Der Herrscher als Versager?!: Vergleichende Perspektiven auf vormoderne Herrschaftsformen [1 ed.] 9783737010504, 9783847110507


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Der Herrscher als Versager?!: Vergleichende Perspektiven auf vormoderne Herrschaftsformen [1 ed.]
 9783737010504, 9783847110507

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Kraftprobe Herrschaft

Band 1

Herausgegeben von Heide Frielinghaus, Sebastian Grätz, Heike Grieser, Ludger Körntgen, Johannes Pahlitzsch und Doris Prechel

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Heike Grieser / Heide Frielinghaus / Sebastian Grätz / Ludger Körntgen / Johannes Pahlitzsch / Doris Prechel (Hg.)

Der Herrscher als Versager?! Vergleichende Perspektiven auf vormoderne Herrschaftsformen

Mit einer Abbildung

V& R unipress Mainz University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Mainz University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Herakles präsentiert Eurystheus den erymanthischen Eber (Amphore München SH 1561),  München, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek. Ausschnitt und Freistellung: A. Schurzig. Fotografie: Renate Kühling. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2698-2110 ISBN 978-3-7370-1050-4

Inhalt Vorwort ..................................................................................................................... 7 Ludger Körntgen / Johannes Pahlitzsch Einleitung .................................................................................................................. 9 Hans Neumann Mesopotamische Könige des ausgehenden 3. Jt.s v. Chr. als Versager? Herrschaftserinnerung zwischen Realität und Fiktion ....................................... 21 Heide Frielinghaus / Doris Prechel Konstruiertes Versagen – Zum Umgang mit Herrschern ohne »Eigenleben« ............................................................................................................. 39 Andreas Fuchs Eine Flotte, zwei Versager und ein Winter. Sanherib und sein Wirken insbesondere in den Jahren 694 bis 689 ................................................................ 63 Benedict Schöning Saul, der Proto-Versager. Der erste König Israels als Beispiel einer in sich problematischen Herrschaftsform ................................................................. 143 Erasmus Gaß »Wegen der Sünden Manasses...« Vom Vorzeigevasallen zum Apostaten...... 167 Sebastian Grätz / Heike Grieser David, der Versager. Der Sündenfall des Königs aus alttestamentlichen und frühchristlichen Perspektiven ....................................................................... 189 Rene Pfeilschifter Versagen als Kategorie bei der Beurteilung von Kaisern und Kaisertum ........ 221 Patrick Schollmeyer Ein Unfallfahrer auf dem Kaiserthron. Anmerkungen zu Neros Versagen als Wagenlenker ...................................................................................... 235 Notker Baumann Versagen als subjektive Bewertung – Kaiserbilder bei Gregor von Nazianz ..................................................................................................................... 255

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Inhalt

Dominik Waßenhoven Vom Verraten und Beraten. Æthelred the Unready (978–1016) im Urteil seiner Zeitgenossen ...................................................................................... 271 João Vicente de Medeiros Publio Dias Nikephoros III. Botaneiates (1078–1081), der konstruierte Versager ............. 297

Vorwort

Der vorliegende Band vereinigt Beiträge einer interdisziplinären Tagung, die am 9./10. Mai 2017 in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz stattfand. Veranstalter waren Vertreterinnen und Vertreter von sechs historisch-kulturwissenschaftlichen Disziplinen an der Johannes GutenbergUniversität Mainz, die sich zur Arbeitsgruppe »Kraftprobe Herrschaft« zusammengeschlossen haben. Mit dieser Tagungspublikation wird zugleich eine neue Reihe eröffnet, die der interdisziplinären, interkulturell vergleichenden Forschung zum Phänomen monarchischer Herrschaft im Spannungsfeld zwischen Erfolg und Versagen ein Forum bieten soll. Die Herausgeberinnen und Herausgeber danken der Johannes Gutenberg-Universität, die das Zustandekommen der Tagung durch eine finanzielle Förderung ermöglicht hat, sowie der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur für ihre großzügige Gastfreundschaft. Unseren Vortragenden sowie den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind wir für ihre fruchtbaren Diskussionsbeiträge ebenso dankbar wie den Autorinnen und Autoren, die ihre Manuskripte alle termingerecht vorgelegt haben. Großer Dank für die Mitwirkung bei der Organisation und Durchführung der Tagung gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den studentischen Hilfskräften der beteiligten Arbeitsbereiche, darunter Corinna Axt, Helena Geitz, Lena Hofmann, Kathrin Kiefer, Jonas Klöker, Jonathan Lachmann sowie Lars Nitzki. Bei der Vorbereitung der Publikation haben Sibel Ousta, Marie-Christine Schimpf und vor allem Christopher Schönemann hervorragende Unterstützung geleistet. Besonders gedankt sei schließlich den Studierenden der beteiligten Fächer, die sich auf die Herausforderungen eines so viele verschiedene Fächer und Fachkulturen zusammenführenden vorbereitenden Seminars eingelassen und die Tagung durch ihr Interesse und Engagement bereichert haben. Dem Beirat von Mainz University Press danken wir für die Aufnahme der Reihe in das Verlagsprogramm, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und namentlich Herrn Oliver Kätsch für die umsichtige Unterstützung und die sorgfältige Drucklegung.

Ludger Körntgen / Johannes Pahlitzsch Einleitung

Der inter- bzw. transkulturelle Vergleich 1 hat sich in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf ganz unterschiedliche Gegenstandsbereiche geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschung bewährt. Ein besonders ergiebiges Forschungsfeld bildet dabei das in verschiedenen Epochen und Kulturen zu findende Phänomen monarchischer Herrschaft. Gerade im Blick auf deren unterschiedliche Erscheinungsformen bietet der Vergleich die Chance, eingefahrene Traditionen, Erklärungsmuster, aber auch Beschreibungskategorien epochen-, kultur- und disziplingebundener Forschung infrage zu stellen und neue Möglichkeiten des Verstehens zu eröffnen. 2 Der besondere Ertrag dieses Vergleichs liegt dabei nicht nur darin, eine heuristisch unproduktive Fixierung auf Kultur- und Epochengrenzen sowie die dafür jeweils definierten Disziplinen zu überwinden und enggeführte Narrative der Forschung für globalgeschichtliche Fragestellungen zu öffnen. Auch die einzelnen Disziplinen können durch »vergleichende Profilierung analoger Lösungsstrategien für historische Problemlagen sowie die kontextualisierte Isolierung funktionaler Äquivalente in unterschiedlichen historischen Systemen, Kulturen und Zivilisationen« den Blick auf ihre genuinen Forschungsfelder schärfen und das jeweilige »methodische Instrumentarium […] verfeinern« 3. 1

Um Engführungen klassischer Komparatistik, insbesondere eine unreflektierte Absolutsetzung westlich-europäischer Zivilisation und eine statische Abgrenzung »nicht-europäischer« Kulturen zu vermeiden, wird in der aktuellen Forschungsdiskussion der Kulturwissenschaften zunehmend vom »transkulturellen Vergleich« gesprochen, der ein von vornherein kulturelle und nationale Grenzen relativierendes, auf globale Kontexte abzielendes Methodenkonzept markieren soll (vgl. HÖFERT, Anmerkungen; FLÜCHTER, Einleitung S. 1–20). Da diese Begriffsdifferenzierungen aber weiterhin mit unterschiedlicher Konsequenz rezipiert und durchgehalten werden, soll im Folgenden der in vielen Disziplinen eingeführte Begriff des interkulturellen Vergleichs verwendet werden, ohne die im Methodenkonzept des »Transkulturellen« reflektierten Probleme damit auszublenden. 2 Vgl. FLÜCHTER, Einleitung S. 1 f.; BECHER / CONERMANN / HARTMANN / HESS, (Be-)Gründung von Herrschaft S. 2 f. 3 DREWS / OESTERLE, Vormoderne Globalgeschichten S. 11.

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Im Hinblick auf einzelne Phänomene monarchischer Herrschaft lassen sich so etwa die Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkweisen, insbesondere auch Erfolg oder Misserfolg von Legitimationsstrategien, Herrschaftstechniken, symbolischen und verbalen Kommunikationsformen, von Gewalteinsatz oder gewaltlosen Konfliktregelungen in den jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Kontexten genauer beschreiben und analysieren. Im interkulturellen Vergleich werden sich dabei ggf. Unterschiede ausmachen lassen, die als Konsequenzen des jeweiligen kulturellen Settings erklärt werden können, aber vielleicht auch Gemeinsamkeiten, die vermeintlich kultur- und epochenspezifische Vorstellungen, Problemlösungen und Handlungsschemata als Konkretisierungen und Modifikationen kulturübergreifend gegebener und genutzter Möglichkeiten erkennen lassen. Gerade im letzteren Fall wird das Ergebnis des Vergleichs Rückwirkungen auf die jeweiligen disziplinären Fragestellungen und Deutungskonzepte haben, die an übergreifende Konzepte rückgebunden, zugleich aber auch in heuristischer Absicht aus dem Methodenund Begriffsarsenal der jeweiligen Vergleichsdisziplin erweitert und bereichert werden können. Sofern der interkulturelle Vergleich darauf abzielt, über die prinzipielle Relativierung und Öffnung der kultur-, epochen- und fachspezifischen Leitnarrative hinaus die einzelnen Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen und voneinander lernen zu lassen, ist das heuristische Potential prinzipiell unerschöpflich. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Kraftprobe Herrschaft« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unterscheidet sich von anderen interdisziplinären und kulturvergleichenden Initiativen 4 besonders durch die betei4

So hat sich etwa die Netzwerkgruppe »Vormoderne monarchische Herrschaftsformen im transkulturellen Vergleich« in ihrer jüngst vorgelegten systematischen Sichtung der Ergebnisse auf die Phänomene bzw. Gegenstandsbereiche »Eliten«, »Sakralität und Sakralisierung« sowie »Gedächtnis, Gedenken und Herrschaft« beschränkt und dabei keinesfalls den Anspruch erhoben, ein »Endergebnis« vorzulegen, sondern das »Zwischenfazit eines andauernden Forschungs- und Austauschprozesses«, das zudem »die Forschung unterschiedlicher Fachgebiete zu weiteren Untersuchungen anregen« solle (DREWS / FLÜCHTER et al. [Hrsg.], Monarchische Herrschaftsformen S. X). Der am 1. Juli 2016 gestartete SFB 1167 »Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive« (Universität Bonn) verfolgt das übergreifende Anliegen einer Öffnung der aktuellen, zumeist auf die Moderne bezogenen interkulturellen Forschungen für die Vormoderne unter dem Ziel, mit den »transkulturellen sowie transepochalen Analysekategorien ›Macht‹ und ›Herrschaft‹ […] zu einer möglichst umfassenden Phänomenologie […] zu gelangen« (https://www.sfb1167.uni-bonn.de/programm, abgerufen 07.06.2019). Dazu werden vier Spannungsfelder definiert (Konflikt und Konsens, Personalität und Transpersonalität, Zentrum und Peripherie, Kritik und Idealisierung), die eine synthesefähige Formulierung der jeweiligen Fragestellungen gewährleisten sollen, damit aber eben auch die unvermeidliche Konkretisierung und Begrenzung der in den Blick zu nehmenden Phänomene bedingen. Insgesamt 14 beteiligte Disziplinen ermöglichen einen weiten Vergleichsrahmen, der zeitlich von der Vor- und Frühgeschichte bis in die frühe Neuzeit reicht und die Kulturen des

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ligten Disziplinen und damit die einbezogenen Kulturen und die Reichweite bzw. Begrenzung des Vergleichs, ebenso auch durch die Auswahl und Konkretisierung der in den Blick zu nehmenden Phänomene: Die Analyse vormoderner monarchischer Herrschaftsformen fokussiert hier wesentlich auf die Figur des Herrschers im Spannungsfeld von Erfolg und Versagen. Im Zentrum stehen besondere Herausforderungen, denen sich monarchische Herrschaft ausgesetzt sah, sowie die Bewältigungsstrategien, mit denen sie auf solche Herausforderungen reagierte. Die Untersuchungsgegenstände werden ausgewählt aufgrund der ihnen in allen beteiligten Disziplinen zugeschriebenen Bedeutung. Vorrangiges Ziel ist dabei der multilateral-interdisziplinäre, sachliche und methodische Austausch, der im oben angesprochenen Sinn der Schärfung der disziplinären methodischen Instrumente und Kategorien dienen oder auch generell weiterführende Fragestellungen anregen soll. Mit dem Alten Orient einschließlich des Alten Israels, der griechisch-römischen Antike und christlichen Spätantike sowie deren westlich-mittelalterlichen und östlichbyzantinischen Nachfolgekulturen sind kulturelle Räume und historische Epochen angesprochen, die deutlich genug voneinander abgegrenzt sind, um einen interkulturellen Vergleich sinnvoll zu machen. Zugleich handelt es sich aber um Räume bzw. Epochen, die kulturell und/oder zeitlich doch so erkennbar miteinander verbunden sind, dass neben dem Vergleich auch die Frage nach Transfer und Nachwirkung kultureller und politischer Vorstellungen und Handlungsmuster zu stellen ist. So mögen etwa parallele Phänomene altorientalischer und mittelalterlicher Herrschaftsrepräsentation darauf hindeuten, dass man unabhängig voneinander auf vergleichbare Bedürfnisse reagierte und vergleichbare Praktiken entwickelte. Es ist aber auch zu überprüfen, inwieweit altorientalische Vorstellungen und Vorbilder etwa über ihre alttestamentliche Aneignung auch noch im christlichen Mittelalter und dabei möglicherweise im Westen und in Byzanz in je unterschiedlicher Vermischung mit Traditionen der griechisch-römischen Antike wirksam geworden sein könnten. 5 Der interkulturelle Vergleich wird damit um eine diachrone Ebene erweitert, wie umgekehrt die Frage nach der kulturellen Rezeptionsgeschichte altorientalischer oder antiker Phänomene erweitert wird durch deren heuristische Nutzung im Vergleich.

Alten Ägypten, des antiken und mittelalterlichen Europa sowie Indiens und Ostasiens einschließt. Zum theoretisch-methodischen Rahmen sowie zum disziplinären Zuschnitt des Forschungsprogramms vgl. jetzt ausführlich BECHER, Vormoderne Konfigurationen. 5 Zum Kulturtransfer s. allgemein PAHLITZSCH, Cultural Encounters and Transfer. Solche Fragen werden auch im GRK 2304 (https://grk-byzanz-kriegskulturen.uni-mainz.de/), dem einige Mitglieder unserer Arbeitsgruppe angehören, gestellt.

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Die Arbeitsgruppe »Kraftprobe Herrschaft« versteht ihre Zusammenarbeit insoweit als Beitrag zu einer nicht mehr auf exemplarische Pionier- oder Großprojekte begrenzten, sondern mehr und mehr zur Normalität gewordenen Kultur interdisziplinärer Forschung. Sie ist ursprünglich erwachsen aus einem interdisziplinären Lehrprojekt der Disziplinen Altorientalische Philologie, Alttestamentliche Wissenschaft und Mittelalterliche Geschichte im Sommersemester 2014. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Studierenden wurden durch Verlauf und Ergebnis dieser Unternehmung motiviert, die transdisziplinäre Fragestellung in einer Tagung weiterzuführen, die, wiederum vorbereitet und begleitet von einem interdisziplinären Seminar am Beginn des Wintersemesters 2015/16, in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, abgehalten wurde. Mit den »Herrschaftsübergängen« hatte diese erste Tagung eine Konstellation in den Blick genommen, die für die monarchischen Herrschaftsformen des Alten Orients, Israels und des europäischen Mittelalters immer wieder als Herausforderung erkennbar ist, die besonderer Bewältigungsstrategien bedurfte und die jeweils in besonderer Weise Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zu vergleichenden Herrschaftsformen, ihrer Grundlagen, ihrer religiösen und außerreligiösen Legitimationsstrategien, ihrer politischen und militärischen Instrumente deutlich werden lassen. In Fortführung und Ergänzung dieser Fragestellung hat die zweite Tagung, deren Beiträge hier publiziert werden, ein Phänomen in den Mittelpunkt gestellt, das allen beteiligten Disziplinen, zusätzlich zu den schon genannten jetzt noch die Klassische Archäologie, Alte Kirchengeschichte und Byzantinistik, schon deshalb als Forschungsgegenstand gemeinsam ist, weil es in den verschiedenen Medien und Äußerungsformen kultureller Tradition und Erinnerung präsent ist: der Herrscher als Versager. Die leitende Fragestellung ist in doppelter Hinsicht rückgebunden an Wahrnehmungen, Urteile und deren Kategorisierung, die den Blick auf einzelne Herrscher als Versager vorprägen und deshalb kritisch zu reflektieren sind: Zum einen ist es die Überlieferung selbst, die einzelne Herrscher als Versager präsentiert und deren Verhaftung in zeitgenössischen Konfliktsituationen, Kategorien und Wertvorstellungen oder in späterer, interessensgeleiteter oder kulturell verformender Erinnerung zu hinterfragen ist. Zum anderen sind es häufig auf den Verformungen dieser kulturellen Erinnerung ruhende, wirkmächtige Forschungstraditionen, die oft allzu klar zwischen Herrschaftserfolg und Herrschaftsversagen unterscheiden und immer wieder der kritischen Reflexion, häufig auch der Revision bedürfen. Die Tagung hat in dieser zweifachen Perspektive Herrschergestalten in den Blick genommen, die jeweils in der kulturellen Erinnerung und/oder in der Forschung als »Versager« par excellence gelten.

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Dabei wurde erstens nach den konkreten Ausformulierungen dieser Zuschreibung in Tradition und Forschung gefragt: Was macht einen Herrscher zum Versager? Geht es jeweils um Versagen gegenüber Anspruch und Aufgabe monarchischer Herrschaft schlechthin oder um Versagen bei der Bewältigung von besonderen Herausforderungen? Lässt sich Versagen aufgrund persönlicher Unzulänglichkeiten bestimmen? Handelt es sich dabei um eine objektiv verifizierbare Kategorie oder eher um subjektive Zuschreibungen? Zweitens wurde auch nach den Gründen für diese Zuschreibung im Urteil der Zeitgenossen, in der Tradition und schließlich in der Forschung gefragt. Dabei eröffnen interkultureller Vergleich und interdisziplinärer Austausch konkretisierende Ausformulierungen der Fragestellung, die einen besonderen Mehrwert erbringen: Gibt es spezifische Bedingungen für die Ausprägung von Traditionen, die einen Herrscher zum Versager stempeln? Wie unterscheiden sich die Perspektiven der Zeitgenossen von denen der Forschung? Wie gehen die einzelnen Disziplinen mit den Verformungen der kulturellen Erinnerung, aber auch mit ihren eigenen Forschungstraditionen um? Inwieweit ist es den einzelnen Disziplinen überhaupt möglich, hinter den Verformungen der jeweiligen Traditionen Bedingungen für Erfolg und Misserfolg monarchischer Herrschaft zu erkennen bzw. zu beschreiben? In diesem multiperspektivischen Zugriff erweist sich das Phänomen des »Herrschers als Versager« als besonders geeignet, um im Vergleich der verschiedenen Disziplinen und ihrer Forschungstraditionen disziplinäre Defizite besonders deutlich zu konturieren, die methodischen Zugänge zu reflektieren und Anregungen auszutauschen. Insgesamt ist zu diskutieren, inwieweit »Versagen« als heuristische Kategorie für die Beurteilung des Handelns und Wirkens eines Herrschers dienen kann. Ohne Frage spielt die Art und Weise, wie eine Herrschaft zu Ende geht, eine Rolle. Wird der Herrscher schon allein dadurch zum Versager, dass er gestürzt wird? Daneben werden in den Quellen die Herrscher an etablierten oder auch den Autoren eigenen Erwartungen oder Normen gemessen. Besondere Bedeutung kommt hier der Religion zu: Hat der Herrscher seine religiösen Verpflichtungen und damit verbundene kultische Handlungen erfüllt, die »rechte« Lehre bewahrt, oder hat er gegen religiöse Normen verstoßen? Auch zugeschriebene persönliche Eigenschaften sind von Bedeutung: Unfähigkeit in der Regierungsführung oder im militärischen Bereich, moralische Verfehlungen, ausschweifende Lebensführung. Grundsätzlich ist bei der Definition der Kriterien das jeweilige politische System zu berücksichtigen, etwa hinsichtlich der Nachfolgeregelung und der Bedeutung von Dynastien, wie eine Gegenüberstellung der Situation im karolingischen Reich unter Ludwig dem Frommen und im Römischen Reich veranschaulicht, wo Usurpationen als systemkonform gelten können und schon der

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Erfolg eines Umsturzes diesen als gottgewollt legitimiert. So kam Phokas (reg. 602–610), einer der am eindeutigsten als Versager beschriebenen byzantinischen Kaiser, einerseits durch eine Revolte an die Macht, wurde dann aber selbst nach nur acht Jahren durch Herakleios gestürzt, der wiederum in den der von ihm begründeten Dynastie verpflichteten Quellen wie auch der Forschung als bedeutender Herrscher gilt. Behält die Dynastie ihr Prestige, so werden Charakterfehler und Willkür eines als somit untypisch gekennzeichneten einzelnen Herrschers hervorgehoben wie beim schon nach einigen Jahren wieder gestürzten und grausam hingerichteten Andronikos II. Komnenos (reg. 1183–1185). Aber auch situationsbezogen-kontingente Umstände spielen eine wesentliche Rolle, etwa in welchem Alter der Herrscher sein Amt übernimmt, ob als Minderjähriger oder als erfahrener Fürst mit entsprechender Machtbasis, wie im Fall Friedrich Barbarossas. Einfluss auf die Beurteilung von Erfolg oder Versagen scheint auch die Dauer der Herrschaft zu haben. Doch inwieweit erlauben es überhaupt die Quellen, objektive Kriterien für Versagen aufzustellen oder Belege für konkretes Versagen zu finden? Im Fall des judäischen Königs Manasse scheinen die außerbiblischen Quellen darauf hinzudeuten, dass es sich eben nicht um einen Versager handelte. Gregor von Nazianz ist wiederum in seinem Urteil über Julian ganz bewusst subjektiv. Beim »Fluch über Akkade« handelt es sich um eine Tendenzschrift des religiösen Establishments. Insofern stellt sich die Untersuchung von Herrschern als Versagern zunächst einmal als eine Untersuchung ihrer Rezeption in den historischen Quellen dar. Die kritische Hinterfragung der Forschungsgeschichte wird ebenfalls in unserem Band angesprochen, bedarf aber noch tiefergehender Untersuchungen. Als genereller Trend der neuen Forschung ist dabei festzustellen, dass gerade lange Zeit einhellig als Versager angesehene Herrscher wie etwa Nero inzwischen differenziert betrachtet und die positiven Aspekte ihrer Regierung stärker hervorgehoben werden. Anhand von Fallstudien aus ganz unterschiedlichen Epochen, die vom ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. bis ins 11. Jahrhundert n. Chr. reichen, werden die hier genannten Fragen und Aspekte behandelt. So zeigt Hans Neumann in seinem Aufsatz, dass die Erinnerung an verschiedene mesopotamische Könige stark von fiktiven Elementen durchdrungen war. Der akkadische König Narām-Sîn wurde etwa in den erhaltenen Quellen teils in lobender, teils in negativer Hinsicht dargestellt, wobei letztere Tradition wohl auf eine antiakkadische Tendenz zur Zeit von Ur III zurückgeht. Möglich ist, dass diese negative Sicht im Kreis der Enlil-Priesterschaft von Nippur entstand, die die akkadischen Könige aus kultisch-religiösen Gründen als Fremdherrschaft ansahen. Die Ur III-Könige wurden dagegen als von Enlil erwählte Herrscher Mesopotamiens angesehen. Aber auch hinsichtlich der Regierungszeit Amar-

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Suʾenas, eines Königs des Reiches von Ur III, wurde offensichtlich eine bewusst negativ konnotierte Erinnerungspolitik gepflegt, die auf seinen unmittelbaren Nachfolger Šū-Sîn zurückgehen dürfte, der sich auf diese Weise offenbar von seinem Vorgänger abzusetzen versuchte. In dem gemeinsam von Heide Frielinghaus und Doris Prechel verfassten Beitrag wird ein interdisziplinärer, vergleichender Blick auf die Konzeption eines versagenden Herrschers geworfen, um Muster zu erkennen, die im Altertum dazu gedient haben, einem Herrscher die ihm durch die jeweils gültigen Normen zugeschriebenen Attribute zu verwehren. Hierbei werden Fallbeispiele aus der hethitischen Geschichte (König Ammuna) und aus der griechischen Mythologie (Eurystheus) gegenübergestellt unter Einbeziehung sowohl schriftlicher als auch materieller Quellen. Auf der Grundlage dieses weitgespannten Vergleichs kann gezeigt werden, mit welchen Mitteln an zwei Punkten der Alten Welt die Bewertungskategorien Erfolg und Versagen für die Mit- und Nachwelt geformt wurden. Königliches »Versagen« wurde dabei weder im Bereich der hethitischen Kultur noch in dem im Beitrag untersuchten Ausschnitt der griechischen Welt expressis verbis als solches benannt, sondern in Form einer Abweichung von gleichzeitig bestehenden, schriftlich oder bildlich formulierten Erwartungen an den Herrscher thematisiert. Es zeigt sich, dass die jeweilige Art der Quellen (schriftlich oder bildlich) zwar ein unterschiedliches Methodenset verlangt, aber die gleichen beschreibenden Wertekategorien (gerecht, fromm, stark, schön etc.) aufweisen kann. Ebenso ist die Differenz zwischen mythischen und historischen Quellen bei der Stilisierung des Versagens gering. Der Vergleich der beiden ausgewählten Fallbeispiele zeigt zudem, dass es eine Korrelierung der Menge der überlieferten Daten und der Bedeutung eines Herrschers gab: Ammuna und Eurystheus sind beide als Nebenfiguren konstruiert, wobei ihnen die Funktion einer Folie für einen angemessen agierenden Herrscher oder Helden zukam. Andreas Fuchs beschreibt mit dem neuassyrischen König Sanherib (reg. 705–681 v.Chr.) einen Herrscher, der tatsächlich durch seine Fehlentscheidungen die Stabilität und Macht des assyrischen Reiches gefährdete. Dazu trug wohl sein Misstrauen gegenüber seinen Beratern bei wie möglicherweise auch die Tatsache, dass die Berater Sanheribs diesem aus Furcht schlechte Nachrichten vorenthielten. Während Sanherib gerne seine Fähigkeiten als Ingenieur, Künstler oder Gelehrter hervorhob, fehlten ihm jedoch die für einen König entscheidenden Kompetenzen im militärischen und politischen Bereich. Als eine besonders folgenschwere Fehlentscheidung Sanheribs kann nach Fuchs die Einsetzung seines ebenfalls für das Königsamt ungeeigneten ältesten Sohnes Aššur-nādin-šumi gelten.

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Das Versagen des biblischen Königs Saul erweist sich dagegen nach Benedict Schöning bei näherer Untersuchung nicht als individuelles Versagen. Es bezieht sich vielmehr auf eine aus Sicht der späteren Tradition fehlerhafte Entwicklung in der Geschichte Israels. Die Etablierung eines Königreiches wurde als eine Gefährdung der religiösen Tradition Israels angesehen. Dem Ersten Buch Samuel zufolge war das individuelle Versagen Sauls jedoch nur eine Konsequenz des Wunsches des Volkes nach einer ihm wesensfremden Herrschaft, dem Königtum. Sowohl das Volk Israel als auch der König versagten daher in ihrem Gehorsam gegenüber JHWH, woraus sich der Untergang des Königtums und der Gang ins Exil ergaben. Vermutlich handelt es sich bei dieser Darstellung um eine Abstraktion, die die grundsätzliche Fehlerhaftigkeit des Königtums als Herrschaftsform für Israel aufzeigen sollte. Die Darstellung des judäischen Königs Manasse in der Bibel ist ebenfalls von der Idee des Scheiterns dominiert. Erasmus Gaß zeigt jedoch, dass der »historische« Manasse, den er anhand der textuellen und archäologischen Zeugnisse greifbar zu machen sucht, in einem eklatanten Widerspruch zum »biblischen« Manasse steht. In der biblischen Überlieferung wird sein kultisches Fehlverhalten in den Vordergrund gestellt, während die Erfolge seiner Konsolidierungspolitik ignoriert werden. Manasse wird als der Verantwortliche für den Verfall des JHWH-Kultes in Juda und insgesamt für den staatlichen Untergang Judas dargestellt. Dass die Aufwertung der lokalen Klanheiligtümer vermutlich aus politischen Gründen erfolgte, da der König auf die Unterstützung der lokalen Sippenverbünde angewiesen war, wird in den biblischen Quellen nicht berücksichtigt. Zur Zeit der Entstehung der einschlägigen Bibeltexte war die Erinnerung an Manasse schon weitgehend verblasst, so dass es sich anbot, ihn für den Niedergang verantwortlich zu machen. Der Beitrag von Heike Grieser und Sebastian Grätz stellt das Versagen des Königs David als Ehebrecher und Auftraggeber eines Mordes in alttestamentlicher und kirchenhistorischer Perspektive in den Fokus. Während die Episode von David und Batseba in der ältesten biblischen Erzählung den politischen Niedergang des Davidischen Königtums einläutet, bemühen sich sowohl die späteren Texte des Alten Testaments als auch die frühchristlichen Autoren, das offenkundige Versagen des Königs in ihre jeweilige heilsgeschichtliche Konzeption einzupassen. Die Spannbreite reicht vom schlichten Ignorieren (so die fehlende Rezeption des Passus in den Chronikbüchern) über das häufig anzutreffende Abmildern der Verfehlungen durch den Hinweis auf eine anschließend erfolgte Buße bis hin zur mystisch-allegorischen Deutung des Geschehens, bei der auch der Mord als notwendiger Bestandteil des göttlichen Heilsplans gewertet wird (Ambrosius von Mailand). Es ist eindrucksvoll, wie stark

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die jeweiligen (geschichts-)hermeneutischen Vorgaben die Rezeption und die Interpretation des Ausgangstextes prägen. Rene Pfeilschifter erprobt in seinem Beitrag »Versagen« als objektive Kategorie am Beispiel des römischen Kaisertums, da dieses die Möglichkeit des Versagens eines Herrschers in das System integriert hatte, in dem der Sturz eines Kaisers, die Usurpation, als durchaus legitim angesehen wurde. Im Unterschied zu manchen Monarchien des westlichen Mittelalters und vor allem der Neuzeit gab es keine juristischen, sakralen oder theologischen Normen, die einen versagenden Kaiser auf dem Thron halten konnten. Auch die Versuche vor allem der christlichen Kaiser, ihre Herrschaft durch außerweltlichen Bezug zu immunisieren (Einsetzung von Gott, Salbung), scheiterten letztendlich. Alleinherrschaft im Kontext des Römischen Reichs lässt sich vielmehr nach Egon Flaig als »Akzeptanzsystem« bezeichnen: Der Herrscher hing von der Zustimmung der wichtigsten sozialen Gruppen ab. Diese Zustimmung konnte aber verloren gehen, wenn diese Gruppen mit der Leistung des jeweiligen Kaisers nicht zufrieden waren. Die Kategorie des Versagens wird damit objektivierbar und hängt nicht vom Urteil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder kritischer Zeitgenossen ab. Für das Kaisertum als Herrschaftsform bedeutete dies, dass ein versagender Kaiser nicht das Kaisertum, sondern nur sich selbst diskreditierte. Ein solcher Kaiser konnte gestürzt werden – das Kaisertum aber bestand fort. Patrick Schollmeyer behandelt mit Kaiser Nero einen der bekanntesten Versager unter den Herrschern der Antike, mit dessen Sturz und Tod durch Selbstmord im Jahr 68 n. Chr. die von Augustus begründete iulisch-claudische Dynastie ihr Ende fand. Die im historischen Schrifttum der Kaiserzeit – namentlich in den Kaiserviten Suetons sowie den Geschichtswerken Tacitusʼ und Cassius Dios – literarisch fixierten Vorwürfe werden in den Altertumswissenschaften seit langem intensiv diskutiert, sind doch die Zeugen allesamt nicht zeitgenössisch und stehen zudem ganz offensichtlich in einer senatorisch geprägten Oppositionstradition zu Nero. Vor diesem Hintergrund unterzieht Schollmeyer die bekannten Zeugnisse nochmals einer zusammenfassenden Untersuchung, bei der allerdings nicht die Frage nach dem prinzipiellen Realitätsgehalt derartiger Anschuldigungen den Fokus bildet. Vielmehr geht es darum, die von den genannten Autoren mehr oder minder bewusst negativ geschilderten Handlungsweisen im Hinblick auf die ursprünglichen Intentionen des Kaisers neu zu bewerten. Notker Baumann beschreibt die Darstellung von Julian Apostata (reg. 361– 363) und teilweise auch Constantius II. (reg. 337–361) als Versager durch Gregor von Nazianz als subjektive Bewertung durch den Autor. Gregor verfolgte dabei das Ziel, der kultischen Verehrung des Verstorbenen entgegenwirken,

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indem er gegen diesen mit starkem Bezug auf dessen Persönlichkeit polemisierte. Neben Kriterien wie der individuellen Religiosität und Rechtgläubigkeit spielten dabei weitere Faktoren eine Rolle, etwa die Sorge für die Wohlfahrt des Römischen Reiches und die Bewahrung des Friedens, aber auch die Bildungspolitik der Kaiser und das Maß ihrer Wohltätigkeit, vor allem gegenüber Christen. Als negative Kriterien lassen sich unter anderem leichte Beeinflussbarkeit und Einfalt benennen. Gregor ist es dabei offensichtlich wichtig, dass die von ihm geschaffene Darstellung eines Kaisers als Versager die Deutungshoheit in der zukünftigen Tradition gewann. Als Versager par excellence erscheint der mit dem Beinamen Unready, der Unvorbereitete, in die Geschichte eingegangene angelsächsische König Æthelred (reg. 978–1016). Wie Dominik Waßenhoven deutlich machen kann, waren es aber erst die späteren Historiographen, die dem König die nach seinem Tod erfolgte dänische Eroberung zur Last legten und ihn damit zum monarchischen Versager stempelten, der eine besondere Herausforderung seiner Herrschaft nicht hatte bewältigen können. Zeitgenossen wie der Erzbischof von York, Wulfstan, und der Abt Ælfric von Eynsham diskutierten eher die Auswahl falscher Berater oder den Verzicht des Königs auf die eigene Führung des Heeres im Kampf gegen die Wikinger, während die schon unter der Herrschaft des Dänen Knut entstandenen Æthelred-Annalen vor allem das Verhalten der angelsächsischen Aristokratie kritisierten. Im Aufsatz von João Vicente de Medeiros Publio Dias werden schließlich die Entstehung der Darstellung des byzantinischen Kaisers Nikephoros III. (reg. 1078–1081) durch die byzantinischen Historiographen als eines gescheiterten Herrschers schlechthin analysiert und die diesem Bild zugrundeliegenden politischen Interessen herausgearbeitet, wobei dieses Bild kritiklos von der modernen Historiographie übernommen wurde. Dias zeigt, wie die Darstellung des Nikephoros und seiner Herrschaft durch die Geschichtsschreibung vor allem den Bedürfnissen des Alexios I. Komnenos (reg. 1081–1118), der Nikephoros stürzte, und der von ihm begründeten neuen Dynastie entsprach. Die Komnenoi präsentierten sich als Erneuerer des Römischen Reiches, als neue Konstantine. Die Regierung des Nikephoros wurde im Gegensatz dazu zum Symbol aller Fehlentwicklungen, die zum Niedergang von Byzanz beigetragen hatten. Insgesamt zeigt sich, dass die Parameter an den Herrscher gestellter Anforderungen eine gewisse Schnittmenge bilden, diese selbst jedoch ganz unterschiedlich akzentuiert werden können. So konnte der Anforderungskatalog Aussehen, Haltung, Eigenschaften, Fähigkeiten, Verhalten und/oder (erfolgreiches) Handeln eines Herrschers umfassen. Zudem sind immer immanente Probleme des Herrschaftssystems oder äußere Bedrohungen zu berücksichti-

Einleitung

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gen. Besondere persönliche Unzulänglichkeiten des Herrschers, seiner Umgebung oder der politischen Eliten spielen ohne Frage eine Rolle, sind jedoch nur mit methodischer Zurückhaltung von den Darstellungsintentionen der Quellen und den Vorprägungen der Forschungsgeschichte zu lösen. Für die Erstellung einer Systematik der – zeitgenössischen und forschungsgeschichtlichen – Beschreibung von Herrschern als Versager sind ohne Frage weitere Untersuchungen notwendig, lassen sich doch einfache, eindeutige Definitionen und Muster von Versagen nicht etablieren. Vielmehr bedarf es einer umfassenden, differenzierten Betrachtung der jeweiligen historischen Situation ebenso wie einer kritischen Sichtung der Forschungsgeschichte. In diesem Sinne stellt der vorliegende Band einen ersten Schritt in der Erschließung dieser Fragestellung dar.

Literatur ARCANGELI, Alessandro / ROGGE, Jörg / SALMI, Hannu (Hrsg.), The Routledge Companion to Cultural History in the Western World, 1250–2000, London / New York 2019 (im Druck). BECHER, Matthias, Macht und Herrschaft. Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive, in: BECHER / CONERMANN / DOHMEN (Hrsg.), Macht und Herrschaft transkulturell S. 11–42. BECHER, Matthias / CONERMANN, Stephan / DOHMEN, Linda (Hrsg.), Macht und Herrschaft transkulturell (Macht und Herrschaft 1), Göttingen 2018. BECHER, Matthias / CONERMANN, Stephan / HARTMANN, Florian / HESS, Hendrik (Hrsg.), (Be-)Gründung von Herrschaft. Strategien zur Bewältigung von Kontingenzerfahrung, in: Das Mittelalter 20/1, 2015. BECHER, Matthias / CONERMANN, Stephan / HARTMANN, Florian / HESS, Hendrik, Einleitung. (Be-)Gründung von Herrschaft. Strategien zur Bewältigung von Kontingenzerfahrung. Eine interdisziplinäre Annäherung, in: BECHER / CONERMANN / HARTMANN / HESS (Hrsg.), (Be-Gründung) von Herrschaft S. 1–10. DREWS, Wolfram / FLÜCHTER, Antje et. al. (Hrsg.), Monarchische Herrschaftsformen der Vormoderne in Transkultureller Perspektive (Europa im Mittelalter 26), Berlin / Boston 2015. DREWS, Wolfram / OESTERLE, Jenny Rahel (Hrsg.), Transkulturelle Komparatistik. Beiträge zu einer Globalgeschichte der Vormoderne, in: comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 18/3–4, 2008. DREWS, Wolfram / OESTERLE, Jenny Rahel, Vormoderne Globalgeschichten. Eine Einführung, in: DREWS / OESTERLE (Hrsg.), Transkulturelle Komparatistik S. 8–14. FLÜCHTER, Antje, Einleitung: Der transkulturelle Vergleich zwischen Komparatistik und Transkulturalität, in: DREWS / FLÜCHTER et al., Monarchische Herrschaftsformen S. 1–31.

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HÖFERT, Almut, Anmerkungen zum Konzept einer »transkulturellen« Geschichte in der deutschsprachigen Forschung, in: DREWS / OESTERLE, Transkulturelle Komparatistik S. 15–26. PAHLITZSCH, Johannes, Cultural Encounters and Transfer. The Case of Pious Foundations in the Islamicate World, in: ARCANGELI / ROGGE / SALMI (Hrsg.), The Routledge Companion to Cultural History in the Western World, im Druck.

Hans Neumann Mesopotamische Könige des ausgehenden 3. Jt.s v. Chr. als Versager? Herrschaftserinnerung zwischen Realität und Fiktion

1. Die historisch-politischen Rahmenbedingungen Die politische Geschichte und sozioökonomische Entwicklung Mesopotamiens und der angrenzenden Gebiete im Osten und Nordwesten des Zweistromlandes im ausgehenden 3. Jt. v. Chr. wurden in entscheidendem Maße durch die Existenz und Wirkungsmacht zweier größerer Territorialstaaten bestimmt: des Reiches der Könige von Akkade vom 24.–22. Jh. v. Chr. 1 und des wenig später nachfolgenden Staates der III. Dynastie von Ur im 21. Jh. v. Chr. 2 Ausgangspunkt der Staatenbildung durch die Könige von Akkade waren die Eroberungen des Sargon (akkadisch Šarru-kīn, 2324–2285 v. Chr.), 3 der in Mittelmesopotamien die bislang noch nicht lokalisierbare Stadt Akkade gegründet und diese zu seiner Residenz erhoben hatte. Von hier aus begann er seine siegreichen Feldzüge, die ihn zunächst nach Süden bis zur Küste des Persischen Golfes führten und in deren Verlauf er sich Südmesopotamiens bemächtigen konnte. In weiteren Feldzügen eroberte Sargon Nordmesopotamien und Nordsyrien, stieß in östlicher Richtung in das Zagrosgebirge vor 1

Zur (nachfolgend nur knapp umrissenen) Geschichte und Politik der Akkade-Dynastie und zu den sozioökonomischen wie auch geistig-religiösen Grundlagen ihrer Herrschaft vgl. aus jüngerer Zeit (mit weiterführender Literatur) vor allem WESTENHOLZ, Old Akkadian Period; FRAHM, Geschichte des alten Mesopotamien S. 116–127; NEUMANN, Altorientalische »Imperien« S. 35– 40; FOSTER, Age of Agade; SCHRAKAMP, Ressourcen und Herrschaft. 2 Zur (nachfolgend gleichfalls nur knapp umrissenen) Geschichte und Politik der sog. Ur IIIDynastie und zu den sozioökonomischen Grundlagen ihrer Herrschaft vgl. (mit weiterführender Literatur) vor allem SALLABERGER, Ur III-Zeit; GARFINKLE / MOLINA (Hrsg.), From the 21st Century B.C. to the 21st Century A.D.; Frahm, Geschichte des alten Mesopotamien S. 127–135; NEUMANN, Altorientalische »Imperien« S. 40–47. 3 Zu den im Folgenden verwendeten absoluten Daten vgl. SALLABERGER / SCHRAKAMP, Philological Data S. 135 f.

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und besiegte im Südosten Elam sowie das nördlich davon gelegene Gebiet von Paraḫšum. Indem Sargon bis zur Küste des Persischen Golfes vorstieß und den Hafenort Guabba von Lagaš eroberte, erlangte er die Kontrolle über den Seehandel mit der Region des Persischen Golfes. Textzeugnisse verweisen darüber hinaus auf die Existenz von Handelsbeziehungen bis nach Kleinasien. Mit seinen Eroberungen schuf Sargon letztlich ein Reich, das in seinen Ausmaßen weit über das hinausging, was man jemals vor ihm als politische Einheit im Kerngebiet Vorderasiens zu schaffen in der Lage war. Der durch militärische Expansion errichtete Staat von Akkade war jedoch keineswegs stabil. Schon Rīmuš, mit großer Wahrscheinlichkeit nach Maništūšu der zweite Nachfolger des Sargon auf dem Königsthron, 4 sah sich zu Beginn seiner Regierungszeit einer Rebellion der südmesopotamischen Reichsteile gegenüber, die er blutig niederschlug. Sein Nachfolger, der König Narām-Sîn (2261–2206 v. Chr.), zu Beginn seiner Regierungszeit offensichtlich gleichfalls mit einer größeren Aufstandsbewegung konfrontiert, benötigte der Überlieferung nach ein Jahr, um die neuerliche Rebellion niederzuschlagen und dem Reich von Akkade seine einstmalige Größe wieder zurückzugeben. Allerdings begann schon bald nach dem Regierungsantritt des Königs Šarkali-šarrī (2205–2181 v. Chr.), des Nachfolgers von Narām-Sîn, der Niedergang der Akkade-Dynastie. Nach einer gewissen Zeit politischer und ökonomischer Stabilität und anfänglichen militärischen Erfolgen musste er sich in zunehmendem Maße mit den im Osten ansässigen Gutäern auseinandersetzen, deren Angriffsdruck auf das nordbabylonische Gebiet sich immer mehr verstärkte. Auf seine Regierungszeit folgte eine Periode von drei Jahren, in der sich vier Thronprätendenten um die Herrschaft stritten (2180– 2178 v. Chr.). Zwar sind für die Zeit nach den Thronwirren noch einmal zwei Könige von Akkade nachweisbar (2177–2157 v. Chr.), jedoch konnten diese den Untergang des Reiches in der Konsequenz nicht mehr aufhalten. 5 Nach einer Periode des erneuten Aufschwungs des alten südmesopotamischen Stadtstaatensystems in der Folge des Niedergangs des AkkadeReiches und einer sich daran anschließenden und mit dem König Utu-ḫeĝal im ausgehenden 22. Jh. v. Chr. zu verbindenden kurzen Vorherrschaft Uruks 4

So mit STEINKELLER, Ur III Manuscript S. 278 f.; vgl. auch STEINKELLER, History, Texts and Art S. 14 sowie FRAHM, Geschichte des alten Mesopotamien S. 119. Anders SCHRAKAMP, Ressourcen und Herrschaft S. 83 Anm. 2, der (zusammen mit anderen) an der traditionellen Abfolge Sargon – Rīmuš – Maništūšu festhält. Auf das Problem der Königsabfolge in der frühen Akkade-Zeit soll an anderer Stelle nochmals eingegangen werden. Zu den absoluten Daten für die Regierungszeit von Maništūšu und Rīmuš vgl. SALLABERGER / SCHRAKAMP, Philological Data S. 136 (2284–2262 v. Chr.). 5 Zu den politisch-militärischen Vorgängen am Ende der Akkade-Zeit vgl. jetzt auch KRAUS, Weapon of Blood; vgl. auch NEUMANN, Zusammenbruch.

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in Südmesopotamien 6 begründete schließlich der Militärgouverneur und Bruder des Utu-ḫeĝal, Ur-Namma (2110–2093 v. Chr.), die Dynastie der Könige von Ur und schuf von hier aus den zweiten größeren Territorialstaat in der Geschichte Mesopotamiens, dessen Könige – fünf an der Zahl – weite Teile Mesopotamiens und darüber hinausgehende Territorien Vorderasiens für ca. 100 Jahre zu beherrschen vermochten. Nach 18 Jahren Herrschaft folgte dem Ur-Namma dessen Sohn Šulgi (2092– 2045 v. Chr.) auf dem Thron, der 48 Jahre an der Macht war. Unter Šulgi richteten sich zahlreiche militärische Unternehmungen vor allem auf die nördlich und nordöstlich gelegenen Grenzgebiete des Reiches. Die Expansionsrichtung und Einflusszonen reichten dabei weit nach Nordmesopotamien hinein. Die Feldzüge dienten vor allem der Kontrolle von Handelswegen, waren aber gleichzeitig darauf gerichtet, die Grenzen militärisch zu sichern und die Randgebiete möglichst in Abhängigkeit oder zumindest in Loyalität zum Reich von Ur III zu halten. In drei länger andauernden militärischen Unternehmungen begegnete Šulgi erfolgreich der Gefahr einer drohenden Hurriter-Invasion. Im Osten gehörte das Gebiet von Elam mit der Stadt Susa zum Ur III-Reich. 7 Von dem Nachfolger und Sohn des Šulgi, Amar-Su’ena (2044–2036 v. Chr.), sind nur wenige historische Nachrichten überliefert, 8 während für dessen Sohn 9 und Nachfolger Šū-Sîn (2035–2027 v. Chr.) dagegen wieder reichlicheres historisches Quellenmaterial zur Verfügung steht. Nach Regierungsantritt führte Šū-Sîn die Politik Šulgis zur Befriedung der Grenzgebiete fort. Unter seiner Herrschaft erfolgte auch die Fertigstellung der wohl bereits unter Šulgi begonnenen »Martu-Mauer, die die (Tidnum-)Nomaden fernhält«. Das Bauwerk diente dem Schutz Süd- und Mittelmesopotamiens gegen einfallende Martu-Nomaden (Amurriter), die von Norden her in den babylonischen Raum drängten. 10 Schon bald nach dem Regierungsantritt des letzten Königs der III. Dynastie von Ur, Ibbi-Sîn (2026–2003 v. Chr.), begann der Niedergang des Reiches. In relativ kurzer Zeit fielen nacheinander einige politisch wichtige und ökonomisch zum Teil sehr potente Provinzen von der Zentralregierung ab. Den desolaten Zustand des Reiches machte sich Išbi-Erra, ein General des Ibbi-Sîn, zunutze. Er fiel von Ibbi-Sîn ab und begründete in Isin eine eigene 6 Zu Utu-ḫeĝal vgl. jetzt auch STRECK, Utu-ḫeĝal. 7

Zu Šulgi vgl. jetzt auch SALLABERGER, Šulgi. Zu Susa in der Ur III-Zeit vgl. DE GRAEF, Susa in the Late 3rd Millennium. 8 Vgl. im vorliegenden Zusammenhang jetzt auch LAFONT, Game of Thrones S. 191–201. 9 Vgl. dazu jetzt auch LAFONT, Game of Thrones S. 190 mit Anm. 7. 10 Zu Šū-Sîn vgl. jetzt ausführlich SALLABERGER, Šu-Suen von Ur.

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Dynastie. Zwar konnte sich Ibbi-Sîn noch eine Reihe von Jahren in Ur halten, jedoch war der Zusammenbruch nunmehr unvermeidlich. Im 24. Regierungsjahr des Königs wurde die Hauptstadt von einer Koalitionsarmee aus dem iranischen Elam und Šimaški eingenommen. Die Sieger führten IbbiSîn in Fesseln nach Anšan und ließen in Ur eine Garnison zurück, die sich allerdings nicht lange halten konnte. Išbi-Erra besiegte die Elamer und gliederte Ur in seinen Herrschaftsbereich ein. 11 Soweit in aller Kürze die politisch-historischen Rahmenbedingungen.

2. Die Herrschaftserinnerung zwischen Realität und Fiktion Nach dem Fall der III. Dynastie von Ur blieb die Erinnerung an die Zeit der Könige von Akkade wie auch an die der Ur III-Herrscher im kollektiven Gedächtnis der folgenden Jahrhunderte zunächst bewahrt, was sich vornehmlich in der gelehrten und curricularen Überlieferung des altbabylonischen Edubba’a, der sog. babylonischen ›Schule‹, manifestiert. Für beide Dynastien lässt sich dabei feststellen, dass die Erinnerung an einzelne Herrscher in der sie tradierenden Literatur sich im Spannungsfeld von Realität und Fiktion bewegte, wobei letztere die pejorative Sicht auf bestimmte Könige einschloss. Dies soll im Folgenden vorrangig anhand der Könige Narām-Sîn und Amar-Su’ena näher ausgeführt werden. 2.1 Sargon und Narām-Sîn von Akkade

Die Akkade-Zeit ist in der späteren keilschriftlichen Überlieferung mehrfach thematisiert und (in erzählender Form) tradiert worden, und zwar unter verschiedenen Gesichtspunkten. 12 Während man bei den vornehmlich aus altbabylonischer Zeit (also der ersten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr.) überlieferten Kopien, etwa auf Sammeltafeln, der Inschriften der Akkade-Könige von weitgehender Authentizität des jeweiligen Inhalts ausgehen kann, sind die literarische Überlieferung über die res gestae der altakkadischen Herrscher wie auch die spätere Omen-Tradition nur mit Vorbehalt als historische Quelle zu werten, auch wenn sie in Teilen in historischen Persönlichkeiten und Ereignissen der Akkade-Zeit ihren realen Ansatz- bzw. Ausgangspunkt haben. 11

Vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch SALLABERGER / SCHRAKAMP, Philological Data S. 131–133. 12 Vgl. zum folgenden bereits NEUMANN, Altorientalische »Imperien« S. 39 mit Anm. 37–39 (Literatur).

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So erfuhren die Persönlichkeit Sargons sowie seine Regierungszeit und Feldzüge in der literarischen Überlieferung eine positive legendenhafte Ausschmückung, was von einem großen Nachruhm des Königs in der mesopotamischen Geschichte zeugt, der darüber hinaus auch ganz bewusst in den Dienst der Legitimationsstrategien späterer altorientalischer Herrscher bis weit in das 1. Jt. v. Chr. hinein gestellt wurde. Letztlich beruhte diese Sicht in der hier sichtbar werdenden Tendenz durchaus auf Tatsachen. War doch der Begründer der Dynastie von Akkade in militärisch-politischer und wohl auch in (handels-)ökonomischer Hinsicht tatsächlich ein äußerst erfolgreicher Herrscher. Die Persönlichkeit seines dritten Nachfolgers Narām-Sîn war in der späteren (historisierenden) Überlieferung gleichfalls mehrfach Gegenstand legendenhafter Ausschmückung gewesen. Im Unterschied zu Sargon war diese allerdings recht ambivalent, indem sie nämlich teilweise eine negative Sicht auf den Herrscher enthielt. Mit Blick auf die Sargon-Überlieferung muss dies zunächst verwundern, stand doch Narām-Sîn mit seiner Politik – was deren innen- und außenpolitischen Erfolge betrifft – der seines berühmten Ahnen kaum nach. 13 Im Gegenteil: Narām-Sîn eroberte Magan an der Westküste der Arabischen Halbinsel. In nordöstlicher Richtung kämpfte er erfolgreich mit dem Bergvolk der Lullubäer in der Gegend des heutigen Sulaimanīja. In Nordsyrien zerstörte er Armānum und Ebla und erreichte das Mittelmeer. Darüber hinaus operierte Narām-Sîn im Gebiet der Hurriter, die zur AkkadeZeit in Obermesopotamien und östlich vom Tigris ansässig waren. Mit dem König von Elam schloss Narām-Sîn einen in elamischer Sprache erhalten gebliebenen paritätischen Vertrag und sicherte seinen Einfluss auf dieses Gebiet wahrscheinlich durch eine Heirat mit einer Verwandten des elamischen Herrschers. In seiner Titulatur führte Narām-Sîn erstmalig den Titel »König der Vier Weltgegenden«, worin der Machtanspruch des Herrschers wie auch dessen gesellschaftspolitische Bedeutung zum Ausdruck kommt. Die unter Narām-Sîn wiedererlangte und ausgebaute Macht der Dynastie von Akkade gab dem König darüber hinaus die politischen Mittel in die Hand, die bereits unter seinen Vorgängern erfolgte Aufwertung des Königtums ideologischreligiös weiter zu untermauern. So war Narām-Sîn der erste mesopotamische Herrscher, der sich vergöttlichen ließ und als »Gott von Akkade« bezeichnet wurde. 14 Insgesamt hinterließ er – nach allem, was wir wissen – seinem

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Vgl. zum folgenden bereits NEUMANN, Altorientalische »Imperien« S. 37 f. mit Anm. 27–31 (Literatur). 14 Zum Problem der Königsvergöttlichung im 3. Jt. v. Chr. vgl. jetzt auch STEINKELLER, History, Texts and Art S. 107–164.

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Nachfolger nach einer recht langen und erfolgreichen Regierungszeit ein im wesentlichen intaktes und prosperierendes Staatswesen. Dies wird in einem Teil der späteren literarischen Tradition ganz anders dargestellt, namentlich vor allem in der sumerischsprachigen Erzählung »Fluch über Akkade«, einer Komposition, die durch über einhundert, vornehmlich aus Nippur, zu einem geringeren Teil aus Ur, Uruk, Isin, Kiš und Susa stammende, zumeist fragmentarische Abschriften insbesondere aus der altbabylonischen Zeit überliefert ist. 15 In die Form einer Legende gekleidet geht es bei dieser, insgesamt 281 Zeilen umfassenden Dichtung um die literarische Reflexion des Aufstiegs und Niedergangs der Dynastie von Akkade: Nachdem der sumerische Gott Enlil dem König Sargon die Königswürde übetragen hatte, brach für das Reich von Akkade – so der Anfang der Dichtung – eine Zeit der wirtschaftlichen Blüte und des Überflusses an. Die Bewohner des Landes lebten in Frieden und Wohlstand; der Handel florierte und die Fremdländer lieferten Tribute in großer Menge. Dies änderte sich unter der Herrschaft des Narām-Sîn. Die Göttin Inana und nach ihr weitere Götter wendeten sich – ohne dass hierfür die Gründe klar ersichtlich werden – von Akkade ab, was den Niedergang der Stadt zu Folge hatte. In einem Traum wurde Narām-Sîn beschieden, dass das Königtum von Akkade »keinen stabilen und glücklichen Bestand haben würde, dass seine Zukunft in jeder Hinsicht ungünstig wäre« (Z. 83 f.). 16 Daraufhin versuchte Narām-Sîn, der sich als Zeichen der Trauer in Lumpen kleidete, sieben Jahre lang durch Orakelanfragen bezüglich des (Wiederauf-)Baus eines Tempels 17 zu erreichen, dass sich Enlil, der sumerische Götterkönig, wieder in Gunst ihm zuwandte. Dies blieb allerdings ohne Erfolg, so dass Narām-Sîn zu den Waffen griff und mit einem Heer Nippur überfiel und ausplünderte: »Die Güter wurden aus der Stadt fortgebracht. Als er (= Narām-Sîn) die Güter aus der Stadt fortbrachte, ging der Verstand 18 von Akkade verloren. Schiffe erschütterten den Kai, die Vernunft von Akkade wurde geändert«, heißt es in der Dichtung (Z. 145–148). 19 Enlil, zornig über die Zerstörung seines geliebten Heiligtums, ließ daraufhin die im Gebirge ansässigen Gutäer in Babylonien einfallen, die das Land mit Krieg überzogen. In dem einstmals so blühenden Reich von Akkade herrschten nunmehr Unsicherheit und Hunger. Die großen Götter belegten Akkade mit 15

Zur Dichtung vgl. zuletzt CAVIGNEAUX, Fluch über Akkade; FOSTER, Age of Agade S. 350–358; ATTINGER, La malédiction d’Agade; ders., Fluch über Akkade. 16 Zum Text s. COOPER, Curse of Agade S. 54. 17 Welcher Tempel gemeint ist, bleibt unklar; vgl. COOPER, Curse of Agade S. 244. 18 Für COOPER, Paradigm and Propaganda S. 17 mit Anm. 32 (Verweis auf MICHALOWSKI, History as Charter S. 244) ist sumerisch dím-ma hier im Sinne von »political legitimacy« zu verstehen. 19 So im Wesentlichen mit ATTINGER, Fluch über Akkade. Zum Text s. COOPER, Curse of Agade S. 54; vgl. abweichend CAVIGNEAUX, Fluch über Akkade S. 328 mit Anm. 26 f.

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einem schweren Fluch, der die Zerstörung und Verwüstung der Hauptstadt und seines Umlandes bewirken sollte und schließlich auch bewirkt hatte. Die Komposition endet mit den Worten: »Für die Zerstörung von Akkade sei Inana Preis!« (Z. 281). Im Widerspruch zur historischen Realität wird in der Dichtung der Niedergang Akkades in die Zeit des Königs Narām-Sîn verlegt, – und nicht nur das: Er soll es auch gewesen sein, der durch sein Verhalten, nämlich die Zerstörung Nippurs und des dortigen Enlil-Heiligtums, den Zorn Enlils gegen sich heraufbeschworen und damit Akkade, d. h. das Reich, dem Untergang geweiht hatte. Aber auch die angebliche Zerstörung von Nippur durch Narām-Sîn entspricht nicht der historischen Realität, ganz im Gegenteil: Es war gerade Narām-Sîn, der sich in besonderer Weise um die Wiederherstellung und prächtige Ausschmückung des Ekur, des Enlil-Heiligtums, in Nippur bemüht hatte, wovon entsprechende Verwaltungsarchive in Nippur aus jener Zeit beredtes Zeugnis ablegen. 20 Wohl unter Ausnutzung des Umstandes, dass vor Beginn der Aufbauarbeiten das alte Heiligtum abgerissen werden musste und damit während der Regierungszeit des Narām-Sîn nur noch als Ruine existierte, 21 verband man geschickt historisch verbürgte Ereignisse, wie die Aufstandsbewegung gegen den König zu Beginn seiner Regierungszeit und die späteren Gutäer-Einfälle, mit einer (angeblichen) Verfehlung des Narām-Sîn gegen Enlil und damit gegen den sumerischen Süden Mesopotamiens. In der wissenschaftlichen Literatur wird im vorliegenden Zusammenhang die entsprechende Erinnerung an Narām-Sîn zuweilen als paradigmatisch für den König als »Unheilsherrscher« angesehen. 22 Dabei geht man davon aus, dass die Akkade-Dynastie insgesamt für die Folgegenerationen den Aufstieg und den Fall mesopotamischen Königtums schlechthin reflektieren sollte. Nur die beiden bedeutendsten Herrscher jener Zeit – Sargon und Narām-Sîn – spielten in dieser Tradition eine Rolle: der erste stand für den Aufschwung der Dynastie, der zweite für deren Niedergang. 23 20 Vgl. dazu (mit Literatur) zuletzt NEUMANN, Nippur S. 46. 21

Vgl. auch WESTENHOLZ, The ›Akkadian‹ Texts S. 28 mit Anm. 34; FOSTER, Age of Agade S. 15 f.; GABRIEL, Großtat. Anders STEINKELLER, History, Texts and Art S. 79 Anm. 215, für den »this ›attack‹ on the Ekur and its ›destruction‹ are purely metaphoric, referring to the alleged neglect of Nippur and Enlil’s cult by Naram-Suen«, da »the demolition of an old temple per se was a necessary procedure before the new one could be erected and, as such, was free of negative connotations.« 22 Vgl. etwa FINKELSTEIN, Mesopotamian Historiography S. 467; MICHALOWSKI, Amar-Su’ena S. 156 f.; Hruška, Verhältnis zur Vergangenheit S. 10 f.; EVANS, Naram-Sin and Jeroboam S. 99– 113; vgl. auch WESTENHOLZ, Old Akkadian Period S. 55. 23 Vgl. dazu COOPER, Curse of Agade S. 16; GLASSNER, L’historien mésopotamien S. 383 f.; vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch FOSTER, Age of Agade S. 14, der von »a later desire for historical symmetry, pairing a great empire builder (Sargon) with a hapless empire loser (Naram-

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Sieht man allerdings die Sargon- und Narām-Sîn-Tradition in einem weiteren Kontext der historisch-literarischen Überlieferung, dann wird deutlich, dass dies nur zum Teil richtig ist, da die historisch-erzählende Überlieferung in Gänze zum König Narām-Sîn weitaus differenzierter zu beurteilen ist. 24 Neben der pejorativen Sicht auf den König lässt sich gleichermaßen eine die Macht und den Erfolg des altakkadischen Herrschers reflektierende und rühmende Erzähltradition nachweisen. 25 Erinnert sei im vorliegenden Zusammenhang auch an die »Kette des Narām-Sîn« in den sog. Amulettsteintexten aus dem 1. Jt. v. Chr., die – aus 14 Steinen in individuell zusammengesetzter Reihenfolge bestehend – nicht zuletzt vom assyrischen König selbst in rituellem Kontext getragen wurde, damit sie auf Grund ihrer positiven, auf einer entsprechenden Tradition beruhenden magischen Kraft dem Träger der Kette göttliche Gunst zuteil werden ließ. 26 Auch die sog. historischen Omina vermitteln kein eindeutiges, in Teilen jedoch ein durchaus differenziertes Bild der Akkade-Herrscher und ihrer Rolle, basierend sowohl auf unterschiedlichen Traditionssträngen als auch auf späteren zeitgenössischen Inspirationen. 27 So standen hier beispielsweise die Person und die Regierung des Königs Šar-kali-šarrī paradigmatisch für den Untergang eines Reiches, was der historischen Realität ja durchaus näher kam. 28 Man wird also davon auszugehen haben, dass mit der Komposition »Fluch über Akkade« eine spezifische, nur partiell weitertradierte Sicht auf Narām-Sîn reflektiert wird, die auf Grund der Tatsache, dass vier Fragmente der Dichtung Ur III-zeitlich sind, auch spätestens in diese Zeit, also in das 21. Jh. v. Chr., zu datieren ist. 29 Man geht dabei wohl nicht fehl in der Annahme, dass der pejorative Blick auf Narām-Sîn letztlich eine antiakkadische Stoßrichtung hatte, so dass wir es hier gewissermaßen – eine Formulierung von Claus Wilcke und Pascal Attinger aufgreifend – mit einer politischen Tendenzschrift

Sin)«, spricht, »thereby teaching that no dynasty can last forever, no city can rule the land forever«. 24 Vgl. WESTENHOLZ, Legends of the Kings of Akkade S. 173–368. 25 Vgl. dazu bereits COOPER, Curse of Agade S. 16 f.; vgl. auch GLASSNER, La chute d’Akkadé S. 77–85; Schaudig, Erklärungsmuster von Katastrophen S. 426 f. 26 Vgl. dazu im einzelnen SCHUSTER-BRANDIS, Steine als Schutz- und Heilmittel S. 163–167. 341– 345; dies., Heilen mit Steinen S. 243 mit Anm. 19. 27 Vgl. dazu (mit Literatur) COOPER, Apodotic Death; WILCKE, Die sumerische Königsliste S. 124– 126; zuletzt ausführlich FOSTER, Age of Agade S. 252–262. 28 Vgl. GLASSNER, L’historien mésopotamien S. 385. 29 Vgl. in diesem Sinne COOPER, Paradigm and Propaganda S. 16; zu den Ur III-Textzeugnissen vgl. WILCKE, Law and Literature S. 38–41. Nach CAVIGNEAUX, Fluch über Akkade S. 320 »dürfte« die Dichtung »frühestens gegen Ende der Akkade-Dynastie entstanden sein, vielleicht etwas später«.

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zu tun haben. 30 Ihr Ursprung dürfte im Kreis der Enlil-Priesterschaft von Nippur zu suchen sein, für die – trotz der Bemühungen der Akkade-Könige um den Enlil-Tempel – das akkadische Königtum mit seinen spezifischen kultisch-religiösen Implikationen eine Fremdbestimmung bedeutete, und zwar auch in der Rückschau. 31 Inwieweit dabei auch Legitimationsstrategien der Ur III-Könige als von Enlil erwählte neue Herrscher Mesopotamiens eine Rolle spielten, muss offen bleiben – möglich wäre es durchaus. 32 2.2 Šulgi und Amar-Su’ena von Ur

Wie die Akkade-Zeit blieb nach dem Fall der III. Dynastie von Ur auch die Erinnerung an die Könige dieser Dynastie im kollektiven Gedächtnis der Gelehrtentradition in den unmittelbar folgenden Jahrhunderten lebendig. 33 Neben Abschriften neusumerischer Königsinschriften und der literarisch überlieferten Königskorrespondenz, deren historische Authentizität allerdings nach wie vor umstritten ist, sind es vor allem die auf die entsprechende Tradition der Ur III-Zeit zurückgehenden ›Königshymnen‹, die einen Nachruhm der neusumerischen Herrscher in der altbabylonischen Zeit bezeugen. Derartige, den jeweiligen König preisende Dichtungen sind für alle Ur III-Herrscher mit Ausnahme von Amar-Su’ena überliefert, wobei die Hymnen für Šulgi, der sich als erster König der III. Dynastie von Ur wie Narām-Sîn vor ihm vergöttlichen ließ, literarisch und inhaltlich dabei eine herausragende Stellung einnehmen. Abgesehen davon, dass Šulgi mit 48 Jahren Regierungszeit der am längsten herrschende König der Ur III-Dynastie gewesen ist, war er zudem auch deren erfolgreichster Monarch, was wahrscheinlich auch mit seiner Begabung und Bildung zusammenhing. So konnte er der Überlieferung nach lesen, schreiben und rechnen und war mit den Grundlagen der wirtschaftlichen Buchführung und der Vorzeichenkunde vertraut. Darüber hinaus beherrschte er die Regeln literarischen und musikalischen Schaffens. In den überlieferten Königshymnen werden auch sein diplo30

Vgl. etwa WILCKE, Politische Opposition S. 63 f.; ders., Geschichtsbewußtsein S. 48 Anm. 19; ATTINGER, Fluch über Akkade. 31 Vgl. NEUMANN, Nippur S. 47 mit Anm. 71 (Literatur); vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch die Überlegungen bei SCHRAKAMP, Ressourcen und Herrschaft S. 86 f.; GERSTENBERGER, Theologie des Lobens S. 101–106; STEINKELLER, History, Texts and Art S. 80. Die EnlilPriesterschaft von Nippur scheint auch gegen Ende der Ur III-Zeit eine zumindest zwielichtige Rolle in Bezug auf die Legitimität des letzten Ur III-Königs Ibbi-Sîn gespielt zu haben; vgl. NEUMANN, Nippur S. 49 f. 32 Vgl. dazu WILCKE, Politik im Spiegel der Literatur S. 34 f. 33 Vgl. zum folgenden bereits NEUMANN, Altorientalische »Imperien« S. 45 f. mit Anm. 78–83 (Literatur); zuletzt zusammenfassend SALLABERGER, Šulgi S. 275–278.

