, 6) pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn, 7) diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/, 8) ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel.2
1 So z. B. Grässer, Hebräer III, 311 als Vertreter der Achtergliederung oder Hughes, Hebrews, 553 als Vertreter der Siebnergliederung – vgl. unten. Die gliedernde Bedeutung von kai, übersehen verschiedene Exegeten. Eisele z. B. erkennt offenbar sieben Glieder: 1. Zion; 2. Stadt Jerusalem und Myriaden von Engeln; 3. Erstgeborene; 4. Gott 5. Gerechte; 6. Jesus 7. Blut (vgl. Eisele, Reich, 398f; ähnlich schon Delitzsch, Hebr, 641; die Myriaden bilden für ihn aber mit den Erstgeborenen das dritte Glied); Heath sieht fünf Glieder: 1. V.22; 2. Erstgeborene; 3. Gott; 4. Gerechte; 5. V.24 (vgl. Heath, Structures, 258); Vanhoye spricht von neun Gliedern, bestehend aus allen Dativobjekten mit Ausnahme von panhgu,rei, was er als Apposition zu muria,sin avgge,lwn versteht (vgl. Vanhoye, Hebrews, 384.392). Strobels 5-Paar-Gliederung versucht zwar die Markanz von kai, zu beachten (1. Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj, 2. VIerousalh.m evpourani,w| kai. muria,sin avgge,lwn, 3. panhgu,rei kai. evkklhsi,a| prwtoto,kwn […], 4. krith/| qew/| pa,ntwn kai. pneu,masi dikai,wn […], 5. diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ kai. ai[mati r`antismou/ […], vgl. Strobel, Hebräer, 238–240), aber hinsichtlich des kai, beim Übergang vom dritten zum vierten bzw. vom vierten zum fünften Paar ist sie inkonsequent. 2 So z. B. Westcott, Hebrews, 412; Michel, Hebräer, 462f, Anm. 3; G. Theissen, Untersuchungen zum Hebräerbrief, StNT 2, Gütersloh: Mohn, 1969, 65; Attridge, Hebrews, 374; Grässer, Hebräer III, 311; Backhaus, Hebräerbrief, 443. Oft werden die acht Glieder dann
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Zunehmend wird in der Hebräerbriefforschung aber eine Siebnergliederung vertreten, wobei Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w als ein Glied gesehen wird.3 Dies geschieht m. E. mit Recht. Für Siebnergliederung spricht zunächst die auffallend grosse inhaltliche Verwandtschaft der drei Ausdrücke4, wie sie unter keinem der anderen aufeinanderfolgenden Glieder in Hebr 12,22–24 besteht5. Die Siebnergliederung bzw. die Zusammenfassung der ersten drei Dativobjekte zu einem Glied wird auch dadurch unterstützt, dass die drei Begriffe eine Ortsbeschreibung bilden, auf die eine fünf- oder sechsfache Beschreibung der unterschiedlichen Bewohner jenes „himmlischen“ Ortes folgt6. Schliesslich vermag die siebenfache Unterteilung von Hebr 12,22– 24 mit der Möglichkeit zur chiastisch-konzentrischen Strukturierung die spezielle Position von krith/| qew/| pa,ntwn zwischen zwei Personengruppen, die sich in ihren Gliedern grammatikalisch exakt entsprechen und einen Gleichklang bilden (↑ B.II), besser zu erklären als eine achtfache, paarweise Gliederung. Dass die sechs um Gott als dem Zentrum gelagerten Glieder einander als chiastische Paare thematisch entsprechen (↑ B.II), spricht jedoch nicht gegen andere inhaltliche Verflechtungen der einzelnen Glieder untereinander. So ist z. B. die von Westcott und Backhaus gesehene Verbindung von dem Richtergott und den (im Gericht) vollendeten Gerechten offensichtlich gegeben.7 Dies ist allerdings kein Argument gegen die siebenfache chiastisch-konzentrische bzw. für die paarweise Gliederung, weil die pneu,mata dikai,wn teteleiwme,nwn in einer ebenso starken Verbindung zu dem sogleich erwähnten Jesus stehen, zu vier inhaltlich zusammengehörenden Paaren zusammengefasst (vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 412: „scene“, „persons“, „judgment“, „gift of grace“; oder Backhaus, Hebräerbrief, 443: „himmlische[s] Jerusalem“, „Festgemeinde“, „Gott aller“, „Jesus“). 3 Vgl. z. B. Hughes, Hebrews, 545; Lane, Hebrews II, 465; O’Brien, Hebrews, 482, Anm. 201; Martin; Whitlark, „Syncrisis“, 437; Cockerill, Hebrews, 650, Anm. 39. 4 Ob die Begriffe synonym zu verstehen sind (z. B. Lane, Hebrews II, 465) oder eine Differenzierung beabsichtigt ist (z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 443: Berg plus Stadt = himmlisches Jerusalem) –, sei hier noch dahingestellt. 5 Die enge Verbindung der drei Ausdrücke sehen auch Grässer als Vertreter der Achtergliederung (vgl. Grässer, Hebräer III, 312: die Begriffe seien „synonym“) und andere Exegeten, die keine (explizite) Siebnergliederung vertreten (so z. B. Moffatt, Hebrews, 216: sie bildeten ein „Objekt“; Spicq, Hébreux II, 405: sie seien synonym; Braun, Hebräer, 435: sie liefen auf dasselbe hinaus; Ellingworth, Hebrews, 677: „synonymous“; Johnson, Hebrews, 331: „[T]he three images are, in a sense, one: they all evoke the political and cultic center of Israel“; Allen, Hebrews, 590: „[They] refer to the same place“). 6 Vgl. z. B. Soden, der von einem „geschlossenen Bild […] als Schilderung des Ortes“ spricht (vgl. Soden, Hebräerbrief, 101), oder Schunack, Hebräerbrief, 209: auf die „symbolische Bezeichnung des Ortes“ folge die „Fülle himmlischer Bewohner“ (ähnlich auch Cockerill, Hebrews, 653); anders Backhaus, der nicht Personengruppen, sondern „verschiedene Gesichtspunkte der Heilsbeschreibung“ angesprochen sieht (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 443). 7 Vgl. Westcott, Hebrews, 412.416; Backhaus, Hebräerbrief, 443.446.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
insofern jener sie (als Mittler des Neuen Bundes) vor Gott gerecht gemacht bzw. vollendet hat (vgl. Hebr 10,14). Diese Komplexität der Grundstruktur von Hebr 12,22–24 wird durch die mit Blick auf den Vergleich mit Hebr 12,18–21 erkennbaren Klimaxe Jesus als Mittler und die den Neuen Bund begründenden Worte seines redenden Blutes noch verstärkt (↑ B.III.1).
2 Einzelexegese 2.1 Vers 22 avlla. proselhlu,qate Siw.n o;rei kai. po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w|( kai. muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei „[…] sondern ihr seid hinzugetreten zu[m] Zion, dem Berg, und zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem, und zu den Myriaden von Engeln, einer Festversammlung […]“
Mit dem scharf kontrastierenden avlla,8 und dem anaphorischen proselhlu,qate leitet der Verfasser des Hebräerbriefs über zum Berg Zion als dem tatsächlichen Ort des Hinzugetreten-Seins bzw. „der für die Christen geltenden Heilswirklichkeit“9. Bei der Gegenüberstellung der beiden Gottesberge (Sinai und Zion) steht der Hebr in einer langen Traditionslinie (vgl. z. B. Joel 2,1ff; 4,16f10; Jub 1,26ff; 4,26; 8,19; ähnlich Gal 4,24–26). Sogleich stellt sich aber die Frage, was für eine Wirklichkeit das Hinzugetreten-Sein selbst hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss zuerst die Frage geklärt sein, ob Hebr 12,22–24 das himmlische Jerusalem als eine für die Adressaten jetzt gegenwärtige (einfach jenseitige) oder aber als eine futurisch-eschatologische Grösse beschreibt. Dies kann man wiederum erst versuchen zu verstehen, wenn die einzelnen Beschreibungen ausführlich untersucht sind. Diese Analyse folgt nun. 2.1.1 Siw.n o;rei – „…zu[m] Zion, dem Berg“ Das erste der drei die Ortsbeschreibung bildenden Dativobjekte ist der „Berg Zion“. Damit wird der bei den ersten beiden Gliedern in V.18 (yhlafwme,nw| [o;rei] kai. kekaume,nw| [o;rei] puri,) nur rhetorisch in den Hintergrund getretene
8 Ähnliche durch ouv bzw. avlla, gebildete Kontraste finden sich in Hebr 7,16; 9,24; 10,39 und 13,14. 9 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 673. 10 Vgl. J. Strazicich, Joel’s Use of Scripture and the Scripture’s Use of Joel. Appropriation and Resignification in Second Temple Judaism and Early Christianity, BIS 82, Leiden: Brill, 2007, 116.118.127: In Joel 2,1ff und 4,16f knüpfen die Zion-Beschreibungen offenbar an die Sinai-Theophanie an.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Berg Sinai explizit kontrastiert. Mit der untypischen11 Reihenfolge Siw.n o;rei („zu[m] Zion, dem Berg“) ist die Betonung allerdings bewusst auf (den) „Zion“ gelegt (vgl. auch PsLXX 2,6: evpi. Siwn o;roj to. a[gion auvtou/). a. „Zion“ im Alten Testament Im Alten Testament ist !wyc zuerst der Ortsname der jebusitischen hdwcm (2.Sam 5,7) bzw. der dwd ry[ (ebd.; 1.Kön 8,1), die sich auf einem Hügel im Südosten des späteren Stadtgebietes von Jerusalem befand. Bald aber wird „Zion“ bzw. „Berg Zion“12 die theologisch dichte Bezeichnung für (ganz) Jerusalem als der Stadt Jahwes mit dessen Tempel. So wird „(Berg) Zion“ zahlreiche Male parallel zu „Jerusalem“13 und oft auch im Hinblick auf den Wohnort Gottes (z. B. Ps 9,12; 74,2; 132,13; Jes 8,12; Joel 4,21) verwendet, wobei in einigen Stellen offensichtlich an den Tempelberg (Ps 2,6; 76,3; Jes 18,7; Joel 4,17; Mi 3,12–4,2) oder vielleicht gar an den Tempel selbst (Ps 20,3; Jer 31,6) gedacht ist.14 Für Hebr 12,22–24 von besonderer Bedeutung ist auch die vor allem in gewissen Psalmen und Prophetenbüchern geweckte Zion-Hoffnung auf eine (eschatologische) Wiederherstellung Zions in Herrlichkeit (vgl. z. B. Jes 52,7–10; 60,14–17; Jer 31,4–10; Ps 102,17–23), wobei Jahwe als König in Zion über die ganze Welt regiert (vgl. z. B. Ps 99,2; 102,23; Sach 2,14ff; 9,9f) und sie richtet (z. B. Ps 97,8–9; Jes 2,2–4; 24,21–23; Mi 4,1–3). Dabei ist insbesondere auch die Tatsache beachtenswert, dass die Herrlichkeit Zions nach gewissen Stellen „alle Kategorien der Erfahrung transzendieren und Züge des Paradieses annehmen“15 wird (vgl. z. B. Jes 25,6–816: kein Tod wird mehr sein; 51,3: „wie Eden“; Mi 4,3: kein Krieg wird mehr sein). b. „Zion“ in der frühjüdischen Literatur und im Neuen Testament Die Apokryphen bzw. Pseudepigraphen knüpfen nahtlos an das Alte Testament an. Auch dort wird Zion als Parallelbegriff zu Jerusalem verwendet (so z. B. Sir 24,10f; PsSal 11,1; 4.Esr 10,20; syrBar 10,7; vgl. auch Sir 48,18.24) und 11
In der LXX steht o;roj immer vor Siw,n (vgl. z. B. 2.Kön 19,31; Ps 47,3.12; Jes 8,18; Joel 3,5; Mi 4,7; vgl. auch 1.Makk 4,13; u. ö.); Ausnahme ist Ps 2,6, wo o;roj to. a[gion auvtou/ aber als Apposition auf Siw,n folgt. 12 Der Begriff !wyc-rh kommt im Alten Testament rund 20-mal vor; vgl. auch den festen Begriff !wyc-tb als Personifikation der Stadt Jerusalem (vgl. z. B. Ps 9,15; Jes 1,8; Klgl 1,6). 13 Stellen mit „Berg Zion“ sind 2.Kön 19,31 und Jes 10,12; Stellen mit „Zion“ sind z. B. 2.Kön 19,21; Ps 51,20; 102,22; 147,12; Jes 2,3; 4,3; 31,9 u. ö.; Jer 51,35; Am 1,2; Joel 4,16; Zeph 3,14; Sach 1,17; 9,9. 14 Vgl. zum Ganzen auch F. Stolz, Art. !wyc, THAT II (1975/1995), 543–551, E. Otto, Art. !wyc, ThWAT VI (1989), 994–1028 und auch J. D. Levenson, Sinai and Zion. An Entry into the Jewish Bible, Minneapolis, MN: Winston, 1985, 89–184. 15 Vgl. Stolz, !wyc, 550. 16 Mit dem „Berg“ ist offenbar Zion gemeint, vgl. Jes 24,23.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
teilweise – meistens mit dem Zusatz „Berg Zion“ – mit dem Tempel(berg) identifiziert17. Neu ist allerdings das Motiv einer himmlischen Zion-Stadt18, wie sie in der Esra-Apokalypse beschrieben wird 19. Sie offenbart sich am Ende der Zeit auf dem irdischen Berg Zion (4.Esr 13,35f).20 Nach dem Buch der Jubiläen wird Gott sichtbar erscheinen und König auf dem irdischen Berg Zion sein (1,28), wobei der Berg – das Zentrum des Nabels der Welt (8,19) – geheiligt werden wird in einer neuen Schöpfung (4,26), und dies offenbar durch die Neubildung des Tempels (1,17.29).21 Weiter wird der Berg Zion in syrBar 40,1–3 und 4.Esr 13,35–37 als Herrscher- und Gerichtsort des kommenden Messias geschildert.22 Diese Vielfalt in der Bedeutung von Zion findet sich auch in den Schriften von Qumran. Zion ist vor allem Parallelbegriff für Jerusalem als der Wohnstadt Gottes (vgl. z. B. 4Q380 1 I,2–7) und umschliesst als solcher auch den Tempel
17
Vgl. z. B. 1.Esr 8,78 (doxa,sai to. i`ero.n tou/ kuri,ou h`mw/n kai. evgei/rai th.n e;rhmon Siwn); 1.Makk 4,37f (kai. avne,bhsan eivj o;roj Siwn kai. ei=don to. a`gi,asma hvrhmwme,non); 5,54 (kai. avne,bhsan eivj o;roj Siwn evn euvfrosu,nh| kai. cara/| kai. prosh,gagon o`lokautw,mata); 7,33; ohne den Zusatz vgl. z. B. Sir 24,10 (evn skhnh/| a`gi,a| evnw,pion auvtou/ evleitou,rghsa kai. ou[twj evn Siwn evsthri,cqhn); 36,12f. 18 Gegen Son, der allzu schnell ein eschatologisches Zion in Texten wie z. B. Jes 2,2–4 mit einem himmlischen gleichsetzt (vgl. Son, Zion, 50). 19 In 4.Esr 9–10 ist die Rede von der Frau Zion, die um ihren Sohn trauert; das plötzlich veränderte Erscheinen der Frau als herrliche Gestalt (10,25) und als gewaltig erbaute Stadt (10,27.44), die in 10,54 als die sich offenbarende Stadt des Höchsten bezeichnet wird, spricht sehr dafür, die Frau mit dem himmlischen Zion zu identifizieren, das um das irdische Zion weint (so auch K. M. Hogan, Theologies in Conflict in 4 Ezra. Wisdom Debate and Apocalyptic Solution, SJSJ 130, Leiden: Brill, 2008, 174f). Sehr fraglich ist die These von Son, dass die Bezeichnung der Proselytin Asenath als „Stadt der Zuflucht“ in JosAs 15,7 – wahrscheinlich eine Anspielung auf die Zufluchtsstadt Jerusalem in JesLXX 54,15 (prosh,lutoi proseleu,sontai, soi diV evmou/ kai. evpi. se. katafeu,xontai) – in einem Zusammenhang zur Vorstellung eines himmlischen Zions steht (vgl. Son, Zion, 62). Denn 1) gibt JosAs 18,7–11 mit seiner Beschreibung der durchaus normalen Pracht einer königlichen Braut keinen Anlass, von einer Transformation „into a heavenly beauty“ auszugehen (ebd.), und 2) ist Asenath nicht Zion/Jerusalem (vgl. M. A. Grimm, Lebensraum in Gottes Stadt. Jerusalem als Symbolsystem der Eschatologie, JThF 11, Münster: Aschendorff, 2007, 248). 20 So auch J. A. Moo, Creation, Nature and Hope in 4 Ezra, FRLANT 237, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2011, 54f.129. 21 Vgl. J. M. Scott, On Earth as in Heaven. The Restoration of Sacred Time and Sacred Space in the Book of Jubilees, SJSJ 91, Leiden: Brill, 2005, 59f. 22 4.Esr 13,35–37 lehnt sich dabei ganz offensichtlich an PsLXX 2,6f an (vgl. J. J. Collins, The Scepter and the Star. Messianism in Light of the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2. Aufl., 2010, 208). Jub 1,28 (vgl. 4Q216 1 IV,9f) kennt den Berg Zion als den Ort, wo Gott auf ewig König sein wird.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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(vgl. z. B. 4Q504 1−2 V,1223).24 Die eschatologische Zion-Hoffnung25 der Qumran-Schriften besteht in der herrlichen Rettung Zions (vgl. 11Q5 XXII,3f), in der Unterwerfung der Unterdrücker Zions sowie dem hinzugebrachten Reichtum der Nationen (vgl. 1QM XII,14f bzw. XIX,6f; 11Q5 XXII,10.13) und in der Reinigung von allem Bösen (vgl. 4Q177 IV,15f; 11Q5 XXII,7). Dabei ist diese Hoffnung eng mit dem Erscheinen des Messias verknüpft (4Q174[Flor] 1−3 I,11f26). Im Neuen Testament kommt der Begriff „Zion“ ausser in Hebr 12,22 lediglich noch sechsmal vor, wobei fünfmal ein alttestamentliches Zitat zugrunde liegt. In Mt 21,5 bzw. Joh 12,15 (= Sach 9,9) und Röm 9,33 bzw. 1.Petr 2,6 (= Jes 28,16) wird Zion auf das Jerusalem der Zeit Jesu hingedeutet. Die Frage, was für ein Zion Paulus in Röm 11,26 bei seinem Aufgreifen von JesLXX 59,20f meint – ein irdisches oder ein himmlisches Zion –, ist umstritten.27 Dies gilt auch für Offb 14,1, wo die Rede ist von dem Lamm und den 144’000, die auf dem o;roj Siw,n stehen.28 Am wahrscheinlichsten scheint es sich hier um den 23 An dieser Stelle wird Zion beschrieben als „deine [sc. Gottes] heilige Stadt und dein wunderbares Haus“ (vgl. auch die Übersetzung von F. García Martínez, The Dead Sea Scrolls Translated. The Qumran Texts in English, Leiden/Grand Rapids: Brill/Eerdmans, 2. Aufl., 1996, 415). 24 Aussergewöhnlich ist, wenn die Lesart stimmt (so z. B. ebd., 140), die Deutung von „Zion“ als „Gemeinschaft aller Söhne der Gerechtigkeit“ in 11Q13 [11QMelch] II,23–24. 25 Vgl. 11Q5 XXII,2: „[G]ross ist deine Hoffnung, Zion“; XXII,8: „[D]eine Hoffnung stirbt nicht, Zion“ (vgl. auch García Martínez, Scrolls, 307). 26 Der dywd xmc wird zusammen mit dem hrwt vrwd in Zion regieren (vgl. Brooke, Exegesis in Qumran, 92.130). 27 In Röm 11,26 zitiert Paulus Jes 59,20f mit einer markanten inhaltlichen Differenz: Er schreibt h[xei evk Siw.n o` r`uo,menoj, wohingegen in JesLXX 59,20 h[xei e[neken Siwn o` r`uo,menoj steht (vgl. MT: !wycl). Erklärungen für die Abweichung gibt es viele: 1. sprachliche Anlehnung an andere alttestamentliche Texte (vgl. z. B. PsLXX 13,7: ti,j dw,sei evk Siwn to. swth,rion tou/ Israhl); 2. Betonung der jüdischen Herkunft des Messias; 3. Parallelisierung des Wirkens des letzten Missionars (sc. Christus) und demjenigen der gegenwärtigen Missionare mit ihrem Ausgangspunkt Jerusalem (vgl. Röm 15,19); 4. alternative LXX-Vorlage; 5. Christus erscheint rettend vom himmlischen Zion her; 6. indirekte Bezugnahme auf Völkerwallfahrt, wie sie z. B. in Jes 2,3 beschrieben ist (evk ga.r Siwn evxeleu,setai no,moj); zu den jeweiligen Vertretern in der Forschung vgl. D. J. Moo, The Epistle to the Romans, NICNT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1996, 727f (er favorisiert 5.) und H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9−11, FRLANT 136, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1984, 115f (er bevorzugt 6.; ähnlich F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998, 70–73.200). 28 Ein irdisch-eschatologisches Zion wird vertreten von z. B. D. E. Aune, Revelation 616, WBC 52B, Nashville, TN: Thomas Nelson, 1998, 803; A. Satake, Die Offenbarung des Johannes, KEK 16, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1. Aufl., 2008, 309; B. K. Blount, Revelation. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2009, 265f. Für ein himmlisches Zion argumentieren z. B. R. H. Mounce, The Book of Revelation, NICNT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2. Aufl., 1998, 265 und P. Lee, The New Jerusalem
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irdischen Gottesberg am Ende der Zeit zu handeln, der in einer Vorschau eingeblendet wird.29 Auf jeden Fall ist Zion aber in Offb 14,1 (durch die „selige“ Gemeinschaft des Christus mit den Seinen) und in Röm 11,26f (aufgrund der Reinigung von den Sünden) ein intensives Bild für das eschatologische Heil Gottes. c. Die Bedeutung vom „Berg Zion“ in Hebr 12,22 Mit der Erwähnung Zions in Hebr 12,22 greift der Verfasser offensichtlich die im Alten Testament und im Frühen bzw. christlichen Judentum stark vertretene endzeitliche Zion-Hoffnung auf, die das Vollkommen-gemacht-Werden der Gläubigen (V.23c), die frohe Gemeinschaft mit Gott bzw. dem Messias (V.22: panhgu,rei, V.23: qew/|, V.24: VIhsou/) und die Königsherrschaft Gottes (V.28) umfasst. Weiter knüpft er offenbar auch an die relativ häufige alttestamentliche und frühjüdische Beschreibung Zions als Ort eines eschatologischen göttlichen Gerichts an (V.23: krith/|). Die Frage, ob der Autor an einen himmlischen30 oder „irdisch“-eschatologischen Berg Zion denkt, muss vorerst aber noch offengelassen werden. 2.1.2 po,lei qeou/ zw/ntoj – „…zur Stadt des lebendigen Gottes“ Der Zielort der Gläubigen wird nun nicht nur als Berg, sondern auch als Stadt beschrieben. a. Die Bedeutung der „Stadt Gottes“ Mit der po,lei qeou/ zw/ntoj, der „Stadt des lebendigen Gottes“, knüpft der Verfasser an einen bedeutungsvollen alttestamentlichen Begriff an. Insgesamt sechsmal31 ist im Alten Testament die Rede von der „Stadt (unseres) Gottes“ (vgl. Ps 46,5; 48,2.9; 87,3)32 bzw. der „Stadt Jahwes“ (Ps 48,9; 101,8; Jes 60,14: hwhy ry[; po,lij kuri,ou). Dabei steht offenbar stets der Aspekt der Stadt Jerusalem als Wohnstätte Gottes im Vordergrund.33 in the Book of Revelation. A Study of Revelation 21-22 in the Light of its Background in Jewish Tradition, WUNT II 129, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, 259. Einen komplexen Mittelweg geht J. L. Resseguie, The Revelation of John. A Narrative Commentary, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2009, 194. 29 Vgl. die überzeugenden Argumente bei Satake, Offenbarung, 309. 30 So die grosse Mehrheit; vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 413; Robinson, Hebrews, 189; Strobel, Hebräer, 239; H.-F. Weiss, Hebräer, 676; Ellingworth, Hebrews, 676; Grässer, Hebräer III, 312; Gordon, Hebrews, 179; Cockerill, Hebrews, 653; vgl. auch B.III.2.1.1.a. 31 Dazu kommt der Plural „die Städte unseres Gottes“ in 2.Sam 10,12 bzw. 1.Chron 19,13. 32 Die exakten Lesarten sind ~yhla-ry[ bzw. po,lij tou/ qeou/ in Ps 46,5, wnyhla ry[ bzw. po,lij tou/ qeou/ h`mw/n in Ps 48,2.9 und ~yhlah ry[ bzw. po,lij tou/ qeou in Ps 87,3. 33 So explizit in Ps 46,5, wonach die Stadt Gottes „des Höchsten heilige Wohnung“ ist (vgl. F.-L. Hossfeld; E. Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1−50, NEB.AT, Würzburg: Echter,
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Im Neuen Testament kommt der Ausdruck „Stadt Gottes“ – abgesehen von Hebr 12,22 – nur noch in Offb 3,12 vor (to. o;noma th/j po,lewj tou/ qeou/ mou). Auch dort beschreibt die Wendung zunächst die Stadt als Wohnort Gottes. Denn mit der parallelen Wendung th/j kainh/j VIerousalh,m wird auf Offb 21,1– 22,5 verwiesen, wonach Gott selbst bei den Menschen in der Stadt sein (21,4; 22,3) bzw. wohnen (21,4) wird. Darüber hinaus ist im Begriff po,lij tou/ qeou/ mou auch die göttliche Herkunft der Stadt (vgl. 3,12: katabai,nousa evk tou/ ouvranou/ avpo. tou/ qeou/ mou, vgl. 21,2.10) bzw. ihr Von-Gott-bereitet-Sein (vgl. 21,2: h`toimasme,nhn) eingeschlossen.34 In Hebr 12,22 verweist der Ausdruck po,lij qeou/ offenbar in gleicher Weise sowohl auf den besonderen Charakter der Stadt als Wohnstätte Gottes35 (vgl. V.23: qew/|) als auch auf die Tatsache, dass sie nach 11,10.1636 Gottes Werk ist (po,lin h-j tecni,thj kai. dhmiourgo.j o` qeo,j […] h`toi,masen ga.r auvtoi/j po,lin) bzw. in Gottes himmlischer Welt ihren Ursprung hat (vgl. das folgende, parallele VIerousalh.m evpourani,w|). Gleichzeitig ist bei der Stadt Gottes gewiss auch der Wohnraum für das Volk Gottes betont, das mit Gott Gemeinschaft hat37 (vgl. 11,16: h`toi,masen ga.r auvtoi/j po,lin, und 12,23: evkklhsi,a| prwtoto,kwn und pneu,masi dikai,wn, vgl. auch 8,11: poli,thj). Dass nach dem Verfasser des Hebräerbriefs die Stadt Gottes als Zielort der Gläubigen beider Bündnisse für die Adressaten im Himmel gegenwärtig ist, ist angesichts vom Aorist h`toi,masen […] po,lin unbestreitbar.38 Die wichtige Frage ist aber, wo man die Stadt, wie sie in Hebr 12,22–24 beschrieben ist, zu lokalisieren hat: in der himmlischen Gegenwart, in einer himmlischen Zukunft oder gar in einer „irdischen“ Zukunft? Die Untersuchung der dritten Ortsbeschreibung wird die nötige Klärung bringen. Zuvor ist jedoch noch die Beschreibung der Stadt als qeou/ zw/ntoj von besonderem Interesse.
1993, 286; !wyl[ ynkXm Xdq); implizit verdeutlicht dies z. B. Ps 48,2f.9f, wo die göttliche Stadt mit dem Tempelberg (V.3) oder gar mit dem Tempel selbst (V.10) verknüpft wird (vgl. Jes 60,13f); Norin bringt die „Stadt Gottes“ darum mit Recht mit der häufigen Wendung „die Stätte, die Jahwe (als Wohnort) erwählt“ (vgl. z. B. Neh 1,9) in Verbindung (vgl. S. Norin, „Die Stätte, die der Herr erwählt“, in: M. Hengel; S. Mittmann, et al. (Hg.), La Cité de Dieu. Die Stadt Gottes, WUNT 129, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 99–118). 34 So z. B. Resseguie, Revelation, 99f. 35 Vgl. z. B. auch Cockerill, Hebrews, 651 („the place of God’s presence“). 36 Eine Identifizierung der „Stadt des lebendigen Gottes“ mit der in Hebr 11,10.16 verheissenen po,lij liegt auf der Hand (vgl. z. B. auch Hegermann, Hebräer, 259; Koester, Hebrews, 544; Karrer, Hebräer II, 334). 37 Ähnlich z. B. auch O’Brien, Hebrews, 483: „The notion of Mount Zion as the city of the living God […] evokes the idea of God’s presence with his people“. 38 So richtig Rose, Wolke, 220.
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b. Die Bedeutung des „lebendigen Gottes“ In der LXX wird der Begriff qeo.j (o``) zw/n als Übersetzung von ~yyx ~yhla (Dtn 5,26 [vgl. 4,33]; 1.Sam 17,36), yx ~yhla (2.Kön 19,4.16; Jes 37,4.17) und yx-la (Jos 3,10; Ps 41,3; 83,3; Hos 2,1) gebraucht. In DanTh 6,21 gibt er ayx ahla wieder. In Übereinstimmung mit dem hebräischen bzw. aramäischen Äquivalent beschreibt die griechische Wendung Gott vor allem in Bezug auf sein alleiniges Gott-Sein im Kontrast zu den falschen bzw. toten Göttern (vgl. z. B. 1.Sam 17,3639; 2.Kön 19,4.1640; Hos 2,141) sowie seine Wirkmächtigkeit (vgl. z. B. Jos 3,1042; Dan 6,21.2743).44 In DanLXX 5,23 steht der Begriff für Gott als Schöpfer, der Leben schafft bzw. erhält (tw/| qew/| tw/| zw/nti ouvk euvlogh,sate kai. to. pneu/ma, sou evn th/| ceiri. auvtou/). In frühjüdischen Texten bezeichnet qeo.j (o``) zw/n vor allem den wahren Gott im Gegensatz zu den heidnischen Götzen (vgl. z. B. Jub 21,3f; JosAs 8,5; Philo, Decal. 66f; ähnlich z. B. auch Sib 3,763: feu,gete latrei,aj avno,mouj, tw/| zw/nti la,treue) sowie Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt (vgl. z. B. Jub 21,3f; grHen 5,1) bzw. als Lebensspender (vgl. z. B. Philo, Decal. 67: to. gar ka,lliston e;reisma th/j yuch/j evxe,koyan, th.n peri. tou/ zw/ntoj avei qeou/ proskh,sousan u``po,lhysin).45 Im Neuen Testament kommt qeo.j (o``) zw/n abgesehen vom Hebr zehnmal vor (Mt 16,16; 26,63; Apg 14,15; Röm 9,26 [= HosLXX 2,1]; 2.Kor 3,3; 6,16; 1.Thess 1,9; 1.Tim 3,15; 4,10; Offb 7,2). In Mt 16,16 z. B. scheint die Wendung auf „Gottes Lebensfülle“ zu zielen, die man durch den Sohn erfahren
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Vgl. D. T. Tsumura, The First Book of Samuel, NICOT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2007, 455. 40 Vgl. V.18: e;dwkan tou.j qeou.j auvtw/n eivj to. pu/r o[ti ouv qeoi, eivsin avllV h' e;rga ceirw/n avnqrw,pwn, sowie V.19: kai. nu/n ku,rie o` qeo.j h`mw/n sw/son h`ma/j evk ceiro.j auvtou/ kai. gnw,sontai pa/sai ai` basilei/ai th/j gh/j o[ti su. ku,rioj o` qeo.j mo,noj. 41 Vgl. A. A. Macintosh, A Critical and Exegetical Commentary on Hosea, ICC, Edinburgh: T&T Clark, 1997, 36. 42 Vgl. R. D. Nelson, Joshua. A Commentary, OTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 1997, 61 : „Here the living God is the One who will be alive and active in the coming events of the conquest“. 43 Die Aussage von Darius, dass der „Gott Daniels“ der „lebendige Gott“ ist (V.27), steht im Zusammenhang mit dessen wunderbarer Bewahrung in der Löwengrube (V.21ff). 44 Zu einer umfassenden Untersuchung zu der Wendung vgl. z. B. S. Kreuzer, Der lebendige Gott. Bedeutung Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung, BWANT 116, Stuttgart: Kohlhammer, 1983. 45 Vgl. dazu C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13f; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes, AGJU 38, Leiden: Brill, 1996, 63–65; M. J. Goodwin, Paul, Apostle of the Living God. Kerygma and Conversion in 2 Corinthians, Harrisburg, PA: Trinity, 2001, 65–85.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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kann.46 Auch in 2.Kor 3,3 meint der „lebendige Gott“ offenbar primär Gott als Schöpfer des Lebens (vgl. evggegramme,nh […] pneu,mati qeou/ zw/ntoj mit evn plaxi.n kardi,aij sarki,naij, vgl. auch 3,6: to. de. pneu/ma zw|opoiei/).47 Nach 1.Tim 4,10 ist der qeo.j zw/n der Grund der Hoffnung, weil er als solcher allein das gegenwärtige und kommende Leben (vgl. 4,8: evpaggeli,an […] zwh/j th/j nu/n kai. th/j mellou,shj) schenken kann48 und der „Retter aller Menschen“ ist (vgl. 4,10: o[j evstin swth.r pa,ntwn avnqrw,pwn). In Apg 14,15 steht qeo.j zw/n sowohl für den Schöpfer aller Dinge (o]j evpoi,hsen to.n ouvrano.n kai. th.n gh/n kai. th.n qa,lassan kai. pa,nta ta. evn auvtoi/j) als auch für den einzig wahren Gott im Gegensatz zu den „nichtigen“ Götzen (avpo. tou,twn tw/n matai,wn evpistre,fein evpi. qeo.n zw/nta).49 Der letztgenannte Aspekt ist besonders auch in 1.Thess 1,9 betont (pw/j evpestre,yate pro.j to.n qeo.n avpo. tw/n eivdw,lwn douleu,ein qew/| zw/nti kai. avlhqinw/|).50 Im Hebräerbrief kommt qeo.j zw/n abgesehen von 12,22 noch an drei Stellen vor. In 3,12 warnt der Verfasser vor dem Abfallen vom lebendigen Gott (avposth/nai avpo. qeou/ zw/ntoj). In 9,14 ist die Rede von der durch Jesus bewirkten Reinigung des Gewissen von toten Werken (avpo. nekrw/n e;rgwn), die dazu führt bzw. führen soll, dass die Adressaten dem lebendigen Gott dienen (eivj to. latreu,ein qew/| zw/nti). In 10,31 schliesst der auctor ad Hebraeos eine längere Gerichtsdrohung (10,26–30) mit den dramatischen Worten ab: „Furchterregend ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“51 (fobero.n to. evmpesei/n eivj cei/raj qeou/ zw/ntoj). Im Hinblick auf den Gebrauch in der LXX, im Frühjudentum und im Neuen Testament ist es durchaus wahrscheinlich, dass das Prädikat qeo.j zw/n – „der lebendige Gott“ 52 – in allen vier Stellen im Hebr Gott als den einzig existierenden und einzig wahren Gott beschreiben möchte. Allerdings ist der Begriff
46 Vgl. P. Fiedler, Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart: Kohlhammer, 2006, 287; so z. B. auch W. D. Davies; D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew. Matthew 8-18: T&T Clark, 2004, 621. 47 Vgl. F. Lang, Die Briefe an die Korinther, NTD 7, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2. Aufl., 1994, 269: „[S]ie [sc. die Gemeinde] wurde ins Leben gerufen durch den Geist des lebendigen Gottes (vgl. 5. Mose 9,10), der Glauben und Leben schenkt (Röm 8,10)“; ähnlich z. B. auch M. J. Harris, The Second Epistle to the Corinthians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2005, 264: „[T]he Spirit of God is ever-living, having an inexhaustible supply of creative energy“. 48 Vgl. z. B. R. F. Collins, I & II Timothy and Titus. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2002, 127. 49 Vgl. z. B. Breytenbach, Paulus, 65f. 50 Vgl. z. B. G. L. Green, The Letters to the Thessalonians, PNTC, Leicester: Apollos, 2002, 106. 51 Zur Übersetzung vgl. Karrer, Hebräer II, 209. 52 Auch wenn die Wendung im ganzen Hebr artikellos verwendet wird: Gemeint ist nicht „ein lebendiger Gott“, sondern „der lebendige Gott“. Der Verfasser gebraucht qeo,j sehr oft
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kaum als Polemik gegen die heidnischen Götter zu verstehen53, weil er nie (wie in der LXX, im Frühjudentum und im Neuen Testament) in Kontrast zu den toten Götzen gestellt wird (in Hebr 9,14 findet sich lediglich eine Gegenüberstellung der toten Werken und des lebendigen Gottes). Infolgedessen muss „der lebendige Gott“ keinesfalls auf einen heidnischen Hintergrund der Adressaten hindeuten. 54 Wichtig ist nun zu sehen, dass „der lebendige Gott“ im Sinn des einzig wahren Gottes nach dem Hebr dahingehend präzisiert wird, dass er der „Gott der neuen Diatheke“55 ist bzw. der Gott, der sich in Christus offenbart hat (vgl. 1,2: evla,lhsen [o` qeo.j] h`mi/n evn ui`w/|)56. So ist die Warnung in 3,12, nicht durch Unglauben vom lebendigen Gott abzufallen, eng mit den Aussagen in Hebr 3,1–6 verknüpft57, wonach Jesus der „Hohepriester unseres Bekenntnisses“ (V.1) bzw. Sohn über Gottes Haus ist (V.6). Abfallen vom lebendigen Gott durch Unglauben heisst demnach, den im Neuen Bund mit dem hohepriesterlichen Sohn verbundenen Gott abzulehnen, indem man das christliche Bekenntnis nicht mehr glaubensvoll festhält (vgl. 3,6 [ou- oi=ko,j evsmen h`mei/j( eva,nÎperÐ th.n parrhsi,an kai. to. kau,chma th/j evlpi,doj kata,scwmen] mit 3,1.14; 4,14; 10,23).58 Weil die Drohung in 10,31 in direktem Zusammenhang mit dem MitFüssen-Treten des Sohnes Gottes bzw. mit dem Für-gemein-Erachten des Bluts des Neuen Bundes steht (V.29)59, erscheint der zu fürchtende „lebendige Gott“ (V.31) deutlich als Gott des in Christus begründeten Neuen Bundes. Dass das „Epitheton“ qeo.j zw/n auch in 9,14 und 12,22 „Gottes christologisch vermittelte
mit Artikel (vgl. 1,1; 2,4.17; 4,9f.12.14; 5,1.4.10.12; 6,3.6f.10.13.17; 7,1 u. ö.), aber manchmal auch ohne (vgl. 2,9; 6,1.5; 11,3;12,23). Der unbestimmte Gebrauch von qeo.j zw/n erklärt sich wahrscheinlich durch die Übernahme der Wendung aus der LXX (so z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 222), wo sie abgesehen von Ps 41,3 und Dan 5,23 ohne Artikel vorkommt. 53 So z. B. richtig Loader, Sohn, 89; gegen J. A. Whitlark, „The Warning against Idolatry: An Intertextual Examination of Septuagintal Warnings in Hebrews“, in: JSNT 34.4/2012, 390: „The use of this repeated designation in Hebrews likely indicates the demarcation of the Christian audience from its pagan imperial context“. 54 Gegen Backhaus, Hebräerbrief, 152f; vgl. auch A.II.5.2. 55 Vgl. Backhaus, „Per Christum“, 51. 56 So auch Lincoln, Hebrews, 37: „,[T]he living God‘ is precisely the God who has been shown to be alive in the divine speaking and acting in Jesus Christ“; ähnlich z. B. auch Grässer, Hebräer I, 186. 57 Vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 172 zu Hebr 3,6: „The conditional clause, ‚if we hold fast…‘, follows in order to introduce the Kadesh rebellion the Moses-led generation presented in 3:7-19 as the premier example of failure to hold fast“. 58 Ähnlich z. B. auch Michel, Hebräer, 188: „Abfall vom Christus als dem eschatologischen Handeln Gottes an uns ist Abfall vom ‚lebendigen Gott‘“; Grässer, Hebräer I, 186: „Wer von Gott abfällt, fällt von Christus ab“. 59 Die in V.29 erwähnte „Strafe“ (timwri,a) für das Abweisen des Sohnes wird in V.30f ausgeführt (vgl. das einführende oi;damen ga.r to.n eivpo,nta): es ist das Gericht des lebendigen Gottes.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Geschichtsrelevanz anzeigt“60, wird ersichtlich durch den „Zugang zum Dienst“ an/für Gott (vgl. 9,14: latreu,ein qew/| zw/nti), den Jesus mit seinem Blut geschaffen hat (vgl. 9,14: to. ai-ma tou/ Cristou/ […] kaqariei/ th.n sunei,dhsin h`mw/n avpo. nekrw/n − o]j dia. pneu,matoj aivwni,ou e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| qew/|), bzw. im Hinzutreten zu Gott selbst (vgl. 12,23: qew/|), das „wiederum durch die Sühnetat Christi [ermöglicht wird]“.61 Dass „der lebendige Gott“ der Gott des Neuen Bundes bzw. der in Jesus Christus Wirkende ist, bringt die „Lebendigkeit“ von Gott auch in Verbindung zu seinem Reden, weil das Wirken Gottes im Sohn nach Hebr 1,2a als Reden Gottes gesehen wird: „Der lebendige Gott“ ist der redende Gott. Dass das Lebendig-Sein Gottes mit seinem Reden zusammenhängt, verdeutlicht auch 4,12, wonach „das Wort Gottes“ (o` lo,goj tou/ qeou/) „lebendig ist“ (zw/n), sowie die Tatsache, dass der Erwähnung des Gottesprädikats qeo.j zw/n sowohl in 3,12 als auch in 10,31 eine direkte Rede Gottes vorausgeht (vgl. 3,7–11 bzw. 10,30: evmoi. evkdi,khsij( evgw. avntapodw,sw). Weiter ist der qeo.j zw/n nach dem Verfasser des Hebräerbriefs offenbar auch der Leben spendende Gott (vgl. z. B. auch DanLXX 5,33; Philo, Decal. 67; Mt 16,16; 2.Kor 3,3; 1.Tim 4,10).62 Dies zeigt sich zunächst durch die oben dargelegte Verbindung des lebendigen Gottes mit dem Werk Christi, das Rettung und Leben bringt (vgl. z. B. auch Hebr 10,38: o` de. di,kaio,j mou evk pi,stewj zh,setai). So schreibt z. B. auch Backhaus: „Die ‚Lebendigkeit‘ Gottes meint […] die durch Christus vermittelte – individuelle wie ekklesiale – Lebensrelevanz, die lebensspendende Kraft […] des hoheitsvoll-transzendenten Gottes.“63 Auch der Ausdruck „der lebendige Weg“ (o`do.n […] zw/san) in Hebr 10,20 spricht für die Bedeutung von qeo.j zw/n als Leben vermittelnder Gott. Denn der von Christus geschaffene Weg wird offenbar darum als „lebendig“ bezeichnet, „weil er ins Leben führt“64, d. h. in die Gegenwart und das Leben des lebendigen Gottes (vgl. 10,19: th.n ei;sodon tw/n a`gi,wn)65. Auch die Verbindung von Hebr 3,12 und 3,17b zeigt die „Lebendigkeit“ Gottes als lebensspendende Wirklichkeit. Der Abfall vom „lebendigen Gott“ (V.12) bringt nämlich den Tod mit sich (V.17b).66 Verknüpft mit dieser Leben spendenden Seite des lebendigen Gottes ist auch dessen bedrohlich-strafende Seite (vgl. Hebr 3,12 und 10,31; vgl. auch Jer 10,10!): Der lebendige Gott ist der Gott, der „seine Drohungen verwirklichen
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Vgl. Backhaus, „Per Christum“, 50. Vgl. ebd., 50f. 62 So z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 222 („the God who gives life“). 63 Backhaus, „Per Christum“, 51. 64 Vgl. Grässer, Hebräer III, 15. 65 Ähnlich z. B. auch Cockerill, Hebrews, 468: „Thus it is rightly called a ‚living way‘. It leads to life in the presence of the ‚living‘ God (10:31) rather than to some ‚dead‘ end“. 66 Vgl. z. B. Johnson, Hebrews, 117 und Koester, Hebrews, 259. 61
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und seine richterliche Macht bestätigen kann“67 und der „seinen kundgegebenen Willen“ keineswegs „ungestraft […] missachten lässt“68. 2.1.3 VIerousalh.m evpourani,w| – „…zum himmlischen Jerusalem“ Nach der „Stadt des lebendigen Gottes“ erwähnt der Verfasser die VIerousalh.m evpoura,nion als Zielort der Adressaten. Es ist unbestritten, dass die Gottesstadt mit dem „himmlischen Jerusalem“ gleichzusetzen ist. Der in Hebr 12,22 verwendete Begriff VIerousalh.m evpoura,nioj ist in der gesamten biblischen und antiken Literatur singulär. Das Motiv eines „himmlischen Jerusalems“ bzw. einer eschatologisch-futurischen, neuen Gottesstadt ist jedoch im Frühjudentum und im Neuen Testament breit belegt. a. Das Motiv eines himmlischen Jerusalems im Frühjudentum und im Neuen Testament Nach äthHen 14,9–14 wird Henoch in den „Himmel“ gebracht, wo er auf eine Mauer aus Kristall und Feuer und ein sich dahinter befindendes „grosses“ und menschenleeres „Haus“ trifft; danach gelangt er zu einem „zweiten“, herrlicheren „Haus“ mit dem Thron Gottes (14,15ff). Mit Blick auf SachLXX 2,9, wonach Jerusalem in eschatologischer Zeit von einer feurigen Gottesmauer umgeben sein wird (evgw. e;somai auvth/| le,gei ku,rioj tei/coj puro.j kuklo,qen), scheint es mir nicht unmöglich zu sein, dass es sich beim ersten himmlischen Haus um das „Himmlische Jerusalem“ handelt.69 Auf jeden Fall ist in der sogenannten „Tier-Apokalypse“ (äthHen 85,2– 90,48)70 die Rede von einem „neuen Haus“, das vom Herrn der Schafe „gebracht“ und an der Stelle des „alten Hauses“ errichtet wird (90,28f).71 Offensichtlich geht es hier um das „Neue Jerusalem“72, wobei dieses zum besagten eschatologischen Zeitpunkt offenbar nicht erst gebildet, sondern in fertigem
67
Vgl. Riggenbach, Hebräer, 84. Vgl. Lünemann, Hebräerbrief, 135. 69 So z. B. auch A. M. Schwemer, „Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus (Gal 4,26 und Phil 3,20)“, in: M. Hengel; S. Mittmann, et al. (Hg.), La Cité de Dieu. Die Stadt Gottes, WUNT 129, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 209; kritisch ist z. B. P. Söllner, Jerusalem, die hochgebaute Stadt. Eschatologisches und himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum, TANZ 25, Tübingen: Francke, 1998, 11–18 (für ihn ist es eher die ehemalige Wohnstätte der Wächter; ebd., 17). 70 Vgl. dazu z. B. D. C. Olson, A New Reading of the Animal Apocalypse of 1 Enoch. „All Nations Shall be Blessed“, SVTP 24, Leiden, Boston: Brill, 2013. 71 So nach der Übersetzung von Söllner, Jerusalem, 36. 72 Vgl. Olson, Apocalypse, 225.227 („[t]he New Jerusalem“); Söllner weist mit Recht auf die zahlreichen Bezüge zu alttestamentlichen Aussagen über ein eschatologisches Jerusalem hin (Söllner, Jerusalem, 38). 68
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Zustand auf die Erde gebracht wird, was für seine vorherige transzendente Existenz spricht.73 In syrBar 4,1–7 ist von einer Stadt die Rede, die in Gottes Handfläche eingezeichnet (vgl. Jes 49,16) und bereits vor dem Paradies bereitet worden ist. Diese himmlische Stadt wird in einem zukünftigen Zeitpunkt (mit Gott) „offenbar […] werden“74 (4,3). Dass dieses Offenbart-Werden die Herabkunft des himmlischen Jerusalems auf die Erde meint75, betont Schwemer zu Recht, wenn man an syrBar 51,11 und die dort erwähnte „Ankunft“76 der Engel auf der Erde (vgl. z. B. auch äthHen 1,9) denkt.77 4.Esr 7,26 erwähnt eine unsichtbare Stadt, die am Ende der Zeit bei dem Weltgericht „erscheinen“ wird.78 Nach 8,52 steht diese bereits „erbaute“ Stadt parallel zu dem geöffneten Paradies, dem zukünftigen Zeitalter und einer (ewigen) Ruhe.79 Sie entspricht dem in 4.Esr 9–10 beschriebenen himmlischen Zion (= Jerusalem)80, das nach 13,36, „hergerichtet und erbaut“, „allen erscheinen“ wird (vgl. 10,54), und zwar auf dem irdischen Berg Zion (vgl. die parallele Erscheinung des Messias in 13,35).81 Ein letzter Beleg für eine himmlische Gottesstadt in der apokryphen bzw. pseudepigraphischen Literatur, den ich hier nennen möchte82, ist TestAbr A 73
Vgl. Söllner, Jerusalem, 37, Anm 125: „Hier in äthHen 90,29 findet sich […] die Vorstellung einer transzendenten Herkunft eines vollendet bereiteten, neuen Jerusalems, das als eschatologische Heimstätte fungiert“. 74 Vgl. A. F. J. Klijn, „Die syrische Baruch-Apokalypse“, in: W. G. Kümmel (Hg.), Apokalypsen, JSHRZ V/2, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1976, 125. 75 Vgl. Schwemer, „Himmlische Stadt“, 217; ähnlich D. M. Gurtner, „On the Other Side of Disaster: Soteriology in 2 Baruch“, in: D. M. Gurtner (Hg.), This World and the World to come. Soteriology in Early Judaism, LSTS 74, London: T&T Clark, 2011, 123f; anders Lied, die von „Israel’s entry into the heavenly […] world“ spricht (vgl. L. I. Lied, The Other Lands of Israel. Imaginations of the Land in 2 Baruch, SJSJ 129, Leiden: Brill, 2008, 308) und die Transformation der himmlischen Welt betont (ebd., 292.308.313). 76 Klijn, „Baruch“, 154. 77 Dass die Stelle in einer Verbindung zu syrBar 4,3 steht, verdeutlicht 51,8, wonach die Heiligen die unsichtbare, (weil) noch verborgene Welt sehen werden. Sulzbach sagt zu dieser Welt in syrBar 51,8–10 Folgendes: „This is where they will find a Jerusalem and temple as they had been preserved in heaven to be re-established on a reconstituted, incorruptible, paradisiacal earth“ (vgl. C. Sulzbach, „The Fate of Jerusalem in 2 Baruch and 4 Ezra: From Earth to Heaven and Back?“, in: G. Boccaccini; J. M. Zurawski (Hg.), Interpreting 4 Ezra and 2 Baruch. International Studies, LSTS 87, London: Bloomsbury, 2014, 152). 78 Vgl. A. F. J. Klijn, Die Esra-Apokalypse (IV. Esra). Nach dem lateinischen Text unter Benutzung der anderen Versionen übersetzt, GCS 18, Berlin, New York: de Gruyter, 1992, 44. 79 Klijn, 4Esra, 72. 80 Vgl. meine Ausführungen unter Anm. 19 in diesem Kapitel. 81 Vgl. Klijn, 4Esra, 102. 82 Zu weiteren möglichen Bezügen zu einem himmlischen Jerusalem in dieser Literatur vgl. Schwemer, „Himmlische Stadt“, 214–219.
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2,3–6, wo der aus dem Himmel herniedergestiegene Erzengel Michael zu Abraham sagt, er komme von der „grossen Stadt“ her (evk th/j mega,lhj po,lewj).83 Das Motiv einer himmlischen Gottesstadt findet sich – freilich unter einem etwas anderen Gesichtspunkt – auch bei Philo.84 In Opif. 19.143 ist die Rede von einer in Gottes (Gedanken-)Welt präsenten megalo,polij (vgl. auch Decal. 53; Mos. 2,51; Spec. 1,34) und in Somn. 1,46 von einer nur im Geist nahbaren Stadt (evn th|/ nohth/| po,lij tamieu,tai). In Somn. 2,250 weist Philo auf die Bedeutung von „Jerusalem“, der „Stadt Gottes“ (h` […] qeou/ po,lij, vgl. auch Cher. 121), als „Ort des Friedens“ hin und stellt dann fest, dass die Hebräer darum die „Stadt des Seienden“ (th.n tou/ o;ntoj po,lin) nicht „in irdischen Regionen“ (evn kli,masi gh/j) suchen würden – sie sei ja nicht aus Stein und Holz gebaut –, sondern „in der kriegsfreien Seele“ (evn yuch/| avpole,mw|). Diese himmlische Gottesstadt entspricht bei Philo offenbar dem himmlischen Vaterland, aus dem die Seelen der Weisen entstammen und in das sie nach dem Tod zurückkehren (Conf. 77f; vgl. Agr. 65).85 Auch die Qumran-Schriften kennen ein futurisch-eschatologisches Jerusalem (vgl. z. B. 2Q24; 4Q554; 4Q555; 5Q15; ähnlich z. B. auch 4Q529).86 Aber obwohl diese Gottesstadt in Bezug auf ihre Grösse und Herrlichkeit ihresgleichen sucht (vgl. z. B. 4Q554 1 I mit der Beschreibung der riesigen Mauern sowie 4Q554 2 II,14f mit der Erwähnung von Edelsteinen und Gold als Baumaterialien) 87, scheint sie weder präexistent noch himmlischen Ursprungs zu sein.88 Im Neuen Testament findet man das Motiv eines „himmlischen Jerusalems“ zunächst in Gal 4,25f, wo Paulus vom „oberen Jerusalem“ (h` a;nw VIerousalh,m) im Gegensatz zum „jetzigen Jerusalem“ (h` nu/n VIerousalh,m) spricht. Die Frage ist allerdings, ob Paulus bei der „oberen Stadt“ tatsächlich an eine richtige Stadt im Himmel wie z. B. syrBar und 4.Esr denkt. Lincoln z. B. bezweifelt dies: 83
Vgl. D. C. Allison, Testament of Abraham, CEJL, Berlin, New York: de Gruyter, 2003,
96. 84
Vgl. die ähnliche Auffassung von der himmlischen Gottesstadt bei Plat., Rep. 9,592a.b. Der Zusammenhang von himmlischer Stadt und himmlischem Vaterland ist in Conf. 77f sogar explizit vorhanden, weil Philo dort das Wort politeu,esqai benutzt. Zu einer ausführlichen Darstellung des himmlischen Jerusalems bei Philo vgl. M. Verman, „Earthly and Heavenly Jerusalem in Philo and Paul: A Tale of Two Cities“, in: D. V. Arbel; A. A. Orlov (Hg.), With Letters of Light. Studies in the Dead Sea Scrolls, Early Jewish Apocalypticism, Magic, and Mysticism. In Honor of Rachel Elior, Ekstasis 2, Berlin, New York: de Gruyter, 2011, 141–146. 86 Vgl. z. B. die Monographie von L. DiTommaso, The Dead Sea „New Jerusalem“ Text. Contents and Contexts, TSAJ 110, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005; F. García Martínez, „New Jerusalem at Qumran and in the New Testament“, in: J. v. Ruiten; J. C. De Vos (Hg.), The Land of Israel in Bible, History, and Theology. Studies in Honour of Ed Noort, VT.S 124, Leiden: Brill, 2009, 283–289. 87 Vgl. DiTommaso, New Jerusalem, 90–92.115–117. 88 Vgl. ebd., 129ff (mit den Belegstellen); vgl. García Martínez, „New Jerusalem“, 289. 85
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„[F]or in seeing this city as the mother of all believers he relieves the concept of its purely material and national connotations“. 89 Wichtig ist auf jeden Fall zu sehen, dass Paulus in Gal 4,25f zeitliche Kategorien mit räumlichen kombiniert: Er vergleicht nicht das „gegenwärtige Jerusalem“ mit dem „zukünftigen“ bzw. nicht das „irdische“ mit dem „oberen“, sondern das „gegenwärtige“ (zeitlich) mit dem „oberen Jerusalem“ (räumlich). Dies tut er offenbar „since the age to come already exists in heaven above, while the present evil age (1:4) describes the current situation on earth“90. Was auch immer Paulus mit dem „oberen Jerusalem“ genau meint, der Kontrast zum „gegenwärtigen Jerusalem“ (h` nu/n VIerousalh,m) lässt h` a;nw VIerousalh,m trotz einer gewissen gegenwärtigen Existenz (vgl. h` de. a;nw VIerousalh.m evleuqe,ra evsti,n( h[tij evsti.n mh,thr h`mw/n) auch als zukünftige „Stadt“ erscheinen (vgl. z. B. den Kontrast in Röm 8,18: ta. paqh,mata tou/ nu/n kairou/ pro.j th.n me,llousan do,xan).91 Infolgedessen stellt sich die Frage, ob Paulus erwartet hat, dass die Stadt am Ende der Zeit aus der himmlischen Welt heraustreten und auf der „Erde“ sichtbar werden wird. Söllner z. B. verneint dies vehement. 92 Anders beurteilt es z. B. Schwemer: „Das ,obere Jerusalem‘ bleibt keineswegs einfach im Himmel“.93 Ihre m. E. plausible Begründung lautet wie folgt: „Nach 1Thess 4,13–17 werden die bei der Parusie noch lebenden zusammen mit den bereits verstorbenen, aber nun aus ihrem Todesschlaf auferstandenen Gläubigen zum Empfang, zur feierlichen Einholung Christi mit Wolken in die Luft entrückt. Christus kommt vom (höchsten) Himmel, deshalb werden die Gläubigen in die Luft (eivj ave,ra) entrückt, um ihm entsprechend dem Brauch der Apantesis ein Stück auf seinem Weg, d. h. in diesem Fall in die Höhe, entgegenzuziehen, um ihn mit Lobpreis zu begrüssen und mit ihm zur Erde zu kommen, die wie eine Stadt beschrieben wird. Das Herabkommen des himmlischen Jerusalems in Apk 21 konnte [sic!] auch paulinischen Vorstellungen entsprechen.“94
89 Vgl. A. T. Lincoln, Paradise Now and Not Yet. Studies in the Role of the Heavenly dimension in Paul’s Thought with Special Reference to his Eschatology, SBL.MS 43, Cambridge: Cambridge University Press, 1981, 21. 90 Vgl. M. C. de Boer, Galatians. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2011, 302. 91 Vgl. z. B. S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1989, 311: „Das ‚obere Jerusalem‘ durchdringt die Sphäre des alten Äons, des ‚jetzigen Jerusalems‘, bleibt aber bis zu Christus und den Seinen (Gal 3,16) bei Gott im Modus der Verheissung aufgehoben“; ähnlich auch Lincoln, Paradise, 29: „The image [sc. of the Jerusalem above] should not however leave the impression of the heavenly dimension as a static reality, for it signifies a reality which is, but which is also yet to come. For Paul the heavenly realm is part of the forward-moving history of salvation“. 92 Vgl. Söllner, Jerusalem, 167–169. 93 Schwemer, „Himmlische Stadt“, 227; eine endzeitliche Offenbarung des „oberen Jerusalems“ erwarten auch verschiedene andere Exegeten (vgl. Söllner, Jerusalem, 162, Anm. 487f). 94 Schwemer, „Himmlische Stadt“, 227.
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Ausführlicher beschrieben als bei Paulus wird das „himmlische Jerusalem“ in der Offenbarung des Johannes.95 Dieses wird in 3,12 bzw. 21,2 „das neue Jerusalem“ (h` kainh. VIerousalh,m) und in 21,10 „die heilige Stadt Jerusalem“ genannt (h` po,lij h` a`gi,a VIerousalh,m, vgl. 21,2: h` po,lij h` a`gi,a). Nach bzw. bei der Neuschöpfung der Welt (vgl. 21,1) wird diese Stadt Gottes (vgl. 3,12: h` po,lij tou/ qeou/) gemäss Offb 21,2 „aus dem Himmel von Gott herabkommen“ (vgl. VIerousalh.m kainh.n ei=don katabai,nousan evk tou/ ouvranou/ avpo. tou/ qeou/). b. Ein Forschungsüberblick zum „himmlischen Jerusalem“ in Hebr 12,22 Was der Verfasser des Hebräerbriefs unter der VIerousalh.m evpourani,w| verstanden hat, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Einige Exegeten sehen im „himmlischen Jerusalem“ die gegenwärtige Himmelswelt (u. a. mit den verstorbenen Gläubigen des Alten und Neuen Bundes) beschrieben, in welche die Adressaten im Moment des physischen Todes gelangen werden. So versteht z. B. Scholer unter den prwtoto,koij und dikai,oij (V.23) „[t]he deceased […] who are currently gathered around the throne“. 96 Eine Vielzahl anderer Forscher interpretiert die VIerousalh.m evpoura,nion zwar auch als ein sich in der Himmelswelt befindendes Ziel der Gläubigen, betont aber – vor allem mit Verweis auf Hebr 13,14 (po,lij h` me,llousa) – die eschatologisch-futurische Eigenschaft der Stadt.97 Lane z. B. spricht in Bezug
95 Vgl. dazu z. B. P. Lee, The New Jerusalem in the Book of Revelation. A Study of Revelation 21-22 in the Light of its Background in Jewish Tradition, WUNT II 129, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001; M. A. Grimm, Lebensraum in Gottes Stadt. Jerusalem als Symbolsystem der Eschatologie, JThF 11, Münster: Aschendorff, 2007; P. Wick, „Das Paradies in der Stadt: Das himmlische Jerusalem als Ziel der Offenbarung des Johannes“, in: R. v. Bendemann; M. Tiwald (Hg.), Das frühe Christentum und die Stadt, BWANT 198, Stuttgart: Kohlhammer, 2012, 238–250. 96 Vgl. Scholer, Priests, 201 (vgl. auch ebd., 146.149); vgl. z. B. auch Rissi, Theologie, 101–103; O. Hofius, „Gemeinschaft mit den Engeln im Gottesdienst der Kirche. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung“, in: O. Hofius (Hg.), Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 321; sowie Eisele, Reich, 390f. Eisele sieht den Verfasser des Hebräerbriefs und seine Vorstellung der himmlischen Stadt bzw. Welt in entscheidender Weise vom Mittelplatonismus – v. a. von Philo – geprägt (ebd., 378–380), wobei die Eschatologie des Hebr auf eine individuell-vertikale beschränkt bleibt (ebd., 388); anders z. B. Scholer, der eine horizontale Eschatologie nicht leugnet (vgl. Scholer, Priests, 202) und darum die zukünftige Stadt (Hebr 13,14) vom gegenwärtigen himmlischen Jerusalem (12,22) unterschieden haben möchte (ebd., 142). 97 Vgl. z. B. Schierse, Verheissung, 180–183; D. Peterson, Hebrews and Perfection. An Examination of the Concept of Perfection in the „Epistle to the Hebrews“, SNTS.MS 47, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 1982, 160f.167; Hagner, Hebrews, 225; Lindars, Theology, 115; Isaacs, Space, 86–88; Ellingworth, Hebrews, 677; Lane, Hebrews II, 465f; Portalatin, Temporal, 193–205; Koester, Hebrews, 544; O’Brien, Hebrews, 483; Cockerill, Hebrews, 652.
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auf die Stadt Gottes in Hebr 12,22 von „that future reality“98 und Cockerill von „[the] future ultimate destiny of God’s people“99. Portalatin resümiert zu 12,22–24: „The text […] shows the future eschatological city“. 100 Die tatsächliche Offenbarung der zukünftigen Gottesstadt steht nach diesen Exegeten erst noch bevor.101 Ein Herabsteigen des himmlischen Jerusalems auf die/eine „Erde“ bzw. den/einen „irdischen“ Berg Zion wird jedoch explizit bestritten.102 Die drei Ortsbegriffe in Hebr 12,22 werden praktisch synonym und als ein Bild für das himmlische Ziel gelesen.103 So bringt es z. B. Isaacs auf den Punkt: „Heaven is the true goal of the people of God”.104 Weil die VIerousalh.m evpoura,nioj noch verborgen in der Zukunft liegt, handelt es sich nach den Vertretern der himmlisch-eschatologisch-futurischen Interpretation in Hebr 12,22– 24 um eine Art „Vorausdarstellung“ des evsca,tou105 – oder wie es Lindars formuliert – um „a glowing picture of the future fulfillment“106. Irgendwo zwischen dieser Interpretation und der erstgenannten Vorstellung von einer gegenwärtigen Himmelswelt scheint die Auffassung Grässers zu lie-
98
Vgl. Lane, Hebrews II, 465. Vgl. Cockerill, Hebrews, 653; vgl. ebd., 652: „Yet this high-priestly ministry of Christ is also the means through which all of God’s people – past and present – will attain ultimate entrance [into God’s presence] at Christ’s return“. 100 Portalatin, Temporal, 204; ähnlich auch Hagner, Hebrews, 225 („the eschatological city of the future“). 101 So. z. B. Lane, Hebrews II, 466 und O’Brien, Hebrews, 483; ähnlich scheinbar auch Schenck, Cosmology, 189f. 102 Vgl. z. B. Ellingworth, Hebrews, 676; auch andere Exegeten, die sich nicht oder nicht eindeutig zur zeitlichen Existenz der Gottesstadt in Hebr 12,22 äussern, lehnen die Vorstellung eines herabkommenden himmlischen Jerusalems ab: vgl. z. B. Braun, Hebräer, 435; H.-F. Weiss, Hebräer, 676 und Strobel, Hebräer, 239. 103 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 465f: „The three designations are synonymous and should be treated as unit“; „‚[t]he city of the living God‘ is the transcendent ‚heavenly Jerusalem‘ that God creates“; Ellingworth, Hebrews, 677f („probably synonymous“; „heavenly goal“; „supernatural city“). Von einem himmlischen Ziel spricht z. B. auch Peterson, Perfection, 160 („heavenly destination“). Die Synonymität der drei Ortsbegriffe und den himmlischen Charakter des Heilsortes sehen auch andere Ausleger, die das in Hebr 12,22 geschilderte himmlische Jerusalem nicht oder nicht eindeutig als zukünftige Wirklichkeit verstehen (vgl. z. B. Braun, Hebräer, 435 und Allen, Hebrews, 590). Für Backhaus hingegen bilden der Berg zusammen mit der Stadt das „himmlische Zion“ (Backhaus, Hebräerbrief, 443). Differenzierter sieht es auch Westcott, Hebrews, 413: „[The] Mount Zion represents the strong divine foundation of the new Order, while the City of the living God represents the social structure in which the Order is embodied“. 104 Isaacs, Space, 88. 105 So nach Schierse, Verheissung, 183; vgl. z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 680: „[T]he heavenly panh,gurij is anticipated“. Auch Backhaus spricht in seiner Habilitationsschrift in Bezug auf Hebr 12,22–24 von einem „Ort der realisierten Eschatologie“ (vgl. Backhaus, Bund, 219). 106 Vgl. Lindars, Theology, 115. 99
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gen. Gemäss Grässer denkt sich der auctor ad Hebraeos nach einer hellenistischen „Oben/Unten-Eschatologie“ die Heilsvollendung „platonisch-alexandrinisch als Aufstieg der Seelen in das Reich der a;fqara“.107 Infolgedessen bezeichnet Grässer die pneu,mata dikai,wn von Verstorbenen des Alten und Neuen Bundes als solche, die „gleich nach dem Tod in die himmlische Welt heimkehren“.108 Andererseits spricht er bezüglich Hebr 12,22 mit Verweis auf Hebr 13,14 von einer „zeitliche[n] Zukunftshoffnung“109, bezüglich Hebr 12,23 von der „evkklhsi,a prwtoto,kwn bei der eschatologischen Heilsvollendung“110 und der Vollendung der Gerechten in der Vollzahl erst nach der Parusie111.112 Eine andere Deutung von Hebr 12,22–24 bzw. VIerousalh.m evpoura,nioj findet sich bei Buchanan, Hughes und Witherington: ein himmlisches Jerusalem in einer „irdischen“ Wirklichkeit. Nach Buchanan ist die Wendung VIerousalh.m evpoura,nioj „not used to mislead the reader thinking Mount Zion was in heaven […], but to affirm its divine origin“.113 Der Berg Zion entspreche dem irdischen Ort der Kreuzigung Jesu.114 Da Buchanan Hebr 12,22–24 auf den Jom-Kippur schlechthin hindeutet – nämlich auf denjenigen, an dem sich Jesus Gott geopfert hat – malt der Abschnitt nicht ein Bild des zukünftigen Heils vor Augen, sondern dasjenige eines in der Vergangenheit begründeten gegenwärtigen Heils.115 Witherington hingegen versteht Hebr 12,22–24 futurisch-eschatologisch, und zwar als „proleptic portrayal of the final theophany when God the judge and Jesus the mediator descend with the heavenly city“. 116 Auch Hughes deutet VIerousalh.m evpoura,nioj in Hebr 12,22 offenbar als die am Ende der Zeit 107
Vgl. Grässer, Hebräer III, 313. Vgl. ebd., 319. 109 Vgl. ebd., 313. 110 Vgl. ebd., 318. 111 Vgl. ebd., 320. 112 Eine ähnliche Verschränkung von vertikaler und horizontaler Eschatologie für Hebr 12,22–24 betonen z. B. auch F. Laub, Bekenntnis und Auslegung. Die paränetische Funktion der Christologie im Hebräerbrief, BU 15, Regensburg: Pustet, 1980, 222–224 (vgl. ebd., 222: „Die unsichtbare himmlische Welt der vertikalen Eschatologie ist zugleich das Zukünftige der horizontalen Eschatologie“); Schunack, Hebräerbrief, 208f und Backhaus, Hebräerbrief, 442. 113 Vgl. Buchanan, Hebrews, 222. Es sei darum nicht gerechtfertigt, den Berg Zion „spiritual“ zu nennen (ebd., Anm. 42). 114 Vgl. ebd., 226. 115 Vgl. ebd., 223: „Those who had received the benefits of Christ’s atonement joined the throng of those saints gathered at Mount Zion when Jesus was crucified and thereby removed the debt of sin that prevented Israel from receiving her promised ,rest‘“. Wie Buchanan sich das gegenwärtige Heil unter diesen Vorzeichen vorstellt, lässt sich nicht eruieren, zumal nicht klar wird, was er mit dem im Futur formulierten Satz meint: „The ‚unshakable kingdom‘ would be established before God’s people could enjoy a sabbath rest“ (ebd., 225). 116 Vgl. Witherington, Hebrews, 348. Von „Zion“ in Hebr 12,22 sagt er: „It stands for the final reconciliation of God with his people when God in Christ comes down to earth“ (ebd., 341). 108
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herabgekommene Gottesstadt, wenn er in Bezug auf das „himmlische Jerusalem“ schreibt: „It is ‚the holy city, new Jerusalem‘, the capital city of the new heaven and the new earth, in which, in fulfilment of his covenant promise, God dwells with men, and they are eternally his people, and all the former things with their sorrows and imperfections have passed away (Rev. 21:1–4).“117
Im Folgenden sollen die verschiedenen Deutungsvorschläge zu VIerousalh.m evpoura,nioj bzw. zur zeitlichen Lokalisierung der Schilderungen in Hebr 12,22–24 ausgewertet werden. c. Die bei der endzeitlichen Katastrophe offenbarte Gottesstadt Gegen die Interpretation von Hebr 12,22–24 als Beschreibung einer gegenwärtigen Himmelswelt und für die Deutung der Verse als eine Vorausdarstellung einer eschatologisch-futurischen Heilswelt spricht Hebr 13,14 mit der dort erwähnten po,lij h` me,llousa. Die po,lij h` me,llousa, die die Adressaten suchen (sollen), knüpft – wie einige Exegeten mit Recht bemerken – an die oivkoume,nhn th.n me,llousan in Hebr 2,5 und den me,llonta aivw,n in Hebr 6,5 an118 (vgl. auch die me,llonta avgaqa, in Hebr 10,1). Dabei gilt es zu beachten, dass sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit diesen beiden Begriffen zunächst an einen locus classicus „der“ Apokalyptik anlehnt, die im Kontrast zu einem gegenwärtigen Zeitalter bzw. einer gegenwärtigen Welt von einem „zukünftigen Zeitalter“ bzw. von einer „zukünftigen Welt“ spricht (vgl. z. B. äthHen 71,15119; 4.Esr 7,50.111f120; vgl. auch syrBar 15,7, wo im Gegensatz zu „dieser Welt“ vom Erscheinen von etwas Kommendem die Rede ist121).122 Diese Zwei-Äonen-Lehre ist kaum erst durch 117
Hughes, Hebrews, 546. So z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 737 und Grässer, Hebräer III, 387 (er nennt einfach Hebr 2,5). 119 „Er ruft über dich das Heil aus im Namen des Äons, der kommen wird, denn von da geht das Heil aus seit der Erschaffung der Welt“ (vgl. S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, JSHRZ V/6, Gütersloh: Mohn, 1984, 634). 120 „Die gegenwärtige Welt ist nicht das Ende, die Herrlichkeit in ihr dauert nicht ständig. […] Denn der Gerichtstag wird das Ende dieser Zeit sein und der Anfang der künftigen, unsterblichen Zeit, in der die Vergänglichkeit vorüber ist“ (vgl. Klijn, 4Esra, 59f). 121 In syrBar 15,7 steht: „Und wenn um der Gerechten willen […] diese Welt gekommen ist – so wird ja auch um ihretwillen erscheinen, was noch kommt“ (vgl. Klijn, „Baruch“, 133). 122 Vgl. dazu z. B. P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter. Nach den Quellen der rabbinischen, apokalyptischen und apokryphen Literatur, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl., 1934, 64f und Mackie, Eschatology, 55f. Nach Vielhauer ist der „Dualismus“, insbesondere die „Lehre von den zwei Äonen“, d. h. das „dualistische[…] Zeitschema zweier Weltzeiten“, der „wesentlichste Grundzug der Apokalyptik“ (vgl. P. Vielhauer, „Apokalypsen und Verwandtes“, in: K. Koch; J. M. Schmidt (Hg.), 118
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Tempelzerstörung – also nach der in der vorliegenden Arbeit postulierten Abfassung des Hebr – entstanden123, wenn das Buch der Parabeln (äthHen 37–71), wo sowohl von „dieser Welt (der Ungerechtigkeit)“ (37,70) als auch von „der zukünftigen Welt“ (71,15) die Rede ist, offenbar vor dem Auftreten Jesu verfasst worden ist.124 Die Anlehnung in Hebr 2,5 und 6,5 an die apokalyptische Auffassung von einem zukünftigen Äon legt es nun nahe, dass sich der Verfasser die po,lin th.n me,llousan in Hebr 13,14 ähnlich wie „die“ Apokalyptik vorstellt: als eine zwar bereits geschaffene und im Himmel bereit gehaltene Gottesstadt (vgl. Hebr 11,16 mit z. B. äthHen 14,9–14; 4.Esr 8,52; syrBar 4,3), aber letztlich doch zukünftige125, d. h. noch verborgene Stadt, die sich am Ende der Zeit offenbart (4.Esr 7,26; 10,54; syrBar 4,3; vgl. äthHen 90,29). So betont z. B. auch Rissi: „Die Stadt ist apokalyptisch verstanden als die ‚zukünftige‘ (13,14)“.126 Für diese Deutung von po,lij h` me,llousa als eine sich erst endzeitlich offenbarende Gottesstadt spricht auch die überlieferte Erwartung Jesu von einem „zukünftigen/kommenden Äons“ (vgl. v. a. Mt 12,32: evn tw/| me,llonti aivw/ni, Mk 10,30 und Lk 18,30: evn tw/| aivw/ni tw/| evrcome,nw|)127, aus deren Tradition der
Apokalyptik, WdF 365, Darmstadt: WBG, 1982, 404); kritisch dazu z. B. J. Frey, „Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft: Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik“, in: M. Becker; M. Öhler (Hg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie, WUNT II 214, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, 42. 123 Z. B. gegen M. Leuenberger, Gott in Bewegung. Religions- und theologiegeschichtliche Beiträge zu Gottesvorstellungen im alten Israel, FAT 76, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, 232: „Die Zerstörung von Tempel und Stadt 70 n. Chr. bildet die historische Initialzündung für die Ausbildung der Zwei-Äonen-Lehre“. 124 Vgl. dazu z. B. J. H. Charlesworth, „The Date and Provenience of the Parables of Enoch“, in: D. L. Bock; J. H. Charlesworth (Hg.), Parables of Enoch. A Paradigm Shift, T&T Clark Jewish and Christians Texts Series 11, London: Bloomsbury, 2013, z. B. 56: „The Parables of Enoch (1En 37–71) appears to be a Jewish work that antedates Jesus“. 125 Gegen Cambier, der das Verb me,llein nicht im temporalen, sondern im qualitativen Sinn versteht, weil es sich auf „réalités célestes“ beziehe (vgl. Cambier, „Eschatologie“, 83f), und gegen Thompson, der treu seinem platonischen Gesamtdeutungskonzept das Partizip me,llousa auf eine Beschreibung der Stadt als eine „transcendent reality“ reduziert (vgl. Thompson, Beginnings, 150). Die unmittelbar mit der Parusie verknüpften me,llonta avgaqa, in Hebr 10,1 haben einen klar futurischen Charakter (vgl. 9,28: ovfqh,setai eivj swthri,an, sowie die Verwendung von me,llein in 11,20). Zur zeitlichen Grundbedeutung vom Verb me,llein und seinem Gebrauch in Hebr 13,14 und anderen Stellen im Hebr vgl. z. B. auch Portalatin, Temporal, 193–199. 126 Rissi, Theologie, 44; vgl. z. B. auch Lane, Hebrews II, 547: Die Stadt sei „not present but future“; T. Witulski, „Zur Frage des Verhältnisses der Dimensionen von Raum und Zeit in der Konzeption der Eschatologie des Hebräerbriefes“, in: BZ 51.2/2007, 186: Es gehe in Hebr 13,14 um eine „futurisch-eschatologische Zeit“. 127 Dass der historische Jesus von keinem zukünftigen Äon wusste (so z. B. L. Goppelt; J. Roloff, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 3. Aufl.,
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Verfasser in Hebr 2,5 bzw. 6,5 m. E. ebenso schöpft. Denn auch wenn gemäss den überlieferten Worten Jesu die Segnungen des zukünftigen Äons in bzw. mit dem irdisch-gegenwärtigen Wirken des Menschensohnes schon ersichtlich bzw. erfahrbar sind128 (ähnlich auch Hebr 6,5: geusame,nouj […] duna,meij te me,llontoj aivw/noj), so steht doch die endgültige Offenbarung des neuen Äons am Ende der jetzigen Zeit erst noch bevor129. Nach Lk 20,35 sieht Jesus nämlich die kommende Welt in Verbindung zur endzeitlichen Auferstehung der Toten (oi` de. kataxiwqe,ntej tou/ aivw/noj evkei,nou tucei/n kai. th/j avnasta,sewj th/j evk nekrw/n), nach Mk 10,30 und Lk 18,30 in Verbindung zum „ewigen Leben“ (vgl. Mk 10,30: la,bh| […] evn tw/| aivw/ni tw/| evrcome,nw| zwh.n aivw,nion), das nach Mt 25,31ff bei der endzeitlichen Parusie des richtenden Menschensohnes empfangen wird (vgl. Mt 25,46: oi` de. di,kaioi [avpeleu,sontai] eivj zwh.n aivw,nion)130. Da die po,lij h` me,llousa in Hebr 13,14 also wahrscheinlich eine zukünftige, sich am Ende der Zeit offenbarende Gottesstadt meint, scheint es mir folglich naheliegend, dass in Hebr 12,22 den Adressaten ein eschatologisch-futurisch offenbartes Jerusalem vor Augen gehalten wird. Denn die „kommende/zukünftige Stadt“ (13,14) kann nichts anderes als das kurz vorher erwähnte himmlische Jerusalem sein.131 1980, 122), scheint mir spekulativ; vgl. z. B. auch E. Voigt, Die Jesusbewegung. Hintergründe ihrer Entstehung und Ausbreitung – eine historisch-exegetische Untersuchung über die Motive der Jesusnachfolge, BWANT 169, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, 170: „Mit der dualistischen Einteilung der Zeit in diesen Äon […] und im kommenden Äon […] war Jesus wohl vertraut“. 128 So z. B. J. D. Dunn, Jesus Remembered, Christianity in the Making 1, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2003, 440 zu Mt 13,16f bzw. Lk 10,23f sowie Mt 12,41f bzw. Lk 11,31f: „The note of fulfilled expectation could hardly be clearer. What was it that prophets and others longed for, if not the age to come, the age of restoration and salvation? The claim is that in Jesus’ mission that expectation has been fulfilled (Q 10.23-24): the blessings of the age to come are already evident“. 129 Dies gilt offenbar auch von der von Jesus gepredigten Basileia Gottes (↑ B.VI.3.4.1.b). 130 Vgl. z. B. auch W. Zager, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschliesslich der Q-Parallelen, BZNW 82, Berlin, New York: de Gruyter, 1996, 237: „Mk 10,29f verbindet also den weisheitlichen Vergeltungsgedanken (vielfache Rückerstattung des Aufgegebenen in diesem Leben) mit dem apokalyptischen Vergeltungsgedanken (ewiges Leben als der im Endgericht gewährte eschatologische Lohn – wie in Mt 25,46 […])“; B. Witherington, The Gospel of Mark. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2001, 285 zu Mk 10,30: „V.30 bears witness to traditional Jewish two-age theology, the age to come being the eschatological age. Jesus is bringing in a foretaste of this age, inaugurating the age to come in the midst of this age. Nevertheless, the chief blessing of the age to come, namely, eternal life, apparently is only to be had in the future“. 131 So fast alle Exegeten (vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 387 und Whitlark, „City“, 175). Gegen eine Unterscheidung der beiden Städte (vgl. Scholer, Priests, 142) sprechen v. a. die Qualifikation des himmlischen Jerusalems als po,lij qeou/ (Hebr 12,22) sowie die Tatsache,
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Weiter darf man davon ausgehen, dass das himmlische Jerusalem zu einem Zeitpunkt unmittelbar bei oder nach der eschatologischen katastrophalen Erschütterung (Hebr 12,26f) beschrieben wird.132 Dafür sprechen nämlich folgende Gründe: 1) Der Autor spielt mit ouv ga.r e;comen w-de me,nousan po,lin (13,14) sehr wahrscheinlich auf Hebr 12,27 (i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,mena) an133 und lässt so die der VIerousalh.m evpourani,w| entsprechende zukünftige Stadt als eine bei oder nach der Welterschütterung offenbarte, bleibende Stadt erscheinen; 2) die mit dem himmlischen Jerusalem verknüpfte basilei,a avsa,leutoj wird offenbar nach (oder gleich bei) der eschatologischen Erschütterung empfangen (12,27–28)134; 3) der Offenbarung der himmlischen Gottesstadt geht auch in der apokalyptischen Literatur die kosmische Katastrophe am Ende der Zeit voraus oder wird davon begleitet135. d. Das Kommen der Stadt und die Parusie des Gottessohnes auf der Erde Wenn die Offenbarung des himmlischen Jerusalems mit der eschatologischen Erschütterung zusammenhängt, so muss ihr Erscheinen auch mit der eschatologischen Parusie Christi verknüpft sein (vgl. z. B. auch 4.Esr 7,26–28).136 Denn die göttliche Erschütterung von Erde und Himmel (vgl. Hebr 12,26) fin-
dass die mit der po,lij h` me,llousa in Hebr 13,14 auch nach Scholer identische Stadt in Hebr 11,10.16 (vgl. Scholer, Priests, 142) indirekt aber klar als po,lij qeou/ umschrieben wird (vgl. 11,10: h-j tecni,thj kai. dhmiourgo.j o` qeo,j). Wenn die nicht bleibende Stadt in Hebr 13,14a auf das irdische Jerusalem im Gegensatz zum himmlischen anspielt (vgl. Hebr 13,12: „ausserhalb des Tores“ von Jerusalem; so z. B. auch J. Thurén, Das Lobopfer der Hebräer. Studien zum Aufbau und Anliegen von Hebräerbrief 13, AAAbo.H 47/1, Åbo: Åbo Akademi, 1973, 77; Lane, Hebrews II, 546; Young, „Bearing“, 257) anspielt, käme ein Argument dazu; vgl. aber die ebenso plausible These, dass Rom gemeint ist (so z. B. Mackie, Eschatology, 149; Whitlark, „City“, 161–179). 132 Auch Mackie spricht von der „full disclosure“ der himmlischen Welt „requiring the removal of the present world (1:10–12; 12:25–29)“ (vgl. Mackie, Eschatology, 7). 133 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 387; Mackie, Eschatology, 137 und Gordon, Hebrews, 194. Die kaum zufällige Wortentsprechung von Hebr 12,27 und 13,14 steht vor einem möglichen Bezug zu Rom als urbs aeterna (vgl. Whitlark, „City“, 171ff). 134 ↑ B.VI.3.4.1.e. Der durative Aspekt des Partizip Präsens paralamba,nontej in 12,28 spricht nicht gegen die zukünftige Perspektive, weil z. B. auch das Präsens eivserco,meqa in Hebr 4,3 nach 4,1.9 ein erst noch bevorstehendes Ereignis meint. 135 Vgl. z. B. 4.Esr 7,26 mit 7,38–44 (vgl. Moo, Creation, 128: „one rather messy portrait“) und äthHen 90,29 mit 90,19ff und 1,5ff. 136 Von einer Verbindung von der Zion-Epiphanie (Hebr 12,22–24) mit der Wiederkunft Jesu scheinen auch andere auszugehen: vgl. z. B. Käsemann, Gottesvolk, 29f und Schenck, Cosmology, 189f.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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det nach dem Hebr offensichtlich im Moment der Wiederkunft des Gottessohnes statt137 (vgl. dazu z. B. die Beschreibung der Erschütterung als „Verheissung“ in Hebr 12,26 mit 9,28 und der dort erwähnten Parusie Jesu „zum Heil“; sowie die urchristliche Erwartung von einer die Parusie begleitenden KosmosErschütterung gemäss Mt 24,29−30; Mk 13,22–26; Lk 21,25–27 und Offb 6,12–17).138 Infolgedessen scheint es mir naheliegend, dass der Verfasser des Hebräerbriefs – wie von Hughes und Witherington vorgeschlagen – das himmlische Jerusalem in Hebr 12,22–24 als eine zur „Erde“139 herabgekommene Stadt verstanden hat.140 Denn er geht in Übereinstimmung mit der urchristlichen Überlieferung ganz offensichtlich von einer Parusie des Sohnes auf der Erde aus.141 Als erster Beleg für eine Wiederkunft Jesu auf die Erde kann Hebr 10,25– 27 gelten. Mit dem nahenden eschatologischen „Tag“ (10,25) ist nach Hebr 10,27 offensichtlich der Tag des Letzten Gerichts gemeint (vgl. auch V.31!).142 Gemäss dem urchristlichen Sprachgebrauch (vgl. z. B. 1.Kor 1,8; 2.Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1.Thess 5,2.4; 2.Thess 1,10) scheint es aber ebenfalls der Tag der Wiederkunft Christi zu sein.143 Dafür spricht auch Hebr 10,37–39, wonach das Kommen des evrcome,nou, das heisst des Sohnes, einem Teil der Menschen
137 So z. B. auch Loader, Sohn, 59; Schenck, Cosmology, 189 und Backhaus, Hebräerbrief, 58: „Am Ende der irdischen Zeit wird sich Gott universal und erfahrbar durchsetzen, wenn die Schöpfung als ganze erschüttert wird und nur die unerschütterliche Ewigkeit bleibt (12,25–27). Dieses Ende der Zeit verbindet Hebr anscheinend mit der überkommenen Vorstellung der Wiederkunft Christi am Letzten Tag (6,2; 9,28; 10,25.37)“. 138 Zur ausgedehnten Beweisführung vgl. B.VI.3.2.2.c. 139 Der auctor ad Hebraeos hat dabei offenbar eine neue Erde im Blick (↑ B.VI.3.3.5). 140 Auch Adams geht in Bezug auf Hebr 13,14 von einer zukünftigen „‚earthly‘ manifestation“ der Gottesstadt aus; er bezieht jedoch Hebr 12,22ff auf die himmlische Gegenwart (vgl. Adams, „Cosmology“, 137f), was aber – wie oben gezeigt – unwahrscheinlich ist. 141 Vgl. z. B. Mt 16,27; 24,30f; 25,31f; Lk 18,8 (plh.n o` ui`o.j tou/ avnqrw,pou evlqw.n a=ra eu`rh,sei th.n pi,stin evpi. th/j gh/j); Apg 1,11; 2.Thess 1,7f; 2,7f; vgl. auch 4.Esr 13,35. Zur Widerlegung einer von Eisele postulierten rein individuellen Parusie beim Tod der Gläubigen (vgl. Eisele, Reich, 66–85.413f; zurückhaltender W. Eisele, „Bürger zweier Welten: Zur Eschatologie des Hebräerbriefes“, in: ZNT 15.29/2012, 36–38) vgl. Witulski, „Eschatologie“, 178f. 142 So z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 535 und Cockerill, Hebrews, 480. 143 Vgl. auch Jak 5,8 (h` parousi,a tou/ kuri,ou h;ggiken) mit Hebr 10,25 (ble,pete evggi,zousan th.n h`me,ran). Michel spricht z. B. nur von der Parusie (vgl. Michel, Hebräer, 349); für u. a. folgende geht es offenbar sowohl um den Gerichtstag als auch um den Tag der Parusie: Lane, Hebrews II, 290; Backhaus, Hebräerbrief, 362; A. E. Stewart, „Cosmology, Eschatology, and Soteriology in Hebrews: A Synthetic Analysis“, in: BBR 20.4/2010, 549; Cockerill, Hebrews, 408f; dieser Zusammenhang von Parusie und Gericht ist im Neuen Testament breit belegt (vgl. z. B. Mt 25,31−46; 2.Thess 1,5–10; 2.Tim 4,1.8; 2.Petr 3,4–12; vgl. die Ausführungen zu diesen Stellen unter B.IV.2.2.2.b).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
avpw,leian, also Gericht bringen wird.144 Weil nun das Gericht nach Hebr 10,27 von einem offensichtlich materiellen Feuer begleitet wird, „das die Widersacher verzehren wird“ (evsqi,ein me,llontoj tou.j u`penanti,ouj), scheint ein Präsent-Werden des Gottessohnes auf der Erde naheliegend. Dies unterstreicht Hebr 10,13 (vgl. 1,13), wonach der Sohn wartet, bis bei seiner Parusie145 „seine Feinde“ (oi` evcqroi. auvtou/) zum „Schemel“ (u`popo,dion) seiner Füsse gemacht sind. Diese Feinde meinen eher irdische als geistlich-himmlische Mächte.146 Nach Hebr 12,3 mag der Autor dabei auch an die „korrupten Institutionen der jüdischen Gesellschaft“ denken. 147 Hinsichtlich des Kontexts von PsLXX 109,2 als dem Prätext von Hebr 10,13, wo von den (ausländischen) „Königen“ (vgl. PsLXX 109,5) und den „Nationen“ die Rede ist (V.6), ist aber offenbar jede irdische Macht gemeint, die Gottes Reich feindlich gesinnt ist, nach Hebr 10,27 sogar alle Ungehorsamen (vgl. 10,26).148 Wenn – was sehr wahrscheinlich ist – in Hebr 1,6 die eivsagwgh, des Erstgeborenen in die oivkoume,nhn ein Hinweis auf die Parusie ist149, wird weiter auch dort durch das auf das erste Kommen auf die Erde (vgl. 10,5) anspielende pa,lin ein erneutes Erscheinen Jesu auf der Erde vorausgesetzt. Ebenso spricht Hebr 2,8 mit der Aussage „jetzt aber sehen wir ihm noch nicht alles unterworfen“ (nu//n de. ou;pw o`rw/men auvtw/| ta. pa,nta u`potetagme,na) für eine Parusie des Sohnes auf der Erde, die eine sichtbare Durchsetzung seiner Weltherrschaft nach sich ziehen wird.150
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Vgl. z. B. Lane, der überzeugend darlegt, dass der evrco,menoj mit dem Sohn und das Kommen desselben mit dem Gericht gleichzusetzen ist (vgl. Lane, Hebrews II, 304–307). Insofern vermag die Aussage Grässers in Bezug auf Hebr 10,25–27, der Parusie-Christus habe mit dem Gericht nichts zu tun (vgl. Grässer, Hebräer III, 31), nicht zu überzeugen. 145 So z. B. Grässer, Hebräer II, 229f und DeSilva, Hebrews, 323. 146 Vgl. auch Grässer, Hebräer I, 93f: „An [geistliche] Mächte und Gewalten wie 1Kor 15,24−28 denkt Hebr […] weder hier noch sonst. Die einzige gottfeindliche [geistliche] Macht, die er nennt, ist der Teufel. Der aber ist durch Jesu Tod schon vernichtet (2,14)“. 147 Vgl. R. C. Gleason, „Angels and the Eschatology of Heb 1–2“, in: NTS 49/2003, 93 („corrupt institutions of Jewish society“). 148 Hebr 10,13 mit der Unterwerfung von irdischen Feinden bei der Parusie des Sohnes spricht gegen die Behauptung Witulskis, dass wegen Hebr 12,27–28 die Parusie Christi als ein „,himmlisches‘ bzw. ‚im Himmel‘ sich ereignendes Geschehen“ zu verstehen ist (vgl. Witulski, „Eschatologie“, 179). 149 Vgl. L. Stolz, „Das Einführen des Erstgeborenen in die οἰκουμένη (Hebr 1,6a)“, in: Bib. 95.3/2014, 414–423 und die Ausführungen unter B.IV.2.1.5.d. 150 Backhaus spricht im Zusammenhang mit der Parusie davon, dass das „in der himmlischen Wirklichkeit ewig vollzogene Heil ,am Ende‘ irdisch erfahrbar, universal durchgesetzt und damit vollendet wird (vgl. 1,6.13; 2,8; 9,28; 10,13): Im ,letzten Akt des ChristusDrama‘ wird der Sohn bei seiner Wiederkunft der ganzen oivkoume,nh als Herrscher präsentiert (vgl. 1,6)“ (vgl. Backhaus, Bund, 240).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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e. Weitere Hinweise für ein „himmlisches“ Jerusalem auf der „Erde“ Neben der im Hebr vorausgesetzten Parusie des Sohnes auf der Erde gibt es noch weitere Indizien dafür, dass sich der Verfasser das „himmlische Jerusalem“ in Hebr 12,22 als eine vom Himmel zur „Erde“ herabgekommene Stadt verstanden hat.151 1) Das Motiv einer sich zur Erde herabneigenden himmlischen Gottesstadt ist in der apokalyptischen Literatur – wie gesehen (↑ B.IV.2.1.3.a) – breit belegt (vgl. z. B. 4.Esr 13,36; äthHen 90,29; syrBar 4,3 in Verbindung mit 51,11). Angesichts der Tatsache, dass der Autor in Hebr 13,14 (po,lij h` me,llousa als eine sich erst in der Zukunft offenbarende Stadt) und anderen Stellen152 seine Nähe zu einer apokalyptischen Interpretation der Gottesstadt erkennbar macht, scheint mir dies von grosser Bedeutung zu sein, zumal die Erwartung einer herabkommenden po,lei ja auch dem Urchristentum nicht fremd ist (vgl. z. B. Offb 21,10 und Gal 4,26 im Vergleich mit 1.Thess 4,13–17153). 2) Da der yhlafwme,noj o;roj in Hebr 12,18 – wie dargelegt (↑ B.III.2.1.1.a−b) – nicht einen irdisch-berührbaren Berg im Gegensatz zu einem himmlisch-unberührbaren Berg meint und wenn man gleichzeitig an die auf den irdischen Berg Zion gerichtete eschatologische Hoffnung im Alten Testament (vgl. z. B. Mi 4,1ff [Jes 2,2ff]; Sach 2,14ff), in der apokalyptischen Literatur (vgl. z. B. syrBar 40,1–3; 4.Esr 13,35–37; vgl. auch Sib 5,249ff) und in Qumran (vgl. z. B. 1QM XII,13ff; 4Q174[Flor] I,11f) denkt, liegt es nahe, in dem (vor dem himmlischen Jerusalem erwähnten!) Siw.n o;roj einen irdischen oder neu-irdischen Gottesberg zu sehen. Dafür spricht ausserdem die Tatsache, dass die dem Hebr verwandte Apokalyptik keinen himmlischen Berg Zion kennt154, sondern mit dem „himmlischen Zion“ stets die himmlische Stadt Jerusalem meint (vgl. z. B. 4.Esr 9–10), die am Ende der Zeit auf dem irdischen Berg Zion erscheinen wird (vgl. z. B. 4.Esr 13,35f)155.
151 Zwar nicht in Bezug auf Hebr 12,22ff, wohl aber bezüglich Hebr 13,14 u. a. rechnen z. B. auch Hofius, Hurst und Stedmann mit einer auf die Erde herabkommenden Stadt (vgl. Hofius, Katapausis, 92; Hurst, Background, 42: „There is a sense in which the city […] is still future, and at the consummation some form of additional manifestation, as in Rev. 21, will occur“; R. C. Stedman, Hebrews, IVP.NTC 15, Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 1992, 144). 152 Nach Rose (vgl. Rose, Wolke, 222f) verdeutlicht z. B. auch die Aussage in Hebr 11,10, dass die zukünftige Stadt tou.j qemeli,ouj habe, die Nähe zur altjüdischen Apokalyptik (vgl. z. B. 4.Esr 10,27: locus demonstrabatur de fundamenta magnis). 153 Vgl. Schwemer, „Himmlische Stadt“, 227f. 154 So sagt auch Söllner in seiner ausführlichen Untersuchung über das himmlische Jerusalem im Frühjudentum in Bezug auf Hebr 12,22ff: „Ein solches, ausschliesslich ,himmlisches‘ Verständnis des o;roj Siw,n ist ohne bisherige literarische Vorlage“ (vgl. Söllner, Jerusalem, 178); zum irdischen Berg Zion in Offb 14,1 vgl. Satake, Offenbarung, 309. 155 Vgl. Moo, Creation, 54f.129.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
3) Abgesehen von Philo156 erscheint in den frühjüdischen bzw. urchristlichen Texten, wo ein himmlisches Jerusalem beschrieben wird, die Stadt immer als menschenleer (vgl. äthHen 14,10–14; implizit auch in 4.Esr 7,26; 10,54; syrBar 4,1–7 und Offb 21,2).157 Als mit gerechten Menschen bewohnt – wie es in Hebr 12,23f geschildert wird – zeigt sie sich erst dann, wenn sie auf die Erde herabgekommen ist (vgl. äthHen 90,29.36; 4.Esr 13,39f; Offb 21,3.7). Die verstorbenen Gerechten scheinen bis dahin entweder im Scheol (vgl. z. B. äthHen 22,1ff; 102,5; syrBar 21,23; 30,2; 4.Esr 4,41; 7,36f) oder an einem anderen, himmlischen Ort zu sein (vgl. z. B. äthHen 70,3f; Offb 6,9–11).158 Der Nachweis, dass in Hebr 12,22 an ein himmlisches Jerusalem gedacht ist, das auf den/einen „irdischen“ Berg Zion herabgekommen ist, scheint mir aber noch zu fehlen und muss – wenn möglich – durch die weitere Exegese von Hebr 12,22–24 erst erbracht werden. Grässer freilich will bei seiner Analyse von Hebr 11,10 und der Beschreibung des himmlischen Jerusalem als tou.j qemeli,ouj e;cousa po,lij dessen Herabkunft von Beginn weg ausschliessen, weil die von Gott gelegten „Fundamente“ eine unzweifelhafte „Stabilität“ und eine „qualitative Andersartigkeit“ zu allem Irdischen (nach kosmologisch-dualistischem Denken) ausdrücken würden.159 Angesichts der Tatsache, dass das himmlische Jerusalem z. B. auch in 4.Esr 10,27 als mit (stabilen) Fundamenten ausgestattet erörtert wird160 und trotzdem auf die Erde hinabkommen kann (z. B. 13,36), vermag diese Argumentation aber nicht zu überzeugen. Falls die „irdische“ Lokalität des himmlischen Jerusalems stimmen sollte, müsste es sich aber auf jeden Fall beim Siw.n o;roj in Hebr 12,22 aufgrund der unter B.IV.2.1.3.c dargelegten Verknüpfung der eschatologisch-offenbarten Gottesstadt mit der Erschütterung und metaqe,sei aller geschaffenen Dinge (vgl.
156 Dass dem Verfasser des Hebräerbriefs nicht nach philonischer Vorstellung eine himmlische Gottesstadt, in die die Seelen der Weisen nach dem Tod sogleich zurückkehren (vgl. z. B. Somn. 2,250 mit Conf. 77f), vorgeschwebt hat, sondern dass er mehr von der apokalyptischen Vorstellung geprägt ist, verdeutlicht wie bereits ausgeführt z. B. Hebr 13,14 (po,lij h` me,llousa als eine sich erst in der Zukunft offenbarende Stadt); vgl. dazu auch Rose, Wolke, 221f.226. 157 Einzig der späte gnostische Text ApPaul 29 kennt ein bewohntes Jerusalem im Himmel (ca. 150−250 n. Chr.; vgl. A. Hilhorst, „The Apocalypse of Paul: Previous History and Afterlife“, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Visio Pauli and the Gnostic Apocalypse of Paul, StEAC 9, Leuven: Peeters, 2007, 5). 158 Dazu mehr unter B.IV.2.2.3.a. 159 Vgl. Grässer, Hebräer III, 128. 160 Vgl. 4.Esr 10,27: „[E]s zeigte sich eine Ortschaft mit gewaltigen Grundmauern [et locus demonstrabatur de fundamentis magnis]“ (vgl. Klijn, 4Esra, 82).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Hebr 12,27) um einen „irdisch“-erneuerten (vgl. z. B. Jub 4,26) oder gar radikal neugeschaffenen (vgl. Offb 21,1f) Berg Zion handeln.161 Weiter wären die drei Ortsbegriffe in Hebr 12,22 auch nicht völlig synonym: Auf dem irdischerneuerten bzw. neugeschaffenen Berg Zion läge vielmehr die Stadt des lebendigen Gottes, das herabgekommene himmlische Jerusalem. 162 Das Attribut evpoura,nioj würde zudem nicht die lokale Verankerung („im Himmel“), sondern den himmlisch-göttlichen Ursprung (vgl. das parallele po,lei qeou/) bzw. die himmlisch-qualitative Beschaffenheit (vgl. Hebr 11,10) der Stadt Jerusalem betonen.163 Die Möglichkeit, evpoura,nioj in Hebr 12,22 so zu deuten, ist auf jeden Fall auch durch Hebr 6,5 gegeben. Denn h`` dwrea, h`` evpoura,nioj meint dort entweder den Empfang vom Heiligen Geist (vgl. das parallele meto,couj genhqe,ntaj pneu,matoj a`gi,ou, zur Bezeichnung vom Heiligen Geist als dwrea, vgl. z. B. Apg 2,38; 8,20; 10,45; 11,17)164, der einst im Himmel war und dann ausgegossen wurde auf/in die Gläubigen auf der Erde, oder die grosse Rettung in Christus (vgl. Hebr 2,3), die vom Himmel gekommen ist165, oder verschiedenste Heilsgüter (wie z. B. die Rettung, der Heilige Geist, das Wort Gottes usw.) 166, die vom Himmel her den Gläubigen zuteilwurden. Wie ein himmlisches Jerusalem als eschatologisches Ziel auf einer erneuerten oder neugeschaffenen Erde mit Aussagen wie z. B. in Hebr 6,19f, dass Jesus als „Vorläufer“ (!) in das offensichtlich im Himmel liegende Heiligtum eingegangen sei, in eine sinnvolle Verbindung gebracht werden könnte, muss an einer anderen Stelle verhandelt werden (↑ B.V.2.3). Zuerst muss sich die vorgeschlagene futurisch-eschatologische Deutung von Hebr 12,22–24 durch die weitere Exegese – falls möglich – bestätigen.