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matisches Geschick und sein Umgang mit Abgesandten fremder Völker gepriesen. Auch soll er mehrere Sprachen gesprochen haben. Gewiss ist manches, was hier literarisch überhöht über Šulgi berichtet wird, übertrieben, jedoch scheint die Grundaussage der in den Königshymen enthaltenen Lobpreisungen durchaus zu stimmen. Mit Blick darauf sowie auf seine lange wie erfolgreiche und damit auch wirkungsmächtige Regierungszeit kann es nicht verwundern, dass im Bewusstsein nachaltbabylonischer Generationen im wesentlichen dann vor allem die Person des Šulgi lebendig war. So firmierte etwa in der späteren astronomischen Tafelserie MUL.APIN die gesamte Ur III-Periode in der Erinnerung unter der Bezeichnung palê dŠulgi »Regierungszeit des Šulgi«. 34 Die in der nachaltbabylonischen keilschriftlichen, teilweise bis in das 1. Jt. v. Chr. reichenden Tradition 35 geschilderten (angeblichen) Taten des Šulgi konnten dabei sowohl positiver als auch negativer Natur sein. 36 Während die Omen-Literatur grundsätzlich ein positives Bild von Šulgi vermittelte, 37 stand dagegen die Person des Königs Ibbi-Sîn – wie bei dem altakkadischen Herrscher Šar-kali-šarrī – in der späteren Omen-Tradition paradigmatisch und verallgemei-nernd für den Untergang eines Reiches schlechthin. 38 Kann man für Šulgi noch eine gewisse Ambivalenz in der späteren Bewertung seiner Person und Regierungszeit ausmachen, so erscheint dessen Sohn und Nachfolger Amar-Su’ena 39 in der historischen Tradition wie auch in der späteren Omen-Überlieferung 40 grundsätzlich als glückloser Herrscher. 41 Wichtigstes Zeugnis ist in diesem Zusammenhang eine aus zwei Fragmenten zusammengesetzte einkolumnige Tontafel der altbabylonischen Zeit aus Ur, 42

34 Vgl. MICHALOWSKI, Correspondence S. 223 Anm. 10 (mit Literatur); CAD P 73b f. 35

Vgl. etwa BORGER, Gott Marduk; NEUMANN, Brief an König Šulgi; FRAHM, Šulgi Sieger; MICHALOWSKI, Correspondence S. 222–223; SCHAUDIG, Erklärungsmuster von Katastrophen; SALLABERGER, Šulgi S. 278 f. 36 Vgl. MICHALOWSKI, Amar-Su’ena S. 157; STARR, Place of the Historical Omens S. 632; FRAHM, Šulgi Sieger S. 24; WILCKE, Literatur um 2000 S. 209; SCHAUDIG, Erklärungsmuster von Katastrophen S. 435–442; SALLABERGER, Šulgi S. 278 f.; DE ZORCI, Death of Utu-hegal S. 135–137. 37 Vgl. GOETZE, Historical Allusions S. 259 f.; STARR, Place of the Historical Omens S. 632; WILCKE, Die sumerische Königsliste S. 127 mit Anm. 70; DE ZORCI, Death of Utu-hegal S. 136 mit Anm. 41. 38 Vgl. GLASSNER, L’historien mésopotamien S. 386–389; vgl. in vorliegendem Zusammenhang auch SCHAUDIG, Erklärungsmuster von Katastrophen S. 427–442. 39 Zu den Umständen der Thronfolge vgl. zuletzt GLASSNER, L’abdication de Šulgi. 40 Vgl. GOETZE, Historical Allusions S. 260 f.; STARR, Notes on Historical Omens S. 160–162; STARR, Place of the Historical Omens S. 631 f.; HEEßEL, Būr-Sîn or Amar-Su’ena; GLASSNER, L’abdication de Šulgi S. 254 f. 41 Vgl. SALLABERGER, Ur III-Zeit S. 167; SCHAUDIG, Erklärungsmuster von Katastrophen S. 440 f. 42 UET VIII 33+UET VI/3, 523; dazu vgl. ZÓLYOMI, Amar-Suena and Enki’s Temple S. 56 f.

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die im folgenden ausschnittsweise (Z. 6–27) in Übersetzung wiedergegeben sei: 43 (6)Diesen Tempel zu bauen, [schickte] er sich an, (7)Amar-Su’ena, der König, [schickte] sich an, diesen Tempel [zu] bauen. (8)Gegen den König rebellierte das Land, [ ... ]. (9)[Dieser Tempel] – im 1. Jahr lag er in Ruinen, er hat ihn nicht wieder[hergestellt], (10)Amar-Su’ena (hat) die ›göttlichen Kräfte‹ seines Königtums [ ... ]. (11)Im 2. Jahr la[g er (= der Tempel) in Rui]nen, er (= Amar-Su’ena) hat ihn nicht wiederher[gestellt], (12)Amar-Su’ena [tauschte] [se]in Gewand des K[önig]tums gegen ein Trauerkleid. (13)Im 3. Jahr lag er in Ruinen, er hat ihn nicht wieder[hergestellt], (14)Amar-[Su’ena] [konnte] das [Vorzeichen] der kiškanû-Bäume [nicht deut]en. (15)Im 4. Jahr la[g er in Ruinen], er hat ihn nicht wiederhergestellt, (16)(auch) nachdem ein Weiser ihm (entsprechende) Weisung gegeben hatte, konnte er den Grundriss des Tempels nicht strahlend erscheinen lassen. (17)Im 5. Jahr lag er in Ruinen, er hat ihn nicht wiederhergestellt, (18)das Abzu-Heiligtum versuchte er immer wieder mit Kraft zu formen. (19)Im 6. Jahr lag er in Ruinen, er hat ihn nicht wiederhergestellt, (20)den Grundriss des Tempels suchte er immer wieder, er konnte ihn (jedoch) nicht finden. (21)Im 7. Jahr lag er in Ruinen, er hat ihn nicht wiederhergestellt, (22)Enki sprach zu ihm über den besagten Tempel – den Tempel, der nicht existierte. (23)Vom 8. Jahr an, den Tempel zu bauen, schickte er sich an, (24)im Verlaufe? des 9. Jahres (hat) Amar-[Su’ena], der [K]önig, (25)das E’uduna, 44 den ›[Ort[ der/des Weisen‹, wie ... gebaut. (26 f.)Damals (hat) der Herr, der große Herr Enki, den Ort seines eigenen Tempels…

Der vorliegende Text, dessen literarische Einordnung schwierig zu beurteilen ist, reflektiert in historisierender Form die Regierungszeit des Königs AmarSu’ena in einer Weise, die unzweifelhaft eine Nähe zu der Dichtung »Fluch über Akkade« erkennen lässt. So soll es dem König erst nach 8 Jahren vergeblichen Bemühens möglich gewesen sein, das verfallene Heiligtum des 43

Zur vorliegenden Übersetzung mit den entsprechenden philologischen Bemerkungen und zu den bisherigen Bearbeitungen des Textes vgl. NEUMANN, Ein literarischer Text; vgl. darüber hinaus jetzt auch ESPAK, The God Enki S. 59 f. 44 é-udun-na »Ofen-Haus«; vgl. dazu die erklärenden Bemerkungen bei MICHALOWSKI, AmarSu’ena S. 156 Anm. 12.

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Gottes Enki in Eridu schließlich im 9. und damit im letzten Jahr seiner Herrschaft wiederherzustellen. Dabei klingt an, dass es göttlicher Wille war, der den König zunächst daran hinderte, das Bauvorhaben zu Ehren des Gottes und zu seinem eigenen Ruhm in Angriff zu nehmen und zu vollenden. 45 In einem weiteren Text (UET VIII 32), der inhaltlich in den vorliegenden Zusammenhang zu stellen ist, 46 heißt es explizit, dass eine von Amar-Su’ena initiierte Orakelanfrage hinsichtlich des Wunsches, den Enki-Tempel zu bauen, von göttlicher Seite negativ beschieden wurde: »Er stellte für den Tempel des Enki, (diesen neu) zu bauen, eine Orakelanfrage, in diesem Orakel(bescheid) [gab es für] ihn (aber) nicht (die Erlaubnis zum) Bau des Tempels« (Rs. 2’ f.). 47 Wie Narām-Sîn in »Fluch über Akkade« blieb also auch Amar-Su’ena die göttliche Gunst versagt, war also – wenn man so will – ein Versager. Auch die in der späteren Omentradition zu findende Aussage, Amar-Su’ena habe den »Stoß eines Rindes« (nikip alpi) erleiden müssen und sei durch den »Biss eines Schuhs« (nišik šēni) zu Tode gekommen, weist in diese Richtung. 48 Da über die Regierungszeit des Amar-Su’ena nur wenige historische Nachrichten vorliegen, könnte man zunächst annehmen, dass sich in der vorliegenden Dichtung wie auch in der Omentradition eine irgendwie geartete, bisher nicht näher bestimmbare Erfolglosigkeit seiner Politik widerspiegelt. Allerdings sind wie bei Narām-Sîn in Bezug auf das Enlil-Heiligtum in Nippur auch für Amar-Su’ena tatsächliche, offensichtlich erfolgreiche bauliche und kultische Bemühungen des Königs hinsichtlich des Enki-Tempels in Eridu zu erweisen. 49 Das geschilderte Unvermögen, den Tempelbau durchzuführen, hatte also kein Vorbild in einer Nachlässigkeit seitens des Ur III-Königs gegenüber der kultischen Tradition in Eridu. Auch ansonsten sind nach all dem, was wir wissen, keine erfolglosen Politikansätze des Amar-Su’ena erkennbar, ganz im Gegenteil: Nach Ausweis der Jahresdaten und der Verwaltungsurkunden scheint der König militärisch erfolgreich im Nordosten des Reiches an der Grenze zum iranischen Hochland operiert zu haben. Er sorgte auch für einen regen diplomatischen Verkehr mit 45

Vgl. dazu auch RADNER, Macht des Namens S. 265 mit Anm. 1354 f. (zu Z. 16; dazu auch STEINKELLER, History, Texts and Art S. 66). 46 Zu UET VIII 32 vgl. GREEN, Eridu 58 f.; ETCSL c.2.4.3.1/Segment B und C; ESPAK, The God Enki S. 60 f. Ein drittes in den vorliegenden Kontext zu stellendes Fragment ist UET VI/3, 524 (= »Shaffer’s provisional number« 487); dazu vgl. ETCSL c.2.4.3.1/Segment D und E sowie ZÓLYOMI, Amar-Suena and Enki’s Temple S. 57 f. 47 Vgl. FALKENSTEIN, »Wahrsagung« S. 50; HRUŠKA, Verhältnis zur Vergangenheit S. 10. 48 Vgl. zur entsprechenden Apodosis KOCH-WESTENHOLZ, Liver Omens S. 244 mit Anm. 640; zuletzt HEEßEL, Būr-Sîn or Amar-Su’ena S. 100. 49 Vgl. RIME 3/2.1.3.15; ESPAK, The God Enki S. 58 f.

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den angrenzenden Gebieten. In die Zeit des Amar-Su’ena fallen Neuerungen im Bereich der Verwaltung und des Buchungswesens. Zudem verantwortete der König umfangreiche Baumaßnahmen im Rahmen des Bewässerungssystems wie auch in Bezug auf die Rekonstruktion und den Neubau von Heiligtümern etwa in Nippur, Ur, Uruk und eben auch in Eridu. Belegt sind darüber hinaus nicht wenige kultische Aktivitäten seitens des Königs. 50 Offensichtlich handelt es sich bei der späteren literarischen wie auch OmenTradition, die im Übrigen auch aus altbabylonischer Zeit datiert und dann noch einmal neuassyrisch im 1. Jt. v. Chr. kommentiert wurde, 51 um eine bewusst negativ konnotierte Erinnerungspolitik hinsichtlich der Regierungszeit des Amar-Su’ena. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch das singuläre Fehlen einer (preisenden) hymnischen Literatur zu Amar-Su’ena. Die Ursprünge der literarisch überlieferten pejorativen Sicht auf diesen König sind von Walther Sallaberger wohl zu Recht mit dessen Nachfolger Šū-Sîn in Verbindung gebracht worden, der ganz offensichtlich die Erinnerung an seinen Vorgänger zurückzudrängen suchte, etwa im Rahmen der kultischen Verehrung des verstorbenen Königs sowie in Bezug auf das ausbleibende Fortschreiben des Königsnamens im Festkalender und bei der Tempelbenennung im 2. und 3. Jahr seiner Herrschaft. 52 Unklar bleiben allerdings die Gründe für eine derartige Erinnerungspolitik. Dass diese »auf Šu-Suen als einen ehrgeizigfrustrierten Neider schließen« lässt, dem »auch die möglicherweise vorhandenen Hymnen auf Amarsu’ena zum Opfer gefallen sein« müssten, wie Walther Sallaberger vermutet, 53 sei zunächst dahingestellt. Šū-Sîn knüpfte jedenfalls in wichtigen Bereich der Außen- und Innenpolitik an die Intentionen des Šulgi an und versuchte sich dabei – auch durch eine verstärkte autokratische Handlungsweise und dementsprechende Selbstdarstellung 54 – von seinem unmittelbaren Vorgänger abzusetzen, offensichtlich auch mittels einer spezifischen Erinnerungspolitik, die aber wohl mehr einem bewussten politischen Kalkül entsprungen sein dürfte, als dass gekränkte Eitelkeit der Grund hierfür gewesen ist.

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Zur Innen- und Außenpolitik des Amar-Su’ena vgl. zusammenfassend SALLABERGER, Ur IIIZeit S. 163–166; vgl. auch LAFONT, Game of Thrones S. 191–197, der allerdings auf Probleme während der letzten Regierungsjahre des Amar-Su’ena aufmerksam macht (ebd. S. 200 f.). 51 Vgl. STARR, Notes on Historical Omens S. 160–162; HEEßEL, Būr-Sîn or Amar-Su’ena S. 100; zu dem entsprechenden Kommentar vgl. zuletzt FRAHM, Text Commentaries S. 176 f. 52 Vgl. SALLABERGER, Ur III-Zeit S. 167 mit Anm. 160. 53 Ebd. S. 167. 54 Vgl. ebd. S. 168–171; SALLABERGER, Šu-Suen von Ur S. 363 f.

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3. Fazit Es bleibt abschließend festzuhalten, dass insbesondere die literarische Herrschaftserinnerung des ausgehenden 3. und frühen 2. Jt.s v. Chr. mit Blick auf die Könige der Akkade- und Ur III-Zeit sehr stark von fiktiven Elementen durchdrungen war, die den jeweiligen König – soweit sie ihn überhaupt thematisierte – je nach Intention als gut und erfolgreich und damit als Vorbild oder als negativ und glücklos kennzeichnete. In letzterem Fall verdankte die entsprechende, sich vornehmlich mit Narām-Sîn von Akkade und AmarSu’ena von Ur verbindende Überlieferung ihren Ursprung höchstwahrscheinlich politischen Motiven und Zielsetzungen entweder seitens bestimmter politisch-sozialer Gruppen, wie der Enlil-Priesterschaft von Nippur, oder seitens königlicher Nachfolger mit einer bewussten pejorativen Erinnerungspolitik, wie es bei Šū-Sîn der Fall gewesen zu sein scheint. Dabei schwang durchaus auch die allgemeinere theologisch-religiöse Absicht der in den Schreiberschulen tätigen Gelehrten mit, zu zeigen, wohin die Hybris eines Königs, d. h. die Nichtbeachtung göttlicher Entscheidungen, führte, nämlich in die Katastrophe und den Untergang, wie es ja vornehmlich in der Dichtung »Fluch über Akkade« deutlich wird. Der König war hier Versager und Unheilsherrscher zugleich.

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Abkürzungen CAD ETCSL OSP RIME UET

The Assyrian Dictionary of the University of Chicago The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature Old Sumerian and Old Akkadian Texts in Philadelphia The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods Ur Excavations. Texts

Heide Frielinghaus / Doris Prechel Konstruiertes Versagen Zum Umgang mit Herrschern ohne »Eigenleben«

Der nachfolgende Beitrag bildet den Versuch ab, unter Berücksichtigung von prekären Quellenverhältnissen einen transdisziplinären Blick auf die Konzeption eines versagenden Herrschers zu werfen. Gemeinsam geht es uns um die Erkennung von Mustern, die im Altertum dazu gedient haben, einem Herrscher die ihm durch Normen zugeschriebenen Attribute zu verwehren. Eine besondere methodische Herausforderung besteht hierbei in der Differenz der Quellengattungen (schriftlich/materiell) und in der kulturellen Eigenständigkeit der Exempla (hethitisch/griechisch). Um der Zielsetzung näher zu kommen, sollen eingangs jeweils jene Aspekte herrschaftlichen Handelns skizziert werden, die sich als Erwartungshaltung an einen Herrscher rekonstruieren lassen. Sodann versucht der Beitrag der Frage nachzugehen, mit welchen Mitteln an zwei (verschiedenen) Punkten der Alten Welt die Bewertungskategorien Erfolg und Versagen für die Mit- und Nachwelt geformt wurden 1.

1. Zur Konzeption herrschaftlichen Erfolges und Versagens im hethitischen Reich Bei dem hethitischen Staat handelt es sich um ein politisches Gebilde, das fast ein halbes Jahrtausend (etwa 1650–1190 v. Chr.) auf dem Gebiet der heutigen Türkei in unterschiedlichen territorialen Ausmaßen Bestand hatte. Nach der Formation des ›Landes Hatti‹ in der althethitischen Zeit war die mittelhethiti1

In dem hier gegebenen Rahmen kann unsere Untersuchung weder eine breite Materialbasis diskutieren noch viele Aspekte des facettenreichen Themas beleuchten. Vorgelegt wird lediglich eine Skizze, die mögliche Fragestellungen und Methoden sowie das Potential transdisziplinären Vergleichs auslotet. Daher werden hier nur wenige für den Untersuchungsgegenstand relevante Herrscherfiguren und Herrschaftsaspekte betrachtet, und auch diese nur unter ausgewählten Gesichtspunkten. Weiterführende Untersuchungen zu dem umfangreichen Themenkomplex sind in Vorbereitung.

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sche Zeit gekennzeichnet von einer Schwächeperiode, die sich in großen Gebietsverlusten widerspiegelte. In den letzten 150 Jahren seines Bestandes konnte das hethitische Reich jedoch durch Annexion syrischer Bereiche neben Ägypten, Babylonien und Assyrien zu einer Großmacht im Vorderen Orient aufsteigen. Aus dieser Zeit stammen besonders zahlreiche Schriftzeugnisse aus der ehemaligen Hauptstadt Hattusa, welche durch die dort seit 1906 durchgeführten Grabungen geborgen wurden. Viele tausend Keilschrifturkunden geben über die Ausübung von Herrschaft Informationen. Bei den Dokumenten, die zur Beschreibung von Macht, Herrschaft und Königtum herangezogen werden können, handelt es sich um historisch-politische Texte (Staatsverträge, Annalen, Chroniken, Erlasse, Korrespondenzen), Rechts- und Verwaltungsurkunden (Gerichtsprotokolle, Instruktionen, Inventare) und – mit großem Abstand am häufigsten – religiöse Texte (Ritual- und Festbeschreibungen, Hymnen, Gebete, Mythen, Mantik). Die Archive und Bibliotheken von Hattusa bilden bis heute die wesentliche Grundlage, die Themen Macht, Herrschaft und Königtum zu behandeln 2. Eine Geschichte der hethitischen Herrscher als eine Geschichte von Versagern zu deklarieren fällt aus moderner Perspektive recht leicht. Es genügt, sich die Maßstäbe für die an den Herrscher gerichteten Erwartungen aus den auf uns gekommenen keilschriftlichen Zeugnissen vor Augen zu führen. Die Legitimation des hethitischen Herrschers leitet sich vor allem aus seiner persönlichen Rolle als Stellvertreter der Götter auf Erden ab. Dies lässt sich nicht zuletzt aus der sich wiederholenden Verkündigung in den Staatsfesten entnehmen: »Möge Tabarna, der König, den Göttern angenehm sein. Das Land gehört nur dem Wettergott. Himmel und Erde mitsamt der Bevölkerung gehören nur dem Wettergott. Er machte Labarna, den König, zu seinem Verwalter und gab ihm das ganze Land Hattusa. Labarna soll nun durch seine Hände das ganze Land ständig verwalten. Wer immer der Person und den Bereich des Labarna zu nahe kommt, den möge der Wettergott vernichten.« 3 Wohl und Wehe des hethitischen Herrschers hingen also an seinem engen Verhältnis zu den Göttern. Allerdings wollten oder konnten sich nur die Wenigsten allein darauf stützen. Es gelang nicht vielen hethitischen Königen, ohne Intrigen und Mord ihre Machtansprüche aufrecht zu erhalten. Das heißt, ihr Versagen bestand darin, dem Ideal einer rein göttlichen Legitimation mit moralisch zweifelhaften Mitteln nachhelfen zu müssen. Bereits der Reichsgründer Hattusili I. musste sich im 16. Jh. v. Chr. »böser Machenschaften« innerhalb der eigenen Sippe erwehren. Die familiären Kon2

Einen Überblick über Geschichte und Kultur der Hethiter bieten KLINGER, Die Hethiter; COLLINS, Hittites; BRYCE, Kingdom of the Hittites. 3 Sog. Tabarna-Heilsformel, IBoT 1.30 2–8, s. BECKMAN, Royal Ideology S. 530.

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flikte führten dazu, dass weder sein zum Nachfolger designierter Sohn noch der von ihm hernach erwählte Neffe auf dem Thron folgen sollten. Am Ende des leidlich gelungenen Herrscherwechsels gelangte der Enkel des Hattusili, Mursili I., an die Spitze des hethitischen Reiches. Obwohl Mursili als Eroberer der prestigereichen mesopotamischen Metropole Babylon durchaus Herrscherqualitäten zeigte, fiel er einem Mord zum Opfer, und zahlreichen seiner Nachfolger sollte es nicht besser ergehen. Der sog. »Thronfolgererlass« 4 des hethitischen Königs Telipinu weist im historischen Rückblick mahnend auf Thronraub und Mord innerhalb der Königsfamilie. Doch blieb seiner moralischen Wegweisung nur bescheidener Erfolg vergönnt. Schon sein fünfter Nachfolger, Huzzija II., wurde von einem gewissen Muwatalli ermordet. Dieser wiederum erlag selbst einem Komplott seiner Beamten bei Hofe. Erst mit dem Mord am »kleinen Tuthalija« durch seinen Bruder Suppiluliuma in der Mitte des 14. Jh. v. Chr. nehmen die Bluttaten im hethitischen Königshaus ein Ende – wenn man den Quellen Glauben schenken darf. Was folgt sind unklare Ränke unter den Söhnen, deren spektakulärste Folge die Absetzung eines legitimen Königs durch seinen machthungrigen Onkel am Beginn des 13. Jh. v. Chr. war. Inwiefern sich das durch die hethitische Geschichte wie ein roter Faden ziehende Problem des Herrscherwechsels auch zum endgültigen Untergang des hethitischen Großreiches, das immerhin fast 500 Jahre als weltpolitisch bedeutende Macht im Vorderen Orient wahrgenommen wurde, beigetragen hat, lässt sich schwer ermessen 5. Die in der gebotenen Kürze skizzierten hethitischen Thronfolgen, wie sie sich aus den verfügbaren Quellen rekonstruieren lassen, stellen natürlich nur einen, jedoch besonders charakteristischen Gradmesser herrschaftlichen Versagens dar. Immerhin kann ein Zeugnis wie der bereits erwähnte »Thronfolgererlass« des Telipinu ein Licht darauf werfen, dass auch aus der emischen Perspektive die gelungene Antwort auf die Nachfolgefrage des Herrschers ein Kriterium für Erfolg (i.S.v. Nicht-Versagen) war. Des Weiteren vermitteln die hethitischen historiographischen Texte 6 den Eindruck, dass das Versagen in der per-

4 Eine Zusammenfassung der Genre-Diskussion bietet GILAN, Formen und Inhalte S. 163–173. 5

Zum besseren Verständnis der wenig erfolgreichen Herrschersukzession sei die hethitische Thronfolge bis Suppiluliuma I. aufgezählt: Hattusili I - Mursili I. (ermordet) - Hantili I. - Zidanta I. (ermordet) - Ammuna - Huzzija I. (abgesetzt) - Telipinu - Tarhuwaili? (Usurpator, Einordnung unklar) - Alluwamna - Hantili II. - Zidanta II. - Huzzija II. (ermordet) - Muwatalli I. (ermordet) - Kantuzzili?? (Usurpator?, Königswürde unklar) - Tuthalija I./II. - Arnuwanda I. Tuthalija II./III. (ermordet) - Suppiluliuma I. Die Übersicht folgt WILHELM, Generation Count S. 76. 6 Zur Bewertung der Texte s. zuletzt KLINGER, Geschichte oder Geschichten.

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sönlichen Disposition (krank, sündhaft, leistungsschwach) zu suchen war 7. Gelangte ein Thronprätendent zur Macht und konnte sich dort auch eine vernünftige Zeit als König halten, so lagen die Erwartungen an ihn in seinen zentralen Kompetenzbereichen: Religion, Rechtsprechung und Kriegsführung. Davon legen die eingangs genannten keilschriftlichen Quellen beredtes Zeugnis ab. Der König hatte dafür Sorge zu tragen, dass die Kulte der Götter regelmäßig gepflegt, die Tempel instand gehalten und die Feste zelebriert werden konnten. Er war zugleich der oberste Priester der höchsten Gottheit des hethitischen Pantheons 8. Unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. Kapitalverbrechen, Abtrünnigkeit von Vasallen, Beschuldigte sind Mitglieder des Herrscherhauses) hatte der König auch die Funktion des obersten Gerichtsherren. Als Gradmesser erfolgreichen Regierens kann schließlich auch die Anwendung militärischer Gewalt als Vollzug göttlichen Willens angelegt werden 9. Gibt es bei den Hethitern kontemporäre schriftliche Quellen, die den Erfolg des Herrschers in den genannten Bereichen zu bestätigen scheinen, so ist die explizite Thematisierung des Versagens nur retrospektiv greifbar, indem Verfehlungen königlicher Vorgänger in den Erzählungen über die eigenen Taten eingestreut werden 10. Selbst auf rein literarischer Ebene fehlt im hethitischen Schrifttum die Konstruktion des Königs als Unglücksherrscher, wie er etwa als Topos durch die Legenden über Narām-Sîn von Akkade bekannt ist. Eine Stilisierung zum Unglücksherrscher in folkloristischen Erzählungen oder gar bildlichen Wiedergaben für die Nachwelt wurde keinem hethitischen König zuteil. Gleichwohl waren die Geschichten um die Könige von Akkad in Anatolien präsent. Es ist in diesem Zusammenhang reizvoll festzustellen, dass bereits die ersten hethitischen Könige ein Interesse daran gehabt haben, diese originär mesopotamische politisch-moralische Dichtung einzuführen und in das Hethitische übersetzen zu lassen. Dabei handelte es sich zum einen um die paradig7

Es sei an dieser Stelle lediglich auf die Beschreibung der Zustände Tuthaliyas II./III. in den sog. Mannestaten Suppiluliumas (CTH 40) oder Arnuwanda I. in den Annalen Mursilis (CTH 61) verwiesen. 8 Hinsichtlich der Darstellung königlicher Fürsorgepflicht gegenüber den Göttern erweisen sich die Orakelanfragen als äußerst aussagekräftig, da sie häufig in der Verletzung der Kulte die Gründe göttlichen Zorns suchen. Als Zelebrant der großen Staatsfeste ist stets der König erwähnt, um die von den Göttern gesetzte Ordnung aufrecht zu erhalten und somit den Fortbestand des Landes und seiner Bevölkerung zu garantieren. 9 Insbesondere die Annalen, mit ihrer Fokussierung auf die Eroberung feindlicher Gebiete und Bereicherung durch Beute, verweisen auf die große Bedeutung der Kriege für den König, die er im Auftrag und unter dem Schutz der Götter durchführt. 10 Das bekannteste Beispiel dafür ist sicherlich die sog. »Apologie« Hattusili III. Der Text ist von dem Bemühen geprägt, die Herrschaftsübernahme des Usurpators durch Dekonstruktion des legitimen Thronfolgers zu legitimieren.

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matische Erfolgsgeschichte Sargons von Akkade, jenes Herrschers, auf den sich schon Hattusili I. in seinen Annalen bezieht, obwohl beider Regierungszeit etwa 600 Jahre auseinanderliegen. Zum anderen fanden, bislang nur durch etwas jüngere Abschriften belegt 11, auch die Geschichten um Narām-Sîn ihren Eingang in die hethitischen Archive. Darin wird in Erinnerung gehalten, wie der König göttliche Zeichen missachtete und es ihm nicht gelang, einfallende barbarische Horden aufzuhalten. Den Legenden zufolge verfällt Narām-Sîn dem Trübsal, er ist gottverlassen, ein Versager.

2. Hethitische Herrscher als Versager – ein Fallbeispiel Die hethitische Literatur kennt keine literarischen Erzählungen, die sich um einen Unglücksherrscher ranken. In der hethitischen Geschichtsschreibung lässt sich jedoch eine Gestalt finden, die mit dem Typus Ähnlichkeiten aufweist: Ammuna 12. Allerdings, vielleicht eben auch deshalb, sind nur wenige Quellen erhalten, die über ihn zu berichten wissen. Der wichtigste Beleg seines Regierens entstammt der Einleitung des bereits erwähnten sog. »Thronfolgererlasses« Telipinus. Während in diesem Textzeugnis die erfolgreichen Könige die Merkmale aufweisen, die Familie zusammenzuhalten (taruppanteš ešer), das Feindesland fest zu beherrschen (kuttanit taraḫḫan ḫarta, wörtl. »mit starkem Arm halten«-) und die feindlichen Länder zu entmachten (arḫa tarranut), wird über Ammuna folgendes berichtet 13: »Als Hantili alt [wa]r und im Begriffe, Gott zu werden, ermordete Zidanta [den Piseni,] den Sohn des Hantili, einschließlich dessen Söhnen, [und auch] die vornehmst[en] seiner Diener ermordete er. Und auch Zidanta herrschte als König, und die Götter suchten (ihn) heim wegen der Bluttat an [Pi]seni und machten den Ammuna, seinen eigenen Sohn, zu seinem Feind, und (dies)er ermordete seinen Vater Zidanta. Und auch Ammuna herrschte als König, und die Götter suchten (ihn) heim (wegen) der Bluttat an seinem Vater Zidanta, und ihn, in seiner Hand Getreide, Wein, Rinder (und) Schafe […]ten sie nich[t.] Das Land aber wurde gegen ihn feindlich, [(es folgen Aufzählungen von Ländereien) …]. Wohin aber auch (seine) Soldaten zu Felde zogen, da kamen sie nicht erfolgreich zuruck. Sowie auch Ammuna Gott wurde, schickte Zuru, der Anfuhrer der Leibwächter, in jenen Tagen heimlich

11 S. die Übersicht bei WESTENHOLZ, Transmission and Reception S. 298. 12 So schon KLENGEL, Geschichte S. 73. 13

Die Übersetzung folgt KÜMMEL, Hethitische Texte.

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einen Sohn aus seiner Familie, den Tahurwaili, den Goldlanzenmann, und (dies)er ermordete die Familie des Tittija mitsamt dessen Söhnen.«

Die Tatsache, dass aus der Regierungszeit Ammunas keine zeitgenössischen, auf seine Person bezogenen Zeugnisse überliefert sind 14, gibt zumindest einen Hinweis auf eine im Rahmen von Erwartungshaltungen nicht erbrachte Leistung, die mit seiner Herrschaft verbunden gewesen ist. Was der »Thronfolgererlass« Telipinus dem Ammuna zuschreibt ist indes desaströs. Kommt dem Königsmörder Hantili durch seine moralische Einsichtnahme seitens der Götter noch Milde zu – er wird alt und stirbt eines natürlichen Todes – so werden die Bluttaten von Ammunas Vater Zidanta mit dessen Tod bestraft. Die Darstellung des »Sündenfalls« des Ammuna (Ermordung des Vaters) ist eine Besonderheit in der hethitischen Geschichte. Anders als der literarische Prototyp des Unglücksherrschers Narām-Sîn von Akkade missachtet Ammuna ja keinesfalls göttlichen Rat und Weisung. Im Gegenteil: die Götter bestimmen ihn zum Mörder seines Vaters, indem sie ihn »zu seinem (i.e. des Vaters) Feind machten«. Für die Erfüllung des göttlichen Willens wird Ammuna nun aber zugleich bestraft: Das Land erlebt unter seiner Herrschaft Hungersnöte und militärische Niederlagen, in deren Folge es letztendlich von ihm abfällt. Damit unterscheidet sich der Sachverhalt gegenüber den zuvor geschilderten Morden innerhalb des Königshauses, die nicht durch göttliche Intervention motiviert waren. Ohne Zweifel handelt es sich bei dem »Thronfolgererlass« um ein tendenziöses Zeugnis. Für unser Thema der Konstruktion eines versagenden Herrschers ist der tatsächliche historische Gehalt der Einleitung allerdings nicht von Bedeutung. Das klare Gegeneinander von guten und schlechten Zeiten spricht für eine bewusste literarische Überformung in der Darstellung der Geschehnisse. Mit der Stilisierung als ein willkürliches Instrument der Götter und daher versagendem Herrscher erfährt Ammuna unter den hethitischen Königen eine einmalige Figuration. Er kann seiner Pflicht, das Land dauerhaft 14

S. aber das Ärmchenbeil mit Beschriftung ta-ba-ar-na am-mu-na LUGAL.GAL ša i-šar INIM uš-pa-ḫu BA.ÚŠ, »Tabarna Ammuna, Großkönig; wer das Rechte des Wortes verändert wird sterben«, SALVINI, Ammuna. Sollte die Inschrift echt sein, so trägt sie in keiner Weise zu einem Imagegewinn des Ammuna bei. Der bronzene Schriftträger ist von keinem besonderen handwerklichen Wert, seine Funktion ist unklar. Erhebliche Zweifel an der Echtheit der Inschrift wecken die Orthografie und der Wortlaut: er steht nicht in einem Zusammenhang mit dem Objekt, sondern entspricht dem Formular der auf Landschenkungsurkunden verwendeten Siegel. Syntaktisch am nächsten kommen die Siegelinschriften Zidanzas II., Taḫurwailis, Muwatallis I., s. schon SALVINI, Ammuna S. 86 und nun den Katalog der Siegel bei RÜSTER / WILHELM, Landschenkungsurkunden S. 41-48. Die anstelle der in den genannten Siegelinschriften verwendeten Phrase awāt-šu »sein Wort« erscheinende išar awātim hat keine Parallele. Im Vergleich mit den bislang bekannten vergleichbaren Objekten, dem Dolch des Anitta und dem Schwert des Tutḫaliya, ist die Dedikation nicht zu erklären.

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zu schützen, nicht nachkommen. Prestigegewinn durch erfolgreiche Feldzüge wird ihm nicht zuteil. Weder gelingt es ihm Einheit in der Familie zu erzielen noch Frieden im Lande zu wahren. Andere königliche Sünder werden mit Tod oder zumindest Krankheit von den Göttern gestraft und damit als Patiens ihrem gerechten Schicksal zugeführt 15. Ammuna wird aber mit einer katastrophalen Amtszeit bestraft. Wenn die Herrschaft des Ammuna nach der Darstellung Telipinus immerhin nicht durch Mord beendet worden und wahrscheinlich auch nicht sehr kurz gewesen ist, so kann dies in der Inszenierung seines Nachfolgers auf dem Thron begründet sein 16. Die den »Erlass« autorisierende Person Telipinu war der Sohn des Ammuna. Seine Verbindung mit einem Königsmord hätte die Botschaft des (in der Moderne) nach ihm benannten Schriftstückes geradezu konterkariert. Es darf spekuliert werden, ob die Tatsache, dass bislang kein weiterer hethitischer König mit dem Namen Ammuna belegt ist, reiner Zufall sein kann. Und nicht nur das: Auch Telipinu und dessen unmittelbaren Nachfahren wurde eine Ehrerbietung durch Wiederaufnahme ihrer Namen nicht zuteil. Herrschaftliches Versagen könnte sich also hier auch als eine Spielart der damnatio memoriae zeigen.

3. Zwischenbilanz Versagen eines altorientalischen Herrschers ist in der Binnenperspektive immer ein Versagen gegenüber den Göttern, denen er rechenschaftspflichtig war. Obwohl einem Herrscher wie Ammuna keine Nachlässigkeit bezüglich der regelmäßigen kultischen Verehrung und Versorgung der Götter vorgeworfen wird, zürnen ihm die Götter. So ist er, in der Darstellung seines Nachfolgers, nicht in der Lage gewesen, das Wohlergehen des Landes und seiner Bevölkerung zu gewähren. Die Besonderheit, die sich aus dem Versagen Ammunas ergibt, ist, dass er sich den Normen, die sein Verhalten als Herrscher regelten, anscheinend gefügt hat und ihm gleichwohl eine göttliche Strafe zuteilwurde, als handle es sich bei dem Mord an seinem Vater um eine eigene Entscheidung. Seine Nachfolger ließen keinen Zweifel daran, dass er dafür zur Rechen-

15

Bekanntestes Beispiel ist wahrscheinlich der Ausbruch einer Epidemie im hethitischen Reich, nachdem Suppiluliuma seinen Bruder, den legitimen Thronfolger, beiseite geschaffen hat. 16 GILAN, Formen und Inhalte S. 160, der aufgrund dieser Annahme und der gleichzeitig fehlenden Detailliertheit der Darstellung ein gewisses Desinteresse des »Autoren« an Ammuna wahrnimmt.

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schaft gezogen werden musste 17. Dass Ammuna als einzigem hethitischen Herrscher eine solche Zuweisung widerfuhr, kann nach heutiger Bewertung als eigentliches Versagen betrachtet werden, denn es gibt durchaus Hinweise aus späterer Zeit, dass auch er in der Lage gewesen ist, Land und Leute herrschaftlich zu beschützen 18. Es ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass der oder die Verfasser des Telipinu-»Erlasses« die Erzählung um Ammuna als Exempel stilisierten, um auch diese Form herrschaftlichen Versagens erstmals zu thematisieren. Aus Sicht des Telipinu ist damit die Regierungszeit seines Vaters, der durch fehlende eigene Quellen zur Nebenfigur degradiert ist, in einer durch Intrigen und Mord unübertroffen verabscheuungswürdig gezeichneten historischen Ära gekonnt herausgehoben.

4. Zur Konzeption eines Versagers aus griechischer Warte Der in der Antike und heute als ›griechisch‹ aufgefasste Raum veränderte sich beständig in seiner territorialen Erstreckung wie auch in seiner Binnengliederung. Über den größeren Teil des ersten vorchristlichen Jahrtausends handelte es sich um ein Konglomerat zahlreicher und verschiedenartiger politischer Einheiten, die auf der einen Seite durch das Bewusstsein gemeinsamer Wurzeln sowie u.a. durch gemeinsame Sprache und Religion miteinander verbunden waren, sich aber auf der anderen Seite in zahlreichen Details der Lebensgestaltung voneinander unterschieden und zudem untereinander häufig in Auseinandersetzungen verwickelt waren. ›Herrschaft‹ konnte in diesem (Kultur-) Raum unterschiedliche Formen annehmen. Zu den gängigsten Alleinherrscher-Typen gehörten die in verschiedenen Staaten zeitweise regierenden sog. Tyrannen 19 sowie die Könige in den Randgebieten der griechischen Welt, wie z. B. in Makedonien 20; aus hellenistischer Zeit sind die Könige der sog. Diado17

Vergleiche DIETRICH, Verstockung zu dem im Alten Testament erzählten Phänomen der »Verstockung« (freundlicher Hinweis S. Grätz): »Das objektive Faktum des vollbrachten Bösen wiegt schwerer als die mögliche subjektive Unfähigkeit, es zu vermeiden. Und: Das negative Einwirken Gottes auf einen Menschen enthebt diesen nicht der Verantwortung für sein negatives Tun; ein verstockter Mensch ist nicht etwa von Gott besessen, sondern bleibt im Besitz seiner geistigen und seelischen Kräfte.« 18 Eine, durch eine in spätere Zeit datierende Kopie erhaltene, eigene Darstellung des Ammuna erweckt nicht den Eindruck des Versagens. »So spricht Ammuna, der Großkönig« sind die Anfangszeilen und sofern die Textzugehörigkeit von Kol. IV von KUB 36.71 zu den Worten in Kol. I gegeben ist, konnte der König das Land »bis zum Meere erweitern« – ein Ideal königlicher Militärleistung, s. HOFFNER, Histories and Historians S. 306. 19 Für einen Überblick und eine Einordnung der Herrschaftsform s. z. B. DREHER, Griechische Tyrannis. 20 Zu Stellung und Selbstverständnis Makedoniens (bzw. seiner Herrscher) im Verhältnis zur griechischen Welt s. z. B. HUTTNER, Heraklesgestalt S. 65–67.

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chenreiche in der Nachfolge Alexanders des Großen zu nennen. Neben den historischen Herrschern spielten in schriftlichen und bildlichen Quellen auch mythische Könige eine große Rolle, wobei zu betonen ist, dass mythische Geschichten im griechischen Raum trotz ihrer Veränderbarkeit und ständigen Veränderung nicht als Erfindung galten, sondern als uralte Geschichte 21. Entsprechend finden mythische Könige nicht nur in epischen, dramatischen oder philosophischen Werken Erwähnung, sondern auch in historischen Quellen oder Reisebeschreibungen. Ihre Behandlung und Verbildlichung erfolgte nicht nur im Rahmen der Konfiguration von Lebenssituationen, Leitbildern o. ä., sondern beispielsweise auch im Zusammenhang mit konkreten politischen Ansprüchen. Als konzipierte Gestalten sind die mythischen Könige besonders geeignet, Vorstellungen und Entwürfe von verschiedenen Typen von Herrschern zu übermitteln, wobei die Konzeption in grundsätzlicher Anlage wie in Akzentuierung je nach Entstehungszeit, -ort, konzipierender Person oder verwendetem Medium unterschiedlich ausfällt 22. Der griechische Mythos kennt eine große Zahl von Herrschern, und zwar sowohl solche, die im eigentlichen griechischen Gebiet oder der griechischen Peripherie verortet sind als auch solche, die über ›fremde‹ Völker herrschen. Schon ein knapper Überblick lässt verschiedene, einander teilweise überschneidende Gruppen erkennen. Eine erste Gruppe bilden die eponymen Könige, die in der Regel in eine – wenn auch zuweilen nur knapp ausgeführte – Genealogie eingebettet sind; um manche dieser Gestalten sind keine Geschichten gewoben, während andere in knappe oder ausführlichere Erzählungen eingebunden sind 23. Eine zweite Gruppe umfasst eigenständige Figuren mit zentraler oder zumindest wichtiger Funktion in u. U. umfangreicheren Geschichten 24, während in einer dritten Gruppe alle diejenigen Personen zusammengefasst werden können, die Teil einer oder mehrerer Erzählungen sind, aber lediglich eine (wenn auch zuweilen signifikante) Nebenrolle spielen 25. Als gänzlich oder in einzelnen Punkten Versagende konnten nur diejenigen Könige konzipiert bzw. aufgefasst werden, die in eine Geschichte integriert wurden. 21 Vgl. auch VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 265. 22

Vgl. z. B. die Schilderung Kreons als »neutraler Herrscher« in den Epen und die (in unterschiedlicher Akzentuierung) negative Charakterisierung seiner Gestalt in den Tragödien des Sophokles und Euripides: LIMC VI (1992) s.v. Kreon I 112 f. (K.B. Poulsen). 23 Für eine Einbindung eponymer Könige in lediglich angedeutete oder in nur knapp ausgeführte Geschichten s. z. B. LIMC IV (1988) s.v. Erythros 21 f. (P. Weiss); LIMC VI (1992) s.v. Megareus 403 (P. Zoridis). 24 S. z. B. LIMC I (1981) s.v. Agamemnon 256 f. (O. Touchefeu). 25 S. z. B. LIMC VI (1992) s.v. Lykomedes I 298 f. (A. Kossatz-Deissmann); LIMC VI (1992) s.v. Laertes 181 (O. Touchefeu-Meynier).

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Keine Rolle spielte jedoch die Wichtigkeit der fraglichen Person im Narrativ. Hauptpersonen konnten ebenso wie Nebenpersonen als (teilweise) Versager charakterisiert werden, letztere waren sogar in besonderem Maße als Folie für erfolgreiche Figuren geeignet. Aus der heutigen Perspektive bieten die mythischen Erzählungen zahlreiche Punkte herrscherlichen Versagens. Dazu zählt u. a. auch die misslungene Sicherung der eigenen Herrschaft oder des geordneten Herrschaftswechsels: Die Mythen berichten nicht nur von zahlreichen gewaltsamen Toden, sondern auch von Vertreibungen, die den Thronverlust für den Herrscher und oft auch für seine Nachkommen mit sich bringen 26. In einigen Fällen führt die Vertreibung zwar zur Aneignung eines neuen Herrschaftsbereiches 27, doch bleibt dem/den Vertriebenen und seinen/deren Nachkommen oft nur die Übernahme von Dienstleistungs-Aufgaben an fremden Herrscherhöfen 28 oder der Versuch, an einem ebensolchen die Position eines (geduldeten) Gastes zu erlangen, nach Möglichkeit abgesichert durch die Einheirat in das Herrscherhaus 29. Gewaltsamer Tod und Vertreibung werden teilweise durch Fehlverhalten provoziert, das entweder aus eigener Entscheidung begangen oder aber vom Schicksal bzw. von den Göttern in die Wege geleitet wurde 30, können aber auch eintreten, wenn für den betreffenden Herrscher keine Verletzung grundlegender Regeln überliefert ist. Aus der emischen Perspektive verdeutlichen in unterschiedlicher Akzentuierung sowohl schriftliche Quellen 31 als auch bildliche Darstellungen 32, welche(s) Aussehen, Auftreten, Eigenschaften, Fähigkeiten und Taten von Königen erwartet bzw. mit ihnen verbunden wurde(n). Ein (Teil-) ›Versager‹ kristallisiert sich – auch ohne dass er expressis verbis als solcher bezeichnet wird – 26

S. z. B. den im Alter vertriebenen Admetos (König von Pherai): LIMC I (1981) s.v. Admetos 218 (M. Schmidt). 27 S. z. B. LIMC III (1986) s.v. Danaos 341 (E. Keuls). 28 S. z. B. den (allerdings noch vor einer möglichen Thronübernahme vertriebenen) Amphitryon und seine Tätigkeit für den thebanischen König: LIMC I (1981) s.v. Amphitryon 735 (A.D. Trendall). 29 So beispielsweise der (allerdings noch vor einer möglichen Thronübernahme) um die Herrschaft gebrachte Iason: LIMC V (1990) s.v. Iason 629–630 (J. Neils). 30 S. z. B. LIMC I (1981) s.v. Aigisthos 371 f. (R.M. Gais). – LIMC VII (1994) s.v. Oidipous 1 f. (I. Krauskopf). 31 Für eine Analyse schriftlicher Quellen im Hinblick auf mythische Herrscher: vgl. z. B. ULF, Führung zum Diskurs über Herrscher-Qualitäten bei Homer und Hesiod. – Im Hinblick auf historische Herrscher vgl. z. B. ZIMMERMANN, Herrscherbild; FOWLER / HEKSTER, Imagining Kings. 32 Vgl. auch VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen, bes. S. 265.

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dadurch heraus, dass er den in den relevanten Quellen formulierten Vorstellungen und Anforderungen zur Gänze oder in Teilen nicht entspricht. In den bildlichen Darstellungen existieren neben den durch Handlung, Personaltableau und/oder Beischriften benennbaren Herrschern auch sog. anonyme Könige, wobei nicht immer eindeutig zu bestimmen ist, ob die fragliche Gestalt lediglich heute nicht mehr mit einem Namen versehen werden kann oder schon bei Entstehung des Bildes als anonym angelegt war 33. Sowohl benennbare als auch ›anonyme‹ Herrschergestalten können eine Vorstellung davon vermitteln, wie zeit- und ortsabhängig ein (bestimmter) König(styp) in Aussehen, Haltung und Handlung konzipiert wurde bzw. welche Abweichungen von der Norm thematisiert wurden. In Anbetracht der orts- und zeitabhängigen Varianten in der HerrscherKonzeption beschränken sich die hier vorgestellten Überlegungen auf einen Ausschnitt aus dem Material, nämlich die attische Bildwelt des 6./5. Jhs. v. Chr. In dieser werden als ›griechisch‹ verstandene mythische Könige sowohl als Handelnde wie auch als sich weitgehend passiv verhaltende Personen dargestellt. Handlungen und passive Auftritte sind in Themenfelder eingebunden, die trotz gelegentlicher Anachronismen in der Szenengestaltung oder phantastischer Einsprengsel wesentlich mit der zeitgenössischen Lebenswelt verknüpft sind 34. Entsprechend sind die zentralen Tätigkeitsbereiche der königlichen Gestalten nicht allein mit diesen verbunden, sondern auch mit Helden ohne Herrschaftsgebiete sowie mit namenlosen, vielfach wohl als zeitgenössisch zu verstehenden Figuren. Bildliche Darstellungen führen nur einen Bruchteil der aus schriftlichen Quellen bekannten mythischen Könige, und von diesen nur einen Teil ihrer Handlungen bzw. Erlebnisse vor Augen. Diese Auswahl führt zum einen zu einer die gesamte Bildwelt charakterisierenden Konzentration auf bestimmte Tätigkeits-/Erlebnisbereiche, zum anderen simplifiziert die Fokussierung auf bestimmte Handlungs- und Lebensausschnitte einer Figur deren Charakterund Erfolgsspektrum zuweilen auf einen bestimmten Punkt, macht Figuren eindimensional und trägt dazu bei, bestimmte Typen zu kreieren, wie z. B. den eines Versagers. Ein Beispiel hierfür ist die Figur des Aigisth. Den schriftlichen Quellen zufolge war sein Leben nicht nur wechselhaft, sondern auch durchaus facettenreich: Aus dem von Zeus verfluchten Geschlecht der Tantaliden und zudem aus einer inzestuösen Verbindung stammend, außerdem aus eigener Wahl mit 33

Zu anonymen bzw. (heute) nicht mehr bestimmbaren Königen s. z. B. SIEBERT, ΣΚΗΠΤΟΥΧΟΙ S. 275–277. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 265. 267. 271. 34 Vgl. hierzu z. B. KNITTLMAYR, Attische Aristokratie. SIEBERT, ΣΚΗΠΤΟΥΧΟΙ.

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den Morden an dem mykenischen König Atreus sowie später an dem von dessen Sohn und Nachfolger Agamemnon belastet, war er Hirte, adoptierter Königssohn, Liebhaber u. a. von Agamemnons Frau Klytaimnestra und fungierte zweimal als Herrscher über Mykene, bevor er selbst durch den Sohn Agamemnons ermordet wurde 35. Von diesem relativ breiten Spektrum an thematisierbaren Aspekten wird in der attischen Vasenmalerei fast ausschließlich die Ermordung des Aigisth ins Bild gesetzt. Während er nur ein einziges Mal als aktiv Handelnder auftritt, nämlich als Mörder Agamemnons 36, zeigt über ein Dutzend Bilder seinen Tod unter den Händen des Orest 37. Sein Dasein als König wird also fast ausschließlich im Zusammenhang mit seiner Ermordung thematisiert 38, wobei der Aspekt des Königtums in einer Reihe von Darstellungen deutlich ins Bild gesetzt wird, teils durch einen Thron, teils indem Aigisth mit einem Szepter ausgestattet ist 39. Zu den zentralen Tätigkeitsbereichen königlicher Gestalten gehören in der attischen Bildwelt Kriegführung 40 und Religion 41. Weniger häufig werden Könige dagegen im Zusammenhang mit Jagd 42 oder Sport 43 dargestellt. Rechtsprechung spielt im Bild keine Rolle 44, desgleichen ein gelungener Thronfolgewechsel. Zu den mit Königsfiguren verbundenen, wenn auch weder aus35 Zu Geschichten und Quellen s. LIMC I (1981) s.v. Aigisthos 371 (R.M. Gais). 36

BEAZLEY ARCHIVE 275233. – Hinzu kommt, dass diese Vase auf der Gegenseite die Ermordung des Aigisth durch Orest zeigt; also wird hier die Handlung des Aigisth als Voraussetzung für seine Ermordung ins Bild gesetzt. 37 Das Thema ist nur während eines relativ engen Zeitraums von Interesse: BEAZELY ARCHIVE 818. 6591(?). 12959. 14846(?). 14848(?). 28787. 201917. 201970. 202651. 202652(?). 202912. 202925. 205666. 206795. 275198. 275233. 9036455(?). 38 GAIS sieht den Grund hierfür darin, dass Aigisth in der attischen Bildwelt als »archetypal usurper« vorgestellt werde und das Thema des Tyrannenmordes in dem durch die Bilder abgedeckten Zeitraum von besonderem Interesse gewesen sei: LIMC I (1981) s.v. Aigisthos 378 (R.M. Gais). Unabhängig von dem Element der ›Usurpation‹ wird aber auch ganz grundsätzlich die Unfähigkeit des Aigisth thematisiert, seine Herrschaft zu sichern. 39 Thron: BEAZLEY ARCHIVE 12959; 201917; 202751; 202912. Stattdessen Stuhl: BEAZLEY ARCHIVE 201970; 275233. – Szepter: BEAZLEY ARCHIVE 28787; 206795; 9036455(?). 40 Für die Einfügung von Königen in Szenen kriegerischen Inhalts s. z. B. E. PAUL (Hrsg.), Schwarzfigurige Vasen (Leipzig 1995) Abb. S. 15: Rüstung des Menelaos; LIMC IV (1988) s.v. Euaichme 39 f. (G. Schwarz): Rüstung des Nestor. KNITTLMAYR, Attische Aristokratie Taf. 12,2: Menelaos in Kampfszene. 41 S. z. B. SIEBERT, ΣΚΗΠΤΟΥΧΟΙ S. 275. 42 S. z. B. FORNASIER, Jagddarstellungen S. 12–14 mit Fußnote 19 zu Akastos bei der Kalydonischen Eberjagd. 43 S. z. B. LIMC I (1984) s.v. Atalante 945 Kat. 62–71 (J. Boardman): Ringkampf von Peleus und Atalante. 44 Die für ihre Gerechtigkeit berühmten und nach ihrem Tod als Totenrichter eingesetzten Könige Aiakos und Rhadamanthys spielen als solche in der attischen Bildwelt keine Rolle: vgl. LIMC I (1981) s.v. Aiakos 311 f (J. Boardman).

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schließlich noch unwandelbar mit diesen verknüpften Charakteristika gehören physische Tüchtigkeit und Mut 45, Einsatz für die Gefährten 46 oder Eingreifen bei Auseinandersetzungen 47. Die Ausgestaltung der Figuren ist von der Situation bestimmt, in die sie eingefügt werden, reicht also vom typischen jugendlichen oder reiferen Krieger, Jäger oder Sportler bis hin zum würdigen, meist reiferen oder älteren Mann, der als Handelnder oder ›Zuschauer‹ auftritt 48. Abweichungen von der bildlich formulierten Norm bzw. dem bildlich formulierten Anforderungsprofil werden zwar – im Zusammenhang mit königlichen wie auch mit nicht-königlichen Gestalten – verschiedentlich in Szene gesetzt, doch handelt es sich meist um Versagen in einigen (Teil-)Bereichen, selten um ein solches auf ganzer Linie. Thematisiert werden in solchen Fällen in eine konkrete Situation eingebettetes sündhaftes Verhalten oder eine spezifische Leistungsschwäche. Als Beispiel für ersteres wäre der aggressive Widerstand des Lykurg gegen den Kult des Dionysos zu nennen, der in den Darstellungen vom Wahnsinn des thrakischen Königs angedeutet ist 49. Beispiele für verschiedene Arten von Leistungsschwäche bieten etwa die Blindheit des Phineus 50 oder die (sich deutlich von der Darstellung ehrwürdigen Alters unterscheidende) greisenhafte Hinfälligkeit des Pelias 51.

5. Ein mythischer griechischer König als Versager – Fallbeispiel Ausgehend von den Schilderungen in schriftlichen Quellen kann Eurystheus unter den mythischen Herrschern als eines der deutlichsten Beispiele für einen Versager bezeichnet werden. Entgegen dem Willen des Göttervaters Zeus bzw. durch Eingreifen von dessen eifersüchtiger Gemahlin Hera an Stelle von Herakles zum Herrscher über Mykene und/oder Tiryns geworden, erweist er sich 45

Demonstriert z. B. durch Einsatz bei Kampf oder Jagd: vgl. die in Fußnote 40 und 42 angeführten Beispiele. 46 S. z. B. Intervention des Odysseus bei Kirke: LIMC VI (1992) s.v. Odysseus 960 mit Nr. 139–140 (O. Touchefeu-Meynier). 47 S. z. B. Eingreifen Agamemnons in die Auseinandersetzung zwischen Aias und Odysseus: z. B. CVA Wien (3) Taf. 12,1. BEAZLEY ARCHIVE 211599(?). 275946(?). – Weniger aktive Qualitäten, wie etwa als Berater, sind in angedeuteter Form z. B. durch die Gestalt des Nestor vertreten. Zu diesem s. LIMC VII (1994) s.v. Nestor 1060-1065 (E. Lygouri-Tolia). 48 Zur äußeren Gestaltung benannter und anonymer Königsgestaltung im 6.-5. Jh. s. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 267–273. 49 S. z. B. BEAZLEY ARCHIVE 214835. 217561. 9022291. Zum Thema s. LIMC VI (1992) s.v. Lykourgos I 309 f. (A. Farnoux). 50 Vgl. LIMC VII (1994) s.v. Phineus I 387–391 mit Nr. 1-7, 10-11, 19-21 (L. Kahil). 51 Vgl. LIMC VII (1994) s.v. Pelias 273–277 mit Nr. 10-12, 17-21 (E. Simon). – Für Beispiele ehrwürdigen Alters s. z. B. bei SIEBERT, ΣΚΗΠΤΟΥΧΟΙ. besprochene Darstellungen (z. B. a. O. Abb. 18. 19).

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während seiner gesamten Regierungszeit als übelwollend, hinterhältig, feige und letztendlich erfolglos. Durch eine Verkettung von Umständen dazu befugt, seinem Verwandten Herakles Aufträge zu erteilen, zwingt er letzterem die Verrichtung einer Reihe eigentlich undurchführbarer, z. T. menschliche Grenzen überschreitender Taten auf, zeigt aber seinerseits physische Feigheit. So verkriecht er sich in einen Pithos, wenn Herakles in Erfüllung seiner Aufgaben gefährliche Tiere herbeibringt und kommuniziert mit dem Helden lediglich durch einen Herold. Nach dem Tod und der Vergöttlichung des Herakles vertreibt er dessen Kinder nicht nur aus seinem Herrschaftsgebiet, sondern verfolgt sie sogar noch über mehrere Stationen bis zu deren Zufluchtsort Athen. Dies führt jedoch zur Terminierung seiner eigenen Herrschaft und derjenigen seiner Nachkommen. Denn während der kriegerischen Auseinandersetzung mit Athen werden die fünf Söhne des Eurystheus getötet. Er selbst flieht, wird jedoch von einem Sohn des Herakles verfolgt, eingeholt, getötet und seines Kopfes beraubt. Nach zumindest einer Mythen-Variante wird der abgetrennte Kopf zudem von der Mutter der Herakles geschändet, indem sie ihm mit einer Web-Nadel die Augen aussticht 52. Eurystheus ist als eine typische Nebenfigur mit Foliencharakter angelegt, da ungeachtet seines herrscherlichen Ranges Herkunft, Leben, Tun und Charaktereigenschaften nur insofern von Interesse sind, als sie die Erzählung(en) um Herakles und seine Nachkommen erläutern. Als eine solche Nebenfigur findet Eurystheus jedoch in zahlreichen Quellen Erwähnung, bereits bei Homer unter Nennung seines Namens 53. Sein Versagen wird nicht als solches thematisiert, aber in unterschiedlicher Weise angedeutet, etwa durch die Bezeichnung als minderwertig(er) 54, durch pittoreskes Ausmalen feigen Verhaltens 55, implizit durch den Hinweis auf die (durch den vorzeitigen Tod der Söhne) misslungene Nachfol-

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Zu Leben und Verhalten des Eurystheus und zu den wichtigsten Quellen s. LIMC IV (1988) s.v. Eurystheus 580 (J. Oakley). Zur hier geschilderten Version vom Tod des Eurystheus und seiner Söhne s. Apollodor, Bibl. 2, 8, 1. Vgl. in Details abweichende Varianten: Eurip., Heraklidai 843861. 928-940. 1030-1044; Strabo 8, 6, 19. 53 S. z. B. Homer, Il. 8, 363. Vgl. auch LIMC V (1990) s.v. Herakles 5 (J. Boardman). 54 So wird Eurystheus von Herakles als ›viel schlechter‹ (als er selbst) bezeichnet: Homer, Od. 11, 621–622. Der Dichter verzichtet zwar auf eine klare Übernahme dieser Beurteilung, da er sie nicht selbst äußert, sondern sie dem von Eurystheus unter Druck gesetzten Helden Herakles in den Mund legt, doch formuliert letzterer nur, was jedem Leser/Hörer der Odyssee als Kenner der Mythen selbst aufgefallen sein muss, nämlich die Diskrepanz zwischen Position (Eurystheus/Herrscher – Herakles/Befehlsempfänger) und Verhalten (Eurystheus/feige, tatenlos – Herakles/mutig, tatenfreudig). 55 Hier ist vor allem der Umstand zu nennen, dass sich Eurystheus bei der Überbringung des (lebenden) erymanthischen Ebers (u.a. Diodor 4, 12, 1-2) oder des (toten) nemeischen Löwen (Apollodor, Bibl. 2, 5, 1) in einem bronzenen Pithos unter der Erde verkriecht.

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gesicherung und die (unkommentierte) Schilderung seines Todes, oder aber durch den Mangel an ›Eigenleben‹. In den bildlichen Darstellungen ist die Konzeption des Eurystheus als ›Nebenfigur‹ noch deutlicher als in den schriftlichen Quellen. Dies gilt ganz allgemein für den griechisch-römischen Raum 56, ist aber besonders deutlich anhand der hier betrachteten attischen Vasenmalerei nachzuvollziehen. Im Rahmen von deren Bildwelt ist Eurystheus nur im Zusammenhang mit einer einzigen Tat des Herakles eindeutig zu identifizieren, dem Einfangen des erymanthischen Ebers 57. Weniger sicher ist die Benennung einer mit Szepter ausgestatteten Figur in einer Darstellung der Erlegung des nemeischen Löwen 58. Mit Skepsis zu betrachten sind schließlich verschiedentlich geäußerte Vorschläge, die eine mit Herakles kombinierte, stehende oder sitzende Königsfigur oder auch eine männliche Gestalt ohne herrscherliche Attribute als Eurystheus benennen, obwohl weder Haltung und Ausstattung der Figuren noch die Gestaltung der Szene(n) auf eine konkrete, auch in anderen Quellengattungen belegte Handlung oder Geschichte verweisen 59; eine entsprechende Interpretation steht nicht nur vor der Schwierigkeit, dass in den schriftlichen Quellen Begegnungen von Herakles mit verschiedenen Königen Erwähnung finden und daher auch im Bild dargestellt gewesen sein können, sondern auch vor dem Problem, dass in der attischen Vasenmalerei des 6./5. Jhs. eine ganze Reihe anonymer Königsdarstellungen zu finden sind 60. Wie der knappe Abriss deutlich macht ist Eurystheus nicht nur als Nebenfigur konzipiert, da er ausschließlich in Verbindung mit Herakles auftritt, sondern es handelt sich bei seiner Gestalt sogar um eine nur verhältnismäßig selten eingesetzte Nebenfigur: er ist lediglich in einen Bruchteil der zahlreichen

56 Vgl. Angaben in: LIMC IV (1988) s.v. Eurystheus 580 (J. Oakley). 57

Eindeutige Identifizierung möglich durch die in den mythischen Erzählungen einmalige Handlung, zuweilen auch durch Beischrift des Namens (s. z. B. WÜNSCHE, Herakles - Hercules S. 102 Abb. 12.7. K. Schefold/F. Jung, Die Urkönige, Perseus, Bellerophon, Herakles und Theseus in der klassischen und hellenistischen Kunst (München 1988) 145 Abb. 183). 58 LIMC V (1990) s.v. Herakles 27 Nr. 1917* (W. Felten). Vgl. auch unten S. 17. 59 Vgl. z. B. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 271 und Abb. 4 (Herakles und Begleitung sowie König und Begleitung auf gegenüberliegenden Gefäßseiten). – WOODFORD dagegen benennt entsprechende Königsfiguren vorschlagsweise als »Syleus, Oineus or some other fatherin-law«: LIMC IV (1988) s.v. Herakles 824 mit Nr. 1562. 1564 (S. Woodford). – Vgl. z. B. auch N. KUNISCH, Erläuterungen zur griechischen Vasenmalerei (1996) 77 zu Abb. S. 74. In diesem Fall ist die von KUNISCH als Eurystheus benannte, nicht als Herrscher gekennzeichnete Figur in aktiver Haltung in das Löwen-Abenteuer integriert; es handelt sich also um eine Benennung, die zumindest aus den schriftlichen Quellen nicht zu begründen ist. – Auch OAKLEY interpretiert solche Figuren offenbar nicht als Eurystheus: vgl. LIMC IV (1988) s.v. Eurystheus 580 (J. Oakley). 60 S. o. mit Fußnote 33.

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Herakles wiedergebenden Darstellungen integriert 61 und spielt nur in einer oder höchstens zwei der vielen verbildlichten Herakles-Geschichten eine Rolle. In der Darstellung des Eber-Abenteuers, mit dem er vor allen verbunden wird, ist er weder von Anfang an präsent noch während irgendeines Abschnittes der Laufzeit 62 unverzichtbar: Die frühesten, um 560 v. Chr. zu datierenden Bilder zeigen lediglich den Transport der Ebers 63, während die Figur des Eurystheus erst nach der Mitte des 6. Jhs. in die Komposition eingefügt wird 64; in der Folgezeit entstehen sowohl Darstellungen mit 65 als auch solche ohne 66 Eurystheus, in rund 40% der Bilder (Kampf oder Transport) wird auf letzteren verzichtet. Aus den verschiedenen, Eurystheus in schriftlichen Zeugnissen zugeschriebenen Handlungen und Misserfolgen wird im Rahmen der bildlichen Quellen der Moment herausgegriffen, der am anschaulichsten die physische Feigheit des Herrschers verdeutlicht. Dargestellt wird, wie Herakles den (noch lebenden) wilden erymanthischen Eber herbeibringt, während Eurystheus sich in

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Für eine ungefähre Vorstellung von der Zahl der verbildlichten Taten und zum quantitativen Vorkommen der einzelnen Taten vgl. BROMMER, Denkmälerlisten. Vgl. auch BEAZELY ARCHIVE unter entsprechenden Stichworten. – Das Eber-Abenteuer ist in der attischen Vasenmalerei nicht die beliebteste, aber immerhin eine der häufiger verbildlichten Herakles-Taten. Trotzdem stellen die fraglichen Bilder nur einen kleinen Anteil des gesamten Oeuvres an Herakles-Bildern. 62 Darstellungen des Eber-Abenteuers sind seit etwa 560 v. Chr. nachzuweisen, ihr Schwerpunkt liegt jedoch im letzten Drittel des 6. Jhs.; in der Folge verschwindet das Thema rasch aus dem Repertoire der attischen Vasen und ist bis zum Ende des 5. Jhs. nur noch vereinzelt anzutreffen (s. auch u. Fußnoten 65 und 66). 63 z. B. LIMC V (1992) s.v. Herakles Nr. 2108* (J. Boardman). 64 z. B. LIMC V (1992) s.v. Herakles Nr. 2115* (J. Boardman). In anderen Medien und Landschaften ist das Motiv dagegen schon etwas früher nachzuweisen: s. z. B. LIMC V (1992) s.v. Herakles Nr. 2136 (J. Boardman). 65 BEAZLEY ARCHIVE 1160. 1576. 2909. 3488(?). 4402. 4593. 6301. 10006. 10775. 13046. 13060. 13685. 14548. 14728. 16741. 16769(?). 18001. 19290. 20322. 20352. 20354. 22999. 23621. 24614. 28239(?). 29775(?).31939. 41579. 44412. 44921. 200519. 200663. 203219. 207102. 301509. 301541. 301752. 301786. 301842. 302105. 302213. 302341. 302347. 302882. 303571. 306591. 306967. 310380. 320057. 320059. 320060. 320061. 320062. 320063. 320064. 320130. 320132. 320208. 320245. 320246. 320269. 320304. 320305. 320336. 340462. 340475. 340501. 340518. 340539. 350073. 351198. 380860. 9009445. 9022369. 9023362. 9026500. 9028651. 9029815. 9030870. 9032540. 9032819. 9033492. Deutung »Herakles und Eurystheus« nicht überprüfbar: BEAZLEY ARCHIVE 1820. 44157. 320058. 390191. 66 BEAZLEY ARCHIVE 191. 631. 1181. 3845. 5148. 5610. 5611. 7268. 7658. 10174. 10739. 11293. 13011. 13495. 13847. 14292(?). 14297(?). 14628. 16043. 18982. 20011. 22759. 301750. 301751. 302229. 302325. 302878. 305351. 305658. 305665. 306520. 320261. 331327. 331328. 331329. 331330. 331331. 331332. 331334. 331337. 331581. 331618. 351239. 351854. 351855. 361074. 361171. 361172. 390416. 390448. 390450. 390552. 9020188. 9023330. 9030609. 9030915. 9031594. 9032130. 9032553.

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schnellem Lauf zu einem Pithos flüchtet 67, den Fuß auf dessen Rand setzt, um in ihn hineinzutauchen 68, oder schon mit einem Bein im Pithos steckt 69. Meist jedoch hat sich der Herrscher bereits in das weitgehend in den Boden eingegrabene Gefäß verkrochen, so dass nur noch Kopf, Schultern und die flehend emporgestreckten Arme zu sehen sind 70. In einigen Fällen hat er sich so klein zusammengekauert, dass nur noch (ein Teil des) Kopf(es) und Arme 71 oder sogar nur noch die emporgestreckten Hände herausschauen 72, und in zumindest zwei der Darstellungen ist Eurystheus völlig abgetaucht, so dass nur der Pithos selbst im Bild erscheint 73. Die in den Bildern thematisierte physische Feigheit, die durch Haltung und Gestik des Eurystheus einen Anstrich von Kläglichkeit erhält, steht in deutlichem Gegensatz zu der Vorstellung (nicht nur) herrscherlichen Verhaltens, wie es in den attischen Vasenbildern z. B. im Rahmen von Jagd- oder Kampfbildern formuliert wird 74. Dies gilt umso mehr, als Eurystheus – analog zu den Aussagen der schriftlichen Quellen – nicht als alter, physisch nur noch eingeschränkt belastbarer Mann dargestellt wird, sondern in der Regel der Altersstufe des Herakles zugehörig erscheint 75. Auf die Königswürde des Feiglings wird in den Bildern allenfalls verhalten angespielt. Einschlägigere Attribute wie Szepter oder Thron fehlen 76, lediglich die gepflegte lange Haar- und Barttracht deutet bei vielen Darstellungen aus dem 6. Jh. auf eine herausgehobene Stellung 77, während im 5. Jh. auch auf dieses Distinktionsmerkmal weitgehend verzichtet wird. Damit fallen die in das 6. Jh. gehörenden Eurystheus-Bilder 67 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 302341. 68 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 302347. 69 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 302213. 70 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 351198. 71 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 22999. 23621. 72 z. B. BEAZLEY ARCHIVE 9032540. 73 BEAZLEY ARCHIVE 301752. 302105. 74 S. o. mit Fußnoten 40 und 42. 75

Zwar unterscheiden sich Herakles und Eurystheus oft durch die Bartlänge (s. z. B. BEAZLEY ARCHIVE 19290) oder die Bart- und Haarlänge (s. z. B. BEAZLEY ARCHIVE 14728. 9032819. 200663), doch ist die längere Haartracht des Eurystheus als »Würdeformel«, nicht als Hinweis auf fortgeschritteneres Alter zu werten (zum langen Bart/Haar als Würdeformel vgl. auch VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 267; B. KAESER in: Wünsche 2003, 102). Auch Unterschiede in der Detailausgestaltung des Bartes und Haares (z. B. BEAZLEY ARCHIVE 22999: Eurystheus ist mit fransigem Bart und aufgesträubtem Fronthaar dargestellt) können nicht als Andeutung unterschiedlichen Alters interpretiert werden. In einigen Fällen werden die beiden Kontrahenten in der Haar-/Bartgestaltung nicht oder nur marginal unterschieden (s. z. B. BEAZLEY ARCHIVE 200519. 301541. 310380. 301842). 76 Anders OAKLEY: »can carry a scepter or club«, s. LIMC IV (1988) s.v. Eurystheus 580 (J. Oakley). – Eine mögliche Ausnahme bietet beispielsweise die flüchtig gezeichnete Darstellung auf der Schale BEAZLEY ARCHIVE 306967 (Eurystheus mit Stab?). 77 Vgl. o. Fußnote 75.

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nicht aus dem Rahmen dessen, was in zeitgleichen attischen Vasenbildern als Charakterisierung von griechischen Königsgestalten üblich ist, wenn auch die in der Zeit verwendeten Charakterisierungsmöglichkeiten 78 nicht voll ausgeschöpft werden. Die wenigen Eurystheus-Bilder, die aus dem 5. Jh. stammen, unterscheiden sich dagegen etwas deutlicher von den zeitgleichen Darstellungen anderer (benannter oder anonymer) griechischer Könige, da letztere nunmehr häufiger mit einem Szepter, manchmal auch mit einer Sitzgelegenheit 79 und zuweilen sogar mit einem Thron 80 kombiniert sind. Die Königswürde des Eurystheus war zwar dem antiken Betrachter bekannt, z. B. aus Erzählungen und Schriften verschiedenster Art, wird aber im Bild nur zurückhaltend und unter Verzicht auf Ausschöpfung der zur Entstehungszeit der jeweiligen Darstellung üblichen Möglichkeiten thematisiert. Der Fokus liegt auf der Kontrastierung von tüchtigem, furchtlosem Helden und einem feigen Gegenüber. Obwohl er ein Herrscher ist, wird Eurystheus zur Folie für (den nicht herrschenden) Herakles degradiert. Im Unterschied zu so manchen anderen mythischen Königsgestalten, die sowohl in Momenten des Versagens wie auch in solchen angemessenen Verhaltens bzw. in solchen des Erfolges dargestellt werden, oder aus deren an Erfolg und Versagen reichem Leben lediglich solche Episoden für das bildliche Repertoire der attischen Vasenmalerei ausgewählt wurden, die den angemessen agierenden Herrscher zeigen, ist Eurystheus (fast) ausschließlich auf die Rolle des Versagers festgelegt. Eine wenn nicht tapfere so doch würdevolle, der Gestalt eines Königs angemessene Darstellung dieses Herrschers ist in der attischen Vasenmalerei nicht eindeutig nachzuweisen; nur bei sehr wenigen ›angemessen‹ auftretenden Königsgestalten ist eine entsprechende Identifikation überhaupt in Erwägung zu ziehen 81. Unter den letztgenannten am ehesten als Eurystheus zu benennen ist eine Figur, die in eine Darstellung von der Erlegung des nemeischen Löwen integriert ist 82: der auf einem Stuhl sitzende, mit einem Himation bekleidete Mann ist nicht nur durch seine Sitzgelegenheit und sein Szepter, sondern, für die Entstehungszeit um die Mitte des 5. Jhs. recht ungewöhnlich 83, auch durch die gepflegte Langhaarfrisur und einen langen Bart herausgehoben; die ruhige Geste seiner Linken ist auf einen vor 78

So können Szepter oder zumindest ein Stab zur Ausstattung gehören, müssen es jedoch nicht. – Zur bildlichen Charakterisierung vgl. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 267 f. 79 S. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 270–272. 80 S. z. B. o. Fußnote 39. 81 Vgl. o. mit Fußnote 58–59 zu Figuren unsicherer/zweifelhafter Identifikation. 82 LIMC V (1990) s.v. Herakles 27 Nr. 1917* (W. Felten). 83 Zur Kurzhaarfrisur königlicher Gestalten im 5. Jh. s. VON DEN HOFF, Bilder von Monarchen S. 271.

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ihm stehenden, mit Helm, Speeren und Bogen ausgestatteten jungen Mann ausgerichtet. Mit der Herakles-Geschichte verbunden ist die Szene durch den Heros selbst, der seitlich der Beiden erschöpft neben dem bereits getöteten Löwen sitzt. Der Umstand, dass Eurystheus in den schriftlichen Quellen die einzige königliche Gestalt ist, die im Rahmen des Löwen-Abenteuers eine Rolle spielt, und zwar als Auftraggeber der Tat wie als Empfänger des toten Tieres, macht die Benennung des Szepterträgers zwar nicht eindeutig, aber doch recht wahrscheinlich. Sollten Vasenmaler und/oder antiker Betrachter den sitzenden König tatsächlich als Eurystheus angesehen haben, so hätten wir hier einen Einzelfall, in dem auf die Betonung eklatanter Feigheit verzichtet worden wäre 84.

6. Zwischenbilanz Bildliche Quellen haben durch die in ihnen geübte Selektion und Fokussierung noch deutlicher als schriftliche Zeugnisse das Potential der einseitigen Personendarstellung. Dies wirkt sich auch auf die Konzeption von Versagern aus. Das Versagen eines mythischen griechischen Königs kann in der Binnenperspektive unterschiedliche Gestalt annehmen. Ein zentrales Feld ist persönliche Leistungsschwäche, und zwar sowohl in Form von Unzulänglichkeit im Handeln als auch in Form von Tätigkeitsverweigerung oder Flucht. Hervorzuheben ist, dass mit Eurystheus eine Person als Versager – und zwar als ein (fast) ausschließlich würdelos dargestellter Versager – konzipiert wurde, deren Herrschaftsgebiet im Zentrum der griechischen Welt lag, nicht an deren Rändern oder gar außerhalb, in der Fremde bzw. in ›barbarischen‹ Gegenden 85.

7. Resümee Königliches ›Versagen‹ wurde weder im Bereich der hethitischen Kultur noch in dem hier untersuchten Ausschnitt der griechischen Welt expressis verbis als solches benannt, sondern in Form einer Abweichung von gleichzeitig bestehenden, schriftlich oder bildlich formulierten Erwartungen an den Herrscher thematisiert. In diesem Zusammenhang konnten sowohl einzelne, nur punktuell wirksame als auch gebündelte, die ganze Person und ihre gesamte Herr84

Eine Auswertung der zeitlichen Verteilung der Bilder würde den hier gegebenen Rahmen sprengen, es sei jedoch schon einmal darauf hingewiesen, dass der fragliche Bildtypus nicht die früheren Eurystheus-Darstellungen ablöst, vgl. z. B. die entsprechende Darstellung auf einer späteren Schale aus der Hand des Jena-Malers (BEAZLEY ARCHIVE 13685). 85 Dieses Thema soll an anderer Stelle noch weiter ausgefächert werden.

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schaftszeit bestimmende Unzulänglichkeiten Gegenstand der Aufmerksamkeit sein. Unabhängig davon, ob sie tatsächlich existierten oder ein Gebilde der Phantasie waren, ist den hier als Fallbeispiele untersuchten, (vom Standpunkt der Quellen aus) in der unmittelbaren oder ferneren Vergangenheit angesiedelten Herrschern gemeinsam, dass sie in der schriftlichen und/oder bildlichen Darstellung auf ihre Unzulänglichkeiten reduziert und damit als Versager konzipiert wurden. Ferner haben die beiden ausgewählten Fallbeispiele gezeigt, dass es eine Korrelierung von (wenigen) überlieferten Daten und der Bedeutung eines Herrschers gab: Ammuna und Eurystheus sind beide als Nebenfiguren konstruiert; ihre Funktion kann als die einer Folie für einen angemessen agierenden Herrscher oder Helden bezeichnet werden. Die in den beiden Untersuchungsräumen geltenden Parameter an den Herrscher gestellter Anforderungen zeigen eine gewisse Schnittmenge, sind jedoch auch innerhalb dieser unterschiedlich akzentuiert. Der Anforderungskatalog konnte Aussehen, Haltung, Eigenschaften, Fähigkeiten, Verhalten und/oder (erfolgreiches) Handeln eines Herrschers umfassen, wobei in verallgemeinernder Weise festgehalten werden kann, dass den ganz persönlichen Fähigkeiten und Leistungen eines Herrschers im griechischen Raum größeres Gewicht beigemessen wurde als im hethitischen Reich. Als thematische Kategorien standen vor allem Krieg und Kult, im hethitischen Bereich auch die familial geregelte Thronfolge im Mittelpunkt. Der sog. Telipinu-Erlass formulierte diesbezüglich explizit die Forderung nach territorialer Ausdehnung, die erfolgreiche Weitergabe der Herrschaft an einen legitimen Nachkommen und die Pflege des Kultes, um den Schutz der Götter für Land und Leute zu garantieren. In den attischen Vasenbildern des 6./5. Jhs. wurden in vielfältiger Weise kriegerischer Einsatz und die Befolgung religiöser Gebräuche durch Herrscher thematisiert. Wer für die geistige Konstruktion der Paradigmata verantwortlich war und wem sie verständlich waren, muss zumindest teilweise offen bleiben. Man kann nur spekulieren, ob der oder die Verfasser des Telipinu-›Erlasses‹ einer intellektuellen Elite angehört haben und ob diese von Vorbildern in der mesopotamischen Versager-Typologie eines Narām-Sîn inspiriert waren. Aber festzuhalten bleibt, dass sich als Darstellungsmittel des Versagens in unserem Fallbeispiel des hethitischen Königs Ammuna eine Besonderheit zeigte. Er ist der bislang einzige hethitische König, dessen Handeln laut der (pseudo-)historiographischen Beschreibung des Telipinu-›Erlasses‹ von den Göttern veranlasst und zugleich bestraft wurde. In seiner Person erhält das fehlende Eigenleben

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eine nicht zu überbietende Ausformung. Ein Grund darf vielleicht in einer intendierten Selbstaufwertung seines Sohnes Telipinu gesehen werden, der seinen Vater und Vorgänger als Erfolglosen geradezu verspottet und ihn bewusst gegen einen ›idealen König‹ Mursili in Szene setzt. Die Gestaltung und Wahrnehmung des Eurystheus erfolgte auf einer sehr viel breiteren, durch ein stetes Wechselspiel von Konzeption und Rezeption geprägten Basis. So wurden die den Herrscher inkorporierenden und ihn charakterisierenden Erzählungen von einzelnen Dichtern, Historikern oder Geographen formuliert, z. T. mit leichten Unterschieden in der Akzentuierung. Die Herstellung der Vasenbilder erfolgte vor dem Hintergrund der durch schriftliche oder mündliche Überlieferung erworbenen Kenntnis der einschlägigen Erzählungen, doch wurde die konkrete Gestaltung des Eurystheus – z. B. durch Auswahl und Ausgestaltung des Bildausschnittes – ganz wesentlich von den Vasenmalern selbst, also von Handwerkern bestimmt. Aber die Vasenmaler orientierten sich natürlich auch an dem Bedarf ihrer Kundschaft – im 6. Jh. wohl vor allem gehobenere, im 5. Jh. auch breitere soziale Schichten – die ihrerseits durch schriftliche und mündliche Überlieferung wie auch durch bildliche Traditionen vorgeprägt war.

8. Ausblick Die nach Kultur und Quellen zu erwartenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich kategorisieren. Die Skala mit den Eckpunkten Erfolg und Versagen ist dabei im Wesentlichen an die etische Perspektive gebunden, da hier alle verfügbaren Informationen zusammenlaufen.

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Die Anzahl der Quellen nimmt, neben den Kriterien ihrer Vielfältigkeit und der Qualität ihrer Wahrnehmungsinhalte, einen wesentlichen Raum bei der Rekonstruktion herrschaftlichen Handelns ein und ist in der vorliegenden Untersuchung selbst als Bewertungsmaßstab eingeflossen. Als erstes Ergebnis lässt sich feststellen, dass die jeweilige Art der Quellen (schriftlich oder bildlich) zwar ein unterschiedliches Methodenset verlangt, aber die gleichen beschreibenden Wertekategorien (gerecht, fromm, stark, schön etc.) aufweisen kann. Ebenso ist die Differenz zwischen mythischen und historischen Quellen bei der Stilisierung des Versagens gering; es hat den Anschein, als seien beide Quellengattungen nahe beieinander, gerade, um ein möglichst großes Spektrum von akzeptierten Darstellungsweisen in Anschlag bringen zu können – für den als erfolgreich zu rezipierenden Herrscher.

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Konstruiertes Versagen

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Andreas Fuchs Eine Flotte, zwei Versager und ein Winter Sanherib und sein Wirken insbesondere in den Jahren 694 bis 689

Für einen Altorientalisten, der sich beim Studium seiner Quellen nur zu oft einem zermürbend penetranten Königslob ausgesetzt sieht, hat die Beschäftigung mit königlichem Versagen oder königlichen Versagern etwas überaus Erfrischendes. Das Problem ist nur, dass in altorientalischen Quellen Kritik an Königen extrem selten aufscheint, da diese Quellen zum großen Teil aus einem königlichen Umfeld stammen und zumeist auch in königlichem Auftrag entstanden sind. Wie soll man königliche Versager da überhaupt finden? Traditionell würde man unter jenen Unglücks- oder Katastrophenkönigen Ausschau halten, denen der Untergang ganzer Reiche zur Last gelegt wird. Im Bereich des Alten Orients würden sich also Könige wie Ibbi-Sîn, Samsuiluna, Sîn-šar-iškun oder Nabonid anbieten, doch so einfach wollen wir es uns hier nicht machen. Natürlich haben die genannten Herrscher in der einen oder anderen Weise versagt, denn andernfalls wären ihre Reiche ja nicht von der Landkarte verschwunden, doch über ein und denselben Kamm scheren lassen sie sich dennoch nicht, denn es wäre schon der Fairness halber der Versager, der seine Misere durch eigene Fehlentscheidungen zu verschulden hat, vom bloßen Unglücksraben zu trennen, der seine Herrschaft ganz einfach zur falschen Zeit und am falschen Ort antrat, sodass für ihn schon von vornherein keine Aussicht auf Erfolg bestand. Der letzte assyrische Herrscher Aššur-uballiṭ II. war auf jeden Fall ein solcher Unglücksrabe, und sein unmittelbarer Vorgänger Sîn-šar-iškun aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso. Ein wahrer königlicher Versager, der sich diese Bezeichnung aufgrund eigener Anstrengungen verdient hätte, wäre dagegen ein Herrscher gewesen, der unter bestmöglichen Voraussetzungen zu regieren begann, dem eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsoptionen offenstand, und der dennoch durch eigenes Verschulden

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und aufgrund eigener Fehlentscheidungen kostspielige Misserfolge, unnötige Verluste oder gar Katastrophen heraufbeschwor. Es sind die Bücher des Alten Testaments, die uns bei der Suche nach einem solchen König des Alten Orients direkten Weges zu dem neuassyrischen König Sanherib (705–681) führen. Das Bild, das dort von ihm gezeichnet wird, hat ihm einen festen Platz in der westlichen Erinnerungskultur gesichert; doch ist es alles andere als schmeichelhaft: Arrogant und gottlos, hat er als erfolgloser Belagerer Jerusalems und als Mordopfer seiner eigenen Söhne gleich auf zwei entscheidenden Gebieten versagt, auf denen sich Könige stets und überall haben bewähren müssen, nämlich sowohl beim Führen von Kriegen wie auch bei der Regelung der Nachfolge. 1 In der Fachwelt war man bislang weit gnädiger in der Einschätzung Sanheribs, die Tendenz ging teilweise sogar in Richtung Bewunderung, deuten die Quellen doch auf einen außergewöhnlichen, vor Ideen nur so sprühenden Herrschers hin, dem sich originelle, wenn nicht gar geniale Züge unterstellen lassen. Konkret wird dabei auf sein gut bezeugtes technologisches Interesse hingewiesen, auf seine Einflüsse auf die bildende Kunst – es ist gar vom »Realismus Sanheribs« die Rede – sowie nicht zuletzt auf seine unkonventionellen Radikallösungen bei seiner Auseinandersetzung mit Babylon und dem Gott Marduk, die gleichermaßen auf der militärischen wie auch der theologischen Ebene ausgetragen wurde. 2 Im Folgenden soll eine Neubewertung der dramatischen Geschehnisse zwischen 694 und 689 und der besonderen Rolle vorgenommen werden, die dabei Sanherib selbst gespielt haben mag. Spekulationen auch und gerade hinsichtlich der Persönlichkeit dieses Königs können und sollen dabei nicht ausbleiben.

Vorspiel: Die ersten zehn Regierungsjahre (705–695) Lässt man die stressbeladenen Umstände außer Acht, unter denen er im Juli/August 705 den Thron bestieg, so hatte Sanherib einen ausgesprochen guten Start: 3 Anders als so viele andere Könige sowohl vor wie auch nach ihm hat er sich nicht mit rivalisierenden Brüdern herumschlagen müssen, und sollte er als 1 2 Könige 18,13–19,37; Jesaja 36,1–37,38 und 2 Chronik 32,1–23. 2

Zu den außergewöhnlichen Interessen und Begabungen Sanheribs siehe zusammenfassend FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 19 f., bzw. FRAHM, Sanherib S. 18–21, dort aber mit kritischeren Tönen. Eine vorwiegend positive Bewertung Sanheribs findet sich zuletzt bei RADNER, Hochkulturen S. 400. 3 Einen Überblick der ersten Regierungsjahre Sanheribs bietet FRAHM, Sanherib S. 16 f.

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Kronprinz tatsächlich befürchtet haben, am Ende doch noch von Söhnen seiner Stiefmutter Atalyā verdrängt zu werden, 4 so müssen derlei Ängste nun endgültiger, beruhigender Gewissheit gewichen sein. Schon aus diesem Grund darf der gewaltsame Tod seines Vaters Sargon im fernen Tabāl zu den glücklicheren Wendepunkten im Leben Sanheribs gezählt werden. Für ein am Ende ausgesprochen schwieriges, wenn nicht gar zerrüttetes Vater-Sohn-Verhältnis spricht die von ihm verfolgte Politik, die in wesentlichen Bereichen der Sargons genau entgegengesetzt war, und der ungewöhnlich radikale Schlussstrich, den Sanherib unter das Kapitel seines Vaters und Vorgängers setzte. 5 Und er war nicht gewillt, in diese Angelegenheit noch viel zu investieren: Dass die Grablege seiner Stiefmutter recht schäbig ausfiel, 6 verwundert nicht, bemerkenswerter ist da schon das sichtlich halbherzige Engagement Sanheribs, als es darum ging, den Tod seines Vaters zu rächen. Gegen den tabaläischen Herrscher Gurdī, der am Tode Sargons wohl nicht ganz unschuldig war, wurde 704 ein Feldzug in Marsch gesetzt, an dem Sanherib noch nicht einmal persönlich teilnahm, und der so erfolglos blieb, dass er in den Inschriften keine Erwähnung fand. Doch Sanherib fand sich mit dem Ergebnis ab, so erbärmlich es auch war. Er ließ Gurdī erst einmal in Ruhe und als er ihn neun Jahre später erneut angreifen ließ, geschah das wiederum nur im Rahmen einer eng begrenzten Operation und gleichfalls ohne seine persönliche Mitwirkung. Die allgemeine Situation war derart ruhig, dass Sanherib sich von Beginn an voll und ganz auf Babylonien, den einen und einzigen Krisenherd, konzentrieren konnte, der zu wirklicher Beunruhigung Anlass bot. Ein Aufstand in Babylon war trotz elamischen Eingreifens rasch niedergeschlagen, Südbabylonien unmittelbar darauf unter Kontrolle gebracht (704 oder 703). Anschließend sah der König in West-Iran (702) und dann in der Levante (701) nach dem Rechten, wo bei dieser Gelegenheit auch einem ägyptischen Einmischungsversuch eine prompte Abfuhr erteilt wurde. Der König von Juda behauptete sich zwar erfolgreich in seiner Festung Jerusalem, unterwarf sich nachträglich aber dennoch, um eine Wiederholung des Angriffs zu vermeiden. Neuerliche Unruhen in Südbabylonien wurden im Jahre 700 problemlos abgestellt, wobei Sanherib 4 FRAHM, Family Matters S. 200. 5

Obwohl seine Sukzession legitim und unangefochten war und sich, soweit bekannt, gewaltlos vollzog, ließ Sanherib den Namen seines Vorgängers mit noch größerer Konsequenz totschweigen, als dies selbst sein Vater und sein Großvater getan hatten, die zu einem solchen Vorgehen weit mehr Grund gehabt hatten als er, da sie beide, im Gegensatz zu ihm, Thronräuber gewesen waren. Die Legitimität des Herrschaftsüberganges von Sargon auf Sanherib zeigt sich darin, dass die Nachfolger Sanheribs die Reihe ihrer Vorfahren ganz selbstverständlich bis zu Sargon zurückgeführt haben. Zum Verhältnis zwischen Sargon und Sanherib und die im Anschluss an den Tod Sargons unternommenen Aktivitäten Sanheribs siehe FRAHM, Family Matters S. 197–206. 6 FRAHM, Family Matters S. 186.

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die noch immer nicht befriedigende Situation in Babylon überraschend dadurch regelte, dass er dort seinen ältesten Sohn Aššur-nādin-šumi als König einsetzte und damit erstmals seine Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen auch im politischen Bereich unter Beweis stellte. Zu diesem Zeitpunkt war Sanherib längst schon aus dem Gröbsten heraus, seine Stellung war spätestens seit 702 derart gefestigt, dass er bereits in diesem seinem dritten Regierungsjahr gewaltige Großbauprojekte, vor allem im Zuge des Ausbaues der Stadt Ninive zur neuen Reichszentrale, beginnen konnte. 7 Nachdem all das so erstaunlich früh hatte erreicht werden können, und da Sanherib auch keinerlei expansionistische Interessen erkennen ließ, konnte er die Dinge jetzt deutlich ruhiger angehen. Von keiner Seite bedroht oder herausgefordert, setzte er in den folgenden fünf Jahren seine Streitmacht zunächst gar nicht (so 699 und 698) und anschließend in räumlich wie zeitlich begrenzten Unternehmungen auf Nebenschauplätzen ein: Das wesentliche Erlebnis des Feldzuges, der 697 gegen die Bewohner der nördlichen Berge unternommen wurde, war eine Kletterpartie, die den König höchstpersönlich in schweißtreibender Weise einen Berggipfel erklimmen ließ. 8 Was Sanherib selbst betraf, so blieb er während der nächsten beiden Jahre erst einmal daheim. 696 wurde ein Feldzug gegen einen rebellischen kilikischen Kleinfürsten ebenso an Untergebene delegiert wie 695 die Rückeroberung der Stadt Til-Garimmu aus den Händen des anatolischen Fürsten Gurdī. 9 Wir erinnern uns, dass ein wohl recht ähnlicher, gleichfalls an einen Unteranführer delegierter Angriff auf diesen Gegner im Jahre 704 gescheitert war. 10 In den drei Jahren von 697 bis 695 war der Maßstab von Sanheribs militärischen Aktivitäten außerordentlich gering. Gegen Gurdī wurde lediglich ein Teilerfolg erzielt, Konsequenzen irgendwelcher Art hatte keine dieser Unternehmungen. Nun waren da aber noch die kaldäischen Rebellen, denen der elamische König Asyl gewährt und an der Südküste seines Reiches Siedlungen zugewiesen hatte. Die hatten sich in den letzten Jahren zwar nicht mehr gerührt, aber trotzdem! Warum sollte man gegen sie nicht im Rahmen einer ähnlich begrenzten Operation vorgehen, wie man das in den letzten Jahren praktiziert hatte? Und wenn der Ausflug in die Berge bei aller Anstrengung doch schon so anregend gewesen war, warum dann nicht auch einmal einen Sommer am Meer verbringen? Und ganz davon abgesehen bot sich gerade hier eine glän7

Siehe READE, Ninive zur Datierung der einzelnen Bauwerke. Zum Vergleich: Sanheribs Vater Sargon hatte mit dem Bau seiner neuen Hauptstadt Dūr-Šarru-ukīn erst in seinem neunten Jahr (713) begonnen. 8 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 16 iv,70–v,32. 9 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 17 iv,61–v,14. 10 FRAHM, Nabû-zuqub-kēnu S. 83 f.

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zende Gelegenheit, Sanheribs Neigung zu originellen Lösungswegen mit seinen technischen Interessen zu verbinden. Anders aber als die drei unmittelbar vorangegangenen Unternehmungen sollte sein Lösungsweg dieses Mal sehr weitreichende Folgen haben.

1. Der Schlamassel von 694 bis 689… 1.1 Frühjahr/Sommer 694: Schöne, heile Welt

Für das, was nun geschah, hält man sich am besten an jenen Bericht, der unmittelbar nach dem Ereignis verfasst worden ist. Die betreffende Inschrift hat Sanherib in zweifacher Ausfertigung zwischen den Beinen zweier Stierkolosse einmeißeln lassen, die den Haupteingang seines Thronsaales bewachten: Sennacherib 46, 48–106: 11 48–52) Auf meinem 6. Feldzug: Gegen Nagītu und Nagītu-di´bina, Städten des Königs von Elam, die jenseits des Bittermeeres liegen. 52–55) Die Leute von Bīt-Jakīn hatten sich vor den mächtigen Waffen Assurs gefürchtet, (darum) hatten sie ihre Wohnsitze verlassen, das Bittermeer überquert und am jenseitigen 12 Ufer Zuflucht [gefunden.] 56) Assur, mein Herr, ermutigte mich und ich befahl, gegen sie nach Nagītu zu ziehen. 56–59) Leute aus Ḫatti, die ich mit meinem Bogen erbeutet hatte, siedelte ich in Ninive an und sie bauten auf kunstvolle Weise großartige Schiffe (in der) Bauweise ihres Landes.

Spätere Inschriften geben an, dass weitere Schiffe in Til-Barsip gebaut worden seien. 13 Deren Anfahrtsweg ins Operationsgebiet war weitaus unkomplizierter, da sie sich lediglich den Euphrat hinabtreiben lassen mussten. 59–64) Seeleuten aus Tyros, Sidon (und) Ionien/Zypern, die ich gefangen genommen hatte, gab ich Befehl, (daraufhin) ließen sie, mit ihnen (an Bord, die Schiffe) auf dem Tigris flussabwärts bis nach Opis gleiten. Von Opis zogen sie sie, nachdem sie sie hinauf aufs trockene Land gebracht hatten, auf Rollen bis nach [Sippar,] setzten sie (dort) auf den 11

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 82–84. Siehe auch Sennacherib 20, i´,1–13 = Sennacherib 46 56–63. 12 a-ḫe-en-na-[a] ist hier wohl eher im Sinne von aḫannâ (VON SODEN, Handwörterbuch S. 18) als von aḫennâ (VON SODEN, Handwörterbuch S. 20) zu verstehen. Vgl. aḫannâ unten in Zeile 100. 13 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 34 24 und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 Sennacherib 143 i,10´.

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Araḫtu (und) ließen (sie anschließend) zum Kanal von Bīt-Dakkuri gleiten, das zu Kaldu gehört.

Es ist nicht möglich, Sanheribs Flotte zu quantifizieren. Weder die Anzahl noch die Größe seiner Schiffe sind bekannt. Aus diesem Passus geht zumindest hervor, dass sie so groß waren, dass man sie nicht über Land tragen konnte, aber klein genug, um sie notfalls über längere Strecken auf Rollen über Land ziehen zu können. 65–69) … zog ich, … meine wütenden …, die keine Furcht kennen, meine vollkommenen Gardetruppen, und meine heldenhaften Kampftruppen, die nicht …, schiffte ich ein und gab ihnen Proviant mit. Zusammen mit ihnen lud ich Getreide und Stroh für die Rösser (in die Schiffe). 69–70) Meine Krieger glitten auf den Schiffen den Euphrat hinab. Ich selbst blieb auf dem Trockenen an ihrer Seite und zog (geraden) Weges nach Bāb-salimēti.

Spätestens hier dürfte der Teil der Schiffe zur Flotte gestoßen sein, den Sanherib in Til-Barsip hatte bauen lassen. 71–74) Beim Heben [meines/seines] Kopfes, vom Ufer des Euphrat bis zum Rand des Meeres, eine Strecke von 2 Doppelstunden, …… das Wort … nahm ich mir [nicht] zu [Herzen], 14 an diesem Platz schlug ich (dennoch) mein Feldlager auf.

Ausgerechnet diese interessante Passage ist zwar extrem schlecht erhalten, doch hat sich Sanherib durch einen Blick über das Marschland offenbar davon überzeugt, dass Bāb-salimēti vom Meer noch beruhigend weit entfernt war. Wohl auch deshalb schien der Platz als Standort des Feldlagers und Ausgangspunkt der Seeoperation bestens geeignet. Er scheint in der Umgebung der Stadt auf einem ganz bestimmten, von ihm selbst ausgewählten Lagerplatz entgegen dem ausdrücklichen Rat anderer insistiert zu haben. 74–76) Die Flut des Meeres (aber) stieg massiv an, sie kam (sogar) in mein Zelt und schloss mein ganzes Feldlager ein. Wegen der gewaltigen Wasser(massen) waren alle meine Untertanen fünf Tage und Nächte wie (in) Kisten zusammengepfercht. 15

Nachdem sie nasse Füße bekommen hatten, blieben die verschreckten Assyrer bis zur Abfahrt also vorsichtshalber auf ihren Schiffen. Die beengten Verhält14

Siehe FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 117 Anm. zu Z. 73. Siehe auch zu Z. 72: »Jemand scheint vergeblich davon abzuraten, das Feldlager in allzugroßer Nähe zum Wasser aufzuschlagen.« 15 Oder: …waren alle meine Untertanen fünf Tage und Nächte wie Aale zusammengepfercht, siehe OPPENHEIM / REINER, Assyrian Dictionary Q S. 308 r.m.

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nisse, die sie dabei in Kauf nehmen mussten, sind ein Hinweis darauf, dass die Transportkapazität der Flotte nicht zur Aufnahme sämtlicher Mitwirkenden des Unternehmens berechnet war. Es war also von vornherein vorgesehen, dass die Masse der begleitenden Truppen zusammen mit dem König am Ufer des Meeres zurückbleiben und nur ein kleiner Teil der Gesamtstreitmacht das eigentliche Landeunternehmen durchführen sollte. 76–78) Die Schiffe meiner Krieger erreichten das Marschland an der Mündung des Flusses, wo der Euphrat sein Wasser in das wogende Meer fließen lässt. 78–81) Ihnen gegenüber stellte ich mich ans Ufer des Bittermeeres und brachte dem Ea, dem König des Süßwasserozeans, 16 reine Opfer. Zusammen mit einem goldenen Schiff, einem goldenen Fisch, einem goldenen Krebs [warf] ich (sie) ins Meer und ließ meine Schiffe rasch zum Land von Nagītu hinüberfahren. 81–90) Von der Küste des wogenden Meeres aus, die zum Anlegen (von Schiffen), zum Anlanden von Pferden, und um zu Fuß an Land zu gehen nicht geeignet und überaus schwierig war, erspähten die Leute aus Kaldu, die in Nagītu und Nagītu-di´bina wohnten, und die (elamischen) Bewohner von Ḫilmu, Pillatu und Ḫupapanu die Schiffe meiner Krieger. (Daraufhin) brachten sie Soldaten, Bögen, Transportwagen, Pferde und Maultiere zusammen, eine Streitmacht ohne Zahl. Am Ulai, einem Fluss, dessen Ufer (für ihr Vorhaben) günstig waren, stellten sie ihre Schlachtreihen (so) auf, dass sie (gegenüber) meinen Truppen eine erhöhte Position innehatten, und schärften ihre Waffen.

Das Ziel war also die Mündung des Ulai und deren unmittelbare Umgebung, besonders weit sind Sanheribs Schiffe also nicht gefahren. Die Überraschung glückte insoweit, als die Verteidiger an Truppen offenbar nur aufbieten konnten, was sie in den bedrohten Ortschaften hastig haben zusammenkratzen können, die Landungstruppen also nicht schon vom gesamten elamischen Heer erwartet wurden. Die Flotte wurde jedoch so frühzeitig gesichtet, dass die Verteidiger sich zum Zeitpunkt der Landung bereits in Position befanden, während alle wichtigen Personen, auf die Sanherib es abgesehen hatte, sich ausnahmslos und rechtzeitig haben verdünnisieren können. Damit aber war das einzige Ziel verfehlt, dessen Verwirklichung dem ganzen Unternehmen überhaupt so etwas wie einen Sinn hätte verleihen können. Die Auflistung der Verteidiger und ihrer Ausrüstung in den Zeilen 84–85 beruht ganz offensichtlich auf der Beuteliste in den Zeilen 98–99. Interessant, dass nur von Transportwagen (ṣumbī) und nicht von Streitwagen die Rede ist.

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Eine gesonderte Gottheit, die für den Salzwasserozean zuständig gewesen wäre, gab es ja nicht.

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91–94) (Kaum) hatten meine Krieger den Kai der Anlegestelle erreicht, da stürzten sie sich aus ihren Schiffen auf sie und besiegten sie.

Die Flotte ist also in einen Hafen hineingefahren. Da in Zeile 56 Nagītu als das eigentliche, zentrale Feldzugsziel genannt wird, war es vielleicht der Hafen dieser Stadt, in dem die Flotte landete. Die Zeilen 81–94 beschreiben eine Schlacht in der üblichen klischeehaften Weise: Um die Sache interessant zu gestalten, stellt der Bericht, wie in solchen Fällen üblich, die assyrischen Truppen zunächst in den Zeilen 81–90 vor ein schwieriges militärisches Problem, um daraufhin in den Zeilen 91–94 den totalen Sieg zu verkünden – wie üblich ohne auf die Lösung des gestellten Problems einzugehen. Es ist müßig, über Einzelheiten der Kampfhandlungen zu spekulieren, da ihnen, wie ersichtlich, die Verfasser des Berichtes keinerlei Interesse entgegengebracht haben. Der originelle Teil des Berichtes endet mit Zeile 81. Auch die folgenden Passagen sind nicht mehr als eine Aneinanderreihung üblicher Versatzstücke: 94–96) Nagītu, Nagītu-di´bina Ḫilmu, Pillatu und Ḫupapanu, Städte des Königs von Elam, nahmen sie ein. 97–101) Sie erbeuteten ihre (bewaffnete) Macht, Menschen aus Kaldu, Götter aus ganz Bīt-Jakīn, dazu ihre Habe, außerdem Einwohner Elams, Transportwagen, [Pferde], Maultiere und (Esel), sie brachten (all das) auf [ihre Schiffe] und ließen (die Beute) zu mir ans diesseitige Ufer, nach Bāb-salimēti, herüberfahren. 101–102) Die (genannten) Städte zerstörten sie, rissen sie nieder und ließen sie 17 in Flammen aufgehen. Über das weite Elam brachten sie lähmendes Entsetzen.

Zur Aufwertung des trotz allen Wortgeklingels dürftigen Ergebnisses kam eine Passage gerade recht, die in ähnlicher Weise bereits in früheren Inschriften Sanheribs derartige Berichte abschließt: 102–106) Unter den Gefangenen der Länder hob ich 30500 Bogenschützen und 20200 mit Schilden (bewaffnete Nahkämpfer) aus und fügte sie meiner königlichen [Einheit] hinzu. Den Rest der beträchtlichen, (beim) Feind (gemachten) Gefangenen(menge) teilte ich wie Schafe unter sämtlichen (Angehörigen) meines Feldlagers, unter meinen Statthalter und den Einwohnern meiner Kultzentren auf.

Man übersieht hierbei allzu leicht, dass sich die angegebenen Zahlen auf die gesamte Regierungszeit Sanheribs bis einschließlich zum Jahr 694 beziehen. So entsteht das sicher nicht unerwünschte Missverständnis, der amphibische Abstecher zur elamischen Südküste habe allein schon zehntausende Gefangene erbracht. Da aber eine Inschrift, die im Jahr davor (695) entstanden ist, in dem 17

Wörtlich: ließ ich…

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ansonsten identischen Passus bereits 30000 Bogenschützen und 20000 Schildträger aufführt, 18 so hat die See-Expedition dem König gerade einmal 700 gefangene Krieger eingebracht. Das war, gerade angesichts des dafür betriebenen Aufwandes und der neuen, überraschenden Vorgehensweise ein mehr als bescheidenes, kaum nennenswertes Ergebnis. Eine Bewertung von Sanheribs Seeinvasion des Jahres 694 muss auf drei Ebenen erfolgen: Auf der taktischen Ebene war das Unternehmen ein Teilerfolg: Die Flotte hat das Zielgebiet erreicht und die Landungstruppen erfolgreich abgesetzt. Die angelandete Streitmacht konnte sich gegen die improvisierten lokalen Verteidigungskräfte durchsetzen, etliche Siedlungen zerstören und in bescheidenem Umfang sowohl Gefangene wie auch Beute machen. Der Rückzug ist rechtzeitig vor dem Eintreffen elamischer Verstärkungen aus dem Landesinneren eingeleitet worden, die Flotte nahm die Landungstruppen mitsamt Gefangenen und Beute wieder auf und brachte sie wohlbehalten nach Südmesopotamien zurück. Über die assyrischen Verluste ist wie üblich nichts bekannt, an materiellen Einbußen war infolge königlicher Beratungsresistenz vor allem ein von Brackwasser ruiniertes Prunkzelt zu beklagen. Auf der operationalen Ebene war das Ganze ein Flopp. Die Hoffnung, durch einen Überraschungsangriff aus unvermuteter Richtung wichtiger Anführer der babylonisch-kaldäischen Rebellen habhaft zu werden, hat sich nicht erfüllt, da diese sich rechtzeitig hatten absetzen können. Stattdessen hat das Unternehmen der assyrischen Seite lediglich eine begrenzte Anzahl unwichtiger Gefangener, sowie erbeuteter Waffen und Ausrüstungsgegenstände eingebracht, die Sanherib nicht benötigte und sich wohl auch vom Gegner ohne weiteres ersetzen ließen. Diesem äußerst mageren Ergebnis stand ein unverhältnismäßig großer Aufwand gegenüber: Der gleichzeitige Schiffbau in TilBarsip und in Ninive muss nicht allein sehr kostspielig gewesen sein, er war darüber hinaus auffällig und machte einen monatelangen Vorlauf erforderlich. Hinzu kam ein komplizierter und mühseliger Anmarschweg zur Operationsbasis Bāb-salimēti. Schon diese Vorgänge mussten die notwendige Geheimhaltung, die für das Gelingen des Vorhabens von essentieller Bedeutung war, nahezu unmöglich machen. Von dem Augenblick an, da sich Sanheribs Flotte in Bāb-salimēti sammelte, musste schon ein einziges elamisches Fischerboot genügen, von dem aus die auffällige Konzentration an Schiffen ungewohnter Bauart gesichtet wurde, um den Gegner zu warnen. Ein durchschlagender Erfolg war daher von vornherein wenig wahrscheinlich, und dass die Lan-

18

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 17 v, 15–22.

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dungstruppen die Küste von Verteidigern besetzt vorfanden, wundert unter den geschilderten Umständen nicht. Gemessen am Vorhaben Sanheribs erscheint es fraglich, ob der Aufwand des Baues und des Einsatzes einer Flotte überhaupt gerechtfertigt war. Das Zielgebiet war von nur bescheidener Größe und auf dem Landweg sehr viel bequemer und schneller als über den Wasserweg erreichbar. Sowohl Tiglatpileser III. wie auch Sargon hatten die fragliche Region um die beiden Zentren Pillatu und (A)ḫilimmu/Ḫilmu nebst anderen Teilgebieten Elams ganz problemlos und sicher auch schneller erreicht als Sanherib, da ihr Vorankommen nicht durch die Notwendigkeit behindert worden war, Schiffe streckenweise über Land ziehen zu müssen. 19 Zum andern ließ Sanherib die Möglichkeiten, die ihm seine Flotte bot, weitestgehend ungenutzt, da er nur einen kleinen Bruchteil der elamischen Küste angreifen und seine Schiffe lediglich die kurze Distanz von der Mündung des Euphrat bis zur Mündung des Ulai überwinden ließ. Für die Seeleute vom Mittelmeer, die seine Schiffe bedienten, war das ein Katzensprung. Dass es auch ganz anders ging, bewies Assurbanipals Feldherr Bēl-ibni, der um 650 das Kommando über die assyrischen Streitkräfte im Meerland übernahm. Anfangs hatte er dieselbe Idee wie vor ihm Sanherib und er schlug ebenfalls vor, von phönizischen Fachleuten Schiffe bauen zu lassen: ABL 795 Rs.7–14: Wenn es dem König, meinem Herrn, gefällt, soll man 70 besonders große Balken zurechthauen und auf dem Fluss bis nach Opis bringen. Und von Opis soll man sie bis zum Bittermeer nach Kār-Nanâ bringen. 20 Sidonier sollen mit [ihnen] kommen und Schiffe bauen. Wenn es dem König, meinem Herrn, gefällt, werde ich (sie) bauen und für den König, meinem Herrn, (in Dienst) stellen. 20

Die Bäume sollten also in Assyrien gefällt und die Balken auf derselben Route über Opis, die schon Sanheribs Flotte genommen hatte, die Golfregion erreichen. Welche Anzahl an Schiffen Bēl-ibni vorgeschwebt haben mag, hängt davon ab, ob die besonders großen Balken lediglich den Kiel oder die Masten der Fahrzeuge bilden sollten oder ob aus ihrem Holz die kompletten Schiffe zu bauen waren. Ebenso bleibt die Frage unbeantwortet, ob der Schiffbau lediglich unter der fachkundigen Anleitung der Sidonier oder allein von ihnen selbst durchgeführt werden sollte. Als Bēl-ibni die elamischen Küstenstädte Ḫilim(mu) und Pillat(u) erneut und sogar mehrfach wiederum vom Meer aus 19

Tiglatpileser III.: TADMOR / YAMADA, Royal Inscriptions S. 118 f. Tiglath-pileser III 47 Vs. 13–15 und 136 Tiglath-pileser III 51 17. Sargon: FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 151 und 330 Ann.301. Die Versuche Tiglatpilesers III. und Sargons, dieses Gebiet dauerhaft zu annektieren, waren erfolglos geblieben. 20 DE VAAN, Bēl-ibni S. 290 f.

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angreifen ließ, stellte sich heraus, dass sich die geringe Distanz, die dabei zurückzulegen war, sogar auf Flößen problemlos überwinden ließ: ABL 1000 Vs.11–Rs.4: Nabû-bēl-šumāte, dem Nabû das Fell noch über die Ohren ziehen wird, 21 hat die Streitmacht der Leute von Ḫilim, Pillat, Nuguḫu, Iašian und Lakabru für je 10 Gur Datteln und je 2 Sklaven gegen mich (zum Kampf) aufgeboten(?). 250 Gurasimmäer, die auf seiner Seite sind, Zabīdu von den Leuten aus Ur, die Priester Sîn-iddina, Sohn des Sîn-barḫu-ilāni, und Šu[maia], der Šatammu des Nikkal, Leute aus Kisik […], (gehörten) teils (als) ihre Anführer, teils (als) [ihre] Gefolgsleute zu der (besagten) Streitmacht. Nachdem sie auf Flößen zu mir herübergekommen waren, haben sie zwei meiner Verwandten und von meinen Leuten insgesamt [x] geraubt und sich (gleich darauf wieder) davongemacht. Da mir die Götter des Königs beistanden, schickte ich zum sofortigen Gegenschlag 400 Bogenschützen auf Schiffen gegen sie aus. Sie überquerten das Bittermeer nach Elam. (Dort) richteten sie, behütet vom Schatten des Königs, meines Herrn, ein Massaker unter den Bewohnern von Ḫilim und Pillat an. Nachdem sie deren Rinder, 500 (oder) 600 (Stück), abgestochen hatten, zogen sie sich zurück, 22 und nachdem ich für jeden (einzelnen von mir erlittenen Verlust an) Leuten ihnen (d. h. den Gegnern) (nicht weniger als) hundertfünfzig Leute geraubt hatte, habe ich (meine Truppen übers Meer wieder) zurückfahren lassen. 23

Ein zweiter Angriff verlief ähnlich: ABL 520 Rs.10–27: Ich selbst 24 habe mir von den restlichen (Truppen) 600 Bogenschützen und 50 Reiter genommen und anschließend an der Mündung des Bittermeeres Position bezogen. Nachdem ich sie auf Flößen losgeschickt hatte, sind sie (diesmal) nach Maḫmiti gekommen. Nachdem sie Rinder, 1500 (Stück), die dem König von Elam und dem Scheich von Pillat (gehörten), erbeutet hatten, haben sie 500 von ihnen auf Flöße geladen und den Rest, es waren 1000, abgestochen und ins Bittermeer geworfen. Von diesen (erbeuteten Rindern) schicke ich hiermit 100 starke Rinder und 40 Hirten an den Palast. 25 Da das Meerland (und) die Diener des Königs, meines Herrn, hungern (und) sie

21 Wörtlich: dessen Haut Nabû zum Markt tragen wird. 22

In Rs. 10 lies mit OPPENHEIM / REINER, Assyrian Dictionary N/II S. 186 r.u. it-ta-as-su anstatt it-ta-aṣ-lu. 23 DE VAAN, Bēl-ibni S. 293 f. 24 Die erste Hälfte des Briefes berichtet von einem weiteren Vorstoß nach Elam, nicht übers Meer, sondern über den Fluss Takkatap, siehe FUCHS, Assyria at War S. 383 f. 25 Zu ABL 520 Rs. 22–24 siehe OPPENHEIM / REINER, Assyrian Dictionary P S. 438 l.m. und OPPENHEIM / REINER, Assyrian Dictionary R S. 305 r.m.

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nichts (zu essen) finden, habe ich den Rest der Rinder [zur Versorg]ung an sie verteilt. 26

Da nur im ersten der beiden Berichte von Schiffen die Rede ist, jedoch dem zweiten Bericht zufolge eine weit größere assyrische Landungsstreitmacht allein mit Hilfe von Flößen übergesetzt werden konnte, ist es eher unwahrscheinlich, dass Assurbanipal ein umfangreicheres Schiffbauprogramm seines Generals genehmigt hat. Die benötigten Transportmittel, sei es Schiffe oder Flöße, hat Bēl-ibni wohl vor Ort beschaffen bzw. requirieren können. Etliches von dem, was Bēl-ibni in seinen Briefen beschreibt, ist dem Bericht über Sanheribs Landungsoperation sehr ähnlich: Wiederum wurden Tiere erbeutet und es wurden Gefangene gemacht, auch dieses Mal keine namhaften. Dem zweiten Bericht zufolge wurde, wie auch im Jahre 694, neben Fußvolk auch Reiterei übergesetzt. Während aber Bēl-ibnis Vorstöße nur Nadelstiche waren, die Ḫilim(mu) und Pillat(u) durch Menschenraub und die Vernichtung von Viehbeständen Schaden zufügten, sollen diese und noch weitere Siedlungen im Jahre 694 direkt angegriffen und zerstört worden sein. Die von Sanherib eingesetzte Landungsstreitmacht muss demnach um ein Vielfaches größer gewesen sein als die 400 Bogenschützen bzw. die 600 Bogenschützen und 50 Reiter, die später Bēl-ibni nach Elam hinüberfahren ließ. Allenfalls die größere Dimension von Sanheribs Landung machte also einen umfangreicheren Flottenbau notwendig, dies aber zu hohen Kosten und um den Preis, dass der längere Vorlauf das Überraschungsmoment ernstlich gefährdete. Bēl-ibnis improvisierte Vorstöße waren unberechenbarer und, da sie sich wahrscheinlich auf lokal verfügbare Ressourcen stützten, auch weit kostengünstiger. In den Inschriften Assurbanipals sucht man die Landeunternehmen des Bēl-ibni allerdings vergeblich. Obwohl dieser eine ganze Serie derartiger Vorstöße über den Golf hinweg unternommen hatte, schätzte man seine Aktivitäten im Hinblick auf den Gesamtverlauf des Krieges offenbar als nebensächlich ein. Hinsichtlich der dritten, der strategischen Ebene, ist festzuhalten, dass Sanheribs amphibisches Landeunternehmen die grundsätzliche Situation in keiner Weise verändert hat. Auf der elamischen Seite wurden die zerstörten Siedlungen wiederaufgebaut, und, wie bereits aus den zitierten Berichten des Bēl-ibni ersichtlich, erfüllten Ḫilimmu und Pillatu auch noch zur Zeit Assurbanipals nach wie vor ihre Rolle als Zufluchtsorte und Stützpunkte babylonischer Exilrebellen, die den Königen von Elam im Kriegsfall auch weiterhin Truppenkon-

26

DE VAAN, Bēl-ibni S. 266 f.

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tingente stellten. 27 Auf assyrischer Seite spricht nichts dafür, dass so etwas wie die Etablierung einer dauerhaften assyrischen Flottenpräsenz am Golf beabsichtigt gewesen wäre. Was aus Sanheribs nagelneuen Schiffen am Ende geworden ist, erfahren wir nicht. Da es schon sichtliche Mühen bereitet hatte, sie stromabwärts zur Küste zu bringen, ist wohl auszuschließen, dass man sie anschließend stromaufwärts wieder zurück nach Ninive geschleppt hat. Die Fahrzeuge sind vermutlich in den darauffolgenden Jahren, in denen Assyrien die Kontrolle über Babylonien verlor, irgendwo an der südmesopotamischen Küste, vielleicht in Bāb-salimēti, zerstört worden oder ganz einfach verrottet. Wohl von vornherein nur zum einmaligen Gebrauch gedacht, waren Sanheribs Schiffe eine Art Wegwerf-Flotte. Es hat ganz den Anschein, als ob für den König im Jahre 694 der Weg an sich das Ziel gewesen ist. Der Technikfreak in ihm hatte während des Winters 695/694 das Vergnügen, in nächster Nähe den faszinierenden Vorgang des Schiffbaues in allen Einzelheiten mitverfolgen zu können, und gerade das wird auch der wahre Grund dafür gewesen sein, einen Teil der Fahrzeuge ausgerechnet in Ninive bauen zu lassen, von wo aus der Weg zum Einsatzort sich so unnötig schwierig gestaltete. Im Vergleich dazu mussten die in Til-Barsip gebauten Schiffe lediglich den Euphrat hinunterfahren. Aber der König verbrachte die Wintermonate nun einmal nicht in Til-Barsip, sondern in Ninive. Da es bei alledem wohl in erster Linie um den Bau der Schiffe selbst und weniger um ihren anschließenden Einsatz ging, entpuppt sich das Unternehmen als kaum mehr als eine Spielerei, die kostspielige Laune eines königlichen Dilettanten. Hätte es damit sein Bewenden gehabt, so ließe sich das Ganze, ausgehend von den Bewertungen auf der operationalen Ebene, als ein überflüssiges Projekt charakterisieren, durch das mit maximalem Aufwand ein minimales und noch dazu flüchtiges Ergebnis erzielt worden ist. Wie sich jedoch sehr bald schon herausstellen sollte, hat sich Sanherib mit seinem Experiment auf der strategischen Ebene darüber hinaus auch noch ein Maximum an Schwierigkeiten eingehandelt. In der zitierten Stier-Inschrift wird wiederholt und mit fröhlicher Unbedarftheit zugegeben, dass die Siedlungen, die man soeben ausgeplündert und zerstört hatte, ja eigentlich dem König von Elam gehörten und dass man nicht nur rebellische Kaldäer, sondern auch elamische Untertanen gefangen weggeführt habe. Elam aber war alles andere als ein unbedeutendes Nachbarreich, mit dem man sich, soweit erkennbar, damals zwar im Frieden befand, das 27

Dies geht nicht nur aus den zitierten Passagen der beiden Briefe des Bēl-ibni hervor, sondern auch aus NOVOTNY / JEFFERS, Royal Inscription S. 76 Ashurbanipal 3 vii, 6–24. Eine Änderung trat erst ein, als die Gesamtsituation Elams sich nach 648 katastrophal verschlechterte, siehe NOVOTNY / JEFFERS, Royal Inscriptions S. 243 Ashurbanipal 11 iv, 116–123.

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jedoch, wie es bereits mehrfach bewiesen hatte, zur Bewahrung seines Großmachtstatus und seiner Unabhängigkeit die Auseinandersetzung mit dem überlegenen Assyrien keineswegs scheute, und für dessen König die Hinnahme von Sanheribs ebenso mutwilligem wie auch brutalem Angriff folglich der politischen Selbstaufgabe gleichgekommen wäre. Erstaunlicherweise scheint man an Sanheribs Hof keinen Gedanken an eine mögliche Reaktion des elamischen Königs verschwendet zu haben. Als die oben übersetzte Inschrift verfasst und in Stein gemeißelt wurde, schien ganz im Gegenteil die Welt im Sinne Sanheribs noch vollkommen in Ordnung zu sein. Er war mit seinen Truppen von seinem Ausflug ans Meer zurückgekehrt und widmete sich längst wieder seinen architektonischen Wundern. Alles schien nicht anders zu sein als es sein sollte und er mag sich bereits mitten im Brainstorming zu seinem nächsten militärischen Groß-Experiment befunden haben, als er zu seinem Entsetzen feststellen musste: Er war mitnichten der Einzige, der seinen Zeitgenossen mit grausamen Überraschungen aufzuwarten verstand, und er hatte ahnungslos einen großen Konflikt angestoßen, auf den er in keiner Weise vorbereitet war. 1.2 Herbst 694: Desaster! 28

Im September/Oktober noch desselben Jahres 694 beantwortete König Ḫallušu von Elam die Provokation Sanheribs, in dem er die Stadt Sippar überfiel und deren Bewohner massakrierte. Das war zugegebenermaßen nicht annähernd so originell wie das, was ihm zuvor Sanherib angetan hatte, aber doch ein unmissverständlicher Wink, dass er Übergriffe wie den gegen seine Südküste auch in Zukunft nicht hinzunehmen gewillt sei, dergleichen vielmehr sehr wohl und in der gebührenden Weise zu beantworten wisse. Der elamische König hatte seinen Überfall wohl nur als eine begrenzte Machtdemonstration geplant, die in etwa denselben Schaden anrichten sollte, den er zuvor selbst erlitten hatte. Da aber erwies sich das Jahr 694 einmal mehr als das Jahr der Überraschungen, denn die Elamer bekamen unerwartet nun auch noch die Gelegenheit, Sanheribs Sohn Aššur-nādin-šumi als Gefangenen nach Elam abführen zu können, der seit 700 als König von Babylon herrschte. 29 28

Für die Rekonstruktion des Ablaufes und der Reihenfolge, der im Anschluss skizzierten Ereignisse sei auf Anhang 1 verwiesen. 29 Dies geht aus einer babylonischen Chronik hervor, siehe Anhang 1. Die von Sanherib in Auftrag gegebenen Texte schweigen verständlicherweise zu diesem Ereignis. Inschriften, die erst 691 entstanden sind, berichten noch immer von der Inthronisation des Aššur-nādin-šumi in Babylon im Jahre 700, erwähnen sein tragisches Schicksal jedoch mit keinem Wort. Siehe GRAYSON /

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Wie es zu dieser spektakulären Gefangennahme kam, verrät ein Brief, der gut zwei Jahrzehnte nach diesem Ereignis entstanden ist. 30 Der Absender Šamaš-šum-ukīn informiert darin seinen Vater, König Asarhaddon, über eine Intrige zweier Herren mit Namen Šaridu (aus Babylon) und Bēl-iddina (aus Borsippa). Diese beiden Denunzianten werfen drei in assyrischen Diensten stehenden Zukunftsexperten zunächst berufliche Versäumnisse und Eigenmächtigkeiten allgemeiner Art vor, die hier nicht weiter von Interesse sind. Dann aber landen sie ihren Hauptschlag gegen eines ihrer drei Opfer, gegen einen bārû mit Namen Aplāia, mit einem Vorwurf, der, wenn er Glauben fand, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die völlige Vernichtung des solcherart Beschuldigten zur Folge haben musste: SAA 16 Nr. 21 r.3–4: Er (Aplāia) hat (damals) die Leute, die sich an Aššur-nādin-šumi vergriffen und (ihn) nach Elam ausgeliefert haben, zusammengebracht, einen Vertrag mit ihnen geschlossen (und) sie bei Jupiter und Sirius schwören lassen. Als wir das hörten, haben wir es dem Kronprinzen von Babylon (sofort) gemeldet. 31

Es fällt ausgesprochen schwer zu glauben, dass der angebliche Hauptanstifter und Organisator der Auslieferung nicht nur zwanzig Jahre lang unerkannt und unbehelligt geblieben und schließlich, als Gipfelpunkt an Dreistigkeit, auch noch in die Dienste des Šamaš-šum-ukīn, und damit ja eines Neffen des Aššurnādin-šumi, getreten sein soll. Doch ganz gleich, ob der hier denunzierte Aplāia tatsächlich der Hauptschuldige gewesen ist oder nicht, so lassen sich aus dem Briefzitat in jedem Fall zwei Informationen gewinnen: Zum einen, dass es etwa zwei Jahrzehnte nach dem Ereignis allgemein bekannt war, dass Aššurnādin-šumi von Babyloniern überrumpelt und ausgeliefert worden war. Und zum anderen, dass die genaue Identität der Verschwörer noch immer nicht hatte ermittelt werden können, denn andernfalls wäre die Denunziation der Herren Šaridu und Bēl-iddina sinnlos gewesen. Von den eigenen Leuten an den Feind ausgeliefert zu werden war das absolut schlimmste, was einem König passieren konnte. Es war noch weit schlimmer, als einem Attentat zum Opfer zu fallen, denn auch wenn das Endergebnis in beiden Fällen identisch war, so sah sich der Ausgelieferte vor seinem Ende obendrein auch noch entsetzlichen Erniedrigungen und Quälereien ausge-

NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 18 iii 28´, Sennacherib 22 iii 72 und Sennacherib 23 iii 63. 30 Da Šamaš-šum-ukīn noch als Kronprinz von Babylon erscheint (LUUKKO / VAN BUYLAERE, Correspondence Nr. 21 21 und r.8), muss der Brief in den Jahren 672–669 entstanden sein. 31 LUUKKO / VAN BUYLAERE, Correspondence S. 18 f.

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setzt. 32 Und ganz davon abgesehen bewies ein solches Schicksal auch noch das erbärmliche Versagen des Ausgelieferten. Aššur-nādin-šumi hat es in sage und schreibe sechs Jahren als König von Babylon nicht vermocht, die Loyalität seiner Untertanen oder wenigstens eine zuverlässige Gefolgschaft zu gewinnen, die ihn vor einem so bitteren Ende hätte schützen können. Dass für einen assyrischen Prinzen auf dem babylonischen Thron das Scheitern beileibe kein unabänderliches Schicksal war, das sollte wenige Jahrzehnte später sein bereits erwähnter Neffe Šamaš-šum-ukīn unter Beweis stellen. Gleichfalls ein assyrischer Prinz und König von Babylon von Assyriens Gnaden, überstand dieser um 664 nicht nur ein Remake des elamischen Vorstoßes von 694, sondern er vermochte seine babylonischen Untertanen so fest an sich zu binden, dass sie ihm sogar in einen aussichtslosen Kampf gegen seinen übermächtigen Bruder Assurbanipal folgten. 33 Der Vergleich mit seinem Neffen unterstreicht noch das klägliche Versagen des Aššur-nādin-šumi, der sich im Gegensatz zu ihm auf dem babylonischen Thron als tragische Fehlbesetzung erwiesen hat. Das Ende des Aššur-nādin-šumi war zugleich der Beginn eines umfassenden babylonischen Aufstandes. Was der elamische König Ḫallušu wohl ursprünglich nur als begrenzte Aktion geplant hatte, wurde damit zu etwas sehr viel Größerem, denn jetzt konnte er mit Nergal-ušēzib sogar einen eigenen Kandidaten als König von Babylon einsetzen. Aus babylonischer Sicht lag in diesem Herbst des Jahres 694 die Initiative ganz beim König von Elam. 34 Einer Inschrift Sanheribs zufolge steckten hinter alledem die nach Elam geflohenen Exil-Babylonier, genau jene also, deren Zuflucht Sanherib im Sommer durch seine Schiffe hatte angreifen lassen. Sie seien es gewesen, die »den König von Elam nach Babylon geführt und Šūzubu, den Sohn des Gaḫul, über sich auf den königlichen Thron gesetzt« hätten. 35 Diese Schuldzuweisung ist zugleich das Eingeständnis, dass Sanheribs Flottenexperiment sein Ziel, die Exil-Rebellen zu neutralisieren, nicht nur vollständig verfehlt, sondern sie obendrein auch noch zu vermehrten Anstrengungen gegen ihn aufgestachelt hatte. Insgesamt war im Spätherbst des Jahres 694 eine Lage entstanden, die sich am treffendsten mit dem amerikanischen Ausdruck FUBAR charakterisieren lässt. Die Wissenschaft verfügt über keinen Begriff, 32

Nicht umsonst findet sich etwa in Khorsabad der Fluch, die Götter möchten den Übeltäter »gefesselt zu Füßen seines Feindes sitzen lassen« (FUCHS, Inschriften Sargons II. Zyl.77, Bro.60, Stier.106). Assurbanipals Inschriften vermitteln sehr anschaulich, was man damals mit hochgestellten Feinden so alles anstellte, wenn man sie gefangen in die Hände bekam, siehe FUCHS, Militärgeschichte S. 97 ff. 33 WATERS, Survey S. 45 und FRAME, Babylonia 689–627 B.C. S. 102 ff. 34 GRAYSON, Chronicles S. 78 f. ii, 39–45, bzw. GLASSNER, Chronicles S. 196 ff. ii, 38–44. 35 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 34, 27–29.