161 Auf die komplexe Frage nach einer möglichen Erneuerung der Schöpfung oder Neuschöpfung wird in der Analyse zu Hebr 12,27 ausführlich eingegangen. Dass man eine Erneuerung alles Geschaffenen bzw. eine recreatio in der Hebräerbriefforschung nicht mehr a priori ausschliessen darf – wie früher durch die postulierte Verankerung des Hebr in einem platonisch-philonischen Weltbild oft gemacht –, betont z. B. auch J. Laansma, „Hidden Stories in Hebrews: Cosmology and Theology“, in: R. Bauckham (Hg.), A Cloud of Witnesses. The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts, LNTS 387, London, New York: T&T Clark, 2008, 10ff. 162 Trotzdem sind die drei Bilder in gewissem Sinne eins, weil alle „the political and cultic center of Israel“ evozieren (vgl. Johnson, Hebrews, 331). Das textkritisch breit gestützte kai, zwischen Siw.n o;rei und po,lei qeou/ – nur D* lässt es aus – ist aber in jedem Fall kein kai,-explicativum (gegen z. B. Grässer, Hebräer III, 312). 163 Ähnlich z. B. auch Buchanan, Hebrews, 222. 164 So z. B. Koester, Hebrews, 314. 165 So z. B. Cockerill, Hebrews, 270: „‚The heavenly gift‘ can be nothing less than God’s gift of ‚such a great salvation‘ in Christ (cf. 2:3). This gift comes from heaven“. 166 So z. B. Moffatt, Hebrews, 78 und Backhaus, Hebräerbrief, 231.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
2.1.4 muria,sin avgge,lwn – „zu den Myriaden von Engeln“ Nach der ausführlichen Benennung des Zielortes werden dessen erste Bewohner genannt: die muria,dej avgge,lwn, d. h. „unzählige Zehntausende“167 von Engeln. a. Die um den göttlichen Richter auf der „Erde“ versammelten Engelsheere Die Engelmyriaden bilden für Grässer – „[a]pokalyptischer Vorstellung entsprechend“ – „den die Himmel füllenden und den Gottesthron umgebenden himmlischen Hofstaat“.168 Tatsächlich sind sie primär ein Idiom apokalyptischer Texte169 und erscheinen in Himmelsbeschreibungen (vgl. äthHen 14,22f; Offb 5,11170). Allerdings übersieht Grässer, dass die Engelmyriaden nicht nur als himmlischer Hofstaat, sondern auch als Engelsheere beschrieben werden, die Gott bei der eschatologischen Gerichtstheophanie begleiten. So heisst es in grHen 1,9, dass Gott „mit seinen Myriaden und Heiligen [sc. Engel, vgl. z. B. 14,23–25] kommen wird, um alle zu richten“ (e;rcetai su.n tai/j muria,sin kai. toi/j a`gi,oij autou/ poih/sai kri,sin kata. pa,ntwn). In Jud 14f wird diese Stelle als „Weissagung Henochs“ (proefh,teusen […] ~Enw.c) zitiert (ivdou. h=lqen ku,rioj evn a`gi,aij muria,sin auvtou/ poih/sai kri,sin kata. pa,ntwn […]).171 Da der Verfasser des Hebräerbriefs gemäss der Zielangabe krith/| qew/| pa,ntwn in Hebr 12,23 (vgl. die Parallele zu grHen 1,9 bzw. Jud 15: kri,sin kata. pa,ntwn!) offenbar eine Gerichtsszene vor Augen hat (↑ B.IV.2.2.2), scheint es mir mit Blick auf grHen 1,9 und Jud 14f naheliegend, die muria,dej avgge,lwn als Engelsheere zu verstehen, die Gott vom Himmel her zu seinem Gericht auf der „Erde“ begleiten bzw. begleitet haben, zumal das Motiv von beim Letzten Gericht zur Erde herabkommenden Engeln als Begleiter Gottes bzw. des Messias sowohl in den Apokryphen bzw. Pseudepigraphen (vgl. z. B. äthHen 100,4; TestLev 3,3; Sib 2,298ff) und in Qumran (vgl. z. B. 1QM XII,4f.8f; 4Q491 1–3 1–4.10; ähnlich 1QS IV,11ff; CD II,5ff) als auch im Neuen Testament (vgl. z. B. Mt 16,27; 24,30f; 25,31; Lk 9,26; 1.Thess 3,13; 2.Thess 1,7) breit belegt ist.172 167 Der Zahlbegriff muria,j bedeutet „zehntausend“; im Plural meint er eine nicht genau bestimmbare grosse Anzahl (vgl. Bauer, Wörterbuch, 1072). 168 Vgl. Grässer, Hebräer III, 314. 169 Bei Philo z. B. kommt der Begriff muria,j in Bezug auf Engel kein einziges Mal vor. 170 Zu DanLXX 7,10 vgl. die unten folgenden Ausführungen. Ein später christlich-gnostischer Beleg ist auch TestSal A 26,9. Stellen aus nicht-griechischen Texten, wo von Tausenden bzw. einer grossen Menge von Engeln im Himmel die Rede ist, sind z. B. äthHen 71,8.12; slawVitAd 25; 1QM XII,1. 171 Zu der möglichen Textvorlage des Zitats und den denkbaren Anpassungen durch Jud vgl. z. B. H. Paulsen, Der Zweite Petrusbrief und der Judasbrief, KEK 12/2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1992, 74ff. 172 Vgl. auch Sach 14,5ff als eine wichtige Quelle dieses Motivs.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Für die Deutung, dass die Engelmyriaden um den göttlichen Richter auf der „Erde“ versammelt sind, spricht weiter auch der alttestamentliche Text, an den sich der Verfasser mit der Nennung der muria,dwn avgge,lwn in Hebr 12,22 offenbar anlehnt. b. Der Prätext DanLXX 7,9ff und seine irdische Deutung In der LXX ist in Bezug auf Engel nur an zwei Stellen von „Myriaden“ die Rede, nämlich in DtnLXX 33,2 und DanLXX 7,10. Nach DtnLXX 33,2 ist Gott vom Gebirge Paran (nach 33,1 vom Sinai) herbeigeeilt „mit den Zehntausenden von Kadesch“ (su.n muria,sin Kadhj), welche im folgenden Nebensatz als Engel beschrieben werden (evk dexiw/n auvtou/ a;ggeloi metV auvtou/).173 Die These von Allen, dass in Hebr 12,22 mit den muria,sin avgge,lwn an diesen Text aus dem Canticum Mosis erinnert wird 174, ist angesichts der in Hebr 12,18 betont scharfen Abgrenzung vom Zion zum Sinai (ouv proselhlu,qate) wenig überzeugend. Vielmehr scheint der Verfasser des Hebräerbriefs mit den muria,sin avgge,lwn an DanLXX 7,10 anzuknüpfen175, wo mu,riai muria,dej erwähnt werden, die Jahwe als dem „Alten an Tagen“ (7,9) dienten (evqera,peuon auvto.n) und vor ihm standen (pareisth,keisan auvtw/|). Die Parallelen von DanLXX 7,9–18 zu Hebr 12,22–29 sind frappierend: 1) Die Engelmyriaden stehen in beiden Texten bei Gott als dem Richter (vgl. DanLXX 7,9f mit Hebr 12,23); 2) beide Abschnitte erwähnen ein göttliches Feuer des Gerichts (vgl. DanLXX 7,9.11 mit Hebr 12,29); 3) in beiden Texten gibt es eine Anspielung auf Himmelsbücher (vgl. DanLXX 7,10 mit Hebr 12,23); 4) in beiden Abschnitten steht bei Gott eine Erlöserfigur (vgl. DanLXX 7,13176 mit Hebr 12,24); 5) beide Texte sprechen davon, dass die Gläubigen ein bleibendes Königreich empfangen (vgl. DanLXX 7,18 mit Hebr 12,28). Da in Hebr 173 Nach dem Masoretischen Text lautet der Vers ganz anders: „Er strahlte hervor vom Berg Paran und kam von heiligen Myriaden (Xdq tbbrm; die LXX hat anstatt Xdq, „heilig“, Xdq, „Kadesch“ gelesen); zu seiner Rechten war feuriges Gesetz (tdXa bzw. td Xa) für sie“. 174 Vgl. Allen, Deuteronomy, 216. 175 So z. B. auch F. Bleek, Der Brief an die Hebräer. Commentar, 2. Hälfte, Kap. IV,14−XIII, Berlin: Ferdinand Dümmler, 1840, 942 (mit Verweis auf die parallele Beschreibung Gottes als „Richter“ in Dan 7,9f und Hebr 12,23); Hegermann, Hebräer, 259 und Vanhoye, Hebrews, 392 (Letztere ohne es näher zu begründen). 176 Auch wenn der u. a. durch die Minuskel 88 und die Syro-Hexapla bezeugte LXX-Text von Dan 7,13 (evpi. tw/n nefelw/n tou/ ouvranou/ w`j ui`o.j avnqrw,pou h;rceto kai. w`j palaio.j h`merw/n parh/n) der ursprüngliche LXX-Text sein sollte, setzt die Abweichung vom aramäischen Text und der Übersetzung Theodotions (evpi. tw/n nefelw/n tou/ ouvranou/ w`j ui`o.j avnqrw,pou h;rceto kai. e[wj palaio.j h`merw/n parh/n) nicht zwingend eine grundlegende inhaltliche Differenz voraus, weil der Menschensohn mit dem Alten an Tagen identifiziert wäre (vgl. O. Hofius, „Der Septuaginta-Text von Daniel 7,13−14: Erwägungen zu seiner Gestalt und seiner Aussage“, in: ZAW 117.1/2005, 73–90; insbesondere 87f).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
12,28 (basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej) sowohl formal als auch inhaltlich zweifelsohne eine Anlehnung an DanLXX 7,18 (paralh,yontai th.n basilei,an […] th.n basilei,an e[wj tou/ aivw/noj, vgl. 7,14: h` basilei,a auvtou/ h[tij ouv mh. fqarh/|) vorliegt (↑ B.VI.3.4.1.a) und die anderen Übereinstimmungen kaum zufällig sein können, liegt es m. E. sehr nahe, Hebr 12,22–29 u. a. als eine christlich-eschatologische Interpretation von DanLXX 7,9–18 zu sehen.177 Warum ist dies nun – wie erwähnt (↑ B.IV.2.1.4.a) – ein Hinweis dafür, dass sich die Engelmyriaden in Hebr 12,22 nicht im Himmel, sondern auf der „Erde“ befinden? Im Blick auf alttestamentliche Texte mit einem himmlischen Thronrat wurde Dan 7,9–14 sehr oft als ein im Himmel stattfindendes Geschehen verstanden.178 Goldingay und Koch haben jedoch überzeugende Gründe dargelegt, warum die Perikope in der vorliegenden literarischen Form179 beim Leser an ein auf der Erde stattfindendes Gericht und einen vom Himmel herkommenden Menschensohn (Xna rb; ui`o.j avnqrw,pou) denken lässt: 1) Die Beobachterposition des Sehers Daniel ist in Dan 7,9ff wie in 7,2–8 offensichtlich auf der Erde (von einer Entrückung in den Himmel wie z. B. im Buch Henoch lesen wir nichts); 2) ebenso auf der Erde befinden sich die vier tierartigen Mächte (7,3–8), wo sie auch von Gott zur Verantwortung gezogen werden (7,11f; vgl. insbesondere das Straffeuer für das vierte Tier in 7,11 mit dem aus dem Thron Gottes hervorkommenden Feuerstrom in 7,10); 3) dass infolgedessen der Menschensohn vom Himmel auf die Erde zu Gott kommen muss, wird in 7,14 durch die unmittelbar auf das Übergeben der irdischen Herrschaft folgenden Worte bestätigt: „Und [sogleich!] dienten ihm alle Völker, Nationen und Sprachen“180; 4) die irdische Herrschaft wird in 7,27 mit der Spezifizierung „unter dem ganzen Himmel“ (aymX-lk twxt) explizit vorausgesetzt;
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Zur grossen Bedeutung des Daniel-Buches im Neuen Testament vgl. z. B. auch C. A. Evans, „Daniel in the New Testament: Visions of God’s Kingdom“, in: J. J. Collins; P. W. Flint (Hg.), The Book of Daniel. Composition and Reception. Volume II, FIOTL 2, Leiden: Brill, 2001, 490–527. 178 Vgl. z. B. M. S. Kee, „The Heavenly Council and its Type-scene“, in: JSOT 31.3/2007, 259–273. Kvanvig kommt dadurch, dass er Dan 7,9–13 in einer direkten Abhängigkeit von äthHen 14,18–25 sieht, zu demselben Schluss (vgl. H. S. Kvanvig, „Throne Visions and Monsters: The Encounter Between Danielic and Enochic Traditions“, in: ZAW 117.2/2005, 249–272). 179 Die diachrone Lesart von Boyarin ist interessant, aber letztlich doch spekulativ (vgl. D. Boyarin, „Daniel 7, Intertextuality, and the History of Israel’s Cult“, in: HThR 105.2/2012, 139–162). 180 !wxlpy hl aynXlw ayma aymm[ lkw.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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5) die zu 7,9–14 parallele (!) Stelle 7,22 spricht explizit von einem Kommen Gottes (hta-yd d[; e[wj tou/ evlqei/n) und seinem Übergeben des Reiches an die Heiligen auf der Erde.181 Auch Jesus bzw. die neutestamentlichen Autoren haben DanLXX 7,13 mit dem erwähnten Kommen des Menschensohnes auf den Wolken des Himmels als ein Kommen vom Himmel her ausgelegt182 und damit implizit das göttliche Gericht mit den Engelmyriaden in Dan 7,9f auf der Erde lokalisiert183. Explizit auf einen „irdischen“ Ort des Geschehens hin interpretiert wird Dan 7,9ff z. B. in Mt 25,31ff, wonach „der Menschensohn“ „[herab]kommen“ (vgl. Dan 7,13), auf seinem „Thron“ (vgl. Dan 7,9) „sitzen“ (vgl. Dan 7,10) und über „alle [zu ihm versammelten] Nationen“ (vgl. Dan 7,14: pa,nta ta. e;qnh) Gericht halten wird (vgl. Dan 7,9f).184 Die irdische Deutung von Dan 7,9–14 ist auch in der frühjüdischen Literatur vorherrschend. 4.Esr 13,1–13 lehnt sich an Dan 7,2–14 an185 und schildert offensichtlich irdische Geschehnisse. So ist nämlich die Rede von jemandem vom Aussehen „wie eine Gestalt eines Menschen“186 (V.3; vgl. Dan 7,13), der aus einem stürmischen Meer hervorkommt (V.3; vgl. Dan 7,2ff), mit den Wolken des Himmels fliegt (V.3; vgl. Dan 7,13) und von einem grossen Berg aus 181
Vgl. J. E. Goldingay, Daniel, WBC 30, Dallas: Word Books, 1989, 164–167 sowie K. Koch, „Der ‚Menschensohn‘ in Daniel“, in: ZAW 119.3/2007, 374. Auch Collins muss, obwohl er zu der Auffassung eines himmlischen Geschehens tendiert, zu Dan 7,9 und dem Aufstellen der Throne sagen: „the location is unclear“, und zu 7,13 und dem Kommen des Menschensohnes: „[t]he text does not indicate whether the figure is ascending or descending or moving horizontally“ (vgl. J. J. Collins, Daniel. A Commentary on the Book of Daniel, Hermeneia, Minneapolis, MN: Fortress, 1993, 300.311). 182 So z. B. in Mt 24,30; Mk 13,26 und Lk 21,27; zu diesen Stellen sagt Shepherd: „The authors depict Jesus as quoting Dan 7:13 for the sign of his parousia to the earth“ (vgl. M. B. Shepherd, „Daniel 7:13 and the New Testament Son of Man“, in: WThJ 68.1/2006, 108; vgl. auch S. J. Gathercole, „The Son of Man in Mark’s Gospel“, in: ET 115/2004, 366– 372). 183 Eine Bestätigung dieser Folgerung ist die Richterfunktion des kommenden Menschensohnes (vgl. z. B. Mt 19,28; 25,31ff mit Dan 7,9f). 184 Weitere Bezüge von Mt 25,31ff zu Dan 7,9ff sind das erwähnte Erhalten eines Königreiches bzw. einer Königsherrschaft (vgl. Mt 25,34 mit Dan 7,18) und das Gerichtsfeuer (vgl. Mt 25,41 mit Dan 7,10f). Wenn – was wahrscheinlich ist − das in Mt 19,28 angesprochene eschatologische Herrschen des Menschensohnes evn th/| paliggenesi,a| sich auf die Zeit der irdischen Erneuerung nach apokalyptischer Vorstellung bezieht (vgl. die Belegstellen bei C. S. Keener, The Gospel of Matthew. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2009, 479f; vgl. meine Ausführungen unter Anm. 266 im Kapitel VI des Teils B), ist auch diese Stelle ein Beleg für eine irdische Deutung von Dan 7,9ff, weil die qro,noi (Plural!) offenbar auf die danielische Traumvision anspielen (vgl. T. Kazen, „The Coming Son of Man Revisited“, in: JSHJ 5.2/2007, 168). 185 Vgl. z. B. Evans, „Daniel“, 506f; vgl. M. E. Stone, Fourth Ezra. A Commentary on the Book of Fourth Ezra, Hermeneia, Minneapolis, MN: Fortress, 1990, 382–387. 186 Vgl. Klijn, 4Esra, 98.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
(vgl. Dan 2,45) eine feindliche Heerschar mit einem Feuerstrom aus seinem Mund vernichtet (V.10f; vgl. Dan 7,10f). Noch deutlicher ist äthHen 90,20–27 eine Anlehnung an Dan 7,9f187, und zwar auch mit einer irdischen Deutung des Prätexts. Nach äthHen 90,20 wird „in dem lieblichen Land“188 (d. h. in Israel189, vgl. 89,40) ein Thron aufgerichtet, worauf sich der Herr der Schafe setzt (vgl. Dan 7,9); Bücher werden geöffnet, und Gericht wird gehalten (vgl. Dan 7,10). Die schuldigen Sterne und 70 Hirten werden nach äthHen 90,24–27 mit Feuer bestraft (vgl. Dan 7,10f). Eine himmlische Deutung von Dan 7,9f scheint auf den ersten Blick in äthHen 47,3 vorzuliegen190: „In jenen Tagen sah ich das Haupt der Tage, wie es sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzte und die Bücher der Lebenden vor ihm geöffnet wurden, und sein ganzes Heer, das oben in den Himmeln und rings um ihn ist […], vor ihm stand.“191
Gewisse Parallelen zu Dan 7,9f sind klar vorhanden. Allerdings muss man die Stelle wegen des unerwähnt bleibenden Vollzugs des Gerichts in Verbindung mit den Beschreibungen in äthHen 50,1–51,5 lesen, welche wiederum nur eine Antizipation der Kapitel 61–63 sind.192 In äthHen 62,1–2 heisst es schliesslich: „Und so befahl der Herr den Königen, den Mächtigen, den Hohen und denen, die die Erde besitzen und sprach: ,Macht eure Augen auf und erhebt eure Hörner, wenn ihr den Erwählten zu erkennen vermögt.‘ Und der Herr der Geister setzte (ihn) auf den Thron der Herrlichkeit, […] und die Rede seines Mundes tötet alle Sünder, und alle Frevler werden von seinem Angesicht vertilgt werden.“193
Nickelsburg und VanderKam sagen zu Recht, dass der Gerichtsort vom Autor nicht spezifiziert ist.194 Ihrer Meinung nach scheint er im Himmel zu sein, da die vorhergehende Gerichtsszene (61,6–13) ebenso dort lokalisiert wird.195 187 Vgl. z. B. G. W. Nickelsburg, 1 Enoch 1. A Commentary on the Book of 1 Enoch. Chapters 1-36; 81-108, Hermeneia, Minneapolis, MN: Fortress, 2001, 403 („a remniscent of Dan 7:9-10“). 188 Vgl. Uhlig, Henochbuch, 701. 189 Vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 404. 190 Vgl. auch das in äthHen 46,1 erwähnte „Haupt der Tage“ mit einem Kopf wie weisse Wolle und die dort beschriebene Person, deren „Gestalt wie das Aussehen eines Menschen (war)“ (vgl. Uhlig, Henochbuch, 586f) mit Dan 7,9.13. Die oft mit Dan 7,9f in Verbindung gebrachte Passage in äthHen 14,18–23 (vgl. z. B. R. E. Stokes, „The Throne Visions of Daniel 7, 1 Enoch 14, and the Qumran ‚Book of Giants‘ (4Q530): An Analysis of Their Literary Relationship“, in: DSD 15.3/2008, 340–358) ist für unsere Fragestellung nicht relevant, weil sie keine Gerichtsszene wie in Dan 7,9f darstellt. 191 Uhlig, Henochbuch, 589. 192 Vgl. G. W. Nickelsburg; J. C. VanderKam, 1 Enoch 2. A Commentary on the Book of 1 Enoch. Chapters 37-82, Hermeneia, Minneapolis, MN: Fortress, 2012, 181. 193 Uhlig, Henochbuch, 613. 194 Vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 259. 195 Vgl. ebd.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Dem kann man aber Folgendes entgegen halten: 1) In 61,6ff geht es explizit um das Gericht an Engeln und nicht an Menschen196; 2) die Beschreibung in 62,1–2 mit den irdischen Regenten, die den Menschensohn sehen können, und die Bestrafung jener und anderer Sünder, die von der Gegenwart des Erwählten ausgeht, sprechen eher für eine irdische Lokalität.197 Ein herabsteigender göttlicher Richter ist in der älteren Henochliteratur, von der das Buch der Parabeln (äthHen 37–71) abhängt198, auf jeden Fall belegt (vgl. z. B. 1,9; 25,3). Eine Dan 7,9f faszinierend ähnliche eschatologische Gottesgerichtsvision liegt im von wenigen fragmentarischen Handschriften bezeugten Buch der Giganten (vgl. v. a. 1Q23–24; 2Q26; 4Q203, 4Q530–532, 4Q556; 6Q8)199 vor, und zwar in 4Q530 2 II,16–19, dem Traum von Uhja: „Siehe, der Herrscher des Himmels stieg auf die Erde herab. Und Stühle wurden aufgestellt. Und der grosse Heilige [setzte sich. Hundertmal] hundert bedienten ihn. Tausendmal tausend [huldigten] ihm [und] standen vor ihm. Und siehe, [Bücher] wurden aufgeschlagen, und Recht wurde gesprochen. Und das Recht [des Gerichts] wurde [schriftlich] festgehalten und buchstabengetreu aufgezeichnet […] über alles Lebendige […].“200
Sowohl die Parallelen als auch die Unterschiede zur Daniel-Stelle wurden von Stuckenbruck bereits ausführlich dargelegt.201 Falls 4Q530 2 II,16ff von Dan 7,9f abhängig ist – was sehr wahrscheinlich ist angesichts des in Qumran äusserst einflussreichen Daniel-Buches202 und des Plurals „Throne“ (!wsrk), der ohne die Intention einer bewussten Anspielung auf Dan 7,9 keinen Sinn ergibt, da in der Vision von Uhja nur Gott Richter ist203 –, dann ist der Abschnitt ein 196
Zu dem Gericht an Engeln vgl. auch Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 251. Nickelsburg und VanderKam gestehen denn auch zu, dass nach Hes 1–2 die Möglichkeit eines mobilen (d. h. zur Erde kommenden) himmlischen Thrones theoretisch besteht (vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 259). 198 Vgl. M. A. Knibb, Essays on the Book of Enoch and Other Early Jewish Texts and Traditions, SVTP 22, Leiden: Brill, 2009, 159: „The Parables were not written in isolation from the other Enoch traditions, but rather represent a continuation of them“ (vgl. auch Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 62f). 199 Vgl. L. T. Stuckenbruck, The Book of Giants from Qumran, TSAJ 63, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997. 200 K. Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer. Samt den Inschriften aus Palästina, dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen Zitaten. Band 2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2004, 158f. 201 Vgl. Stuckenbruck, Giants, 121f. 202 Vgl. z. B. P. W. Flint, „The Daniel Tradition at Qumran“, in: C. A. Evans; P. W. Flint (Hg.), Eschatology, Messianism, and the Dead Sea Scrolls, SDSS, Grand Rapids, Michigan: Eerdmans, 1997, 41–60. 203 Stokes’ Versuch, dies als ein „remnant of an earlier version of the tradition in which the divine tribunal also sits“ zu erklären (vgl. Stokes, „Throne“, 354), ist wenig überzeugend, weil er ein „unintentional leftover“ voraussetzen muss; so richtig bemerkt von J. R. Trotter, „The Tradition of the Throne Vision in the Second Temple Period: Daniel 7:9-10, 1 Enoch 14:18-23, and the Book of Giants (4Q530)“, in: RevQum 99/2012, 464. Dass in 4Q530 2 197
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
weiterer Beleg für eine irdische Interpretation der Daniel-Stelle (Gott „steigt herab auf die Erde“; txn a[ral). Aber selbst wenn ein anderes literarisches Verhältnis zwischen den beiden Thronvisionen vorliegen sollte204, wäre 4Q530 2 II,16ff immer noch ein Beleg für die Vorstellung, dass es Engelmyriaden gibt, die bei einem eschatologischen Gericht auf der „Erde“ vor Gott stehen. Dass der Verfasser von Dan 7,9ff offenbar ein irdisches Gerichtsgeschehen beschreibt und die Stelle sowohl im Neuen Testament als auch in frühjüdischen Texten mehrheitlich in diesem Sinn verstanden wurde, macht es wahrscheinlich, dass der auctor ad Hebraeos bei seiner Anlehnung in 12,22f an die um den göttlichen Richter versammelten Engelmyriaden von DanLXX 7,9f auch von sich auf der „Erde“ befindenden Engelsheeren ausgegangen ist. 2.1.5 panhgu,rei – „zu einer Festversammlung“ Der Begriff panh,gurij ist ein neutestamentliches hapax legomenon. Er setzt sich zusammen aus pa/n („ganz“, „alle betreffend“) und avgei,rein („[sich] versammeln“) und bedeutet demnach zuerst einfach „Versammlung“, wobei der Akzent „sur le nombre et l’universalité des participants à la réunion“ liegt, wie Spicq betont205. Weil aber panh,gurij in der Umwelt sehr oft206 und in der LXX immer (vgl. Hos 2,13; 9,5; Am 5,21; Hes 46,11) synonym zu e`orth, („Fest“) verwendet wird, trifft die Übersetzung „Festversammlung“207 den Sinn des Begriffs genauer, wobei der Aspekt der Festfreude bzw. Festheiterkeit besonders betont ist (vgl. z. B. HosLXX 2,13, wo panhgu,reij parallel zu euvfrosu,naj erwähnt sind; Philo, Spec. 2,214; Flacc. 118: euvqumi,a, h]n panh,gurij evpizhtei/). panh,gurij war im Speziellen zudem der terminus für Sportspiele, die indessen stets auch Feste mit religiösem Charakter waren.208
II,17 im Gegensatz zu Dan 7,10 nicht nur von „Tausend [mal] Tausenden“ ( !ypla @la), sondern auch von „Hundert [mal] Hunderten“ (!yam ham) die Rede ist, ist kein überzeugendes Argument gegen die literarische Abhängigkeit von der Daniel-Stelle (gegen Stuckenbruck, Giants, 123), da die Hundert mit den Tausend eine Klimax bilden und als eine rhetorisch bedingte Hinzufügung durchaus Sinn machen. 204 Stuckenbruck sieht im Traum von Uhja eine „theophanic tradition […] which has been expanded in Daniel“ (vgl. Stuckenbruck, Giants, 123); zu Vorschlägen eines komplexen, mündliche Traditionen und Hen 14 umschliessenden Abhängigkeitsverhältnis vgl. Stokes, „Throne“, 356–358 und Trotter, „Tradition“, 466. 205 Vgl. C. Spicq, „La Panégyrie de Hébr. XII,22“, in: StTh 6/1952, 30. 206 Vgl. die Belegstellen zu Philo und anderen griechischen Autoren bei Spicq, „Panégyrie“, 31f. 207 So z. B. Michel, Hebräer, 463; Cockerill, Hebrews, 642 („festal gathering“); Spicq spricht von einem „festival“ bzw. einer „assemblée solennelle pour la célébration d’une fête“ (vgl. Spicq, „Panégyrie“, 31). 208 Vgl. ebd., 33–35.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
127
a. Die Festversammlung der Engel Die in der Hebräerbriefforschung breit debattierte Frage ist nun, welche grammatikalische Stellung bzw. Funktion panhgu,rei im unmittelbaren Kontext hat. Die drei häufigsten Antworten lauten209: 1) panhgu,rei ist eine Apposition zu muria,sin avgge,lwn („zu den Engelmyriaden, einer Festversammlung“) 210; 2) panhgu,rei ist ein zu muria,sin avgge,lwn gehörender dativus modi („zu den Engelmyriaden in einer Festversammlung“)211; 3) panhgu,rei ist durch kai, mit evkklhsi,a| prwtoto,kwn verknüpft („zu einer Festversammlung und Gemeinde von Erstgeborenen“) 212. Für 1) und 2) bzw. gegen 3) spricht erstens, dass panh,gurij – wie gesehen – den Akzent auf die Zahl bzw. Vollzahl der Versammelten legt, was eher zu der Zahlangabe muria,sin avgge,lwn, der unzählbar grossen Engelschar, als zu den Erstgeborenen passt.213 Da das kai, – wie dargelegt (↑ B.IV.1) – in Hebr 12,22–24 der entscheidende strukturelle Marker ist, insofern er, abgesehen vom ersten Vorkommen, stets den Beginn eines neuen Gliedes anzeigt, liegt es zweitens nahe, die Trennlinie zwischen panhgu,rei und kai. evkklhsi,a| zu ziehen.214 Eher für 1) und gegen 2) spricht, dass muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei parallel zu po,lei qeou/ zw/ntoj( VIerousalh.m evpourani,w| steht, wobei das himmlische Jerusalem klar eine Apposition ist. Die Engelmyriaden werden demnach als eine fröhliche Festversammlung beschrieben. Was dies bedeutet, soll später erörtert werden. Zunächst gilt es zu bemerken, dass das Freudenfest offenbar nicht nur von den Engeln gefeiert wird. b. Die fröhliche Zion-Versammlung und ihr alttestamentlicher Hintergrund Auch wenn sich panh,gurij formal auf die muria,daj avgge,lwn bezieht, so erscheint doch der ganze Offenbarungsort als „un lieu de béatitude“, wo auch die Gläubigen „qui s’en approchent doivent par conséquent percevoir le bonheur et la joie qui leur sont réservés“, wie Spicq richtig betont.215 209 Zu den weniger häufigen und in der neueren Forschung kaum mehr beachteten Antworten vgl. Spicq, Hébreux II, 406 und Hughes, Hebrews, 552f. 210 So z. B. Riggenbach, Hebräer, 413; Michel, Hebräer, 463; Lane, Hebrews II, 438; Witherington, Hebrews, 338; Backhaus, Hebräerbrief, 445; Cockerill, Hebrews, 653; Kibbe, Fear, 189. 211 Vgl. z. B. Moffatt, Hebrews, 214; Montefiore, Hebrews, 229; Casey, Eschatology, 354; Hughes, Hebrews, 546; Attridge, Hebrews, 371; DeSilva, Hebrews, 464; Johnson, Hebrews, 327; O’Brien, Hebrews, 485. 212 So z. B. Windisch, Hebräerbrief, 112; A. Nairne, The Epistle to the Hebrews, CBSC, Cambridge: Cambridge University Press, 1921, 103; Braun, Hebräer, 436; März, Hebräerbrief, 79; Strobel, Hebräer, 237; H.-F. Weiss, Hebräer, 669; Ellingworth, Hebrews, 679; Karrer, Hebräer II, 336f. 213 So richtig Spicq, „Panégyrie“, 31. 214 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 441 und Witherington, Hebrews, 342. 215 Vgl. Spicq, „Panégyrie“, 32f.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Mit Recht bemerkt auch Grässer, dass panh,gurij dem Verfasser als „vorzügliches Medium“ dient, „den Fest- und Freudencharakter der Zion-Offenbarung im Gegensatz zur furchterregenden Sinai-Offenbarung herauszustreichen“.216 Am Sinai ist Gottes Volk von Furcht erfüllt (vgl. Hebr 12,19: oi` avkou,santej parh|th,santo mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon), am Zion stimmt das Volk der Gläubigen aufgrund der freien Gemeinschaft mit Gott in die Freude der Engel mit ein. Dass am Freudenfest neben den Engeln auch die Erstgeborenen und Gerechten teilhaben, zeigt auch JesLXX 66,10 als der alttestamentliche Prätext, an den sich der Hebr mit dem Begriff panh,gurij wahrscheinlich primär anlehnt. 217 In JesLXX 66,10 wird Jerusalem aufgerufen, sich zu freuen (euvfra,nqhti Ierousalhm), und diejenigen, die Jerusalem lieben und jetzt über sie trauern, werden ermuntert, sich in der Stadt zu versammeln (panhguri,sate) und sich über sie zu freuen (ca,rhte cara/|). Im Gegensatz zu den Stellen in der LXX, wo panh,gurij entweder unter einem negativen Blickpunkt vorkommt (Hos 2,13; 9,5; Am 5,21) oder Jerusalem unerwähnt bleibt (Hes 46,11), wird das dem Nomen entsprechende Verb in JesLXX 66,10 positiv und im Zusammenhang mit einem eschatologischen Jerusalem verwendet (vgl. den Bezug zu Jes 65,1ff, wonach die Stadt im Zuge der endzeitlichen Neuschöpfung der Welt zum Frohlocken der Menschen neu geschaffen wird), wie dies auch in Hebr 12,22 der Fall ist (vgl. auch die eschatologische Deutung von Jes 66,11 in 11Q5 XXII,5). Nicht unwahrscheinlich scheint mir, dass der Verfasser des Hebräerbriefs mit der panhgu,rei als „Festversammlung“ gleichzeitig auch an andere ZionVerheissungen anknüpft. Dabei ist zunächst auf Jes 25,6 zu verweisen, wonach Jahwe in einer eschatologischen Zeit, wenn der Tod verschlungen sein wird (Jes 25,8), auf dem Berg (d. h. auf dem Berg Zion, vgl. 24,23!) allen Völkern ein Festmahl (htXm) bereiten wird, das die LXX explizit als Freudenfest charakterisiert (tou/to pi,ontai euvfrosu,nhn). Auch die Verheissung in JesLXX 35,10, wonach die durch den ku,rioj Zusammengeführten (sunhgme,noi) mit Freude (metV euvfrosu,nhj) eivj Siwn (vgl. Hebr 12,22!) kommen werden, könnte bei panh,gurij in Hebr 12,22 im Hintergrund stehen, weil bereits in 12,12 JesLXX 35,3 aufgegriffen wurde218 und in JesLXX 35,5 wie in Hebr 12,23 das Gericht Gottes thematisiert wird (ivdou. o` qeo.j h`mw/n kri,sin avntapodi,dwsin).219 Weiter ist die „Festversammlung“ in Hebr 12,22 mit Blick auf die Erwähnung des göttlichen Sabbats am siebten Schöpfungstag in 4,4 und der futurisch-
216
Vgl. Grässer, Hebräer III, 315. So z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 679 („possible allusion“). 218 Vgl. dazu Cockerill, Hebrews, 629, Anm. 67. 219 Allerdings geht es in Hebr 12,23 nicht wie in Jes 35,6 um ein vergeltendes Gericht an den Gegnern Israels, sondern um das Endgericht, ↑ B.IV.2.2.2.b. 217
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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eschatologischen „Sabbatfeier“220 in 4,9 (vgl. sabbatismo,j) auch als „ewige Sabbatfeier“ zu deuten.221 Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Sabbat das jüdische „Fest“ schlechthin ist (vgl. z. B. Philo, Mos. 2,211: panhguri,zein, evn i``larai/j dia,gontaj euvqumi,aij). Die wahrscheinliche Übernahme von panh,gurij in Hebr 12,22 aus JesLXX 66,10 scheint mir ein weiterer Hinweis, dass der Autor in Hebr 12,22–24 das himmlische Jerusalem in einer gewissen Weise mit einer „irdisch“-erneuerten oder „irdisch“-neugeschaffenen Wirklichkeit verbunden sieht. Dem entspricht, dass in frühjüdischen Texten, wo von einem irdisch-endzeitlichen Heil in Zion die Rede ist, die (Fest-)Freude der Gerechten stets betont wird (vgl. z. B. 1QM XII,13.15; 4Q177 IV,15; 11Q5 XXII,12f; 4.Esr 13,12f; vgl. auch 1QM I,8ff und äthHen 5,7; 51,5, wo es zwar nicht explizit um Zion, aber auch um eine irdische Realität geht). c. Die anbetende Engelschar und der Bezug zu Hebr 1,6 Es gilt jetzt noch die Frage zu beantworten, was die „Festversammlung“ als spezifische Beschreibung der Engelmyriaden bedeutet. Mit Recht verstehen viele Exegeten das panegyrische Engelsheer als eine Gott anbetende bzw. lobpreisende Schar.222 Denn nach biblischem Denken gehören Freude über göttliches Heil und Anbetung Gottes eng zusammen (vgl. z. B. Ps 9,3; 40,17; 68,4f; 97,12; 149,2f), und eine, wenn nicht die Hauptaufgabe der Engel ist der Lobpreis Gottes (vgl. z. B. Jes 6,3; Ps 103,20; 148,2; vgl. z. B. auch 1QM XII,1; Offb 5,11f). Mit der lobpreisenden Engelschar in Hebr 12,22 greift der Verfasser m. E. bewusst eine bestimmte Stelle auf, wo er bereits schon einmal von anbetenden Engeln gesprochen hat, nämlich Hebr 1,6.223 So schreibt neuerdings z. B. auch Filtvedt: „The presence of the festive assembly, consisting of the myriad of angels, reflects an image of heavenly worship. This recalls the image of angelic worship from 1:6“.224
220
Vgl. z. B. H. Weiss, „Sabbatismos in the Epistle to the Hebrews“, in: CBQ 58.4/1996, 688 („Sabbath celebration“); Karrer betont mit Recht zu sabbatismo,j in Hebr 4,9: „Die Endung -mos weist unser Nomen als Bezeichnung der Tätigkeit aus. Es geht also nicht um quietistische, sondern aktive Ruhe, die den Sabbat feiernd begeht“ (vgl. Karrer, Hebräer I, 218). 221 Vgl. Koester, Hebrews, 545 („eternal Sabbath celebration“); ähnlich auch Cockerill, Hebrews, 211 („grand description of this [vgl. 4,9] ‚Sabbath celebration‘ in 12:22-24“). 222 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 467; Schunack, Hebräerbrief, 209; DeSilva, Hebrews, 466; Cockerill, Hebrews, 653. 223 Dafür spricht auch die auffallende Parallele von dem prwto,tokoj in 1,6 und den prwto,tokoi in 12,23. 224 O. J. Filtvedt, The Identity of God’s People and the Paradox of Hebrews, WUNT II 400, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 176.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
In Hebr 1,6 heisst es: o[tan de. pa,lin eivsaga,gh| to.n prwto,tokon eivj th.n oivkoume,nhn( le,gei kai. proskunhsa,twsan auvtw/| pa,ntej a;ggeloi qeou/. Es ist umstritten, aus welcher Schrift(-tradition) der Verfasser des Hebräerbriefs in 1,6b zitiert.225 Unstrittig ist jedoch, dass es dem Verfasser um einen geschichtlichen Moment geht, wo die Engel den Sohn Gottes angebetet haben oder dies noch tun werden. Meines Erachtens ist dies für den Verfasser der gleiche Zeitpunkt wie in Hebr 12,22. In Hebr 12,22 wird zwar nicht explizit gesagt, wen die Engel anbeten. Es scheint mir aber durchaus wahrscheinlich, dass sie nicht nur Gott anbeten, sondern auch den in V.24 erwähnten, siegreichen (und darum anzubetenden) Mittler Jesus226 (vgl. z. B. auch die von Paulus erwartete „Endverherrlichung Jesu“227 durch alle Geschöpfe in Phil 2,10f). Dafür spricht auch die formale Entsprechung der beiden Glieder kai. muria,sin avgge,lwn( panhgu,rei und kai. diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ in Hebr 12,22 (↑ B.II). Dass der Verfasser mit der lobpreisenden Engelschar in 12,22 den bereits in 1,6 erwähnten Moment der Anbetung des Erstgeborenen durch die Engel näher beschreibt, hat nun erhebliche Konsequenzen für die Deutung von Hebr 12,22– 24. Denn in Hebr 1,6 wird offenbar ein futurisch-eschatologischer Zeitpunkt beschrieben, wo Gott seinen Sohn bei der Parusie in eine „irdische“ Wirklichkeit einführt. Dies wird jetzt in einem Exkurs ausführlicher dargelegt. d. Exkurs: Hebr 1,6 und die Anbetung des Sohnes bei der Parusie als Argument für eine „irdische“ Lokalisierung von Hebr 12,22–24 i Die Beweisgründe für die Parusie-Interpretation von Hebr 1,6a In meinem Artikel „Das Einführen des Erstgeborenen in die oivkoume,nh (Hebr 1,6)“228 habe ich bereits ausführlich die verschiedenen Deutungen der Zitateinleitung in Hebr 1,6a (o[tan de. pa,lin eivsaga,gh| to.n prwto,tokon eivj th.n oivkoume,nhn( le,gei [kai.]229) dargelegt. Sie reichen von der Präsentation des Sohnes nach der Schöpfung über die Inkarnation, die Taufe, die Erhöhung in den Himmel (im Sinn der himmlischen Inthronisation) bis hin zur Parusie. Da
225
↑ B.IV.2.1.5.d.ii. Dass die „Festversammlung“ auch den Sieg Jesu feiert, betont z. B. auch Williamson: „Here in 12.22 they [sc. the angels] engage in joyful celebration of the victory achieved by Christ, a victory over sin (1.3)“ (vgl. Williamson, Philo, 69); dass die Engel Jesus anbeten, sieht z. B. auch Witherington, Hebrews, 99. 227 Vgl. O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6−11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen: Mohr Siebeck, 2. Aufl., 1991, 66.101. 228 Vgl. Stolz, „Einführen“, 405–423. 229 Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs aus einer Texttradition rund um DtnLXX 32,43 zitiert, gehört das kai, zum Zitat, bei der Zitierung von PsLXX 96,7 zur Zitateinleitung (↑ B.IV.2.1.5.d.ii). 226
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das Adverb pa,lin („wieder“) sich offenbar auf eivsaga,gh| beziehen muss230, können die drei ersten Interpretationsvorschläge ausgeschlossen werden, weil sie ein „Wieder“-Einführen des Sohnes nicht erklären können. Als mögliche Deutungen bleiben die Inthronisations- und Parusie-These. Erstere findet den grösseren Zuspruch.231 Es sprechen aber drei entscheidende Argumente für die Deutung von Hebr 1,6a im Rahmen der Wiederkunft des Sohnes auf die Erde am Ende der Zeit. 1) Die Verbindung von o[tan mit dem Konjunktiv eivsaga,gh| kann man grammatikalisch nur als ein futurum exactum verstehen (prospektiver Konditionalsatz), weil eine iterative Deutung formal unwahrscheinlich – o[tan mit Konjunktiv Aorist kommt in der gesamten neutestamentlichen Literatur fast immer mit futurischer Sinnrichtung vor – und inhaltlich unmöglich ist.232 Wenn demnach die eivsagwgh, des Erstgeborenen für den in Hebr 1,6a sprechenden Verfasser (!) in der Zukunft liegt, kann es sich nicht um die in der Vergangenheit liegende Inthronisation des Sohnes handeln, sondern sie muss vielmehr die noch ausstehende Parusie desselben meinen. 2) Der Begriff oivkoume,nh beschreibt als „bewohnte Welt“ sowohl im Neuen Testament als auch in der LXX und der griechischen Umwelt – abgesehen von der umstrittenen Stelle in Hebr 2,5 – stets die diesseitige, irdische Welt.233 Der neuerliche Versuch von Moffitt, dies in teilweiser Anknüpfung an Vanhoye 234 mit der postulierten Anlehnung an eine eschatologische Deutungsmöglichkeit von oivkoume,nh als „a heavenly realm“ in PsLXX 92, 95 und 96 zu relativieren235,
230 Gegen die Deutung von pa,lin als Zitateinleitungsformel mit dem Bezugswort le,gei (so. z. B. Spicq, Hébreux II, 17) und für die Verbindung des Adverbs mit eivsaga,gh| sprechen u. a. folgende Gründe: 1) In den Stellen, wo pa,lin die Funktion einer Zitateinleitungsformel hat (Hebr 1,5; 2,13; 4,5 10,5), ist immer ein kai, vorangestellt (vgl. auch Röm 15,11.12.13; 1.Kor 3,20) dass der Verfasser bewusst ein Hyperbaton kreiert, ist kaum wahrscheinlich, wenn er damit rechnen muss, missverstanden zu werden, insofern die Verbindung mit dem positionsmässig naheliegenderen Wort eivsaga,gh| auch Sinn macht (vgl. dazu Stolz, „Einführen“, 407f). 231 Zusätzlich zu den in meinem Artikel aufgeführten Exegeten (vgl. ebd., 409) sind z. B. auch folgende zu erwähnen: D. M. Moffitt, Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle to the Hebrews, NT.S 141, Leiden, Boston: Brill, 2011, 68; S. D. Mackie, „Heavenly Sanctuary Mysticism in the Epistle to the Hebrews“, in: JThS 62.1/2011, 104; Barnard, Mysticism, 247; C. A. Richardson, Pioneer and Perfecter of Faith. Jesus’ Faith as the Climax of Israel’s History in the Epistle to the Hebrews, WUNT II 338, Tübingen: Mohr Siebeck, 2012, 186; B. J. Whitfield, Joshua Traditions and the Argument of Hebrews 3 and 4, BZNW 194, Berlin, New York: de Gruyter, 2013, 258. 232 Vgl. die ausführliche Argumentation in Stolz, „Einführen“, 414–416. 233 Vgl. z. B. O. Michel, Art. oivkoume,nh, ThWNT V (1954), 159–161; H. Balz, Art. oivkoume,nh, EWNT II (2011), 1229−1233; Stolz, „Einführen“ 418. 234 Vgl. A. Vanhoye, „L’οἰκουμένη dans l’épître aux Hébreux“, in: Bib. 45/1964, 248– 53; vgl. Stolz, „Einführen“, 411. 235 Vgl. Moffitt, Atonement, 70–81.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
vermag nicht zu überzeugen.236 Da der Verfasser des Hebräerbriefs das Wort in 1,6 zusatzlos verwendet und dabei in Kauf nehmen muss, dass seine Leser es vom Normalgebrauch in der LXX und der Umwelt her verstehen, scheint es sehr naheliegend, dass er eine irdische Wirklichkeit vor Augen hatte. Dies wird durch die in Hebr 2,5 erwähnte oivkoume,nhn th.n me,llousan in keiner Weise negiert, insofern – selbst wenn sich die Näherbestimmung peri. h-j lalou/men tatsächlich auf Hebr 1,6 beziehen sollte – die „zukünftige Welt“ sehr wahrscheinlich nicht die gegenwärtige Himmelswelt, in die der Sohn eingegangen ist, meint, sondern einen erneuerten oder gar neugeschaffenen Kosmos.237 3) Dass sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit dem Titel prwto,tokoj bewusst an den im Judentum238 messianisch gedeuteten davidischen Weltherrscher in PsLXX 88,28 (kavgw. prwto,tokon qh,somai auvto,n u`yhlo.n para. toi/j basileu/sin th/j gh/j) anlehnt, ist auf dem Hintergrund des in Hebr 1,2b erwähnten Allerben (klhrono,moj pa,ntwn) und der kaum zufälligen Parallele von Hebr 1,5b mit dem Zitat aus 1.Chr 17,13 („Ich werde ihm Vater, und er wird mir Sohn sein“) und der Aussage in PsLXX 88,27 („Er [sc. der Davidide] wird mich [Jahwe] anrufen: Mein Vater bist du“) sehr wahrscheinlich.239 Infolgedessen passt die eivsagwgh, des Erstgeborenen offenkundig besser zur Parusie als dem definitiven und sichtbaren Antritt der Weltherrschaft des Sohnes als zu dessen 236 Moffitt geht davon aus, dass in Hebr 1,6b PsLXX 96,7 zitiert wird und somit in Hebr 1,6a eine Verbindung zur oivkoume,nh in PsLXX 96,4 besteht (e;fanan ai` avstrapai. auvtou/ th/| oivkoume,nh| ei=den kai. evsaleu,qh h` gh/). Die dort erwähnte oivkoume,nh lasse sich auf dem Hintergrund einer als „nicht erschüttert werdend“ qualifizierten oivkoume,nh in PsLXX 92,1 und 95,10 von einem „ancient reader“ durchaus als Himmel lesen, zumal die Erde nach PsLXX 95,9 ja erschüttert werde (vgl. ebd., 70f.). Selbst unter der Annahme, dass der Verfasser in Hebr 1,6 tatsächlich PsLXX 96,4.7 vor Augen hatte, überzeugt die Argumentation nicht. Erstens steht oivkoume,nh in V.4 auf der narrativen Ebene ganz offensichtlich inhaltlich parallel zu gh/ und meint eine irdische Grösse (vgl. F.-L. Hossfeld; E. Zenger, Psalmen 51−100, HThK.AT 26, Freiburg i. Br.: Herder, 3. Aufl., 2007, 681: „bewohnte[r] Erdkreis“). Zweitens: Selbst wenn man an jener Stelle für den Leser einen gewissen Deutungsspielraum und eine Verbindung zu PsLXX 95 annehmen möchte, ist nach PsLXX 95,13 die oivkoume,nh durch den Hinweis auf das göttliche Gericht unbestreitbar als irdische Wirklichkeit definiert. Drittens erklärt sich der Unterschied zwischen dem Erschüttert-Werden der gh/ und dem NichtErschüttert-Werden der oivkoume,nh durch die Deutung der „Erde“ als „Erdenbewohner“ und des „Erdkreises“ als Wohn-Ort im Sinne der „Erdscheibe [bzw. -kugel]“ (vgl. Hossfeld; Zenger, Psalmen II, 669; vgl. auch die inhaltliche Differenzierung der beiden Termini in PsLXX 96,4). 237 Vgl. dazu Stolz, „Einführen“ 418–420 sowie die Darlegungen unter B.VI.3.3.4−5. 238 Nach rabbinischen Quellen soll z. B. Rabbi Nathan (um 160 n. Chr.) gesagt haben: „Gott sprach zu Mose: ,Wie ich Jakob zum Erstgeborenen gemacht habe, wie es heisst: Mein erstgeborener Sohn ist Israel [...] so werde ich den König, den Messias, zum Erstgeborenen machen, wie es heisst: Auch will ich ihn zum Erstgeborenen machen‘ [Ps 89,28]“ (vgl. H. L. Strack; P. Billerbeck, Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung Johannis, Bill. 3, München: Beck, 9. Aufl., 1994, 258; vgl. auch 677). 239 Vgl. Stolz, „Einführen“, 421f.
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IV. Analyse von Hebr 12,22–24
Erhöhung (vgl. PsLXX 88,28: qh,somai auvto,n u`yhlo.n para. toi/j basileu/sin th/j gh/j). Der Sohn ist nach Hebr 1,2b bei seiner Erhöhung als Allerbe zwar bereits eingesetzt worden, aber der Zeitpunkt, wo er „sein Erbe in Besitz nimmt“240, steht noch aus (vgl. auch Hebr 1,13; 2,8; 10,13), wie auch Käsemann zu Hebr 1,6 schreibt: „Jedenfalls bedeutet diese Endproskynese sachlich die öffentliche Besitzergreifung der Weltherrschaft, die Christus bei seiner […] Erhöhung […] bereits zugesprochen war“; „[die Herrschaft] wird in der Parusie allen Augen sichtbar werden“.241 Interessanterweise findet man eine Bestätigung der Parusie-Interpretation von Hebr 1,6a auch im Kontext des in 1,6b zitierten Prätextes. ii Das Zitat in Hebr 1,6b aus PsLXX 96 als weitere Bestätigung der ParusieInterpretation Der griechische Text des Zitats in Hebr 1,6b lautet: [kai.]242 proskunhsa,twsan auvtw/| pa,ntej a;ggeloi qeou/. Er wird in der Forschung mit drei verschiedenen Quellen in Verbindung gebracht: Od 2,43, eine griechische Vorlage von Dtn 32,43 und PsLXX 96,7. Das zweite Lied im Buch der Oden243 entspricht dem Canticum Mosis in Dtn 32 und der Text in Od 2,43 ist dem Zitat in Hebr 1,6b von allen uns bekannten Quellentexten am ähnlichsten. Tabelle 3: Gegenüberstellung von Od 2,43 und Hebr 1,6b Od 2,43
Hebr 1,6b
kai. proskunhsa,twsan auvtw/| pa,ntej oi` a;ggeloi qeou/
[kai.] proskunhsa,twsan a;ggeloi qeou/
auvtw/|
pa,ntej
Der bestimmte Artikel oi` ist die einzige Differenz. In dem explizit aus dem Canticum Mosis zitierten Text im Dialog mit dem Juden Tryphon von Justin
240
Vgl. Strobel, Hebräer, 23. Vgl. Käsemann, Gottesvolk, 69f. 242 Vielleicht gehört das kai, zur Zitateinleitung (vgl. unten). 243 Das Buch der Oden ist eine erstmals nachweislich im Codex Alexandrinus (5. Jh. n. Chr.) den Psalmen angefügte Sammlung von 14 Liedern (vgl. auch die Minuskel 55; der Verona-Psalter hat 8, der Zürcher 10 Lieder) aus dem Alten (Od 1−8; 10−11; vgl. z. B. das Schilfmeerlied aus Ex 15,1−19 in Od 1 oder das Gebet Hannas aus 1.Sam 2,1−10 in Od 3) und Neuen Testament (Od 9 = Lk 1,46−55; Od 13 = Lk 2,29−32) und aus jüdischer (Od 12: Gebet des Manasse) und christlicher Gebetstradition (Od 14); vgl. dazu die ausführlichen Untersuchungen bei H. Schneider, „Die biblischen Oden im christlichen Altertum“, in: Bib. 30/1949, 28–65. 241
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
(130,1) ist aber auch diese letzte Differenz aufgehoben.244 Ausgehend von einer „early adoption [des Canticum Mosis] for the liturgical use in the Church“ (mit Verweis auf Offb 15,3 und die Justin-Stelle) vertritt Lane als einer der wenigen die These, dass auch dem Hebräer diese Texttradition vorgelegen habe und dass sie die Grundlage des Zitats sei.245 Eine grosse Problematik dieser Argumentation ist aber das junge Alter der Oden-Handschriften (Codex A, 5. Jh. n. Chr.) und derjenigen des Dialogs von Justin (14. Jh.), was eine literarische Abhängigkeit vom Hebräerbrief nicht ausschliessen kann. 246 Weit mehr vertreten ist denn auch die These, dass der auctor ad Hebraeos aus einer griechischen Vorlage von Dtn 32,43 zitiere, entweder aus der LXX oder einer anderen uns nicht mehr erhaltenen griechischen Handschrift (dem Qumran-Fragment 4QDtnq [4Q44] 32,43 entsprechend).247 Die folgende Tabelle zeigt die zwei relevanten stichoi aus den insgesamt acht in dem Masoretischen Text nicht bzw. nur teilweise enthaltenen stichoi der LXX248 gegenüber dem Text in Hebr 1,6b. Tabelle 4: Gegenüberstellung von DtnLXX 32,43b.d und Hebr 1,6b DtnLXX 32,43
Hebr 1,6b
b) kai. proskunhsa,twsan auvtw/| pa,ntej ui`oi. qeou/
[kai.] proskunhsa,twsan a;ggeloi qeou/
auvtw/|
pa,ntej
244 Zum Text vgl. E. J. Goodspeed (Hg.), Die ältesten Apologeten. Texte mit kurzen Einleitungen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1914, 251; zu einer inhaltlich-kontextuellen Analyse vgl. W. Kraus, „Die Septuaginta als Brückenschlag zwischen Altem und Neuem Testament? Dtn 32 (Odae 2) als Fallbeispiel“, in: H.-J. Fabry; S. Kreuzer (Hg.), Im Brennpunkt: die Septuaginta. Band 3. Studien zur Theologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Liturgie der Griechischen Bibel, BWANT 174, Stuttgart: Kohlhammer, 2007, 284ff. 245 Vgl. Lane, Hebrews I, 28. So auch K. J. Thomas, „The Old Testament Citations in Hebrews“, in: NTS 11.4/1965, 304 und Pfitzner, Hebrews, 54. 246 So auch Schröger, Verfasser, 49 und Ellingworth, Hebrews, 118. Die älteste Handschrift des Dialogs stammt aus dem Jahr 1363 n. Chr.; vgl. dazu K. Greschat; M. Tilly (Hg.), Justinus. Dialog mit dem Juden Tryphon, Wiesbaden: Marix, 2005, 19. 247 Nicht eindeutig in eine der beiden Kategorien einteilbar sind folgende Autoren, die auch die Zitierung aus einer griechischen Schrift von Dtn 32,34 vertreten: Riggenbach, Hebräer, 19; Spicq, Hébreux II, 18; Michel, Hebräer, 113; Rissi, Theologie, 53; Hughes, Hebrews, 59; Bruce, Hebrews, 57, Anm. 74; Karrer, Hebräer I, 135; E. V. McKnight; C. L. Church, Hebrews-James, Smyth and Helwys Bible Commentary (SHBC) 28, Macon, GA: Smyth and Helwys, 2004, 48f; Backhaus, Hebräerbrief, 97. Explizit beide Möglichkeiten zieht Buchanan in Betracht (vgl. Buchanan, Hebrews, 17). Steyn nennt als Quellen des Zitats zwar Od 2,43 und DtnLXX 32,43, gleichzeitig spricht er aber von möglichen „alternative versions (textual traditions, oral versions of liturgical usage)“ des Canticum Mosis (vgl. Steyn, Quest, 57.71). 248 Vgl. die übersichtliche Gegenüberstellung bei Allen, Deuteronomy, 48.
135
IV. Analyse von Hebr 12,22–24 d) kai. evniscusa,twsan a;ggeloi qeou/
auvtw/|
pa,ntej
Der stichos b entspricht abgesehen von ui`oi, exakt dem Text in Hebr 1,6b. Einige Kommentatoren gehen nun von der Möglichkeit aus, dass der Verfasser des Hebräerbriefs die a;ggeloi aus dem (parallelen) stichos d entlehnt249 oder den Text direkt verändert hat250. Die grosse Schwäche dieser These liegt aber darin, dass der Verfasser bei der bewussten Modifikation von ui`oi. qeou/ zu a;ggeloi qeou/ seine Betonung der Sohnschaft Jesu im Gegensatz zu den Engeln (vgl. Hebr 1,2.5f.8) in den Augen der in der LXX bewanderten Leserschaft gleich wieder untergraben hätte.251 Gegenüber dieser Ansicht, dass der Verfasser aus der gängigen LXX zitiert habe, steht jene von einem anderen griechischen (LXX-)Text als Zitatquelle, der durch 4QDtnq 32,43 belegt sei.252 Tabelle 5: Gegenüberstellung von 4QDtnq 32,43 und Hebr 1,6b 4QDtnq 32,43253
Hebr 1,6b
~yhla lk wl wwxtXhw
[kai.] proskunhsa,twsan a;ggeloi qeou/
auvtw/|
pa,ntej
Für Braun ist die Übereinstimmung „frappant“, weil a;ggeloi in der LXX gelegentlich die Wiedergabe für ~yhla sei.254 Gleich argumentiert Cockerill (mit
249 So z. B. S. E. Docherty, The Use of the Old Testament in Hebrews. A Case Study in Early Jewish Bible Interpretation, WUNT II 260, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 156 und Strobel, Hebräer, 23 („in zusammengezogener LXX-Fassung“). Montefiore und Eisele sehen zudem auch eine Angleichung an PsLXX 96,7 als möglich an (vgl. Montefiore, Hebrews, 46; Eisele, Reich, 61). 250 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 193; so sind vielleicht auch Braun und März zu verstehen (vgl. Braun, Hebräer, 37; März, Hebräerbrief, 25). 251 So z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 118f. Das schliesst auch die These von Jipp aus, der von einer „conflation“ von DtnLXX 32,43 und 32,8 (avgge,lwn qeou/) spricht (vgl. J. W. Jipp, „The Son’s Entrance into the Heavenly World: The Soteriological Necessity of the Scriptural Catena in Hebrews 1.5-14“, in: NTS 56.4/2010, 562). 252 Vgl. z. B. H. Braun, Qumran und das Neue Testament. Band I, Tübingen: Mohr Siebeck, 1966, 243; Hegermann, Hebräer, 52; Grässer, Hebräer I, 80; G. L. Cockerill, „Hebrews 1:6: Source and Significance“, in: BBR 9/1999, 51−64; M. Karrer, „Der Weltkreis und Christus, der Hohepriester: Blicke auf die Schriftrezeption des Hebräerbriefes“, in: W. Kraus; K.-W. Niebuhr (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont biblischer Theologie, WUNT 162, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 161; Allen, Deuteronomy, 51. 253 Vgl. E. Ulrich; F. M. Cross (Hg.), Qumran Cave 4 – IX. Deuteronomy, Joshua, Judges, Kings, DJD 14, Oxford: Clarendon, 1999, 141. 254 Vgl. Braun, Qumran I, 243.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Verweis auf PsLXX 8,6; 96,7; 137,1)255 und führt zudem die These an, dass a;ggeloi qeou/ in Dtn 32,43b die „original Greek Translation“ gewesen sei, insofern der Abschreiber der gängigen LXX-Handschrift die postulierte Originallesart ui`oi. qeou/ (hebr.: ~yhla ynb) in Dtn 32,43d irrtümlich mit a;ggeloi qeou/ (hebr.: ~yhla) in Dtn 32,43b vertauscht habe.256 Meines Erachtens ist es durchaus möglich, dass dem Verfasser des Hebräerbriefs eine uns unbekannte griechische Übersetzung vorgelegen hat, die in Anlehnung an ~yhla nicht ui`oi. qeou/, sondern a;ggeloi qeou/ gelesen hat, aus der er formal zitiert. Zwingend ist diese These allerdings nicht, insofern 1) die LXX zwar ~yhla mit a;ggeloi übersetzt, aber nirgends mit a;ggeloi qeou/257, und 2) ein Übersetzer ~yhla in Anlehnung an ~yhlah-ynb auch mit ui`oi. qeou/ hätte wiedergeben können. 258 Schliesslich bleibt noch die Möglichkeit zu nennen, dass in Hebr 1,6b aus PsLXX 96,7 zitiert wird.259 Tabelle 6: Gegenüberstellung von PsLXX 96,7und Hebr 1,6b PsLXX 96,7
Hebr 1,6b
proskunh,sate auvtw/| pa,ntej oi` a;ggeloi auvtou/
[kai.] proskunhsa,twsan a;ggeloi qeou/
auvtw/|
pa,ntej
Von den markanten Unterschieden ist zuerst das im Psalm fehlende kai, zu nennen, das nach Allen in Hebr 1,6 „no rhetorical purpose“ habe, was für eine Zitierung aus Dtn 32,43b mit dem vorhandenen kai, spreche.260 Der Unterschied fällt jedoch weg, wenn man kai, als Adverb zur Zitateinleitung in Hebr 1,6a rechnet („[dann] spricht er auch/sogar“), was grammatikalisch und inhaltlich durchaus möglich zu sein scheint. 261 Als zweite Differenz ist die Form des 255
Vgl. Cockerill, „Hebr 1:6“, 57. Vgl. ebd., 58−60; vgl. dazu die kritische Würdigung bei Allen, Deuteronomy, 49. 257 PsLXX 8,6 liest avgge,louj, 96,7 oi` a;ggeloi auvtou/ und 137,1 avgge,lwn. 258 Vgl. z. B. Gen 6,2.4, wo im Gegensatz zu z. B. Hiob 2,1 der Ausdruck nicht mit a;ggeloi qeou/, sondern mit ui`oi. qeou/ übersetzt wird. 259 Vgl. z. B. T. K. Oberholtzer, „The Warning Passages in Hebrews: Part 1: The Eschatological Salvation of Hebrews 1:5-2:5“, in: BS 145.577/1988, 87; H. W. Attridge, „The Psalms in Hebrews“, in: S. Moyise; M. J. Menken (Hg.), The Psalms in the New Testament, NTSI, London: T&T Clark, 2004, 201 („The citation, in any case, clearly displays the tendency of the Greek translation of Ps 97:7“); A. Rascher, Schriftauslegung und Christologie im Hebräerbrief, BZNW 153, Berlin, New York: de Gruyter, 2007, 90; Moffitt, Atonement, 72f. 260 Vgl. Allen, Deuteronomy, 46; so z. B. auch Braun, Hebräer, 37 und Cockerill, „Hebr 1:6“, 52. 261 1) Der adverbiale Gebrauch von kai, ist im Hebr nicht ungeläufig (vgl. z. B. 1,2; 2,11.14; 3,2 4,2.10.12); 2) wenn kai, adverbial gebraucht wäre, würde es sinnvoll entweder mit der Bedeutung „auch“ an ei=pen in 1,5 anknüpfen oder mit der Bedeutung „sogar“ eine Steigerung zu allen vorangehenden Zitaten aufbauen, insofern das Zitat in 1,6 die Engel, 256
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
137
Imperativs zu bemerken. Eine mögliche Erklärung für einen Wechsel von proskunh,sate zu proskunhsa,twsan könnte die Absicht des Autors sein, den Engeln durch eine indirekte Anrede eine kleinere Aufmerksamkeit zu geben als dem nach dem Kontext im Fokus stehenden Erstgeborenen262; auf jeden Fall bietet der in PsLXX 96,7a vorangegangene Imperativ aivscunqh,twsan die grundsätzliche Möglichkeit zur sprachlichen Angleichung. Die dritte grössere Unstimmigkeit betrifft die Engel, die in PsLXX 96,7 als a;ggeloi auvtou/ und in Hebr 1,6 als a;ggeloi qeou/ bezeichnet werden. Sie könnte man dadurch erklären, dass a;ggeloi qeou/ mehr Unterstützung für eine Interpretation vom vorangehenden auvtw/| auf Jesus hin bringt, weil er dann als eine von qeo,j zu unterscheidende Person erscheint. Alles in allem betrachtet, ist es gut möglich, dass in Hebr 1,6b aus PsLXX 96,7 zitiert wird, zumal dieser Text aus allen uns vorliegenden griechischen Texten am ähnlichsten ist. Aber auch ein „Mischzitat“263 aus DtnLXX 32,43 und PsLXX 96,7 oder eine formale Angleichung der Psalm-Stelle an das Canticum Mosis erachte ich als möglich. Auf jeden Fall scheint mir jedoch eine zumindest sachliche Anlehnung an PsLXX 96,7 in Hebr 1,6b als nahezu erwiesen, weil in PsLXX 96,4 (im Gegensatz zum Canticum Mosis) wie in der Zitateinleitung in Hebr 1,6 explizit von der oivkoume,nh die Rede ist. Dies ist umso mehr relevant, als dass der Verfasser des Hebräerbriefs mit seiner Zitateinleitung den Leser auf den Kontext des zitierten Textes lenkt.264 Erstaunlicherweise findet sich nun in PsLXX 96 eine grosse inhaltliche Schnittmenge zu der unter B.IV.2.1.5.d.i dargelegten Bedeutung von Hebr 1,6a als dem Wiederkommen des Allerben und Allherrschers auf die Erde. Ps 97 hat nämlich eine „Theophanie“ Jahwes als König und Richter der Welt zum Thema.265 Diese wird in der LXX offenbar als eschatologisches Ereignis verstanden (vgl. die Futurformen in V.3 und 10). Jahwe kommt als König (V.1)
deren Untergeordnet-Sein durch die Zitate untermauert werden soll (vgl. 1,4), nach der Interpretation des Verfassers des Hebräerbriefs erstmals direkt auffordern würde, vor Jesus niederzufallen (vgl. Bedeutung von proskunei/n „fussfällig verehren“, „niederfallend anbeten“; Bauer, Wörterbuch, 1434f); 3) die eher aussergewöhnliche Wortstellung von kai, nach dem Verb wäre kein Gegenargument, da sie auch sonst im Sinne eines Stilmittels der Betonung vorkommt (vgl. z. B. Hebr 10,15). 262 Eine Änderung eines alttestamentlichen Prätextes in Bezug auf die grammatikalische Person ist jedenfalls auch in Hebr 13,5 belegt, wo die Aussage in DtnLXX 31,6 ouv mh, se avnh/| ou;te mh, se evgkatali,ph| zu ouv mh, se avnw/ ouvdV ouv mh, se evgkatali,pw modifiziert wird (vgl. Allen, Deuteronomy, 68ff). 263 Vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 161. 264 So attestieren es z. B. auch all jene Kommentatoren, die versuchen, den prwto,tokon und dessen Einführung in die oivkoume,nhn im Kontext von Dtn 32,43 festzumachen (vgl. z. B. Ellingworth, Hebrews, 119; Karrer, „Weltkreis“, 161ff); vgl. Anm. 269. 265 Vgl. z. B. Hossfeld; Zenger, Psalmen II, 675ff.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
vom Himmel her266 (V.2) – begleitet von Himmelsphänomenen (V.3–4) – auf die Erde (V.5) und erscheint allen Völkern in Herrlichkeit (V.6). Das Ziel dieser Epiphanie Jahwes ist die „universale Durchsetzung seiner Königsherrschaft“267 (vgl. V.5b.6b7.9). Die Parallelen zu Hebr 1,6a liegen auf der Hand. Auch dort haben wir eine Bewegung vom Himmel auf die Erde, insofern der Sohn von seiner himmlischen Position zur Rechten des Vaters (vgl. Hebr 1,4) wieder in die bewohnte „irdische“ Welt eingeführt wird. Und wie es im Psalm bei der Parusie Jahwes um den Antritt der Weltherrschaft geht, so auch in Hebr 1,6a und der Parusie des Sohnes als prwto,tokoj im Sinn des antretenden Welterben und Weltherrschers gemäss der Anlehnung an PsLXX 88,28. Der Erstgeborene in Hebr 1,6a als der höchste König der Könige der Erde (u`yhlo.n para. toi/j basileu/sin th/j gh/j, vgl. PsLXX 88,28) entspricht zudem erstaunlich genau dem königlich herrschenden „Herrn“ (o` ku,rioj evbasi,leusen, vgl. PsLXX 96,1b), der der Höchste über die ganze Erde ist (su. ei= ku,rioj o` u[yistoj evpi. pa/san th.n gh/n, V.9). Eine solch grosse inhaltliche Übereinstimmung zu Hebr 1,6a, wie sie in PsLXX 96 gegeben ist268, sucht man im Canticum Mosis vergeblich.269 Die These, dass sich der Verfasser in Hebr 1,6 an PsLXX 96 angelehnt hat, findet eine weitere Bekräftigung in der Tatsache, dass es im Hinblick auf dessen christo- bzw. theologischen Denkvoraussetzungen durchaus nachvollziehbare Gründe gibt, die Epiphanie Jahwes auf die Parusie des Sohnes zu beziehen. 1) Tw/| Dauid o[te h` gh/ auvtou/ kaqi,statai als LXX-Überschrift des Psalms bietet – wie Motyer überzeugend aufgezeigt hat – eine Basis zur Identifikation 266 Das den König verbergende „Wolkendunkel“ (lpr[w !n[; nefe,lh kai. gno,foj) und die Erwähnung des Thrones sprechen für einen himmlischen Ausgangspunkt der Theophanie (vgl. Hossfeld; Zenger, Psalmen II, 678). 267 Vgl. ebd., 675. 268 Ohne es ausführlich darzulegen, spricht auch Oberholtzer davon, dass Hebr 1,6 auf „catastrophic events of the second advent of Christ“ verweise, wobei Psalm 97 „a similar setting“ habe (vgl. Oberholtzer, „Warning I“, 87). 269 Im unmittelbaren Kontext von DtnLXX 32,43b geht es um Jahwe, der das Blut seiner Söhne rächen (V.43e), seine Feinde bestrafen (V.43f) und das Land seines Volkes reinigen wird (V.43g). Offensichtliche Anhaltspunkte für eine messianische Interpretation fehlen. Selbst wenn man eine solche Deutung einfach voraussetzen würde, wäre nur eine erlösende Wiederkunft des Messias für sein Volk angesprochen, nicht aber dessen Herrschaftsantritt über die ganze Welt als seinem Erbe (vgl. Hebr 1,6a). Infolgedessen fehlt auch die universale Perspektive (vgl. oivkoume,nh). Dass der Verfasser die oivkoume,nhn in Verbindung zu den avgge,loij qeou/ gesehen hat, die nach Dtn 32,8 Völkerengel meinten und somit auch einen „universalen Horizont“ abdeckten (vgl. Karrer, Hebräer I, 135; ausführlicher bei Karrer, „Weltkreis“, 161ff), ist m. E. nicht sehr naheliegend. Kaum zu überzeugen vermag auch die These von Ellingworth, prwto,tokoj beziehe sich auf DtnLXX 33,5 (kai. e;stai evn tw/| hvgaphme,nw| a;rcwn), weil der messianische Titel u. a. auch die Liebe Gottes betone (vgl. Ellingworth, Hebrews, 119).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
139
von Jahwe mit David bzw. dem davidischen König270, wobei der Sohn für den Verfasser des Hebräerbriefs die Erfüllung der „Verheissungen“ über diesen König darstellt (vgl. die messianisch interpretierten Stellen davidischer Königsideologie in Hebr 1,5.8–9.13!). 2) PsLXX 96,1b bietet mit o` ku,rioj den Titel, den der auctor ad Hebraeos in Hebr 1,10 mit dem Zitat aus PsLXX 101,26 (ku,rie) auch christologisch interpretiert hat. 3) Die Beschreibung Jahwes und seines Handelns in PsLXX 96 entspricht in weiten Teilen dem Bild, das der Hebr vom Sohn und seinem Wirken hat. Man vergleiche z. B. die Beschreibung des göttlichen Thrones bzw. der Königsherrschaft mithilfe der Begriffe dikaiosu,nh kai. kri,ma in PsLXX 96,2b mit Hebr 1,8−9 und 7,2271 oder die Aussagen über das richtende Handeln Jahwes in PsLXX 96,3 (pu/r evnanti,on auvtou/ proporeu,setai kai. flogiei/ ku,klw| tou.j evcqrou.j auvtou/) mit Hebr 10,27272.273 4) Im Blick auf die Tatsache, dass der Verfasser des Hebräerbriefs den Sohn als „Ausstrahlung der Herrlichkeit“ Gottes bezeichnet (vgl. Hebr 1,3: avpau,gasma th/j do,xhj, vgl. auch 2,9; 3,3; 13,21), scheint es durchaus möglich
270 Vgl. S. Motyer, „The Psalm Quotations of Hebrews 1: A Hermeneutic-Free Zone?“, in: TynB 50.1/1999, 18f. Motyer deutet das Einsetzen (vgl. kaqi,statai) der gh/| Davids als das Aufrichten von dessen Weltherrschaft. Im Blick auf die universale Verwendung von gh/ in V.1b.5.9 und die Tatsache, dass kaqi,sthmi in den Psalmen ein terminus technicus für das Einsetzen des Königs bzw. seiner Herrschaft ist (vgl. z. B. PsLXX 2,6; 8,7; 17,44; 44,17; 104,21; vgl. auch Hebr 5,1; 7,28; 8,3!), leuchtet das ein. Nach Motyer bringt die Überschrift den Psalm so auch „into the orbit of the David-ideology of Psalm 2“, weil sie parallel zu PsLXX 2,6 zu lesen sei (evgw. de. katesta,qhn basileu.j u`pV auvtou/ evpi. Siwn o;roj to. a[gion auvtou/). In beiden Psalmen würden die Herrschaft Jahwes und diejenige Davids als „expressions of each other“ behandelt. Das Herrschen des davidischen Königs über die Völker (Ps 2,9) entspreche deren Dienen Jahwes (2,11); und wie der davidische König nach PsLXX 96,1a über die ganze Erde (h` gh/) herrsche, so auch Jahwe (96,1b.4.5.9). 271 In Hebr 1,8–9, wo PsLXX 44,7–8 auf Jesus übertragen wird, ist ebenfalls von einer gerechten Herrschaft die Rede (vgl. h` r`a,bdoj th/j euvqu,thtoj r`a,bdoj th/j basilei,aj sou und das parallele hvga,phsaj dikaiosu,nhn); vgl. zudem auch PsLXX 96,6a; in Hebr 7,2−3 wird Jesus mit Melchizedek in Verbindung gebracht, dem basilei/ dikaiosu,nhj. 272 Das Feuer des Gerichts in Hebr 10,27, das die Widersacher verzehrt (evsqi,ein me,llontoj tou.j u`penanti,ouj), entspricht sehr genau dem Feuer in PsLXX 96,3 und es steht nach Hebr 10,37−39 im Zusammenhang mit der Wiederkunft Christi, insofern diese auch avpw,leia bringt. 273 Auch das rettende Handeln ist im Psalm ein Thema, insofern das Gericht Jahwes über die Welt „Zion“ und Israel Freude und Heil bringt (vgl. V.8), was nach Hebr 9,28 auch von der Wiederkunft Christi gilt. Gerade der für den Verfasser des Hebräerbriefs wichtige Begriff „Zion“ (vgl. Hebr 12,22) könnte auch eine Rolle für eine christologisch-eschatologische Interpretation von PsLXX 96 gespielt haben (vgl. auch die Verknüpfung von Zion mit den di,kaioi sowohl in PsLXX 96,8–12 als auch in Hebr 12,22–23).
140
B. Exegese von Hebr 12,18−29
zu sein, dass er PsLXX 96,6b und die Beschreibung, dass alle Völker die Herrlichkeit Jahwes sahen (ei;dosan pa,ntej oi` laoi. th.n do,xan auvtou/), als erst in der Wiederkunft Christi erfüllt gesehen hat. 274 5) Wenn man davon ausgeht, dass dem Verfasser des Hebräerbriefs die Worte Jesu über seine Wiederkunft bekannt waren275, dann sind mindestens drei Anstösse für eine Deutung von PsLXX 96 auf die Wiederkunft des Menschensohnes hin gegeben: Erstens kommt auch er „auf/mit den Wolken des Himmels mit grosser Macht und Herrlichkeit“ auf die Erde (vgl. Mt 24,30 bzw. Mk 13,26 mit PsLXX 96,2a bzw. 96,3−6) zum Gericht (vgl. z. B. Mt 25,31−46; Lk 12,42−48; 17,26−30; 19,11−27; 21,34−36 mit PsLXX 96,8); zweitens werden auch ihn „alle Stämme der Erde“ „kommen sehen […] mit Herrlichkeit“ (vgl. Mt 24,30 mit PsLXX 96,6a); drittens spielt auch bei seiner Parusie der Blitz eine wichtige Rolle (vgl. Mt 24,27 bzw. Lk 17,24 mit PsLXX 96,4a276). Wir halten fest: Es liegt auf der Hand, dass PsLXX 96,7 eine zumindest inhaltliche Quelle des Zitats in Hebr 1,6b gewesen ist (vgl. die kaum zufällige
274
Insofern dann tatsächlich alle Menschen (vgl. die universale Bedeutung von oivkoume,nh im Sinne von „der gesamten bewohnten Erde“) die Herrlichkeit des Vaters im Sohn von Person zu Person und Angesicht zu Angesicht sehen werden (vgl. Hebr 2,8 [o`rw/men] und 9,28 [ovfqh,setai]). 275 Auf die komplexen Datierungsfragen in Bezug auf die synoptischen Evangelien bzw. die mündliche Tradition der Jesus-Worte (insbesondere der Worte über die Parusie des Menschensohnes) kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass Paulus z. B. im 1. Thessalonicherbrief – also schon um 50 n. Chr. (vgl. z. B. Schnelle, Einleitung, 65) – jesuanische Parusie-Worte aufgreift. In 1.Thess 4,15(−17) tut er es explizit (was das „Herrenwort“ alles beinhaltet ist freilich umstritten; zu einem Überblick vgl. z. B. M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor, BZNW 117, Berlin: de Gruyter, 2003, 129f, Anm. 591). In 1.Thess 5,1−11 tut er es implizit (vgl. z. B. 1.Thess 5,2 mit Mt 24,43f bzw. Lk 12,39f; 1.Thess 5,3 mit Mt 24,37−39 bzw. Lk 17,26f [aivfni,dioj!]; 1.Thess 5,6 mit Mt 24,42; Anlehnungen an Jesus-Traditionen in 1.Thess 5,1−11 sehen z. B. auch folgende Exegeten: N. Walter; E. Reinmuth; P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1. Aufl., 1998, 149; S. Kim, „The Jesus Tradition in 1 Thess 4.13– 5.11“, in: NTS 48.2/2002, 231−233.238ff; Konradt, Gericht, 139−143.167; R. N. Longenecker, „The Nature of Paul’s Early Eschatology“, in: R. N. Longenecker, Studies in Paul, Exegetical and Theological, Sheffield: Phoenix, 2004, 188f; B. Witherington, 1 and 2 Thessalonians. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2006, 146.149). Dass der Verfasser des Hebräerbriefs die Worte über die Parusie des Menschensohnes gekannt hat, die auch in den synoptischen Evangelien Eingang gefunden haben, scheint mir darum wahrscheinlich, zumal die jesuanische Verkündigung für ihn wichtig ist (vgl. v. a. Hebr 1,2; 2,3a) und er sich in deren Überlieferung durch die Apostel verwurzelt sieht (vgl. 2,3b). 276 Vgl. w[sper ga.r h` avstraph. evxe,rcetai avpo. avnatolw/n kai. fai,netai e[wj dusmw/n mit e;fanan ai` avstrapai. auvtou/ th/| oivkoume,nh|.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
141
Erwähnung von oivkoume,nh in Hebr 1,6a und PsLXX 96,4). Damit ist die „irdische“ Epiphanie Jahwes als Weltenkönig in PsLXX 96, die erstaunlich genau zur Einführung des Sohnes als Erbe der Weltherrschaft passt (vgl. Hebr 1,6a), eine weitere Bestätigung für die Parusie-Interpretation von Hebr 1,6a, zumal es – wie dargelegt – durchaus nachvollziehbare Gründe für eine messianische bzw. christologische Interpretation des Psalms durch den Verfasser des Hebräerbriefs gibt. iii Schlussfolgerungen Wenn der Verfasser den in Hebr 1,6 erwähnten eschatologischen Lobpreis der Engel bei der Parusie des Sohnes in Hebr 12,22 mit der lobpreisenden Schar unzähliger Engel wieder aufgreift, ist das ein weiteres starkes Argument für eine „irdische“ Lokalisierung bzw. Interpretation von Hebr 12,22–24. Die Verse würden uns dann den Moment schildern, wo das himmlische Jerusalem zusammen mit Gott und seinem Sohn auf die „Erde“ herabkommt und Jesus durch den Lobpreis als der Erstgeborene, als Heilsmittler (vgl. Hebr 12,24), aber auch als König der Welt (vgl. die Aussagen in Hebr 1,6.13; 2,8 und 10,13 mit 12,28) verherrlicht wird. Dass die Engelmyriaden in Hebr 12,22 sowohl Gerichtsbegleiter (vgl. den von mir postulierten Hintergrund von DanLXX 7,9ff) als auch fröhliche Anbeter Gottes bzw. des Sohnes sind, muss kein Widerspruch sein (vgl. z. B. auch 4Q530 2 II,17f277); dies entspricht vielmehr der grundsätzlichen Spannung zwischen Freude und Furcht bzw. Heil und Gericht, die in Hebr 12,22–29 vorliegt und für den Jüngsten Tag „typisch“ ist (vgl. z. B. auch äthHen 1,5–9; 4.Esr 13,8–13). 2.2 Vers 23 kai. evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j kai. krith/| qew/| pa,ntwn kai. pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn „[…] und zur Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln eingeschrieben sind, und zum Richter aller, zu Gott, und zu [den] Geistern der vollendeten Gerechten […]“
2.2.1 evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j – „zur Versammlung der Erstgeborenen, die in den Himmeln eingeschrieben sind“ Der nächste Zielpunkt der Adressaten ist die evkklhsi,a| prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j. Wer mit den „Erstgeborenen“ gemeint ist, ist in der 277
In dieser Stelle geht es, wie gesehen (↑ B.IV.2.1.4.b), um ein eschatologisches Gericht auf der Erde, wobei in 17d−18a in Bezug auf die Engel Gottes sehr wahrscheinlich steht: [!ydgs] hl !ypla pla = „Tausend mal Tausende [beugten sich anbetend nieder] vor ihm“; vgl. É. Puech (Hg.), Qumran Grotte 4 – XXII. Textes araméens, première partie. 4Q529549, DJD 31, Oxford: Clarendon, 2001, 28ff.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Forschung umstritten. Die prwto,tokoi werden u. a. gedeutet als: Engel 278, die Gläubigen des Ersten Bundes279, verstorbene Glaubende beider Bündnisse280, (verstorbene) Judenchristen als der Ursprung der christlichen Gemeinde281, verstorbene Christen282, verstorbene und lebende Christen283, die gegenwärtig lebende christliche Gemeinde (ekklesia militans)284 sowie die Gläubigen aller Zeiten, beider Bündnisse, die Lebenden mit einschliessend.285 Angesichts der Tatsache, dass der Verfasser in Hebr 1,6 bemüht ist, Jesus als o` prwto,tokoj von den Engeln abzuheben (vgl. 1,4 krei,ttwn tw/n avgge,lwn und diaforw,teron parV auvtou.j keklhrono,mhken o;noma), erscheint die Deutung der prwtoto,kwn als Engel mehr als problematisch.286 Die Frage, welche Art von Menschen gemeint ist, lässt sich dagegen nicht so schnell beantworten und bedarf zunächst einer ausführlichen Auslegung aller Begrifflichkeiten. a. Der Begriff evkklhsi,a in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament Der Terminus evkklhsi,a ist in der LXX die Übersetzung von lhq („Versammlung“).287 In PsLXX 88,6 ist die Rede von der evkklhsi,a| a`gi,wn, die durch V.7 mit den „Söhnen Gottes“ als himmlische Thronversammlung gedeutet werden muss.288 Sonst bezeichnet evkklhsi,a fast durchwegs das versammelte Volk Israel (vgl. z. B. DtnLXX 31,30: evkklhsi,a Israhl), dessen Versammlung als 278 So z. B. Soden, Hebräerbrief, 101; Spicq, Hébreux II, 407 (die Engel seien „les premiers créés“, „les premiers-nés de toutes les créatures“); Montefiore, Hebrews, 231; zurückhaltend Grässer, Hebräer III, 316f. Käsemann sieht in den „Erstgeborenen“ die höchste Engelkategorie („Erstgeschaffene“) im Gegensatz zu den Dienstengeln (vgl. Käsemann, Gottesvolk, 28). 279 Vgl. z. B. Nairne, Hebrews, 103 und Witherington, Hebrews, 342 (der Ausdruck zeige „the precedence that Old Testament saints have over Christians in the city“). 280 So Eisele, Reich, 385.390.397. 281 So Karrer, Hebräer II, 338 (die Wendung stehe möglicherweise für die „Kinder Israels […], die sich um Jesus scharen, also die erste, judenchristliche Gemeinde“). 282 Vgl. z. B. Bleek, Hebräer III, 945; Loader, Sohn, 52; Rissi, Theologie, 101; Scholer, Priests, 146; Hofius, „Gemeinschaft“, 321, Anm. 109. 283 So Westcott, Hebrews, 415. 284 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 414f; Moffatt, Hebrews, 217; Michel, Hebräer, 465; Casey, Eschatology, 363f; Lindars, Theology, 115; Vanhoye, Hebrews, 392f. Braun rechnet differenzierend mit „ranghohen schon länger zur Gemeinde zählenden führenden Christen“ (vgl. Braun, Hebräer, 437f). 285 Vgl. Cockerill, Hebrews, 655: „the one faithful people of God spanning both Testaments“, „all the faithful, past and present, living and dead“; so z. B. auch Lane, Hebrews II, 469; O’Brien, Hebrews, 486; ähnlich wohl auch Attridge, Hebrews, 675 („all men and women of faith“) und Backhaus, Hebräerbrief, 446 („ecclesia ab Abel“). 286 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 655. Gegen die Engel-Interpretation spricht auch die Tatsache, dass die Erstgeborenen avpogegramme,noi evn ouvranoi/j sind (so richtig Braun, Hebräer, 438). 287 Vgl. zum Folgenden auch H.-P. Müller, Art. lhq, THAT II (1975/1995), 609–619. 288 Vgl. Hossfeld; Zenger, Psalmen II, 590.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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evkklhsi,a kuri,ou (vgl. DtnLXX 23,2–4.9; MiLXX 2,5) oder evkklhsi,a qeou/ (NehLXX 13,1) tituliert werden kann. Der Begriff steht jedoch nicht für die andauernde Gemeinschaft des Volkes – dafür steht in der LXX zumeist sunagwgh, als Übersetzung von hd[289 –, sondern für dessen vorübergehendes Versammelt-Sein zu einem Zweck. Der Versammlungszweck ist vornehmlich kultisch290: Das Volk versammelt sich zur Gottesbegegnung am Sinai (z. B. DtnLXX 4,10), zur Tempelweihe (1.KönLXX 8,14ff), zur Bundeserneuerung (2.ChronLXX 29,23.28.31) und zu religiösen Festen (z. B. 2.ChronLXX 30,13). Dabei steht die gottesdienstliche Versammlung auffallend häufig in Verbindung mit dem Lob Gottes (z. B. 1.ChronLXX 29,20; PsLXX 106,32).291 Von der kultischen Bedeutung der Versammlung her – als eine vor Gott stehende Versammlung – ist auch die ab und zu erwähnte Notwendigkeit der Heiligung zu verstehen (2.ChronLXX 30,17; JoelLXX 2,16; vgl. DtnLXX 23,2–4.9).292 Wichtig ist schliesslich auch die Tatsache, dass man bzw. das Volk zu einer Versammlung gerufen (NumLXX 10,2: avnakalei/n th.n sunagwgh.n) bzw. dass eine solche ausge- bzw. einberufen wird (z. B. ExLXX 12,16; LevLXX 23,2; JoelLXX 2,16). Dieser Aspekt des Gerufen-Werdens entspricht nun auch der Bedeutung von evkklhsi,a in den Polis-Staaten des antiken Griechenlands. Sie ist „die zur Versammlung herausgerufene Bürgerschaft“293, eine politische Institution mit weitreichenden Kompetenzen.294 In hellenistischer Zeit sind die Volks- bzw. Bürgerversammlungen vornehmlich Orte, die der Selbstdarstellung bzw. Huldigung des Monarchen dienen.295 In Qumran wird das eher seltene lhq für die einberufene Gemeindeversammlung (vgl. z. B. CD XI,22) oder das militärische Aufgebot im Endkampf (z. B. 1QM I,10) gebraucht; das häufigere hd[ wird vornehmlich als Selbstbezeichnung der Gemeinschaft verwendet (z. B. 1QSa II,21); sie ist „heilige Gemeinde“ (1QSa I,9) und „Gemeinde der Auserwählten“ (z. B. 4Q171 III,5).296
289
Vgl. z. B. ExLXX 16,1; 17,1; 35,1; LevLXX 4,13; 8,13; NumLXX 1,2. Selbst die „politische“ Versammlung in NehLXX 5,7 hat kultische Elemente (5,13); vgl. auch RiLXX 21,5. 291 Weitere Stellen sind 2.ChronLXX 29,28; NehLXX 5,13; PsLXX 21,23.26; 25,12; 34,18; 67,27; 88,6; 106,32; 149,1. 292 In diesen Zusammenhang gehört auch die häufig erwähnte „heilige Zusammenrufung/Versammlung“ (Xdq-arqm), die die LXX zumeist mit klhth. a`gi,a wiedergibt (vgl. z. B. ExLXX 12,16; LevLXX 23,2ff; NumLXX 28,18ff). 293 Vgl. D. Lotze, „Der Bürger und seine Teilhabe an der Regierung der Polis“, in: D. Lotze, Bürger und Unfreie im vorhellenistischen Griechenland. Ausgewählte Aufsätze, Altertumswissenschaftliches Kolloquium 2, Stuttgart: Steiner, 2000, 122. 294 Vgl. ebd., 122f. 295 Vgl. K. Berger, „Volksversammlung und Gemeinde Gottes: Zu den Anfängen der christlichen Verwendung von ‚ekklesia‘“, in: ZThK 73/1976, 168–170. 296 Vgl. L. Coenen, Art. evkklhsi,a, TBLNT II (1977), 787. 290
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
In Qumran – wie auch in anderen frühjüdischen Schriften (vgl. z. B. Sir 24,2297) – kennt man auch eine himmlische evkklhsi,an, die „Versammlung der Heiligen“ (vgl. z. B. 1QM XII,7; 1QHa XXV,3), wobei diese nicht aus Menschen, sondern aus Engelswesen besteht.298 Allerdings hat die irdische Versammlung der Erwählten (im Gottesdienst) mit der himmlischen Versammlung der Engel durchaus Gemeinschaft (vgl. z. B. 1QHa XI,21–23).299 Nach Fletcher-Louis erlebt das Mitglied der qumranischen Lobpreisgemeinschaft sogar „a transfer from earth to heaven, from humanity to divinity and from mortality to immortality“.300 Für Philo bedeutet evkklhsi,a in Anknüpfung an das Alte Testament primär „die Zusammenkunft der Gemeinde am Sabbat“.301 Gemäss Virt. 108 scheint er evkklhsi,a durchaus auch im etymologischen Sinn verstanden zu haben, wenn Proselyten zu ihr „gerufen“ werden (kalei/n eivj evkklhsi,an, vgl. auch Judith 6,16). Auch Josephus deutet Letzteres an mehreren Stellen an. Nach Ant. 3,84 ruft Mose die Volksmenge zu einer Versammlung zusammen (sugkalei/ to. plh/qoj eivj evkklhsi,an), nach Ant. 7,370 hat David die Führer der Hebräer zu einer Versammlung zusammengerufen (eivj evkklhsi,an sugkale,saj tou.j a;rcontaj tw/n ~Ebrai,wn, vgl. z. B. auch Ant. 12,164; 13,216). Die Bedeutung von evkklhsi,a im Neuen Testament ist vielschichtig und komplex: Sie reicht u. a. von der antiken Bürgerversammlung (z. B. Apg 19,32), über die „kultische Zusammenkunft“302 von Christen (z. B. 1.Kor 11,18ff; 14,23–26), die lokale Ortsgemeinde (z. B. Röm 16,1; 2.Kor 1,1; Gal 1,2; Offb 2,1ff), die feste Gruppenbezeichnung der Christen (vgl. z. B. 297
Die „Versammlung des Höchsten“ meint nach Marböck eine himmlische Thronratsversammlung (vgl. J. Marböck, Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira, BZAW 272, Berlin, New York: de Gruyter, 1999, 58); vgl. PsLXX 88,6.8! 298 So auch Berger, „Volksversammlung“ 193; vgl. C. W. Brekelmans, „The Saints of the Most High and their Kingdom“, in: OTS 14/1965, 319ff. In 1QM XII,7ff geht es um den kriegerischen Beistand durch die Engelsheere (vgl. z. B. B. M. Schultz, Conquering the World. The War Scroll (1QM) reconsidered, STDJ 76, Leiden: Brill, 2009, 281). Dass mit der himmlischen „Versammlung der Heiligen“ Engel gemeint sind, zeigt insbesondere auch 1QHa XI,22, wo von der „Versammlung der Himmelssöhne“ (mymX ynb hd[) parallel zur „Heerschar der Heiligen“ (myXwdq abc) die Rede ist; vgl. auch 1Q22 IV,1. 299 Vgl. z. B. E. G. Chazon, „Liturgical Communion with the Angels at Qumran“, in: D. K. Falk; F. García Martínez, et al. (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran. Proceedings of the Third Meeting of the International Organization for Qumran Studies, STDJ 35, Leiden: Brill, 2000, 95–105. 300 Vgl. Fletcher-Louis, Glory, 476. Bezüglich 1QS XI,5–8, wonach Gott die irdische Versammlung mit derjenigen der Himmelssöhne vereint, beurteilt es Collins ähnlich: „The members of the council of the community believed that they had made the transition to angelic, eternal life while still living in this life“ (vgl. J. J. Collins, Apocalypticism in the Dead Sea Scrolls, London: Routledge, 1997, 118). 301 Vgl. Berger, „Volksversammlung“, 173 mit Belegstellen. 302 Vgl. ebd., 178.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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evkklhsi,a als sw/ma Cristou/ in 1.Kor 12,27f; Eph 5,29f; Kol 1,29) – auch im Sinn eines Synonyms zum Volk Gottes (z. B. Apg 20,28; vgl. Tit 2,14) –, bis zur vieldiskutierten jesuanischen evkklhsi,a| in Mt 16,18 und 18,17.303 Angesichts des intensiv verwendeten Wortfeldes rund um kalei/n in 1.Kor 1,1−2 (klhto.j avpo,stoloj − klhtoi. a[gioi − evpikalou,menoi to. o;noma tou/ kuri,ou) scheint es nicht unmöglich, dass Paulus die evkklhsi,a tou/ qeou/ in 1.Kor 1,2 auch als die „von Gott ge- bzw. berufene Gemeinschaft“ verstanden wissen wollte (vgl. Gal 1,4). Auf jeden Fall aber besteht die evkklhsi,a für Paulus aus berufenen, ja auserwählten Menschen. 304 b. Die zur Gottesbegegnung hinzugerufene Heilsversammlung am Jüngsten Tag Wie ist nun die evkklhsi,a in Hebr 12,23 zu verstehen? In DtnLXX 4,10 ist vom „Tag der Versammlung“ (h`me,ra th/j evkklhsi,aj) die Rede, als Israel am Horeb stand, und vom Auftrag Gottes an Mose, das Volk zu ihm zu versammeln (evkklhsi,ason pro,j me to.n lao,n). Mit Blick auf die Tatsache, dass sich der Verfasser in Hebr 12,18–19 stark an DtnLXX 4,11–12 anlehnt (↑ B.III.2.1) und er die Zion-Theophanie in Hebr 12,22–24 inhaltlich eng mit der Kratophanie am Sinai verknüpft305, ist es m. E. sehr naheliegend, dass er mit der evkklhsi,a| in Hebr 12,23 bewusst auf DtnLXX 4,10 verweist und unter den prwtoto,koij das Volk Gottes verstanden haben möchte, das sich wiederum zur Gottesbegegnung versammelt hat (vgl. Hebr 12,23: qew/|).306
303
Zu einer Gesamtübersicht vgl. z. B. K. L. Schmidt, Art. kale,w ktl., ThWNT III (1938/1957), 504–539. 304 So überzeugend dargelegt von Berger, „Volksversammlung“, 190–192. 305 Bei aller Abgrenzung gibt es offensichtliche Kontinuitäten: Wie am Sinai, so wird auch am Zion u. a. zu einem Berg hinzugetreten, um einem heiligen Gott zu begegnen (↑ C.II.2.1.2.b). 306 Die Anlehnung an DtnLXX 4,10 sehen z. B. auch Allen, Deuteronomy, 216; O’Brien, Hebrews, 485 und Cockerill, Hebrews, 654, Anm. 55. Ohne eine konkrete alttestamentliche Belegstelle zu nennen, sagt Dumbrell: „Clearly the evkklhsi,a here recalls the qehal-Yisra’el, assembled for approval at Sinai“ (vgl. W. J. Dumbrell, „The Spirits of Just Men Made Perfect“, in: EQ 48.3/1976, 158).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Auf dem Hintergrund des Prätextes betont der Verfasser mit dem Begriff evkklhsi,a also weniger das „Ekklesia-Sein“ im Sinn einer zeitlosen Gemeinschaft der Erstgeborenen307 – schon gar nicht im Sinn des neutestamentlich angedeuteten Kirchenbegriffs308 –, sondern vielmehr das aktuelle, zweckbestimmte Versammelt-Sein. Auch die Parallelität zu panh,gurij („Fest-Versammlung“) verdeutlicht dies.309 Infolgedessen ist es passender, evkklhsi,a| prwtoto,kwn mit „zur Versammlung der Erstgeborenen“310 zu übersetzen als mit „zur/zu der Gemeinde der Erstgeborenen“311 oder „zur Gemeinschaft der Erstgeborenen“312. Die Gottesbegegnung als Versammlungszweck der Erstgeborenen lässt sich mit Blick auf den im Hintergrund stehenden „Tag der Versammlung“ (Dtn 4,10; vgl. 9,10; 18,16)313 noch weiter präzisieren. Nach Hebr 10,25 gibt es für den Autor einen – aus Sicht der Adressaten zukünftigen – grossen Tag der Gottesbegegnung. Es ist der Tag an und für sich, der herannaht (evggi,zousa h` h`me,ra) und dieser ist nach 10,27 klar definiert als der endzeitliche Tag des göttlichen Gerichts (evkdoch. kri,sewj, vgl. 10,30!)314. Hernach darf man die evkklhsi,a in Hebr 12,23 als Versammlung zum Jüngsten Gerichtstag, zum grossen „Tag des Herrn“ verstehen (vgl. z. B. Joel 4,14; Zeph 1,7; Mal 3,23; 2.Petr 3,10)315. Diese Interpretation entspricht der nachfolgenden Beschreibung Gottes als „Richter aller“ (krith.j pa,ntwn). 307 Berger spricht in Bezug auf Hebr 12,23 von „Gottes Ekklesia zu sein“, von einer „festen Gemeinschaft“ bzw. einer „ständige[n] Vereinigung“ (vgl. Berger, „Volksversammlung“, 197f); ähnlich z. B. auch O. Kuss, Der Brief an die Hebräer, RNT 8, Regensburg: Pustet, 2. Aufl., 1966, 203 („Gemeinschaft der Glaubenden“). 308 Laub z. B. spricht von der „,Gemeinschaft (ekklēsia = Gemeinde, Kirche) der Erstgeborenen‘“ (vgl. Laub, Hebräerbrief, 174); ähnlich auch H. Strathmann, Der Brief an die Hebräer, NTD 9, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 10. Aufl., 1970, 151 („christliche[…] Gemeinde“). Mit Recht betont Schunack: „Diese ,kirchliche‘ Bedeutung liegt hier nicht vor“ (vgl. Schunack, Hebräerbrief, 209). 309 So z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 678: „In jedem Fall unterscheidet sich damit die Verwendung des Terminus evkklhsi,a im Hebr (2,12 und 12,23) sehr deutlich vom spezifisch ekklesiologischen Gebrauch im übrigen Neuen Testament“. 310 Vgl. z. B. Windisch, Hebräerbrief, 112–114 „zur […] Versammlung der Erstgeborenen); Backhaus, Hebräerbrief, 435 („[zu] einer Versammlung von Erstgeborenen“); vgl. z. B. auch Koester, Hebrews, 542 und Cockerill, Hebrews, 642, die beide mit „assembly of the firstborn“ übersetzen. 311 Vgl. z. B. B. Weiss, Hebräer, 338; Riggenbach, Hebräer, 413; Michel, Hebräer, 256; Hegermann, Hebräer, 256; Strobel, Hebräer, 237; Grässer, Hebräer III, 302. 312 Vgl. z. B. März, Hebräerbrief, 79. 313 Auch Hughes sieht diesen „Tag“ im Hintergrund (vgl. Hughes, Hebrews, 547). 314 So z. B. Grässer, Hebräer III, 31 („Gerichtstag“) und Johnson, Hebrews, 260 (mit den alt- und neutestamentlichen Belegstellen). 315 Zum Motiv eines eschatologischen Tag Jahwes vgl. z B. M. Beck, Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton. Studien im Spannungsfeld von Traditions- und Redaktionsgeschichte, BZAW 356, Berlin, New York: de Gruyter, 2005.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Weitere Bestätigung findet die Deutung von evkklhsi,a als einer Versammlung am Tag des Letzten Gerichts in der Warnung in Hebr 10,25a, die (gemeindliche) Zusammenkunft bzw. Versammlung nicht zu verlassen- (mh. evgkatalei,pontej th.n evpisunagwgh.n e`autw/n). Da der seltene Begriff evpisunagwgh, sowohl in der LXX (vgl. 2.Makk 2,7) als auch im Neuen Testament (vgl. 2.Thess 2,1) in Bezug auf die endzeitliche Sammlung des Gottesvolkes zur Begegnung mit Gott bzw. seinem Messias verwendet wird – ganz in Entsprechung zum Gebrauch von evpisuna,gein in Mt 24,31; Mk 13,27 und Lk 17,37! – und in Hebr 10,25b in den Zusammenhang mit dem endzeitlichen Gerichtstag gestellt wird, liegt es sehr nahe, dass die evpisunagwgh, in V.25a als gegenwärtige Versammlung der Christen nach vorne auf eine zukünftige Heilsversammlung am Jüngsten Tag weisen soll316, bei der man ja auf keinen Fall fehlen möchte. Die evkklhsi,a prwtoto,kwn in Hebr 12,23 stellt demnach die Erfüllung der in 10,25 angedeuteten heilvollen Gottesversammlung am Ende der Zeit dar. Das Heilvolle der Versammlung wird trotz der engen Verknüpfung mit dem Gerichtstag (vgl. 10,25b; 12,23c) dadurch betont, dass der Tag in 10,25 nicht nur der Tag des Gerichts, sondern unmissverständlich auch der Tag der Parusie ist (vgl. das evggi,zein des Tages mit der Aussage in 10,37: e;ti ga.r mikro.n o[son o[son( o` evrco,menoj h[xei kai. ouv croni,sei)317, und die Parusie des Sohnes swthri,a bringt (vgl. 9,28). Die evkklhsi,a prwtoto,kwn ist also die Heilsversammlung an dem Tag, wenn Gott als Richter zusammen mit seinem Sohn erscheint. Damit tritt die griechische Bedeutung des Wortes im Sinn einer Bürgerversammlung318 stark in den Hintergrund. Präsenter scheint mir der „gottesdienstliche“ Aspekt der evkklhsi,aj zu sein. Auch Backhaus z. B. sieht in der evkklhsi,a| eine „gottesdienstliche Zusammenkunft“.319 Durch die Nähe zur panhgu,rei als der Lobpreisgemeinschaft der Engel, die in der LXX häufige Verbindung mit dem Gotteslob, sowie das Zitat aus PsLXX 21,22 in Hebr 2,12b, wonach der Sohn evn me,sw| evkklhsi,aj Gott preist320, erscheint die evkklhsi,a prwtoto,kwn durchaus auch als eine kultische, d. h. eine Gott anbetende Versammlung. 316 Eine eschatologische Ausrichtung sehen z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 534; Karrer, Hebräer II, 222 und Cockerill, Hebrews, 480. 317 Vgl. z. B. DeSilva, Hebrews, 342 (mit Verweis auf Hebr 9,28; 10,13); Witherington, Hebrews, 287 und Backhaus, Hebräerbrief, 362. 318 Vgl. Johnson, Hebrews, 332 („official gathering of citizens“). 319 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 445; ähnlich z. B. auch Michel, Hebräer, 464 („feierliche Gemeindeversammlung“). 320 Gäbels Vorschlag, Hebr 2,12b im Rahmen der Erhöhung des Sohnes als „Gottesdienst im Heiligtum des himmlischen Jerusalem“ zu lesen (vgl. Gäbel, Kulttheologie, 156f; ähnlich Grässer, Hebräer I, 140; Cockerill, Hebrews, 143), vermag nicht zu überzeugen. Mit dem Zitat aus dem im Urchristentum messianisch interpretierten Psalm 22 (vgl. Steyn, Quest, 149f) geht es dem Verfasser des Hebräerbriefs primär um die avdelfoi, mou (Hebr 2,12a) als
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Auf dem Hintergrund von DtnLXX 4,10ff und dem endzeitlichen Tag der Parusie und des Gerichts ist die Versammlung freilich mehr eine empfangende als gebende. Wie die Versammlung am Sinai (vgl. Dtn 4,10: evkklhsi,ason pro,j me to.n lao,n kai. avkousa,twsan ta. r`h,mata, mou, sowie z. B. Apg 7,38) empfängt die Versammlung am Berg Zion Worte Gottes. Dieses Mal sind es freilich nicht die Zehn Gebote, sondern die letzten göttlichen Heils- bzw. Gerichtsworte (vgl. krith/| qew/| pa,ntwn). Aufgrund dieses letzten, entscheidenden Gotteswortes empfängt die Zion-Versammlung auch das versprochene Erbe, das den Erstgeborenen zusteht (↑ B.IV.2.2.1.e). Mit Blick auf das im Hebräerbrief breit ausgeführte Wortfeld „rufen“ bzw. „berufen“ im Zusammenhang mit dem Ruf Gottes321 scheint es mir weiter wahrscheinlich, dass die evkklhsi,a prwtoto,kwn im etymologischen Sinn auch die von Gott zur Begegnung mit ihm heraus- bzw. hinzugerufenen Menschen meint: Wie die Adressaten, so sind auch die Erstgeborenen zu Gott hinzugetreten wegen seiner klh/sij (vgl. Hebr 3,1). Durch die enge inhaltliche Verwandtschaft der Berufung Gottes mit seiner Erwählung (evklogh,) liegt es zudem nahe, dass evkklhsi,a in Hebr 12,23 auf das Erwählt-Sein der Versammelten anspielt.322 Für eine solche Anspielung spricht auch die Tatsache, dass das „Eingeschrieben-Sein“ der prwto,tokoi „in den Himmeln“ eine göttliche evklogh, impliziert (↑ B.IV.2.2.1.f).323 Die evkklhsi,a prwtoto,kwn ist also die zur Begegnung mit dem herabkommenden göttlichen Endrichter und seinem erscheinenden Sohn hinzugerufene und auserwählte Heilsversammlung an/auf einem „irdischen“ Zion, die Gott anbetend von ihm ihr Erbe empfängt. Ob diese „irdische“ Deutung von evkklhsi,a in Hebr 12,23 nach einer Analyse der prwtoto,kwn avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j Bestand haben kann, muss sich im Folgenden zeigen. c. Der Begriff prwto,tokoj in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament Das Adjektiv prwto,tokoj kommt in der LXX rund 130-mal vor, und zwar fast durchwegs als Übersetzung von r[w]kb in Bezug auf Menschen oder Tiere in
Aussage des Christus (vgl. Ellingworth, Hebrews, 166) und nicht um die Definition, wann genau bzw. in welcher evkklhsi,a Jesus Gott preist. Und wenn es dem Hebr doch um einen heilsgeschichtlichen Zeitpunkt ginge, so schiede die Erhöhung mit Bestimmtheit aus, weil dann noch keine „Brüder“ in einer postulierten himmlischen Versammlung gewesen wären (selbst Grässer versteht den Aorist pollou.j ui`ou.j eivj do,xan avgago,nta in Hebr 2,10 als Ausdruck einer göttlichen Absicht; vgl. Grässer, Hebräer I, 112.128f). Viel eher käme dann die Parusie in Frage (vgl. z. B. Lane, Hebrews I, 59). 321 Vgl. z. B. Hebr 2,11 (avdelfou.j auvtou.j kalei/n); 3,11 (klh/sij evpoura,nioj); 5,4 (kalou,menoj u`po. tou/ qeou/); 9,15 (oi` keklhme,noi); 11,18 (kalou,menoj VAbraa,m). 322 So Berger, „Volksversammlung“, 196. 323 Vielleicht impliziert auch der Begriff prwto,tokoi den Erwählungsgedanken (↑ B.IV.2.2.1.e).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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der Bedeutung „Erstgeborener“.324 Der „erstgeborene“ Sohn ist nach dem Alten Testament Haupterbe (vgl. z. B. Dtn 21,17), hat Anrecht auf einen besonderen Segen des Vaters (vgl. z. B. Gen 27,1ff) und überragt damit seine Brüder an Macht und Ansehen (vgl. z. B. Gen 49,3). So ist es auch kein Zufall, dass der Begriff „Erstgeborener“ im übertragenen Sinn auch für Israel als Volk (vgl. Ex 4,22) und für „David“ im Vergleich zu den anderen Königen der Erde (vgl. PsLXX 88,28) verwendet wird, wobei bei beiden Grössen u. a. die Erwählung Gottes im Hintergrund steht.325 Weiter galten die erstgeborenen Söhne des Volkes als Jahwe gehörig und mussten durch ein Opfer ausgelöst werden (Ex 34,20; Num 18,16), wobei die gottgehörigen Leviten als ihr Ersatz dienten (Num 8,14–16). In Qumran wird der Begriff ausser im Literalsinn (bezüglich menschlicher und tierischer Erstgeborenen) auch für Israel (4Q504 1−2 III,6) und David bzw. den messianischen Davididen (4Q369 1 II,6f) benutzt.326 Im Buch der Jubiläen327 2,20 (vgl. 19,20) ist die Rede von Jakob, der als „Erstgeborener“ von Gott aufgeschrieben wurde, was nach dem Kontext das Volk Israel und dessen Heiligung bzw. Erwählung durch Gott vor Grundlegung der Welt im Gegensatz zu den anderen Völkern meint.328 Philo fusst mit dem Gebrauch von prwto,tokoj ganz auf dem Alten Testament, ausser dass er das Synonym prwto,gonoj 1) für Mose als erstgeborenem Sohn des „Vaters des Alls“ (Conf. 63) und 2) für den Engel als erstgeborenem Sohn und befehlsempfangenden u``pa,rcw| des grossen, göttlichen Königs (Agr. 51) gebraucht, der als prwto,gonoj lo,goj von Gott im Sinn des presbuta,tou der Engel u. a. den Namen lo,goj trägt (Conf. 146).329 Im Neuen Testament kommt prwto,tokoj ausser im Hebräerbrief noch fünfmal vor (Lk 2,7; Röm 8,29; Kol 1,15.18; Offb 1,5), und zwar stets in substantivierter Form mit der Bedeutung „Erstgeborener“, wobei nur in Lk 2,7 eine Geburt im natürlichen Sinn im Hintergrund steht. Nach Röm 8,29 ist Jesus als 324
Vgl. dazu und zum Folgenden W. Michaelis, Art. prwto,tokoj ktl., TWNT VI (1959), 872–882. 325 Zu Israel vgl. z. B. Dtn 7,6 und Hos 11,1; zu David in PsLXX 88 vgl. dessen Bezeichnung als evklekto.n evk tou/ laou/ (88,20; vgl. den MT in 89,4) und die Aussage Gottes eu-ron Dauid to.n dou/lo,n (88,21). 326 Vgl. C. A. Evans, „Are the ‚Son‘ Texts at Qumran ‚Messianic‘? Reflections on 4Q369 and Related Scrolls“, in: J. H. Charlesworth; H. Lichtenberger, et al. (Hg.), Qumran-Messianism. Studies on the Messianic Expectations in the Dead Sea Scrolls, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, 150–152. 327 Vgl. z. B. 4Q216. 328 Vgl. J. v. Ruiten, „Divine Sonship in the Book of Jubilees“, in: F. Albrecht; R. Feldmeier (Hg.), The Divine Father. Religious and Philosophical Concepts of Divine Parenthood in Antiquity, TBN, Leiden: Brill, 2014, 90–94. 329 Zur Erklärung, warum Philo den Begriff prwto,gonoj verwendet, vgl. z. B. C. Stettler, Der Kolosserhymnus. Untersuchungen zu Form, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von Kol 1,15−20, WUNT II 131, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 150.
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„Sohn“ (Gottes) der „Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (prwto,tokoj evn polloi/j avdelfoi/j), insofern er die Gläubigen in seinen verklärten Zustand hineinzieht.330 In Kol 1,15 wird er als der „Erstgeborene aller Schöpfung“ (prwto,tokoj pa,shj kti,sewj) bezeichnet, was auf seine Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft hindeutet. 331 Gemäss Kol 1,18 ist Jesus der „Erstgeborene aus den Toten“ (prwto,tokoj evk tw/n nekrw/n) bzw. in Offb 1,5 „der Erstgeborene der Toten“ (o` prwto,tokoj tw/n nekrw/n), da er „der erste von den Toten Auferstandene“ (im Blick auf die allgemeine Auferstehung am Jüngsten Tag) ist.332 d. Der Begriff prwto,tokoj im Hebräerbrief Im Hebr kommt prwto,tokoj ausser in 12,23 noch in 1,6 und 11,28 vor. Im Rahmen der Hervorhebung des Glaubens des Mose (11,23ff) ist in 11,28 die Rede von seinem Glaubensakt der Blutsbestreichung (pro,scusij tou/ ai[matoj), der die prwto,toka der Israeliten vor dem ovloqreu,wn bewahrte.333 Die Bezeichnung des Sohnes als o` prwto,tokoj in 1,6 wird von den Exegeten verschieden gedeutet. Nach Hughes beschreibt der Hoheitstitel Jesus als „divinely begotten Son“ (mit Verweis auf Hebr 1,5) und damit als „unique Son“.334 Jesus sei der „Erstgeborene“ in dem Sinn, dass er alle überragt, die „in secondary and non-essential sense“ gelegentlich als Söhne adressiert werden, „whether angels or men“.335 Hegermann sieht den Titel als Hinweis auf die Präexistenz Jesu (vgl. Kol 1,15 mit Hebr 1,2: diV ou- kai. evpoi,hsen tou.j aivw/naj)336 und Braun als Hinweis auf dessen Auferstehung aus den Toten (vgl. Kol 1,18).337 Nach Grässer ist prwto,tokoj in Verbindung mit dem avrchgo.j th/j swthri,aj (2,10) zu sehen, durch den Gott die „Söhne“ zur Herrlichkeit führt
330 Nach Michaelis geht es hier um die „eschatologische Verklärung“ der Gläubigen, indem sie als Miterben Christi (vgl. Röm 8,17) endzeitlich das Erbe antreten und ihre Sohnschaft empfangen werden (vgl. Röm 8,23), wobei sie Christus als prwto,tokoj in seiner Sohnschaft gleichen und doch an Rang und Würde untergeordnet sein werden (vgl. Michaelis, prwto,tokoj, 878). Wilckens formuliert es so: „Christus [als prwto,tokoj] zieht uns in seine Herrlichkeit als Sohn Gottes hinein“ (vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK 6/3, Zürich: Benziger, 2. Aufl., 1989, 164). 331 Vgl. Stettler, Kolosserhymnus, 337f. 332 Vgl. Michaelis, prwto,tokoj, 878. Stettler sieht den Begriff in Kol 1,18 in enger Verbindung zu avrch, (im Sinne von Erstlingsfrucht) und somit als Beschreibung Jesu als der „Erste, der der endzeitlichen Ernte, der Heilszeit, teilhaftig geworden ist“ (vgl. Stettler, Kolosserhymnus, 340). 333 Ich folge hier Braun, der mit anderen prwto,toka als Objekt zu qigga,nein versteht (vgl. Braun, Hebräer, 384f). 334 Vgl. Hughes, Hebrews, 59. 335 Vgl. ebd. 336 Vgl. Hegermann, Hebräer, 53. 337 Vgl. Braun, Hebräer, 36f.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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(vgl. auch pro,dromoj in 6,20), und infolgedessen als Bezeichnung für die Erlösertätigkeit Jesu durch seine Himmelfahrt zu verstehen.338 Witherington deutet den Titel Jesu in einem metaphorischen Sinn („first over all creation/creature“) als „stressing his honor rating or primacy in rank“. 339 Meines Erachtens liegt es – wie dargelegt (↑ B.IV.2.1.5.d.i) – auf der Hand, dass sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit der Bezeichnung von Jesus als dem prwtoto,kw| in Hebr 1,6a an PsLXX 88,28 anlehnt, wo Gott „David“ zum „Erstgeborenen“ (prwto,tokon), zum „Höchsten unter den Königen der Erde“ (u`yhlo.n para. toi/j basileu/sin th/j gh/j) einsetzen wird (qh,somai).340 Auf diesem Hintergrund betont die Bezeichnung Jesu als o` prwto,tokoj vor allem seine Stellung als (zukünftiger) Weltenkönig (vgl. z. B. auch Hebr 1,8f.13; 2,8!) bzw. Welterbe (vgl. 1,2: klhrono,moj pa,ntwn, vgl. auch das zentrale alttestamentliche Motiv des erbenden Erstgeborenen).341 In zweiter Linie beschreibt der Hoheitstitel in Anlehnung an den alttestamentlichen Prätext die exklusive Gottessohnschaft und besondere Gottesnähe Jesu342 (vgl. PsLXX 88,27: auvto.j evpikale,setai, me path,r mou), die bereits in Hebr 1,5 mit den Zitaten aus PsLXX 2,7 (ui`o,j mou ei= su,( evgw. sh,meron gege,nnhka, se) und 2.SamLXX 7,14 (evgw. e;somai auvtw/| eivj pate,ra( kai. auvto.j e;stai moi eivj ui`o,n) thematisiert wurde.343 e. Die prwto,tokoi als Söhne Gottes und Erben der Welt Was bedeutet diese Analyse des Gebrauchs von prwto,tokoj in der LXX, der Umwelt, dem Neuen Testament und im Hebräerbrief für die Interpretation der prwtoto,kwn in Hebr 12,23? Da für den Verfasser des Hebräerbriefs nach 2,10–14.17 und 3,1.14 eine direkte „geistliche Verwandtschaft“ zwischen Jesus und seinen avdelfoi/j besteht (vgl. auch Röm 8,29)344, liegt es nahe, dass er zunächst bewusst den in 338
Vgl. Grässer, Hebräer I, 78. Vgl. Witherington, Hebrews, 128. 340 So z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 97; O’Brien, Hebrews, 69; Cockerill, Hebrews, 105 und B. C. Small, The Characterization of Jesus in the Book of Hebrews, BIS 128, Leiden: Brill, 2014, 181f. 341 Vgl. z. B. auch Michel, Hebräer, 114: „Der Erstgeborene ist hier wirklich der zur Weltherrschaft Berufene“. 342 Vgl. z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 97 („die einzigartige Nähe des Sohnes zum Vater“) und Cockerill, Hebrews, 105 („the magnitude of the sonship“; „the unprecedented nature of his relationship to God“). Unter der Einschränkung, dass in Hebr 1,6 Jesus kaum „Erstgeborener“ im Blick auf Engel als ui`oi, ist (so richtig Ellingworth, Hebrews, 118; vgl. die Bezeichnung der Engel in 1,7 als pneu,mata kai. leitourgoi,), ist hier also auch der oben aufgeführten These von Hughes zuzustimmen. 343 Der Titel prwto,tokoj ist auch als (verstärkende) Fortführung des vorangehenden Hoheitsnamens ui`o,j zu lesen. 344 Steyn z. B. sagt zu den avdelfoi, in Hebr 2,11f zutreffend: „By calling them ,brothers‘, the spiritual relationship between Jesus and the believers is highlighted and superseded the human aspect. Jesus himself declares here that this is a shared sonship, by himself and by 339
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Hebr 1,6 für den Sohn verwendeten Titel prwto,tokoj mit seiner ganzen darin enthaltenen Würde und Hoheitsfunktion in 12,23 auf seine menschlichen „Brüder“ überträgt.345 Durch ihren Glauben sind die „Brüder“ wie der Sohn Erstgeborene Gottes im Sinn von echten „Söhnen“ (vgl. 2,10: ui`oi,) bzw. „Kindern“ Gottes (vgl. 2,14: paidi,a346).347 Sie haben wie er den gleichen (geistlichen) Ursprung in Gott, dem Vater (vgl. 2,11: evx e`no,j).348 Durch ihren Glauben bzw. ihre u`po,stasij (3,14) sind sie als „heilige Brüder“ (Jesu!) „Teilhaber einer himmlischen Berufung“349 (3,1: klh,sewj evpourani,ou me,tocoi, vgl. 2,10: pollou.j ui`ou.j eivj do,xan avgago,nta), weil sie „Teilhaber des Christus“ sind (3,14: me,tocoi tou/ Cristou/) und dieser mit himmlisch-göttlicher Herrlichkeit und Ehre gekrönt ist (vgl. 2,9). Infolgedessen erscheinen die prwto,tokoi mit Blick auf Hebr 12,16, wo von der prwtoto,kia, dem „Erstgeburtsrecht“350 Esaus die Rede ist, als Erben Gottes351 (vgl. z. B. auch Röm 8,17) und Erben seines heilvollen Segens (vgl. Hebr 12,17). Das Erbe der erstgeborenen Brüder Jesu umfasst nun aber nicht einfach nur den „Himmel“ (vgl. Hebr 3,1: klh,sewj evpourani,ou me,tocoi), sondern die ganze (neue) Welt. Denn nach Hebr 1,6 ist Jesus der Erbe der Erde (vgl. PsLXX 88,28: u`yhlo.n para. toi/j basileu/sin th/j gh/j, vgl. Hebr 1,2b klhrono,mon pa,ntwn) bzw. Erbe der „irdischen“ oivkoume,nhj, in die er bei der Parusie eingeführt wird (↑ B.IV.2.1.5.d.i), und nach 12,23 wird dieses Erbe Jesu auf die Söhne „ausgedehnt“352. God’s other children“ (vgl. Steyn, Quest, 156). Zum Ganzen vgl. auch P. Gray, „Brotherly Love and the High Priest Christology of Hebrews“, in: JBL 122.2/2003, 335–351. 345 Eine solche Übertragung sieht unter vielen anderen z. B. auch Attridge, Hebrews, 375: „[T]he ,firstborn‘ are those who share the inheritance (12:16) of the Firstborn par excellence (1:6)“. 346 Die „Kinder“ sind nach dem Jesaja-Zitat in 2,13 zwar dem Sohn gegeben, aber es sind ursprünglich Gottes Kinder (vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 113). 347 Auch Peeler spricht in Bezug auf die Bezeichnung der Gläubigen als prwto,tokoi von „children of God“ (vgl. A. L. Peeler, You Are My Son. The Family of God in the Epistle to the Hebrews, LNTS 486, London, New York: Bloomsbury; T&T Clark, 2014, 170.181). 348 Auf wen sich evx e`no,j bezieht, ist umstritten. Mögliche Bezugspersonen sind Adam (vgl. Apg 17,26; vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 51), Abraham bzw. „the spiritual seed of Abraham“ (vgl. Hebr 2,16; vgl. J. Swetnam, „‚Ex henos‘ in Hebrews 2,11“, in: Bib. 88.4/2007, 517–525) und Gott. Die theologische Deutung ist wohl am plausibelsten, wobei eine gnostische sugge,neia-Lehre (vgl. Käsemann, Gottesvolk, 90ff; Grässer, Hebräer I, 133) kaum im Hintergrund steht (vgl. dazu z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 212f). 349 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 136. 350 Vgl. dazu Grässer, Hebräer III, 295. 351 So richtig Lane, Hebrews II, 469 („heirs of God“). 352 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 446: „Das Erstgeburtsrecht wird auf die ,Söhne‘ (vgl. 2,10) ausgedehnt“.
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Zudem werden die prwto,tokoi als Mitherrscher Christi dargestellt353, wenn nach Hebr 1,6 Christus als o` prwto,tokoj der Herrscher der Welt ist. Dies unterstreicht auch Hebr 12,28a, wonach die Gläubigen eine basilei,an empfangen. Zu dieser von Hebr 1,6 her gegebenen Deutung der prwtoto,kwn als Söhne Gottes, Allerben und Weltherrscher kommt m. E. eine Anlehnung an Hebr 11,28 und die vom Verderber verschonten prwto,toka Israels dazu. Mose, der in Hebr 11,24–26 unbestreitbar als „Paradigma und Vorläufer“ des Christus’ dargestellt wird354, erscheint durch die erwähnte Blutsbestreichung wohl auch in V.28 als – wie Richardson bemerkt – „typological anticipation of Jesus“355, wodurch die Erstgeborenen in 12,23 in Analogie zu ihren alttestamentlichen Vorgängern als die durch das Blut Jesu (vgl. Hebr 12,24!) Geretteten dastehen können. Wahrscheinlich steht bei den prwtoto,koij auch der alttestamentliche Gedanke der Gott-Gehörigkeit im Hintergrund, möglicherweise sogar jener von gottgehörigen Leviten bzw. Priestern356 – die priesterliche Sprache357 in 12,28b (latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/|, vgl. 9,14) könnte dafür sprechen. Angesichts der im Alten Testament und Frühjudentum belegten Verbindung des Erstgeborenen Gottes mit seinem Erwählt-Sein ist auch eine Deutung der Erstgeborenen als von Gott vor der Schöpfung „Erwählte“ nicht unmöglich.358 All diese Erkenntnisse über die Stellung der prwtoto,kwn lassen jetzt freilich noch keinen Rückschluss auf ihre genauere Identität zu. Sie erscheinen bisher einfach als „Söhne“ Gottes bzw. „Brüder“ Jesu. Anders sieht es bei der Frage nach dem Zeitpunkt ihrer Versammlung aus. Die Erwähnung der „Erstgeborenen“ passt sehr gut zu der These, dass bei der evkklhsi,a| prwtoto,kwn der Tag der Wiederkunft des Sohnes im Hintergrund steht, wenn man bedenkt, dass der in 12,23 aufgegriffene prwto,tokoj-Titel Jesu im Rahmen seiner Parusie erwähnt wird (vgl. Hebr 1,6a: o[tan de. pa,lin eivsaga,gh| to.n prwto,tokon eivj th.n oivkoume,nhn)359. f. Eingetragen im „Buch des Lebens“ Welche weiteren Aufschlüsse gibt die Beschreibung der Erstgeborenen als avpogegramme,noi evn ouvranoi/j?