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der aus assyrischer Sicht die Situation in Babylonien gegen Ende des Jahres 694 in auch nur annähernd vergleichbarer Präzision beschreiben würde. Es gibt keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Sanherib in dieser Phase versucht hätte, in Babylonien einzugreifen. Die babylonische Chronik vermerkt im Anschluss an die Einsetzung des Nergal-ušēzib zwar einen elamischen Sieg über assyrische Truppen, 36 doch bleibt unklar, was es mit diesen auf sich hatte. Handelte es sich um Besatzungstruppen, die schon vor dem elamischen Einfall in Babyloniens stationiert gewesen waren, oder um eine Streitmacht, die Sanherib erst als Reaktion auf die sich entwickelnde Krise dorthin schickte? Im ersteren Fall wurde von Assyrien aus zu wenig, im letzteren zu wenig zu spät getan. Von den Ereignissen, die sich im Herbst des Jahres 694 überschlugen, wurde Sanherib gänzlich überrascht. Es ist offenkundig, dass er keinerlei Vorsorge für den an sich ja keineswegs unwahrscheinlichen Fall einer gewaltsamen Reaktion des elamischen Königs getroffen hatte, den er im Sommer noch selbst provoziert hatte. 37 Wenn sein Stellvertreter vor Ort, der in Babylon eingesetzte König, die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt und das Land im Griff gehabt hätte, so wäre die elamische Antwort über das in Sippar angerichtete Blutbad sehr wahrscheinlich nicht hinausgegangen. Das wäre dann zwar immer noch eine Tragödie gewesen, aber eine begrenzte, die man im Folgejahr auf vergleichbare Weise hätte beantworten können. 38 Die Position des offenkundig überforderten Aššur-nādin-šumi hatte sich jedoch als weit schwächer erwiesen, als es nach fünf ruhigen Jahren den Anschein gehabt hatte. Diese Ruhe hatte sich nun als trügerisch erwiesen, denn wie die rasche Ausbreitung der Rebellion zeigte, muss in Babylonien die Bereitschaft, einen neuerlichen Aufstand zu wagen, außerordentlich groß gewesen sein. Aššur-nādin-šumi hat als König von Babylon versagt, sein Vater Sanherib darin, dies nicht erkannt und sowohl die Situation in Babylonien wie auch die Befindlichkeit des elamischen Nachbarn falsch eingeschätzt zu haben.

36 GRAYSON, Chronicles S. 78 Chr.1 ii, 45 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 ii, 44. 37

Auch nach FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 14 f. war Sanheribs Flottenangriff nicht die Antwort auf eine direkte Herausforderung oder gar eine Bedrohung: »Gewiss hatte aber auch Sanheribs unbändiger Unternehmungsgeist, sein Unwille, noch länger ›feliciter sedens‹ in der Residenz des Kitzels kriegerischer Abenteuer entraten zu müssen, einen Anteil daran, dass der König im Jahre 694 Vorbereitungen zu einem Feldzug ganz besonderer Art traf.« Demnach hätte Sanherib seinen Feldzug aus purer Langeweile unternommen! 38 Einen solchen Verlauf nahm im Jahre 664 der Angriff des Elamerkönigs Urtak.

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1.3 Frühjahr bis Herbst 693: Versuche zur Schadenseindämmung

Die Reaktion Sanheribs fiel überraschend schwach, geradezu hilflos aus. Er war sich nicht einmal sicher, ob sich das wichtige, aber exponiert im Osten gelegene Kultzentrum Dēr gegen einen elamischen Angriff würde halten lassen, denn bereits im Januar oder Februar 693 ließ er von dort die Statue des Gottes Anurabû nach Assyrien evakuieren. 39 Es ist offenkundig, dass sich Sanherib im Jahre 693 auf einen längeren militärischen Schlagabtausch mit zweifelhaftem Ausgang vorbereitete. Dabei war in Babylonien für Sanherib zu Jahresbeginn noch keineswegs alles verloren, denn er besaß dort zunächst noch Verbündete und sogar vereinzelte Stützpunkte. Die Stadt Nippur etwa hatte sich dem Aufstand nicht angeschlossen und wurde von Nergal-ušēzib erst im Juni/Juli erobert. Das Land hatte sich also nicht geschlossen gegen die assyrische Herrschaft erhoben, es befand sich vielmehr in einem Bürgerkrieg, in dem die Parteigänger des Nergal-ušēzib mit denen um die Macht stritten, die auf den assyrischen König setzten. Der Sieg der Aufständischen stand dabei keineswegs überall oder schon im Voraus fest. In der Stadt Targibatu etwa, wo man spätestens im Aug./Sept. das »Jahr nach Nergal-ušēzib« angebrochen sah, haben sich die Parteigänger des assyrischen Königs durchgesetzt und die anfängliche Herrschaft der Rebellen wieder beendet. 40 Sanherib jedoch unternahm zunächst rein gar nichts, um seinen Sympathisanten zu helfen. Erst nachdem er den größten Teil des Sommers ungenutzt hatte verstreichen lassen, entsandte er eine Streitmacht, die im Sept./Okt. in Uruk eintraf, um jetzt auch dort die lokalen Götter in Sicherheit zu bringen. Die babylonische Chronik und eine von Sanheribs Inschriften berichten übereinstimmend, dass die assyrischen Truppen in die Stadt hineingelangen konnten und anschließend die Götter, zu denen auch eine Gottheit aus Larsa zählte,

39 GRAYSON, Chronicles S. 128 Chr.15 1 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 210 Nr. 19 1. 40

BRINKMAN, Notes on Arameans S. 317 sub 14 bzw. BRINKMAN / KENNEDY, Documentary Evidence S. 16. Die Situation ist dieselbe wie in den vergleichbar krisenhaften Jahren 626–625, in denen sich gleichfalls Machtverschiebungen innerhalb einzelner Städte anhand von Urkunden mitverfolgen lassen, wobei keineswegs jeder derartige Machtwechsel die Folge eines militärischen Eingriffes von außen war, siehe FUCHS, Geburt S. 31f. Aus diesem Grund ist auch der Urkundenvermerk »Jahr nach Nergal-ušēzib« aus der Stadt Targibatu kein Hinweis auf eine allgemeine Wende zugunsten Sanheribs (so FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 15), und auch kein Beweis dafür, dass die Streitmacht Sanheribs bereits im Ulūlu (Aug./Sept.) in Südbabylonien aktiv war. Das nicht lokalisierte Targibatu war zur Zeit Assurbanipals der Stützpunkt des Nabû-bēlšumāte, siehe DE VAAN, Bēl-ibni S. 408, und wohl mit Tarbugati in Gambulu identisch, siehe FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 464.

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wie auch die Bewohner »raubten«. 41 Sanheribs Expeditionsheer hat die Stadt somit ohne Gegenwehr besetzen können, sie jedoch anschließend wie eine feindliche Stadt behandelt. Uruk hat sich zwar nicht gewehrt, auf assyrischer Seite stand die Stadt aber offenbar auch nicht. Das von Sanherib entsandte Heer unternahm keinen Versuch, Uruk zu halten. Es zog mitsamt seiner Beute in nördlicher Richtung ab. In der Nähe von Nippur stieß es sechs Tage später auf eine babylonisch-elamische Streitmacht, die ihm dort den Weg verlegte. Nergal-ušēzib hatte es nicht gewagt, sich den Assyrern allein entgegenzustellen, doch inzwischen hatte er Verstärkung aus Elam erhalten und fühlte sich jetzt stark genug, es auf eine Schlacht ankommen zu lassen. Auch wenn dies kein wirklicher Trost für Sanherib gewesen sein kann, so zeigte sich im Verlauf des anschließenden Gefechtes, dass er zumindest nicht der einzige war, dem in diesem Konflikt tragische Fehleinschätzungen unterliefen. Die assyrische Seite erwies sich als überlegen und Nergalušēzib endete, mit einem Bären zusammengekettet, am Tor der Zitadelle von Ninive. 42 In diesen für Sanherib so finsteren Jahren sollte das jedoch für lange Zeit die einzige derartige Unterhaltungseinlage bleiben, die er seinem verwöhnten hauptstädtischen Publikum zu bieten vermochte. Der Sieg war für die assyrische Seite ein schöner Teilerfolg, der nach den vorangegangenen Katastrophen umso willkommener gewesen sein muss. Tatsächlich aber entschied oder veränderte er nichts. Die assyrische Streitmacht hatte ihren Rückzug nach Assyrien fortgesetzt, ohne auch nur den Versuch unternommen zu haben, wenigstens das nahe des Schlachtfeldes gelegene Nippur wieder zurückzuerlangen, und weder die babylonischen Rebellen noch der König von Elam gaben ihren Widerstand auf. Welche Bedeutung die Assyrer selbst dem im Spätsommer des Jahres 693 unternommenen Vorstoß beimaßen, geht aus seiner Behandlung in den Inschriften Sanheribs hervor. Nur eine einzige von ihnen erwähnt die wenig rühmliche Plünderung Uruks, während alle übrigen aus der Schlacht bei Nippur gleich zwei separate Siege machen (einen gegen die Elamer und einen gegen Šūzubu/ Nergal-ušēzib), um sie beide mit dem amphibischen Abenteuer des Jahres 694 zu Sanheribs »sechstem Feldzug« zu kombinieren, einem künstlichen Konstrukt, das den Zusammenhängen wie auch den zeitlichen Abständen Hohn spricht. Man hat also nur Teilen des Geschehens etwas Positives abgewinnen können. Noch nicht einmal aus der Tatsache, dass man in der Schlacht bei Nippur auch einen Sohn des elamischen Königs erschlagen hat-

41

GRAYSON, Chronicles S. 78 f. Chr.1 ii, 48 – iii, 1 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 ii, 47 – iii, 1. GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 223 Sennacherib 34, 31–33. 42 Zur Rekonstruktion dieser Ereignisse siehe Anhang 1.

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te, 43 ließ sich viel machen, denn auch wenn Sanherib darin eine Art ausgleichender Gerechtigkeit gesehen haben mag, so musste die literarische Ausgestaltung dieses Ereignisses doch immer auch die unliebsame Erinnerung an den Verlust seines eigenen Sohnes wachrufen. Dramatischere Auswirkungen hatte die Schlacht bei Nippur möglicherweise auf die Verhältnisse in Elam, wo König Ḫallušu, vielleicht als Folge dieser Niederlage, knapp drei Wochen später einer Revolte zum Opfer fiel. 1.4 Winter 693/92: erneutes Desaster!

Der Umsturz in Elam im Oktober 693 wird in keiner Inschrift Sanheribs erwähnt, obgleich gerade er der Auslöser seines nächsten Feldzuges gewesen sein dürfte. Gemäß dem Eintrag der babylonischen Chronik ist Ḫallušu nicht in der sonst üblichen Weise von einem mehr oder weniger engen Verwandten beseitigt worden. Stattdessen fiel er einer Revolte »seiner Leute« (das heißt wohl: unzufriedenen, dem Königshaus genealogisch nicht allzu nahestehenden Angehörigen der elamischen Führungsschicht) zum Opfer. Zwar konnte mit Kudurru / Kudur-Naḫundu am Ende doch wieder ein Sohn des Ḫallušu, der bei Nippur entweder überlebt oder an der Schlacht gar nicht teilgenommen hatte, den Thron besteigen, 44 doch muss ein solcher gewaltsamer Thronwechsel zu erheblichen und anhaltenden Unruhen in Elam geführt haben. Für den in letzter Zeit von Erfolgen alles andere als verwöhnten Sanherib war natürlich nichts naheliegender, als die augenblickliche Desorganisation seines mächtigsten Feindes zu nutzen, um ihn zum Ausscheiden aus dem Krieg zu zwingen. Und weil nicht absehbar war, wie lange das segensreiche Chaos in Elam anhalten würde, musste man es sofort ausnutzen, bevor die günstige Gelegenheit wieder verstrich. Doch auch unter solch günstigen Voraussetzungen würde angesichts der Ausdehnung des von zahlreichen Festungen und größeren Städten geschützten elamischen Territoriums mit einem schnellen Vorstoß von vielleicht zwei, drei Wochen Dauer wenig bis nichts auszurichten sein. Angesichts der schon fortgeschrittenen Jahreszeit – der Umsturz hatte ja erst im Oktober stattgefunden – musste jedoch ein längerer Feldzug, der entscheidende Ergebnisse erhoffen ließ, unweigerlich bis tief in die Wintermonate hinein ausgedehnt werden. Genau darin aber lag eine große Gefahr, denn die meisten Landesteile Elams waren entweder in den Zagrosbergen oder zumin43

Auch diese Information findet sich wiederum nur in GRAYSON / NOVOTNY, Inscriptions Part 1 S. 223 Sennacherib 34, 30. 44 WATERS, Survey S. 31 bzw. GRAYSON, Chronicles S. 79 Chr.1 iii, 6–8 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 iii, 6–8.

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dest in deren unmittelbarer Nähe gelegen. Und dort konnten die Winter außerordentlich ungemütlich sein. 45 Es hatte also seine guten Gründe, warum kein einziger der Vorgänger Sanheribs jemals ein solches Wagnis eingegangen war. Wenn im Winter 693/92 ein solcher Feldzug nun erstmals dennoch unternommen wurde, so kann niemand anderer als nur der König selbst eine derart riskante Entscheidung getroffen haben, der damit einmal mehr seine Experimentierfreude unter Beweis stellte. Worauf Sanherib sich da einließ, war also ein Vabanque-Spiel mit hohem Einsatz. Zu seinem Pech fielen die Würfel jedoch gegen ihn und gerade dieser neuerliche Ausbruch seiner Originalität sollte das assyrische Heer ganz besonders teuer zu stehen kommen. Dem Eintrag in der babylonischen Chronik ist davon nichts anzumerken, dort wird der Feldzug in der kürzesten nur möglichen Weise zusammengefasst: »Anschließend (d. h. nach der Thronbesteigung des Kudurru / KudurNaḫundu) ging Sanherib hinunter nach Elam und von Rāši bis Bīt-Burnaki/BītBunakku richtete er Zerstörungen an (und) plünderte es aus«. 46 Auch in den Inschriften Sanheribs sieht die ganze Sache auf den ersten Blick harmlos aus. Über den Feldzug wird in vier einander sehr ähnlichen Erzählversionen berichtet. Die kürzeren Versionen in den Inschriften Sanheribs bedienen sich zunächst nur der üblichen Erzählmuster und lassen ebenso wie die babylonische Chronik die assyrischen Truppen zerstörend und plündernd »bis zum Pass von Bīt-Bunakki« vorrücken. 47 Die beiden ausführlicheren Berichte trennen die Rückeroberung mehrerer assyrischer Festungen 48 vom anschließenden Verwüstungsfeldzug. Zu dessen Aufwertung führen sie auf unterschiedliche Weise eine große Zahl zerstörter Siedlungen namentlich auf, wobei die räumlichen Zusammenhänge aus keiner der beiden Darstellung ersichtlich werden. 49 Beide Aufzählungen nennen jedoch nebst vielen anderen, wohl eher unwichtigen Orten die Städte Bubē, Dunni-Šamaš, Til-Ḫumbi, Bīt-Imbiya und Ḫama45

Über harte Winterbedingungen in den assyrischen Zagrosprovinzen berichten in FUCHS / PARPOLA, Correspondence die Briefe SAA 15 Nr. 41, Nr. 60, Nr. 61 und Nr. 83. 46 GRAYSON, Chronicles S. 79 Chr.1 iii, 9–11 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 iii, 9–11. 47 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 223 Sennacherib 34 38; GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 230 Sennacherib 35 18´. 48 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 331 Sennacherib 230 19–23; GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 180 Sennacherib 22 iv, 54–61. 49 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 331 Sennacherib 230 führt zunächst »die befestigten Städte des Landes Rāši« auf (23–33) und fügt »Ḫamanu und Naditu bis zum Pass von Bīt-Bunakki« hinzu (34), als ob diese beiden Städte nicht zu Rāši gehörten. GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 180 Sennacherib 22 unterscheidet Städte ohne Angabe einer Region (iv, 61–69) von »den Städten des Passes von Bīt-Bunaki« (iv, 70–75, die Übersetzung zu iv, 69 f. ist in GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 zu berichtigen). Die ermüdend langen Listen selbst unbedeutender Orte dienten selbstverständlich dazu, die nur mäßigen Erfolge aufzublasen.

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nu, die den Inschriften Sargons zufolge die zentralen Orte eben des Landes Rāši waren, 50 das der babylonischen Chronik zufolge der eigentliche Schauplatz des Feldzuges war. Soweit war an Sanheribs Feldzug nichts außergewöhnlich, da das Gebiet von Rāši bis Bīt-Bunakki aufgrund seiner Grenzlage zwangsläufig zum ersten Opfer jedes assyrischen Angriffes auf Elam werden musste. In vergleichbarer Weise war es bereits 814 von Šamšī-Adad V. und 710 von Sargon heimgesucht worden. 51 Gerade beim Vergleich mit Sargons Vorstoß ergibt sich aber ein wesentlicher Unterschied zu Sanheribs Feldzug: Im Jahre 710 hatte Sargon zunächst die Siedlungen des Aramäerstammes Gambulu angegriffen, bevor er mit Rāši auch noch das Land Jadburu und eben die elamische Küstenregion von (A)ḫilimmu und Pillatu verwüstete, die 694 das Ziel von Sanheribs Seeinvasion gewesen war. Das aber war nur der erste Teil von Sargons Feldzug gewesen, denn anschließend war sein Heer nach Mesopotamien gezogen, hatte Babylon eingenommen und am Ende noch die räuberischen Ḫamarānu besiegt. 52 Im Vergleich dazu war Sanheribs Winterfeldzug, der sich ja allein nur auf Rāši beschränkte, ein lächerlich kleines Zwergunternehmen. Damit bestätigt sich der Eindruck, den schon der gegen Uruk gerichtete, höchst begrenzte Herbstfeldzug vermittelte: Sanherib verfügte im Jahre 693 über weit geringere Kräfte als jene, die Sargon im Jahre 710 in Marsch gesetzt hatte. Offensichtlich konnte er selbst einen so begrenzten Vorstoß wie den gegen Rāši nur dann wagen, wenn er darauf zählen konnte, es mit einem weitestgehend handlungsunfähigen Gegner zu tun zu haben, wie es im Anschluss an die Thronfolgekrise in Elam sehr wahrscheinlich der Fall war. Wenn dies zutrifft, so könnte für Sanherib die eigene militärische Schwäche der entscheidende Grund dafür gewesen sein, das Risiko eines Winterfeldzuges einzugehen. Zumindest in dieser Hinsicht ging die Rechnung auf, denn während der gesamten Expedition scheinen die Assyrer nirgendwo auf nennenswerten militärischen Widerstand gestoßen zu sein. Sanheribs Inschriften erwähnen keine Gefechte und beschreiben die Reaktion des angegriffenen Königs von Elam folgendermaßen: Als jener König von Elam von der Einnahme seiner Städte hörte, befiel ihn Furcht und Schrecken. Die übrigen Bewohner seines Landes evaku-

50 Siehe FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 456. 51

814: GRAYSON, Assyrian Rulers A.0.103.4 21´–34´, siehe dazu FUCHS, Osttigrisgebiet S. 273. 710: FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 152 und 330 Ann. 302–303. 52 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 138 und 327 ff. Ann. 264–320. In Sargons Bericht nimmt die Verwüstung von Rāši lediglich zwei von insgesamt 57 Zeilen ein!

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ierte er in Festungen, er selbst ließ Madaktu, seine Königsstadt, im Stich und machte sich davon, weit weg nach Ḫaidala, das im Gebirge liegt. 53

Kudur-Naḫundu, der König von Elam, hat also die Schlacht vermieden, gefährdete Bevölkerungsteile so gut es ging in Sicherheit gebracht und ansonsten abgewartet. Er hat sich, mit anderen Worten, genau so verhalten wie schon sein Onkel Šutruk-Naḫḫunte II. beim Angriff Sargons im Jahre 710. 54 Und der im Jahre 814 von Šamšī-Adad V. angegriffene elamische König, dessen Name nicht überliefert ist, hatte gleichfalls nichts anderes getan. 55 Der elamische König war also nicht feige, wie in Sanheribs Inschrift behauptet, sondern er folgte dem üblichen Verhaltensmuster elamischer Herrscher im Falle einer assyrischen Invasion. 56 Bis zu diesem Punkt ging Sanheribs Feldzug über das übliche nicht hinaus. Dann aber berichten die Inschriften von einer folgenschweren Entscheidung des Königs: Ich befahl, nach Madaktu, seiner Königsstadt, zu ziehen. 57

Damit betrat Sanherib Neuland, denn bis dahin war kein assyrisches Heer jemals über den Pass von Bīt-Bunakki hinausgekommen. Briefe der Zeit Sargons vermitteln eine zumindest relative Vorstellung von den Distanzen: Demnach lag zwischen Bīt-Bunakki und Madaktu eine Etappe, zwischen Madaktu und Ḫidalu/Ḫaidala, wohin sich der elamische König geflüchtet haben soll, waren es zwei. Das Gebiet von Ḫidalu seinerseits war ein Nachbar des jenseits der Ostgrenze Elams gelegenen Landes Parsumaš. 58 Die Entfernung zwischen Sanheribs nächstem Zielpunkt Madaktu und dem assyrischen Heer, das bei Bīt-Bunakki stand, wäre damit nur halb so groß gewesen wie die zwischen Madaktu und dem (angeblichen) Aufenthaltsort des elamischen Königs. 53

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 332 Sennacherib 230 35–38. GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 180 f. Sennacherib 22 iv, 81 – v, 5 (v, 1 nennt den Elamerkönig Kudur-Naḫundu namentlich); 223 Sennacherib 34 39–41; 230 Sennacherib 35 20´–22´. 54 Auch die Annalen Sargons berichten vom Rückzug der Bewohner kleinerer Städte in eine stärker gesicherte Festung und von der Flucht des elamischen Königs in die Berge, siehe FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 152 und 330 Ann. 302–304. 55 GRAYSON, Assyrian Rulers S. 193 A.0.103.4 21´–34´. Siehe dazu FUCHS, Osttigrisgebiet S. 273. Hier markiert Bīt-Bunaki den östlichen Endpunkt des Feldzuges. 56 Es ist ein Topos, dass feindliche Herrscher von Panik erfüllt aus ihren Hauptstädten fliehen, sobald assyrische Truppen in deren Nähe gelangen. Was hier dem elamischen König nachgesagt wird, behauptet Sargons Gottesbrief auch über den König von Urarṭu, der 714 angeblich aus Ṭurušpa ins Gebirge geflohen sei, siehe MAYER, Assyrien und Urartu S. 110 Z. 150. 57 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 332 Sennacherib 230 38 f.; GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 181 Sennacherib 22 v, 6; 223 Sennacherib 34 42; 230 Sennacherib 35 23´. 58 FUCHS / PARPOLA, Correspondence XXXIV Table IV.

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Viel interessanter ist, dass hier ein Ziel mitgeteilt wird, das anschließend gerade nicht erreicht worden ist und ein Befehl aus dem Munde des Königs, der sich anschließend als undurchführbar erwies. Es scheint so, als ob die Verfasser der Inschriften in ihrem Bestreben, Positives mitzuteilen, den ersten, erfolgreichen Abschnitt des Feldzuges vom anschließenden Desaster abgesetzt haben, um das Unternehmen wenigstens als Teilerfolg beschreiben zu können. Wenn sich Sanherib, wie es seine Inschriften nahelegen, tatsächlich erst im Verlauf des Feldzuges und in Abänderung des ursprünglichen Planes dazu entschlossen hat, bis nach Madaktu vorzudringen, so wird sein Beweggrund darin zu suchen sein, dass er trotz des bis dahin ermutigenden Vorankommens im Land Rāši und trotz aller Schäden und Verwüstungen, die seine Truppen dort inzwischen angerichtet hatten, seinem eigentlichen Ziel, den elamischen König zum Einlenken zu bewegen, nicht nähergekommen war. Die Besetzung und, wenn nötig, die anschließende Zerstörung des wichtigsten elamischen Herrschersitzes mochte da das richtige, oder besser: das letzte Mittel sein, den verstockten Gegner zur Einsicht ins (hoffentlich) Unvermeidliche zu zwingen. Soweit sollte es allerdings nicht mehr kommen, denn was anschließend geschah, scheint sich schon beim Versuch ereignet zu haben, den Pass von BītBunakki zu überqueren. An diesem Punkt der Erzählung angelangt, bieten die Inschriften eine in vielerlei Hinsicht absolut einzigartige Schilderung, die in ihrer ausführlichsten Version folgendermaßen lautet: Der Monat Ṭebētu aber setzte (mit) bitterer Kälte [ein, es kam anhaltender Regen], gefolgt gleichermaßen von Wind, Regen (und) Schnee. (Unter diesen Umständen) [fürchtete ich] die Schluchten (und) Geröllhalden [des Gebirges, machte kehrt und] schlug den Weg nach Assyrien ein. 59

Welcher andere assyrische König hat je zugegeben, vor irgendetwas Angst gehabt zu haben? Da muss die Not in diesem Falle schon entsetzlich groß gewesen sein! Wenn überhaupt etwas, so fürchteten assyrische Herrscher ihren Inschriften zufolge einzig ihre Götter, die jedoch in diesem Passus durch Ab59

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 332 Sennacherib 230 39–41. Siehe auch GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 181 Sennacherib 22 v, 7–11: Der Monat Tamḫīru aber begann (mit) bitterer Kälte, und heftige Niederschläge ließen schwere Regenfälle niedergehen. (Aufgrund von) Regen und Schnee fürchtete ich die Schluchten (und) Geröllhalden des Gebirges, machte kehrt und schlug den Weg nach Assyrien ein. GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 223 Sennacherib 34 42–44: Der Monat Ṭebētu aber setzte (mit) bitterer Kälte ein, es kam anhaltender Regen, (aufgrund des) Schnees fürchtete ich die Schluchten (und) Geröllhalden des Gebirges, drehte um und schlug den Weg nach Assyrien ein. Die kürzeste Version bietet GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 230 Sennacherib 35 23´–24´: Der Monat Ṭebētu aber setzte (mit) bitterer Kälte ein, da machte ich [kehrt] und schlug den Weg nach Assyrien ein.

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wesenheit glänzen. An Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeit lag es nicht, fielen doch derlei Unbilden des Wetters eindeutig ins Resort des Gottes Adad. Ein vergleichbares Naturereignis wird im Gottesbrief Sargons auch dementsprechend geschildert: Der starke Adad, der heldenhafte Sohn des Anum, warf (sich mit) gewaltigem Getöse auf sie, vernichtete den Rest mit Wolkenbruch und Hagelschlag. 60

Was hier beschrieben wird, soll sich im Jahre 714 ereignet haben. Damals war Adad so überaus zuvorkommend gewesen, den Feinden Sargons bei deren Flucht durch die Berge vermittels eines Unwetters den Garaus zu machen. Im Winter 693/92 jedoch war Sanherib nun selbst der begossene Pudel, und in dieser Rolle konnte er, anders als sein glücklicherer Vater, kein Interesse an theologischen Ausschmückungen des Geschehens haben, hätte doch sein Missgeschick dieselben Zweifel wachrufen müssen wie schon der als höchst unpassend empfundene Tod Sargons im Jahre 705. Konnte man da wirklich noch »im Vertrauen auf die großen Götter« zu Felde ziehen, nachdem man soeben hatte erleben müssen, wie übel einer von eben diesen Göttern dem König mitgespielt hatte? 61 Drückte sich da nicht göttliches Missfallen aus, und wenn ja, worüber? Und musste man sich angesichts dessen nicht vielleicht ganz grundsätzlich fragen, wie es denn um das Verhältnis dieses speziellen Königs oder gar der Dynastie zu den Göttern bestellt war? Sollten derlei Diskussionen aufgekommen sein, so ist es Sanherib gelungen, sie erfolgreich zu unterdrücken, denn seine Herrschaft scheint niemals ernstlich in Frage gestellt worden zu sein. In jedem Falle tat er gut daran, an gleichermaßen gefährlichen wie auch peinlichen Themen solcher Art gar nicht erst zu rühren. Auf den ersten Blick ist es überraschend, dass man Elemente wie Madaktu als Feldzugsziel, die ungünstigen Witterungsverhältnisse oder die Tatsache des vorzeitigen Abbruches des Unternehmens nicht einfach unerwähnt gelassen hat, denn ohne sie würde ein ganz und gar unverdächtiger Bericht über einen offenbar erfolgreichen Vorstoß ins westliche Vorland Elams verbleiben, dessen Gesamteindruck sich von dem des Eintrages in der babylonischen Chronik nicht unterscheiden würde. Die Erwähnung der unangenehmen Details zeigt jedoch einmal mehr, dass assyrische Königsinschriften eben nicht für ein zeitlich fernes, mehr oder weniger ahnungsloses Publikum wie die heutigen Altorientalisten gedacht waren, sondern für eine Zielgruppe, die über das Ge60 MAYER, Assyrien und Urartu S. 110 Z. 147. 61

Gemäß Sennacherib 22 iv, 54 f. waren es genau genommen nicht die Götter insgesamt, sondern (nur) der Gott Assur, der Sanherib dazu ermuntert haben soll, in seinem siebten Feldzug nach Elam und damit ins Verderben zu ziehen, aber das macht die Sache nicht wirklich besser.

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schehen zumindest in dessen Grundzügen durchaus informiert war. Das Ziel musste folglich darin bestehen, das allseits bekannte Debakel zu relativieren, es herunterzuspielen. In diesem Sinne zeigt sich die offizielle Darstellung des Geschehens darum bemüht, klarzustellen, dass der Herrscher einzig und allein der Ungunst der Verhältnisse erlegen sei 62 – und nicht etwa dem feigen Gegner, der sich ja schon zuvor in Panik aus dem Staube gemacht und damit die assyrische Überlegenheit anerkannt habe. Die Götter? Aber nein, die hatten mit alledem nichts, aber auch rein gar nichts zu tun! Zur kosmetischen Nachbereitung des überaus unerfreulichen Geschehens schien auch das noch nicht zu genügen, und so wird überdies auf unterschiedliche Weise versichert, dass es dem Feind trotz des unfreiwilligen assyrischen Abzuges keineswegs zu wohl geworden sei: so habe der elamische König die Bewohner, die in ihre zerstörten Siedlungen zurückkehrten, »im Schlamm« wohnen lassen müssen, woraus der Leser offenbar den Schluss ziehen soll, dass die Assyrer wenigstens nicht die Einzigen waren, die unter den Niederschlägen zu leiden hatten. 63 Ach ja, und außerdem sei der König von Elam auch bald darauf gestorben. 64 Das hatte mit dem Feldzug zwar nicht das Geringste mehr zu tun, doch konnte Sanherib für sich reklamieren, den Gegner wenn auch nicht besiegt so doch wenigstens überlebt zu haben. Was Sanheribs Truppen im Einzelnen zugestoßen ist, erfahren wir nicht. Es ist jedoch unbestreitbar, dass ein winterliches Unwetter in den Zagrosbergen auch einem sehr mächtigen Herrscher die Laune gründlich verderben konnte. Sanherib ist es da wohl ähnlich ergangen wie sehr viel später dem Ḫwārizm-Šāh ‘Ala ad-Dīn Muḥammad, dessen Heer im Spätherbst des Jahres 1217 n. Chr. in den Bergen westlich von Hamadan einer Kombination aus Schneestürmen und kurdischen Angriffen erlag und zugrunde ging. 65 Das einzig positive Ergebnis seines »siebenten Feldzuges« war, dass sich der »Hüter der Weltordnung«, während er sich durchnässt und frierend aus der

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Auch wenn Koinzidenz doch eigentlich gar keinen Platz in einem Denken haben konnte, das von der Vorhersagbarkeit der Zukunft und folglich von ihrer Vorherbestimmtheit ausging, so hielt man in derlei verzweifelten Fällen zumindest den unglücklichen Zufall eben doch für möglich! 63 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 231 Sennacherib 35 25´–27´; GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 332 Sennacherib 230 41–44. Sennacherib 35 28´–29´ beteuert anschließend, allerdings sehr stereotyp, dass die Zahl der Gefangenen außerordentlich hoch und die Zerstörungen bedeutend gewesen seien. 64 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 181 Sennacherib 22 v, 11–16. 65 BREGEL, Historical Atlas S. 34. Von elamischen Angriffen ist bei Sanherib keine Rede und sie sind auch deshalb unwahrscheinlich, weil die Verfasser der babylonischen Chronik es sich wohl nicht hätten nehmen lassen, auf eine militärische Niederlage der Assyrer hinzuweisen.

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nicht ganz so bezaubernden elamischen Winteridylle heimwärts tragen ließ, 66 endlich zu der Einsicht durchringen konnte, die Führung des Krieges in Zukunft doch lieber seinen Profis zu überlassen. Von diesem Zeitpunkt an gibt es jedenfalls keinen Hinweis mehr, dass er seine Militärs zur Verwirklichung noch weiterer kostspieliger und verlustreicher »genialer« Ideen gezwungen hätte. 1.5 Die Jahre 692 und 691: Nichts geht mehr

Der Winter hatte das assyrische Heer derart übel zugerichtet, dass es anschließend zu rein gar nichts mehr zu gebrauchen war. Und so sah sich Sanherib während des gesamten Sommers des Jahres 692 zu vollkommener Passivität verurteilt, obwohl doch gerade jetzt die Aussichten für eine Intervention überaus günstig gewesen wären: In Babylon bestieg noch vor dem Neujahrsfest mit Mušēzib-Marduk ein kaldäischer Abenteurer den Thron, der von den Assyrern schon einmal, im Jahre 700, aus Südbabylonien nach Elam vertrieben worden war. Durch Sanheribs Handlungsunfähigkeit bekam er nun seine zweite Chance und konnte das gesamte Jahr 692 dazu nutzen, seine Position in Babylon in aller Ruhe und frei von assyrischen Störversuchen zu konsolidieren. 67 Auch in Elam erreichte die Klärung der internen Machtfrage ein neues Stadium. Dort fiel der gerade erst im Oktober 693 gekrönte Kudur-Naḫḫunte / Kudurru bereits im Juli/Aug. 692 einer Revolte zum Opfer und wurde durch seinen Bruder (Ḫuban-)menanu ersetzt. 68 Auch diesen sommerlichen Umsturz konnte sich Sanherib nicht zunutze machen, weil er seine Kräfte bereits im Winter verausgabt hatte.

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Da Streitwagen, das bevorzugte königliche Beförderungsmittel, bei hohem Schnee leider nicht zu gebrauchen waren (FUCHS / PARPOLA, Correspondence Nr. 60 8–10), so dürfen wir vermuten, dass sich Sanherib während seines Rückzuges ebenso wie schon 697 einer Sänfte anvertraut hat, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 117 Sennacherib 16 iv, 83 – v, 1. 67 Zu Mušēzib-Marduk siehe FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 16 und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 198 ff. Sennacherib 146 und 147. 68 GRAYSON, Chronicles S. 80 Chr.1 iii, 13–16 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr.16 iii, 13–16. Das Datum dieses Umsturzes ist auch im Hinblick auf die nicht gänzlich geklärte Datierung der Schlacht bei Ḫalulē von Bedeutung, die entweder im Sommer 692 oder im Sommer 691 stattgefunden hat. Ḫuban-menanu war die treibende Kraft auf Seiten der Verbündeten, sein späterer Rückzug aus dem Krieg sollte maßgeblich zum Fall Babylons im Jahre 689 beitragen. Da er erst im Juli/Aug. den Thron bestiegen hat, also zu einem Zeitpunkt, da die Feldzugssaison des Jahres 692 schon halb vorüber war, so kann die Schlacht entweder erst sehr spät in diesem Jahr, oder, was wahrscheinlicher ist, doch erst 691 stattgefunden haben.

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Sein Heer erholte sich offenbar nur sehr langsam. Es war in der Feldzugssaison des Jahres 691 zwar wieder einsatzbereit, doch befand sich Sanherib nun erstmals in der Defensive. Im Gegensatz dazu war die Situation seiner Gegner besser denn je. Die beiden neuen Könige von Babylon und Elam hatten ausreichend Zeit gehabt, ihre Macht zu festigen. Sie hatten das elamisch-babylonische Bündnis erneuert und zahlreiche Verbündete hinzugewonnen. 69 Und sogar die Priester des Esagil hatten einiges springen lassen, um die Rüstungen des elamischen Königs finanziell zu unterstützen. Was Sanherib daran besonders ärgerte, war die Tatsache, dass hierbei auch Mittel zum Einsatz kamen, die er selbst diesem Tempel gestiftet hatte. 70 Das Selbstvertrauen der Verbündeten war nun so groß, dass sie nicht wie bisher den nächsten Zug Sanheribs abwarteten, sondern ihrerseits zum Angriff übergingen. Die vereinten Streitkräfte der elamisch-babylonischen Koalition waren bereits mehrere Tagesmärsche weit in Sanheribs Reich eingedrungen, als sie schließlich bei Ḫalulē auf das assyrische Heer trafen. 71 Was dort im Einzelnen geschah bleibt unklar – wir kennen das ja schon. Während die babylonische Chronik einen Sieg der Koalition verzeichnet, überliefern die Inschriften Sanheribs als Ergebnis ihres sichtlich angestrengten Bemühens, einen Sieg zu präsentieren, die mit Abstand gleichermaßen wortreichste wie auch blutrünstigste Beschreibung einer Schlacht, die je ein assyrischer König hinterlassen hat. Da in derlei Fällen der propagandistische Aufwand in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur tatsächlichen Größe des Sieges zu stehen pflegt, lässt sich die Schlacht in der Rückschau wohl weniger als ein unmittelbar militärischer als vielmehr ein nachträglicher literarischer Erfolg der assyrischen Seite bewerten. 72 Trotz der aktiven, aggressiven Rolle, die ihm seine Inschriften im Zusammenhang mit dieser Schlacht andichten, dürfen wir vermuten, dass sich Sanherib, wie sonst auch, persönlich wohl eher zurückgehalten hat. 73 Zum einen gehörte er zu den eher ängstlichen Zeitgenossen, was ihn ja schon 694 dazu 69

Neben kaldäischen und aramäischen Gruppierungen zählen die Inschriften auch Verbündete aus dem iranischen Raum auf, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 182 Sennacherib 22 v, 43–52. 70 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 198 Sennacherib 146 10–12 und 200 Sennacherib 147 10–12. 71 Siehe FUCHS, Osttigrisgebiet S. 285 f. Die Schlacht muss spätestens 691 stattgefunden haben, da das Taylor-Prisma, datiert auf den 20. Addaru im Eponymat des Bēl-ēmuranni (d. h. Feb./März 690), bereits von ihr berichtet, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 186 Sennacherib 22 Date ex. 2. 72 Nach wie vor unübertroffen ist hier die Analyse von WEISSERT, Political Climate, siehe auch VAN DE MIEROOP, Metaphors S. 299–309. 73 Hierzu FUCHS, Militärgeschichte S. 367 f. bzw. FUCHS, Assyria at War S. 381–383.

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bewogen hatte, seine Schiffe auf dem Weg hinab zum Golf vorsichtshalber »auf dem Trockenen« zu begleiten. Und er hatte es anschließend ja auch vorgezogen, am sicheren Ufer die Rückkehr seiner Flotte abzuwarten, anstatt selber nach Elam hinüberzufahren. Zum andern hatten auch die Beschreibungen der Schlachten, die er bei Kiš (704 oder 703) und bei Elteke (701) geschlagen hatte, ihm zwar in der für assyrische Königsinschriften üblichen Weise den Sieg jeweils persönlich zugeschrieben, dabei jedoch keinen über das übliche Maß herausragenden martialischen Charakterzug dieses Königs angedeutet. Die Rolle, die ihm im Zusammenhang mit der Schlacht bei Ḫalulē angedichtet wird, würde an einen im Blutrausch befindlichen, testosterongesteuerten Jugendlichen mit suizidal eingeschränkter Gefahrenwahrnehmung denken lassen. 74 Wenn aber das Geburtsjahr Sanheribs um 745 anzusetzen ist, 75 dann war er bei Kiš und Elteke ungefähr 40 bzw. 45 Jahre alt gewesen. Inzwischen waren aber noch weitere zehn Jahre ins Land gegangen und Sanherib war nun schon ein alter Mann. 76 Wer sich mit Mitte Fünfzig noch mal eben ganz offiziell zum brüllenden Schlachtengott hochstilisieren lässt, muss dafür einen besonderen Grund haben. Und der ist in diesem Falle leicht ersichtlich: Nach Jahren fortgesetzter Misserfolge war von diesem Herrscher ein Bild als erfolgreicher Feldherr oder Stratege beim besten Willen nicht mehr zu vermitteln, wenn man ihm also trotz allem überhaupt noch einen konstruktiven Beitrag zum Geschehen zugestehen wollte, so blieb gar nichts anderes mehr übrig, als aus ihm wenigstens einen mutigen Krieger zu machen, der sich mit Todesverachtung ins Getümmel stürzte. Der Erfolg einer Schlacht lässt sich anhand des Ergebnisses einschätzen. Beschränkt man sich aufs Konkrete, so haben Sanheribs Gegner lediglich zwei Anführer eingebüßt, die prominent genug waren, um ihre Namen mitzuteilen: ein Herold des elamischen Königs soll gefallen, ein Sohn des Marduk-aplaiddina soll gefangengenommen worden sein, während die beiden Könige von Elam und Babylon wie auch die Anführer ihrer Verbündeten entkommen sind. 77 Die Berichte lassen die Schlacht jeweils mitten in der Verfolgung der besiegten Feinde enden, doch auch dieses Nachsetzen scheint Sanherib keine wesentliche Beute oder weitere wichtige Gefangene eingebracht zu haben, da 74

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 182 f. Sennacherib 22 v, 67 – vi, 12, GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 332 f. Sennacherib 230 61–69. 75 FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 1. 76 Sollte er noch wesentlich älter gewesen sein, was durchaus möglich ist, dann muss er höllisch aufgepasst haben, dass ihm, während er angeblich »brüllte wie der Gott Adad«, dabei nicht womöglich das Gebiss herausfiel. (Ein unverzeihlicher Anachronismus, ich weiß!) 77 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 183 f. Sennacherib 22 v, 82 – vi, 35.

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auch Inschriften, die Jahre nach der Schlacht verfasst worden sind, darüber nichts mitteilen. Eine Gesamtbewertung 78 erfolgt am besten durch den Vergleich mit vier ähnlichen Situationen, in denen Assyrien gleichfalls von Südosten her bedroht gewesen war: 79 1. Im Jahre 1089 oder 1088 zog der babylonische König Marduk-nādinaḫḫē mit seinem Heer den Tigris hinauf und fiel in Assyrien ein, wo er unter anderem zwei Götterstatuen aus Ekallāte verschleppte. Tiglatpileser I. konnte offenbar nicht mehr tun, als wenigstens die Hauptstadt Assur zu verteidigen. 80 2. Einen weiteren Angriff hat Tiglatpileser in einer Schlacht bei Arzuḫina zurückgeschlagen. 3. Ein dritter Angriff endete für Marduk-nādin-aḫḫē mit einer schweren Niederlage. Die Schlacht fand bei Gurmarriti statt, einem Ort, der nicht weit von Ḫalulē, nämlich ebenfalls in der Nähe von Samarra gesucht wird. Anschließend rückte Tiglatpileser nach Nordbabylonien vor, wo er mehrere Städte, darunter auch Babylon, besetzen konnte. 4. Im Jahre 720 formierte sich in Babylonien und Elam ein gleichzeitiger Angriff gegen Assyrien, während ein Großteil des assyrischen Heeres damit beschäftigt war, in Syrien Aufstände niederzuschlagen. Sargon riss die Initiative an sich, in dem er sich mit den noch verfügbaren Heeresteilen den Elamern unter ihrem König Ḫumbanigaš entgegenwarf. Es gelang ihm, die Elamer bei Dēr zurückzuschlagen, noch bevor sie sich mit dem aus Babylonien anrückenden Heer des Mardukapla-iddina hatte vereinen können. 81 Im Jahre 691 hat Sanherib das assyrische Kernland vor dem Zugriff seiner Gegner zu schützen vermocht. Insofern war er erfolgreicher als sein Vorfahr Tiglatpilesers I. in Fallbeispiel 1. Im Gegensatz zu Sargon in Fallbeispiel 4 hat er die Angreifer jedoch nicht schon an den Grenzen seines Reiches abwehren können. Während Tiglatpileser I. in Fallbeispiel 3 seinen Sieg bei Gurmarriti 78

Vergleiche auch BRINKMAN, Sennacherib’s Babylonian Problem S. 93, LEVINE, Southern Front S. 48–55, BRINKMAN, Prelude to Empire S. 63 f. 79 Zu den ersten drei Fallbeispielen siehe FUCHS, Osttigrisgebiet S. 258 und S. 316 f. Anhang 5. 80 Dieser Tatsache war man sich zur Zeit Sanheribs durchaus bewusst, denn wie er selbst in einer Inschrift festhalten ließ, hat er im Jahre 689, nachdem für ihn alles doch noch glimpflich ausgegangen war, zwei Götterstatuen, die 418 Jahre zuvor »Marduk-nādin-aḫḫē, der König von Akkad, zur Zeit des Tiglatpileser, des Königs von Assyrien« aus Ekallāte nach Babylon verschleppt hatte, von dort wieder nach Assyrien zurückgebracht. Siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 316 Sennacherib 223 48–50. 81 Siehe dazu FUCHS, Osttigrisgebiet S. 319 f. Anhang 7.

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ausnutzen und Babylon kampflos einnehmen konnte, hatte Ḫalulē keinen schnellen Erfolg und kein rasches Ende des Krieges zur Folge. Damit kommt Fallbeispiel 2 dem Geschehen im Jahre 691 am nächsten, denn wie Tiglatpileser I. bei Arzuḫina, so konnte auch Sanherib bei Ḫalulē die Angreifer lediglich abwehren. In beiden Fällen war es dem Verteidiger nicht möglich, sich den Abwehrerfolg unmittelbar zunutze zu machen. 1.6 Die Jahre 690–689: Ein Ende mit Schrecken

Praktisch nichts ist über den Verlauf der Kampfhandlungen während der beiden letzten Jahre dieses Krieges zu erfahren, denn sowohl die Inschriften Sanheribs wie auch die babylonische Chronik berichten nur von seinem Endergebnis. Die Voraussetzung dafür, dass Sanherib sich in Babylonien schließlich und endlich doch noch durchsetzen konnte, war der Zerfall der elamischbabylonischen Koalition. Der assyrischen Interpretation zufolge, die in der Bavian-Inschrift überliefert ist, zogen sich die Elamer bereits unter dem Eindruck der Schlacht bei Ḫalulē fluchtartig und auf Nimmerwiedersehen in ihr Land zurück, um sich dort (wieder einmal) im unzugänglichen Gebirge zu verkriechen, und zwar aus Angst vor einer neuerlichen Invasion Sanheribs: »Womöglich ist Sanherib, der König von Assyrien, derart wütend, dass er (noch einmal) nach Elam zurückkehren wird!« 82 Da sich Sanheribs Truppen seit Beginn des Krieges und solange die Koalition noch intakt war niemals an Babylon herangewagt hatten, muss Elam in der Tat irgendwann zwischen Ḫalulē und dem Sommer 690 aus dem Krieg ausgeschieden sein, denn im Juli/August dieses Jahres war die Belagerung Babylons bereits in vollem Gange. 83 Die Hintergründe für den Rückzug der elamischen Großmacht und damit auch ihrer iranischen Verbündeten sind unklar. Sicherlich wird dabei eine Rolle gespielt haben, dass der Verlauf des Konflikts nicht nur Sanherib, sondern auch seine Gegner frustrierte. Diese mussten ihrerseits konstatieren, dass selbst die ungeheuren Anstrengungen, die sie im Jahre 691 unternommen hatten, zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatten. Wenn es diese Enttäuschung war, die Elam zum Aufgeben bewegt hat, so markiert die Schlacht bei Ḫalulē an sich zwar keine militärische Wende, doch leitete das Ausbleiben einer Entscheidung die Auflösung der Koalition und damit die politische Wende ein, die die militärische nach sich zog. 82 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 316 Sennacherib 223 39–43. 83

BRINKMAN, Sennacherib’s Babylonian Problem S. 93.

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Die Bavian-Inschrift identifiziert den König von Elam zwar als Teilnehmer der Schlacht bei Ḫalulē, gesteht ihm im Zusammenhang mit dem anschließenden Rückzug aus dem Krieg jedoch keine eigene Rolle mehr zu. Sie lässt nicht den elamischen König, sondern die Elamer als solche fliehen, sich verstecken und Angst haben. Der babylonischen Chronik zufolge wurde Menanu, der König von Elam, im März/April des Jahres 689 von einer schweren Krankheit befallen, die sein Sprachzentrum lähmte und an der er im Feb./März des Jahres 688 starb. 84 Folgt man diesen Daten, so wäre die Krankheit erst etwa ein Jahr nach dem Ausscheiden Elams aus der Koalition ausgebrochen, zwischen beidem bestünde somit kein Zusammenhang. Die Verfasser der Bavian-Inschrift, die erst nach dem Fall Babylons im Jahre 689 entstanden ist, könnten aus der Rückschau und im Wissen um das, was in den Jahren von 691 bis einschließlich 689 geschehen ist, die Handlungsunfähigkeit des Menanu auf die Jahreswende 691/690 zurückprojiziert haben. Es ist aber ebenso gut möglich, dass die Bavian-Inschrift den Sachverhalt korrekt beschreibt, dass Menanu tatsächlich schon kurz nach Ḫalulē die Kontrolle entglitt, weil er da bereits an seiner erst später bezeugten Krankheit litt. Vielleicht überliefert die babylonische Chronik lediglich den Zeitpunkt, von dem an diese Krankheit derart für alle sichtbar zu Tage trat, dass sie sich nicht mehr verheimlichen ließ. In jedem Falle hat Menanus Siechtum in der Endphase der Belagerung Babylons die elamische Entscheidungsebene im wahrsten Sinne des Wortes gelähmt bzw. handlungsunfähig gemacht. Damit war die Gefahr elamischer Entsatzversuche nun soweit gebannt, dass die assyrische Seite noch während der Belagerung Babylons Truppen erübrigen konnte, um gegen unliebsame Araberstämme vorzugehen. 85 Die Belagerung Babylons scheint in konventionellen, aus Sicht Sanheribs also uninspirierten und vielleicht langweiligen Bahnen verlaufen zu sein, jedenfalls verrät der überaus kurze Bericht der Bavian-Inschrift keinerlei Interesse an Einzelheiten des Belagerungsverlaufes. Ungewöhnlich ist allenfalls, dass Sanherib nicht abgewartet haben will, bis der Hunger die Verteidiger zur Aufgabe zwang, sondern dass er die Stadt angeblich hat erstürmen lassen. Sie fiel im Nov./Dez. 689 86 und wurde erwartungsgemäß so vollständig vernichtet, wie es nur irgend möglich war. Mušēzib-Marduk geriet den Assyrern lebend in die Hände, 87 und auch wenn hierüber erstaunlicherweise nichts mitgeteilt wird, so 84

GRAYSON, Chronicles S. 80 f. Chr.1 iii, 19–27 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 iii, 19–27. 85 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 232 Sennacherib 35 53´–9´´. Dieser Text erwähnt die noch laufende Belagerung Babylons nicht. 86 GRAYSON, Chronicles S. 80 f. Chr.1 iii, 22 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 198 Nr. 16 iii, 22. 87 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 316 Sennacherib 223 43–54 und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 205 Sennacherib 24 vi, 1´–16´.

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dürfte er in Assyrien ein mindestens ebenso grässliches Ende gefunden haben wie schon sein Vorgänger Nergal-ušēzib. Der Krieg als solcher war damit zu Ende. Es war ein vermeidbarer und absolut sinnloser Krieg gewesen, in dem niemand etwas gewonnen, aber ausnahmslos alle Beteiligten furchtbar gelitten hatten. Vor allem in Babylonien, aber auch in Teilen Elams müssen die Menschenverluste und Zerstörungen immens gewesen sein. Der Großteil des assyrischen Reiches wie auch das assyrische Reichszentrum waren zwar von Kampfhandlungen vollständig verschont geblieben – das immerhin hatte der Abwehrerfolg bei Ḫalulē bewirkt – doch war, wenn auch nicht aus babylonischer, so doch aus assyrischer Sicht auch Babylonien als solches ein Teil des Reiches gewesen. Dort hatte Sanherib das berühmte Babylon verloren und stattdessen eine Ruine zurückgewonnen. Zugleich hatte er in Gestalt seines ältesten Sohnes auch einen ganz persönlichen Verlust erlitten. Wirklich erfolgreich hatte er im militärischen Sinne nicht agiert, und wenn seine Inschriften den Sieg in gewohnter Weise ihm selbst zuschreiben, so erscheint das insofern ungerechtfertigt, als er von Beginn an vor allem Teil des Problems und weit weniger der Lösung gewesen war. Eine Besserung der Lage war langsam und überhaupt erst dadurch in Sicht gekommen, dass er es ab 692 unterlassen hatte, seinen eigenen Streitkräften mit seinen unkonventionellen, jedoch alles andere als hilfreichen Ideen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Seiner Unfähigkeit war es zuzuschreiben, dass das assyrische Reichszentrum 691 zum ersten Male seit Jahrhunderten wieder zum Ziel einer feindlichen Invasion hatte werden können, und das, obgleich die eigenen Mittel und Hilfsquellen denen der angreifenden Gegner turmhoch überlegen waren. Eine solche Invasion zu stoppen war für den Herrscher eines so mächtigen Reiches ja wohl das Mindeste und hätte eigentlich nicht zu dem hochdramatischen Akt werden dürfen, als der die Schlacht bei Ḫalulē in den Inschriften präsentiert wird. Inwieweit Sanherib selbst an der abschließenden Belagerung Babylons überhaupt noch beteiligt war, ist ungewiss. Für Sanherib selbst endete 689 nur der rein militärische Teil des Konfliktes, für ihn hatte die Abrechnung mit Marduk gerade erst begonnen! Er wollte diesen Gott bestrafen und demütigen, ihn dabei aber keineswegs restlos aus dem Verzeichnis anrufbarer Götter tilgen, denn auch jetzt noch glaubte er, auf dessen Hilfe nicht gänzlich verzichten zu können. 88 Bei seinen Maßnahmen zur Züchtigung dieses Gottes wird hier und da die auf technische Lösungen festgelegte Handschrift Sanheribs sichtbar: Die Ersetzung des soeben in Babylon zerstörten, dem Marduk gewidmeten Bīt-Akītu 88

FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 282–288 und FRAHM, Sanherib S. 18.

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durch ein dem Assur gewidmetes Bīt-Akītu in Assur, oder die Erstellung einer Version des Enūma eliš, in der Marduk und Babylon einfach nur durch Anšar und Assur ausgetauscht wurden, waren rein mechanische Vorgehensweisen, nichts weiter als ganz primitives copy-paste. Das kommt eben dabei heraus, wenn ein Ingenieur 89 plötzlich Theologe sein will! Daneben hat sich Sanherib nun auch der zunehmend dringlicher werdenden Regelung seiner Nachfolge gewidmet. Bei dieser Gelegenheit stellte der König noch im fortgeschrittenen Alter wieder einmal seine Experimentierfreude unter Beweis, in dem er nacheinander mehrere seiner Söhne erst ein- und dann wieder absetzte. Und wie so oft, wenn sich Sanherib intensiver mit bestimmten Themen zu befassen begann, verhieß das auch in diesen Fällen nichts Gutes. Binnen weniger Jahre ist er mit beiden Projekten krachend gescheitert: Von seinen Ideen bezüglich des Gottes Marduk vermochte er noch nicht einmal seinen engsten Familienkreis zu überzeugen und von allen Königen Assyriens sollte er als der einzige in die Geschichte eingehen, der es fertigbrachte, sich nicht nur einen, sondern gleich mehrere seiner Söhne zu Todfeinden zu machen. 90 Und dieses Mal, dieses eine und einzige Mal, waren es dann nicht wie sonst üblich nur die Anderen, die für seine Fehlentscheidungen mit dem Leben bezahlten. Sanheribs historisches Vermächtnis war eine deutliche Steigerung des Hasses, den man in Babylonien gegen den assyrischen Nachbarn ohnehin schon hegte, und den auch die redlichsten Versöhnungsbemühungen seiner beiden Nachfolger nur partiell zu besänftigen vermochten.

2. …und die möglichen Hintergründe 2.1 Der von 694 bis 689 andauernde Krieg im Vergleich

Es hatte lange, erstaunlich lange gedauert, doch am Ende hat sich Sanherib in Babylon doch noch durchgesetzt, aber es ist ihm ungeheuer schwergefallen, und der Weg zu diesem Sieg war extrem steinig und verlustreich gewesen. Das ist überraschend, denn Sanherib herrschte unangefochten über das bis dahin gewaltigste Reich der Geschichte, dessen Einkünfte, Arbeitskräfte und Hilfsquellen ihm die ganze Zeit hindurch in vollem Umfang zur Verfügung stan89

So nach FRAHM, Sanherib S. 21: »Sanherib … verstand sich auch im Politischen als eine Art Ingenieur, der sich durch nichts von der Machbarkeit seiner Ideen abbringen ließ.« 90 In dieser Hinsicht hat er sogar den ihm ansonsten sehr ähnlichen Tukultī-Ninurta I. übertroffen.

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den. So war er ungeachtet aller Rückschläge und Schwierigkeiten, die ihm in Babylonien und Elam zu schaffen machten, in der Lage, selbst in den schwierigsten Jahren seine üppigen Bauprogramme ganz ungerührt und ohne Einschränkungen vorantreiben zu können. 91 Dass der militärische Erfolg so hartnäckig ausblieb, lag also nicht daran, dass es an den nötigen Finanzmitteln gefehlt hätte. Ebenso wenig ist der Grund darin zu suchen, dass Sanherib womöglich auf anderen Schauplätzen abgelenkt worden wäre, denn Assyrien war in dieser Zeit weder von innen noch von außen bedroht. Sanherib konnte sich vielmehr die ganze Zeit hindurch auf den Konflikt mit Babylonien und Elam konzentrieren, und da er hierbei dieselben Gegner bekämpfte, die er zu Beginn seiner Regierungszeit schon einmal überwunden hatte, hätte man die Entscheidung zu seinen Gunsten sehr viel schneller erwartet. Der Vergleich mit den drei vorausgehenden assyrischen Invasionen in Babylonien verstärkt den rätselhaften Eindruck noch: 1. Tiglatpileser III. hat Babylonien nur teilweise erobert, insbesondere der Süden mit Bīt-Jakin blieb ausgespart, da dessen König Mardukapla-iddina sein Verbündeter war. Im Machtkampf zwischen Tiglatpileser und Mukīn-zēri von Bīt-Amukkani, der seit 732 auch König von Babylon war, erwies sich Tiglatpileser sowohl 731 als auch 729 militärisch als absolut überlegen: Die kaldäischen und aramäischen Stämme kooperierten nicht miteinander und wurden einzeln unterworfen. Beide Male wurde Mukīn-zēri in Šapija, der Hauptstadt von BītAmukkani, eingeschlossen: 731 endete die Belagerung wahrscheinlich mit einem Kompromiss, die 729 begonnene zweite Belagerung zog den Fall der Stadt wohl erst im darauffolgenden Jahr 728 nach sich. Babylon öffnete Tiglatpileser schon 731 kampflos die Tore, 92 729 konnte er sich dort zum König von Babylon machen. Die Initiative lag stets bei den Assyrern, abgesehen von Kämpfen im Zusammenhang mit den Belagerungen von Šapija fand keine größere Schlacht statt. 93 2. Am Vorabend der Invasion Sargons im Jahre 710 war Marduk-aplaiddina, inzwischen König von Babylon und seitdem Todfeind der Assyrer, zumindest theoretisch mit Elam wie auch mit aramäischen Stämmen im Bunde, doch fehlende Koordination und der Rückzug des elamische Königs ermöglichten es Sargon, seine Gegner wiederum einzeln zu besiegen. Von Sargon in Nordbabylonien ausmanövriert, entging Marduk-apla-iddina der drohenden Einschließung in Babylon nur durch rechtzeitigen Rückzug nach Süden, während Babylon 91 Das zeigen seine zwischen 694 und 689 entstandenen Bauinschriften. 92 TADMOR / YAMADA, Royal Inscriptions S. 65 Tiglath-pileser III 24 5–7. 93

FALES, Moving around Babylon S. 97–111.

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auch Sargon kampflos die Tore öffnete. Die 709 begonnene Belagerung Marduk-apla-iddinas in Dūr-Jakin endet mit dem freien Abzug der Verteidiger. Wiederum lag die Initiative die ganze Zeit hindurch bei den Assyrern, 94 zu einer größeren Feldschlacht kam es auch während dieser assyrischen Invasion nicht. 95 Sanherib traf 704 oder 703 auf einen sehr viel besser organisierten Gegner. Marduk-apla-iddina, einmal mehr König von Babylon, hatte zahlreiche Verbündete gewonnen und ein massives Hilfskontingent aus Elam erhalten. Dieses Mal hatte er seine Streitkräfte rechtzeitig gesammelt und es gelang ihm, einer assyrischen Vorausabteilung bei Kiš eine Niederlage beizubringen. Davon unbeeindruckt, vollendete Sanherib zunächst die Einnahme von Kuta, bevor er mit seiner Hauptmacht nach Kiš weiterzog und dort das Heer des Marduk-aplaiddina vernichtend schlug. Damit war gleich zu Beginn des Feldzuges eine eindeutige Entscheidung zu Sanheribs Gunsten gefallen: Babylon öffnete auch ihm die Tore und er konnte ohne jedes Risiko darangehen, die diversen Stämme der Kaldäer und Aramäer einen nach dem anderen zu unterwerfen. Sein Gegner Marduk-apla-iddina hatte ihm, indem er das Wagnis einer Schlacht eingegangen war, den größten Gefallen getan und seine eigene Niederlage beschleunigt, denn nachdem er seine Kräfte in der Schlacht bei Kiš verausgabt hatte, war ihm die Möglichkeit zu hinhaltendem Widerstand genommen. Jetzt konnte er nur noch den ihm schon bestens vertrauten Fluchtweg nach Elam antreten. 96 Mag sich Sanheribs Feldzug über ein oder auch über zwei Jahre erstreckt haben: 97 Mit solcher Geschwindigkeit ist Babylonien jedenfalls von keinem anderen assyrischen König überrannt worden. 98

Die Unterschiede zum Geschehen der Jahre 694 bis 689 sind krass, denn bei diesem Konflikt dauerte es Jahre, bevor die Entscheidung fiel, und sie ließ sich 94

Daran konnte auch ein schwächlicher Gegenangriff Marduk-apla-iddinas nichts ändern, der ohnehin abgebrochen wurde, noch bevor er richtig begonnen hatte, siehe FUCHS / PARPOLA, Correspondence XVII. 95 Siehe FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 399–405 Anhang D und 430 sub Dūr-Jakin, bzw. FUCHS / PARPOLA, Correspondence S. XIII–XXIII. 96 Den ausführlichsten Bericht zu diesem Feldzug bietet GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 33 Sennacherib 1 5–62. 97 Die hier bestehenden chronologischen Probleme sind noch nicht geklärt, siehe zuletzt FRAHM, Sanherib S. 16 und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 11 Anm. 19, bzw. FUCHS / PARPOLA, Correspondence S. LIf. Anm. 41. 98 Die Gegner Assurbanipals waren vorsichtiger und verwickelten dessen Truppen 652–648 in langwierige Belagerungen.

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auch nicht aus eigener Kraft, als unmittelbare Folge eines militärischen Sieges erzwingen, vielmehr war sie war dem Umstand zu verdanken, dass Elam den Krieg entnervt aufgab. Obwohl Sanherib durch die Auslieferung und Verschleppung seines Sohnes gedemütigt und herausgefordert wurde wie kein assyrischer König vor ihm, blieb der erwartete militärische Gegenschlag, der große Rachefeldzug, zunächst aus. Seine in Babylonien noch verbliebenen Stützpunkte überließ Sanherib ihrem Schicksal, so etwa Nippur, das ja erst im Verlauf des Sommers 693 fiel, und bis zum Herbst desselben Jahres galten die wenigen konkreten Bemühungen, zu denen er sich aufraffen konnte, einzig der Sicherstellung bedrohter Götterbilder. Was hier zum Vorschein kam, war nicht Stärke, sondern Schwäche. 99 Vom entschlossenen, kraftvollen Vorgehen früherer Invasionen, einschließlich seiner eigenen im Jahre 704/703, war dieses Mal weit und breit nichts zu spüren. Sanheribs Maßnahmen, von der Evakuierung diverser Götter bis hin zum Vorstoß nach Uruk, ähneln stattdessen in verblüffender Weise den ersten Schritten, die viel später, in den Jahren 626 und 625, sein Urenkel Sînšar-iškun unternahm, um den Aufstand des Nabopolassar einzudämmen. 100 Während Assyrien jedoch im Jahre 626 durch innere Unruhen und Zerwürfnisse geschwächt war, konnte davon zur Zeit Sanheribs keine Rede sein, da er sich nie mit innenpolitischen Rivalen hat auseinandersetzen müssen und – mit Ausnahme von Babylonien – uneingeschränkt über sein Reich verfügte. Und im Gegensatz zu Sîn-šar-iškun konnte sich Sanherib Fehler durchaus erlauben, denn angesichts der ungeheuren Mittel, die ihm zu Gebote standen, konnte er am Ende ja trotz allem nicht verlieren. Angesichts seiner ungleich besseren Ausgangslage stellt sich aber nur umso drängender die Frage, wie er es da bloß hat fertigbringen können, sich im Süden seines Reiches in eine katastrophale Situation hineinzumanövrieren, die der seines unglücklichen Urenkels streckenweise so überaus ähnlich war. Hierzu bedurfte es in der Tat eines wahrhaftigen Künstlers! Anders als bei früheren Konflikten brachten die Schlachten, die im Zeitraum zwischen 694 und 689 geschlagen wurden, keine Entscheidung. Das erfolgreiche, aber eher kleine Gefecht, das 693 bei Nippur taktisch zu Sanheribs Gunsten ausging, bewirkte auf der strategischen Ebene rein gar nichts, obwohl dabei einer der beiden wichtigsten feindlichen Anführer in Gefangenschaft geriet. Die 691 bei Ḫalulē geschlagene Schlacht, vielleicht sogar die größte der 99

Einen verzweifelten Versuch wenigstens zur Evakuierung von Götterbildern hat im Jahre 539 auch Nabonid angesichts der unmittelbar drohenden, übermächtigen persischen Invasion unternommen, siehe FUCHS, Osttigrisgebiet S. 295. 100 Siehe FUCHS, Geburt S. 29–31.

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assyrischen Geschichte, endete für keine Seite mit dem erhofften eindeutigen Sieg. Mindestens ebenso beunruhigend musste für die assyrische Seite die Erfahrung sein, dass sie in diesem Krieg erstmals seit langer Zeit die bis dahin selbstverständliche Rolle des Angreifers zweitwillig einbüßte und mit der Initiative auch die Kontrolle über die Handlungsabläufe verlor. Sanherib agierte 693 spät und zögerlich, 692 überhaupt nicht. Im Jahre 691, das den Tiefpunkt dieser Entwicklung markiert, lag die Initiative zur Gänze bei der angreifenden Streitmacht der Koalition. Die militärische Schwäche Sanheribs zeigte sich nicht zuletzt auch darin, dass er sich nur dann Chancen ausrechnete, sich gegen Elam durchsetzen zu können, wenn dieses Reich, so wie am Ende des Jahres 693, durch einen Umsturz geschwächt war. Diese Voraussetzung wurde als so entscheidend angesehen, dass Sanherib überzeugt war, dafür selbst das Risiko eines Winterfeldzuges eingehen zu müssen. Erst 690–689, in den letzten beiden Jahren des Konflikts, nach dem Ausscheiden Elams, fand die assyrische Seite zur gewohnten Form zurück. Doch auch die Gegenseite hatte sich nur zu vereinzelten Anstrengungen aufraffen können. Ein eindeutiger Erfolg war lediglich der elamische Vorstoß nach Sippar im Herbst 694 gewesen, und das auch nur aufgrund seiner überraschenden Folgen, die eine unerwartete Ausweitung des Konfliktes nach sich zogen. 693 hat Nergal-ušēzib erst nach dem Eintreffen elamischer Verstärkung gewagt, sich bei Nippur einer vergleichsweise schwachen assyrischen Streitmacht zu stellen – und sich dabei auch noch verkalkuliert! Die vereinte Streitmacht, die dann 691 ins assyrische Reich einfiel, war zwar eindrucksvoll, richtete aber so wenig aus, dass die frustrierten Elamer anschließend ihre babylonischen Verbündeten ihrem Schicksal überließen. Ihr jahrelanges Überleben verdankte die Koalition also nicht ihrer eigenen Stärke, sondern Sanheribs anhaltender Schwäche. Dieser konnte dieselbe Kombination aus Elamern, Babyloniern, Kaldäern und Aramäern, die er 704/703 innerhalb weniger Monate förmlich vor sich hergetrieben hatte, 694–689 erst nach sage und schreibe sechs Jahren und nur mit allergrößter Mühe bezwingen. 101 Hatte Babylon 704/703 die Tore geöffnet, kaum dass assyrische Truppen die Stadt erreichten, so konnte dieselbe Stadt im

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Und das, obgleich die Gegner 694 eher schwächer waren als noch im Jahre 704. So spielten die aramäischen Gruppierungen als Folge der umfangreichen Deportationen, denen sie im Anschluss an die Auseinandersetzungen der Jahre 704 bis 703 ausgesetzt waren, in dem 694 ausbrechenden Konflikt eine deutlich geringere Rolle.

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Jahre 689 erst nach einer Belagerung eingenommen werden, die länger dauerte als 704/703 die Auseinandersetzung als solche. 102 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die assyrischen Streitkräfte in den Jahren 694–689 bedeutend schwächer gewesen sein müssen, als noch im Jahre 704 oder zu den Zeiten Sargons oder Tiglatpilesers III. 2.2 Ein gescheitertes Konzept

Der Grund für die genannte Diskrepanz kann nur in der Politik Sanheribs zu finden sein, die sich nach 700 von der seiner Vorgänger ganz wesentlich zu unterscheiden und ein eigenes Profil zu entwickeln begann. Es steht außer Frage, dass Sanherib die Expansion des Reiches als abgeschlossen betrachtete, 103 denn in den fünf Jahren nach 700 hätte er die Hände frei und Zeit genug gehabt, neue Eroberungsprojekte voranzutreiben. Da er nichts dergleichen tat und bis einschließlich 694 entweder gar nichts unternahm oder sich auf Nebenschauplätze und sporadische Einzelaktionen beschränkte, die jeweils auf ein nur sehr geringes, kurzfristiges Engagement berechnet waren, so war dieser Verzicht auf weitere Eroberungen ein bewusster. Dass er damit durchaus Weitsicht bewies, sollte sich zeigen, als sein Nachfolger Asarhaddon die Politik der Expansion mit der Eroberung Ägyptens wiederbelebte, dieses Projekt aber von Assurbanipal wieder aufgegeben werden musste, da sich Ägypten zwar mehrfach militärisch besetzen, aber niemals ins assyrische Reich integrieren ließ. Zur Vermeidung längerfristiger, kräftezehrender militärischer Engagements war Sanherib bereit, so manches hinzunehmen oder auf sich beruhen zu lassen. So blieb etwa der 701 bei Elteke abgewehrte ägyptisch-nubische Angriff unbeantwortet und es wurde auch die nachträgliche Unterwerfung des Hiskia von Juda ohne weitere Konsequenzen akzeptiert. Vor allem aber zeigt sich diese Vermeidungsstrategie im Verhalten gegenüber dem anatolischen Fürsten Gurdī: Wie eingangs erwähnt wurde dieser Gegner nach einem ersten erfolglosen Vorstoß im Jahre 704 erst neun Jahre später erneut angegriffen, wobei sich Sanherib 695 ganz auf die Rückeroberung der zuvor von Gurdī eroberten Stadt 102

Den Widerstandswillen der babylonischen Seite verstärkte natürlich auch die Gewissheit, im Falle der Niederlage einer furchtbaren Vergeltung für den Verrat an Sanheribs Sohn anheim zu fallen. 103 Die einzige von ihm militärisch bezwungene Stadt, die er nicht zurückgewonnen oder zurückerobert, sondern dem assyrischen Reich erstmalig einverleibt hat, war das zu Ellipi (West-Iran) gehörende, in Kār-Sîn-aḫḫē-erība umbenannte Elenzaš, dies in deutlicher Anlehnung an das benachbarte, von Sargon eroberte Ḫarḫar alias Kār-Šarru-ukīn. Dieses Elenzaš alias Kār-Sînaḫḫē-erība wurde der Provinz Ḫarḫar eingegliedert, stellte also lediglich eine Abrundung des schon bestehenden Gebietsstandes dar. Siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 63 Sennacherib 4 29–30.

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Til-Garimmu beschränkte und es offensichtlich unterließ, den Krieg in dessen Gebiet hineinzutragen. Von einem energischen Vorgehen gegen diesen Herrscher kann also keine Rede sein. Absolut perfekt hat Sanheribs Konfliktvermeidung im Falle des urarṭäischen Reiches funktioniert, das infolgedessen in seinen Inschriften nur ein einziges Mal und da lediglich als ein rein geographischer Begriff begegnet. 104 Was Sanherib für sein Reich offenkundig anstrebte, das war, um es mit H. Münkler auszudrücken, die Überwindung der sogenannten »augusteischen Schwelle«, der Übergang von der Expansionsphase »in die Phase der geordneten Dauer«, 105 in der sich ein Imperium, bildlich ausgedrückt, nach dem Stress der Eroberungen behaglich zurücklehnen kann, um in vollen Zügen die ›Friedensdividende‹ zu genießen. Deren Höhe ist vom Umfang der Senkungen im Bereich der Beherrschungskosten abhängig, die dank der neuen, nun weniger aggressiven außenpolitischen Ausrichtung des geläuterten Imperiums möglich sind. Ein König, der sein Reich als saturiert betrachtet, Konflikte vermeidet und sich von außen nicht bedroht sieht, kann sich Einsparungen auch und vor allem bei seinen Streitkräften leisten, dem wohl in allen frühen Großreichen mit Abstand bedeutendsten Kostenfaktor überhaupt. Einem bauwütigen König wie Sanherib erlauben es die solcherart freiwerdenden Mittel, sich selbst und die staunende Welt mit noch weit mehr und noch viel größeren Palästen, Tempeln und wer weiß was sonst noch beglücken zu können. Der deutliche Verlust an militärischer Durchsetzungsfähigkeit, den der Vergleich zwischen Sanheribs ersten Regierungsjahren (704–700) und den Ereignissen der Jahre 694–689 offenbart, lässt sich meines Erachtens damit erklären und zugleich mit der bis nach 689 unvermittelt anhaltenden königlichen Bautätigkeit in Übereinstimmung bringen, dass Sanherib seine Streitkräfte in den Jahren seit oder nach 700 in erheblichem Umfang reduziert hat. Die bloße Vorstellung, ein Assyrerkönig, gemeinhin geradezu der Inbegriff eines ganz besonders brutalen und aggressiven Militarismus, könnte aus freien Stücken abgerüstet haben, scheint zugegebenermaßen die Grenzen des Vorstellbaren zu sprengen und ist dementsprechend schwer zu akzeptieren. Unter dieser Prämisse lässt sich jedoch die höchst eigentümliche Entwicklung der 104 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 313 Sennacherib 223 13. 105

MÜNKLER, Imperien S. 115. Folgt man MÜNKLER, Imperien S. 115–119, so ist Assyrien der Übergang niemals wirklich geglückt: Im assyrischen Reich blieb »das politische und wirtschaftliche Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie« unverändert bestehen, und der Übergang »von einem exploitiven in ein zivilisierendes Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie« fand niemals statt. Wie die Ereignisse seit 694 zeigen, ist Sanherib die »nachhaltige Senkung der Beherrschungskosten« missglückt. Ähnlich wie es MÜNKLER (S. 118) für das Spanien Philipps II. beschreibt, so verharrte auch Assyrien immer nur zeitweise auf der »augusteischen Schwelle«, ohne sie jemals vollständig überschreiten zu können.

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Jahre 694–689 im Sinne eines allmählichen Wiederaufbaues der in den Jahren zuvor reduzierten assyrischen Streitkräfte deuten: 1. Um etwa 700 verringert Sanherib den Umfang seiner Streitkräfte. Die verkleinerte Armee reicht für die begrenzten Operationen der Jahre 697–694 vollkommen aus. 2. Sanheribs übermütiger Angriff auf die elamische Südküste im Sommer 694 hat im Herbst einen elamischen Gegenschlag zur Folge, der seinerseits einen großen Aufstand in Babylonien auslöst. Sanheribs verkleinertes Heer ist außerstande, auf die Herausforderungen des unerwartet großen Krieges adäquat zu reagieren. Im Jahre 693 ist kaum mehr als bloße Schadensbegrenzung möglich, die in Babylonien eingesetzten Truppen erreichen bei Nippur dennoch einen Achtungserfolg, der zumindest erahnen lässt, dass bei ausreichender Truppenstärke der Konflikt wohl schon in diesem Jahr hätte entschieden werden können. 3. Als im Herbst 693 Elam durch einen Umsturz geschwächt wird, ist dies für Sanherib eine unverhoffte Chance, die er sich gerade aufgrund seiner augenblicklichen militärischen Schwäche unter keinen Umständen entgehen lassen will. Das Ergebnis seines sofortigen Angriffs ist der Katastrophenwinter 693/92, der alle eventuell im Verlauf des Jahres 693 unternommenen Bemühungen zur Wiederaufstockung der assyrischen Streitkräfte prompt wieder zunichtemacht. Während des Sommers 692 ist das arg mitgenommene Heer dringend erholungsbedürftig. 4. Da die assyrischen Streitkräfte die für eine erfolgreiche Offensive notwendige Stärke 691 noch immer nicht erreicht haben, ist von assyrischer Seite auch für dieses Jahr noch keine Operation vorgesehen. Eine Invasion der verbündeten Gegner, die das Innere des Reiches bedroht, zwingt jedoch zum vorzeitigen Einsatz. Der Wiederaufbau des Heeres ist mittlerweile wenigstens soweit fortgeschritten, dass es bei Ḫalulē die vereinten Kräfte der Koalition zwar nicht überzeugend schlagen, sich aber zumindest gegen sie behaupten kann. 5. Im Jahre 690 büßen die Streitkräfte der Koalition durch den Rückzug Elams aus dem Krieg nicht nur mindestens die Hälfte ihrer zahlenmäßigen Stärke, sondern auch ihre professionellsten, kampfkräftigsten Einheiten ein. Das ist die eigentliche Wende des Krieges, denn mit dem, was Mušēzib-Marduk jetzt noch verbleibt, kann er keine offene Feldschlacht gegen die Assyrer mehr riskieren. Damit verschieben sich die Kräfteverhältnisse entscheidend zu Sanheribs Gunsten, der Babylon bis 689 erobert. Seine Übermacht ist jetzt so groß, dass er

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schon während der noch laufenden Belagerung Truppen für eine Strafexpedition gegen arabische Stämme abzweigen kann. Demnach rührten Sanheribs Schwierigkeiten unter anderem auch daher, dass er die Erfordernisse, Restrisiken und Gefahren unterschätzt hat, die seinem Reich auch nach dem Verzicht auf weitere Eroberungen durchaus noch verblieben. 106 Im Sinne H. Münklers ausgedrückt führen die Ereignisse der Jahre 694–689 somit exemplarisch vor, was geschieht, wenn ein Imperium in falscher Beurteilung der Lage seine Beherrschungskosten zu weit absenkt. Das Ergebnis ist dann, wie in diesem Fall, nicht die erhoffte Friedensdividende, sondern äußerst mühsam zu behebender Herrschaftsverlust. Und trotzdem: Wenn jemals ein Visionär auf dem assyrischen Thron saß, so war es Sanherib. Seine Abkehr von der bisherigen Expansionspolitik hätte für die Geschichte Assyriens ein Meilenstein, eine historische Wende sein können. Es lag ganz allein an ihm selbst, dass daraus nichts werden sollte, denn im Interesse seiner neuen Politik wäre es vor allem anderen notwendig gewesen, die Provokation anderer Mächte tunlichst zu unterlassen. Wie Sanheribs Verhältnis zum urarṭäischen Reich zeigt, war er sehr wohl in der Lage, erträgliche Nachbarschaftsbeziehungen aufrechtzuerhalten, und Asarhaddon sollte später beweisen, dass dies auch gegenüber dem elamischen Reich möglich war. Bestand aber zwischen den Königen von Assyrien und Elam ein gutes Verhältnis, so stellten auch die babylonischen Flüchtlinge, die in Elam Zuflucht gefunden hatten, kein Problem dar, da es dann im Interesse ihres elamischen Beschützers lag, die potentiellen Unruhestifter unter ihnen an Übergriffen gegen Assyrien zu hindern. Unter solchen Umständen waren die Ansiedlungen der Kaldäer und Babylonier rund um Ḫilmu und Pillatu für Assyrien keine Bedrohung, sondern bloße Gefangenenlager – und kostenlose noch obendrein, weil dann der König von Elam für die Versorgung der Insassen aufkommen musste. Doch jede Hoffnung auf ein solches Arrangement machte Sanherib in jenem verhängnisvollen Sommer des Jahres 694 durch seinen idiotischen Angriff gegen die elamische Südküste restlos zunichte. Ganz nebenbei stellte er damit unmissverständlich klar, dass er sich auch in Zukunft einen Dreck um die Befindlichkeiten anderer scheren würde und dass er bei aller Friedensliebe in puncto Arroganz und Rücksichtslosigkeit sich selbst und seiner angestammten Rolle als assyrischer König treu zu bleiben gedachte. Somit hat er zwar eine neue Politik eingeleitet, dies jedoch fatalerweise unter Beibehaltung von Ver106

Die Streitkräfte und die Drohung, die von ihnen ausging, waren nach wie vor die eine und einzige Institution, die den Zusammenhalt und den Bestand des assyrischen Reiches garantierte, siehe FUCHS, Militärstaat.

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haltensmustern seiner unmittelbaren Vorgänger, deren Ausrichtung noch eine ganz andere gewesen war als die neuerdings von ihm angestrebte. Handelt ein Mensch auf dem Feld der Politik irrational, so ist der Verdacht auf ideologische Beweggründe zumindest naheliegend. Im vorliegendem Fall ist es durchaus möglich, dass Sanherib, als er den König von Elam so leichtfertig provozierte, einer Selbsttäuschung erlegen ist, etwa der Illusion, tatsächlich so etwas wie ein »Hüter der Weltordnung« (wenn nicht noch mehr) zu sein: Setzte man voraus, dass er es war, der den Lauf der Dinge in harmonischer Übereinstimmung mit dem Willen seiner Götter bestimmte, dann KONNTE es doch gar keinen großen Konflikt geben, wenn er selbst das nicht ausdrücklich wünschte, und infolgedessen musste aller Ärger, den er den Elamern bereiten mochte, selbstverständlich folgenlos bleiben! Wenn diese Vermutung zutrifft, so durchlief Sanherib seit dem Herbst des Jahres 694 einen überaus schmerzlichen Lernprozess, der ihm auf die harte Tour die beunruhigende Erkenntnis vermittelte, dass die Welt hier und da doch irgendwie anders funktionierte, als man es ihm bis dahin weisgemacht hatte. 2.3 Sanherib – ein unangenehmer Zeitgenosse 107

Stabilität und Macht eines Reiches lassen sich auch und gerade daran ermessen, wieviel Unfähigkeit und Versagen es verkraften kann, ohne zusammenzubrechen oder bleibenden Schaden davonzutragen. So betrachtet stellten Sanheribs fortgesetzte Fehlentscheidungen einen Härtetest dar, dessen letztendliches Bestehen dem assyrischen Reich ein außerordentlich hohes Maß an Stabilität und – wen wundert es? – geradezu immense Macht bescheinigte.

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Ich bin mir über die Defizite der in diesem Abschnitt gebotenen Skizze durchaus im Klaren. Das Hauptproblem besteht natürlich darin, dass die Quellengrundlage, auf der die getroffenen Aussagen beruhen, ausgesprochen dürftig und löchrig ist. Sie besteht aus den von Sanherib selbst in Auftrag gegebenen Inschriften und dort zufällig überlieferten ungewöhnlichen Handlungsweisen und Vorlieben des Königs, die auffallen, weil sie im Gegensatz zu denen seiner Vorgänger und Nachfolger stehen. Hinzu kommen ganz wenige, verstreute Hinweise auf Einschätzungen und Reaktionen von Seiten seiner Zeitgenossen, die sich in anderen Quellen finden. Mit Recht lässt sich bemängeln, dass hier von punktuell überlieferten Verhaltensweisen Sanheribs auf dauerhafte Charaktereigenschaften dieses Königs geschlossen wird, und dass keine Persönlichkeitsentwicklung aufgezeigt oder mitverfolgt werden kann: Der Sanherib der frühen Jahre bis etwa 700 kann durchaus ein ganz anderer als der etwa des Jahres 689 oder gar 681 gewesen sein. Das hier gezeichnete Bild ist also gleichermaßen unvollständig wie auch in hohem Maße spekulativ und es erhebt nicht den Anspruch, den ganzen Menschen Sanherib erfassen zu können. All diese Einschränkungen und Unzulänglichkeiten können aber kein Grund sein, sich entmutigen und davon abhalten zu lassen, das vorhandene Material zu interpretieren.

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Einiges von dem, was Sanherib tat, war ausgesprochen dumm, wobei diese vielleicht überraschend anmutende Feststellung durchaus nicht im Widerspruch zu der schon wiederholt bestätigten Einschätzung Sanheribs als eines einfallsreichen und höchst originellen Herrschers steht, denn auch ein sehr intelligenter Mensch ist nicht davor gefeit, bei Gelegenheit oder in bestimmten Bereichen ausgesprochen dumm zu agieren. 108 Im Falle Sanheribs waren dies sehr entscheidende Bereiche, denn er hat gravierende Fehler nicht als Künstler oder Techniker, sondern im Kernbereich seiner Existenz, in seiner Eigenschaft als König, begangen. Wie aber war es möglich, dass ein an sich kluger, einfallsreicher Mensch, der seine Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, auch in unkonventionellen Bahnen zu denken, bei wichtigen Entscheidungen derartig danebenliegen konnte? An einem grundsätzlichen Mangel an Informationen kann es nicht gelegen haben, denn die neuassyrischen Herrscher räumten der Informationsbeschaffung einen sehr hohen Stellenwert ein – gerade Sanherib hatte sich ja als Kronprinz in diesem Sektor betätigt. Da es auch an Beratern jeder nur erdenklichen Art nicht fehlte, stellt sich doch die Frage, ob sich unter all diesen Koryphäen denn tatsächlich niemand hat finden lassen, der den König hätte darauf hinweisen können, dass es beispielsweise wenig hilfreich war, einen offenkundig unerfahrenen königlichen Zögling am heißesten Brennpunkt des gesamten Reiches einzusetzen und ihn dort anschließend sich selbst zu überlassen, ohne sich jemals zu vergewissern, ob er seiner Aufgabe denn auch gewachsen war; oder dass man das eine oder andere Prachtbauvorhaben vielleicht besser zurückstellte, um stattdessen die Streitkräfte auf einem Niveau halten zu können, das im Notfall noch sinnvolle Optionen eröffnete; dass ein amphibischer Angriff, der für die beteiligten Truppen absolutes Neuland war und ohne klare (auch langfristige) Zielvorstellungen durchgeführt wurde, im günstigsten Fall nur eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen sein konnte; dass elamische Könige nicht minder reizbar auf Übergriffe zu reagieren pflegten wie assyrische; und dass zu guter Letzt Winterfeldzüge im Bergland nur für ausgespro108

Anregungen bieten zu diesem Thema die ebenso amüsanten wie nützlichen Betrachtungen von CIPOLLA, Allegro. Siehe dort im Besonderen S. 56: »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Person dumm ist, besteht unabhängig von jedweder anderen Eigenschaft derselben Person.« S. 63: »Ein dummer Mensch ist ein Mensch, der einem anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen einen Schaden beibringt, ohne zugleich einen Gewinn für sich selbst dabei herauszuziehen oder sogar einen Verlust erleidet.« S. 71: »Der zweite, das Dummheitspotential eines Menschen bestimmende Faktor, hängt von der Macht- und Autoritätsstellung ab, die er innerhalb der Gesellschaft einnimmt. Unter Bürokraten, Generälen, Politikern und Staatsoberhäuptern stößt man immer wieder auf den goldenen Prozentsatz s grundlegend dummer Individuen, deren Fähigkeit, dem Nächsten zu schaden, von ihrer Machtstellung, die sie innehatten (oder haben) bestimmt wurde (oder wird).«

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chen masochistisch veranlagte Könige empfehlenswert waren? 109 Zu der Einsicht zu gelangen, dass in all diesen Bereichen Gefahren und Unwägbarkeiten lauerten, kann so schwer doch nun wirklich nicht gewesen sein! Doch offenbar sind die entsprechenden Informationen und Ratschläge entweder nicht zu Sanherib durchgedrungen oder sie sind an ihm abgeprallt. Dass an den Küsten des Meerlandes der Gezeitenwechsel eine absolut berechenbare Erscheinung war, (über die dort sogar schon die Kinder Bescheid wussten), das zumindest hat man ihm nachweislich gesagt – er aber zog es vor, diesen Hinweis zu ignorieren. 110 Ursache der hier zutage tretenden Kommunikationsstörung könnte ein grundsätzlicher Mangel an Vertrauen in die Aufrichtigkeit seiner Berater gewesen sein. Tatsächlich wird Sanherib in dem vielzitierten, unter dem Namen »The Sin of Sargon« bekannten Text als ein Herrscher dargestellt, der seine Opferschauexperten bei ihrer Arbeit voneinander isolieren ließ, um Absprachen und damit auch Manipulationen der Ergebnisse zu verhindern. Der Text, der Sanherib höchstpersönlich posthum zu Wort kommen lässt, misst diesem Verfahren eine so große Bedeutung bei, dass es nicht weniger als dreimal thematisiert wird. Am Ende des Textes legt der Geist Sanheribs diese Vorsichtsmaßnahme auch seinem Nachfolger dringend ans Herz. 111 Von allen Ratschlägen Sanheribs war das einer der ganz wenigen, möglicherweise der einzige, dem sein Sohn Asarhaddon, der ansonsten ängstlich bemüht war, sich von seinem Vater weitestgehend zu distanzieren, ohne Vorbehalt folgen konnte, weil hier eine Einstellung zum Ausdruck kam, die Asarhaddons eigenem Naturell entsprach. Es ist also weniger ein grundsätzliches Misstrauen Sanheribs, das in diesem Text zum Vorschein kommt, als vielmehr die Furcht Asarhaddons, in dessen Auftrag der Text vermutlich entstanden ist. Aber trotz aller Schwierigkeiten, die Asarhaddon mit seinem Vater hatte, ist es 109

Die Liste ließe sich noch erheblich verlängern, wenn man Sanheribs Auseinandersetzung mit Marduk und seine Thronfolge-Experimente mit einbezöge. 110 Siehe oben Abschnitt I.1. 111 LIVINGSTONE, Court Poetry Nr. 33: 13´–15´: Ich ging [und versammelte die professionellen Opferschauer], die das Geheimnis von Gott und König bewahren, die [meinem Palast] dienen. Ich teilte sie [in drei bzw. vier (Gruppen)] auf, sodass [sie] keinen Kontakt miteinander aufnehmen [und nicht miteinander sprechen konnten.] …… 21´–22´) Die professionellen Opferschauer, die ich [in drei bzw. vier (Gruppen) aufgeteilt hatte], kamen zu einem übereinstimmenden Ergebnis [und antworteten mir mit einem festen Ja.] …… r.15´–20´) (So wie ich), … bei meiner Durchführung der Opferschau die [professionellen Opferschauer in drei] bzw. vier (Gruppen) aufgeteilt habe, so sollst auch Du, genau wie ich, die professionellen [Opferschauer] in drei bzw. vier (Gruppen) unterteilen und [die Opferschauer, die bei der Opferschau] assistieren, Deine Frage wissen lassen, dann [sollen sie] die Opferschau durchführen und die Vorzeichen betrachten.] (Danach) sollen die übrigen Opferschauer, die streng voneinander getrennt wurden, […] die Vorzeichen überprüfen, die Entscheidung des Šamaš und des Adad [in Erfahrung bringen (und sie) Dir mitteilen.]

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eben Sanherib und kein anderer Vorfahr Asarhaddons, dem die Einführung des so überaus empfehlenswerten Prüfverfahrens zugeschrieben wird. Kritisiert wird der königliche Erfinder für seine problematische Beziehung zu den Göttern, nicht aber für das (angeblich) von ihm selbst entwickelte Verfahren. Ganz im Gegenteil verdiente ein auf Sanherib-Art zustande gekommenes Untersuchungsergebnis sogar ganz besondere Glaubwürdigkeit. 112 Obwohl Asarhaddon alle Hände voll zu tun hatte, den gigantischen Scherbenhaufen zu beseitigen, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, obwohl er nur wenig Grund hatte, ihm dankbar zu sein, und in sehr grundsätzlichen Punkten gänzlich anderer Meinung war als er, bescheinigt er seinem Vater an dieser Stelle Klugheit und Einfallsreichtum. Asarhaddon hat sich nicht von den Mitteln, Techniken und Verfahrensweisen, sondern von der Politik seines Vaters distanziert. Das hier von Sanherib skizzierte Bild ist bezeichnend: Derselbe Herrscher, dem im kultischen Bereich furchtbare Fehler zur Last gelegt werden, erscheint gleichzeitig als ein Erfinder im Bereich praktisch anwendbarer, durchaus empfehlenswerter Verfahrenstechniken. Der zweite Teil der Beschreibung hätte Sanherib ganz sicher gefallen, denn er entspricht seiner eigenen Selbstdarstellung. Gleichermaßen als Aktivist in Glaubensdingen wie auch als Techniker begegnet der König in einer Inschrift, die das Bildprogramm und die Herstellung von Bronzebeschlägen beschreibt, mit denen er die Tore des im Zuge seiner Abrechnung mit Marduk erbauten Akītu-Hauses schmücken ließ. Erwartungsgemäß ist dabei ein nicht unbeträchtlicher Teil des Textes Sanherib selbst gewidmet, der sich hier als Spezialist und stolzer Erfinder im Bereich der Metallurgie verewigen ließ: Sennacherib 160 18–25) Geräte aus Silber, Gold und [roter] Bronze (erst) zu zerbrechen, (Stücke im Gewicht) von tausend Talenten (genauso wie solche von nur) einem Schekel (Gewicht) einzuschmelzen und aus all dem (etwas Neues) zu machen – das (alles) kann ICH, der ich diese kunstreichen Werke genial zustande gebracht habe und das für sie (erforderliche) Gussverfahren beherrsche. (Es würde mich nicht wundern), wenn Du (dem Bericht über) das Schmelzen dieser Bronze nicht glauben willst, doch ich schwöre beim König der Götter, bei Anšar, dem Gott, der mich erschuf, dass ICH dieses Gussverfahren ausgeführt habe, und zwar genau dort, wo diese Inschrift angebracht ist, an der Stelle also, wo Anšar und all die Götter, die gemeinsam mit ihm gegen Tiamat in den Kampf ziehen, im Bilde dargestellt sind. Damit alle künftigen Generationen(?) es wissen: Ich habe dabei den Zinn(anteil) erhöht!

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Nach PONGRATZ-LEISTEN, Herrschaftswissen S. 166 f. und LENZI, Secrecy S. 130 hat Asarhaddon die empfohlene Vorsichtsmaßnahme auch selbst angewendet. Anders jedoch die Übersetzung von LEICHTY, Royal Inscriptions S. 107 Esarhaddon 48 74.

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Daran sollst Du erkennen, dass ICH dieses Gussverfahren durchgeführt habe! 113

Bei aller hier zutage tretenden Egomanie war das noch die vergleichsweise zurückhaltende Variante, Sanheribs überragende Fähigkeiten auf dem Gebiet der Metallverarbeitung zu preisen, denn anderswo unterstreicht er seine überlegenen Fähigkeiten auf diesem Gebiet noch zusätzlich dadurch, dass er seinen königlichen Vorgängern diesbezüglich Unverstand und mangelnde Überlegung vorwirft. 114 Derjenige, dem diese Vorhaltungen in erster Linie gelten, sein Vater Sargon, hat sein Interesse am Metallguss gleichfalls dokumentieren lassen und dem faszinierenden Schmelzvorgang bei Gelegenheit auch beigewohnt, seinen Inschriften zufolge jedoch tatsächlich nur als interessierter Laie. 115 Das bedeutet nicht, dass er in seinen Ansprüchen insgesamt bescheidener als sein Sohn gewesen wäre, er setzte seine Akzente lediglich an anderer Stelle. Auch Sargon hat sich auf seine überragende Intelligenz nicht wenig eingebildet und er war beispielsweise mächtig stolz darauf, von allen assyrischen Königen als einziger die Vorzüge des günstigen Bauplatzes erkannt zu haben, an dem er seine Stadt Dūr-Šarru-ukīn errichtete, denn die »350 früheren Fürsten«, die vor ihm regierten, seien dazu samt und sonders unfähig gewesen. 116 Da Sargon der assyrischen Königsliste SDAS zufolge der 110. assyrische König war, 117 müssen gleich mehrere Königslisten von mindestens vergleichbarer Länge hintereinandergestellt worden sein, um die hier gewünschte, mehr als dreimal so hohe Anzahl an Vorgängern zusammenzubekommen. Aber es machte sich natürlich sehr viel besser, unter 350 Königen der klügste zu sein, als gerade einmal lumpige 109 Vorgänger übertroffen zu haben! Sanherib war also nicht misstrauischer als sein Sohn und auch nicht Beifall heischender als sein Vater. Er besaß jedoch zweifellos außergewöhnliche Fähigkeiten und war sich dieser Tatsache so sehr bewusst, dass er sich über die Ratschläge auch von Experten hinwegsetzte. Auch das ist für sich genommen unproblematisch. Wer Großes erreichen will, wird sich dazu sogar gezwungen sehen, wenn er sich seine Projekte nicht von Heerscharen kleinlicher Bedenkenträger zerreden lassen will. 113

GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 224 f. Sennacherib 160 mit FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 224. 114 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 140 f. Sennacherib 17 vi, 80 – vii, 8; GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 50 Sennacherib 42 17´–28´, 61 f. Sennacherib 43 67–79 und 86 f. Sennacherib 46 139–143. 115 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 130 bzw. 325 Ann.230–232. Ebenso auch Asarhaddon, siehe LEICHTY, Royal Inscriptions S. 286 Esarhaddon 1002 i´,3–5. 116 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 37–39 bzw. 292 f. Zyl.34–38 und Zyl.44–46. 117 Als Nachfolger von Salmanassar V. (König Nr. 109), mit dem die Liste endet, siehe GRAYSON, Königslisten S. 115.

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Im Falle Sanheribs jedoch hat sich, wie es scheint, das, was anfänglich vielleicht nur ein gesteigertes Selbstbewusstsein gewesen war, bis zum Jahre 694, als er bei Bāb-salimēti trotz eindringlicher Warnung darauf bestand, sein Zelt offenbar bei Ebbe mitten in der Überflutungszone aufstellen zu lassen, 118 zu grundsätzlicher Besserwisserei und kindischem Starrsinn verhärtet. Das Ergebnis muss eine Slapstick-Szene gewesen sein, die noch den besten Komikern des 20. und frühen 21. Jhs. n. Chr. alle Ehre gemacht hätte. 119 Sanheribs Beratungsresistenz, von der er in Bāb-salimēti eine vergleichsweise harmlose Kostprobe zum Besten gab, war aber noch längst nicht die einzige Schwierigkeit, mit der sich seine Berater und Höflinge konfrontiert sahen. Womit sie in seinem Falle darüber hinaus zu rechnen hatten geht aus dem folgenden Abschnitt eines Briefes hervor, der nicht lange nach Sanheribs Tod an seinen Sohn Asarhaddon gerichtet war: SAA 10 Nr. 109 r.1–10) Kalbu, der Sohn des Nabû-ēṭir, hat zur Zeit des Königs, Deines Vaters, [mit] den Schreibern und den Zukunftsexperten ohne Wissen des Königs, Deines Vaters, folgende Abmachung getroffen: »Wenn ein ungutes Vorzeichen erscheint, dann werden wir dem König [sagen]: ›Ein unklares Vorzeichen hat sich ereignet!‹« Tafel für Tafel […] haben sie (auf diese Weise) zunichte gemacht, wann immer sich ein Vorzeichen [ereignete], das ungünstig für ihn war. Das war natürlich gar nicht gut! Als dann schließlich der alû-Dämon erschien, [(da sagte der König): »Da muss sich doch ein Vorzeichen] ereignet haben, das ungünstig für mich ist, und Ihr habt mir nichts (davon) gesagt […]!« Nachdem sich die Schreiber und die Zukunftsexperten diese Worte zu Herzen genommen hatten, da haben sie – [die Götter des Königs] wissen es – sowie sich irgendein Vorzeichen in der Zeit des Königs, Deines Vaters, ereignete, [es (eifrig) gemeldet, und] (so) blieb der König, Dein Vater, auch tatsächlich am Leben und (konnte) die Herrschaft (weiterhin) ausüben. 120

Das eigentliche Thema des Briefes, von dem hier nur ein kleiner Abschnitt wiedergegeben wird, ist der Unmut des Absenders, eines Astrologen mit Namen Bēl-ušēzib, über den Umstand, dass der König ihn noch immer nicht 118 Siehe oben bzw. GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 83 Sennacherib 46 71–76. 119

Seiner Zeit weit voraus, hat Sanherib, wenn auch ganz und gar unfreiwillig, bei dieser Gelegenheit das Erfolgsrezept von Stan Laurel und Oliver Hardy bestätigt, demzufolge nichts so sehr zum Lachen reizt, wie ein sehr dummer Mann, der sich selbst für ungeheuer klug hält. Sich den »großen König, den mächtigen König, den König der Welt, den König von Assyrien« vorzustellen, wie er da fluchend und schimpfend aus seinem überschwemmten Zelt herausgewatet kam, ist doch einfach zum Brüllen komisch! 120 Siehe PARPOLA, Letters Scholars Nr. 109, bzw. PARPOLA, Letters Esarhaddon S. 50 mit vergleichbaren historischen Beispielen. Siehe auch RADNER, Royal Decision-Making S. 368 und MAUL, Wahrsagekunst S. 310 f.

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vorgelassen habe, und das, obgleich doch gerade er immer schon die Thronbesteigung Asarhaddons vorhergesagt habe, ja, in diesem Sinne habe er einem Kollegen aus der Zukunftsbranche sogar offen widersprochen! Ganz und gar unbegreiflich aber sei es ihm, dass der König nicht ihn, sondern ausgerechnet irgendwelche absolut nutzlosen Propheten und Prophetinnen vorgelassen habe! Mit dem hier in Übersetzung wiedergegebenen Abschnitt erinnert Bēlušēzib den König daran, dass jene Dienstleistungen, die er und seinesgleichen anzubieten hatten, dem König dann und nur dann zugutekämen, wenn ausnahmslos alle Ergebnisse, einschließlich der beunruhigenden, dem König vollständig und unverfälscht übermittelt wurden. In jüngster Zeit jedoch, so fügt er hinzu, seien seine RivalInnen erneut dazu übergegangen, dem König böse Vorzeichen zu verschweigen. 121 Bēl-ušēzib war seit etwa 700 am assyrischen Hof tätig, 122 er hatte dort also genau den Teil der Regierungszeit Sanheribs persönlich miterlebt, der hier von besonderem Interesse ist. Der Absender dürfte folglich mit den Verhältnissen gut vertraut gewesen sein. Da der Brief überdies kurze Zeit nach der Ermordung Sanheribs verfasst worden sein muss und noch dazu an dessen Sohn gerichtet war, ist dem Bild, das hier von Sanherib entworfen wird, ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit zuzubilligen. Die Geschichte, mit der Bēl-ušēzib beim neuen König Eindruck schinden wollte, lässt Rückschlüsse über das Verhältnis zwischen Sanherib und einem bestimmten Teil seiner Berater und Experten zu, jene nämlich, die ihm auf unterschiedlichen Wegen direkte Informationen im Hinblick auf den Willen der Götter beschaffen sollten. Wie auch aus anderen Quellen, so geht auch aus diesem Abschnitt unmissverständlich hervor, dass die Schwierigkeiten im beiderseitigen Verhältnis nicht daher rührten, dass Sanherib die angewandten Verfahren etwa abgelehnt oder auch nur ihre Wirksamkeit in Zweifel gezogen hätte, denn die gegenseitige Absprache seiner Experten ging lediglich dahin, ihm die ungünstigen Vorzeichen zu verschweigen. Die günstigen dagegen hatte er nach wie vor erhalten und wohl auch dankbar zur Kenntnis genommen. Wie seine Beschwerde im Anschluss an eine ernstere Erkrankung zeigt, ging er ganz selbstverständlich davon aus, dass sich auch diese Krankheit zwingend durch ein Vorzeichen angekündigt haben musste – er hatte nur leider nicht davon erfahren und

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Nach Zeile r.12 haben sich unter seinen Gegnern mehrere Frauen, also wohl Prophetinnen, befunden. 122 In den Zeilen 22´–23´ beschwert er sich darüber, dass sich die Investition von 3 Talenten Silber, mit der er sich zwanzig Jahre zuvor den Zutritt zum Hof erkauft hatte, für ihn bis dato noch immer nicht amortisiert habe.

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folglich auch keine Vorsorge gegen den alû-Dämon 123 treffen können. Vor Gefahren, die seiner Person drohten, wollte Sanherib also unbedingt gewarnt werden. Auch die oben zitierte Inschrift berichtet davon, dass er sich bei der Auswahl der Bildszenen, die zum Schmuck der Tore des neuen Bīt-Akītu vorgesehen waren, nach eigens zu diesem Zweck eingeholten Orakelbefunden gerichtet hat. 124 Den unproblematischen Fällen, in denen Sanherib seinen Experten zu folgen bereit war, ist gemeinsam, dass sie keines seiner Projekte grundsätzlich in Frage stellten. Das galt auch bei der Gestaltung des neuen Bīt-Akītu, denn selbst wenn die Götter den einen oder anderen Entwurf nicht genehmigten, so wurden die Tore dann eben mit anderen, mindestens ebenso exquisiten Bildern geschmückt. Was dabei nicht vorkommt, sind Fälle, in denen Projekte Sanheribs durch negative Vorzeichen rundweg abgelehnt wurden. Genau dort lagen offenbar die Probleme, was natürlich kein Wunder war: ein König, der viel vorhat, will verständlicherweise nichts davon hören, dass etwas nicht durchführbar oder unmöglich sei. Wenn nun aber Sanherib den Wert der Vorzeichenkunde durchaus zu schätzen wusste und vor Gefahren gewarnt sein wollte, so stellt sich die Frage, warum dann seine Experten sich dazu verschworen, ihm nicht nur diese eigentlich problematischen Fälle vorzuenthalten, sondern ihm ausnahmslos ALLE ungünstigen Vorzeichen zu verschweigen, einschließlich derjenigen, die er ja (wenigstens im Nachhinein) ausdrücklich zu erfahren wünschte, weil sie ihn vor Gefahren warnten. Die Antwort kann nur lauten, dass Sanherib auf schlechte oder seinem Willen irgendwie zuwiderlaufende Nachrichten gleich welcher Art voraussehbar heftig reagierte, und zwar in einer Weise, die über rein verbale Äußerungen der Enttäuschung weit hinausgegangen sein muss. Für die betroffenen Zukunftsexperten müssen seine Reaktionen existenzbedrohend gewesen sein, denn anders erklärt sich die Wahl nicht, die sie unter den folgenden Optionen getroffen haben: 1. Weiterzumachen wie bisher, alle Ergebnisse, ob gut oder schlecht, zu melden, und im Anschluss daran auch weiterhin jedes Mal Sanheribs Wut über sich ergehen zu lassen, war eine Aussicht, die so entsetzlich gewesen sein muss, dass sie nicht (mehr) zur Debatte stand. 123

Zu dieser Krankheit siehe FRAHM, Family Matters S. 203 f. Da Bēl-ušēzib erst fünf Jahre nach dem Tod Sargons an Sanheribs Hof kam, erscheint aufgrund des zeitlichen Abstandes ein direkter Zusammenhang zwischen der von ihm berichteten Erkrankung Sanheribs und dem Ende Sargons unwahrscheinlich. Bēl-ušēzib wird wohl eher eine Anekdote aus den späteren Jahren Sanheribs zum Besten gegeben haben, die auch dem neuen König Asarhaddon noch in guter Erinnerung war. 124 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 224 Sennacherib 160 13–18.

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Den König offen anzulügen, schlechte Vorzeichen also in das umzudeuten, was er gern hören wollte, wäre gleichbedeutend mit der Selbstaufgabe des ganzen Berufsstandes gewesen. Diese Lösung war außerdem die bei weitem gefährlichste, denn wenn beispielsweise ein Astrologe schon eins aufs Dach bekam, wenn er dabei erwischt wurde, eine Beobachtung nicht rechtzeitig gemeldet zu haben, was drohte da erst demjenigen, der eines offenkundigen Betruges überführt wurde? Die dritte Möglichkeit bestand darin, Unvermögen vorzuschützen: Ja, doch, Vorzeichen gibt es, aber nein, deuten können wir sie bedauerlicherweise nicht. Tja, tut uns furchtbar leid!

Gerade weil sie auf ihrem Gebiet sehr wahrscheinlich zu den Besten ihres Faches gezählt haben, kann man nur erahnen, wie unsäglich schwer es Sanheribs Experten gefallen sein muss, die dritte Option zu wählen, die sie dazu zwang, zusammen mit ihrem Wissen die Grundlage ihrer Existenz, ja ihren Daseinszweck zu verleugnen und sich dumm stellen zu müssen. Aber ein drohender Rausschmiss wegen erwiesener Unfähigkeit war allemal ein geringeres Übel als einen Prozess wegen Hochverrats oder auch nur einen einzigen weiteren königlichen Tobsuchtsanfall zu riskieren. Kurz gesagt, diese Leute hatten Angst vor Sanherib, sie zitterten vor ihm, weil sie wussten, dass sie bestraft wurden, wenn sie dem Herrscher unerwünschte Ergebnisse lieferten, und zwar auch dann, wenn diese Ergebnisse im Zuge gewissenhafter Ausübung genau der Tätigkeit gewonnen worden waren, für die er sie doch eigentlich angestellt hatte. Bestraft wurden sie, obgleich nicht sie selbst sich etwa erfrecht hatten, den Herrscher zu kritisieren, sondern für die bloße Übermittlung des von ihnen in seinem Auftrag erforschten göttlichen Willens. Sanherib gehörte also zu jenen höchst unangenehmen Menschen, die ihren Zorn über eine unerwünschte Nachricht spontan an deren Überbringer auslassen. Wie seine Konfrontation mit Marduk zeigt, war Sanherib allerdings auch Manns genug (oder in diesem Fall: König genug), einen widerborstigen Gott seine königliche Ungnade nötigenfalls auch ganz direkt spüren zu lassen. Welche Überlebenschance hätte da ein gewöhnlicher Mensch haben sollen, auf den sich die Wut eines solchen Königs einschoss? Unumschränkte Alleinherrscher von der Art der assyrischen Könige können ihre Launen unumschränkt ausleben, ganz so, wie es ihnen beliebt. Die Art und Weise, in der ein assyrischer König den täglichen Umgang mit seinen Untertanen gestaltete, hing ausschließlich von seiner Persönlichkeit und seinem Charakter ab. Freundlichkeit, Höflichkeit und gegenseitiger Respekt bieten sich für einen Herrscher an, sie dürfen aber keinesfalls als selbstverständ-

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lich vorausgesetzt werden, 125 insbesondere dann nicht, wenn der betreffende Alleinherrscher sich selbst als ein Wesen höherer Ordnung, seine Untertanen hingegen als tief unter ihm stehende und darum letztlich verachtenswerte Kriecher betrachtet. Der bisweilen barsche, teils sogar drohende Unterton, den einige der überlieferten assyrischen Königsbriefe zu erkennen geben, lässt in dieser Hinsicht wenig Erfreuliches erahnen. Das Bild, das S. Maul von den Sitzungen assyrischer »Zukunftskommissionen« skizziert, in denen sich der König mit seinen Beratern in eine lauschige Ecke der königlichen Gartenanlagen zurückzog, um dort in angenehmer Umgebung und ungestört über politische Fragen beraten zu können, 126 ist überaus anziehend. Oder sagen wir besser: dieses Bild wäre auch aus heutiger Sicht überaus anziehend, wenn man nur sicher sein könnte, dass da nicht, ähnlich wie in Assurbanipals berühmter Gartenlaubenszene, irgendwo im Hintergrund der eine oder andere abgeschlagene Kopf von den Ästen herabbaumelte. Sollte auch Sanherib derartige Gremiensitzungen abgehalten haben, so dürften sie in seinem Falle in einer Atmosphäre der Furcht getagt haben, ab und an unterbrochen von außerordentlich unschönen Szenen. Wir werden wohl nie erfahren, welches Ausmaß an Jähzorn und möglicherweise auch an Gewalttätigkeit von Seiten Sanheribs erforderlich war, um seine Zukunftsexperten, die ja gleichermaßen Kollegen wie auch Konkurrenten um des Königs Gunst waren, in einem solchen Maße zu verängstigen, dass sie sich dazu bereitfanden, gemeinsam Unfähigkeit zu simulieren. Für die Umgebung eines Autokraten war und ist es natürlich immer ein Risiko, Meinungen zu äußern, die von der des Herrschers abweichen. Höflinge verpacken gefahrvolle Mitteilungen daher in historische Beispiele, Gleichnisse oder Fabeln, auf die sie sich berufen, um nicht als alleinige Verfechter einer Idee zu gelten, durch die sie womöglich des Königs Ungnade auf sich ziehen könnten. In dieser Hinsicht waren die Zukunftsexperten Sanheribs in einer an und für sich sehr günstigen Position, da all das, was sich da an Bedenken oder Kritik aus ihren Untersuchungen ergeben mochte, ja nicht von ihnen selbst, sondern von den Göttern stammte. Wenn Sanherib selbst über diesen Weg 125

Als Beispiel sei hier aus der Studie von RÖHL, Wilhelm II. S. 14 über den letzten deutschen Kaiser Wilhelm II. zitiert: »Selbst den preußischen Kriegsminister und den Chef des Militärkabinetts redete er mit den Worten ›Ihr alten Esel‹ an. Einer Versammlung von Admiralen rief er zu: ›Ihr wisst alle gar nichts. Nur ich weiß etwas, nur ich entscheide.‹« Derartiges war für die unmittelbar Betroffenen zwar überaus demütigend, aber doch harmlos und eher lächerlich. Wer eine Vorstellung davon gewinnen möchte, wie es am anderen Ende der Skala aussehen kann, was man also von Seiten eines vor bizarren Ängsten und chronischen Schmerzen halbwahnsinnigen Despoten an täglichem Irrsinn erwarten darf, sei beispielhaft auf NAGY, Iwan verwiesen. Sanherib ist irgendwo zwischen diesen beiden Extremen einzuordnen. 126 MAUL, Wahrsagekunst S. 301 ff.

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unzugänglich war, so hat er seine Entscheidungen in der Tat sehr einsam getroffen. Mit der Vermutung, dass Sanherib ein König war, dem man schlechte Nachrichten und Warnungen aus Furcht vorenthielt, lässt sich zumindest ein Teil der Misere erklären, die im Jahre 694 begann. Der assyrische Nachrichtendienst, für den Sanherib in seiner Zeit als Kronprinz tätig gewesen war, wird vermutlich auch in seiner Regierungszeit nicht völlig blind gewesen sein, er wird wie ehedem Hinweise über die Situation in Babylonien gesammelt und in Berichten zusammengestellt haben, ganz so, wie es einst auch der Kronprinz Sanherib für seinen Vater Sargon getan hatte. Wenn nun also der König Sanherib ahnungslos blieb, so wohl deshalb, weil man es entweder nicht wagte, ihn über die tatsächlichen Verhältnisse zu informieren, über die im Süden vorhandene Bereitschaft zum Aufstand und über das Versagen seines dort als König eingesetzten ältesten Sohnes, oder weil er die entsprechenden Berichte ganz einfach nicht zur Kenntnis nahm. Und offenbar war es gesünder, auch anderes besser unerörtert zu lassen, und ihn etwa zum Thema möglicher Gefahren des winterlichen Gebirges seine ganz eigenen Erfahrungen sammeln zu lassen. Für eigensinnige Alleinherrscher vom Schlage Sanheribs hält das Leben viele Überraschungen bereit. Doch die wenigsten davon sind angenehmer Natur. Gerade diese Grenzen seiner Möglichkeiten, die hier aufscheinen, seine Ecken und Kanten, die schwierigen Züge Sanherib sind es, die ihn so interessant machen, und sei es auch nur, weil er zu den ganz wenigen Königen des Alten Orients gehört, deren Hinterlassenschaften persönliche Eigenschaften wenigstens erahnen lassen. Das hier gezeichnete Bild von Sanherib ist insgesamt wenig sympathisch: Er selbst hat großen Wert daraufgelegt, seine Begabungen, seine künstlerischen und technologischen Interessen und die Versuche oder Verbesserungen, die er auf diesen Gebieten unternahm, der Nachwelt mitzuteilen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es allerdings bloße Nebensächlichkeiten waren, in denen er da brillierte, denn auf Assyriens Thron war weder ein Ingenieur noch ein Künstler oder Gelehrter gefragt. Sanheribs Aufgabe als König hätte darin bestanden, begabte Ingenieure, Künstler und Gelehrte an sich zu ziehen und zu fördern, sie in der Weise einzusetzen, dass sie das meiste bewirken konnten. Für einen König war es unnötig, ja kontraproduktiv, sich selbst in derlei Rollen zu betätigen, zumal Sanherib oftmals eher dilettiert zu haben scheint und mindestens auf einigen Gebieten, wie etwa (im Rahmen der Bestrafung Marduks) auf dem der Theologie, sich selbst und seine Möglichkeiten bei weitem überschätzt hat. Gerade in den beiden Bereichen des Politischen und des Militärischen, die für einen König entscheidend waren, zeigte Sanherib eine ganze Reihe persönlicher Schwächen, die seine Ziele und Visionen weitestgehend zunichtege-

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macht oder, wie im Falle Babyloniens, gar ins furchtbare Gegenteil verkehrt haben. Ausgestattet mit dem Katastrophenpotential des Hochbegabten, 127 hat er ohne Rücksicht auf allseits bekannte Realitäten die Durchführung verlustreicher militärischer Experimente erzwungen. Unheilvoll verstärkt wurde dies durch eine Tendenz zur Eindimensionalität, die ihn daran hinderte, seine Pläne in mehrere Richtungen konsequent zu durchdenken. So hat er den Bau seiner Flotte offenbar bis ins Detail durchgeplant, dabei jedoch nicht einen einzigen Gedanken an die Verhältnisse im Einsatzgebiet verschwendet. Das Resultat waren gut funktionierende Schiffe – auf denen er sich mit seinen Leuten zusammendrängen musste, als ihn die sträflich ignorierte örtliche Realität mit einem ganz und gar banalen Gezeitenwechsel überraschte. Hinzu kam eine Neigung zur Sprunghaftigkeit, denn Sanherib scheint zu jenem Menschentyp gehört zu haben, der sich gerne als Initiator großer Projekte feiern lässt, jedoch das Interesse an diesen verliert, sobald sie erst einmal auf den Weg gebracht sind, mit der Folge, dass die notwendige Effektivitätskontrolle unterbleibt. Im Jahre 700 etwa scheint er den bloßen Akt der Einsetzung seines Sohnes als König in Babylon schon mit der Lösung der babylonischen Probleme an sich verwechselt zu haben. Hätte Sanherib auch nur mit einem Minimum an Aufmerksamkeit den anschließenden Werdegang seines Sohnes mitverfolgt, so wäre er wohl kaum derart vollständig überrascht worden, als dessen komplettes Versagen schließlich im Herbst 694 zutage trat. 128 2.4 Sanherib und seine Söhne

Der oben zitierte Brief des Bēl-ušēzib bescheinigt Sanherib ein gewisses Maß an Einsicht mit der Feststellung, dass der König schließlich doch darauf bestanden habe, über ausnahmslos sämtliche (und auch die schlechten) Vorzeichen informiert zu werden. Der Nachsatz allerdings, dass nämlich der nunmehr wieder auf dem aktuellen Stand der Dinge gehaltene Sanherib daraufhin am Leben geblieben sei und seine Königsherrschaft (auch weiterhin) habe ausüben können, 129 wirkt mindestens befremdlich, wenn nicht unfreiwillig komisch, denn Sanherib war ja, als diese Zeilen niedergeschrieben wurden, vor kurzem erst ermordet worden! Damit aber waren die Begebenheiten, die Bēl127

FRIEBE / GÜRTLER, Clusterfuck S. 153 ff. In der dort auf S. 155 oben gebotenen Beschreibung eines »Maverick« sind etliche Verhaltensweisen Sanheribs wiedererkennbar. 128 Sanherib hat in diesem Fall recht genau das an den Tag gelegt, was man als »ballistisches Verhalten« bezeichnet, siehe DÖRNER, Logik des Misslingens S. 267–269. 129 Siehe oben die Übersetzung zu SAA 10 Nr. 109 r.10.

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ušēzib schilderte, an sich gerade kein Argument, das für den praktischen Nutzen der damals betriebenen Zukunftsforschung sprach: Was nützte es denn, wenn das nunmehr wieder komplett in Anspruch genommene RundumSorglos-Paket erstklassiger prognosetechnischer Vollzeitbetreuung zwar vor so etwas wie dem alû-Dämon warnte (mit dem Sanherib an sich ja auch ohne entsprechenden Hinweis fertig geworden war), es dafür aber etwas ungleich gefährlicheres wie die drohende Ermordung nicht anzeigte! Der hier aufscheinende Widerspruch bestand allerdings nur dann, wenn Sanherib von Seiten seiner Zukunftsexperten auch tatsächlich keinerlei Warnung hinsichtlich der Aktivitäten seiner Söhne erhalten haben sollte. Es ist aber durchaus möglich, dass man (auch) auf diesem Wege versucht hat, dem König einen entsprechenden Hinweis zukommen zu lassen, deutet doch die einzige konkrete Warnung vor dem Attentat, die überliefert ist, darauf hin, dass zumindest in der Endphase der Attentatsvorbereitung sogar die Anzahl der bloß zufälligen Mitwisser überraschend groß gewesen sein muss. Diese in einem Brief überlieferte Warnung, oder besser: der Versuch einer solchen Warnung kam allerdings nicht aus der professionellen Zukunftsbranche: SAA 18 Nr. 100: […] … […] unsere Brüder, Babylonier [… Šulm]uaḫḫē im Haus (des) […] Sobald sie von der Übereinkunft zur Verschwörung des/gegen […] hörten, hat einer [von ihnen] vor dem Mord um eine Audienz beim König [ersucht]. Als Nabû-šumu-iškun und Ṣil[lāia]/ Ṣil-[GN] kamen, fragten sie [ihn]: »Worum geht es denn bei Deiner Audienz beim König?« Er (daraufhin): »Um Arda-[Mullissu!]« Da verhüllten sie sein Gesicht mit seinem Mantel und stellten ihn vor Arda-[Mullissu]: »So, [Dein Wunsch] wurde gewährt! Du kannst jetzt sprechen!« Da sagte er: »Dein Sohn Arda-[Mullissu] wird Dich umbringen!« Nachdem sie [sein] Gesicht enthüllt hatten (und) Arda-[Mullissu] ihn verhört hatte, töteten sie ihn und seine Brüder. Als […die (folgenden)] vier Männer, (nämlich) Ṣuḫru, Ṭābīja, …[… und …, all das dem] Nabû-aḫu-ēreš [erzählten], hat der es [nicht] geglaubt. Soll er doch Angehörige vom Haushalt des Ar[da-Mullissu] fragen! Bis [jetzt] haben sie (zwar) schöne Versprechungen über […] bekommen, doch als sie an den König [meinen/unseren] Herrn schrieben, [……] 130

Bēl-ušēzib war somit beileibe nicht der einzige, der nach Sanheribs Ende von Asarhaddons Thronbesteigung profitieren wollte und sich zu diesem Zweck als loyaler Anhänger des neuen Königs, als Mann der ersten Stunde empfahl. Hier nun war eine ganze Verwandtschaftsgruppe am Werk, 131 die den zitierten Brief 130 REYNOLDS, Correspondence S. 82 Nr. 100. 131

Wie Bēl-ušēzib stammten auch diese Leute aus Babylon.

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hat aufsetzen lassen, nachdem sich zuvor bereits vier ihrer Mitglieder erfolglos an einen gewissen Nabû-aḫu-ēreš gewandt hatten. Dieser war offenbar ein Hofbeamter Asarhaddons, der für die Prüfung von derlei Bittgesuchen und Eingaben zuständig war. 132 Nabû-aḫu-ēreš hatte allen Grund zur Skepsis, denn offenkundig gab es niemanden, der die Geschichte, die ihm da aufgetischt wurde, aus eigenem Erleben hätte bestätigen können: Der Informant selbst war ja mitsamt seinen Brüdern ermordet worden, Arda-Mullissu befand sich im Exil, und seine Komplizen Nabû-šumu-iškun und Ṣil[lāia] waren sicherlich ebenfalls geflohen oder aber Asarhaddons erster Säuberungswelle zum Opfer gefallen. Wenn sie hier namentlich identifiziert werden, so gehörten diese beiden wohl zu den weithin bekanntesten Komplizen der Königsmörder. Der Hinweis, man möchte doch Angehörige von Arda-Mullissus Haushalt befragen, bestätigt nicht nur, dass die Bittsteller tatsächlich keinen Augenzeugen ins Feld führen konnten, er war darüber hinaus auch vollkommen nutzlos. Wenn Asarhaddon schon die Soldaten, die auf Seiten seiner Brüder gekämpft hatten, mitsamt ihren Nachkommen hat förmlich ausrotten lassen, 133 so wird er nicht ausgerechnet die Bediensteten seiner Brüder verschont haben, die denselben ganz besonders nahe standen und mehr als jeder andere Personenkreis der Mittäterschaft verdächtig waren. Was Nabû-aḫu-ēreš zu hören bekam und der Brief überliefert, war also lediglich eine Rekonstruktion der Ereignisse, die sich die Verwandten der Opfer auf der Grundlage bloßer Mutmaßungen zusammengereimt hatten: Demnach waren es gleich mehrere ihrer Leute gewesen, die irgendwie vom geplanten Königsmord erfahren hatten. Einer von diesen hatte anschließend versucht, den König persönlich zu warnen, war dabei aber genau an die falschen Personen geraten und hatte sich ahnungslos dem Hauptverschwörer selbst offenbart. Dies hatte eine gewiss hochnotpeinliche Befragung des Unglücklichen und anschließend sowohl dessen Ermordung wie auch die Beseitigung mehrerer seiner Brüder zur Folge gehabt. Und jetzt, nach dem politischen Umsturz, hofften die Hinterbliebenen auf eine Belohnung für den Versuch ihrer Familie, den Königsmord zu verhindern, oder wenigstens auf eine Entschädigung für die tragischen Verluste, die sie im Zuge dieses missglückten Versuches erlitten hatten. Der bedauernswerte Whistleblower kann kein Insider des Hofes gewesen sein, denn sonst wäre er nicht direkten Weges zwei engen Gefolgsleuten des Arda-Mullissu in die Arme gelaufen. Wenn aber ein solcher Außenseiter schon 132

Gegen BAKER, Prosopography S. 798 sub Nabû-aḫu-ēreš 2 kann er unmöglich zu den Verschwörern gehört haben. 133 LEICHTY, Royal Inscriptions S. 14 Esarhaddon 1 i, 8–11.

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um die Verschwörung wusste, so musste dieses Wissen bereits gefährlich weite Kreise gezogen haben. Hinzu kam, dass dieser Unglücksrabe ja nur einer von mehreren Brüdern und sonstigen Verwandten war, die allesamt Kenntnis von der Sache hatten. Arda-Mullissu hat sich zwar redlich bemüht, neben dem Denunzianten selbst auch dessen übrige Mitwisser zu beseitigen, doch wie die bloße Existenz des Briefes beweist, ist ihm das nicht vollständig gelungen: Zur Zeit Asarhaddons waren ja immer noch Verwandte der Ermordeten am Leben, die vom Versuch, den König zu warnen, berichten konnten. Auch sie müssen von den Plänen des Arda-Mullissu gewusst haben, sind seinen Nachstellungen aber entkommen. Der Personenkreis, der nicht zum inneren Kreis der Macht gehörte und dennoch vom geplanten Königsmord Wind bekommen hatte, scheint also recht umfangreich gewesen zu sein, was zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Verschwörer im Hinblick auf die doch absolut überlebenswichtige Geheimhaltung ihres Vorhabens eine erstaunliche Sorglosigkeit, ja Schlampigkeit, oder schlicht Unfähigkeit an den Tag gelegt haben. Das hätte eigentlich zur vorzeitigen Entdeckung des Planes und zur Verhaftung der Verschwörer führen müssen. Wenn Sanherib dem wohl recht dilettantisch ins Werk gesetzten Attentat seiner Söhne dennoch zum Opfer fiel, dann dürfen wir nach den Eindrücken, die wir inzwischen von den Eigenarten dieses Königs gewonnen haben, auch hier zumindest mutmaßen, dass die Ursachen wieder einmal bei ihm selbst zu suchen waren. Gleich mehrere Eigenschaften Sanheribs, von denen uns einige schon bestens bekannt sind, könnten sich bei dieser Gelegenheit für ihn tödlich ausgewirkt haben: So wäre es keineswegs verwunderlich, wenn Sanherib entsprechende Versuche, ihn auf welchem Wege auch immer zu warnen, schlicht ignoriert oder nicht ernst genommen hätte. Gut möglich, dass er wieder einmal alles besser gewusst hat, ganz so wie damals, anno ’94, bei der Auswahl des Lagerplatzes bei Bāb-salimēti. Eine entscheidende Rolle spielte sicher auch sein ganz spezielles, extrem gestörtes Verhältnis zu seinen Söhnen. Wenn die gängigen Interpretationen stimmen, so ist Arda-Mullissu viele Jahre lang Sanheribs Kronprinz gewesen, bis er 683 durch seinen jüngeren Bruder Asarhaddon ersetzt wurde. Mit diesem jedoch kam es noch weit schneller zum Zerwürfnis, denn schon 681 war er, zum großen Jammer seiner Mutter Naqia, auf der Flucht bzw. untergetaucht, 134 während in Ninive der Kampf zwischen seinen Brüdern jetzt erst so richtig in Schwung kam und das Nachfolgekarussell sich weiterdrehte. 135 Wer 134 Siehe PARPOLA, Assyrian Prophecies 9 sub 1.8. 135

LEICHTY, Royal Inscriptions S. 12 Esarhaddon 1 i, 32–44. Die auf diesem Text beruhende Annahme, dass (der gute) Asarhaddon sich vor seinen (ach so bösen) Brüdern versteckt haben

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Asarhaddons Nachfolger und damit Sanheribs (vielleicht) letzter Kronprinz war, ist unbekannt. 136 Und neben Arda-Mullissu und Asarhaddon hatte sich Sanherib noch mindestens einen weiteren Sohn zum Todfeind gemacht, nämlich den Komplizen des Arda-Mullissu, jenen bislang unidentifizierten »Sarezer« bzw. (X-)šarru-uṣur, von dem bislang nur das Alte Testament berichtet. Man muss sich vor Augen führen, dass Sanherib diesen Arda-mullissu erst jahrelang der gesamten Welt als den zukünftigen König präsentiert hatte, bevor er ihn aus dieser einzigartigen, hohen Stellung jäh herabgestürzt und dazu degradiert hatte, für den Rest seines Lebens gemeinsam mit seinen übrigen Geschwistern vor einem seiner Brüder zu kriechen, der eben noch selbst vor ihm hatte buckeln müssen. Dass er seinen Vater brennend hasste, ist angesichts dessen nur allzu verständlich, nicht aber, dass Sanherib seinen entsetzlich gedemütigten Sohn nach wie vor sogar in seiner unmittelbaren Nähe duldete. Arda-Mullissu muss ein Meister in der Kunst der Verstellung gewesen sein und Sanherib absolut unfähig, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen. Für ihn als den König schien das zugegebenermaßen auch nur selten nötig, da es ihm im Normalfall herzlich gleichgültig sein konnte, was seine Untertanen fühlten, dachten oder wünschten, solange sie nur seinen Befehlen gehorchten. Und offenbar hielt es Sanherib mit seinen Söhnen ganz genauso, denn gerade im Zusammenhang mit ihnen unterliefen ihm besonders tragische Fehleinschätzungen, die sich in zwei Fällen am Ende als tödlich erweisen sollten. So hat er die Fähigkeiten des Aššur-nādin-šumi zu dessen Schaden bei weitem überschätzt, Asarhaddon überhaupt nicht verstanden, und die Gefährlichkeit des Arda-Mullissu bei weitem unterschätzt bzw. ihn nicht ernst genommen – zu seinem eigenen Schaden. Unter all seinen Nachkommen waren das gerade die drei, an denen er schon deshalb ein Mindestmaß an Interesse gezeigt haben muss, weil er in jedem von ihnen irgendwann einmal wenigstens soll, dass es womöglich Sanherib selbst gewesen sei, der ihn irgendwo in der Provinz in Sicherheit gebracht habe, um ihn vor seinen bösen Brüdern zu schützen (so auch FRAHM, SanheribInschriften S. 18), erscheint mir unsinnig. Wenn sich der König und der Kronprinz einig gewesen wären, hätte gegen diese übermächtige Verbindung niemand etwas ausrichten können, dann hätte Arda-Mullissu untertauchen müssen und nicht Asarhaddon! Wenn stattdessen Asarhaddon auf der Flucht war, dann deshalb, weil er sich vor Sanherib gefürchtet hat. Asarhaddons spätere offizielle Erzählung über seinen dornenreichen Weg zum Thron ist nicht vertrauenswürdig, da sie ausschließlich das Ziel verfolgt, ihn als den designierten und damit einzig legitimen Thronfolger seines Vaters darzustellen. Im Mittelpunkt stehen daher Asarhaddons Erwählung zum Kronprinzen und die militärische Durchsetzung seines Anspruches, davon abgesehen wird das gesamte übrige Geschehen systematisch vernebelt. 136 Die Verfasser von Asarhaddons Rechtfertigungsschrift konnten selbstverständlich nicht das mindeste Interesse daran haben, die Ersetzung Asarhaddons als Kronprinz durch einen anderen Sohn Sanheribs auch nur anzudeuten, denn es war ja der letzte offizielle Kronprinz, der den besten Anspruch auf den Thron besaß – und dass musste unter allen Umständen Asarhaddon sein!