353 Zum im Urchristentum weit verbreiteten Motiv vgl. H. Roose, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung, NTOA/StUNT 54, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2004. 354 Vgl. Grässer, Hebräer III, 166ff. 355 Vgl. Richardson, Pioneer, 213. 356 Ähnlich Vanhoye, Hebrews, 393. 357 ↑ B.VI.3.4.3.a. 358 Vgl. Berger, „Volksversammlung“, 194, Anm. 134. 359 ↑ B.IV.2.1.5.d.i.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Das Verb avpogra,fein in der Grundbedeutung „aufzeichnen“360 wird in der griechischen Umwelt vor allem im Hinblick auf das Eintragen in eine (öffentliche) Liste verwendet, und zwar z. B. in Bezug auf Besitz (vgl. z. B. Plat., Leg. 11,914c), Kinder (vgl. z. B. Is., Philoct. 6,44: im Verhältnis zu ihrem rechtmässigen Vater) und Personennamen (vgl. z. B. Xen., Cyrop. 2,1,18: in militärischem Zusammenhang). In der LXX kommt das Verb nur in RiLXX 22,20 (bezüglich aufgeschriebener Sprüche) und in 3.Makk 2,29; 4,14; 6,34.38 (bezüglich der Aufzeichnung von Personennamen in einer Liste) vor. In den Pseudepigraphen wird es verwendet für das Notieren der Sünden bzw. gerechten Taten bei Gott für den Tag des Gerichts (grHen 98,7), wobei die Niederschrift entweder durch zwei Engel (TestAbr A 12,12; 13,9) oder durch Abel und Henoch erfolgt (TestAbr B 11,4). Im Neuen Testament erscheint das Verb nur noch in Lk 2,1.3.5 in Bezug auf das Sich-Eintragen in eine Steuerliste. Beachtenswert ist weiter, dass das bedeutungsähnliche Verb evggra,fein in DanLXX 12,1, grHen 103,1−3 (vgl. äthHen 104,2ff; 108,3!) und Lk 10,20 in Bezug auf das Eingeschrieben-Sein im Buch des Lebens sowie in der griechischen Umwelt (vgl. z. B. Demosth. 19,230) und bei Philo (vgl. z. B. Leg. All. 3,244; Opif. 143; Conf. 109; Somn. 1,39; Mos. 1,57; Spec. 1,63; 2,45) im Blick auf das Eingetragen-Sein in Bürgerlisten einer Stadt bzw. eines Landes gebraucht wird. Letzteres entspricht den römischen Bürgerlisten, in die man nachgeburtlich eingetragen wurde.361 In der Hebräerbriefforschung herrschen denn auch zwei Deutungen der in 12,23 erwähnten avpogegramme,nwn vor, nämlich eine rechtlich-griechische bzw. rechtlich-römische (Bürgerliste) sowie eine theologisch-apokalyptische („Buch des Lebens“). Dafür, dass in Hebr 12,23 das Aufgeschrieben-Sein als Bürger des himmlischen Jerusalems im Blick ist, plädieren z. B. DeSilva, Koester, Karrer, O’Brien und Cockerill.362 Die Mehrheit jedoch sieht in den avpogegramme,noi im „Buch des Lebens“ verzeichnete Menschen.363
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Vgl. Bauer, Wörterbuch, 178. Vgl. F. Schulz, „Roman Registers of Births and Birth Certificates: Part I“, in: JRS 32/1942, 78–91 und F. Schulz, „Roman Registers of Births and Birth Certificates: Part II“, in: JRS 33/1943, 55–64. 362 Vgl. Koester, Hebrews, 545; D. A. DeSilva, Despising Shame. Honor Discourse and Community Maintenance in the Epistle to the Hebrews, SBL.DS 152, Atlanta, GA: Scholars, 1995, 467; Karrer, Hebräer II, 337; O’Brien, Hebrews, 486; Cockerill, Hebrews, 655; vgl. dazu auch D. Schinkel, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert, FRLANT 220, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2007, 155. 363 Vgl. z. B. Casey, Eschatology, 363; Hughes, Hebrews, 548; H.-F. Weiss, Hebräer, 679; Ellingworth, Hebrews, 680; Lane, Hebrews II, 469; Schunack, Hebräerbrief, 209; Mitchell, Hebrews, 283; Backhaus, Hebräerbrief, 446. 361
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Auch wenn mit den Begriffen xe,noi und parepi,dhmoi in Hebr 11,13 das Thema (himmlisches) Bürgerrecht dezent anklingen mag364, ist der primäre Bezug zu einem himmlischen „Buch des Lebens“ wahrscheinlicher. Denn das Motiv vom Schreiben in Bücher des Himmels (vgl. Hebr 12,23: avpogegramme,noi evn ouvranoi/j) ist im Frühjudentum und Urchristentum breit belegt.365 Die frühjüdische Literatur kennt nach Baynes vor allem drei Arten von Himmelsbüchern: „the book of life“ (z. B. 4Q504 1−2 VI,14; Jub 30,22; äthHen 108,3; JosAs 15,3f; vgl. Ex 32,32f; Ps 69,29; Jes 4,3; Dan 12,1), „the book of deeds“ (z. B. äthHen 47,3; 89,61–64; 90,20; syrBar 24,1; 4.Esr 6,18–20; TestAbr A 12,12; 13,9; slawHen 19,3; vgl. Dan 7,10) und „the book of fate“ (z. B. 4Q180 1 3f; 4Q417 2 I,14–18; Jub 5,13f.17f).366 Im Urchristentum ist vor allem das „Buch des Lebens“ (h` bi,bloj bzw. to. bibli,on th/j zwh/j) präsent (vgl. Lk 10,20; Phil 4,3; Offb 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27).367 Auch wenn in Hebr 12,23 mit dem erwähnten Eingeschrieben-Sein von Personen bzw. deren Namen am Wahrscheinlichsten der Gedanke an das „Buch des Lebens“ im Hintergrund steht368 (vgl. auch die frappierende Übereinstimmung mit Lk 10,20369), ist doch ein sekundärer Bezug zum „Buch der Taten“ nicht ausgeschlossen, weil dieses im Gericht funktionell mit dem „Buch des Lebens“ Hand in Hand gehen kann (vgl. äthHen 47,2−4; Offb 20,12−15). Infolgedessen ist es nicht unmöglich, dass der auctor ad Hebraeos mit der Szenerie von DanLXX 7,9f vor Augen die Bücher der Taten mit dem himmlischen „Buch des Lebens“ in Verbindung gebracht hat. Der enge Zusammenhang aller Himmelsbücher mit dem Jüngsten Gericht im Frühjudentum bzw. Urchristentum (vgl. z. B. Dan 12,1f; Jub 5,13ff; äthHen 90,20ff; syrBar 24,1−25,1; Offb 20,12ff) ist angesichts des in Hebr 12,23 direkt auf die avpogegramme,nouj evn ouvranoi/j folgenden göttlichen Richter auf jeden Fall ein weiteres Argument für die Richtigkeit einer primär „apokalyptischen“ Deutung der im Himmel Eingeschriebenen370 sowie für die These, dass in Hebr 12,22−24 an eine Theophanie am Jüngsten Tag gedacht ist.
364
So z. B. Grässer, Hebräer III, 138. Vgl. dazu z. B. L. Baynes, The Heavenly Book Motif in Judeo-Christian Apocalypses, 200 B.C.E.-200 C.E, SJSJ 152, Leiden: Brill, 2012. 366 Vgl. Baynes, Heavenly Book, 65–136. 367 Vgl. ebd., 137–167. Das „Buch der Taten“ kommt nur in Offb 20,12 vor (bibli,a hvnoi,cqhsan […] evkri,qhsan oi` nekroi. evk tw/n gegramme,nwn evn toi/j bibli,oij kata. ta. e;rga auvtw/n). 368 So auch Baynes, Heavenly Book, 141. 369 Vgl. avpogegramme,noi (Perf.!) e v n o u v r a n o i/ j mit ta. ovno,mata u`mw/n evgge,graptai (Perf.!) e v n t o i/ j o u v r a n o i/ j . 370 So auch Braun, Hebräer, 438: „Gott entscheidet auf Grund der Bücher (avpogegramme,nwn) über alle, wer vollendeter Gerechter ist“. 365
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
g. Die Bürgerliste und Jes 4,2–5 Auch wenn in Hebr 12,23 ein primärer Bezug zum himmlischen „Buch des Lebens“ vorliegt, stellt sich doch die Frage, ob damit kombiniert nicht auch der Gedanke einer Bürgerliste im Hintergrund steht. In PsLXX 86,6 ist die Rede von einem Verzeichnis der Völker und Fürsten (grafh. law/n kai. avrco,ntwn), in dem die im eschatologischen Zion geborenen Mitglieder verschiedener Völker notiert sind (vgl. V.4 mit V.6). Die Bürgerliste ist dabei offenbar mit dem Motiv vom „Buch des Lebens“ verknüpft. 371 Bemerkenswert sind nun vier Ähnlichkeiten von PsLXX 86 mit Hebr 12,22f: 1) In PsLXX 86,2–3 ist in einem Atemzug die Rede von Siw,n und der po,lei tou/ qeou/ (vgl. Hebr 12,22); 2) in PsLXX 86,4.6 ist die Rede von Geborenen (evgenh,qhsan, dly, vgl. die prwto,tokoi in Hebr 12,23); 3) jene sind nach PsLXX 86,6 in einem Verzeichnis eingeschrieben (evn grafh/|, vgl. avpogegramme,nwn evn ouvranoi/j in Hebr 12,23); 4) in PsLXX 86,7 werden diese als euvfrainome,noi beschrieben (vgl. panhgu,rei in Hebr 12,22).372 Da PsLXX 86 im Urchristentum eschatologisch gedeutet wurde (vgl. z. B. Gal 4,26 mit der mh,thr Siwn in PsLXX 86,5 als Mutter bzw. Geburtsstadt der Völker)373 und in Hebr 11,10 mit den erwähnten qeme,lioi der von Gott gebauten Stadt möglicherweise eine Anlehnung an PsLXX 86,1 (oi` qeme,lioi auvtou/ [sc. Siwn, vgl. V.2]) bzw. 86,5 (auvto.j evqemeli,wsen auvth.n o` u[yistoj) vorliegt374, erscheint auf den ersten Blick eine Bezugnahme auf den Psalm durch Hebr 12,22f als möglich. Allerdings passt auf den zweiten Blick die dortige Personifizierung von Zion und ihre damit einhergehende besondere Betonung so gar nicht zur Theozentrik von Hebr 12,22–24; auch sind die Erst-Geborenen – wie dargelegt (↑ B.IV.2.2.1.e) – vielmehr von Hebr 1,6 bzw. PsLXX 88,28 her zu lesen. Aber der dem Verfasser des Hebräerbriefs bestimmt bekannte PsLXX 86 zeigt auf jeden Fall die Möglichkeit einer Verbindung von einer Bürgerliste Zions/Jerusalems mit dem „Buch des Lebens“. Dies gilt noch mehr in Bezug auf JesLXX 4,3, wonach die Übriggebliebenen in Zion/Jerusalem zum Leben aufgeschrieben sind (grafe,ntej eivj zwh,n). Der primäre Bezug zum „Buch des Lebens“ liegt auf der Hand.375 Aber weil dieses die darin eingetragenen Personen als legitime Bewohner Zions auszeichnet 371 Vgl. C. M. Maier, „‚Zion wird man Mutter nennen‘: Die Zionstradition in Psalm 87 und ihre Rezeption in der Septuaginta“, in: ZAW 118.4/2006, 589f. 372 Wenn das zweite a;nqrwpoj in V.5 messianisch zu deuten wäre (vgl. J. Schaper, Eschatology in the Greek Psalter, WUNT II 76, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995, 99–101), käme eine weitere Ähnlichkeit hinzu (vgl. Hebr 12,24); allerdings steht diese messianische Interpretation auf wackeligen Füssen (vgl. Maier, „Zion“, 595f) 373 Vgl. C. M. Maier, „Psalm 87 as a Reappraisal of the Zion Tradition and Its Reception in Galatians 4:26“, in: CBQ 69.3/2007,473–486 und Schwemer, „Himmlische Stadt“, 232– 234; Letztere sieht PsLXX 86 auch im Hintergrund von Phil 3,20 und 4,3. 374 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 352. 375 Vgl. z. B. auch G. V. Smith, Isaiah 1-39, NAC 15A, Nashville, TN: B&H Publishing Group, 2007, 157f.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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(grafe,ntej eivj zwh.n evn Ierousalhm), ist auch der Gedanke an eine Bürgerliste präsent.376 Noch mehr als bei PsLXX 86 fallen bei Jes 4,2−5 über das „Buch des Lebens“ hinausgehende Entsprechungen zu Hebr 12,22–24.29 ins Auge: 1) Die alttestamentlichen Verse haben auch eine eschatologische Ausrichtung377 (im MT sogar mit Anklängen an eine Neuschöpfung378); 2) in Jes 4,2 ist sehr wahrscheinlich vom Messias als dem hwhy xmc die Rede379 (vgl. Hebr 12,24: VIhsou/); 3) der Begriff „Zion“ steht in Jes 4,4f gleich zweimal parallel neben „Jerusalem“ (vgl. Hebr 12,22), wobei in Jes 4,5 explizit vom „Berg Zion“ die Rede ist (tou/ o;rouj Siwn, !wyc-rh); 4) in JesLXX 4,3 ist die Rede von a``gi,oij (vgl. den verwandten Begriff di,kaioj in Hebr 12,23); 5) jene werden in JesLXX 4,4 auch ui`oi, genannt (vgl. die prwto,tokoi in Hebr 12,23); 6) in JesLXX 4,4 wird ai-ma erwähnt, und zwar im Sinn von Blutschuld (vgl. Abel in Hebr 12,24), sowie göttliche Reinigung (vgl. das evkkaqariei/ mit Hebr 12,24: ai[mati r`antismou/); 7) JesLXX 4,4 spricht weiter von einem göttlichen Geist des Gerichts (vgl. evn pneu,mati kri,sewj mit krith/| qew/| pa,ntwn in Hebr 12,23); 8) in Jes 4,5 wird im MT die harqm erwähnt (vgl. evkklhsi,a| in Hebr 12,23); 9) Schliesslich kennt JesLXX 4,5 auch noch ein den Zion überschattendes pu/r kaiome,non (vgl. Hebr 12,29: pu/r katanali,skon). Weil es kaum wörtlich-exakte Übereinstimmungen zu Hebr 12,22ff gibt, ist eine literarische Abhängigkeit von der Jesaja-Stelle schwer zu belegen. Aber eine endzeitliche Interpretation von Jes 4,2–5 in Kombination mit Dan 7,9ff durch den Verfasser des Hebräerbriefs scheint mir nicht ausgeschlossen. h. Die Identität der Erstgeborenen Was bedeutet die Tatsache, dass die prwto,tokoi in Hebr 12,23 im himmlischen „Buch des Lebens“ verzeichnet sind, für deren Identität? Nach Braun wird das „Buch des Lebens“ immer in Bezug auf „lebende Menschen“ erwähnt, weshalb es sich in Hebr 12,23 auch um solche handeln müsse.380 Auch Ellingworth erkennt, dass die meisten Stellen in frühjüdischen und urchristlichen Texten, wo das „Buch des Lebens“ im Hintergrund steht, 376
Vgl. dazu auch Baynes, Heavenly Book, 73 und Schwemer, „Himmlische Stadt“, 231. Vgl. B. S. Childs, Isaiah, OTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2001, 35: „The dominant eschatological emphasis of 2:1–4 and 2:6ff. reverberates strongly in 4:2. Not just ordinary time is extended, but God’s time of eschatological judgment and salvation, which comprises one single reality without a fixed temporal sequence“. 378 Nach Childs führt der Gebrauch des Verbes arb in Jes 4,5 das Bild „of a new divine creation“ vor Augen (vgl. Childs, Isaiah, 36). 379 So z. B. auch Childs, Isaiah, 36 und Smith, Isaiah, 154–157; Letzterer bietet eine ausführliche Auseinandersetzung mit der alternativen Deutung von Jes 4,2 auf Gott hin, die auch die LXX bietet (evpila,myei o` qeo,j); vgl. aber die messianische Interpretation im Targum. 380 Vgl. Braun, Hebräer, 438. 377
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
noch lebende Personen im Blick haben; allerdings nennt er drei Ausnahmen, wo Verstorbene mit eingeschlossen seien: Dan 12,1; TestJak 7,27; äthHen 47,3.381 Dazu ist zu sagen, dass sich die Wendung „die Bücher der Lebenden“382 in der Henoch-Stelle offensichtlich auf die sich auf der Erde befindenden Gerechten bezieht (vgl. äthHen 47,2)383 und die Daniel-Stelle mit den im „Buch des Lebens“ Eingetragenen hinsichtlich Dan 12,2 vielleicht durchaus in zweiter Linie (!) Verstorbene miteinschliessen möchte 384, aber keinesfalls eine himmlische Versammlung von im Lebensbuch Verzeichneten vor Augen hat. Möglicherweise gilt Letzteres jedoch von TestJak 7,26–28385, wobei diese jüdische Schrift einige Zeit nach dem Hebräerbrief zu datieren ist.386 Baynes, der in den prwtoto,koij von Hebr 12,23 eine himmlische Versammlung von Verstorbenen erkennt, führt aber noch eine andere Belegstelle an, nämlich 1QM XII,1f, wo auch sich im Himmel befindende Menschen als in einem Himmelsbuch Verzeichnete beschrieben seien.387 Seine Übersetzung lautet wie folgt: „For there is a multitude of holy ones in heaven and hosts of angels in your holy dwelling to [praise] your [truth.] And the chosen ones of the holy nation you have established for yourself among t[hem.] The book of the names of all their armies […] is with you in your holy dwelling, and the number of the just in your glorious dwelling […].“388
Maier versteht den Text etwas anders: „Denn eine Menge Heiliger h[ast Du] im Himmel und Engelheere an Deiner heiligen Wohnstatt, um zu lo[bsingen Deinem[Namen(?),] und Erwählte eines heiligen Volkes (2) setztest 381
Vgl. Ellingworth, Hebrews, 680. Vgl. Uhlig, Henochbuch, 589. 383 Vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 164. 384 So z. B. Collins, Daniel, 391; das Eingeschrieben-Sein im Buch des Lebens bezieht sich in erster Line auf die auf der Erde bedrängten Mitglieder des Volkes. 385 Der arabische Text lautet nach Heide übersetzt wie folgt: „[G]edenkt der Heiligen […], damit man deinen Namen in das Buch des Lebens im Reich der Himmel schreibt. Und ihr werdet unter der Anzahl der Heiligen sein, denen, die ihm in ihrem Leben wohlgefällig waren, und sie werden sich mit seinen Engeln im Land des Lebens erfreuen“ (vgl. M. Heide, Die Testamente Isaaks und Jakobs. Edition und Übersetzung der arabischen und äthiopischen Versionen, Äthiopistische Forschungen 56, Wiesbaden: Harrassowitz, 2000, 249). Die Übersetzung der zweiten Rezension des äthiopischen Textes lautet wie folgt (7,27f): „Und er wird euren Namen in eine goldene Kolumne im Buch des Lebens in den Himmeln schreiben, mit denen, die Gott durch ihr Leben wohlgefällig sind, und ihr werdet euch mit den Engeln im Land der Lebendigen erfreuen“ (vgl. ebd., 303). 386 Stinespring datiert sie in einen Zeitraum vom 2. bis 3. Jh. n. Chr. (vgl. J. H. Charlesworth, The Old Testament Pseudepigrapha. Apocalyptic Literature and Testaments, New York: Doubleday, 1983, 913); gegen einen früheren jüdischen Ursprung des Textes spricht sich auch Heide aus (vgl. Heide, Testamente, 6). 387 Vgl. Baynes, Heavenly Book, 143; vgl. auch Berger, „Volksversammlung“, 195, Anm. 136. 388 Baynes, Heavenly Book, 143. 382
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Du Dir .. [.. in] ein Namenbuch[.] Ihr ganzes Heer ist mit Dir an Deiner heiligen Stätte und .[…. h/Heilig]en in der Wohnstatt Deiner Herrlichkeit […].“389
Baynes bezieht twmX rps („Buch der Namen“) auf ~abc lwk („alle Heerscharen“), Maier hingegen nicht. Meines Erachtens ist tatsächlich von einem sich im Himmel befindenden „Buch der Namen aller Heerscharen“ die Rede – auch Martínez und Puech sehen das so390. Die Frage ist aber, was das mit Blick auf die von Baynes postulierte Parallele zu Hebr 12,23 heisst. Neben den Engeln werden in 1QM XII,1 tatsächlich Menschen erwähnt: die „Erwählten eines/des heiligen Volkes“ (Xdwq ~[ yryxb). Aber dass sich diese wie die Engel im Himmel befinden, wird nicht explizit gesagt. Der Ort, wohin Gott die Erwählten gesetzt hat, ist in den Handschriften nicht mehr auszumachen.391 Nach Puech ist es das (himmlische) „Licht“.392 Collins lehnt sich an die Übersetzung von Puech an und versteht die „Erwählten“ als Menschen, die vor dem Tod (!) „a degree of participation in the angelic life“ erfahren (vgl. auch 1QS XI,5–8).393 Dabei betont aber Collins, dass ihre Herrlichkeit noch nicht vollendet sei.394 Selbst wenn diese himmlische Lokalisierung der Erwählten von Puech und Collins stimmen sollte395, ist eine Versammlung von Verstorbenen in 1QM XII,1f, wie sie Baynes für Hebr 12,23 annimmt, aus zwei Gründen auf jeden Fall auszuschliessen: 1) Die „Erwählten“ müssen sich (auch) noch auf der Erde befinden, wenn sie nach 1QM XII,4–5 mit der Unterstützung himmlischer Engelsheere die „irdischen Feinde“ (#ra ymq) besiegen; 2) das Leben nach dem Tod ist in den Schriften von Qumran offenbar vor allem mit der Vorstellung der Auferweckung der Toten am Ende der Zeit verknüpft396. 1QM XII,1f kann weiter auch darum kaum als Parallelstelle zu Hebr 12,23 gelten, weil das in 1QM XII,2 erwähnte himmlische Buch nicht das „Buch des Lebens“ ist, sondern offenbar ein Armeeregister (~abc lwk twmX rps ~abc). 389 Vgl. J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten Meer. Band I, UTB 1862, München: Reinhardt, 1995, 142. 390 Vgl. García Martínez, Scrolls, 105 („The [bo]ok of the names of all their armies is with you in your holy dwelling“); É. Puech, La croyance des Esséniens en la vie future. Immortalité, résurrection, vie éternelle?, EtB.NS 21−22, Paris: Gabalda, 1993, 451 („[the bo]ok of the names of all their host is with you in your holy abode“). 391 Vgl. z. B. auch García Martínez, Scrolls, 105: „And the chosen ones of the holy people you have established in […]“ ([...]yb hkl htmf vdwq ~[ yryxb). 392 Vgl. Puech, croyance, 451: „The elect of the holy people you have placed for yourself in the l[ight? and the bo]ok of the names of all their host is with you in your holy abode“. 393 Vgl. Collins, Apocalypticism, 119. 394 Vgl. ebd: „[T]he glory is not yet complete“. 395 Man könnte den Text auch so lesen: „Die Erwählten des heiligen Volkes hast du dir in eine/die Gemeinschaft gesetzt“ ([ dx]yb hkl htmf vdwq ~[ yryxb). 396 Vgl. A. L. Hogeterp, Expectations of the End. A Comparative Traditio-Historical Study of Eschatological, Apocalyptic, and Messianic Ideas in the Dead Sea Scrolls and the New Testament, STDJ 83, Leiden: Brill, 2009, 265–292.326–331.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Dass das „Buch des Lebens“ in frühjüdischen und urchristlichen Texten im Normalfall im Zusammenhang mit lebenden und sich auf der Erde befindenden Menschen erwähnt wird397 und es bei den wenigen Ausnahmen, wo auch Verstorbene miteingeschlossen sind, um keine himmlische Heilsversammlung, sondern um das letzte, nicht (oder nicht explizit) im Himmel stattfindende Gericht geht398, spricht klar dafür, dass es sich bei den prwtoto,koij in Hebr 12,23 um lebende Menschen auf der Erde handelt. Unterstützt wird diese These durch ihre Beschreibung als avpogegramme,noi evn ouvranoi/j („in den Himmeln Eingeschriebene“). Nach Riggenbach hat dieser Zusatz nur dann eine sinnvolle Bedeutung, „wenn die so Charakterisierten selbst noch nicht im Himmel sind, sondern nur ein Anrecht an den Himmel besitzen“.399 Moffatt formuliert es ähnlich: „As in Lk 1020 so here, the phrase refers to men on earth, to the church militant, not to the church triumphant; otherwise evn ouvranoi/j would be meaningless.“400 Diesem Urteil schliessen sich z. B. auch Michel, Casey und Vanhoye an.401 Meines Erachtens ergibt es tatsächlich keinen Sinn, von sich im Himmel befindenden Menschen auszusagen, dass sie im Himmel aufgeschrieben sind. Auch im Blick auf die grosse Ähnlichkeit zu Lk 10,20 (ta. ovno,mata u`mw/n evgge,graptai evn toi/j ouvranoi/j) müssen die prwtoto,kouj darum eine irdische Gruppe darstellen. Daraus wie H.-F. Weiss zu folgern, dass sich die Ausdrucksweise in Hebr 12,23 „eigentümlich ‚in der Schwebe‘ zwischen Himmel und Erde“ befinde, insofern es in Hebr 12,22ff klar um eine himmlische Versammlung gehe402, ist aber exegetisch inkonsequent. Denn die nach (!) den Engelmyriaden erwähnte Gemeinde der Erstgeborenen wird klar als eine echte Bewohnerin des himmlischen Jerusalems beschrieben. Die richtige Schlussfolgerung ist demnach vielmehr, dass das himmlische Jerusalem nicht der Himmel ist 403 bzw. dass es sich nicht im Himmel, sondern auf der „Erde“ befindet. Diese Interpretation vermag auch das von Lane mit Recht formulierte Problem zu lösen, wonach gewisse Exegeten die avpogegramme,nouj evn ouvranoi/j zwar „consequently“ auf gegenwärtig-irdische Gläubige beziehen würden, was aber letztlich dem offensichtlich eschatologischen Bild von Hebr 12,22–24 widerspreche.404 Wenn sich das himmlische Jerusalem nun aber – wie von mir vorgeschlagen – zu einem futurisch-eschatologischen Zeitpunkt auf der „Erde“ befindet, geht es bei den Erstgeborenen nicht um die gegenwärtigen Gläubigen, 397 Vgl. z. B. 4Q504 1f VI,14; Jub 30,22; äthHen 108,3; Lk 10,20; Phil 4,3; Offb 3,5; 13,8; 17,8. 398 Vgl. z. B. Dan 12,1f; Offb 20,12.15; 21,27. 399 Vgl. Riggenbach, Hebräer, 414f. 400 Moffatt, Hebrews, 217. 401 Vgl. Michel, Hebräer, 465; Casey, Eschatology, 363; Vanhoye, Hebrews, 392f. 402 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 679. 403 Gegen Isaacs, Space, 88. 404 Vgl. Lane, Hebrews II, 469.
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sondern um die bei der Parusie und endzeitlichen Theophanie lebende Gemeinschaft aller Gläubigen. Damit erledigt sich auch das berechtigte Argument gegen die irdische Deutung der evkklhsi,aj prwtoto,kwn durch Riggenbach, Moffatt, Michel u. a., dass die Adressaten dann ja widersinnigerweise zu sich selbst hinzugetreten wären. 405 Die angeschriebenen Gläubigen sind noch „auf dem Weg“ (vgl. z. B. Hebr 12,12f) – ein Verpassen des Ziels ist noch möglich (vgl. z. B. 2,1; 12,25). Grundsätzlich könnten die im Himmel verzeichneten Erstgeborenen auch verstorbene Gläubige sein, die am Jüngsten Tag zuerst auferweckt (vgl. 1.Thess 4,16) und aufgrund ihres Eingetragen-Seins im „Buch des Lebens“ ins herabgekommene himmlische Jerusalem eingelassen wurden. Angesichts der Tatsache, dass die pneu,mata dikai,wn unbestritten Verstorbene meinen (↑ B.IV.2.2.3.a) und Gott nach urchristlichem Verständnis der Richter der Lebenden und der Toten ist (vgl. z. B. 1.Petr 4,5; 2.Clem 1,1; vgl. auch Apg 10,42; 2.Tim 4,1; Barn 7,2 in Bezug auf Jesus)406, ist es jedoch naheliegender, von am Jüngsten Tag lebenden Gläubigen auszugehen.407 Dabei stellt sich sogleich die Frage, ob die „in den Himmeln eingeschriebenen Erstgeborenen“ das göttliche Gericht bereits hinter sich haben. Lane z. B. schreibt: „[T]he detail that the names of the firstborn are permanently inscribed (stressing the perfect tense of avpogegramme,nwn) has reference to those who in some sense have stood in judgement and have experienced acquittal or vindication.“408
Hinsichtlich der Perfektform in Lk 10,20 (evgge,graptai), wo von Menschen die Rede ist, die das Gericht noch vor sich haben, und der Tatsache, dass man aus dem „Buch des Lebens“ ausgelöscht werden kann (vgl. z. B. Ex 32,32f; Ps 68,29; Offb 3,5), scheint mir die Deutung Lanes zu weit zu gehen. Der Gedanke einer bestimmten Heilsgewissheit scheint aber dennoch präsent zu sein.409 Denn das Perfekt (avpogegramme,nwn) weist sehr wahrscheinlich auf eine göttliche Erwählung seit Ewigkeiten hin (vgl. z. B. Jub 2,20).410 Auch wenn die Eintragung in himmlische Bücher vornehmlich durch Engel geschieht (vgl. z. B. äthHen 98,7)411, so steht doch Gottes Autorität beim Schreiben immer im Hin-
405 So z. B. Grässer, Hebräer III, 317; vgl. auch Spicq, Hébreux II, 407: „Mais comment les chrétiens se seraient-ils ,approchés‘ des chrétiens?“. 406 Dazu mehr unter ↑ B.IV.2.2.2.a−b. 407 So auch Braun, Hebräer, 438. 408 Vgl. Lane, Hebrews II, 469; ähnlich Spicq, Hébreux II, 407: „Le participe parfait souligne la permanence indélébile de cette inscription“. 409 Vgl. auch Moffatt, Hebrews, 217 („assurance of salvation“). 410 Vgl. z. B. Baynes, Heavenly Book, 80 (in Bezug auf JosAs 15,3 und die Eintragung Asenaths in das Buch des Lebens). 411 So mit weiteren Belegen auch Volz, Eschatologie, 291.
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tergrund: „[T]he heavenly book motif always functions to grant divine authority to whatever claim is asserted by the text that appeals to it“412. So ist es denn auch kein Zufall, dass nach den avpogegramme,noij evn ouvranoi/j in Hebr 12,23 sogleich Gott als nächster Zielpunkt der Adressaten erwähnt wird. 2.2.2 krith/| qew/| pa,ntwn – „zum Richter aller, zu Gott“ Der krith,j qeo.j pa,ntwn bildet – wie gesehen (↑ B.II) – als viertes der sieben Glieder das formale Zentrum von Hebr 12,22–24, was auch die Tatsache unterstreicht, dass Gott die dritte Person von fünf Personen bzw. Personengruppen ist. Dass Gott auch unter inhaltlichem Gesichtspunkt im Zentrum bzw. zentralen Fokus steht, wird durch die theozentrische Heilsaussage des Hebräerbriefs bestätigt: Gott ist das Endziel des gläubigen Hinzutretens (vgl. v. a. Hebr 7,19: evggi,zomen tw/| qew/|, sowie 7,25: prosercome,nouj […] tw/| qew/|, vgl. auch 12,14: o;yetai to.n ku,rion).413 Im Kontrast zu der in Hebr 12,18–21 geschilderten Sinai-Offenbarung als einer „blossen“ Kratophanie ist der Zugang zu Gott in V.23 offen: Die gläubigen Menschen der Zukunft (prwto,tokoi) und der Vergangenheit (di,kaioi) umgeben Gott in enger und auch fröhlicher (vgl. panh,gurij!) Gemeinschaft, an der die Adressaten proleptisch Anteil haben (proselhlu,qate tw/| qew/|). Allerdings hat die in 12,23 beschriebene endzeitliche Gottesbegegnung neben der freudig-heilsbezogenen auch eine ernsthafte Seite, insofern Gott krith,j ist. a. Gott, der zu fürchtende Allrichter Bevor wir auf die inhaltliche Bedeutung von krith,j eingehen können, stellt sich die Frage, worauf pa,ntwn zu beziehen ist: auf krith/| oder qew/|? Gelangt man zum „Richter, dem Gott aller“414 oder zu „Gott, dem Richter aller“415? Oder bezieht sich pa,ntwn gar auf beide Nomina gleichzeitig?416 Auch wenn die Wortstellung auf den ersten Blick für die Deutung „Gott aller“ spricht, liegt doch auf den zweiten Blick die Verbindung von krith,j und pa,ntwn viel näher. Die theologische Aussage, dass Gott der Richter aller Menschen ist, ist nämlich sowohl im Alten Testament (z. B. Gen 18,25: o` kri,nwn pa/san th.n gh/n, PsLXX 9,9; 95,10.13; 97,9: krinei/ th.n oivkoume,nhn […] kai. laou,j), in Qumran (z. B. 1QpHab V,4–6; 4Q88 IX,5), in den Apokryphen bzw. Pseudepigraphen 412
Baynes, Heavenly Book, 206. Dazu mehr unter C.II.3.2.5. 414 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 416; Hughes, Hebrews, 549; Rissi, Theologie, 23; Lane, Hebrews II, 470; Koester, Hebrews, 545; Backhaus, Hebräerbrief, 435; O’Brien, Hebrews, 486; Cockerill, Hebrews, 655f und Massonnet, Hébreux, 378. 415 Vgl. z. B. Michel, Hebräer, 460; H.-F. Weiss, Hebräer, 669; Grässer, Hebräer III, 318; DeSilva, Hebrews, 467; Schunack, Hebräerbrief, 209; Eisele, Reich, 400 und Johnson, Hebrews, 333. 416 So jüngst Barnard, Mysticism, 208. 413
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(z. B. Jub 5,13–16; syrBar 83,2; grHen 1,9: poih/sai kri,sin kata. pa,ntwn417; PsSal 9,2: krith.j di,kaioj evpi. pa,ntaj tou.j laou.j th/j gh/j) und im Neuen Testament (z. B. Röm 2,16; Apg 17,31 [kri,nein th.n oivkoume,nhn]; Offb 20,11ff) breit belegt. Im Gegensatz dazu ist die Wendung „Gott aller“, die man entweder als monotheistisches Statement418 oder in Bezug auf das Schöpfer-Sein Gottes interpretiert419, doch sehr ungewöhnlich. Zudem passt eine Verbindung von krith/| und pa,ntwn hervorragend zur konzentrischen Struktur von Hebr 12,22–24, weil qew/| dann das Zentrum des Zentrums bildet (eine solche stilistisch motivierte Sperrung begegnet uns z. B. auch in 2.Petr 1,4: qei,aj koinwnoi. fu,sewj). Letztlich schliessen sich aber die beiden Deutungen in keiner Weise aus: Wenn Gott der Richter aller ist, dann ist er auch der Gott aller, und umgekehrt.420 Was bedeutet nun die Beschreibung Gottes als krith,j? Luther folgend, der den Richter als „Rächer seiner Widersacher“ und „unser Beschützer“ versteht421, sehen einige Exegeten krith,j in einem positiv-heilvollen Licht. 422 Dabei wird häufig auf die Situation der „bedrängten Gemeinde“ verwiesen, der Gott als gerechter Richter „zu ihrem Recht verhelfen“ werde.423 H.-F. Weiss andererseits argumentiert wie folgt: „Sind die Christen bereits ‚hinzugetreten‘ zu Gott, dem ‚Richter‘, der als solcher ,den Gerechten Vollendung gewährt‘, dann trägt das ganze Begriffspaar im Kontext des Hebr eindeutig einen positiven, nicht primär einen ‚kritischen‘ Akzent“.424
Differenzierter sieht es z. B. Lane, der dem göttlichen Gericht als „approving judgement for the assembled multitude“ zwar ebenso eine positive Seite beimisst, aber im „Richter“ gleichzeitig auch eine Anknüpfung an vorangegangene Gerichtsdrohungen für Abgefallene sieht.425 Für Braun, der krith,j im Zusammenhang mit dem End- bzw. Weltgericht sieht, hat die Erwähnung des 417 Vgl. äthHen 1,9: „to execute judgment on all“ (vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 142; anders Uhlig, Henochbuch, 509: „damit er Gericht über sie halte“). 418 So z. B. Hughes, Hebrews, 549. 419 So z. B. Rissi, Theologie, 23; Lane, Hebrews II, 470. 420 Vgl. Hughes, Hebrews, 549. 421 Vgl. M. Luther; E. Vogelsang, Luthers Hebräerbrief-Vorlesung von 1517/18. Deutsche Übersetzung, AKG 17, Berlin: de Gruyter, 1930, 183. 422 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 416 („Retter und Helfer“); T. Häring, Der Brief an die Hebräer, Stuttgart: Calwer, 1925, 98 („Recht schaffende[r] und damit heilbringende[r] Gott“) Attridge, Hebrews, 376 („positive portrait“); Backhaus, Hebräerbrief, 446 („Grund zur Freude“). 423 Vgl. März, Hebräerbrief, 79; ähnlich z. B. auch Strobel, Hebräer, 240 und Backhaus, Hebräerbrief, 446. 424 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 681; vgl. auch Schunack, Hebräerbrief, 209: „nicht so sehr Gerichtsankündigung als vielmehr Heilsaussage“. 425 Vgl. Lane, Hebrews II, 470, ähnlich z. B. auch O’Brien, Hebrews, 486f (die positive Seite allerdings stärker betonend).
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„Richters“ nur ermahnenden Charakter; der Verfasser setze die Hörer „in Furcht“.426 Was ist von diesen Deutungsvorschlägen zu halten? Auch wenn 1) für die Adressaten mit Blick auf Hebr 10,32–36 und andere Stellen eine gewisse, bis in die Gegenwart hineinreichende Form von Verfolgung möglich und für sie als Anhänger einer „jüdischen Sekte“ ein soziales Leiden sogar wahrscheinlich ist427 und 2) die positive Funktion des göttlichen Richters als Retter und Helfer der Unterdrückten im Alten Testament ausreichend belegt ist (vgl. z. B. 1Sam 24,16; PsLXX 7,11f; 67,6 [krith,j tw/n chrw/n]; 135,14; Jes 30,18; 33,20)428, so liegt der primäre Fokus in Hebr 12,23 doch eindeutig auf dem Richter, der alle Menschen richten bzw. zur Rechenschaft ziehen wird (vgl. krith/| pa,ntwn!). Dies unterstreichen insbesondere die nachfolgend erwähnten di,kaioi teteleiwme,noi429 als den von Gott beim Gericht als gerecht Befundenen430 bzw. den im Gericht Vollendeten431. Diese Deutung von Hebr 12,23 im Sinn eines Gerichts über alle Menschen (die Gläubigen miteingeschlossen) deckt sich zudem mit Hebr 9,27, wonach es den Menschen (im Allgemeinen!) bestimmt ist, einmal „gerichtet“ zu werden, sowie 10,30, wonach Gott sein eigenes Volk „richten“ wird432. Mit Blick auf die eindrückliche Warnung an die Adressaten vor einem furchtbar zu erwartenden Gericht (kri,sij) mit einer schlimmen Strafe (kakh. timwri,a) in Hebr 10,26–31 (vgl. auch Hebr 2,3; 6,4–8433 und 13,4) liegt es sehr nahe, dass der Verfasser mit dem krith,j, zu dem die Gläubigen hinzutreten, die Ernsthaftigkeit des Gerichts hervorheben möchte. Diese Interpretation wird bekräftigt durch die anschliessende exhortatio bzw. Gerichtswarnung in Hebr 12,25– 29434, wonach es für die avpostrefome,nouj kein Entfliehen gibt und Gott ein verzehrendes Feuer ist. Gewiss, die Gläubigen erwartet beim göttlichen Gericht kein Verdammungsurteil, sondern als Lohn (vgl. Hebr 11,6: 426
Vgl. Braun, Hebräer, 438; vgl. auch Thomas, Mixed-Audience, 268–270. ↑ A.II.5.2. 428 Vgl. z. B. auch Philo, Spec. 4,57f. 429 So argumentieren z. B. auch Hegermann, Hebräer, 260 und Cockerill, Hebrews, 656. 430 Vgl. z. B. Johnson, Hebrews, 333: „[I]t is as judge that God can testify to the righteousness of humans“. 431 So z. B. sogar Backhaus, Hebräerbrief, 446. 432 Zum Zitat aus DtnLXX 32,36 und seiner warnenden (Um-)Interpretation auf das Gericht über die Gläubigen vgl. Allen, Deuteronomy, 60–62. 433 Der in V.8 erwähnte „Fluch“ (kata,ra) über das Land und dessen „Brennen“ (kau/sij, vgl. 10,27: puro.j zh/loj!) beziehen sich kaum, wie Gleason es interpretiert, auf ein „physical suffering“ der Einwohner Judäas bei der römischen Invasion (vgl. R. C. Gleason, „The Old Testament Background of the Warning in Hebrews 6:4-8“, in: BS 155.617/1998, 90), sondern sind vielmehr, wie Mathewson richtig betont, spiritualisiert zu verstehen, und zwar als Hinweise auf „the ultimate […] judgment“ (vgl. D. Mathewson, „Reading Heb 6:4-6 in Light of the Old Testament“, in: WThJ 61.2/1999, 222); vgl. dazu auch B.VI.3.5.3. 434 Vgl. auch Thomas, Mixed-Audience, 270. 427
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misqapodo,thj, 10,35: mega,lh misqapodosi,a) die Gerechtigkeit (vgl. klhrono,moj dikaiosu,nhj in Hebr 11,7 und die di,kaioi in 12,23 mit 2.Tim 4,8), eine unerschütterliche basilei,a (Hebr 12,28), das Bürgerrecht im himmlischen Jerusalem, ja den Zugang zu Gott selbst; deshalb kann die Gerichtsszene trotz aller Ernsthaftigkeit als panh,gurij beschrieben werden. Aber Cockerill bemerkt mit Recht: „This joyful fellowship is not to be taken lightly. God has not relented in his holiness. This wonderful scene of blessing is possible only through the salvation he has provided in his Son“. 435 Die grosse Frage ist jetzt aber noch, in welchem Rahmen sich dieses göttliche Gericht abspielt: Geht es um ein individuelles Totengericht, das unmittelbar nach dem Tod eines Menschen erfolgt, oder um ein eschatologisches Weltgericht am Ende der Zeit. b. Individuelles Totengericht oder eschatologisches Weltgericht? Mit Blick auf Hebr 9,27f kommt Eisele zu folgender Deutung des Gerichtsverständnisses im Hebräerbrief: „Unmittelbar nach dem Tod findet im Allerheiligsten vor dem Thron Gottes ein individuelles Totengericht statt, bei dem das Sühnopfer Christi die Sünder rechtfertigt und sie so vor dem Angesicht Gottes bestehen lässt. Die Gottsucher haben dann das verheissene Gut ein für allemal erlangt und damit den Lohn für ihren ausdauernden Glauben erhalten, den sie in der Zeit der Fremde auf Erden bewiesen.“436
Dieses individuelle Totengericht bildet für Eisele offenbar auch den Rahmen von Hebr 12,22–24: „Jesus fällt beim Gericht, wenn die Menschen zum Thron Gottes hinzutreten (vgl. Hebr […] 12,22), die Rolle des Mittlers (vgl. Hebr […] 12,24) und Retters […] zu“.437 Eisele gegenüber stehen jene Exegeten, die mit dem göttlichen krith,j in Hebr 12,23 das eschatologische (futurische) Weltgericht angesprochen sehen.438 Für Letzteres spricht die Tatsache, dass – wie gesehen (↑ B.IV.2.2.1.f) – bei den avpogegramme,noij das „Buch des Lebens“ im Hintergrund steht und nach frühjüdischer und urchristlicher Erwartung Gott beim Jüngsten Gericht die Menschen aufgrund von diesem und anderen Himmelsbüchern richten wird (vgl. z. B. Jub 5,13ff; äthHen 90,20ff; syrBar 24,1−25,1; Offb 20,12ff). So schreibt z. B. auch Grässer: „Gott ist derjenige, welcher aufgrund der Bücher
435
Vgl. Cockerill, Hebrews, 656. Eisele, Reich, 414; vgl. 84f. 437 Ebd., 401. 438 Vgl. z. B. Windisch, Hebräerbrief, 114 („der das Weltgericht abhält“); Michel, Hebräer, 466 („Weltenrichter“); Braun, Hebräer, 437 („Endrichter“); Schenck, Cosmology, 136 („events which are future, such as God the judge“). 436
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(avpogegramme,nwn) beim Endgericht die Entscheidung trifft, wen er als Himmelsbürger zulassen will und wen nicht“.439 Wohl kennt das Frühjudentum eine „individuelle Scheidung der Seelen nach dem Tod“, aber diese ist bis 100 n. Chr. offenbar stets mit dem Motiv des Endgerichts verbunden.440 Auf jeden Fall ist die Erwartung eines individuellen Gerichts nach dem Tod dem Verfasser des Hebräerbriefs fremd. Das furchtbare Gericht (Hebr 10,27), das die u`penanti,ouj Gottes im Allgemeinen (10,27) und die abgefallenen Gläubigen im Speziellen (10,26) treffen wird, wird in Zukunft an einem sich nahenden Tag (10,25: evggi,zousan th.n h`me,ran) stattfinden. Gott richtet nicht Individuen in ihrer Separatheit verteilt über einen langen Zeitraum, sondern „sein Volk“ in seiner Gesamtheit zu einem bestimmten Zeitpunkt (10,30: krinei/ ku,rioj to.n lao.n auvtou/). Dies belegt auch Hebr 6,2, wo nach der avnasta,sei nekrw/n von dem kri,mati aivwni,w| die Rede ist. In Hebr 6,1f finden wir das ABC bzw. elementare Prinzipien des christlichen Glaubens441 (o` th/j avrch/j tou/ Cristou/ lo,goj), eine Liste, die „nothing inconsistent with Judaism“ enthält, wie Adams richtig betont442. Verknüpft mit der im Judentum und Urchristentum breit belegten Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Zeit443 meint das kri,ma aivw,nion offenbar das ebenso gut bezeugte allgemeine Gericht am Jüngsten Tag444 (vgl. z. B. äthHen 1,9; TestLev 3,2–4,1; Apg 24,25; 2.Thess 1,5–10) im Sinn eines Gerichts, „das auf Ewigkeit Gültigkeit hat“445 (vgl. z. B. Dan 12,2; 1QS IV,7.12f; Mt 25,46), weil zu diesem Zeitpunkt auch die Toten auferstehen446. Dieses allgemeine Endgericht ist auch das Thema in Hebr 9,27–28.447 Die Aussage in V.27, dass nach dem festgesetzten Tod der Menschen das Gericht kommt (avpo,keitai toi/j avnqrw,poij a[pax avpoqanei/n( meta. de. tou/to kri,sij), ist
439
Vgl. Grässer, Hebräer III, 318; ähnlich auch H.-F. Weiss, Hebräer, 680. Vgl. C. Stettler, Das letzte Gericht. Studien zur Endgerichtserwartung von den Schriftpropheten bis Jesus, WUNT II 299, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, 144f. 441 Vgl. Moffatt, Hebrews, 70 („the ABC or elementary principles“) zu der mit Hebr 6,1f verwandten Wendung ta. stoicei/a th/j avrch/j tw/n logi,wn tou/ qeou/ in 5,12. 442 Vgl. J. C. Adams, „Exegesis of Hebrews vi. 1f“, in: NTS 13.4/1967, 382. 443 Vgl. z. B. JesLXX 26,19; Dan 12,2; 4Q521 2 II,12; Mt 22,31; Apg 24,15; 1.Kor 15,21f. 444 Vgl. z. B. Moffitt, Atonement, 184 („final judgment“); Cockerill, Hebrews, 267 („the coming final judgement“); vgl. auch H. Löhr, „Anthropologie und Eschatologie im Hebräerbrief: Bemerkungen zum theologischen Interesse einer frühchristlichen Schrift“, in: M. Evang; H. Merklein, et al. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung. FS Erich Grässer, BZNW 89, Berlin, New York: de Gruyter, 1997, 186 („endeschatologische Erwartung“). 445 Vgl. Michel, Hebräer, 240; ähnlich Braun, Hebräer, 162. 446 Vgl. dazu B.IV.2.2.3.c.iv. 447 So z. B. Westcott, Hebrews, 276f; DeSilva, Hebrews, 315, Anm. 38; Mitchell, Hebrews, 195; Cockerill, Hebrews, 425; mit Vorsicht z. B. auch Riggenbach, Hebräer, 287; H.-F. Weiss, Hebräer, 494. 440
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nicht als ein unmittelbar nach dem Tode stattfindendes individuelles Totengericht zu interpretieren.448 Die katechetisch449 motivierte Knappheit von V.27 und die Tatsache, dass im Hebr sonst von einem allgemeinen Gericht am Ende der Zeit die Rede ist, spricht dafür, dass zwischen dem individuellen Tod der Menschen und dem Letzten Gericht eine Wartezeit zu denken ist. Dies unterstreicht z. B. 4.Esr 7,69 eindrücklich, wonach die Menschen „nach dem Tode ins Gericht kommen“450 (vgl. die fast wörtliche Entsprechung zu Hebr 9,27!). Gemäss 4.Esr 14,35 schliesst diese Aussage nämlich auch eine Zeit des Schlafens bzw. Wartens mit ein. Denn dort heisst es, dass „das Gericht […] nach dem Tode kommen [wird], wenn wir wieder aufleben“451 – also dann, wenn die endzeitliche Auferstehung der Toten stattfindet (vgl. 4.Esr 5,45; 7,32)452. Dass in Hebr 9,27 an ein endzeitliches Gericht zu denken ist, bekundet zudem die Tatsache, dass die zwei Sätze in V.27–28 als Analogie- bzw. Vergleichspaar (kaqV o[son: „gleichwie“) eine feste Einheit bilden, die – wie Eisele überzeugend herausgearbeitet hat – aus einer Vielzahl von Entsprechungen besteht453 (wie z. B. die Menschen a[pax sterben müssen, so ist Jesus a[pax geopfert/dargebracht worden). Wichtig ist nun zu sehen, dass kri,sij und swthri,a454 bzw. kri,sij und ovfqh,setai455 einander entsprechen; mit dem göttlichen Gericht korrespondiert also die Parusie Christi456, die für die Gläubigen Heil bedeuten wird. Eisele, der – wie gesehen – von einem individuellen Totengericht ausgeht, schliesst daraus, dass Christus „jedem einzelnen Glaubenden unmittelbar nach seinem Tod und bei dem dann stattfindenden Gericht im Himmel als Retter [erscheint]“.457 Wenn man jedoch – was gut begründbar ist – eine individuelle Parusie im Himmel ausschliessen458 und stattdessen nach anderen Stellen im Hebr von einer futurisch-eschatologischen Parusie auf der Erde ausgehen
448 Gegen z. B. Attridge, Hebrews, 265; Grässer, Hebräer II, 197; Eisele, Reich, 84; Backhaus, Hebräerbrief, 58.339. 449 Vgl. Michel, Hebräer, 327. 450 Vgl. Klijn, 4Esra, 51. 451 Vgl. ebd., 109. 452 Vgl. Stone, 4Ezra, 436. 453 Vgl. Eisele, Reich, 67–70. 454 Vgl. ebd., 69. 455 Vgl. ebd., 68.74. 456 Ähnlich z. B. Westcott, Hebrews, 276f; Johnson, Hebrews, 245; DeSilva, Hebrews, 315, Anm. 38; Cockerill, Hebrews, 425. 457 Vgl. Eisele, Reich, 85. 458 Vgl. das überzeugende Argument bezüglich der Wendung evk deute,rou ovfqh,setai bei Witulski, „Eschatologie“ 179: „Da Christus aber bei seinem ersten Erscheinen in der sichtbaren Welt erschienen ist, ist dies auch für sein zweites Erscheinen anzunehmen“.
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darf459, dann muss das der endzeitlichen Parusie entsprechende Gericht ein Gericht am Ende der Zeit meinen.460 Die Bezeichnung Gottes als „Richter aller“ in Hebr 12,23 erscheint also aufgrund der Übereinstimmung mit frühjüdischen bzw. urchristlichen Überzeugungen und anderen Gerichtsstellen im Hebr als klarer Hinweis auf das Jüngste Gericht, das alle Menschen, Gute wie Böse, Gläubige wie Ungläubige, (be)treffen wird. Dass Hebr 12,22–24 den Moment des Endgerichts beschreibt461, machen auch die den göttlichen Richter umgebenden Engelmyriaden (↑ B.IV.2.1.4.a−b), die zur Gottesbegegnung hinzugerufene Versammlung der Erstgeborenen (↑ B.IV.2.2.1.b), sowie – wie dargelegt werden wird462 − der Berg Zion als Gerichtsort deutlich. Unter anderem gemäss Hebr 9,27f findet dieses Letzte Gericht dann statt, wenn der Sohn wieder auf die Erde kommt. Diese Erwartung, dass unmittelbar auf die Wiederkunft Christi das Endgericht folgt, ist im Neuen Testament breit belegt, wie der folgende Exkurs zu Mt 25,31−46; 2.Thess 1,5–10; 2.Tim 4,1.8 und 2.Petr 3,4–12 zeigt. Das Gericht in Mt 25,31−46, welches dann stattfindet, „wenn der Sohn des Menschen kommen wird in Herrlichkeit“ (vgl. V.31: o[tan e;lqh| o` ui`o.j tou/ avnqrw,pou evn th/| do,xh|), wird von vielen Exegeten mit Recht als das Letzte Gericht ausgelegt.463 Denn das Gericht wird nicht nur über „alle Völker“ gehalten (V.32), sondern hat auch „ewige Strafe“ (bzw. „ewiges Heil“) zur Folge (V.46), wie dies z. B. auch vom Jüngsten Gericht in Offb 20,11−15 gesagt ist (vgl. insbesondere Mt 25,41 mit Offb 20,15!). Die in 2.Thess 1,7 erwähnte „Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel her“ (avpoka,luyij tou/ kuri,ou VIhsou/ avpV ouvranou/) bringt „Vergeltung“ (vgl. V.8: evkdi,khsin) für die Gottlosen bzw. Ungehorsamen. Weil jene gemäss V.9 „ewiges Verderben“ (o;leqron aivw,nion) vom Herrn als Strafe erleiden werden − und zwar dann, „wenn er kommt“ (vgl. V.10: o[tan e;lqh|) −, ist der Moment der Parusie Christi mit dem Moment des Endgerichts gleichzusetzen.464 In 2.Tim 4,1 wird das „Richten der Lebenden und Toten“ durch Jesus Christus (Cristou/ VIhsou/ tou/ me,llontoj kri,nein zw/ntaj kai. nekrou,j), was offensichtlich seine Tätigkeit beim Endgericht beschreibt465, parallel zur „Erscheinung“ (evpifa,neian) Christi genannt. Dass dies kein Zufall ist, sondern die Parusie und das Jüngste Gericht als zeitlich zusammengehörig 459 Vgl. die Ausführungen zu Hebr 2,8; 10,13; 10,25–27.37–39 unter B.IV.2.1.3.d und zu Hebr 1,6 unter B.IV.2.1.5.d. 460 Vgl. z. B. auch Schenck, Cosmology, 189. 461 So auch Schierse, Verheissung, 165.203. 462 ↑ B.IV.2.2.2.d. 463 Vgl. z. B. L. Morris, The Gospel according to Matthew, PNTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1992, 635−641; Zager, Gottesherrschaft, 6 u. ö.; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband. Mt 18–25, EKK I/3, Zürich/Neukirchen: Benziger/Neukirchener, 1997, 530−542; Dunn, Jesus, 420, Anm. 205; Keener, Matthew, 602−606; Stettler, Gericht, 204; L. W. Walk, The Son of Man in the Parables of Enoch and in Matthew, T&T Clark Jewish and Christians Texts Series 9, New York: T&T Clark, 2011, 204−215. 464 Vgl. z. B. Green, Thessalonians, 288−294 und Witherington, Thessalonians, 194−197. 465 Vgl. z. B. I. H. Marshall, The Pastoral Epistles, ICC, New York: T&T Clark, 2. Aufl., 2006 [= 2004], 798f.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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verstanden werden466, verdeutlicht 2.Tim 4,8, wonach Jesus als „gerechter Richter“ (o` di,kaioj krith,j) „an jenem Tag“ (evn evkei,nh| th/| h`me,ra|) – d. h. an dem Tag seiner Erscheinung467 – Paulus und alle Gläubigen mit dem Siegeskranz der Gerechtigkeit belohnen wird. Mit „seiner Ankunft“ (parousi,a auvtou/) in 2.Petr 3,4 ist unbestritten die Wiederkunft des in V.2 erwähnten „Herrn und Retters“ Jesus Christus gemeint. Diese Parusie Christi findet nun offensichtlich an dem „Tag des Gerichts und des Verderbens der gottlosen Menschen“ (V.7: h`me,ra kri,sewj kai. avpwlei,aj tw/n avsebw/n avnqrw,pwn) statt. In V.9 steht nämlich das „Verdorben-Werden“ (avpole,sqai) beim Gericht (vgl. V.7: avpwlei,aj) in Zusammenhang mit der Erfüllung der Verheissung, was nach V.4 die Verheissung der Parusie bedeutet. Weil der in V.7 erwähnte „Tag des Gerichts“ wiederum mit dem „Tag des Herrn“ (V.10) bzw. „Tag Gottes“ (V.12) identisch ist, an dem Himmel und Erde vergehen werden (V.10.12), erscheint der mit der Parusie anbrechende Gerichtstag z. B. mit Blick auf Offb 20,11−21,1 als Tag des Letzten Gerichts.468
Wie gesehen (↑ B.IV.2.1.4.b), lehnt sich der Verfasser des Hebräerbriefs mit der Darstellung des Letzten Gerichts in Hebr 12,22−24 sehr wahrscheinlich an DanLXX 7,9 mit dem sich (zu Gericht) setzenden Alten an Tagen (palaio.j h`merw/n evka,qhto, vgl. 7,10: krith,rion evka,qise), wobei auch dieses Gericht nichts anderes als das „Endgericht“469 bzw. „jüngste[…] Gericht“470 meint, weil es endgültig die Reiche der Erde (7,3–8.17) richtet (vgl. Dan 7,11f mit z. B. äthHen 45,6–46,6, wonach sich dieses Völkergericht über alle Menschen erstreckt) und eine ewig bestandhabende Neuordnung aller Dinge zur Folge hat (vgl. Dan 7,27). Dass der Verfasser in Hebr 12,23 Gott in seiner Tätigkeit als Endrichter vor Augen malt, ist ein weiteres Argument für die „irdische“ Lokalisierung von Hebr 12,22–24, was die folgenden Ausführungen zeigen. c. Der Richter-Gott auf der Erde Meines Wissens lesen alle Exegeten, die unter krith/| pa,ntwn einen Hinweis auf das Endgericht verstehen, Hebr 12,22–24 als himmlische Szenerie.471 Dies ist m. E. inkonsequent. Denn nach allgemeiner frühjüdischer sowie urchristlicher Überzeugung findet das Letzte Gericht am Ende der Zeit nicht im Himmel,
466
So z. B. auch Collins, Timothy, 204f.266f. Vgl. ebd., 275f. 468 So z. B. auch R. Bauckham, Jude, 2 Peter, WBC 50, Waco, TX: Word Books, 1983,312; H. Balz; W. Schrage, Die „Katholischen“ Briefe. Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas, NTD 10, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 4. Aufl., 1993, 148ff; G. L. Green, Jude and 2 Peter, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2008, 329−331. 469 Vgl. Koch, „Menschensohn“ 371.378. 470 Koch, „Menschensohn“ 376. 471 Vgl. z. B. Windisch, Hebräerbrief, 113f; Michel, Hebräer, 463.466; Braun, Hebräer, 435.437; H.-F. Weiss, Hebräer, 674.680; Grässer, Hebräer III, 312.318. 467
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
sondern auf der Erde statt (vgl. z. B. 4Q530 2 II,16–19; äthHen 18,8472; 25,3– 5; 90,20–27; Mt 25,31–46; 2.Thess 1,5–9): Gott „kommt“ als Richter auf die Erde (vgl. z. B. 4Q88 IX,5f; 4.Esr 7,33ff473; äthHen 1,7–9; 25,3f474; 100,4475; syrBar 83,2; 4.Esr 6,18ff476; TestAbr A 14,2477; AssMos 10,7: „Quia exurgit summus Deus aeternus solus, et palam veniet ut vindicet gentes“478; vgl. auch Ps 96,13; 98,9; Dan 7,22).479 Ein sicherer Beleg für ein explizit im Himmel stattfindendes Jüngstes Gericht fehlt; wie gesehen (↑ B.IV.2.1.4.b), ist es naheliegend, äthHen 47,3 wegen des fehlenden Gerichtsvollzugs in Verbindung mit den Gerichtsschilderungen in 62,1–2 zu lesen, die einen herabkommenden Richter-Gott implizieren könnten. Der irdische Gerichtsort kann freilich durchaus schon Teil der neuen Schöpfung sein: Nach äthHen 18,6–8 besteht er aus prächtigen Edelsteinen und gemäss 25,1–5 blüht auf ihm der paradiesische Baum des Lebens.480 Ähnlich liest sich Offb 20,11, wonach vor dem Angesicht des göttlichen Richters die (alte) Erde und der Himmel entfliehen. Welche Qualitäten der Gerichtsort nach dem Hebr genau hat, bleibt noch zu klären. Auf jeden Fall sprechen für dessen in gewisser Hinsicht „irdische“ Lokalisierung neben der frühjüdischen bzw. urchristlichen Tradition auch DanLXX 7,9ff als Prätext von Hebr 12,23 mit seiner irdischen Perspektive 472 Nach Bachmann geht es hier um die „Schau des irdischen Gottesthrones, der auf das grosse Gericht [vgl. 25,3ff] […] verweist“; vgl. V. Bachmann, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1 Hen 1– 36), BZAW 409, Berlin, New York: de Gruyter, 2009, 81. 473 Das Offenbart-Werden des göttlichen Richters (7,33) steht parallel zur Offenbarung der himmlischen Stadt (7,26) und des Messias (7,28) auf der Erde. 474 Zu der theologisch und strukturell wichtigen Weltgerichtstheophanie im Wächterbuch (1,7ff; 25,3ff) vgl. S. Beyerle, Die Gottesvorstellungen in der antik-jüdischen Apokalyptik, SJSJ 103, Leiden: Brill, 2005, 58–83; zur offenbar verwandten Theophanie-Vorstellung im Astronomischen Buch (72–82) vgl. ebd., 83–117. 475 Das mit dem Gericht Gottes verbundene „Kommen“ der Engel referiert klar auf äthHen 1,3–9 (vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 500). 476 Das „Besuchen“ Gottes der Bewohner der Erde (6,18) als Richter (6,20.25–27) hängt mit der Wiederkunft des Messias auf die Erde (vgl. 13,32–38) zusammen (vgl. Moo, Creation, 114), wobei „future visitation and final judgement“ zusammenhängen, wie Moo richtig betont (vgl. ebd., 56); allerdings ist ein messianisches Zwischenreich vor dem Endgericht nicht ausgeschlossen (vgl. 7,27–32; vgl. ebd., 122). 477 Vgl. Charlesworth, Apocalyptic, 890: „until the judge of all should come“ (vgl. 13,7) 478 Vgl. J. Tromp, The Assumption of Moses. A critical Edition with Commentary, SVTP 10, Leiden: Brill, 1993, 18.20; zur Deutung vgl. ebd., 232: „It is clear, therefore, that in As. Mos. 10:3-7, the theophany is associated with the Day of the Lord“. 479 Zu einem eschatologischen, aber nicht explizit richterlichen Kommen Gottes auf die Erde vgl. z. B. auch äthHen 77,1; TestSim 6,5; TestLev 5,2; 8,11; TestJud 22,2; TestSeb 9,8; TestNaph 8,3; TestAs 7,3. 480 Vgl. dazu Bachmann, Welt, 87.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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(↑ B.IV.2.1.4.b) sowie eine andere das Endgericht thematisierende Stelle im Hebr: Hebr 10,27. Mit dem in Hebr 10,27 erwähnten göttlichen Eifer des Feuers (puro.j zh/loj), das beim Letzten Gericht481 die Widersacher Gottes bzw. Christi verzehren wird (evsqi,ein me,llontoj tou.j u`penanti,ouj), lehnt sich der Autor sowohl an JesLXX 26,11 als auch an ZephLXX 1,18 bzw. 3,8 an.482 Da alle drei Prophetensprüche ein eschatologisch-irdisches Feuergericht Gottes thematisieren483, liegt es nahe, dies auch von Hebr 10,27 anzunehmen. 484 Auch die Tatsache, dass im Hebr die Parusie des Sohnes mit dem eschatologischen Gericht Gottes zu einem Ereignis verbunden ist (vgl. neben Hebr 9,27f z. B. auch 10,37–39, wonach das Kommen Sohnes einem Teil der Menschen avpw,leian bringen wird485) und zugleich die Parusie auf der Erde stattfindet (vgl. z. B. Hebr 1,13; 2,8 und 10,13 sowie die Ausführungen zu Hebr 1,6 unter B.IV.2.1.5.d), ist ein weiterer Grund, Hebr 12,22–24 mit der zentralen Figur des Endrichters (krith.j pa,ntwn) als Beschreibung einer „irdischen“ Theophanie zu lesen. Dass sich diese Gerichtstheophanie auf dem Zion (V.22: Siw.n o;rei) ereignet, ist dabei kein Zufall. d. Der irdische Zion als Gerichtsberg Das Alte Testament enthält einige Texte, die den irdischen Zion mit einem eschatologischen Richten Gottes in Verbindung bringen (vgl. z. B. Jes 2,2−4; 24,21–23; Mi 4,1–3; ähnlich auch Ps 96,13; 97,6–9 und 98,9, die auf dem Hintergrund von 99,2 und der Weltherrschaft Gottes vom Zion aus zu lesen sind). Als Ort des endzeitlichen Gerichts kommt der Zion auch in äthHen 26,1−27,3 und möglicherweise auch in äthHen 25,3–5 vor. In der letztgenannten Stelle sagt der angelus interpres zu Henoch: „Dieser hohe Berg, den du gesehen hast, dessen Gipfel dem Thron des Herrn gleicht [vgl. 24,3 bzw.18,8: der mittlere von sieben Bergen], ist sein Thron, wo sich der Heilige und 481 So z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 535.539 und Grässer, Hebräer III, 41 („eschatologische[s] Vernichtungsgericht“). 482 So richtig Grässer, Hebräer III, 41 gegen andere, die nur auf die Jesaja-Stelle verweisen (vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 293; Cockerill, Hebrews, 486). Das die Widersacher verzehrende Feuer entnimmt der Autor JesLXX 26,11 (pu/r tou.j u`penanti,ouj e;detai), die Kombination vom Eifer Gottes mit dem Feuer ZephLXX 1,18 bzw. 3,8 (evn puri. zh,louj). 483 Die zu verzehrenden u`penanti,oi in JesLXX 26,11 befinden sich auf der Erde (vgl. V.9: oi` evnoikou/ntej evpi. th/j gh/j); in ZephLXX 1,18 und 3,8 ist das Objekt des vernichtenden Feuers des göttlichen Eifers gar die Erde selbst (katanalwqh,setai pa/sa h` gh/), wobei es letztlich auch hier um menschliche Widersacher geht (1,18: evpi. pa,ntaj tou.j katoikou/ntaj th.n gh/n, 3,8: basilei/j). 484 Vgl. z. B. auch Hofius, Christushymnus, 99f. 485 Vgl. z. B. auch Lane, Hebrews II, 307 zur in 10,39 erwähnten avpw,leia: „The concomitant event of the approaching Day of the Lord (v 25) and the parousia of the Coming One (v 37) is judgment“; vgl. die eingehenderen Ausführungen unter B.IV.2.2.3.c.iii.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Grosse, Herr der Herrlichkeit, der König der Welt niedersetzen wird, wenn er herabkommt, um die Erde mit Gutem heimzusuchen. Und dieser wohlriechende Baum [vgl. 24,4: der am mittleren Berg angepflanzte Baum des Lebens]: kein Sterbender hat die Macht, ihn zu berühren, bis zum grossen Gericht; wenn er alles vergelten und vollenden wird für die Ewigkeit, (dann) wird er den Gerechten und Demütigen übergeben werden. […] [U]nd er wird nach Norden hin an einen heiligen Ort gepflanzt werden, bei dem Haus des Herrn, des Königs der Welt.“486
Gewisse Exegeten deuten diesen eschatologischen Gerichtsberg, auf dem Gott sitzen wird, mit Blick auf äthHen 1,4 als Sinai, von dem nach dem Gericht der Baum des Lebens nach Jerusalem zum Tempel transplantiert wird.487 Für Gäbel jedoch ist dieser als „Paradiesesberg“ erscheinende Ort wegen der topographischen Übereinstimmungen mit dem in äthHen 26,1 erwähnten „heiligen Berg“ mit dem Zion gleichzusetzen.488 Dafür spricht nach Tilly vor allem auch die auffallende Kongruenz der zentralen Position des siebten Bergs (vgl. 24,3) mit der Bezeichnung Zions als „Mitte der Welt“ (26,1; vgl. Jub 8,19).489 Die intendierte Identifikation beider Berge ist vor allem auch deshalb möglich, weil der mittlere Berg in äthHen 25,3 als Wohnsitz bzw. Thron Gottes funktioniert (zu Zion als dem Thron bzw. Wohnsitz Gottes vgl. z. B. Ps 9,8.12; 74,2; 132,13; Jes 8,12; Joel 4,21; Jub 1,26–28). Die Erwähnung eines höheren Berges östlich des Zions in äthHen 26,3 muss kein Widerspruch zu 25,3 und dem höchsten von sieben Bergen sein490, weil der Zion mit dem Ölberg als ein Jerusalemer Gottesberg angesehen werden kann (vgl. z. B. Sach 14,4ff). Auch die Verpflanzung des Lebensbaumes ist als eine auf dem Berg selbst stattfindende Deplatzierung durchaus erklärbar: Der Baum wird nach dem Gericht zum neu erstellten Gotteshaus hinversetzt.491 Allerdings bleibt die Interpretation des Gottesberges in äthHen 25,3ff als Berg Zion letztlich doch ungewiss. Anders steht es mit äthHen 26,1ff und dem erwähnten „heiligen Berg“, der von anderen Bergen und Schluchten umgeben ist: Es muss sich dabei – wie Söllner überzeugend dargelegt hat – um den Zion und seine unmittelbare topographische Umgebung handeln.492 Für unser Thema relevant ist nun die Aussage von äthHen 27,2f in Bezug auf das Tal Hinnom493 unterhalb des Zions: 486
Uhlig, Henochbuch, 560f. Vgl. Zager, Gottesherrschaft, 82f, insbesondere Anm. 132; K. C. Bautch, A Study of the Geography of 1 Enoch 17-19. „No One Has Seen What I Have Seen“, SJSJ 81, Leiden: Brill, 2003, 124f; Bachmann, Welt, 87f. 488 Vgl. Gäbel, Kulttheologie, 78. 489 Vgl. M. Tilly, Jerusalem – Nabel der Welt. Überlieferung und Funktionen von Heiligtumstraditionen im antiken Judentum, Stuttgart: Kohlhammer, 2002, 169. 490 Vgl. das Argument von Zager, Gottesherrschaft, 82, insbesondere Anm. 132. 491 Die Deplatzierung beinhaltet auch die offizielle Freigabe des zuvor zu berühren verbotenen Baumes für die Gerechten (vgl. 25,4f). 492 Vgl. Söllner, Jerusalem, 22–27. 493 So z. B. Söllner, Jerusalem, 28f; Nickelsburg, 1 Enoch 1, 319. 487
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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„Diese verfluchte Schlucht ist (bestimmt) für die bis in Ewigkeit Verfluchten; hier werden sie alle versammelt werden, die in ihrem Mund ungehörige Worte führen und die über seine Herrlichkeit Schlimmes hören lassen – hier wird man sie versammeln, und hier (wird) ihr Gerichtsort (sein). In den letzten Tagen wird sich an ihnen das Schauspiel eines Gerichts in Gerechtigkeit vor den Gerechten vollziehen für alle ewigen Tage; da werden die, die Erbarmen übten, den Herrn der Herrlichkeit, den König der Welt, preisen.“494
Dadurch, dass es hier unzweifelhaft um das eschatologische Gericht Gottes geht495 (vgl. auch Dan 12,2 mit Jes 66,24), erscheint der irdische Zion als endzeitlicher Gerichtsberg. Als solcher kommt er auch in 4.Esr 13,35–37 vor. Allerdings ist dort der Messias der Richter. Die irdische Offenbarung Gottes auf dem Richterstuhl in 4.Esr 7,33ff mit dem darauffolgenden Endgericht wird nicht explizit lokalisiert; aber angesichts der direkten Anknüpfung an die Erscheinung des himmlischen Jerusalems (7,26) und des Messias (7,28) auf dem irdischen Zion (vgl. 13,35ff) ist es naheliegend, an den Jerusalemer Gottesberg zu denken. In Jub 1,27f ist die Rede von der Niederkunft Gottes auf den Berg Zion und dass er dort in alle Ewigkeit König sein wird; dass in der Königsherrschaft Gottes das Gericht mit eingeschlossen ist, ist aufgrund der alttestamentlichen Tradition sehr wahrscheinlich (vgl. z. B. Ps 96,10; 97,1ff; 98,6ff; 99,1ff). Die Interpretation von Hebr 12,22–24 (mit dem erwähnten göttlichen Allrichter auf dem Berg Zion) als Gerichtstheophanie in einer „irdischen“ Wirklichkeit findet also aufgrund der im Alten Testament und den Apokryphen bzw. Pseudepigraphen mehrfach belegten Verbindung des irdischen Berges Zion mit einem eschatologischen Gericht Gottes ihre weitere Bekräftigung. Warum der Verfasser des Hebräerbriefs den Zion als Gerichtsberg skizziert und sich nicht der anderen apokryphen bzw. pseudepigraphischen Tradition anschliesst, die den Sinai als Ort des Letzten Gerichts nennt (vgl. z. B. äthHen 1,4 und Vita Jeremiae 10b496), ist klar: Für ihn ist der Sinai der Ort der vergangenen Gotteserfahrung, der Zion derjenige der zukünftigen (vgl. auch Jub 1,26–28). e. Ermahnung und Verheissung Zusammenfassend lässt sich zu krith/| qew/| pa,ntwn als zentralem Zielpunkt der Adressaten sagen, dass die Rede vom Hinzugetreten-Sein „zum Richter aller, zu Gott“ sowohl Verheissung als auch Mahnung ist. Das Verheissungsvolle liegt in der Tatsache, dass der Zugang zu Gott im Kontrast zu Hebr 12,18–21 offen steht (qew/|). Die Mahnung besteht darin, dass Gott der krith.j pa,ntwn ist, 494
Uhlig, Henochbuch, 563f. So richtig Söllner, Jerusalem, 18f.28f. 496 Vgl. A. M. Schwemer, Studien zu den frühjüdischen Prophetenlegenden. Vitae prophetarum I: Die Viten der grossen Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel. Einleitung, Übersetzung und Kommentar, TSAJ 49, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995, 212f. 495
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
der am Ende der Zeit auf dem/einem „irdischen“ Zion alle Menschen (auch die Gläubigen!) richten bzw. zur Rechenschaft ziehen wird (vgl. Hebr 9,27; 10,30). Im Endgericht wartet für die wahrhaft Gläubigen, die an Christus als ihrem Mittler festgehalten haben, aber letztlich doch – wie Dumbrell richtig bemerkt – „nothing else than complete divine favour and acceptance“497, was der zur Niederkunft Gottes als Richter parallel laufenden Parusie des Sohnes eivj swthri,an entspricht (vgl. Hebr 9,28). 2.2.3 pneu,masi dikai,wn teteleiwme,nwn – „zu [den] Geistern der vollendeten Gerechten“ Der Adressaten nächster Zielpunkt nach Gott ist wieder eine menschliche Personengruppe498: die pneu,mata dikai,wn teteleiwme,nwn. Die „Geister der vollendeten Gerechten“ werden in der Forschung vornehmlich entweder als die alttestamentlichen Frommen499 oder die Gläubigen beider Bündnisse500 interpretiert.501 Auf jeden Fall ist man sich mehrheitlich einig, dass es sich aufgrund der Beschreibung der Gerechten als pneu,mata in Anlehnung an die jüdische Apokalyptik um Verstorbene handelt, wie z. B. Cockerill schreibt: „,Spirits of … righteous people‘ is an apocalyptic term for the people of God who have already died and await resurrection“.502 Umstritten ist jedoch, ob sich die Gerechten gegenwärtig im himmlischen Jerusalem befinden503 oder ob sie erst am
497
Vgl. Dumbrell, „Spirits“, 159. Die Lesart pneu,mati von D* u. a. ist sekundär und wohl trinitarisch motiviert (so richtig Hughes, Hebrews, 549, Anm. 160). 499 So O. Hofius, Der Vorhang vor dem Thron Gottes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu Hebräer 6,19 f. und 10,19 f., WUNT 14, Tübingen: Mohr Siebeck, 1972, 77; E. Grässer, „Rechtfertigung im Hebräerbrief“, in: E. Grässer, Aufbruch und Verheissung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, BZNW 65, Berlin, New York: de Gruyter, 1992, 170; Rissi, Theologie, 103; Hegermann, Hebräer, 259; Scholer, Priests, 147; Lindars, Theology, 116; Hofius, „Gemeinschaft“, 321, Anm. 108; ähnlich Mackie, Sanctuary, 115 mit der Identifizierung der Gerechten als „heroes of faith“ und dem Verweis auf die Wolke der Zeugen in Hebr 12,1. 500 So Soden, Hebräerbrief, 101; Delitzsch, Hebräer, 650; Spicq, Hébreux II, 408; Grässer, Hebräer III, 319; Gordon, Hebrews, 180; Lane, Hebrews II, 471; Cockerill, Hebrews, 657. 501 Witherington z. B. identifiziert sie als christliche Märtyrer (vgl. Witherington, Hebrews, 342f); H.-F. Weiss z. B. lässt die Gruppe unbestimmt (vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 680); vgl. dazu auch Johnson, Hebrews, 332 (er setzt sie allerdings mit den Erstgeborenen gleich). 502 Cockerill, Hebrews, 656; vgl. z. B. auch O’Brien, Hebrews, 487; Söllner, Jerusalem, 178, Anm. 529. 503 So z. B. Scholer, Priests, 201 und Richardson, Pioneer, 180.215. 498
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Ende der Zeit dort sein werden und es sich darum um eine „proleptic vision of the future“ handelt, wie es z. B. Isaacs versteht.504 a. Die Geister der Verstorbenen am Ende der Zeit Dass der Ausdruck pneu,mata dikai,wn in der Tat Verstorbene im Blick hat (vgl. 1.Petr 3,19, wo – v. a. mit Blick auf 4,6 – die „Geister im Gefängnis“ wahrscheinlich auch verstorbene Menschen meinen505), scheint mir aufgrund zahlreicher Parallelstellen in der frühjüdischen Literatur auf der Hand zu liegen. Neben äthHen 22,9 und 41,8, wo die Wendung „Geister der Gerechten“ explizit vorkommt (in 22,9 parallel zu „Geister der Toten“), sind dabei auch Stellen mit synonymen Begrifflichkeiten zu nennen, die alle auch einen postmortalen Kontext haben (vgl. z. B. äthHen 103,4; „die Geister, die in Gerechtigkeit gestorben sind“; 108,7: „die Geister der Demütigen“; 108,11: „die Geister der Guten“; Weish 3,1; äthHen 102,4; syrBar 30,2; grBar 10,6; 4.Esr 7,99: „Seelen der Gerechten“).506 Weil der Verfasser des Hebräerbriefs mit den „Geistern der Gerechten“ höchstwahrscheinlich an das „apokalyptische“ Konzept der verstorbenen Gerechten anknüpft, ist eine proleptische Vision der pneu,mata dikai,wn teteleiwme,nwn plausibler als eine Beschreibung ihrer gegenwärtigen Existenz im Himmel. Denn der in Hebr 12,23 beschriebene vollkommene Heilszustand der Verstorbenen (vgl. auch teteleiwme,noi!) in der unmittelbaren Gegenwart Gottes ist der apokalyptischen Beschreibung des nach dem Tod auf die Geister/Seelen der Gottesfürchtigen zukommenden Weiterlebens fremd. Zumeist werden die Geister als im von Gott separierten Scheol auf das Endgericht bzw. die Totenauferweckung Wartende gesehen (vgl. z. B. äthHen 22,1ff; 102,5; syrBar 21,23; 30,2; 4.Esr 4,41; 7,36f). Wenn sie aber doch als sich in der Gegenwart Gottes Befindende beschrieben werden (vgl. z. B. Weish 3,1: dikai,wn de. yucai. evn ceiri. qeou/, ähnlich Offb 6,9: ei=don u`poka,tw tou/ qusiasthri,ou ta.j yuca.j tw/n evsfagme,nwn), so geschieht das stets mit dem Hinweis, dass ihre Vollendung noch aussteht (vgl. Weish 3,7507; ähnlich Offb 6,10f). 504 Vgl. Isaacs, Space, 103; ähnlich z. B. Ellingworth, Hebrews, 680: „the heavenly panh,gurij is anticipated rather than fully realized: worshippers now enjoy communion in advance with the righteous of earlier generations with whom they will be made perfect at the end“. 505 Vgl. z. B. F. Zeilinger, Der biblische Auferstehungsglaube. Religionsgeschichtliche Entstehung – heilsgeschichtliche Entfaltung, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, 206–209; anders z. B. L. R. Donelson, I & II Peter and Jude. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2010, 112. 506 Vgl. auch DanLXX 3,86: euvlogei/te pneu,mata kai. yucai. dikai,wn to.n ku,rion u`mnei/te kai. u`peruyou/te auvto.n eivj tou.j aivw/naj. 507 Die göttliche evpiskoph,, die mit dem folgenden „Aufleuchten“ der Gerechten Dan 12,3 und die dort beschriebene endzeitliche Auferstehung aufgreift, meint offenbar das Jüngste
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Dies gilt offenbar auch für die eindrückliche Vision der anbetenden Völkerschar vor dem Thron Gottes in Offb 7,9–12. Der möglicherweise „gegenwärtige“ Heilszustand508 wird eingeschränkt durch die sie betreffenden Heilsaussagen in V.15b–17, die sowohl formal (vgl. die futurische Ausdrucksweise) als auch inhaltlich (vgl. die Parallelen zu Offb 21–22) ein Hinweis auf eine spätere Vollendung am Ende der Zeit sind.509 Spatafora schreibt dazu: „[T]hey […] already belong to the divine world. However, verse 17 would suggest that the crowd has not yet attained the state of total perfection. There is something still missing in the people’s well-being“. 510 Es stellt sich darüber hinaus sogar die berechtigte Frage, ob es sich nicht schon ab Offb 7,9ff um eine „futuristic, spiritual vision“ handelt und sich die lobpreisenden Völker „beyond the very end of time“ im Neuen Jerusalem befinden, wie Blount meint. 511
Gericht, das den Gerechten das volle Heil bringen wird; vgl. auch M. Edwards, Pneuma and Realized Eschatology in the Book of Wisdom, FRLANT 242, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2012, 189: „It is eschatological (the visitation has been envisaged as future), involves judgment and the reversal in fortunes of the oppressor and the righteous“; und H. Hübner, Die Weisheit Salomons, ATD.A 4, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999, 51: „zur Zeit, da Gott ihnen als Begnadender nahe kommt“. 508 Für eine himmlische Gottesversammlung vor dem Ende der Zeit sprechen sich z. B. folgende Exegeten aus: R. Bauckham, The Theology of the Book of Revelation, NTTh, Cambridge: Cambridge University Press, 1993, 77.79; G. Stevenson, Power and Place. Temple and Identity in the Book of Revelation, BZNW 107, Berlin, New York: de Gruyter, 2001, 255–257; S. Pattemore, The People of God in the Apocalypse. Discourse, structure, and exegesis, SNTS.MS 128, Cambridge: Cambridge University Press, 2004, 140 (vgl. aber die Zurückhaltung in 153ff); P. S. Perry, The Rhetoric of Digressions. Revelation 7:1-17 and 10:1-11:13 and Ancient Communication, WUNT II 268, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 69. 509 Auch Lee sieht in V.15b–17 die Parallelen zum Heilszustand im Neuen Jerusalem, schliesst daraus aber: „It is remarkable to see that the eschatological blessings are described as already experienced by God’s people in heaven“ (vgl. Lee, New Jerusalem, 259). Die Zukunftsform dieser Verse so ausser Acht zu lassen, kann mit Blick auf die präsentische Schreibweise in den V.10.14.15a nicht richtig sein; vgl. z. B. Perry, Rhetoric, 69: die zukünftigen Aussagen in V.15b–17 „[are] announcing promises that will only be fulfilled in Rev 21–22“. 510 Vgl. A. Spatafora, From the „Temple of God“ to God as the Temple. A Biblical Theological Study of the Temple in the Book of Revelation, TG.ST 27, Roma: Editrice Pontificia Università Gregoriana, 1997, 156f; weiter sagt er: „John also adds that God will wipe away every tear from their eyes suggesting that there is a dimension of eternal life that is not yet realized because suffering and death are not yet totally destroyed“ (ebd., 157). 511 Vgl. Blount, Revelation, 149 (zum Sein der Gläubigen im Neuen Jerusalem, vgl. ebd., 155f); so z. B. auch mit überzeugenden Argumenten G. K. Beale, The Book of Revelation. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1999, 443–445; G. R. Osborne, Revelation, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2002, 326–329. Der Wechsel ab 7,15b ins Futur erklärte sich dann als stilistisch motiviert, um die ewige Dauer der Heilsaussagen anzuzeigen (so z. B. Blount, Revelation, 156), und der „Tempel“
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Nun gibt es aber zwei Texte, die ein gegenwärtiges Heil der Gläubigen ohne Verweis auf eine zukünftige Vollendung zu beschreiben scheinen: äthHen 39,4–7512 und AscIs 9,6–18513. Zur Henoch-Stelle ist jedoch zu sagen, dass sie im Widerspruch steht zu äthHen 50,1–5, einer anderen Passage im Buch der Parabeln, wonach die Gerechten im Scheol sind und erst nach der Auferweckung das volle Heil haben.514 Die Frage scheint mir darum durchaus angebracht, ob man äthHen 39,4–7 nicht als eine proleptische Schau verstehen müsste.515 Dass die Kapitel 6–11 der Ascensio Isaiae wohl aus dem frühen 2. Jahrhundert n. Chr. stammen516, lässt auch die Relevanz von AscIs 9,6–18 für die Frage nach der zeitlichen Verortung der pneuma,twn dikai,wn teteleiwme,nwn in Hebr 12,23 stark in den Hintergrund treten.517 Gegen die Deutung der verstorbenen Gerechten in Hebr 12,23 als gegenwärtig im Himmel lebende Menschen spricht auch Hebr 10,13. Denn wenn nach Hebr 10,13 selbst Christus im Himmel auf die Vollendung (seiner Herrschaft) wartet (evkdeco,menoj e[wj teqw/sin oi` evcqroi. auvtou/ u`popo,dion tw/n podw/n auvtou, vgl. auch 1,13), wie viel mehr wird dies auch für das gegenwärtige „Leben“ der Verstorbenen gelten (vgl. Offb 6,10f!).518 Ein solches Warten ist nun in 7,15a stünde für Gottes Gegenwart (vgl. Offb 3,13 mit 21,22!; so auch Beale, Revelation, 441). 512 Die Gerechten in ihren Wohnungen stehen offenbar in der himmlischen Gemeinschaft mit den Engeln direkt vor Gott (vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 112f). 513 „Jesaja“ sieht im siebten Himmel den heiligen Abel und andere „Gerechte“ in Gemeinschaft mit den Engeln in grosser Herrlichkeit stehen (V.6f); ihm fällt auf, dass sie noch nicht auf den Thronen der Herrlichkeit sitzen und ihnen die Kronen fehlen (V.10); der angelus interpres sagt darauf, dass sie Thron und Krone erhalten würden, wenn Christus nach seiner irdischen Erniedrigung wieder auffahren werde (V.13ff). 514 Zu der widersprüchlichen Lehre über das Eschaton der Gerechten im Buch der Parabeln vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 51f. 515 Ein Argument für diese Deutung findet sich in V.7: „und alle Gerechten und Auserwählten waren vor ihm stark wie der Schein des Feuers“ (vgl. Uhlig, Henochbuch, 579; vgl. Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 111: „and all the righteous and chosen were mighty before him like fiery lights“). Hier liegt nämlich sehr wahrscheinlich eine Anspielung an die Aussage in Dan 12,3 (~ybkwkk […] wrhzy) vor (zurückhaltend auch Nickelsburg; VanderKam, 1 Enoch 2, 124), die gemäss dem vorangehenden Vers im Zusammenhang mit der endzeitlichen Auferstehung steht (vgl. auch die durch die Erwähnung des Zwischenzustandes in äthHen 102,4f begründete eschatologisch-futurische Deutung von Dan 12,3 in 104,2!). Eine Deutung auf die Zukunft hin vertritt z. B. auch R. H. Charles, The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament in English. With Introductions and Critical and Explanatory Notes to the Several Books, Oxford: Clarendon, 1913 [= 1979], 210: „a vision of the future Messianic kingdom“. 516 Vgl. P. Schäfer, The Origins of Jewish Mysticism, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 93. 517 Auch nach Bauckham ist das 1. Jahrhundert noch dominiert von der Vorstellung eines Zwischenzustandes (vgl. R. Bauckham, The Fate of the Dead. Studies on Jewish and Christian Apocalypses, NT.S 93, Leiden: Brill, 1998, 86). 518 So auch Grässer, Hebräer III, 320, Anm. 25.
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aber nur sehr schwer mit der Beschreibung der Gerechten in Hebr 12,23 als „Vollendete“, also als An-nichts-Mangelnde (↑ B.IV.2.2.3.c.iv), in Übereinstimmung zu bringen. Sehr wahrscheinlich platziert der Verfasser des Hebräerbriefs also im Einklang mit frühjüdisch-apokalyptischen – und auch neutestamentlichen519 – Überzeugungen die verstorbenen Gerechten in ihrem vollendeten Heilszustand an das Ende der Zeit520, an den Jüngsten Tag. b. Die Identität und Bedeutung der „Gerechten“ Die festgestellte eschatologisch-futurische Existenz der dikai,wn in Hebr 12,23 gibt hilfreiche Aufschlüsse über deren Identität. Als verstorbene „Gerechte“, die am Jüngsten Tag vor Gott stehen, meinen sie kaum nur die alttestamentlichen Frommen, sondern vielmehr auch die bereits verstorbenen Gläubigen des Neuen Bundes (vgl. z. B. Hebr 13,7) sowie die aus der Perspektive des Autors bzw. der Adressaten bis zum Ende der Welt zukünftig noch sterbenden Christen. Diese umfassende Deutung der „Gerechten“ wird durch die Verwendung des Adjektivs di,kaioj im Hebräerbrief bestätigt. Ausser in Hebr 12,23 kommt es noch zweimal vor: nämlich in 10,38, wo der Verfasser HabLXX 2,3f frei zitiert (o` de. di,kaioj mou evk pi,stewj zh,setai)521, sowie in 11,4, wonach Abel von Gott das Zeugnis erhalten habe (evmarturh,qh), gerecht bzw. ein Gerechter zu sein (di,kaioj ei=nai). Da in Hebr 10,39 das Habakuk-Zitat auf das „christliche“ h`ma/j bezogen wird (evsme.n […] pi,stewj eivj peripoi,hsin yuch/j), liegt es nahe, dass bei den Gerechten in Hebr 12,23 neben den alttestamentlichen Frommen von Abel an (vgl. 11,4 und die folgende Auflistung der vorangegangenen Gerechten bzw. Glaubenden522) auch an die neutestamentlichen Gläubigen zu denken ist. Dies ist 519
Nach Mt 25,31.34 kommt der vollkommene Eingang in das Reich des Vaters, wenn der Menschensohn wiederkommt (ähnlich z. B. auch 1.Kor 15,23; 1.Thess 4,15.16; 2.Thess 1,7f.10). 520 Vgl. auch Peterson, Perfection, 163: „[I]t is hard to believe that those so described are in some sort of intermediate state, since they are enjoying the presence of God in the heavenly city itself, which is the stated destination of the saints under both covenants“. 521 Zur signifikanten Abweichung vom LXX-Text (o` de. di,kaioj evk pi,stew,j mou zh,setai) und zu deren möglichen Motivation vgl. Steyn, Quest, 317–324. 522 Das Gerecht-Sein der in Hebr 11,5ff erwähnten Glaubenshelden wird explizit thematisiert in 11,7, wonach Noah th/j kata. pi,stin dikaiosu,nhj […] klhrono,moj geworden ist, sowie in 11,33 durch die zusammenfassende Anmerkung zu Gideon, Barak u. a.: dia. pi,stewj […] eivrga,santo dikaiosu,nhn − implizit ist es wohl auch beim nach frühjüdischen Quellen „gerechten“ Henoch ein Thema (11,5); vgl. dazu Rose, Wolke, 21: „Vorausgesetzt, der Verfasser des Hebr kannte die Tradition, wonach Henoch als di,kaioj bezeichnet wurde, so konnte er durch die Zusammenschau dieser Traditionen mit Hab 2,4 LXX abermals zu der Einsicht gelangen, dass Henoch pi,stij zukam, – denn: Glaube gibt es nur bei Gerechten!“.
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umso wahrscheinlicher, als dass der Sinn von di,kaioj durch das Zitat in Hebr 10,38 für alle folgenden di,kaioj-Stellen „präformiert“ wird.523 „Gerecht“ ist nun gemäss Hebr 10,38f, wer Gott524 und seinen Verheissungen glaubt (vgl. V.36), wer vertrauensvoll bei ihm (vgl. V.39: ouvk evsme.n u`postolh/j […] avlla. pi,stewj) und bei dem kommenden Messias bleibt (vgl. V.37 und HabLXX 2,3!525) oder – wie es Grässer formuliert – „wer im Blick auf den in Kürze als Richter wiederkommenden Christus mit ungebrochenem Vertrauen an der Verheissung festhält“526. Dieses das Gerecht-Sein ausdrückende Festhalten an der göttlichen Verheissung setzt gemäss Hebr 10,36 das (umfassende) Tun des Willens Gottes voraus. Mit Recht betont Grässer darum, dass nach Hebr 10,38 mit „gerecht“ auch die Person bezeichnet wird, die „eine rechte, d. i. eine dem göttlichen Willen entsprechende Verhaltensweise an den Tag legt“527. Auch in Hebr 11,4 steht di,kaioj vor allem in Verbindung mit dem Glauben an Gott („durch Glauben wurde ihm bezeugt, gerecht zu sein“). Aber weil sich dieser Glaube Abels in einem Gott wohlgefälligen Handeln zeigt (vgl. pi,stei plei,ona qusi,an {Abel para. Ka,i?n prosh,negken tw/| qew/| in 11,4 mit der Verknüpfung von Glauben und Gehorsam in 11,8.24f.31), hat das Gerecht-Sein auch hier einen ethischen Aspekt. Mit Blick auf Hebr 10,38 und 11,4 sind die di,kaioi in 12,23 zunächst also wie folgt zu verstehen: Die di,kaioi meinen Gerechte aus Glauben; sie sind gerecht, weil sie durch den Glauben 1) die göttlichen Verheissungen festgehalten (vgl. auch 11,9.11.13.19.26) und 2) Gott wohlgefällig gehandelt haben (vgl. auch 11,33: dia. pi,stewj […] eivrga,santo dikaiosu,nhn). Aber auch dann, wenn die di,kaioi durch den Glauben gerecht sind und dieser Glaube u. a. gemäss Hebr 11,6 mehr den Vater als den Sohn als Objekt hat, ist die Gerechtigkeit der bei Gott weilenden dikai,wn nicht ohne Christus zu
523
So richtig Grässer, „Rechtfertigung“, 168. Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs HabLXX 2,3–4 mit dem Messias in Verbindung bringt (vgl. die folgende Anm.), so ist der gerecht machende Glaube in 10,38 dennoch primär auf Gott bezogen (vgl. z. B. auch 11,6); ähnlich z. B. Karrer, Hebräer II, 252. 525 Unmittelbar vor dem Zitat aus HabLXX 2,4 spricht der Hebr von Christus als dem evrcome,nw/|, der kommen und nicht säumen wird, was einer Verheissung gleich kommt. Dadurch wird die Aussage, dass der Gerechte aus Glauben leben wird, mit dem Vertrauen auf das Kommen des Christus verbunden und der Glaube in gewisser Weise in Christus selbst verankert. Dies belegt auch die Tatsache, dass sich der Autor in Hebr 11,37 an HabLXX 2,3 anlehnt (vgl. dazu Cockerill, Hebrews, 506–509). 526 Grässer, „Rechtfertigung“, 168. 527 Ebd. 524
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denken: 1) weil dieser der Vollender des zur Gerechtigkeit notwendigen Glaubens ist (vgl. Hebr 12,2: to.n th/j pi,stewj […] teleiwth,n)528 und 2) weil erst dessen Erlösungswerk die vollkommene Gerechtigkeit bringt. Letzteres zeigt sich z. B. in Hebr 9,10, wo von den dikaiw,mata sarko,j, den „Rechtsordnungen des Fleisches“529, die Rede ist (vgl. 9,1: dikaiw,mata latrei,aj). Das Erfüllen dieser alttestamentlichen „Rechtsforderungen“530 (nach 9,8f vor allem Opfer-, Waschungs- und Essensvorschriften) brachte nicht die notwendige Vervollkommnung des Gewissens (vgl. 9,9), welche nichts anderes als „die Reinigung, die Vergebung, die Rechtfertigung des Menschen“ meint 531. Christus hingegen hat durch seinen blutigen Opfertod die ewige Erlösung erworben (vgl. 9,12: aivwni,an lu,trwsin eu`ra,menoj), die mit der Erlösung von den Sünden gleichzusetzen ist (vgl. 9,15: avpolu,trwsin […] paraba,sewn), und dadurch die machtvolle Möglichkeit erhalten, nach der Reinigung von den Sünden (vgl. 1,3) auch das Gewissen von den toten Werken zu reinigen (vgl. 9,14: kaqariei/ th.n sunei,dhsin h`mw/n avpo. nekrw/n e;rgwn). Dieses Reinigen von den Sünden bzw. des Gewissens bedeutet in letzter Konsequenz, den Menschen vor Gott gerecht zu machen und ihn so von seinen nicht zum Ziel führenden Anstrengungen zu erlösen, ja die von der Sünde belastete Gottesbeziehung selbst wiederherzustellen.532 Für Grässer ist das „in der Diktion und in der Intention die klassische paulinische Rechtfertigungslehre – mit dem einzigen Unterschied, dass der Hebr [die menschlichen Anstrengungen] nicht am no,moj, sondern am jüdischen Kultus demonstriert“. 533 Die di,kaioi sind also verstorbene Gläubige des Alten und Neuen Bundes, die durch ihren Glauben und das Erlösungswerk des Sohnes gerecht sind. Die Frage stellt sich nun, was dann das „Vollendet-Sein“ dieser Gerechten bzw. das Attribut teteleiwme,nwn zu bedeuten hat. c. Die Bedeutung des „Vollendet-Seins“ der Gerechten Das Verb teleiou/n hat die Grundbedeutungen „vollenden“, „ans Ziel führen“ und „vollkommen machen“534 und kommt im Hebr neunmal vor, wobei es entweder um die Vollendung des Christus (vgl. Hebr 2,10; 5,9; 7,28) oder die
528
Als Vollender des Glaubens ist Jesus nicht nur das „supreme model [of faith]“, dem es zu folgen gilt, sondern auch „the ,righteous one‘“, „whose perfect faithfulness is the means by which his people are perfected (7.11, 19; 9.9; 10,1, 14; 11.40; 12.23)“ (vgl. Richardson, Pioneer, 135). 529 Vgl. Grässer, Hebräer II, 110. 530 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 397. 531 Vgl. Michel, Hebräer, 308. 532 Ähnlich z. B. auch Käsemann, Gottesvolk, 155. 533 Vgl. Grässer, „Rechtfertigung“, 176. 534 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1614f.; vgl. die Bedeutungen vom zugrunde liegenden te,loj: „Ende“ oder „Ziel“ (ebd., 1617f).
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Vollendung von Menschen geht (7,19535; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Es ist Teil eines breiten Wortfeldes, zu dem auch teleiwth,j (12,2: Jesus als Vollender des menschlichen Glaubens), teleio,thj (6,1: die „Vollendungslehre“ im Gegensatz zum christlichen „Basisunterricht“536), telei,wsij (7,11: die Vollendung, die durch das levitische Priestertum nicht erreicht wurde) und te,leioj (5,14: vollendete Menschen im Gegensatz zu einem nh,pioj537; 9,11: das vollkommenere Zelt). Bevor die Bedeutung des Vollendet-Seins der Gerechten in Hebr 12,23 geklärt werden kann, muss untersucht werden, wann und wodurch die Vollendung von Menschen (alttestamentlichen und neutestamentlichen Gläubigen) nach anderen Stellen im Hebräerbrief geschieht. i Wann und wodurch geschieht die Vollendung der Gläubigen nach dem Hebräerbrief? Das Thema „Vollendung“ im Hebräerbrief wurde bereits mehrfach eingehend untersucht.538 Ob die Vollendung der alttestamentlichen bzw. neutestamentlichen Gläubigen (vgl. 7,19; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23) bereits umfassend geschehen ist539 oder (teilweise) noch aussteht540, ist in der Forschung jedoch umstritten. Die erstgenannte Ansicht wird neuerdings wieder von Ribbens vertreten: „Perfection is a present reality experienced fully, although in different ways, by the living and the death“. 541 Für eine präsentische Deutung scheint zunächst Hebr 10,14 zu sprechen, wonach Jesus „die Geheiligt-Werdenden“ (tou.j a`giazome,nouj), d. h. die Gläubigen, „mit einem Opfer“ (mia/| prosfora/|) „für immer“ (eivj to. Dihneke,j) „voll-
535
Die Vollendung, zu der das Gesetz nichts beitragen konnte (ouvde.n […] evtelei,wsen o` no,moj), bezieht sich auf „den Sinn und das Ziel menschlichen Daseins im Verhältnis zu Gott“ (so richtig Schunack, Hebräerbrief, 98; Hervorhebung von mir). 536 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 220. 537 Zur postulierten Abhängigkeit von Philo in diesem sogenannten „pädagogischen Argument“ vgl. Williamson, Philo, 277–308. 538 Zu einer ausführlichen Untersuchung des Themas „Vollendung“ im Hebräerbrief vgl. z. B. Käsemann, Gottesvolk, 82–90; Peterson, Perfection, 49–187; Scholer, Priests, 185–200 und Schenck, Cosmology, 64–75; zu einem Überblick über die verschiedenen Deutungen der Vollendung Jesu vgl. z. B. K. B. McCruden, Solidarity Perfected. Beneficent Christology in the Epistle to the Hebrews, BZNW 159, Berlin, New York: de Gruyter, 2008, 5–24 (er selbst sieht die Vollendung Christi als definitive öffentliche Beglaubigung durch Gott; vgl. ebd., 25–44). 539 So z. B. Scholer, Priests, 198–200; Cockerill, Hebrews, 598–600 und B. J. Ribbens, Levitical Sacrifice and Heavenly Cult in Hebrews, BZNW 222, Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, 215–218. 540 So z. B. Käsemann, Gottesvolk, 87–89; Koester, Hebrews, 123–125 und Schenck, Cosmology, 72–74. 541 Ribbens, Sacrifice, 217.
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endet hat“ bzw. „vollkommen gemacht hat“ (tetelei,wken). Diese bereits geschehene Vollendung der Gläubigen umfasst gemäss dem Kontext offenbar primär die Reinigung bzw. Vergebung der Sünden (vgl. 10,1f.4.11.18) sowie sekundär den freien (kultisch-gegenwärtigen) Zugang zu Gott (vgl. 10,19ff).542 Dass die bereits erreichte Vollendung auch mit dem offenen, ungetrübten Zugang zu Gott zu tun hat, wird vom Verfasser indirekt bereits in Hebr 7,19 gesagt, wo er das Verb „vollenden“ parallel zum neutestamentlichen Gott-Nahen setzt (ouvde.n ga.r evtelei,wsen o` no,moj [–] evpeisagwgh. de. krei,ttonoj evlpi,doj diV h-j evggi,zomen tw/| qew/|). Die totale Vollendung der Gläubigen beinhaltet nach dem Verfasser des Hebräerbriefs aber offenbar noch mehr als nur die Reinigung der Sünden und den freien (gegenwärtigen) Zugang zu Gott. Dies zeigt vor allem Hebr 11,39f, wonach das Vollendet-Werden mit dem Erlangen der Verheissung gleichbedeutend ist543. Weil der Verfasser mit der in 11,39 erwähnten „Verheissung“ offensichtlich seine Ausführungen in 11,13–16 aufgreift 544, schreibt Grässer treffend zu 11,39f und der Bedeutung der Vollendung der Gläubigen des Alten bzw. Neuen Bundes: „Vollendet sind die alttestamentlichen Glaubenszeugen dann, wenn sie das, was sie aufgrund göttlicher Verheissungen suchten, wohin sie strebten, blickten usw., erreicht haben: die himmlische patri,j (vgl. V 10.13f.16.26). […] Vollendet werden die Väter und mit ihnen die Christen dann sein, wenn sie die himmlische po,lij (V 10.16), die wahre patri,j (V 14) betreten, d.h., in die Nähe Gottes gelangen“.545
Auch Löhr betont u. a. zu Hebr 11,40: „Vollendung [ist] erreicht im Zutritt zur himmlischen Heimat oder Stadt, in der Gottesnähe“. 546 Die umfassende Vollendung der Gläubigen ist nach dem Hebr also erst in der „himmlischen“ Stadt bzw. dem „himmlischen“ Vaterland erreicht, wenn die Gläubigen volle Gemeinschaft mit Gott haben. 547 So bemerkt auch Koester mit Blick auf andere
542
Beide Aspekte sehen z. B. auch Peterson, Perfection, 149ff und Cockerill, Hebrews,
451f. 543
Dies sieht z. B. auch Ribbens so: „The presbu,teroi had not received what was promised them, a reality that was better than they had experienced, the reality of perfection“ (vgl. Ribbens, Sacrifice, 217). 544 Vgl. mh. labo,ntej ta.j evpaggeli,aj in Hebr 11,13 mit ouvk evkomi,santo th.n evpaggeli,an in 11,39. 545 Grässer, Hebräer III, 221. 546 Löhr, Umkehr, 278; ähnlich auch Schenck, Cosmology, 75: „[P]erfection will […] be ‚complete‘ when the people of God find their rest in that heavenly homeland, the lasting city prepared for them“ sowie Stewart, „Cosmology“, 557: „In Heb 11:40 […], the perfection that can only be attained in the coming kingdom of heaven itself is most likely in view“. 547 Selbst Peterson sagt zu der Vollendung als direkte, bleibende und persönliche Beziehung zu Gott Folgendes: „[S]uch a relationship with God implies ultimately a face to face encounter with God (12:14, 22ff)“ (vgl. Peterson, Perfection, 152).
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Stellen mit Recht: „Completion is the consummation of humankind in an eternal relationship with God, in which people share Christ’s glory (2:10), enter God’s rest (4:9–10), see the Lord (12:14), and join in the festival gathering in the heavenly Jerusalem (12:22)“.548 Einige Exegeten betonen nun, dass diese letzte Vollendung zwingend (auch) mit dem Eingang ins himmlische Heiligtum verbunden ist. In Bezug auf Hebr 2,10; 5,9; 7,28 und 12,2 sagt z. B. Rissi: „Jesu Vollendung ist seine Verherrlichung, genauer sein Eingang in das Allerheiligste des Himmels. Darum kann die Vollendung der Glaubenden nur im selben Sinn gemeint sein“. 549 Für Eisele ist folglich klar, dass sich die vollendeten Gerechten nach Hebr 12,23 „nicht nur auf dem Berg Zion, sondern auch im Allerheiligsten befinden“.550 Meines Erachtens besteht tatsächlich eine inhaltliche Entsprechung der Vollendung Christi und jener der Gläubigen. Aber eine Verknüpfung mit dem Ort des Allerheiligsten kann ich nicht erkennen. Nach Hebr 5,9f bedeutet das Vollendet-Sein des Christus (teleiwqei,j), dass er in die unmittelbare Gegenwart Gottes getreten und von ihm angenommen worden ist (prosagoreuqei.j u`po. tou/ qeou/); eine explizite Erwähnung des Allerheiligsten sucht man in dieser Stelle vergeblich. Die in Hebr 7,28 erwähnte ewige Vollendung des Sohnes (eivj to.n aivw/na teteleiwme,non) meint nach 8,1 offenbar sein Sein zur Rechten Gottes (evka,qisen evn dexia/| tou/ qro,nou th/j megalwsu,nhj). In Hebr 8,2 ist das Allerheiligste indirekt zwar ein Thema (tw/n a`gi,wn leitourgo,j), aber der betonte Ort der Vollendung ist vielmehr der in 8,1 genannte Thron Gottes (vgl. auch Hebr 12,2). Diese Stellen zeigen, dass es bei der Vollendung des Sohnes um das Sein in der allgemeinen Gegenwart Gottes geht, und nicht um den spezifischen Ort eines himmlischen Allerheiligsten551. Folglich ist auch die Aussage von Schenck, dass Vollendung nur im Himmel geschehen kann552, kaum zutreffend. Es ist zwar richtig, dass „perfection 548
Koester, Hebrews, 124. Vgl. Rissi, Theologie, 102. 550 Vgl. Eisele, Reich, 390: „Dies gilt trotz der Tatsache, dass mit dem Allerheiligsten in Hebr 8-9 und dem Berg Zion in Hebr 12,22 zwei unterschiedliche Bilder für den Ort des Heils verwendet werden. Denn die damit jeweils verbundenen Aussagen sind der Sache nach kompatibel. Folglich darf man auch die benutzten Bilder als komplementär auffassen und miteinander kombinieren. Andernfalls müsste man dem Autor des Hebräerbriefs jeglichen Anspruch auf eine von ihm intendierte Kohärenz seiner Ausführungen absprechen“. Zur Auseinandersetzung mit dieser These und der heilsgeschichtlichen Unterschiedlichkeit der Begriffe „Allerheiligstes“ und „Berg Zion“ vgl. B.V.2.2−3. 551 Nach Laub meint das himmlische Heiligtum bzw. das Allerheiligste „die unmittelbare Gegenwart Gottes“ (vgl. F. Laub, „‚Ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste‘ (Hebr 9,12): Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief“, in: BZ 35.1/1991, 83). 552 Vgl. Schenck, Cosmology, 73: „[T]he heavenly sphere is the only possible realm for the true perfection of a person“; ähnlich schon Käsemann, Gottesvolk, 87: „Vollkommenheit und Vollendung sind also allein dem himmlischen Wesen zugeordnet“. 549
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intrinsically […] finality“ impliziert553; aber diese Endgültigkeit wäre auch in einer vom Himmel herabgekommenen Gottesstadt auf einer erneuerten oder neuen Erde gegeben (vgl. z. B. auch die Aussage über das Herrschen der Erlösten im Neuen Jerusalem in Offb 22,5: eivj tou.j aivw/naj tw/n aivw,nwn). Die Frage ist nun, wann die letzte Vollendung der alttestamentlichen bzw. neutestamentlichen Gläubigen, d. h. das Erreichen der „himmlischen“ Stadt bzw. die volle Gemeinschaft mit Gott, geschehen ist oder geschehen wird. Nach Ribbens z. B. ist die in Hebr 11,40 beschriebene Vollendung der alttestamentlichen Gläubigen mit dem vollbrachen Heilswerk Jesu bereits erreicht: „When Christ inaugurates the new covenant with his sacrifice in the middle of human history, the old covenant saints are perfected“.554 Gegen diese Deutung spricht die Bemerkung vom Verfasser in 11,40, dass die alttestamentlichen Gläubigen nicht „ohne uns“ (mh. cwri.j h`mw/n) vollendet werden. Es ist gewiss am naheliegendsten wenn man „uns“ als die Generation der Adressaten versteht, wie dies neuerdings auch Filtvedt tut.555 Wenn die noch lebenden Adressaten die volle unmittelbare Personengemeinschaft mit Gott unbestrittenerweise noch nicht erreicht haben, also noch nicht abschliessend vollendet sind, dann können folglich auch die alttestamentlichen Gläubigen nicht zur letzten Vollendung gekommen sein. Dies unterstreicht auch Hebr 11,39, wonach die Glaubenszeugen die Verheissung noch nicht erlangt haben (ouvk evkomi,santo th.n evpaggeli,an). Denn in 10,36 wird indirekt exakt das Gleiche von den Adressaten ausgesagt (u`pomonh/j ga.r e;cete crei,an i[na to. qe,lhma tou/ qeou/ poih,santej komi,shsqe th.n evpaggeli,an).556 Auch Rose betont zu ouvk evkomi,santo th.n evpaggeli,an in 11,39 und mh. cwri.j h`mw/n teleiwqw/sin: „[B]eide Aussagen betonen die ausstehende Heilsvollendung für die in Hebr 11 aufgeführte ‚Wolke der Zeugen‘“.557 Wenn in Hebr 11,40, wie Loader richtig bemerkt, „der Zukunftsaspekt von telei,wsij deutlich zum Ausdruck [kommt]“558, dann stellt sich sogleich die Frage, wann in der Zukunft die alttestamentlichen Gläubigen und die Adressaten gemeinsam vollendet werden bzw. die Verheissung erlangen. Die Antwort 553
Vgl. Schenck, Cosmology, 73. Ribbens, Sacrifice, 218; so z. B. auch Cockerill, Hebrews, 599. 555 Vgl. O. J. Filtvedt, „Creation and Salvation in Hebrews“, in: ZNW 106.2/2015, 292, Anm. 64: „Moreover, in 11,39–40 it is stated plainly that the ancients did not receive what was promised, but that they will only do so together with ‚us‘, i.e. the generation of the addressees“. 556 Auch Grässer sieht die Verbindung von Hebr 10,36 und 11,39 und folgert daraus für die letztgenannte Stelle: „Das bedeutet, dass komi,zesqai th.n evpaggeli,an nicht den ersten adventus Christi meint, bei dem die Glaubenszeugen des Alten Bundes das Verheissungsgut empfangen hätten, sondern dass damit das eschatologische Hineingehen in die Ruhe (4,1.6) umschrieben wird“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 219). 557 Rose, Wolke, 324. 558 Vgl. Loader, Sohn, 42. 554
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liegt mit Blick auf Heb 10,36f m. E. auf der Hand. Denn an dieser Stelle wird das Erlangen der Verheissung (V.36) in den Zusammenhang mit der nahe Parusie Jesu gestellt (vgl. V.37: o` evrco,menoj h[xei). Die alt- und neutestamentlichen Gläubigen werden also die Verheissung bzw. die letzte Vollendung, d. h. den Eintritt in die „himmlische“ Stadt und die volle Gemeinschaft mit Gott, bei der Wiederkunft Jesu erlangen559. ii Das „Vollendet-Sein“ der Gerechten und das Erreichen des Zieles: der unmittelbaren Gegenwart Gottes Die Bezeichnung der Gerechten als „Vollendete“ (teteleiwme,noi) im Hebr verweist durchaus auch zurück auf Hebr 10,14 und beschreibt – wie Lane bemerkt – solche, „who have been ,perfected‘ on the basis of Jesus’ sacrifice“560. Die Gerechten sind auch insofern vollendet, als dass sie durch Jesus (vgl. Hebr 12,24) von ihren Sünden gereinigt wurden561 und den freien, ungetrübten Zugang zu Gott erhalten haben. Aber u. a. weil die vollendete Reinigung in Christus – wie gesehen (↑ B.IV.2.2.3.b) – bereits in dem Begriff der di,kaioi eingeschlossen ist, meint das Vollendet-Sein der Gerechten schwerpunktmässig etwas anderes: nämlich das Erlangt-Haben der Verheissung bei der Wiederkunft Jesu, d. h. das Eingetreten-Sein in die „himmlische“ Stadt und die volle Gemeinschaft mit Gott, wie die letzte Vollendung der Gläubigen gemäss Hebr 11,39f in Verbindung zu 11,13–16 definiert ist. Denn die di,kaioi teteleiwme,noi weilen ja gemäss Hebr 12,22f im „himmlischen Jerusalem“ sowie in der unmittelbaren Nähe Gottes562. Die Gerechten sind also vor allem insofern teteleiwme,noi, als dass sie „zur Vollendung ihrer Gemeinschaft mit Gott gekommen“ sind, wie Riggenbach richtig betont.563 Mit Blick auf dieses Erlangt-Haben der Verheissung durch die Geister der Gerechten schwingt beim Gebrauch von teleiou/n in Hebr 12,23 – wie z. B. auch in Phil 3,12 – durchaus auch die eine Grundbedeutung des Verbes mit: „ans Ziel führen“ (↑ B.IV.2.2.3.c). Die Gerechten werden als teteleiwme,noi bezeichnet, weil sie – wie schon Delitzsch betont hat – „an dem Ziele ihrer 559
So z. B. auch C. K. Barrett, „The Eschatology of the Epistle to the Hebrews“, in: W. D. Davies; D. Daube (Hg.), The Background of the New Testament and its Eschatology. Studies in Honor of C.H. Dodd, Cambridge: Cambridge University Press, 1956, 381f; ähnlich z. B. auch Koester, Hebrews, 520: „[At] the resurrection […] all the people of God will be made complete in everlasting life in the heavenly Zion (12:22–24)“. 560 Vgl. Lane, Hebrews II, 471; ähnlich auch Peterson, Perfection, 163. 561 Vgl. Buchanan, Hebrews, 223: „,[The] spirits of the righteous‘ were ,perfected‘, meaning all their sins were removed and they were sanctified“. 562 Die Frage stellt sich, ob die Nähe zu Gott gar in einem aussergewöhnlichen Mass betont sein will: Jesus befindet sich sonst ja zur Rechten des Vaters in einer besonderen Nähe (vgl. Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12; 12,2); wenn die Gerechten in Hebr 12,23f nun zwischen Jesus und Gott gesetzt sind, wie unvorstellbar nahe sind die Gerechten dann dem Vater! 563 Vgl. Riggenbach, Hebräer, 417.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Bestimmung und ihres Strebens angelangt [sind]“.564 Ähnlich formuliert es Johnson zu den dikai,oij teteleiwme,noij: „[T]he contest [is] won, the pilgrimage accomplished, the goal reached“.565 In dem Sinn ist es durchaus möglich, dass die „vollendeten Gerechten“ ein Echo auf Hebr 2,10 sind, wonach es Gottes Plan ist, „viele Söhne“ in die „Herrlichkeit“ zu führen566 (pollou.j ui`ou.j eivj do,xan avgago,nta).567 Neben dem Erreicht-Haben der unmittelbaren und herrlichen Gottesgegenwart gilt es noch einen weiteren zentralen Aspekt des Vollendet-Seins der Gerechten zu beachten. iii Das „Vollendet-Sein“ der Gerechten und das Letzte Gericht Eine Vielzahl von Exegeten bringt die Vollendung der Gerechten auch in den Zusammenhang mit dem göttlichen Gericht. So schreibt z. B. H.-F. Weiss: „Gott, der ,Richter‘ ist es ja gerade, der den ‚Gerechten‘ die Vollendung gewährt“.568 Nach Grässer treten die Christen „zu dem göttlichen Richter, der […] den ,Gerechten‘ die Vollendung gewährt“. 569 Für Gordon sind die vollendeten Gerechten jene, „[which] have passed the scrutiny of the divine judge“570 und für Schunack alle die, „die Gott, der Richter aller, […] zum Heil vollendet hat“.571 Für diese Vollendung der Gerechten im Gericht Gottes sprechen zwei gewichtige Gründe. Erstens ist die kaum zufällige Verbindung des göttlichen krith,j mit menschlichen di,kaioi zu nennen. So schreibt z. B. auch Johnson: „[I]t is as judge that God can testify to the righteousness of humans“.572 Dass die Gerechtigkeit des Menschen bzw. deren Prüfung beim göttlichen Endgericht ein Thema ist, belegt Hebr 10,38, wonach der Gerechte Gottes aus Glauben leben wird. Die Zukunftsorientierung dieser Aussage (zh,setai) entspricht zwar der
564
Vgl. Delitzsch, Hebräer, 650. Vgl. Johnson, Hebrews, 333; ähnlich z. B. auch Mitchell, Hebrews, 283f. 566 Zur überzeugenderen Deutung von avgago,nta auf Gott und seine Absicht hin vgl. Grässer, Hebräer I, 112.128f. 567 Eine Verbindung zu Hebr 2,10 sehen z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 446 und Johnson, Hebrews, 332f. 568 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 680. 569 Vgl. Grässer, Hebräer III, 321. 570 Vgl. Gordon, Hebrews, 180; er redet dabei allerdings von einer „suggestion“. 571 Vgl. Schunack, Hebräerbrief, 210; vgl. z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 446: „Nichts dürfte die Adressaten so sehr anspornen wie die Hoffnung, im Gericht in gleicher Weise für immer vollendet zu werden“. 572 Vgl. Johnson, Hebrews, 333; ähnlich auch Robinson, für den die Gerechten jene Menschen sind, „on whom the supreme judge has passed a verdict of approval“ (vgl. Robinson, Hebrews, 190). 565
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zitierten Propheten-Stelle, sie ist für den Autor aber zweifellos auch von inhaltlicher Bedeutung, weil er das Zitat direkt mit der ebenso zukünftigen Parusie des Sohnes verknüpft (vgl. V.37: o` evrco,menoj h[xei): Die Parusie bringt dem Gerechten Leben (vgl. auch Hebr 9,28!).573 Hebr 10,37–39 bestätigt nun eine Erkenntnis, die bereits in Bezug auf andere Stellen gewonnen wurde, nämlich dass der Verfasser des Hebräerbriefs den Moment der Parusie des Sohnes mit dem Moment des Letzten Gerichts Gottes gleichsetzt (vgl. auch Hebr 9,27f574; 10,25–27575). Denn das Kommen des Sohnes (10,37) wird einem Teil der Menschen avpw,leia bringen (V.39; vgl. die gängige apokalyptische bzw. urchristliche Verbindung des Begriffs mit dem ewigen Gerichtsurteil Gottes576) und Gott wird bei der Parusie an einem Menschen entweder Wohlgefallen haben oder nicht (V.38).577 Der Gerechte wird demnach beim Letzten Gericht von Gott als Gerechter erkannt/bestätigt (vgl. das euvdokei/ in Hebr 10,38b) und wird leben.578 Zweitens spricht für die Vollendung der Gerechten im Gericht Gottes die Tatsache, dass die eschatologische Bedeutung von teleiou/n „ans Ziel, in die Gegenwart Gottes führen“ sachlich gleichbedeutend mit „zur Ruhe, zum vollkommenen Heil führen“ ist579 – bei Gott zu sein bedeutet, die kata,pausij (vgl. Hebr 4,10f) bzw. die swthri,a (vgl. 1,14 mit 2,10) erreicht zu haben. Nach Hebr 9,28 kommt nun das vollkommene „Heil“ bei der Parusie580 (ovfqh,setai toi/j auvto.n avpekdecome,noij eivj swthri,an, vgl. auch die peripoi,hsij yuch/j in 10,39, welche das Erscheinen des „Kommenden“ – vgl. V.37! – bringt); das gleiche
573 Ähnlich z. B. auch Koester, Hebrews, 467 und Karrer, Hebräer II, 251; Letzterer sieht allerdings wie in der Einführung des Sohnes in die oivkoume,nh (Hebr 1,6) so auch in seinem Kommen etwas Iteratives; zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser These vgl. Stolz, „Einführen“, 414f. 574 ↑ B.IV.2.2.2.b. 575 Der nahende Tag ist sowohl der Tag der Parusie als auch der des Letzten Gerichts (↑ B.IV.2.1.3.d). 576 Zu Mt 7,13 und den Belegstellen in der Apokalyptik vgl. Keener, Matthew, 205; zum paulinischen Gebrauch im Sinne einer „final condemnation“ vgl. Moo, Romans, 607, Anm. 96. 577 Parusie und Endgericht verbunden sehen z. B. auch Hughes, Hebrews, 387; Rissi, Theologie, 127; Lane, Hebrews II, 307; Schenck, Cosmology, 189; Karrer, Hebräer II, 251 („sein [sc. Christi] endgültiges, rettendes Kommen beim Gericht“); Backhaus, Hebräerbrief, 372f; Cockerill, Hebrews, 513 („at the last Judgment when ,the coming one‘ arrives“). 578 Ähnlich Grässer, Hebräer III, 79: „Im Hebr ist sie [sc. die Lebenszusage zh,setai] individualisiert und meint die peripoi,hsij yuch/j (V 39), als die Bewahrung des Lebens ,durch Gottes Gericht und Auferweckung hindurch‘“. 579 So z. B. auch Schenck, Cosmology, 72. 580 Vgl. z. B. auch Richardson, Pioneer, 180: „the reception of full salvation […] at the second coming of Christ“.