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eine Zeit lang seinen potentiellen Nachfolger gesehen hat. Wenn er sich aber schon in diesen dreien so sehr täuschen konnte, dann hat er sehr wahrscheinlich kein einziges seiner zahlreichen Kinder wirklich gekannt. 137 Aus dem zuletzt zitierten Brief ist ersichtlich, dass es Arda-Mullissu gelungen ist, seine Mitverschworenen im engeren Umfeld seines Vaters so zu platzieren, dass sie in der Lage waren, Nachrichten rechtzeitig abfangen zu können, die den Erfolg seiner Verschwörung gefährdeten. Auch die Zukunftsexperten des Königs wird er da sicher nicht vergessen haben. Sanheribs Tendenz, die Menschen in seiner Umgebung abzuschrecken oder einzuschüchtern, dürfte diesem Bestreben seines Sohnes, ihn von der Außenwelt zu isolieren, direkt in die Hände gespielt haben. Nicht wenige Höflinge werden vermutlich sogar dankbar gewesen sein, den unmittelbaren Kontakt mit dem schwierigen alten König dessen Sohn überlassen zu können, der sich hierzu in scheinbar selbstloser Weise anbot. Wenn jener Nabû-šumu-iškun, der im gleichen Brief als einer der beiden Komplizen des Arda-Mullissu begegnet, tatsächlich Sanheribs eigener Streitwagenfahrer gewesen sein sollte, 138 dann war dieser König ganz am Ende seines Lebens sehr einsam und hat sich nicht einmal mehr auf die Loyalität seiner engsten und vertrautesten Diener verlassen können. In der letzten Phase, im Jahre 681, hatte Sanherib schon zweimal den Kronprinzen gewechselt und niemand konnte wissen, zu wie vielen weiteren Wechseln es noch kommen würde. Mit dem Kronprinzenkarussell, dass er so in Gang gesetzt hatte, erreichte Sanherib vor allem eines, dass nämlich im gesamten assyrischen Reich niemand so dringend seinen baldigen Tod herbeisehnte wie gerade die beiden Menschen, die ihm eigentlich am nächsten hätten stehen müssen: Seine Gemahlin, die Mutter des Kronprinzen, konnte es nur dann zur heiß begehrten, unangreifbaren Stellung der Königinmutter bringen, und ihr Sohn, der momentane Kronprinz, konnte nur dann erfolgreich erben, wenn der wankelmütige, unberechenbare König rechtzeitig starb, bevor eine weitere seiner Launen zu einem neuerlichen Wechsel führte, der dann womöglich einen Sohn begünstigte, den er mit einer anderen seiner Frauen hatte. Der Gedanke, dem Schicksal ein wenig auf die Beine zu helfen, war angesichts dessen durchaus naheliegend, doch musste ein offener Königsmord den schö137

Wer möchte, kann darin ein frühes Beispiel für das sehen, was wir heute als »Wohlstandsverwahrlosung« bezeichnen. Gemeint ist das Phänomen, dass bisweilen Kinder reicher Familien zwar mit rein materiellen Zuwendungen geradezu überschüttet, emotional jedoch vernachlässigt werden. Dass auch Sanherib es seinen Nachkommen zumindest in materieller Hinsicht an nichts hat fehlen lassen, belegen möglicherweise die »Häuser«, die er für mindestens zwei seiner Söhne in Assur hat bauen lassen, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 285 f. Sennacherib 205 und Sennacherib 206. 138 PARPOLA, Murderer S. 177 Anm. 17. So auch BAKER, Prosopography S. 888 sub 6.

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nen Legitimitätsvorsprung, den der designierte Thronfolger besaß, unweigerlich zunichtemachen. Wäre Sanherib also von seinem letzten Kronprinzen (wer immer es auch war), ermordet worden, so hätte dieser zur lethalen Verabschiedung seines Vaters sicherlich eine der eher stillen, unauffälligen Methoden gewählt, etwa die Verabreichung eines bewährten Giftes oder das Ersticken mit einem Kissen. In diesem Fall hätten die damalige Welt und auch wir von der Ermordung Sanheribs nie auch nur das geringste erfahren. Das, was Arda-Mullissu dann vermutlich tat, seinem Vater in einem Torweg aufzulauern, um ihn dort bar jeglicher Raffinesse ganz einfach tot zu prügeln, 139 war etwas ganz Anderes. Das war die Tat eines Verbitterten, der längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, auf legalem Wege zum Ziel zu kommen und infolgedessen auf die Wahrung des schönen Scheins keinerlei Gedanken mehr verschwendete. Aussicht auf Erfolg hatte Arda-Mullissu dennoch; schon deshalb, weil er der Sohn eines Königs war und damit die einzige Voraussetzung für die Besteigung des assyrischen Thrones erfüllte, die wirklich unverzichtbar war. Ansonsten konnte man improvisieren. Arda-Mullissus Großvater Sargon und sein Urgroßvater Tiglatpileser hatten es ja beide vorgemacht, dass man sehr wohl den Thron gewaltsam an sich reißen und anschließend durchaus erfolgreich und glücklich bis ans Ende seiner Tage regieren konnte. Am Ende wird Sanherib also wahrscheinlich einer verhängnisvollen Kombination seiner Beratungsresistenz, seines bestenfalls rudimentär vorhandenen Einfühlungsvermögens und seiner vielfach abweisenden, in die Isolation führenden Wesensart zum Opfer gefallen sein. Es sind dieselben Defizite, die ihm auch schon zuvor im Wege gestanden haben. Seine härtesten Kriege scheint Sanherib nicht gegen die äußeren Feinde seines Reiches, sondern vielmehr in seinem engeren Umfeld, gegen seine eigenen Berater und gegen seine eigenen Söhne geführt zu haben. 2.5 Sanherib und Sargon

Sanheribs Vater Sargon war da anders gewesen. Auch er war nicht wirklich »nett«, 140 ganz im Gegenteil: von seiner Rücksichtslosigkeit und Heimtücke hätte sein Bruder Salmanassar ein Liedlein singen können – wenn ihm dazu 139

So nach FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 19 zu BORGER, Inschriftenwerk S. 44 und 235 A IV 70–75. 140 Die Chancen eines ausschließlich »netten« Königs, auf dem assyrischen Thron auch nur das erste Regierungsjahr lebend zu überstehen, hätten sehr wahrscheinlich bei etwa null Prozent gelegen.

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noch die Gelegenheit vergönnt gewesen wäre, denn anders als Sanherib hatte Sargon den Thron nicht geerbt sondern erobert. Das aber hätte er nie erreichen können, wenn er nicht in hohem Maße in der Lage gewesen wäre, Menschen für sich zu gewinnen und an sich zu binden. In der Tat besaß Sargon etwa in seinem Bruder Sîn-aḫu-uṣur einen ausgesprochen loyalen, fähigen und sehr engen Vertrauten, der mit ihm durch Dick und Dünn ging, und auf den er sich in jeder Situation verlassen konnte. 141 Sargon wusste das sehr wohl zu schätzen und hat seinen Bruder mit Ämtern und Würden geradezu überhäuft. Sanherib hatte es nicht zuletzt auch seinem Onkel Sîn-aḫu-uṣur zu verdanken, dass sich seine Thronbesteigung derart reibungslos gestaltete, insofern nämlich, als dieser sich nach dem plötzlichen Tod seines Bruders auch seinem Neffen gegenüber loyal verhielt, seine machtvolle Position eben nicht dazu ausnutzte, um nun seinerseits nach dem Thron zu streben. 142 Aus der Zeit Sanheribs ist bislang keine Person bekannt, die mit ihm in vergleichbarer Weise verbunden gewesen wäre oder ihm ähnlich nahegestanden hätte. Seinen Inschriften zufolge erhoffte Sargon vom Leben nichts weiter, als einfach nur uralt und stinkreich zu werden, die Schatzbildung war fester Bestandteil seines Programms und gerade sein Lieblingsprojekt Dūr-Šarru-ukīn nahm, neben vielen anderen Funktionen, die es ausfüllte, gewissermaßen auch den Dagobert-Duck’schen Geldspeicher vorweg. 143 Im Gegensatz dazu spielt in Sanheribs Inschriften das Anhäufen von Schätzen keine Rolle und selbst Beuteund Tributaufzählungen sind mit nur einer Ausnahme von moderater Länge. 144 Die Beute aus dem 689 eroberten Babylon hat Sanherib sogar ausdrücklich an seine Leute verteilen lassen – er selbst wollte aus der ihm zutiefst ver-

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Es ist das große Verdienst von Natalie N. May, die Bedeutung dieser Gestalt erkannt zu haben, siehe zuletzt MAY, Vizier. 142 Mit der Neubesetzung der wichtigsten Positionen des Herrschaftsapparates durch Kandidaten seiner Wahl folgte Sanherib der üblichen Praxis, siehe FUCHS, Turtān S. 68 f. Daraus, dass Sînaḫu-uṣur nach dem Tod Sargons, den er um viele Jahre überlebt hat, keine herausragende Rolle mehr gespielt hat, ist Sanherib somit kein Vorwurf zu machen. 143 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 130 f. und 325 Ann.232–234, sowie 81 und 312 XIV, 75–82 bzw. 187 f. und 341 f. Ann.456–463. Zuvor schon hatte Sargon seinen Anteil an der Beute aus Karkemiš in dem von ihm renovierten Palast in Kalḫu eingelagert, siehe WINCKLER, Keilschrifttexte Band I S. 176 und Band II t.48, Zeilen 21–22. Siehe auch die minutiösen Aufzählungen der Beute aus Muṣaṣir, siehe MAYER, Assyrien und Urartu S. 132 ff. 351 ff. und FUCHS, Annalen S. 31 ff. und 60 ff. IV.b–d,10 bis V.a,Ass.12. 144 So wirkt selbst die Beschreibung der 704 in Babylon gemachten Beute recht unauffällig, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 1 30–33. Die Ausnahme bildet die ausführliche Aufzählung der Geschenke, die Sanherib 701 aus Juda empfangen hat (siehe etwa Sennacherib 4 56–58). Diese Liste diente jedoch nicht in erster Linie dazu, den Reichtum des Königs herauszustellen, sie erfüllte innerhalb des Textes vielmehr die Funktion, den Leser vom Misserfolg der gescheiterten Belagerung Jerusalems abzulenken.

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hassten Stadt nichts, aber auch rein gar nichts haben! 145 Man kann diesem König also manches nachsagen, aber ganz bestimmt nicht, dass er ein habgieriger Geizkragen gewesen wäre. Beide, Sanherib wie Sargon, haben nach Einzigartigkeit gestrebt, doch während der Sohn hierbei neue Wege gesucht hat, war sein Vater damit zufrieden gewesen, unter Beibehaltung der bestehenden Konventionen und Formen lediglich die Dimensionen zu sprengen. So hat es Sargon, anders als seinen Sohn, nicht im mindesten gestört, dass beispielsweise die Stierkolosse, mit denen er zahlreiche Bauten in Dūr-Šarru-ukīn verzieren ließ, insgesamt fünf Beine aufwiesen, wenn man sie schräg ansah. Hauptsache, es kam unter dem Strich ein Egal-gabari-nutukua dabei heraus, etwas, dass größer und protziger war als alles bisher Dagewesene. Die Ursache für Sanheribs sichtlich gestörtes Verhältnis zu seinem Vater dürfte in der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der beiden Charaktere zu vermuten sein. Der eher bodenständige, hauptsächlich von »gesundem« Erwerbssinn geprägte Sargon war wohl nur bedingt willens oder in der Lage, dem Eigensinn seines ungleich fantasiebegabteren Sohnes mit Verständnis zu begegnen, und er mag sich bemüßigt gefühlt haben, seinen Nachfolger und Haupterben in spe wenigstens ab und zu wieder zu dem zurückzuholen, was er selbst als den Boden der Tatsachen betrachtete. Der solcherart Zurechtgewiesene hatte als Kronprinz gar keine andere Wahl, als die väterlichen Ermahnungen und Ratschläge hinzunehmen, so lästig sie ihm auch fielen. Sobald er aber erst einmal König war und in einsamer Höhe über all diesen kleinlichen, einfallslosen Bedenkenträgern thronte, die ihn auf allen Seiten umgaben, dann, ja dann würde er sich nichts mehr bieten lassen, was auch nur entfernt an solche und ähnliche Maßregelungen erinnerte. Niemals mehr und von niemandem! Ein auffälliger Gegensatz zwischen Sanherib und seinem Vater bestand bekanntermaßen in ihrem Verhältnis zu Babylon und den babylonischen Göttern. Er wird unter anderem in jenem Text thematisiert, für den sich mittlerweile der Titel »The Sin of Sargon« durchgesetzt hat, der aber eher für die Zeit Asarhaddons als die Sargons oder Sanheribs einschlägig ist. Auch wenn sich in dieser Hinsicht der Gegensatz zwischen Asarhaddon und Sanherib sehr viel krasser ausnimmt als der zwischen Sanherib und Sargon, so werden die unterschiedlichen Positionen auch der beiden letzteren Könige in deren Inschriften deutlich. Sargon zählte Marduk zu seinen göttlichen Helfern auch schon in den Jahren, in denen in Babylon noch sein Erzfeind Marduk-apla-iddina regierte, in seinem »Gottesbrief« aus dem Jahre 714 begegnet Marduk bzw. Bēl in dieser Rolle nicht weniger als zwölf Mal. 146 Sargons spezielles Faible erreichte seinen 145 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 Sennacherib 223 47–48. 146

MAYER, Assyrien und Urartu S. 145.

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Höhepunkt mit der Wiedereroberung Babyloniens im Jahre 710, wo er sich in seiner neuen Rolle auch als Herrscher Babylons geradezu sonnte und sich sogleich bemühte, diese in wirklich jeder nur denkbaren Weise auszufüllen. 147 Er ist in Babylon dann auch sehr viel länger geblieben, als es notwendig gewesen wäre, denn obgleich die eigentlichen Kampfhandlungen schon 709 zum Abschluss kamen und Sargon sich um die anschließende Schleifung von DūrJakin noch nicht einmal selbst kümmerte, weil er sie seinem Bruder Sîn-aḫuuṣur überließ, 148 kehrte er dennoch erst 707 nach Assyrien zurück. 149 Seine gesteigerte Sympathie für babylonische Götter schlug sich selbst in Dūr-Šarruukīn nieder, wo der ursprüngliche Plan der Anlage verändert wurde, um nachträglich einen Tempel für Nabû einzufügen, der durch seine Größe alle übrigen Heiligtümer Dūr-Šarru-ukīns weit in den Schatten stellte. 150 Sanherib, der die Jahre von 710 bis 707 daheim in Assyrien verbrachte, vermochte den Enthusiasmus seines Vaters in keiner Weise nachzuvollziehen. Lässt man die Texte außer Acht, die erst nach 694 und damit im Zuge jener tragischen Ereignisse in Babylonien entstanden sind, die in nur allzu verständlicher Weise den besonderen Hass des Königs hervorriefen, so war Sanheribs Verhältnis zu Babylon und dessen Göttern bereits von Beginn seiner Herrschaft an ausgesprochen reserviert. In seinen frühen Inschriften erscheinen Bēl bzw. Marduk und Nabû niemals unter den Göttern, die ihn unterstützten, 151 und anders als seine drei Vorgänger hat er die prestigeträchtige Rolle eines Herrschers von Babylon für sich selbst abgelehnt und stets andere eingesetzt. Mit diesem Verhalten muss Sanherib auf die Babylonier, die ja erst kurz zuvor den ungewöhnlich begeisterungsfähigen Sargon in ihren Mauern erlebt hatten, wie eine eiskalte Dusche gewirkt haben. Wenigstens seinen ältesten Sohn als König von Babylon einzusetzen war das äußerste Entgegenkommen, zu dem sich Sanherib schließlich bereitfinden konnte, doch war auch diese Besetzung aus babylonischer Sicht eben nur die zweite Wahl, sodass die empfundene Herabsetzung eine lediglich bedingte Genugtuung erfuhr. Der Leidtragende war Aššur-nādin-šumi, für den dies alles wenig hilfreich war, und der auch nicht das Format etwa eines Šamaš-šum-ukīn besaß, das es ihm ermöglicht

147 Siehe hierzu insbesondere FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 154–159 bzw. 332 Ann.311–330. 148 MAY, Vizier S. 507 sub 5. 149 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 382. 150 FUCHS, Inschriften Sargons II. S. 376. 151

Eine mögliche Ausnahme bildet GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 37 Obv.10. Erstaunlicherweise ließ Sanherib Bēl und Nabû sehr viel später ausgerechnet im Zusammenhang mit der Schilderung der Schlacht von Ḫalulē unter seinen göttlichen Helfern nennen, siehe GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 Sennacherib 18 v, 6´, Sennacherib 22 v, 63 und Sennacherib 23 v, 53.

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hätte, aus dem höchst problematischen Schatten seines Vaters herauszutreten und seiner Herrschaft eigene, positive Konturen zu verleihen. 2.6 Schlussbemerkungen

Im Gegensatz zu Sargon hatte Sanherib keine Probleme, den Thron zu erlangen, was für ihn selbst ein großes, für die assyrischen Könige des 7. und 6. Jhs. insgesamt ein seltenes Glück war. 152 Thronkämpfe und Intrigen unter den Königssöhnen waren jedoch Hürden, die das System vor ungeeigneten Throninhabern auf eine wenn auch zugegebenermaßen unvollkommene Weise und zu einem furchtbaren Preis dadurch schützten, dass sie Kandidaten begünstigten, die bereits im Vorfeld die Fähigkeit zur Kooperation mit der Elite, zur Bildung expansionsfähiger Loyalitätskerne 153 und zu realitätsnaher Situationsanalyse, sowie Menschenkenntnis, Entschlusskraft, Durchsetzungsfähigkeit, Vorsicht und Verschlagenheit bewiesen. Von allen diesen Eigenschaften und Fähigkeiten waren es Entschlusskraft und Durchsetzungsfähigkeit, die Sanherib in überreichem Maße besaß, doch angesichts dessen, was er da bisweilen durchgesetzt hat, wirkten sich gerade diese beiden Fähigkeiten keineswegs nur zum Vorteil seines Reiches aus, denn in Sanherib offenbart sich eine grundsätzliche Schwäche des assyrischen Herrschaftssystems: Mochten dem König auch noch so viele Berater, Experten, Zukunftsdeuter etc. etc. zur Seite stehen, so konnte ihn nichts und niemand dazu zwingen, den Ratschlägen dieser Leute auch zu folgen oder ihnen auch nur zuzuhören. Selbst wenn er sich dagegen entschied, dies zu tun, so war und blieb er die höchste und damit auch die letzte und alleinige Entscheidungsinstanz. Korrektive gibt es in einem solchen Herrschaftssystem nur, wenn der Herrscher selbst sich dafür entscheidet, sie zuzulassen. Und selbstverständlich erzieht sich ein Herrscher seine Höflinge: Wenn er Schmeichler konsequent belohnt und Mahner oder gar Kritiker konsequent mit Ungnade (oder Schlimmerem) straft, dann entsteht daraus genau die Konstellation, die einsam getroffene Fehlentscheidungen wie die Sanheribs begünstigt. Zur wichtigsten Voraussetzung für eine erfolgreiche Hofkarriere wird unter solchen Umständen ein Paar gesunder, kräftiger Hände zum Beifallklatschen.

152

Tatsächlich sollte Sanherib sogar der letzte assyrische König sein, dessen Thronbesteigung von keinen internen Rivalitäten oder Machtkämpfen verdüstert war. 153 Von MÜNKLER, Imperien S. 227 f. in ganz anderem Zusammenhang gebraucht, ist der Begriff des »expansionsfähigen Loyalitätskerns« auch im Hinblick auf die Cliquenbildung innerhalb eines Hofstaates sehr nützlich.

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Allerdings besitzt jede komplexe Organisation Beharrungsvermögen, weshalb selbst ein aktionsfreudiger König eine gewisse Zeit benötigt, bis er in der Lage ist, dem Apparat, den er bei seiner Thronbesteigung vorfindet, seine ganz persönliche Note aufprägen zu können. Im Falle Sanheribs lässt sich recht genau bestimmen, wann es bei ihm soweit war: Während sich in seinen ersten vier Regierungsjahren sein Vorgehen noch nicht wesentlich von dem seiner Vorgänger unterschied, 154 setzte er im Jahre 700 mit der Einsetzung seines ältesten Sohnes in Babylon ein erstes Zeichen, dass hier ein ganz neuer Weg beschritten wurde. Dem folgte im Jahr darauf die drastische Reduktion der militärischen Aktivitäten wie auch wahrscheinlich der Streitkräfte selbst. Letzteres war riskant, wirkte sich aber solange nicht aus, wie sich der König keine (weiteren) Fehler erlaubte. Jedoch von dem Augenblick an, da er 694 den elamischen König mutwillig reizte, traten die von ihm installierten Ungunstfaktoren in eine sich gegenseitig verstärkende Wechselwirkung: Die elamische Antwort auf Sanheribs provozierendes Flottenexperiment entlarvte nicht nur den in Babylon herrschenden Prinzen als Fehlbesetzung, sein Versagen resultierte überdies in einem Aufstand, der sich erheblich schneller ausbreitete und weit heftiger ausfiel als erwartet. In dieser Situation zeigte sich, dass die in ihrem Umfang reduzierten Streitkräfte zu rascher Krisenbewältigung außerstande waren. Mit seiner Entscheidung, Elam im Winter anzugreifen, leistete der »Experimentator« Sanherib 155 im Herbst 693 einen weiteren, ganz wesentlichen Beitrag zur Schwächung der eigenen Kräfte und zur Verschlimmerung einer ohnehin schon mehr als angespannten Lage. Nach so viel Kritik an Sanherib muss der Fairness halber hinzugefügt werden, dass natürlich auch seine Gegner Fehler gemacht haben, nicht zuletzt der elamische König Ḫallušu. Gewiss, nach allem, was man in Elam von Seiten Assyriens bis dahin schon hatte erleiden müssen, kann man es ihm schwerlich verdenken, wenn er, was wahrscheinlich ist, den von ihm gefangenen Sohn Sanheribs, Aššur-nādin-šumi, mit dem allergrößten Vergnügen auf die scheußlichste nur denkbare Art hat ins Jenseits befördern lassen. Besonders klug war das allerdings nicht, denn von einem kurzfristigen Gefühl tiefer Genugtuung abgesehen, brachte dieses Vorgehen der elamischen Seite keinerlei Nutzen. Stattdessen wäre es bedenkenswert gewesen, dass dieser assyrische Prinz nicht nur der potentielle assyrische Thronfolger war, sondern dass er überdies gerade eben in Babylon vollkommen überzeugend unter Beweis gestellt hatte, dass er als König eine absolute Niete war. Eine derartige Konzent154

Sanherib hat nebst anderen auch Nabû-zuqup-kēnu in seinem Dienst behalten, der schon unter Sargon aufgestiegen war, siehe FRAHM, Family Matters S. 170 f. und MAY, Scholar and Politics. 155 FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 19.

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ration an Unvermögen kann ausgesprochen wertvoll sein, aber nur dann, wenn man ihr Zeit und Gelegenheit gibt, ihr Katastrophenpotential an der Spitze des feindlichen Machtapparates zur vollen Entfaltung zu bringen. Es ist natürlich reine Spekulation, doch nehmen wir nur einmal an, Aššur-nādinšumi wäre mit viel Glück Sanheribs Kronprinz geblieben und er hätte, mit noch weit mehr Glück, vielleicht sogar die Intrigen und Anschläge seiner mörderischen Brüder Arda-Mullissu und Asarhaddon überlebt, und nehmen wir weiter an, er wäre Sanherib tatsächlich auf dem assyrischen Thron gefolgt: Wäre mit solch einem König an der Spitze das assyrische Reich wirklich erst im Jahre 612 untergegangen? Was wäre auch und gerade Elam womöglich erspart geblieben, hätte man einem Herrscher vom Schlage eines Aššur-nādinšumi ausreichend Zeit und Gelegenheit gegeben, Assyrien von innen her zu ruinieren! Im Herbst des Jahres 694 wäre es, so betrachtet, das Klügste gewesen, den gefangengenommenen Aššur-nādin-šumi mit den besten und durchaus ehrlich gemeinten Wünschen für seinen weiteren Lebensweg unverzüglich zu seinem Vater zurückzuschicken, oder ihn, besser noch, gleich in Babylon zu belassen. Indem er diesen unfähigen Tropf stattdessen aus dem Verkehr zog, ist es Ḫallušu zwar gelungen, Sanherib zu demütigen und ihn persönlich aufs Schwerste zu treffen, doch hat er damit um eines flüchtigen Effektes willen die vielleicht furchtbarste gegen Assyrien wirksame Waffe achtlos weggeworfen, die je ein König von Elam in Händen hielt.

Anhang 1: Die Ereignisabfolge der Jahre 694 bis 693 In einigen Inschriften Sanheribs sind die Ereignisse der Jahre 694 und 693 in einer Weise miteinander verwoben, die es nötig erscheinen lässt, hierauf näher einzugehen. Zwei einander in Teilen widersprechende Erzählversionen sind dabei auszumachen. Die wohl frühere der beiden Versionen aus dem Jahre 691 156 fasst unter der Rubrik des »sechsten Feldzuges« Sanheribs eine Zeitspanne zusammen, die etwa vom Sommer das Jahr 694 bis zum Herbst des Jahres 693 reicht. Da mehrere Inschriften diese Version in wörtlicher Übereinstimmung bieten, beziehe mich hier der Einfachheit halber auf Sennacherib 22, iv, 32–53. 157 Die Zeilen iv, 32–46 stellen eine Kurzfassung des oben, in Abschnitt I.1 zitierten, zeitnahen Berichtes Sennacherib 46, 48–106 zur Seeinvasion des Jahres 156 GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 186 Sennacherib 22 Date ex. 2. 157

Siehe auch GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 196 Sennacherib 23 iv, S. 26–46 und S. 153 Sennacherib 18 iv, 1´–6´, möglicherweise auch in den kaum lesbaren Partien von GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 233–235 Sennacherib 164.

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694 dar. Sie bieten demgegenüber nichts Neues und werden hier nur deshalb in Übersetzung wiedergegeben, um die Verknüpfung mit den Folgezeilen zu verdeutlichen: Sennacherib 22, iv, 32–53 iv, 32–46) Auf meinem sechsten Feldzug: Der Rest der Leute von BītJakīn, die sich vor meinen mächtigen Waffen gefürchtet (und) sich wie Wildesel scheu davongemacht hatten, hatten die Götter ihres ganzen Landes aus ihren Wohnsitzen mitgenommen, das große Meer von Sonnenaufgang überquert, und sich in Nagītu niedergelassen. Auf Schiffen des Ḫatti-Landes überquerte ich das Meer. Nagītu, Nagītu-di´bina Ḫilmu, Pillatu und Ḫupapanu, Teilgebieten von Elam, nahm ich ein. Die Menschen aus Kaldu zusammen mit ihren Göttern (und) Leuten des Königs von Elam führte ich (gefangen) weg und ich ließ nicht einen Flüchtling entkommen. Ich brachte (sie) auf Schiffe, ließ (sie) ans diesseitige Ufer herüberfahren und dann den Weg nach Assyrien einschlagen. Die Städte dieser Teilgebiete zerstörte ich, riss ich nieder und ließ ich in Flammen aufgehen. Ich verwandelte sie in Ruinen und Schutthügel. iv, 46–51) Auf meinem Rückweg fügte ich Šūzubu, einem Einwohner Babylons, der sich in der Verwirrung des Landes die Herrschaft über Sumer und Akkad angeeignet hatte, in einer Feldschlacht eine Niederlage bei. Ich nahm ihn lebend gefangen. Stricke und eiserne Fesseln legte ich ihm an und brachte ihn nach Assyrien. iv, 51–53) Dem König von Elam, der sich auf seine Seite geschlagen hatte und ihm zu Hilfe gekommen war, brachte ich eine Niederlage bei. Seine Streitmacht zersprengte ich und ihren Verband löste ich auf.

Der Text präsentiert die mitgeteilten Erfolge als persönliche Heldentaten Sanheribs. Er ist demnach selbst an der elamischen Küste gelandet und hat auf dem Rückweg (Text hier hervorgehoben) noch rasch den babylonischen König Nergal-ušēzib besiegt und gefangen genommen und bei der Gelegenheit auch gleich noch den König von Elam geschlagen. Ob die beiden Siege in ein und derselben Schlacht erreicht wurden oder in zwei separaten Gefechten, ist dem Bericht nicht zu entnehmen. Es entsteht, gerade durch die Zusammenfassung zu ein und demselben »sechsten Feldzug«, der Eindruck unmittelbarer zeitlicher Nähe zwischen den Geschehnissen. Die für Sanherib höchst unerfreuliche Zeitspanne vom Herbst 694 bis zum Sommer 693 wird auf diese Weise eliminiert, scheinen sich doch an das Flottenunternehmen gegen Elam die beiden Siege gegen die Babylonier und die Elamer unmittelbar anzuschließen. Der frühere und ausführlichere Bericht Sennacherib 46, 48–106 (siehe oben I,1) zeigt dagegen, dass Sanherib die elamische Küste bestenfalls am Horizont gesehen hat. Wie im Folgenden zu zei-

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gen sein wird, war Sanherib auch bei den beiden erwähnten Schlachtensiegen nicht persönlich anwesend. Der Bericht in Sennacherib 22 stellt somit ein extrem aufbereitetes Konstrukt dar, das den zeitlichen Ablauf des Geschehens bis zur Unkenntlichkeit verkürzt, dem Leser nicht bestehende Zusammenhänge zwischen auseinanderliegenden Ereignissen suggeriert und das Geschehen verfälscht, um dem König einen persönlichen Anteil an den mitgeteilten Erfolgen zuschreiben zu können. Die andere Version, die frühestens 691 entstanden ist und noch bis etwa 687 weiterverwendet wurde, 158 geht stattdessen auf mehrere (wenn auch keineswegs alle) der in Sennacherib 22 ausgelassenen Zwischenschritte ein: Sennacherib 34, 19–36 19–26) Nagītu, Nagītu-di´bina Ḫilmu, Pillatu (und) Ḫupapanu, Teilgebiete des Königs von Elam, deren Wohnsitze jenseits des Meeres liegen: Leute aus Bīt-Jakīn hatten (aus Angst) vor meinen mächtigen Waffen die Götter ihres Landes aus ihren Wohnsitzen mitgenommen, das Meer überquert, und sich in ihnen (den Städten) niedergelassen. Auf Schiffen des Ḫatti-Landes, die ich in Ninive und in Til-Barsip gebaut hatte, überquerte ich das Meer. Die Städte in diesen Teilgebieten nahm ich ein und ließ ich in Flammen aufgehen. Die Leute aus Bīt-Jakīn und ihre Götter führte ich zusammen mit Leuten des Königs von Elam (gefangen) weg und brachte sie nach Assyrien. 27–29) Danach haben Babylonier, die mit Marduk-apla-iddina weggegangen und nach Elam geflohen waren, den König von Elam nach Babylon geführt und Šūzubu, den Sohn des Gaḫul, über sich auf den königlichen Thron gesetzt. 29–30) Da schickte ich Bogenschützen, Wagen und Reiter, meine königliche Kerntruppe, um den König von Elam (zur Schlacht) zu stellen. Sie töteten zahlreiche Truppen, einschließlich seines Sohnes, und er zog sich zurück. 31–33) Sie zogen weiter nach Uruk. Den Šamaš von Larsa, die Herrin des Rēš-Heiligtums, die Herrin von Uruk, Nanāja, Uṣur-amatsa, Bēletbalāṭi, Kurunam, Kaššītu (und) Palil, die Götter, die in Uruk wohnen, führten sie zusammen mit deren unermesslichen Hab und Gut (als Beute) weg. 33–36) Auf ihrem Rückweg nahmen sie Šūzubu, den König von Babylon, in einer Feldschlacht lebend gefangen. Sie legten ihm ein Halseisen und Fesseln an und brachten ihn zu mir. Am Tor zur Zitadelle von Ninive band ich ihn an mit einem Bären. 158

Siehe auch GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 2 S. 192 Sennacherib 143 i, 6´–13´, GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 229 f. Sennacherib 35 1´–8´ (gekürzt) und wohl auch S. 208–210 Sennacherib 26.

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Šūzubu alias Nergal-ušēzib ist also erst nach dem Ende der Seeinvasion auf den babylonischen Thron gelangt. Erst im Anschluss daran begann ein ganz neuer assyrischer Feldzug, der mit der Seeinvasion überhaupt nichts zu tun hatte. Im Zusammenhang mit diesem neuerlichen Feldzug werden die Handlungen der assyrischen Truppen konsequent in der dritten Person Plural geschildert, Sanherib hat dieses Unternehmen also nicht selbst angeführt. Erst im Anschluss an die Rückkehr der Truppen nach Ninive kehrt der Text bei der Schilderung der Bestrafung des Šūzubu zur Erzählperspektive der 1. Person Singular zurück. Wie in Sennacherib 22 wird Nergal-ušēzib zwar wiederum »auf dem Rückweg« besiegt und gefangen, doch handelt es sich nicht, wie es die verzerrende Darstellung in Sennacherib 22 suggeriert, um den Rückweg Sanheribs von der Küste des Golfes, sondern um den Rückmarsch von Truppen, die Sanherib erst 693 gegen Uruk ausgeschickt hatte. Allerdings trennt auch Sennacherib 34 in den Zeilen 29–33 den Sieg über die elamischen Truppen von dem über Nergalušēzib, in dem er zwischen beide die Plünderung Uruks einschiebt (31–33). Aus der babylonischen Chronik geht hervor, dass die Gefechte gegen die Elamer bzw. gegen Nergal-ušēzib Teil ein und derselben Schlacht waren: Demnach hat Nergal-ušēzib im Sept./Okt. 693 nämlich erst das Eintreffen elamischer Unterstützung abgewartet, bevor er sich sechs Tage nach der assyrischen Plünderung Uruks dem von Sanherib ausgesandten Kontingent bei Nippur zu jener Schlacht zu stellen wagte, die ihm zum Verhängnis wurde. 159 Elamische Truppen waren vor den Ereignissen in Uruk also noch gar nicht auf dem Schauplatz erschienen. Sennacherib 22 iv, 46–53 verknüpft die elamische Niederlage mit der Gefangennahme des Nergal-ušēzib immerhin durch die Mitteilung, dass der König von Elam Nergal-ušēzib zu Hilfe gekommen sei. Die beiden Erzählversionen gehen also auf unterschiedliche Weise auf die Geschehnisse in Babylon während des Herbstes des Jahres 694 ein: Sennacherib 34 vermeidet jede Erwähnung des unglücklichen Aššur-nādinšumi, möchte aber die Thronbesteigung des Nergal-ušēzib (27–29) nicht auf sich beruhen lassen und bietet deshalb gleich hier den Hinweis auf das siegreiche Gefecht gegen die Truppen des Königs von Elam (29–30). Der entscheidende Punkt ist dabei nicht die Schlacht an sich, sondern die Tatsache, dass bei dieser Gelegenheit nun auch der elamische König einen Sohn verloren hatte. Ein Ahnungsloser würde daraus keine unerwünschten Schlüsse ziehen und in erster Linie wohl den Sieg auf dem Schlachtfeld zur Kenntnis nehmen, doch wer über das Geschehen im Herbst 694 informiert war, würde ersehen, dass der Verlust, den Sanherib selbst erlitten hatte, zumindest ansatzweise gerächt 159

So die Deutung der Zeilen iii, 3–4 gemäß GLASSNER, Chronicles S. 198 f. und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 26.

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worden war. 160 Die Verfasser des Textes haben sich also darum bemüht, einer Tragödie (dem Ende des Aššur-nādin-šumi) mit einer trotzigen Antwort zu begegnen, ohne dabei an die Tragödie selbst rühren zu müssen. Dass ein solcher Vorgriff die tatsächliche Abfolge der Ereignisse verfälschte, war dabei von nachrangiger Bedeutung. Anders Sennacherib 22: Diese Version teilt die Einsetzung des Aššur-nādinšumi als König von Babylon zwar mit (iii, 71–74), schweigt sich jedoch über dessen weiteres Schicksal aus und geht auf die Herrschaftsübernahme des Nergal-ušēzib betont vage und lediglich in einem Nebensatz ein (iv, 46–48). 161 Da diese beiden Passagen weit auseinanderliegen, durfte man darauf hoffen, dass der durch die dazwischen befindliche Textmasse reichlich beschäftigte und abgelenkte Leser die Frage nach dem Schicksal des Aššur-nādin-šumi gar nicht mehr stellen würde. Der Hinweis auf den Tod des elamischen Königssohnes unterblieb in dieser Version wohl deshalb, weil seine bloße Erwähnung gerade die Art unliebsamer Erinnerungen hätte wecken können, die man doch gerade erfolgreich verschüttet zu haben hoffte. Um sich ein Bild vom Geschehen innerhalb der Zeitspanne von 694 bis 693 machen zu können, bieten Sennacherib 34 und Sennacherib 22 für sich genommen keine auseichende Quellengrundlage. Ein plausibel erscheinendes Datengerüst ergibt sich erst aus der Kombination beider mit den wenn auch spärlichen Einträgen zweier babylonischer Chroniken. Das in der folgenden Tabelle zusammengefasste, bis ins Jahr 688 erweiterte Ergebnis bildet das chronologische Gerüst der Abschnitte 1.1 bis 1.6 dieses Aufsatzes: Die Jahre 694–688 im Quellenvergleich

Jahr

Monat

Chroniken

6. Jahr Aššur-nādin-šumi Sanheribs Seeinvasion ? Sept./ Okt 694

? ? ?

Ende Tašrītu: Elamerkönig Ḫallušu überfällt Sippar

Aššur-nādin-šumi nach Elam weggeführt König von Elam setzt Nergalušēzib in Babylon auf den Thron Elamischer Schlachtensieg über Assyrien

160 So auch FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 15 Anm. 56. 161

Sennacherib 34

Sennacherib 22

Seeinvasion (19–26)

6. Feldzug: Seeinvasion (iv,32–46)

– Danach Šūzubu König in Babylon (27–29)





iv, 46–48 »Šūzubu, ein Einwohner Babylons, der sich in der Verwirrung des Landes die Herrschaft über Sumer und Akkad angeeignet hatte.«

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Jan./ Feb.

1. Šabāṭu: Anu-rabû von Dēr geht nach Assyrien

1. Jahr Nergal-ušēzib Juni/ Juli

16. Du´ūzu: Nergal-ušēzib erobert Nippur

– 693 Sept./ Okt.

1. Tašrītu: Assyrer deportieren Götter und Einwohner von Uruk 7. Tašrītu: Nach dem Eintreffen der Elamer und der (assyr.) Plünderung von Uruk: Nergal-ušēzib bei Nippur besiegt und gefangen 26. Tašrītu: Umsturz in Elam: Kudurru folgt auf Ḫallušu

693/ 692

Dez./ Jan.

? 692

691 690 689

Anschließend Sanheribs Feldzug gegen Elam

Thronbesteigung des Mušēzib-Marduk in Babylon

1. Jahr Mušēzib-Marduk 17. Abu: Umsturz in Elam: Menanu stürzt Kudurru Juli/ Aug.

?

Unbekanntes Jahr Schlacht bei Ḫalulê

– 4. Jahr Mušēzib-Marduk 15. Nisannu: Schlaganfall des März/ elam. Königs Menanu Apr.

Entsendung von Truppen: Schlachtensieg über elam. Truppen, Tod eines elam. Prinzen (29–30) Entführung der Götter von Larsa und Uruk (31–33) Auf dem Rückweg Gefangennahme des Šūzubu (33–36)



Feldzug gegen Elam, abgebrochen im Ṭebētu (36–44)

Auf dem Rückweg Gefangennahme des Šūzubu, Schlachtensieg über Elam (iv,46–53) – 7. Feldzug: Feldzug gegen Elam, abgebrochen im Tamḫīru (iv,54–v,11) *



Schlacht bei Ḫalulē (44–55) Baubericht, Textende (55–94)

Kudur-Naḫundu ersetzt durch Ummanmenanu (v,11–16) 8. Feldzug: Schlacht bei Ḫalulē (v,17–vi,35) Baubericht, Textende (vi,36–83)

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Nov./ Dez. 688

Feb./ März

1. Kislīmu: Fall Babylons, Gefangennahme des Mušēzib-Marduk 7. Addaru: Tod des elamischen Königs Menanu

Text nicht datiert

Datum des frühesten bekannten Exemplars: Feb./März 690

* Sennacherib 22 v, 17–30 berichtet von der Thronbesteigung des Mušēzib-Marduk im Rückblick, unter der Rubrik des 8. Feldzuges. Chroniken: Zum Eintrag Jan./Feb. 693 siehe GRAYSON, Chronicles S. 128 Chr. 15 1 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 210 Nr. 19 1. Alle übrigen Einträge dieser Spalte beruhen auf GRAYSON, Chronicles S. 78 f. Chr.1 ii, 36 – iii, 25 bzw. GLASSNER, Chronicles S. 196–198 Nr. 16 ii, 35 – iii, 25 und GRAYSON / NOVOTNY, Royal Inscriptions Part 1 S. 26 ii, 36 – iii, 27.

Anhang 2: Zur Rekonstruktion der Ereignisse des Jahres 694–693 nach L. D. Levine Abschließend ist auf die Rekonstruktion einzugehen, die L. D. Levine 1982 zur Abfolge der Geschehnisse im Zeitraum von 694 bis 693 vorgelegt hat. 162 Demnach hätte sich Sanherib nach seinem im Sommer 694 durchgeführten Flottenangriff gegen Elam im Herbst 694 mitsamt Heer und Flotte noch immer in Südbabylonien befunden, als weiter im Norden der elamische Gegenschlag erfolgte und der babylonische Aufstand begann. Dadurch sei Sanheribs Heer in Südbabylonien abgeschnitten worden. Die Einsetzung des Nergal-ušēzib als König von Babylon habe die isolierte assyrische Armee zu einem Ausbruchsversuch motiviert, der aber durch die Elamer in einer Schlacht vereitelt worden sei, in der auch ein Sohn des Elamerkönigs ums Leben kam. 163 Zum Rückzug wiederum in Richtung Süden, nach Eridu, gezwungen, sei das assyrische Heer dort erst einmal vier oder fünf Monate lang untätig geblieben, womit sich sein Aufenthalt im Süden auf insgesamt mindestens neun Monate erhöht habe. Nach der Einnahme von Nippur durch Nergal-ušēzib Mitte des Jahre 693 habe die im Süden befindliche assyrische Streitmacht schließlich Uruk angegriffen. Daraufhin habe Nergal-ušēzib die Elamer um Hilfe gebeten, jedoch vergeblich, da er sieben Tage später allein mit seinen babylonischen Truppen in der Schlacht bei Nippur gegen die Assyrer kämpfte und ihnen unterlag. 164 Sanherib selbst sei es bereits zu einem früheren Zeitpunkt irgendwie gelungen, sich persönlich, ohne sein Heer, aus dem Süden nach Assyrien davonzuma162

FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 14 f. hat die Rekonstruktion LEVINES im Wesentlichen übernommen. 163 LEVINE, Southern Front S. 44. Der Hinweis auf den getöteten elamischen Prinzen lässt erkennen, dass sich Levine hier auf Sennacherib 34 29–30 bezieht (siehe Anhang 1). 164 Die Darstellung in LEVINE, Southern Front S. 45 stützt sich hier ganz und gar auf Sennacherib 22 (siehe Anhang 1).

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chen. Dort habe er ein Entsatzheer aufgestellt, doch gerade, als er im Begriff gewesen sei, an dessen Spitze seiner ausbrechenden Südarmee entgegenzuziehen, habe diese sich schon aus eigener Kraft bei Nippur den Weg freigekämpft. Anschließend hätten sich beide assyrische Heeresteile vereint, um sogleich den Winterfeldzug nach Elam zu beginnen. 165 Etliche Elemente dieser Rekonstruktion sind lediglich erschlossen bzw. nirgendwo bezeugt, so das Verbleiben Sanheribs in Südbabylonien bis in den Herbst des Jahres 694 hinein; der angebliche Rückzug der Assyrer nach Eridu; das vermutete Entkommen Sanheribs unter Zurücklassung seiner Armee; und zu guter Letzt auch die Existenz eines Entsatzheeres, an dessen Spitze Sanherib angeblich 693 nach Babylonien gezogen sein soll. Es existiert überdies kein Hinweis, dass die Truppen, die Sanherib 693 gegen Uruk ausgesandt hat, mit denen identisch waren, die an der Seeinvasion des Jahres 694 teilgenommen hatten. Levines Versuch, sämtliche assyrische Aktivitäten in Babylonien, die für die Jahre 694 bis zum Herbst 693 überliefert sind, zu einem durchgehenden, fast zwei Jahre andauernden Monsterfeldzug zu kombinieren, stützt sich auf die Darstellung in Sennacherib 22, die, wie in Anhang 1 gezeigt, die Geschehnisse nicht nur unter Auslassung wesentlicher Ereignisse auf nur zwei »Feldzüge« herunterbricht, sondern sie darüber hinaus in höchst eigentümlicher Weise deutet. Auf S. 46 seines Aufsatzes begründet Levine die Verbindung des »sechsten« mit dem »siebten Feldzug« mit dem Argument, der Bericht enthalte am Ende des »sechsten Feldzuges« keinen Vermerk darüber, dass Sanheribs Heer im Anschluss an die Seeinvasion gegen Elam nach Assyrien zurückgekehrt sei. Hierzu ist zu bemerken, dass ein derartiger Vermerk in assyrischen Feldzugsberichten nicht zwingend ist. So enden die Berichte zu Sanheribs »achtem Feldzug« gleichfalls nicht mit einem expliziten Hinweis auf die Heimkehr des assyrischen Heeres. Und dennoch hat daraus bislang niemand den Schluss gezogen, die an der Schlacht beteiligten Assyrer müssten infolgedessen bei Ḫalulē für immer und alle Zeiten Wurzeln geschlagen haben. Die Kombination des »sechsten« und »siebten Feldzuges« zu einem durchgehenden Unternehmen wird durch die in Abschnitt I.1 zitierte Inschrift Sennacherib 46 widerlegt, die von einem positiven Verlauf und einem guten Ausgang des »sechsten Feldzuges«, d. h. der Seeinvasion, mitsamt all den damit in Zusammenhang stehenden Nebensächlichkeiten berichtet. Dort schließt der Feldzugsbericht in den Zeilen 102–106 mit der Bemerkung ab, dass Sanheribs Gefangene, darunter also auch diejenigen, die von der elamischen Südküste stammten, an die assyrischen Statthalter und an die Bewohner der assyrischen 165

LEVINE, Southern Front S. 45 und 47.

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Kultzentren verteilt worden seien. Wenn es sich bei dieser Bemerkung nicht um eine bloße Floskel handelt, so muss das Heer mit diesen Gefangenen vor deren Verteilung nach Assyrien zurückgekehrt sein, und zwar noch bevor die betreffende Inschrift, die ja darüber berichtet, verfasst worden ist. Gegen Levines Rekonstruktion sprechen auch andere Gründe eher grundsätzlicher Natur: So war es zwar durchaus möglich, eine feindliche Streitmacht, die sich in eine Stadt zurückgezogen hatte, dort einzuschließen und zu belagern, doch wie hätte man ein ungeschlagenes Heer wie das Sanheribs neun volle Monate lang innerhalb einer ganzen Region festhalten sollen? Um das zu bewerkstelligen hätten dessen Gegner ja auch ihrerseits neun volle Monate hindurch entlang jeder denkbaren Rückzugsroute jeweils ein Heer bereitstellen müssen, das, jedes für sich genommen, stark genug gewesen wäre, es mit der gesamten abgeschnittenen assyrischen Streitmacht aufnehmen zu können. Hierfür jedoch waren gemäß Levines Rekonstruktion zumindest elamische Truppen nicht verfügbar, da sich diese ja einstweilen wieder zurückgezogen hatten und Nergal-ušēzib sie 693 erst erneut wieder zu Hilfe rufen musste. Die babylonischen Rebellen hätten demzufolge von Beginn an und ganz auf sich allein gestellt über Truppenmengen verfügen müssen, deren Übermacht den (angeblich) in Südbabylonien eingeschlossenen Truppen Sanheribs jeden weiteren Ausbruchsversuch in Richtung Norden aussichtslos erscheinen ließ und sie zu völliger Passivität zwang. Zu einem solchen Kräfteverhältnis will das, was anschließend geschah, jedoch in keiner Weise passen, denn wenn Nergalušēzib eine so überwältigende Macht ins Feld führen konnte, so muss man sich doch fragen, warum seine Kräfte dennoch zu nicht mehr als gerade einmal zur Einnahme von Nippur ausgereicht haben. Nicht von ungefähr ist das Verhalten des Nergal-ušēzib gemäß der Darstellung Levines widersprüchlich. Den Ausführungen auf S. 44 ff. zufolge soll Nergal-ušēzib das Ziel verfolgt haben, die angeblich im Süden eingeschlossenen Assyrer zu vernichten – was auf seiner Seite eine entsprechende Übermacht vorausgesetzt hätte. Seine anschließende Furcht wegen der assyrischen Plünderung Uruks und sein Hilferuf an die Elamer lässt jedoch weit eher auf eine deutliche Unterlegenheit gegenüber seinem Gegner schließen, denn nach Levine sollen es ja die im Süden abgeschnittenen Assyrer gewesen sein, die nun plötzlich über Uruk herfielen. Dass Nergal-ušēzib nur sieben Tage danach von denselben Truppen besiegt und gefangengenommen wurde, unterstreicht noch zusätzlich den Eindruck seiner Unterlegenheit. Damit wird es noch unverständlicher, warum die angeblich eingeschlossenen Assyrer erst Monate lang passiv in Eridu gewartet haben sollen, bevor sie ihren Rückmarsch nach Norden angetreten haben, der sich als unaufhaltsam erwies. Es stellt sich auch die rein praktische Frage, wie sich Sanheribs Heer während der angeblichen

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neunmonatigen Zwangspause in Südbabylonien überhaupt versorgt haben soll, denn auf eine derart extreme zeitliche Ausweitung der ursprünglich ja wohl nur für die Sommermonate geplanten Operation kann man auf assyrischer Seite unmöglich vorbereitet gewesen sein. E. Frahm hat versucht, der Idee vom verlängerten Aufenthalt der Assyrer an den Küsten des Golfes wenigstens so etwas wie einen Sinn zu verleihen. Anders als Levine geht er nicht davon aus, dass das assyrische Verharren im Süden ein Zwangsaufenthalt war. Stattdessen vermutet er, Sanherib habe aus strategischem Kalkül einen Teil des assyrischen Heeres im Süden zurückgelassen, um Babylonien »von zwei Fronten her in die Zange zu nehmen.« 166 Doch auch diese Annahme bietet keine Lösung für das grundsätzliche Problem, das sich hier stellt. Ganz davon abgesehen, dass Fronten und weiträumige Zangenangriffe eher Teil der Kriegführung des 20. Jhs. n. Chr. als des 7. Jhs. v. Chr. waren, ist es zu einem Angriff von zwei Seiten ja gar nicht gekommen. In Uruk und beim anschließenden Gefecht nahe Nippur waren einzig und allein die assyrischen Truppen tätig, die nach dieser Interpretation den südlichen Zangenarm hätten bilden sollen, während die Existenz von Truppenteilen, die als der nördliche Zangenarm hätten fungieren können, nirgendwo bezeugt ist. Levine hat das Konstrukt eines solchen, angeblich vom König selbst angeführten, von Norden heranziehenden Entsatzheeres wohl nur deshalb ins Spiel gebracht, weil er einerseits den »siebten Feldzug« in Richtung Elam unmittelbar an den »sechsten Feldzug« anschließen wollte, jedoch andererseits für ein solches Unternehmen die soeben aus dem Süden ausgebrochenen Truppen allein wohl für zu schwach ansah. Und zu guter Letzt: Setzt man voraus, dass Sanherib tatsächlich Truppen in Südbabylonien zurückgelassen hat, die den babylonischen Rebellen an Stärke gewachsen waren, so ist unverständlich, warum eine solche Streitmacht ohne auch nur einen Finger zu rühren, über Monate hinweg seelenruhig dabei zugesehen haben sollte, wie sich in ihrer unmittelbaren Nähe ein gegen Assyrien gerichteter Aufstand entfaltete. Es ist absolut nicht ersichtlich, welchen Nutzen es hätte haben sollen, einen Truppenteil, der doch in unmittelbarer Nähe zum Geschehen bereitgestanden hätte, vom sofortigen Eingreifen abzuhalten.

166

FRAHM, Sanherib-Inschriften S. 15.

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Aus diesen Gründen sehe ich keine Veranlassung, der Rekonstruktion Levines zu folgen und gehe von drei separaten, jeweils in sich abgeschlossenen assyrischen Operationen aus: 1. einem Flottenangriff gegen die elamische Küste im Sommer 694 (»6. Feldzug«, Teil 1) 2. einem Vorstoß nach Uruk im Herbst 693 (»6. Feldzug«, Teil 2) 3. einem Feldzug gegen Elam im Winter 693/92 (»7. Feldzug«).

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Benedict Schöning Saul, der Proto-Versager Der erste König Israels als Beispiel einer in sich problematischen Herrschaftsform

Saul ist nicht irgendein Versager König Saul scheint ein Versager schlechthin zu sein. Er scheitert dramatisch und gleichzeitig fahrlässig an seinem Amt. 1 Saul ist aber nicht nur einfach ein versagender Herrscher, er ist gleichzeitig der erste erzählte König Israels in der Reihe von Königen, die den Untergang ihrer eigenen Herrschaften herbeiführen. Welche Funktion hat dieser problematische Auftakt zum biblischen Königtum und warum steht ein Versager an dessen Anfang? Zu diesem Anfang des Königtums gehört durch starken Kontrast und vergleichende Erzählung auch Sauls Nachfolger. Dem Versager wird ein David gegenübergestellt, dem zumindest die längste Zeit alles zu gelingen scheint. Diese zwei Merkmale, dass ausgerechnet der erste König Israels ein tragischer Versager wird und dass ihm ein auffällig erfolgreicher König nachfolgt, werden durch eine drittes miteinander verbunden: Die Erzählungen Sauls und Davids sind ab 1 Sam 16 bis zu Sauls Tod in 1 Sam 31 miteinander verschränkt. Die beiden Könige werden nicht nacheinander erzählt, wie es für ein dynastisches Königtum sinnvoll wäre, sondern überwiegend gleichzeitig, wodurch der jeweilige Kontrast besondere Aufmerksamkeit erhält. Das Versagen Sauls hängt demnach mit dem Erfolg Davids zusammen. Durch die Lektüre der Texte, die das darstellen, ergibt sich die weiterführende Frage, ob statt über diese beiden Überzeichnungen des Königtums, David und Saul, nicht über etwas Drittes gesprochen wird: Werden hier nicht die Grenzen davon ausgelotet, mit welcher Qualität das Königtum überhaupt ausgeübt werden kann? Saul stünde dann für die untere Grenze dieser möglichen Qualität.

1

So sehr, dass etwa 2 Chr 6,5–6 ihn zu verleugnen scheint.

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Saul ist aber nicht deswegen ein Versager, weil er als solcher eingeführt wird, sondern weil er als König Anforderungen nicht erfüllt, die an ihn gestellt werden. Daher wird im Folgenden zu untersuchen sein, was diese Anforderungen sind, an denen Saul scheitert. Erst angesichts dieser Anforderungen wird deutlich, welche Funktion die Erzählfigur Saul in den Erzählungen über die Einführung des Königtums übernimmt.

Saul versagt fundamental als König Israels Als Texte kommen zuerst jene in den Sinn, in denen Saul offensichtlich als Versager dargestellt wird, 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15. Diese beiden Anlässe für Saul zum Scheitern führen zum Ende seiner Dynastie und zu seiner Verwerfung als König. Die beiden Perikopen 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15 bilden dabei ein Paar, weil sie auf ähnliche Weise das Scheitern Sauls an einem Gebot Samuels beziehungsweise JHWHs behandeln. Ebenso scheitert Saul in 1 Sam 14,1–46 zwar nicht an expliziten Geboten, dafür aber in einer Bedrohungslage für sein Volk. Auch diese Perikope hat eine Entsprechung, denn in 1 Sam 17,1–18,4 scheitert Saul in ähnlicher Weise im Kampf gegen die Philister. Es legt sich daher nahe, diese Textpaare jeweils zu vergleichen, um zu erheben, wie Saul versagt und an welchen Maßstäben er dabei gemessen wird. 2 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15: Saul versagt beim Gebotsgehorsam

Die beiden Perikopen 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15, in denen Sauls jeweils an einem Gebot Samuels scheitert, teilen sich eine gemeinsame Grobstruktur: 3 Saul wird ein Gebot gegeben – das für 1 Sam 13,1–15 allerdings bereits in 1 Sam 10,8 steht – und sein Scheitern daran erzählt; zuerst opfert er vorzeitig, dann vollstreckt er einen gebotenen Bann nicht vollständig. Der Verstoß gegen das Gebot steht jeweils im Zusammenhang mit der kriegerischen Auseinandersetzung, die Saul führt: In 13,7–8 droht Saul eine Niederlage, weil seine Kämpfer sich zerstreuen könnten, in 15,7 hat er bereits einen Erfolg errungen. Der Verstoß geschieht jeweils in Form eines durchgeführten (13,9–10) oder angekündigten (15,15) Opfers. Es folgt das Auftreten Samuels, der von Saul, der bei sich keinen Fehler sieht, arglos begrüßt wird und der Saul im Gegenzug eine 2

Sauls Versagen endet nicht nach 1 Sam 18,4, sondern wäre weiterhin in nahezu jeder seiner Handlungen zu belegen. Aus pragmatischen Gründen beschränkt sich die Darstellung hier auf die Texte, die unmittelbar am Anfang von Sauls Königsherrschaft stehen, weil darin die Prinzipien sichtbar werden, die sich in den späteren Texten wiederfinden lassen. 3 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 212.

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Frage stellt. Saul erklärt sein Verhalten in beiden Fällen, spricht damit aber gleichzeitig selbst seinen Verstoß gegen das Gebot aus. 4 Im Folgenden bewertet Samuel Sauls Handeln negativ und spricht ein Urteil, das unmittelbar Sauls Königtum betrifft. 1 Sam 13,1–15 10,8 13,7–8 13,9 13,10 13,11 13,11–12 13,13

13,14

Gebot Drohende Niederlage|Kriegserfolg Verstoß gegen das Gebot Evaluation durch JHWH Gruß des arglosen Saul Frage Samuels Begründung Sauls für sein Verhalten Evaluation durch Samuel Verteidigung Sauls Erläuterung der Maßstäbe durch Samuel Sauls Bitte um Vergebung Folge für das Königtum Sauls Zeichenhandlung und Deutung

1 Sam 15 15,1–3 15,7 15,8–9 15,11 15,13 15,14 15,15 15,17–19 15,20–21 15,22–23 15,24–25 15,23.26 15,27–29

Soweit diese strukturellen Gemeinsamkeiten auch gehen, so zeigen sich dennoch charakteristische Unterschiede. In 1 Sam 15 wird Sauls Verstoß, den Samuel auch in 1 Sam 13,1–15 als Verstoß gegen ein göttliches Gebot bewertet (13,13–14), von JHWH selbst festgestellt (15,11) und deutlich ausführlicher und grundsätzlicher zwischen Samuel und Saul diskutiert (15,17–29). In 15,22–23 trifft Samuel prinzipielle, fallunabhängige Aussagen über ein angemessenes Gottesverhältnis, in 15,27–29 wird Samuels Urteil durch eine sich wie zufällig ergebende Gelegenheit zur Zeichenhandlung äußerlich sichtbar, wenn Saul ihm ein Stück seines Mantels entreißt und damit vorgeführt bekommt, dass er weder den Propheten noch das Königtum festhalten kann. Auch die Folgen dieser Verstöße für das Königtum Sauls unterscheiden sich. Nach 1 Sam 13,13–14 ist Sauls Königtum kein Bestand verheißen, er wird also keine Dynastie errichten. 5 In 1 Sam 15,23.26 hingegen wird er selbst als König verworfen. Das – wie noch zu zeigen sein wird – gewichtige Verb ‫( מאס‬mʾs; verwerfen) wird erst hier und noch nicht in 1 Sam 13,13–14 verwendet. Dass Saul keine Dynastie gründen wird, bestätigt sich erst mit dem Tod seiner Söhne in 1 Sam 31 und 2 Sam 4, dass er verworfen wurde, bereits in der Salbung Davids zum König (1 Sam 16,1–13) direkt im Anschluss an Sauls Verwerfung. Zwischen 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15 findet also eine Steigerung statt. Die ähnlichen Probleme werden ähnlich beschrieben, in 1 Sam 15 aber deutlicher 4 Vgl. FIRTH, Samuel S. 155. 5

Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 212; CHAPMAN, 1 Samuel S. 137.

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theologisch und bezüglich der angelegten Maßstäbe transparenter erzählt. Die Salbung Davids in 1 Sam 16,1–13 folgt so auf eine immer negativer werdende Charakterisierung Sauls und in einer deutlichen Erwartungshaltung, welche Fehler seines Vorgängers dieser neu Gesalbte nicht zu wiederholen habe. Ob es in 1 Sam 13,1–15 Anforderungen an den König gibt, an denen Saul scheitert, ist diskutabel. Samuels Anweisung aus 1 Sam 10,8, sieben Tage zu warten, gegen die Saul in 13,9 verstößt, ist unklar: Soll Saul warten bis sieben Tage vergangen sind und dann erst handeln oder auf jeden Fall warten, was nach Samuels Voraussage etwa sieben Tage dauern könnte? 6 Dass nun Samuel ausgerechnet spät am siebten Abend kommt, wenn Saul schon in großer Bedrängnis ist, lässt Sauls Handeln in den Augen der Leser nachvollziehbar und der Situation angemessen erscheinen. 7 Samuels Reaktion wirkt angesichts dessen übertrieben penibel. 8 Saul handelt ja in guter Absicht und unter großem Druck (13,12). Auch steht das Gebot, nach dem sich Saul verhalten soll, gar nicht im direkten Zusammenhang mit der Handlung in 1 Sam 13,1–15, sondern wurde sehr viel früher geäußert. Die meisten Leser werden es bis zu dieser Stelle wohl aus dem Blick verloren haben, was sie noch mehr darüber stolpern lässt, mit welcher Vehemenz Samuel es hier einfordert. 9 Es ist sogar fraglich, ob es sich überhaupt um ein Gottesgebot handelt, wie Samuel in 13,13–14 behauptet, schließlich wird es in 10,8 nicht als solches dargestellt. 10 Man könnte daher annehmen, dass hier eigentlich Samuel negativ charakterisiert werden soll. Allerdings wurde er bisher nicht als unzuverlässig beschrieben, 11 und er handelt sich auch nicht wie etwa in 16,7 einen Widerspruch JHWHs ein. Vorerst ist also festzuhalten, dass 1 Sam 13,1–13 Fragen bei Lesern aufwirft. Diese fragende Haltung bereitet die Lektüre von 1 Sam 15 vor. Dort ist die Anweisung Samuels bezüglich des Banns für Leser wie für Saul deutlich klarer: Weder ergeben sich Zweideutigkeiten über die Reichweite dieser Anweisung, noch steht sie weit entfernt davon, dass Saul gegen sie verstößt. Saul zeigt hier sogar, dass er gehört und zumindest einen wesentlichen Aspekt verstanden hat: Den geforderten Bann, der die Tötung alles lebendigen in Amalek vorsieht, begründet JHWH durch Samuel mit der Rolle Amaleks beim Zug Israels aus Ägypten. Saul gibt dann in 15,6 den Kenitern die Gelegenheit, sich dem Kampf zu entziehen, und verweist dabei auf deren Gnadenerweis während des Aus6 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 108. 7

Vgl. DIETRICH, 1 Sam 13–26 S. 43. In 1 Sam 14 und 1 Sam 17 wird es an solchen Initiativen Sauls gerade mangeln. 8 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 125. 9 Vgl. ebd. S. 123. 10 Vgl. DIETRICH, 1 Sam 13–26 S. 45 f.; HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 24. 11 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 125.