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gilt offenbar auch für das Hineingehen in die kata,pausin581. Wenn diese Parusie mit dem Letzten Gericht Gottes verbunden ist, kann man folglich sagen: Das vollkommene Heil bzw. die Vollendung kommt beim Gericht. Die di,kaioi teteleiwme,noi sind also bei der Gerichtstheophanie582 am Jüngsten Tag vollendet worden. Diese Vollendung im Gericht steht dabei nicht im Widerspruch zur zuvor definierten eschatologischen Vollendung im Sinn des heilvollen Seins vor Gott. Die eschatologische Vollendung als Zustand ist das Resultat des Bestehens im Gericht (vgl. die resultative Bedeutung des griechischen Perfekts). Dass das Endgericht in Hebr 12,23 – zumindest teilweise – bereits geschehen ist, wirft jetzt die Frage auf nach der Auferstehung der Toten. iv Das „Vollendet-Sein“ der Gerechten und die körperliche Auferstehung Eine Mehrheit von Exegeten geht davon aus, dass der auctor ad Hebraeos eine allgemeine körperliche Totenauferweckung am Ende der Zeit erwartet hat.583 Bestätigung findet diese Deutung zunächst in Hebr 6,2, wo von der avnasta,sei nekrw/n die Rede ist, welche nicht im Sinn eines blossen „Erscheinens der Toten zum Endgericht“ gedeutet werden muss584, sondern – entsprechend der frühjüdischen und urchristlichen Tradition – vielmehr als deren leibliche585 Auferstehung (vgl. z. B. äthHen 51,1; syrBar 50,1–3; Sib 4,179–181; 2.Makk 7,9; 1.Kor 15,20–22.35ff; 2.Kor 5,1ff) beim Letzten Gericht.586 Ein weiterer 581
So nach J. Laansma, „I Will Give You Rest“. The „Rest“ Motif in the New Testament with Special Reference to Mt 11 and Heb 3-4, WUNT II 98, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 307: „The exhortation as whole is keyed to the Parousia (3,14; me,cri te,louj). It appears, then, that entrance into the kata,pausij is an eschatological event“; vgl. auch ebd., 331. 582 ↑ B.IV.2.2.2.c. 583 Vgl. z. B. Hofius, Katapausis, 181, Anm. 359; Laansma, Rest, 331; J. Laansma, „The Cosmology of Hebrews“, in: J. T. Pennington; S. M. McDonough (Hg.), Cosmology and New Testament Theology, LNTS 355, London: T&T Clark, 2008, 137; Grässer, Hebräer III, 343; Lincoln, Hebrews, 96; Mackie, Eschatology, 36, Anm. 27; Moffitt, Atonement, 211. Einer der wenigen mit einer anderen Zukunftsdeutung ist z. B. Eisele, Reich, 424: „Aus der Perspektive der jenseitigen, unsichtbaren Welt kann also in letzter Konsequenz auch noch die Auferstehung […] mit dem Einzug in das himmlische Allerheiligste in eins gesehen werden“. 584 Vgl. Rissi, Theologie, 126: als Gegensatz zur „Verwandlung in ein neues Sein“. 585 Es mag nicht falsch sein, in Bezug auf die frühjüdische „afterlife“-Vorstellung von „complex boundaries and intersections between immortality and resurrection“ zu sprechen (vgl. C. D. Elledge, „Future Resurrection of the Dead in Early Judaism: Social Dynamics, Contested Evidence“, in: CBR 9.3/2011, 416); allerdings ist die körperliche Auferstehung am Ende der Zeit klar die dominierende Vorstellung (vgl. dazu D. E. Hayter, „‚How are the Dead Raised?‘: The Bodily Nature of Resurrection in Second Temple Jewish Texts“, in: J. E. Taylor (Hg.), The Body in Biblical, Christian and Jewish Texts, LSTS 85, London, New York: Bloomsbury; T&T Clark, 2014, 123–143). 586 So z. B. auch Johnson, Hebrews, 159f; zu den Belegstellen in Bezug auf das Gericht vgl. unten.
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Beleg ist die Notiz zum Glauben Abrahams in Hebr 11,19: evk nekrw/n evgei,rein dunato.j o` qeo,j. Weil evgei,rein objektlos verwendet wird bzw. ein gnomisches Präsens ist, geht es offenbar nicht nur um die göttliche Möglichkeit der Auferweckung Isaaks, sondern auch um den eschatologischen Gottesakt im Sinn der „general resurrection“.587 Schliesslich spricht auch der Ausdruck „bessere Auferstehung“ (krei,ttwn avna,stasij) in Hebr 11,35b für die Erwartung einer futurisch-eschatologischen Totenauferweckung. Nach V.35a, wonach Frauen durch eine körperliche Auferstehung ihre Toten wieder erhalten haben (e;labon gunai/kej evx avnasta,sewj tou.j nekrou.j auvtw/n), meint die kurz danach thematisierte „bessere Auferstehung“ nicht einfach das geistige Weiterleben im Allerheiligsten nach dem Tod588, sondern die leibliche Auferstehung am Ende der Zeit, weil diese nicht wieder durch den Tod aufgehoben wird, sondern ewiges Leben bedeutet.589 In Hebr 6,2 wird nun diese leibliche Auferweckung der Toten parallel zum Endgericht590 erwähnt (avnasta,sew,j te nekrw/n kai. kri,matoj aivwni,ou). Gewiss wird gemäss urchristlicher bzw. frühjüdischer Überzeugung diese formale Parallelität einer inhaltlichen Zusammengehörigkeit der beiden Ereignisse entsprechen: Die Auferstehung der Toten (auch der Gerechten/Gläubigen!) findet beim Letzten Gericht statt591 (vgl. z. B. 1QHa XIV,29f.34f592; 4Q521593; Weish
587
Vgl. dazu G. L. Cockerill, „The Better Resurrection (Heb. 11:35): A Key to the Structure and Rhetorical Purpose of Hebrews 11“, in: TynB 51.2/2000, 229; ähnlich auch Ellingworth, Hebrews, 603; Koester, Hebrews, 306. 588 So Eisele, Reich, 424. 589 Vgl. dazu Cockerill, „Resurrection“, 222; ähnlich z. B. auch Grässer, Hebräer III, 207 mit dem Verweis auf Hebr 6,2 und Lane, Hebrews II, 389 („final resurrection to life“). 590 Zur Deutung von kri,ma aivw,nion als letztes Gericht (d. h. letztgültiges Gericht) vgl. B.IV.2.2.2.b. 591 Gewiss, im Frühjudentum gibt es hie und da auch andere Vorstellungen in Bezug auf das Verhältnis von Auferstehung und Gericht; zu einem Überblick vgl. z. B. G. W. Nickelsburg, „Judgment, Life-after-Death, and Resurrection in the Apocrypha and the Non-Apocalyptic Pseudepigraph“, in: A. J. Avery-Peck (Hg.), Judaism in Late Antiquity. Death, LifeAfter-Death, Resurrection and the World-to-Come in the Judaisms of Antiquity, HO.NMO 49/4, Leiden: Brill, 2000, 141–162 592 Ob hier im Zusammenhang mit dem eschatologischen Krieg bzw. Gericht Gottes von der Auferstehung der Toten die Rede ist, ist umstritten: Eher zurückhaltend bis kritisch sind z. B. Collins, Apocalypticism, 121–123 und Hogeterp, Expectations, 289–291; mit Recht befürwortend sind z. B. Puech, croyance, 335–419 und N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God, Christian Origins and the Question of God 3, London: SPCK, 2003, 187f. 593 Dass es in 4Q521 um eine eschatologische Auferstehung geht, ist mehr als wahrscheinlich (vgl. z. B. auch M. Popović, „Bones, Bodies and Resurrection in the Dead Sea Scrolls“, in: T. Nicklas; F. V. Reiterer, et al. (Hg.), The Human Body in Death and Resurrection, DCLY, Berlin, New York: de Gruyter, 2009, 229); sie findet offenbar nach der Offenbarung des Messias im Rahmen eines göttlichen Gerichts statt (vgl. 4Q521 2 II,9; 5 II,13).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
3,7–10594; 2.Makk 7,14.36; äthHen 62,9–16; 91,7–10; 92,3–5; LAB 3,10; syrBar 30,1–5; 50,2–4; 4.Esr 7,33f; Mt 19,28595; Joh 5,28f596; 6,39f.44.54597; Offb 20,11–15; siehe auch Dan 12,2).598 Wenn die Geister der Gerechten – wie dargelegt (↑ B.IV.2.2.3.c.iii) – im Gericht abschliessend vollendet wurden, stellt sich daher berechtigterweise die Frage, ob sie die körperliche Auferstehung bereits hinter sich haben. Mir scheint dies tatsächlich der Fall zu sein, und zwar aus fünf Gründen. 1) Offenbar geht „die“ Apokalyptik (vgl. z. B. LAB 3,10f599; syrBar 30,1– 600 5 ; 50,2–4601; 4.Esr 7,33f602), Jesus603 sowie das Urchristentum (vgl. z. B.
594 Zu der offenbar im Hintergrund stehenden körperlichen Auferweckung beim Letzten Gericht vgl. die überzeugende Darlegung von Wright, Resurrection, 162–175. 595 Auch nach Konradt denkt „Matthäus in 19,28 an das auf die Parusie folgende Endgericht“; vgl. dazu M. Konradt, „‚Ihr wisst nicht, was ihr erbittet‘ (Mt 20,22): Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium, in: ders., Studien zum Matthäusevangelium“, in: M. Konradt, Studien zum Matthäusevangelium, WUNT 358, Tübingen: Mohr Siebeck, 2016, 190; zum Bezug der mit dem Endgericht Jesu verbundenen Aussage evn th/| paliggenesi,a| auf die leibliche Auferstehung der Toten (und die Neuschöpfung des Kosmos) vgl. Stettler, Gericht, 234. 596 Vgl. dazu A. Lindemann, „Auferstehung und Endgericht: Überlegungen zu den Paulusbriefen und zum Johannesevangelium“, in: J. Krans; B. J. Lietaert Peerbolte, et al. (Hg.), Paul, John, and Apocalyptic Eschatology, NT.S 149, Leiden: Brill, 2013, 113: „Jesu Worte in V. 28–29 machen klar, dass die Verstorbenen (oi` evn toi/j mnhmei,oij) die Stimme des Richters hören und nach ihren Werken gerichtet werden − entweder eivj avna,stasin zwh/j oder eivj avna,stasin kri,sewj. Hier ist die Auferstehung also anders als zuvor in Joh 5:24 nicht mit dem Heilsereignis identisch, sondern ein noch zu erwartendes Geschehen.“ 597 Der „letzte Tag“ (th/| evsca,th| h`me,ra|), an dem die Gläubigen gemäss Joh 6,39f.44.54 auferweckt werden, ist gemäss Joh 12,48 offenbar der Tag des Letzten Gerichts (vgl. o` lo,goj o]n evla,lhsa evkei/noj krinei/ auvto.n evn th/| evsca,th| h`me,ra|); zum Bezug von Joh 12,48 zum Endgericht vgl. z. B. U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998, 201. 598 Für eine inhaltliche Verknüpfung der beiden Glieder in Hebr 6,2 sprechen sich auch andere aus: vgl. z. B. Schierse, Verheissung, 164; Schunack, Hebräerbrief, 79; Cockerill, Hebrews, 267. 599 Vgl. D. J. Harrington, „Afterlife Expectation in Pseudo-Philo, 4 Ezra, and 2 Baruch and their Implications for the New Testament“, in: R. Bieringer (Hg.), Resurrection in the New Testament. FS Jan Lambrecht, BEThL 165, Leuven: University Press, 2002, 29. 600 Vgl. Harrington, „Afterlife“, 29. 601 Nach der körperlichen Auferstehung und dem darauffolgenden Gericht findet jedoch noch eine Transformation statt (vgl. dazu L. I. Lied, „Recognizing the Righteous Remnant?: Resurrection, Recognition and Eschatological Reversals in 2 Baruch 47-52“, in: T. K. Seim (Hg.), Metamorphoses. Resurrection Body and Transformative Practices in Early Christianity, Ekstasis 1, Berlin, New York: de Gruyter, 2009, 331f). 602 Vgl. Moo, Creation, 133ff. 603 Vgl. z. B. Mt 12,41f und 19,28 und die überzeugende Deutung bei D. C. Sim, Apocalyptic Eschatology in the Gospel of Matthew, SNTS.MS 88, Cambridge, New York:
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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Offb 20,11–15604) grundsätzlich von einer vor dem Gericht stattfindenden Auferstehung der Toten aus. 2) Die Voranstellung der avnasta,sei nekrw/n (vor dem kri,mati aivwni,w|) in Hebr 6,2 setzt eine solche präforensische Auferstehung voraus.605 3) Das Verb teleiou/n hat im Hebräerbrief auch den Sinn einer abschliessenden Vollendung, der nichts (mehr) mangelt (in Bezug auf Jesus vgl. v. a. 7,28606; in Bezug auf Menschen vgl. v. a. 11,40). Schenck schreibt sogar: „[T]he key uses of teleio,w in Hebrews all relate in one way or another to the core sense of ‚completeness‘“.607 Dieses Vollendet-Sein im Sinn eines Zurvollen-Fülle-gekommen-Seins, eines Nichts-mangeln-Müssen gilt insbesondere für die teteleiwme,nouj in Hebr 12,23, wie auch Peterson schreibt: „At all events, the use of teteleiwme,nwn, and the very context in which these ,spirits‘ are found, suggest that nothing is lacking in their situation“. 608 Montefiore zieht nun aus einer ähnlichen Deutung der teteleiwme,nwn folgenden Schluss: „[I]f they have been made perfect, they might be thought to have been clothed with their resurrection body“.609 Da Hebr 12,22–24 für Montefiore den gegenwärtigen Himmel beschreibt610, muss das Wort nach ihm aber doch anders gebraucht sein, nämlich „to emphasise the spiritual and immaterial nature of the new order of existence“.611 Wenn in Hebr 12,22–24 jedoch, wie oben begründet, einen Einblick in die Zukunft gegeben wird, darf man zu einem anderen Schluss kommen, wie auch Peterson schreibt: „[I]t may well be that he [sc. der Hebräerautor] understands this to include the ‚better resurrection‘ (11:35)“.612 Wenn der Autor, wie gesehen, eine körperliche Auferstehung der Toten erwartet und Cambridge University Press, 1996, 111ff; zur eschatologischen Verkündigung von Jesus resümiert Stettler: „Die Auferstehung aller Toten ist die Voraussetzung für das Endgericht“ (vgl. Stettler, Gericht, 234). 604 Vgl. Offb 20,13: „Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet“. Eine präforensische Auferstehung sehen z. B. Mounce, Revelation, 377 und Blount, Revelation, 374. 605 Vgl. z. B. Braun, Hebräer, 162 und Löhr, „Anthropologie“, 180: „Die ähnlich beiläufige und parallele Formulierung in 6,2 lässt es aber als plausibel erscheinen, dass hier Gerichtsgedanke und vorgängige (leibliche) Totenauferstehung zusammengedacht werden“. 606 Man beachte die Formulierung ui`o.n eivj to.n aivw/na teteleiwme,non (Perfekt!); vgl. auch das damit verbundene Sitzen in der herrlichen Gegenwart Gottes nach 8,1. 607 Vgl. Schenck, Cosmology, 66. 608 Vgl. Peterson, Perfection, 164. 609 Vgl. Montefiore, Hebrews, 232. 610 Z. B. ersichtlich aus dem Satz über die vollendeten Gerechten: „It is not altogether clear how they can already be in heaven if they have not yet received the promise (xi. 39)“ (ebd.). 611 Ebd. 612 Vgl. Peterson, Perfection, 164; vgl. seine Bemerkung auf der folgenden Seite: „If transfer to the heavenly city and ,better resurrectionʻ are identical concepts, it may be that our writer envisaged all the people of God entering this eternal inheritance together, at the time of Christ’s second coming (cf. 9:28, eivj swteri,an)“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
das Vollendet-Sein der Gerechten in Hebr 12,23 einen Mangel ausschliesst, liegt es sehr nahe, dass sie sowohl am Geist als auch am Körper vollendet sind.613 4) Auch das Vollendet-Sein des Sohnes schliesst seine Auferstehung mit ein. So schreibt Moffitt in seiner ausführlichen Untersuchung zur Vollendung Jesu, die als nach dem Tod erfolgt beschrieben wird (vgl. z. B. Hebr 2,9f; 5,8f und 7,23–28): „Perfection, as the requisite qualification for him to become the heavenly high priest, stands between Jesus’ death and elevation to the heavenly priesthood. In light of the discussion above about Jesus’ faith when tested receiving the reward of the better resurrection, the most likely candidate for this moment is Jesus’ resurrection. After his death, God brought Jesus out of the realm of death and into a life that will endure forever into perfection. Only after this point can Jesus be said to be perfected and thus qualified to be the heavenly high priest.“614
Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs nun nicht von einem blossen geistigen postmortalen Leben Jesu ausgeht615, sondern von dessen leiblicher Auferstehung616 (vgl. z. B. Hebr 5,7: sw,|zein auvto.n evk qana,tou […] eivsakousqei.j avpo. th/j euvlabei,aj617; Hebr 13,20: o` avnagagw.n evk nekrw/n to.n poime,na618), dann darf man das körperliche Auferstanden-Sein auch bei den di,kaioi teteleiwme,noi voraussetzen. 5) Nach Hebr 11,39f bedeutet „Vollendung“, die Verheissung Gottes erlangt zu haben, weshalb Koester mit Recht zu den teteleiwme,noij in 12,23 sagt: 613 Vgl. auch Ellingworth, Hebrews, 681: „It is probably misleading to suggest that the righteous are thought of here as having been made perfect in spirit, but not yet in body: this dichotomy does not appear significant in Hebrews“. 614 Moffitt, Atonement, 199; ähnlich z. B. auch Richardson, Pioneer, 84: „[T]he domain in which Jesus was ‚perfected‘ and ‚called‘ by God [vgl. Hebr 5,9f] is the heavenly sanctuary, and both presuppose his bodily resurrection“. 615 So behauptet von Käsemann, Gottesvolk, 66 („Das Schema des Anthropos-Mythos wird in Hebr auch darin durchgehalten, dass auf die Erniedrigung Christi, unter Ausserachtlassung der Auferstehung oder besser unter ihrer Einbeziehung in die Himmelfahrt alsbald die Erhöhung folgt“); ähnlich z. B. auch Attridge, Hebrews, 406; Backhaus, Hebräerbrief, 484. 616 So z. B. auch Schierse, Verheissung, 163f; Richardson, Pioneer, 83f. 617 Swetnam bringt das Erhört-Werden Jesu durch den Gott, der aus dem Tod retten kann, mit Recht in Verbindung zur leiblichen Auferstehung des Sohnes: „Christ is then ‚brought to perfection‘ (teleiwqei,j), i.e., brought to a corporal completion appropriate for His divine nature at the time of his resurrection (5,9)“ (vgl. J. Swetnam, „The Context of the Crux at Hebrews 5,7-8“, in: FN 14.27−28/2001, 113); ähnlich schreibt auch Johnson: „But how is this positive response [of God] manifested? It is not by Jesus’ escaping death, or the fear of death, but by his transcending death through his resurrection and exaltation to God’s right hand“ (vgl. Johnson, Hebrews, 146); zur Deutung von Hebr 5,7 vgl. auch B.VI.3.4.4.a. 618 Dass diese Stelle für eine leibliche Auferstehung Jesu spricht, sehen z. B. auch Michel, Hebräer, 536f; Lane, Hebrews II, 562 und Moffitt, Atonement, 193.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
193
„,Made completeʻ means receiving all that God has promised“.619 Da die avna,stasij nekrw/n in Hebr 6,2 nicht nur ein theoretischer Lehr- und Glaubenssatz, sondern als persönlich-existentielle Heilszuversicht letztlich ein Teil der göttlichen Zukunftsverheissung ist (vgl. 11,9: evk nekrw/n evgei,rein dunato.j o` qeo,j), liegt der Schluss nahe, dass die „vollendeten Gerechten“ die Auferstehung erlangt haben. Es steht aber noch ein gewichtiger Einwand gegen die These im Raum, dass die di,kaioi teteleiwme,noi bereits mit dem Auferstehungsleib versehen sind: Wenn der Verfasser mit den pneu,masi dikai,wn – wie dargelegt (↑ B.IV.2.2.3.a) – einen apokalyptischen terminus aufgreift, der sonst für die vom Leib getrennten Verstorbenen verwendet wird, kann er doch nicht gleichzeitig durch den Hinweis auf die Vollendung der Gerechten ihr leibliches Auferstanden-Sein voraussetzen wollen!? Offensichtlich geht das doch. In syrBar 30,1f heisst es über den Zeitpunkt der Wiederkunft des Messias: „[D]ann werden alle jene auferstehen, die in der Hoffnung auf ihn eingeschlafen sind. Und es wird dann zu jener Zeit geschehen, dass jene Schatzkammern geöffnet werden, in denen die bestimmte Zahl der Seelen der Gerechten aufbewahrt ist. Sie werden dann hinausgehen, und all die vielen Seelen werden nun zugleich erscheinen als eines Sinnes eine Schar. Die Ersten freuen sich, die Letzten aber sind nicht traurig.“620
Das in V.1 erwähnte Auferstehen der Entschlafenen meint nach syrBar 42,7f und 50,2f eine körperliche Auferstehung.621 Interessanterweise werden die Auferstandenen in syrBar 30,2 trotzdem als „Seelen“ bezeichnet. Gleiches sehen wir in 4.Esr 7,32: „Und hergeben wird die Erde, die in ihr schlafen, und der Staub, die in ihm im Schweigen wohnen, hergeben werden die Kammern die ihnen anvertrauten Seelen“. 622 Dass die „Seelen“ hier noch getrennt von ihrem auferweckten Körper gesehen werden, ist kaum wahrscheinlich.623 Vielmehr sind die „Seelen“ die gleichen wie die Entschlafenen, die leiblich auferstehen (vgl. „Erde“!): Das Entlassen-Werden der Seelen aus den Kammern des Totenreichs meint das Überkleidet-Werden mit dem Auferstehungsleib.624 In beiden apokalyptischen Texten werden die Auferstandenen offenbar darum als „Seelen“ bezeichnet, um auf ihr ehemaliges leibliches Tot-Sein hinzuweisen. Ähnliches ist auch der Fall in Offb 20,12, wo die vor dem Richter stehenden
619
Vgl. Koester, Hebrews, 546. Klijn, „Baruch“, 142. 621 Vgl. Hayter, „Dead Raised“, 140; zu 50,2 vgl. auch Lied, „Recognizing“, 332. 622 Vgl. Klijn, 4Esra, 45. 623 So Stone, 4Ezra, 219. 624 Vgl. z. B. J. Ludlow, „Death and the Afterlife in 2 Baruch“, in: G. Boccaccini; J. M. Zurawski (Hg.), Interpreting 4 Ezra and 2 Baruch. International Studies, LSTS 87, London: Bloomsbury, 2014, 120: „4 Ezra 7:32 talks about the time when the earth [!] will give up the souls who are asleep in it“. 620
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
auferstandenen Menschen (vgl. V.13!) als nekroi,, „Tote“, benennt werden; Blount z. B. spricht von „the horde of resurrected dead“.625 SyrBar 30,1f; 4.Esr 7,32 und Offb 20,12 belegen es: Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Verfasser des Hebräerbriefs von „Geistern“ spricht, um die „Gerechten“ als Verstorbene qualifizieren zu können, und gleichzeitig an ihr körperliches Auferstanden-Sein denkt626, wie ich es mit Blick auf ihre Bezeichnung als (im endzeitlichen Gericht) „vollendete Gerechte“ annehme. Zusammenfassend lässt sich also Folgendes zur Bedeutung des „VollendetSeins“ der verstorbenen Gerechten sagen: Die di,kaioi haben offenbar bei der Parusie Jesu die volle Gemeinschaft mit Gott im „himmlischen Jerusalem“ erreicht, bestanden im Letzten Gericht und wurden mit dem Auferstehungsleib versehen.627 2.3 Vers 24 kai. diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ kai. ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {AbelÅ „[…] und zum Mittler des neuen Bundes – [zu] Jesus, und zum Blut der Besprengung, das Besseres redet als Abel.“
2.3.1 diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ – „zum Mittler des neuen Bundes – [zu] Jesus“ Die Tatsache, dass die Person Jesu (mit seinem Blut) am Schluss der ZionTheophanie erwähnt wird – gewissermassen als krönender Abschluss! –, unterstreicht noch einmal seine bereits dargelegte Hervorhebung durch die Gegenüberstellung zu Mose (↑ B.II). Sogar innerhalb der Wendung diaqh,khj ne,aj mesi,th| VIhsou/ ist „Jesus“ durch die Endstellung besonders betont628, was bezeichnenderweise dem Normalgebrauch im Hebräerbrief entspricht (vgl. z. B.
625 Vgl. Blount, Revelation, 373: „Though he does not specify it as such, this must be for John the post-thousand-year rule ‚second resurrection‘, which his reference to the first resurrection in V. 5 and 6 implied.“ 626 Vgl. auch S. Motyer, „‚Not apart from us‘ (Hebrews 11:40): Physical Community in the Letter to the Hebrews“, in: EQ 77.3/2005, 245: „,Spirits‘ here does not indicate a disembodied existence, but an embodied existence suitable for habitation beyond the veil. We may think of the risen body of the Lord Jesus, which was as physical as before crucifixion, but now able to appear and disappear at will“; allerdings ist für Motyer die Szenerie in Hebr 12,22ff gegenwärtig (vgl. ebd., 241f). 627 Dass der Verfasser des Hebräerbriefs die Wiederkunft Jesu, das Letzte Gericht und die Auferstehung der Toten grundsätzlich zusammen denkt, sieht z. B. auch Cockerill, Hebrews, 267: „The dead will be raised (11:35), and this Judgment [sc. the coming final Judgment] will occur at Christ’s return (9,23-28)“; auch für Richardson wird die Totenauferweckung bei der Parusie stattfinden (vgl. Richardson, Pioneer, 180). 628 So z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 681 („postponed for emphasis“).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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auch Hebr 7,15: krei,ttonoj diaqh,khj ge,gonen e;gguoj VIhsou/j).629 Die Verwendung des irdischen Eigennamens des Gottessohnes will dabei offenbar besonders seine irdisch-heilsgeschichtliche Wirkenszeit betonen.630 So wird denn auch der Name VIhsou/j vornehmlich im Kontext des Leidens bzw. Sterbens des Sohnes verwendet.631 „Sohn“ ist Jesus von Ewigkeit her gewesen bzw. genannt (zu seiner Präexistenz vgl. z. B. Hebr 1,2: diV ou- [sc. ui`ou/] kai. evpoi,hsen tou.j aivw/naj), aber zu „Jesus“ – vielleicht sogar im etymologischen Sinn des Retters (vgl. Mt 1,21)! – ist der Sohn in seiner irdischen Existenz geworden.632 Beides, die durch die besondere Stellung explizierte hohe Gewichtung der Person Jesu und der durch die Namenswahl begründete Fokus auf dessen irdisches Leben, erklärt sich sogleich dadurch, dass Jesus als heilsnotwendiger und historisch gewordener diaqh,khj ne,aj mesi,thj bezeichnet wird. a. Der Begriff mesi,thj in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament Der Begriff mesi,thj – abgeleitet von me,soj („sich in der Mitte befindend“) – in der Grundbedeutung „Mittler“ steht im hellenistischen Sprachgebrauch hauptsächlich für einen neutralen Vermittler zwischen zwei Parteien (im Krieg), der gleichzeitig auch Garant einer Übereinkunft beider Seiten ist.633 Als Schiedsrichter erscheint mesi,thj auch in der einzigen LXX-Stelle in Hiob 9,33. Die dort erwähnte Vermittlung zwischen Gott und Mensch(en) ist auch Thema im Frühjudentum, wo Engel als mesi,tai (vgl. TestDan 6,2: mesi,thj qeou/ kai. avnqrw,pwn634 [vgl. TestLev 5,6]; Philo, Somn. 1,142) oder Mose als mesi,thj (vgl. AssMos 1,14; Philo, Somn. 1,143; Mos. 2,166) bezeichnet werden. Im Neuen Testament wird der Begriff mesi,thj in Bezug auf die Mittlerschaft zwischen Gott und Menschen sowohl für Mose (vgl. Gal 3,19: diatagei.j diV avgge,lwn evn ceiri. mesi,tou635) als auch für Jesus (vgl. 1.Tim 2,15: ei-j kai. 629
Vgl. auch Hebr 2,9; 3,1; 6,20; 12,2; 13,20. Vgl. Michel, Hebräer, 468 („der geschichtliche Jesusname“) und Backhaus, Hebräerbrief, 447 („[d]er die Erdenexistenz betonende Eigenname Jesu“). 631 Vgl. Hebr 7,15f.22; 12,2f; 13,12.20; vgl. auch 10,10 (dia. th/j prosfora/j tou/ sw,matoj VIhsou/ Cristou/) und 10,19 (evn tw/| ai[mati VIhsou/). Auch auf den Erhöhten bezogen findet sich VIhsou/j in 2,9 (do,xh| kai. timh/| evstefanwme,non); 6,20 und 13,8. 632 Nicht unmöglich scheint es mir, daraus abzuleiten, dass die Bezeichnung „Sohn“ mehr die Gottheit (vgl. z. B. Hebr 1,8f.10ff) und „Jesus“ mehr die Menschheit des Gottessohnes betonen möchte (vgl. Hebr 2,9.14!); ähnlich O’Brien, Hebrews, 488: „Jesus, the one who is fully human, is qualified for his role as mediator“; vgl. dazu auch 1.Tim 2,5: ei-j ga.r qeo,j( ei-j kai mesi,thj. qeou/ kai. avnqrw,pwn( a;nqrwpoj Cristo.j VIhsou/j. 633 Vgl. dazu und zum Folgenden A. Oepke, Art. mesi,thj ktl., ThWNT IV (1942), 602– 629. 634 Zum griechischen Text vgl. M. de Jonge, The Testaments of the Twelve Patriarchs. A Critical Edition of the Greek Text, PVTG 1/2, Leiden: Brill, 1978, 109. 635 Dass evn ceiri. mesi,tou in Gal 3,19 auf Mose anspielt, scheint kaum zweifelhaft (vgl. z. B. NumLXX 4,37; 9,23; JosLXX 22,9); schwer zu verstehen ist allerdings der Folgevers; vgl. zu Ganzem z. B. C. Burchard, „Noch ein Versuch zu Galater 3,19 und 20“, in: C. Burchard, 630
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
mesi,thj qeou/ kai. avnqrw,pwn( a;nqrwpoj Cristo.j VIhsou/j636) gebraucht. Im Hebräerbrief erscheint der Begriff abgesehen von Hebr 12,24 noch zweimal: nämlich in 8,6 und 9,15, wo Jesus als krei,ttono,j evstin diaqh,khj mesi,thj bzw. als diaqh,khj kainh/j mesi,thj bezeichnet wird. Da in der Zion-Theophanie Jesus als diaqh,khj ne,aj mesi,thj erscheint (vgl. 12,24), kann man zunächst einmal festhalten, dass der Mittler-Begriff im Hebr untrennbar mit dem Thema „Bund“ bzw. „Bundesschluss“ verknüpft ist. Dabei stellt sich sogleich die Frage nach dem Korrespondenzverhältnis von mesi,thj und diaqh,kh bzw. nach dem effektiven Werk und Wesen des Mittlers Jesus. b. Das Korrespondenzverhältnis von mesi,thj und diaqh,kh Für Grässer ist das Verhältnis der beiden Begriffe im Hebr „ganz unkultisch“, „rechtstechnisch“ zu verstehen.637 Nach ihm dient der Mittler-Begriff lediglich „als Bezeichnung einer Rechtsgarantie, die Jesus hinsichtlich der Beschaffung und Aneignung des Heils übernimmt“.638 Der Begriff mesi,thj lasse „in der Verbindung mit Diatheke weniger an Vermittlung, sondern eher wie e;gguoj an Garantie (Diod S 4,54,7 mesi,thj = Garant) und Verwirklichung denken“. 639 Mit anderen Worten: „[D]er Erhöhte [tritt] in der unmittelbaren Nähe Gottes für die Seinen ein und verbürgt bzw. ,garantiert‘ die Fortdauer des Sündenvergebungsbundes“.640 Dass Jesus als Mittler auch Rechtsgarant bzw. Bürge des Neuen Bundes ist, scheint mir angesichts von Hebr 7,22 und der Bezeichnung Jesu als krei,ttonoj diaqh,khj e;gguoj (vgl. die offensichtliche Parallele zu Hebr 8,6; 9,15 und 12,24!) unbestreitbar – auch der Gebrauch des Verbes mesiteu,ein in Hebr 6,17 spricht dafür.641 Allerdings kann Jesus nicht nur Mittler in diesem Sinn sein. Denn selbst der in Hebr 7,22 verwendete Begriff e;gguoj („Bürge“) hat neben einer rechtlichen auch eine „kultische“ Bedeutung, weil Jesus als (Hohe-) Priester zum Bürgen geworden ist (vgl. Hebr 7,20: su. i`ereu.j eivj to.n aivw/na).642 Diese kultisch-priesterliche Dimension steht offenbar auch hinter dem Begriff mesi,thj selbst. In Hebr 8,6 wird nämlich die Mittlerschaft Jesu als Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, WUNT 107, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, 184–202. 636 Vgl. H. Stettler, Die Christologie der Pastoralbriefe, WUNT II 105, Tübingen: Mohr Siebeck, 1998, 73: „Als dieser [sc. Gottesknecht] übt Jesus durch die sühnende Hingabe seines eigenen Lebens sein Mittleramt aus“. 637 Vgl. Grässer, Hebräer II, 94. 638 Vgl. Grässer, Hebräer III, 321. 639 Vgl. Grässer, Hebräer II, 93; ähnlich neuerdings auch Kraus, „Mittler“, 312f. 640 Vgl. Grässer, Hebräer II, 93f. 641 Gott „verbürgt“ sich – d. h. er gibt eine Rechtsgarantie – durch einen Eid (evmesi,teusen o[rkw|); vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 358.362. 642 Ge,gonen e;gguoj VIhsou/j (7,22) steht zudem sowohl formal als auch inhaltlich parallel zu eivsi.n i`erei/j gegono,tej (7,20).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
197
leitourgi,a („priesterlicher Dienst“; vgl. 8,4f!) bezeichnet und mit dessen Amt als avrciereu,j (8,1) verknüpft (vgl. 8,2: tw/n a`gi,wn leitourgo.j).643 Mit Blick auf Hebr 9,11.15 schreibt z. B. auch Vanhoye: „[O]n peut considérer comme synonymes les deux expressions qui qualifient le Christ en He 9,11 et He 9,15: dire que le Christ est ‚médiateur d’une alliance nouvelle‘ (He 9,15) est une autre façon de le reconnaître comme ‚grand prêtre des biens à venir‘ (He 9,11).“644
Jesus ist also Mittler als himmlischer Hohepriester.645 Die hohepriesterliche Mittlerschaft Jesu hat dabei zwei Schwerpunkte: Selbsthingabe (Opfer) und Fürsprache. c. Die hohepriesterliche Mittlerschaft Jesu und seine Selbsthingabe Jesus wurde/ist Hohepriester bzw. Mittler des Neuen Bundes durch sein einmaliges Opfer, d. h. durch sein erlösendes Sterben am Kreuz. So schreibt z. B. auch Lane: „Jesus’ office as mediator is predicated upon the efficacy of his redemptive death“.646 Vanhoye spricht vom Kreuz als „l’acte médiateur, c’està-dire du sacrifice d’alliance“.647 Die Verankerung der Mittlerschaft Jesu in seinem Opfertod belegen z. B. Hebr 9,15, wonach Jesus Mittler wegen seiner Selbstopferdarbringung (vgl. das auf 9,14 verweisende dia. tou/to648) und durch seinen Tod diaqh,khj kainh/j mesi,thj ist (vgl. das das Mittler-Sein indirekt explizierende qana,tou genome,nou eivj avpolu,trwsin), sowie die häufige Verbindung vom vermittelten Neuen Bund zum Tod bzw. Blut Jesu (vgl. 9,15–22649; 10,16–19; 12,24650).651 Dass Jesus diaqh,khj ne,aj mesi,thj ist, heisst also, dass er nicht nur Bürge, sondern durch sein Bundesopfer (vgl. Hebr 10,14–17) und seinen Tod auch der Initiator des Neuen Bundes ist.652 In gewisser Hinsicht darf man sogar differenzieren zwischen dem Opfer-Tod, der die totale Vergebung bzw. Reinigung 643
Vgl. dazu auch Backhaus, Bund, 145. A. Vanhoye, La lettre aux Hébreux. Jésus-Christ, médiateur d’une nouvelle alliance, CJJC 84, Paris: Desclée, 2002, 217. 645 So auch Backhaus, Hebräerbrief, 447 zu Hebr 12,24: „In Jesus begegnet den Adressaten der himmlische Hohepriester“. 646 Vgl. Lane, Hebrews II, 472. 647 Vgl. Vanhoye, Médiateur, 219: „Le Christ est devenu grand prêtre, médiateur de l’alliance nouvelle, grâce à une oblation qui l’a transformé lui-même“. 648 Vgl. dazu z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 475; zur Deutung von o]j dia. pneu,matoj aivwni,ou e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| qew/| auf das Kreuzesgeschehen vgl. B.IV.2.3.2.c.iv. 649 Vgl. auch Lane, Hebrews II, 473, der in Bezug auf Hebr 9,15–22 von einer „necessary connection between sacrifice and covenant ratification“ spricht. 650 Die unmittelbare Aneinanderreihung vom Bundesmittler und von dessen Blut in Hebr 12,24 ist kaum Zufall: Jesus ist mesi,thj durch sein Blut, d. h. seinen Tod am Kreuz. 651 Zum erlösenden Opfertod Jesu vgl. B.IV.2.3.2.c.ii. 652 Vgl. Backhaus, Bund, 146: „[D]er mesi,thj-Begriff [führt] jedoch über das Bürgschaftsmotiv hinaus, da Jesus in seinem ,mittlerischen‘ Heilstod das Verbürgte zugleich herbeiführt 644
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der Sünden (7,27; 9,14f) und so die Hauptsegnung des Neuen Bundes (vgl. 8,12; 10,17!) ermöglicht hat, und der rechtlichen Dimension des Todes Jesu als des Erben Gottes (1,2.6), dessen Tod – als Erblasser-Tod (9,16f)653 – seinen menschlichen Brüdern auch all die anderen Segnungen des Bundes (vgl. 8,10f) zugänglich machte. d. Die hohepriesterliche Mittlerschaft Jesu und seine Fürsprache Jesus ist Hohepriester bzw. Mittler des Neuen Bundes auch durch sein fürsprechendes Eintreten für die Gläubigen.654 Dieser gegenwärtige, andauernde Dienst Jesu zeigt sich insbesondere in Hebr 7,25, wonach er diejenigen „völlig erretten kann“ (sw,|zein eivj to. pantele.j du,natai), „die sich durch ihn Gott nahen, weil er immer lebt, um für sie einzutreten“ (pa,ntote zw/n eivj to. evntugca,nein u`pe.r auvtw/n).655 Dieses Eintreten des Sohnes bei Gott im Interesse der Gläubigen, welches ihre völlige Rettung656 bewirkt bzw. erhält657, hat m. E. vier Bedeutungen. Erstens geht es – wie in 1.Joh 2,1f – um die heilswirksame (!) „Selbstdarstellung vor Gott als des Erlösers im Hinblick auf alle einzelnen Erlösten“ bzw. „um die fortwährende Wahrung ihres Gnadenverhältnisses zu Gott“.658 Die Rettung von den Sünden bzw. die Vergebung derselben ist zwar ein für alle Mal geschehen, aber sie wird – aufgrund des geschehenen Opfers (vgl. Hebr 7,25–27!) – dem Gläubigen durch die kontinuierliche Fürsprache bzw. Fürbitte Jesu zuteil.659 Für diese „Applikation des kultischen evfa,pax“660 spricht insbesondere auch Hebr 9,24 – eine mit 7,25 offensichtlich verwandte Stelle –, wo und in Kraft setzt“. Selbst Grässer muss seiner unkultischen Deutung des Mittler-Seins Jesu widersprechen, wenn er zum Blut in Hebr 12,24 sagt: „Es erläutert und begründet Jesu ,Mittlerschaft‘“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 322). 653 Vgl. dazu überzeugend Fuhrmann, Vergeben, 209ff. 654 Vgl. zu diesem zweiten Aspekt der Hohepriesterschaft Jesu den umfassenden Überblick bei Loader, Sohn, 142–160. 655 Durch die Wendung tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew/| ist in Hebr 7,25 die Mittler-Funktion Jesu nicht nur implizit (durch das hohepriesterliche Eintreten), sondern sogar explizit Thema; vgl. z. B. auch Johnson, Hebrews, 193: „The phrase di’ autou (,through him‘) points to Jesus’ mediational role“. 656 Die Apposition eivj to. pantele,j bezieht sich naheliegenderweise auf sw,|zein (gegen Fuhrmann, Vergeben, 127, der sie in Verbindung zu den prosercome,noi liest) und ist sowohl temporal („für immer“; vgl. eivj to.n aivw/na in Hebr 7,24) als auch modal („vollständig“) zu verstehen (so auch Grässer, Hebräer II, 61f). 657 Das fortwährende Leben Jesu (pa,ntote zw/n) als Fürsprecher begründet die Möglichkeit der völligen Rettung durch ihn (eine kausale Sinnrichtung des Partizips sehen z. B. Grässer, Hebräer II, 25 und Cockerill, Hebrews, 336). 658 Vgl. Delitzsch, Hebräer, 308; vgl. dazu mehr unter B.IV.2.3.2.c.iv. 659 Dass die hohepriesterliche Fürbitte Vergebung der Sünden bringt, sehen z. B. auch Hegermann, Hebräer, 159 und Koester, Hebrews, 366. 660 Grässer, Hebräer II, 64, Anm. 98.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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das Erscheinen Jesu vor Gott „für uns“ (evmfanisqh/nai tw/| prosw,pw| tou/ qeou/ u`pe.r h`mw/n) andererseits – durch das die Gegenwart betonende nu/n – auch auf ein kontinuierliches heilswirksames Eintreten von ihm vor Gott zu beziehen ist (evmfanisqh/nai ist als ingressiver Aorist zu verstehen!).661 Zweitens geht es bei der rettenden Fürsprache Jesu in Hebr 7,25 auch um eine Bewahrung des Glaubens bis ans Ende. Als Fürsprecher am Thron Gottes wird er „zum unverzichtbaren Helfer gegen den Trug der Sünde (3,13)“662. Drittens bezieht sich die völlige Rettung durch den Fürsprecher Jesus bestimmt auch auf den Moment des Letzten Gerichts, also den Moment, wo man direkt vor dem furchtbaren Gott steht und wo die durch Jesus Bestehenden nach Hebr 9,27f swthri,an erlangen werden. Viertens betrifft die rettende Fürbitte Jesu auch alle sonstigen gegenwärtigen und noch ausstehenden menschlichen Nöte der Gläubigen.663 Dass Jesus also auch durch sein umfassendes fürbittendes Eintreten für die Gläubigen Hohepriester bzw. Mittler des Neuen Bundes ist, heisst aber nicht, dass die hohepriesterliche Fürsprache Jesu den Neuen Bund im eigentlichen Sinn vermittelt, wie sein Opfer es tut bzw. getan hat. Jesus ist vielmehr Mittler des Neuen Bundes im Sinn von Mittler im Neuen Bund, also als Segenswirkung des durch das einmalige Opfer begründeten Gottesbundes. e. Die umfassende Bedeutung des Bundes-„Mittlers“ in Hebr 12,24 Die Bezeichnung Jesu als „Mittler des (neuen) Bundes“ (Hebr 8,6; 9,15; 12,24) beschreibt also in umfassenderer Weise den Dienst Jesu als Hohepriester, der sich hingibt und mit seinem Opfer den Neuen Bund initiiert, als Bürge, der diesen Bund auf ewig garantiert, sowie als hohepriesterlicher Fürsprecher, der den Gläubigen das Heil des Bundes zuteilwerden lässt und sie bis ans Ende in allen Belangen bewahren und zur endgültigen Rettung führen wird. Da Hebr 12,22–24, wie oben mehrfach dargelegt, das Letzte Gericht thematisiert, will der Titel diaqh,khj ne,aj mesi,thj in V.24a die Fürsprache Jesu beim
661 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 337: „Christi Tod für uns, also zu unserem Heil, ist die irdische Seite; die himmlische Seite liegt darin, dass er gerade so ,immerfort lebt, um für sie einzutreten‘. Das ,jetzt‘ lässt jedenfalls die Gegenwartsmacht des Christus-Opfers deutlich werden, in der Sprache der theologischen Tradition: die applicatio salutis“. 662 Vgl. Grässer, Hebräer II, 64; vgl. z. B. auch Löhr, Umkehr, 65, der den „fortwährenden Beistand“ Jesu in Bezug auf „das ,Innensein‘, die fortwährende – irdische – Existenz im Heilsstand“ bezieht; sowie Cockerill, Hebrews, 335, der in diesem Zusammenhang von „perseverance in faith and obedience“ spricht. 663 So auch Grässer, der vom „aktuelle[n] Nothelferdienst für die angefochtenen Christen“ spricht (vgl. Grässer, Hebräer II, 64; ähnlich z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 281).
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göttlichen Richter besonders betonen (vgl. z. B. auch Röm 8,34664!). Andererseits legt der Verfasser wohl auch Gewicht auf das einmalige Bundesopfer des Hohepriesters (vgl. ai-ma im Folgesatz!), das sowohl das Bestehen der „Gerechten“ im Gericht als auch deren ungetrübte Gemeinschaft mit Gott – eine Verheissung des Neuen Bundes (vgl. Hebr 8,10)! – möglich gemacht hat. Gewollt ist zudem der Kontrast zwischen Jesus als dem neutestamentlichen Mittler und Mose (V.21), der in der jüdischen Umwelt als Mittler im/des SinaiBund/es gesehen wurde (vgl. Philo, Mos. 2,166; Somn. 1,143; AssMos 1,14 bezeichnet ihn als th/j diaqh,khj mesi,thj!). Der Gegenüberstellung zur Mittelsperson Mose sowie allen oben erwähnten Aspekten des Mittlerdienstes Jesu liegt auch der wichtige Gedanke der Vermittlung zwischen zwei Parteien zugrunde: nämlich zwischen Gott und Menschen.665 Allerdings vermittelt Jesus nicht – wie Mose und die anderen Mittler der Umwelt – passiv, d. h. beide Seiten zu Konzessionen führend. Er ist vielmehr – wie Vanhoye es formuliert –ein „médiateur actif“: Er opfert sich nämlich selbst (vgl. 9,14!).666 Zudem ist Jesus kein neutraler Vermittler. Schlosser zieht nach seiner Untersuchung der Mediation Christi im Hebr folgenden berechtigten Schluss: „Considérant le mouvement des hommes vers Dieu et celui de Dieu vers les hommes nous avons pu montrer que le Christ opère le salut du fait que, en tant que Fils et Grand Prêtre céleste, il et du côté de Dieu et agit en son nom, mais aussi parce qu’il est solidaire des hommes et les représente auprès de Dieu.“667
Ähnlich betont z. B. Backhaus: „[U]m seinen ontischen Mittler-Dienst vollbringen zu können, muss Jesus als ‚Sohn‘ ebenso ganz auf der Seite Gottes stehen wie als ‚menschlicher Hohepriester‘ ganz auf der Seite des Menschen.“668 In die gleiche Kerbe schlägt auch Vanhoye, wenn er mit Verweis auf 664 Egal, wie man katakrinwn in Röm 8,34 akzentuiert (als Gegenwarts- oder Futurform) – die parallele futurische Aussage in 8,33 ti,j evgkale,sei kata. evklektw/n qeou/ und der Zusammenhang zeigen deutlich, dass es (mindestens) auch um das eschatologische Gericht geht, wo Jesus sich für die Seinen verwendet (vgl. dazu z. B. auch T. R. Schreiner, Romans, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 1998, 461–463; Kruse, Romans, 361); zur Gegenwartsform evntugca,nei u`pe.r h`mw/n (vgl. Hebr 7,25!) sagt Stuhlmacher mit Recht: „[Jesus] ist Fürsprecher der Glaubenden vor Gott von seiner Auferweckung an bis ins Jüngste Gericht hinein“ (vgl. P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer, NTD 6, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2. Aufl., 1998, 127). 665 So auch Fuhrmann, Vergeben, 212 (bezüglich Hebr 9,16f): „[E]r [ist] Mittler im Sinne eines Vermittlers zwischen den Interessen einer schwächeren und einer stärkeren Partei, indem er durch den Einsatz seines Lebens Gottes Festhalten an seiner diaqh,kh erzwingt“. 666 Vgl. Vanhoye, Médiateur, 218. 667 J. Schlosser, „La médiation du Christ d’après l’épître aux Hébreux“, in: RevSR 63.3−4/1989, 181. 668 K. Backhaus, „‚Licht vom Licht‘: Die Präexistenz Christi im Hebräerbrief“, in: K. Backhaus, Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief, WUNT 240, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, 84.
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Hebr 1,5–2,18 zu Jesus als Mittler sagt: „[I]l est lui-même l’une et l’autre: Dieu avec Dieu, homme avec les hommes“.669 Der Neue Bund wurde also nicht nur durch Jesus vermittelt, sondern vor allem auch in Jesus, dem Gottessohn (vgl. 1,5; 4,14 u. a.) und Menschensohn (vgl. 2,6).670 Somit ist die Bezeichnung Jesu als mesi,thj nicht nur eine umfassende Beschreibung für seinen Dienst, sondern auch für sein Wesen als Mensch (vgl. auch 2,14.17671) und Gott (vgl. v. a. 1,8f: o` qeo,j672)673. Diese Erkenntnis schlägt eine direkte Brücke zu DanLXX 7,9–18 als dem alttestamentlichen Text, an den sich der Verfasser des Hebräerbriefs in 12,22–29 wahrscheinlich immer wieder anlehnt (↑ B.IV.2.1.4.b). Der Xna rbk bzw. w`j ui`o.j avnqrw,pou in Dan 7,13 ist nämlich sowohl „a divine redeemer figure“ (vgl. z. B. sein Kommen auf himmlischen Wolken mit dem Kommen Jahwes in Ex 16,10; 19,9; Ps 18,12f; 97,2ff; 104,3; Jes 19,1; Nah 1,3) als auch „[a] symbol of the people of Israel“674 bzw. Repräsentant Israels (vgl. Dan 7,14 mit 7,22.27!)675 bzw. Repräsentant der Menschen überhaupt676. Dazu kommt, dass das Hinzutreten des Menschensohnes zu Gott sogar auf einen hohepriesterlichen Akt hinweisen könnte677; in diesem Zusammenhang wurde der Vers später offenbar teilweise verstanden (vgl. z. B. Sir 50,6 in Bezug auf den Hohepriester Simon ben Onias: w`j avsth.r e`wqino.j evn me,sw| nefelw/n). Eine
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Vgl. Vanhoye, Médiateur, 218. Vgl. ebd., 219: „L’alliance n’a pas été établie simplement par lui, elle a été établie en lui, car c’est en lui que la parfaite liaison a été réalisée entre l’humanité et Dieu“. 671 Vgl. evpei. ou=n ta. paidi,a kekoinw,nhken ai[matoj kai. sarko,j( kai. auvto.j paraplhsi,wj mete,scen tw/n auvtw/n in Hebr 2,14 sowie o[qen w;feilen kata. pa,nta toi/j avdelfoi/j o`moiwqh/nai in 2,17. 672 Zum Sinn der Anrede des Sohnes als o` qeo,j sagt Grässer mit Recht: „Der Sohn ist göttlichen Wesens (vere Deus)“ (vgl. Grässer, Hebräer I, 84). 673 Vgl. auch R. Bauckham, „Monotheism and Christology in Hebrews 1“, in: L. T. Stuckenbruck; W. E. North (Hg.), Early Jewish and Christian Monotheism, JSNT.S 263, London: T&T Clark International, 2004, 185: „Jesus is identified both with God (ch. 1) and with humanity (ch. 2). […] In him, as Chalcedon insisted, true divinity and true humanity are both to be recognized“. 674 Vgl. Boyarin, „Daniel“ 153. Für die Zugehörigkeit des Xna rbk zu Gott spricht auch dessen alte Interpretation als la yd hrb in 4Q246 II,1 (vgl. dazu K. A. Kuhn, „The ‚One like a Son of Man‘ Becomes the ‚Son of God‘“, in: CBQ 69.1/2007, 22–42). 675 Eine enge Verbindung zwischen den !ynwyl[ yXydq als den Heiligen Israels und dem Menschensohn liegt auf der Hand (vgl. z. B. auch F. J. Moloney, „Constructing Jesus and the Son of Man“, in: CBQ 75.4/2013,, 730–735); allerdings ist der Sohn des Menschen nicht das Kollektiv, sondern eine das Kollektiv repräsentierende „einzelne“ Gestalt (so z. B. Koch, „Menschensohn“, 373). 676 Vgl. Koch, „Menschensohn“ 373: „rb hebt als Singulativ den einzelnen Vertreter einer Gattung hervor“; mit anderen Worten: Das Wesen ist Vertreter der Gattung Xna „Mensch“. 677 Vgl. C. H. Fletcher-Louis, „The High Priest as Divine Mediator in the Hebrew Bible: Dan 7:13 as a Test Case“, in: SBL.SP 133.36/1997, 161–193. 670
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Interpretation des w`j ui`ou/ avnqrw,pou auf Jesus hin als den mesi,thj im Sinn des gott-menschlichen (hohepriesterlichen) Vermittlers zwischen Gott und Mensch in Hebr 12,24 erscheint auf diesem Hintergrund also durchaus als passend.678 Drei weitere Gründe sprechen für diese Deutung durch den Verfasser des Hebräerbriefs: 1) Die Identifikation des Menschensohnes mit Jesus in der urchristlichen Literatur ist breit belegt679; 2) in Hebr 2,6ff wird der aus PsLXX 8,5 zitierte ui`o.j avnqrw,pou auf Jesus übertragen, wobei ziemlich sicher eine „messianische“, d. h. vom traditionell christologisch verstandenen Ausdruck w`j ui`o.j avnqrw,pou in Dan 7,13 herkommende titulare Deutung des Ausdrucks vorliegt680; 3) im Hebr erscheint Jesus in Bezug auf seine pi,stij gegenüber Gott (vgl. z. B. 2,17; 3,2; 5,8f; 12,2) als „the new and perfect representative of humanity and Israel“, der „the virtue of faith“ verkörpert, „that is required of God’s covenant people“681. Der Menschensohn von Dan 7,13 ist also nach Hebr 12,24 in Jesus vom Himmel auf die Erde gekommen und steht nun als Mittler vor Gott dem Richter.
Trotz dieser Tatsache, dass die Vermittlung zwischen Gott und Mensch sowohl durch und als auch in Jesus als dem Gottessohn und Menschensohn geschah bzw. geschieht, darf man jedoch keinesfalls übersehen, dass die mesitei,a Jesu letztlich von Gott ausgeht: Durch/wegen Gottes Gnade ist Jesus den MittlerTod gestorben (vgl. Hebr 2,9: ca,riti qeou/ u`pe.r panto.j geu,shtai qana,tou), und durch Gottes Eid ist der Sohn als hohepriesterlicher Mittler eingesetzt worden (vgl. 7,28 mit 7,21f). Dieses radikale Gnadenhandeln Gottes zeigt sich auch beim Thema „neuer Bund“, dessen Mittler Jesus nach Hebr 12,24 ist. f. Der Begriff diaqh,kh in der LXX, der Umwelt und im Neuen Testament Der Begriff diaqh,kh meint ursprünglich „(letztwillige) Verfügung“, „Testament“ (vgl. Hebr 9,16f!).682 In der LXX ist er jedoch die Standardübersetzung von tyrb, was „Bund“ im Sinn eines rechtlichen Verbindungsverhältnisses zwischen zwei Parteien bedeutet.683 Allerdings kann tyrb im Alten Testament
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Interessante Parallelen zum Hebr ergäben sich auch, wenn der Menschensohn in Dan 7,13 durch die Verbindung zum Volk Israel tatsächlich als (ehemals) leidender Menschensohn verstanden werden könnte (vgl. Moloney, „Constructing“, 734f). 679 Vgl. z. B. Shepherd, „Son of Man“ 99–111. 680 Vgl. dazu P. Giles, „The Son of Man in the Epistle to the Hebrews“, in: ET 86/1975, 329; G. H. Guthrie, „A Discourse Analysis of the Use of Psalm 8:4-6 in Hebrews 2:5-9“, in: JETS 49.2/2006, 243f; gegen E. Grässer, „Beobachtungen zum Menschensohn in Hebr 2,6“, in: E. Grässer, Aufbruch und Verheissung. Gesammelte Aufsätze zum Hebräerbrief, BZNW 65, Berlin, New York: de Gruyter, 1992, 165. 681 Vgl. Richardson, Pioneer, 226. 682 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 366. 683 Vgl. H.-D. Neef, „Aspekte alttestamentlicher Bundestheologie“, in: F. Avemarie (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher frühjüdischer und urchristlicher Tradition, WUNT 92, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, 1f; mit Vorsicht spricht er sich für eine Ableitung des Begriffs vom akkadischen Wort biritû mit der Bedeutung „Band/Fessel“ aus (ebd., 3).
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auch schlicht und einfach eine Selbstverpflichtung bzw. Zusage meinen (in Bezug auf Jahwe vgl. z. B. Gen 15,18).684 Dies wirft sogleich die Frage auf, ob die LXX-Übersetzer mit der Wahl von diaqh,kh („Verfügung“ einer Person) betonen wollten, dass Gott bei den „,Bundes‘-schliessungen […] der Tonangebende“ war.685 Auf jeden Fall gehen im Alten Testament Gottes Bündnisse mit einzelnen Menschen (vgl. z. B. den Abraham-Bund in Gen 17,2ff sowie den Bund mit den „Vätern“ in Dtn 7,7–9686) und mit dem Volk Israel (vgl. z. B. den wichtigen Horeb-Bund bzw. Sinai-Bund in Dtn 5,1–5687 bzw. Ex 24,3–11688) – auch bei beidseitiger Verpflichtung – stets auf seine Initiative zurück. 689 Dies gilt insbesondere für den in Jer 31,31–34 verheissenen „neuen Bund“ mit Israel (hXdx tyrb; diaqh,kh kainh,): Jahwe wird zu seiner Zeit einen Bund mit seinem Volk schliessen (Jer 31,31.33). Da dieser „neue Bund“ keine zu erfüllenden Bedingungen von Seiten Israels bzw. Judas nennt und einen Bundesbruch – so geschehen beim vorangegangenen Bund mit den Vätern (V.32) – durch Einpflanzung der Tora in die Herzen des Volkes (V.33) ausschliesst, erscheint er als „reiner Gnadenbund“.690 Im Neuen Testament wird der Begriff diaqh,kh zunächst für den Sinai-Bund bzw. die verschiedenen (vorchristlichen) Bündnisse mit dem Volk Israel gebraucht (vgl. z. B. Lk 1,72; Apg 3,25; 7,8; Röm 9,4; 2.Kor 3,14; Gal 3,17; Eph 2,12). Sodann ist die Rede von dem (neuen) „Bund“, den Jesus stiftet/gestiftet hat (vgl. Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20; 1.Kor 11,25; Röm 11,26f; 2.Kor 3,6; Gal 4,24). Dabei steht offenbar stets (auch) die Verheissung des „neuen Bundes“ von Jer 31,31–34 bzw. JerLXX 38,31–34 im Hintergrund.691 684 Vgl. dazu E. Kutsch, Verheissung und Gesetz. Untersuchungen zum sogenannten „Bund“ im Alten Testament, BZAW 131, Berlin, New York: de Gruyter, 1973, 6–9. 685 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 366. 686 Vgl. dazu Neef, „Bundestheologie“, 11f. 687 Vgl. ebd., 9f. 688 Kutsch ist überzeugt, dass nach Ex 19–34 am Sinai kein „Bund“ im Sinne einer Rechtsverbindung zwischen Jahwe und Israel geschlossen wurde (vgl. Kutsch, Verheissung, 75–89); diese Ansicht scheint aber überholt. Zu Ex 24,3–11 vgl. z. B. Dozeman, Commentary, 564–568. 689 Der von Josia initiierte „Bundesschluss“ des Volkes mit Jahwe (vgl. 2.Kön 23,1ff) ist keine Ausnahme, weil es sich um eine Erneuerung eines bestehenden Bundes handelt (vgl. auch die ähnliche Aktion Hiskias nach 2.Chron 29,3ff); vgl. dazu z. B. M. Pietsch, Die Kultreform Josias. Studien zur Religionsgeschichte Israels in der späten Königszeit, FAT 86, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 160ff. 690 Vgl. W. Gross, „Erneuerter oder Neuer Bund?: Wortlaut und Aussageintention in Jer 31,31−34“, in: F. Avemarie (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher frühjüdischer und urchristlicher Tradition, WUNT 92, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, 60. 691 In Lk 22,20 bzw. 1.Kor 11,25 (h` kainh. diaqh,kh) und 2.Kor 3,6 (kainh/j diaqh,khj) liegt die Anlehnung an JerLXX 38,31 (diaqh,khn kainh,n) begrifflich auf der Hand. Nach Schenker sind – indirekt über Ex 24,8 – ebenso Mt 26,28 und Mk 14,24, wo nicht vom „neuen Bund“ im Blut Jesu die Rede ist, von Jer 31,31 her zu verstehen (vgl. A. Schenker, Das Neue am
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g. Der „neue Bund“ als der „bessere Bund“ Der in Hebr 12,24 erwähnte „neue Bund“ (diaqh,kh ne,a), dessen Mittler Jesus ist, erscheint nun als die Erfüllung dieses in Jer 31,31ff verheissenen Gottesbundes. Nachdem der Verfasser des Hebräerbriefs zweimal einen „besseren Bund“ erwähnt hat (vgl. 7,22 und 8,6: krei,ttwn diaqh,kh), zitiert er nämlich in Hebr 8,8–12 – krei,ttwn erklärend – JerLXX 38,31–34.692 Die Bedeutung dieses längsten alttestamentlichen Zitats des Hebräerbriefs – es ist das längste im Neuen Testament überhaupt! – kann man kaum überschätzen. Auch wenn der Verfasser in Hebr 8,13 vom zitierten Text vorerst nur das Stichwort „neuer Bund“ im Kontrast mit dem Ersten bzw. Alten Bund aufgreift – jeder Vers des Prätextes muss für den Autor wichtig sein. In 8,6 spricht er nämlich von den „besseren Verheissungen“ (krei,ttosin evpaggeli,aij), aufgrund derer der bessere Bund (von Gott) „gesetzlich festgelegt worden ist“693 (nenomoqe,thtai). Diese Verheissungen finden ihre konkrete Entsprechung in den ab 8,8 zitierten göttlichen „Ich werde“-Aussagen (vgl. z. B.: suntele,sw […] diaqh,khn kainh,n − au[th h` diaqh,kh( h]n diaqh,somai − evpi. kardi,aj auvtw/n evpigra,yw [no,mouj] − e;somai auvtoi/j eivj qeo,n − i[lewj e;somai − tw/n a`martiw/n auvtw/n ouv mh. mnhsqw/ e;ti) und in den futurischen Heilsbeschreibungen des Volkes (vgl. z. B.: auvtoi. e;sontai, moi eivj lao,n − pa,ntej eivdh,sousi,n me).694 Die gewichtigste Segensverheissung im Neuen Bund ist für den Verfasser freilich jene, dass Gott der Sünden (tw/n a`martiw/n) nicht mehr gedenken wird. neuen Bund und das Alte am alten. Jer 31 in der hebräischen und griechischen Bibel, von der Textgeschichte zu Theologie, Synagoge und Kirche, FRLANT 212, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2006, 73–78). Formal lehnt sich Paulus in Röm 11,26f an JesLXX 59,20f und in Röm 11,27 wohl auch an JesLXX 29,7 an; inhaltlich ist die Aussage in Röm 11,27 au[th auvtoi/j h` parV evmou/ diaqh,kh( o[tan avfe,lwmai ta.j a`marti,aj auvtw/n aber sehr wahrscheinlich auch eine Anlehnung an JerLXX 38,33f (o[ti au[th h` diaqh,kh h]n diaqh,somai tw/| oi;kw| Israhl […] tw/n a`martiw/n auvtw/n ouv mh. mnhsqw/ e;ti); so z. B. auch Schreiner, Romans, 619 und Kruse, Romans, 444f. Bei den „zwei Bündnissen“ (du,o diaqh/kai) in Gal 4,24 geht es offensichtlich um den Kontrast zwischen dem alten Sinai-Bund im Gesetz (4,21) und einem neuen (!) Bund in Christus (4,19) und der durch ihn vermittelten Freiheit (4,26); vgl. dazu auch E. Grässer, Der Alte Bund im Neuen. Exegetische Studien zur Israelfrage im Neuen Testament, WUNT 35, Tübingen: Mohr Siebeck, 1985, 69ff. 692 Die meisten Abweichungen von der uns bekannten LXX erklären sich wahrscheinlich durch eine „different LXX version that was utilised by the author of Hebrews“ (vgl. Steyn, Quest, 266). Die Umstellungen in Hebr 8,16f sind offenbar vor allem rhetorisch motiviert (ebd., 261–263). 693 Vgl. Grässer, Hebräer II, 77. 694 So mit vielen anderen z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 440f. Die futurisch-eschatologische Sprache in JerLXX 38,31–34 – insbesondere auch die Eröffnungsworte ivdou. h`me,rai e;rcontai – wird für den endzeitlich denkenden Autor (vgl. Hebr 1,2: evpV evsca,tou tw/n h`merw/n tou,twn) neben der urchristlichen Deutungstradition mit ein Grund für die christologische Interpretation der Verse gewesen sein (zu den auffällig häufigen Futurformen in alttestamentlichen Zitaten im Hebr vgl. Steyn, Quest, 268).
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Dies belegt einerseits die auf das Jeremia-Zitat folgende ausführliche Darlegung über den besseren Opferdienst Jesu im Neuen Bund (9,1ff), der das Ziel der Aufhebung der Sünden erreicht hat (vgl. 9,26: eivj avqe,thsin Îth/j] a`marti,aj, siehe auch 10,3695!), andererseits auch 10,16f, wo von den zahlreichen Verheissungen des Neuen Bundes aus JerLXX 38,33–34 – abgesehen von der Verheissung der Herzensveränderung – nur jene der göttlichen Sündenlöschung bzw. Sündenamnesie aufgegriffen wird, die der Verfasser in 10,18 als Sündenvergebung (a;fesij) interpretiert.696 Die anderen Verheissungen sind aber offenbar im Gedankengang des Hebr ebenso präsent.697 So umfasst das Vollkommen-gemacht-worden-Sein der Gläubigen im Opfer Jesu (10,14) neben der Löschung ihrer Sünden vor Gott (10,17) auch das Erhalten der göttlichen Gebote in ihr Herz bzw. dessen Prägung zum Gehorsam698 (10,16: didou.j no,mouj mou evpi. kardi,aj, vgl. dazu die reinigende Besprengung der Herzen in 10,22, die nach 9,14 wahren Gottesdienst möglich macht).699 Die Zusage der Gottesgemeinschaft (8,10: e;somai auvtoi/j eivj qeo,n( kai. auvtoi. e;sontai, moi eivj lao,n) gilt zwar schon für den Ersten Bund (vgl. z. B. Ex 6,7; Lev 26,12; Dtn 29,12) und wird im Hebr nirgends sonst explizit aufgegriffen. Aber da „das Motiv einer eschatologisch-kultischen Gottesgemeinde […] uns ja ständig begegnet“700, darf man davon ausgehen, dass auch sie für den Hebr signifikant ist, weil sie erst in Jesus ihre endgültige Verwirklichung erfährt701: Gott wird für die Gläubigen in Jesus nicht nur zu ihrem Gott (vgl. Hebr 12,29: o` qeo.j h`mw/n), sondern gar zu ihrem Vater, insofern sie durch Jesus zu Kindern (2,14) bzw. Söhnen (2,10) bzw. Erstgeborenen (12,23) von ihm
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Die alljährliche avna,mnhsij a`martiw/n im Alten Bund ist eine bewusst gewählte Negativfolie zur in Hebr 8,12 zitierten Aussage Gottes im Neuen Bund: tw/n a`martiw/n auvtw/n ouv mh. mnhsqw/ e;tiÅ 696 Zur Identifikation von Sündenamnesie und Sündenvergebung vgl. Fuhrmann, Vergeben, 158ff. 697 Gegen J. Frey, „Die alte und neue διαθήκη nach dem Hebräerbrief“, in: F. Avemarie (Hg.), Bund und Tora. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher frühjüdischer und urchristlicher Tradition, WUNT 92, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996, 274: „Die im Kontext mitzitierten Zusagen der ins Herz gegebenen Tora und der Gotteserkenntnis sowie die Bundesformel werden in der weiteren Argumentation nicht berücksichtigt“. 698 Da le,gei ku,rioj vom Autor offensichtlich in Beziehung zu meta. ga.r to. eivrhke,nai gesetzt wird (vgl. Grässer, Hebräer II, 201: „spricht der Herr (danach): […]“) erscheint didou.j no,mouj mou evpi. kardi,aj auvtw/n kai. evpi. th.n dia,noian auvtw/n evpigra,yw auvtou,j als Teil des Zeugnisses durch den Heiligen Geist in Bezug auf die Vervollkommnung der Gläubigen. 699 Auch die Ersetzung von tw/| oi;kw| VIsrah.l (vgl. 8,10) durch pro.j auvtou.j in Hebr 10,16 schafft eine Verbindung zu der in 10,14f angesprochenen Gemeinde (vgl. marturei/ de. h`mi/n). 700 Vgl. Schierse, Verheissung, 140. 701 So z. B. auch Moffatt, Hebrews, 110.
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werden; und erst in Jesus wird auch die eschatologisch-futurische Gemeinschaft der Kinder bzw. des Volkes mit Gott im Sinn eines real-verwirklichten Seins bei ihm möglich sein (vgl. z. B. 12,23, wonach die evkklhsi,a prwtoto,kwn in unmittelbarer Nähe zu Gott ist)702. Die Verheissung einer umfassenden Gotteserkenntnis im Neuen Bund (8,11: pa,ntej eivdh,sousi,n me) deckt sich mit der Beschreibung der Gläubigen als fwtisqe,ntej und findet möglicherweise ihren Nachhall in 10,26 (meta. to. labei/n th.n evpi,gnwsin th/j avlhqei,aj).703 Der Neue Bund ist aber nicht nur wegen dieser besseren Verheissungen der „bessere Bund“ (vgl. Hebr 7,22; 8,6). Auch seine „verbürgte Verwirklichung“704 macht ihn besser. Diese verbürgte Verwirklichung des Neuen Bundes ist zunächst mit dem den Ewigkeitscharakter signalisierenden Eid (o`rkwmosi,a) Gottes verknüpft (vgl. 7,20–22705). Auch der passivus divinus nenomoqe,thtai in 8,6 (der Bund „wurde“ von Gott „gesetzlich festgelegt“) versteht das Reden Gottes (vgl. evpaggeli,ai) in Bezug auf den Bund eidartig im Sinn von rechtlich gültig.706 Die verbürgte Verwirklichung des Neuen Bundes hängt weiter an Jesus als ewig bleibendem (vgl. 7,21.24) Garant des Bundes (7,22: diaqh,khj e;gguoj). Der Neue Bund ist mit dieser verbürgten Verwirklichung707 auch ein „ewiger Bund“ (vgl. 13,20: diaqh,kh aivw,nioj) und als solcher „besser“ als der zerbrechliche und zeitlich begrenzte Alte Bund (vgl. 8,9: auvtoi. ouvk evne,meinan evn th/| diaqh,kh| mou, sowie 8,13: to. de. palaiou,menon kai. ghra,skon evggu.j avfanismou/). Auch die „besseren Schlachtopfer“ (vgl. Hebr 9,23: krei,ttosin qusi,aij), die offenbar das Opfer Jesu am Kreuz bzw. das in den Himmel mitgenommene Blut Jesu meinen (↑ B.IV.2.3.2.c.iv), machen den Neuen Bund zum „besseren Bund“, weil das „Opfer“ Jesu die „Aufhebung der Sünde“708 gebracht hat (vgl. 702 Eine futurisch-eschatologische Deutung der Bundesformel in diesem Sinn ist auf jeden Fall mit Offb 21,3 belegt. Selbst Backhaus, der im Mittelteil des Jeremia-Zitats eigentlich „keine unmittelbare Relevanz“ für den Hebr erkennt, sagt u. a. zur Bundesformel, dass sie in Bildern das zum Ausdruck bringt, „worum es auch seiner prose,rcesqai-Theologie geht: die eschatologische Gottesgemeinschaft“ (vgl. Backhaus, Bund, 169; vgl. auch Backhaus, „Land“, 185: „Die an die Christen ergangene Verheissung wie jene, die sowohl an die Väter als auch an die Christen erging, zielt allein auf das eschatologische Hoffnungsgut, also auf die vollendete Gottesgemeinschaft“). 703 Ähnlich auch Schierse, Verheissung, 140. 704 Vgl. Grässer, Hebräer II, 95. 705 Im Gegensatz zu den Priestern des Alten Bundes wird Jesus als Priester (und damit Bundesinitiator) mit einem Eid eingesetzt; vgl. zum Ganzen Backhaus, Bund, 87f.363 und Frey, „διαθήκη“, 273f. 706 Grässer sieht in nenomoqe,thtai sogar eine Anlehnung an den lo,goj de. th/j o`rkwmosi,aj in 7,28 (vgl. Grässer, Hebräer II, 94). 707 Vgl. auch die in Hebr 8,10 erwähnte Herzensverwandlung, die einen erneuten Bundesbruch (8,10) verhindern soll. 708 So nach der Übersetzung von Backhaus, Hebräerbrief, 334.
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9,26: nuni. de. a[pax evpi. suntelei,a| tw/n aivw,nwn eivj avqe,thsin Îth/jÐ a`marti,aj dia. th/j qusi,aj auvtou/ pefane,rwtai), die die Opfer des Alten Bundes nicht bewirken konnten (vgl. 10,3f). Der „neue Bund“ ist weiter auch „besser“, weil er nach Hebr 9,15 ein ewiges Erbe mit sich bringt (aivw,nioj klhronomi,a), das wohl nach 11,8 (evxelqei/n eivj to,pon o]n h;mellen lamba,nein eivj klhronomi,an) die „himmlische“ patri,j (11,14.16) bzw. po,lij (11,10; 12,22; 13,14) bzw. den eschatologischen Ruheort (4,1–11) meint.709 Schliesslich ist der Neue Bund auch durch den freien Zugang zu Gott besser710: Der „bessere Bund“ in 7,22 (krei,ttwn diaqh,kh) entspricht der „besseren Hoffnung“ in 7,19 (krei,ttwn evlpi,j), durch die man Gott nahen kann (diV h-j evggi,zomen tw/| qew/|).711 h. Der (unpolemische) Kontrast zum Alten Bund Von grosser Bedeutung für das Verständnis des „Neuen Bundes“ im Hebr ist auch der bereits mehrfach angetönte Kontrast zum Ersten bzw. Alten Bund. Dieser Kontrast zeigt sich schon bei der Ersterwähnung von diaqh,kh durch den Komparativ krei,ttwn, der die höhere Qualität und den grösseren Heilsnutzen des Jesus-Bundes im Vergleich zu einem anderen Bund betonen möchte.712 Diese andere diaqh,kh wird in 8,6 als h` prw,th bezeichnet und durch das Zitat in 8,9 mit dem Sinai-Bund identifiziert (vgl. den Bund mit den Vätern beim Exodus).713 Dies belegen auch die Ausführungen in Hebr 9,18–20, wonach die prw,th diaqh,kh durch Mose und seine Blutsbesprengung des Volkes inauguriert wurde (vgl. evgkekai,nistai), wobei sich der Autor an den in Ex 24,3–8 beschriebenen Bundesschluss am Sinai anlehnt. Dieser ältere Bund vom Sinai umfasst für den Verfasser des Hebräerbriefs offenbar auch den kultisch-priesterlichen Dienst, der nach dem Bundesschluss ausgeübt wurde. So wird z. B. in Hebr 9,21 unmittelbar nach dem Bundeschluss (vgl. 9,20) die mosaische Besprengung der „Gefässe des Dienstes“ (skeu,h th/j leitourgi,aj) erwähnt (vgl. dazu Lev 8,17 und Num 19,18).714 Und nach Hebr 9,1 gehören zum Ersten Bund (h` prw,th) „Vorschriften für den priesterlichen Dienst sowie das weltliche Heiligtum“715 (dikaiw,mata latrei,aj to, te
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Vgl. Grässer, Hebräer II, 170. So auch Backhaus, Bund, 88 und Frey, „διαθήκη“, 274. 711 Vgl. auch 7,25: tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew/|. 712 So richtig Backhaus, Bund, 87. 713 Dies entspricht offenbar auch dem intendierten Verständnis des gebrochenen Bundes nach Jer 31,33ff (vgl. Neef, „Bundestheologie“, 15). 714 Vgl. auch die Erwähnung der kibwto,j th/j diaqh,khj parallel zum kultisch relevanten i`lasth,rion in Hebr 9,4f mit dem in 9,7 geschilderten Hohepriesterritus im Allerheiligsten. 715 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 448. 710
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a[gion kosmiko,n), die nach Hebr 9,7 insbesondere auch den Dienst des „Hohepriesters“ betreffen. Aufgrund dieser Verbindung des Ersten Bundes mit dem levitischen Priestertum bzw. aaronitischen Hohepriestertum sowie mit Mose als Bundesmittler kann man feststellen, dass der auctor ad Hebraeos den Kontrast „Neuer Bund versus Alten Bund“ indirekt schon vor 7,22 bzw. 8,6ff thematisiert (vgl. z. B. die synkrisis von Jesus und Mose als den beiden Bundesmittlern in 3,1–6, jene von Jesus und Aaron als den beiden Hohepriestern der jeweiligen Heilsordnung in 4,14–5,10 sowie jene vom levitischen und dem messianischen Priestertum kata. th.n ta,xin Melcise,dek).716 Der Kontrast findet dann mit grosser Schärfe in 8,13 seinen Höhepunkt, wonach der Erste Bund durch die göttliche Verheissung des Neuen Bundes für „veraltet“ erklärt717 oder – grammatikalisch naheliegender – von Gott alt bzw. überflüssig gemacht (pepalai,wken th.n prw,thn)718, d. h. ans Ende gebracht worden ist (vgl. evggu.j avfanismou/).719 Der Neue Bund ist für den Verfasser des Hebräerbriefs also keine Erneuerung des Ersten Bundes – was offenbar auch der Aussageintention von Jer 31,31–34 entspricht720 –, sondern ein radikal neugeschaffener. Was hat den Neuen Bund für den Verfasser nötig gemacht? Auch wenn der im Jeremia-Zitat erwähnte Bundesbruch (Hebr 8,9) durch die Zitateinleitung („tadelnd spricht er zu ihnen“) in 8,8 in gewisser Weise betont wird, so ist dieser Bruch nicht der letzte Grund für die Schaffung eines neuen Bundes.721 Der Neue Bund musste vielmehr wegen der Schwäche bzw. Unvollkommenheit bzw. heilsmässigen Insuffizienz des Ersten eingesetzt werden (vgl. 7,18: dia. to. auvth/j [sc. proagou,shj evntolh/j] avsqene.j kai. avnwfele,j).722 Nach Hebr 7,11
716
Auch für Frey wird die Bundesthematik durch diese „antitypischen Vergleiche“ „sorgfältig vorbereitet“ (vgl. Frey, „διαθήκη“, 268). 717 Vgl. z. B. Braun, Hebräer, 245 und Hegermann, Hebräer, 167. 718 So z. B. Johnson, Hebrews, 204.209 („made old“); O’Brien, Hebrews, 293.303 („made obsolete“). 719 Auch wenn man sich für das „als veraltet Erklären“ entscheidet, durch den performativen Charakter von Gottes Wort ist der Erste Bund veraltet (vgl. dazu Backhaus, Hebräerbrief, 299). 720 Vgl. dazu Gross, „Neuer Bund“, 59: „[N]eu betont die Diskontinuität und schliesst alles Vorausgehende zu einer vorläufigen bzw. überwundenen Grösse zusammen, von der der neue Bund sich abhebt“. Schenker hingegen versteht den Neuen Bund nach dem MT – yttn auf das vergangene Geben der Tora beziehend – als erneuerten Bund (vgl. Schenker, Bund, 17–37); vgl. dazu aber Gross, „Neuer Bund“, 42, Anm. 3. 721 Gegen Schenker, Bund, 71–73; vgl. auch die durchaus interessante These eines gebrochenen Bundes im Hintergrund von Hebr 9,15–22 (vgl. S. W. Hahn, „A Broken Covenant and the Curse of Death: A Study of Hebrews 9:15-22“, in: CBQ 66.3/2004, 416–436). 722 So bezieht sich auch das tadelnde Sprechen in 8,8 (memfo,menoj ga.r auvtou.j le,gei) nicht allein auf den Bundesbruch in 8,9, sondern mit Blick auf die Aussage in 8,7 (eiv ga.r h` prw,th evkei,nh h=n a;memptoj, ouvk a'n deute,raj evzhtei/to to,poj), die wiederum die krei,ttwn
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konnte das levitische Priestertum des Alten Bundes die Vollendung (telei,wsij) nicht bringen (vgl. 7,19: ouvde.n ga.r evtelei,wsen o` no,moj). Konkret: Die Opfer des Ersten Bundes konnten die Menschen nicht vollkommen machen (10,1: ouvde,pote du,natai tou.j prosercome,nouj teleiw/sai). Vollendung bzw. Vollkommen-gemacht-Werden heisst für den Verfasser des Hebräerbriefs zunächst einmal bleibende Reinigung bzw. Löschung der Sünden (vgl. z. B. 10,14–18). Und die blutigen Tier-Opfer des Alten Bundes waren dazu nicht in der Lage: Tierblut kann Sünden nicht wegnehmen, wie es in 10,4 axiomatisch festgehalten wird (avdu,naton ga.r ai-ma tau,rwn kai. tra,gwn avfairei/n a`marti,aj, vgl. auch 10,11!). Es geht dem Autor an dieser Stelle offenbar weder darum, dem Opferkult jede Wirksamkeit abzusprechen (vgl. 9,13: a`gia,zei pro.j th.n th/j sarko.j kaqaro,thta, sowie 9,22: evn ai[mati pa,nta kaqari,zetai kata. to.n no,mon!), noch darum, die Schwäche des Alten Bundes lediglich auf die Sühneunfähigkeit von bewussten bzw. unerlässlichen Sünden zu beschränken723. Die Aussage in Hebr 10,4 ist vielmehr auf dem Hintergrund von drei eng miteinander verknüpften Überzeugungen des Verfassers zu verstehen. 1) Die Opfer des Ersten Bundes können die Sünden der Menschen nicht für immer wegnehmen, was mehrfach durch die Gegenüberstellung der nötigen Opferwiederholung im Alten Bund zum einmaligen (vgl. a[pax bzw. evfa,pax!), ausreichenden Opfer im Neuen Bund verdeutlicht wird (vgl. z. B. 7,27; 9,14.25f; 10,1f.10f)724. 2) Die Opfer können die Sünden nicht völlig wegnehmen, weil sie das Gewissen nicht zu reinigen vermögen (vgl. 9,13f)725 – erst wenn das anklagende Sündenbewusstsein (sunei,dhsij a`martiw/n, vgl. 10,22: sunei,dhsij ponhra,!) weg ist, sind Sünden wirklich entfernt (vgl. 10,2)726. 3) Die Opfer können die Sünden nicht vor Gott wegnehmen, weil die Opfer regelmässig stattfinden und Gott so immer wieder an die Sünden erinnern (vgl. 10,3: evn auvtai/j avna,mnhsij a`martiw/n katV evniauto,n 727). Erst durch das Opfer
diaqh,kh bzw. die krei,ttouj evpaggeli,ai aufgreift, offenbar auch auf die geringere Qualität bzw. den kleineren Heilsnutzen, d. h. die Mängel des Alten Bundes. 723 So z. B. Ellingworth, Hebrews, 497f; vgl. aber dazu Löhr, Umkehr, 22–68. 724 Vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 261f: „The argument presupposes the potency of blood for securing cleansing from defilement acknowledged in 9:22: the blood of animals cannot effect a definitive removal of sins. The issue is not whether the blood of bulls and goats sacrificed during the annual observances of the Day of Atonement […] has any power to effect cleansing, but whether it has the potency to effect a decisive cleansing“. 725 Vgl. auch 9,9: mh. duna,menai kata. sunei,dhsin teleiw/sai to.n latreu,onta. 726 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 432: „[S]in is completely removed only when the conscience is purged, the partial cleansing provided by animal sacrifice is not considered a removal of sin (9,13)“. 727 Hebr 10,3 bezieht sich auf das menschliche Erinnern (vgl. V.2: sunei,dhsin a`martiw/n), aber offenbar nicht nur; vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 344: „Die allgemeine Formulierung in
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Jesu sind die Sünden für immer weggenommen (vgl. z. B. 9,12: aivw,nioj lu,trwsij), in ihrer das Gewissen belastenden Weise völlig entfernt (9,14) und im Gedächtnis Gottes gelöscht (10,17), weil sie vergeben wurden (10,18); erst in der Selbsthingabe Jesu war die „Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund“ möglich (9,15). Die Vollendung bzw. das Vollkommen-gemacht-Werden umfasst für den Hebr – basierend auf der Reinigung von den Sünden – auch die Möglichkeit des freien Zugangs zu Gott (vgl. v. a. Hebr 7,19) und der futurisch-eschatologisch erreichten vollen Gottesgemeinschaft (vgl. v. a. 11,40 und 12,23).728 In Hebr 9,7 betont der Autor, dass dieser Zugang zu Gott im Ersten Bund nur sehr beschränkt möglich war: Nur einer, nämlich der Hohepriester, durfte einmal im Jahr in das irdische (vgl. 9,1: to, te a[gion kosmiko,n!) Allerheiligste treten. Der andauernde Zutritt für alle Gläubigen ins himmlische (vgl. 9,11f) Allerheiligste, d. h. in die unmittelbare, wahre Gegenwart Gottes, war noch verwehrt (vgl. 9,8: mh,pw pefanerw/sqai th.n tw/n a`gi,wn o`do.n) und ist erst im Neuen Bund gewährt: Jesus ist als „Vorläufer“ (pro,dromoj), dem alle Gläubigen einmal folgen dürfen, in das „Innere des Vorhangs“ (eivj to. evsw,teron tou/ katapeta,smatoj), d. h. ins himmlische Heiligtum bzw. in die unmittelbare Gottesgegenwart, hineingegangen (vgl. 6,19f)729. Und durch ihn bzw. sein Blut können die Gläubigen schon jetzt (vgl. die Gegenwartsformen!) in gewisser Weise ins Allerheiligste (vgl. Hebr 10,19.22: :Econtej […] parrhsi,an eivj th.n ei;sodon tw/n a`gi,wn evn tw/| ai[mati VIhsou/ […] prosercw,meqa!) bzw. zu Gottes Thron (vgl. prosercw,meqa […] tw/| qro,nw| th/j ca,ritoj) bzw. zu Gott selbst hinzutreten (vgl. z. B. 7,25: tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew).730 Diese Unvollkommenheit des Ersten Bundes im Sinn des Unvermögens, den Menschen die telei,wsij – also die umfassende Sündenvergebung und volle Gottesgemeinschaft – zu bringen, wird durch den Verfasser des Hebräerbriefs zu Beginn des Jeremia-Zitats in 8,8 mittels einer kleinen Abweichung zum Prätext wortgewaltig auf den Punkt gebracht: Gott verheisst nicht, einen Neuen
V.3 lässt vermuten, dass der Opferkult auch Gott an die menschliche Sündhaftigkeit ,erinnert‘. Erst im Neuen Bund wird Gott der Sünden seines Volkes nicht mehr gedenken (10,17f)“. 728 Vgl. dazu die Ausführungen unter B.IV.2.2.3.c.i−ii. 729 Vgl. dazu Grässer, Hebräer I, 386f. 730 Der Ein- bzw. Zugang in das himmlische Heiligtum bzw. Allerheiligste ist letztlich eine Metapher für den Ein- bzw. Zugang in die Gegenwart Gottes, so z. B. auch C.-P. März, „‚Der neue lebendige Weg durch den Vorhang hindurch …‘: Zur Soteriologie des Hebräerbriefes“, in: C.-P. März, Studien zum Hebräerbrief, SBAB 39, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2005, 155: „Es geht um die Ermächtigung des Eintritts bzw. die Eröffnung des Zugangs zu dem Bereich Gottes bzw. zu Gott selbst“; er spricht auch von der „Transzendenz des ,göttlichen Bereichs‘“ und vom „wahren Heiligtum“ als der „Gegenwart Gottes“.
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Bund zu schliessen (LXX: diaqh,somai), sondern zu „vollenden“ (suntele,sw […] diaqh,khn kainh,n)!731 Die Darstellung des Neuen Bundes in seiner Erhabenheit über den Alten Bund ist im Hebr aber kaum polemisch bzw. antijüdisch motiviert.732 Sie negiert den Wert des ehemaligen Bundes nicht. Die alte Heilsordnung wurde (ebenso wie die neue) von Gott begründet (vgl. z. B. Hebr 5,4; 8,5733) und hatte ihre Wirkung (9,13; 9,22)734 und Berechtigung bis „zu einer Zeit einer richtigen Ordnung“ (9,10). Selbst jetzt, wo durch die Einsetzung Jesu als Hohepriester die Kulttora bzw. der Alte Bund ersetzt bzw. transformiert ist (7,12: no,mou meta,qesij, vgl. 7,18)735, bleibt die Bedeutung des Alten Bundes erhalten, wie Dunnill treffend bemerkt: „In imitating both the form and the content of the Pentateuch […] Hebrews is confessing that it is not only interpreting scripture, but also being interpreted by it. Whatever the newness of the gospel and the authority of the Christ-event which it proclaims [sic!], it must be subjected to the shape and power of the old covenant, be a ,transformation‘ of it, spring from the same root in God.“736
Der Alte Bund dient als „Abbild“ (vgl. Hebr 8,5: u`po,deigma) des Neuen. Auch die Neue Diatheke hat einen Hohepriester, ein Opfer, ein Heiligtum. Das neutestamentliche Heilsgeschehen wird auf dem Grund des alttestamentlichen Versöhnungstages (v. a. Lev 16) entfaltet.737 Die zentrale Gesetzmässigkeit „ohne Blutvergiessen gibt es keine Vergebung“ (Hebr 9,22: cwri.j ai`matekcusi,aj ouv gi,netai a;fesij, vgl. 9,7: ouv cwri.j ai[matoj) im Ersten Bund (vgl.
731
Die Abweichung ist kaum mit einer alternativen Textvorlage zu erklären (so auch Steyn, Quest, 263); zu ihrer theologischen Bedeutung, die Steyn („probably a stylistic variant“) übersieht, vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 368f. 732 So richtig Käsemann, Gottesvolk, 35; Frey, „διαθήκη“, 304 und Backhaus, Bund, 341. 733 In Hebr 5,4 wird die göttliche Berufung Aarons, des Hohepriesters des Ersten Bundes, erwähnt; in 8,5 ist die Rede davon, dass Mose beim Errichten der Stiftshütte – ein wichtiger Teil des Alten Bundes (vgl. 9,1) – „göttliche Weisung empfing“ (kecrhma,tistai) und Gott (fhsi,n) zu ihm die zitierten Tora-Worte sagte (vgl. dazu Grässer, Hebräer II, 89). 734 Gegen Frey, „διαθήκη“, 304, der von einer durch den Hebr behaupteten „radikalen Unwirksamkeit der Sinai-diaqh,kh“ spricht. Im Alten Bund gab es nach 9,22 durchaus eine gewisse Reinigung (kaqari,zetai, vgl. 9,13), ja gar eine gewisse Vergebung der Sünde (a;fesij); dazu überzeugend Michel, Hebräer, 321. 735 Vgl. dazu z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 269f und Grässer, Hebräer II, 39: „Auch wenn der Hebr zwischen Kult- und Moralgesetz nicht differenziert, so ist für ihn der no,moj doch in erster Linie das Kultgesetz (7,5.28; 8,4; 9,19.22; 10,8 u.ö.), das freilich den ganzen ‚ersten Bund‘ (8,7.13; 10,9b) repräsentiert und durch die ta,xij Melcise,dek rechtskräftig annuliert wird (7,18)“. 736 Dunnill, Covenant, 264. 737 Vgl. dazu z. B. Gäbel, Kulttheologie, 254–310; Fuhrmann, Vergeben, 175–179.
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z. B. Lev 17,11), die die Gesetzmässigkeit „ohne Opfer gibt es keine Vergebung“ impliziert738, gilt auch für den Zweiten Bund: Seine Kraft zur Vergebung liegt ganz im Opfer bzw. im versprengten Blut Jesu (vgl. z. B. Hebr 9,26; 10,14–17). Auch der für den Neuen Bund wichtige Begriff „Blut des Bundes“ (10,29: to. ai-ma th/j diaqh,khj, 13,20: ai[mati diaqh,khj aivwni,ou) schafft eine formale Kontinuität zum Alten Bund. Er greift nämlich ExLXX 24,8 auf (vgl. das Zitat in Hebr 9,20!), wo von der den Sinai-Bund schliessenden mosaischen Blutsbesprengung des Volkes und dem „Blut des Bundes“ (to. ai-ma th/j diaqh,khj) die Rede ist. Das Bundesblut Jesu, das „metonymisch den Tod Christi in Ansehung seiner Sühnewirkung“ meint 739, begründet die Neue Diatheke wie das Tierblut die Alte. Mit Recht betont Käsemann, dass der Alte Bund beim Verfasser des Hebräerbriefs durch seine Funktion „als ‚Schatten‘ und ,Beispiel‘ Anerkennung findet“.740 Marcionitische Schlussfolgerungen bezüglich der im Hebr angedeuteten Aufhebung des Alten Bundes sind auf jeden Fall in zweifacher Hinsicht vorneweg ausgeschlossen. 1) Im Blick auf die zentrale Opferthematik und die Analogie zum Bundesblut der Sinai-Diatheke scheint der auctor ad Hebraeos den Bundesbegriff in gewisser Weise als „cultic order“ zu reinterpretieren.741 Das mosaische Moralgesetz ist infolgedessen kaum von einer Aufhebung des Ersten Bundes mitbetroffen. Dies belegt auch das bezüglich der Vervollkommnung der Gläubigen zitierte Eingeben der göttlichen „Gesetze“ in das menschliche Herz im Neuen Bund (vgl. Hebr 10,16).742 2) Die ganze Tora als Schrift behält ihre volle göttliche Autorität, weil Gott durch sie spricht (vgl. z. B. das Zitat aus ExLXX 24,5 in Hebr 8,5 sowie DtnLXX 31,6 in Hebr 13,5743). Dies gilt offenbar für den Tanach insgesamt. So schreibt z. B. auch Hermann: „Der Vf des Hebr betreibt ‚biblische Theologie‘ […]. Die Autorität der Schrift ist zugleich die Autorität Gottes selbst, der in der Schrift 738
So z. B. richtig Gordon, der vom „sacrifical blood“ spricht (vgl. Gordon, Hebrews,
125). 739
Vgl. Backhaus, Bund, 215. Die Rede vom Blut Jesu ist im Hebr allerdings nicht grundsätzlich metaphorisch zu verstehen (vgl. dazu ausführlich unter B.IV.2.3.2.c.iv). 740 Vgl. Käsemann, Gottesvolk, 35. 741 Vgl. S. Lehne, The New Covenant in Hebrews, JSNT.S 44, Sheffield: JSOT Press, 1990, 122; ähnlich S. W. Hahn, „Covenant, Cult, and the Curse-of-Death: διαθήκη in Hebrews 9:15-22“, in: G. Gelardini (Hg.), Hebrews. Contemporary Methods, New Insights, BIS 75, Leiden: Brill, 2005, 65: „Hebrews is unique in the emphasis it places on ,covenant‘ as a cultic and liturgical institution“. 742 Auch wenn der Neue Bund nach Jer 31,31ff keine Erneuerung des Alten Bundes ist, die Eingabe der geschriebenen Mosetora in die Herzen bewirkt eine klare inhaltliche Kontinuität zwischen den beiden Bündnissen (vgl. dazu Gross, „Neuer Bund“, 61 und Neef, „Bundestheologie“, 15f). 743 Zu Hebr 13,5 vgl. Steyn, Quest, 359ff.
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redet. Damit hat die Schrift konstitutiven Charakter für die Theologie des Hebr“.744 i. Die umfassende Bedeutung des „neuen Bundes“ im Hebräerbrief Fassen wir die wichtigsten Erkenntnisse zum „neuen Bund“ im Hebr zusammen und bringen sein Wesen auf den Punkt. Der Verfasser sieht die in Jer 31,31–34 vorausgesagte Schaffung eines Neuen Bundes im endzeitlichen Heilsgeschehen rund um Jesus erfüllt (8,6ff). Dieser Neue Bund steht in scharfem Kontrast zum Alten Bund (8,13). Durch die besseren Verheissungen (8,6) – insbesondere die Verheissung der vollkommenen göttlichen Sündenamnesie (10,17) –, die verbürgte Verwirklichung (7,20–22), das ewige Erbe (9,15) und der freie Zugang zu Gott (7,19) ist der Neue Bund der bessere (7,22; 8,6). Der Erste Bund wurde wegen seiner heilsmässigen Insuffizienz (7,18) abgelöst: Er konnte die telei,wsij (7,11) im Sinn der bleibenden Sündenvergebung bzw. -reinigung (10,14–18) und der Befähigung zur unmittelbaren Gottesnähe (7,19.25; 10,19ff) nicht bringen. Weil der Neue Bund in besonderem Mass mit dem Thema „Sündenvergebung“ verknüpft ist, kann man ihn durchaus als den „end-gültige[n] Sündenvergebungsbund“ bezeichnen.745 Auf die Sündenvergebung reduzieren darf man ihn allerdings nicht, weil er – basierend auf der avfe,sei bzw. kaqa,rsei a`martiw/n – ebenso fest die gegenwärtige und eschatologische Gottesgemeinschaft umfasst. Infolgedessen ist es durchaus berechtigt, diaqh,kh nicht nur als „Heilsordnung“ oder „Heilssetzung“ zu übersetzen746, sondern auch als „Bund“ im expliziten Sinn eines engen Beziehungsverhältnisses zwischen Gott und Gläubigen. Wie gesagt: Der Bundesbegriff scheint teilweise durchaus als kultische Ordnung reinterpretiert zu sein.747 Aber weil Jesus als mesi,thj diaqh,khj auch „,Beziehungsstifter‘ zwischen Gott und seinem Volk“ ist748, wird im Hebr diaqh,kh als „Bund“ auch zur „ekklesiologische[n] Basismetapher“749 (vgl. 8,10: „und ich werde ihnen Gott und sie werden mir Volk sein“).750 744
Hermann, Schriftauslegung, 92. So Grässer, Hebräer III, 321. 746 Vgl. z. B. Frey, „διαθήκη“, 274ff. 747 Vgl. Lehne, Covenant, 122; ähnlich Hahn, „Covenant“, 65: „Hebrews is unique in the emphasis it places on ,covenant‘ as a cultic and liturgical institution“. 748 Vgl. Backhaus, Bund, 156. 749 Vgl. U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, UTB 2917, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2. Aufl., 2014, 608. 750 Selbst Lehne, die diaqh,kh primär als kultische Ordnung versteht, spricht von einem „Bundesvolk“ (vgl. Lehne, Covenant, 121: „God‘s convenantal lao,j“; ebd., 123: „cultic lao,j on the move“). Das mit dem Bund verbundene Volk ist nach ihr sogar ein Mitgrund für die Thematisierung des Neuen Bundes: „In an environment of varied religious groups, the writer of Heb. chooses the NC [sc. New Covenant] concept as a vehicle for affirming the selfidentity of his readers as members of a cultic group. While this identity is shaped by their 745
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Abschliessend ist festzuhalten, dass der Neue Bund – wie Vanhoye richtig betont – als „un don de Dieu“ erscheint: „[C]’est Dieu qui, avec une générosité inouïe, promet au peuple pécheur le pardon de ses fautes et l’établissement d’une alliance nouvelle“ (vgl. die zitierten göttlichen Verheissungen in 8,8– 12).751 Wie die mesitei,a Jesu, so geht auch die vermittelte diaqh,kh von Gott selbst aus (vgl. z. B. auch den passivus divinus nenomoqe,thtai in 8,6752), wie z. B. auch Attridge schreibt: „Hebrews understands God to have taken the initiative at every step in establishing and reestablishing a relationship with the covenant people“.753 j. Die Erwähnung des „neuen Bundes“ in Hebr 12,24 Was bedeuten nun all diese Erkenntnisse für die nach Hebr 8,8 und 9,15 wiederholte Erwähnung des „neuen Bundes“ (diaqh,kh ne,a) in 12,24? Mit der dortigen Anführung des Begriffes betont der Verfasser m. E. insbesondere drei Dinge: 1) Der „neue Bund“ soll auf die in ihm geschenkte Reinigung bzw. Vergebung bzw. Löschung der Sünden verweisen, die für das Bestehen im Letzten Gericht entscheidend ist (V.23: krith/| […] pa,ntwn); 2) der Begriff „neuer Bund“ expliziert die durch den Bund ermöglichte volle Gottesgemeinschaft der Gläubigen (V.23: qew/|); 3) die Nennung des Neuen Bundes verweist zurück auf V.18–21 und expliziert den Kontrast „Sinai versus Zion“ als Gegenüberstellung des älteren, schwächeren Sinai-Bundes und des neuen, besseren Bundes nach Jer 31,31–34. Letzteres lässt die Menschen an beiden Bergen infolgedessen als zwei verschiedene Bundesgemeinden erscheinen (hier die geängstigte weil unerlöste Gemeinde, da die fröhliche weil geheiligte, versöhnte Gemeinde), die sich in unterschiedlichen Bundesgemeinschaften mit dem Bundesgott befinden (hier das die göttliche Gegenwart nur indirekt wahrnehmende und zur Gottesferne gezwungene Volk, da die vor Gott stehende, ja ihn umschliessende Schar der Erstgeborenen und Gerechten). Mose und Jesus erscheinen als ungleiche Bundesmittler (hier der fernabstehende, angsterfüllte Mensch Mose, da der ewige Sohn Gottes in der vollen Gottesgegenwart). In Bezug auf die in Hebr 12,24 erwähnte diaqh,khn ne,an stellt sich noch die wichtige Frage nach der Absicht hinter der feinen sprachlichen Abweichung zur diaqh,kh| kainh/| in 8,8 (= JerLXX 38,31) und 9,15. Nicht wenige Exegeten roots in the cultic heritage of Israel, they proleptically participate in an utterly new, heavenly cult“ (124). 751 Vgl. Vanhoye, Médiateur, 218. 752 Vgl. Backhaus, Bund, 135: „Das Verbum nomoqete,w weist im passivus divinus auf die Initiative Gottes bei der eschatologischen Heilsordnung“. 753 H. W. Attridge, „God in Hebrews: Urging Children to Heavenly Glory“, in: A. A. Das; F. J. Matera (Hg.), The Forgotten God. Perspectives in Biblical Theology. Essays in Honor of Paul J. Achtemeier, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2002, 208.
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sehen eine bewusste inhaltliche Differenzierung durch den Verfasser. Mit der Wahl des Adjektivs ne,oj soll der Neue Bund als ein „eben entstandener“ bzw. „erst jüngst geschlossene[r]“ Bund hervorgehoben werden.754 Nach Grässer ist er als solcher einerseits „Oppositum zur alt gewordenen ersten Diatheke“ andererseits – den Vergleich mit dem Sinai-Bund verlassend – der „nicht [v]eraltende, [b]leibende und [e]wige“. 755 Für Vanhoye geht es dem Hebr mit der Unterscheidung von diaqh,kh kainh, und diaqh,kh ne,a um die Differenzierung zwischen qualitativer und zeitlicher Neuheit des Bundes: In 8,8 und 9,15 sei eine „alliance […] d’un genre nouveau“ Thema, in 12,24 eine „alliance […] rayonnante de jeunesse“.756 Gegen eine solche inhaltliche Differenzierung wehren sich andere Exegeten. Nach Ellingworth gab es einen fast totalen „overlap of meaning between ne,oj an kaino,j in hellenistic [sic!] Greek“.757 Für Backhaus ist die Variation darum rein stilistisch begründet.758 Eine Entscheidung für oder gegen eine beabsichtigte inhaltliche Differenzierung in Hebr 12,24 fällt nicht leicht. Es mag sein, dass sich – trotz teilweiser synonymer Verwendung der beiden Adjektive – sowohl in der griechischen Umwelt als auch im Neuen Testament eine Unterscheidung von Neuheit bezüglich der Zeit (ne,oj) und bezüglich des Wesens/der Natur einer Sache (kaino,j) erkennen lässt.759 In Hebr 8,13 hat kaino,j allerdings offenbar beide Sinnrichtungen von „neu“: Die diaqh,kh kainh, wird sowohl unter zeitlichem Gesichtspunkt betrachtet – insofern sie die diaqh,kh prw,th als veraltet erklärt – als auch unter ontologisch-qualitativem Aspekt, insofern die dortige Aussage von 8,6 abhängt (krei,ttonoj […] diaqh,khj […] evpi. krei,ttosin evpaggeli,aij). Dies wiederum schliesst freilich nicht aus, dass der auctor ad Hebraeos in Hebr 12,24 mit der Wahl des Adjektivs ne,oj und dessen gängiger Bedeutung „frisch“ bzw. „jung“760 (vgl. z. B. auch Mt 9,17par; 1.Kor 5,7 oder die stete Überset-
754 Zum ersten Ausdruck vgl. B. Weiss, Hebräer, 341, zum zweiten vgl. Strobel, Hebräer, 240; ähnlich z. B. auch Nairne, Hebrews, 103 („[a] young [covenant]“); Spicq, Hébreux II, 409 („[une alliance] toute récente). 755 Vgl. Grässer, Hebräer III, 322; bei Letzterem lehnt er sich an Käsemann, Gottesvolk, 46 an. Vgl. dazu auch Spicq, der von einer„[alliance] éternellement jeune“ spricht (Spicq, Hébreux II, 409). 756 Vgl. Vanhoye, Médiateur, 215; ähnlich auch Westcott, Hebrews, 417: „The Covenant is spoken of as nea, in regard of its recent establishment, and not as kainh, in regard of its character. The Covenant was in relation to Hebrews ,new‘ in time and not only ,new‘ in substance“. 757 Vgl. Ellingworth, Hebrews, 681; so z. B. auch schon Riggenbach, Hebräer, 418. 758 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 447, so z. B. auch Attridge, Hebrews, 376. 759 Vgl. dazu J. Behm, Art. neo,j ktl., ThWNT IV (1942), 899–904; derselbe, Art. kaino,j ktl., ThWNT III (1938/1957), 450–456. Vgl. z. B. aber die Schwierigkeit, dass beim offenbar identischen Kontrast „alter Mensch vs. neuen Mensch“ in Eph 4,22.24 und Kol 3,9f einmal kaino,j und einmal ne,oj palaio,j gegenüber gestellt wird. 760 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1084; Behm, neo,j, 899.
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zung des „Jünglings“ in der LXX mit new,teroj) die in 8,13 bereits angesprochene zeitliche Neuheit bzw. Frische des Neuen Bundes noch einmal besonders betonen möchte. Mit Blick auf Hebr 8,13 ist es durchaus plausibel, dass die diaqh,kh ne,a – den Kontrast zum Sinai-Bund (vgl. 12,18–21) verstärkend – als „jugendlicher“, „frischer“ und „weit entfernt veraltet zu sein [sic!]“761, erscheinen soll. Auch der in Hebr 13,20 betonte ewige Charakter des durch Jesus errichteten Bundes (vgl. die diaqh,kh aivw,nioj) könnte für eine zeitliche Bedeutung der diaqh,kh ne,a sprechen – auch im Sinn eines der Vergänglichkeit fernen, ewig jugendlichen Bundes. Aber selbst wenn es eine leichte inhaltliche Differenzierung durch den Autor geben mag, entspricht die diaqh,kh ne,a in der Hauptsache der diaqh,kh| kainh/|, dem „neuen Bund“, basierend auf der alttestamentlichen Verheissung in Jer 31,31ff.762 2.3.2 ai[mati r`antismou/ krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel – „zum Blut der Besprengung, das Besseres redet als Abel“ Als letzten Zielpunkt der herangetretenen Adressaten nennt der Verfasser des Hebräerbriefs to. ai-ma r`antismou/, das Blut des eben erwähnten Mittlers des Neuen Bundes, Jesus. a. Das Blut der Besprengung Mit ai-ma r`antismou/ meint der Verfasser offenbar nicht das – in Analogie zum Versöhnungstag im Allerheiligsten – versprengte Blut Jesu763, sondern dessen Blut, mit dem die Gläubigen besprengt wurden bzw. werden („Blut der Besprengung“). Dies belegt neben der (einzigen) urchristlichen Parallele in 1.Petr 1,1–2 (evklektoi/j […] eivj […] r`antismo.n ai[matoj VIhsou/ Cristou/, „die auserwählt sind […] zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi“) und dem Gebrauch von r`antismo,j in der LXX (vgl. Num 19,9–21 und das u[dwr r`antismou/, mit dem kultisch Unreine besprengt wurden) vor allem die Verwendung vom Verb r`anti,zein im Hebr, da es schwerpunktmässig Menschen als Objekt hat (vgl. Hebr 9,13.19; 10,22)764.
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Vgl. Bleek, Hebräer III, 951. So sagt Grässer bei aller erkannten inhaltlichen Differenzierung zur Wahl von neo,j letztlich auch: „Sachlich macht das […] keinen Unterschied“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 321). 763 Vgl. z. B. Loader, Sohn, 192 („gemäss 12,24 das Versprengen [des Blutes] im Allerheiligsten“); Witherington, Hebrews, 344 („the blood that is sprinkled on the mercy seat“) und O’Brien, Hebrews, 489 („As on the Day of Atonement, with red heifer and covenant sacrifices, this blood is ‚sprinkled‘ […]. True atonement has been effected through the ‚sprinkling‘ of Christ’s blood“). 764 In 9,19 wird das Verb auch für die Blutsbesprengung des Bundesbuches und in 9,21 für jene des Zeltes und der Gefässe des Dienstes verwendet. Dabei geht es aber nie um das 762
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Mit dem „Blut der Besprengung“ rekapituliert der auctor ad Hebraeos zunächst seine Ausführungen in Hebr 9,13f. In V.13 erwähnt er das Blut von Böcken und Stieren neben der Asche der roten Kuh, die auf Unreine gesprengt worden sei (r`anti,zousa tou.j kekoinwme,nouj).765 Sowohl das Blut als auch die Asche (bzw. das damit hergestellte Reinigungswasser) werden durch den Schluss a minore ad maius in V.14 in einen Gegensatz zum Blut Christi gebracht, wobei offenbar an eine analoge Besprengung mit dem Blut Christi gedacht ist.766 Diese Blutsbesprengung hat zwei mit einander verknüpfte Effekte: 1) die Reinigung des Gewissens von toten Werken (kaqariei/ th.n sunei,dhsin h`mw/n avpo. nekrw/n e;rgwn) sowie 2) die Befähigung zum „rechten Gottesdienst“767 (eivj to. latreu,ein qew/| zw/nti). Ersteres bedeutet die Aufhebung des schlechten (10,22) bzw. mit Sünden belasteten Gewissens (10,2), das mit nicht zum Ziel der Gottesgemeinschaft führenden, d. h. kraftlosen („toten“) menschlichen Anstrengungen verbunden ist.768 Ein solches durch Jesus gereinigtes Gewissen setzt (das Wissen um) die Vergebung der Sünden (10,18) bzw. (das Wissen um) die Heiligung des Menschen voraus (10,14; vgl. auch das parallele a`gia,zei in 9,13 mit 10,14). Zweiteres bedeutet die „Befähigung zur Kultteilnahme und damit zur Gottesgemeinschaft“769, was sich auch aus dem wahr-
„freie“ Versprengen des Blutes, wie es in der Tora in Bezug auf das Ritual vor dem Opferaltar erwähnt wird (vgl. z. B. ExLXX 29,16; LevLXX 1,5.11; 3,2.8.13) – dafür braucht die LXX das Verb proscei/n. Für das Besprengen von Menschen und Gegenständen aber braucht sie das dem r`anti,zein des Hebr entsprechende Verb r`ai,nein. Wichtig ist auch zu sehen, dass das sühnende Besprengen der Bundeslade im Allerheiligsten, wofür die LXX durchaus das Tätigkeitswort r`ai,nein benutzt (vgl. LevLXX 16,14), im Hebr sowohl für das Wirken des alttestamentlichen als auch für dasjenige des neutestamentlichen Hohepriesters unerwähnt bleibt. 765 Eigentlich wurde das aus der Asche gewonnene Reinigungswasser (hdn ym; u[dwr r`antismou/) auf die Menschen gesprengt (vgl. Num 19,9ff). Das auffällige Verschweigen des Wassers könnte den Opfercharakter der Kuh in dem Sinn unterstreichen wollen, dass das Blut in der Asche die eigentliche Reinigung bewirkte; vgl. dazu J. Milgrom, „The Paradox of the Red Cow (Num. XIX)“, in: VT 31.1/1981, 67. Dies wiederum könnte die Erklärung sein für die etwas konfuse Kombination zwischen dem Tierblut und der Kuhasche; eine andere Erklärung bietet Grässer: Der Autor blicke möglicherweise auf die Blutsbesprengung beim Bundesschluss voraus (Grässer, Hebräer II, 157). 766 So z. B. auch Grässer, Hebräer II, 155. Belegt wird dies durch die Aussage, dass das Blut Christi reinigt (kaqariei/), womit klar das Ascheritual aufgegriffen wird, da dies als Applikationsritual zur Reinheit führt (kaqaro,thj). Für Gäbel allerdings wird diese reinigende Besprengung mit dem Blut Christi erst in 12,24 ersichtlich (vgl. Gäbel, Kulttheologie, 384). 767 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 470. 768 Vgl. die überzeugenden Ausführungen von Käsemann, Gottesvolk, 155. Die Interpretation der nekrw/n e;rgwn als todbringende Werke – Sünden! – (vgl. z. B. Hegermann, Hebräer, 240; Lane, Hebrews II, 181; B. D. Smith, The Meaning of Jesus’ Death. Reviewing the New Testament’s Interpretations, London: Bloomsbury, 2017, 29) ist freilich auch möglich. 769 Backhaus, Hebräerbrief, 320.