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zugs Israels aus Ägypten, bezieht sich also auf den gleichen Begründungszusammenhang wie Samuel. Wahrscheinlich geht Saul auch deswegen davon aus, dass er JHWHs Willen erfüllt habe (15,13). 12 Die weisungswidrig verschonten Tiere wirken angesichts dessen wie ein Detail, das Saul allein dem – in seinen Augen wohl legitimierbaren – Opferwillen des Volkes zuschreibt (15,15.21). 13 Saul zeigt hier zwei problematische Denkweisen. Zum einen wandelt er aus pragmatischen Gründen und damit nach eigenen Maßstäben seinen Auftrag zur vollständigen Vernichtung, den er durch Samuel bekommen hat, ab: Tiere, die man ohnehin töten wird, könnte man auch opfern. Das aber, so deckt Samuel auf, steht im Widerspruch dazu, dass der Gehorsam beim Opfern eigentlich entscheidend ist (1 Sam 15,22). 14 Zum anderen tut Saul so, als könne er im Opfer JHWH noch etwas übergeben, wo doch das im geforderten Bann (‫ ;חֵ ֶרם‬ḥērem) Erbeutete schon JHWH gehört (vgl. Dtn 13,17–18). 15 Hinter beiden Denkweisen steckt ein instrumentelles Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch, das Saul sowohl in 1 Sam 13,1–15 als auch in 1 Sam 15 zeigt: Saul versucht JHWH vor dem Kampf in 13,12 zu befragen, weil man das so macht – auch wenn ihm vom Propheten JHWHs etwas anderes geboten wurde. Auch scheint es ihm sinnvoll, das Banngebot vorteilhaft anzupassen, schließlich ist mit dem Opfer der besten Tiere auch der Verzehr des Fleischs der besten Tiere verbunden. Samuel hält dem seine grundsätzlichen Aussagen zum Gehorsam gegenüber JHWHs Geboten entgegen. Sein Urteil in 1 Sam 13,13–14 ist so chiastisch aufgebaut, dass der Gebotsverstoß den äußeren Rahmen bildet, in dessen Mitte die ausbleibende Dynastie steht. 16 Dadurch wird zum einen der Gebotsverstoß doppelt benannt, zum anderen der innere Zusammenhang deutlich gemacht: Ein König, der sich nicht an die Gebote hält, wird keinen Bestand für sein Königtum erwarten können. In 1 Sam 15,22–27 wird dieser Zusammenhang expliziter. In 15,17–19 stellt Samuel dar, wie Sauls Königtum bisher allein von JHWH abhing. Dazu nimmt Samuel in dieser Darstellung sich selbst zurück und schreibt sogar die Salbung Sauls JHWH zu (15,17). Wenn nun von diesem JHWH ein Gebot an seinen König ergehe, wie könnte der König dann legitim unabhängig von JHWH entscheiden, wie die Anweisung umzusetzen sei (15,19)? 324F

12 Vgl. FIRTH, Samuel S. 174. 13

Den verschonten amalekitischen König Agag erwähnt er erst in seiner zweiten Rede (15,20) – seine Nennung würde Sauls Gegenrede schon in 15,15 argumentativ entkräften. 14 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 140. 15 Vgl. FIRTH, Samuel S. 175. 16 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 195; Dietrich, 1 Sam 13–26 S. 31.

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Der König soll stattdessen auf die Gebote hören. Hören (‫ ;שׁמע‬šm‘) ist das Leitwort der Perikope 1 Sam 15. 17 Schon in 15,1 wird Saul zum Hören aufgefordert – dass er das nicht tut, hört Samuel in 15,14. 18 Saul versucht sich dadurch zu entlasten, dass er auf die Stimme des Volkes gehört habe. 19 Es geht hier um das heikle Verhältnis, in das der König zwischen JHWH und seinem Volk eingespannt ist: Auf das Volk zu hören, heißt hier, nicht auf JHWH zu hören. Nicht auf JHWH zu hören, ist aber laut Samuel mit Götzendienst gleichzusetzen (15,23). Ein Opfer ist eben kein Mechanismus, der wirkt, wenn er angewendet wird, sondern ein Kommunikationsgeschehen, das vom inneren Verhältnis abhängig ist, das der Opfernde zu JHWH hat (15,22). Wer opfert, ohne damit seine Beziehung zu JHWH verwirklichen zu wollen, opfert letztlich anderen Götzen (15,22–23). Es geht also um mehr als um kultische Details: »Saul’s sin is not some cultic irregularity but the choice to set aside the command relating to the task he was set.« 20 Hinter der Anweisung in 15,2–3 steht das grundsätzliche Gebot in 15,1; das richtige Handeln des Königs hängt von seinem richtigen Hören ab. Saul scheitert auch deswegen an diesem Gebot, weil er das Exodusgeschehen zwar kennt (vgl. 15,6), die Konsequenzen dieses Exodus aber, die Gebote, auf die JHWH sein Volk im Bund und in der Tora verpflichtet, nicht verinnerlicht hat. Dieser tiefergehende Zusammenhang entspricht der Formulierung in 1 Sam 15,11. JHWH stellt nicht fest, dass Saul gegen ein Gebot verstoßen, sondern sich von den Worten abgewendet habe. Der Plural zeigt an, dass dieser Fehler nicht gegen ein Gebot aus 1 Sam 15,1–13 geschieht, sondern prinzipieller Natur ist. 21 Dem entspricht die Konsequenz in 15,23.26, die Sauls Handeln nach sich zieht: Er wird verworfen. Der dafür verwendete Begriff ‫( מאס‬mʾs; verwerfen) ist der Gegenbegriff zu ‫( בחר‬bḥr; erwählen). 22 Saul ist laut 10,24 von JHWH erwählt worden, so wie auch Israel von JHWH erwählt wurde (Dtn 4,37). 23 An einer solchen Erwählung hängt ein hoher ethischer Anspruch: »Der Toragehorsam ist das Ziel der Erwählung Israels (Dtn 7,6–11).« 24 Diesen Anspruch, der auch den König des erwählten Volkes betrifft, hat Saul trotz seiner Erwählung nicht erfüllt. 25 31F

32F

3F

34F

17 Vgl. FIRTH, Samuel S. 171. Die acht Belege stehen in 15,1.4.14.19.20.22.24 (in 15,22 doppelt). 18 Vgl. BRUEGGEMANN, Samuel S. 112. 19 Vgl. FIRTH, Samuel S. 176. 20 Ebd. S. 155. 21 Vgl. BRUEGGEMANN, Samuel S. 111. 22 Vgl. KESSLER, Volk S. 430. 23 Vgl. ebd. S. 426. 24 Ebd. S. 428. 25

Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 128.

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Die Erwählung Sauls und des Volkes so zu verbinden, legt sich vor dem Hintergrund von 1 Sam 8,7 und 10,19 nahe: In 8,7 sieht sich JHWH durch das Volk verworfen, in 10,19 wiederholt Samuel diese Aussage, kurz bevor Saul erwählt wird. In dem, was Saul dann in 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15 tut, zeigt sich diese Verwerfung: Der König setzt sich von seinem Gott ab, so wie das Volk sich schon im Königswunsch von dem Gott abgesetzt hat, der es erwählt hat. 1 Sam 14,1–46 und 1 Sam 17,1–18,4: Saul versagt bei der Rettung seines Volkes

Saul scheitert nicht nur an explizit geäußerten Gottesgeboten. Schon in 1 Sam 15 wurde deutlich, dass es vor allem auf die Haltung ankommt, mit der diese Gebote befolgt werden. Eine problematische Haltung zeigt Saul auch in seinen anderen Handlungen. Gut sichtbar wird das an Sauls Verhalten in 1 Sam 14,1– 16 und 1 Sam 17,1–18,4, auch wenn Saul hier nicht von Samuel negativ bewertet wird, sondern sich vor allem in den Augen der Leser disqualifiziert. 1 Sam 14,1–46 13,19–22 14,1 14,6 14,39

Problemstellung: Mangel an Überlegenheit Saul bleibt passiv Jonatan/David übernimmt Initiative Vertrauen Jonatans/Davids auf JHWH Ironischer Verweis Sauls auf JHWH

1 Sam 17,1–18,4 17,5–7 17,11 17,26 17,37.45–47 17,37

Beide Erzählungen zeigen zwar weniger strukturelle Gemeinsamkeiten als 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15, ähneln sich aber in der Charakterisierung ihrer Erzählfiguren. In den beiden Erzählungen um einen Kampf gegen die Philister geht es um die grundsätzliche Frage, mit welchen Mitteln Israel als Gottesvolk vor äußeren Bedrohungen gerettet werden kann. Saul verkörpert die Idee, dass eine ausreichende Zahl von Waffen nötig sei, wohingegen Jonatan und David für clevere Lösungsansätze stehen, die nicht auf die Menge der Waffen aufbauen, sondern auf Vertrauen in JHWH. Jonatan und David werden dabei jeweils als Kontraste zu Saul erzählt. Die Ausgangslage in 1 Sam 14 ist für Saul denkbar ungünstig. Er hat Samuel nicht bei sich, nur noch 600 Mann um sich und keine Waffen, während die Philister bedrohlich näher rücken (13,23). Gerade die Beschreibung der Ausgangslage in 1 Sam 13,19–22 lenkt den Blick auf die grundsätzliche Fragestellung in 1 Sam 14,1–46 und die beiden Protagonisten, Jonatan und Saul, die für gegensätzliche Lösungsansätze des Grundproblems, der Philisterbedrohung,

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stehen. In 1 Sam 17,1–18,4 ist es ähnlich: Saul hat sich mit Samuel endgültig überworfen und hat zwar Waffen, aber einen Gegner, den Philister Goliat, der mehr und stärkere Waffen trägt (17,5–7) und durch seine unwahrscheinliche Größe (17,4) auch den hochgewachsenen Saul (10,23) zu überragen scheint. In 17,11 wird explizit beschrieben, wie Saul auf diese Ausgangslage reagiert: Er fürchtet sich. 26 In 14,1–46 wird nichts Vergleichbares erzählt, allerdings übernimmt hier wie dort Saul vermutlich wegen der zahlenmäßigen Unterlegenheit nicht die Initiative, die man von ihm erwarten sollte (vgl. 1 Sam 11,6– 8), sondern Jonatan (14,1) beziehungsweise David (17,26). 27 Saul reagiert jeweils hinderlich auf diese Initiativen (14,17; 17,31). In beiden Elementen, der ausbleibenden Initiative und der inadäquaten Reaktion auf die Initiativen anderer, zeigt sich Sauls Versagen. Die ausbleibende Initiative ist dabei erst einmal nur ein Scheitern Sauls an den Vorgaben seines eigenen Volkes. Das hatte sich einen König gewünscht, der seine Kriege führt (1 Sam 8,20). Gemäß diesem Wunsch hatte sich Saul in 1 Sam 11 qualifiziert, was zu seiner Bestätigung als König führte. Die inadäquate Reaktion auf die Initiative anderer hingegen ist ein grundsätzliches, theologisches Scheitern des Königs. Anders als in 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15 wird das allerdings nicht explizit von Samuel festgestellt, sondern Lesern über die jeweiligen Kontrastfiguren Jonatan und David deutlich gemacht, deren Handeln dem Sauls diametral gegenübersteht. 28 Jonatan und David berufen sich in ihren Handlungen explizit auf JHWH. Jonatan glaubt an das Gelingen seines Tricks, sodass er die Philister trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit angreifen kann, 29 weil JHWH unabhängig von Quantitäten retten könne (14,6). 30 Ebenso beruft sich David, der JHWH in 17,37 erst in die Handlung dieser Perikope einführt, 31 in seiner wichtigsten Rede in 1 Sam 17,45–47 auf JHWH, in dessen Namen er handle (17,45), der den Philister an David ausliefere (17,46) und der nicht durch Waffen rette (17,47). Dieser letzte Aspekt korrespondiert dabei mit Jonatans theologischem Prinzip aus 14,6. Die Erzählstimme bestätigt diese Annahme Jonatans aus 14,6 in 14,23 explizit: Nicht Jonatan hat Israel gerettet, sondern JHWH selbst. Mit dieser Feststel26

Goliat nennt Sauls Namen in 17,8, ohne dass Saul zu einer Antwort fähig wäre, vgl. DIETRICH, David und Goliat S. 173 f. Schon in 17,4 wird über das Verb ‫( יצא‬yṣʾ; herausgehen) klar, dass von Saul ein ähnliches Hervortreten zu erwarten wäre (vgl. den Volkswunsch in 8,20!), wie vom Philister, vgl. BERGES, Verwerfung S. 231. 27 Vgl. CAMPBELL, Structure S. 88; BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 190. 28 Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 34. 29 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 199. 30 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 189; CHAPMAN, 1 Samuel S. 130. 31 Vgl. FOKKELMAN, Crossing Fates S. 174.

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lung zitiert die Erzählstimme wörtlich Ex 14,30 und damit wieder das paradigmatische Rettungshandeln JHWHs an seinem Volk. 32 In 1 Sam 17 fehlt eine solche explizite Feststellung, sie lässt sich aber aus der Linie der bisherigen Philisterkämpfe problemlos von Lesern ergänzen. Schon in 1 Sam 7,10 ist es JHWH, der den Kampf für Israel führt. All diese Siege Israels durch JHWH haben gemeinsam, dass es dafür den König nicht bräuchte. 33 Saul hingegen scheint nicht verstanden zu haben, wie das Verhältnis von Israel, JHWH und Rettung funktioniert, und bleibt deswegen angesichts drohender Übermacht passiv. In 14,18 will er mit Hilfe der Lade JHWH in den Kampf einbringen – dass das nicht funktioniert, hat Israel schmerzlich in 1 Sam 4,11 erfahren 34 – führt dieses Vorhaben dann aber doch nicht zu Ende (14,19). Er leistet später einen hochproblematischen Schwur unter Anrufung JHWHs (14,39), der an den ebenso problematischen Schwur Jiftachs (Ri 11,31) erinnert, der JHWH im Kampf manipulieren wollte. 35 Dass Saul sich in 14,39 überhaupt auf JHWH beruft, ist eine ironische Wendung, denn in der bis dahin erzählten Handlung hat Saul gerade nicht darauf vertraut, dass JHWH Israel retten würde. Diese Ironie wiederholt sich im zweiten Philisterkampf: In 17,37 verabschiedet Saul David mit dem Wunsch, dass JHWH mit ihm sei, versucht ihn aber gleich anschließend mit einer Rüstung auszustatten, die stark der des Philisters ähnelt, 36 und stellt so sein Vertrauen auf Quantitäten über das Vertrauen auf JHWH. Dabei hatte David ihm doch ab 17,34 vorgeführt, wie seine bisherige Erfahrung mit JHWH ihm Siegessicherheit verleiht. 37 Dass hierin eine prinzipielle Haltung Sauls liegt, zeigt 14,52: Saul sucht unentwegt nach starken Männern, nicht aber nach JHWH. 38 Saul ist mit seinem Verhalten nicht nur nicht hilfreich, er wendet sich damit auch gegen sein eigenes Volk. Er versagt seinem kämpfenden Volk das Essen (14,24), was Jonatan deutlich kritisiert (14,29–30), und hindert es auch noch am Schlaf (14,36). 39 Dabei kämpft er für seinen Erfolg (14,24) und nicht für den des Volkes. Die Folge davon ist ein schlimmes Vergehen des Volkes, dass 32 Vgl. FIRTH, Samuel S. 164. 33

Vgl. FIRTH, Kingdom S. 58. Diese Aussage treffen auch 1 Sam 1–7: »the opening seven chapters of Samuel set the scene for the emergence of kingship by noting that monarchy is the direction in which Yahweh is moving the nation, but at the same time monarchy is not something that is needed if Israel is to win battles. Kingship will need to have a different function.« ebd. S. 58. 34 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 130. 35 Vgl. FIRTH, Samuel S. 164 f.; Dietrich, 1 Sam 13–26 S. 108. 36 Vgl. FOKKELMAN, Crossing Fates S. 176. 37 Vgl. GEORGE, Identity S. 404. 38 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 136. Dass David in 16,18 als ein solcher Krieger bezeichnet wird, karikiert Sauls Suche, denn David zeigt ja anschließend, wie er trotz dieser Eigenschaft auf andere Weise den Kampf gegen den Philister gewinnt. 39 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 207.

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sich – wohl hungrig und müde – an der Beute satt isst, dabei aber blutiges Fleisch zu sich nimmt; möglicherweise wollte Saul so etwas mit seinem Schwur in 14,24 gerade verhindern. 40 Die daraus entstehende Gefahr für das Volk ist grundsätzlicher Natur. 41 Nach Dtn 12,23–35 hängt am blutfreien Verzehr des Fleisches das Wohlergehen des Gottesvolkes, weil sich daran sein Gebotsgehorsam zeigt – damit hat Saul selbst allerdings offensichtliche Probleme. Sauls Handlungen machen ihn letztlich zum Gegner des Gottesvolkes. In 1 Sam 17,1–18,4 wird das an den vielen Parallelen deutlich, die Saul mit dem Philister Goliat verbinden. 42 Saul ist ebenso wie der Philister auffällig groß, 43 und beide vertrauen auf Quantitäten, weswegen Goliat David für einen ungeeigneten Gegner hält (17,43) und Saul David ausrüsten will (17,38). Saul will David davon abhalten, gegen den Philister zu kämpfen (17,33), so wie auch der Philister selbst einen Kampf verhindert, indem er möglichst angsteinflößend auftritt (17,4–7). Sauls Argument gegen David ist Davids mangelnde Erfahrung in Kriegsdingen, dieses Argument funktioniert aber nur, weil Saul sich auf das Weltbild des Philisters einlässt, das den Sieg des unwahrscheinlichen Kandidaten durch JHWHs Hilfe nicht vorsieht. 44 »Saul was responding within Goliath’s frame of reference: if one wants to fight a heavily armed giant, one should go out heavily armed.« 45 Vor diesem Hintergrund wendet sich David in 17,47 nicht gegen Goliats Waffen, sondern vor allem gegen die Waffen Sauls, von denen keine Rettung zu erwarten ist. 46 Saul hätte das alles schon aus 1 Sam 14,1–46 wissen können. Die Erzählung lässt aber nicht zu, dass Saul die Zusammenhänge versteht. Sie distanziert ihn vielmehr noch stärker davon, sodass vieles, was Saul noch tut, ironisch wirkt. Am deutlichsten wird das in der versuchten Kommunikation mit JHWH in 1 Sam 14,37. Saul erhält von ihm keine Antwort auf seine Frage. JHWH mag sein Schweigen mit Sauls Fehlverhalten, dem schon erfolgten Teilsieg oder auch anders begründen, die Erzählung schweigt darüber. Saul aber sieht, nicht ganz falsch, eine Schuld im Volk, die die Kommunikation mit Gott verhindert. 47 Dass er selbst aber der Schuldige sein könnte, scheint für ihn ausgeschlossen. 40 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 133. 41 Vgl. BRUEGGEMANN, Samuel S. 105. 42 Vgl. NITSCHE, David S. 38. 43

Vgl. KLEIN, David S. 99. Auch Goliats und Sauls Tod (1 Sam 31) gleichen sich: Beide verlieren ihren Kopf, beide Rüstungen werden an besonderen Orten aufbewahrt, so wie die Philister nach Goliats Tod fliehen, flieht Israel nach Sauls Tod und beide Völker werden im Rückzug tödlich verfolgt, vgl. GEORGE, Identity S. 399. 44 Vgl. FIRTH, Samuel S. 199. 45 Ebd. S. 199. 46 Vgl. POLZIN, Samuel S. 171. 47 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 133.

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Der folgende Losentscheid über Sauls Frage, warum Gott nicht antwortet, trifft im ersten Schritt Saul und Jonatan, wodurch sich im zweiten Schritt die beiden Erzählfiguren gegenüberstehen, die die prinzipiell unterschiedlichen Herangehensweisen an die Herausforderung durch die Philister repräsentieren. 48 Saul sieht sich bestätigt, weil Jonatan, auf den das Los im zweiten Schritt fällt, tatsächlich gegen seinen Schwur verstoßen hat. Die Erzählung baut hier aber eine ironische Spannung zwischen Sauls Perspektive und der der Leser auf: Letztere wissen, dass Jonatan eigentlich gut gehandelt hat und so die Rettung des Volkes ermöglichte. Vermutlich antwortet JHWH in diesem Losentscheid also gar nicht auf Sauls Frage, so wie er es auch in 14,37 nicht getan hat. Angesichts von Sauls Versagen wiederholt sich hier eher die Frage des vorherigen Losentscheides aus 1 Sam 10,20–21, wer im Volk die Rolle JHWHs als Retter übernehmen könnte (10,17,19). Auch in dieser Perspektive fällt das Los dann richtig auf Jonatan, der gerade deswegen Israels Rettung ermöglichte, weil er sich an JHWH zurückgebunden hat. Hätte JHWH Sauls Königtum in 1 Sam 13,14 nicht den Bestand versagt, Jonatan hätte sich hier als Sauls Nachfolger qualifiziert. Jonatans Charakterisierung bereitet so auf David in 1 Sam 17,1–18,4 vor, der sich ebendort qualifiziert und nach dieser Qualifikation von Jonatan symbolisch die Königsnachfolge übergeben bekommt (18,3–4). 49 Die Qualifikation der beiden liegt allerdings nicht im Sieg gegen die Philister, sondern in der Herangehensweise an dieser Herausforderung. Beide sehen die Identität Israels bedroht. Deswegen benennen beide die Philister als Unbeschnittene (14,6; 17,26.36), was Saul erst kurz vor seinem Tod tut (1 Sam 31,4), und bringen so einen Identitätsmarker des Volkes in Erinnerung. 50 Diese Identität zeigt sich im speziellen Verhältnis Israels als erwähltes Gottesvolk zu seinem Gott JHWH. David setzt sich in 1 Sam 17,1–18,4 für diese Identität ein: »David has grasped the special nature of Israel’s role before the nations in a way that Saul never does – Israel exists as a witness to the nations of the reality of Yahweh.« 51 Seine grundlegende Motivation gegen Goliat vorzugehen, ist dessen Verhöhnen Israels und damit auch JHWHs (17,26.36.45). Die dahinterstehenden theologischen Überzeugungen fasst David in 1 Sam 17,46–47 zusammen: Alle Welt soll erkennen, dass es in Israel einen Gott gibt (17,46), was ein entsprechendes Verhalten fordert. Zu diesem Verhalten gehört es, das falsche Vertrauen auf Waffen abzulegen und auf Rettung durch JHWH zu vertrauen (17,47).

48 Vgl. ebd. S. 135. 49 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 252. 50 Vgl. GEORGE, Identity S. 403. 51

FIRTH, Samuel S. 200.

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Dass Saul in 1 Sam 14,1–46 daran scheitert, bereitet seine Verwerfung in 1 Sam 15 vor. Auch wenn dieser Zusammenhang in 1 Sam 15 nicht explizit gemacht wird, bestätigt er sich in 1 Sam 17,1–18,4 durch Parallelen zwischen Davids ältestem Bruder Eliab und Saul. 52 Eliab ist ebenfalls auffällig groß (16,7) und stellt sich David in den Weg (17,28). Vor allem aber ist Eliab wie Saul verworfen (16,7). 53 Das im Rahmen der Königseinsetzung gewichtige Verb ‫מאס‬ (mʾs; verwerfen) taucht hier das letzte Mal in den Samuelbüchern auf. Während Eliabs Verwerfung in 16,7 rätselhaft bleibt, weil er keine Gelegenheit hatte, sich verwerflich zu verhalten, wird in 1 Sam 17,1–18,4 durch die Parallelisierung zu Saul deutlich, dass es bei dieser Verwerfung Eliabs wiederum um Saul geht. Saul muss nicht erneut verworfen werden, durch Eliab wird aber klar, dass Sauls Verhalten in 1 Sam 17,1–18,4 so problematisch ist, dass er für so etwas verworfen wurde. Sauls Verwerfung in 1 Sam 15 geschieht also nicht nur wegen seiner Missachtung eines expliziten Gebotes, sondern auch, weil der gesalbte König in 1 Sam 14,1–46 und 1 Sam 17,1–18,4 zur Bedrohung für die Identität seines Volkes wird. 54 Das schon in 1 Sam 15 anklingende Thema des Exodus, an dem sich Israels Erwählung zeigt und weswegen es Gebotsgehorsam zeigen soll, findet sich auch in 1 Sam 17,1–18,4 wieder. Goliat bezeichnet das Volk als »Knechte Sauls« (17,8), das Volk geht davon aus, dass, wer auch immer Goliat besiege, vom König »frei« (‫ ;חָ פְ ִשׁי‬ḥopšî) gemacht würde. Dieses Adjektiv wird nur an dieser Stelle auf eigentlich Freie angewendet, steht sonst aber immer im Zusammenhang mit Sklaven (vgl. etwa Dtn 15,12–13.18).55 Das Volk scheint vom König Saul also eine Abhängigkeit erlangt zu haben, die in problematischem Kontrast zur Befreiung aus der Sklaverei Ägyptens und der daraus resultierenden Herrschaft JHWHs steht (1 Sam 8,7–8; 10,18–19; 12,8.12). 364F

52 Vgl. KLEIN, David S. 66. 53 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 228. 54

»In 1 Samuel the formation of the Israelite state under a monarchy threatens to erode Israel’s religious tradition, a heritage in which personal piety has a crucial place. Saul symbolizes this danger […].« CHAPMAN, 1 Samuel S. 16. »David at his best sometimes manages to rise above it«, ebd. S. 16. 55 Vgl. NITSCHE, David S. 35 Anm. 39.

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1 Sam 9–10 und 1 Sam 16,1–13; 17,1–18,4: Saul versagt im Kontrast zu David

Das Scheitern Sauls kündigt sich schon früher als in 1 Sam 13,1–15 an. Das wird allerdings erst sichtbar, wenn man Davids Einführung in 1 Sam 16,1–13 und 1 Sam 17,1–18,4 in einer Relecture mit der Sauls in 1 Sam 9–10 vergleicht. Für sich genommen wirkt die Einführung Sauls unkritisch und lässt Saul eher sympathisch erscheinen. 56 Es hätte mit ihm nicht von Anfang an zu dem bösen Ende kommen müssen, das sich für ihn ergeben hat. 57 Verglichen mit David ergeben sich allerdings Aspekte, die im Nachhinein als zumindest potentiell problematisch für Saul gelesen werden können. Zunächst einmal ähneln sich beide Einführungen deutlich: Die Salbung findet im Geheimen statt (1 Sam 10,1; 16,1–13), wird später öffentlich anerkannt (1 Sam 10,17–24; 2 Sam 5,1–5) und bestätigt sich in einer kämpferischen Qualifikation (1 Sam 11; 17). 58 Den Rahmen der Salbung bildet ein Opfer (1 Sam 9,12; 16,2.5), der zu Salbende ist jeweils unerwartet und erscheint als zu gering für das Amt (1 Sam 9,21; 16,11). 59 Vor diesem Hintergrund werden die jeweiligen spezifischen Unterschiede aber bedeutsamer. Saul und David werden jeweils mit einer Aufgabe ihres Vaters losgeschickt (1 Sam 9,3; 17,17–18) und kommen so auf Umwegen zum Königtum. 60 Die Aufgabe selbst scheint dabei nicht von Bedeutung zu sein, allerdings ruft sie jeweils das Motiv des Hirten wach: 61 Saul soll nach den Eseln seines Vaters sehen, David, der ab 16,12 als Hirte eingeführt ist, sich um seine Brüder sorgen – diese Aufgabe übererfüllt er, wenn er sich gegenüber Saul als Hirte darstellt (17,34–35), der in dieser Haltung auch Israel Rettung verschaffen wird (17,37). Saul dagegen übernimmt diese Funktion nicht, die Eselinnen seines Vaters werden von anderen gefunden (9,20). Diese erste Prüfung Sauls 62 lässt ihn insgesamt nicht als den erscheinen, der zur Rettung Israels fähig wäre. Nicht er geht auf Samuel zu, um an der Suche der Eselinnen dran zu bleiben (10,6), und nicht er hat ein Geschenk für den Propheten (10,8), das leistet jeweils sein Begleiter. 63 Auch die Wertung äußerer Merkmale ist unterschiedlich. Bei Davids Salbung wird Samuel scharf von JHWH dafür kritisiert, dass er fälschlicherweise 56 Vgl. SCHROER, Samuelbücher S. 63. 57 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 103. 58 Vgl. FIRTH, World S. 26 f. 59 Vgl. AULD, Samuel S. 96. 60 Vgl. AULD / HO, Making S. 26. 38. 61 Vgl. RUDMAN, Stories S. 524. 62 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 104. 63

Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 19.

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auf das Äußere Eliabs achtet, der hoch gewachsen zu sein scheint (16,7). Diese Eigenschaft wird ebenso Saul bei seiner Einführung in die Handlung zugeschrieben (9,2), dann aber ironisch gegen ihn gewendet (9,21; 15,17). 64 In 1 Sam 10,24 verkündet Samuel dem Volk, dass Saul der erwählte JHWHs sei, direkt nachdem dessen Größe durch die Erzählstimme genannt wurde. Ebendiese Abfolge ist bei der Suche nach David in 1 Sam 16,1–13 das Problem Samuels, für das er in 16,7 kritisiert wird. 65 Bei der Salbung Davids wird die äußerliche, menschlichen Sinnen zugängliche (vgl. 16,7) Gefälligkeit des Königskandidaten gegenüber der Salbung Sauls deutlich zurückgenommen. Ohnehin sind die menschlichen Einflüsse bei Sauls Wahl stärker als bei der Davids. Die Suche nach dem ersten König wird vom Volk selbst durch seinen Königswunsch in 1 Sam 8,5 initiiert, bei David geht die Initiative dagegen von JHWH aus (16,1). 66 Die Formulierungen in 16,1.3, JHWH habe für sich einen zum König ausersehen, zeigt einen Vorzug Davids gegenüber Saul an. 67 JHWH hat das Königtum grundsätzlich akzeptiert, er bestimmt bei David allerdings exklusiv über die äußeren Umstände der Königsauswahl. 68 Davids Weg zum Königtum ist so schon viel stärker durch JHWH abgesichert. Durch die spezifischen Unterschiede zu David scheint Saul im Rückblick mit allzu vielen potentiellen Problemfeldern ausgestattet. Die Maßstäbe für Sauls Versagen

Saul scheint in den bis hierher angesprochenen Texten als Versager angelegt zu sein und als solcher zu agieren; er scheitert ab 1 Sam 13 durchgängig an den Anforderungen, die an ihn gestellt werden. Diese Anforderungen sind zum Teil explizit in den Texten erwähnt, zum Teil sind sie implizit zu erschließen. Explizite und implizite Anforderungen verbindet, dass es dabei jeweils um das große Ganze des Königtums geht: Saul scheitert zwar auch an einer konkreten Bannanweisung, darin scheitert er aber vielmehr im Gehorsam gegenüber JHWH, der vom Königtum unmittelbar verlangt wird. Saul scheitert auch an seiner Angst vor einem übermächtigen Philister, er scheitert dabei aber noch mehr daran, Hirte für sein Volk zu sein und die Identität seines Volkes als erwähltes Volk JHWHs zu bewahren.

64 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 104. 65 Vgl. ebd. S. 147. 66 Vgl. BERGES, Verwerfung S. 218. 67 Vgl. ebd. S. 219. 68

Vgl. ebd. S. 219.

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Die Texte beziehen sich dabei immer wieder auf das Exodusgeschehen und seine Konsequenzen für Israel zurück. Dort hat JHWH sich als Retter erwiesen, deswegen sollte Saul auf Rettung durch JHWH hoffen und nicht auf Waffen als Rettungsmittel vertrauen oder versuchen JHWH durch Opfer zu manipulieren. Mit dem Exodusgeschehen begründet sich die Erwählung Israels (Dtn 4,37). Diese Erwählung zieht einen ethischen Anspruch nach sich, der auch für den von JHWH erwählten König Saul gelten müsste. Seinen Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot vergleicht Samuel deswegen mit Fremdgötterei. Saul treibt das letztlich weiter, wenn er sich gegen die Identität Israels stellt und sich der Perspektive des fremden Philisters Goliat anschließt. Die Folge dieser Verwerfung JHWHs durch Saul ist die Verwerfung Sauls durch JHWH. Wenn der König sich nicht an die Gebote hält, dann hat sein Königtum keinen Bestand. Der Gebotsgehorsam ist dabei kein Selbstzweck, sondern soll die Freiheit des Volkes unter seinem Herrscher JHWH sichern, der es dafür aus der Herrschaft Ägyptens gerettet hat. Der König sollte deswegen für sein Volk agieren und es nicht in die Unfreiheit führen. Ebenso wenig sollte er sich zwischen JHWH, den eigentlichen Herrscher, und JHWHs Volk stellen. Diese aus 1 Sam 13,1–18,4 extrahierten Maßstäbe sind grundsätzlich schon in 1 Sam 8–12 angelegt. Dreimal wird das Heraufführen Israels aus Ägypten durch JHWH argumentativ eingespielt (1 Sam 8,8; 10,18; 12,6), womit im jeweiligen Kontext immer das besondere Verhältnis JHWHs zu seinem Volk betont wird. Dabei wird die Haltung JHWHs zum Königtum ab 1 Sam 12,6 entschärft. Während in 1 Sam 8,7–8; 10,18–19 JHWH sich selbst als den Verworfenen sieht, der Israel errettet hat, beschreibt Samuel ab 12,6, wie trotz des Königtums das Verhältnis von JHWH und seinem Volk gelingen könnte. 69 Dazu muss die Königsherrschaft weiterhin eine Herrschaft JHWHs bleiben und das Volk auf JHWH hören (12,14), ihn fürchten (12,24) und ihm folgen (12,14.20.21). 70 Treffen diese Anforderungen zunächst das Volk selbst, so treffen sie auch den König dieses Volkes, was sich spätestens in 1 Sam 15 bestätigt. In 12,9–10 führt Samuel aus, dass Rettung und Gottesverhältnis in der Geschichte eng zusammenhingen. Daraus erwächst eine Aufgabe für den König, der nun diese Retterfunktion vom Volk übertragen bekommen hat (8,20). 71 69 Vgl. FIRTH, Kingdom S. 60. 70 Vgl. FIRTH, Samuel S. 151 f. 71

Allerdings ist in 1 Sam 8,20 zu vermuten, dass das Volk selbst vom König mehr als Rettung will, denn es wünscht von Samuel einen König, der richtet und der in die Kriege auszieht. In den Krieg zu ziehen scheint als aktiver Akt der Aggression kein Weg zu sein, aus einer Bedrohung zu

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Das Volk hat ihn in der Philisternot herbeigewünscht, 72 nun muss er dieses Volk vor den Philistern so retten, dass er dabei JHWH treu bleibt. 73 Daran scheitert Saul in 1 Sam 14,1–46 und 1 Sam 17,1–18,4 allerdings. Die Philister, die zum Anlass für dieses Scheitern werden, sind innerhalb der Samuelbücher schon selbst prototypische Feinde, lassen sich aber zusätzlich mit den ebenso prototypischen Ägyptern parallelisieren. 74 Das macht Sauls Versagen größer, denn in einer solchen parallelen Betrachtung scheint er grundsätzlich nicht dazu in der Lage zu sein, Israel dem Exodus gemäß zu retten. Die Ursache dafür ist nicht, dass er den Philistern militärisch unterlegen wäre, sondern dass er nicht auf die Stimme JHWHs hört, weswegen er auch trotz eines militärischen Erfolgs in 1 Sam 15 verworfen wird. Das Hören auf JHWH ist eine Klammer um die grundsätzlichen Texte zum Königtum, die auf Sauls Verwerfung voraus verweist: »Die Wortfügung ›auf die Stimme hören‹ verbindet Kap 15 einerseits mit Kap 8, denn dort wird von Samuel verlangt, auf die Stimme des Volkes zu hören und einen König einzusetzen, andererseits mit Kapitel 12, wo Samuel betont, dass der König und das Volk auf die Stimme des Herrn hören müssen. Auf diese Weise wird das Verhalten Sauls in Kap 15 durch die vorangegangenen Kapitel beleuchtet: Der König, der aufgrund der Stimme des Volkes eingesetzt worden ist, hat keinen Erfolg, wenn er nicht auf die Stimme des Herrn hört.« 75

Dieser Unterordnung des Königs unter JHWH und dem Anliegen des Volkes scheint das Königsrecht zu widersprechen, das Samuel in 1 Sam 8,11–18 dem Volk vor Augen führt, um vor dem Königtum zu warnen. Die dort aufgeführten Rechte dienen allein den Vorhaben des Königs selbst, es geht um seine eigene militärische, politische und finanzielle Tätigkeit und nicht um die Anliegen seines Volkes. 76 Schließlich soll es sogar das Recht des Königs sein, das Volk zu Knechten zu machen (8,17). Damit scheint der Zustand in 1 Sam 17,1–18,4 legitimiert, in dem das Volk gegen seine eigentliche Identität als von

retten, sondern allenfalls einer, eine Bedrohung herzustellen. Aber auch an dieser Anforderung des Volkes scheitert Saul, der in 1 Sam 14 und 1 Sam 17 keine Initiative gegenüber den Philistern übernimmt. 72 Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 8. 73 Vgl. FIRTH, Samuel S. 152. 74 Ihre Beschreibung in 1 Sam 7,7–8 ähnelt der der Ägypter in Ex 14,10, beide werden von JHWH verwirrt und anschließend besiegt (Ex 14,24.30; 1 Sam 7,10), vgl. HARVEY, Torah S. 48 f. Schon früher scheinen die Philister – und auch die Israeliten – den Ägyptern zu ähneln: »In the ark narrative one finds that both the Philistines and Israel are presented as new Egypts that challenged the sovereignty of God« ebd. 50. 75 Vgl. BAR-EFRAT, Das Erste Buch Samuel S. 215. 76 Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 12.

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JHWH befreites Volk vom König unfrei gemacht worden ist. 77 Scheitert Saul also vielleicht doch gar nicht, sondern erfüllt genau die Erwartungen, die ihm als Recht von Samuel zugeschrieben werden? Dieser Widerspruch ist zu erklären, wenn man die rhetorische Funktion dieses Königsrechts betrachtet: Es prüft den Königswunsch des Volkes anhand der damit verbundenen Konsequenzen. Das Recht des Königs widerspricht deswegen den Vorstellungen davon, wie ein guter König sein sollte, weil der Wunsch des Volkes nach einem König an sich schon widersprüchlich ist, denn damit verwirft es seinen bisherigen, befreienden König JHWH (8,7–8). Das wird in der Konsequenz des Königsrechts in 8,18 zugespitzt: JHWH stellt hier selbst in Frage, ob er noch einmal wie dereinst in Ägypten (vgl. Ex 3,7) auf das Schreien seines Volkes hören wird, wenn es sich durch eigenen Wunsch wieder in eine andere Herrschaft als die seines Gottes begeben hat. Um genau das zu verhindern, gibt es im »Verfassungsentwurf« des Deuteronomiums die Regulierung des Königtums in Dtn 17,14–20, die ab 1 Sam 8 durch intertextuelle Verweise eingespielt ist und damit auch zum Maßstab wird, an dem Saul gemessen wird und der sein Versagen begründet. Die intertextuelle Einspielung beginnt mit dem Königswunsch des Volkes in 1 Sam 8,5, der die Option auf ein Königtum in Israel aus Dtn 17,14 nicht nur sachlich einlöst, sondern auch zitiert. 78 Im weiteren Verlauf von 1 Sam 8–10 wird das von Dtn 17,15 vorgeschriebene Verfahren zur Königseinsetzung umgesetzt: 79 JHWH erwählt einen König (1 Sam 9,1–10,16), den das Volk aus den eigenen Reihen anschließend einsetzt (1 Sam 10,19–24; 11,15). Weitere Verbindungen entstehen durch gleiche Grundorientierungen. Der Exodus wird zur Begründung dafür, dass der König in seiner Herrschaft eingeschränkt wird (Dtn 17,16). Von diesem König wird Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes gefordert (Dtn 17,19; vgl. 1 Sam 12,14; 13,13–14; 15,22). 80 Erst dann gelingt das Königtum, und der König kann eine Dynastie gründen (Dtn 17,20). Vor diesem Hintergrund wird die seltsam anmutende Konsequenz von Sauls Fehlverhalten in 1 Sam 13,1–15 erklärbar. Zwar wurde Saul keine Dynastieverheißung gegeben, die man zurücknehmen könnte, 81 gerade diese Lücke bestätigt aber die schon vorher angelegte intertextuelle Verbindung der geäußerten

77 Vgl. BERGES, Verwerfung S. 231. 78

Weitere wörtliche Zitate aus Dtn 17,14–20 sind in Bezug auf Saul nicht zu finden, allerdings könnte sich die Salbung Davids in der Mitte seiner Brüder in 1 Sam 16,13 stichwortartig auf Dtn 17,15 beziehen. 79 Vgl. ROSE, 5. Mose S. 78. 80 Vgl. FIRTH, Kingdom S. 60. 81 Vgl. BRUEGGEMANN, Samuel S. 100; DIETRICH, 1 Sam 13–26 S. 47.

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Maßstäbe mit Dtn 17,14–20. 82 Für eine wirklich nachvollziehbare Begründung dessen, was Samuel tut, müssen die dort formulierten Anforderungen an den König mitbedacht werden. Dazu gehört auch eine radikale Abhängigkeit des Königs von JHWH, die sich in Dtn 17,18–19 im Verhältnis des Königs zur Tora zeigt, die Samuel in 1 Sam 13,1–15 und 1 Sam 15 vertritt. Ebenso hat der König eine Verantwortung für das Volk, dessen Bruder er nach Dtn 17,20 ist und über das er sein Herz nicht erheben soll. Diese Verantwortung zeigt sich in der Beschränkung der militärischen, politischen und finanziellen Tätigkeit des Königtums in Dtn 17,16–17. Nicht nur ist damit aufgezeigt, wie es trotzt dieser Tätigkeit, die in 1 Sam 8,11–17 legitimiert wird, ein der Freiheit des Volkes angemessenes Königtum gegeben kann, auch wird damit ein falsches Vertrauen auf vermehrbare Güter kritisiert, wie es Saul in 1 Sam 14,1–46 und 1 Sam 17,1–18,4 zeigt. Die Maßstäbe aus 1 Sam 8,1–18,4 und Dtn 17,14–20 werden auch im weiteren Erzählverlauf des Ersten Samuelbuchs an Saul angelegt. Obwohl Saul ab 1 Sam 15 verworfen ist und sich in 1 Sam 17,1–18,4 noch einmal deutlich disqualifiziert hat, wird er nicht sofort von David abgelöst. Stattdessen werden beide Gesalbten vergleichend weitererzählt, wobei jede ihrer Handlungen ihre Qualifikation beziehungsweise Disqualifikation bestätigt. »Saul is rejected, David elected, and each new incident drives this home.« 83 Sauls ultimatives Versagen in 1 Sam 28 an seinem letzten Lebenstag ruft noch einmal 1 Sam 15 in Erinnerung. Saul lässt einen Totengeist, den toten Samuel, beschwören (28,8) und wird von diesem an den nicht vollstreckten Bann an Amalek erinnert (28,18). So bestätigt sich, dass Saul auf fundamentale Weise seine ganze Königsherrschaft über an den Anforderungen gescheitert ist, die ihm zu Anfang gestellt wurden. 84 Die Anforderungen, an denen Saul scheitert, sind ihm teilweise mitgeteilt worden. Sie sind allerdings den Lesern der Texte deutlich besser zugänglich. Sie erhalten Zugang zu expliziten Äußerungen JHWHs in 1 Sam 8,7–9; 15,11, anhand derer fundamentale Ansprüche an das Königtum sichtbar werden. Leser können außerdem Saul und David vergleichen, sie werden von den Texten sogar dazu gedrängt, in der Gegenüberstellung der beiden die geltenden Maßstäbe zu erkennen, mit denen das Königtum gemessen wird. 82

Das bestätigt sich auch darin, dass die Kontrastfigur zu Saul, David, nach erfolgreicher Qualifikation als König in 2 Sam 3,2–5 eine Dynastie gründet, der in 2 Sam 7,11–13 von JHWH Bestand verheißen wird. 83 JOBLING, 1 Samuel S. 90. 84 Das Ganze wird noch darin ironisch gewendet, dass Saul sich selbst Nahrung verweigert, bevor er am nächsten Tag gegen die Philister zu kämpfen hat (1 Sam 28,20–24) und sich damit selbst so unnötig beschränkt, wie er es mit seinem Volk in 1 Sam 14,24 getan hat.

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So wird Saul vor allem in den Augen der Leser zum Versager, gleichzeitig wird aber auch seine Person weniger relevant. Dass er es nicht schafft, den grundsätzlichen Anforderungen zu genügen, die ihm gestellt werden, 85 liegt in seiner Rolle begründet: »He has to be bad so that David can be good.« 86 Saul dient dazu, David als Kontrast zu charakterisieren, indem er als erster König des an sich problematischen Königtums eingeführt wird. 87 Dieser David wird allerdings derart idealisiert, solange er mit Saul oder seinem direkten Nachfolger Isch-Boschet interagiert, dass auch diese Darstellung den Verdacht erweckt, dass diese Erzählfigur nicht für sich von Bedeutung ist, sondern ein komplementäres Element in einem Königskomplex Saul-David darstellt. Beide zeigen dann, was mit dem Königtum in Israel unter der Maßgabe von 1 Sam 8–12 in Verbindung mit Dtn 17,14–20 möglich wäre – in schlecht- und bestmöglicher Vorstellung. Dabei vertritt David ebenfalls kein ideales Königtum, denn selbst in seiner fehlerlosen Zeit kommt es zu einem Bürgerkrieg (2 Sam 3,1.6), den er wohl nur durch seine Existenz als Gegenkönig auslöst. Ebenso gibt es politische Morde im Kontext des Königtums (2 Sam 3,27; 4,7). Im Königskomplex Saul-David summieren sich die negativen Einflüsse Sauls und die positiven Davids daher nicht auf Null, weil es mit dem Königtum grundsätzliche Probleme gibt, die auch David nur adressieren, aber nicht vermeiden kann: Es steht dem Wesen Israels als Volk JHWHs im Weg (1 Sam 8,7–8). Der sehr gute und der sehr schlechte König sind beide Ausdruck eines tieferliegenden Versagens des Volkes, das sich diese Könige gewünscht hat.

Das Königtum ist ein Versagen Israels und Saul ein Bild dafür Ein näherer Blick auf das Versagen Sauls lenkt also den Blick weg von Saul selbst und hin auf das grundsätzliche Problem, das mit dem Königtum, dessen Geschichte in Israel Saul eröffnet, verbunden ist. »In 1 Samuel the formation of the Israelite state under a monarchy threatens to erode Israel’s religious tradition, a heritage in which personal piety has a crucial place. Saul symbolizes this danger; David at his best sometimes manages to rise above it.« 88 Dieses Problem betrifft weniger den König als sein Volk. Deswegen ist das Volk auch der Adressat der Königsoption aus Dtn 17,14–20 und der grundsätzlichen Aussa85

»Im Blick auf das Textganze von 1 Sam 8 bis 1 Sam 15 stellt sich in der Tat die Frage, ob Saul je eine Chance hatte, die ihm bzw. dem Königtum vom Beginn an entgegengebrachten Befürchtungen zu entkräften und die auf ihm ruhenden Erwartungen zu erfüllen.« DIETRICH, 1 Sam 13– 26 S. 18. 86 JOBLING, 1 Samuel S. 90. 87 Vgl. MCKENZIE, Deuteronomistic History S. 68. 88 CHAPMAN, 1 Samuel S. 16.

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gen in 1 Sam 8–12. Dass diese Maßstäbe verankert werden, bevor ein erster König überhaupt eingesetzt ist, zeigt, dass es hier um Grundsätzliches geht. Auch das Volk verhält sich deutlich problematisch. Dass es sich einen kriegsführenden König wünscht, widerspricht aller Erfahrung der vorherigen Erzählungen der Samuelbücher – und freilich auch der Erfahrungen seit dem Exodus –, in denen JHWH Israels Kriege führt, und der Geschichte dieses Volkes mit seinem Gott insgesamt. 89 Wenn sich das Volk nun einen anderen König als JHWH wünscht, dann schickt es sich damit selbst in eine sklavenähnliche Abhängigkeit (1 Sam 8,18), 90 denn die Macht, die dieser König nach außen ausübt, wird mit der Macht korrespondieren, die er nach innen wirken lässt. 91 Das Volk geht diesen Schritt sogar bewusst, denn die Darstellung des Königsrechts in 8,11–17 ist eine einzige Warnung vor diesen Konsequenzen. Auf diese Warnung, die eigene Identität aufzugeben, will das Volk nicht hören (1 Sam 8,19). Dabei müsste das Volk, damit das Königtum gelingen kann, auf JHWH hören, ihn fürchten und hinter ihm folgen (12,13–15). Erst nachdem Samuel diesen Zusammenhang verbalisiert hat, erkennt das Volk seinen Fehler an, sich einen König zu wünschen und bekennt seine Sünden (12,19). Anders als Saul trifft das Volk hier aber nicht die Verwerfung, sondern es erhält die Möglichkeit, sich durch entsprechendes Verhalten in der Zukunft zu bewähren (12,20– 22). Unter Saul allerdings erlebt es unmittelbar die gravierenden Folgen seines Wunsches. Saul ist ein König, der an der besonderen Herausforderung scheitert, als König Israels den Gott Israels nicht zu ersetzen. Das führt einerseits dazu, dass Saul sich gegen sein Volk wendet und es andererseits nicht vor den externen Feinden retten kann. Selbst wenn das Volk hier konsequent auf JHWH hörte, was es beim Gebot aus 1 Sam 15,3 nicht tut, erlitte es trotzdem die Fehler seines Königs. Saul versagt auf ganzer Linie vor allem deswegen, weil er die Fehler auslebt, die im Königtum angelegt sind und die deswegen teilweise lässlich erscheinen, wenn man sie nur auf seine Person bezieht. 92 Hinter dem versagenden Herrscher Saul steht ein Volk, dessen Wunsch nach einer ihm wesensfremden Herrschaft der Beginn seines Versagens ist. Dieses Versagen ist für das Volk bedrohlich. Zwar kennt 1 Sam 12,24 die Möglichkeit, dass es dem Volk mit seinem König gut ergeht. Dieses Kapitel endet aber mit der Ankündigung des Untergangs, falls das Volk weiter versagt 89 Vgl. FIRTH, Kingdom S. 59. 90 Vgl. CHAPMAN, 1 Samuel S. 99. 91

Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 67. Dabei legt sich ein Vergleich mit dem Dornstrauch aus der Jotamfabel nahe (Ri 9,15), dessen Dornen Schutz versprechen, der aber eben damit auch denen keinen Schatten spendet, die unter ihm stehen. Dieser Baum ist Schutz und Drohung zugleich. 92 Vgl. DIETRICH, 1 Sam 13–26 S. 5.

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(12,25). Die erzählte Geschichte Israels löst diese Drohung ein: In 2 Kön 17,20 wird begründet, warum das Volk zusammen mit seinem König die Verwerfung JHWHs trifft, die JHWH vom Volk in 1 Sam 8,7 erfahren hat 93 – die Ursache dafür ist das ständige Scheitern von König und Volk am Gehorsam gegenüber JHWH, die Folge davon der Untergang des Königtums und das Exil. Sauls Königtum ist eine Schablone für das Scheitern der späteren und wohl auch historisch eher greifbaren Könige. 94 Für Leser dieser Texte ist das Königtum Israels daher vermutlich bereits Geschichte und die Erzählungen um Saul und David wohl eine Abstraktion, die deuten will, warum es zum Untergang Israels und Judas unter ihren Königen kommen konnte. 95 »I posit that 1 Samuel shapes the character of the first king to epitomize Israel’s experience with kings. How kingship came to be, what went awry, how and why failure compounded, and how to move past the discredited royal leadership post exile.« 96

In dieser Situation war es vermutlich aus Sicht der Texte nicht mehr adäquat, ein neues weltliches Königtum anzustreben, so grundsätzlich werden die damit verbundenen Probleme beschrieben. 97 In einer wie auch immer zu bildenden geistlichen Führung, die die Texte propagieren wollen, möglicherweise durch die Tora aus Dtn 17,18, läge eher Hoffnung auf Rettung aus der erfahrenen Unfreiheit, die dringend nötig zu sein scheint. Die Erzählung von Saul, dem ersten Versager unter den israelitischen Königen, ist ein Reflex auf ein historisches Versagen eines Volkes und seiner Herrschaftsstrukturen. Nicht ein Herrscher war ein Versager, alle haben in der Summe versagt. Die untersuchten Texte wollen dieses Versagen erklären und ihre Leser anhand von Saul und David davon überzeugen, diese Fehler aus der Geschichte nicht zu wiederholen.

93 Vgl. ebd. S. 167. 94

Vgl. DIETRICH, 1 Sam 13–26 S. 159; CHAPMAN, 1 Samuel S. 99. »Saul’s kingship is a mise-enabyme or a small representation of the larger story of kingship. The issue is not simply what wrong Saul did, but how is Saul shown to have done wrong, since he is an epitome of kingship, and kingship practiced poorly.« GREEN, Compassion S. 53. 95 Vgl. HALBERTAL / HOLMES, Politics S. 173. 96 GREEN, Unthinkable S. 2. 97 Vgl. GEORGE, Identity S. 408 f.

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Erasmus Gaß »Wegen der Sünden Manasses...« Vom Vorzeigevasallen zum Apostaten

Ja, der judäische König Manasse hat es nicht wirklich leicht gehabt. Nach dem erfolglosen Aufstand seines Vaters Hiskija gegen den assyrischen Großkönig Sanherib musste Manasse zu Beginn des 7. Jh. v. Chr. einen Scherbenhaufen verwalten: Die fruchtbaren Gebiete der Schefela waren an die philistäischen Stadtstaaten verloren gegangen. Die Bevölkerung der Schefela wurde deportiert oder floh ins judäische Bergland. Die Abgabe an Silber und Gold, die Juda aufgebürdet wurde, war enorm (fast 28 Tonnen Edelmetall). Durch eine kluge Außen- und Wirtschaftspolitik hat es Manasse aber geschafft, das kriegsgeschwächte Juda in relativ kurzer Zeit wieder aufblühen zu lassen. Dies hätte ihm eigentlich Lob einbringen müssen. Aber weit gefehlt! Schon bei einem flüchtigen Blick in das Alte Testament bemerkt man schnell, dass der judäische König Manasse im Gegensatz zu seinem Vater Hiskija, der mit seiner schlechten Politik fast eine nationale Katastrophe ausgelöst hatte, eine ausgesprochen schlechte Presse hat. 1 Trotz der großen Verdienste seines Nachfolgers Joschija, der mit seiner Kultreform eigentlich den richtigen Weg eingeschlagen hatte, konnte das Unheil, das Manasse bereits zuvor über Juda gebracht hat, nicht abgewendet werden, was 2Kön 23,26 betont: »Doch nicht kehrte sich JHWH ab von der großen Glut seines Zornes, mit der sein Zorn entbrannt war gegen Juda, wegen der Gesamtheit der Kränkungen, mit denen ihn gekränkt hatte Manasse«. Selbst als das Unheil endgültig seinen Lauf nahm und der Staat Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem ein erstes Mal im Jahr 597 v. Chr. vom babylonischen Großkönig Nebukadnezzar erobert wurde, verweisen die biblischen Autoren auf die Sünden Manasses (2Kön 24,3). 2 Damit aber nicht genug. Diesem ver1

Nach SCHIPPER, Hezekiah, S. 81 f. wird allerdings zunächst Hiskija und nicht Manasse für das Exil verantwortlich gemacht. Erst durch einige sekundäre Ergänzungen (2Kön 21,10–15; 23,26–27; 24,3–4) werde die Schuld Manasses am Exil nachgetragen. 2 Diese Stelle bezieht sich jedoch lediglich auf die erste Eroberung Jerusalems im Jahr 597 v. Chr., während Manasse nicht noch einmal für die Erklärung des Untergangs Judas im Jahr 587 v. Chr.

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werflichen König widmen die Autoren der Königebücher sogar ein eigenes Kapitel, in dem sie ihre ganze Verachtung für diesen König eintragen (2Kön 21). Manasse wird als paradigmatischer »Unheilsherrscher« 3 stilisiert, der den staatlichen Untergang ein Jahrhundert später bereits verursacht hat. Aber ist eine solch schwerwiegende Schuldzuweisung überhaupt gerechtfertigt? In einem ersten Punkt wird die historische Situation skizziert, in der Manasse gewirkt hat, wobei Texte und Archäologie berücksichtigt werden. In einem zweiten Punkt soll die biblische Verzerrung der Erfolge Manasses vorgestellt werden, bevor in einem dritten Punkt nach Gründen gesucht wird, weshalb Manasse nach der Bibel gescheitert ist.

1. Auf der Suche nach dem historischen Manasse Zunächst sollen die biblischen und außerbiblischen Quellen zu Wort kommen, bevor ein Blick in die Archäologie der Manassezeit geworfen werden soll. Auch wenn das biblische Zeugnis weitgehend – und zwar in der Tradition der Königebücher – eine negative Tendenz aufweist, können trotzdem einige zuverlässige biographische Daten zu Manasse erhoben werden. Nach 2Kön 20,21 ist Manasse nach dem Tod seines Vaters Hiskija König von Juda geworden. Da die Angabe der Inthronisation Manasses mit wayyiqtol – und damit als progressive Abfolge von Ereignissen – formuliert ist, darf man von einem Nacheinander von Tod Hiskijas und Inthronisation Manasses ausgehen. Somit hat es keine Korregentschaft von Hiskija und Manasse zu Beginn des 7. Jh. v. Chr. gegeben. Gemäß 2Kön 21,1 ist Manasse, der Sohn Hiskijas 4 und einer nicht näher bestimmten Hefzibah (»mein Gefallen ist an ihr«), 5 im Jahr 697/696 v. Chr. mit zwölf Jahren an die Regierung gekommen. 6 Angesichts seines noch jungen Alters haben vermutlich zunächst hochrangige judäische Verwaltungsbeamte die Herrschaft für den noch minderjährigen König ausgeübt. Es ist anzunehmen, dass diese Gruppierung eine proassyrische Politik vertreten hat. 7

bemüht wird, vgl. SCHMID, Manasse, S. 90 f. Nach OHM, Manasseh, S. 251 Anm. 34 ist die Schuld des Volkes für die Strafe in 2Kön 25 verantwortlich und nicht Manasse. 3 BLANCO WISSMANN, Rechte, S. 172. 4 Zur Regierungszeit seines Vorgängers Hiskija vgl. ausführlich GAß, Strudel, S. 1–10. 5 Nach NIEMANN, Brides, S. 230 könnte Hefzibah aus der lokalen Stammeselite stammen. 6 Das heißt dann aber auch, dass sein Vater vermutlich schon weit über 40 Jahre alt gewesen ist, als Manasse geboren wurde, vgl. zum Problem MILLER / HAYES, History, S. 421 f. 7 Vgl. KNAUF, Days, S. 175.

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Manasse herrschte insgesamt 55 Jahre bis zum Jahr 642/641 v. Chr. Er wurde folglich etwa 67 Jahre alt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern wurde Manasse nicht in der Königsnekropole der Davidstadt, sondern im Garten des Usa beerdigt, der in einer Verbindung zum Königspalast steht, wie dies 2Kön 21,18 behauptet: »er wurde begraben im Garten seines Palastes, im Garten des Usa«. 8 Der Wechsel der königlichen Begräbnisstätte könnte damit zusammenhängen, dass die ursprüngliche Königsnekropole keinen Raum mehr für zusätzliche Bestattungen bot. 9 Die Bestattung Manasses im »Garten des Usa« 10 zeigt darüber hinaus, dass es zu einer Individualisierung kam. Man legte sich nicht mehr zu seinen Vätern, sondern erhielt ein individuelles Begräbnis. 11 Auf Manasse folgte im Jahr 642/641 v. Chr. sein zweiundzwanzigjähriger Sohn Amon, der nach zwei Jahren bereits gewaltsam beseitigt wurde (2Kön 21,18–26). 12 Amon wurde offenbar im Jahr 664/663 v. Chr. geboren. In diesem Zeitfenster hat der Assyrer Assurbanipal die ägyptische Residenz- und Kultstadt Theben, biblisch No-Amon, erobert, 13 wo sich ein bedeutendes Heiligtum der Gottheit Amon befand. Durch die Namensgebung wollte Manasse offenbar seine besondere Loyalität zu Assur unter Beweis stellen. 14 Zuverlässigere Daten als die bislang gebotenen sind der Darstellung der Königebücher kaum zu entnehmen. Wie sieht es aber in der chronistischen Tradition aus? Um es gleich vorwegzunehmen: Ebenfalls schlecht. Im Großen und Ganzen wiederholt 2Chr 33,1–10 die Vorwürfe, die die Königebücher gegen Manasse bereits erhoben haben. 15 Zum einen hat Manasse das Böse in den Augen JHWHs getan, zum anderen hat er das Volk zum Bösen verführt. Die biblischen Chronikbücher berichten zudem über eine Inhaftierung Manasses in Babylon durch einen assyrischen Großkönig, 16 die aber historisch ebenso

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Nach 2Chr 33,20 habe sich Manasse zu seinen Vätern gelegt und sei in seinem Haus bestattet worden. Zu einer Bestattung der Könige im Alten Orient im jeweiligen Königspalast vgl. NAʾAMAN, Formulae, S. 247–249. 9 Vgl. MITCHELL, Judah, S. 381. 10 Zum »Garten des Usa« vgl. NAʾAMAN, Formulae, S. 251 f.; STAVRAKOPOULOU, Garden, S. 1–21; BECKING, Garden, S. 383–389; JONKER, Manasseh, S. 356 f. 11 Vgl. auch SURIANO, Politics, S. 114. 12 Zu Amon vgl. RAINEY / NOTLEY, Bridge, S. 256. 13 Vgl. MAYER, Politik, S. 399 f.; KAHN, Invasions, S. 264 f. 14 Vgl. NELSON, Realpolitik, S. 181; RUDMAN, Note, S. 404 f.; KNAUF / GUILLAUME, History, S. 122. 15 STAVRAKOPOULOU, Blackballing, S. 253 weist darauf hin, dass die chr. Tradition die Kultfrevel Manasses sogar noch steigert. 16 Nach KEEL, Geschichte, S. 475 erinnert die Erzählung der Inhaftierung Manasses an das Schicksal Zidkijas, so dass hier keine historische Information vorliegt. Auch BEN ZVI, Prelude, S. 38 f.; Handy, Manasseh, S. 230 halten diese Tradition für unhistorisch. Zum Problem der Inhaftierung Manasses in Babylon vgl. auch KELLY, Manasseh, S. 136–145; HIMBAZA, Manassé, S. 43–45.

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fragwürdig ist wie Manasses Bekehrung und Kultreform. 17 Im Kontext der Chronikbücher haben diese Sondertraditionen zumindest ein zweifaches Gewicht: Die Bekehrung Manasses kann nämlich zum einen die lange Regierungszeit dieses schlimmen Apostaten erklären. Denn nur ein guter König darf nach dem Entwurf der Chronikbücher lange leben. Manasse musste sich also bekehrt haben, um lange leben zu dürfen. Zum anderen kann Manasse in nachexilischer Zeit ein Beispiel für rechtes Verhalten sein. 18 So wie der schlimmste Davidide sich bekehrt und damit Unheil abgewehrt hat, sollen dies dann auch alle folgenden Generationen tun. In der chronistischen Tradition finden sich außerdem weitere Angaben über die Verdienste Manasses. So darf Manasse – offenbar mit Genehmigung des assyrischen Großkönig – seine Hauptstadt Jerusalem mit einer äußeren Mauer um die Davidstadt im Tal um den Ophel befestigen (2Chr 33,14). 19 Wahrscheinlich musste er ohnehin aufgrund des Wachstums der Hauptstadt weitere schützende Mauern errichten. Vermutlich wurde die untere Mauer im Talgrund zur Zeit Manasses aufgegeben und die obere Mauer befestigt. Da die äußere Mauer zusammen mit der Straße über Gebäuden aus Stratum 12 verlaufen, muss diese Anlage aus Stratum 11 und damit der Manassezeit stammen. 20 Durch die Verlegung von Heeresobersten in alle befestigten Städte Judas konnte Manasse sein Vasallenkönigtum militärisch absichern. 21 Durch die militärische Stärkung war Juda zum einen eine geeignete Pufferzone zwischen Assyrien und Ägypten und zum anderen Sprungbrett zur assyrischen Eroberung Ägyptens. 22 All dies lag auch im Interesse Assurs. Manasse wird darüber hinaus in assyrischen Quellen ebenfalls genannt. Auf dem Prisma Ninive A, das aus der Zeit des Eponymats des Atar-ilī – also aus dem 8. Jahr Asarhaddons (673 v. Chr.) – stammt, wird Manasse von Juda zu zwölf levantinischen Vasallen gerechnet, die beim Bau des Zeughauses (ekal māšarte) in Ninive mitgeholfen haben. 23 Wie diese Mitwirkung aussah, wird nicht näher ausgeführt. Entweder haben die Judäer nur die Bäume im Libanon 17 Vgl. hierzu EVANS, Policy, S. 498; KELLY, Manasseh, S. 143; KNOPPERS, Saint, S. 225. 18

Vgl. hierzu auch ABADIE, Manasseh, S. 101–104. Nach SCHNIEDEWIND, Source, S. 451 f. spiegelt das babylonische Exil Manasses zudem die Gola Israels wider. 19 Nach TATUM, Jerusalem, S. 299 f. ist diese chronistische Nachricht historisch zuverlässig, da es keinen Grund gibt, dem schlechten König Manasse einen Mauerbau zuzuschreiben. 20 Vgl. DE GROOT, Discussion, S. 161 f. 21 Nach Flavius Josephus hat Manasse hingegen Proviant und andere nötige Dinge anstelle der Heeresobersten in die Städte verlegt (Jos Ant X:44), vgl. hierzu auch BEGG, Story, S. 451. 22 Vgl. NIELSEN, Conditions, S. 104; NELSON, Realpolitik, S. 181; KELLY, Manasseh, S. 143; FINKELSTEIN / SILBERMAN, Posaunen, S. 286. 23 Ninive A V:55 [TIMM, Moab, S. 362; COGAN, Torrent, S. 133; GAß, Moabiter, S. 129; WEIPPERT, Textbuch, S. 339; LEICHTY, Inscriptions, S. 23].

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gefällt oder auch das Baumaterial nach Ninive befördert. 24 Da Manasse bereits der zweite König auf der Liste ist, scheint er als bedeutender Vasallenkönig betrachtet worden zu sein. 25 Nach Assurbanipal-Prisma C hat Manasse im Jahr 667 v. Chr. zusammen mit anderen Vasallenkönigen Assurbanipal bei seinem ersten Feldzug gegen Ägypten militärisch unterstützt. 26 Möglicherweise sind judäische Streitkräfte danach sogar in Ägypten stationiert worden. 27 Es ist durchaus möglich, dass Judäer bei anderen militärischen Operationen ebenfalls mitgewirkt haben, auch wenn die assyrischen Quellen darüber nichts verlauten lassen. Der Ausdruck »Könige des Landes Ḫatti« (LUGAL.MEŠ KURḫatti) und ähnliche Beschreibungen könnten nämlich den judäischen König Manasse eingeschlossen haben. 28 Vielleicht war der Tribut Manasses sogar geringer als derjenige der anderen Vasallen, auch wenn die anderen mitunter wesentlich ärmer waren. 29 In einer entsprechenden Tributliste [K 1295 = ABL 632], die allerdings schwer zu datieren ist, werden die Abgaben verschiedener Völker aufgelistet. 30 Im epigraphischen Befund Judas gibt es noch weitere Hinweise auf die Zeit Manasses. So trägt ein Stempelsiegel die Aufschrift »dem Manasse, Sohn des Königs« (lMNŠH bn hmlk), das um 700 v. Chr. datiert wird und sich auf den Königssohn und Thronfolger Manasse beziehen könnte. 31 Ein Ostrakon unbekannter Herkunft, 32 das über den Eingang von verschiedenen Summen Silber informiert, wird ebenfalls gelegentlich in die Zeit Manasses datiert, zumal am Schluss die Jahresangabe 16 steht, was im 7. Jh. v. Chr. nur für Joschija oder Manasse möglich wäre. Dieses Ostrakon könnte demnach ein Verzeichnis der Steuereingänge unter Manasse sein. Fraglich ist jedoch, ob es sich tatsächlich um Steuereinnahmen oder lediglich um eine geschäftliche Transaktion gehandelt hat. 33 Nach diesem kurzen Durchgang durch die schriftlichen Quellen soll im Folgenden ausgeführt werden, was archäologisch von der Zeit Manasses bekannt ist. Zunächst zur Hauptstadt Jerusalem: Schon einige Zeit vor Hiskija wurde 24 Vgl. KNAUF, Days, S. 168. 25 Vgl. COGAN, Torrent, S. 136. 26

Prisma C II:39 [TIMM, Moab, S. 371; GAß, Moabiter, S. 131; WEIPPERT, Textbuch, S. 345]. Vgl. zum Ägyptenfeldzug auch BAGG, Assyrer, S. 261. 27 Mitunter hat Manasse in späterer Zeit judäische Söldner nach Ägypten geschickt, um Psammetich I. gegen die Nubier zu unterstützen, vgl. KAHN, Invasions, S. 15. 28 Vgl. hierzu COGAN, Torrent, S. 136. 29 Vgl. FINKELSTEIN / SILBERMAN, Posaunen, S. 286. 30 Vgl. hierzu GAß, Moabiter, S. 126 f. 31 Zu diesem Stempelsiegel vgl. AVIGAD, Seal, S. 133–136. 32 Vgl. ESHEL, Ostracon, S. 151–161; AḤITUV, Echoes, S. 190–193. 33 Für letzteres spricht sich WEIPPERT, Textbuch, S. 370 aus.