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scheinlichen Bezug zur alttestamentlichen Rede vom „priesterlichen Gottesvolk“ ergibt770: Das Volk der Gläubigen dient Gott priesterlich, insofern es in seine Nähe tritt. Eine zweite Stelle, die der Verfasser in Hebr 12,24 mit dem „Blut der Besprengung“ rekapituliert, ist Hebr 10,22. Dort fordert er die Gläubigen auf, hinzuzutreten (prosercw,meqa) – nämlich ins himmlische Heiligtum (vgl. 10,19!) –, und zwar als solche, die in/an den Herzen besprengt worden sind (r`erantisme,noi ta.j kardi,aj). Das Mittel der Herzensbesprengung ist offenbar das in 10,19 erwähnte „Blut Jesu“ (vgl. parrhsi,an eivj th.n ei;sodon tw/n a`gi,wn evn tw/| ai[mati VIhsou/).771 Einerseits belegt dies die parallel zur Besprengung erwähnte sakrale Waschung (lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/|), die – der ausgeprägt priesterlichen Sprache in Hebr 10,19–22 entsprechend772 – entweder auf das hohepriesterliche Bad vor dem Eintritt ins Allerheiligste (vgl. Lev 16,14)773 oder – wahrscheinlicher – auf das Priesterweihebad (vgl. Ex 29,5; Lev 8,6) anspielt: Die Gläubigen des Neuen Bundes sind für ihr (priesterliches) Gott-Nahen wie die alttestamentlichen Priester sowohl mit Wasser gewaschen774 als auch mit Blut besprengt (vgl. Ex 29,21; Lev 8,30).775 Andererseits zeigt der Zusatz avpo. suneidh,sewj ponhra/j, dass die Besprengung in Hebr 10,22 mit dem Blut Jesu erfolgt, da er eine Parallele zur gewissensverändernden Blutsbesprengung in 9,14 entstehen lässt. Diese Besprengung der Herzen „vom bösen Gewissen weg“ bedeutet kaum etwas anderes als die Reinigung vom bösen Gewissen.776 Damit entspricht die Blutsbesprengung in Hebr 10,22 bezüglich des Effekts derjenigen in 9,14, zumal auch die zweite Wirkung, die des freien Zugangs zu Gott, identisch ist (vgl. 10,22: prosercw,meqa). Drittens greift der Verfasser mit dem „Blut der Besprengung“ Hebr 9,18f auf, wonach Mose bei der Einweihung des Ersten Bundes das Volk mit Blut besprengt hat (pa,nta to.n lao.n evrra,ntisen). Das in 9,20 als „Blut des Bundes“ näher spezifizierte Besprengungsmittel (vgl. ExLXX 24,8: to. ai-ma th/j diaqh,khj) wird in Hebr 10,29 als Bundesblut des Gottessohnes aufgegriffen (vgl. 13,20: ai-ma diaqh,khj aivwni,ou). Weil Jesus in Hebr 12,24 unmittelbar vor dem „Blut 770
Vgl. dazu Fuhrmann, Vergeben, 207ff. So z. B. auch H.-F. Weiss, Hebräer, 529f; Gäbel, Kulttheologie, 386. 772 Vgl. Scholer, Priests, 125ff. 773 Vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 473f. 774 Ob sich lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/| auf die Bekehrungstaufe bezieht oder nicht, ist umstritten. Dafür sind z. B. Braun, Hebräer, 310; Attridge, Hebrews, 289; S. Byrskog, „Baptism in the Letter to the Hebrews“, in: D. Hellholm; T. Vegge (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, BZNW 176/I, Berlin: de Gruyter, 2011, 595−598; dagegen z. B. Rissi, Theologie, 100; Cockerill, Hebrews, 475f. 775 Vgl. dazu Riggenbach, Hebräer, 316 und Löhr, Umkehr, 264; ähnlich auch Moffatt, Hebrews, 144 und Scholer, Priests, 129. 776 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 12: „die Herzen durch Besprengung gereinigt vom bösen Gewissen“. 771
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der Besprengung“ als diaqh,khj ne,aj mesi,thj bezeichnet wird, liegt es infolgedessen nahe, unter ai-ma r`antismou/ das „Blut des Bundes“ zu verstehen, welches – gesprengt auf die Christusgläubigen – den Neuen Bund mit Gott inauguriert hat.777 Im Kontrast zum Sinai-Geschehen (vgl. Hebr 12,18–21) erscheint es als das bessere Blut der Besprengung. Es initiiert nicht nur das bessere Gemeinschaftsverhältnis mit Gott (vgl. „der bessere Bund“), sondern es heiligt den Gläubigen auch in umfassender Weise (vgl. Hebr 10,29: to. ai-ma th/j diaqh,khj […] evn w-| h`gia,sqh, ähnlich auch 13,12), da es wirklich seine Sünden wegnimmt (vgl. h`giasme,noi in 10,14 im Kontext von 10,4–11) und ihm den „kultisch reinen Zugang zu Gott“ gewährt.778 Eine wichtige Frage ist nun, wann bzw. wie oft sich diese Blutsbesprengung im Leben eines Gläubigen ereignet. Die Reinigung durch das Blut Jesu in Hebr 9,14, die mit der Futurform zum Ausdruck gebracht wird (kaqariei/), darf nicht zur Deutung verleiten, dass die Besprengung erst zukünftig oder mehrmals geschieht: „Das logische Futur“ ist lediglich ein Ausdruck der Notwendigkeit. 779 Die Perfektform r`erantisme,noi in 10,22 zeigt vielmehr auf, dass sie bei den Adressaten bereits geschehen ist. Der Zeitpunkt der reinigenden Besprengung ist offenbar die im Parallelsatz lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/ angesprochene Bekehrungstaufe.780 Auch die Identifizierung des „Blutes der Besprengung“ als „Blut des Bundes“ spricht für diese Einmaligkeit der Blutsbesprengung, da diese nur beim Bundesschluss erfolgt (vgl. auch den komplexiven Aorist in 10,29: h`gia,sqh).
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So z. B. auch Casey, Eschatology, 376f; Bruce, Hebrews, 361; Gäbel, Kulttheologie, 384f; Vanhoye, Hebrews, 395. 778 So Karrer zu Hebr 10,10 (Karrer, Hebräer II, 198). Vgl. auch Michel, Hebräer, 468: Das Blut der Besprengung „dürfte kultisch bezogen sein“, es „sühnt und reinigt (9,13.14: r``anti,zein = a``gia,zein = kaqari,zein)“. 779 So richtig Schunack, Hebräerbrief, 125. 780 Mit Recht sagt Löhr zu der durch das Perfekt als (einmalig) geschehen beschriebenen Reinigung: „[I]n der Tat ist es schwer vorstellbar, wie diese Erinnerung an einen offenbar grundlegenden Akt in der Vergangenheit christlich nicht auf die Taufe anspielen sollte“ (vgl. Löhr, Umkehr, 266). Für die Taufe als Hintergrund der Wendung lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/ spricht: 1) dass die neutestamentliche Taufe als ein Untertauchen des ganzen Körpers (vgl. z. B. Mt 3,16; Apg 8,38f; Röm 6,3f) auch eine Waschung des Leibes ist (vgl. auch Apg 22,6, wonach die Taufe im Zusammenhang mit dem „Ab-waschen“ der Sünden steht: ba,ptisai kai. avpo,lousai ta.j a`marti,aj sou); 2) dass die unmittelbar darauf folgende Aufforderung, die o`mologi,a th/j evlpi,doj festzuhalten (Hebr 10,23), im Blick auf das bei der Taufe abgelegte Bekenntnis naheliegend ist (so auch Hofius, Katapausis, 134 und Ellingworth, Hebrews, 524); 3) dass die parallel zur Waschung erwähnte Reinigung vom bösen Gewissen in 1.Petr 3,21 explizit mit der Taufe verbunden wird (vgl. suneidh,sewj avgaqh/j evperw,thma eivj qeo,n); zur Entkräftung der Argumente, die gegen die Taufinterpretation vorgebracht werden, vgl. P. J. Leithart, „Womb of the World: Baptism and the Priesthood of the New Covenant in Hebrews 10.19-22“, in: JSNT 20.78/2000, 51ff.
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Das „Blut der Besprengung“ hat allerdings durchaus eine kontinuierliche Wirkung für die Gläubigen, insofern es redet bzw. zu einem zukünftigen Zeitpunkt reden wird. b. Das Blut, das Besseres redet als Abel Dass krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel als Attribut von ai[mati r`antismou/ zu sehen, ist in der Forschung allgemeiner Konsens. 781 Sehr umstritten ist allerdings dessen Bedeutung, wobei es schwerpunktmässig um folgende miteinander verknüpfte Fragen geht: − Was genau „redet“ das Blut Jesu? − Redet Abel oder dessen Blut, und was hat dieses Reden für einen Inhalt? − Was bedeutet das komparativische krei/tton? i Die verschiedenen Deutungsvorschläge Die Mehrheit der Exegeten vertritt folgende Deutung: Jesu Blut redet besser bzw. Besseres782 als das Blut Abels, da es nicht wie Letzteres nach (göttlicher) Rache ruft (vgl. Gen 4,10), sondern nach (göttlicher) Vergebung bzw. Gnade respektive nicht anklagt, sondern verteidigt.783 para. to.n {Abel wird dabei als Brachylogie für para. to. ai-ma tou/ {Abel verstanden.784 Gewisse Exegeten, die auch vom Kontrast „Gnadenruf versus Vergeltungsruf“ ausgehen, sehen allerdings Abel als den Redenden.785 Gelegentlich wird das Reden von Abel bzw. dessen Blut auch als positiv angesehen. Es tue Fürsprache bzw. Sühne. So schreibt z. B. Spicq: „Il [sc. der Hebräerautor] voit dans le premier martyr le
781 Smillie steht mit der Loslösung von lalou/nti von ai[mati und der personalen Deutung des Verbs auf Gott hin (vgl. G. R. Smillie, „‚The one who is speaking‘ in Hebrews 12:25“, in: TynB 55.2/2004, 279: „we have come to one who speaks better than Abel“) so ziemlich alleine da; gegen krei/tton lalou/nti als separates Glied von proselhlu,qate spricht das fehlende kai,; eine direkte Bezugnahme auf Gott würde zudem eine Personenwiederholung bedeuten (vgl. V.23: qew/|), was wenig wahrscheinlich ist. 782 Je nachdem, ob man krei/tton adjektivisch oder adverbial versteht. 783 Vgl. z. B. Calvin, Hebraeos, 230f; Bleek, Hebräer III, 952; Westcott, Hebrews, 417; Riggenbach, Hebräer, 419; Montefiore, Hebrews, 233; Braun, Hebräer, 439f; Rissi, Theologie, 81; Hegermann, Hebräer, 251; Strobel, Hebräer, 240; Bruce, Hebrews, 361; Ellingworth, Hebrews, 682; Witherington, Hebrews, 344; Richardson, Pioneer, 171; C. Eberhart, Kultmetaphorik und Christologie. Opfer- und Sühneterminologie im Neuen Testament, WUNT 306, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 153–155; Swetnam, Hebrews, 256. 784 Vgl. z. B. DeSilva, Hebrews, 468, Anm. 58. 785 So z. B. Delitzsch, Hebräer, 652 (allerdings mit der Wiedergabe von krei/tton als „kräftiger“); J. Byron, „Abel’s Blood and the Ongoing Cry for Vengeance“, in: CBQ 73.4/2011, 752.
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type du juste souffrant […], et il compare l’efficacité rédemptrice respective de deux sangs innocents“.786 Für andere Exegeten ist die Frage nach dem (negativen oder positiven) Inhalt der Rede Abels bzw. von dessen Blut irrelevant. Nach Lane, der krei/tton als „more effective“ versteht, geht es dem Verfasser lediglich darum zu betonen: „Christ’s blood accomplishes what Abel’s blood not achieved […]“, nämlich: „redemption and reconciliation“.787 Für Johnson spricht Christi Blut insofern besser als Abel, als dass es 1) „more clearly […] than any word expressed in the story of scripture“, 2) „more powerfully“ (es erreicht alle Menschen!) und 3) „from and of a greater reality“ spricht.788 Für Grässer geht es um eine Gegenüberstellung von dem irdischen (und darum minderen) Reden von Abels Blut und dem himmlischen Reden von Christi Blut. 789 Einen solchen metaphysischen Dualismus des Redens sieht auch Backhaus.790 Allerdings gibt es für ihn, der aufgrund von Hebr 11,4 vom Reden Abels als Glaubensvorbild ausgeht, doch auch noch einen inhaltlichen Kontrast: „Das Blut Jesu spricht insofern Wirkmächtiger bzw. Besseres, als es von der vollendeten Heilswirklichkeit kündet, während Abel als Zeuge einer glaubenden, aber noch unerfüllten Hoffnung spricht“.791 Nach Gäbel ist die Gegenüberstellung vom Reden von Christi Blut und von Abel nicht als Gegensatz, sondern als Steigerung zu verstehen, wobei die „Vergleichsgrösse“ die „Überwindung des Todes des Gerechten und die jenseitige misqapodosi,a Gottes“ ist (vgl. 11,6). Nicht auf dem Inhalt der Rede liege der Akzent, sondern „darauf, dass sie ergeht“, wodurch sie Zeugnis ablege von der Überwindung des Todes. Das Besprengungsblut Christi spreche folglich „um so [sic!] mehr als Abel“. 792 786 Vgl. Spicq, Hébreux II, 410 ; ähnlich mit Verweis auf 4.Makk 6,26; 17,21f auch Attridge, Hebrews, 377: „Our author may have understood him [sc. Abel] as the first martyr whose death, like that of other martyrs, had an atoning significance“; vgl. z. B. auch Mitchell, Hebrews, 284. 787 Vgl. Lane, Hebrews II, 474; ähnlich Son, Zion, 101. 788 Johnson, Hebrews, 333. 789 Vgl. Grässer, Hebräer III, 324. 790 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 447: „Abel appelliert von der Erde hinauf an das Unsichtbare; Jesus eröffnet es vom Himmel herab“. 791 Vgl. ebd. 792 Vgl. Gäbel, Kulttheologie, 383; ihm folgt z. B. auch Karrer, Hebräer II, 339. Auch nach Massonnet geht es um eine Steigerung („de l’ordre du moins vers le plus)“: „[I]l [sc. Abel] parle encore comme témoin de la foi grâce à laquelle il a offert son sacrifice. Mais le sang du Christ […] parle de façon incomparablement supérieure puisqu’il permet l’instauration d’une ‚alliance nouvelle‘“ (vgl. Massonnet, Hébreux, 384). Ein weiterer Deutungsvorschlag, der die Frage nach dem Inhalt der Rede des Blutes Jesu und jener Abels zurückstellt, bringt auch Schunack. Nach ihm geht es um den „typologische[n] Gegensatz, dass im Blut der Besprengung Gott selbst redet, Abels Blut hingegen nach Gott ruft“, worin Letzteres dem Sinai-Geschehen gleiche, insofern „dass auch dort in jenem ‚Wortgetön‘ Gott selbst sich vorenthält und nur sein Gericht anschaulich wird“ (vgl. Schunack, Hebräerbrief, 210).
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ii Der Ruf nach Gnade bzw. Vergebung im Kontrast zum Schrei nach Vergeltung Wie sind all diese Deutungsvorschläge einzuordnen? Meines Erachtens ist es überaus naheliegend, dass der Verfasser mit dem lalei/n Abels in Hebr 12,24 auf seine Aussage in 11,4d rekurriert, wonach Abel durch seinen Glauben (immer) noch redet (diV auvth/j […] e;ti lalei/). Daraus abzuleiten, dass Hebr 12,24 nichts mit dem in Gen 4,10 erwähnten Vergeltungsruf von Abels Blut zu tun haben kann793, ist aber nicht richtig. Denn das in Hebr 11,4d erwähnte Reden nach dem Sterben Abels (avpoqanw,n) bezieht sich höchstwahrscheinlich auf GenLXX 4,10 (fwnh. ai[matoj tou/ avdelfou/ sou boa/| pro,j me).794 Dass dieses Sprechen Abels bzw. seines Blutes mit dem Glauben verknüpft wird (diV pi,stewj lalei/), erklärt sich so: Abel brachte nach Hebr 11,4 durch Glauben (pi,stei) ein besseres Opfer dar als Kain, was zur göttlichen Bestätigung führte, die wiederum den zum Mord führenden Zorn seines Bruders erregte. Infolgedessen ist sowohl der Mord als auch das Rufen des Blutes des Ermordeten ein Glaubenszeugnis. In gewissen Targumim heisst es denn auch explizit, dass Abel wegen seines Glaubens umgebracht worden ist.795 Dass das Rufen Abels bzw. seines Blutes sowohl in Hebr 11,4 als auch in 12,24 in der Gegenwartsform steht, stellt indes kein Problem dar: Nach frühjüdischer Tradition klagt Abel immer noch an (vgl. äthHen 22,7; zum kontinuierlichen Sühneruf von unschuldig Getöteten bzw. von deren Blut vgl. z. B. auch äthHen 9,1−3.10f; 22,12f; 47,1f; 2.Makk 8,3; Offb 6,9ff). Dass der Verfasser in Hebr 12,24 beim Reden Abels an Gen 4,10 und das dort erwähnte Schreien seines Blutes denkt, ist auch abgesehen vom Rekurs auf Hebr 11,4 wegen der Parallelsetzung zum redenden Blut Jesu sehr naheliegend. Da das vergossene Blut Jesu nach Hebr 9,22 die Vergebung der Sünden bringt bzw. gebracht hat (vgl. 10,3–10), scheint mir infolgedessen die Mehrheitsdeutung von Hebr 12,24, dass der Ruf von Christi Blut nach Vergebung mit dem Ruf von Abel bzw. dessen Blut nach Vergeltung kontrastiert wird, richtig zu sein. Dafür spricht m. E., dass das „Blut der Besprengung“ als „Blut des (neuen) Bundes“ – entsprechend dem Blut des Alten Bundes (vgl. Ex 24,5f mit V.8 bzw. Hebr 9,18–20) – ein Opfer-Blut ist und so in enger Verbindung
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Vgl. z. B. Gäbel, Kulttheologie, 383; ähnlich Backhaus, Hebräerbrief, 447. Vgl. dazu die überzeugende Darlegung von Rose, Wolke, 176f; so z. B. auch Hegermann, Hebräer, 227; Ellingworth, Hebrews, 573 und Vanhoye, Hebrews, 342. Dafür spricht neben avpoqanw,n auch die Tatsache, dass in Hebr 11,4a−c bereits ausführlich aus dem Prätext Gen 4,4ff geschöpft wurde (vgl. Rose, Wolke, 160ff). 795 Vgl. den Targum Neophyti und den Targum Pseudo-Jonathan zu Gen 4,8; vgl. dazu auch Rose, Wolke, 177. 794
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zum blutigen Selbstopfer Jesu steht796, das die Vergebung bzw. die Aufhebung der Sünden möglich gemacht hat (vgl. 7,27; 9,26.28; 10,14–18). Ein positiver Inhalt der Rede von Abel bzw. dessen Blut im Sinn einer (sühnenden) Fürsprache ist auf jeden Fall ausgeschlossen. Mit Recht schreibt nämlich Rose: „Das Amt des Interzessors kommt nach dem Zeugnis des Hebr einzig dem himmlischen Hohenpriester [sic!] Christus zu: 7,25; 9,24, vgl. 4,15; 6,19f und 10,19f“.797 Zudem ist das oft gehörte Argument gegen die Mehrheitsinterpretation, dass das komparativische krei/tton nicht einen Gegensatz („schlecht versus gut“) bilden will, sondern eine Steigerung798, nicht berechtigt. Denn auch wenn es in den Stellen, wo die Steigerungsform von avgaqo,j im Hebr vorkommt, meistens um ein Überbieten von etwas nicht Schlechtem geht (vgl. z. B. 1,4: krei,ttwn geno,menoj tw/n avgge,lwn), so ist doch der Gebrauch von krei,ttwn ein zentrales Mittel der synkrisis-Struktur des Hebr799, die sehr wohl Dinge in einen inhaltlich wertenden Gegensatz stellt bzw. die mindere Qualität des Gegenübergestellten betonen kann (vgl. z. B. 7,18f, wonach die krei,ttwn evlpi,j im Gegensatz zur alten evntolh, steht, die dia. to. auvth/j avsqene.j kai. avnwfele,j aufgehoben wurde; oder auch 8,6f, wonach die krei,ttwn diaqh,kh Gegenstück zum nicht tadellosen ersten Bund ist).800 Ausserdem ist das Rufen von Abel bzw. dessen Blut nach göttlicher Vergeltung nicht per se „schlecht“, weil dieses Rufen in gewisser Weise berechtigt ist und darum von Gott (teilweise) erhört wird (vgl. Gen 4,11f).801 Aber selbst wenn man in Hebr 12,24 einen Redekontrast „gut versus schlecht“ sehen möchte, in Hebr 6,8f wird krei,ttwn durchaus in diesem Sinn gebraucht (ta. krei,ssona steht im Gegensatz zum Verflucht- bzw. Verbrannt-Werden!). Dass krei,ttwn im Hebr offenbar durchwegs im Rahmen einer inhaltlichsubstanziellen und nicht bloss formalen Gegenüberstellung verwendet wird (vgl. z. B. 1,4; 7,18f.22; 8,6f; 9,11; 9,23; 10,34; 11,14–16), spricht noch stärker
796
Es geht dem Hebr nicht um ein „Opfer von Blut“, sondern um das Selbstopfer Jesu (so richtig Loader, Sohn, 186), das am Kreuz allerdings auf eine blutige Weise geschah – vgl. dazu mehr unter B.IV.2.3.2.c.iv. 797 So richtig Rose, Wolke, 177, Anm. 155. 798 Vgl. z. B. Schierse, Verheissung, 205; Grässer, Hebräer III, 323; Gäbel, Kulttheologie, 383. 799 Zur synkrisis-Struktur des Hebr vgl. z. B. Martin; Whitlark, „Syncrisis“ 415–439; vgl. dazu auch C.II.1.3. 800 Vgl. dazu auch Backhaus, Bund, 87f. 801 Dies entkräftet auch folgendes Argument von Son: „It is doubtful that the author presented Abel as a righteous man (Heb. 11:4) while crying for vindication, since the image of righteous man is not very well matched with the image of vengeance“ (vgl. Son, Zion, 102, Anm. 121).
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für die Mehrheitsdeutung und gegen die anderen oben aufgeführten Deutungsvorschläge zu 12,24 (↑ B.IV.2.3.2.b.i), die sich nicht auf den Inhalt des Redens, sondern auf die Form des Redens konzentrieren. Wenn krei/tton nicht adverbiell („besser“), sondern substantivisch („Besseres“) zu verstehen ist – was mir mit Blick auf Hebr 11,40 (tou/ qeou/ peri. h`mw/n krei/tto,n ti probleyame,nou) wahrscheinlicher erscheint802 –, wäre dies ein weiteres Argument gegen eine Vernachlässigung des Redeinhalts. Für den Sinn der Aussage spielt der Unterschied zwischen „besser“ und „Besseres“ freilich keine Rolle. Das Gleiche gilt für die Frage, ob Abel oder Abels Blut spricht. Nach Hebr 11,4 scheint Ersteres naheliegender (avpoqanw.n e;ti lalei/): Der Verfasser des Hebräerbriefs legt das in Gen 4,10 erwähnte Rufen des Blutes offenbar als das Reden von Abel selbst aus (vgl. äthHen 22,7, wonach der Geist Abels ruft). Aber auch wenn Abel in Hebr 11,4 und 12,24 der Redende ist, so ist doch sein redendes Blut stets mitgedacht. iii Die Verteidigungsrede beim Letzten Gericht Das Blut Christi redet also von Vergebung bzw. Gnade und spricht darum „Besseres“ als Abel, der nach Vergeltung ruft. Die Frage ist nun, warum der Verfasser diese Gegenüberstellung am Ende seiner Schilderung der Zion-Theophanie bringt. Fuhrmann erklärt dies mit dem Bezug zum göttlichen Gericht803: „Jesus als der den Bund erhaltende Mittler und das (bzw. sein) Blut der Besprengung […] reden besser, nämlich im Gericht wirkungsvoller, als Abel. D.h., Jesu Fürsprache (vgl. Hebr 7,25) und sein verbürgter Einsatz für den Erhalt der diaqh,kh stellen vor Gott einen besseren Garanten für ein gnädiges Urteil dar als die Anklage bzw. das Urteil des – wie Jesus als Gerechter unschuldig getöteten – Abel.“804
Dass das redende Blut Jesu und der redende Abel im Rahmen einer Gerichtsszene zu verstehen sind, scheint mir aus folgenden vier Gründen wahrscheinlich: 1) Hebr 12,22–24 beschreibt, wie dargelegt (↑ B.IV.2.2.2.b), den Moment des göttlichen Endgerichts (vgl. 12,23: krith/| […] pa,ntwn); 2) Abel wird im Frühjudentum als Gerichtsankläger, Gerichtszeuge oder gar Richter gesehen805; 3) das nach Gnade rufende Blut Jesu passt zur im Neuen Testament 802 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 256.261. Die Lesart von P46 (krei,ttona) ist allerdings gewiss sekundär (vgl. Grässer, Hebräer III, 322, Anm. 39). 803 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 261. 804 Fuhrmann, Vergeben, 135. 805 Nach äthHen 22,7 klagt der Geist Abels an, bis Kain und seine ganze Nachkommenschaft (!) von Gott am Tag des Gerichts (vgl. 22,10) endgültig bestraft sind; Abel erscheint an dieser Stelle als typischer „accuser of the wicked“ (vgl. dazu J. Byron, Cain and Abel in Text and Tradition. Jewish and Christian Interpretations of the First Sibling Rivalry, TBN 14, Leiden: Brill, 2011, 189). Nach TestAbr B 11,2ff ist Abel zusammen mit Henoch ein
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immer wieder angeschnittenen Fürsprache Jesu beim Endgericht806; 4) die vorangehende Bezeichnung Jesu als mesi,thj betont bereits, wie gesehen (↑ B.IV.2.3.1.d), (auch im Blick auf den göttlichen Richter) seine Rolle als Fürsprecher (vgl. 7,25).807 Das Besprengungsblut Jesu spricht demnach nicht zu den herantretenden Gläubigen bzw. zu deren Gewissen808, sondern fürsprechend zu Gott.809 Das untermauert auch dessen Parallelsetzung zu Abel bzw. dessen Blut, der/das ja auch zu Gott spricht (vgl. GenLXX 4,10: boa/| pro,j me). Konkret ruft das Blut Christi im Endgericht nicht nur nach göttlicher Vergebung und Gnade; als auf die Gläubigen gesprengtes Blut des Bundes ruft es vielmehr auch nach der Gewährung der ewigen Gottesgemeinschaft als einer zentralen Segensverheissung des Neuen Bundes (vgl. Hebr 8,10).810 Bei all dem wird es nicht nur beim blossen Rufen bleiben: Das Reden des Blutes Jesu bewirkt im Moment des Ergehens Vergebung, Gnade und den Zugang zu Gott.811 Die Worte des Blutes „Vergebung!“, „Gnade!“ und „Zugang zu Gott!“ sind als performative Worte infolgedessen nicht nur im Endgericht von Belang, sondern begründen letztlich sogar den Neuen Bund selbst, insofern dieser ein Bund der Vergebung und der Gottesgemeinschaft ist (vgl. Hebr 8,10–12). In dem Sinn bildet das sprechende Bundesblut, das den Neuen Bund etabliert hat (und im Gericht erhält), einen
Gerichtszeuge (vgl. dazu die Interpretation von Volz, Eschatologie, 303 und Stettler, Gericht, 153). In TestAbr A 13,2ff wird Abel als Richter der Menschen gesehen (so auch in TestAbr B 11,1f); vgl. dazu Allison, Abraham, 280ff). 806 Zum in Lk 12,8f erwähnten Bekennen des Menschensohnes vor den Engeln Gottes als Fürsprache Jesu beim Endgericht (vgl. auch Mt 10,32) vgl. z. B. Zager, Gottesherrschaft, 259. Zu Röm 8,33f vgl. meine Ausführungen unter Anm. 664 in diesem Kapitel. Das Bekennen der Gläubigen vor dem Vater und seinen Engeln in Offb 3,5 wird durch den Bezug zum Buch des Lebens (vgl. 20,12–15) ebenso eindeutig als fürsprechendes Eintreten Jesu beim Letzten Gericht gekennzeichnet (so z. B. auch E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, NTD 11, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 8. Aufl., 1993, 33). 807 Fuhrmann vermutet sogar, dass sich krei/tton lalou/nti para. to.n {Abel sowohl auf ai[mati r`antismou/ als auch auf mesi,th| VIhsou/ bezieht (vgl. Fuhrmann, Vergeben, 135). 808 So z. B. Koester, Hebrews, 546 und Gäbel, Kulttheologie, 385. 809 Indirekt mag das sprechende Blut durchaus auch zu den Gewissen sprechen, weil das nach göttlicher Vergebung und Gnade rufende Blut das Gewissen ruhig macht. 810 Den Bezug vom Reden zum Bund sieht z. B. auch DeSilva, Hebrews, 468. 811 Vgl. all die Stellen im Hebr, wonach das Opferblut Jesu als Blut der Kraft Sündenvergebung – bzw. Reinigung (9,14.22.26 und 10,14–18), Heiligung (10,29; 13,12), Erlösung (9,12) und Zugang zu Gott (10,19) gewirkt hat oder fortwährend wirkt; vgl. dazu auch Hebr 1,3, wonach Jesu Wort ein Wort der Kraft ist (r`h,ma th/j duna,mewj auvtou/), das stets das bewirkt, was es sagt. Zum wirkungsvollen Reden vgl. auch Eberhart, Kultmetaphorik, 154f: „[D]as Blut Abels bewirkt Rache und damit Unheil. Jesu Blut ist jedoch in der Konzeption des Hebräerbriefes in Analogie zum Blut von Opfertieren verstanden, welches durch Besprengung Sühne und damit Heil bewirkt“.
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Kontrast zu der fwnh. r`hma,twn in V.19, die als göttliches Reden der Zehn Worte den Alten Bund konstituiert hat.812 Freilich schliesst der heilswirksame Ruf des Blutes Jesu nach Vergebung eine grosse Ernsthaftigkeit mit ein: „Wer sich an Christi Blut schuldig macht, verdient eine viel furchtbarere Rache [sc. als Kain] (cf. 10,29!)“.813 iv Die Funktion Abels Durch eine Deutung von Hebr 12,24b als Verteidigung und Anklage beim Endgericht macht – wie bereits angedeutet – die Erwähnung Abels Sinn, welche bei anderen Deutungen unerklärbar bleiben muss814: Der Verfasser des Hebräerbriefs lehnt sich lose an die frühjüdische Überzeugung von Abels Mitwirken beim Letzten Gericht an, wobei er in Abel wohl nicht einen wirklich personhaften Ankläger der Menschen vor dem Thron Gottes sieht, sondern als Metapher für die nach Bestrafung durch den gerechten Gott rufenden menschlichen Sünden. Hegermann schreibt mit Recht, dass das zu Gott schreiende Blut des ermordeten Abels für den Verfasser des Hebräerbriefs „universale und bis ans Ende der Welt fortdauernde, die Welt verurteilende Bedeutung“ hat 815: „Das anklagende Schreien des Blutes Abels erklingt vor Gott noch heute (Hebr. 11,4), wobei alles auf Erden vergossene unschuldige Blut miteinbezogen ist (vgl. Luk. 11,49–51; Offb 6,10f; 18,24; 19,2)“.816 Durch das heilvoll sprechende Besprengungsblut wird aber „die Stimme des Blutes Abels, die eine brudermörderische Welt verurteilt, überwunden“.817 Die Nennung Abels hat m. E. allerdings noch andere Gründe. Zunächst evoziert sie mit der parallelen Erwähnung Jesu die ganze Heilsgeschichte vom Sündenfall bis zur Erlösung. 818 Weiter lässt die Aufführung des ermordeten gerechten Abels (vgl. 11,4) die unverdiente Gnade des Heilsrufes des Blutes Jesu umso grösser erscheinen, weil das bei der Hinrichtung vergossene Blut des gerechteren, weil völlig schuldlosen und unbefleckten Jesus (vgl. 4,15; 7,26) eigentlich noch viel mehr nach Rache schreien müsste als das Blut Abels, es aber Gegenteiliges tut. Gleichzeitig verdeutlicht das in Morden vergossene Blut am Anfang und am Ende der Menschheitsgeschichte (vgl. 1,2), „was der Mensch ist, nämlich ein Mörder nach der Art Kains“.819 Möglicherweise dient
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↑ B.II. So richtig Schierse, Verheissung, 182. Hebr 10,29 schliesst allerdings nicht, wie er meint, einen Gnadenruf des Blutes aus. 814 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 322: Die Erwähnung Abels „kommt unerwartet, weil Abel in der Sinai/Zion-Gegenüberstellung gar keinen Ort hat“. 815 Vgl. Hegermann, Hebräer, 227. 816 Vgl. ebd., 261. 817 Vgl. ebd., 227. 818 Ähnlich z. B. auch Casey, Eschatology, 382 und Lane, Hebrews II, 474. 819 So richtig Strobel, Hebräer, 240. 813
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Abel dem Verfasser des Hebräerbriefs auch als Präfiguration von Christus820: Abel war wie Jesus unschuldig (vgl. Gen 4,6 mit Hebr 4,15) und wurde wie er durch Gewalt getötet (vgl. Gen 4,8 mit Hebr 12,2f); wie bei Abel wird auch bei Jesus der Glaube hervorgehoben (vgl. Hebr 11,4 mit 12,2), und er brachte wie Christus ein Gott wohlgefälliges Opfer dar (vgl. Gen 4,4 bzw. Hebr 11,4 mit Hebr 10,12). Allerdings bliebe Abel „[an] imperfect anticipation of Christ’s faithfulness to God“.821 Zudem wäre die Folgerung von Ellingworth aus der Präfiguration des Opfers Jesu im Opfer Abels und der Überlegenheit vom ersten, dass dies „his superiority over the levitical [sic!] sacrifices“ verdeutlichen würde822, gewiss unpassend: krei/tton bezieht sich in Hebr 12,24 nicht auf Abel und das, was er geopfert hat, sondern auf das Reden seines Blutes. c. Exkurs: Das Blut in der Gegenwart Gottes und die Frage nach der Soteriologie des Hebräerbriefs Eine wichtige Frage zum redenden Blut Jesu ist noch zu klären: Ist die Existenz und/oder das Reden des Blutes im „himmlischen“ Jerusalem in der Gegenwart Gottes metaphorisch zu verstehen oder ist es tatsächlich als durch den Hohepriester mitgebrachtes Heilsmittel in der „himmlischen“ Wirklichkeit präsent? Damit einher geht die Frage nach der Soteriologie des Hebr: Ist die Erlösung ein irdisches Geschehen (Kreuz) oder ein himmlisches Ereignis (Erhöhung) oder beides zugleich? i Die Deutungsvorschläge zum „Hineingehen“ Jesu dia. tou/ ivdi,ou ai[matoj (Hebr 9,12) Für die Frage nach der Bedeutung des Blutes Jesu in der Gegenwart Gottes ist zunächst die Interpretation von Hebr 9,12 relevant, wonach Jesus dia. […] tou/ ivdi,ou ai[matoj „ein für alle Mal“ (evfa,pax) „in das Heiligtum hineingegangen ist“ (eivsh/lqen […] eivj ta. a[gia) und „eine ewige Erlösung erworben“ hat (aivwni,an lu,trwsin eu`ra,menoj). Nach Auffassung vieler Exegeten ist dia. […] tou/ ivdi,ou ai[matoj so zu verstehen, dass Jesus als Hohepriester gemäss der Versöhnungstages-Typologie (vgl. Hebr 9,25; 13,11!) „mit seinem eigenen Blut“ eingetreten ist.823 Daraus werden allerdings unterschiedliche Schlüsse gezogen: a) Jesus bewirkt im Himmel bei seiner Erhöhung mit seinem (wirklichen) Blut Sühne und Erlösung; b) Jesus stellt mit seinem im Himmel dargebrachten (wirklichen) Blut 820
So z. B. Vanhoye, Hebrews, 342 und Richardson, Pioneer, 173f. Vgl. Richardson, Pioneer, 173. 822 Vgl. Ellingworth, Hebrews, 682; ähnlich Son, Zion, 101. 823 Vgl. z. B. W. Thüsing, „‚Lasst uns hinzutreten …‘ (Hebr 10,22): Zur Frage nach dem Sinn der Kulttheologie im Hebräerbrief“, in: W. Thüsing, Studien zur neutestamentlichen Theologie, WUNT 82, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995, 191; Loader, Sohn, 167; Gäbel, Kulttheologie, 285f. 821
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das Sühneopfer am Kreuz dar; c) das ins himmlische Heiligtum mitgenommene und Gott zur Erlösung dargebrachte Blut ist lediglich eine Metapher für den Tod Jesu am Kreuz; d) die Blutsdarbringung im Heiligtum ist als Ganzes metaphorisch zu begreifen. Zu a): Gäbel deutet den Partizipialsatz lu,trwsin eu`ra,menoj in 9,12 als gleichzeitig und das Hineingehen Jesu mit dem Blut in das Heiligtum als Vollzug eines „himmlischen Selbstopfers“ bzw. als „himmlische[n] Kultakt“ bei der Erhöhung.824 März seinerseits formuliert es so: „Ein für alle Mal hat Christus, indem er mit seinem Blut in das himmlische Heiligtum eingetreten ist, Entsühnung bewirkt“. 825 Zu b): Nach Rissi „erinnert“ das im Himmel dargebrachte Blut Jesu „an die immerwährende Kraft und Wirkung seiner Lebenshingabe“: „Das Blut der makellosen Opfergabe hat keine selbständige, vom Sterben Jesu zu abstrahierende Bedeutung, sondern weist auf die fortwährende Sühnkraft seines Opfertodes hin“.826 Zu c): Nach Thompson wurde das Blut Jesu „im himmlischen Heiligtum geopfert“827, wobei das Blut keine „Substanz“ bedeute, sondern „Christ’s selfgiving at the cross“ bzw. „[the] sacrifice“.828 Ähnlich redet Backhaus von einer „Blut-Metapher“ und von der Blutdarbringung im himmlischen Heiligtum als
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Vgl. Gäbel, Kulttheologie, 286ff. Das Blut Christi ist nach ihm eine wirkliche „Opfermaterie“ (ebd., 288); sie „repräsentiert“ zwar auch „die Hingabe seines Lebens“, aber diese Selbsthingabe auf der Erde sei „unkultisch[…]“ (ebd., 290); das kultisch-theologisch Bedeutsame geschieht bei der Erhöhung (ebd., 475). 825 Vgl. C.-P. März, „‚Wir haben einen Hohenpriester‘: Anmerkungen zur kulttheologischen Argumentation des Hebräerbriefes“, in: C.-P. März, Studien zum Hebräerbrief, SBAB 39, Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2005, 49. März sieht die urchristlich auch sonst verwendete Versöhnungstags-Typologie „alexandrinisch-dualistisch akzentuiert und Lev 16 im Hinblick auf die Erhöhung als Eintritt in das wahre Heiligtum, den Himmel, gedeutet“ (ebd., 52) und spricht vom „himmlische[n], allein heilswirksame[n] Kult des wahren Hohenpriesters [sic!] Jesus Christus“, der „allen irdischen, schon von der Vollzugsebene her als unwirksam und defizitär ausgewiesenen Ritualen gegenübergestellt ist“. An anderer Stelle bezeichnet März den Tod Jesu zwar als „Sühnopfer“ (vgl. März, „Soteriologie“, 153); allerdings ist nach März der Tod untrennbar mit der Erhöhung Jesu verknüpft (ebd., 154), und nur im „eschatologisch-himmlischen Kult“ könne „wirkliche Entsühnung erwirkt“ werden (ebd., 159). 826 Vgl. Rissi, Theologie, 80f. Rissi erachtet es als falsch, „wenn man diese Darbringung des Bluts im Himmel als den eigentlichen, wesentlichen Dienst des Christus verstehen würde, d. h. seinen Tod nur als Voraussetzung dieses Dienstes“ (ebd.); dass Rissi das Blut Jesu nicht als Symbol sieht, zeigt sich z. B. in seiner Aussage, dass Jesus als Hohepriester „mit seinem Blut“ ständig fürbittend vor Gott erscheint (ebd., 81). 827 Vgl. Thompson, Beginnings, 108 („offered in the heavenly tabernacle“). 828 Vgl. ebd., 108; er sieht das Kreuzesgeschehen und die Erhöhung zu einem erlösenden Ereignis verbunden (ebd.); vgl. zum Ganzen auch Thompson, Hebrews, 186.
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einem „Interpretament für den Heilstod am Kreuz“; das Blut sei „kein sakrales Medium im Himmelskult“.829 Zu d): Nach Loader wird „[d]as Mitnehmen des Blutes (und gemäss 12,24 das Versprengen im Allerheiligsten) […] am besten bildlich verstanden als die Darstellung einer auf Erden vollbrachten Aufgabe, nämlich: für Sünden zu sterben“.830 Eine grössere Anzahl Ausleger wehrt sich aber gegen die Deutung von Hebr 9,12, dass Jesus sein Blut in das Heiligtum mitgenommen habe, und deutet dia. […] tou/ ivdi,ou ai[matoj instrumental bzw. kausal: Jesus ist „durch sein eigenes Blut“ bzw. „kraft/aufgrund seines eigenen Blutes“ in das Heiligtum hineingegangen, wobei das Blut als Metapher für den Kreuzestod gesehen wird.831 Die Schlussfolgerungen daraus sind aber ebenso verschieden. Nach Karrer bringt Jesus im himmlischen Heiligtum seinen Tod als „Opfer“ dar.832 Telscher schliesst ein solches himmlisches Opfer kategorisch aus: „Vor Gottes Thron erfolgt […] kein zweites Opfer, kein zweites Blutvergiessen“.833 Allerdings bewirkt das Eintreten in das himmlische Heiligtum aufgrund des Kreuzestodes bei der Himmelfahrt nach ihm durchaus „Erlösung“, und zwar auch im Sinn einer Sühnung der Sünden (vgl. den Hinweis auf Hebr 2,17).834 Auch für Laub gibt es kein himmlisches Opfer – der Kreuzestod als „heilsstiftender Hingabetod“ ist das eigentliche Opfer; allerdings werden nach ihm der Kreuzestod und die Erhöhung (eivse,rcesqai) als ein Ereignis beschrieben, was die bei der Erhöhung erreichte „ewige Erlösung“ erkläre.835 Anders versteht Fuhrmann, nach 829 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 319. Auch wenn Backhaus dia. […] tou/ ivdi,ou ai[matoj instrumental versteht („durch das eigene Blut“; ebd., 314), geht er von einer Blutdarbringung im Himmel aus: „Die Typologie des Versöhnungstages erfordert es, dass auch der himmlisch-menschliche Hohepriester bei seinem Gang ins Allerheiligste Blut mitführt“ (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 319). Eine ähnliche Deutung findet sich z. B. auch bei Schunack, Hebräerbrief, 123. 830 Vgl. Loader, Sohn, 192. Die (ganze) Versöhnungstagstypologie „scheint“ ihm „bildhaft zu sein“ (ebd., 190). 831 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 258; N. H. Young, „The Gospel according to Hebrews 9“, in: NTS 27.2/1981, 204; Laub, „Kreuzestod“, 81f; H.-F. Weiss, Hebräer, 467; Fuhrmann, Vergeben, 195f; Karrer, Hebräer II, 153; O’Brien, Hebrews, 321; Cockerill, Hebrews, 394 und K. Schenck, „An Archaeology of Hebrews’ Tabernacle Imagery“, in: G. Gelardini; H. W. Attridge (Hg.), Hebrews in Contexts, AJEC 91, Leiden: Brill, 2016, 244f. Nach Grässer fordert „nur der Typos“, „dass Jesus nicht ohne Blut das himmlische Sanctissimum betritt […]“; „in der Sache“ sei aber gemeint, „dass Jesus mittels seines Blutes, d.i. die stellvertretende Lebenshingabe, das Allerheiligste (ta. a[gia) betritt“ (vgl. Grässer, Hebräer II, 151; ähnlich G. Telscher, Opfer aus Barmherzigkeit. Hebr 9,11−28 im Kontext biblischer Sühnetheologie, FzB 112, Würzburg: Echter, 2007, 257). 832 Vgl. Karrer, Hebräer II, 155. 833 Vgl. Telscher, Opfer, 257; so auch Grässer, Hebräer II, 151. 834 Vgl. Telscher, Opfer, 258; so auch Grässer, Hebräer II, 151f (den Bezug zur Sühne allerdings vermeidend). 835 Vgl. Laub, „Kreuzestod“, 82f.
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dem der Tod Jesu auch das „heilsentscheidende Ereignis“ ist836, die Erlösung: Dass der Autor die mediale Form des participium coniunctum (aivwni,an lu,trwsin eu`ra,menoj) verwende, spreche dafür, dass Christus für sich ewige Erlösung gefunden hat, und zwar in der Bedeutung, dass er aus dem Tod befreit wurde (mit Verweis auf Hebr 5,7–9).837 Hughes dagegen bezieht die ewige Erlösung auf das Kreuzesgeschehen und interpretiert das participium coniunctum als vorzeitig: „He entered once for all into the sanctuary above after He had secured (eu`ra,menoj) our eternal redemption“. 838 ii Der Kreuzestod als heilsentscheidendes Ereignis Wie sind all diese Deutungsvorschläge zu Hebr 9,12 zu beurteilen? Vorerst gilt es festzuhalten, dass nach dem Verfasser des Hebräerbriefs der Tod Jesu am Kreuz das heilsentscheidende Ereignis ist. Dass dem so ist, belegt zunächst Hebr 9,15–17, wonach der Tod Jesu „zur Erlösung von den Übertretungen“ geschehen ist (V.15: qana,tou genome,nou eivj avpolu,trwsin tw/n […] paraba,sewn) und den Neuen Bund des Heils in Kraft gesetzt hat (vgl. diaqh,khj kainh/j mesi,thj in 9,15 mit diaqh,kh ga.r evpi. nekroi/j bebai,a in 9,17)839, der die Vergebung der Sünden und den Zugang zu Gott bedeutet (vgl. Hebr 8,8–12; 10,14–18). Weiter untermauert wird die Deutung vom Kreuzestod Jesu als entscheidendes Heilsgeschehen durch Hebr 9,26, wonach Jesus „einmal bei der Vollendung der Zeitalter offenbar geworden ist“ (a[pax evpi. suntelei,a| tw/n aivw,nwn […] pefane,rwtai), und zwar „zur Aufhebung der Sünden durch sein Opfer“ (eivj avqe,thsin Îth/jÐ a`marti,aj dia. th/j qusi,aj). Weil mit dem Offenbar-Werden unmissverständlich die Menschwerdung des Sohnes gemeint ist, liegt es sehr nahe, die mit diesem Ereignis direkt verbundene qusi,a (vgl. pefane,rwtai eivj …!) als ein auf Erden am Kreuz stattfindendes Opfergeschehen zu verstehen.840 Dafür spricht auch das zum Opfer parallel gesetzte und ihm inhaltlich entsprechende irdische Todesleiden Jesu (vgl. paqei/n).841 836 Vgl. Fuhrmann, Vergeben, 202; er redet auch vom „heilseffektiven Tod[…] Jesu“ (ebd., 226). 837 Vgl. ebd., 197; er unterscheidet dabei lu,trwsij von avpolu,trwsij in Hebr 9,15. 838 Vgl. P. E. Hughes, „The Blood of Jesus and His Heavenly Priesthood in Hebrews: Part II − The High-Priestly Sacrifice of Christ“, in: BS 130.3/1973, 210. 839 Vgl. H. Löhr, „Wahrnehmung und Bedeutung des Todes Jesu nach dem Hebräerbrief: Ein Versuch“, in: J. Frey; J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, 479: „Der Tod Jesu setzt gleichsam juristisch den zuvor verheissenen neuen Bund in Kraft (9,16f.)“; ähnlich Fuhrmann, Vergeben, 210. 840 So z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 334: „Das Heil ist ein für alle Mal am Kreuz erwirkt worden“; er spricht in Bezug auf Hebr 9,26 vom „Kreuzesopfer“ Jesu (ebd., 337). 841 Gäbel, der in Hebr 9,26 von einem himmlischen Selbstopfer ausgeht (vgl. Gäbel, Kulttheologie, 299), versucht vergeblich einen Unterschied zwischen dem paqei/n (passives Geschehen) und der qusi,a (aktives Selbstopfer) zu kreieren (vgl. Gäbel, Kulttheologie, 302).
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Auch Hebr 9,28 weist aus zwei Gründen auf ein irdisches heilstiftendes Opfer Jesu hin: 1) Die Wendung o` Cristo.j a[pax prosenecqei,j greift offensichtlich avpo,keitai toi/j avnqrw,poij a[pax avpoqanei/n aus V.27 auf, womit das prosenecqh/nai Christi als opfermässiges avpoqanei/n erscheint842; 2) mit dem AufSich-Nehmen bzw. Wegschaffen der Sünden vieler843 (eivj to. pollw/n avnenegkei/n a`marti,aj) als dem Ziel der Selbstopferung bzw. -darbringung Jesu spielt der Verfasser des Hebräerbriefs offensichtlich auf die Aussage auvto.j a`marti,aj pollw/n avnh,negken in JesLXX 53,12 an844, die im Zusammenhang mit dem Sterben des Gottesknechtes steht (vgl. paredo,qh eivj qa,naton h` yuch. auvtou/) und urchristlich auf das Heilsgeschehen am Kreuz ausgelegt wird (vgl. 1.Petr 2,24: ta.j a`marti,aj h`mw/n auvto.j avnh,negken evn tw/| sw,mati auvtou/ evpi. to. xu,lon). Gegen ein himmlisches bzw. für ein irdisches Opfer Jesu spricht weiter Hebr 10,10, wonach das heiligende (dargebrachte) Opfer der Körper Jesu ist (dia. th/j prosfora/j tou/ sw,matoj VIhsou/ Cristou/), welcher nach 10,5 eindeutig dessen irdischen Leib meint. 845 Schliesslich gilt es auch Hebr 13,12 zu erwähnen, wonach Jesus „ausserhalb des Tores gelitten hat“ (e;xw th/j pu,lhj e;paqen), „um das Volk durch sein eigenes Blut zu heiligen“ (i[na a`gia,sh| dia. tou/ ivdi,ou ai[matoj to.n lao,n). Das Kreuz auf Golgatha (= ausserhalb der Stadt; vgl. z. B. Joh 19,17f) mit dem leidvollen, blutigen Sterben Jesu erscheint hier als Ort der Heiligung, die den Zugang zu Gott ermöglicht (vgl. Hebr 10,14–19).846
Polla,kij paqei/n in V.26 entspricht nämlich offensichtlich polla,kij prosfe,rh| in V.25, wobei prosfe,rein und qusi,a gleichbedeutend sind. 842 So z. B. auch Eisele, Reich, 72: „Die einmalige Darbringung Christi wird […] in seine Todesstunde versetzt und mit seinem Sterben identifiziert“. 843 Vgl. dazu die überzeugende Deutung von avnenegkei/n durch Fuhrmann, Vergeben, 220–223. 844 So z. B. auch Grässer, Hebräer II, 198; Fuhrmann, Vergeben, 221f. 845 Vgl. dazu z. B. auch Loader, Sohn, 186; Schenck, „Archaeology“, 243f. 846 So z. B. auch M. Hasitschka, „Opfermetaphorik in Hebr 13,8-16: Eine bibeltheologische Skizze“, in: A. Vonach; G. Fischer (Hg.), Horizonte biblischer Texte. FS Josef M. Oesch, OBO 196, Freiburg: Universitätsverlag, 2003, 240–243; Cockerill, Hebrews, 700f; vorsichtig auch D. M. Allen, „Why Bother Going Outside?: The Use of the Old Testament in Heb 13:10-16“, in: B. J. Koet; Menken, Martinus Johannes Joseph (Hg.), The Scriptures of Israel in Jewish and Christian Tradition. Essays in Honour of Maarten J.J. Menken, NT.S 148, Leiden: Brill, 2013, 242: „Heb 13:12 seemingly recalls the passion of the historical Jesus, imbibing the event of Jesus’ death outside the city with priestly and atoning significance“. Die zeitliche Unterscheidung von Gäbel zwischen dem Leiden ausserhalb des Tores (= profanes Geschehen) und der Heiligung des Volkes durch das Blut (= Kultvollzug im himmlischen Allerheiligsten) vermag nicht zu überzeugen. Das in Hebr 13,11 erwähnte Hineingehen in das Heiligtum greift der Autor nicht auf; ihm geht es vielmehr um das Paradox, dass der Ort der Profanität (= ausserhalb des Tores) zum Ort der „Heiligung“ wird (so z. B. auch Schunack, Hebräerbrief, 227f; ähnlich H.-F. Weiss, Hebräer, 732). Dass in Hebr 13,12 nicht nur Lev 16,27, sondern wohl auch Lev 17,3ff im Hintergrund steht (so Allen, „Going
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iii Die Erhöhung und ihre Bedeutung für das Heil Diese Erkenntnis, dass nach dem Hebräerbrief der Tod Jesu am Kreuz das ein für alle Mal847 den Neuen Bund, die Erlösung und Vergebung wirkende Sühneopfer848 ist, schliesst nun aber eine zentrale Heilsbedeutung der Erhöhung des Sohnes nicht aus. Selbst wenn man ta. a[gia (8,2; 9,8.12.24; 10,19) und h` skhnh, (8,2; 9,11) bloss als eine Metapher für die himmlische Gegenwart Gottes (vgl. 9,24: eivj auvto.n to.n ouvrano,n […] tw/| prosw,pw| tou/ qeou/) verstehen möchte849, so ist doch der Akt des Hineingehens in das Heiligtum bzw. Allerheiligste (vgl. z. B. 6,19f; 9,12.24a) selbst gewiss keine Metapher. Es geht dabei vielmehr um ein bei der Erhöhung850 (vgl. z. B. 1,3.13; 2,9f; 4,14; 5,9f; 7,26; 8,1; 12,2) tatsächlich stattgefunden habendes Erscheinen Jesu vor Gott (vgl. 9,24, wonach das eivse,rcesqai Jesu mit dem evmfanisqh/nai tw/| prosw,pw| tou/ qeou/ gleichgesetzt ist). Und dieses Vor-Gott-Treten bei der Erhöhung hat durchaus wichtige Funktionen für das Heil. 1) Jesus hat kraft seines irdischen sühnenden Selbstopfers im Hineingehen in Gottes heilige Gegenwart einen Weg gebahnt (vgl. 10,20), den auch die Gläubigen – als seine rechtmässigen „Brüder“ (2,10f) – gehen dürfen (vgl. Outside“, 245f), spricht ebenso gegen ein angedachtes Bringen vom Opferblut ins (himmlische) Allerheiligste und für eine Heilswirksamkeit des blutigen Todes bzw. des Blutrituals am Altar vor dem Heiligtum. Auf jeden Fall scheint der in Hebr 13,10 erwähnte Altar ein Symbol für das Kreuz zu sein (so z. B. auch H. Koester, „‚Outside the Camp‘: Hebrews 13.914“, in: HThR 55/1962, 312f; Young, „Bearing“ 248: „The altar which ‚we [Christians] have‘ is clearly Calvary, for an altar is a place of sacrifice, and that for the writer is outside the gate/camp, where Jesus suffered in order to sanctify the people by means of his own blood“). 847 Vgl. evfa,pax in Hebr 7,27; 9,12; 10,10 und a[pax in 9,26.28. 848 Der Begriff „Sühneopfer“ ist umstritten. Nach Fuhrmann findet sich im Hebr der „Gedanke des sühnenden Sterbens Jesu […] nicht“, zumindest „wenn man ‚Sühne‘ sensu stricto“ als „eine (stellvertretende) Kompensationsleistung für die Sünden“ verstehe; es gehe lediglich um das „göttliche Vergessen der Übertretungen“ (Fuhrmann, Vergeben, 227). Aber Grässer spricht in Bezug auf Hebr 9,28 und das jesuanische avnenegkei/n a`marti,aj pollw/n mit Recht von einem „sündensühnende[n] Opfer“ Jesu am Kreuz (Grässer, Hebräer II, 198). 849 Vgl. dazu z. B. Schenck, Cosmology, 144–181; Schenck spricht davon, „that the primary significance of the tabernacle is located in the rhetorical purposes of the author’s high priestly metaphor“ (ebd., 180). Zu einem kurzen Forschungsüberblick bezüglich der Frage nach der genauen Auffassung des himmlischen Heiligtums im Hebräerbrief vgl. meine Ausführungen unter Anm. 5 im Kapitel V des Teils B. 850 Lane versteht das Hineingehen ins Heiligtum als ein reales, aber vor der Erhöhung stattfindendes Geschehen, wenn er z. B. zu Hebr 13,20 sagt: „The writer understands that Jesus died on the cross as a covenant sacrifice and that he entered into heavenly sanctuary and there sprinkled his own blood, prior to the resurrection“ (vgl. Lane, Hebrews II, 562). Nach Hebr 6,19f wird aber das Hineingehen in das Allerheiligste Jesu mit seiner ewigen Hohepriesterschaft verbunden, die wiederum mit der Erhöhung verknüpft ist (vgl. z. B. 7,28–8,1).
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6,20: Jesus ist pro,dromoj u`pe.r h`mw/n).851 Dieser bei der Erhöhung geöffnete Weg in die ewige Welt Gottes bedeutet für die Gläubigen zugleich die Möglichkeit zur Befreiung aus der Todesfurcht bzw. dem Tod selbst (vgl. 2,14f852). Denn die Himmelfahrt Jesu setzt sein Heraufgeführt-Werden aus den Toten an Ostern durch Gott voraus (vgl. Hebr 13,20: o` avnagagw.n evk nekrw/n to.n poime,na), und Jesus ist auch in seinem Auferweckt-Werden Vorläufer (vgl. die Bezeichnung Jesu als poimh.n tw/n proba,twn: die Schafe folgen ihrem Hirten!). 2) Die Erlösung von Schuld und Verderben wurde durch den Tod Jesu am Kreuz ermöglicht (vgl. 9,15: eivj avpolu,trwsin tw/n […] paraba,sewn); aber damit diese Erlösung eine ewige, d. h. bleibende, werden konnte (vgl. 9,12: aivwni,a lu,trwsij)853, musste Jesus bei der Erhöhung in Gottes Gegenwart treten (vgl. 9,12)854 und als Hohepriester in Ewigkeit (vgl. das gewichtige, aus PsLXX 110,4 zitierte und als Wort Gottes an den Sohn interpretierte su. i`ereu.j eivj to.n aivw/na in Hebr 5,6 und 7,17.21; vgl. auch 6,20!) für immer zur Rechten Gottes Platz nehmen (vgl. 10,12: eivj to. dihneke.j evka,qisen evn dexia/| tou/ qeou/).855 Jesus ist offenbar schon vor seiner Himmelfahrt durch das Kreuzesopfer heilbringender Hohepriester gewesen (vgl. z. B. das hohepriesterliche prosfe,rein in 7,27 mit jenem in 10,12, wo es durch die Verbindung zu V.10 und dem dia. th/j prosfora/j tou/ sw,matoj VIhsou/ Cristou/ klar als auf das 851 Die Öffnung der Transzendenz Gottes mag dabei auch eine Rolle spielen (vgl. z. B. März, „Soteriologie“, 147: „Die Distanz zwischen der irdischen Welt und dem unerreichbar transzendenten Bereich ‚jenseits des Vorhangs‘ ist im Weg des Sohnes – aber nur in ihm! – aufgehoben“); aber primär geht es dem Verfasser des Hebräerbriefs um einen Weg in die durch die menschliche Sünde bzw. göttliche Heiligkeit bedingte Unzugänglichkeit Gottes. 852 Mit der Vernichtung des Teufels als Todesmachthaber durch den solidarischen Tod Jesu wird nicht nur die menschliche Todesangst gebannt, sondern auch die Tür zum ewigen Leben aufgetan, weil der Sühnetod das Hineingehen Jesu und seiner Nachfolger zu Gott ermöglicht. 853 Lu,trwsij mag sich auch auf die Rettung Jesu aus dem Tod beziehen (vgl. Fuhrmann, Vergeben, 197), aber auf keinen Fall nur darauf, sondern auch auf die Erlösung der Gläubigen (so z. B. auch Karrer, Hebräer II, 155). Die beiden Begriffe avpolu,trwsij und lu,trwsij sind in jedem Fall inhaltlich aufeinander zu beziehen (so z. B. auch Grässer, Hebräer II, 171) und meinen u. a. die Vergebung der Sünden und die daraus ermöglichte Gemeinschaft mit Gott. 854 Es liegt gewiss näher, das participium coniunctum aivwni,an lu,trwsin eu`ra,menoj als gleichzeitig und nicht vorzeitig zu lesen (gegen Hughes, „Blood II“, 210), u. a. weil das Partizip Aorist nach dem finiten Verb steht (vgl. Spicq, Hébreux II, 257 und O’Brien, Hebrews, 322, Anm. 92). 855 Die „ewige Erlösung“ ist auch in Verbindung mit dem evfa,pax zu sehen (so z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 468), aber eben auch im Zusammenhang mit der ewigen Hohepriesterschaft Jesu (so z. B. Bruce, Hebrews, 214); dies belegt auch Hebr 5,9f, wonach das Werden Jesu zum „Urheber ewigen Heils“ (ai;tioj swthri,aj aivwni,ou) parallel zu seiner göttlichen Designation als „Hohepriester nach der Ordnung Melchizedeks“, d. h. als ewiger Hohepriester (V.6) steht.
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Kreuzesgeschehen bezogen erscheint856).857 Aber seine Priesterschaft zieht sich im Himmel auf ewig weiter (vgl. 7,24: avpara,baton e;cei th.n i`erwsu,nhn). Jesus bleibt (wie Melchizedek) Priester für immer (vgl. 7,3: me,nei i`ereu.j eivj to. dihneke,j) – notwendigerweise! Denn nach 7,25 muss er sich als ewig lebender Priester für die Sich-Gott-Nahenden verwenden (pa,ntote zw/n eivj to. evntugca,nein u`pe.r auvtw/n), um sie „völlig“ zu „erretten“ (sw,|zein eivj to. pantele.j).858 Diese swthri,a (vgl. 2,10; 5,9) bringende hohepriesterliche Fürsprache für die bzw. im Interesse der Gläubigen meint hauptsächlich859 „die fortwährende Wahrung ihres Gnadenverhältnisses zu Gott“860 im Sinn einer die Gläubigen heiligenden, von Sünden reinigenden und rechtfertigenden Applikation des Kreuzesopfers (vgl. die zwei die rettende Fürsprache explizierenden Folgeverse – toiou/toj! –, die das wirksame Eintreten Jesu für die Gläubigen auf das Kreuzesgeschehen gründen: evpoi,hsen [sc. qusi,a avnafe,rein tw/n tou/ laou/] evfa,pax e`auto.n avnene,gkaj).861 Wenn das „Sühnen“ (bzw. Vergeben) der Sünden des Volkes durch Jesus in Hebr 2,17 ein (auch nach dem Kreuz) im Himmel fortwährendes Geschehen meint – was u. a. wegen des präsentischen Infinitivs (i`la,skesqai) mit durativer
856 Dies spricht gegen die These von Brooks, dass die Hohepriesterschaft Jesu erst im Himmel angefangen hat; aufgrund von Hebr 7,16 sagt er z. B.: „Since Jesus’ priestly office is based on a life that cannot end and is exercised in the heavenly tent, it is inconceivable that his sacrifice would have been offered before the resurrection experience“ (Vgl. W. E. Brooks, „The Perpetuity of Christ’s Sacrifice in the Epistle to the Hebrews“, in: JBL 89.2/1970, 207). 857 So z. B. auch Laub, „Kreuzestod“, 77: „Hebr kennt nur ein einziges hohepriesterliches prosfe,rein Jesu, das mittels kultischer Opferterminologie den Kreuzestod als hohepriesterliche Selbstdarbringung qualifiziert“; ähnlich Käsemann, Gottesvolk, 154 („In diesem Sinne bildet er [sc. der Opfertod Jesu] den Inhalt und Mittelpunkt des hohenpriesterlichen [sic!] Handelns Christi“.) und Schnelle, Theologie, 600 („Auf Erden übte Jesus das Amt des Hohenpriesters [sic!] mit dem einmaligen Opfer aus“.). Loader dehnt die Hohepriesterschaft gar auf das ganze Leben Jesu aus (vgl. Loader, Sohn, 244). 858 Zur ausführlichen Analyse von Hebr 7,25 vgl. B.IV.2.3.1.d. 859 Zu den anderen, sekundären Bedeutungen vgl. B.IV.2.3.1.d. 860 Vgl. Delitzsch, Hebräer, 308. 861 So z. B. mit Grässer, Hebräer II, 64f und Witherington, Hebrews, 248f und gegen Loader, Sohn, 147 und Cockerill, Hebrews, 336. Diese Deutung entspricht auch dem Gebrauch vom sonst im Neuen Testament kaum verwendeten evntugca,nein in Röm 8,34, wonach Jesu Fürsprache jede mögliche Verdammung verhindert und so die göttliche Rechtfertigung (vgl. 8,33) garantiert, sowie dem himmlischen Dienst Jesu als para,klhtoj in 1.Joh 2,1, der als Gerechter vor dem Vater für die Sünder eintritt.
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Sinnrichtung und der Parallele zu 1.Joh 2,1f862 wahrscheinlicher ist als die Deutung auf das Kreuz hin863 –, ist dies ein weiterer Beleg für das andauernd heilbringende Einstehen des himmlischen Hohepriesters für die Seinen. Diese kontinuierlich rettende Fürsprache Jesu steht dabei keineswegs in einem Widerspruch zu der für den Hebr so wichtigen Einmaligkeit des Heilsgeschehens am Kreuz (vgl. evfa,pax in 7,27; 10,10 und a[pax in 9,28). Der Opfertod Jesu hat – wie Käsemann mit Recht betont – „als einmaliges Ereignis die grundlegende lu,trwsij im kaqarismo.j tw/n a``martiw/n bewirkt“ (vgl. z. B. 9,15.26.28), aber „der Hohepriester [vollzieht] auf der Basis dieses einmaligen Ereignisses die immer neue Heiligung der Seinen“ (vgl. z. B. 2,11, wo die Heiligung als gegenwärtiger Prozess beschrieben wird [oi` a`giazo,menoi], sowie 10,14, wo Vergangenheit und Gegenwart ineinander verwoben sind [mia/| ga.r prosfora/| tetelei,wken eivj to. dihneke.j tou.j a`giazome,nouj]).864 Hebr 9,12, wo die Einmaligkeit des Hineingehens Jesu in das himmlische Heiligtum betont wird (eivsh/lqen evfa,pax eivj ta. a[gia), spricht nicht gegen ein solches ewiges Eintreten vor Gott im Interesse der Gläubigen. Denn mit dem „ein für alle Mal“ wird lediglich der Kontrast zum sich wiederholenden Opfern und Hineingehen des alttestamentlichen Hohepriester hervorgehoben: Jesus tritt einmal in die Gegenwart Gottes ein und bleibt dort für immer. Weil das „Hineingehen“ (eivje,rcesqai) Jesu und der Gewinn der „ewigen Erlösung“ (9,12) also mit der ewigen hohepriesterlichen Fürsprache Jesu zusammenhängen, muss man nicht – wie Laub und viele andere – das Kreuzesgeschehen und die Erhöhung unlogisch und wider die urchristliche Überlieferung als zu einem einzigen Ereignis zusammengeschmolzen sehen. 865 Es geht vielmehr um zwei aufeinander folgende Heilsakte: 1) Der Tod Jesu bewirkt die
862 Die heilswirksame Fürbitte Jesu steht dort inhaltlich parallel zur Aussage, dass Jesus (gegenwärtig!) die Sühnung unserer Sünde ist (kai. auvto.j i`lasmo,j evstin peri. tw/n a`martiw/n h`mw/n); vgl. dazu auch J. Lieu, I, II & III John. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2008, 65. 863 So z. B. auch Gäbel, Kulttheologie, 222–227 und Fuhrmann, Vergeben, 24–30; auf das Kreuz hin deuten es z. B. Loader, Sohn, 201f und Richardson, Pioneer, 28–49. 864 Vgl. Käsemann, Gottesvolk, 154. Auch dies entspricht der Aussage von 1.Joh 2,1f, wo das fortwährende heilswirksame Eintreten für die Sünde im Sühnegeschehen am Kreuz verbunden ist (gegen Lieu, I John, 64; mit R. W. Yarbrough, 1-3 John, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2008, 76–78); dass Jesus i`lasmo,j für die Sünden ist, muss man nämlich auch parallel zu 4,10 und der dort erwähnten Sühnung bringenden Sendung des Sohnes auf die Erde verstehen. 865 Vgl. Laub, „Kreuzestod“, 77: „Beides [sc. Kreuz und Erhöhung] ist dann im Sinn des Hebr doch wohl in so enger Zusammengehörigkeit gedacht, dass das exegetische Argument eines Nacheinander [sic!] nicht mehr statthaft ist. Viel eher kann von diesem Befund her gesagt werden: Im prosfe,rein am Kreuz ereignet sich das hohepriesterliche eivje,rcesqai Jesu“; so z. B. auch Käsemann, Gottesvolk, 148; Schunack, Hebräerbrief, 121; Schnelle, Theologie, 600; Backhaus, Hebräerbrief, 316.
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Erlösung; 2) die spätere Erhöhung866 Jesu in den Himmel als ewiger Hohepriester garantiert deren Ewigkeitscharakter. Weil aber der zweite Akt ohne den ersten nicht möglich ist (Jesus vollzieht sein himmlisches Hohepriesteramt auf der Basis seines irdischen; vgl. z. B. auch Röm 4,25!), bilden sie für den Verfasser eine soteriologische Einheit (vgl. z. B. Hebr 1,3; 10,12; 12,2). Die durch die Erhöhung möglich gewordene ewige hohepriesterliche Fürsprache des Hohepriesters in Ewigkeit, die der „ewigen Erlösung“ (9,12) entspricht, ist auch verwandt mit dem nötigen ewigen (Ver-)Mittler-Sein Jesu (vgl. 7,25: prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew/|) sowie seinem notwendigen ewigen Bürge-Sein in Bezug auf den Neuen Bund. Der im Kreuzesgeschehen inaugurierte ewige Bund (vgl. 13,20) braucht einen ewig lebenden (vgl. 7,25; 13,8) Bürgen/Garanten (vgl. 7,22: krei,ttonoj diaqh,khj ge,gonen e;gguoj VIhsou/j). In allen drei Funktionen – als Fürsprecher, (Ver-)Mittler und Bundesbürge – „erscheint“ Jesus „jetzt“ und in alle Ewigkeit „vor dem Angesicht Gottes“ pro nobis (vgl. 9,24: nu/n evmfanisqh/nai tw/| prosw,pw| tou/ qeou/ u`pe.r h`mw/n867). iv Das in die Gegenwart Gottes mitgenommene Blut Die Frage ist nun, ob Jesus auch mit seinem Blut jetzt und in alle Ewigkeit vor Gott pro nobis erscheint: Hat Jesus dieses bei seiner Erhöhung in die Gegenwart Gottes mitgenommen oder nicht, und wenn ja, inwiefern wird es für den hohepriesterlichen Dienst Jesu verwendet? Grässer schreibt zum in Hebr 9,12 erwähnten Hineingehen Jesu dia. […] tou/ ivdi,ou ai[matoj mit Recht: „Der Hebr schreibt sehr mit Bedacht dia, mittels, kraft und nicht evn ai[mati (so 9,25 […])“.868 Dia, mit Genitiv kann zwar auch eine modale, den Umstand beschreibende Sinnrichtung haben (vgl. z. B. 2.Kor 2,4: e;graya u`mi/n dia. pollw/n dakru,wn), aber die primäre Sinnrichtung ist instrumental (bzw. kausal).869 Wenn es dem Verfasser des Hebräerbriefs primär um das Mit-Bringen des Blutes in das Heiligtum gegangen wäre, hätte er darum wohl eher die Präpositionen evn (9,25) oder meta, (10,22) verwendet. Die Redeabsicht des Hebr scheint vielmehr zu sein, dass Jesus durch sein (am Kreuz
866 Der Hebr geht offenbar von einer Auferweckung Jesu nach dem Tod aus (vgl. Hebr 13,20). 867 Das nu/n zeigt, dass evmfanisqh/nai als ingressiver Aorist zu verstehen ist. 868 Vgl. Grässer, Hebräer II, 151. 869 Vgl. Blass; Debrunner; Rehkopf, Grammatik, § 223 und Hoffmann; Siebenthal, Grammatik, §§ 184f.
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vergossenes) Blut, d. h. aufgrund bzw. kraft desselben, in das himmlische Heiligtum eingetreten ist (vgl. Hebr 13,20: o` avnagagw.n evk nekrw/n to.n poime,na tw/n proba,twn to.n me,gan evn ai[mati diaqh,khj aivwni,ou870). Dies schliesst nun aber nicht aus, dass Jesus nach Hebr 9,12 gleichzeitig auch „mit seinem eigenen Blut“ in die Gegenwart Gottes eingetreten ist, wie dies auch der alttestamentliche Hohepriester am Versöhnungstag jeweils mit Tierblut getan hat (vgl. diV ai[matoj tra,gwn kai. mo,scwn in Hebr 9,12a und o` avrciereu.j eivse,rcetai eivj ta. a[gia katV evniauto.n evn ai[mati avllotri,w| in 9,25 mit Lev 16,14f). Die Überzeugung des Verfassers, dass die Gläubigen bei der Bekehrung (von Gott her!) mit dem Blut Jesu besprengt werden (vgl. die Ausführungen zu Hebr 9,13f und 10,22 unter B.IV.2.3.2.a), scheint für eine solche Mitnahme des Blutes zu sprechen. Das stärkste Argument für ein Eintreten Jesu in das himmlische Heiligtum „mit seinem eigenen Blut“ (9,12) ist aber Hebr 9,23, wo von dem nötigen „Gereinigt-Werden“ (kaqari,zesqai) der „Himmlischen (Dinge)“ (ta. evpoura,nia) durch „bessere Schlachtopfer“ (krei,ttosin qusi,aij) die Rede ist. Mit Blick auf die parallele Wendung „Abbilder der [Dinge] in den Himmeln“ (vgl. 9,23: u`podei,gmata tw/n evn toi/j ouvranoi/j) und das die Aussagen in 9,23 teilweise explizierende ga,r in 9,24, wonach Jesus nicht in ein mit Händen gemachtes Heiligtum, sondern in den Himmel selbst hineingegangen ist, meint der Ausdruck ta. evpoura,nia offenbar das himmlische Heiligtum. 871 Mit dem Opfer – der Plural qusi,ai hat als ein „Plural der Kategorie“ lediglich rhetorische Bedeutung872 –, das das Heiligtum im Himmel reinigt, scheint sich der Verfasser zunächst auf das Opfer Jesu am Kreuz zu beziehen (vgl. Hebr 9,22.26)873: Auf der Erde geschehen hat es die Reinigung des Himmels möglich gemacht. In zweiter Linie – bezüglich der effektiven Umsetzung der Reinigung – denkt der Verfasser aber offenbar an das Blut Jesu874 (vgl. evn ai[mati pa,nta kaqari,zetai in Hebr 9,22 mit ta. evpoura,nia [kaqari,zesqai] in V.23; sowie das sich auf ai-ma in V.21f beziehende tou,toij in V.23): Mit dem 870 Der offensichtliche Bezug zu SachLXX 9,11 macht es deutlich, dass Jesus „um des Blutes willen“ aus den Toten heraufgeführt wurde (vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 756; Lane, Hebrews II, 562f). 871 So z. B. auch Karrer, Hebräer II, 166f; Cockerill, Hebrews, 415 und Filtvedt, „Creation“ 298f; zu einem Überblick von alternativen Deutungen vgl. z. B. Grässer, Hebräer II, 189; die These von der Reinigung der Kultteilnehmer hat neuerdings (m. E. zu Unrecht) wieder mehr Anhänger gewonnen (vgl. z. B. Fuhrmann, Vergeben, 219; Backhaus, Hebräerbrief, 336). 872 So richtig Riggenbach, Hebräer, 282. 873 So z. B. auch Young, „Gospel“, 206. Kaum geht es dem Hebr um ein himmlisches Opfer (vgl. z. B. Gäbel, Kulttheologie, 420ff), wenn bei ai`matekcusi,a in Hebr 9,22 im Neuen Bund offenbar an den blutigen Opfertod Jesu am Kreuz zu denken ist (vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 482; Fuhrmann, Vergeben, 214f) und mit qusi,a in 9,26, wie dargelegt (↑ B.IV.2.3.2.c.iv), ein auf der Erde stattfindendes Opfergeschehen gemeint sein muss. 874 So z. B. auch Michel, Hebräer, 323; Rissi, Theologie, 81.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
in den Himmel gebrachten Blut hat Jesus das himmlische Heiligtum kultisch gereinigt, wie auch das Zelt des Ersten Bundes kultisch gereinigt wurde (vgl. V.21). Diese Reinigung des Himmels (vgl. auch HiobLXX 15,15: ouvrano.j de. ouv kaqaro.j) mit dem Blut Jesu kann zwei Dinge bedeuten875: 1) die kultisch-reinigende Einweihung des himmlischen Heiligtums (vgl. Hebr 9,18.23 mit 1.Makk 4,36: kaqari,sai ta. a[gia kai. evgkaini,sai)876; 2) die reinigende Entfernung der sündenbedingten Kontamination desselben (vgl. z. B. Lev 16,16).877 Wenn tatsächlich Letzteres gemeint sein sollte, wäre dies jedoch noch keine Legitimation, ein himmlisches, die Sünden sühnendes Reinigungsopfer zu postulieren.878 Denn im Typus mag das Reinigen von Heiligtum und Menschen zusammenfallen (vgl. Lev 16,16f), im antitypischen Christusgeschehen sind die beiden Ereignisse jedoch getrennt: Der Tod Jesu auf der Erde bewirkt die Erlösung (9,15) bzw. Aufhebung (9,26) bzw. Beseitigung von den menschlichen Sünden (9,28) – d. h. die Reinigung derselben (vgl. 1,3c: kaqarismo.n tw/n a`martiw/n) –, die Erhöhung in den Himmel mit dem Blut die Reinigung des Heiligtums. Dass Jesus nach Hebr 9,23 das himmlische Heiligtum mit seinem Blut gereinigt hat, setzt nun voraus, dass er sein Blut in dasselbe mitgenommen hat. Der Zweck der Mitnahme des Blutes bestand aber offenbar nicht darin, das Blut sühnend zu versprengen, weder metaphorisch879 noch real880. Gegen beides spricht die Darstellung des Kreuzesgeschehens im Hebr als einmaliges Sühneopfer (↑ B.IV.2.3.2.c.ii) sowie die Tatsache, dass der Verfasser weder im Bild des alttestamentlichen Versöhnungstages (vgl. 9,7.25; 13,11) noch in Bezug auf das antitypische Christusgeschehen (vgl. 9,12; 13,12) von einer Blutsversprengung im Heiligtum redet. Mit Recht schreibt Telscher: „Vor Gottes Thron erfolgt […] kein zweites Opfer, kein zweites Blutvergiessen. Deshalb erwähnt der Verfasser die Blutapplikation im Allerheiligsten nicht“.881
875 Zu den anderen m. E. nicht in Frage kommenden Deutungen vgl. z. B. Grässer, Hebräer II, 188f. 876 So z. B. Spicq, Hébreux II, 299; Ellingworth, Hebrews, 677. 877 So z. B. Braun, Hebräer, 281; Lane, Hebrews II, 247f; Gäbel, Kulttheologie, 422f. 878 Gegen Gäbel, Kulttheologie, 424. 879 So z. B. interpretiert von Loader, Sohn, 192. 880 So z. B. Löhr, „Wahrnehmung“, 471f („Die Blutsbesprengung findet ohne Zweifel im himmlischen Heiligtum statt“); Moffitt, Atonement, 290ff. 881 Telscher, Opfer, 257f; selbst Gäbel, der die These eines himmlischen Opfers vertritt, gewichtet diese Nichterwähnung hoch (vgl. Gäbel, Kulttheologie, 289f).
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
239
Auch ein heilswirksames Darbringen (prosfe,rein) des Blutes bzw. des Kreuzesopfers vor Gott bei der Erhöhung882 kann nicht der Zweck der Mitnahme des Blutes gewesen sein. Denn Laub betont mit Recht: „Hebr kennt nur ein einziges hohepriesterliches prosfe,rein Jesu, das mittels kultischer Opferterminologie den Kreuzestod als hohepriesterliche Selbstdarbringung qualifiziert“883. Dies belegt z. B. Hebr 9,28, wo die Aussage o` Cristo.j a[pax prosenecqei,j auf die Feststellung avpo,keitai toi/j avnqrw,poij a[pax avpoqanei/n in V.27 rekurriert und somit das prosenecqh/nai Christi als opfermässiges „Sterben“ definiert wird (vgl. auch 10,12, wo das hohepriesterliche prosfe,rein durch die Verbindung zu V.10 mit dem dia. th/j prosfora/j tou/ sw,matoj VIhsou/ Cristou/ auf das Kreuzesgeschehen bezogen erscheint).884 Die Aussage in Hebr 9,14, wonach Jesus „sich selbst durch den ewigen Geist makellos Gott dargebracht hat“ (dia. pneu,matoj aivwni,ou e`auto.n prosh,negken a;mwmon tw/| qew/|), widerspricht dieser einmaligen Selbstdarbringung Jesu am Kreuz nicht. Die weitverbreitete Deutung dieser Stelle auf die Erhöhung hin 885 ist nämlich in keiner Weise zwingend. Denn selbst wenn pneu/ma aivwni,on tatsächlich den ewig-lebenden Geist von Jesus meinen sollte886, kann die opfermässige Selbstdarbringung vor der Erhöhung erfolgt sein, und zwar im Moment des Kreuzestodes, der gemäss den Evangelien die Übergabe des Geistes Jesu an Gott darstellt (vgl. Lk 23,46; ähnlich Mt 27,50; Joh 19,30).887 Wahrscheinlicher ist aber, dass pneu/ma aivwni,on den Heiligen Geist meint.888 Dann
882 Vgl. dazu die unter B.IV.2.3.2.c.i dargelegte These von Thompson, Beginnings, 108; Rissi, Theologie, 80f; sowie Backhaus, Hebräerbrief, 319; vgl. auch die ähnliche Deutung von Karrer, Hebräer II, 155. 883 Vgl. Laub, „Kreuzestod“, 77; vgl. auch Young, „Gospel“, 210: „The writer, in an absolutely singular way within the Greek Bible, uses prosfe,rw of the Levitical sprinkling within the Holy of Holies on the Day of Atonement (Heb. 9. 7); but this is to inform us that Christ’s prosfe,rein on the cross fulfils this typical aspersion, not to indicate some heavenly oblation“. 884 Selbst Rissi deutet Hebr 9,28 und 10,10.12 auf das Kreuz hin (vgl. Rissi, Theologie, 81). 885 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 261–263; Riggenbach, Hebräer, 266; Hegermann, Hebräer, 180; Grässer, Hebräer II, 158f; Koester, Hebrews, 415; M. Emmrich, „‚Amtscharisma‘: Through the Eternal Spirit (Hebrews 9:14)“, in: BBR 12.1/2002, 32; Gäbel, Kulttheologie, 292; Fuhrmann, Vergeben, 201; durch den Bezug zur Auferstehung ersichtlich auch Delitzsch, Hebräer, 400. 886 Vgl. z. B. Loader, Sohn, 168; Gäbel, Kulttheologie, 292; Fuhrmann, Vergeben, 201. 887 Die Vorstellung von Jeremias und Hofius, dass der Geist Jesu am Karfreitag sein Blut im himmlischen Heiligtum dargebracht hat (vgl. J. Jeremias, „Zwischen Karfreitag und Ostern: Descensus und Ascensus in der Karfreitagstheologie des Neuen Testamentes“, in: ZNW 42/1949, 194–201; Hofius, Katapausis, 181, Anm. 359) ist allerdings sehr problematisch: Der Weg ins Heiligtum wird nach dem Hebr bei der Erhöhung eröffnet (vgl. 6,19f). 888 Vgl. z. B. Michel, Hebräer, 314; Hegermann, Hebräer, 180; Lindars, Theology, 57f.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
geht es dem Verfasser entweder um eine messianische Salbung889 bzw. – präziser ausgedrückt – eine hohepriesterlich-messianische Salbung890, durch die Jesus befähigt war „for every aspect of his ministry, including his sacrificial death“, wie O’Brien betont891. Oder die Hingabe Jesu am Kreuz erscheint als ein geistliches Geschehen (vgl. der Kontrast zu sa,rx in 9,10.13)892: Der „ewige [Heilige] Geist“ vermittelt das Selbstopfer Jesu Gott wirksam. In jedem Fall erfolgt die Selbstdarbringung Jesu durch den Heiligen Geist aber am Kreuz, und nicht im himmlischen Heiligtum bei der Erhöhung. 893 Warum aber nimmt Jesus sein Blut in die Gegenwart Gottes mit (vgl. Hebr 9,12.23; 12,24), wenn er nach dem Verfasser des Hebräerbriefs sich selbst bzw. sein Blut bereits am Kreuz Gott dargebracht hat? Eine sich im Himmel fortsetzende ewige Blutsdarbringung ist auszuschliessen (vgl. das evfa,pax bzw. a[pax der Selbstdarbringung bzw. -opferung in 7,27; 9,28; 10,10).894 Allerdings scheint es mir nach Hebr 9,12, wonach Jesus kraft seines Blutes und mit seinem Blut zu Gott ins Heiligtum geht und Erlösung erwirbt, und 12,24, wonach das Blut Jesu in Gottes Gegenwart (zu Gott) nach Gnade und Vergebung ruft, um eine fortwährende Darstellung Jesu von seinem Blut vor Gott zu gehen, die das Heil ewig garantiert (vgl. 9,12: aivwni,an lu,trwsin), indem das Blut Gott stets an den heilbringenden Tod seines Sohnes am Kreuz „erinnert“.895 Die enge Verbindung von Blut und Tod, die sich z. B. in Hebr 9,17f deutlich zeigt, ergibt sich dadurch, dass das vergossene Blut des Opfers (vgl. z. B. Hebr 9,22: ai`matekcusi,a) notwendigerweise dessen Tod bedeutet (im Fall von 9,22 den Tod von Jesus896). Die Verbindung von Blut und Kreuz erklärt sich – abgesehen von der Tatsache, dass das Kreuz den Tod Jesu bedeutete – dadurch, dass die Kreuzigung eine blutige Todesart war (vgl. z. B. Mt 27,24f; Joh 19,34;
889
Vgl. z. B. Bruce, Hebrews, 217 (mit Verweis auf Jes 42,1); Lindars, Theology, 58; Lane, Hebrews II, 240. 890 Vgl. die erhellende Analyse frühjüdischer Vorstellungen durch Emmrich, „Amtscharisma“, 25–31. 891 Vgl. O’Brien, Hebrews, 325. 892 Ähnlich Loader, Sohn, 168: „auf geistlicher Ebene“. 893 Vgl. Bruce, Hebrews, 217: „the life which Christ presented to God on the cross“; vgl. auch Lindars, Theology, 94 zur Redeabsicht in Hebr 9,14: „[H]e simply means Christ’s death“. 894 Vgl. z. B. die These Calvins mit kritischer Beurteilung bei P. E. Hughes, „The Blood of Jesus and His Heavenly Priesthood in Hebrews: Part I − The Significance of the Blood of Jesus“, in: BS 130.2/1973, 100–102. 895 So in Anlehnung an Rissi („So erinnert ‚das Blut‘ des Christus an die immerwährende Kraft und Wirkung seiner Lebenshingabe für die Menschen“), der jedoch gleichzeitig von einer „Darbringung“ spricht (vgl. Rissi, Theologie, 80). 896 Vgl. dazu Cockerill, Hebrews, 410.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
241
Eph 2,13.16; Kol 1,20: dia. tou/ ai[matoj tou/ staurou/).897 Weil das Blut das Leben einer Person bedeutet und das Leben des Geopferten im Blut Sühne bewirkt (vgl. z. B. Lev 17,11)898, erinnert das dargestellte Blut Gott gleichzeitig auch an die für den Hebr so wichtige (sühnende) Darbringung Jesu am Kreuz von sich selbst bzw. von seinem Leben (vgl. e`auto,n in 7,27; 9,14; 9,25f).899 Das Blut in der Gegenwart Gottes hält Gott also das Selbstopfer Jesu „vor Augen“, das rechtmässig Sühne und Erlösung bewirkt und den Neuen Bund inauguriert hat. Mit anderen Worten: Das mitgenommene Blut ist – bildlich gesprochen – das mitgebrachte Kreuz, wobei es aber, wie gesagt, nicht um eine heilbringende Darbringung des Kreuzesopfers, sondern um die andauernde „Präsentation eines fait accompli“ geht900. Eine eindrückliche Entsprechung findet die fortwährende Darstellung des Blutes Jesu vor Gott in der Rede vom geschlachteten Lamm in der Johannes-Offenbarung (vgl. Offb 5,6 und die alle die folgenden „Lamm“-Stellen prägende Wendung avrni,on […] w`j evsfagme,non): Jesus ist vor Gott der ewig Gekreuzigte (vgl. z. B. auch 7,14: ai-ma tou/ avrni,ou).901 Dafür, dass Jesus das Blut nicht nur wegen der Besprengung der Gläubigen und der kultischen Reinigung mit in den Himmel genommen hat, sondern auch wegen einer andauernden heilsgarantierenden Präsentation des Blutes vor Gott, spricht auch die Tatsache, dass die ewige Fürsprache des himmlischen Hohepriesters – wie gesehen (↑ B.IV.2.3.1.d) – ganz und gar auf dem Kreuzesgeschehen gründet: Sie erfolgt auf dessen Basis. Auch das ewige BundesbürgeSein des Erhöhten (↑ B.IV.2.3.2.c.iii) passt zu einer fortwährenden Blutspräsentation, weil der Neue Bund durch das vergossene Blut Jesu geschlossen wurde.902 Demzufolge schreibt Rissi mit Recht: „Der Hohepriester im Himmel erscheint […] mit seinem Blut ständig ‚zu unseren Gunsten‘ fürbittend vor Gott, wie er es schon auf Erden getan hat (5,7f), um uns zu erretten (7,24f.). Daher ist seine Mittlerschaft in 12,24 mit dem Blut verbunden, das nicht – wie das Blut Abels – nach Rache schreit, sondern Vergebung schafft.“903
897 So z. B. Koester, Hebrews, 410 (mit Verweisen auf zeitgenössische Beschreibungen der Kreuzigung); zurückhaltend auch Eberhart, Kultmetaphorik, 150; gegen Grässer, Hebräer II, 149, der von einem „unblutigen Kreuzestod[…]“ spricht. 898 Vgl. dazu Eberhart, Kultmetaphorik, 80–91. 899 Vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 467 zu Hebr 9,12: „‚Blut‘, das heisst auch hier: hingegebenes, als Opfer dargebrachtes Leben“. 900 Vgl. Hughes, „Blood II“, 197 („presentation of a fait accompli“). 901 Vgl. Mounce, Revelation, 132–134; zu dem griechischen Perfekt evsfagme,non sagt Mounce: „[It] emphasizes the lasting benefits of his sacrificial death and resurrection“ (ebd., 134). 902 So sagt Käsemann mit Recht zum Blut in Hebr 12,24: „Die Bekräftigung durch Blut ist für jede Diatheke erforderlich; sie bekräftigt die neue auf Zion als unverbrüchlich und ewiges Heil gewährend“ (vgl. Käsemann, Gottesvolk, 29). 903 Rissi, Theologie, 81.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Wenn Jesus also „sein eigenes Blut“ mit in den Himmel genommen hat (vgl. 9,12.23), dann ist es m. E. nicht richtig, das in Hebr 12,24 erwähnte „Blut der Besprengung“ in der Gegenwart Gottes als rein metaphorisch aufzufassen. 904 Gewiss: Das Blut ist durch die Verbindung zu dem Kreuzestod und der Lebenshingabe Jesu sozusagen symbolisch aufgeladen. Aber Karrer betont zu to. ai-ma tou/ Cristou/ in 9,14 mit Recht, was auch für ai-ma r`antismou/ in 12,24 gilt, dass „wir dem Blut nicht alle Materialität der Opfermaterie nehmen [dürfen]“905. Anders sieht es mit dem Reden des Besprengungsbluts aus. Zu Recht spricht Schunack diesbezüglich von einer „kühne[n] Metapher“.906 Ihre Kreation liegt einerseits in der Gegenüberstellung zum sprechenden Abel bzw. seinem Blut begründet; andererseits spricht das Blut als Erinnerung an das Kreuzesopfer – auch ohne Worte – tatsächlich Bände. Zudem ist das Blut Jesu als Ausdruck seines Lebens ja immer mit der Person Jesu verbunden, der als Hohepriester und Mittler auch im Moment des Letzten Gerichts für die Gläubigen effektiv Fürsprache tut. d. Zusammenfassung Der Verfasser des Hebräerbriefs sieht die Adressaten in 12,24b als zu dem Blut Jesu hinzugetreten, das dieser bei seiner Erhöhung in die Gegenwart Gottes gebracht hat (vgl. 9,12.23). Als „Blut der Besprengung“ erinnert es die Adressaten an ihre bei der Bekehrung geschehene Reinigung vom mit Sünden belasteten Gewissen und an ihre Befähigung zur Gottesgemeinschaft (vgl. 9,13f; 10,22) sowie an die Aufnahme in den neuen Heilsbund (vgl. 9,18–20; 10,29). Im Moment ihres Hinzutretens beim Letzten Gericht ruft dieses Blut des Gerechten nicht – wie Abel – nach (verdienter) Vergeltung, sondern nach Gnade und Vergebung und ermöglicht so das Bestehen vor dem göttlichen Richter. Das Blut als „Bewohner“ des auf die „Erde“ gekommenen „himmlischen Jerusalem“ bleibt aber auch nach dem Gericht in seiner Wichtigkeit bestehen: Jesus steht bis in alle Ewigkeit als ewiger Hohepriester mit seinem Blut – den sühnenden Opfertod darstellend – vor Gott und garantiert so die ewige Erlösung bzw. die ewig ungetrübte Gottesgemeinschaft in der ewigen Stadt (vgl. Hebr
904 Verschiedenste Ausleger deuten das „Blut der Besprengung“ als eine Metapher für den Tod Jesu; so z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 682; Loader, Sohn, 191f; Eberhart, Kultmetaphorik, 154f; vgl. z. B. auch Telscher, Opfer, 259 zu Hebr 9,14: „Mit ‚Blut Christi‘ ist hier nicht die Materie an sich gemeint, sondern der Tod Jesu am Kreuz“. 905 Karrer, Hebräer II, 158; davor schreibt er zu Hebr 9,14: „Nebenbei verbietet dies [sc. die Rede vom ‚ewigen Geist‘], das ,Blut‘ Christi zu material-konkret zu verstehen. Gewiss schwingt untergründig das Blut nach, das Christus mit seinen irdischen Geschwistern teilt, indes metaphorisiert“. 906 Vgl. Schunack, Hebräerbrief, 210.
IV. Analyse von Hebr 12,22–24
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12,24 mit der Präsenz des [geschlachteten] Lammes im Neuen Jerusalem der Johannes-Offenbarung!907).
907 Vgl. Offb 21,22; 22,1.3. Auch Strobel sieht eine Entsprechung zum Lamm im Neuen Jerusalem, wenn er zu Hebr 12,24 sagt: „Ähnlich kann später die Offenbarung des Johannes das Lamm Gottes als die Mitte allen endzeitlichen und jenseitigen Geschehens lehren“ (vgl. Strobel, Hebräer, 240).
Kapitel V
Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24 1 Vollendete Bundesgemeinschaft mit Gott durch den Mittler Jesus Die Kernaussage von Hebr 12,22–24 lässt sich (gerade auch im Kontrast zu 12,18–21) wie folgt auf den Punkt bringen: Durch Jesus als dem neuen Bundesmittler erfüllt sich am Ende der Zeit (d. h. am Jüngsten Tag) das (alte) Ziel der völligen Personengemeinschaft mit Gott. Gott befindet sich im Mittelpunkt des „himmlischen Jerusalems“ (vgl. V.23: qew/|) und wird unmittelbar von den beiden Menschengruppen der „Erstgeborenen“ und der „Gerechten“ umschlossen. Ermöglicht wird diese direkte Gottesgemeinschaft durch den am Schluss erwähnten und damit auch besonders gewichteten Jesus als Mittler des Neuen Bundes, der er durch sein blutiges Opfer geworden ist.1 Dass der Abschnitt den Moment des Letzten Gerichts beschreibt (vgl. u. a. die Bezeichnung von Gott als krith.j pa,ntwn), spricht nicht gegen die Annahme einer solchen positiven Grundaussage der Verse. Denn durch Jesus und seine Fürsprache ist ja ein Bestehen der Gläubigen in diesem Gericht gewährleistet. Zudem sind die vor Gott stehenden Erstgeborenen und Gerechten bereits legitime Bewohner des „himmlischen Jerusalems“: Das Gericht ist für die Gläubigen also schon ganz vom neuen Äon und seinem Heil durchdrungen. Auch dass die Gottesstadt mit ihren Bürgern als eine „Festversammlung“ (vgl. V.22: panh,gurij) dargestellt wird, verdeutlicht, dass das durch Jesus vermittelte Geschenk des freien Zugangs zu Gott bzw. der direkten, ungetrübten Gemeinschaft mit ihm das Hauptaugenmerk haben soll.
1
Jesus erhält durch seine Schlussposition zweifelsfrei ein besonderes Gewicht (vgl. z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 669). Wenn man in Hebr 12,22–24 allerdings allein Jesus betont sieht, kommt man wie z. B. Johnson in grössere Erklärungsnöte: „We might be surprised at the order in which the author presents ‚God‘ and ‚Jesus‘ in his imaginative display. Theologically, God deserves the climatic position as the source and goal of all beings“ (vgl. Johnson, Hebrews, 333). Neben der Klimax Jesus gilt es eben auch die konzentrische Struktur des Abschnitts zu beachten, die Gott ins Zentrum des himmlischen Jerusalems stellt und so dem theozentrischen Denken des Verfassers gerecht wird.
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
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2 Das „himmlische Jerusalem“ auf der „Erde“ Die zu VIerousalh.m evpourani,w| in Hebr 12,22a vorgebrachte These, dass der Verfasser des Hebräerbriefs das „himmlische Jerusalem“ – in Analogie zur Apokalyptik – als am Ende der Zeit herabgekommene Gottesstadt sieht, hat sich m. E. durch die Analyse von Hebr 12,22b–24 erhärtet. 2.1 Die bisherigen Argumente in der Übersicht 1) Der Verfasser lehnt sich mit dem Ausdruck muria,dej avgge,lwn (vgl. Hebr 12,22b), die den göttlichen Richter umgeben (V.23), an DanLXX 7,9f an, einen Text, der im Neuen Testament und in der Umwelt auf ein irdisches Geschehen hin gedeutet wurde. 2) Durch die Verwendung vom Begriff panh,gurij (vgl. Hebr 12,22b) nimmt er Bezug auf die alttestamentlich verheissene Festfreude in/auf dem irdischeschatologischen Jerusalem/Zion (vgl. primär: JesLXX 66,10; sekundär: 25,6– 8; 35,10). 3) Da die panh,gurij auch aus den Engelmyriaden besteht, verweist der Begriff gleichzeitig auf die in Hebr 1,6b erwähnte Anbetung des Sohnes durch Engel, die nach V.6a und nach dem in V.6b im Hintergrund stehenden PsLXX 96 bei der Wiederkunft Jesu auf der Erde stattfindet. 4) Die evkklhsi,a prwtoto,kwn (Hebr 12,23) meint die Heilsversammlung an dem Tag, wenn Jesus bzw. Gott auf der Erde erscheint. 5) Die prwto,tokoi als „Bewohner“ des „himmlischen Jerusalems“ erscheinen als „irdische“ Gruppe, wenn sie als „in den Himmeln Eingeschriebene“ (avpogegramme,noi evn ouvranoi/j) bezeichnet werden und zudem das Eingeschrieben-Sein im Buch des Lebens in der Umwelt grossmehrheitlich in Bezug auf noch lebende Menschen thematisiert wird. 6) Mit der Beschreibung Gottes als „Richter aller“ (Hebr 12,23: krith/| qew/| pa,ntwn) erscheint die Szenerie in Hebr 12,22–24 als Moment des Jüngsten Gerichts, das nach dem Hebr zeitgleich mit der Parusie Jesu auf der Erde stattfinden wird (vgl. dazu auch die Erwartung eines irdischen Endgerichts im Frühjuden- und Urchristentum). 7) Das Vollendet-Sein der Gerechten meint das Eingetreten-Sein in die Gottesstadt, was bei der Wiederkunft Jesu auf die Erde geschieht. 8) Dass die di,kaioi teteleiwme,noi offenbar das Letzte Gericht und die Auferstehung bereits hinter sich haben, lässt auch nach der in der Apokalyptik häufigsten Chronologie der Endereignisse, wonach das himmlische Jerusalem nach dem Gericht offenbart wird (vgl. z. B. äthHen 90,20–332; syrBar 4,3.6 2 In der Tierapokalypse kommt das transzendente Jerusalem (äthHen 90,29) nach dem Letzten Gericht (äthHen 90,20–27; vgl. Olson, Apocalypse, 223f) und im Rahmen der Totenauferstehung (äthHen 9,33; vgl. Olson, Apocalypse, 228) auf die Erde; Olson übersetzt äthHen 90,31 mit Recht als „the judgment that had taken place“ (vgl. ebd., 226).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
bzw. 51,1–11; Offb 20,11–21,2)3, ein herabgekommenes „himmlisches Jerusalem“ in Hebr 12,22 als möglich erscheinen.4 2.2 Das auffällige Fehlen des Tempels Für ein futurisch-eschatologisches Jerusalem auf der „Erde“ spricht, abgesehen von diesen Punkten, auch das in der ausführlichen Zion-Schilderung von Hebr 12,22–24 auffällige Fehlen von einem Tempel(gebäude). Ob die Rede vom himmlischen Tempel bzw. vom himmlischen Heiligtum bzw. Allerheiligsten im Hebräerbrief metaphorisch zu verstehen ist oder ob der Verfasser von der wirklichen Existenz eines himmlischen sanctissimum ausgeht, ist in der Forschung umstritten.5 Meines Erachtens darf man das eine nicht gegen das andere ausspielen. Dem Verfasser geht es beim himmlischen Tempel offenbar sowohl um ein Symbol als auch um etwas Realexistierendes. Der Tempel ist ein Symbol für die himmlische unmittelbare Gegenwart Gottes6 3 Nach der Esra-Apokalypse erscheint das Himmlische Jerusalem sogar noch vor dem Letzten Gericht und der Totenauferstehung (vgl. 4.Esr 7,26–33), nämlich bei der Wiederkunft des Messias und zu Beginn seiner zeitlich begrenzten Herrschaft (vgl. 7,26–29; ähnlich 13,35f). 4 Weil das Endgericht in Hebr 12,22–24 offenbar nicht abgeschlossen ist (vgl. z. B. die Bezeichnung Gottes als krith.j pa,ntwn und DanLXX 7,9f als Prätext), legen die umfassend vollendeten Gerechten es nahe, dass der Verfasser des Hebräerbriefs das Gericht und das Herabkommen des himmlischen Jerusalem (bzw. die Neuschöpfung) als ein Ereignis zusammenschaut, wofür es mit äthHen 24,2–25,5 eine frühjüdische Parallele gibt: Der höchste Berg, auf den Gott herabkommt und Gericht hält, erscheint wegen der herrlichen Edelsteinen und des Baums des Lebens als Paradiesberg bzw. als Ort des Neuen Jerusalems (zu den Edelsteinen vgl. z. B. Offb 21,10f.18ff; zum Lebensbaum vgl. z. B. Offb 22,2.14.19). Auch Nickelsburg und Bachmann sprechen in Bezug auf den genannten Text aus dem Henochbuch von dem Neuen Jerusalem (vgl. Nickelsburg, 1 Enoch 1, 313–315; Bachmann, Welt, 87f); allerdings geht zumindest Letztere von einer Verpflanzung des Lebensbaumes vom Sinai weg hin zum Heiligtum auf dem Zion aus; vgl. aber Tilly, Jerusalem, 169. 5 Für eine symbolische Deutung sind z. B. Schenck, Cosmology, 180f; J. C. Calaway, The Sabbath and the Sanctuary. Access to God in the Letter to the Hebrews and its Priestly Context, WUNT II 349, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 105: „The heavenly tent is not in the heaven but is heaven“ (vgl. 137f); Church, Temple, 368: „That this access [to the heavenly temple] is available in the presence [Church verweist auf Hebr 12,22−24] demonstrates that the heavenly temple is a metaphor for God’s dwelling with his people“; für eine „realistische“ Interpretation sind z. B. Hofius, Vorhang, 55f; G. W. MacRae, „Heavenly Temple and Eschatology in the Letter to the Hebrews“, in: Semeia.12, 179–199; Eisele, Reich, 376; Gäbel, Kulttheologie, 470; T. Elgvin, „From Earthly to the Heavenly Temple: Lines from the Bible and Qumran to Hebrews and Revelation“, in: C. A. Evans (Hg.), The World of Jesus and the Early Church. Identity and Interpretation in Early Communities of Faith, Peabody, Mass: Hendrickson Publishers, 2011, 36; Mackie, „Heavenly Sanctuary“, 82f: „The author clearly believes that an actual temple stands at the centre of the heavenly realm“. 6 Nach Laub meint das himmlische Heiligtum bzw. das Allerheiligste „die unmittelbare Gegenwart Gottes“ (vgl. Laub, „Kreuzestod“, 83); ähnlich Smith, Meaning, 29: „For Christ
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(vgl. Hebr 9,24 mit der Beschreibung des himmlischen Heiligtums als auvto,j o` ouvrano,j, wo sich das Angesicht Gottes befindet)7. Nach Hebr 8,5 ist er zugleich aber auch das realexistierende Urbild für die Stiftshütte 8 – wie genau sich der Verfasser den himmlischen Tempel im Aufbau vorstellt, ist freilich kaum bestimmbar.9 Der Tempel erscheint also – wie z. B. auch der „Thron der Gnade“ in Hebr 4,1610 – als eine Art Realsymbol11. In Hebr 12,22–24 wird nun der im Hebräerbrief sonst häufige Tempel- bzw. Heiligtumsbegriff nicht verwendet. Gewisse Exegeten sehen den Tempel Gottes aber dennoch präsent. Church z. B. betont neuerdings: „That Jesus is there indicates a reference to the heavenly temple“. 12 Wie Church zu dieser Interpretation kommt, ist für mich nicht nachvollziehbar (er begründet sie leider nicht). Jesus wird im Hebräerbrief zwar mehrfach als Hohepriester beschrieben, der in das himmlische Heiligtum eintritt, aber er wird auch als der erwähnt, welcher auf die Erde zurückkommt (vgl. 1,6; 9,28; 10,37), also dieses Heiligtum verlässt. Scholer und Son z. B. nehmen die Existenz des Tempels in Hebr 12,22−24 darum an, weil für sie das „himmlische Jerusalem“ und das himmlische (Tempel-)Heiligtum bzw. der Himmel selbst identisch sind.13 Dagegen spricht allerdings, dass die Gottesstadt im Gegensatz zum Himmel bzw. to be in the heavenly tabernacle is a typological way of saying that he is in the presence of God“. 7 Die früher immer wieder einmal vertretene, von einem wirklichen himmlischen Ort sich lösende, metaphorische Deutung des Zeltes bzw. Heiligtums als inkarniertem Leib Jesu oder als Gemeinde ist u. a. mit Blick auf Hebr 9,24, wo a[gia als Himmel umschrieben wird, ausgeschlossen (vgl. dazu P. E. Hughes, „The Blood of Jesus and His Heavenly Priesthood in Hebrews: Part III − The Meaning of ‚The True Tent‘ and ‚The Greater and More Perfect Tent‘“, in: BS 130.4/1973, 305–311). 8 Zur Deutung des himmlischen Urbilds (vgl. u`podei,gmati kai. skia/| […] tw/n evpourani,wn) bzw. Musters (vgl. kata. to.n tu,pon) als realen himmlischen Tempel nach frühjüdischer Vorstellung vgl. z. B. G. J. Steyn, „‚On Earth as it is in Heaven …‘: The heavenly sanctuary motif in Hebrews 8:5 and its textual connection with the ‚shadowy copy‘ [ὑποδείγματι καὶ σκιᾷ] of LXX Exodus 25:40“, in: HTS 67.1/2011, 1–6. 9 Das klare Konzept eines doppelten Heiligtums im Himmel mit dem Vorhang vor dem Thronraum Gottes als dem Allerheiligsten (vgl. Hofius, Vorhang, 95f) scheint mir aufgrund der sehr wahrscheinlich spiritualisierenden Deutung von katape,tasma in Hebr 10,20 als dem Leib Jesu (tou/tV e;stin th/j sarko.j auvtou/) – und somit als bildliche Tür zur Gottesunmittelbarkeit – mehr als problematisch zu sein (so z. B. auch Laub, „Kreuzestod“, 78–81; Schenck, Cosmology, 175–177). 10 Der Thron der Gnade (o` qro,noj th/j ca,ritoj) meint zunächst den wirklich im Himmel existierenden Thron Gottes; gleichzeitig steht er aber (als Symbol) auch für Gott selbst, insofern seine Gnade angesprochen ist; vgl. dazu z. B. auch Schunack, Hebräerbrief, 66. 11 Zum von Rahner geprägten Begriff des Realsymbols vgl. z. B. H. Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, RPTh 12, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, 111ff. 12 Church, Temple, 351. 13 Vgl. Scholer, Priests, 141; Son, Zion, 91ff.
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himmlischen Tempel als gegenwärtigem Wohnort Gottes (vgl. nu/n evmfanisqh/nai tw/| prosw,pw| tou/ qeou/) als futurisch-eschatologische Grösse erscheint (vgl. dazu die Auslegung von th.n me,llousan [po.lin] in Hebr 13,14 unter B.IV.2.1.3.c).14 Hurst, Lane und O’Brien z. B. sehen in den Ausdrücken Siw.n o;rei, po,lei qeou/ und VIerousalh,m die Präsenz eines eschatologischen Tempels als implizit vorausgesetzt.15 Mit Blick auf das Alte Testament ist diese Deutung nachvollziehbar (↑ B.IV.2.1.1.a). Dennoch kann sie nur schwer erklären, warum der Hebr den für ihn so wichtigen Begriff für die unmittelbare Gegenwart Gottes in Hebr 12,22–24 nicht erwähnt, zumal die Verse offenbar eine Zusammenfassung der wichtigsten theologischen Begriffe bilden16. Meines Erachtens liegt eine andere Deutung näher: Der Verfasser nennt den Tempel Gottes darum nicht, weil er im futurisch-eschatologischen Jerusalem schlicht nicht mehr existiert. Für eine solche Interpretation sprechen zwei Parallelstellen. In äthHen 90,28–36 wird das neue Jerusalem („neues Haus“) geschildert, das die alte Gottesstadt („altes Haus“) mit ihrem Tempel ersetzen wird, wobei der für das Heiligtum stehende „Turm“ (vgl. 89,50.66.73) offenbar nicht mehr ein Teil dieses „Neuen Hauses“ sein wird.17 Nach der JohannesOffenbarung ist der im Himmel bis zum Weltende existierende Tempel (vgl. 7,15; 11,19; 14,15.17; 15,5.6.8; 16,1.17)18 in der VIerousalh.m kainh/| ebenso nicht vorhanden: „Und ich sah keinen Tempel in ihr [sc. der Stadt], denn der Herr, Gott, der Allmächtige, ist ihr Tempel und das Lamm“ (21,22). Der Grund für die Absenz bringt Stevenson treffend auf den Punkt: „The temple was a place of access where one could come into the presence of God. In a sense, the temple united heaven and earth in a single place. It allowed the mundane to come into contact with the transcendent, the earthly with the heavenly, the common with the holy. Yet, at the same time that the temple afforded access, it also established boundaries. It established boundaries between the mundane and the transcendent, the holy and the profane. Thus, access was ritually structured. The temple provided access, but it was mediated access. The disappearance of the temple in the New Jerusalem is the disappearance of mediation. No more barriers separate God from his people. No rituals are required to approach him; no courts to distinguish levels of purity. God has come near to dwell with his people, not through the mediation of a temple, but directly. A temple is therefore not needed in the city because the faithful enjoy full access to God’s presence.“19
14 So z. B. auch Rissi, Theologie, 44; ähnlich unterscheidet z. B. Laansma (gegen Hofius) zwischen dem gegenwärtigen himmlischen Tempel und der zukünftigen kata,pausij (vgl. Laansma, Rest, 314–316). 15 Vgl. Hurst, Background, 41; Lane, Hebrews II, 466; O’Brien, Hebrews, 483. 16 Vgl. z. B. Son, Zion, 84; mehr dazu unter C.II.3. 17 Vgl. dazu Schwemer, „Himmlische Stadt“, 210; Olson, Apocalypse, 249; zurückhaltend auch Nickelsburg, 1 Enoch 1, 404f. 18 Vgl. dazu Stevenson, Power, 251–267; zu einer metaphorischen Deutung des himmlischen Tempels hin auf die Gemeinde vgl. Spatafora, Temple, 249–261. 19 Stevenson, Power, 268f.
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Diese durch das Fehlen des Tempels verdeutlichte volle, unvermittelte Gottesgemeinschaft in der Johannes-Offenbarung deckt sich erstaunlich genau mit den Schilderungen über das „himmlische Jerusalem“ in Hebr 12,22–24. Zwar ist durch die Bezeichnung Jesu als mesi,thj eine Gottesvermittlung vorausgesetzt. Aber es geht um eine geistliche Vermittlung (im Sinn einer kultischen Befähigung, vor Gott zu sein) und nicht um eine räumliche. Die Erlösten umgeben Gott direkt bzw. unmittelbar (vgl. B.IV.1 und die beiden Menschengruppen, die Gott konzentrisch umschliessen). Vieles spricht also dafür, dass der auctor ad Hebraeos das „himmlische Jerusalem“ mit all seinen in Hebr 12,22–24 beschriebenen Bewohnern als am Ende der Zeit herabgekommene Gottesstadt versteht. Eine kritische Frage zu dieser Deutung bleibt aber noch ausführlich zu klären: In welcher Verbindung steht das „vorauslaufende“ Eintreten Jesu in das himmlische Heiligtum bzw. den Himmel selbst (vgl. Hebr 6,19f) mit einem „irdischen“ Endziel? 2.3 Das vorauslaufende Eintreten Jesu in den Himmel und das „irdische“ Endziel Der Verfasser des Hebräerbriefs bezeichnet in 6,20 Jesus als „Vorläufer20 für uns“ (pro,dromoj u`pe.r h`mw/n). Mit Recht verortet Karrer den Begriff pro,dromoj in der „Herrschafts- und Militärsprache“ (vgl. z. B. Herod., Hist. 1,60; 4,121f; 7,203): „Eine Vorhut erschliesst und sichert das Gelände, bevor ihr die Hauptabteilungen folgen“. 21 Jesus läuft also an einen Ort voraus, wohin die Gläubigen folgen dürfen (vgl. auch Hebr 2,10!).22 Der Zusammenhang zeigt nun, dass es beim Vorauslaufen Jesu um seine Erhöhung in den Himmel geht: a) Sein Hineingehen in das Innere des Vorhangs (vgl. Hebr 6,19: eivj to. evsw,teron tou/ katapeta,smatoj) meint sein Eintreten in das himmlische Heiligtum (vgl. z. B. 9,12.24); b) sein Hohepriester-Werden für die Ewigkeit (vgl. 6,20: avrciereu.j geno,menoj eivj to.n aivw/na) bedeutet sein Sich-Setzen zur Rechten Gottes im Himmel (vgl. z. B. 8,1). Das Nachfolgen der Gläubigen findet teilweise schon in der Gegenwart statt: Nach Hebr 4,16 und 10,19–22 dürfen sie nämlich schon jetzt in die himmlische Präsenz Gottes eintreten (vgl. auch 7,25).23 Aber das umfassende Nachfolgen erfolgt offenbar erst in Zukunft.24 20 So übersetzen z. B. auch Grässer, Hebräer I, 372; Karrer, Hebräer II, 20 („Vor-Läufer“) und Backhaus, Hebräerbrief, 244; vgl. auch die angelsächsischen Exegeten, die pro,dromoj mit „forerunner“ übersetzen (vgl. z. B. Buchanan, Hebrews, 116; Koester, Hebrews, 325; Cockerill, Hebrews, 284). 21 Vgl. Karrer, Hebräer II, 55. 22 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 387f; Koester, Hebrews, 335; Johnson, Hebrews, 173; O’Brien, Hebrews, 242f; Cockerill, Hebrews, 291f. 23 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 387 und O’Brien, Hebrews, 243. 24 So auch Grässer, Hebräer I, 386f: „Wie Jesus aus der Genossenschaft mit den Seinen, die in der knechtenden Fremdlingsschaft leben (2,14f), heimkehrt, so werden es auch die
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Wenn also Jesus als „Vorläufer“ bei der Erhöhung in den Himmel eingegangen ist und die Gläubigen ihm eschatologisch-futurisch folgen werden, dann ist folglich die Frage berechtigt, ob das Endziel der nachfolgenden Menschen nicht doch das himmlische Heiligtum bzw. eine sich im Himmel befindende „Welt“ ist? Viele Exegeten sehen dies so.25 Meines Erachtens spricht aber das Vorläufer-Sein Jesu nicht gegen ein herabgekommenes Jerusalem als letztes Ziel der Gläubigen. Denn es geht dem Verfasser des Hebräerbriefs mehr um die Gegenwart Gottes als um (himmlische) Örtlichkeiten, wie auch Loader richtig sagt: „[D]er [himmlische] Tempel selbst ist nicht das Heil. Heil heisst bei Gott sein“.26 Jesus ist der Vorläufer in die Gegenwart Gottes, damit „wir“ in diese nachfolgen können (vgl. Hebr 9,24: tw/| prosw,pw| tou/ qeou/); Gott ist das eigentliche Ziel der Gläubigen (vgl. auch 7,25: tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ tw/| qew/|). Aber selbst wenn man dem Himmel als „Verortung“ Gottes ein besonderes Gewicht gegeben möchte, würde ein „himmlisches Jerusalem“ auf der „Erde“ nicht unpassend sein, weil es von himmlischer Qualität und vom Himmel herabgekommen wäre (vgl. z. B. auch Offb 21,2).27 Ein neues Jerusalem in einer „irdischen“ Dimension würde sogar dann stimmig sein, wenn man beim Vorläufer-Sein den himmlischen Tempel als Ziel betont sieht. Denn das himmlische Heiligtum und das „himmlische Jerusalem“ sind zwar nicht kongruent, aber es besteht im Hebr eine grosse Kontinuität zwischen ihnen: Gott, Jesus und dessen Blut sind in beiden Orten gleichermassen gegenwärtig. Dazu kommt, dass das „neue Jerusalem“ in Offb 21,2ff, zu dem ich Hebr 12,22–24 als Parallele sehe, zwar keinen separaten Tempel mehr hat, aber dennoch als Stadt-Tempel beschrieben wird. Mathewson beobachtet präzise: „[T]he cube-shape of the city echoes the geometrical design of the holy of holies (1 Kgs 6.20), and the gold and precious stones which were so prevalent in the Old Testament sanctuary now feature in the construction of the new Jerusalem, so that the entire city is now a place of divine encounter. Moreover, the city is adorned with stones found on the breastplate of the high priest (Exod. 28.19-20; Rev. 21.18-21), and the people serve God as Priests in his immediate presence (22.3b-5; cf. Exod. 19.6).“28
tun, die jetzt dank ihm Erben der Verheissung sind“; vgl. z. B. auch DeSilva, Hebrews, 252 und O’Brien, Hebrews, 243. 25 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 387: „Ein neuer lebendiger Weg ist erschlossen (10,20), den die Seinen dermaleinst als Eingang in den himmlischen Ruheort ungehindert beschreiten werden“; ähnlich auch Mackie, der als eschatologisches Ziel der Gläubigen das himmlische Heiligtum sieht: „The cleansing, sanctification, and intercession he [sc. Jesus] provides will ultimately issue in the community’s perfection, realized in their entry into the Heavenly Sanctuary“ (vgl. Mackie, Eschatology, 232). 26 Vgl. Loader, Sohn, 182. 27 ↑ B.IV.2.1.3.e. 28 D. Mathewson, A New Heaven and a New Earth. The Meaning and Function of the Old Testament in Revelation 21.1-22.5, JSNT.S 238, London, New York: Sheffield Academic,
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Wick schliesst aus der Tempelmetaphorik der eschatologischen Gottesstadt mit Recht Folgendes: „Die neue Stadt hebt die für die Schöpfung konstitutive Trennung von Himmel und Erde auf, indem sie vom Himmel auf die Erde kommt. In ihr ist die für alle antiken Städte konstitutive Trennung von heilig und profan, von Tempelbezirk und Stadt aufgehoben. In ihr gibt es keinen Tempel als Wohnort Gottes mehr, denn sein Wohnort ist überall. Stadt und Tempel fallen ineinander und sind in ihr kongruent. Gott ist zum Stadtbewohner geworden, die Menschen zu Tempelbewohnern.“29
Jesus kann also in jedem Fall auch pro,dromoj in das himmlische Jerusalem sein, weil er für die Gläubigen in die Gegenwart Gottes getreten ist und in dieselbe einen neuen, lebendigen Weg vorgespurt hat (vgl. Hebr 10,20) und dieselbe Gottesgegenwart am Ende der Zeit mit dem himmlischen Jerusalem auf die „Erde“ kommt (vgl. 12,23: qew/|).
3 proselhlu,qate – nur „angenähert“ oder tatsächlich „hinzugetreten“? Zu den Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22–24 gehört auch die Deutung von proselhlu,qate in V.22, die am Anfang der Analyse von V.22–24 wegen der Frage nach der zeitlichen (und örtlichen) Lokalisierung des himmlischen Jerusalems noch offengelassen werden musste. Die Erkenntnis, dass es in den Versen sehr wahrscheinlich um eine eschatologisch-futurische Theophanie auf der „Erde“ geht, hilft nun, einige Fragen zum speziellen Gebrauch vom Verb prose,rcesqai in V.22 zu klären. Vorderhand gilt es festzuhalten, dass sich der Verfasser sowohl in Hebr 12,18 als auch in 12,22 an DtnLXX 4,11 und die dortige Aussage von Mose an das Volk anlehnt: prosh,lqete kai. e;sthte u`po. to. o;roj (↑ B.III.2.1). Gleichzeitig will der Gebrauch des Verbes gewiss auch eine Erinnerung sein an die Aufforderungen in Hebr 4,16 und 10,22, zu Gott hinzuzutreten (prosercw,meqa), bzw. an die Beschreibung der Gläubigen in 7,25 als solche, die daran sind, zu Gott heranzutreten (tou.j prosercome,nouj, vgl. auch 10,1 und 11,6). Allerdings hebt sich die Verwendung in 12,22 ebenso von diesen Stellen ab, weil der Prozess des Hinzutretens durch die Perfektform proselhlu,qate als abgeschlossen erscheint. Dies wirft zunächst die Frage nach einem Konzept einer realisierten Eschatologie in Hebr 12,22–24 auf.
2003, 219f; er spricht darum von einem „eschatological city-temple“ (vgl. Mathewson, New Heaven, 219); Grimm spricht in diesem Zusammenhang von der „Übertragung des Tempelmotivs auf die Stadt“ (vgl. Grimm, Lebensraum, 308). 29 Wick, „Paradies“, 245.
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3.1 Die Frage nach einer realisierten Eschatologie Jewett schreibt zu proselhlu,qate: „The perfect tense of the verb […] makes this one of the most dramatic and radical statements of realized eschatology in the N.T.“.30 Auch nach H.-F.Weiss geht es in Hebr 12,22 um „das Zeugnis einer ‚realisierten‘ Eschatologie“, weil sich das im Perfekt formulierte Hinzugetreten-Sein als „definitiv und endgültig“ zeige.31 Kritisch zu dieser Deutung äussert sich z. B. Koester, der proselhlu,qate bewusst mit „you have approached“ übersetzt: „Hebrews recognizes that listeners [sic!] have not yet arrived, but hope for the city ‚that is to come‘ (13:14)“.32 Der Gebrauch des Perfekts sei lediglich rhetorisch motiviert: „[i]t adds vividness“. 33 Auch Löhr spricht lediglich von einem „Genaht-Sein zur Transzendenzsphäre“.34 Meines Erachtens hat proselhlu,qate – wie unten ausgeführt werden wird – tatsächlich auch eine rhetorische Dimension. Und die zahlreichen Aufforderungen im Hebr, auszuharren (vgl. z. B. 10,35f) bzw. den Weg bis zum Ende zu gehen (vgl. z. B. 12,12f), machen in der Tat nur dann Sinn, wenn die Adressaten das Ziel noch nicht vollständig erreicht haben.35 Weil es sich beim „himmlischen Jerusalem“ zudem – wie dargelegt – nicht um eine gegenwärtige, sondern eine eschatologisch-futurische Örtlichkeit handelt, wo man zu Gott hinzutritt bzw. hinzugetreten ist, hat das Perfekt (auch) einen proleptischen Aspekt.36 Backhaus sagt mit Recht zum „priesterlichen Privileg“ des Zutritts zu Gott, der in gewissem Sinn schon gegenwärtig möglich ist (vgl. z. B. Hebr 4,16; 10,22), dass sich diese „Würde“ erst in „der endzeitlichen Vollendung […] endgültig und umfassend durchsetzen [wird]“. 37 30
R. Jewett, Letter to Pilgrims. A Commentary on the Epistle to the Hebrews, New York: The Pilgrims Press, 1981, 223. 31 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 674. Ähnlich heisst es schon bei Theissen: „Die Feiernden gehören jetzt schon zur himmlischen Stadt. Das Ende ist vorweggenommen. Diese enthusiastisch-präsentische Eschatologie gehört zur mysterienhaften Frömmigkeit […]“ (vgl. Theissen, Untersuchungen, 88). 32 Vgl. Koester, Hebrews, 544. 33 Vgl. ebd., 550. 34 Vgl. Löhr, Umkehr, 263. 35 So z. B. auch Johnson, Hebrews, 328: „If they had literally ‚arrived‘ then there would have been no need for the exhortation to endurance“. 36 Ähnlich auch H. Anderson, „The Jewish Antecedents of the Christology in Hebrews“, in: J. H. Charlesworth (Hg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, Minneapolis, MN: Fortress, 1992, 522: „The perfect tense […] may be regarded as a proleptic or prophetic perfect“; vgl. auch Johnson, Hebrews, 328: „The vision he presents, to be sure, is proleptic“. Ein anderes Beispiel für eine Perfektform mit proleptischem bzw. futurischem Aspekt ist z. B. Joh 20,23 (a;n tinwn avfh/te ta.j a`marti,aj avfe,wntai auvtoi/j( a;n tinwn krath/te kekra,thntai, vgl. dazu z. B. H.-U. Weidemann, Der Tod Jesu im Johannesevangelium. Die erste Abschiedsrede als Schlüsseltext für den Passions- und Osterbericht, BZNW 122, Berlin: de Gruyter, 2004, 466, Anm. 79). 37 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 189.
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Allerdings ist damit die Frage nach einer realisierten Eschatologie keineswegs vom Tisch. Denn mir scheint es geboten, proselhlu,qate in einer Linie zu einer anderen in Perfektform gemachten Heilsaussage im Hebr zu sehen. In 10,14 heisst es: „Denn durch eine einzige Opferdarbringung (prosfora/|) hat er die, die geheiligt werden (tou.j a`giazome,nouj), für immer vollkommen gemacht (tetelei,wken eivj to. dihneke.j)“. Braun spricht in Bezug auf tetelei,wken – mit Blick auf eivj to. dihneke.j38 und die perfektivisch formulierte Vollendung des Sohnes „in Ewigkeit“ nach 7,28 mit Recht – von einem „Pefect [sic!] der bleibenden Gültigkeit“.39 Somit erscheint die Vollendung bzw. die „Erlösung“ bzw. das Erlöst-Sein der (noch lebenden) Gläubigen als bereits erreicht und „von absoluter, ewiger Gültigkeit“40, an der es nichts zu rütteln gibt. Damit scheint sich der Verfasser des Hebräerbriefs wenigstens zu einer seiner Heilsaussagen in Widerspruch zu begeben, nämlich dass die Vollendung erst in der Gegenwart Gottes definitiv erlangt ist (vgl. Hebr 11,39f; 12,23).41 Falls die Gläubigen nach dem Verfasser abfallen und verloren gehen können (vgl. z. B. Hebr 6,4–8; 10,26–31; 12,16f)42, ergäbe sich sogar noch eine zweite Widersprüchlichkeit. Aber der Autor lässt diese kaum überbrückbare Spannung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht offensichtlich bewusst zu (vgl. auch die Aussage in 10,10 h`giasme,noi evsme,n mit der Bezeichnung der Gläubigen als a`giazome,noi in 10,14). Auf jeden Fall nähert er sich in Hebr 10,14 durchaus an etwas, was man als eine „realisierte Eschatologie“ bezeichnen könnte. Darum mutet mir dieser Begriff auch für proselhlu,qate in Hebr 12,22 nicht als abwegig an. Denn „das präsentisch-proleptische Moment der Heilserfahrung“ ist − wie Backhaus bemerkt − an dieser Stelle klar „betont“43 und „[d]ie Grenzen
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Mit der Bedeutung „für immer“, „beständig“ (vgl. Bauer, Wörterbuch, 392). Vgl. Braun, Hebräer, 302. 40 So richtig Grässer, Hebräer II, 231. 41 ↑ B.IV.2.2.3.c.ii. 42 Zur kontrovers diskutierten Frage nach einer realen Möglichkeit des Abfalls bzw. einer tatsächlichen Unmöglichkeit einer zweiten Umkehr vgl. z. B. Salevao, Legitimation, 250– 338 und B. J. Oropeza, „The Warning Passages in Hebrews: Revised Theologies and New Methods of Interpretation“, in: CBR 10.1/2011, 81–100. Nach Löhr z. B. besteht „hypothetisch die Möglichkeit des Abfalls, vor welcher der ganze Text ja warnt“ (vgl. Löhr, Umkehr, 245), und die „Unmöglichkeit der Umkehr“ erscheint „als von Gott gesetztes Faktum“ (ebd., 287). Backhaus z. B. interpretiert die drei Texte (Hebr 6,4–8; 10,26–31; 12,16f) mit Blick auf die antike Rhetorik anders: „Eine Weile (parumper) soll sich der Redner die Empörung zu eigen machen (vgl. [Quint., Inst.] 6,2,34). Die drei metus-Passagen entfalten ihre affektive Wirkung also gerade in gezielter Vorläufigkeit. Dann aber ist es eine Fehlentscheidung, wenn man sie aus ihrer pathetischen Sequenz herausnimmt, isoliert betrachtet und auf ihren propositionalen Gehalt als dogmatische Aussage oder bussrechtliche Weisung hin liest. Aus dem heilsamen Schrecken wurde so die schreckliche Heillosigkeit“. 43 Vgl. Backhaus, „Land“ 184. 39
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von Raum und Zeit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erscheinen“ tatsächlich – wie Laub es formuliert− „als überwunden“. 44 Damit ist sogleich die nächste Frage aufgeworfen, nämlich jene nach der Verankerung des Hinzugetreten-Seins in der Vergangenheit: Wann sind die Adressaten proleptisch zu der eschatologisch-futurischen Gottesstadt und ihren Bewohnern hinzugetreten? 3.2 Die Frage nach der Verankerung in der Vergangenheit Nach einigen Exegeten sind die Adressaten mit ihrer Bekehrung zum „himmlischen Jerusalem“ „hinzugetreten“.45 Nach Thompson erinnert der Autor an „the community’s conversion, in which they were ,enlightened‘ (6:4; 10,32) and experienced ,the powers of the coming age‘ (6:5)“.46 Bruce und Witherington führen dazu als Argument die Nähe von proselhlu,qate zum Begriff prosh,lutoj an (vgl. auch Philo, Spec. 1,51!).47 Andere sehen beim Hinzugetreten-Sein die Taufe angesprochen. 48 Die beiden verschiedenen Deutungen müssen kein Widerspruch sein, wenn man bedenkt, dass nach urchristlicher Praxis Bekehrung und Taufe oft zu einer „Bekehrungstaufe“ zusammenfiel (vgl. z. B. Apg 2,38.41; 8,36–38; 16,15f.30– 34; 18,8).49 Dass diese Bekehrungstaufe den Moment des Hinzutretens meint, lässt die offenbar auch auf die Taufe bezogene Aussage in Hebr 10,22 lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/50 – auch eine Perfektform! – als durchaus plausibel erscheinen. Dafür spricht auch DtnLXX 4,11 als der hinter dem proselhlu,qate in 12,18.24 stehende Prätext, weil die Stelle das aktiv-willentliche Hinzutreten des Volkes betont (prosh,lqete kai. e;sthte u`po. to. o;roj). Die Verankerung von proselhlu,qate in der Vergangenheit geht aber noch einen beachtlichen Schritt hinter den individuellen „Entscheid“ des jeweiligen Gläubigen für Christus bzw. Gott zurück. Denn der Hebr verknüpft sowohl das Geheiligt-worden-Sein als auch das Vollendet-worden-Sein der Gläubigen mit dem Zeitpunkt des Christusgeschehens (vgl. z. B. auch Röm 6,6: o` palaio.j h`mw/n a;nqrwpoj sunestaurw,qh): Dann sind sie geheiligt worden (vgl. Hebr 10,10: evn w-| qelh,mati h`giasme,noi evsme.n dia. th/j prosfora/j tou/ sw,matoj VIhsou/ Cristou/ evfa,pax), dann sind sie vollendet worden (vgl. 10,14: mia/| ga.r pros44
Vgl. Laub, Hebräerbrief, 173. So neuerdings z. B. auch Griffiths, Preaching, 116. 46 Vgl. Thompson, Hebrews, 267; so z. B. auch Peterson, Perfection, 160. 47 Vgl. Bruce, Hebrews, 355 und Witherington, Hebrews, 339. 48 Vgl. z. B. Casey, Eschatology, 335f; Laub, Hebräerbrief, 173. 49 Avemarie spricht bezüglich Apg 16,15f.30–34 und 18,8 von den „Bekehrungstaufen der Paulusmission“ (vgl. F. Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte, WUNT 139, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, 399ff). 50 Vgl. dazu Anm. 780 im Kapitel IV des Teils B. 45
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
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fora/| tetelei,wken eivj to. dihneke.j).51 Das Hinzugetreten-Sein der Adressaten scheint mir darum über die „aktive“ Bekehrungstaufe hinaus auch im „passiv“ zu empfangenden Erlösungswerk Christi verankert zu sein, wie Backhaus richtig sagt: „Die Distanz zu Gott ist durch die sphärenüberwindende Heilstat Christi prinzipiell aufgehoben (perfektisch-eschatologisch)“.52 Wenn die Adressaten also bei ihrer Bekehrungstaufe bzw. aufgrund des Christusgeschehens schon zu der eschatologisch-futurischen Gottesgemeinschaft gekommen sind, dann stellt sich die Frage nach der Wirklichkeit dieses Hinzugetreten-Seins. 3.3 Die Frage nach der Wirklichkeit – die Wichtigkeit des Heiligen Geistes und des Glaubens Auch wenn in Hebr 12,22, wie dargelegt, möglicherweise eine Art „realisierte Eschatologie“ vorliegt, so sind nach der Vorstellung des Verfassers die Adressaten kaum physisch zu der erst in Zukunft offenbart werdenden Gottesstadt hinzugetreten. Es muss sich vielmehr um ein geistliches Geschehen handeln. Mit Recht sagt Eisele, dass der Zutritt der Gläubigen „im Geiste“ geschieht.53 Allerdings denkt der Verfasser m. E. weniger an das menschliche pneu/ma54 und mehr an den Heiligen Geist. Denn in Hebr 6,4f sagt er, dass die „Erleuchteten“ (fwtisqe,ntej), d. h. die Christen bzw. Bekehrten bzw. Neugeborenen55, „zu Teilhabern des Heiligen Geistes geworden sind“ (meto,couj genhqe,ntaj pneu,matoj a`gi,ou) und so (!) auch die „Kräfte des zukünftigen Äons geschmeckt haben“ (geusame,nouj […] duna,meij te me,llontoj aivw/noj).56 Der Heilige Geist vermittelt also nicht nur zwischen irdischer und himmlischer Wirklichkeit (vgl. Hebr 9,14 und die durch den Heiligen Geist vermittelte Kreuzesdarbringung
51
Vgl. z. B. Peterson, Perfection, 149 zu Hebr 10,14: „The perfection […] is here proclaimed as an act of Christ, already accomplished by his single offering for sins“. 52 Vgl. Backhaus, „Per Christum“, 69. 53 Vgl. Eisele, Reich, 392. Wie dargelegt (↑ B.IV.2.1.3.b), sieht Eisele aber im „himmlischen Jerusalem“ die gegenwärtig-jenseitige Himmelswelt. 54 Vgl. Eisele, Reich, 392. 55 So z. B. auch Grässer, Hebräer I, 347–350. 56 So z. B. auch Lane, Hebrews I, 141: „The Holy Spirit had not only formed the community but was bringing it to eschatological fulfillment“. Die beiden Sätze geusame,nouj te th/j dwrea/j th/j evpourani,ou kai. meto,couj genhqe,ntaj pneu,matoj a`gi,ou und kai. kalo.n geusame,nouj qeou/ r`h/ma duna,meij te me,llontoj aivw/noj gehören – wie das wiederholte Partizip deutlich zeigt – sachlich eng zusammen, wobei offenbar der Heilige Geist der Vermittler des göttlichen Redens und der duna,meij Gottes ist (vgl. Hebr 2,4!).
256
B. Exegese von Hebr 12,18−29
vor Gott57), sondern auch zwischen gegenwärtiger und zukünftiger. Im Heiligen Geist können die Adressaten zu der futurisch-eschatologischen Gottesstadt schon jetzt hinzugetreten sein und sie „(vor-)kosten“ bzw. „schmecken“. 58 Neben dem Heiligen Geist spielt beim proleptischen Hinzugetreten-Sein auch der Glaube der Christen eine Rolle. In Hebr 11,1 heisst es: :Estin de. pi,stij evlpizome,nwn u`po,stasij( pragma,twn e;legcoj ouv blepome,nwnÅ Die Bedeutung dieser aus einem synthetischen Parallelismus bestehenden „Definition der pi,stij“59 ist umstritten.60 Mit den evlpizome,noi sind aber sehr wahrscheinlich die erhofften eschatologischen Heilsgüter wie z. B. die göttliche kata,pausij (4,10f) und die zukünftige Gottesstadt (vgl. Hebr 13,14) gemeint.61 Und der Begriff u`po,stasij wird vom Verfasser m. E. bewusst doppeldeutig verwendet. Einerseits meint er im Blick auf Hebr 3,14 (th.n avrch.n th/j u`posta,sewj me,cri te,louj bebai,an kata,scwmen) und die „Antithetik des ,Feststehens‘ und des ‚Zurückweichens‘“62 in Hebr 10,32–39 wohl ein „Feststehen“ bzw. „Beharren“.63 Andererseits scheint der terminus hinsichtlich Hebr 1,3 (carakth.r th/j u`posta,sewj) und des parallelen Begriffs e;legcoj mit der offensichtlichen Bedeutung von „Beweis“64 auch als „tragende Wirklichkeit“65 bzw.
57
↑ B.IV.2.3.2.c.iv. Karrer bezeichnet das „Schmecken“ (geu,esqai) der himmlischen bzw. zukünftigen Wirklichkeit in Hebr 6,4f mit Recht als „reale Erfahrung“ (vgl. Karrer, Hebräer I, 43). 59 Vgl. T. Söding, „Zuversicht und Geduld im Schauen auf Jesus: Zum Glaubensbegriff des Hebräerbriefes“, in: ZNW 82.3−4/1991, 224; zu einer differenzierten Deutung vom vorliegenden „Definitionsstil“ vgl. Rose, Wolke, 92–98. 60 Zu einem Überblick verschiedenster Deutungen vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 93–99. 61 So z. B. Grässer, Hebräer III, 96f; Schunack, Hebräerbrief, 163f; auch Lindsay spricht von einem „faith as hope, in expectation of a final eschatological event“ (vgl. D. R. Lindsay, „Pistis and ’Emunah: The Nature of Faith in the Epistle to the Hebrews“, in: R. Bauckham (Hg.), A Cloud of Witnesses. The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts, LNTS 387, London, New York: T&T Clark, 2008, 162). 62 Vgl. Rose, Wolke, 101. 63 Vgl. z. B. E. Grässer, Der Glaube im Hebräerbrief, MThSt 2, Marburg: N. G. Elwert, 1965, 47–51; O. Betz, „Firmness in Faith: Hebrews 11:1 and Isaiah 28:16“, in: B. P. Thompson (Hg.), Scripture: Meaning and Method. Essays presented to Anthony Tyrrell Hanson for his 70. birthday, Hull: Hull Univ. Press, 1987, 434f; Söding, „Zuversicht“, 225f; Rose, Wolke, 101. 64 Vgl. z. B. Bauer, Wörterbuch, 502; Cockerill, Hebrews, 519.521 („evidence“) und Massonnet, Hébreux, 311.313 („preuve“); ähnlich auch B. Schliesser, „Glauben und Denken im Hebräerbrief und bei Paulus: Zwei frühchristliche Perspektiven auf die Rationalität des Glaubens“, in: J. Frey; B. Schliesser, et al. (Hg.), Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt, WUNT 373, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 522−524. 65 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 376.383. 58
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
257
„Dasein“66 bzw. (objektive) „Realität“67 verstanden sein zu wollen. Karrer bezeichnet infolgedessen den Glauben mit Recht als „ein von Gott gewährtes Geschenk von Evidenz“. 68 Im Glauben vergegenwärtigt sich also die Zukunft, das zukünftige Heil durchdringt unter der Vermittlung des Glaubens in gewissem Sinn real die Gegenwart, oder wie Lane es treffend ausdrückt: „[F]aith celebrates now the reality of the future blessings that constitute the objective content of hope. The u`po,stasij thus has reference to the point of departure and the ground for a now unalterable course of events that will culminate in the realization of the promises of God.“69
Wenn der Glaube also nach Hebr 11,1 gewissermassen die Zukunft in die Gegenwart hineinzieht – Barrett spricht von einem „eschatological faith“, der ein „present grasp upon invisible truth“ ermöglicht70 –, dann wird der Glaube auch beim proleptischen proselhlu,qate in Hebr 12,22 eine wichtige Rolle spielen. Lindars sagt zu Hebr 12,22–24 mit Recht: „[T]he future is anticipated by faith“.71 Treffend äussert sich auch Spicq: „Les chrétiens, par la foi, rencontrent personnellement dieu“.72 Braun formuliert es ebenso passend: „Sie [sc. die Adressaten] sind da: in Glauben und Sehnsucht“. 73 Bei aller durch den Glauben vermittelten gegenwärtigen Realität der Zukunft bleibt aber die Gottesstadt auch eine zukünftige Grösse, die die Adressaten noch „suchen“ müssen (13,14). Mit Recht spricht Käsemann darum von einer „eschatologische[n] Dialektik“: „Der Blick ist ganz und gar vorwärts in die göttliche Zukunft gerichtet, wohin die Verheissung weist. Aber er darf und kann das nur, weil diese Zukunft keine Angelegenheit der Sorge, des Fragens, der Ungewissheit mehr ist, sondern gleichsam sichtbar schon vor uns liegt und durch Gottes gegenwärtiges Handeln im Verheissungswort gesichert ist. Weil Gott sich uns gezeigt hat, ist auch die unsichtbare Zukunft uns bereits enthüllt.“74
66
Vgl. Karrer, Hebräer II, 273. Eine Vielzahl englischsprachiger Exegeten übersetzt u`po,stasij mit „reality“; so z. B. Attridge, Hebrews, 309f; Lane, Hebrews II, 325.328; Cockerill, Hebrews, 320f; M. C. Easter, Faith and the Faithfulness of Jesus in Hebrews, SNTS.MS 160, Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2014, 86f. 68 Vgl. Karrer, Hebräer II, 273. 69 Lane, Hebrews II, 328f. 70 Vgl. Barrett, „Eschatology“, 381. 71 Vgl. Lindars, Theology, 115. 72 Vgl. Spicq, Hébreux II, 405. 73 Vgl. Braun, Hebräer, 435. Braun ist einer der wenigen, der den Zusammenhang von Hebr 11,1 und 12,22 bemerkt, wenn er sagt (vgl. ebd.): „Für den Glauben ist sie [sc. die zukünftige Gottesstadt] noch unsichtbar, aber eine Realität (vgl. 11,1). Darum kann Hb gegenständlich von ihr reden; ‚herantreten‘, wie zu einem Ort“. Ein anderer ist z. B. Portalatin, Temporal, 204. 74 Käsemann, Gottesvolk, 23. 67
258
B. Exegese von Hebr 12,18−29
Dass der feste Glaube nach dem Hebr im unwiderruflichen göttlichen Verheissungswort begründet ist (vgl. z. B. 6,17f; 10,22f; 11,11)75, öffnet bei der Aussage „Ihr seid hinzugetreten!“ in Hebr 12,22 nun auch eine wichtige seelsorgerliche Dimension. 3.4 Die seelsorgerliche und rhetorische Dimension Mit Recht versteht Braun proselhlu,qate als „Zusage“ an die Adressaten.76 „Ihr seid schon zum heilvollen himmlischen Jerusalem hinzugetreten!“ ist ein sehr tröstlicher, seelsorgerlicher Zuspruch für Christen, die mit einem Bein noch in einer ganz anderen, oft sehr widrigen Existenz stehen (vgl. z. B. Hebr 10,32– 36; 12,3f). Die seelsorgerliche Zusage des Verfassers an die Gläubigen, dass sie durch ihren Glauben zum zukünftigen Heil hinzugetreten sind, ist kein gutgemeintes, aber unsicheres Wort eines fehlbaren Menschen. Denn so wie der Glaube in der göttlichen Verheissung sicher verankert ist (vgl. z. B. 6,17f; 10,22f; 11,11), so ist auch die Zusage des Hebräerautors an die Gläubigen in der „Verheissung“ von Gott selbst gut begründet (vgl. Hebr 11,39f mit 12,22). Durch den Verfasser des Hebräerbriefs spricht gewissermassen Gott selbst den Adressaten zu: Proselhlu,qate! Als seelsorgerliche Zusage kommt proselhlu,qate auch eine rhetorische Funktion zu. Die Adressaten hören, dass sie beim himmlischen Jerusalem angelangt sind, obwohl dies abschliessend erst am Ende der Zeit der Fall sein wird. Koester sagt dazu mit Recht: „[Hebr] brings them near through the power of his language“. 77 Long sieht eine Analogie zu heutigen Reisebüros, die mit einer intensiven Reisebeschreibung („travelogue“) die Imagination der Kunden anregen und die Vorstellung wecken, als sei man schon am wundervollen Urlaubsort angekommen.78 Backhaus beschreibt es ähnlich: „Oft hat der Vf. seine Adressaten aufgefordert, ‚hinzuschreiten‘. Jetzt sind sie – in der erlebten Welt der Rede – an ihr Ziel gelangt“.79 Die Frage ist nun, ob die Adressaten ihr Reiseziel sogar sehen, im Sinn einer mystischen Erfahrung. 3.5 Die Frage nach der Mystik Schon in seiner Dissertation hat Mackie in Bezug auf Hebr 12,22–24 von einem „mystical entry into heavenly Jerusalem“ gesprochen.80 In zwei neueren Aufsätzen hat er diese Deutung sowie die anderen angenommenen Parallelen des 75
Vgl. dazu z. B. Backhaus, „Per Christum“, 73. Vgl. Braun, Hebräer, 435. 77 Vgl. Koester, Hebrews, 550. 78 Vgl. T. G. Long, Hebrews, Int.BCTP, Louisville, KY: Westminster John Knox, 1997, 136f. 79 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 435. 80 Vgl. Mackie, Eschatology, 77. 76
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
259
Hebr zur „antik-jüdischen Mystik“ („Mysticism“) weiter ausgeführt.81 Mackie versteht alle Aufforderungen des Hebr, zu Gott hinzuzutreten (er nennt diesbezüglich 4,14–16; 6,18–20; 10,19–23 und 12,22–24), als „mystical visuality“. 82 Als Ziel dieser mystischen Visualisierung nennt er mit Verweis auf Hebr 2,12f „the enactment of the aforementioned divine adoption“.83 Die Visualisierung scheint ihm in den Aussagen über das Sehen von Jesus gut begründet zu sein (er nennt dazu Hebr 2,9; 3,1; 9,24–28 und 12,2).84 Weil in Hebr 4,14–16 und 10,19–23 der Aufruf, ins himmlische Heiligtum zu treten, mit der Himmelfahrt Jesu verknüpft ist, sieht Mackie die Vorstellung von einem „mystical, heavenly ascent of the whole community“ vorliegen.85 Von Hebr 12,22–24 spricht er von einer „final communal vision“.86 Als Belege für eine solche mystisch-ekstatische Deutung des Zu-Gott-Hinzutretens führt Mackie z. B. die „Himmelfahrten“ von Henoch (vgl. äthHen 14,8ff), Levi (vgl. TestLev 2,5ff), der QumranGemeinschaft (vgl. z. B. 1QHa XI,21ff; XIX,13ff) und Paulus (2.Kor 12,1ff) an.87 Barnard hat in seiner Dissertation diese Interpretation des Hebr auf dem Hintergrund frühjüdischer Mystik weiter vorangetrieben. Er überschreibt die Schilderungen von Hebr 12,22–24 mit „Mystical Entry into the Heavenly Jerusalem“88 und stellt fest: „The recipients of Hebrews are clearly on earth and Heb 12:22–24 does not refer to their final and unending access to God’s heavenly sanctuary, that is, when the eschaton is consummated (or at death). Rather, this passage refers to a pre-death experience of the divine, which, incidentally, is more or less how mysticism was defined at the outset of this study. The scenario envisaged in Heb 12:22–24 (as well as the other passages in Hebrews discussed in this Chapter [sc. z. B. 4,14–16; 6,19f; 10,19–25]) is reminiscent of the Ascension of Isaiah, which states plainly that Isaiah’s body remained upon the earth while his mind and spirit ascended into the heavens (Ascen. Isa. 6:10–16; cf. Hekhalot Rabbati §§93, 225– 27).“89
81
Vgl. Mackie, „Heavenly Sanctuary“, 77–117; S. D. Mackie, „Ancient Jewish Mystical Motifs in Hebrews’ Theology of Access and Entry Exhortations“, in: NTS 58.1/2012, 88– 104. 82 Vgl. Mackie, „Heavenly Sanctuary“, 79. 83 Vgl. ebd. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. ebd., 98. „[A] manifestation of the heavenly sanctuary on earth“ scheint ihm aber auch möglich zu sein (vgl. ebd.). 86 Vgl. ebd., 115. 87 Vgl. ebd., 87–93; vgl. auch die vertiefenden Ausführungen in Mackie, „Ancient“, 90– 103. 88 Vgl. Barnard, Mysticism, 208. 89 Ebd., 210.
260
B. Exegese von Hebr 12,18−29
Die Untersuchungen zu den Parallelen des Hebr zur frühjüdischen „Mystik“ durch Mackie und Barnard90 können im Rahmen dieser Arbeit nicht grundsätzlich auf ihre Plausibilität untersucht werden. Allerdings scheint mir eine „mystische“ Deutung von proselhlu,qate in Hebr 12,22 aus zwei Gründen kaum richtig. 1) Es handelt sich in Hebr 12,22–24 – wie ausführlich dargelegt wurde – eben gerade nicht um die gegenwärtige Himmelswelt, zu der man mystisch, ausserkörperlich hinzutreten kann, sondern um einen Ort bzw. einen Moment der Zukunft. 2) Fiktive oder tatsächliche mystische Erlebnisse der Himmelswelt machen im Frühjudentum normalerweise Einzelpersonen (z. B. Henoch, Levi, Paulus und Jesaja), und nicht ganze Menschengruppen, wie man das für Hebr 12,22– 24 annehmen müsste. Es ist zwar möglich, dass das literarische „Ich“ in den Hodayot die Qumran-Gemeinschaft miteinschliesst und Texte wie z. B. 1QHa XI,21ff und XIX,13ff eine mystische Elevation der anbetenden yachad in den Himmel im Blick haben91, aber die mystische Erfahrung könnte sich auch auf den Sprecher (evtl. der „Lehrer der Gerechtigkeit“) beschränken92 bzw. könnten die Stellen auch in gewisser Weise eschatologisch-futurisch zu verstehen sein93. Die Vorstellung des Hebr von einem „mystischen“ Erlebnis der Adressaten in Hebr 12,22 ist also kaum wahrscheinlich. 94 Mehr noch: Die gesamte „mystische“ Interpretation des Hebr muss letztlich spekulativ bleiben, was auch Mackie zugibt.95 Die Frage ist nun, wie es um die weitverbreitete „kultische“ Deutung von Hebr 12,22 und anderen prose,rcomai-Stellen im Hebr steht.
90
Vgl. z. B. aber auch C. Rowland; C. R. Morray-Jones, The Mystery of God. Early Jewish Mysticism and the New Testament, CRI.JTECL 12, Leiden: Brill, 2009, 167–173. 91 Vgl. z. B. E. G. Chazon, „Human and Angelic Prayer in the Light of the Dead Sea Scrolls“, in: E. Chazon (Hg.), Liturgical Perspectives. Prayer and Poetry in Light of the Dead Sea Scrolls, STDJ 48, Leiden: Brill, 2003, 35–48; T. Elgvin, „Temple Mysticism and the Temple of Men“, in: C. Hempel (Hg.), The Dead Sea Scrolls. Texts and Context, STDJ 90, Leiden: Brill, 2010, 227–242; ähnlich A. K. Harkins, Reading with an „I“ to the Heavens. Looking at the Qumran Hodayot through the Lens of Visionary Traditions, Ekstasis 3, Berlin, New York: de Gruyter, 2012, 267–273. 92 So ist z. B. auch der Schluss von Chazon vom „Ich“ auf die Gemeinde mit Recht sehr zurückhaltend: „It is not impossible that the speaker, whether the Teacher of Righteousness or a similarly exalted leader of the Yaḥad, projected his own spiritual, perhaps even mystical, experience onto all members of his community or conversely, that the Yaḥad projected onto itself the Teacher’s achievements and experiences“ (vgl. Chazon, „Prayer“, 45). 93 Vgl. Puech, croyance, 375–381; vgl. auch ebd., 417–419. 94 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 258: „Nicht visionäre Erfahrungen sind vorausgesetzt“. 95 Vgl. Mackie, „Heavenly Sanctuary“, 117: „This attempt at surfacing and piecing together Hebrews’ heavenly sanctuary mysticism is admittedly speculative. We are even less
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
261
3.6 Die Frage nach der kultischen Dimension Nach Grässer bedeutet das Hinzugetreten-Sein der christlichen Adressatengemeinde zum himmlischen Jerusalem in Hebr 12,22, dass sie „mit jedem prose,rcesqai in der Gemeinschaft mit der evkklhsi,a [sic!] prwtoto,kwn (V 23) eine Himmel und Erde umspannende Kultfeier [vollzieht]“.96 Scholer spricht von der hinzugetretenen Gemeinde als einer „cultic assembly“, die zu einer „cultic sphere“ bzw. einem „high priestly status“ Zugang erhalten hat.97 Gemäss vielen Exegeten denkt der Verfasser des Hebräerbriefs bei proselhlu,qate konkret an die Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst, wie z. B. Schierse schreibt: „Von ihrer gottesdienstlichen Danksagungsfeier aus weiss sich die Gemeinde schon mitten im himmlischen Jerusalem“.98 Einige sehen in diesem gottesdienstlichen Hinzutreten bzw. Hinzugetreten-Sein entweder den Lobpreis99 oder das Abendmahl100 besonders betont. Für Michel hingegen ist proselhlu,qate umfassend, d. h. in Bezug auf viele Aspekte des Gemeindegottesdienstes zu verstehen: „im Bekenntnis, im Gebet, in der Taufe und Eucharistie naht man sich Gott”.101 März sieht mit Blick auf 13,12f darüber hinaus gar das ganze alltägliche Leben der Gemeinde angesprochen, das z. B. auch Bruderliebe und Gastfreundschaft miteinschliesse (13,1f): „Das ganze Leben
certain of its reception; that is, did the community actually understand this document’s intent and heed its exhortation, leading to mystical experiences comparable to those promised?“. 96 Vgl. Grässer, Hebräer III, 304; vgl. dazu auch Theissen, Untersuchungen, 88.103. 97 Vgl. Scholer, Priests, 149; vgl. dazu auch Motyer, „Physical Community“, 245; Westfall, Discourse, 280f. 98 Vgl. Schierse, Verheissung, 182; vgl. z. B. auch Grässer, Glaube, 41; F. Hahn, „2. Sonntag nach Epiphanias: Hebräer 12,18−25a“, in: GPM 20/1965/66, 80; Loader, Sohn, 242. 99 Vgl. z. B. Ellingworth, Hebrews, 671; Lane, Hebrews II, 460; Mackie, Eschatology, 138; M. E. Boring; F. B. Craddock, The People’s New Testament Commentary, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2009, 709; D. S. Long, Hebrews, 224; angedeutet auch bei H. W. Attridge, „How the Scrolls Impacted Scholarship on Hebrews“, in: H. W. Attridge, Essays on John and Hebrews, WUNT 264, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, 336. 100 Vgl. z. B. Theissen, Untersuchungen, 74 („Der Verfasser erinnert damit [sc. proselhlu,qate] an das Hinzutreten beim Abendmahl“); M. Cahill, „A Home for the Homily: An Approach to Hebrews“, in: IThQ 60.2/1994, 147; A. A. Just, „Entering Holiness: Christology and Eucharist in Hebrews“, in: CTQ 69.1/2005, 90–95; zur umstrittenen Frage nach der Bedeutung des Abendmahls für den Hebr als Ganzes vgl. z. B. R. Williamson, „The Eucharist and the Epistle to the Hebrews“, in: NTS 21/1975, 300–312 (er misst dem Abendmahl für den Hebr praktisch keine Bedeutung zu); J. Swetnam, „Christology and the Eucharist in the Epistle to the Hebrews“, in: Bib. 70.1/1989, 74–95 (für ihn ist das Abendmahl für das Verständnis des Hebr zentral) sowie H.-F. Weiss, Hebräer, 726–729 (er vertritt eine ausgewogene Position). 101 Vgl. Michel, Hebräer, 461; ähnlich Hegermann, Hebräer, 258.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
der Gemeinde ist so als Teilnahme am eschatologischen Kult der Vollendung verstanden“.102 Wie sind nun diese „kultischen“ Deutungen von proselhlu,qate zu beurteilen? Meines Erachtens kann man mit Blick auf die bewusste Anlehnung von proselhlu,qate in Hebr 12,18.22 an prosh,lqete DtnLXX 4,11 eine gewisse kultische Dimension des Hinzugetreten-Seins nicht leugnen. 103 Denn auch wenn es in DtnLXX 4,11 zunächst lediglich um den physischen Akt des Hinzutretens geht, so zeigen die V.12–14 doch deutlich, dass prosh,lqete (und damit auch proselhlu,qate in Hebr 12,22) auch eine kultische Konnotation hat104: Das Volk tritt am Sinai vor Gott und empfängt von ihm einen Bund, der das gehorsame GottDienen mit einschliesst (vgl. auch Ex 19,10ff!). Klar: Am Zion schliesst Gott mit der hinzugetretenen Gemeinde keinen Bund – der Neue Bund ist im Christusereignis längst geschlossen (vgl. z. B. Hebr 9,15; 13,20) und muss nicht in Anlehnung zum Sinai-Ereignis noch „proklamiert“ werden.105 In gewisser Weise betont Löhr zudem mit Recht, dass die Adressaten nicht „zu dem Herrn kultischer Verehrung“ getreten sind, sondern zum göttlichen „Richter“ (12,23).106 Und dennoch: Gerade die Beschreibung der Bewohner des himmlischen Jerusalems als fröhliche Lobpreisgemeinschaft (vgl. 12,22: panh,gurij), in die die Adressaten zu einem zukünftigen Zeitpunkt aufgenommen werden, belegt die partiell kultisch-gottesdienstliche Natur ihres Hinzugetreten-Seins. 107 Sie werden den geoffenbarten Endrichter nicht nur fürchten, sondern auch anbeten (vgl. z. B. Phil 2,9–11).108 Der kultische Charakter von proselhlu,qate in Hebr 12,22 wird auch durch die Aufforderung in 12,28, Gott priesterlich zu dienen (latreu,wmen), weiter unterstrichen (↑ B.VI.3.4.3.a). Denn sie bezieht sich durch die Verknüpfung mit der Aussage basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej nicht bloss auf die Gegenwart, sondern auch auf die Zukunft: „Mit Blick auf das kommende unerschütterliche Reich [sc. das himmlische Jerusalem] lasst uns schon jetzt das tun, was wir dort für immer tun werden, nämlich Gott dienen!“ (vgl. dazu auch Offb 22,3). Dafür, dass das Hinzugetreten-Sein der Adressaten in Hebr 12,22 auch ein (priesterlich-)kultischer Akt ist, spricht auch die Verwendung von prose,rcesqai an anderen Stellen im Hebräerbrief. Das Verb prose,rcesqai 102 Vgl. C.-P. März, „‚Ein Aussenseiter im Neuen Testament‘: Zur Aktualität des Hebräerbriefes“, in: BiKi 48.4/1993, 178. 103 Gegen Kosmala, Hebräer, 123f, der ein „psalmistisches“ Hinzutreten als Hintergrund von Hebr 12,22 erkennt. 104 So richtig Casey, Eschatology, 312f; Lane, Hebrews II, 459. 105 Gegen Käsemann, Gottesvolk, 29–31. 106 So richtig Löhr, Umkehr, 258. 107 So z. B. auch Scholer, Priests, 145f. 108 Witherington spricht in diesem Zusammenhang vom Warten der Adressaten als Pilger auf den „final worship service“ (Witherington, Hebrews, 339).
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
263
kommt, abgesehen von Hebr 12,18.22, noch fünfmal vor: in 4,16; 7,25; 10,1.22 und 11,6. Offensichtlich kultisch verwendet wird das Verb in Hebr 10,1 und 10,22.109 In 10,1 werden die prosercome,noi nämlich im Rahmen des alttestamentlichen Opferwesens erwähnt und als latreu,ontej bezeichnet. In 10,22 werden die zum Hinzutreten aufgeforderten Adressaten (prosercw,meqa) als mit Blut Besprengte (r`erantisme,noi) und mit Wasser am ganzen Körper Gewaschene (lelousme,noi) beschrieben, was offenbar auch auf die alttestamentliche Priesterweihe anspielt.110 Wie Jesus als Hohepriester zu Gott tritt, so dürfen auch die Gläubigen durch den Vorhang hindurch in das Allerheiligste treten und Gott priesterlich nahen (10,19–22).111 Umstritten ist nun, ob auch in Hebr 4,16 (prosercw,meqa […] tw/| qro,nw| th/j ca,ritoj); 7,25 (tou.j prosercome,nouj diV auvtou/ [sc. VIhsou/] tw/| qew/|) und 11,6 (proserco,menon tw/| qew/|) ein „kultisches“ Gott-Nahen gemeint ist. Scholer bejaht die Frage und erkennt an allen Stellen priesterlich-kultische Vorzeichen.112 Thüsing sieht jedes im Hebr erwähnte Hinzutreten der Gläubigen zu Gott im Zusammenhang mit dem Abendmahl und darum als durch und durch kultischen Akt.113 Kritisch gegen eine vorschnelle „kultische“ Deutung von Hebr 4,16; 7,25 und 11,6 ist dagegen Löhr. Bezüglich 11,6 hält er sie für ausgeschlossen114, im Blick auf 4,16 und 7,25 zwar für wahrscheinlich, allerdings nicht in einem priesterlich-kultischen Sinn: Bei den Zu-Gott-Nahenden handele es sich nicht um Priester, sondern vielmehr „um die Kultteilnehmer, die mittels des Hohepriesters Jesus mit Gott in Kontakt treten können“.115 Wir können also in jedem Fall festhalten, dass das Verb prose,rcomai, abgesehen von Hebr 11,6, bei allen vor 12,18.22 erwähnten Stellen offenbar in irgendeiner Form kultische Konnotation hat. Dies lässt eine kultische Deutung von proselhlu,qate in Hebr 12,22 noch wahrscheinlicher erscheinen. Die Frage ist aber, ob das zum himmlischen Jerusalem Hinzugetreten-Sein der Adressaten mit ihrem regelmässigen gottesdienstlichen Zusammensein zusammenhängt. Löhr verneint dies aufgrund der Perfektform von proselhlu,qate, das an einen „einmalig vollzogenen Akt“ denken lasse.116 Meines 109
So auch der sonst kritische Löhr, Umkehr, 251. So richtig Scholer, Priests, 129; vgl. dazu auch die Ausführungen unter B.IV.2.3.2.a. Die Beschreibung der Adressaten als lelousme,noi to. sw/ma u[dati kaqarw/| in Hebr 10,22 bezieht sich offenbar gleichzeitig auch auf ihre Bekehrungstaufe (vgl. Anm. 780 im Kapitel IV des Teils B). 111 Möglicherweise ist auch das in Hebr 10,23 erwähnte Festhalten der o`mologi,a (im Sinne eines Lobpreisaktes) mit diesem priesterlichen Dienst der Adressaten verbunden (vgl. Scholer, Priests, 128). 112 Vgl. Scholer, Priests, 103–113.119–124.131–139. 113 Vgl. Thüsing, „Kulttheologie“, 189–200. 114 Vgl. Löhr, Umkehr, 255f. 115 Vgl. ebd., 255. 116 Vgl. ebd., 263 (vgl. auch seine Aussagen zum sich wiederholenden Abendmahl, ebd., 255); vgl. dazu auch Laub, Bekenntnis, 254, Anm. 214. 110
264
B. Exegese von Hebr 12,18−29
Erachtens schliesst aber die Verankerung von proselhlu,qate in der einmaligen Bekehrung und Wiedergeburt der Adressaten (↑ B.V.3.2) nicht aus, dass sie im gegenwärtigen Gottesdienst dieses Hinzugetreten-Sein aufrecht erhalten: Die Gläubigen stehen seit der Taufe im Gottesdienst als Gemeinde kontinuierlich vor Gott (vgl. den resultativen Aspekt des griechischen Perfekts!). Insbesondere der gottesdienstlichen Anbetung könnte dabei eine besondere Rolle zukommen (vgl. Hebr 13,15). Die Überzeugung, dass die Gläubigen im Lobpreis mit den Engeln vor Gottes Thron verbunden sind, ist im Frühjudentum auf jeden Fall breit belegt.117 Allerdings darf man nun keinesfalls so weit gehen, die Aufforderung an die Adressaten, Gott (im Gottesdienst) kultisch zu nahen (vgl. Hebr 4,16; 10,22), mit der Zusage des Hinzugetreten-Seins (vgl. Hebr 12,22) gleichzusetzen. Die beiden „sind – trotz des identischen Verbs – nicht zur Deckung zu bringen“, wie Löhr richtig betont.118 Zwar ist das Ziel des Nahens bzw. des Hinzugetreten-Seins, das gleiche: Gott. Allerdings befindet sich Gott nach Hebr 4,16 und 10,19–22 gegenwärtig im Allerheiligsten im Himmel, nach 12,22f aber eschatologisch-futurisch im himmlischen Jerusalem auf der „Erde“. Die Adressaten treten also (im Lobpreis) zu zwei unterschiedlichen Lokalitäten: 1) zum gegenwärtigen Himmlischen Tempel; 2) zur zukünftigen Gottesstadt.119
117
Vgl. dazu z. B. Chazon, „Liturgical“, 95–105; M. Weinfeld, Normative and Sectarian Judaism in the Second Temple Period, LSTS 54, London: T&T Clark, 2005, 48–52; zu rabbinischen Texten vgl. B. Ego, Im Himmel wie auf Erden. Studien zum Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt im rabbinischen Judentum, WUNT II 34, Tübingen: Mohr Siebeck, 1989, 62–68. 118 So richtig Löhr, Umkehr, 258, Anm. 622. 119 Analog dazu unterscheidet Laansma mit Recht zwischen dem Eintreten in den gegenwärtigen Himmlischen Tempel und dem Eintreten in die eschatologisch-futurische kata,pausij: „[The] entrance of believers into the heavenly temple appears to be a present privilege, while entrance into the kata,pausij is primarily a future affair“(vgl. Laansma, Rest, 315f).
V. Schlussfolgerungen zu Hebr 12,22−24
265
3.7 Fazit Zusammenfassend lässt sich zu proselhlu,qate in Hebr 12,22 also Folgendes sagen: Die Adressaten sind aufgrund des Christusgeschehens und ihrer Bekehrungstaufe unter der Vermittlung des Heiligen Geistes und des Glaubens proleptisch zum zukünftigen himmlischen Jerusalem „hinzugetreten“120, d. h. antizipativ bei Gott als ihrem letzten Ziel angekommen, und zwar als Gott-dienende Lobpreisschar, als die sie schon jetzt Gott realiter nahen können.121
120
Käsemann bemerkt dazu: „Die ganze christliche Wanderschaft vollzieht sich vom Anfang bis zum Ende im Angesicht des himmlischen Jerusalems“ (vgl. Käsemann, Gottesvolk, 31). 121 Diese eschatologische Dialektik bringt Backhaus gekonnt auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Distanz zu Gott ist durch die sphärenüberwindende Heilstat Christi prinzipiell aufgehoben (perfektisch-eschatologisch), so dass alle Gläubigen ‚schon jetzt‘ proleptisch die parrhsi,a zur Gottesgemeinschaft besitzen (präsentisch-eschatologisch), die sich mit der Parusie vollenden wird (futurisch-eschatologisch)“ (vgl. Backhaus, „Per Christum“, 69).
Kapitel VI
Analyse von Hebr 12,25–29 1 Einleitung Mit Hebr 12,24 ist die expositio als Gegenüberstellung der Sinai-Kratophanie und der Zion-Theophanie (V.18–24) abgeschlossen; ab V.25 beginnt „abrupt“1 die exhortatio. Letztere ist aber sowohl inhaltlich als auch formal-strukturell eng mit dem Lehrteil verknüpft. Mindestens sechs inhaltliche Bezüge sind deutlich zu erkennen. 1) Mit evkei/noi in Hebr 12,25 sind die Israeliten der Wüstengeneration gemeint, die auch am Sinai zugegen waren (vgl. V.19: oi` avkou,santej).2 2) Die Erwähnung des Weisung erteilenden Gottes (vgl. to.n crhmati,zonta) in Hebr 12,25 spielt auf V.19 und die fwnh.n r`hma,twn an, die Stimme Gottes, die Gebote des Bundes mitgeteilt hat3 (vgl. auch to. diastello,menon in V.20). 3) Mit der ehemals die Erde erschütternden „Stimme“ (fwnh,) in Hebr 12,26 lehnt sich der Hebr sowohl an die in Ex 19,16.18 beschriebenen seismischen Aktivitäten am Sinai als auch an den in Hebr 12,19 parallel zur fwnh/| r`hma,twn erwähnten Hörnerschall (sa,lpiggoj h;coj) an, der nach der Tora für die Erschütterungen offenbar (mit-)verantwortlich war (vgl. Ex 19,16–19).4 4) Das unerschütterliche Königreich (basilei,a avsa,leutoj) in Hebr 12,28 ist ein Rückgriff auf die Beschreibung des himmlischen Jerusalems in V.22–24.5 5) Das Wortpaar euvlabei,aj kai. de,ouj in Hebr 12,28 soll zum Teil (!) an e;kfobo,j […] kai. e;ntromoj in V.21 erinnern.6 6) Mit der Aussage in Hebr 12,29 „Auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer (pu/r katanali,skon)!“, greift der Verfasser das „angezündete Feuer“ (kekaume,nw| puri,) bei der Gottesoffenbarung am Sinai in V.18 auf, welche er auch durch die Entnahme von pu/r katanali,skon aus DtnLXX 4,24 vor Augen führt.7 Die wichtigsten formal-strukturellen Verbindungen von Hebr 12,25–29 mit 12,18–24 sind to.n lalou/nta (V.25) und ai[mati […] lalou/nti (V.24), mh. par1 Vgl. Lane, Hebrews II, 474. Abrupte Übergänge sind für den Hebr aber nichts Untypisches (vgl. z. B. 1,14 mit 2,1ff; 2,18 mit 3,1ff; 10,18 mit 10,19ff). 2 Mit evkei/noi nimmt der Verfasser– wie die Exegese von Hebr 12,25 zeigen wird (↑ B.VI.3.1.2.b) – nicht direkten Bezug auf die avkou,santej am Sinai. 3 ↑ B.VI.3.1.2.b. 4 ↑ B.VI.3.2.1. 5 ↑ B.VI.3.4.1.d. 6 ↑ B.VI.3.4.4.b. 7 ↑ B.VI.3.5.1.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
267
aith,shsqe bzw. paraithsa,menoi (V.25) und parh|th,santo (V.19), avpV ouvranw/n (V.25) und VIerousalh.m evpourani,w| bzw. evn ouvranoi/j (V.22f), h` fwnh, (V.26) und fwnh/| r`hma,twn (V.19), sowie pu/r katanali,skon (V.29) und kekaume,nw| puri, (V.18). Mit Blick auf diese zahlreichen inhaltlichen und strukturellen Verbindungen bezeichnet Moffatt die exhortatio mit Recht als „application“ der expositio.8 Der Verfasser zieht in Hebr 12,25–29 aus der vorangehenden synkrisis „Sinai−Zion“ allerdings nicht nur paränetische Schlüsse, sondern führt die Gegenüberstellung auch weiter aus (↑ C.II.2.1.1.b).
2 Struktur Hebr 12,25–29 lässt sich in zwei grössere Blöcke aufteilen: V.25–27 und V.28– 29. Beide Unterabschnitte beginnen nämlich mit einem Appell an die Adressaten (vgl. ble,pete mh. paraith,shsqe in V.25a und e;cwmen ca,rin bzw. latreu,wmen in V.28), welcher jeweils mehr oder weniger ausführlich begründet wird (vgl. den mit eiv ga.r eingeleiteten langen Begründungssatz in V.25b–279 sowie die mit kai. ga.r eröffnete kurze Begründung in V.29).10 Grässer hat dabei in der Tendenz Recht, wenn er zwischen einer „drohende[n] Warnung“ (V.25–27) und einem „ermunternden Aufruf“ (V.28f) unterscheidet.11 Allerdings gilt es zu beachten, dass der Aufruf in V.28f neben dem ermunternden Element (vgl. V.28a: basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej) auch ein drohendes bzw. warnendes Element beinhaltet (vgl. V.29: o` qeo.j h`mw/n pu/r katanali,skon). Wichtig zu bemerken ist weiter, dass der Verfasser die Ermunterung mit dem „unerschütterlichen Königreich“ aus den ermahnenden Ausführungen in V.26f entnimmt. Die Verknüpfung der beiden Blöcke zeigt sich auch darin, dass V.28–29 mit Blick auf das betonte dio, offenbar die Schlussfolgerung der vorangegangenen Ausführungen darstellen.
8
Vgl. Moffatt, Hebrews, 219; Grässer spricht von einer „auswertende[n] Paränese“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 302). 9 Auch wenn primär der Schluss a minore ad maius in V.25b die Warnung, Gottes Reden zurückzuweisen, begründet, so dient sekundär auch V.26 der Begründung: Es kommt eine durch die Stimme Gottes eingeleitete eschatologische Katastrophe, wo nur die Sich-nichtvon-Gott-Abwendenden bewahrt bleiben! In dem Sinn lässt sich sogar V.27 als eine das Zitat in V.26 erklärende Parenthese zu diesem einen, langen Begründungssatz dazuzählen. 10 Damit ist die These von Lane, dass die Form von Hebr 12,25–29 ein paränetischer Midrasch zu HagLXX 2,6 ist (vgl. Lane, Hebrews II, 447), ausgeschlossen. Denn das alttestamentliche Zitat in Hebr 12,26 ist lediglich ein Teil der Begründung, warum man den vom Himmel redenden Gott nicht ablehnen soll. Das Gewicht liegt vielmehr auf dem doppelten Appell an die Adressaten. 11 Vgl. Grässer, Hebräer III, 302.
268
B. Exegese von Hebr 12,18−29
3 Einzelexegese 3.1 Vers 25 Ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta\ eiv ga.r evkei/noi ouvk evxe,fugon evpi. gh/j paraithsa,menoi to.n crhmati,zonta( polu. ma/llon h`mei/j oi` to.n avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi „Seht zu, dass ihr niemals den Sprechenden abweist! Denn wenn jene nicht entflohen sind, die den abwiesen, der auf Erden Weisungen gab, wieviel mehr [werden wir nicht entfliehen], die wir uns von dem abwenden, der vom Himmel her [Weisungen gibt]!“
Für die Leser bzw. Hörer überraschend plötzlich wechselt der Verfasser des Hebräerbriefs von der expositio zur exhortatio.12 Eben noch beschreibt er die Adressaten als zum himmlischen Jerusalem und zu Gott Hinzugetretene und spricht ihnen damit ermutigend, tröstend das Heil zu. Und jetzt rüttelt er die Adressaten mit einem äusserst eindringlichen Appell auf: Ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta. Die Eindringlichkeit zeigt sich zunächst durch die Verwendung des coniunctivus prohibitivus (mh. paraith,shsqe), der die mit ble,pete bereits angesprochenen Adressaten grammatikalisch nochmals direkt anredet (vgl. z. B. auch Lk 21,8 und Gal 5,15): „Seht zu, dass ihr niemals den Sprechenden abweist!“. Weiter verleiht auch die auffallende Kürze dem Aufruf einen besonderen Nachdruck. So unterlässt es der Verfasser z. B., den „Sprechenden“ näher zu definieren.13 Den den Appell eröffnenden Imperativ ble,pete übersetzt man am besten wörtlich: „seht zu!“. 14 Es geht dem Verfasser darum, dass die Adressaten achtgeben bzw. vorsichtig sind. 15 Mit dem apodiktischen Befehl ble,pete mh, erinnert er nochmals an seinen Appell in Hebr 3,12 (ble,pete( avdelfoi,( mh,pote e;stai e;n tini u`mw/n kardi,a ponhra. avpisti,aj evn tw/| avposth/nai avpo. qeou/ zw/ntoj).16 Hier wie dort liegt aber das Gewicht des Appells nicht auf dem Imperativ ble,pete, sondern auf der darauffolgenden Anweisung. Was mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta genau heisst, soll nun ausführlicher untersucht werden.
12
Vgl. auch März, Hebräerbrief, 80: „Unvermittelt schlägt der Ton um“. Strobel spricht dabei von „lakonischer Kürze“ (vgl. Strobel, Hebräer, 241). 14 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 261; Eisele, Reich, 113; vgl. z. B. auch Johnson, Hebrews, 326 („Watch“); Allen, Hebrews, 594 („See to it“); Vanhoye, Hebrews, 383 („See“). 15 So übersetzen andere wie folgt: „Achtet darauf“ (vgl. Braun, Hebräer, 440); „Gebt acht“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 326); „Be careful“ (vgl. Lane, Hebrews II, 438). 16 Vgl. z. B. H.-F. Weiss, Hebräer, 684 und Cockerill, Hebrews, 661 („[it] echoes [Hebr 3:12]“). 13
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
269
3.1.1 Der Appell: den sprechenden Gott niemals abweisen! (V.25a) Die erste grosse Frage dabei ist, wer mit to.n lalou/nta gemeint ist. Weil das Partizip eine maskuline Form hat, lässt sich zunächst festhalten, dass der Sprecher nicht das in Hebr 12,24 erwähnte Blut sein kann. 17 Eine gewisse Verbindung zwischen dem „Sprechenden“ in V.25a und dem Blut Christi in V.24 besteht freilich.18 Infolgedessen haben einige Exegeten to.n lalou/nta auf Jesus bezogen.19 Diese Deutung erscheint mir aus drei Gründen ausgeschlossen: 1) Wenn man den Mittler Jesus in Hebr 12,24 als durch sein Blut Sprechender verstehen möchte, dann können die Adressaten sein Sprechen nicht „abweisen“ (V.25a), weil dieses nicht an sie, sondern fürsprechend an Gott gerichtet ist20; 2) der „Sprechende“, den man nicht abweisen soll, ist ohne Frage mit der Person identisch, die vom Himmel her „Weisungen“ erteilt (to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n), mit welcher offenbar Gott und nicht Jesus gemeint ist21; 3) der Sprechende (bzw. Weisungen Erteilende) ist der Gleiche wie der, der ehemals den Sinai erschütterte und in Zukunft den gesamten Kosmos erschüttern wird, womit kein anderer als Gott gemeint sein kann22. Mit Recht bezieht darum die überragende Mehrheit der Exegeten to.n lalou/nta auf Gott.23 Gehen wir weiter zur Frage, was dann mit einem möglichen paraitei/sqai des sprechenden Gottes gemeint ist. Nach Karrer werden die Adressaten in Hebr 12,25a aufgefordert, Gott nicht zu „bitten“, dass seine Stimme nicht an sie gerichtet werde (vgl. 12,19).24 Unter B.III.2.2.3 wurde darauf hingewiesen, dass paraitei/sqai sowohl „sich erbitten“ als auch „sich verbitten“ im Sinn von 17
Gegen Witherington, der sagt: „[H]e [sc. Hebr] warns his audience to not disregard that speaking [sc. of the blood]“ (vgl. Witherington, Hebrews, 345). 18 Worin sie genau besteht, wird später untersucht (↑ B.VI.3.1.3.e). 19 So z. B. Montefiore, Hebrews, 234; Robinson, Hebrews, 192; Vanhoye, Médiateur, 215; C. L. Westfall, „Blessed Be the Ties that Bind: Semantic Domains and Cohesive Chains in Hebrews 1.1-2.4 and 12.5-8“, in: JGRChJ 6/2009, 216; zu einer Reihe von älteren Vertretern dieser Deutung vgl. Bleek, Hebräer III, 956f. 20 ↑ B.IV.2.3.2.b.ii−iii. 21 ↑ B.VI.3.1.3. 22 ↑ B.VI.3.2.1. 23 Vgl. z. B. Calvin, Hebraeos, 231; Bleek, Hebräer III, 962; Westcott, Hebrews, 418; B. Weiss, Hebräer, 342; Windisch, Hebräerbrief, 115; Spicq, Hébreux II, 410; Hughes, Hebrews, 456; Braun, Hebräer, 441; Attridge, Hebrews, 378; H.-F. Weiss, Hebräer, 684; Ellingworth, Hebrews, 683; Schunack, Hebräerbrief, 212; Smillie, „speaking“, 283–287; Lewicki, Wort Gottes, 111–114; F. H. Cortez, „‚See that you do not refuse the one who is speaking‘: Hearing God Preach and Obedience in the Letter to the Hebrews“, in: JATS 19.1−2/2008, 99f; Backhaus, Hebräerbrief, 451; Cockerill, Hebrews, 660. 24 Vgl. Karrer, Hebräer II, 310; vgl. z. B. auch Vanhoye, Structure, 107: „do not beg-off from the one speaking“.
270
B. Exegese von Hebr 12,18−29
„zurückweisen“ bedeuten kann. Dort wurde auch dargelegt, dass das Verb in V.19 als ein „Bitten“ bzw. „Flehen“ verstanden werden sollte. In V.25a jedoch verwendet der Verfasser paraitei/sqai offenbar mit der anderen Sinnrichtung, nämlich jener von „zurückweisen“ bzw. „abweisen“ (vgl. z. B. Philo, Post. 2; Joseph., Ant. 3,212; 5,237; Plut., Pomp. 56; Them. 3; Philostr., Her. 11; Apg 25,11; 1.Tim 4,7).25 Der direkte Bezug von mh. paraith,shsqe auf to.n lalou/nta ohne die Verwendung eines erklärenden Nebensatzes (vgl. mh. prosteqh/nai auvtoi/j lo,gon in Hebr 12,19) sowie die inhaltliche Entsprechung zum „SichAbwenden“ (avpostrefo,menoi) belegen dies klar. Weil paraith,shsqe ein Konjunktiv Aorist ist, übersetzt man ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta am besten folgendermassen: „Seht zu, dass ihr niemals abweist den Sprechenden!“ (vgl. den punktuellen Aspekt des Aorists). Konkret meint das „Abweisen“ des sprechenden Gottes vorderhand, nicht auf Gott zu hören bzw. Gott nicht zu gehorchen. Mit Recht schreibt z. B. Strobel zu Hebr 12,25: „Wenn der offenbarungsmächtige Gott spricht, ist dem Menschen geboten zuzuhören und zu gehorchen“.26 Dieses von den Adressaten zu vermeidende Nicht-auf-Gott-Hören bzw. Gott-nicht-Gehorchen wird durch den in Hebr 12,25bc folgenden Schluss a minore ad maius näher bestimmt. 3.1.2 Das schuldhafte Abweisen Gottes durch die Israeliten nach der Kratophanie am Sinai (V.25b) Der Verfasser begründet (vgl. ga,r) in Hebr 12,25bc seinen eindringlichen Appell (V.25a) mit einem für ihn nicht ungewöhnlichen Schluss vom Kleineren auf das Grössere (vgl. 2,2f; 9,13f; 10,28f; 12,9)27: „Wenn schon jene nicht entfliehen konnten […], wieviel mehr dann wir nicht […]“. Mit evkei/noi in Hebr 12,25b sind offenbar die Israeliten gemeint. Sie waren nämlich solche, die evpi. gh/j to.n crhmati,zonta „abgewiesen“ haben (paraithsa,menoi).
25
So auch die Mehrheit der Exegeten; vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 326; Schunack, Hebräerbrief, 211; Backhaus, Hebräerbrief, 450; Johnson, Hebrews, 326 („reject“); Allen, Hebrews, 594 („refuse“). 26 Strobel, Hebräer, 241. 27 Das argumentum a minore ad maius ist ein wichtiger Bestandteil antiker Rhetorik (vgl. z. B. Quint., Inst. 5,11,9; 8,4,12) und so im Neuen Testament immer wieder anzutreffen; vgl. dazu z. B. H. Müller, „Der rabbinische Qal-Wachomer-Schluss in paulinischer Typologie: Zur Adam-Christus-Typologie in Rm 5“, in: ZNW 58.1−2/1967, 73–92.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
271
a. Der Abgewiesene Wer mit dem „auf der Erde Weisungen Gebenden“28 in Hebr 12,25b gemeint ist, ist in der Forschung umstritten. Einige sehen in ihm Mose.29 Nach Vanhoye hat der Hebr die verschiedenen Querelen vor Augen, die der „human mediator of the word of God“ mit den Israeliten hatte.30 Die Mehrheit der Exegeten jedoch sieht im crhmati,zwn Gott selbst.31 Dies, wie ich meine, mit gutem Grund. Das Verb crhmati,zein in der Bedeutung „eine Weisung erteilen“32 kommt im Hebr nämlich noch zweimal vor, wobei es stets um eine direkte Anordnung von Gott geht (vgl. 8,5 und 11,7). Gerade Hebr 8,5 verdient besondere Beachtung, weil es dort Mose ist, der eine göttliche Weisung empfängt. 33 Der Bezug von crhmati,zein auf Gottes gebietendes Reden im Hebr entspricht auch dem Normalgebrauch des Verbes (mit der Sinnrichtung „Weisung erteilen“) im Neuen Testament (vgl. Mt 2,12.22; Lk 2,26; Apg 10,2234) und in der LXX (vgl. Jer 32,30; 37,2; 43,2.4); auch bei Josephus wird das Verb so verwendet (vgl. z. B. Ant. 10,13: crhmati,santoj [|qeou/] auvtw/| [sc. profh,th|], 11,327: evcrhma,tisen auvtw/| kata. tou.j u[pnouj o`` qeo,j). Dafür, dass mit der einst auf der Erde Weisung erteilt habenden Person Gott gemeint ist, spricht zudem die Parallele zu h` fwnh. th.n gh/n evsa,leusen to,te in Hebr 12,26, wo an den am Sinai sprechenden Gott gedacht ist. Dass Gott der crhmati,zwn ist, heisst nun aber nicht, dass der auctor ad Hebraeos nicht ein durch (einen) Boten vermitteltes göttliches Gebieten vor Augen gehabt haben kann. Hebr 2,2 als Paralleltext zu 12,25 (↑ B.VI.3.1.4.a), wo von dem durch „Boten“ geredeten „Wort“ (Gottes) die Rede ist (o` diV avgge,lwn lalhqei.j 28
Die Apposition evpi. gh/j gehört zu to.n crhmati,zonta und nicht zu paraithsa,menoi. Dies belegt das evpi. gh/j crhmati,zonta entsprechende to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n: Es geht um den Kontrast zwischen einem auf der Erde stattfindenden Reden und einem Reden vom Himmel her. Der Verfasser hat evpi. gh/j zwecks Betonung vorangestellt (so z. B. auch Hegermann, Hebräer, 262; vgl. auch die sekundären Lesarten in P46* und a2). 29 Vgl. z. B. Moffatt, Hebrews, 219f; Montefiore, Hebrews, 234; Buchanan, Hebrews, 224; Vanhoye, La structure, 208; Vanhoye, Hebrews, 396. 30 Vgl. Vanhoye, Hebrews, 396. Vanhoye denkt insbesondere an die „Revolte“ gegen Mose in Kadesch-Barnea (vgl. Num 14,2). 31 Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 328f; Lane, Hebrews II, 476; Schunack, Hebräerbrief, 212f; O’Brien, Hebrews, 493; Cockerill, Hebrews, 663f. 32 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1765; die andere Bedeutung des Verbes (im Passiv) ist „benannt werden“, „heissen“ (ebd., 1766). 33 In der Übersetzung von crhmati,zwn als „der Weisung Gebende“ schliesse ich mich der deutschsprachigen Forschung an (vgl. z. B. Braun, Hebräer, 440f; Grässer, Hebräer III, 328f; Eisele, Reich, 113; Karrer, Hebräer II, 310; Backhaus, Hebräerbrief, 450); die angelsächsische schränkt mit ihrer Deutung auf ein warnendes Sprechen den Sinn des Verbes zu Unrecht ein (vgl. z. B. DeSilva, Hebrews, 469; Koester, Hebrews, 542; O’Brien, Hebrews, 493; Cockerill, Hebrews, 662f). 34 In Apg 10,22 ist das Reden Gottes vermittelt durch einen Engel; dies gilt wahrscheinlich auch für Mt 2,12.22 (vgl. 2,13!).
272
B. Exegese von Hebr 12,18−29
lo,goj), lässt eine solche Vermittlung gar als äusserst plausibel erscheinen. Sehr wahrscheinlich denkt der Verfasser in Hebr 12,25b an die durch Mose vermittelte(n) Weisung(en) Gottes (vgl. 9,19: lalhqei,shj ga.r pa,shj evntolh/j kata. to.n no,mon u`po. Mwu?se,wj). Der die Weisung(en) erteilt hat, ist also Gott, der sie vermittelt hat, ist Mose (anders Joseph., Ant. 3,312: evcrhmati,zeto [sc. Mwu?sh/j] peri. w-n evdei/to para. tou/ qeou/). Unter anderem diese Vermittlung von Mose erklärt den Zusatz evpi. gh/j, „auf Erden“.35 Der Verfasser des Hebräerbriefs sagt also: Die Israeliten haben den Weisung(en) erteilenden Gott abgewiesen und sind darum „nicht entkommen“ (ouvk evxe,fugon). Die Frage ist nun, an welche Begebenheit(en) er denkt. b. Die historische Situation Eine Vielzahl von Exegeten postuliert eine inhaltliche Verwandtschaft zu Hebr 12,19 und versteht das Abweisen vom crhmati,zwn durch die Israeliten in Analogie dazu als ein schuldhaftes Abweisen der von Gott direkt an sie gerichteten Rede am Berg Sinai.36 Nach Lewicki weisen die Israeliten nach 12,19.25 nicht nur Gottes Wort, sondern auch Gott selbst ab; und so werde paraitei/sqai „zu einem anderen Ausdruck des Unglaubens und Ungehorsams“.37 Auch Wider sieht eine sachliche Verbindung zwischen V.19 und V.25, bestreitet aber eine „ethisch-rechtliche Wahrnehmung des paraitei/sqai im Sinne der para,basij (2,2) oder avpeiqei,a (3,18; 4,11)“.38 Nach Hughes ist das Zurückweisen der Rede Gottes durch die Israeliten in 12,19.25 zwar schuldbehaftet, dies aber nur darum, weil es der Verfasser als „parable“ der später praktisch gezeigten „hardness of their hearts“ sehe: „[T]he writer of Hebrews doubtless has in mind the unhappy history of the people of Israel in the wilderness which was repeatedly marred by ingratitude and disobedience“.39
35
↑ B.VI.3.1.3.f. Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 419f; Spicq, Hébreux II, 410; Michel, Hebräer, 471; Hegermann, Hebräer, 282; H.-F. Weiss, Hebräer, 684; Löhr, Umkehr, 225f; Lane, Hebrews II, 475 (vgl. aber 477); Johnson, Hebrews, 334. 37 Vgl. Lewicki, Wort Gottes, 113; ähnlich Grässer, Hebräer III, 307: „böswillige und ungläubige Abwendung von der Offenbarungsrede“. 38 Vgl. Wider, Theozentrik, 112; das ekei/noi ouvk evxe,fugon sei nicht an einer „richterlichen Konsequenz orientiert“, sondern behafte „bei der theozentrischen (to.n lalou/nta) Unausweichlichkeit der Situation“; die Adressaten würden demzufolge nicht einfach vor Ungehorsam gewarnt, sondern „vor der Preisgabe des seinsgewährenden […] und Geringachtung des seinsbedingenden Offenbarungsgeschehens“ (ebd., 113). Ähnlich spricht z. B. schon Soden von dem Abweisen der Rede Gottes als einem verzeihlichen „Vergehen“, insofern es „die ganz natürliche und darum entschuldbare Folge der Art der Sinaioffenbarung“ sei (vgl. Soden, Hebräerbrief, 103). 39 Vgl. Hughes, Hebrews, 556; ähnlich auch Lane, Hebrews II, 475.477 und Cockerill, Hebrews, 662. 36
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
273
Kibbe sieht zwar zwei verschiedene Sinnrichtungen vom Verb paraitei/sqai in Hebr 12,19 („request“) und 12,25 („refuse“).40 Aber er hält dann fest: „[W]e have no good basis for suggesting that Hebrews does not condemn Israel’s request for a mediator. While Heb describes their request, the repetition of paraite,omai and the continued focus on the same narrative moment indicates that 12:25 condemns that request as a refusal to submit to the covenant declaration of God.“41
Andere Ausleger bestreiten jedoch eine inhaltliche Verbindung von Hebr 12,19 und 12,25 und sehen das verurteilte Abweisen des Weisung erteilenden Gottes in ihrem nach dem Sinai gelebten Ungehorsam und Unglauben.42 So schreibt z. B. Backhaus: „Der Ungehorsam der Wüstengeneration lässt sich trotz der Wortentsprechung im Griechischen […] schwerlich mit 12,19 begründen. Er trifft die im Unglauben verhärteten Herzen jener Generation insgesamt (vgl. 3,7–4,11).“43 Meines Erachtens sprechen vier gewichtige Gründe dafür, das in Hebr 12,25b erwähnte schuldhafte Abweisen von Gott und seinen von ihm erteilten Weisungen nicht mit der in 12,19 geschilderten Reaktion des erschreckten Volkes in Verbindung zu bringen, sondern mit den Übertretungen der Gebote Gottes durch die Israeliten, nachdem sie ihnen am Sinai gegeben bzw. verkündet worden waren. 1) Wie dargelegt (↑ B.III.2.2.3), kann bezüglich parh|th,santo in Hebr 12,19 keine Rede sein von einem als Sünde interpretierten Zurückweisen des göttlichen Sprechens. Unter anderem ouvk e;feron ga.r to. diastello,menon (12,20) als Begründung von parh|th,santo, die das Verständnis des Verfassers für die angsterfüllten Israeliten verdeutlicht, sowie DtnLXX 18,16 als Prätext von Hebr 12,19b verbieten eine solche Interpretation und gebieten die Übersetzung „sie baten“. 2) In Hebr 12,25b ist das Abgelehnt-Haben des Weisung erteilenden Gottes unmittelbar mit dem Strafe andeutenden ouvk evxe,fugon verbunden. Wenn man dieses Abgewiesen-Haben mit einem vermeintlichen Zurückgewiesen-Haben des redenden Gottes in V.19 in eins setzen möchte, müsste man darum konsequenterweise behaupten, der Verfasser des Hebräerbriefs gehe davon aus, die Wüstengeneration sei später wegen des blossen Zurückweisens der göttlichen Stimme am Sinai umgekommen.44 Dies widerspricht aber der Darstellung in Hebr 3,15ff, wonach die Israeliten wegen einer konkreten „Auflehnung“ (V.16: parepi,kranan), nämlich ihrem Ungehorsam gegenüber einem Gebot (V.18:
40
Vgl. Kibbe, Fear, 11f. Ebd., 14. 42 Vgl. z. B. Moffatt, Hebrews, 220f und Montefiore, Hebrews, 234 (er sieht allerdings – wie bereits gesehen – Mose als Zurückgewiesenen). 43 Backhaus, Hebräerbrief, 451. 44 So (konsequent!) Laub, Hebräerbrief, 175. 41
274
B. Exegese von Hebr 12,18−29
toi/j avpeiqh,sasin, vgl. auch 4,6.11) und ihrem Unglauben gegenüber einer Verheissung (3,19: diV avpisti,an, vgl. auch 4,2), umkamen (vgl. 3,17: ta. kw/la e;pesen evn th/| evrh,mw|).45 3) Das argumentum a minore ad maius in Hebr 12,25 ist offensichtlich ein Rückverweis auf jenes in Hebr 2,2f (↑ B.VI.3.1.4.a). Der Punkt ist nun, dass in Hebr 2,2 das praktische Übertreten der (sinaitischen) Gebote Gottes durch die Israeliten als warnendes Beispiel vor Augen geführt wird (pa/sa para,basij kai. parakoh. e;laben e;ndikon misqapodosi,an)46 und nicht ein vermeintlich schuldhaftes Nicht-hören-Wollen der Stimme des Gesetzgebers. 4) Die Wendung evkei/noi ouvk evxe,fugon evpi. gh/j paraithsa,menoi to.n crhmati,zonta in Hebr 12,25b ist auch ein Echo der Ausführungen über den Ungehorsam der Wüstengeneration in 3,7–4,11.47 Das „Nicht-Entkommen“ (12,25b) entspricht dem göttlich verordneten (Aus-)Sterben der Wüstengeneration (3,17), das „Zurückweisen“ (12,25b) der „Auflehnung“ (3,16) bzw. dem „Ungehorsam“ (3,18) bzw. dem „Unglauben“ des Volkes (3,19).48 Die Sprachwahl in Hebr 3,12.16ff zeigt, dass der Verfasser bei diesem sündigen Verhalten primär an die in Kadesch-Barnea stattgefunden habende Revolte gegen Jahwe nach Num 14,1ff denkt.49 Dass der Verfasser des Hebräerbriefs diesen Aufstand mit paraithsa,menoi to.n crhmati,zonta in 12,25b aufgreift, legt zunächst die kaum zufällige Parallele von ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta in 12,25a und ble,pete( avdelfoi,( mh,pote e;stai e;n tini u`mw/n kardi,a ponhra. avpisti,aj evn tw/| avposth/nai avpo. qeou/ zw/ntoj in 3,12 nahe (vgl. NumLXX 14,9 avlla. avpo. tou/ kuri,ou mh. avposta,tai, 14,11: ouv pisteu,ousi,n moi, 14,27: th.n sunagwgh.n th.n ponhra.n).50 Weiter bestätigt wird dies durch die Wahl des zu paraithsa,menoi synonymen Ausdrucks avpostrefo,menoi, der wahrscheinlich NumLXX 14,43 entnommen ist: avpestra,fhte avpeiqou/ntej kuri,w|.
45 Vgl. dazu auch Hebr 10,28, wonach Strafe auf dem Übertreten (und nicht auf dem Nicht-hören-Wollen) des Gebotes steht. 46 Vgl. Cockerill, Hebrews, 119; wahrscheinlich denkt der Verfasser primär an das in Hebr 3,7ff geschilderte sündige Verhalten der Wüstengeneration (vgl. z. B. Schunack, Hebräerbrief, 30), sekundär wohl aber auch an spätere Zeiten (vgl. z. B. Karrer, Hebräer I, 154). 47 Nach Pfitzner erinnert („recalling“) die Wendung an „the disobedience of the Exodus generation (4:1-2)“ (vgl. Pfitzner, Hebrews, 187); gemäss Koester denkt der Verfasser an „Moses’ generation, which heard God’s word at Sinai, refused to obey and died in the wilderness (3:7–4:11; cf. 2:2; 10,28)“ (vgl. Koester, Hebrews, 546). 48 So z. B. auch Attridge, Hebrews, 379; Lane, Hebrews II, 477. 49 Vgl. dazu z. B. Hofius, Katapausis, 127–139; Gleason, „Rest“ 289–291; Whitfield, Joshua, 233–246; allerdings scheint gleichzeitig auch Num 20 im Blick zu sein (vgl. Gleason, „Rest“ ebd., 291ff); ebenso ist ein Einfluss des Deuteronomiums auf die Schilderung des Abfalls von Kadesch möglich (vgl. D. M. Allen, „More Than Just Numbers: Deuteronomic Influence in Hebrews 3:7–4:11“, in: TynB 58.1/2007, 129–149). 50 Auch nach Cockerill ist der Appell in Hebr 12,25a ein Echo von jenem in 3,1 (Cockerill, Hebrews, 661).
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
275
Schlussfolgernd lässt sich darum sagen: Mit to.n crhmati,zonta in Hebr 12,25b weist der Verfasser zwar durchaus auf das Sinai-Ereignis, wo Gott Weisungen erteilt hat, die den Alten Bund begründet haben (vgl. 12,19: fwnh/| r`hma,twn); aber das schuldhafte und gerichtbringende Abweisen dieses Gottes (paraithsa,menoi) lokalisiert er nach dem Sinai-Geschehen auf der folgenden Wanderung51, und zwar vor allem in Kadesch-Barnea. Paraithsa,menoi in 12,25b ist also – wie Moffatt richtig bemerkt – „only a verbal echo“ von parh|th,santo in 12,19.52 Da der Tag von Kadesch im Hintergrund von Hebr 12,25 steht53, ist es zudem nicht unwahrscheinlich, dass der Verfasser bei to.n crhmati,zonta nicht nur an die Weisungen vom Sinai-Bund gedacht hat, sondern auch an die eine göttliche Weisung: nämlich in das verheissene Land einzuziehen (vgl. Dtn 9,23).54 3.1.3 Das Heil in Jesus und Gottes Weisung erteilendes Reden vom Himmel her (V.25c) Dem Weisung erteilenden Reden Gottes auf der Erde wird in Hebr 12,25c dasjenige „von den Himmeln her“ (avpV ouvranw/n) gegenübergestellt. To.n avpV ouvranw/n ist elliptisch: Nach dem Artikel zu ergänzen ist crhmati,zonta.55 Mit ouvranoi, – der Plural ist hebraisierend – meint der Verfasser „den ‚Ort‘ Gottes selbst“56 (vgl. 8,1; 9,23f; 12,23; anders in 1,10; 4,14; 7,26; 12,26). Dass derjenige, der spricht, Gott ist, liegt auf der Hand.57 Denn wenn dieser mit dem ersten crhmati,zonta gemeint ist, ist dies auch in Bezug auf das zweite Vorkommen des Wortes anzunehmen. Die Pointe liegt auf dem Reden der gleichen Person unter zwei verschiedenen Umständen (evpi. gh/j bzw. avpV ouvranw/n). Dazu kommt die Tatsache, dass es nicht Christus sein kann, der durch sein redendes Blut (vgl. 12,24) zu den Adressaten spricht.58 Denn selbst wenn man unter dem 51 Vgl. dazu z. B. auch Karrer, Hebräer II, 340: „Das Volk erkannte, dass es seiner [sc. Gottes] Gewalt nicht gewachsen war, und bat Gott, nicht weiter zu sprechen […]. Gott gestattete das (25 nach 19–20). Trotzdem verhärteten die Väter auf dem Weg vom Gottesberg durch die Wüste ihre Herzen (vgl. Num 11). Sie, die die Stimme Gottes […] und seine Weisung gehört hatten, forderten Gottes Zorn heraus und entgingen ihm nicht“. 52 So richtig Moffatt, Hebrews, 219. Auch DeSilva übersetzt das Verb in beiden Stellen verschieden: in V.19 mit „begged off“ und in 12,25 mit „refuse“ (vgl. DeSilva, Hebrews, 464.469). 53 Vgl. z. B. auch Allen, Deuteronomy, 91, Anm. 277 mit Verweis auf DtnLXX 9,23. 54 So zurückhaltend auch Cockerill, Hebrews, 662: „[They] ‚refused‘ his [sc. God’s] word when told to enter God’s promised ‚rest‘“. 55 Vgl. auch Eisele, 114, Anm. 322. 56 So richtig Hegermann, Hebräer, 262. 57 So die überragende Mehrheit; vgl. z. B. Bruce, Hebrews, 363; H.-F. Weiss, Hebräer, 684; Löhr, Umkehr, 132; Thompson, Hebrews, 286; O’Brien, Hebrews, 492. 58 Gegen Tholuck, Hebräer, 443; Montefiore, Hebrews, 233f und Robinson, Hebrews, 192.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
ai[mati lalou/nti das zu den Menschen und nicht zu Gott redende Blut Jesu verstehen möchte – was ja, wie dargelegt (↑ B.IV.2.3.2.b.iii), kaum überzeugend ist –, passt dies nicht zur Wendung to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n. Das Blut ruft nämlich nach Vergebung und Annahme 59, was überhaupt nichts mit dem Erteilen von „Weisungen“ bzw. „Anordnungen“ zu tun hat.60 Sowohl unter dem gegenwärtig Redenden (o` lalw/n) als auch unter dem gegenwärtig Weisung Gebenden (o` crhmati,zwn) versteht der Verfasser also Gott selbst. a. Gottes Reden durch den Sohn Die grosse Frage ist nun, was mit diesem göttlichen Reden und Weisungen Erteilen „vom Himmel her“ genau gemeint ist. Eine Vielzahl von Exegeten versteht darunter das Reden Gottes in bzw. durch Jesus. Dabei wird zunächst einmal auf den zweiten Vers im exordium des Hebr verwiesen (1,2a), wonach Gott „am Ende dieser Tage geredet hat zu uns im Sohn“ (evpV evsca,tou tw/n h`merw/n tou,twn evla,lhsen h`mi/n evn ui`w/|).61 Dass der Verfasser dieses eschatologische Sprechen Gottes im Sohn bzw. „durch einen, der Sohn ist“62, in Hebr 12,25 aufgreift, scheint mir aus fünf Gründen auf der Hand zu liegen. 1) Die wörtliche Übereinstimmung der Beschreibung Gottes als o` lalw/n in 12,25a mit [o` qeo.j] evla,lhsen in 1,2a ist kaum zufällig. 2) Das Reden Gottes erfolgt gemäss 12,25 an die Adressaten (vgl. V.25a: Ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta) bzw. an „uns“ (vgl. V.25c: polu. ma/llon h`mei/j oi` to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi), was dem Reden Gottes „zu uns“ in 1,2a entspricht (vgl. evla,lhsen h`mi/n). 3) Wenn das exordium „in gebündelter Form auf rhetorisch möglichst wirkungsvolle Weise das Leitthema des Hebr“ skizziert63, liegt es nicht fern, dass der Verfasser im Laufe seiner Predigt darauf zurückkommt. 4) Die Botschaft von Gottes Reden evn ui`w/| ist Jesus Christus als Person und was er als solche ist und in Bezug auf das Heil der Menschen getan hat (vgl. Hebr 1,2b–4)64, wobei die Kernbotschaft der endzeitlichen Heilsrede Gottes im 59
So auch Montefiore, Hebrews, 233; Robinson, Hebrews, 191. Das gleiche Problem hat man, wenn man crhmati,zein als „warnen“ versteht, wie dies vor allem bei angelsächsischen Exegeten der Fall ist (vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 493; Cockerill, Hebrews, 662f). 61 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 418; H.-F. Weiss, Hebräer, 686; Wider, Theozentrik, 114; Grässer, Hebräer III, 329; Lane, Hebrews II, 476f; Lewicki, Wort Gottes, 113f; Eisele, Reich, 116. 62 Vgl. Übelacker, Hebräerbrief, 80. 63 Vgl. Backhaus, „Per Christum“, 66, Anm. 85; vgl. dazu auch Übelacker, Hebräerbrief, 66–139. 64 So z. B. auch Grässer, Hebräer I, 56: „Der Sohn ist die abschliessende Offenbarung des Wortes Gottes – nicht als Prophet; sondern der lo,goj Cristou/ (6,1) ist selber das eschatologische Heilsereignis […]; [d]er Sohn verbürgt reales, nicht imaginäres Heil“; sowie Backhaus, Hebräerbrief, 83: „Nicht was Jesus gesagt hat, bestimmt die Theologie des Hebr, 60
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
277
Sohn das Erlösungswerk am Kreuz ist65. Wenn nun der Verfasser in Hebr 12,24 dieses am Kreuz gewirkte Heil thematisiert66, dann ist es naheliegend, dass er mit dem im anschliessenden Vers erwähnten göttlichen Reden – in Analogie zu Hebr 1,2a – das Reden durch Jesus als dem Heil(and) meint.67 5) Die Gegenüberstellung vom Reden Gottes evpi. gh/j und avpV ouvranw/n in Hebr 12,25 erinnert offensichtlich „an das Gegenüber von menschlicher Vermittlung des Gottesredens im Alten Bund und das Reden ‚durch den Sohn‘ (1,1.2a)“68 – umso mehr als dass der Sohn ja avpV ouvranw/n gekommen ist (vgl. 1,10 mit 9,26 und 10,5)69. Auf den ersten Blick scheint die Bezeichnung Gottes in Hebr 12,25 als des gegenwärtig Redenden (o` lalw/n) gegen eine Verbindung zu 1,2a und dem Reden Gottes im Sohn zu sprechen, weil Letzteres als abgeschlossen erscheint (evla,lhsen h`mi/n evn ui`w/|).70 Der die „Einmaligkeit und Endgültigkeit“71 des göttlichen Redens durch seinen Sohn unterstreichende Aorist will aber (auch im Blick auf den Kontrast zum vielfältigen Sprechen durch die Propheten) lediglich unterstreichen, dass nach diesem endzeitlichen Reden Gottes nicht noch einmal ein anderes kommt, jedoch keinesfalls ein fortwährendes Reden evn ui`w/| ausschliessen.72 Der Verfasser impliziert mit dem die Adressaten mit einschliessenden „zu uns“ (h`mi/n) sogar ein gegenwärtiges Sprechen Gottes. Gott hat durch das Erlösungswerk des Sohnes am Kreuz ein für alle Mal sein letztes Heilswort gesprochen, aber er lässt es vom Himmel her zu den Menschen gewissermassen nachhallen.73 Sehr wahrscheinlich denkt der auctor ad Hebraeos in 12,25 aber nicht nur an ein heilsgeschichtliches Sprechen Gottes im Sohn gemäss 1,2a. Mit Recht sondern wer er ist und wie er handelt. Dieses Wer und Wie lotet unser Schreiben im folgenden Satzgefüge aus [sc. 1,2b–4]“. Nach Smillie ist Jesus nicht nur „medium“ der endzeitlichen Gottesrede, sondern auch „message“ (vgl. G. R. Smillie, „Contrast or Continuity in Hebrews 1.1-2?“, in: NTS 51.4/2005,13). 65 Vgl. kaqarismo.n tw/n a`martiw/n poihsa,menoj in Hebr 1,3 mit nuni. de. a[pax evpi. suntelei,a| tw/n aivw,nwn eivj avqe,thsin Îth/jÐ a`marti,aj dia. th/j qusi,aj auvtou/ pefane,rwtai in 9,26; vgl. z. B. auch Hegermann, Hebräer, 31: das zentrale Sprechen Gottes im Sohne sei das Christusgeschehen, „kulminierend im Sterben Jesu“. 66 Vgl. die Bezeichnung Jesu als mesi,thj diaqh,khj ne,aj und das ai-ma r`antismou/. 67 Ähnlich Lewicki, Wort Gottes, 113f. 68 So richtig Wider, Theozentrik, 114. 69 Vgl. dazu z. B. auch Backhaus, „Präexistenz“, 77–95. 70 Vgl. Delitzsch, Hebräer, 655: „Die irdische Wirksamkeit in den Tagen seines Fleisches, diese heilsgeschichtliche avrch,, von welcher 1, 1. 2,1–4 die Rede ist, bleibt hier [sc. in Hebr 12,25] ausser Betracht“; ähnlich auch Bleek, Hebräer III, 957f. 71 Vgl. Übelacker, Hebräerbrief, 79. 72 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 418: „He who ‚spake in a Son‘ (c. i. 2) still speaks in Him“; und Grässer, Hebräer I, 56: Gott rede „jetzt“ durch den Sohn. 73 Ähnlich Spicq, Hébreux II, 410: „Le Dieu d’Abraham, d’Isaac, de Jacob et de Moïse parle aujourd’hui à chaque âme chrétienne par la voix de son Fils crucifié“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
weisen einige Exegeten darauf hin, dass Gott aktuell „vom Himmel her“ (auch) durch den erhöhten Christus als heilsnotwendiger Hohepriester zu den Adressaten redet (vgl. 8,1!).74 b. Gottes Reden durch die Schriften Dass Gott avpV ouvranw/n zu den Adressaten spricht, geht allerdings über das Reden durch den Sohn hinaus. Es meint gewiss auch Gottes gegenwärtiges Sprechen durch die Schriften des Alten Testaments. Mit Recht schreibt Koester: „He [sc. God] speaks from heaven through the prophets and psalms (Heb 1:5– 13; 3,7–11; 5:5–6; 8:8–12; 10:37–38)“.75 Dieses Sprechen Gottes durch die Schriften zeigt sich im Hebräerbrief denn auch an verschiedenen Stellen. In der catena Hebr 1,5–14 spricht Gott durch die Schriften vordergründig zwar zum „Sohn“, aber die Adressaten sind gewiss als Mit-Hörende intendiert, wenn 1) Gott als der gegenwärtig sprechende eingeführt wird76 (vgl. auch Hebr 5,6) und 2) die Christen später aufgefordert werden, am Bekenntnis zu Jesus als dem wahren „Sohn Gottes“ festzuhalten (vgl. 4,14)77. Dass die in 8,8–12 zitierten Worte über den Neuen Bund nicht nur als an die Israeliten, sondern auch als an die Empfänger des Hebr gerichtet zu verstehen sind, beweist Hebr 10,15, wonach der Heilige Geist gegenwärtig (!) durch diese Worte (vgl. V.16–17) den Adressaten ihr Heil bezeugt (marturei/ de. h`mi/n kai. to. pneu/ma to. a[gion). Dass sich die Adressaten durch das freie Zitat in Hebr 10,38 aus HabLXX 2,4 von Gottes Zusage und Ermahnung angesprochen fühlen sollen, beweist die Applikation auf ihre Glaubenssituation im Folgevers (h`mei/j de. ouvk evsme.n u`postolh/j eivj avpw,leian avlla. pi,stewj eivj peripoi,hsin yuch/j). Am frontalsten werden die Adressaten durch das alttestamentliche Zitat in Hebr 3,7–11 von Gott angeredet. Dass der Verfasser des Hebräerbriefs die göttliche exhortatio in PsLXX 94,7–11 direkt an seine Leser bzw. Hörer gerichtet sieht, zeigt zunächst die Zitateinleitung, wonach der Heilige Geist die Worte jetzt spricht (vgl. 3,7: kaqw.j le,gei to. pneu/ma to. a[gion). Weiter ersichtlich wird es aufgrund der inhaltlichen Verknüpfung des durch den Heiligen Geist Gesprochenen (vgl. 3,7: Dio,) mit der vorher an die Adressaten gerichteten indirekten Ermahnung (vgl. 3,6: eva,nÎperÐ th.n parrhsi,an kai. to. kau,chma th/j 74 So z. B. Bleek, Hebräer III, 962: Gott spricht „jetzt durch den zu seiner Rechten erhöhten Heiland fort und fort vom Himmel zu uns“; Cockerill, Hebrews, 663: „God now speaks in the present from heaven through the exalted Son seated at his right Hand“. 75 Vgl. Koester, Hebrews, 547; vgl. z. B. auch Mitchell, Hebrews, 287. 76 Da die beiden Zitate in Hebr 1,8f und 1,10–12 vom präsentischen le,gei in 1,7 abhängen, erscheint Gott als derjenige, der gerade in demselben Moment spricht, wo die Adressaten die Predigt des Verfassers hören/lesen (vgl. to.n lalou/nta und to.n crhmati,zonta in Hebr 12,25). 77 Vgl. dazu z. B. Hegermann, Hebräer, 113f.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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evlpi,doj kata,scwmen). Auch das unvermittelte Applizieren der alttestamentlichen exhortatio Gottes auf die Adressaten in 3,1278 macht deutlich, dass Gott nach dem Hebr durch die Heilige Schrift direkt zu ihnen spricht. Am stärksten für die Vergegenwärtigung der göttlichen Worte für die christliche Gemeinde spricht aber der Zitatanfang: sh,meron eva.n th/j fwnh/j auvtou/ avkou,shte (vgl. 3,7). Nach 3,13 ist jeder neue Tag zur Zeit der Adressaten ein „Heute“ (parakalei/te e`autou.j kaqV e`ka,sthn h`me,ran( a;crij ou- to. sh,meron kalei/tai), wo Gott seine Ermahnung spricht. Gemäss 4,7 „bestimmt“ Gott gar ein neues „Heute“ (pa,lin tina. o`ri,zei h`me,ran( sh,meron)79 und spricht jetzt durch David zu den Adressaten (evn Daui.d le,gwn).80 c. Gottes Reden durch den Heiligen Geist und den Verfasser des Hebräerbriefs Gewiss meint das gegenwärtige göttliche Reden avpV ouvranw/n in Hebr 12,25 weiter auch das Sprechen durch den Heiligen Geist.81 Grundsätzlich deckt sich dieses mit dem Reden Gottes durch die Heilige Schrift (vgl. 3,7; 9,8; 10,15). Und doch lassen die Aussagen in Hebr 2,4 und 6,4f vermuten, dass der Heilige Geist auch auf andere Weise zu den Adressaten spricht.82 Schlussendlich denkt der Verfasser des Hebräerbriefs bei dem Reden Gottes „vom Himmel her“ wohl aber auch an sich selbst bzw. an seine Predigt, seine Schrift.83 Überzeugend schreibt Smillie dazu: „When the author refers in 12:25 to one who is speaking to the reader now, he apparently means through the medium of his own written words. If the author understands his work to be a lo,goj paraklh,sewj like the OT-based Christian sermon summarized in Acts 13:15-41, as 13:22 indicates that perhaps he does, then his concept of the Word of God probably in-
78 Vgl. ble,pete( avdelfoi,( mh,pote e;stai e;n tini u`mw/n kardi,a ponhra. avpisti,aj in Hebr 3,12 mit mh. sklhru,nhte ta.j kardi,aj u`mw/n in PsLXX 94,8. 79 Nach Grässer geht es um „das mit dem Erscheinen des Messias Jesus angebrochene Heute der neutestamentlichen Heilsverkündigung (1,2; 2,3; vgl. Lk 4,21)“ (vgl. Grässer, Hebräer I, 213). 80 Wahrscheinlich dient auch das bewusste Ersetzen von th/| genea/| evkei,nh| in PsLXX 94,10 durch th/| genea/| tau,th| in Hebr 3,10 dem Ziel der Vergegenwärtigung der göttlichen exhortatio für die Adressaten (so z. B. auch Steyn, Quest, 182). 81 So auch Mitchell, Hebrews, 287. 82 So lassen die pneu,matoj a`gi,ou merismoi, in Hebr 2,4 in erster Linie an die z. B. in 1.Kor 12,4–11 aufgeführten Gnaden- bzw. Geistesgaben denken (so auch Grässer, Hebräer I, 109), welche u. a. direkte Wortoffenbarungen an bzw. durch die Gläubigen darstellen (vgl. 12,8); in zweiter Linie mögen die „Zuteilungen“ des Geistes mit den vorher erwähnten shmei,oij und te,rasin zusammenhängen (vgl. Cockerill, Hebrews, 123), die wie die merismoi, als ein göttliches Zeugnis an die Menschen bezeichnet werden (vgl. sunepimarturou/ntoj). Wahrscheinlich lässt auch die Verbindung vom Heiligen Geist mit dem Wort Gottes (qeou/ r`h/ma) in 6,4f auf einen Zusammenhang schliessen wie in 2,4 (vgl. z. B. Hegermann, Hebräer, 133). 83 So z. B. auch Backhaus, Hebräerbrief, 452 und Griffiths, Preaching, 110.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
cludes his own Christian interpretation of the Old Testament texts, ordinances, and personages. This may be seen in the confidence with which he proclaims NT explanations for OT texts like Psalm 8 (Heb. 2:6-10) or Psalm 40 (Heb. 10:5-9). The author’s prefacing his explanation or interpretation of OT ceremonies in 9:8-9 with the words, ‚the Holy Spirit is indicating this‘, suggests the same thing: that he believes his interpretation of the OT is the Word of God.“84
Dafür, dass der Verfasser Gott als durch sich redend versteht, sprechen neben der Entsprechung der exhortatio in Hebr 13,22 (avne,cesqe tou/ lo,gou th/j paraklh,sewj) zu jener in 12,25 (mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta) drei weitere Gründe. 1) Wenn gemäss Hebr 13,7 andere Führer zu den Adressaten „das Wort Gottes“ geredet haben (evla,lhsan u`mi/n to.n lo,gon tou/ qeou/), so wird das kaum weniger für das gegenwärtige Reden des Verfassers gelten (vgl. auch 5,11– 6,1!). 2) Der auctor ad Hebraeos konnte sich an Paulus anlehnen, der auch von sich behauptet hat, nicht Menschenwort (lo,gon avnqrw,pwn), sondern Gotteswort (lo,gon qeou/) zu reden bzw. zu schreiben (vgl. 1.Thess 2,13). 3) In Hebr 2,5 und 6,9 gebraucht der Verfasser das Verb lalei/n, das er sonst primär für Gottes Reden benutzt (vgl. 1,1f; 2,2f; 4,8; 5,5; 11,18; 12,25), für sein eigenes (autoritatives) Sprechen (vgl. auch die Verwendung von le,gein in Hebr 1,5f.7.13; 3,7.15; 4,3f.7; 5,6; 6,14; 7,21; 8,8.13; 10,15; 10,30; 12,26; 13,5 mit 5,11; 8,1; 9,5; 11,32; 13,6). Durchaus plausibel erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die These von Koester, dass der Verfasser durch den Appell, den Sprechenden nicht zurückzuweisen, auch dem recitator des Hebräerbriefs nach der langen Vorlesedauer neue Aufmerksamkeit vermitteln wollte. 85 d. Die zentrale christologische Rede Gottes und ihr Weisungscharakter Zusammenfassend können wir also zu Hebr 12,25c und dem göttlichen Sprechen avpV ouvranw/n sagen: Es meint das fortdauernd nachklingende heilsgeschichtliche und heilswirkende Sprechen Gottes evn ui`w/| (1,2a), das gegenwärtige Reden durch den Erhöhten, das Sprechen Gottes durch die zitierte Heilige Schrift, die Offenbarungen des Heiligen Geistes und auch die Predigt des Verfassers selbst. Bei all dieser Mannigfaltigkeit liegt der Schwerpunkt aber eindeutig auf dem göttlichen Reden durch den gekreuzigten und erhöhten Sohn: Gottes Rede ist nach dem Hebr im Wesentlichen „christologische Rede“.86 Dies unterstreicht auch die Tatsache, dass a) im Sprechen Gottes durch das
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Smillie, „speaking“, 292; vgl. auch ebd., 276. Vgl. Koester, Hebrews, 552. 86 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 140 (zu Hebr 1,2); so z. B. auch Backhaus, „Per Christum“,
85
66.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
281
Alte Testament und b) im göttlichen Sprechen durch den Verfasser die Rede von Christus zentral ist.87 Dieses göttliche Reden avpV ouvranw/n durch den Sohn kann und muss man nun aber noch präzisieren. Es geht dem Verfasser nicht in erster Linie um ein kontinuierliches göttliches Darlegen der Heilsbotschaft in Christus.88 Man beachtet in der Forschung kaum, dass der Verfasser in 12,25a das gegenwärtige Sprechen Gottes (vgl. to.n lalou/nta) als ein „Weisung Geben“ (vgl. to.n crhmati,zonta) näher spezifiziert.89 Gott spricht zu den Adressaten also nicht nur vom Heil im Gekreuzigten und Erhöhten, sondern gibt vor allem die Weisung, dieses Heil nicht zu missachten, sondern zu beachten (vgl. 2,3: avmelh,santej swthri,aj). Die göttliche Weisung im Sohn avpV ouvranw/n ist, die o`mologi,a von Jesus als dem Sohn Gottes, Hohepriester und Retter festzuhalten (vgl. 4,14; 10,23; vgl. auch 3,1).90 Indirekt zielt die Weisung wohl auch auf die Aufforderung, im Sohn zu Gott hinzutreten (vgl. 4,15f; 10,19–22) und durch ihn eifrig in die Ruhe Gottes einzugehen (vgl. 4,11). e. Das Reden Gottes durch den Sohn und das Reden des Blutes Jesu Die Frage ist nun, wie dieses Reden Gottes im Sohn (12,25) mit dem Reden des Blutes Jesu zusammenhängt (12,24). Gewisse Exegeten gehen davon aus, dass Gott nach Hebr 12,25 durch das in 12,24 erwähnte Blut zu den Adressaten spricht.91 Diese Deutung kann kaum zutreffend sein, wenn – wie dargelegt (↑ B.IV.2.3.2.b.iii) – das Blut Jesu für die Gläubigen bei Gott eintritt. Das Aufgreifen des Verbes lalei/n in V.25 durch den Verfasser ist m. E. rein formalrhetorischer Natur (vgl. auch paraith,shsqe in V.25 mit parh|th,santo in V.19). Zwischen dem göttlichen Reden im Sohn (V.25) und den Ausführungen in V.22–24 besteht allerdings durchaus eine enge Verbindung: Die Ermahnung in 87 Zu a) vgl. 1,5–13 und 5,5–6 sowie indirekt auch 8,8–12 und 10,38; zu b) vgl. 8,1: Kefa,laion de. evpi. toi/j legome,noij, toiou/ton e;comen avrciere,a( o]j evka,qisen evn dexia/| tou/ qro,nou th/j megalwsu,nhj evn toi/j ouvranoi/j. 88 So schreibt z. B. Lane in Bezug auf das Reden Gottes (im Sohn) in Hebr 12,25 von „the Christian message“ (vgl. Lane, Hebrews II, 477); vgl. auch Bruce, Hebrews, 363: „[H]e [sc. God] speaks in the gospel“. 89 Ein Beispiel dafür ist Wider, Theozentrik, 113f. 90 Ähnlich sagt Cortez: „To reject the voice of God in Hebrews means to refuse Jesus as the ruler seated at the right hand of God, to disavow him as our high priest“ (vgl. Cortez, „Hearing God“, 106); vgl. auch Rhee, „Hebrews 12“ 283: „[T]he exhortation not to reject God’s word in the outer sections is identical with the appeal not to reject Jesus, the high priest of the new covenant“. 91 Vgl. z. B. Hughes, Hebrews, 555; Johnson, Hebrews, 334; zu Hebr 12,24 vgl. auch Schunack, Hebräerbrief, 210: „Die kühne Metapher, dass es [das Blut] ‚redet‘, gibt dieses hohepriesterliche Heilswerk als Inhalt des eschatologischen Redens Gottes zu verstehen“; sowie Hegermann, Hebräer, 261: „Das Sprechen des Blutes Jesu ist insofern dem anklagenden Ruf Abels überlegen, als darin inhaltlich Gottes eigenes letztgültiges Wort ergeht, sein Gnadenwort im Sohne“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
V.25, das Sprechen Gottes im Sohn nicht abzuweisen, ist motiviert durch die Ausführungen in V.22–24, dass die Fürsprache des Blutes Jesu bzw. das fürsprecherische Eintreten des Sohnes als diaqh,khj ne,aj mesi,thj beim Letzten Gericht absolut heilsnotwendig ist. Die Annahme, dass das himmlische Jerusalem der Ort ist, woher die Worte des jetzt sprechenden Gottes zu den Adressaten gelangen92, wird aber dem Text nicht gerecht. Die gegenwärtigen ouvranoi, (V.25) sind nicht mit dem eschatologisch-futurisch herabgekommenen himmlischen Jerusalem (V.22) zu verwechseln. f. Der Kontrast „,vom Himmel herʻ vs. ,auf der Erdeʻ“ Die gegenwärtige Rede Gottes im Sohn „vom Himmel her“ (avpV ouvranw/n) wird, wie bereits festgestellt, dem göttlichen Weisung-Geben am Sinai „auf der Erde“ (evpi. gh/j) gegenübergestellt. Wir haben nun nach der Bedeutung dieses auf den ersten Blick sonderbaren Kontrastes „himmlisches vs. irdisches Reden Gottes“ zu fragen. Ohne Zweifel hat der bibelgelehrte Verfasser des Hebräerbriefs das Zeugnis der Tora gekannt, dass Gott am Sinai durchaus vom Himmel her zu dem Volk (Weisungen) gesprochen hat.93 Wahrscheinlich hatte er aber die Niederkunft Gottes auf den Berg Sinai im Blick (vgl. ExLXX 19,20: kate,bh de. ku,rioj evpi. to. o;roj to. Sina evpi. th.n korufh.n tou/ o;rouj) und verstand so das in ExLXX 20,22 und DtnLXX 4,36 erwähnte göttliche Reden evk tou/ ouvranou/ als ein Reden aus einem „irdischen“ Himmel. Neh 9,13 könnte dem Verfasser dabei eine Deutungshilfe gewesen sein, weil dort zuerst (!) das Herabsteigen Gottes und dann das Reden Gottes „aus dem Himmel“ erwähnt wird.94 Klar, das göttliche Reden im Sohn umfasst mit dessen Inkarnation auch ein irdisches Geschehen.95 Aber der Ausgangspunkt des Redens ist entscheidend. Und dieser ist im Fall vom heilsgeschichtlichen Reden evn ui`w/|, das neben der Inkarnation auch das Kreuzesgeschehen als irdisches Element beinhaltet, der „geistliche“ Himmel als ewiger Wohnort Gottes und des Sohnes. Zudem ist der Sohn, durch den Gott jetzt spricht, als der Aufgefahrene wieder in diesem Himmel.96 Direkt von seinem himmlischen Wohnort aus spricht Gott auch durch 92 Vgl. z. B. Spicq, Hébreux II, 411; Käsemann, Gottesvolk, 29; Michel, Hebräer, 471; Pfitzner, Hebrews, 188; Cortez, „Hearing God“, 106; Griffiths, Speech, 151. 93 Vgl. ExLXX 20,22: evk tou/ ouvranou/ lela,lhka pro.j u`ma/j, DtnLXX 4,36: evk tou/ ouvranou/ avkousth. evge,neto h` fwnh. auvtou/ paideu/sai, se, vgl. z. B. auch Gordon, Hebrews, 182: „He will have been aware of such texts as Exod. 20.22 and Deut. 4.36, according to which the divine voice at Sinai issued from heaven“. 94 ~ymXm ~hm[ rbdw tdry ynys-rh l[w, evpi. o;roj Sina kate,bhj kai. evla,lhsaj pro.j auvtou.j evx ouvranou/, vgl. auch den Folgesatz kai. e;dwkaj auvtoi/j kri,mata euvqe,a kai. no,mouj avlhqei,aj prosta,gmata kai. evntola.j avgaqa,j in NehLXX 9,13 mit to.n crhmati,zonta in Hebr 12,25. 95 Vgl. auch Loader, Sohn, 81 und Eisele, Reich, 116. 96 Vgl. auch Delitzsch, Hebräer, 655.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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den Heiligen Geist (vgl. 3,7; 9,8 und 10,15 mit der „himmlischen Gabe“ in 6,4) und durch die an den erhöhten Sohn gerichteten Worte der Heiligen Schrift (vgl. 1,8–13; 5,5–6). Ferner scheint mir möglich, dass der Hebr bei der Gegenüberstellung vom ehemals irdischen Reden Gottes am Sinai und dem jetzigen göttlichen Sprechen „vom Himmel her“ mit evpi. gh/j in zweiter Linie auch die menschliche Vermittlung der Gottesrede betonen wollte (↑ B.VI.3.1.2.a), die im Gegensatz zu jener durch den himmlisch-göttlichen Sohn steht. 97 Die Vermittlung der Weisungen Gottes am Sinai durch Mose wird vom Hebr in 9,19 auf jeden Fall thematisiert (lalhqei,shj ga.r pa,shj evntolh/j kata. to.n no,mon u`po. Mwu?se,wj panti. tw/| law/|). Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Verfasser mit evpi. gh/j gleichzeitig an seine „eigentümlich ‚irdische‘ Interpretation der Sinai-Theophanie von V.18–21“ anknüpfen wollte98, wonach das Sprechen Gottes als „sehr sinnengefällige[s], von kosmischen Zeichen begleitete[s] Wortgeschehen“ daherkommt99 und Gottes Reden „uneigentlich und verhüllt“ zu vernehmen ist100. Das Reden Gottes avpV ouvranw/n (durch den Sohn, die Heilige Schrift, den Heiligen Geist und den Verfasser des Hebräerbriefs) würde dann im Gegensatz als ein direktes, klares und unmissverständliches Reden qualifiziert. Diese Gegenüberstellung vom Reden Gottes evpi. gh/j und avpV ouvranw/n zielt durch den Schluss a minore ad maius auf eine äusserst scharfe Warnung an die Adressaten, die es jetzt zu erörtern gilt. 3.1.4 Die Warnung, sich ja nicht von Gott bzw. Jesus abzuwenden (V.25c) Der Schluss vom Kleineren auf das Grössere in Hebr 12,25bc dient formal als Begründung für den Appell in V.25a: Ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta. Sachlich wird er aber selbst zur Warnung, nämlich nur ja keine oi` to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi zu werden oder zu bleiben.
97
Vgl. Wider, Theozentrik, 114; ähnlich z. B. März, Hebräerbrief, 80. Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 686. 99 Vgl. Hegermann, Hebräer, 262. 100 Vgl. Schunack, Hebräerbrief, 214.
98
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
a. Das Echo auf Hebr 2,2f Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass das argumentum a minore ad maius in Hebr 12,25bc ein Echo bzw. ein Rückverweis auf Hebr 2,2f ist.101 Die wörtliche Übereinstimmung vom apodiktischen ouvk evxe,fugon102 bzw. h`mei/j [ouvk evkfeuxo,meqa103] (12,25) mit dem rhetorisch fragenden pw/j h`mei/j evkfeuxo,meqa (2,3) kann nicht zufällig sein.104 Zu beachten sind auch die sachlichen Übereinstimmungen: Wie in 12,25, so stellt der Verfasser auch in 2,2f die göttlichen Weisungen an das Volk Israel in der Vergangenheit (vgl. o` diV avgge,lwn lalhqei.j lo,goj in 2,2 mit evpi. gh/j […] to.n crhmati,zonta in 12,25) dem Reden Gottes durch Jesus105 gegenüber (vgl. swthri,aj( h[tij avrch.n labou/sa lalei/sqai dia. tou/ kuri,ou u`po. tw/n avkousa,ntwn eivj h`ma/j evbebaiw,qh in 2,3 mit to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n in 12,25) und weist (implizit) auf die grössere Verantwortung hin106 (vgl. perissote,rwj in 2,1 mit polu. ma/llon in 12,25), die auf dem Missachten der neueren göttlichen Botschaft liegt. Der grosse Unterschied zwischen den beiden argumenta a minore ad maius liegt darin, dass der Verfasser in 2,3 nur die Missachtung der göttlichen Botschaft thematisiert, in 12,25bc hingegen (auch) die Missachtung des redenden Gottes selbst. Was es heisst, oi` to.n [crhmati,zonta] avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi zu sein, soll nun erörtert werden. b. „die wir uns […] abwenden“ Das Verb avpostre,fesqai (tina,) bedeutet „sich (von jemandem) abwenden“ bzw. „(jemanden) verwerfen“.107 In der LXX wird es für das Volk Israel bezüglich seinem Verwerfen vom (von Gott gegebenen) Guten (vgl. HosLXX 8,3: Israhl avpestre,yato avgaqa) oder gar von Gott selbst (vgl. JerLXX 15,6: su.
101
So z. B. auch Thompson, Hebrews, 266: „[T]he warning of even greater consequences for those who refuse the voice ‚from heaven‘ (12:25) reiterate the author’s earlier question, ‚How shall we escape if we neglect such a great salvation?‘“; sowie Cockerill, Hebrews, 661: „The less-to-great argument in v. 25bc updates the pastor’s first such argument given in 2:2-3“. 102 Die Lesart efugon (vgl. Hebr 11,34) von P46, a2 u. a. ist offensichtlich sekundär (so z. B. auch Grässer, Hebräer III, 329, Anm. 25). 103 Vgl. Ellingworth, Hebrews, 685: „The verb in the future tense is implied“. 104 Vgl. dazu auch Vanhoye, La structure, 233 und Cortez, „Hearing God“, 100. 105 Die verkündigte „so grosse Rettung“ (thlikau,th swthri,a) in Hebr 2,3 meint offenbar das in 1,2a erwähnte Reden Gottes „im Sohn“ (vgl. Griffiths, Speech, 52), wie es offensichtlich auch beim Reden Gottes „vom Himmel her“ (12,25c) der Fall ist (↑ B.VI.3.1.3.a). 106 Vgl. z. B. auch Cockerill, Hebrews, 662: „Both [less-to-greater arguments] begin by describing the responsibility of the former with a condition of fact, followed by a question that implies the proportionately greater responsibility of the latter“. 107 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 201.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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avpestra,fhj me le,gei ku,rioj) gebraucht.108 Der auctor ad Hebraeos knüpft mit dem Sich-Abwenden von Gott locker an diese Apostasie-Stellen an. Wahrscheinlich steht aber auch Num 14,43 im Hintergrund, wonach die Israeliten sich in Kadesch von der Nachfolge Jahwes abgewandt haben (~tbX hwhy yrxam), was die LXX in freier Weise mit avpestra,fhte avpeiqou/ntej kuri,w| wiedergibt. Die Pointe ist dabei, dass der Verfasser im Schluss a minore ad maius dieses die Stärke des Abfalls betonende avpostre,fesqai („sich [gänzlich] abwenden“109) in Bezug auf die Adressaten verwendet und das schwächere paraitei/sqai („zurückweisen“) mit Blick auf die Israeliten, woraus (vom Verfasser intendiert) Folgendes zu schliessen ist: „[T]he readers’ offense would be more serious“.110 Dass sich die Adressaten von dem vom Himmel her Weisung erteilenden Gott abwenden könnten, scheint für den Verfasser eine reale, nicht fern liegende Möglichkeit zu sein. Das zeigt die Präsensform avpostrefo,menoi unmissverständlich. Lane schreibt dazu mit Recht: „The use of the present tense in the participle implies a real and pressing danger“. 111 Zudem hat Smillie überzeugend dargelegt, dass die Mehrheit der Exegeten oi` to.n avpV ouvranw/n avpostrefo,menoi vorschnell konditional übersetzt.112 Hinsichtlich des Fehlens einer Konditionalpräposition ist folgende Übersetzung naheliegender: „Wenn schon jene nicht entfliehen konnten, die den abwiesen, der auf der Erde Weisungen gab, wieviel mehr wir nicht, die wir uns von dem abwenden, der vom Himmel her Weisungen erteilt.“ Gewiss: Mit Blick auf den Eingangsappell in Hebr 12,25a – ble,pete mh. paraith,shsqe to.n lalou/nta – ist die Formulierung „wir, die wir uns jetzt von Gott Abwendenden“ mehr Beschämung und Provokation als Tatsachenbeschrieb (vgl. z. B. auch 10,39: h`mei/j de. ouvk evsme.n u`postolh/j eivj avpw,leian avlla. pi,stewj eivj peripoi,hsin yuch/j, ähnlich 6,9!). Der Verfasser will damit die schockierte Antwort der Adressaten provozieren: „Nein, auf keinen Fall wollen wir uns abwenden!“113 Zudem zeigt die Präsensform avpostrefo,menoi deutlich: Selbst wenn das avpostre,fesqai Gottes begonnen haben sollte, so ist es doch noch nicht vollendet und kann noch abgewendet werden.114 Auch das „h`mei/j
108
Der eher seltene Gebrauch avpostre,fesqai mit einem Akkusativobjekt findet sich auch in 3.Makk 3,23 und 4.Makk 5,8; sowie bei Philo (Congr. 152; Mut. 254; Spec. 4,179) und im Neuen Testament (Mt 5,42; 2.Tim 1,15; Tit 1,14). 109 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 686. 110 So richtig bemerkt von Mitchell, Hebrews, 287 111 Vgl. Lane, Hebrews II, 478: „[T]he rejection of God […] is a possibility that threatens the existence of the community“. 112 Vgl. Smillie, „speaking“, 288f; so neuerdings z. B. auch Allen, Hebrews, 595f und Cockerill, Hebrews, 663. 113 Vgl. Cockerill, Hebrews, 663: „[N]o, we are not those who turn away“. 114 So richtig Westcott, Hebrews, 419: „The action if commenced was not yet completed“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
ecclesiasticum“115, mit dem sich der Hebr mit seinen Lesern rhetorisch bewusst identifiziert116, nimmt der kritischen Aussage über sie „den Eindruck verletzender Schärfe“117 (wie z. B. auch in 2,1.3). Nichtsdestotrotz: Das Sich-vonGott-Abwenden ist eine „drohende Gefahr“ für die Adressaten118, zumindest für einen Teil von ihnen119. Wenn man nach der Bedeutung eines vollzogenen avpostre,fesqai to.n crhmati,zonta fragt, so liegt die Antwort auf der Hand: Es ist identisch mit dem in 3,12 erwähnten „Abfallen vom lebendigen Gott“ (avposth/nai avpo. qeou/ zw/ntoj)120 und als solches (ein) „Terminus des Abfalls vom Glauben“121. Ferner ist ein Abfallen von Gott mit dem Abfallen von Jesus deckungsgleich, weil Gott als crhmati,zwn avpV ouvranw/n – wie gesehen (↑ B.VI.3.1.3.d) – vor allem im Sohn spricht. Infolgedessen kann man sagen, dass es in 12,25c letztlich auch um das Abfallen vom (durch den Sohn ermöglichten) Neuen Bund geht, vor dem gewarnt wird (vgl. 10,29: o` to.n ui`o.n tou/ qeou/ katapath,saj kai. to. ai-ma th/j diaqh,khj koino.n h`ghsa,menoj).122 Auf den Punkt gebracht: Der Verfasser des Hebräerbriefs warnt davor, das „christliche Bekenntnis“ aufzugeben123 (vgl. die eindringlichen Appelle in 4,14 und 10,23, die o`mologi,a festzuhalten). Lewicki betont weiter mit Recht, dass avpostre,fesqai nicht nur an das avposth/nai von Hebr 3,12 anklingt, sondern z. B. auch an das u`sterei/n von 4,1, das parapi,ptein von 6,6 sowie an das u`poste,llesqai bzw. die u`postolh, von 10,38f.124 Mit der indirekten Warnung in 12,25c, nur ja keine Personen zu sein, die sich von dem Weisung erteilenden Gott abwenden, greift der Verfasser 115
Vgl. Grässer, Hebräer III, 329. Was Übelacker zum Wir-Stil in 12,28f sagt, gilt auch für h`mei/j in 12,25c: „[T]he use of ‚we‘ signal once more the author’s solidarity with the congregation […] and [it is] an expression of his benevolence and ethos. The author’s argumentation aims at convincing the recipients that he wants only their most expedient gain“ (vgl. W. G. Übelacker, „Hebrews and the Implied Author’s Rhetorical Ethos“, in: T. H. Olbricht; A. Eriksson (Hg.), Rhetoric, Ethic, and Moral Persuasion in Biblical Discourse. Essays from the 2002 Heidelberg Conference, ESEC 11, New York: T&T Clark, 2005, 333). Die rhetorische Identifikation darf man aber keinesfalls so verstehen, dass der Autor sich im gleichen geistlich prekären Zustand sieht wie einen Teil der Adressaten (so richtig Thomas, Mixed-Audience, 234–236). 117 Vgl. Riggenbach, Hebräer, 422. 118 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 686. 119 Thomas hat überzeugend dargelegt, dass der Verfasser des Hebräerbriefs von einer gemischten Leserschaft ausgeht („mixed audience“), wobei ein Teil (nahe) am Abfallen ist, ein anderer jedoch nicht (vgl. Thomas, Mixed-Audience, 181–237; 278–280). 120 So z. B. auch Schunack, Hebräerbrief, 214 und Lewicki, Wort Gottes, 114. 121 So richtig H.-F. Weiss, Hebräer, 686. 122 Vgl. dazu z. B. Montefiore, Hebrews, 234 („apostasy from the new covenant“) und T. K. Oberholtzer, „The Warning Passages in Hebrews: Part 5: The Failure to Heed His Speaking in Hebrews 12:25-29“, in: BS 146.581/1989, 72 („turn away from the New Covenant“). 123 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 451f. 124 Vgl. Lewicki, Wort Gottes, 114; eine wichtige Parallelstelle, die von ihm unerwähnt bleibt, ist 2,1 mit dem mh,pote pararuw/men. 116
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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noch einmal all die vorangegangenen Warnungen, in keinem Fall durch Ungehorsam oder Unglauben von Gott bzw. seinem Sohn abzufallen, auf (vgl. Hebr 2,1–3; 3,12–4,11; 6,6–8; 10,26–31.35–39).125 c. Die Gerichtswarnung Die Warnung, den redenden Gott nicht abzuweisen bzw. sich nicht von dem göttlichen Erteiler von Weisungen (gänzlich) abzuwenden, ist mit einer scharfen Gerichtsdrohung verbunden: „Wenn schon jene nicht entflohen sind (ouvk evxe,fugon), wieviel mehr [werden] wir nicht [entfliehen] (polu. ma/llon h`mei/j [ouvk evkfeuxo,meqa])“. Das „Nicht-Entfliehen“ der Wüstengeneration entspricht dem göttlichen Strafgericht, dass sie wegen ihrer Sünde nicht in das verheissene Land einziehen durfte (vgl. Hebr 3,18) und, getroffen vom Zorn Gottes, in der Wüste sterben musste (vgl. 3,17).126 In Analogie dazu meint das Nicht-Entfliehen von abfallenden Christen 1) das Nicht-Eingehen in die (ewige) „himmlische“ Ruhe (vgl. 4,1.11) bzw. in den sabbatismo,n (vgl. 4,9)127 – also „den drohenden Heilsverlust“128 – und 2) die Bestrafung im zukünftigen Zorngericht Gottes129. Gewiss: Gericht und Strafe sind nur angedeutet (vgl. auch Hebr 2,3). Aber dass die Adressaten (intendiert vom Verfasser) durch das im Hintergrund stehende ouvk evkfeuxo,meqa in 12,25 eine drohende Bestrafung beim Letzten Gericht vor Augen haben, ist aus zwei Gründen sehr naheliegend: 1) Das Verb evkfugei/n im Sinn eines „Nicht-entfliehen-Könnens“ wird im Frühjudentum wie auch im Urchristentum sehr oft in Verbindung mit dem endzeitlichen Strafgericht Gottes verwendet (vgl. z. B. 2.Makk 6,26; 7,35f; 4.Makk 9,32; PsSal 15,8; Lk 21,34–36; Röm 2,3; 1.Thess 5,2f); 2) das Jüngste Gericht wurde durch den Verfasser in der expositio unmittelbar vor der Ermahnung in Hebr 12,25 thematisiert (vgl. 12,23: krith/|). Der Verfasser knüpft mit dem ouvk evkfeuxo,meqa noch einmal an alle vorausgegangenen Gerichtsandrohungen an (vgl. z. B. 6,8: to. te,loj eivj kau/sin, 10,29: cei,ronoj avxiwqh,setai timwri,aj, 10,30: evmoi. evkdi,khsij( evgw. avntapodw,sw, 10,31: fobero.n to. evmpesei/n eivj cei/raj qeou/ zw/ntoj, 10,39: eivj avpw,leian). Das Nicht-Entfliehen der Adressaten bezieht sich jedoch nicht nur auf Gericht und Strafe, sondern gewiss auch auf Gott selbst als den allmächtigen 125
So z. B. auch Witherington, Hebrews, 345 (er nennt allerdings nur Hebr 2,1–3; 6,6–8 und 10,28–29). 126 So richtig Attridge, Hebrews, 379 und Lane, Hebrews II, 477. 127 Backhaus spricht vom Verspielen der ewigen Heimat (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 452). 128 Vgl. Grässer, Hebräer III, 329, Anm. 25. 129 Vgl. H.-F. Weiss, Hebräer, 685: „Die Mahnung des Autors zielt darauf, dem Zorn Gottes bzw. seinem Zornes- und Strafgericht zu entkommen“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Richter aller Menschen (vgl. Hebr 12,23: krith/| qew/| pa,ntwn)130, dem sich kein Mensch entziehen kann. Damit schliesst sich der Kreis zum Eingangsappell in 12,25, den redenden Gott nicht abzuweisen. In Bezug auf den göttlichen lalw/n bemerkt nämlich Strobel mit Recht: „Ihn abzuweisen, wäre unsinnig, weil wir ihm nie und nimmer entfliehen können. Er hat uns immer, entweder als der Gnädige oder als der Richter.“131 d. Die grössere Verantwortung Abschliessend soll noch die Frage beantwortet werden, warum die Adressaten eine grössere Verantwortung haben als die Israeliten im Alten Bund (polu. ma/llon h`mei/j [ouvk evkfeuxo,meqa]), wenn sie wie jene den redenden Gott zurückweisen bzw. sich gänzlich vom göttlichen Erteiler von Weisungen abwenden. Kaum liegt die „gesteigerte Gefährlichkeit der Verantwortung“132 in einem dualistischen Gegensatz von Irdischem und Himmlischem begründet.133 Das Abweisen vom göttlichen Reden avpV ouvranw/n ist nur darum schlimmer, weil es als Reden im Sohn den Hörern grösseres Heil bringt bzw. gebracht hat134 (vgl. dazu auch den Paralleltext zu Hebr 12,25bc in 2,2f, wo von der „so grossen Rettung“ die Rede ist). Von diesem grösseren Heil her, das in Hebr 12,22–24 beschrieben wurde, erklärt sich die grössere Verantwortung der Adressaten.135 So schreibt z. B. auch Backhaus mit Recht: „Je grösser die Wohltat ist, die erwiesen wurde, umso schwerer wiegt die Folge, wenn sie zurückgewiesen wird“.136 In Jesus ergeht „ein qualitätsmässig viel höheres Angebot“, weshalb „eine wesentlich erhöhte Gefahr“ besteht.137 Der Schluss a minore ad maius in Hebr 12,25bc ist demnach eine Neuauflage von jenem in 10,28f, wonach jemand, der den Sohn Gottes mit Füssen tritt (d. h. sich von ihm abwendet), viel schlimmere Strafe verdient als einer, der das Gesetz von Mose verworfen hat und darum sterben muss. Die eschatologische Gerichtsstrafe für die Ablehnung Gottes bzw. seines Sohnes ist für den Verfasser wohl darum fataler, weil sie
130 Spicq spricht z. B. von der „impossibilité d’échapper à la toute puissance du souverain Juge (v. 23)“ (Spicq, Hébreux II, 411). 131 Vgl. Strobel, Hebräer, 241. 132 Vgl. Braun, Hebräer, 438 133 Grässer spricht z. B. von der „metaphysische[n] Überlegenheit der neutestamentlichen Offenbarung gegenüber der alttestamentlichen“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 329f); ähnlich auch Schunack, Hebräerbrief, 213. 134 Ähnlich auch Cockerill, Hebrews, 663, Anm. 10: „It is the work of Christ, and not some matter/spirit dualism, that makes this revelation ‚from heaven‘ superior to the on-earth Sinai revelation“. 135 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 477; selbst Schunack spricht von „der umso grösseren Verantwortung des Heils“ (Schunack, Hebräerbrief, 212). 136 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 452; 137 Vgl. Braun, Hebräer, 440.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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von „ewiger“ Natur ist (Hebr 6,2: kri,ma aivwni,oj, vgl. dazu z. B. auch 2.Thess 1,9; Offb 14,9–11). Für die grössere Verantwortung der Adressaten wird neben dem grösseren Heil im neutestamentlichen Reden Gottes aber auch dessen claritas verantwortlich sein. Die Sinai-Kratophanie hat Gottes Wesen und sein Reden den Israeliten nur sehr beschränkt offenbart (vgl. z. B. Hebr 12,19: fwnh/| r`hma,twn). Das göttliche Reden am Ende der Zeit erfolgt demgegenüber im Sohn als dem carakth,r von Gottes u`po,stasij (vgl. Hebr 1,2f) gänzlich unverhüllt und obendrein unter Bestätigung von Zeichen und Wundern und dem sonstigen Wirken des Heiligen Geistes (vgl. Hebr 2,4). Schlussendlich gründet die grössere Verantwortung der Adressaten wohl aber auch darin, dass das Reden Gottes im Neuen Bund ein Reden ist, das man nicht nur hören, sondern auch erfahren bzw. „schmecken“ kann (vgl. Hebr 6,4f!). 3.2 Vers 26 ou- h` fwnh. th.n gh/n evsa,leusen to,te( nu/n de. evph,ggeltai le,gwn\ e;ti a[pax evgw. sei,sw ouv mo,non th.n gh/n avlla. kai. to.n ouvrano,nÅ „Dessen Stimme erschütterte damals die Erde; jetzt aber hat er verheissen und gesagt: ‚Noch einmal werde ich nicht nur die Erde erbeben lassen, sondern auch den Himmel‘.“
Der vom Himmel her Weisungen gebende Gott wird in Hebr 12,26 näher beschrieben (vgl. den relativen Anschluss ou- h` fwnh, mit jenem in 12,19: h-j oi` avkou,santej). Indirekt begründet diese Gottesbeschreibung sowohl den Appell, den redenden Gott nicht abzuweisen – grammatikalisch ist V.26 ein Teil des ab V.25b mit eiv ga.r einsetzenden Begründungssatzes –, als auch die angedeutete Warnung, sich ja nicht vom crhmati,zwn abzuwenden: Nach dem Verfasser kommt nämlich eine durch die Stimme Gottes eingeleitete eschatologische Katastrophe (vgl. V.26b), in der nur die Gott-nicht-Zurückweisenden bzw. die Sich-nicht-von-Gott-Abwendenden bewahrt bleiben und Zugang zur Verheissung (vgl. evph,ggeltai) bzw. zu der mit der Katastrophe eröffneten unerschütterlichen Welt erlangen (vgl. V.27f). Rhetorisch gekonnt setzt der auctor ad Hebraeos dabei seine in V.25 begonnene zweifache Kontrastierung – die von Erde und Himmel (evpi. gh/j vs. avpV ouvranw/n) und jene von den Israeliten damals und dem „wir“ heute (evkei/noi vs. h`mei/j) – fort (vgl. th.n gh/n vs. ouv mo,non th.n gh/n avlla. kai. to.n ouvrano,n bzw. to,te vs. nu/n).
290
B. Exegese von Hebr 12,18−29
3.2.1 Die Erschütterung am Sinai durch das Reden Gottes Mit der Stimme Gottes, die damals die Erde „zum Schwanken brachte“ bzw. „erschütterte“138 (h` fwnh. th.n gh/n evsa,leusen to,te), spielt der Verfasser offensichtlich auf das Erdbeben an, das die Sinai-Theophanie begleitet hat.139 Dies belegt das rückverweisende Temporaladverb to,te, das sich – auch mit Blick auf th.n gh/n – nur auf evpi. gh/j […] to.n crhmati,zonta in V.25, d. h. auf den am Sinai Weisung erteilenden Gott beziehen kann.140 Nach Ex 19,18 kam Jahwe auf den Sinai herab, und „der ganze Berg erbebte sehr“ (dam rhh-lk drxyw). Die LXX sieht allerdings nicht den Berg beben, sondern das Volk (evxe,sth pa/j o` lao.j sfo,dra). Infolgedessen vermutet z. B. Lane, dass sich der Verfasser des Hebräerbriefs nicht an Ex 19,18, sondern an RiLXX 5,4f anlehnt141, wonach bei der Sinai-Theophanie142 die Erde bebte (gh/ evsei,sqh) und die Berge bzw. der Sinai erschüttert wurde/n (o;rh evsaleu,qhsan […] tou/to Sina). Formal-sprachlich gesehen mag dies stimmen. Inhaltlich scheint sich Hebr jedoch primär auf (die hebräische Fassung von) Ex 19,18f zu beziehen. In Hebr 12,26 betont er nämlich, dass die Stimme (h` fwnh,) Gottes die Erde erschütterte (vgl. die formale Entsprechung zu PsLXX 45,7: e;dwken fwnh.n auvtou/ evsaleu,qh h` gh/). Es gilt nun zu beachten, dass in Ex 19,19 unmittelbar nach dem Erdbeben ein immer stärker werdender Hörnerschall (lwq yhyw qzxw $lwh rpwXh; vgl. LXX: evgi,nonto de. ai` fwnai. th/j sa,lpiggoj probai,nousai ivscuro,terai sfo,dra) und Gottes Antworten mit einer [lauten] Stimme erwähnt ist (lqb wnn[y; vgl. LXX: avpekri,nato auvtw/| fwnh/|). Wie unter B.III.2.2.1 zu sa,lpiggoj h;cw| in Hebr 12,19 ausgeführt, ist es nicht auszuschliessen, dass der Verfasser – wie Philo (vgl. Decal. 32–35) – den Hörnerschall und die Stimme Gottes miteinander identifiziert hat. Weil der Hörnerschall nach Ex 19,16 das Volk erbeben liess, scheint es infolgedessen nicht unmöglich, dass der Verfasser des Hebräerbriefs den Hörnerschall bzw. die Stimme Gottes als Ursache für das in Ex 19,18 erwähnte Erdbeben gesehen hat (vgl. 1.Makk 9,13: kai. evsaleu,qh h` gh/ avpo. th/j fwnh/j tw/n parembolw/n, freilich in einem anderen Kontext). Aber auch wenn der auctor ad Hebraeos den Hörnerschall und die göttliche Stimme nicht miteinander identifiziert haben sollte: Dass er das Beben der Erde und die Stimme Gottes nach Ex 19,18f in Verbindung miteinander gesehen hat, ist mehr als wahrscheinlich, wenn die Israeliten
138 139
Vgl. die Bedeutung vom Verb saleu,ein nach Bauer, Wörterbuch, 1482. So eigentlich alle Exegeten (vgl. z. B. Karrer, Hebräer II, 340; Cockerill, Hebrews,
664). 140
Erst in zweiter Linie bezieht sich to,te auf die Ausführungen in Hebr 12,18–21 (gegen H.-F. Weiss, Hebräer, 687). 141 Vgl. Lane, Hebrews II, 479. 142 Im MT ist die Jahwe-Theophanie nicht eindeutig lokalisiert (vgl. Pfeiffer, Jahwes Kommen, 80ff); anders in der LXX (vgl. 5,5:tou/to Sina!)
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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nach Ex 20,18 die Zehn Worte offenbar als (erschütternden) Donner (tlwqh; vgl. LXX: fwnh,!) wahrnahmen und „schwankten“143 (w[nyw). Dass „die Stimme, die damals die Erde erschütterte“, die Stimme des am Sinai redenden Gottes meint, bringt uns zu einer wichtigen Schlussfolgerung: Für den Verfasser ist der jetzt vom Himmel her (im Sohn) sprechende Gott (vgl. 12,25) der gleiche, wie der am Sinai redende Gott (vgl. den relativen Anschluss ou- h` fwnh,). Dies verdeutlicht – bei aller geschilderten Beschränktheit des offenbarenden Redens von Gott am Sinai (vgl. 12,19) – noch einmal die Wertschätzung des vorchristlichen Redens Gottes144 und verunmöglicht jede marcionitische Interpretation des Hebr.145 Die Adressaten hören im Jetzt die absolut gleiche göttliche Stimme wie damals die Israeliten am Sinai.146 Für den Verfasser besteht allerdings nicht nur im Wesen der redenden Stimme von damals und von heute eine Kontinuität, sondern auch in dem, was die Stimme auslöst bzw. auslösen wird: eine „physikalische“ Erschütterung. 3.2.2 Die zukünftige Erschütterung von Erde und Himmel Von der Erschütterung der Erde am Sinai in der Vergangenheit kommt der Verfasser des Hebräerbriefs zu einer zukünftigen Erschütterung von Erde und Himmel.147 Dabei zitiert er die direkte Rede von Gott aus HagLXX 2,6: e;ti a[pax evgw. sei,sw148 ouv mo,non th.n gh/n avlla. kai. to.n ouvrano,n. Die Abweichungen zur LXX-Vorlage (e;ti a[pax evgw. sei,sw to.n ouvrano.n kai. th.n gh/n kai. th.n qa,lassan kai. th.n xhra,n) sind frappant. Der Verfasser lässt die Erschütterung des Meeres und des Trockenen unerwähnt; er ist offenbar nur an der Bewegung von Himmel und Erde interessiert. Weiter kehrt er die LXX-Reihenfolge (Himmel/Erde) um – to.n ouvrano,n wird so besonders betont – und ergänzt ouv mo,non 143
So nach Koehler; Baumgartner, Lexikon I, 644. Vgl. auch Hebr 1,1 sowie die vielen alttestamentlichen Zitate, die jeweils als Worte Gottes eingeführt werden. 145 Marcion selber hat den Hebr nicht in seinen Kanon aufgenommen (dies wohl aus dem Grund, weil er es nicht als ein authentisches Schreiben von Paulus ansah); für marcionitische Argumente musste der Hebr aber dennoch her halten (vgl. dazu z. B. Bleek, Hebräer I, 127– 130); vgl. z. B. auch J. G. Gager, The Origins of Anti-Semitism. Attitudes Toward Judaism in Pagan and Christian Antiquity, New York: Oxford University Press, 1983, 183 (über den Verfasser des Hebräerbriefs): „Take away that [Jewish] background and culture, and we are well on the way toward Marcion“. 146 So richtig Portalatin, Temporal, 161. 147 Mit seiner Ansicht, dass dieser „decisive eschatological event“ schon stattgefunden hat, steht Attridge ziemlich alleine da (vgl. Attridge, Hebrews, 382; er vermutet eine Anlehnung an das Karfreitagsbeben). Dass der Verfasser an einen futurisch-eschatologischen Akt denkt, belegt das nu/n („jetzt“) des göttlichen Sprechens, womit die von Gott verheissene Erschütterung in der Zukunft liegen muss (vgl. die Futurform sei,sw). 148 Die Lesart sei,w von D, Y und M ist sekundär und erklärt sich entweder von der (ebenfalls sekundären) Abweichung in gewissen LXX-Manuskripten (vgl. dazu Steyn, Quest, 354, Anm. 35) oder durch eine Angleichung an HagLXX 2,21. 144
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
und avlla,, um die endzeitliche Erschütterung als Überbietung der rein irdischen Erschütterung am Sinai darzustellen.149 a. Die Kosmos-Erschütterung und das Letzte Gericht Mit Recht wird die vom Verfasser des Hebräerbriefs erwartete futurisch-eschatologische Erschütterung des gesamten Kosmos (= Erde und sichtbarer Himmel150) mit dem „Jüngsten Tag“151 in Verbindung gebracht und (infolgedessen) als „Gerichtsereignis“ bzw. „das eschatologische Gericht Gottes“152 gedeutet.153 Denn diese Deutung hat den Kontext des alttestamentlichen Prätextes für sich. Bleibt in HagLXX 2,6 ein eschatologisches Gericht Jahwes noch im Hintergrund verborgen154, so wird ein solches im Paralleltext HagLXX 2,21 (evgw. sei,w to.n ouvrano.n kai. th.n gh/n) nämlich doch klar angedeutet (vgl. 2,22: kai. katastre,yw qro,nouj basile,wn kai. ovleqreu,sw du,namin basile,wn tw/n evqnw/n).155 Für die Deutung der Kosmos-Erschütterung in Bezug auf das Weltgericht am Jüngsten Tag spricht zudem der Gebrauch der Verben sei,ein und saleu,ein im Alten Testament und im Frühjudentum. In der LXX wird das Verb sei,ein („erschüttern“156) oft in Bezug auf das Beben der Erde und der Berge als Begleiterscheinung vom Kommen Jahwes verwendet (vgl. z. B. Ri 5,4; 2.Sam 22,8–10; Ps 67,9; Nah 1,5). Dabei ist in Jes
149 Vgl. z. B. auch Steyn, Quest, 354f; nach syrBar 59,3 wurde der Himmel auch schon am Sinai erschüttert (so wohl auch 4.Esr 3,18). 150 Die Frage, ob der Verfasser unter to.n ouvrano,n darüber hinaus auch den himmlischen Wohnort Gottes versteht, kann erst bei der Exegese von Hebr 12,27 beantwortet werden. 151 So Grässer, Hebräer III, 331. 152 Zur ersten Formulierung vgl. Loader, Sohn, 58; zur zweiten vgl. Schunack, Hebräerbrief, 214. 153 Vgl. z. B. auch Lane, Hebrews II, 480 („eschatological judgment“) und Cockerill, Hebrews, 664 („future Judgment“); gegen Backhaus, Hebräerbrief, 453: „Weder Parusie noch Endgericht treten in das Blickfeld“. 154 Die mit der Erschütterung des Kosmos einhergehende Erschütterung der Nationen (vgl. HagLXX 2,7: sussei,sw pa,nta ta. e;qnh) scheint zunächst lediglich auf die Darbringung von Kostbarkeiten (durch die Völker) im Tempel zu Jerusalem bezogen zu sein (vgl. dazu z. B. D. L. Petersen, Haggai and Zechariah 1-8. A Commentary, OTL, Philadelphia, Penn: The Westminster Press, 1984, 67f); allerdings wird die Kosmos- und Völkererschütterung nach Hag 2,6f zunehmend auch als universales Völkergericht verstanden (vgl. z. B. M. Hallaschka, Haggai und Sacharja 1−8. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, BZAW 411, Berlin, New York: de Gruyter, 2011, 69f). 155 Vgl. E. H. Merrill, Haggai, Zechariah, Malachi. An Exegetical Commentary: Biblical Studies Press, 2003, 55f; Petersen, Haggai, 99–102 (nach ihm geht es um den „Tag Jahwes“); gegen I. Willi-Plein, Haggai, Sacharja, Maleachi, ZBK.AT 24,4, Zürich: TVZ, 2007, 48 (sie deutet die Erschütterung der Königreiche zeitgenössisch). 156 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1493.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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24,18.20 die Rede von einer zukünftigen Erschütterung der irdischen Fundamente (seisqh,setai ta. qeme,lia th/j gh/j) bzw. einem zukünftigen Beben der Erde (seisqh,setai […] h` gh/), wenn Jahwe die Menschen zum Gericht heimsucht (V.21–23). Nach Jes 13,13 wird, wenn an einem zukünftigen Tag der Zorn Jahwes kommen wird (h`me,ra| h-| a'n evpe,lqh| o` qumo.j auvtou/), sowohl die Erde als auch der Himmel durch seinen Zorn erschüttert werden (o` ga.r ouvrano.j qumwqh,setai kai. h` gh/ seisqh,setai […] dia. qumo.n ovrgh/j kuri,ou sabawq). Sei,ein wird auch im griechischen Henochbuch in Bezug auf ein eschatologisches Gerichtskommen Gottes verwendet. Nach grHen 1,5f werden „erschüttert werden alle Spitzen/Höhen der Erde“ (seisqh,sontai pa,nta ta. a;kra th/j gh/j) und „hohe Berge“ (seisqh,sontai […] o;rh u``yhla,), wenn der Höchste vom Himmel her auf die Erde kommen (V.4) und die Menschheit richten wird (V.7). Nach grHen 102,2f wird beim Letzten Gericht nicht nur die Erde, sondern auch der Himmel samt den Sternen beben (o`` ouvrano.j kai. oi`` fwsth/rej seio,menoi). Auch das in Hebr 12,26 zu sei,ein parallel gesetzte Verb saleu,ein wird in der LXX für die erschütternden Auswirkungen des Kommen Jahwes verwendet (vgl. z. B. Ri 5,5; Ps 17,8; 76,19). Dabei steht es sehr oft in Verbindung mit einem zukünftigen Zorngericht Gottes. In Mi 1,2–6 und Nah 1,3–6157 ist dieses Gericht wohl als Lokalereignis gedacht (Samaria/Juda bzw. Ninive). Auf die ganze Welt ausgeweitet erscheint es aber z. B. in Ps 81,5–8158, 95,9–13159 und 96,1ff160. Saleu,ein wird auch im Frühjudentum für die Erderschütterung beim eschatologischen Kommen Gottes zum Weltgericht verwendet. So heisst es in Sib 3,675: „Aber in jenen Tagen wird Allmutter Erde erbeben von des Untersterblichen Hand“ (gai/a de. paggene,teira saleu,setai h;masi kei,noij ceiro.j avp’ avqana,toio).161 Mit „jenen Tagen“ sind gemäss dem unmittelbaren Kontext die Tage des göttlichen Gerichts an den gottlosen Nationen gemeint (vgl. 670–
157
Die in V.5 erwähnte Erschütterung der Hügel steht zwar im Aorist (oi` bounoi. evsaleu,qhsan); aber V.6 mit den Futurformen zeigt, dass an ein zukünftiges Ereignis gedacht ist. 158 Vgl. avna,sta o` qeo,j kri/non th.n gh/n o[ti su. kataklhronomh,seij evn pa/sin toi/j e;qnesin in V.8 mit V.5: saleuqh,sontai pa,nta ta. qeme,lia th/j gh/j. 159 Vgl. e;rcetai o[ti e;rcetai kri/nai th.n gh/n krinei/ th.n oivkoume,nhn evn dikaiosu,nh| kai. laou.j evn th/| avlhqei,a| auvtou/ in V.13 mit V.9: saleuqh,tw avpo. prosw,pou auvtou/ pa/sa h` gh/. 160 Vgl. pu/r evnanti,on auvtou/ proporeu,setai kai. flogiei/ ku,klw| tou.j evcqrou.j auvtou in V.3 und hvgallia,santo ai` qugate,rej th/j Ioudai,aj e[neken tw/n krima,twn sou ku,rie in V.8 mit V.4: evsaleu,qh h` gh/. Zur Deutung vom hebräischen Ps 97 als Schilderung einer Theophanie Jahwes als König und Richter der Welt vgl. z. B. Hossfeld; Zenger, Psalmen II, 675ff; die LXX scheint den Psalm eschatologisch zu interpretieren (vgl. die Futurformen in V.3.10). 161 Zum griechischen Text und zur Übersetzung vgl. J.-D. Gauger (Hg.), Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch, Tusculum, Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler, 2002, 2. Aufl., 104f.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
674.689–697).162 In TestLev 3,9 heisst es in Bezug auf das endzeitliche „gerechte Gericht Gottes“ (vgl. 3,3): „Wenn nun der Herr auf uns schauen wird, werden wir alle erschüttert werden, und die Himmel und die Erde und die Abgründe werden erschüttert werden vor dem Angesicht seiner Majestät“ (o[tan ou=n evpible,yh| ku,rioj evf’ h`ma/j pa,ntej h`mei/j saleuo,meqa kai. oi` ouvranoi. kai. h`` gh/ kai. ai` a;bussoi avpo. prosw,pou th/j megalwsu,nhj auvtou/ saleu,ontai163). Auch in anderen nicht-griechischen frühjüdischen Schriften ist die Erschütterung der Erde bzw. von Himmel und Erde beim Kommen Gottes zum Letzten Gericht ein gängiges Motiv. So heisst es in äthHen 1,6 in Bezug auf diese göttliche Gerichtserscheinung (vgl. 1,3f.7), dass die hohen Berge erbeben werden. Gemäss AssMos 10,3–6 wird sich Gott vom himmlischen Thron erheben und mit Zorn auf die Welt kommen, und die Erde wird erschüttert werden („tremebit terra“).164 Nach 4.Esr 6,15f werden am Ende der Zeit, wenn Gott die Welt zum Gericht besuchen wird (vgl. V.18ff), die Fundamente der Erde „zittern und bewegt werden“.165 SyrBar 32,1 sieht eine Zeit kommen, wo „der Mächtige die ganze Schöpfung erschüttern wird“166; diese Zeit scheint der Moment des Weltgerichts zu sein167. In Anlehnung an das Alte Testament und frühjüdische Traditionen führt der Verfasser des Hebräerbriefs mit der göttlichen Erschütterung von Himmel und Erde den Adressaten also das zukünftige Weltgericht vor Augen, auf das er bereits mehrfach eingegangen ist (vgl. z. B. 6,2; 9,27; 10,27.30; 12,23). Die Kosmos-Erschütterung ist aber keinesfalls lediglich ein „Bild für die das einstige Gericht überbietende Macht und Wucht […], mit der Gott das Endgericht vollziehen wird“. 168 Die Erschütterung der Welt beim Letzten Gericht ist mit Blick auf die frühjüdischen Endzeittexte sowie auf die folgenden Ausführungen in 12,27 (meta,qesij […] pepoihme,nwn) auch ein physikalisches Ereignis.169
162 Vgl. auch R. Buitenwerf, Book III of the Sibylline Oracles and Its Social Setting, SVTP 17, Leiden: Brill, 2003, 278: „The author predicts that ‚God’s hand‘ will make the whole of creation tremble and shiver during his judgement“; dass das Gericht mit einer Theophanie zusammenhängt, sieht auch Buitenwerf (ebd., 257: „at God’s appearance“). 163 Zum griechischen Text vgl. de Jonge, Testaments, 28. 164 Vgl. dazu den Text und die Auslegung bei Tromp, Assumption, 18–19.232–235. 165 Vgl. Klijn, 4Esra, 33f; Moo, Creation, 119f. 166 Vgl. Klijn, „Baruch“, 143. 167 Vgl. das in SyrBar 32,1 erwähnte Vorbereiten der Herzen als Voraussetzung zum Bewahrt-Bleiben in der eschatologischen Welterschütterung mit der Gerichtsschilderung in 83,1ff und der damit verbundenen Aufforderung in V.8, die Herzen vorzubereiten. 168 Vgl. Vögtle, Kosmos, 89 (er spricht auch von der Welterschütterung als „Gerichtsmetapher“; ebd., 88). 169 Auch gegen Lane, Gleason und Thomas. Lane sieht in der Erschütterung wie Vögtle eine reine Gerichtsmetapher (vgl. Lane, Hebrews II, 480: „The ‚shaking‘ of heaven and earth is not intended to describe a coming historical event, namely the future transformation of the world or its ultimate destruction. It is descriptive of God’s eschatological judgment“);
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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Die gerichtsmässige Erschütterung bedeutet dabei zweierlei: 1) die Vernichtung bzw. Veränderung der Schöpfung; 2) die Bestrafung der sündigen Menschen. Zu 1): Nach Hebr 12,27 wird die eschatologische Erschütterung die meta,qesij von allen geschaffenen Dingen bringen. Ob der Verfasser hier an eine Vernichtung des Kosmos oder an seine Erneuerung denkt, kann erst später erörtert werden. Auf jeden Fall erfährt die bestehende Schöpfung eine katastrophale Veränderung. Mit Recht sagt darum Steyn, dass der Verfasser in 12,26 mit dem Zitat aus HagLXX 2,6 ein anderes Zitat in Erinnerung ruft: PsLXX 101,26–28 in Hebr 1,10–12.170 Für diese Deutung von Hebr 12,26 als katastrophale Veränderung alles Geschaffenen beim Letzten Gericht spricht auch Offb 20,11, wonach vor dem Angesicht des göttlichen Endrichters171 die Erde und der Himmel entfliehen (e;fugen h` gh/ kai. o` ouvrano,j), d. h. in ihrer bisherigen Form vergehen (vgl. die darauffolgende Aussage: to,poj ouvc eu`re,qh auvtoi/j)172. Zu 2): Der Verfasser erwartet gemäss 10,27–31 ein furchtbares Zorngericht über die sündigen bzw. gottlosen Menschen. Die in 12,26 erwähnte Erschütterung der Erde scheint ein solches Strafgericht anzudeuten, wenn man – was der Verfasser auch von den Adressaten annehmen wird – bedenkt, dass die Erde ja ein von Menschen bewohnter Raum ist. Zudem geht die eschatologische Erderschütterung sowohl im Alten Testament als auch in frühjüdischen Texten mit einer Vernichtung der Gottlosen einher (vgl. z. B. PsLXX 96,3f; grHen 1,4– 9; Sib 3,670–675; AssMos 10,4–7). Die vom Verfasser erwähnte Erschütterung von Himmel und Erde ist also ein bedrohliches Gerichtsereignis und somit eine weitere Begründung der scharfen Warnung an die Adressaten in Hebr 12,25, Gott nicht zurückzuweisen bzw. sich nicht von ihm abzuwenden. Umso mehr überrascht es nun, dass der Verfasser das Haggai-Zitat mit „(Gott) hat verheissen“ (evph,ggeltai) einführt.
Gleason deutet die Erschütterung als „a symbolic description of the destruction of the Jerusalem Temple“ (vgl. R. C. Gleason, „The Eschatology of the Warning in Hebrews 10:2631“, in: TynB 53.1/2002, 111); nach Thomas erwartet der Hebr eine zukünftige Erschütterung der Gemeinde (vgl. Thomas, Mixed-Audience, 271: „[T]he judgment in view is the removal of disobedient individuals from the community“). 170 Vgl. Steyn, Quest, 355; vgl. z. B. auch Michel, Hebräer, 121: „Das endzeitliche Drama, das in Hebr 1,10-12 nur angedeutet ist, wird in Hebr 12,26-29 näher ausgeführt“. 171 Wer der Endrichter ist, Gott (vgl. z. B. Satake, Offenbarung, 395) oder Jesus Christus (vgl. Lohse, Offenbarung, 108) oder Gott in/mit Christus (vgl. z. B. Beale, Revelation, 1031 und S. S. Smalley, The Revelation to John. A Commentary on the Greek Text of the Apocalypse, Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 2005, 516), ist umstritten. 172 Vgl. z. B. auch Smalley, Revelation, 516 und Blount, Revelation, 372f; mit Recht betont Satake, dass es sich hier „um eine Vorwegnahme von [Offb] 21,1 handelt“ (vgl. Satake, Offenbarung, 395f).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
b. Die „Verheissung“ der Katastrophe Das Wortfeld „Verheissung“/„verheissen“ wird im Hebr auffallend häufig verwendet. Das Verb evpagge,llesqai kommt, abgesehen von Hebr 12,26, noch dreimal vor (6,13; 10,23; 11,11), das Substantiv gar vierzehnmal (4,1; 6,12.15.17; 7,6; 8,6; 9,15; 10,36; 11,9 [zweimal]; 11,13.17.33.39). In allen Stellen geht es um eine göttliche Verheissung bzw. Versprechung mit positivem Inhalt, die Gott erfüllt hat (vgl. z. B. 6,15; 11,11.33) oder – wenn die angesprochenen Menschen ihren Teil dazu tun – noch erfüllen wird (vgl. z. B. 4,1; 10,23.36).173 Theologisch zentral für den Verheissungsbegriff im Hebr sind die in 8,6 erwähnten „besseren Verheissungen“ (krei,ttouj evpaggeli,ai) des Neuen Bundes, die mit dem Christusgeschehen und der menschlichen Annahme desselben mehrheitlich erfüllt sind. Sie umfassen die göttliche Löschung der Sünden, die Herzensprägung zum Gehorsam, die enge Gottesgemeinschaft und die tiefe Gotteserkenntnis. 174 Mindestens die Verheissung der Gemeinschaft mit Gott (vgl. Hebr 8,10c: kai. e;somai auvtoi/j eivj qeo,n( kai. auvtoi. e;sontai, moi eivj lao,n) hat aber auch eine futurisch-eschatologische Dimension der Erfüllung. 175 Äusserst gewichtig für das Thema der Verheissung im Hebräerbrief ist auch die noch nicht erfüllte göttliche Verheissung, in seine Ruhe einzugehen (vgl. 4,1: evpaggeli,aj eivselqei/n eivj th.n kata,pausin auvtou/) bzw. das ewige Erbe zu erlangen (vgl. 9,15: evpaggeli,an […] th/j aivwni,ou klhronomi,aj) bzw. das „himmlische“ Vaterland zu erreichen (vgl. 11,13–16).176 Meines Erachtens rekapituliert der Verfasser mit der Verwendung von evpagge,lleqai in Hebr 12,26 alle vorausgehenden Ausführungen über das noch ausstehende eschatologisch-futurische Heil im neuen Äon. Er benutzt das mit grosser Hoffnung aufgeladene Verb, um die eschatologische Katastrophe nicht nur als bedrohliches Gerichtsgeschehen, sondern auch als Heilsereignis zu zeigen, weil erst sie den Zugang zur vollendeten Gottesgemeinschaft, in die Ruhe, das ewige Erbe, das „himmlische“ Vaterland bzw. das in 12,28 erwähnte „unerschütterliche Königreich“ möglich macht. Cockerill sagt dazu treffend: „The coming Judgment is obviously a warning – God’s people need to be ready. And yet it is a promise of final salvation (cf. 9:28) to be anticipated with joy because only at the Judgment will God’s people enter into the fullness of the ‚Unshakable Kingdom‘ God has for them.“177
173
Vgl. dazu die ausführliche Darlegung bei C. Rose, „Verheissung und Erfüllung: Zum Verständnis von ἐπαγγελία im Hebräerbrief“, in: BZ 33.1/1989, 60–80; 178–191; vgl. auch Käsemann, Gottesvolk, 11–19. 174 ↑ B.IV.2.3.1.g. 175 ↑ B.IV.2.3.1.g. 176 Z. B. auch Grässer identifiziert die drei Verheissungen miteinander (vgl. Grässer, Hebräer II, 170). 177 Cockerill, Hebrews, 665.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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Dass der Verfasser des Hebräerbriefs die eschatologische Kosmos-Erschütterung aus HagLXX 2,6 als Verheissung sieht, ist auch vom Kontext des Prätextes zu verstehen. Die Prophetenworte sind nämlich Teil einer Ermutigung an den Volksführer Serubbabel und den Hohepriester Jeschua (vgl. 2,2), wonach die beiden und das Volk stark sein sollen, weil der alles beherrschende Gott mit ihnen ist (vgl. 2,4: meqV u`mw/n evgw, eivmi le,gei ku,rioj pantokra,twr). Die Erschütterung der Welt ist eine direkte Begründung (vgl. 2,6: dio,ti) der tröstlichen Worte „Habt Mut!“ (2,5: qarsei/te, vgl. auch das ähnliche aryt-la im MT). Die eschatologische Erschütterung ist darum für Israel so ermutigend, weil die (feindlichen) Völker erschüttert werden und infolgedessen Auserwählte (Menschen oder erlesene Kostbarkeiten) kommen und den Tempel mit Herrlichkeit füllen werden (vgl. 2,7: h[xei ta. evklekta. pa,ntwn tw/n evqnw/n kai. plh,sw to.n oi=kon tou/ton do,xhj). Die Welterschütterung läutet demnach für das Volk Gottes eine eschatologische Heilszeit ein (vgl. Hag 2,7 z. B. mit Jes 60,1– 22). Mit Blick auf den Paralleltext Hag 2,21–23 erscheint eine Verknüpfung mit einer messianischen Heilserwartung möglich. 178 Zumindest hat später Rabbi Akiba die in Hag 2,6 angekündigte Erschütterung mit dem Anbrechen der messianischen Zeit verbunden (vgl. mSanh 97b).179 Bei welchen Heilsverheissungen aus Hag 2,7f und 2,22f der Verfasser des Hebräerbriefs eine eschatologische Erfüllung erwartet hat, lässt sich nur vermuten.180 Auf jeden Fall scheint die Verbindung von Welterschütterung und Heilszeit im Buch Haggai mit ein Grund gewesen zu sein, warum der Verfasser in der von Gott angekündigten Katastrophe eine „Verheissung“ gesehen und sie als Voraussetzung für 178
So sagt z. B. Mason zu Hag 2,23, wo eine Folge der eschatologischen Welterschütterung (vgl. 2,21) beschrieben wird: „The language of the oracle shows that Haggai saw Zerubbabel as a messianic figure“ (vgl. R. Mason, The Books of Haggai, Zechariah and Malachi, CNEB, Cambridge: Cambridge University Press, 1977, 25); Reventlow lehnt den Begriff „messianisch“ ab, weil es bei Serubbabel um eine konkrete historische Persönlichkeit geht. Seine Interpretation von Hag 2,21–23 entspricht dann aber doch sehr exakt einem erwarteten messianischen Weltenkönig (vgl. z. B. Dan 7,13f): „Die Einsetzung Serubbabels soll erfolgen im Zuge des eschatologischen Eingreifens Jahwes, der Kosmos und Völkerwelt umstürzt und die widergöttlichen Mächte endgültig besiegt. […] Serubbabel, dem Davididen, soll dann die Rolle des endzeitlichen Herrschers zufallen, der als Stellvertreter Gottes vom Zionsthron aus die Welt regiert“ (vgl. H. Reventlow, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi, ATD 25/2, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1. Aufl., 1993, 31). 179 Vgl. Strack; Billerbeck, Briefe, 749: „Und nicht (ist die messianische Zeit eingetroffen), wie R. Aqiba […] gemeint hat; denn dieser hat vorgetragen: Noch eins, ein wenig, da will ich erschüttern den Himmel u. die Erde Hag 2,6“; vgl. L. Goldschmidt (Hg.), Der babylonische Talmud. Neunter Band, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag, 1996, 4. Aufl., 67: „[U]nd nicht wie R. Aqiba, der gedeutet hat [den Schriftvers]: denn nur noch eine kleine Frist währt es, so erschüttere ich Himmel und Erde“. 180 Karrer z. B. vermutet, dass der Verfasser die Verheissung von einem neuen herrlichen Tempel und dem Hinzukommen der Erwählten aus den Völkern in Bezug auf das endzeitliche Hinzutreten zum himmlischen Heiligtum gedeutet hat (vgl. Karrer, Hebräer II, 343).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
den Eingang in die Gottesruhe, das Erbe, das Vaterland und das „unerschütterliche Königreich“ erkannt hat. Bestimmt wollte der Verfasser dabei das göttliche evph,ggeltai als unerschütterliche Zusage verstanden haben. Denn nach Hebr 6,17 wurde die Verheissung der „ewige[n] Gottesgemeinschaft am Ende der Zeit“181, die Abraham gegeben wurde und an der die Christen als dessen Miterben Anteil haben182 (vgl. 6,18 mit Gal 3,29), durch einen Eid von Gott verbürgt/garantiert (evmesi,teusen o[rkw|). Dieser Eid an Abraham wiederum steht nach Hebr 6,18 in Verbindung mit dem die ewige Hohepriesterschaft begründenden göttlichen „Eidschwur“ (o`rkwmosi,a) an Jesus (vgl. 5,6; 7,21.28) – eines der beiden den Adressaten Sicherheit gebenden pra,gmata bezieht sich offensichtlich auf den MelchizedekSchwur in PsLXX 109,4.183 Die Garantie der Verheissung der futurisch-eschatologischen Gottesgemeinschaft liegt damit in dem Christusereignis bzw. in Christus selbst (vgl. 6,19f!; vgl. zudem 7,22 mit 8,6–10). Dass das Christusereignis in dem göttlichen Verheissungsakt in Hebr 12,26 tatsächlich mitzudenken ist, belegt das eigentümliche nu/n („jetzt“), das evph,ggeltai vorangestellt ist. Die Zusage aus HagLXX 2,6 wurde gemäss dem Verfasser des Hebräerbriefs „im Jetzt“ gemacht.184 Mit Recht sieht Käsemann darin „den Zeitpunkt des göttlichen Heils- und Verheissungserlasses am Anfang der christlichen Geschichte, den kairo,j diorqw,sewj [vgl. Hebr 9,10]“185 – in dem Sinn wird nu/n nämlich auch in 8,6 und 9,24.26 verwendet. Die Verheissung der Heil bringenden Kosmos-Erschütterung wurde zwar einst durch den Propheten Haggai gegeben, aber im Christusereignis wurde sie jetzt am Ende der Zeit gewissermassen erneuert, und seitdem ist sie fortwährend an die Menschen gerichtet: „Es [sc. nu/n] ist die Gegenwart seit Christi Eingang in den Himmel“.186 Wie das sh,meron aus PsLXX 94,7 nach Hebr 4,7 von Gott erneuert und eine alttestamentliche Aussage für die Adressaten des Hebr vergegenwärtigt wird, so ist auch die Verheissung aus HagLXX 2,6 von Gott an die Christen gerichtet.187
181
Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 249. So richtig O’Brien, Hebrews, 239. 183 Vgl. dazu z. B. Lane, Hebrews I, 152; Grässer, Hebräer III, 381 und Backhaus, Hebräerbrief, 249f. 184 Diese Deutung liegt m. E. grammatikalisch näher als jene von Riggenbach, Hebräer, 422f: „Was aber die Gegenwart anbetrifft, so hat er verheissen“ (vgl. z. B. auch Michel, Hebräer, 473). 185 Vgl. Käsemann, Gottesvolk, 30; nach Winter umschliesst nu/n „die ganze Wartezeit auf das Endgericht“ (vgl. A. Winter, Die überzeitliche Einmaligkeit des Heils im „Heute“. Zur Theologie des Hebräerbriefes, Neuried: Ars Una, 2002, 65). 186 Vgl. Käsemann, Gottesvolk, 30. 187 So auch Portalatin, Temporal, 161: „the addressees of the voice are the implied author and readers/listeners“. 182
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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3.2.3 Die Kosmos-Erschütterung und die Parusie Jesu Einige Exegeten sehen die in Hebr 12,26 erwähnte futurisch-eschatologische Kosmos-Erschütterung im Zusammenhang mit der Parusie Jesu.188 So schreibt z. B. Schenck: „In just a little while, the one who is coming will come and not delay (10,37). Christ is only waiting for his enemies to be put under his feet (10,13), when at appropriate point he will be seen a second time in judgment (9:28). At that time, the consuming fire which is God (12:29) will shake the created heavens and earth, removing all that is shakeable so that God’s heavenly unshakeable kingdom will remain (12:26-7).“189
Dafür, dass der auctor ad Hebraeos bei der endzeitlichen Erschütterung von Erde und Himmel an die Wiederkunft des Gottessohnes denkt, sprechen mindestens fünf gewichtige Gründe. 1) Der Verfasser erwartet – wie vor allem unter B.IV.2.1.3.d gesehen – eine Parusie Jesu auf der Erde (vgl. 1,6; 2,8; 10,13.25–27.37–39) und stimmt darin mit der urchristlichen Überlieferung überein (vgl. z. B. Mt 16,27; 24,30f; 25,31f; Lk 18,8; Apg 1,11; 2.Thess 1,7f; 2,7f). Wenn nun die Wiederkunft Christi auf die Erde gemäss Mt 24,29f; Mk 13,22–26; Lk 21,25–27 und Offb 6,12–17190 von einer umfassenden Kosmos-Erschütterung191 begleitet192 wird (vgl. auch das in 2.Petr 3,7.10.12 beschriebene Vergehen von Himmel und Erde, das ebenso bei der „Erscheinung“ Jesu Christi stattfindet193), dann
188 Vgl. z. B. Käsemann, Gottesvolk, 29; Schröger, Verfasser, 194; Loader, Sohn, 59; Rose, „Verheissung“, 185: „Die dort [sc. in Hebr 12,26] ausgesagte ‚Verheissung‘ (evph,ggeltai) gehört in den Kontext der unmittelbar bevorstehenden Parusie (9,28; 10,25; 10,37)“. 189 Vgl. Schenck, Cosmology, 189. 190 Zur wahrscheinlichen Deutung von Offb 6,12−17 auf den Jüngsten Tag hin, der die Parusie des Lammes, das Letzte Gericht und das Vergehen der alten Welt beinhaltet, vgl. z. B. Beale, Revelation, 395−404. 191 Vgl. Mt 24,29 (ähnlich Mk 13,25 und Lk 21,26): kai. oi` avste,rej pesou/ntai avpo. tou/ ouvranou/ (vgl. dazu JesLXX 34,4b: pa,nta ta. a;stra pesei/tai) kai. ai` duna,meij tw/n ouvranw/n saleuqh,sontai); sowie Offb 6,13f (vgl. JesLXX 34,4): kai. oi` avste,rej tou/ ouvranou/ e;pesan eivj th.n gh/n( w`j sukh/ ba,llei tou.j ovlu,nqouj auvth/j u`po. avne,mou mega,lou seiome,nh( kai. o` ouvrano.j avpecwri,sqh w`j bibli,on e`lisso,menon kai. pa/n o;roj kai. nh/soj evk tw/n to,pwn auvtw/n evkinh,qhsanÅ 192 Die Aussage „und dann wird das Zeichen des Menschensohnes im/am Himmel erscheinen“ (kai. to,te fanh,setai to. shmei/on tou/ ui`ou/ tou/ avnqrw,pou evn ouvranw/|) in Mt 24,30 darf man nicht so verstehen, dass die in V.29 erwähnte Kosmos-Erschütterung losgelöst von der Parusie stattfindet. Mit Recht schreibt z. B. Grundmann zu V.29: „Matthäus […] erwartet [nach der Bedrängnis] ,alsbaldʻ die Parusie, die nach allgemein apokalyptischer Erwartung mit unübersehbaren Vorgängen an Sonne und Mond und Sternen beginnt“ (vgl. W. Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, ThHK 1, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 6. Aufl., 1986, 508; ähnlich z. B. auch Luz, Matthäus III, 432). 193 ↑ B.IV.2.2.2.b.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
scheint mir eine Deutung des Haggai-Zitats auf die Parusie hin durch den Verfasser des Hebräerbriefs mehr als naheliegend. Zudem ist in den EvangelienStellen wie in Hebr 12,26 (avlla. kai. to.n ouvrano,n [sei,sw]) die Erschütterung des Himmels besonders betont (vgl. z. B. Mt 24,29: kai. ai` duna,meij tw/n ouvranw/n saleuqh,sontai). 2) In Hebr 12,26 knüpft der Verfasser – wie dargelegt (↑ B.VI.3.2.2.a) – an 1,10–12 und das Zitat aus PsLXX 101,26–28 an194, wonach Erde und Himmel vergehen werden (auvtoi. avpolou/ntai). In Hebr 1,12 heisst es nun: „[U]nd wie einen Mantel wirst du sie zusammenrollen“ (kai. w`sei. peribo,laion e`li,xeij auvtou,j). Die angesprochene Person ist gemäss der Zitateinleitung in 1,10 bzw. 1,8 (pro.j de. to.n ui`o,n) der Gottessohn. Mit anderen Worten: Nach dem Hebr wird Jesus dereinst die Welterschütterung herbeiführen. 195 Dass der Verfasser dies bei dessen Wiederkunft erwartet, scheint mir sehr wahrscheinlich. 3) Wie gesehen (↑ B.VI.3.2.2.a), entnimmt der Verfasser das Verb saleu,ein aus Texten, die das Kommen Jahwes und dessen erschütternde Auswirkungen beschreiben (vgl. z. B. Ri 5,5; PsLXX 17,8; 76,19; vgl. auch den Gebrauch von sei,ein in Ri 5,4; 2.Sam 22,8–10; PsLXX 67,9; Jes 24,18–23; Nah 1,5 u. a.). Wenn nun auch Hag 2,6 als eine endzeitliche Theophanie-Erwartung verstanden werden kann196, liegt es nicht fern, dass der auctor ad Hebraeos das erschütternde Kommen Gottes mit demjenigen des Sohnes identifiziert hat. Dafür spricht auch PsLXX 96, wonach die Erde bei der Epiphanie Gottes erbebt ist (vgl. V.4: evsaleu,qh h` gh/) bzw. erbeben wird (vgl. die Futurformen in V.3). Denn offenbar hat der Verfasser darin die Wiederkunft des Sohnes gesehen. 197 4) Wie dargelegt (↑ B.VI.3.2.2.a), findet die Kosmos-Erschütterung am Jüngsten Tag beim Letzten Gericht statt. Wenn nun das Endgericht und die Parusie gemäss dem Hebr offenbar gleichzeitig stattfinden (vgl. v. a. 9,27f; 10,25–27.37–39)198, dann muss sich die Katastrophe bei der Wiederkunft des Sohnes ereignen. 5) Wie gesehen (↑ B.VI.3.2.2.b), glaubt der Verfasser, dass die eschatologische Erschütterung das endgültige Heil bringen wird (vgl. evph,ggeltai). Dies erwartet er ebenso von der Parusie (vgl. z. B. 9,28; 10,35–37.39). Die Erschütterung von Erde und Himmel findet für den Verfasser des Hebräerbriefs also in dem Moment statt, wenn Jesus wiederkommt. Der Sohn selbst wird den Kosmos ins Wanken bringen (vgl. Hebr 1,11). Die Parallelsetzung 194 Wie erwähnt, sehen das auch andere so: vgl. z. B. Michel, Hebräer, 121 und Steyn, Quest, 355. 195 So z. B. auch Mackie, Eschatology, 80; Adams, „Cosmology“, 135f; gegen Grässer, der den Gerichtsmetaphern in Hebr 1,11f „kein Eigengewicht im Sinne einer Weltuntergangslehre“ zukommen sieht (vgl. Grässer, Hebräer III, 92). 196 So z. B. P. A. Verhoef, The Books of Haggai and Malachi, NICOT, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1987, 102f.140f; sowie Reventlow, Haggai, 21. 197 ↑ B.IV.2.1.5.d.ii. 198 ↑ B.IV.2.2.1.b; ↑ B.IV.2.2.2.b.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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zur Erderschütterung am Sinai, die durch die göttliche fwnh, geschah, lässt aber vermuten, dass der Hebr gleichzeitig mit der die kosmische Katastrophe mitauslösenden Stimme Gottes gerechnet hat.199 Auf jeden Fall gibt es dafür sowohl im Alten Testament als auch im Frühjudentum Anknüpfungspunkte (vgl. insbesondere JoelLXX 4,16: evx Ierousalhm dw,sei fwnh.n auvtou/ kai. seisqh,setai o` ouvrano.j kai. h` gh/, sowie Sib 5,345f: bronthdo.n kela,dhma qeou/ fwnh.n evpakou/sai hveliou dV auvtou/ flo,gej a;fqitoi ouvke.tV e;sontai). Wenn der Zeitpunkt der futurisch-eschatologischen Kosmos-Erschütterung für den Verfasser bei der Parusie Jesu bzw. beim Letzten Gericht stattfindet, dann entspricht dies dem in 12,22–24 geschilderten Moment der endzeitlichen Zion-Theophanie. 3.3 Vers 27 to. de. e;ti a[pax dhloi/ Îth.nÐ tw/n saleuome,nwn meta,qesin w`j pepoihme,nwn( i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,menaÅ „Aber das ‚noch einmal‘ offenbart die Veränderung der Dinge, die als geschaffene erschüttert werden, damit die unerschütterlichen bleiben.“
Der Verfasser wertet in Hebr 12,27 die von Gott in HagLXX 2,6 verheissene Katastrophe theologisch bzw. kosmologisch bzw. eschatologisch präzise aus. Die ganze Auswertung verankert er dabei allein im Ausdruck e;ti a[pax („das ‚noch einmal‘ deutet an“). Was zunächst überrascht, leuchtet alsbald ein, wenn man an den wichtigen Begriff der Einmaligkeit im Hebräerbrief denkt (vgl. a[pax in 6,4; 9,7.26.27.28; 10,2), der insbesondere auch in Bezug auf das Heilswerk des Sohnes von entscheidender Bedeutung ist (vgl. 9,26.28; sowie evfa,pax in 7,27; 9,12; 10,10).200 Der auctor ad Hebraeos will offensichtlich mit dem Aufgreifen von e;ti a[pax dem einmaligen Heilsgeschehen am Kreuz bzw. bei der Erhöhung in der Vergangenheit das einmalige Heils- bzw. Unheilsgeschehen in der Zukunft gegenüberstellen (vgl. 9,28: evk deute,rou […] ovfqh,setai toi/j auvto.n avpekdecome,noij eivj swthri,an, sowie 10,37–39). Wie beim vergangenen Gotteswirken betont a[pax auch beim zukünftigen Gotteswirken – bei der Erschütterung bzw. der metaqe,sei der Schöpfung – sowohl die zeitlich punktuelle Einmaligkeit als auch die Endgültigkeit des Geschehens. Für die Auswertung von e;ti a[pax (bzw. von der in Hag 2,6 beschriebenen Kosmos-Erschütterung) verwendet der Verfasser des Hebräerbriefs den „hermeneutischen Terminus“201 dhlou/n mit der Grundbedeutung „kundtun“202. Das Verb wird in der LXX oft für ein göttliches Zeigen bzw. Offenbaren verwendet 199 Vgl. z. B. auch Grässer, Hebräer III, 331 („Mit seinem machtvollen Wort wird Gott nicht allein die Erde erschüttern, sondern auch den Himmel“); Karrer, Hebräer II, 341 („Er wird mit seiner Stimme die Erde erschüttern und den Himmel“). 200 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 666. 201 Vgl. Grässer, Hebräer III, 333. 202 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 357.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
(vgl. Ex 33,12; 1.Kön 8,36; Ps 50,8; Jes 42,9; Jer 16,21), zweimal gar im Kontext einer Selbstoffenbarung Gottes (vgl. Ex 6,3; 1.Sam 3,21). Häufig ist auch der Gebrauch in Bezug auf die Deutung von Träumen im Buch Daniel (vgl. 2,5.6.9.11.16.23.24.25.26), wobei betont wird, dass Gott diese schenkt (vgl. V.23!). In Dan 2,28–30 steht das Verb dreimal im Zusammenhang mit dem göttlichen Offenbaren von Geheimnissen (vgl. z. B. V.29: o` avnakalu,ptwn musth,ria evdh,lwse, soi a] dei/ gene,sqai, vgl. auch das Offenbaren des angelus interpres in 7,16). In gleicher Weise wird der Begriff auch in 1.Petr 1,11f verwendet, wonach die alttestamentlichen Propheten forschten, auf welche zukünftige Zeit hin der Geist Christi in ihnen mit den Messiasprophezeiungen hindeutete (evraunw/ntej eivj ti,na h' poi/on kairo.n evdh,lou to. evn auvtoi/j pneu/ma Cristou/), und (dabei) auch Offenbarung empfingen (oi-j avpekalu,fqh). Dass der Heilige Geist die Schrift in ihrem „entscheidenden“ Sinn offenbart bzw. eschatologisch deutet, betont nun auch der Verfasser des Hebräerbriefs. Nachdem er in 9,6f beschreibt, wie die Priester (gemäss der Tora) allezeit in das „erste Zelt“ (th.n prw,thn skhnh,n) gehen durften, aber in das „zweite“ (th.n deute,ran) nur der Hohepriester eintreten konnte, und zwar nur einmal im Jahr mit Darbringung von Blut für sich und das Volk, stellt er in V.8 fest: „Daran macht der Heilige Geist deutlich“ (tou/to dhlou/ntoj tou/ pneu,matoj tou/ a`gi,ou), „dass der Weg ins (himmlische) Heiligtum noch nicht offen sichtbar geworden ist, solange das erste Zelt Bestand hat“ (mh,pw pefanerw/sqai th.n tw/n a`gi,wn o`do.n e;ti th/j prw,thj skhnh/j evcou,shj sta,sin).203 Mit Blick auf diese Stelle sowie den Normalgebrauch von dhlou/n in der LXX darf man davon ausgehen, dass der Verfasser bei to. de. e;ti a[pax dhloi/ in 12,27 an eine gott- bzw. geistgewirkte „Offenbarung“ denkt.204 Das „noch einmal“ offenbart nach dem Hebr die205 meta,qesij der erschütterbaren bzw. erschüttert werdenden Dinge (tw/n saleuome,nwn). Die Bedeutung von meta,qesij ist in der Hebräerbriefforschung sehr umstritten. Bevor auf diese Diskussion eingegangen werden kann, muss allerdings zuerst geklärt sein, was nach dem Hebr alles erschüttert wird.
203
Vgl. die Übersetzung von Karrer, Hebräer II, 131. So z. B. auch Spicq, Hébreux II, 412 („le Saint-Esprit fait voir“); gegen Casey, Eschatology, 536. Darum ist die Übersetzung von dhloi/ mit „offenbart“ (Michel, Hebräer, 469), „enthüllt“ (Hegermann, Hebräer, 261) oder „legt […] offen“ (Karrer, Hebräer II, 310) viel präziser als „weist […] hin“ (Braun, Hebräer, 443) oder „tut […] kund“ (Backhaus, Hebräerbrief, 450). 205 Ob th.n vor tw/n saleuome,nwn ursprünglich ist oder stilistisch hinzugefügt wurde, ist schwer zu sagen (P46 u. a. lassen den Artikel weg; a, A, C u. a. führen ihn an). Inhaltlich spielt es aber keine Rolle: Das a[pax macht es klar, dass es nicht um (irgend-)eine meta,qesij geht, sondern um die einmalige, alles entscheidende. 204
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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3.3.1 Was sind die saleuo,mena? Eine überragende Mehrheit versteht unter den saleuome,noij ausschliesslich den irdischen Kosmos (die sichtbare Erde mit dem sichtbaren Himmel), weil diese nach dem Hebr „als Geschaffene“ (w`j pepoihme,nwn) erschüttert werden.206 Das, was nach der metaqe,sei der erschütterten Dinge „bleiben“ werde, seien die unerschütterlichen, weil himmlischen (immateriellen) Dinge (i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,mena).207 So schreibt z. B. Thompson: „Pepoihme,na is to be understood as ‚what is merely made‘, and reflects the author’s dualistic world view. […] For our author saleuo,mena and pepoihme,na are parallel terms, inasmuch as both terms are descriptive of the earthly sphere. […] [The Author] knows two worlds already possessing full reality, one of which is material, and therefore, shakable; the other is not material, and is unshakable. When the material world disappears, only the world that is presently unseen (11:1) and untouchable (12:18), remains.“208
Aus folgenden zwei Gründen ist es keine Frage, dass die futurisch-eschatologische Erschütterung den physischen Kosmos betreffen wird (vgl. z. B. auch Philo, Somn. 1,244: gene,sewj […] th/j pa,nth| saleuome,nhj): 1) Obwohl der Verfasser in 12,27 nicht von den seiome,noij, sondern von den saleuome,noij spricht, liegt es auf der Hand, dass die zu erschütternden Dinge die Erde und den Himmel meinen, die Gott gemäss Hag 2,6 verheisst, „erbeben“ zu lassen (vgl. Hebr 12,26: evgw. sei,sw); 2) Himmel und Erde gehören nach dem Hebr definitiv zu den pepoihme,noij (vgl. z. B. 1,2c.10; 11,3). Die Frage ist lediglich, ob sich die Erschütterung auch auf „himmlische“, (im Moment noch) unsichtbare Dinge erstreckt.209 Wenn man nicht a priori von einem platonisch-dualistischen Weltbild des Autors ausgeht – was zunehmend als problematisch erkannt wird210 –, dann muss man mit Blick auf die erschüttert werdenden pepoihme,na dies annehmen. Laansma betont nämlich mit Recht: „[T]he heavenly realm and place of salvation is also spoken of as made 206
Dass w`j pepoihme,nwn ein erklärender Beisatz zu tw/n saleuome,nwn ist, liegt m. E. auf der Hand. Die wenigen Versuche, die Wendung anders zu deuten, erscheinen mir formal und inhaltlich schwerfällig (vgl. z. B. Delitzsch, Hebräer, 659: „Das ‚Noch einmal‘ aber weist auf die Wandelung [sic!] des zu Erschütternden hin, als dazu gemacht, dass bleibe das nicht weiter Erschütterliche“). 207 Vgl. z. B. Cambier, „Eschatologie“, 88f; März, Hebräerbrief, 80; Attridge, Hebrews, 381; H.-F. Weiss, Hebräer, 689–692; Grässer, Hebräer III, 333; Eisele, Reich, 123f.; Johnson, Hebrews, 335f; Schenck, Cosmology, 132.189; Backhaus, Hebräerbrief, 452f. 208 Thompson, Beginnings, 49f (= Thompson, „Metaphysical“, 585f). 209 So z. B. Stedman, Hebrews, 142 („This shaking of heaven and earth is both of visible and invisible“); Koester, Hebrews, 547 („not even the heavenly realm of angels and saints will escape this shaking“); Cockerill, Hebrews, 666 („God’s final Judgment will shake not only the created order but even the heavenly dwelling place of God“). 210 Vgl. z. B. E. Adams, The Stars Will Fall From Heaven. „Cosmic Catastrophe“ in the New Testament and its World, LNTS 347, London: T&T Clark, 2007, 194–196; Laansma, „Cosmology“, 140f.
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by God“.211 So heisst es in Hebr 11,10, dass die po,lij Gottes als eschatologischer Heilsort (= die VIerousalh.m evpoura,nioj in 12,22) Gott als „Baumeister“/„Architekt“ (tecni,thj) und „Bildner“/„Schöpfer“ (dhmiourgo,j) hat. Der Gedanke einer geschaffenen Gottesstadt wird fortgeführt in 11,16, wonach Gott sie „bereitet hat“ (h`toi,masen […] po,lin). Man könnte einwenden, dass der Verfasser an diesen Stellen nicht an ein richtiges „Machen“ wie bei der irdischen Schöpfung denkt. Grässer z. B. setzt pepoihme,na (Hebr 12,27) mit ceiropoi,htoj (9,11.24) gleich, versteht den himmlischen Heilsort als ouv ceiropoi,htoj und sieht folglich in 12,27 „Geschaffenes und Ungeschaffenes metaphysisch gewertet“ einander gegenüberstehen.212 Diese Deutung erscheint mir in zweifacher Hinsicht mehr als problematisch. 1) Dass das himmlische Heiligtum „nicht mit Händen gemacht“ ist (vgl. 9,11: ouv ceiropoi,htoj), ist keinesfalls ein Ausdruck für sein UngeschaffenSein, sondern will lediglich verdeutlichen, dass es nicht von Menschen gemacht ist.213 Der parallele Ausdruck von ouv ceiropoi,htoj in Hebr 9,11 „nicht von dieser Schöpfung“ (ouv tau,thj th/j kti,sewj) scheint gar den Gedanken an eine andere Schöpfung, die bis jetzt noch unsichtbar und ungreifbar ist, wecken zu wollen, und kann daher durchaus als Beleg für das Geschaffen-Sein des himmlischen Heiligtums gelten. 2) Wie andere Exegeten mit einer dualistischen Deutung von Hebr 12,27 geht auch Grässer in Bezug auf Hebr 1,2c und dem dort beschriebenen göttlichen „Machen“ der Äonen durch den Sohn von der Schöpfung der sichtbaren, irdischen sowie der unsichtbaren, himmlischen Welt aus, wobei die sichtbare aus der unsichtbaren entstanden sei (vgl. 11,3).214 Wie man einmal das Geschaffen-Sein von himmlischen Dingen bestreiten und ein anderes Mal ihr Gemacht-Sein betonen kann, ist für mich nicht nachvollziehbar. 3.3.2 Auch „himmlische“ Dinge und die Menschen werden erschüttert werden Gerade Hebr 1,2c (diV ou- kai. evpoi,hsen tou.j aivw/naj) zeigt deutlich, dass mit den pepoihme,noij in 12,27 auch „himmlische“, d. h. (im Moment noch) unsichtbare, bei Gott verborgene Dinge gemeint sind, die ebenso wie der irdische Kosmos erschüttert werden. Zunächst liegt es auf der Hand, dass es kein Zufall sein kann, dass das Verb poiei/n im Hebr nur in 1,2c und 12,27 im Kontext des Erschaffens vorkommt. Der auctor ad Hebraeos rekapituliert in 12,27 die Aussage über die Schöpfung des Sohnes im exordium, wie er es bei to.n lalou/nta in 12,25 bereits mit einer 211
Vgl. Laansma, „Cosmology“, 134. Vgl. z. B. Grässer, Hebräer III, 333f. 213 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 390 („human-made“). 214 Vgl. Grässer, Hebräer I, 59f; vgl. z. B. auch Eisele, Reich, 381 und Thompson, Hebrews, 34. 212
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anderen Aussage in der Briefeinleitung getan hat (vgl. 1,1–2). Die in 1,2c erwähnten aivw/naj, die Gott durch den Sohn gemacht hat, werden von den Exegeten zunehmend nicht nur räumlich als „Welten“215, sondern auch zeitlich als „Weltzeiten“ verstanden.216 Mit Recht sehen einige dabei die „kommende Weltzeit“ (vgl. Hebr 6,5: me,llontoj aivw/noj) als einen der durch Christus geschaffenen Äonen.217 Denn das Erschaffen der „Äonen“ durch den Sohn in Hebr 1,2c ist eng mit seinem Status als „Erbe von allem“ (klhrono,mon pa,ntwn) in 1,2b verbunden (vgl. auch das verknüpfende kai,): Jesus ist der Erbe von dem, was er selbst erschaffen hat.218 Infolgedessen muss der zukünftige, bleibende Äon durch den Sohn mitgeschaffen sein, weil eine Erbschaft, die sich auf den (in Kürze) vergehenden Äon beschränken würde, nicht zur Redeabsicht des Verfassers im exordium passt, nämlich Jesus als erhabenen, alles umfassenden Gottessohn darzustellen. Der Sohn ist vor allem der Erbe der zukünftigen „Welt“.219 Wenn also nach Hebr 12,27 die pepoihme,na erschüttert werden, so erstreckt sich die futurisch-eschatologische Erschütterung sowohl über den irdischen Kosmos als auch über das himmlische Jerusalem bzw. den im Himmel verborgenen zukünftigen Äon. Weil auch die Menschen „geschaffen“ sind (vgl. Gen 1,27: kai. evpoi,hsen o` qeo.j to.n a;nqrwpon) und auf der zu erschütternden Erde wohnen, werden nach dem Verfasser gewiss auch sie von der zukünftigen Erschütterung betroffen sein. Das Erschüttert-Werden sieht der Verfasser für die ungehorsame Menschheit offenbar als Gericht (↑ B.VI.3.2.2.a), wenn er die eschatologische Katastrophe im Kontext der Warnung an die Adressaten erwähnt, Gott nicht abzuweisen.220 Die Erschütterung als blosse „Gerichtsmetapher“ bzw. als nur die
215
Vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 47.59. Vgl. z. B. Isaacs, Space, 192f; Karrer, Hebräer I, 118; MacLeod, „Finality“ 217f; O’Brien, Hebrews, 52. 217 Vgl. z. B. Hughes, Hebrews, 40, Anm. 10; Ellingworth, Hebrews, 96; Koester, Hebrews, 178; Filtvedt, „Creation“ 284; vgl. auch 4.Esr 7,50, wonach der Höchste „nicht eine Welt, sondern zwei gemacht [hat]“ (vgl. Klijn, 4Esra, 49), wovon gemäss 8,1 die eine die gegenwärtige und die andere die zukünftige Welt ist. 218 Vgl. Johnson, Hebrews, 67: „The Son’s capacity to inherit ‚all things‘ from God is, in turn, connected to his role in fashioning ‚all things‘ in the universe. He is to inherit what he himself participated in bringing into being“; ähnlich z. B. auch schon Moffatt, Hebrews, 5: „[W]hat the Son was to possess was what he had been instrumental in making“. 219 Vgl. MacLeod, „Finality“, 216: „The term ‚heir‘ does not refer to Christ’s present ownership and rule over all things. Instead it points to the second coming of Christ, when God the Father will make the Son’s enemies the footstool of His feet (Heb. 1:13) and He will rule over the ‚world to come‘ (2:5)“ (so z. B. auch DeSilva, Hebrews, 87: „heir and master of the ‚coming world‘“). 220 Vgl. dazu z. B. auch Hag 2,21, wonach auf die Kosmos-Erschütterung der Umsturz der gottfeindlichen Königreiche (katastre,yw qro,nouj basile,wn) folgt (vgl. diesbezüglich 216
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Menschen betreffend zu deuten221, ist aber mit Blick auf den umfassenden Schöpfungsbegriff pepoihme,na (vgl. 1,2c!), die frühjüdischen Vorstellungen einer den Kosmos betreffenden Katastrophe222 sowie die Erd- und Himmelsbewegungen bei der Wiederkunft Jesu223 verfehlt. Die Frage ist nun, was mit der metaqe,sei der geschaffenen und erschüttertwerdenden Dinge gemeint ist. 3.3.3 „Vernichtung“, „Verwandlung“ oder „Veränderung“ der erschüttert-werdenden Dinge? Ausleger, die die meta,qesij auf ungehorsame Christen und alles Gottfeindliche beziehen, übersetzen den Begriff mit „removal“ (= „Beseitigung“ bzw. „Entfernung“). So schreibt z. B. Lane: „[A]ll opposition to God’s sovereign rule will be shaken and removed. That event will result in the decisive removal from the community of those who have disregarded God’s speaking and rejected his solemn warning (v 25).“224 Eine Vielzahl von Exegeten, die die meta,qesij auf den irdischen Kosmos beziehen, sieht auch einen beseitigenden, vernichtenden Akt betont.225 Bezüglich ihren Vorstellungen, wie der Kosmos vernichtet wird, lassen sie sich in zwei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe versteht die Beseitigung des Universums im Rahmen einer Endzeitkatastrophe.226 So schreibt z. B. Adams: „The author of Hebrews thus envisions in this passage a cosmic catastrophe that results in the dissolution of the cosmos“. 227 Die zweite Gruppe lehnt eine solche „apokalyptische” Deutung ab; sie erkennt in Hebr 12,27 einen (platonischen) auch Hebr 10,13: to. loipo.n evkdeco,menoj e[wj teqw/sin oi` evcqroi. auvtou/ u`popo,dion tw/n podw/n auvtou/). 221 Vgl. Vögtle, Kosmos, 88f; ähnlich auch Casey, Eschatology, 549–551; Lane, Hebrews II, 480–483; Laansma, „Cosmology“, 137; Laansma, „Hidden“, 12f. 222 ↑ B.VI.3.2.2.a. 223 ↑ B.VI.3.2.2.c. 224 Lane, Hebrews II, 483; vgl. z. B. auch Laansma, „Cosmology“, 137: „[T]he enemies of God – in this letter these are above all those who do not continue in faith – will find themselves […] ,removed?‘“. 225 Vgl. z. B. Westcott, Hebrews, 420 („removal of the temporal [sc. the visible earth and heaven]“); Windisch, Hebräerbrief, 115 („der geschaffenen Welt […] Vernichtung“); Schierse, Verheissung, 181 („Untergang der sichtbaren Welt“); Thompson, Beginnings, 49 („removal [of heaven and earth]“); Braun, Hebräer, 445 („Abschaffung der saleuo,mena“); März, Hebräerbrief, 80 („Zerstörung des Irdischen“); Pfitzner, Hebrews, 188 („final removal of the created order“); Grässer, Hebräer III, 335 („Vernichtung alles Geschaffenen“); DeSilva, Hebrews, 471 („removal of the visible creation“); Eisele, Reich, 132 („Vernichtung der erschütterlichen, diesseitigen Welt“); Stewart, „Cosmology“ 550 („the coming eschatological shaking will effectively remove the created order“). 226 Vgl. z. B. Schierse, Verheissung, 183; Robinson, Hebrews, 193; Grässer, Hebräer III, 335; Mackie, Eschatology, 71; Schenck, Cosmology, 132.189. 227 Adams, Stars, 190.
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Dualismus, der alles Irdische grundsätzlich bzw. wesensmässig als unbeständig bzw. vergänglich versteht.228 So betont z. B. Eisele: „Deren [sc. der Welt] Beseitigung trägt keinerlei spektakuläre Züge, sondern vollzieht sich im Rahmen ihrer banalen Vergänglichkeit, die einen Wesenszug ihrer Konstitution darstellt“.229 Er hält es für erwägenswert, dass die „Beseitigung des Geschaffenen“ „in seiner alltäglichen Vergänglichkeit bereits unaufhaltsam im Gange“ ist.230 Andere Ausleger, die die meta,qesin auch auf den irdischen Kosmos beziehen, wehren sich gegen den Gedanken einer Vernichtung der Schöpfung. Nach ihnen deutet meta,qesij lediglich die „Umwandlung“ bzw. die „Verwandlung“ derselben an.231 So schreibt schon Calvin: „[E]x concussione caeli et terrae infert [sc. auctor ad Hebraeos] totius mundi statum debere Christi adventu mutari“.232 Seine Begründung für die Verwandlung lautet: „Nam quae creata sunt, corruptioni subiacent. At Christi regnum aeternum est. Ergo creaturas omnes in melius reformari necesse est“.233 Wie Calvin betonen auch Bleek, Riggenbach und Hegermann die Kontinuität des geschaffenen Kosmos. So bemerkt z. B. Hegermann: „Die jetzt bevorstehende, letzte Umwandlung bringt und bezweckt eine Überführung der Schöpfung in einen Zustand der Dauer, des niemals mehr erschütterten Bleibens“.234 228 Vgl. z. B. Theissen, Untersuchungen, 108 („Hier meldet sich ein metaphysisches Denken, das nicht mehr vom faktischen Vergehen der Welt, sondern von ihrer prinzipiellen Vergänglichkeit spricht. Nach 12,27 liegt in der Tatsache, dass die Dinge erschütterbar sind, ihr baldiges Ende begründet.“); Thompson, „Metaphysical“, 585 (= Thompson, Beginnings, 50); H.-F. Weiss, Hebräer, 689–692 sowie Backhaus, Hebräerbrief, 452 („Die irdische Welt ist, unter mittelplatonischen Voraussetzungen betrachtet, eine solche die ständiger Bewegung unterworfen ist. Zur kreatürlichen Welt des Werdens und Vergehens gehört für den Hebr, dass sie als Ganze vergeht“). 229 Vgl. Eisele, Reich, 132. 230 Ebd., 124. 231 Vgl. z. B. Bleek, Hebräer III, 967 („Umwandlung“); Delitzsch, Hebräer, 659 („Wandelung“ [sic!]); Rissi, Theologie, 129 („Umbildung“); Strobel, Hebräer, 242 („Umwandlung“); Witherington, Hebrews, 339 („change“); vgl. auch Hofius, der in Bezug auf Hebr 12,27 von „Welterneuerung“ spricht (Hofius, Katapausis, 142). Verwirrung stiftend ist, dass auch Exegeten, die von einer Zerstörung der Schöpfung ausgehen, meta,qesij mit „Umwandlung“ wiedergeben (vgl. z. B. März, Hebräerbrief, 80). 232 Calvin, Hebraeos, 232. 233 Ebd. 234 Hegermann, Hebräer, 264; vgl. auch Bleek, Hebräer III, 967 („[D]ie hier verkündigte Erschütterung der Erde und des Himmels aber, als die letzte bevorstehende, V. 27 auf eine Umwandlung derselben bezogen, wodurch sie ihre bisherige wandelbare Beschaffenheit verliehren [sic!] und eine solche erhalten, welche der vollendeten Gestalt des unwandelbaren Reiches Gottes entsprechend ist“) und Riggenbach, Hebräer, 423 („Das e;ti a[pax kündigt eine Umwandlung an, durch welche die saleuo,mena d. h. die Dinge, die ihrer Natur nach einer Erschütterung zugänglich sind, in einen ganz anders gearteten, abschliessenden Zustand überführt werden“).
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Witherington äussert sich differenzierter.235 Er bemerkt, dass in gewissem Sinn die geschaffene Ordnung, abgesehen von den unerschütterlichen Dingen, entfernt wird („All the rest of the created order will be removed“): „Clearly our author does not believe in the eternality of this earth or even of the heavens“. Sogleich betont er aber, dass Himmel und Erde nicht gänzlich verschwinden („not disappear altogether“), sondern verwandelt werden („changed“): „[T]he ‚shake-up‘ does not have to do with the complete dissolution of the material realm but rather of the sorting of all things and putting them right […].“ Das Zeitliche werde durch das Ewige ersetzt, und dieses komme vom Himmel auf die Erde hinab. Noch mehr als Witherington legt Rissi Nachdruck auf das Vergehen der alten Schöpfung. Nach ihm ist der irdische Kosmos „dem Untergang geweiht“236 und wird „aufgelöst“. 237 Allerdings verwirft er dabei den Gedanken der Kontinuität nicht gänzlich, wenn er sagt: „Der Zweck der Auslöschung der alten Welt ist nicht einfach die Zerstörung, sondern die ‚Umbildung‘ der alten Wirklichkeit in eine neue“.238 Eine ganz eigene Position vertritt Schunack, indem er meta,qesij neutral als „Veränderung“ übersetzt und sich sowohl gegen den Gedanken einer „Zerstörung“ der Schöpfung als auch gegen die Deutung einer „Verwandlung“ des Geschaffenen ausspricht.239 Nach ihm ist das „eschatologische Geschehen“ gar nicht „temporal bestimmt“. Das Geschehen wolle lediglich offenbaren, dass „das, was im Gericht Gottes erschüttert wird, heillos und ausser Kraft gesetzt ist, Heil zu verschaffen“. Die „Finalität“ jenes Ereignisses sei, „dass das bestehen bleibt, was nicht zu erschüttern ist“. Was ist von diesen Deutungen von meta,qesij zu halten? Der Begriff meta,qesij bezeichnet – von metati,qhmi herkommend – zunächst einfach eine lokale „Versetzung“, eine Transposition (vgl. z. B. Aristot., Metaph. 1024a). Im übertragenen Sinn wird er im profanen Griechisch für eine „Änderung“ bzw. „Veränderung“ einer Sache gebraucht (vgl. z. B. Polyb., Hist. 5,11,5; 30,20,2; Ps.-Aristot., Mund. 400b). In der LXX kommt das Nomen, abgesehen von 2.Makk 11,24, wo von der hellenistischen Veränderung der Sitten bzw. des Gesetzes die Rede ist, nicht vor. Das Verb metati,qhmi ist jedoch sehr häufig, wobei dieses im Sinn von „wegnehmen“ (Gen 5,24), „ver-
235
Zum Folgenden vgl. Witherington, Hebrews, 345f. Vgl. Rissi, Theologie, 129. 237 Vgl. ebd., 33. 238 Ebd., 129 (vgl. ebd., 33: „Sein Wille für seine Schöpfung ist nicht Vernichtung und Verdammung, sondern Erneuerung“). Ähnlich paradox wie Rissi deutet auch Michel Hebr 12,27 (vgl. Michel, Hebräer, 474f). 239 Vgl. dazu und zum Folgenden Schunack, Hebräerbrief, 216 (ähnlich äussert sich auch schon Vögtle, Kosmos, 87–89). 236
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rücken“ (Dtn 27,17; Spr 23,10; Hos 5,10), „versetzen“ (45,3), „(endgültig) beseitigen“ (Jes 29,14), aber auch im Sinn von „verwandeln“ (Jes 29,17: metateqh,setai o` Li,banoj w`j to. o;roj to. Cermel) gebraucht wird. Philo verwendet das Nomen neutral für die „Veränderung“ des Sinnes (vgl. Gig. 66: gnw,mhj metabolh. kai. meta,qesij), des Namens (vgl. Mut. 60; 130; Abr. 81; vgl. auch Joseph., Apion. 1,268) oder der Position (Aet. 113). Im Hebräerbrief kommt meta,qesij, abgesehen von 12,27, nur noch in 7,12 und 11,5 vor. In 11,5 meint die meta,qesij Henochs „Entrückung“240 im Sinn einer „Um-Setzung“ bzw. „Umplatzierung“ weg von der Erde in den Himmel (vgl. ouvc hu`ri,sketo). Was die no,mou meta,qesij in 7,12 bedeutet, ist umstrittener. Grässer z. B. spricht von dem „Wechsel“ bzw. der „Ablösung“ des Gesetzes, versteht die Wendung parallel zum Ausdruck avqe,thsij […] evntolh/j in 7,18 und geht infolgedessen von der rechtskräftigen Annullation des Gesetzes aus.241 Ähnlich versteht Gordon die meta,qesij des Gesetzes als dessen „removal“ bzw. „abolition“. 242 Meines Erachtens liegt es aber auf der Hand, no,mou meta,qesij als eine „Änderung des Gesetzes“ zu interpretieren.243 Denn das Nomen meta,qesij versteht sich vom kurz zuvor gebrauchten Verb metati,qhmi her (metatiqeme,nhj ga.r th/j i`erwsu,nhj), und in der protasis des Konditionalsatzes ist definitiv nicht vom Beseitigen des Priestertums (als ob es keines mehr gäbe), sondern von der Veränderung desselben die Rede: Es wird ein neuer Priester kata. th.n ta,xin Melcise,dek aufgestellt (vgl. 7,11). Die no,mou meta,qesij und die avqe,thsij […] evntolh/j sind nicht gleichzusetzen. 244 Die „Gesetzesänderung“ geschieht vielmehr „durch [das] Wegstellen […] der von Gott früher gebotenen Regelung“. 245 Mit Recht betont Backhaus die Tragweite dieser Veränderung des no,mou: Es geht nicht um „einen Austausch einzelner Elemente der Tora“ oder um „eine chronologische Ablösung“, sondern um „eine grundlegende Transformation [der] gesamten Heilsordnung“. 246 Aber das Gesetz bzw. die alte Heilsordnung wird dabei nicht vernichtet, sondern umgewandelt: „Mit logischer Notwendigkeit wandelt dies [sc. der Wechsel des priesterlichen Normsystems] den gesamten Rahmen von Priestertum und Kulttora um und hebt das, was an alten Heilsstrukturen auf Gott wies, ins Vollkommene“.247 Mir scheint es nun geboten, meta,qesij wie in Hebr 7,12, so auch in 12,27 zunächst neutral als „Veränderung“ zu verstehen. Dass nämlich der Verfasser 240
So z. B. auch Grässer, Hebräer III, 110 und Karrer, Hebräer II, 258. Vgl. Grässer, Hebräer III, 35.39. 242 Vgl. Gordon, Hebrews, 103; vgl. auch Mackie, Eschatology, 60: „[T]he ‚weak and useless‘ law (7:18) is said to be ‚changed‘/‚removed‘ (meta,qesij, 7:12)“. 243 So z. B. auch Lane, Hebrews II, 173 („alteration of law“); Karrer, Hebräer II, 61 („Gesetzesänderung“); Cockerill, Hebrews, 313 („change of the law“). 244 So z. B. auch Michel, Hebräer, 270. 245 Vgl. Karrer, Hebräer II, 82. 246 Vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 269f. 247 Ebd., 270. 241
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mit der metaqe,sei von allem Geschaffenen an die meta,qesin des Gesetzes bewusst anknüpft, ist sehr wahrscheinlich. 248 Zudem ist die „negative“ Übersetzung von meta,qesij als „Beseitigung“ oder „Vernichtung“ in Hebr 12,27 ausgeschlossen, weil zu den geschaffenen, erschüttert-werdenden und einer metaqe,sei unterliegenden Dingen, wie gesehen (↑ B.VI.3.3.2), auch die bleibenden gehören.249 Es bleibt aber die Frage, wie sich der Verfasser des Hebräerbriefs die katastrophale „Veränderung“ von allen pepoihme,noij am Ende der Zeit konkret vorstellt.250 Was geschieht mit dem irdischen Kosmos? Was geschieht mit den bei Gott verborgenen, himmlischen Dingen? Was geschieht mit den Menschen? 3.3.4 Das Schicksal des irdischen Kosmos Wenn man zunächst nach dem Schicksal des irdischen Kosmos fragt, so scheint es mir aus verschiedenen Gründen undenkbar, dass der Verfasser von der totalen Beseitigung bzw. Annihilation der Schöpfung ausgegangen ist. 251 a. Argumente gegen die Annihilation des Kosmos 1) Für die Erwartung einer Annihilation der Welt gibt es in frühjüdischen Schriften praktisch keine Anknüpfungspunkte. Hahne stellt nach seiner ausführlichen Untersuchung frühjüdischer Endzeitvorstellungen zwei Hauptansichten fest: a) die Schaffung einer neuen Welt (vgl. z. B. Astronomisches Buch [= Hen] 80; Wochenapokalypse [= Hen] 91; 93; Buch der Parabeln III [= Hen] 58–69) und b) die Erneuerung der bestehenden Welt (vgl. z. B. Wächterbuch [= äthHen] 1–5; 6–16; Buch der Parabeln II [= Hen] 45–57). In gewissen Texten seien beide Vorstellungen präsent, wobei eine Ansicht dominant sei (im Buch der Jubiläen die Transformation der Schöpfung; in 4.Esr und syrBar die Neuschöpfung).252 Bedeutend ist nun, dass das Modell „Neuschöpfung“ keine Annihilation des alten Kosmos voraussetzt. 248 Ähnlich z. B. auch Michel, Hebräer, 474: „Die alte Weltzeit ist also gerichtet und hat der neuen ebenso Platz zu machen [sic!] wie es die alte Kultordnung gegenüber der neuen schon getan hat. Zwischen diesem Wechsel in Weltordnung und Kultordnung besteht also eine Zusammenordnung“. 249 Z. B. gegen Filtvedt, „Creation“, 301: „meta,qesij is clearly set in opposition to ‚that which remains‘, and it must therefore be understood as a negative concept in this passage“. 250 Gegen eine prozesshafte meta,qesin, wie sie z. B. Eisele erwägt (vgl. Eisele, Reich, 124), und für eine punktuell-zukünftige spricht 1) das „noch einmal“ (e;ti a[pax), 2) die auf die Zukunft hinweisende Wendung nu/n de. evph,ggeltai […] sei,sw sowie 3) die Verknüpfung der Kosmos-Erschütterung mit der einmaligen Wiederkunft des Sohnes (↑ B.VI.3.2.2.c) in Hebr 12,26. 251 Vgl. z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 688: „[T]otal annihilation probably lies beyond the author’s horizon“. 252 Vgl. H. A. Hahne, The Corruption and Redemption of Creation. Nature in Romans 8.19-22 and Jewish Apocalyptic Literature, LNTS 336, London: T&T Clark, 2006, 159.
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So sagt Hahne zu der in Hen 64,4ff beschriebenen Flut: „The flood […] is not simply a means of judgment, but it is also a means of transforming or recreating the world“.253 Zur Wochenapokalypse zeigt Stephens überzeugend auf, dass man nicht von einer Diskontinuität zwischen alter und neuer Schöpfung bzw. einer (rein) „himmlischen“ Eschatologie ausgehen sollte.254 Auch in der Esraund Baruch-Apokalypse erkennt er mit Recht eine Kontinuität zwischen alter und neuer Welt.255 Die Baruch-Apokalypse wie Lied so zu verstehen, dass am Ende der Zeit allein die himmlische Welt („the heavenly other world“) in das letzte und bleibende Land gewandelt wird („transformed into the ultimate and everlasting Land [sic!]“)256, scheint mir problematisch. Die „Erneuerung der Welt“ (vgl. 57,2) muss man (auch) auf den irdischen Kosmos beziehen, wenn Gott nach 32,6 „seine [irdische!] Schöpfung“ „erneuern“ wird (vgl. die in 32,1 beschriebene Erschütterung der irdischen „Schöpfung“) und wenn Himmel und Erde nach 19,2 (in einer gewissen Form) ewig Bestand haben werden (vgl. auch 4,1).257 Auch Sulzbach spricht in Bezug auf die noch verborgene Welt (syrBar 51,8) von einem himmlischen Jerusalem auf einer „reconstituted, incorruptible, paradisiacal earth“.258 Für eine Kontinuität zwischen alter und neuer Welt spricht ebenso die in syrBar 29,3–30,5; 39,1–40,3 und 72,1–74,4 beschriebene messianische Ära auf der Erde, weil mit ihr in gewissem Sinn die „Neuschöpfung“ schon einsetzt (vgl. 74,2, wonach diese Zeit der Anfang von dem ist, was unverderblich ist).259 In der Esra-Apokalypse verdeutlicht diese Kontinuität z. B. 7,30f, wonach die irdische Welt nach sieben Tagen Ruhe geweckt wird. Hahne schreibt dazu mit Recht: „[It] suggests the world has not ‚died‘ or been destroyed“.260 Die
253
Hahne, Corruption, 105. Vgl. M. B. Stephens, Annihilation or Renewal? The Meaning and Function of New Creation in the Book of Revelation, WUNT II 307, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, 66–70; vgl. auch sein Urteil über das Buch der Parabeln: „[I]t is clear that the present earth will not be destroyed, but instead renovated into a place of greater glory“ (ebd., 72). 255 Vgl. Stephens, Annihilation, 113: „[B]oth 2 Baruch and 4 Ezra are capable of being read in ways which stress some strands of continuity between present and future“. 256 Vgl. Lied, Other, 307f. 257 Zum zweiten Argument vgl. auch Stephens, Annihilation, 104. 258 Sulzbach, „Fate“, 152. 259 Vgl. dazu Stephens, Annihilation, 105: „[I]t is within the messianic era that the world begins to take upon itself the attributes of eternity (74:2), effectively inaugurating the new creation, although the final consummation yet awaits“; sowie J. F. Hobbins, „The Summing up of History in 2 Baruch“, in: JQR 89.1−2/1998, 68. 260 Hahne, Corruption, 123. 254
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
alte Welt wird zwar nach 6,20 in gewissem Sinn „vergehen“261, aber gemäss 7,75 wird Gott sie gleichzeitig „erneuern“262. Stephens kennt lediglich drei frühjüdische Texte „with little or no indication of cosmic survival“: äthHen 83,2–5; 1QHa XI,29–36; Sib 3,75–92.263 Wie wörtlich die Henoch-Stelle, wonach der Himmel zusammenfällt und die Erde in den Abyss sinkt, zu verstehen ist, ist jedoch fragwürdig, wenn man an die mit dieser Vision direkt verknüpften Visionen der Tierapokalypse denkt (äthHen 85–90), wo ein irdisches Heil geschaut wird264. Die Bedeutung des Qumran-Textes relativiert selbst Collins.265 2) Dem Urchristentum liegt der Gedanke einer totalen Vernichtung der Schöpfung fern. Gemäss dem Matthäusevangelium rechnet Jesus zwar mit dem zukünftigen „Vergehen“ von Himmel und Erde (vgl. 5,18: e[wj a'n pare,lqh| o` ouvrano.j kai. h` gh/, 24,35: o` ouvrano.j kai. h` gh/ pareleu,setai), nach 19,28 wird die kosmische Ordnung jedoch eine „Wiedergeburt“ (paliggenesi,a) − d. h. eine Erneuerung oder Neuschöpfung − erleben266, was die Erwartung einer Annihilation der alten Schöpfung ausschliesst. 261
Vgl. Klijn, 4Esra, 34. Ebd., 52; so übersetzen auch viele andere Exegeten (vgl. dazu Hahne, Corruption, 123, Anm. 122 bzw. Stephens, Annihilation, 111, Anm. 315). 263 Stephens, Annihilation, 112. 264 Vgl. dazu Hahne, Corruption, 56–59. 265 Vgl. J. J. Collins, „The Expectation of the End in the Dead Sea Scrolls“, in: C. A. Evans; P. W. Flint (Hg.), Eschatology, Messianism, and the Dead Sea Scrolls, SDSS, Grand Rapids, Michigan: Eerdmans, 1997, 88: „This is, however, the only passage in the Scrolls that attests to such a belief [sc. a conflagration of the universe], so it does not appear to have played any central role in the expectations of the sect“. 266 Nach Büchsel steht paliggenesi,a im Zusammenhang mit „de[m] jüdische[n] Glauben an die Totenauferstehung und Welterneuerung“ (vgl. F. Büchsel, Art. gi,nomai ktl., ThWNT I [1933/1966], 688; Hervorhebung von mir); vgl. auch Grundmann, Matthäus, 434: „Der Ausdruck [sc. paliggenesi,a] […] dient hier der im Judentum erwarteten apokalyptischen Erneuerung der Welt in einem kommenden Äon“; Morris, Matthew, 495, Anm. 43: „Here [sc. in Mt 19,28] it [sc. paliggenesi,a] refers to cosmic renewal“; Sim, Apocalyptic, 112: „Matthew’s usage [of the term paliggenesi,a] in 19:28 is clearly eschatological and points to the recreation of the cosmic order“; R. T. France, The Gospel of Matthew, NICNT, Grand Rapids, MI: William B. Eerdmans, 2007, 743: „[The term] aptly sums up the OT eschatological hope of ,new heavens and a new earthʻ (Isa 65:17; 66:22, etc.)“; sowie Keener, Matthew, 480: „[I]n a Jewish context this [sc. evn th/| paliggenesi,a|] must refer to the time of the new creation“. Der Bezug von paliggenesi,a auf das Volk Israel (vgl. J. Thiessen, Gott hat Israel nicht verstossen. Biblisch-exegetische und theologische Perspektiven in der Verhältnisbestimmung von Israel, Judentum und Gemeinde Jesu, Edition Israelogie 3, Frankfurt am Main: Lang, 2010, 149−151; er deutet paliggenesi,a als „nationale ,Wiedergeburtʻ Israels“) ist nur indirekt gegeben: Die paliggenesi,a der Welt im Sinne der „Wiederherstellung aller Dinge“ (vgl. Apg 3,21: avpokatasta,sewj pa,ntwn, zur Entsprechung von Mt 19,28 mit Apg 3,21 vgl. z. B. Keener, Matthew, 480) bringt auch die Wiederherstellung Israels mit sich. 262
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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Zu der Endzeiterwartung in Röm 8,19–22 hat Hahne plausibel dargelegt, dass Paulus von einer „transformation of the existing creation“ bzw. „eschatological perfection of creation“ ausgeht267: „The passage implies the redemption and transformation of the present material world, rather than the destruction of the world and the creation of a new one“. 268 Wahrscheinlich ist auch D. J. Moo Recht zu geben, wenn er sagt, dass der paulinische Begriff kainh. kti,sij (vgl. 2.Kor 5,17 und Gal 6,15) unter anderem den Gedanken einer „cosmic renovation“ miteinschliesst. 269 In eine andere Richtung scheinen auf den ersten Blick die eschatologischen Darlegungen in 2.Petr 3,4–13 zu gehen, wonach Himmel und Erde für das Feuer aufbewahrt sind (V.7: oi` de. nu/n ouvranoi. kai. h` gh/ […] teqhsaurisme,noi eivsi.n puri,) und – bei der Wiederkunft Jesu (vgl. V.4.10) – die Himmel geräuschvoll vergehen und die Elemente brennend aufgelöst werden (V.10: evn h-| oi` ouvranoi. r`oizhdo.n pareleu,sontai stoicei/a de. kausou,mena luqh,setai). Der neuen Welt (vgl. V.13: kainou.j de. ouvranou.j kai. gh/n kainh,n) geht offenbar eine bestimmte Zerstörung des alten Kosmos voraus. Aber auch wenn Stephens mit Recht betont, dass die rhetorische Strategie des Autors die Betonung auf Diskontinuität legt270, ist die Erwartung einer materiellen Kontinuität zwischen den beiden Welten nicht auszuschliessen.271 Im Gegenteil: Wenn der Verfasser die die Erde reinigende Sintflut als „Zerstörung“ der damaligen „Welt“ deutet (vgl. V.6: to,te ko,smoj u[dati kataklusqei.j avpw,leto), dann darf man beim brennenden „Vergehen“ des jetzigen Kosmos (vgl. V.7.10) durchaus auch von einem die Elemente läuternden, aber nicht völlig vernichtenden Akt ausgehen, der in der Schaffung der zukünftigen Welt mündet.272 Selbst wenn man in Dies zeigt sich z. B. deutlich in Offb 21−22, wonach die Neuschöpfung der Welt jene glorreiche Wiederherstellung Israels bzw. Jerusalems bedeutet, die im Alten Testament verheissen ist (vgl. z. B. die Anlehnung an JesLXX 60,3ff in Offb 21,24; zu dieser Anlehnung vgl. z. B. H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, RNT, Regensburg: Pustet, 1997, 470 und Blount, Revelation, 393). 267 Vgl. Hahne, Corruption, 233; zur überzeugenden Beweisführung vgl. ebd., 171–209. 268 Hahne, Corruption, 208. 269 Vgl. D. J. Moo, „Creation and New Creation“, in: BBR 20.1/2010, 55–60. 270 Vgl. Stephens, Annihilation, 128. 271 So sagt auch Stephens: „[T]he author probably believed in some kind of material continuity between the two worlds“ (ebd.); so z. B. auch Bauckham, 2 Peter, 326: „Such passages emphasize the radical discontinuity between the old and the new, but it is nevertheless clear that they intend to describe a renewal, not an abolition, of creation“. 272 Die Entgegnung von Overstreet, dass ko,smoj als „world system“ in V.6 von gh/ als „earth itself“ in V.7 grundsätzlich zu unterscheiden sei (vgl. L. R. Overstreet, „A Study of 2 Peter 3:10-13“, in: BS 137.4/1980, 363), kann nicht überzeugen, wenn man den Kontrast o` to,te ko,smoj vs. oi` nu/n ouvranoi. kai. h` [ nu/n] gh/ ernst nimmt. Gegen eine Annihilation der alten Schöpfung bzw. für eine creatio ex vetere sprechen sich z. B. auch folgende Exegeten aus: G. Z. Heide, „What is new about the New Heaven and the New Earth?: A Theology of Creation from Revelation 21 und 2 Peter 3“, in: JETS 40.1/1997, 46–55; B. Witherington,
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
2.Petr 3,10 eine Anlehnung an die stoische Vorstellung eines Weltenbrandes erkennen möchte, muss man nicht unbedingt eine Annihilation des Kosmos annehmen: Es ginge dann mit Blick auf die neugeschaffene Welt in V.13 um eine creatio ex vetere.273 Eine Kontinuität zwischen alter Schöpfung und neuer Welt liegt offenbar auch in Offb 21–22 vor. In Zukunft werden zwar der „erste Himmel“ und die „erste Erde“ „vergangen“ sein (21,1: o` prw/toj ouvrano.j kai. h` prw,th gh/ avph/lqan) und ein „neuer Himmel“ und eine „neue Erde“ existieren (21,1: ei=don ouvrano.n kaino.n kai. gh/n kainh,n), und die neue Welt wird sich in Bezug auf die Abwesenheit von allem Übel (21,4; 22,3a), das ewige Leben (21,4: o` qa,natoj ouvk e;stai, 22,5: basileu,sousin eivj tou.j aivw/naj tw/n aivw,nwn), die totale Weltherrschaft (21,24.26) und die umfassende und unmittelbare Anwesenheit Gottes (21,3.22; 22,3b.4) grundlegend von der alten unterscheiden.274 Aber Lee hat überzeugend gezeigt, dass Offb 21,1ff bei der an JesLXX 65,17 angelehnten Rede von der Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde nicht eine creatio ex nihilo, sondern eine creatio ex vetere bzw. eine „restoration of the old things“ im Blick hat (vgl. z. B. Offb 21,5: kaina. poiw/ pa,nta).275 Nach J. A. Moo wird dies gerade auch durch das in 21,24 erwähnte Kommen der „Könige der Erde“ (oi` basilei/j th/j gh/j) zum Neuen Jerusalem unterstrichen (vgl. z. B. Jes 60,3!).276 Auch das programmatische Statement in Offb 11,18 (diafqei/rai tou.j diafqei,rontaj th.n gh/n) scheint die Erwartung einer totalen Zerstörung des irdischen Kosmos auszuschliessen. 277 Nach seiner ausführlichen Untersuchung von Offb 21–22 sagt Stephens mit Recht:
Letters and Homilies for Hellenized Christians – Volume II. A Socio-Rhetorical Commentary on 1-2 Peter, Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 2008, 379–382; J. A. Moo, „Continuity, Discontinuity, and Hope: The Contribution of New Testament Eschatology to a Distinctively Christian Environmental Ethos“, in: TynB 61.1/2010, 30–38. Zur Diskussion in der frühen Kirche vgl. C. P. Thiede, „A Pagan Reader of 2 Peter: Cosmic Conflagration in 2 Peter 3 and the Octavius of Minuscius Felix“, in: JSNT 26/1986, 79–96. 273 Vgl. Adams, Stars, 259: „[T]he destructive process […] is part of the process of renewal and renovation (conceived along the lines of the Stoic ekpurōsis), which leads to a new heaven and new earth which stand in material continuity with the present heavens and earth“. 274 Bis zu einem gewissen Punkt ist es darum auch nicht falsch, von „radikaler Diskontinuität“ zwischen alter und neuer Welt zu sprechen (vgl. Grimm, Lebensraum, 305) bzw. von „the discontinuity and qualitative difference between the old and new order“ (vgl. Mathewson, New Heaven, 218). 275 Vgl. Lee, New Jerusalem, 267–269. So sagt er z. B. unter anderem in Bezug auf das gottfeindliche Mächte symbolisierende Meer, das in der neuen Welt fehlt (vgl. 21,1): „[T]he New Creation is not the nullification of the first creation but the radical renewal of the first creation, and thus in the New Creation, there will be no more sea“ (ebd., 269). 276 Vgl. Moo, „Continuity“, 41. 277 Vgl. Stephens, Annihilation, 258.
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„For John, the eschatological coming of God does not annihilate creation, it fulfils it by propelling it forward to its appointed goal, even as it simultaneously ends the old order of death and corruptibility.“278 „Through the variegated imagery of the new heavens and new earth, and the New Jerusalem as a paradisal city-temple, the audience is treated to a climax which promises a world both qualitatively new and yet standing in continuity with the present. It is therefore reasonable to conclude that the major vision report of this book is ringed by images of a renewed and liberated creation.“279
3) Eine totale Beseitigung der irdischen Welt am Ende der Zeit widerspricht anderen Aussagen im Hebräerbrief. Der Begriff oivkoume,nh h`` me,llousa in Hebr 2,5 ist für die Eschatologie des Verfassers grundlegend. Viele Exegeten sehen in der „zukünftigen Welt“ eine rein himmlische Grösse, nämlich die Welt, in die der Sohn bei seiner Erhöhung eingegangen ist. 280 An einer anderen Stelle habe ich diese Deutung ausführlich in Frage gestellt.281 Filtvedt hat jüngst in die gleiche Kerbe geschlagen und sagt mit Blick auf die Verwendung des Begriffs oivkoume,nh mit der Grundbedeutung „bewohnte Erde“ mit Recht: „Stressing the inhabitable nature of the world to come militates against the view that it is of a purely spiritual nature“. 282 Vor allem auch die Unterwerfung der „zukünftigen Welt“ unter den Sohn283 (vgl. u`pe,taxen th.n oivkoume,nhn th.n me,llousan in 2,5 mit evn tw/| ga.r u`pota,xai Îauvtw/|Ð ta. pa,nta ouvde.n avfh/ken auvtw/| avnupo,takton in 2,8) spricht klar gegen die Deutung von oivkoume,nh h`` me,llousa als Himmelswelt. Nach 2,8 geht diese Unterwerfung der oivkoume,nh h`` me,llousa nämlich mit der Unterwerfung tw/n pa,ntwn einher und umfasst offensichtlich (auch) den irdisch-sichtbaren Raum, wenn 278
Stephens, Annihilation, 257. Ebd., 258. 280 Vgl. z. B. Vanhoye, „οἰκουμένη“, 249f; Grässer, Hebräer I, 79; Eisele, Reich, 58; Johnson, Hebrews, 79.90; Schenck, Cosmology, 64.88.129; A. B. Caneday, „The Eschatological World Already Subjected to the Son: The Οἰκουμένη of Hebrews 1:6 and the Son’s Enthronement“, in: R. Bauckham (Hg.), A Cloud of Witnesses. The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts, LNTS 387, London, New York: T&T Clark, 2008, 33−36.38f; Barnard, Mysticism, 239f. 281 Vgl. Stolz, „Einführen“, 418–420. 282 Filtvedt, „Creation“, 284. 283 U. a. mit Blick auf 1.Kor 15,27 legt die Mehrheit der Exegeten mit Recht Hebr 2,5–8 christologisch aus (vgl. z. B. Steyn, Quest, 139–144); dass der in Jesus als zweitem Adam sekundär auch die Menschheit und ihr eschatologisches Mitherrschen über den Kosmos miteinschliesst, scheint mir allerdings nicht unwahrscheinlich (vgl. do,xh|| […] evstefa,nwsaj auvto,n in 2,7 mit pollou.j ui`ou.j eivj do,xan avgago,nta in 2,10!); zu einer Übersicht über die verschiedenen Positionen vgl. C. L. Blomberg, „‚But We See Jesus‘: The Relationship between the Son of Man in Hebrews 2.6 and 2.9 and the Implications for English Translations“, in: R. Bauckham (Hg.), A Cloud of Witnesses. The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts, LNTS 387, London, New York: T&T Clark, 2008, 88–91 (er selbst bevorzugt eine anthropologische Deutung, vgl. ebd., 91–98). 279
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der Verfasser feststellt: Nu/n de. ou;pw o`rw/men auvtw/| ta. pa,nta u`potetagme,na.284 Der auctor ad Hebraeos und seine Mitchristen sehen und spüren tagtäglich die Herrschaft von christus- bzw. christenfeindlichen Machthabern (vgl. Hebr 10,32−34). Im zukünftigen Äon werden diese aber samt der ganzen „Erde“ dem Christus als dem Allerben (1,2) unterworfen sein. Mit dem Sohn wartet der Verfasser des Hebräerbriefs offenbar darauf, dass schlussendlich alle irdischen Feinde unter dessen Füsse gelegt werden (vgl. 1,13; 10,13) und die gesamte bewohnte Welt (oivkoume,nh) – wie Balz richtig bemerkt – eine „Christusherrschaft“ ist (vgl. 1,8).285 Mit Recht betont auch Mackie zu Hebr 1,13; 2,5–9 und 10,13: „[T]he entire cosmos shall soon come under his [sc. Jesus’] eschatological rule“.286 Ähnlich formuliert es auch Laansma: „The created world […] has a destiny, which is brought to fulfillment in the Son (2.6-9)“.287 Der irdische Kosmos hat also ein Ziel, und dieses Ziel heisst nach Hebr 2,5–8 und 10,13 nicht „Vernichtung“ oder „Beseitigung“, sondern „Unterwerfung“. Freilich meint die oivkoume,nh h`` me,llousa kaum nur die gegenwärtige irdische Welt im zukünftigen Zustand des Beherrscht-Seins durch Christus. Sehr wahrscheinlich stellt sich der Verfasser die „kommende Welt“ gleichzeitig auch als zukünftig erscheinende neue Welt vor288, wenn nach ihm auch die „kommende Stadt“ (vgl. Hebr 13,14) eine zukünftig offenbarte ist (↑ B.IV.2.1.3.c; ↑ B.V.2).289 In jedem Fall spricht aber die Tatsache, dass die oivkoume,nh h`` me,llousa in gewissem Sinn auch die gegenwärtige Welt als einer in Zukunft dem Sohn unterworfenen Welt „beinhaltet“, klar gegen die Annihilation des Kosmos. Denn die oivkoume,nh h`` me,llousa soll wie die me,llousa po,lij gewiss als etwas Bleibendes bzw. Nicht-Vergehendes verstanden werden (vgl. Hebr 13,14: me,nousan po,lin). b. Kontinuität und Diskontinuität Die Erwartung einer Annihilation der Schöpfung ist also mit Blick auf das Frühjudentum, das Urchristentum und zentrale eschatologische Aussagen im Hebr für die kommende Erschütterung und Veränderung aller Dinge gemäss 284
So z. B. auch R. L. Brawley, „Discoursive Structure and the Unseen in Hebrews 2:8 and 11:1: A Neglected Aspect of the Context“, in: CBQ 55/1993, 97: „What is not seen is not merely the transcendent vertical reality: it is the horizontal future reality of the ultimate subjection of all things to Jesus“. 285 Vgl. Balz, oivkoume,nh, 1232f. 286 Vgl. Mackie, „Exordium“, 438. 287 Laansma, „Cosmology“, 136. 288 Vgl. dazu z. B. die Erwartung Jesu von einem zukünftigen Hervortreten eines neuen Äons (↑ B.IV.2.1.3.c). 289 Nach Karrer „schafft der Hebr“ mit dem Begriff oivkoume,nh h`` me,llousa „eine gezielte Spannung“: Einerseits verweise oivkoume,nh „auf die vorhandene, bewohnt-bewohnbare Welt“, andererseits bezeichne me,llousa „gerade nicht das, was ist, sondern was sein soll“ (vgl. Karrer, Hebräer I, 165f).
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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Hebr 12,26–27 nicht plausibel. Der irdischen Welt scheint vielmehr (zumindest zum Teil) eine Kontinuität zu eigen zu sein. Allerdings geht Laansma zu weit in der Annahme, dass der Verfasser des Hebräerbriefs keinerlei Ende des Kosmos erwarte, sondern nur dessen Reinigung und Befreiung von gottfeindlichen Mächten.290 Nach Hebr 1,10f werden die Erde und der sichtbare Himmel (oi` ouvranoi,) nämlich sehr wohl in einer gewissen Hinsicht „untergehen“ (avpolou/ntai).291 Allerdings ist damit kaum die totale „Vernichtung“ des Geschaffenen gemeint.292 Sonst müsste sich der Verfasser in Hebr 2,5.8 fundamental widersprechen. Das „Untergehen“ von Himmel und Erde scheint mehr das Vergehen der Form als das Vergehen der materiellen Substanz anzudeuten. So kann z. B. auch Jesus nach Mt 24,35 vom „Vergehen“ von Himmel und Erde sprechen und gleichzeitig von einer paliggenesi,a des Kosmos ausgehen (vgl. 19,28).293 Auch die „Prophetensprache“294 in Hebr 1,11f (vgl. insbesondere Jes 34,4 und 51,6), wonach der Himmel wie ein Kleid veralten und wie ein Mantel zusammengerollt werden wird, spricht gegen die Erwartung einer Annihilation der Schöpfung. Mit der Ersetzung295 von avlla,xeij in PsLXX 101,27 durch e`li,xeij in Hebr 1,12 knüpft der auctor ad Hebraeos bewusst an JesLXX 34,4 an (vgl. e`ligh,setai o` ouvrano.j w`j bibli,on), wo das Untergehen des Himmels im Zusammenhang mit dem totalen Gericht über Edom (34,5−15) und die anderen Völker (34,1−3) steht, welches das Land bzw. die Erde nicht vernichten, sondern lediglich den wilden Tieren übergeben (vgl. 34,11a.13−15) und (wieder) „wüst“ und „leer“ machen wird (vgl. die beiden Begriffe wht und whb im MT von Jes 34,11b).296 Keine Frage: Zwischen der Aussage, dass der irdische Kosmos in seiner gegenwärtigen Form untergeht (Hebr 1,11f), und der Andeutung, dass die bewohnte Welt als Christusherrschaft in gewissem Sinn fortdauern wird (2,5.8), besteht eine gewisse Spannung. Der Verfasser beginnt diese allerdings zu lösen, indem er in Hebr 12,27 von einer eschatologischen Veränderung 290
Vgl. Laansma, „Hidden“, 14: „[T]he homily neither expects nor speaks of the end of the cosmos, full stop, but rather of God’s judgement, of cleansing (1.3), of removal of that which opposes God“. 291 Auch wenn das Zitat aus PsLXX 101,26–28 in Hebr 1,10–12 in erster Linie der Christologie dient (es geht dem Verfasser um die Erhabenheit des Sohnes, die sich durch sein Schöpfer-Sein und seine ewige Beständigkeit zeigt), lassen sich durchaus Rückschlüsse auf die Kosmologie und Eschatologie des Hebräerautors schliessen; so auch Adams, „Cosmology“, 135f. 292 So z. B. postuliert von Eisele, Reich, 123. 293 Im Frühjudentum findet sich ein ähnlicher „Widerspruch“ z. B. in 4.Esr 6,20 und 7,75. 294 So richtig beobachtet von Backhaus, Hebräerbrief, 100. 295 Auch Steyn sieht die Abweichung von der LXX nicht in einer anderen Vorlage begründet (vgl. Steyn, Quest, 109). 296 Mit Recht betont neuerdings auch Church: „[T]his context [of Isaiah 34] can be brought into Hebrews 1:10-12, indicating not the dissolution of the created order“ (vgl. P. Church, „Hebrews 1:10-12 and the Renewal of the Cosmos“, in: TynB 67.2/2016, 285).
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(meta,qesij) aller Dinge spricht. Wahrscheinlich knüpft er darin an Hebr 1,12 an, wonach Himmel und Erde „verwandelt“ werden (avllagh,sontai).297 Interessanterweise wird das Verb in 1.Kor 15,51f für die Existenz der Christen verwendet, die am Jüngsten Tag „in einem Nu“ (evn avto,mw|) verwandelt wird, weg vom Vergänglichen bzw. Sterblichen hin zum Unvergänglichen bzw. Unsterblichen. Erwartet der auctor ad Hebraeos eine solche eschatologische Verwandlung auch für den irdischen Kosmos? Ich meine ja.298 Wie gesehen (↑ B.VI.3.3.3), verstehen nicht wenige Exegeten die meta,qesin tw/n saleuome,nwn in Hebr 12,27 als Umwandlung der irdischen Welt. Auch Kibbe hält jüngst fest: „How […] may we retain both Hebrews’ emphasis on heaven/heavenly realities and it’s insistence that the eschatological age includes a sphere in which embodied human beings may rule over creation? The most plausible option is that for Hebrews, what has become true of heaven due to Christ’s purification of its sanctuary will one day be true of earth, thus blurring the boundaries between the two.“299
Selbst Ausleger, die die kommende und bleibende Welt als eine himmlische Grösse sehen, rechnen letztlich doch mit einer gewissen Verwandlung des Kosmos, wenn z. B. Barnard hinsichtlich der Enderwartung des Hebräerautors schreibt: „[T]he present heavenly world expands its borders to incorporate the entire cosmos“.300 Ähnlich tönt es bei Canaday in Bezug auf Hebr 2,5: „Heaven has come to the cosmos in order that the cosmos might finally come to its consummation in the world that is to come“. 301 Auch nach Backhaus erwartet der Verfasser des Hebräerbriefs einen endzeitlichen „Einbruch der himmlischen Sphäre in die irdische“ bzw. ein „Aufgehen der irdischen Sphäre in die himmlische“.302 Dass der Verfasser von einer endzeitlichen Offenbarung von himmlischen, d. h. jetzt noch bei Gott verborgenen Dingen ausgeht, steht mit Blick auf das auf dem/einem „irdischen“ Zion offenbarte himmlische Jerusalem fest (vgl. Hebr 12,22–24 sowie 13,14 und die kommende Stadt). Die Frage ist allerdings, ob man dem Hebräerbrief gerecht wird, wenn man die Verwandlung 297 Riggenbach betont in Bezug auf Hebr 1,11f, dass die Himmel „wie ein im Gebrauch sich abnutzendes Kleid“ altern würden, „freilich nicht ohne in veränderter Gestalt erneuert zu werden“ (vgl. Riggenbach, Hebräer, 25). Adams erachtet diese Interpretation als falsch, weil es um den Wechsel eines Gewandes gehe (vgl. Adams, Stars, 184). Neuerdings hat aber Church überzeugend dargelegt, dass sowohl für den Psalmisten als auch für den Verfasser des Hebräerbriefs der Gedanke der Veränderung/Umwandlung von Himmel und Erde sehr wohl präsent ist (vgl. Church, „Renewal“, 272−285). 298 Zu diesem Schluss kommt auch Church nach seiner ausführlichen Untersuchung zu Hebr 1,10−12: „[T]he Son […] will transform it [sc. the creation] and renew it, and place it under the dominion of redeemed humanity (2:5-9)“ (vgl. Church, „Renewal“, 286). 299 Kibbe, Fear, 179. 300 Barnard, Mysticism, 240. 301 Caneday, „Eschatological“, 39. 302 Backhaus, Bund, 241.
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des irdischen Kosmos als ein Verschlungen-Werden vom Himmlischen versteht. Meines Erachtens ist das Modell „Neuschöpfung der Welt“ adäquater. 3.3.5 Die Neuschöpfung der Welt Die Erwartung einer Neuschöpfung des Kosmos bzw. der Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde ist im Frühjudentum und in neutestamentlichen Schriften zahlreich belegt (primär in Anlehnung an die göttliche Verheissung in Jes 65,15: „Ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde“; vgl. 66,22!).303 Schon von daher scheint es mir nicht unwahrscheinlich, das Modell „Neuschöpfung der Welt“ auch für den Hebräerbrief anzunehmen. Freilich gibt es nicht wenige Ausleger, die dies kategorisch ablehnen. So schreibt z. B. Mackie: „There will be no return, reformation, re-creation, or transformation of what has been decisively ‚removed‘“. 304 Auch wenn keine explizite Erwähnung einer Neuschöpfung im Hebräerbrief zu finden ist, betont Adams doch mit Recht: „[T]here is good reason to think that a recreation of the cosmos after its dissolution is anticipated“.305 Er führt an zwei unterschiedlichen Orten einige plausible Gründe für diese Annahme an. 306 1) Der auctor ad Hebraeos erwartet eine Auferstehung der Toten (vgl. 6,2; 11,35; 13,20), die gemäss frühjüdischer Vorstellung oft mit einer Erneuerung der Schöpfung verknüpft ist.307 2) Dass der Verfasser in 9,11 von „dieser Schöpfung“ (tau,thj th/j kti,sewj) spricht, kann vermuten lassen, dass er noch eine andere Schöpfung erwartet. 3) Wenn das himmlische Jerusalem (12,22) nach dem Hebr eine zukünftige, kommende, sich offenbarende Stadt ist (13,14), so scheint es naheliegend, dass ihre eschatologische Erscheinung in einem irdischen (oder neu-irdischen) Kontext stattfindet (vgl. 4.Esr. 7,26; 13,36; Offb 21,9–22,5). 4) Die Bezeichnung Jesu als klhrono,moj pa,ntwn (Hebr 1,2) impliziert, dass am Ende der Zeit ein Kosmos (pa,nta) zum Erben vorhanden sein wird. 5) In Hebr 2,6–8 zitiert der Verfasser Ps 8,4–6 und interpretiert die Stelle als Aussage über das (zukünftige) universale Herrschen des Christus, wobei dieses die Erfüllung der göttlichen Bestimmung für die Menschheit in Bezug auf die Schöpfung ist.
303 Vgl. z. B. 1QS IV,25; Jub 1,29; 4,26; äthHen 45,4f; 72,2; 91,16; LAB 3,10; 16,3; 32,17; 4.Esr 7,75; syrBar 32,6; 57,2; 2.Petr 3,13; Offb 21,1.5; andeutungsweise z. B. auch in 11Q19 XXIX,9; syrBar 44,12; Mt 19,28 und Röm 8,21. 304 Mackie, Eschatology, 71f. 305 Adams, „Cosmology“, 137. 306 Vgl. Adams, Stars, 197f sowie Adams, „Cosmology“, 137f. Ich führe nur die Gründe auf, die mich überzeugen. 307 Die von Adams unerwähnten Belegstellen dafür sind z. B. äthHen 91,10−16; LAB 3,10; 4.Esr 7,75.
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6) Die Tatsache, dass der Verfasser des Hebräerbriefs in 2,5 für die zukünftige Wirklichkeit das Nomen oivkoume,nh mit der Grundbedeutung „bewohnte Welt“ verwendet, deutet darauf hin, dass er eine bewohnbare, neugeschaffene Ordnung vor Augen hat.308 Mit Blick auf einige dieser Punkte, sowie besonders auch auf die Wiederkunft des Sohnes auf die Erde (vgl. Hebr 1,6; 2,8; 9,28; 10,13.25–27.37–39), die im Urchristentum immer wieder mit einer Umgestaltung bzw. Neuschöpfung des Geschaffenen verknüpft wurde (vgl. z. B. 1.Thess 1,10; 4,14–17; Phil 3,20f; Mt 25,31–34), sagt Lincoln mit Recht: „All this suggests that Hebrews has not abandoned the major strand of Jewish and early Christian eschatology that expected not simply a spiritual heavenly salvation but one that included transformed bodies and a transformed cosmos.“309
Der überzeugendste Hinweis, dass der auctor ad Hebraeos von einer zukünftigen Neuschöpfung ausgegangen ist – gerade auch bei der metaqe,sei tw/n saleuome,nwn bzw. pepoihme,nwn – liegt aber in 12,27 selbst, und zwar im Nebensatz: i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,mena. In JesLXX 66,22 sagt nämlich Gott: „Wie der neue Himmel und die neue Erde, die ich mache, vor mir bleiben (me,nei evnw,pio,n mou, vgl. hebr.: ynpl ~ydm[), […] so werden eure Nachkommen und euer Name bestehen (sth,setai)“. Dass sowohl in Hebr 12,27 als auch in JesLXX 66,22 das Verb me,nein im Zusammenhang mit einer eschatologischen KosmosVeränderung durch Gott verwendet wird (vgl. meta,qesij tw/n saleuome,nwn bzw. pepoihme,nwn mit o` ouvrano.j kaino.j kai. h` gh/ kainh, a] evgw. poiw/), ist kaum ein Zufall. Vielmehr scheint der Verfasser des Hebräerbriefs mit dem Verb an diesen grundlegenden und allgemein bekannten jüdischen Endzeittext anzuspielen.310 Demnach darf man die meta,qesin des gegenwärtigen Kosmos bei der eschatologisch-futurischen Erschütterung so verstehen, dass dieser durch eine göttliche Neuschöpfung von Grund auf und radikal verändert werden wird, wobei ein neuer, bleibender Kosmos entsteht.311 Hughes spricht diesbezüglich von „the inauguration of the new heaven and the new earth, that is, the renewed or 308
Ähnlich z. B. auch schon Hurst, Background, 73: „,The world to come‘ of Heb. 2:5 has nothing to do with the heavenly light-sphere of gnosticism, but is […] the counterpart of John’s city in Rev. 21:lf“. 309 Lincoln, Hebrews, 96. 310 So z. B. auch Strobel, Hebräer, 242 und L. D. Hurst, „Eschatology and ‚Platonism‘ in the Epistle to the Hebrews“, in: SBL.SP 23/1984, 73 (Letzterer sieht gleichzeitig einen Bezug zu SachLXX 14,10). 311 Ähnlich sieht es neuerdings Schreiner: „A removal of the present world […] is coming. The world will be shaken and changed, and only the unshakable will remain. […] It probably means all that is corruptible and defiling in the present creation will be removed, so the new creation, the new heavens and new earth, will shine with intense beauty“ (vgl. T. R. Schreiner, Commentary on Hebrews, BTCP, Nashville, TN: B&H Publishing Group, 2015, 406).
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,changed‘ creation, in which all God’s purposes in creation are brought to everlasting fulfilment“.312 Wenn der Verfasser des Hebräerbriefs den kommenden Äon (vgl. 6,5) offensichtlich als durch Christus bereits geschaffen (vgl. 1,2) und bei Gott verborgen betrachtet hat313, dann ist für ihn die Offenbarung des neuen Äon wahrscheinlich ein zentraler Bestandteil der Neuschöpfung der Welt. Auf jeden Fall ist aber bezüglich der Deutung von meta,qesij als Ende des alten Kosmos und Schaffung eines neuen etwas nochmals klar festzuhalten: Zwischen alter und neuer Welt besteht eine Kontinuität (vgl. v. a. Hebr 2,5.8; 10,13). Hegermann betont mit Recht: „Die neue Welt entsteht nicht einfach durch die Preisgabe der Schöpfung, durch ihre gnostische Zurücknahme in resignierender Reduktion“.314 Eine (re-)creatio ex vetere – d. h. eine „Neuschöpfung aus dem Alten“ – scheint mir wahrscheinlich. Wichtig ist nun allerdings auch zu bemerken, dass das Bleibende nach Hebr 12,27 nicht nur etwas Neu-Irdisches ist. 3.3.6 Was alles unerschütterlich und bleibend ist Das für immer „nicht (mehr) zu Erschütternde“ (ta. mh. saleuo,mena), permanent Bleibende und ewig vor Gott Bestehende ist, wie gesagt, zunächst der von Gott neu geschaffene Kosmos (vgl. JesLXX 66,22). Diese neue Welt ist offenbar mit der oivkoume,nh h` me,llousa, der bewohnten zukünftigen Welt, gleichzusetzen (Hebr 2,5), die dem Sohn als Erben (vgl. 1,2) unterworfen ist und von ihm ewig beherrscht werden wird (vgl. o` qro,noj sou […] eivj to.n aivw/na tou/ aivw/noj in 1,8 mit 2,8 und 10,13). Die neue, von Christus regierte, bleibende Welt ist weiter gleichbedeutend mit dem unerschütterlichen Königreich (vgl. basilei,a avsa,leutoj in 12,28).315 Zu den bleibenden Dingen bzw. zu den mh. saleuome,noij gehört aber nicht nur das, was am Ende der Zeit neu geschaffen wird, sondern auch das, was in der Gegenwart im Himmel bei Gott verborgen ist: das himmlische Jerusalem (vgl. Hebr 12,22). Nach 13,14 wird diese Gottesstadt nämlich indirekt als „Bleibende“ charakterisiert, wenn es heisst: ouv ga.r e;comen w-de me,nousan po,lin avlla. th.n me,llousan evpizhtou/menÅ Die me,llousa po,lij ist im Gegensatz zu den irdischen Städten eine me,nousa po,lij. Dass der auctor ad Hebraeos bei dem Bleibenden in 12,27 auch an die eschatologische Gottesstadt denkt, ist auch von einigen ihm gewiss geläufigen Passagen im Alten Testament her gesehen wahrscheinlich. So heisst es z. B. in PsLXX 45,6a von der Stadt Gottes (vgl. V.5: po,lij tou/ qeou/), dass sie mit Gott in ihrer Mitte nicht erschüttert werden wird
312
Vgl. Hughes, Hebrews, 558. Vgl. dazu die Ausführungen unter B.VI.3.3.2. 314 Hegermann, Hebräer, 264. 315 Dazu mehr unter B.VI.3.4.1.d. 313
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(o` qeo.j evn me,sw| auvth/j ouv saleuqh,setai).316 Nach Auffassung des Verfassers des Hebräerbriefs wird das himmlische Jerusalem als „Gemachtes“ (vgl. v. a. 11,10.16) in der eschatologischen Erschütterung wahrscheinlich auch erschüttert werden317, aber die Gottesstadt bewährt sich dabei als die Unerschütterliche, Nicht-Wankende, Stabile, Bleibende, was auch das der Sinn der erwähnten Psalm-Stelle ist318. Bei aller Stabilität ist die VIerousalh.m evpoura,nioj freilich sehr wohl von der meta,qesei, der Veränderung aller Dinge, betroffen. Für die himmlische Gottesstadt bedeutet diese aber nicht wie für den alten Kosmos das Ende, sondern der Anfang: das Herabkommen in die neue Schöpfung, das Offenbarwerden in der neuen Welt (so z. B. auch in 4.Esr 7,26319; Offb 21,2).320 Man könnte einwenden, dass die Formulierung des Hebr in 12,27, „damit die unerschütterlichen Dinge bleiben“, eine sich offenbarende, d. h. sich bewegende Gottesstadt ausschliesst.321 Beachten muss man dabei allerdings, dass Jesus im Hebr mehrfach als der ewig Bleibende umschrieben bzw. bezeichnet wird322 und vom Verfasser dennoch als der am Ende der Zeit auf der Erde Erscheinende erwartet wird323.
316
Vgl. die auffällige Übereinstimmung von PsLXX 45,7 (e;dwken fwnh.n auvtou/ evsaleu,qh h` gh/) mit Hebr 12,26! 317 ↑ B.VI.3.3.2. 318 Vgl. dazu z. B. Hossfeld; Zenger, Psalmen I, 286f: Die Gottesstadt „auf dem Berg“ ist eine unerschütterliche in dem Sinn, dass sie „niemals wanken“ bzw. nie wie andere Berge zusammenstürzen wird (vgl. V.3: kai. metati,qesqai o;rh evn kardi,aij qalassw/n). 319 Die erscheinende „Stadt“ meint offenbar das präexistente himmlische Jerusalem und das „verborgene Land“ das Paradies; die Manifestation der beiden ist nach 4.Esr wahrscheinlich in komplexer Weise sowohl mit der messianischen Zeit als auch mit dem danach kommenden Neuen Zeitalter verknüpft (vgl. dazu J. A. Moo, „The Few Who Obtain Mercy: Soteriology in 4 Ezra“, in: D. M. Gurtner (Hg.), This World and the World to come. Soteriology in Early Judaism, LSTS 74, London: T&T Clark, 2011, 106f). 320 Vgl. das Resümee bezüglich der Eschatologie des Hebr bei Hurst, „Eschatology“, 74: „There is also little evidence to indicate that Auctor differs radically from the viewpoint of the mainstream apocalyptic tradition, for which there is a future heavenly Jerusalem and sanctuary to be manifested on earth“; vgl. z. B. auch Hofius, der in Bezug auf das Himmlische Jerusalem „die Welterneuerung“ mit dem „Offenbarwerden der basilei,a avsa,leutoj“ verknüpft (Hofius, Katapausis, 142). 321 Vgl. z. B. Thompson, „Metaphysical“, 586: „The author does not speak […] of the appearance of the unshakable world. […] When the material world disappears, only the world that is presently unseen (11:1) and untouchable (12:18), remains“. 322 Vgl. z. B. Hebr 1,12: su. de. o` auvto.j ei= kai. ta. e;th sou ouvk evklei,yousin, 7,3: me,nei i`ereu.j eivj to. dihneke,j, 7,24: dia. to. me,nein auvto.n eivj to.n aivw/na, 13,8: VIhsou/j Cristo.j evcqe.j kai. sh,meron o` auvto.j kai. eivj tou.j aivw/naj. 323 Vgl. Hebr 9,28: ovfqh,setai toi/j auvto.n avpekdecome,noij eivj swthri,an, zur Parusie auf der Erde vgl. 1,6; 2,8;10,13.25–27.37–39 und die Ausführungen dazu unter B.IV.2.1.3.d und B.IV.2.1.5.d.
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323
Die Auffassung, dass der irdische Kosmos vergeht und dann nur noch der Himmel bzw. das himmlische Jerusalem als eschatologischer Heilsort übrigbleibt324, ist dem Hebr fremd. Unter anderem mit Bezug auf den me,llonta aivw/na in 6,5 und die me,llousan po,lin in 13,14 sagt Lincoln mit Recht: „[I]t becomes clear that what is at present heavenly is also what is to come“. 325 Dass das „himmlische“ Vaterland nach 11,13–16 in scharfem Kontrast zu allem Irdischen steht (vgl. V.13: xe,noi kai. parepi,dhmoi, eivsin evpi. th/j gh/j), muss nicht für den Himmel als Endziel der Gläubigen und gegen eine endzeitliche Offenbarung eines präexistenten himmlischen Jerusalems bzw. Vaterlands auf der Erde sprechen, wenn man bedenkt, dass ihr bzw. sein Erscheinungsort nicht die alte Erde Abrahams bzw. der Adressaten ist, sondern eine radikale Neuschöpfung. Das beschreibende Adjektiv evpoura,nioj für die Gottesstadt (vgl. 12,22) und das Vaterland (vgl. 11,16a) darf man nicht nur als Hinweis auf ihr gegenwärtiges himmlisches Existieren nehmen (vgl. 11,10.16b), sondern auch als Zeichen für ihr endzeitliches Geschenkt-Werden durch Gott326 und ihre himmlische Beschaffenheit bzw. ihr himmlischer Ursprung327. Dass der Himmel bzw. das himmlische Heiligtum durch die dortige gegenwärtige Anwesenheit Gottes und seines Sohnes das augenblickliche Ziel des (geistlichen) Eintretens der Adressaten ist, ist keine Frage (vgl. z. B. 4,16; 7,25; 10,22). Aber das endzeitliche Ziel ist nicht der Himmel, sondern sind die „präexistenten [himmlischen] Heilsorte“, die „am Tag der Endvollendung aus der Verborgenheit heraustreten werden“. 328 Das himmlische Jerusalem auf der neuen Erde wird dann der ewig bleibende Ort sein, wo der Vater und sein Christus neu wohnen werden (vgl. Hebr 12,22–24 mit Offb 21,3.22f; 22,3f).329 Nach der eschatologischen Erschütterung werden aber nicht nur die neugeschaffene, von Christus beherrschte Welt und das auf dem neuen Berg Zion verankerte himmlische Jerusalem „bleiben“, sondern auch jene, die diesen Ort
324
Vgl. z. B. Stewart, „Cosmology“, 550f: „In the coming day of eschatological consummation, the old age and the created world will be removed and all that remains will be the spatial reality of ‚heaven itself‘ the abode and city of the living God“; vgl. auch Schenck, Cosmology, 132. 325 Lincoln, Hebrews, 95; selbst Mackie, der vom alleinigen Bleiben des „heavenly realm“ ausgeht, muss auch „it’s impending manifestation“ eingestehen (Mackie, Eschatology, 70f); wie sich Mackie diese Erscheinung vorstellt, wenn nur der Himmel übrigbleibt, bleibt allerdings sein Geheimnis. 326 Vgl. Anderson, „Christology“, 526 zu Hebr 11,16: „[W]e take epouranios here to signify the country bestowed as a gift by God in the endtime“; vgl. auch ebd., 533f, wo er sich gegen „the transcendent world at God’s side as the place of rest“ ausspricht und für „the coming world of rest“, „when the […] new world appears“. 327 Vgl. Rissi, Theologie, 44.129. 328 So richtig Hofius, Katapausis, 150; vgl. dazu auch B.V.2.3. 329 Was mit dem Himmel als ehemaligem Wohnort geschieht, wird vom Verfasser nicht erläutert.
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bevölkern werden (vgl. Hebr 12,23): die bis ans Ende ausharrenden Christusgläubigen (= die Mitglieder der evkklhsi,aj prwtoto,kwn) und die verstorbenen Gläubigen des Alten und Neuen Bundes (= die pneu,mata dikai,wn teteleiwme,nwn).330 Wenn ihr (futurisch-eschatologischer) Besitz bleibend ist (vgl. 10,34: u[parxin […] me,nousan), so sind es auch sie als Besitzer. Als „Söhne“ (2,10) bzw. „Kinder“ (2,14) gehören sie fest zum unerschütterlichen göttlichen Vater und als „Teilhaber Christi“ (3,14: me,tocoi tou/ Cristou/) ebenso sehr zum Sohn, der ewig bleibt (vgl. z. B. 1,12; 7,3.24; 13,8). Die Gläubigen sind zwar als Geschöpfe gemäss 12,27 durchaus von der Erschütterung betroffen. Aber bei der metaqe,sei aller geschaffenen Dinge werden sie selber durch eine Auferstehung (vgl. 6,2; 11,35) bzw. eine Verwandlung (vgl. 1.Kor 15,51f) verändert werden, so dass sie sich als „Unerschütterliche“ – d. h. als Nicht–Wankende, Nicht-Untergehende – und somit Bleibende erweisen.331 3.3.7 Fazit Wenn ich meine Untersuchung von Hebr 12,27 überblicke, komme ich zu einem deutlich anderen Schluss als z. B. Grässer, nach dem die meta,qesij der erschüttert-werdenden, geschaffenen Dinge und das Bleiben der mh. saleuome,nwn „der deutlich gegebene Rahmen einer hellenistischen Jenseitserwartung“ ist.332 Auch wenn die futurisch-eschatologische meta,qesij aller Dinge nach dem Hebr ein formales Vergehen von Himmel und Erde mit einschliesst, so bricht die Geschichte eben doch nicht ab, sondern geht (wie in der Apokalyptik) in gewissem Sinn weiter.333 Die Erschütterung des Kosmos (mit Erde
330
So z. B. auch Loader, Sohn, 59: „Unser Heil besteht darin, dass wir zu den Bleibenden gehören“; O’Brien, Hebrews, 497: „The things that cannot be shaken include the faithful members of the community“. 331 Dass die Gläubigen durch ihre Verbindung zu Gott bzw. zu dessen Stadt unerschütterlich sind, ist ein relativ häufiges Motiv in den Psalmen (vgl. z. B. PsLXX 15,8; 20,8; 61,3; 124,1). Der Verfasser des Hebräerbriefs konnte aber auch an ein Gleichnis Jesu anknüpfen, wonach der christusgläubige Mensch bei der eschatologischen Katastrophe als Festgegründeter nicht wanken wird (vgl. Lk 6,48: ouvk i;scusen saleu/sai auvth.n). Dass die Beziehung zum Christus unerschütterlich macht, verdeutlicht auch Apg 2,25, wo PsLXX 15,8 auf Jesus hin interpretiert wird. Auch Philo spricht z. B. in Post. 27f über die ewige Stabilität Gottes, an der ein Gerechter Anteil bekommt. 332 Vgl. E. Grässer, „Das wandernde Gottesvolk: Zum Basismotiv des Hebräerbriefes“, in: ZNW 77.3−4/1986, 165. 333 Gegen Grässer, Hebräer III, 332: „Hebr 12,27 lässt indes keinen Zweifel, dass das Zwei-Äonen-Denken unseres Verf.s nicht apokalyptisch in die Fortdauer der Geschichte eingepasst bleibt, sondern mit deren Abbruch rechnet“.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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und sichtbarem Himmel), der Menschheit und der gottgeschaffenen himmlischen Dingen ist, wie Filtvedt richtig bemerkt, als Härtetest zu sehen: Das, was den göttlichen Test besteht, bleibt; das, was ihn nicht besteht, vergeht.334 Aussergewöhnlich bei diesem eschatologischen Test ist jedoch, dass der Prüfer das Geprüfte während der Prüfung so verändert (meta,qesij), dass es die Prüfung besteht. Der Kosmos wird neugeschaffen und kommt total unter die Herrschaft des Sohnes; die himmlische Gottesstadt erscheint und lässt den neuen Kosmos eine echte oivkoume,nh, d. h. bewohnbare Welt, werden; die treuen Gläubigen werden mit einem neuen Auferstehungsleib zur Vollendung geführt. Dass man die göttliche Prüfung auch nicht bestehen bzw. nicht heil überstehen kann, ist keine Frage. Hebr 12,27 begründet (indirekt) die kurz zuvor ausgesprochene Warnung, den redenden Gott nur ja nicht zurückzuweisen oder sich von ihm bzw. seinem Sohn abzuwenden (vgl. V.25). Denn all jene, die das tun, werden (wie alle gottfeindlichen Mächte; vgl. 10,13) unmöglich „bleiben“ können (vgl. z. B. auch Offb 21,8.27; 22,15). 3.4 Vers 28 Dio. basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej e;cwmen ca,rin( diV h-j latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| meta. euvlabei,aj kai. de,ouj\ „Deshalb lasst uns, da wir im Begriff sind, eine unerschütterliche Königsherrschaft zu empfangen, Dankbarkeit haben; durch diese [Dankbarkeit] lasst uns Gott wohlgefällig dienen mit Ehrfurcht und Schrecken!“
Mit Hebr 12,28 beginnt der zweite Abschnitt der exhortatio (V.25–29), was sowohl durch die nach V.25 erneut gebrauchte Appellform (vgl. e;cwmen335 ca,rin bzw. latreu,wmen) als auch mit Blick auf das aus V.25–27 einen Schluss ziehende dio, deutlich wird.336 Das vom Verfasser (aufgrund seiner argumentativen Schreibweise) relativ oft verwendete „deshalb“ (vgl. 3,7; 6,1; 10,5; 11,12.16; 12,12; 13,12) wertet den vorangegangen Abschnitt in dreifacher Hinsicht aus: 1) Das, was sich bei der eschatologischen Erschütterung und Veränderung aller Dinge als unerschütterlich erweist, ist vor allem eine basilei,a, die die Christen im Begriff sind zu empfangen;
334 Vgl. Filtvedt, „Creation“, 300: „The things that were shaken, i.e. those things that proved not to stand God’s test, will be taken away. That which proved stable and which was not shaken, however, will remain.“ 335 Die u. a. von P46c, A, C und D bezeugte Lesart ist jener von P46*, a, K, u. a. vorzuziehen (vgl. die parallele Verbindung von einem Partizipialsatz mit drei Hortativen in 10,19– 25; vgl. dazu auch Eisele, Reich, 121f). 336 ↑ B.VI.2.
326
B. Exegese von Hebr 12,18−29
2) dass die Adressaten die sichere Verheissung (vgl. Hebr 12,26: evph,ggeltai) eines nach der Katastrophe bleibenden, segensvollen und auf sie wartenden Königreiches haben, soll sie zu einem dankbaren Leben anregen, das geprägt ist von hingegebenem Gottesdienst; 3) in gleicher Weise soll das mit der Erschütterung zu erwartende Gericht aller, die sich von Gott und seinem Sohn abwenden (vgl. Hebr 12,25f), zu einem Gott wohlgefälligen priesterlichen Dienst in tiefer Ehrfurcht motivieren. 3.4.1 basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej – „da wir im Begriff sind, eine unerschütterliche Königsherrschaft zu empfangen“ Mit der zu empfangenden basilei,a avsa,leutoj knüpft der Verfasser an die in Hebr 12,26 thematisierte Erschütterung von Himmel und Erde und das in 12,27 verheissene Bleiben der mh. saleuome,nwn an. Zu dieser unerschütterlichen und darum ewig bleibenden Basileia, die die Gläubigen empfangen, stellen sich einige herausfordernde und umstrittene Fragen: − Geht es um ein Königreich (Territorium) oder eine Königsherrschaft? − Welcher König herrscht bzw. regiert das Reich? Gott oder Jesus? − Liegt die Basileia in der Zukunft oder ist sie gegenwärtig? − Ist sie irdischer oder himmlischer Natur? − In welcher Beziehung steht die Basileia zu Hebr 12,22–24 und der Beschreibung des himmlischen Jerusalems? − Was heisst es, dass die Adressaten sie „empfangen“? Meines Erachtens ist es äusserst wichtig, dass man sich vor der Beantwortung dieser Fragen eingehend mit dem alttestamentlichen Prätext der ganzen Wendung auseinandersetzt. a. Der alttestamentliche Prätext Mit dem Ausdruck basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej spielt der Verfasser des Hebräerbriefs offensichtlich an DanLXX 7,18 (bzw. 7,14.27) an.337 Die Verbindung von basilei,a mit dem Verb paralamba,nein kommt in der LXX nämlich nur gerade fünfmal vor (Dan 6,1.29; 7,18; 2.Makk 4,7; 10,11). Dan 7,18 sticht dabei sogleich deutlich heraus, weil es dort nicht wie bei den anderen Stellen um den Herrschaftsantritt eines Individuums geht, sondern um das Empfangen eines Reiches bzw. einer Herrschaft durch mehrere Personen (a[gioi u`yi,stou), wie dies auch in Hebr 12,28 der Fall ist. 337 Vgl. z. B. Tholuck, Hebräer, 449f; Westcott, Hebrews, 421f; Vanhoye, „οἰκουμένη“, 251; Attridge, Hebrews, 382; Gordon, Hebrews, 183; Witherington, Hebrews, 346; Karrer, Hebräer II, 28; eher skeptisch ist Lane, Hebrews II, 484: „[I]f there is an allusion to Dan 7:14, 18 LXX in v 28a, it certainly is not an obvious one“; gänzlich unerwähnt bleibt die Stelle z. B. bei Eisele, Reich; Johnson, Hebrews; Backhaus, Hebräerbrief und Cockerill, Hebrews.
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Für eine bewusste Anlehnung des Verfassers an DanLXX 7,18 sprechen vier weitere Gründe. 1) Wie das Empfangen der basilei,aj avsaleu,tou in Hebr 12,28 – trotz des unbestreitbaren Zusammenhangs zur Gegenwart (vgl. die Präsensform von paralamba,nontej!) – in der effektiven Realisation offenbar als futurisch-eschatologischer Akt zu verstehen ist338, so ist auch der Erhalt des Königreiches bzw. der Königsherrschaft nach DanLXX 7,18 eine tröstende Zukunfts- bzw. Endzeitvision (vgl. paralh,yontai!): Nach einem eschatologischen Gericht (7,9f; vgl. Hebr 12,23!) und der damit einhergehenden Beseitigung der widergöttlichen Feinde (Dan 7,10f; vgl. Hebr 10,13.27!) werden die a[gioi u`yi,stou die Basileia empfangen und auf ewig besitzen (kaqe,xousi th.n basilei,an e[wj tou/ aivw/noj kai. e[wj tou/ aivw/noj tw/n aivw,nwn).339 2) Die „unerschütterliche Basileia“ ist gemäss Hebr 12,27 ein/e (für immer) bleibende/s Reich bzw. Herrschaft (vgl. i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,mena); dies entspricht exakt der Aussage in DanLXX 7,18, wonach die Heiligen die Basileia e[wj tou/ aivw/noj tw/n aivw,nwn besitzen werden (vgl. MT: ayml[ ~l[ d[). In 7,27 wird die eschatologische Basileia sogar explizit als „ewig“ bezeichnet (basilei,an aivw,nion). Sehr wahrscheinlich hatte der Verfasser des Hebräerbriefs bei der Anlehnung an DanLXX 7,18 diesen Vers auch im Hinterkopf. Ebendies scheint mir auch für 7,14 möglich, wonach das Königreich bzw. die Königsherrschaft unzerstörbar ist (h` basilei,a auvtou/ h[tij ouv mh. fqarh/|, vgl. die sachliche Übereinstimmung zu avsa,leutoj in Hebr 12,28). 3) Dass der Verfasser des Hebräerbriefs sowohl sich selbst als auch die Adressaten als zu den die Basileia empfangenden „Heiligen des Höchsten“ (vgl. DanLXX 7,18: a[gioi u`yi,stou) zugehörig gesehen hat, scheint mir sehr plausibel. Denn selbst wenn mit den a``gi,oij u`yi,stou bzw. !ynwyl[ yXydq tatsächlich nicht Menschen, sondern Engel gemeint sein sollten340: Tatsache ist, dass das Volk
338
So die grosse Mehrheit der Exegeten; vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 670: „Those who preserve in obedience are even now in the process of receiving the ‚Kingdom that is unshakable‘, which they will enter at Christ’s return“; Grässer spricht von dem, „was einst Heilvollendung sein wird“ (vgl. Grässer, Hebräer III, 336); dazu mehr unter B.VI.3.4.1.e. 339 Vgl. z. B. Evans, „Daniel“, 510: „This kingdom is eschatological in that it brings to an end all previous human kingdoms and it is eternal in that it will never end“; Koch z. B. spricht bezüglich Dan 7,18 von einer „künftigen Herrschaft“ und hinsichtlich Dan 7,9–18 von „einem Menschensohn, der zum oder nach dem Jüngsten Gericht aus himmlischer Verborgenheit heraustritt mit ewiger universaler Kompetenz“ (vgl. Koch, „Menschensohn“, 375f). 340 So z. B. M. Noth, „‚Die Heiligen des Höchsten‘“, in: N. A. Dahl; A. S. Kapelrud (Hg.), Interpretationes ad Vetus Testamentum pertinentes. FS Sigmund Mowinckel, NTT 56, Oslo: Land og Kirke, 1955, 146–151; Koch, „Menschensohn“ 375; C. A. Newsom; B. W. Breed, Daniel. A Commentary, OTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2014, 237f; Hofius z. B. vertritt in seinen Ausführungen zu DanLXX 7,27 eine menschliche Deutung der Heiligen (vgl. Hofius, „Septuaginta-Text“ 76); zur umstrittenen Übersetzung von yvydq
328
B. Exegese von Hebr 12,18−29
der Gläubigen nach 7,27 in jedem Fall auch Empfänger und Besitzer der Basileia ist (th.n basilei,an […] e;dwke law/| a`gi,w| u`yi,stou).341 Dazu kommt, dass Jesus die „Heiligen des Höchsten“ sehr wahrscheinlich auf seine Jünger hin ausgelegt hat. 342 Gemäss Lk 22,29f (vgl. Mt 19,28) verheisst er nämlich seinen Zwölf ein/e ihnen verordnete/s Königreich bzw. Königsherrschaft und dass sie auf zwölf Thronen Israel richten werden (vgl. Dan 7,9–27!).343 Auch die Selbstbezeichnung der Urchristen in Jerusalem als a[gioi scheint – wie u. a. Trebilco ausführlich darlegt – in der Identifikation mit den a``gi,oij u`yi,stou in DanLXX 7,18.27 begründet zu sein.344 In 1.Kor 6,1f bezieht Paulus die „Heiligen des Höchsten“ aus DanLXX 7,22 sogar auf alle Christusgläubigen (vgl. oi` a[gioi to.n ko,smon krinou/sin mit th.n kri,sin e;dwke toi/j a`gi,oij tou/ u`yi,stou!).345 In Anbetracht all dessen ist es nicht verwunderlich, dass der Verfasser in Hebr 12,28 die in DanLXX 7,18 erwähnten die Basileia empfangenden a``gi,ouj u`yi,stou auf sich bzw. die Adressaten hin deutet, zumal auch er die Gläubigen als a[gioi auffasst bzw. bezeichnet (Hebr 6,10 und 13,24; vgl. auch 3,1: avdelfoi. a[gioi)346. 4) Dass sich der auctor ad Hebraeos mit den muria,sin avgge,lwn und dem göttlichen Richter bereits in Hebr 12,22f an Dan 7 anlehnt (vgl. V.9f)347, macht es sehr wahrscheinlich, dass er dies auch in Hebr 12,28 tut. Zudem ist auch im Prophetentext das Gericht mit dem Empfang der Basileia verknüpft (vgl. DanLXX 7,26f!). Dass der Hebr beim Empfang einer „unerschütterlichen“ Basileia neben DanLXX 7,18 bzw. 7,14.27 auch HagLXX 2,7 bzw. 2,22 im Hinterkopf hatte348,
!ynwyl[
vgl. J. E. Goldingay, „‚Holy Ones on High‘ in Daniel 7:18“, in: JBL 107.3/1988, 495–497. 341 So auch Koch, „Menschensohn“ 375: „Doch Israel und seine Sonderstellung als Gottes eigenes Volk sind vom Danielverfasser nicht vergessen, wenn die eschatologische Vollendung zur Sprache kommt. Dan 7,27 verweist auf das ‚Volk (m[) der Heiligen des Höchsten‘, dem die Weltherrschaft, das Königtum über alle Reiche ‚unter dem ganzen Himmel‘ überantwortet wird.“ 342 So z. B. auch D. Wenham, „The Kingdom of God and Daniel“, in: ET 98.5/1987, 134 und P. R. Trebilco, Self-designations and Group Identity in the New Testament, Cambridge: Cambridge University Press, 2012, 144f. 343 Auch Evans sieht in Mt 19,28 und Lk 22,28–30 eine Anlehnung an Dan 7,9–27 und belegt sie überzeugend mit rabbinischen Midraschim (vgl. Evans, „Daniel“, 516–519). 344 Vgl. Trebilco, Self-designations, 143–146; auch die „Heiligen“ in der Offb sind offenbar auf Dan 7 zurückzuführen (vgl. ebd., 156f). 345 Den Bezug von 1.Kor 6,2 zu DanLXX 7,22 sehen z. B. auch Thiselton, I Corinthians, 425; Montague, I Corinthians, 101. 346 Zur allgemein-christlichen Bedeutung von a[gioi in 6,10 und 13,24 vgl. Trebilco, Selfdesignations, 150f. 347 ↑ B.IV.2.1.4.b. 348 Vgl. z. B. Michel, Hebräer, 475; für Cockerill ist HagLXX 2,6f bzw. 2,21f in Verbindung mit PsLXX 95,9f sogar der einzige mögliche Prätext von Hebr 12,28 (vgl. Cockerill, Hebrews, 671, Anm. 46); die „nicht-wankende Welt“ (vgl. PsLXX 95,10: th.n oivkoume,nhn h[tij
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
329
scheint mir nicht unmöglich. Denn diese Stellen beschreiben den Umsturz aller Königreiche (vgl. 2,22: katastre,yw qro,nouj basile,wn) bzw. die universale Herrlichkeit eines kommenden Gotteshauses (vgl. 2,7: h[xei ta. evklekta. pa,ntwn tw/n evqnw/n kai. plh,sw to.n oi=kon tou/ton do,xhj) als Folge der Erschütterung von Himmel und Erde (vgl. 2,6.21), die vom Verfasser des Hebräerbriefs in Hebr 12,26f thematisiert wurde. Beides (Umsturz und universale Herrlichkeit) impliziert die Errichtung einer göttlichen Basileia. Aber es ist keine Frage: Der Haupttext, an den sich der Verfasser in 12,28 mit der Wendung basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej anlehnt, ist DanLXX 7,18. Die wichtige Frage ist nun, was in DanLXX 7,18 mit basilei,a gemeint ist. Zunächst gilt es zu sehen, dass die primäre, dominante Bedeutung von basilei,a, einem nomen actionis, in der LXX und im profanen Griechisch „Königtum“ bzw. „Königsherrschaft“ ist.349 Das Nomen kann vereinzelt jedoch ebenfalls den territorialen Sinn „Königreich“ haben.350 Diese räumliche Bedeutung findet sich auch im Daniel-Buch an verschiedenen Stellen (vgl. z. B. 1,2; 5,7; 6,2.4).351 Dass mit dem Begriff basilei,a in DanLXX 7,18 aber primär an die „Königsherrschaft“ der „Heiligen“ gedacht ist, liegt mit Blick auf die beiden Parallelstellen in DanLXX 7,14 und 7,27 auf der Hand.352 Sowohl in 7,14 als auch in 7,27 steht basilei,a nämlich parallel zu evxousi,a. Mit Blick auf die beiden Stellen scheint es mir allerdings möglich, dass beim Nomen in 7,18 auch die räumliche Bedeutung „Königreich“ mitschwingt. Wenn es nämlich vom Menschensohn in 7,14 heisst, dass „alle Nationen der Erde“ ihm „dienen“ werden (pa,nta ta. e;qnh th/j gh/j […] auvtw/| latreu,ousa), dann ist offenbar die ganze irdische Welt sein Herrschaftsgebiet bzw. „Reich“. Das gleiche gilt für das heilige Volk des Höchsten, wenn von ihm in 7,27 gesagt ist, dass die Herrschaft/Autorität „aller Königreiche unter dem Himmel“ ihm gegeben wird (th.n avrch.n pasw/n tw/n u`po. to.n ouvrano.n basileiw/n e;dwke law/| a`gi,w| u`yi,stou) und „alle Mächte“ ihm „dienen“ und „gehorchen“ werden (pa/sai ai` evxousi,ai auvtw/|
ouv saleuqh,setai) ist aber dem „unerschütterlichen (d. h. bleibenden) Königreich“ in Hebr 12,28 sachlich viel weniger nahe wie das „unzerstörbare, ewige Königreich“ (DanLXX 7,14.18.27); zudem ist die oivkoume,nh in der Psalm-Stelle nichts, was zu empfangen verheissen ist. 349 Vgl. K. L. Schmidt, Art. basilei,a, ThWNT I (1933/1966), 579f. 350 Vgl. z. B. Diod., Bibl. 4,68,4; Gen 20,9; Num 32,33; Dtn 3,4.10.13; 1.Kön 18,10; 2.Chron 36,22; Esth 1,20. 351 Vgl. DanLXX 1,20: avne,deixen auvtou.j sofou.j para. pa,ntaj tou.j auvtou/ evn pra,gmasin evn pa,sh| th/| gh/| auvtou/ kai. evn th/| basilei,a| auvtou/, 5,7: doqh,setai auvtw/| evxousi,a tou/ tri,tou me,rouj th/j basilei,aj (vgl. 5,29), 6,2: kai. kate,sthse satra,paj e`kato.n ei;kosi e`pta. evpi. pa,shj th/j basilei,aj auvtou/, 6,4: o` basileu.j evbouleu,sato katasth/sai to.n Danihl evpi. pa,shj th/j basilei,aj auvtou/. 352 So spricht auch Koch in Bezug auf DanLXX 7,14 von der „Bevollmächtigung zu ewiger Völker-Herrschaft“ (Koch, „Menschensohn“, 378) und bezüglich 7,27 von „dem Volk der Heiligen der [sic!] Höchsten zugeteilte[n] ewige[n] Weltherrschaft“ (ebd., 379).
330
B. Exegese von Hebr 12,18−29
u`potagh,sontai kai. peiqarch,sousin auvtw/|). Auf jeden Fall zeigen aber die beiden Stellen, dass die Königsherrschaft in DanLXX 7,18, deren Empfang den Heiligen verheissen ist, eine irdisch-universale Königsherrschaft ist. Diese Erkenntnis scheint mir für die Interpretation der Basileia in Hebr 12,28 nicht unbedeutend zu sein. Denn mit Blick auf die inhaltliche Anknüpfung an DanLXX 7,9f in Hebr 12,22f (vgl. die neben dem göttlichen Richter stehenden Engelmyriaden) ist es unwahrscheinlich, dass sich der Verfasser – wie Grässer behauptet – nur formal an DanLXX 7,18 anlehnt.353 Klarheit darüber kann aber freilich erst eine Übersicht zur Verwendung von basilei,a im Neuen Testament bzw. im Hebräerbrief bringen. b. Die Basileia Gottes und Jesu im Neuen Testament Die basilei,a tou/ qeou/ (Mk 4,11 u. ö.; Lk 4,43 u. ö.; Joh 3,3.5) bzw. h` basilei,a tw/n ouvranw/n (Mt 4,17 u. ö.) ist unbestritten der zentrale Begriff der durch die Evangelien überlieferten Verkündigung Jesu. 354 Was Jesus unter der göttlichen Basileia verstanden hat, ist freilich seit Langem Gegenstand einer heftigen Debatte.355 Vier spannungsvolle Deutungen der Basileia Gottes scheinen mir plausibel. 1) Die göttliche Basileia meint sowohl das Königtum bzw. die Königsherrschaft Gottes als auch das (territoriale) Reich des göttlichen Königs. Ersteres wird z. B. durch die Anknüpfung an das bekannte Motiv vom König-Sein Gottes im Alten Testament und im Frühjudentum356 sowie den Zusammenhang
353
Vgl. Grässer, Hebräer III, 336f. Schnelle z. B. nennt die Proklamation des Reiches Gottes durch Jesus plakativ „Das Zentrum“ (vgl. Schnelle, Theologie, 71); vgl. auch J. Becker, Jesus von Nazaret, G LB, Berlin, New York: de Gruyter, 1996, 124: „Es gibt kein anderes Zentralwort, noch ein anderes überragendes Thema, das sonst Jesu Botschaft insgesamt kennzeichnen könnte als eben die Gottesherrschaft“. 355 Zu einem guten Überblick über die kontrovers diskutierten Fragen zur jesuanischen Vorstellung der basilei,a Gottes vgl. z. B. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, S BS 111, Stuttgart: Kath. Bibelwerk, 3. Aufl., 1989; H. Merklein, „Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu“, in: M. Hengel (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, WUNT 55, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, 119–161; J. D. Dunn, „Jesus and the Kingdom of God: How Would His Message would have been Heard“, in: D. E. Aune; P. Borgen (Hg.), Neotestamentica et Philonica. Studies in Honor of Peder Borgen, NT.S 106, Leiden: Brill, 2003, 3–36; Dunn, Jesus, 383–487; J. Thiessen, „‚Deine Königsherrschaft komme …‘ (Mt 6,10a): Die Bitte Jesu im Kontext der jüdischen Endzeit-Erwartungen und des Matthäusevangeliums“, in: J. Thiessen; H. Seubert (Hg.), Die Königsherrschaft Jahwes. FS Herbert H. Klement, STB 13, Wien: Lit, 2015, 143–174 (vgl. insbesondere 143–145.158–161.165– 169). 356 Vgl. dazu z. B. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 3. Aufl., 2005, 67–70. 354
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
331
vom Anbrechen der göttlichen Basileia mit den Dämonenaustreibungen ersichtlich (vgl. z. B. Lk 11,20)357, Zweiteres z. B. durch die sogenannten Einlasssprüche (vgl. z. B. Mt 5,20; 7,21; Mk 10,15.23ff; Joh 3,4f).358 2) Das Königtum bzw. -reich Gottes ist durch das jesuanische Wirken bereits „da“ (vgl. z. B. Lk 17,21 [h` basilei,a tou/ qeou/ evnto.j u`mw/n evstin] mit 11,20 und Mt 12,28), und doch steht dessen vollständiges „Erscheinen“ (vgl. Lk 19,11) im Eschaton noch bevor (vgl. z. B. Mt 19,28 mit 25,31.43).359 Diese endgültige Offenbarung des Reiches ist offenbar verknüpft mit der Parusie des Menschensohnes (vgl. z. B. Mt 13,41–43 mit 24,30).360 3) Das Königtum bzw. -reich Gottes hat als basilei,a tw/n ouvranw/n klar eine himmlische Dimension361; zugleich zielt die gegenwärtige Manifestation in der Person Jesu sowie die zukünftige Realisation bei der Parusie auf die/eine „irdische“ Wirklichkeit (vgl. z. B. Mt 19,28, wonach das mit der Basileia Gottes [vgl. V.24!] verbundene Richten des thronenden Menschensohnes evn th/| paliggenesi,a| sich in einem irdischen bzw. neu-irdischen Raum abspielt362; vgl.
357 Vgl. C. A. Evans, „Inaugurating the Kingdom of God and Defeating the Kingdom of Satan“, in: BBR 15.1/2005, 75: „[T]here is a significant body of material that documents and illustrates in various ways the linkage of Jesus’ announcement of the powerful presence of God’s rule with the dismantling of Satan’s kingdom“. 358 Bohlen resümiert nach ihren überzeugenden Darlegungen zu den Einlasssprüchen folgendermassen: „Mit dem Verb eivse,rcesqai wird dabei in Bezug auf die basilei,a tou/ qeou/ die Vorstellung von einem Raum imaginiert“ (vgl. M. Bohlen, „Die Einlasssprüche in der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu“, in: ZNW 99.2/2008, 184); Beavis’ These von einem „‚noplace‘ […] character“ der Basileia ist von daher kaum haltbar (vgl. M. A. Beavis, „The Kingdom of God, ‚Utopia‘ and Theocracy“, in: JSHJ 2.1/2004, 105). 359 Vgl. G. E. Ladd; D. A. Hagner, A Theology of the New Testament, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1993, 62: „The coming of God’s Kingdom will mean the final and total destruction of the devil and his angels (Mt. 25:41), the formation of a redeemed society unmixed with evil (Mt 13:36-43), perfected fellowship with God at the messianic feast (Lk. 13:2829). In this sense the Kingdom of God is a synonym for the Age to Come“. 360 Ähnlich schon H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, BHTh 17, Tübingen: Mohr Siebeck, 5. Aufl., 1964, 98 (freilich in Bezug auf eine „lukanische Theologie“): „Erst die Parusie bringt das Reich selbst“; vgl. auch Stuhlmacher, Theologie I, 124: „Die Worte vom kommenden Menschensohn zeigen also, dass Jesus in der Erwartung gelebt hat, nach seinem irdischen Dienst gemäss Ps 110,1 zur Rechten Gottes erhöht und zum Richter der Endzeit eingesetzt zu werden. Wie es auf Erden sein Auftrag war, die Gottesherrschaft zu verkündigen und ,den Vielen‘ bis hin zur stellvertretenden Lebenshingabe zu ,dienen‘, so wird es [bei der Parusie!] sein endzeitliches ,Amt‘ sein, Gottes Herrschaft durch das Endgericht vollends durchzusetzen“. 361 Die „Himmel“ sind wohl nicht – wie lange angenommen – eine jüdisch-vorsichtige Umschreibung Gottes, sondern eine Orts- bzw. Beschaffenheitsangabe für das Reich; vgl. dazu z. B. R. L. Foster, „Why on Earth use ‚Kingdom of Heaven‘?: Matthew’s Terminology Revisited“, in: NTS 48.4/2002, 487–499; J. T. Pennington, „The Kingdom of Heaven in the Gospel of Matthew“, in: SBJT 12.1/2008, 44–51. 362 Vgl. meine Ausführungen unter Anm. 266 in diesem Kapitel.
332
B. Exegese von Hebr 12,18−29
auch 6,10: evlqe,tw h` basilei,a sou\ genhqh,tw to. qe,lhma, sou( w`j evn ouvranw/| kai. evpi. gh/j). Mit Recht schreibt z. B. Pennington: „I agree that there was resident in Matthew’s expression a critique of the earthly Jewish kingdom hope, but not by being replaced with a heavenly kingdom rather than an earthly one. Instead, the critique concerns the nature of this coming kingdom in regards to its ethical practicalities, social relationships, and Gentile inclusion. After all, the great Christian prayer is that God’s (heavenly) kingdom would come to earth (6:9–10); the Christian hope is not for an ethereal, heaven-situated existence, but the consummation of the heavenly realities coming into effect on the earth; not for a destruction of the earth and a kingdom that exists only in heaven, but for a paliggenesi,a, a new genesis (19:28).“363
4) Für Jesus ist der König des kommenden Reiches offenbar sowohl Gott (vgl. z. B. Mt 18,23–35; Mt 22,1–13!)364 als auch er selbst (vgl. z. B. Mt 13,41; 16,28; vgl. auch Joh 18,36).365 Im restlichen Neuen Testament finden sich ähnliche spannungsreiche Aussagen über die göttliche Basileia. In Apg 14,22 und Eph 5,5 z. B. ist die basilei,a tou/ qeou/ offenbar als Territorium verstanden, insofern man in sie „hineingehen“ (eivselqei/n) bzw. in ihr ein Erbteil haben kann (e;cei klhronomi,an evn th/| basilei,a […] qeou/). In Röm 14,17 und 1.Kor 4,20 scheint es Paulus hingegen um die segensreiche bzw. kraftvolle Auswirkung habende „Königsherrschaft Gottes“ zu gehen.366 Die letztgenannten Stellen setzen auch die Gegenwärtigkeit der göttlichen Basileia voraus.367 In 1.Kor 6,9f; 15,20; Gal 5,21; Eph 5,5 und Jak 2,5, wo es um das Erben der Basileia Gottes geht, ist dagegen an etwas Zukünftig-Eschatologisches gedacht (vgl. auch 1.Thess 2,12 und die Berufung zur Basileia).368 363 J. T. Pennington, Heaven and Earth in the Gospel of Matthew, NT.S 126, Leiden: Brill, 2007, 326f. 364 Vgl. auch Dunn, Jesus, 465: „The Jesus tradition bears clear testimony to the centrality of the kingship of God in Jesus’ preaching. That God was ,kingʻ, with all the implications of absolute sovereignty and power which the very title encapsulated, was also axiomatic in Jesus’ framework of understanding and fundamental to his message“; gegen H. Kvalbein, „The Kingdom of God in the Ethics of Jesus“, in: StTh 51.1/1997, 69: „God’s kingship has no part in the message of Jesus“. 365 Zu dieser „scheinbaren Doppelung in der Königsrolle sowohl für Gott als auch für Jesus in bezug [sic!] auf die Basileia Gottes“ bemerkt Ådna mit Recht, dass sie mit Blick auf die Übertragung des Königtums an den Menschensohn in Dan 7,13f kein „traditionsgeschichtliches Novum“ ist (vgl. J. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, WUNT II 119, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000, 136). 366 Vgl. z. B. Stuhlmacher, Römer, 202; D. E. Garland, 1 Corinthians, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2003, 148f. 367 Vgl. z. B. Kruse, Romans, 522; B. J. Vickers, „The Kingdom of God in Paul’s Gospel“, in: SBJT 12.1/2008, 61. 368 Nach Wolff ist der „eschatologisch-futurische Charakter“ der Basileia in allen von ihm anerkannten paulinischen Stellen (Röm 14,17; 1.Kor 4,20; 6,9f; 15,24.50; Gal 5,21;
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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Nicht wenig ist ausserhalb der Evangelien auch von der Basileia Christi bzw. des Sohnes bzw. des Herrn die Rede (vgl. Eph 5,5; Kol 1,13; 2.Tim 4,1.18; 2.Petr 1,11). In Kolosser 1,13 geht es dabei um die gegenwärtige Königsherrschaft Jesu (vgl. Röm 14,9369), in dessen heilsamen Wirkungsbereich die Christen transferiert worden sind (mete,sthsen).370 Gemäss 1.Kor 15,24a wird Christus diese aktuelle Herrschaft am „Ende“ bei/nach seiner Parusie (V.23!) an den Vater übergeben, wenn alle gottfeindlichen Gewalten überwunden bzw. entmachtet sind (V.24b–26).371 Ob Paulus zwischen der Parusie und dem Endsieg mit einem messianischen Millennium rechnet, ist umstritten.372 Genauso kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die Übergabe der Basileia an den Vater das Ende der Königs(-mit-)herrschaft Christi bedeutet.373 Gemäss 2.Petr 1,11 wird die Basileia Jesu jedenfalls eine „ewige“ (aivw,nion) sein (vgl. Lk 1,33!); auch nach Offb 11,15 wird Jesus als König herrschen „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (eivj tou.j aivw/naj tw/n aivw,nwn)374.
1.Thess 2,12) „vorausgesetzt“ (vgl. P. Wolff, Die frühe nachösterliche Verkündigung des Reiches Gottes, FRLANT 171, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999, 34); zu Eph 5,5 vgl. z. B. B. Witherington, The Letters to Philemon, the Colossians, and the Ephesians. A Socio-Rhetorical Commentary on the Captivity Epistles, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2007, 308; zu Jak 2,5 vgl. z. B. D. McCartney, James, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2009, 141f. 369 Eivj tou/to ga.r Cristo.j avpe,qanen kai. e;zhsen( i[na kai. nekrw/n kai. zw,ntwn kurieu,sh|. 370 Vgl. z. B. J. L. Sumney, Colossians. A Commentary, NTL, Louisville, KY: Westminster John Knox, 2008, 57: „[T]he kingdom of the Son is best understood as the kingdom of God as it is manifest [sic!] during the interim between the resurrection of Christ and the Parousia“. 371 So z. B. auch Garland, 1 Corinthians, 704.710; E. J. Schnabel, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, HTA.NT, Wuppertal: Brockhaus, 2006, 930–932. 372 Zu einem Forschungsüberblick vgl. z. B. C. E. Hill, „Paul’s Understanding of Christ’s Kingdom in I Corinthians 15:20-28“, in: NT 30.4/1988, 297f; M. E. Taylor, 1 Corinthians, NAC 28, Nashville, TN: B&H Publishing Group, 2014, 388, Anm. 135; zu einem Überblick über die frühe Exegese von 1.Kor 15,24–28 vgl. E. Schendel, Herrschaft und Unterwerfung Christi. 1. Korinther 15,24−28 in Exegese und Theologie der Väter bis zum Ausgang des 4. Jahrhunderts, BGBE 12, Tübingen: Mohr Siebeck, 1971; neuerdings äussern sich z. B. folgende Exegeten kritisch bis ablehnend gegenüber einer millenialistischen Deutung von 1.Kor 15,24: W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1. Kor 11,17−14,40, EKK 7/3, Zürich/Neukirchen: Benziger/Neukirchener, 1991, 170f; Garland, 1 Corinthians, 710; R. E. Ciampa; B. S. Rosner, The First Letter to the Corinthians, PNTC, Grand Rapids, MI: Eerdmans, 2010, 766. 373 Vgl. dazu z. B. Schnabel, 1. Korinther, 930. 374 Der Singular basileu,sei in Offb 11,15 bezieht sich wohl nicht nur auf Gott, sondern auch auf Christus (so z. B. auch C. R. Koester, Revelation. A New Translation with Introduction and Commentary, AYB 38A, New Haven: Yale University Press, 2014, 514f); für den Bezug auf Jesus als dem „Gesalbten“ Gottes sprechen u. a. die Verheissungen einer ewigen Herrschaft in 2.Sam 7,13 und Dan 7,14 (ebd., 515); möglicherweise will der Singular polytheistische Missverständnissen vorbeugen (vgl. Bauckham, Theology, 60f).
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Wie in den Evangelien, so findet sich auch im restlichen Neuen Testament eine Spannung zwischen einer himmlischen und einer irdischen Dimension der Basileia Gottes bzw. Christi. In 2.Tim 4,18 ist die Rede von einem (zukünftigen) Hineingerettet-Werden in ein „himmlisches Königreich“ (eivj th.n basilei,an […] th.n evpoura,nion). Nach Offb 11,15 befindet sich das zukünftige ewige Königreich Gottes bzw. seines Christus auf der (neugeschaffenen?) Erde, insofern es die basilei,a tou/ ko,smou ist (vgl. 5,10: basileu,sousin evpi. th/j gh/j!).375 Gleiches lässt auch Jak 2,5 vermuten. Jak lehnt sich mit den „Armen“ (tou.j ptwcou,j) als „Erben des Königreiches“ (klhrono,mouj th/j basilei,aj) nämlich sehr wahrscheinlich sowohl an Mt 5,3 (oi` ptwcoi. […] auvtw/n evstin h` basilei,a tw/n ouvranw/n) als auch an 5,5 (oi` praei/j […] klhronomh,sousin th.n gh/n) an376 und lokalisiert so – wie eventuell auch schon Jesus 377 – das „Himmelreich“ auf der „Erde“.378 c. Die Basileia im Hebräerbrief Im Hebräerbrief kommt basilei,a neben 12,28 lediglich noch zweimal vor: in 1,8 und 11,33. In 11,33 bemerkt der Verfasser, dass die in V.32 erwähnten Glaubenszeugen – wohl primär David – dia. pi,stewj „Königreiche niedergerungen“ haben.379 In 1,8f zitiert der auctor ad Hebraeos PsLXX 44,7f und interpretiert die Verse als einen Zuspruch Gottes an seinen Sohn (vgl. die Zitateinleitung pro.j de. to.n ui`o,n). In Hebr 1,8 spricht er dabei vom r`a,bdw| th/j basilei,aj sou380. Mit Blick auf das „Zepter“ (r`a,bdoj) übersetzen viele Exegeten Basileia zurecht mit „Königsherrschaft“ bzw. „Königtum“.381 Jesus übt also nach Hebr 1,8 eine Königsherrschaft aus (vgl. th/j basilei,aj sou). Da der in demselben Vers erwähnte „Thron“ des Sohnes (vgl. o` qro,noj sou) offenbar als Metapher für diese Basileia zu verstehen ist, erscheint sie als eine bis in alle Ewigkeit dauernde Königsherrschaft (eivj to.n aivw/na tou/ 375
Vgl. z. B. Bauckham, Theology, 67: „The role of Christ in Revelation is to establish God’s kingdom on earth: in the words of 11:15, to turn ‚the kingdom of the world“ (currently ruled by evil) into ‚the kingdom of our Lord and his Messiah‘. This is a work of both salvation and judgment. […] It is also a process which begins with his earthly life and death and ends with his parousia“. 376 Zur Parallelität der ersten und dritten Seligpreisung vgl. z. B. France, Matthew, 166. 377 Mit klhronomh,sousin th.n gh/n ist offenbar das eschatologische Erben der ganzen „Welt“ gemeint (vgl. z. B. D. L. Turner, Matthew, BECNT, Grand Rapids, MI: Baker Academic, 2008, 151; zu frühjüdischen Parallelstellen vgl. Keener, Matthew, 167). 378 Zu einer irdischen Deutung von Jak 2,5 vgl. z. B. auch McCartney, James, 141f. 379 Vgl. Rose, Wolke, 307. 380 Zum Vorzug von sou (z. B. A, D und Y) vor autou/ (z. B. P46, a und B) vgl. Grässer, Hebräer I, 83f und Steyn, Quest, 93–96. 381 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer,21 („Scepter [sic!] deiner Königsherrschaft“); Grässer, Hebräer I, 70 („Zepter deiner Königsherrschaft“); Karrer, Hebräer I, 126 („Zepter seiner Königsherrschaft“); Backhaus, Hebräerbrief, 91 („Zepter seines Königtums“).
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aivw/noj).382 Wenn man nach dem Beginn dieser Königsherrschaft fragt, so liegt die Antwort mit Blick auf Hebr 1,13 (PsLXX 109,1) in Verbindung zu Hebr 5,6 (PsLXX 109,4) auf der Hand: Bei der Erhöhung (vgl. Hebr 5,6–10!) setzt sich Jesus auf den Herrscherthron zur Rechten des Vaters und wird ein Priesterkönig383 (man beachte dazu auch den Vergleich von Jesus und Melchizedek in 7,1–3; letzterer ist „Priester Gottes“ und „König der Gerechtigkeit“ [vgl. 1,9!] bzw. „König des Friedens“). Für die Himmelfahrt als Zeitpunkt der Inauguration der Basileia Christi spricht auch die auf Jesus als Davidide (vgl. Hebr 1,5b!) übertragene Proklamation des neuen Königs durch Gott384 in Hebr 1,5a (ui`o,j mou ei= su,( evgw. sh,meron gege,nnhka, se, vgl. PsLXX 2,7), insofern sie nach Hebr 5,5 (o` Cristo.j ouvc e`auto.n evdo,xasen genhqh/nai avrciere,a avllV o` lalh,saj pro.j auvto,n) in diesem Moment stattgefunden hat. Die gegenwärtige Königsherrschaft des Sohnes ist aber nach dem Hebr offenbar keineswegs in vollendetem Zustand.385 Sie muss im Eschaton in der/einer „irdischen“ Wirklichkeit so weit ausgedehnt werden, dass die dort gegenwärtig noch herrschenden Feinde unterworfen sind (vgl. 1,13; 2,5.8; 10,13). Erst dann, wenn der gegenwärtig thronende „Erbe aller Dinge“ (1,2) und „Erstgeborene“ (1,6; nach PsLXX 88,28 identisch mit dem „Höchsten unter den Königen der Erde“) bei seiner Parusie in die oivkoume,nh eingeführt wird (vgl. Hebr 1,6) und sein rechtmässiges Erbe auf der „Erde“ antritt386, wird seine Königsherrschaft bzw. sein Königreich allumfassend und damit vollendet sein.387
382 So z. B. auch Cockerill, Hebrews, 110: „This ‚God‘ is the one exalted to the Father’s right hand whose rule is truly eternal, for his ‚throne is forever and ever‘“. 383 Vgl. D. R. Anderson, The King-Priest of Psalm 110 in Hebrews, SBL.StBL 21, New York: P. Lang, 2001, 291: „Ps 110:1 is used by the writer to the Hebrews to develop and confirm the Son as King. He is portrayed in Hebrews 1 as the Davidic King who presently rules from his exalted position on high; „Ps 110:4 is used by the writer to the Hebrews to develop and confirm the Son as Priest“; „Ps 110:1 was used by the writer to the Hebrews to establish his main point: Jesus was not just King and not just a Priest – he was a King-Priest, the greatest leader anyone could ever follow“. 384 Vgl. PsLXX 2,6: evgw. de. katesta,qhn basileu.j u`pV auvtou/ evpi. Siwn, vgl. auch Hossfeld; Zenger, Psalmen I, 52 zu Ps 2,7: „Mit dem in 7 zitierten ‚Beschluss‘ […] wird auf das sog. Königsprotokoll angespielt, eine Art königliche Amtsurkunde, die bei der Inthronisation vorgelesen und übergeben wurde“. 385 Gegen Hofius, Christushymnus, 95: „Der Weg des Sohnes aus der Höhe in die Tiefe und aus der Tiefe in die Höhe ist der Weg, auf dem Gott selbst seine Königsherrschaft endgültig und allumfassend durchgesetzt hat“. 386 Vgl. dazu Stolz, „Einführen“, 421f. 387 Vgl. z. B. Michel, Hebräer, 138f zu Hebr 2,8: „Jetzt ist die Offenbarung der Weltherrschaft des Christus noch nicht geschehen. […] Die Gegenwart liegt zwischen der noch nicht erfüllten Weltherrschaft und der schon geschehenen Erniedrigung und Erhöhung“; sowie B. Klappert, Die Eschatologie des Hebräerbriefs, TEH 156, München: Kaiser, 1969, 22f: „Wie Ps 2,8 dem israelitischen König bei seiner Inthronisation die Heiden zum Erbe und die
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d. Die Bedeutung der „unerschütterlichen Basileia“ Dass der Verfasser des Hebräerbriefs nie von der Basileia Gottes redet, sondern nur von jener des Sohnes (vgl. 1,8f; implizit auch z. B. in 1,2f.5f.13; 2,5.8; 10,12f), spricht dafür, dass er in 12,28 nicht primär an die göttliche Basileia388, sondern die Basileia Christi denkt389, wie sie sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft im Neuen Testament mehrfach belegt ist. Freilich kann eine Königsherrschaft des Sohnes eine (Mit-)Herrschaft von Gott als König nie ausschliessen. Wenn Jesus sich zur Rechten des Vaters auf den Herrscherthron setzt (vgl. 1,2.13; 8,1; 10,12; 12,2), so impliziert dies das Königtum Gottes. Gott regiert demnach mit dem Sohn390 – oder besser noch: Gott regiert durch den Sohn391 (vgl. auch die theozentrische Vision von Hebr 12,22–24). Dass der Verfasser den Fokus auf die zukünftige Durchsetzung der gegenwärtigen Königsherrschaft des Sohnes legt (vgl. 1,6.13; 2,5.8; 10,13) – auch die Betonung des nahen Endes verdeutlicht dies (vgl. z. B. 10,37!) –, macht es wahrscheinlich, dass es ihm in Hebr 12,28 nicht um die gegenwärtig existierende Basileia geht392, sondern um die zukünftige, vollendete393. Dies belegt auch der alttestamentliche Prätext DanLXX 7,18 sowie die Bezeichnung der Basileia als avsa,leutoj. Letztere schafft einen Bezug zur futurisch-eschatologischen universalen Erschütterung (vgl. Hebr 12,27) und lässt die Basileia als eine bei oder nach der Erschütterung offenbarte394 erscheinen. Gewiss: Die zukünftige Basileia ist untrennbar mit der gegenwärtigen verknüpft, weil jetzt wie dann Gott durch Christus regiert und das zukünftige Königtum lediglich eine Durchsetzung bzw. Ausweitung des gegenwärtigen ist.395 Enden der Erde zum Besitz verheisst, so ist auch Christus noch auf dem Wege zur endzeitlichen Durchsetzung seiner Herrschaft (2,8; 10,13) und wartet, bis Gott ihm die Feinde zu seinen Füssen legt (1,13)“. 388 Vgl. Cockerill, Hebrews, 670 („rule of God“; „reign of God“). 389 So spricht z. B. Hurst von „the messianic kingdom“ (vgl. Hurst, „Eschatology“, 73); siehe auch Mackie, Eschatology, 73: „[W]e can assume that the author sees this basilei,an avsa,leuton as ruled by the high priest Jesus“. 390 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 557: „the rule of God and Christ“. 391 Hegermann spricht von der „nie mehr endenden Herrschaft Gottes in Christus“ (vgl. Hegermann, Hebräer, 264). 392 Vgl. z. B. Attridge, Hebrews, 382; H.-F. Weiss, Hebräer, 693; Schunack, Hebräerbrief, 216; Eisele, Reich, 124f; Portalatin, Temporal, 167. 393 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 425 und Hegermann, Hebräer, 264; andeutungsweise auch Strobel, Hebräer, 242 („Am ‚Ende aller Dinge‘ steht kein abstraktes göttliches Sein, sondern die Herrschaft Gottes als lebenerfülltes [sic!] Reich“). 394 Vgl. z. B. Hofius, Katapausis, 142 und Rose, „Verheissung“, 185. 395 Ähnlich z. B. auch Hughes, Hebrews, 559: „The manifestation of his kingdom in the fulness of its imperishable splendor awaits the glorious appearance of Christ; but even so it is already a reality: Jesus is already enthroned at the right hand of the Majesty on high“; sowie Kibbe, Fear, 180: „Jesus currently reigns in the heavenly realm, but his reign must also extend elsewhere (1:13)“ – mit „elsewhere“ meint Kibbe offenbar die oivkoume,nhn th/n
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Dass der auctor ad Hebraeos gemäss 1,6; 2,5 und 10,13 die Aufrichtung bzw. Durchsetzung der Königsherrschaft des Sohnes in der/einer „irdischen“ Wirklichkeit erwartet, spricht dafür, dass er in 12,28 nicht – wie oft postuliert – von einem rein himmlischen Königreich ausgeht 396, sondern von einer Basileia, die auch die Erde bzw. die neue Erde umfasst 397. Ähnlich schreibt neuerdings auch Kibbe: „[L]ikely the unshakable kingdom is itself the oivkoume,nhn th/n me,llousan“398, wobei er die zukünftige Welt offenbar in gewisser Weise auch als eine gereinigte irdische Welt versteht399. Eine (neu-)„irdische“ Basileia entspricht auch der Verheissung in DanLXX 7,18 als dem Prätext von Hebr 12,28 sowie urchristlichen Heilserwartungen (vgl. z. B. Mt 19,28 und Offb 11,15). Die endzeitlich-universale Königsherrschaft des Sohnes in Hebr 12,28 ist nun kaum mit dem in Offb 20,4.6 beschriebenen Millennium400 gleichzusetzen,
me,llousan, die nach ihm mit der unerschütterlichen Basileia gleichzusetzen ist (vgl. Kibbe, Fear, 180). 396 Vgl. z. B. Kuss, Hebräer, 204f; Braun, Hebräer, 445; H.-F. Weiss, Hebräer, 693; Grässer, Hebräer III, 337; Eisele, Reich, 125; Schenck, Cosmology, 131; Thompson, Hebrews, 269; Backhaus, Hebräerbrief, 454; Stewart, „Cosmology“, 550f. 397 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 264; Lincoln, Hebrews, 99f; Witherington, Hebrews, 346. 398 Kibbe, Fear, 180. 399 Vgl. ebd., 179f. 400 Offb 20,1−6, wo das 1000-jährige Gebunden-Sein des Teufels und die 1000-jährige Königsherrschaft von Christus und den Seinen erwähnt wird, wird in der Forschung bis heute verschieden gedeutet. Nach vielen Exegeten beginnt das Millennium Christi nach dessen Parusie (vgl. z. B. Mounce, Revelation, 363−371; B. Witherington, Revelation, NCBC, Cambridge: Cambridge University Press, 2003, 247−250; T. J. Bauer, Das tausendjährige Messiasreich der Johannesoffenbarung. Eine literarkritische Studie zu Offb 19,11–21,8, BZNW 148, Berlin: de Gruyter, 2007, 348f; Resseguie, Revelation, 244f; Thiessen, Gott, 179−182). Einige Vertreter dieser Interpretation verstehen das Millennium als eine irdische Herrschaft (vgl. z. B. G. Maier, Die Offenbarung des Johannes. Kapitel 12-22, HTA.NT, Witten: Brockhaus, 2012, 389), andere als eine himmlische Basileia (vgl. z. B. Giesen, Offenbarung, 432−434); nach gewissen Auslegern lässt der Verfasser der Offenbarung den Ort der Herrschaft offen (vgl. z. B. Satake, Offenbarung, 391). Andere Exegeten lehnen die prämillennialistische Deutung von Offb 20,1ff ab und argumentieren, dass das Millennium bereits mit dem ersten Kommen Christi bzw. mit seiner Auferstehung begonnen hat und mit seiner Parusie enden bzw. in eine ewige Herrschaft übergehen wird (vgl. z. B. A. A. Hoekema, „Amillennialism“, in: R. G. Clouse (Hg.), The Meaning of the Millennium. Four Views, Downers Grove, IL: Inter-Varsity Press, 1977, 155−187; G. K. Beale, John’s Use of the Old Testament in Revelation, JSNT.S 166, Sheffield: Sheffield Academic, 1998, 356−393; Beale, Revelation, 972−1021; C. H. Giblin, „The Millennium (Rev 20.4-6) as Heaven“, in: NTS 45.4/1999, 553–570; Pattemore, People, 106−113; Smalley, Revelation, 502−504; ähnlich auch R. A. Campbell, „Triumph and Delay: The Interpretation of Revelation 19:11-20:10“, in: EQ 80.1/2008, 3−12).
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wie dies Oberholtzer postuliert401. Denn ihr Unerschütterlich-Sein (avsa,leutoj) bedeutet gemäss 12,27 ihr ewiges Bleiben (vgl. i[na mei,nh| ta. mh. saleuo,mena), was von einem begrenzten402 tausendjährigen Reich (vgl. Offb 20,7f!) nicht gesagt werden kann. Die „unerschütterliche Basileia“ ist vielmehr die ewige Königsherrschaft des Sohnes (vgl. auch Lk 1,33; 2.Petr 1,11; Offb 11,15) bzw. die ewige Königsherrschaft Gottes durch den Sohn über die kommende, neugeschaffene Welt (Hebr 2,5; ↑ B.VI.3.3.5).403 Als solche ist sie eine Erfüllung der göttlichen Zusage in Hebr 1,8, dass die Herrschaft (= o` qro,noj) des Sohnes in alle Ewigkeit Bestand haben wird (eivj to.n aivw/na tou/ aivw/noj). Wenn man sich fragt, ob der Verfasser des Hebräerbriefs die endzeitliche basilei,a des Sohnes in Hebr 12,28 dynamisch als „Königsherrschaft“404 oder räumlich als „Königreich“405 verstanden hat, so ist mit Blick auf den Prätext DanLXX 7,18 und die Anknüpfung an Hebr 1,8 klar, dass für ihn der Aspekt des Königtums Jesu im Mittelpunkt stand. Dass bei der unerschütterlichen Basileia aber in zweiter Linie – wie wohl auch im alttestamentlichen Prätext DanLXX 7,18 – auch an das Gebiet bzw. den Ort der Königsherrschaft zu denken ist, verdeutlicht die Schilderung des endzeitlichen Wohnortes Gottes, seines Sohnes und der Gläubigen in Hebr 12,22–24. Dass der Verfasser mit der basilei,a| avsaleu,tw| an die kurz zuvor ausgemalte VIerousalh.m evpoura,nion anknüpft, liegt auf der Hand. Denn nur so erklärt sich sowohl das unvermittelte Einführen der Basileia als Quintessenz der mh. saleuome,nwn als auch das auffallende Fehlen einer näheren Beschreibung derselben.406 Kaum sind die Basileia und das „himmlische Jerusalem“ aber total synonym zu verstehen. 407 Vielmehr scheint 401
Vgl. Oberholtzer, „Warning V“, 73: „The kingdom the believers will receive is the millennial kingdom in which they will reign and rule as me,tocoi (,companions‘) with the Messiah-King (Rev 20:1–6)“. 402 Selbst Blount, der die 1000 Jahre nicht wörtlich, sondern symbolisch versteht („symbolic rather than literal“), betont: „John meant to suggest a time that, though lengthy, was transitory“ (vgl. Blount, Revelation, 366; Hervorhebung von mir); gegen Giesen, Offenbarung, 434. 403 Das in 1.Kor 15,24 erwähnte Übergeben der Königsherrschaft an den Vater durch Christus spricht nicht gegen eine fortwährende, ewige Basileia des Sohnes; vgl. die überzeugende Argumentation bei C. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2. Aufl., 2000, 387 und Ciampa; Rosner, I Corinthians, 766. 404 So übersetzt als einer der wenigen z. B. Karrer, Hebräer II, 310. 405 Diese Übersetzung haben z. B. Michel, Hebräer, 469 und Backhaus, Hebräerbrief, 450; ähnlich z. B. März, Hebräerbrief, 80, H.-F. Weiss, Hebräer, 684; Grässer, Hebräer III, 327; Schunack, Hebräerbrief, 211, die alle den Begriff mit „Reich“ wiedergeben. 406 Vgl. zudem den berechtigten Hinweis von Johnson, dass in der Antike basilei,a und po,lij im Zusammenhang gesehen wurden und auch das römische Reich von einer einzelnen Stadt aus die Herrschaft über die bekannte Welt ausdehnte (vgl. Johnson, Hebrews, 336). 407 Gegen Montefiore, Hebrews, 236; Lane, Hebrews II, 486 und Cockerill, Hebrews, 670.
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die Basileia die Gottesstadt mit einzuschliessen408, aber darüber hinaus die ganze Welt zu umfassen (vgl. DanLXX 7,18 und Hebr 2,5; vgl. auch die Völkerwallfahrt zum himmlischen Jerusalem auf der „Erde“ in Offb 21,24–26). Auf jeden Fall macht die Verbindung von Basileia mit dem eschatologischen Wohn-Ort in Hebr 12,22 deutlich, dass für den Verfasser neben dem dynamischen zweitrangig auch der räumliche Aspekt des Begriffs präsent ist. Wenn nun die Bedeutung der Basileia geklärt ist, stellt sich sogleich die Frage, wie das Empfangen derselben durch den Verfasser und die Adressaten zu verstehen ist. e. Was heisst es, dass die Gläubigen die Basileia „empfangen“? Das Verb paralamba,nein kann neben der (passiven) Bedeutung „empfangen“ auch die (aktive) Bedeutung von „(zu sich) nehmen“ haben.409 In Hebr 12,28 sind sich die Exegeten aber zurecht einig, dass die Basileia nicht etwas ist, das sich die Gläubigen selbst nehmen, sondern das sie von Gott bzw. Jesus „in Empfang nehmen“410, d. h. als Geschenk erhalten411 (vgl. auch DanLXX 7,18 mit 7,27: th.n basilei,an […] e;dwke law/| a`gi,w| u`yi,stou). Umstritten ist aber die Bedeutung dieses Empfangens. Ein Teil der Exegeten versteht unter dem verheissenen Empfangen der unerschütterlichen Basileia (basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej) das Empfangen eines Platzes im Königreich bzw. das Eingehen in dasselbe. So schreibt z. B. Koester in Bezug auf den Hebr und seine Empfänger: „[T]hey receive a Place in God’s kingdom, under the rule of God and Christ“.412 Cockerill seinerseits sagt zur Wendung basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej: „[I]t refers to final and complete entrance into the permanent and unshakable rule of God“.413 Der andere Teil der Exegeten versteht unter dem paralamba,nein der Basileia das Empfangen der Königsherrschaft im Sinn eines Mit-Herrschens mit Gott bzw. Jesus. So schreibt z. B. Michel: „Die Gemeinde tritt die Herrschaft an“.414 408 Vgl. Richardson, Pioneer, 180: „[T]he unshakable kingdom of God […] incorporates and presupposes the heavenly Jerusalem or city of God“. 409 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1251f. 410 So z. B. Backhaus, Hebräerbrief, 450; für die englischsprachige Literatur vgl. z. B. Cockerill, Hebrews, 660 („we are receiving“). 411 Vgl. z. B. O’Brien, Hebrews, 498: „[T]his unshakable kingdom is a divine gift“; ähnlich auch Witherington, Hebrews, 436. 412 Koester, Hebrews, 557; ähnlich O’Brien, Hebrews, 499: „The author and his listeners receive from God a safe place where he reigns forever“; vgl. z. B. auch Ellingworth, Hebrews, 690. 413 Vgl. Cockerill, Hebrews, 670; ähnlich z. B. auch Westcott, Hebrews, 421 und Grässer, Hebräer III, 337. 414 Michel, Hebräer, 476; ähnlich z. B. auch Bauer, Wörterbuch, 1252; Strobel, Hebräer, 243f und Karrer, Hebräer II, 344.
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Mit Blick auf die festgestellte Doppeldeutigkeit von basilei,a („Königreich“ und „Königsherrschaft“) in Hebr 12,28 darf man davon ausgehen, dass ihr Empfangen-Werden beide Aspekte miteinschliesst415: Die Gemeinschaft der Gläubigen empfängt die Basileia als ewigen Besitz (vgl. DanLXX 7,18 [kaqe,xousi th.n basilei,an e[wj tou/ aivw/noj kai. e[wj tou/ aivw/noj tw/n aivw,nwn] mit Hebr 10,34 [e;cein e`autou.j krei,ttona u[parxin kai. me,nousan]), was für sie sowohl das Zutritts- bzw. Verweilrecht in dem Königreich (vgl. Hebr 4,3: eivserco,meqa ga.r eivj Îth.nÐ kata,pausin) als auch das Recht mitzuherrschen umfasst. In Hebr 12,28 liegt die Betonung allerdings mehr auf dem Aspekt der Mitherrschaft der Gläubigen.416 Denn im alttestamentlichen Prätext DanLXX 7,18 geht es gemäss V.14 bzw. V.27 primär um das Empfangen der Basileia, um sie innezuhaben bzw. auszuüben. Dazu kommt, dass das Verb paralamba,nein mit dem Objekt basilei,a sowohl in der LXX als auch in der Umwelt als terminus technicus für den Herrschaftsantritt eines Königs gebraucht wurde (vgl. z. B. DanLXX 6,1.29; 2.Makk 4,7; 10,11; Arist 36; Joseph., Ant. 8,2; 9,29.157.173 u. ö.; vgl. auch Lk 19,12 [labei/n e`autw/| basilei,an] mit 19,27 [me basileu/sai evpV auvtou,j]).417 Weiter ist die (königliche) Mitherrschaft der Gläubigen im Neuen Testament ein wichtiges Thema (vgl. z. B. Mt 19,28; Mk 10,35–45; 1.Kor 4,8; 6,2f; Röm 5,17; Eph 1,20−23; 2,6; 2.Tim 2,12; Offb 1,6.9; 5,10; 20,4–6; 22,5).418 Der Verfasser sieht also sich und seine Adressaten die Mitherrschaft mit Christus zugeteilt. Die Frage ist nun, wann die Gläubigen „ihre“ Basileia bzw. den Platz in derselben bzw. die Mitherrschaft empfangen. Will der Verfasser mit dem Partizip Präsens (paralamba,nontej) sagen, dass dies jetzt in der Gegenwart abschliessend geschieht419 oder gar bereits geschehen ist420? Angesichts der Tatsache, dass die Heilsvollendung nach dem Hebr noch aussteht, ist dies kaum
415 So z. B. auch Hegermann, Hebräer, 264: „Dabei sind die erlösten Menschen für eine Teilhabe einerseits an Gottes eschatologischer Herrschaft bestimmt […], andererseits an den Heilsgaben des eschatologischen Gottesreiches“. 416 Gegen Hegermann, nach dem „der Aspekt der Heilsteilhabe wohl überwiegt“ (vgl. Hegermann, Hebräer, 264). 417 Zu einer Stelle in der griechischen Umwelt vgl. Schnelle, Neuer Wettstein II, 1230. 418 Vgl. dazu z. B. Roose, Mitherrschaft; H. Roose, „Sharing in Christ’s Rule: Tracing a Debate in Earliest Christianity“, in: JSNT 27.2/2004, 123–148; möglicherweise ist auch beim Motiv des Erbens der Basileia (vgl. z. B. Gal 5,21; 1.Kor 6,9f; 15,50; Jak 2,5) der Gedanke der Mitherrschaft miteingeschlossen (vgl. Röm 8,17!); so spricht z. B. McCartney in Bezug auf die klhrono,moi th/j basilei,aj in Jak 2,5 vom „sharing in the rule of God on earth“ (vgl. McCartney, James, 141f). 419 Karrer spricht z. B. von der „Herrschaft, die die Gemeinde jetzt, in der Gegenwart, empfängt“ (vgl. Karrer, Hebräer II, 344). 420 So z. B. Johnson, Hebrews, 327.336: „[W]e have received an unshakable kingdom“.
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der Fall.421 Auch in Hebr 4,3 verwendet der Verfasser für ein zukünftiges Ereignis eine Präsensform (vgl. eivserco,meqa ga.r eivj Îth.nÐ kata,pausin in 4,3 mit 4,1, wonach die Verheissung, in die Ruhe einzugehen, „noch aussteht“422). Die Präsensform erklärt sich zunächst durch die Naherwartung des Hebräerautors (vgl. 10,37!). Die Gläubigen stehen unmittelbar kurz davor, d. h. sie sind im Begriff, die Basileia vollständig zu empfangen. 423 In zweiter Hinsicht darf man das Präsens aber durchaus auch als Ausdruck eines angefangenen Prozesses verstehen424: Die Gläubigen sind daran, die Basileia zu empfangen.425 Durch ihre Bekehrung bzw. Taufe sind die Christen unter der Vermittlung des Heiligen Geistes (6,4) in eine Verbindung mit den „Kräften des zukünftigen Zeitalters“ (vgl. 6,5: duna,meij te me,llontoj aivw/noj) gekommen und damit auch zur futurisch-eschatologischen Basileia des Sohnes (damit steht para-lamba,nontej in gewisser Weise parallel zu proselhlu,qate in 12,22). Auch wenn das vollständige Empfangen der unerschütterlichen Basileia freilich erst bei der Wiederkunft Christi426 und der damit einhergehenden Kosmos-Erschütterung geschieht, so scheint mir die Präsensform doch auch andeuten zu wollen, dass die Gläubigen jetzt schon im Geist mit dem erhöhten Christus in dieser Basileia mitherrschen (vgl. z. B. auch Eph 1,20–23; 2,6427), die endzeitlich auf die ganze Welt ausgedehnt werden wird. Zuletzt will der Verfasser mit der Präsensform den (standhaften) Adressaten gewiss auch versichern, dass der zukünftige, abschliessende Empfang der Basileia „schlechthin feststeht“. 428
421 Koester z. B. bemerkt zu Hebr 12,28a mit Recht, dass die Adressaten gemäss 13,14 immer noch auf die kommende himmlische Stadt warten müssen (vgl. Koester, Hebrews, 557). 422 Zur Übersetzung und Bedeutung von kataleipome,nhj evpaggeli,aj vgl. z. B. Grässer, Hebräer I, 198.200. 423 Vgl. z. B. auch Grässer, Hebräer III, 336: „Die Leser werden als solche angesprochen, die schon im Begriff sind, das unerschütterliche Reich ‚in Besitz zu nehmen‘“; vgl. auch Eisele, Reich, 124: „Er [sc. Gott] ist der König des unerschütterlichen Königreiches, das die Christen im Begriff sind zu empfangen“. 424 O’Brien spricht z. B. bezüglich des Empfangens von einem „process or action in progress“ (vgl. O’Brien, Hebrews, 498); vgl. auch Portalatin, Temporal, 167 („in process of being received“) und Witherington, Hebrews, 346 („in the process of receiving“). 425 Vgl. z. B. Koester, Hebrews, 556; Mitchell, Hebrews, 288 und O’Brien, Hebrews, 491, die paralamba,nontej alle mit „we are receiving“ übersetzen. 426 So richtig z. B. auch Cockerill, Hebrews, 670: „Those who persevere in obedience are even now in process of receiving the ‚Kingdom that is unshakableʻ, which they will enter at Christ’s return“. 427 Vgl. z. B. Roose, Mitherrschaft, 307 zu den Epheser-Stellen: „Sie [sc. die Gemeinde] steht damit – in herrschaftlichem Kontext – über der Welt und […] herrscht mit über sie“. 428 So treffend Strathmann, Hebräer, 152.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Weil die Gläubigen im Begriff sind, die Basileia zu empfangen bzw. im Geist schon daran Anteil haben429, soll nun gemäss dem Verfasser bei ihnen etwas Besonderes vorhanden sein: ca,rij. 3.4.2 e;cwmen ca,rin – „lasst uns Dankbarkeit haben“ Dass der Verfasser den Konjunktiv e;cwmen ca,rin (vgl. z. B. P46c, A, C und D) und nicht den Indikativ e;comen ca,rin (vgl. z. B. P46*, a und K) verwendet hat, scheint u. a. mit Blick auf Hebr 10,19–25, wo auch eine Schlussfolgerung mit Partizipialsatz mit drei Hortativen vorliegt, naheliegend zu sein.430 Die Frage ist aber, was ca,rin als Objekt zu e;cwmen bedeutet. Weil der auctor ad Hebraeos den Begriff ca,rij in der Bedeutung von „(göttlicher) Gnade“ relativ oft verwendet (vgl. 2,9; 4,16 [zweimal]; 10,29; 12,15; 13,9.25), könnte man zunächst meinen, er fordere die Adressaten auf, Gnade zu haben (vgl. z. B. Spicq: „ayons la grâce“431). Gegen diese Deutung wendet Eisele aber mit Recht ein: „[D]as Haben der Gnade ist eo ipso ein Geschenk, so dass man dazu nicht aufrufen kann“.432 Diesem Problem weicht Karrer geschickt aus, indem er dio. […] e;cwmen ca,rin mit „darum wollen wir […] die Gnade festhalten“ übersetzt.433 Diese Interpretation ist zwar möglich. Sie scheint mir aber kaum die richtige zu sein, weil man dann kata,scwmen (vgl. Hebr 3,6.14) bzw. kate,cwmen (vgl. 10,23) anstatt e;cwmen hätte erwarten dürfen. 434 Mit Recht versteht die grosse Mehrheit der Exegeten unter e;cwmen ca,rin eine Aufforderung zur Dankbarkeit. Ca,rin e;cein ist nämlich eine feste Wendung für „dankbar sein“435 (vgl. z. B. 2.Makk 3,33; 3.Makk 5,20 [u[pnw| ca,rin e;cein]; Lk 17,9; 1.Tim 1,12; 2.Tim 1,3 [ca,rin e;cw tw/| qew/|]; Joseph., Ant. 2,162.339; 5,13.30; 6,278.303.316 u. ö.). ;Ecwmen ca,rin übersetzt man darum am besten mit „lasst uns dankbar sein“436 oder – besser noch (vgl. das das No-
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Das participium coniunctum basilei,an avsa,leuton paralamba,nontej hat sehr wahrscheinlich eine kausale Sinnrichtung (so z. B. auch Grässer, Hebräer III, 327 und Lane, Hebrews II, 438). 430 Vgl. Eisele, Reich, 122; für die Konjunktiv-Lesart entscheidet sich die überragende Mehrheit: vgl. z. B. Lane, Hebrews II, 443, Anm. fff; Koester, Hebrews, 557; Johnson, Hebrews, 328, Anm. q; Backhaus, Hebräerbrief, 450; zu den älteren Exegeten, die sich für e;comen aussprechen, vgl. Bleek, Hebräer III, 975f. 431 Spicq, Hébreux II, 413. 432 Eisele, Reich, 121; so auch Cockerill, Hebrews, 671, Anm. 47. 433 Vgl. Karrer, Hebräer II, 310; vgl. auch Montefiore, Hebrews, 236: „[L]et us hold on to God’s Grace“. 434 So richtig schon Bleek, Hebräer III, 975. 435 Vgl. Bauer, Wörterbuch, 1752. 436 Vgl. z. B. Riggenbach, Hebräer, 425; Michel, Hebräer, 469; Witherington, Hebrews, 339 („let us be grateful“); O’Brien, Hebrews, 491 („let us be thankful“); Cockerill, Hebrews, 660 („let us be thankful“).
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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men ca,rij aufgreifende diV h-j) – „lasst uns Dankbarkeit haben“. Weil der Verfasser von einer Dankbarkeit gegenüber Gott ausgeht, die Auswirkungen haben soll (vgl. das folgende diV h-j latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/|, vgl. auch Hebr 13,15: avnafe,rwmen qusi,an aivne,sewj dia. panto.j tw/| qew/|), ist es aber sicher auch nicht falsch, wenn man mit „lasst uns Dankbarkeit bezeigen“437 bzw. „lasst uns […] Dank erweisen“438 übersetzt. Mit der Aufforderung, dankbar zu sein, knüpft der Verfasser an eine wichtige urchristliche Botschaft an439: Christen sollen für alles allezeit Gott dankbar sein bzw. ihm Danksagung bringen (vgl. z. B. Eph 5,20; Kol 3,17; 1.Thess 5,18). Vor allem aber gehört Gott Dank für seine Heilsgabe(n) (vgl. z. B. 2.Kor 9,15: Ca,rij tw/| qew/| evpi. th/| avnekdihgh,tw| auvtou/ dwrea/| [= ca,riti tou/ qeou/, vgl. 9,16!]; ähnlich auch Röm 6,17; 1.Kor 1,4; 15,57; 2.Kor 1,11; 2,14; Kol 1,12), wie auch in Hebr 12,28 Dankbarkeit die Folge des „Empfangens“ des göttlichen Geschenks der Basileia sein soll. Zudem ist Undankbarkeit gegenüber Gott (neben der fehlenden Verherrlichung desselben) nach Paulus die Wurzel aller Sünde und Rebellion gegen Gott440 (vgl. Röm 1,21: ouvc w`j qeo.n evdo,xasan h' huvcari,sthsan). Aufgrund dessen ist klar, dass der Verfasser in seiner Ermahnung so viel Gewicht auf die Dankbarkeit legt: Er will nicht, dass die Adressaten wie Esau aufhören, ihre Heilsgabe wertzuschätzen, und sie so verlieren (vgl. Hebr 12,16f). Dankbarkeit ist für den Verfasser des Hebräerbriefs aber nicht nur etwas, das vor dem Abfallen (vgl. V.25) schützt, sondern auch eine (positive) Kraft, die zu wahrem Gottesdienst führt. 3.4.3 diV h-j latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| − „durch diese [Dankbarkeit] lasst uns Gott wohlgefällig dienen“ Mit dem betonten diV h-j („durch diese [Dankbarkeit]“) will der Verfasser offenbar zwei Dinge verdeutlichen: 1) Die Dankbarkeit gegenüber Gott ist die beste Grundlage für ein echtes, andauernd-treues Gott-Dienen441; 2) wenn der Gottesdienst von Dankbarkeit geprägt ist, ist Gott dies wohlgefällig (vgl. Hebr 13,15f!)442. 437 Vgl. z. B. Delitzsch, Hebräer, 661 und Grässer, Hebräer III, 327; DeSilva, Hebrews, 469 („let us show gratitude“). 438 Vgl. z. B. Schunack, Hebräerbrief, 211; Moffatt, Hebrews, 219 („let us render thanks“). 439 Die Bezüge zum antiken Patron-Wesen bzw. zu antiken Dankbarkeitsverpflichtungen, wie sie DeSilva sieht (vgl. DeSilva, Hebrews, 473–477), sind m. E. höchstens sekundär. 440 So z. B. Schreiner, Romans, 87 („fundamental sin“). 441 So richtig Cockerill, Hebrews, 672: „He [sc. Hebr] appealed to fear by warning them that rejection meant ultimate loss. The surest foundation, however, for a life of faithfulness is a profound sense of gratitude toward God for his goodness in offering his people unending fellowship with himself through his Son“; vgl. auch Karrer, Hebräer II, 346. 442 So treffend Grässer, Hebräer III, 337: „mit dem Dank dienen wir Gott wohlgefällig“.
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B. Exegese von Hebr 12,18−29
Auffallend ist, dass der Verfasser sich selbst in die Aufforderung, Gott wohlgefällig zu dienen, mit einschliesst (latreu,wmen443: „lasst uns dienen“). Mit Recht deutet Übelacker diese im Hebr relativ häufig vorkommende Form (vgl. z. B. 4,14; 10,22–24; 12,1) als rhetorisch-strategisch gewählt: „In Hebrews there are […] many admonitions in the first person plural as co-hortatives [sic!], whereby the author frequently and deliberately identifies himself with the audience, indicating that what he wishes the addressees to do, he himself is doing and prepared to do and thereby strengthening his relationship with the audience.“444
Die Frage ist nun, was mit der Ermunterung bzw. Ermahnung gemeint ist, Gott445 „wohlgefällig“ (euvare,stwj) zu „dienen“ (latreu,wmen). Eine Vielzahl von Exegeten versteht latreu,wmen als Aufforderung zum kultisch-priesterlichen Gottesdienst.446 Sehr viele spezifizieren diesen dabei als (gottesdienstliche/n) Lobpreis bzw. Danksagung. 447 Dieser kultischen Deutung von latreu,ein widerspricht Grässer vehement: „[D]as […] vom Hebr als kultischer Terminus gebrauchte Verb (8,5; 9,9.14; 10,2; 13,10) wird diesmal durch die adverbiale Bestimmung euvare,stwj paränetisch neutralisiert und auf die Ethik hin ausgerichtet.“448
Eine ausführliche Analyse zeigt, dass das Gott-wohlgefällig-Dienen nicht nur sowohl eine kultische als auch eine ethische Dimension hat, sondern sogar noch eine dritte: die Dimension des Glaubens. Beginnen wir mit dem kultischen Aspekt. 443 Diese Lesart von A, D, L u. a. ist jener von P46 (latreuswmen) bzw. von a u. a. (latreuomen) klar vorzuziehen: ein Konjunktiv scheint mit Blick auf e;cwmen ca,rin und die Hortativreihe in Hebr 10,19–25 wahrscheinlicher (gegen a), wobei die Präsensform mit durativem Aspekt im Kontext eines gottgefälligen Lebens mehr Sinn ergibt als die punktuelle Aoristform (gegen P46). 444 W. G. Übelacker, „Paraenesis or Paraclesis: Hebrews as Test Case“, in: J. M. Starr (Hg.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin, New York: de Gruyter, 2004, 323f. 445 Ob man tw/| qew/| auf das vorangestellte euvare,stwj bezieht (vgl. z. B. Ellingworth, Hebrews, 690f) oder auf latreu,wmen (vgl. z. B. Braun, Hebräer, 445), spielt sachlich keine Rolle. Andere Stellen zeigen, dass es dem Verfasser sowohl um ein Gott-Dienen (vgl. 9,14) als auch um ein Gott-Gefallen (vgl. 11,5f; 13,16) geht. Man darf tw/| qew/| darum durchaus sowohl auf euvare,stwj als auch auf latreu,wmen beziehen (vgl. auch Allen, Hebrews, 598). 446 So spricht z. B. Schierse in Bezug auf Hebr 12,28 von „kultischer Danksagung“ (vgl. Schierse, Verheissung, 183) und Michel von „priesterliche[m] Dienst“ (vgl. Michel, Hebräer, 477); nach Strobel „mag die Aussage [sc. latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/|] über alle Allgemeingültigkeit hinaus einen engen gottesdienstlichen Bezug haben (s. auch 10,25)“ (vgl. Strobel, Hebräer, 243). 447 Vgl. z. B. Robinson, Hebrews, 193: „To worship God acceptably, men must concentrate on thanksgiving“; vgl. auch Riggenbach, Hebräer, 425f; Buchanan, Hebrews, 225; Hegermann, Hebräer, 265; Pfitzner, Hebrews, 189; Ellingworth, Hebrews, 690 und Vanhoye, Hebrews, 397. 448 Grässer, Hebräer III, 338.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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a. Die Dimension des Kultus Das Verb latreu,ein mit der Grundbedeutung „dienen“ wird in der griechischen Literatur primär im Zusammenhang mit religiösen Pflichten und dabei insbesondere im Kontext von gottesdienstlichen Handlungen gebraucht.449 Im Hebr wird der Begriff sowohl allgemein für den Gottesdienst der levitischen Priester im Ersten Bund (vgl. 8,5; 13,10450) als auch spezifisch für den Opferkultus der Priester bzw. der darbringenden Gläubigen (vgl. 9,9451; 10,2) verwendet. In 9,14 spricht der Verfasser davon, dass das Blutsopfer Christi das Gewissen der Gläubigen von toten Werken reinigt, so dass sie dem lebendigen Gott „dienen“ können (eivj to. latreu,ein qew/| zw/nti). Dieses Gott-Dienen ist u. a. mit Blick auf Hebr 10,19–22, wo ebenso vom Blut Jesu und der Reinigung des Gewissens die Rede ist, gewiss auch kultisch zu verstehen: Die Gläubigen werden gereinigt, um (wie ehemals die Priester in das Allerheiligste zum Dienst getreten sind) in das himmlische Heiligtum Gottes hineinzugehen und ihm dort priesterlich dienen zu können (vgl. 10,19.22).452 Dass der Verfasser die Gläubigen des Neuen Bundes als Priester sieht, wird nicht nur durch das häufige Bild von ihrem Gott-Nahen oder Hineingehen in die göttliche Sphäre deutlich (vgl. z. B. 7,19.25; 10,19.22)453, sondern u. a. auch durch ihr Darbringen von geistlichen Opfern (vgl. 13,15f) sowie ihre Waschung und Blutsbesprengung (vgl. 10,22 mit Ex 29,5; Lev 8,6 bzw. Ex 29,21; Lev 8,30). Dieser priesterlich-kultische Gebrauch von latreu,ein in Bezug auf den Ersten Bund (Hebr 8,5; 9,9; 10,2; 13,10) sowie die neutestamentlichen Gläubigen (9,14) spricht dafür, dass auch die Aufforderung zum Gottesdienst in 12,28 eine kultische Dimension hat. Mit Blick auf das parallele e;cwmen ca,rin mag der Verfasser dabei zunächst an ein Gott-Dank-Opfern denken (vgl. 13,15: avnafe,rwmen qusi,an aivne,sewj dia. panto.j tw/| qew/|). Des Weiteren geht es ihm 449 In ExLXX 20,5; 23,24; DtnLXX 4,19; DanLXX 3,95 und Mt 4,10 z. B. steht latreu,ein parallel zum Verb proskunei/n, in grHen 10,23 parallel zu euvlogei/n und proskunei/n, in Apg 7,42 parallel zu prosfe,rein, in Röm 1,25 parallel zu seba,zesqai − vgl. auch Sir 4,14: oi` latreu,ontej auvth/| leitourgh,sousin a`gi,w|, sowie Lk 2,37: nhstei,aij kai. deh,sesin latreu,ousa. Nach Bauer, Wörterbuch, 949f wird latreu,ein „nur“ in Bezug auf religiöse bzw. gottesdienstliche Pflichten bzw. Handlungen verwendet; vgl. aber z. B. Xen., Cyrop. 3,1,36 oder Sib 4,104, wo es um ein gesellschaftliches bzw. politisches Dienen als Sklave geht. 450 Mit Recht sagt z. B. Backhaus zu den oi` th/| skhnh/| latreu,ontej: „Die dem irdischen Zelt dienenden sind zunächst natürlich die levitischen Priester, die sich ‚dem Altar widmen‘ (7,13). Die Tora gibt ihnen in vielen Fällen die sakrale Befugnis, ihre Anteile an den Opfergaben zu verzehren“ (vgl. Backhaus, Hebräerbrief, 471). 451 Dazu, dass to.n latreu,onta sowohl auf den Priester als auch auf den darbringenden Gläubigen zu beziehen ist, vgl. z. B. Grässer, Hebräer II, 136 und Lane, Hebrews II, 224. 452 Vgl. z. B. auch Karrer, Hebräer II, 159 zu Hebr 9,14: „Rein sind sie für den Dienst im Heiligtum des lebendigen Gottes“; vgl. auch Fuhrmann, Vergeben, 207–209. 453 Scholer spricht dabei von „cultic verbs describing their priestly access to God“ (vgl. Scholer, Priests, 204).
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aber offenbar auch um das Priester-Sein als umfassende Existenz. Wenn der Verfasser nämlich die Gläubigen – wie eben erwähnt – als Priester versteht und in 12,28 im gleichen Atemzug vom ihrem Empfangen der Basileia und ihrem kultisch-priesterlichen Dienen spricht, dann lehnt er sich (auch) an Ex 19,6 und das/die gottgewollte „Königreich/Königsherrschaft von Priestern“ (~ynhk tklmm) bzw. die „königliche Priesterschaft“ (basi,leion i`era,teuma) an (vgl. auch 1.Petr 2,9: u`mei/j […] basi,leion i`era,teuma, sowie Offb 1,6: evpoi,hsen h`ma/j basilei,an( i`erei/j tw/| qew/|). Wie bereits in 12,25 greift der Verfasser auch in 12,28 die synkrisis zwischen dem Gottesvolk am Sinai und dem Gottesvolk in neutestamentlicher Zeit (vgl. 12,18–24) nochmals auf: Wie die Israeliten im Alten Bund von Gott berufene königliche Priester waren, so sind es die Gläubigen im Neuen Bund! Die Adressaten werden also nicht nur aufgefordert, Gott durch ihren Dank bzw. ihren Lobpreis kultisch zu dienen, sondern auch durch ihr umfassendes Gott-Nahen bzw. ihre Existenz als königliche Priester. Dieser das ganze Wesen und Leben umfassende Aspekt des priesterlichen Dienens bringt uns zur nächsten Dimension, die der Aufforderung latreu,wmen euvare,stwj tw/| qew/| zu eigen ist. b. Die Dimension der Ethik Das Adverb euvare,stwj in der Bedeutung „in wohlgefälliger Weise“454 deutet klar darauf hin, dass die Aufforderung, Gott zu dienen, nicht nur eine kultische, sondern auch eine ethische Dimension hat. Denn schon für das Alte Testament ist klar: Kein noch so hingegebenes kultisches Dienen kann Gott gefallen ohne umfassenden ethischen Gehorsam (vgl. z. B. 1.Sam 15,22; Spr 21,3; Am 5,22– 24). So überrascht es auch nicht, dass das im griechischen Pentateuch oft kultisch verwendete latreu,ein (vgl. z. B. ExLXX 3,12; 20,5; 23,24; DtnLXX 4,19) an zentraler Stelle in einen ethischen Rahmen gestellt wird: In DtnLXX 10,12f (vgl. JosLXX 22,5) steht der Auftrag, Gott zu dienen (latreu,ein kuri,w| tw/| qew/| sou), parallel zu den Anweisungen, auf all seinen Wegen zu gehen (poreu,esqai evn pa,saij tai/j o`doi/j auvtou/) und seine Gebote zu halten (fula,ssesqai ta.j evntola.j kuri,ou tou/ qeou/). Dass nun der Hebr beim in 12,28 erwähnten Dienen ebenso die ganze Lebensführung der Gläubigen im Blick hat, beweist nicht nur der sehr oft auch den Ethos betreffenden Gebrauch von euva,restoj im Urchristentum (vgl. z. B. Röm 12,1ff; 2.Kor 5,9f; Eph 5,8–11 und Kol 3,20), sondern ebenfalls die Aussage des Verfassers in 13,21: Er wünscht den Adressaten in segnender Weise, dass Gott sie in allem Guten dazu bereit macht (katarti,sai u`ma/j evn panti. avgaqw/|), „seinen Willen zu tun“ (eivj to. poih/sai to. qe,lhma auvtou/), und spricht ihnen sogleich ermutigend zu, dass Gott bei ihnen und ihm selbst das schafft, was „vor ihm [sc. vor Gott] wohl gefällt“ (poiw/n evn h`mi/n to. 454
Vgl. Bauer, Wörterbuch, 645.
VI. Analyse von Hebr 12,25–29
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euva,reston evnw,pion auvtou/ dia. VIhsou/ Cristou/).455 Das Gott-Wohlgefällige umfasst demnach alles Gute und den ganzen Willen Gottes, mit anderen Worten: die ganze Lebensführung. Dem Verfasser geht es infolgedessen beim „wohlgefälligen“ Gottesdienst in 12,28 neben dem kultischen Gott-Dienen auch um das alltägliche, praktische Tun des Willens Gottes, wie z. B. auch „Wohltätigkeit“ und „solidarische Grundhaltung“ (euvpoii