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vermutlich der Südwesthügel als extramurales Siedlungsgebiet genutzt, bevor Hiskija das neue Areal mit einer Verteidigungsmauer umschloss. 34 Die schwierig zu verteidigende Nordmauer des Südwesthügels wurde von Manasse durch eine neue strategisch besser gelegene Mauer nördlich der alten Mauer ersetzt. 35 Vielleicht ist die Oberschicht zur Zeit Manasses vom Südosthügel auf den Südwesthügel übergesiedelt. 36 Dies könnte auch das eher marginale Stratum 11 auf der Ostseite der Davidstadt erklären. Erst als auch der Südwesthügel ausgeschöpft war, hätte dann die Oberschicht wiederum im Osten gesiedelt, was die erneute Bebauung des Südosthügels in Stratum 10 erklärt. Es hat außerdem den Anschein, dass Jerusalem ein wichtiges Handelszentrum war. 37 Für den regen internationalen Austausch sprechen verschiedene Befunde: Zahlreiche Fischknochen zeigen, dass es eine gut situierte Oberschicht in Jerusalem gegeben hat, die es sich leisten konnte, Nahrungsmittel von der Mittelmeerküste zu verzehren, die schwierig zu transportieren und zu lagern waren. 38 Darüber hinaus war Jerusalem in den Arabienhandel eingebunden. 39 Eine solche wirtschaftliche Vernetzung Judas belegen arabische Inschriften auf lokal hergestellter Keramik. 40 Offenbar gehen diese Inschriften auf eine arabische Bevölkerung zurück, die sich in der judäischen Hauptstadt niederließ hat und dort im Handel aktiv war. Alles in allem scheint Manasse intensiv in die Handelsaktivitäten mit Arabien eingebunden gewesen zu sein. Denn Manasse kontrollierte zum einen in Jerusalem die Nord-SüdVerbindung und zum anderen im Negev die Ost-West-Verbindung. 41 Schon bald scheint es unter Manasse zu einer wirtschaftlichen Erholung gekommen zu sein. Um Jerusalem entstanden zu dieser Zeit ein Festungsring und zahlreiche landwirtschaftliche Gehöfte zur Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln. 42 Vermutlich produzierten die am nächsten zu Jerusalem gelegenen Höfe Wein, die ferneren Olivenöl, während aus der judäischen Wüste und dem Negev der Getreide- und Viehbedarf gestillt wurde. 43 Darüber hinaus 34 Vgl. hierzu NAʾAMAN, Myth, S. 11–13. Ähnlich GEVA, Summary, S. 514. 35 Vgl. GEVA, Summary, S. 515 f. 36

Zumindest lässt sich ab dem 7. Jh. v. Chr. eine eindrucksvolle Bebauung auf dem Südwesthügel nachweisen, vgl. FAUST, Expansion, S. 274. 37 Vgl. GRABBE, Kingdom, S. 82. 38 Vgl. CROUCH, Israel, S. 61. 39 Vgl. FINKELSTEIN / SILBERMAN, Posaunen, S. 288–291. 40 Vgl. KNAUF, Days, S. 172, der aber dieses Phänomen Stratum 10 zuweist, das aber frühestens erst mit der zweiten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. verbunden werden kann. Vgl. zum Befund auch CROUCH, Israel, S. 58 f. 41 Vgl. CROUCH, Israel, S. 62. 42 Zu den landwirtschaftlichen Anlagen und Festungen vgl. FINKELSTEIN, Archaeology, S. 174; LIPSCHITS, Changes, 327; FAUST, Settlement, S. 102 f. 108; FREVEL, Geschichte, S. 262. 43 Vgl. zu dieser wirtschaftlichen Differenzierung FAUST / WEISS, Judah, S. 82.

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gab es einige Satellitenstädte um Jerusalem, auf die hin die umliegenden Gehöfte orientiert waren. 44 Neben den Satellitenstädten gab es noch mindestens zwei königliche Domänen. Denn in deren Umfeld fand man keine dazugehörigen Siedlungen oder Gehöfte der späten Eisenzeit. Diese beiden Domänen haben vermutlich den Bedarf der königlichen Hofhaltung an Wein und Getreide sichergestellt: 1.

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Da im Umkreis von Tel Moẓa (1654.1335) keine eigenständigen Gehöfte zu finden sind, wurde offenbar die ganze Umgebung von Tel Moẓa aus bewirtschaftet. Es hat zudem den Anschein, dass das im Soreqtal angebaute Getreide in Tel Moẓa aufbewahrt wurde. Dieses königliche Landgut wurde durch die Festung von Mevaśśeret Yerûšālayim (1650.1341) geschützt. 45 Rāmat Rāḥēl (1706.1275) war zur Manassezeit ein Wachturm mit weiteren Gebäuden (Stratum VB). Zu Rāmat Rāḥēl gehörte vermutlich die Weinpresse von Bēt Ṣafāfā (1691.1291). Wahrscheinlich wurden dort die in der königlichen Domäne geernteten Trauben gepresst und danach der Wein in Rāmat Rāḥēl gelagert. Rāmat Rāḥēl wurde durch die Festung von Ṣūr Bāḥer (1722.1271) beschützt. 46

Somit hat es im Umland von Jerusalem offenbar zwei größere königliche Domänen gegeben, die wohl zum Krongut der Davididen gehörten und die Versorgung der Daviddynastie mit Lebensmitteln sicherstellen konnten. Aufgrund des Verlustes der fruchtbaren Schefela scheint Manasse auf die semiariden Gebiete des nordöstlichen Negevs ausgewichen zu sein, 47 wo man vor allem Getreide anbaute. Offenbar deutet die Besiedlung der Zonen an der Peripherie darauf hin, dass es selbst auf dem judäischen Bergland eigentlich nicht zu einem Besiedlungsrückgang gekommen ist. 48 Denn es ist kaum zu erklären, weshalb man auf die peripheren Regionen wie das Tal von Beerscheba ausgewichen ist, wenn doch im Zentrum noch genügend Raum verfügbar war. Im 7. Jh. v. Chr. wurden im Negev einige neue Orte gegründet, die ein gewisses Maß an durchdachter Planung erkennen lassen. Diese neuen Orte dienten vermutlich als regionale Verwaltungszentren zur wirtschaftlichen Entwicklung des Umlandes. Der Handel ist zudem über die neu gegründete 44 Vgl. MOYAL / FAUST, Hinterland, S. 284–287. 45 Vgl. MOYAL / FAUST, Hinterland, S. 290 f. 46 Vgl. MOYAL / FAUST, Hinterland, S. 293 f. 47

Zu einer Zunahme der Besiedlung der semiariden Zonen im 7. Jh. v. Chr. vgl. FAUST / WEISS, Assyria, S. 190 f. 48 Vgl. FINKELSTEIN, Archaeology, S. 174.

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Ḫirbet Ġazze/Ḥorvat ‘Uzza (1657.0686) und dem Tell el-Milḥ/Tel Malḥata (1524.0695) abgewickelt worden. 49 Die Spezialisierung Judas auf Getreide ist vor dem Hintergrund auffällig, dass die anderen traditionellen judäischen Produkte wie Trauben und Oliven eigentlich viel größere Gewinne versprochen hätten. 50 Da Juda aber nur in der Peripherie des Wirtschaftssystems der südlichen Levante lag, musste es die billigeren Produkte herstellen. 51 Auf einen Handel mit Getreide weisen Reste von judäischem Getreide in der Philisterstadt Aschkelon hin. 52 Möglicherweise hat man sich in den semiariden Zonen des Negevs auf die Aufzucht von Vieh spezialisiert, 53 das man dann in größeren Mengen an die Philisterstädte verkaufen konnte. Ein Hinweis auf das Einsetzen einer verstärkten Weidewirtschaft im Negev könnte die archäologische belegte Abholzung der Waldgebiete bei Ḫirbet Ġarre/Tel ‘Ira (1487.0713) sein. 54 Vielleicht hat man bereits unter Manasse bei En-Gedi aufgrund der dort herrschenden tropischen Bedingungen Balsam angebaut. Dies konnte nur auf staatliche Initiative geschehen sein, denn die wertvollen Balsampflanzen musste man mit einer gut ausgerüsteten Expedition aus Südarabien besorgen. 55 Wahrscheinlich hat man die judäische Wüste auch deshalb besiedelt, da man an den Rohstoffen des Toten Meeres wie Bitumen oder Salz interessiert war. 56 Möglicherweise ist es auch zu einer engen Kooperation zwischen Juda und der Philisterstadt Ekron im Bereich der Olivenölherstellung gekommen, 57 auch wenn diese Zusammenarbeit nicht immer friedlich verlief, was schon die traditionelle Feindschaft zu den Philistern nahelegt. 58 An den Abhängen des judäischen Berglandes baute man verstärkt Oliven an, die man dann in den Philisterstädten weiterverarbeitete. Eine solche Wirtschaftspolitik setzt auf judäischer Seite zentralistische Maßnahmen voraus, damit alles reibungslos verlaufen kann. Denn die Wirtschaftsbosse in Ekron wollten sicherlich nicht mit vielen judäischen Kleinbauern separat verhandeln. 59

49 Vgl. HÖHN, Beerscheba-Tal, S. 114–117. 143. 50 Vgl. FAUST / WEISS, Assyria, S. 192. 51 Vgl. FAUST / WEISS, Assyria, S. 192 f. 52 Vgl. FAUST / WEISS, Judah, S. 73; FREVEL, Geschichte S. 263. 53 Vgl. FINKELSTEIN / SILBERMAN, Posaunen, S. 287; FAUST / WEISS, Assyria, S. 191. 54 Vgl. KNAUF, Days, S. 171 Anm. 26. 55 Vgl. ZWICKEL, Grundlagen, S. 588. 56 Vgl. FAUST / WEISS, Judah, S. 74; FAUST / WEISS, Assyria, S. 190. 57

KEEL, Geschichte, S. 473 vermutet eine Kooperation Judas mit Ekron in der Olivenölwirtschaft. Nach FINKELSTEIN, Archaeology, S. 180 stammen die Oliven aus Olivenhainen des judäischen Berglandes und der assyrischen Provinz Samerina. 58 Vgl. FANTALKIN, Destruction, S. 255; GAß, Simson, S. 388–393. 59 Vgl. KNAUF, Days, S. 171.

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Aus alledem folgt: Die effektive Einbindung Judas in das überregionale Wirtschaftssystem der Südlichen Levante förderte den Handel und Export mit lokalen landwirtschaftlichen Erzeugnissen. Mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung war darüber hinaus der Bau von Festungen und städtischen Zentren, die den Handel unterstützten, sowie eine stärkere Zentralisierung und Urbanisierung Judas verbunden. 60 Die zentralistische Wirtschaftspolitik Manasses kennt aber auch Gewinner und Verlierer. Vor allem diejenigen, die die Produktion und den Handel kontrollieren und steuern konnten, haben weit mehr Gewinne eingefahren als die Arbeiter auf den Feldern und in den Plantagen. 61 Insofern verschärften sich die sozialen Spannungen. Außerdem kam Juda, das bis in die Mitte des 8. Jh. v. Chr. von der Außenwelt noch weitgehend abgeschirmt war, durch die unterschiedlichen Handelskontakte mit verschiedenen fremden Völkern zusammen. 62 Dies barg die Gefahr in sich, dass aufgrund des Kontakts zu Fremdmächten religiöser Synkretismus Einzug halten könnte, 63 was schließlich dem judäischen König Manasse von den biblischen Autoren vorgeworfen wird. Zur Zeit Manasses nahm zudem die Schriftlichkeit in Juda zu, was zwei Beobachtungen nahelegen: Zum einen haben judäische Siegel ab dem 7. Jh. v. Chr. kurze Beschriftungen. 64 Zum anderen gehen die im Negev gefundenen Ostraka nachweislich auf verschiedene Schreiber zurück, d.h. selbst in den peripheren Regionen ist mit Schriftlichkeit zu rechnen. 65 Die Vielzahl von beschrifteten Siegeln und Ostraka zeigt zudem eine anwachsende Bürokratie. 66 Vermutlich hängt die verstärkte Schriftlichkeit mit der Einbindung Judas in ein globalisiertes Wirtschafts- und Verwaltungssystem zusammen. Unter Manasse blieb Juda ein Vasallenstaat, der sich gegenüber dem assyrischen Großkönig stets loyal verhielt. 67 Denn Assur hätte sicherlich nicht einen Vasallenkönig eine derart lange Zeit geduldet, wenn seine Loyalität zweifelhaft gewesen wäre. 68 Die assurfreundliche Politik Manasses hat Juda in der ersten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. Frieden und Wohlstand beschert, auch wenn die innen- und außenpolitischen Möglichkeiten relativ eingeschränkt waren. Auf60 Vgl. BEN ZVI, Prelude, S. 32. 61

Der Umstand, dass man bei der Gewinnverteilung übergangen wurde, könnte ebenfalls zu Unmut bei den biblischen Autoren geführt haben, vor allem wenn die erreichten Einnahmen nicht anteilig an den Tempel abgeführt wurden. Auch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Philistern könnte den religiösen Autoritäten ein Dorn im Auge gewesen sein. 62 Vgl. CROUCH, Israel, S. 59–82. 63 Vgl. hierzu auch NIELSEN, Conditions, S. 106; COGAN, Judah, S. 412 f. 64 Vgl. FINKELSTEIN, Jerusalem, S. 6 f. 65 Vgl. FAIGENBAUM-GOLOVIN, Handwriting, S. 4666 f. 66 Vgl. GRABBE, Kingdom, S. 90. 67 Vgl. NIELSEN, Conditions, S. 104. 68 Vgl. SPIECKERMANN, Manasse, S. 18.

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grund seiner Loyalität konnte er aber mit der Zeit sicherlich Zugeständnisse und innenpolitische Freiheiten erreichen, auch wenn er formal immer noch assyrischer Vasall blieb. 69 Vermutlich stand an der Seite des judäischen Königs nach dem Jahr 701 v. Chr. zunächst ein assyrischer Verwaltungsbeamter (qīpu), der die Geschicke im abhängigen Staat Juda kontrollierte, 70 um einer zukünftigen Revolte vorzubeugen. Angesichts eines zu erwartenden kompromisslosen assyrischen Gegenschlages musste der qīpu ohnehin kaum mit einem Aufstand rechnen. 71 Da Juda von Assur als Pufferstaat gegenüber äußeren Feinden und als wichtiges Bindeglied im Arabienhandel betrachtet wurde, hat man gezielt auch Festungen an der Landesgrenze errichten dürfen. Die im 7. Jh. v. Chr. entstandene Festung von Ḫirbet Ġazze/Ḥorvat ‘Uzza ist an der Straße angelegt, die die Arava mit dem Negev von Arad verbindet. Aufgrund ihrer strategischen Lage konnte diese Festung einen Feind aus dem Südosten abwehren, Personen beim Grenzübertritt kontrollieren und Zölle erheben. 72 Möglicherweise ging durch den Verlust der Schefela judäisches Krongut verloren. Dann wäre die Daviddynastie geschwächt worden, 73 während die Macht der Clans wuchs. Die bereits von Hiskija angezielte Zentralisierungspolitik konnte demnach nicht weiterverfolgt werden. Manasse musste folglich den lokalen Sippenverbänden einige Zugeständnisse einräumen. Zunächst konnten offenbar nur die königlichen Domänen von Rāmat Rāḥēl und Tel Moẓa ausgebeutet werden. Offenbar ist die Bevölkerung Judas zu Beginn des 7. Jh. v. Chr. zu einer landwirtschaftlich geprägten Subsistenzwirtschaft übergegangen. Schon bald konnte jedoch das judäische Königshaus erneut Krongut in der Peripherie gewinnen, um wirtschaftlich unabhängig von den lokalen Clans auf dem judäischen Bergland zu werden. Möglicherweise wurden die zahlreichen Bewohner von Jerusalem mit staatlicher Förderung in die ländlichen Gebiete umgesiedelt, 74 um die Wirtschaft dort anzukurbeln. Offenbar sind von diesen neuen Siedlungen regelmäßig Steuern und Abgaben eingezogen worden. Nach der schnellen wirtschaftlichen Erholung Judas konnte Manasse zudem die Zugeständnisse wieder zurückfahren und eine stärkere Zentralisierungspolitik verfolgen. Hierauf verweisen verschiedene Beobachtungen: 69 Vgl. auch SWEENEY, Manasseh, S. 272. 70

Vgl. MILLER, Shadow, S. 150 Anm. 21. Nach ELAT, Status, S. 68 wurde Manasse sogar von assyrischen Verwaltungsbeamten und einem Besatzungsheer kontrolliert. 71 Vgl. NAʾAMAN, Residence, S. 274. 72 Vgl. NAʾAMAN, Look, S. 212. 73 Vgl. LEHMANN, Survival, S. 305. 74 Vgl. HALPERN, Sybil, S. 323 f.

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Vermutlich dienen die zahlreichen Festungen im Negev nicht nur der Kontrolle der Handelswege, dem Schutz der Besiedlung und der Sicherung der Grenzen des assyrischen Vasallenstaates Juda. 75 Es ist nämlich durchaus möglich, dass die neu gebauten Festungen auch die innere Sicherheit im Gebiet des Negev sicherstellen sollten. 76 In diesen Festungen waren zumindest in der zweiten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. auch ausländische Söldner stationiert, 77 was ebenfalls darauf hinweist, dass die eigene Bevölkerung und antimonarchische, antizentralistische Bewegungen ausgeschaltet werden sollten. Das von Manasse unschuldig vergossene Blut könnte sich folglich auf die gewaltsame Unterdrückung von innenpolitischem Widerstand beziehen. 78 Insgesamt scheint somit der Einfluss der Clans unter Manasse zurückgegangen zu sein, was sich auch im archäologischen Befund zeigt. Denn die Größe der Familien ist in Juda ausweislich der Grabanlagen, der Töpfe und der Öfen kleiner geworden, ohne dass ein funktionaler Unterschied auszumachen wäre. 79 Hier könnte sich folglich ein Trend zu einer Individualisierung der Familienmitglieder und einer Zurückdrängung der Macht der Großfamilien zeigen. Auch das archäologisch belegte Wachstum der Hauptstadt Jerusalem geht vermutlich auf zentralistische Maßnahmen zurück. 80 Durch den dritten Feldzug Sanheribs sind darüber hinaus die wichtigsten zentralen Verwaltungsorte zerstört worden, was ebenfalls der Zentralisierung auf Jerusalem hin dienlich ist.

Möglicherweise wurde somit bereits unter Manasse die Zentralisierung des Südreichs vorangetrieben, nachdem er die wirtschaftliche Konsolidierung Judas erreicht hatte. Eine solche Zentralisierung auf Jerusalem hin könnte zudem die baldige Ermordung seines Sohnes Amon durch die Höflinge erklären, die ihre Interessen offenbar nicht genügend vertreten sahen. Im Anschluss daran hat jedoch das »Volk des Landes« den erst achtjährigen Davididen Jo-

75 Vgl. hierzu auch SWEENEY, Manasseh, S. 271. 76 Vgl. schon TATUM, Manasseh, S. 142 f. 77

Zumindest die Arad-Ostraka verweisen immer wieder auf Getreidelieferungen an die in der Festung stationierten Kittim, vgl. GRABBE, Kingdom, S. 91; CROUCH, Israel, S. 70. 78 Wahrscheinlich haben sich die Festungen landwirtschaftlich selbst versorgt, so dass sie nicht die königliche Kasse finanziell belastet haben. 79 Vgl. HALPERN, Sybil, S. 326 f. 80 Vgl. TATUM, Manasseh, S. 141.

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schija auf den Thron gehievt. 81 Es ist anzunehmen, dass die Clans des Landes eine zentralistische Politik aufgrund der damit verbundenen Schwächung der segmentären, egalitären Clanstrukturen ablehnten. 82 Der minderjährige König Joschija hat sicherlich noch keine eigenständige Politik betreiben können, sodass dem Landadel eine gewisse Freiheit gegenüber der neuen städtischen Oberschicht bewahrt blieb, die ihren Einfluss auf die Regierungsführung über den Hofstaat einbringen wollte. Aber auch Joschija hat schon bald eine Zentralisierungspolitik zuungunsten der lokalen Clans betrieben.

2. Die nachträgliche biblische Verzerrung der Erfolge Manasses In der Bibel werden hingegen die Erfolge der Konsolidierungspolitik Manasses überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Im Gegensatz dazu wird sein kultisches Fehlverhalten gebrandmarkt. Als größter Apostat aller Zeiten sei er und nur er für den Untergang Judas etwa 55 Jahre später verantwortlich. Nach den biblischen Autoren habe Manasse nämlich nicht nur die kultischen Vergehen seiner Vorgänger nachgeahmt, sondern diese sogar noch weit übertroffen. In der biblischen Darstellung Manasses zeigen sich viele Anklänge zu Ahas, zu Ahab und zu Jerobeam I. Aber damit nicht genug. Manasse hat nach 2Kön 21 die Fehler seiner Vorgänger sogar noch vervielfacht. 83 Auffälligerweise gibt es bestimmte Formulierungen in 2Kön 21, die ansonsten nicht in den Königebüchern zu finden sind, die also nicht der typischen Idiomatik entsprechen, die man gemeinhin als deuteronomistisch bezeichnet, da diese Wortwahl von den Vorgaben des Dtn abhängig ist. Gerade in den nicht-deuteronomistisch formulierten Vergehen könnten Spuren von tatsächlichem Fehlverhalten zu greifen sein, die dem historischen Manasse angelastet werden können, und zwar: 84 1.

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Nach 2Kön 21,5 hat Manasse das Himmelsheer verehrt. 85 Das ist durchaus möglich. Denn die Übernahme eines astralen Symbolsys-

Zu verschiedenen Motiven hinter der Ermordung Amons und der Höflinge, vgl. MILLER / HAYES, History, S. 437: interne Familienstreitigkeiten, pro- oder antiassyrische Politik, nationalistische Bestrebungen, kultisch-religiöse Veränderungen. 82 Vgl. zu dieser Politik TATUM, Jerusalem, S. 304–306. 83 Zu den in 2Kön 21 verwendeten Idiomen vgl. ausführlich GAß, Vergehen, S. 160–180. 84 Eine einseitige Abwertung des ganzen Kapitels als unhistorisch aufgrund der vielen formelhaften Elemente ist somit nicht notwendigerweise angezeigt. Anders hingegen FRITZ, Könige, S. 128. 85 Vgl. KEEL, Geschichte, S. 483–492; KNAUF / GUILLAUME, History, S. 120.

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tems geht auf die allgemeine politische Großwetterlage zurück. 86 Sonne, Mond und Sterne waren damals überall sehr beliebt. Im Tempelgebäude selbst hat Manasse vermutlich keinen assyrischen Kult installiert, sondern lediglich einheimische Gebräuche reaktiviert, 87 als er ein Götzenbild der Aschera im Heiligtum aufgestellt hat (2Kön 21,7). Die von Manasse verübten mantischen Praktiken nach 2Kön 21,6 geben Dtn 18 stark gekürzt wieder. 88 Hier könnte es sich tatsächlich um Vergehen Manasses handeln. Denn eine Kürzung der Liste durch einen Redaktor, der dem Südreichskönig Manasse möglichst viele Frevel unterschieben wollte, ist wenig wahrscheinlich. Nach 2Kön 21,9 hat Manasse das Volk zu Gräueln verführt, die schlimmer waren als die Gräuel derjenigen Nationen, die JHWH aus dem Verheißungsland vertrieben hatte. Aufgrund der Ausweitung der Kultfrevel auf das Volk kann demnach nicht nur Manasse allein für den Untergang Judas verantwortlich sein. Dies widerspricht jedoch der eigentlichen Absicht der deuteronomistischen Autoren. Schließlich wird nur dem Südreichskönig Manasse vorgeworfen, unschuldiges Blut vergossen zu haben (2Kön 21,16). Durch dieses Blutvergießen hat Manasse das Land profaniert, sodass es seine Heiligkeit verloren hat. 89 Gewalt und Unterdrückung könnten politische Handlungsmaximen Manasses gewesen sein, um seine Herrschaft dauerhaft abzusichern. Offenbar scheint es zu einer Entmachtung der Clans und zu einer Stärkung der Parteiungen am Königshof gekommen zu sein. Das von Manasse unschuldig vergossene Blut könnte sich folglich auf die gewaltsame Unterdrückung von innenpolitischem Widerstand gegen seine zentralistische Politik beziehen.

86 Vgl. MILLER, Shadow, S. 164–166; KEEL, Geschichte, S. 476–478. 87

Vgl. MORROW, Influence, S. 72 f. Ähnlich GRABBE, Days, S. 26. Auffällig ist zudem, dass die Trias Baal-Aschera-Himmelsheer weder eine kanaanäische noch eine assyrische Götterkonzeption ist, vgl. LEVIN, Frömmigkeit, S. 161 Anm. 88. 88 Nach KNOPPERS, Saint, S. 223 hebt dieser Vorwurf Manasse sogar von anderen Königen des Südreichs ab. 89 Vgl. ABADIE, Manasseh, S. 94. Interessanterweise fehlt dieser Vorwurf in der chronistischen Tradition, vgl. SPIECKERMANN, Manasse, S. 17; HANDY, Manasseh, S. 224.

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Die einseitig negative Beurteilung Manasses in den Königebüchern ist jedoch nicht unproblematisch. 90 Denn aus mindestens vier Gründen kann Manasse nicht alleine für den staatlichen Untergang Judas verantwortlich sein: 1.

2.

3.

4.

Die Königebücher betonen immer wieder die Treue JHWHs zu seinem Bund mit den Davididen. Abgesehen von Manasse gibt es nirgendwo einen Hinweis darauf, dass Kultfrevel in Juda zwangsläufig und unabwendbar zur Katastrophe führen müssen und dass der Bund sogar aufgehoben werden könnte. Der biblische Glaube an die Erwählung der Davididen, wie dies die Nathanverheißung in 2Sam 7 beschreibt, stand folglich auf dem Spiel, wenn Juda nur aufgrund der Untaten eines einzigen Davididen scheitert. Außerdem wird mit Manasse nur ein einziger Südreichskönig für den Untergang verantwortlich gemacht. Ganz im Gegensatz dazu das Nordreich. Hier haben alle Könige die kultischen Frevel Jerobeams I. wiederholt. Der Untergang des Nordreichs ist somit nachvollziehbarer. Nur bei der ersten Einnahme Jerusalems durch den Neubabylonier Nebukadnezzar im Jahr 597 v. Chr. wird die Verantwortung Manasses betont (2Kön 24,3), nicht aber bei der zweiten und endgültigen Eroberung und Zerstörung im Jahr 587 v. Chr. Es stellt sich die Frage: Ist tatsächlich nur Manasse an allem schuld oder lief danach noch etwas schief? Schließlich finden sich in 2Kön 21 drei unterschiedliche Konzeptionen, wie man die religiöse und nationale Katastrophe Judas erklären könnte: Erstens ist Manasse für den Untergang Judas verantwortlich (2Kön 21,11), 91 zweitens wird das ganze Volk Israel seit der Herausführung aus Ägypten beschuldigt (2Kön 21,15) und drittens hat Manasse Juda zum Bösen verführt (2Kön 21,9.11.16). 92 Somit hat selbst in der Konzeption der Königebücher der religiöse Fehler einer Einzelperson nicht allein das tragische Schicksal ausgelöst.

Aus alledem folgt: Die negative Abqualifizierung Manasses ist selbst in der Bibel nicht einheitlich durchgeführt worden. Wieso kam es dann aber doch zu einer einseitigen Abqualifizierung Manasses in der Tradition der Königebücher, die ja eigentlich bar jeglicher Logik ist? 90 Vgl. SWEENEY, Manasseh, S. 267 f. 91 Zu dieser an sich nicht deuteronomistischen Konzeption vgl. SCHMID, Manasse, S. 89 f. 92

Vgl. hierzu die literarkritische Lösung bei BLANCO WISSMANN, Rechte, S. 172 f.

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3. Gründe für die negative Wertung Manasses Die negative Wertung Manasses mag mit folgenden Dingen zusammenhängen, die teils sogar einen Anhalt am historischen Manasse gehabt haben könnten: 1.

2.

3.

4.

5.

Manche sehen hinter der biblischen Darstellung einen mehr oder minder zutreffenden historischen Kern. Dementsprechend wäre Manasse tatsächlich für den Verfall des JHWH-Kultes in Juda, wie dies 2Kön 21 beschreibt, verantwortlich. 93 Eine solche Position ist schon angesichts der typisch deuteronomistischen Wortwahl der biblischen Autoren fragwürdig. Manasse konnte aufgrund seiner langen Regierungszeit als Negativ-Folie zu Joschija instrumentalisiert werden. 94 Denn bei einer langen Herrschaft konnte sich Vieles zum Schlechten verändern. Hinzu kommt, dass man diesen Herrscher nur noch vom Hörensagen kannte. Hier waren der Geschichtsklitterung Tür und Tor geöffnet. Wer weiß schon, was tatsächlich passiert ist? Als treuer assyrischer Vasall war das Gottvertrauen Manasses im Gegensatz zu Hiskija viel geringer ausgeprägt. Kein Wunder also, dass es kultisch nicht zum Besten stand. Mitunter war Manasse auch am assyrischen Hof erzogen worden, was ihn ebenfalls in ein schlechtes Licht stellt. Möglicherweise hat bereits der Eigenname Manasse den Anstoß zu einer solchen Abqualifizierung des Südreichskönigs gegeben. Denn der Name Manasse evoziert zwei Dinge: Zum einen kann man diesen Namen etymologisch mit der Wurzel NŠY-D (»vergessen machen«) in Verbindung bringen. Manasse hätte also bewirkt, dass das Volk seine Bundesverpflichtungen gegenüber JHWH vergessen hätte. Zum anderen ist Manasse der Name eines nordisraelitischen Stammes, der in Konkurrenz zu Juda stand. 95 Möglicherweise ging durch den Verlust der Schefela judäisches Krongut verloren. Dann wäre die Daviddynastie zusätzlich geschwächt gewesen, während die Macht der Clans zunächst wuchs.

93 Vgl. VAN KEULEN, Manasseh, S. 211. 94

Vgl. HOFFMANN, Reform, S. 166 f. Kritisch hierzu aber WÜRTHWEIN, Könige, S. 440 f.; LASINE, Manasseh, S. 176; STAVRAKOPOULOU, Blackballing, S. 252 f. Diese einseitige Darstellung der Königebücher wurde aber in chronistischer Tradition durchaus behoben. Denn nach SWEENEY, Manasseh, S. 272 wurde Joschija für seinen eigenen Tod bei Megiddo und den Untergang des Südreiches verantwortlich gemacht, während Manasse aufgrund seiner Bekehrung entlastet wurde. Insofern ist hier Manasse nicht die Negativ-Folie zu Joschija. 95 Vgl. hierzu vor allem STAVRAKOPOULOU, Blackballing, S. 253.

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6.

Wenn dies tatsächlich der Fall war, dann hätte Manasse den lokalen Sippenverbänden einige Zugeständnisse machen müssen. Vor diesem Hintergrund wäre dann auch denkbar, dass Manasse die lokalen Clanheiligtümer aufgewertet hätte, 96 für die er in der Bibel so sehr gescholten wird. Die »frevelhafte« Religionspolitik wäre folglich der eigentlich schlechten Politik seines Vaters geschuldet, der den Kleinstaat Juda fast ruiniert hatte. Nachdem Juda wirtschaftlich aufblühte, konnte Manasse die Macht der Clans wiederum beschneiden und eine zentralistische Wirtschaftspolitik verfolgen, die nur wenige Gewinner und viele Verlierer hervorbrachte. Es verwundert daher nicht, dass es zu sozialen Spannungen kommen musste.

Im Gegensatz zu der polemischen Missdeutung der Herrschaft Manasses sollte jedoch dieser Südreichskönig endlich für seine Verdienste um den Wiederaufbau Judas rehabilitiert werden. Denn unter der Ägide Manasses gelang es dem kleinen Vasallenstaat Juda in der ersten Hälfte des 7. Jh. v. Chr., politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich aufzublühen. 97 Der Herrscher als Versager? Eigentlich nur in der literarischen Wirkungsgeschichte.

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96

Vgl. LEHMANN, Survival, S. 305. Auch nach MILLER / HAYES, History, S. 435 hat Manasse die alten Höhenheiligtümer aufgewertet und damit die Zentralisierungspolitik von Hiskija zurückgefahren. 97 Vgl. hierzu insgesamt FINKELSTEIN, Archaeology, S. 176–181; FAUST, Demography, S. 171 f. Zu einer positiven Würdigung Manasses vgl. FREVEL, Geschichte, S. 260–264.

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Sebastian Grätz / Heike Grieser David, der Versager Der Sündenfall des Königs aus alttestamentlichen und frühchristlichen Perspektiven

1. Die Perspektiven des Alten Testaments Wann ist ein Herrscher ein Versager? Hier lassen sich im Alten Testament vor allem die »Schulnoten« anführen, die eine deuteronomistische Bearbeitung jedem König von Israel und Juda beigegeben hat. Die Logik dieser Notengebung ist einfach nachzuvollziehen: Hält der König das erste Gebot, ist er ein guter König (»er tat, was dem Herrn gefiel«). Diese Note wird indes nur sehr selten und ausnahmslos an judäische Könige vergeben (Joasch, Hiskia, Josia). Die andere, schlechte Note (»er tat, was dem Herrn missfiel«) ist dagegen die Standardbeurteilung, von der auch abschließend Salomo nicht verschont bleibt (1Kön 11,6), während sein Vater David eine insgesamt gute Beurteilung bekommt (ebd.). Doch auch jenseits dieser deuteronomistischen Benotungen, die sich an einem religiös/theologischen Maßstab orientieren, gibt es Kriterien, die das Alte Testament mit dem Alten Orient teilt und die deshalb auch als kulturgeschichtlich relevant gelten können: 1. eine erfolgreiche Außenpolitik, 2. eine gerechte Innenpolitik. Letzteres reflektiert bereits der Codex Hammurabi, in dessen Prolog es der König Hammurabi als vornehmste Pflicht ansieht, für »Recht und Gerechtigkeit« (kittu u mišāru) in seinem Land zu sorgen, damit »der Starke nicht den Schwachen nicht schädigt« (CH I,27ff). Die akkadische Wendung kittu u mišāru hat ihre alttestamentliche Entsprechung in dem »word-pair« ‫ משפט‬/ mišpāṭ und ‫ צדקה‬/ ṣedāqāh (2Sam 8,15: David; 1Kön 10,9: Salomo – unbeschadet der schlechten deuteronomistischen Note in 1Kön 11,6!), das die von Gott gewollte und vom Menschen, insbesondere dem König, praktizierte (Sozial-)Ordnung bezeichnet. 1 Gerade die im Codex Hammurabi angemahnte gesellschaftliche Balance zwischen »stark« und »schwach« 504F

1

Vgl. hierzu allgemein: ASSMANN, Ma’at, S. 237–252.

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Sebastian Grätz / Heike Grieser

scheint in dem im Folgenden entfalteten Beispiel von Davids Niedergang eine wesentliche Rolle zu spielen. Das erstgenannte Kriterium erfolgreicher bzw. versagender Herrschaft ist die Außenpolitik, die sich vor allem im Krieg bewähren muss. So ist der Tatenbericht über einen König vor allem ein Bericht über gewonnene Kriege und Schlachten. 2 Dabei ist es selbstverständlich, dass der König selbst in den Krieg zieht und seine Truppen anführt. 3 Auch in diesem Punkt ist das Beispiel von David und Batseba instruktiv. Die Erzählungen um David und Batseba (2Sam 11f; 1Kön 1[f]) wurden in der wissenschaftlichen Literatur lange der »Thronfolgegeschichte« Davids zugeschlagen, 4 deren Ende mit dem Tod Davids und der Inthronisation Salomos (1Kön 1f) bezeichnet ist, deren literarischer Anfang indes nicht ganz geklärt werden konnte: Mit 2Sam 11 setzt die Erzählung jedenfalls einen deutlichen ersten Akzent bezüglich des Verfalls des Königtums Davids, der sich dann in den folgenden Kapiteln (2Sam 13: Amnon und Tamar; 2Sam 15–18: Absaloms Aufstand; 2Sam 20: Sebas Aufstand; 1Kön 1: Davids ungeklärte Thronfolge) in Deutlichkeit zeigt. Doch es handelt sich hierbei sicherlich nicht um eine einheitliche Erzählung: zu vielfältig sind die überlieferten Stoffe, zu klar die literarische Unausgewogenheit. Dies führt letztlich zu dem Urteil, dass das gegenwärtige Gesamt eher ein literarisches Konglomerat als eine durchgängige Erzählung darstellt, 5 hierin aber eine eigene David-Batseba-Salomo-Tradition erhoben werden kann, deren Kern in 2Sam 11f und 1Kön 1f zu suchen ist. 6 2

Dabei tritt auch hier kulturübergreifend das Thema der gottgewollten (kosmischen) Ordnung in den Blick, wie YOUNGER, Accounts, S. 123, hervorhebt: »The real sense of a campaign is to be found in its desire for the restoration of order. The enemy has brought about disorder and chaos […].« Der König stehe nun in der Verantwortung, die Ordnung wiederherzustellen, indem er das feindliche Chaos besiegt. 3 So in den neuassyrischen Selbstberichten der Könige (vgl. YOUNGER, Accounts, S. 79–122), aber auch im Alten Testament: 1Sam 11; 13; 17; 31; 2Sam 8 u. ö. 4 Vgl. ROST, Überlieferung, S. 82–139, der zu Recht konstatiert: »Überhaupt liebt er [sc. der Erzähler] es, die Weiterentwicklung durch gelegentliche Leitmotive anzudeuten, deren Sinn oft erst viel später klar wird.« (S. 124). Eine Beobachtung, die auch für die David-Batseba-Erzählungen zutrifft, s. im Folgenden. 5 Eine eigene Analyse kann hier nicht erfolgen. In den Fußnoten wird auf die entsprechende Literatur verwiesen und ggf. knapp diskutiert. 6 Vgl. VEIJOLA, Salomo, S. 240. DIETRICH, Ende, S. 40–44, sieht einen Erzählbogen, der den Aufstieg Salomos zum Gegenstand habe, in 2Kön 2,46 mit der Feststellung, dass die »Herrschaft fest in Salomos Hand war«, zu seinem Schlusspunkt komme, während dessen Anfang konsequenterweise in 2Sam 11f, nämlich der Schilderung der Umstände von Salomos Geburt zu suchen sei. In der Tat lässt sich kaum von der Hand weisen, dass insbesondere auch die Auftritte Batsebas erst als Frau Davids (2Sam 11f), dann als Parteigängerin ihres Sohnes (1Kön 1) und schließlich als Königinmutter auf dem Thron (1Kön 2) für einen Erzählzusammenhang sprechen, in der der Aufstieg Salomos eng mit demjenigen seiner Mutter verbunden ist. Auch KRATZ, Komposition,

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1.1 David und Batseba

Die ersten fünf Verse von 2Sam 11 lauten nach der neuen Einheitsübersetzung (EÜ) 7 folgendermaßen: V.1 Um die Jahreswende, zu der Zeit, in der die Könige 8 in den Krieg ziehen, schickte David Joab mit seinen Knechten und ganz Israel aus und sie verwüsteten das Land der Ammoniter und belagerten Rabba. David aber selbst blieb in Jerusalem. V.2 Als David einmal zur Abendzeit von seinem Lager aufstand und auf dem Flachdach des Königspalastes hin- und herging, sah er von dort eine Frau, die badete. Die Frau war sehr schön anzusehen. V.3 David schickte jemand hin, erkundigte sich nach ihr und sagte: Ist das nicht Batseba, die Tochter Ammiëls, die Frau des Hethiters Urija? V.4 Darauf schickte David Boten zu ihr und ließ sie holen; sie kam zu ihm und er schlief mit ihr ‒ sie hatte sich gerade von ihrer Unreinheit gereinigt. Dann kehrte sie in ihr Haus zurück. V.5 Die Frau aber war schwanger geworden und schickte deshalb zu David und ließ ihm mitteilen: Ich bin schwanger.

Bis auf die in V.4aβ auf V.2aβ bezogene erläuternde Glosse (s. im Folgenden) ist der Text einheitlich. Bereits in V.1 ist dabei eine Weichenstellung zu erkennen: Zwischen dem Feldherrn Joab, seinen Knechten, ja ganz Israel und dem allein (?) zurückbleibenden David wird eine inhaltliche Opposition aufgebaut. 9 Diese wird verschärft durch die Bemerkung, dass die Zeit der Jahreswende die Zeit des Auszugs der Könige (in den Krieg) sei. 10 Es erhebt sich also nicht nur S. 180, sieht in der David-Batseba-Salomo-Erzählung eine vielfach mit ihrem Kontext verwobene und sekundär erweiterte schriftliche Tradition. 7 Der hebräische Text (nach dem Masoretischen Text, MT) wird, wenn es zum Verständnis notwendig erscheint, angeführt. Ebenso auch die griechische Übersetzung der Septuaginta (LXX), deren Überlieferung letztlich das christliche Verständnis des Alten Testaments maßgeblich geprägt hat. Für die hier untersuchten Passagen lässt sich festhalten, dass die LXX die insgesamt davidkritische Note des MT an einigen Stellen sogar verschärft ‒ sehr wahrscheinlich in Übereinstimmung mit ihrer hebräischen Vorlage, die im Zuge der Überlieferung dann teilweise so abgemildert wurde, wie wir es heute im MT lesen. S. die folgende Anm. sowie Anm. 37. 8 Der Codex L, in BHS abgedruckt, bietet »Boten« (‫)מלאכים‬, wahrscheinlich, um die bereits hier einsetzende Kritik an David abzumildern: »We might suppose indeed that there is a covert condemnation of David for not doing as kings […] usually do.« SMITH, Books, S. 317. V.a. die LXX (ebenso die Vulgata) bietet die Lesart »Könige« (Kontextform: βασιλέων < ‫)מלכים‬, die selbstverständlich als die korrekte anzusehen ist. 9 Vgl. hierzu die Analyse von PERRY / STERNBERG, King, S. 283–287. 10 Zum einen wird diese Zeit als allgemeine Gepflogenheit in der Kriegsführung gesehen (vgl. RUDNIG, Davids Thron, S. 25), zum anderen zeigt der Vers, an den erst in 2Sam 12,26f angeschlossen wird, dass die Erzählung von David und Batseba in einen Kriegsbericht (gegen die Ammoniter) eingebettet ist, der in der Perspektive der Erzählung die Abwesenheit des Soldaten Urija motiviert. Die Erwähnung, dass David in Jerusalem blieb und den Krieg seinem Feldherrn

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die Frage, was denn David nun in Jerusalem macht, 11 sondern auch diejenige nach seiner Motivation, dies zu tun. Wer denkt, er ginge anderen, wichtigen Amtsgeschäften nach, sieht sich durch den Fortgang getäuscht: David steht abends auf, um auf dem Dach seines Palastes hin- und herzugehen. Warum er das tut, verrät der Erzähler nicht 12 – durch den Anschluss des Narrativs ‫וירא‬ »da sah er« könnte aber seine Motivation erkennbar werden: Er sieht eine Frau, die sich wäscht. Der Abend (als eigentlicher Beginn des Tages im Alten Israel und seiner Umwelt) ist die Zeit der rituellen Reinigung bzw. der wiedereintretenden Reinheit (Lev 11f; 15 usw.), um die es sich auch in 2Sam 11 handeln dürfte. Der verwendete Begriff ‫ רחץ‬ist für die kultisch gültige Reinigung einschlägig (s. insbes. Lev 15). Wie bereits erwähnt, spezifiziert die Glosse in V.4aβ das Geschehen nachträglich als kultische Handlung: 13 Die Frau reinigt sich nach ihrer Menstruation. 14 Gemäß Lev 15,19–24; 18,19 verunreinigt das austretende Blut die Frau für sieben Tage. 15 Der Reinigungsakt verrät dem König (und der Rezipientenschaft), dass die schöne Frau (V.2b) wieder sexuellen Verkehr haben darf – und schwanger werden kann. V.3 ist insbesondere deshalb interessant, weil wiederum so knapp erzählt wird, dass nicht von vornherein klar ist, wer Subjekt zu ‫» ויאמר‬und er sprach« ist: Ist es der Bote, der

Joab überlässt, ist auch von 2Sam 12,26f her verständlich, so dass schwer zu beurteilen ist, ob die Wendung ‫»( לעת צאת המלכים‬zur Zeit des Hinausziehens der Könige«) hier sekundär eingefügt ist. Eine polemische Note kann bereits in der Tatsache liegen, dass David seinem Feldherrn Joab den Kampf ohne Nennung von Motiven überlässt. Vgl. KNAUF, Könige, S. 127 f. 11 »What is the king doing in the city?« fragen zu Recht PERRY / STERNBERG, King, S. 287. 12 Insbesondere PERRY / STERNBERG, King, S. 280–283, haben auf die Funktion des Nichterzählten aufmerksam gemacht: »To understand what is going on, the reader must assume here the existence of emotions, passions, fears and scheming, and must at times infer the motives and thoughts of the characters from their deeds. […] However, the narrator himself evades all explicit formulation of the hidden thoughts and designs, thus creating the central gaps in the story.« (S. 281, Kursiv. dort) Weitergehend vermuten PERRY / STERNBERG, v.a. durch die Parallelisierung einer kriegerischen Eroberung (2Sam 11,1; 12,26ff: Eroberung von Rabba // 2Sam 11,1ff: »Eroberung« von Batseba) hinter dieser Erzähltechnik eine ironische Haltung des Erzählers in Bezug auf dessen Erzählung und der in ihr handelnden Personen. Vgl. hierzu auch KU, Weisheit, S. 57–71 u. ö. 13 Vgl. STOEBE, Buch Samuelis, S. 281. Die Glosse erfüllt mit ihrer Präzisierung einer Lücke (»gap«) genau das, was nach PERRY / STERNBERG, King, S. 280 ff. (s. die vorangehende Anm.), der Erzähler der Deutung der Rezipienten überlässt. Solche Implikationen der Ergänzung fasst RUDNIG, Davids Thron, S. 50, zusammen: David sei zweifellos der Vater des Kindes; hinter der rituellen Reinigung stehe das Wissen um ein Befruchtungsoptimum. 14 Anders: KUNZ, Frauen, S. 157–161, der bereits in dem Terminus des »sich Waschens« eine (gezielt eingesetzte) erotische Dimension sieht (vgl. auch HALAT, s. v. ‫ רחץ‬z. St.: »baden«). In diesem Fall hätte sich die sich waschende Frau dem auf seinem Dach spazierenden König präsentiert. Doch zusammen mit dem o.g. Abendtermin dieser Waschung legt sich m.E. der kultische Zusammenhang nahe. 15 Vgl. HIEKE, Leviticus I, S. 538 f.

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in V.3a offensichtlich geschickt, aber nicht benannt wird, 16 oder ist es David selbst, der die rhetorische Frage in V.3b stellt? Im letzteren Fall würde David Batseba bereits genau kennen 17 und scheinbar nonchalant fragen: »Ist das nicht Batseba, die Tochter Ammiëls, die Frau des Hethiters Urija?« 18 Da ein Subjektwechsel in V.3 anders als in V.4 (»Boten«) nicht zu erkennen ist, muss diese Übersetzung als die wahrscheinlichere gelten. Die Annahme, dass sich David wegen der schönen Batseba, deren Mann im Kriegsdienst des Königs für längere Zeit abwesend ist, abends auf seiner Dachterrasse herumgetrieben hat, legt sich von hier aus nahe. Angesichts der sich reinigenden Batseba ist für ihn der Augenblick der Tat jedenfalls gekommen (V.4): Mithilfe von Boten lässt David Batseba holen; das hier verwendete Verbum ‫לקח‬, »nehmen« spiegelt zugleich das sog. Königsrecht (1Sam 8,13), das die Nachteile des Königtums vor Augen stellen soll, und das willkürliche Treiben eines Gilgamesch, der sich die Ehefrauen seiner Untertanen zum Beischlaf nimmt (I, 151–157). 19 Batseba selbst bleibt in dieser Szene zumindest scheinbar passiv. Erst in V.5b ist sie abschließend Subjekt der Handlung, wenn sie David ihre Schwangerschaft anzeigen lässt. 20 In wenigen Strichen wird eine Szene skizziert, die im hebräischen Text eine Abfolge von Narrativen ist: Der Ausgangspunkt der Handlung, das alleinige Verbleiben Davids in Jerusalem, wird damit beinahe zwangsläufig zu ihrem Ziel, die Schwangerschaft der Batseba, geführt. Eine Reflexion über das Erzählte seitens des Erzählers wird nicht mitgeteilt – es wird den Rezipienten überlassen. Das folgende Verhalten Davids zeigt indes, dass er stark bemüht ist, sein Tun ungeschehen zu machen. 52F

523F

16 Vgl. u. a. STOEBE, Buch Samuelis, S. 278. 17 Vgl. KUNZ, Frauen, S. 153 (ff.); RUDNIG, Davids Thron, S. 49. 18

So die EÜ 2017; Lutherbibel 2017. Nach RUDNIG, Davids Thron, S. 47–52, der für die älteste, knappe Version eine namenlose Frau rekonstruiert, über deren Familienstand nichts bekannt sei, ist dieser Vers sekundär. Insgesamt vermutet RUDNIG, dass es sich bei der s.E. ältesten Schicht um prodavidische bzw. prosalomonische Propaganda gehandelt habe. Etwas Anderes dürfte annähernd zeitgenössische Annalistik auch kaum enthalten haben. Doch dass ausgerechnet der Name der Mutter des Thronfolgers anonym geblieben sein soll, erscheint angesichts der alttestamentlichen Annalistik insgesamt keine unproblematische Hypothese zu sein – zumal es sich ja um Propagandatexte handeln soll. 19 Weitere Parallelen zum Motiv des Herrschers, der über die Frauen seiner Untertanen verfügt, bei FISCHER, David, S. 57 f.; NAUMANN, David, S. 146–163. 20 Zur Syntax vgl. FISCHER, David, S. 51. RUDNIG, Davids Thron, S. 47–51, sieht zusammen mit KUNZ, Frauen, S. 161 f., und anderen hierin inhaltlich eine Erfolgsvermeldung. Im Lichte der gesamten David-Batseba-Salomo-Erzählung, in deren Verlauf Batseba von einer Söldnerfrau zur Gebira, zur Königinmutter, aufsteigt, ist dieser Vermutung umso mehr zuzustimmen. Vgl. hierzu auch: KLEIN, Deborah, S. 56–71. Sie resümiert: »Bathsheba is neither temptress nor victim ‒ and she is both.« (S. 70)

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1.2 David und Urija

Der nun folgende Abschnitt thematisiert zunächst Davids erfolglose Anstrengungen, Urija, dem Ehemann Batsebas, das gezeugte Kind unterzuschieben (V.6–13), und sodann seinen nun erfolgreichen wie perfiden Plan, Urija an der Front in den sicheren Tod zu schicken (V.14–17[.18–26]). Der erste Passus beschreibt den Urija als charaktervollen Soldaten, der sich beharrlich weigert, bei seiner Frau zu liegen, während seine Kameraden auf freiem Feld lagern müssen – im scharfen Kontrast zu dem in V.1ff entworfenen Bild des Königs, der hier genau das Gegenteil tut. 21 Der zweite Passus ist um das Motiv des für den Überbringer todbringenden Herrscherbriefes komponiert. Das Motiv ist u. a. auch aus der Bellerophontessage bekannt, 22 zeigt aber auch durch die Bekanntgabe des Briefinhalts (V.15), 23 dass es sich auch im vorliegenden Kontext um eine literarische Konstruktion handelt, die die Leserschaft mit einem dramatischen Wissen versorgt, das Urija nicht besitzt. 24 Nach dem »programmierten Schlachtentod« 25 Urijas kommt die Erzählung in 2Sam 11,26f zum Abschluss, indem von der Trauer von »Urijas Frau«, der Heirat und schließlich der Geburt eines (unbenamten) Sohnes berichtet wird. Insbesondere die nun wertende Schlussnotiz in V.27b ist interessant: »In den Augen des Herrn aber war böse, was David getan hatte.« (EÜ) Es ist deutlich, dass diese Bemerkung, die wohl auch in 1Kön 15,5 reflektiert wird, den Übergang zu Kap. 12, das Natans Strafrede, Davids Buße, den Tod des Kindes und schließlich die Geburt Salomos zum Inhalt hat, bildet: Hier wird die folgende göttliche Intervention vorbereitet. Vieles spricht dafür, dass es sich hierbei insgesamt um eine literarische Erweiterung von Kap. 11 handelt.

21

Den davidkritischen Ton des (literarisch sekundären) V.11, der die Angelegenheit, letztlich auch moralisch wertend, auf den Punkt bringt, hat insbesondere FISCHER, David, S. 53–55, herausgearbeitet. Vgl. auch STOEBE, Buch Samuelis, S. 292 f.: »In diesem Gegenüber liegt der Kern der Tragödie: der treue Soldat ‒ der untreue König […].« 22 Ausführlich, gleichwohl mit Vorbehalten bezüglich der Vergleichbarkeit: SCHAACK, Ungeduld, S. 37‒43. 23 RUDNIG, Davids Thron, sieht in der Wiedergabe des Inhalts eine Glosse. STOEBE, Buch Samuelis, S. 293 f., meldet zu V.14f historische Bedenken an, zieht aber keine literaturhistorischen Schlüsse. Letztlich ist die Inhaltsangabe des Briefes entbehrlich, da diese aus dem im Folgenden berichteten Geschehen entnommen werden kann. 24 Vgl. FISCHER, David, S. 57. 25 STOEBE, Buch Samuelis, S. 285.

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1.3 Die Buße Davids 2Sam 12

Nimmt man probehalber 2Sam 12,24* (und er [David] nannte seinen Namen Salomo) als literarischen Anschluss von 2Sam 11,27a, 26 ergäbe sich ein durchaus stimmiges Bild: Der in V.27a (und Kap. 12) ungewöhnlicherweise namenlose Nachkomme bekäme den an dieser Stelle auch zu erwartenden Namen genannt. 27 Dann wäre Salomo der Sohn aus der in Kap. 11,5 vermeldeten Schwangerschaft Batsebas und die Geschichte um Natan, Davids Buße und den Tod des Kindes ein Einschub, 28 der in der Tat einer deutlich herrscherkritischen Erzählung um den auf ganzer Linie versagenden David ein wenig die Pointe nehmen würde. Dieser Einschub hat nach T. Veijola einen »legendarischen« Charakter, den er im Anschluss an die (durch Lev 12,2; 15,18–24; 18,19; 20,2 nahegelegte) jeweils sieben Tage währende »Unreinheit« einer Frau nach der Geburt eines Sohnes bzw. ihrer Regel entfaltet, indem sie in beiden Fällen sofort schwanger geworden sei. So habe David aus erzähllogischen Gründen die unvermeidlichen Trauerriten (Fasten, Bekleidung, Verzicht auf Komfort usw.) bereits vor dem Tod des Kindes durchführen müssen. 29 Dem kann hinzugefügt werden, dass die Trauerriten als Selbstminderungsriten auch die sexuelle Enthaltsamkeit enthalten haben dürften. 30 Das Kapitel hat demzufolge das Ziel, David nun in deutlichem Gegenüber zu Kap. 11 als einen frommen Menschen zu präsentieren, der sich schuldbewusst und religiös gibt (V.13a.15ff). Interessanterweise wird die Buße selbst nur sehr kurz in V.13a durch Davids Schuldbekenntnis skizziert, 31 worauf sogleich die Vergebungszusage Gottes durch den Propheten Natan und das Todesurteil über das Kind in V.13b.14 erfolgt. 32 Die in V.16f erzählten Selbstkasteiungen des Königs gehö26 Vgl. RUDNIG, Davids Thron, S. 55 f. 27 Vgl. WÜRTHWEIN, Erzählung, S. 32; ausführlich: VEIJOLA, Salomo, S. 231–237. 28

Vgl. die weiteren Argumente bei VEIJOLA, Salomo, S. 237–241, der insbesondere die Rahmung der Geschehnisse um die Geburt zweier Kinder durch den Ammoniterfeldzugsbericht (2Sam 10,1–5; 12,26–31) und die dadurch entstehenden literarischen und chronologischen Probleme thematisiert. RUDNIG, Davids Thron, S. 52–62, bringt zusätzlich theologische Argumente bei. So identifiziert er (nicht nur in 2Sam 12) eine »Theodizee-Bearbeitung« des vorliegenden Stoffes (S. 351). 29 Vgl. VEIJOLA, Salomo, S. 237–241. 30 PODELLA, Ṣôm-Fasten, S. 78–85, hat auf die »Trauer als Spiegel jenseitiger Ordnung« verwiesen und nennt als Bsp. u. a. Innanas Gang in die Unterwelt, wo in Z. 301 der Verlust sexueller Freude als Minderung des Status in der Unterwelt explizit genannt wird. Entsprechend sind auch die Notzeitschilderungen und davon abhängig die Vergeblichkeitsflüche (PODELLA, Ṣôm-Fasten, S. 50–60; HAAS, Geschichte, S. 708 f.) gestaltet. 31 Eine gehaltvollere Buße wird mit Ps 51 gleichsam nachgereicht. 32 Das Todesurteil ergeht wg. »Gotteslästerung« (Wz. ‫נאץ‬, vgl. SMITH, Books, S. 324 f.) entsprechend der Bestrafung der Rotte Korach (Num 16,30) oder dem Bundesbruch in Dtn 31,20. Der stellvertretende Tod des Kindes hat damit zwei Funktionen: 1. die Sünde Davids verlangt eine

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ren bereits zu den o.g. Trauerriten und leiten über den (unvermeidlichen) Tod des Kindes (V.18f) zur erneuten Schwangerschaft Batsebas und der Geburt Salomos über (V.24). 1.4 Davids Versagen in 2Sam 16 und 1Kön 1

Wenngleich die 2Sam 12 anschließenden Erzählungen um David nun ein anderes Personal in den Blick nehmen, wird doch weiterhin die Regentschaft Davids als defizitär beschrieben. Der Themenkomplex um sexuelle Begierde bzw. Sexualität und Macht ist dabei immer wieder erkennbar: Es kommt zu der Vergewaltigung Tamars durch Amnon (2Sam 13), sodann zu den Aufständen Absaloms (2Sam 15–18) und Sebas (2Sam 20). Insbesondere in dem Aufstand Absaloms spielt das Thema eine politisch wichtige Rolle: Der Usurpator Absalom übernimmt in öffentlicher Zurschaustellung den väterlichen Harem (2Sam 16,22). Die Szene, wiederum auf dem Dach des Palastes verortet, spiegelt gleichsam 2Sam 11,2: David: späht (heimlich) eine Frau zum Beischlaf aus und nimmt sie sich. Absalom: lässt (vor aller Augen) die (Neben-)Frauen seines Vaters zu sich kommen.

Das Dach des Palastes wird zum Symbolort eines Tat-Folge-Zusammenhangs: Das vorsätzliche heimliche sexuelle Handeln Davids findet eine Erwiderung im vorsätzlichen öffentlichen sexuellen Handeln Absaloms. Die heimliche sexuelle Begierde Davids und der öffentliche sexuelle Machterweis Absaloms bilden die Pole einer Erzählung, 33 die politische Macht und Sexualität in ein Verhältnis setzt und in der sich die Sexualität als dominanter Faktor zeigt. So ist schließlich auch die Erzählung von Davids Ende in 1Kön 1(f) durch die Verknüpfung des Niedergangs seiner sexuellen Potenz mit demjenigen seines politischen Einflusses bestimmt. 34 Bestrafung mit dem Tod (vgl. 2Sam 12,5ff), die ja aus Gründen der geschichtlichen Abfolge schlecht David treffen konnte; 2. Salomo ist so nicht der aus der illegitimen und folgenschweren Verbindung hervorgegangene Sohn. 33 V.20–22 werden aufgrund ihrer Vorwegnahme in 2Sam 12,11 zumeist als redaktionell angesehen. Vgl. u. a. STOEBE, Buch Samuelis, S. 382 f. Gleichwohl ergibt der gegenwärtige Text eine interessante Korrespondenz der entsprechenden Szenen. Vgl. zu dieser Szene auch RUDNIG, Davids Thron, S. 220–223; KIPFER, David, S. 155. 34 Vgl. BARTELMUS, Sachverhalt, S. 11. Bartelmus sieht in dieser Episode insgesamt einen Text, der sich über David lustig mache (S. 10) und der kaum ad »maiorem gloriam Davidis« (S. 11, Kursiv. dort) geschrieben worden sei. Auch Bartelmus vermutet eine enge Verknüpfung von sexueller und politischer Handlungsfähigkeit: »Der Sachverhalt, daß sich David als sexuell impotent er-

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Der Faden um Batseba und David wird ebenfalls in 1Kön 1 wiederaufgenommen. 35 Die Rollen sind nun vertauscht: Während David als passiver Greis porträtiert wird, der weder über sexuelle Potenz (1Kön 1,2–4) 36 noch ein gesundes Erinnerungsvermögen (V.10ff) verfügt, 37 spielt Batseba hier (V.15ff.28ff) und im Folgenden (1Kön 2,13ff) eine wichtige Rolle. Als Mitglied der »Jerusalemer Partei« 38 verhindert sie zunächst gemeinsam mit dem Hofpropheten Natan, dass der ältere Adonija auf den Thron seines Vaters kommt, um sodann Salomo dort zu installieren und schließlich selbst für den Tod Adonijas Sorge zu tragen. Zugleich wird auch der Beginn der Herrschaft Salomos in ein schlechtes Licht gerückt: Der Sohn Davids ist in 1Kön 1f ebenfalls passiv. 39 Es agieren lediglich seine Parteigänger, zunächst Batseba und Natan, dann vor allem Batseba selbst. Salomos erste Initiative ist danach die blutige Beseitigung seiner Gegner (1Kön 2,25ff), so dass am Ende die lakonische Feststellung steht: »Die Herrschaft war nun fest in Salomos Hand.« (1Kön 2,46b). Mit der Inthronisation Salomos kommt demnach auch die Geschichte von Königinmutter Batseba zu einem Ende – sie wird danach außer in 1Chr 3,5ff nicht mehr erwähnt. Angesichts ihres Aufstiegs von der Frau des Söldners Urija bis zur Inanspruchnahme eines eigenen Throns (1Kön 2,19) kann natürlich auch zurückgefragt werden, ob ihr Verhalten in 2Sam 11,2 nicht beabsichtigt war. In jedem Fall hätten dann ihre Interessen denjenigen Davids entsprochen. 1.5 Fazit

Ging es mit der Herrschaft Davids im Fortgang der Erzählung(en) der Samuelisbücher fast bruchlos immerzu bergauf, so ist mit 2Sam 11,1(ff) eine deutliche Wende markiert: In knapper und wertfreier Weise, die den (jüdiweist, ruft als (notwendigen?) Begleitumstand die Selbstinthronisation des Adonija hervor.« (S. 12). 35 Zu den literarischen Verbindungslinien zwischen 2Sam 11(f) und 1Kön 1(f) vgl. KUNZ, Frauen, S. 206–210. 36 Argumente, dass V.1–4 für das Verstehen der weiteren Handlung in V.5ff notwendig sind, liefert STEINER, Salomo, S. 201. 37 Der Zug der Handlungsunfähigkeit Davids tritt in der LXX noch stärker hervor als im MT: In 1Kön 1,1–3 LXX wird anders als im MT David aus der Entscheidung, Abisag als Konkubine an den Hof zu holen, völlig herausgelassen. Es entscheiden seine Diener für ihn. Vgl. KNAUF, Könige, S. 124 f. 38 KNAUF, Könige, S. 125 f., sieht eine Partei aus Jerusalemern (Batseba und Salomo, Natan) gegen eine »Stämme-Partei« (Adonija, Joab, Abjatar) intrigieren. 39 Eine Altersangabe für den Antritt der Herrschaft fehlt in 1Kön 2,12 MT, nach LXX ist er zwölf Jahre alt. Selbst wenn Salomo noch ein Kind gewesen sein sollte, so lassen sich in 1Kön 2 die Initiative seiner Mutter (V.13–24) und seine eigene (V.26ff) kaum diachron auswerten.

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schen und christlichen) Rezipienten Interpretationsmöglichkeiten offenlässt, wird folgendes erzählt: David delegiert seinen Krieg an seinen Söldnerführer und bleibt in Jerusalem (außenpolitisches Versagen). Dort wird er zum Ehebrecher und Mörder (innenpolitisches Versagen). Vorausgesetzt, 2Sam 12 ist ein späterer Einschub, wird das Kind der illegitimen Beziehung, Salomo, später zum Thronfolger, weil es seine Mutter versteht, parteipolitisch geschickt zu agieren. Davids Königtum wird damit zum Spielball sexueller Gelüste und Palastintrigen. Warum wird der glorreiche König in dieser drastischen Weise als Versager stilisiert? Zunächst ist vom historischen David so gut wie nichts bekannt. 40 Das bedeutet, dass die Bibel letztlich unterschiedliche Davidbilder überliefert, die die Figur des Königs ebenso unterschiedlich entwerfen und die wohl auch deutlich unterschiedlichen Alters sind. Zum einen dient David so als glorreicher Begründer der Jerusalemer Dynastie, der in einem goldenen Zeitalter mit Gottes Hilfe ein großes Königreich errichtete (David, der Aufsteiger), zum anderen ist er nach dem unglücklichen Königtum Sauls der erste gleichsam vollgültige Vertreter einer Einrichtung, die letztlich Tod und Verderben über Israel und Juda brachte: das hybride, Gottes Ordnungen nicht befolgende ‒ und darum: korrumpierte ‒ Königtum (David, der exemplarische Versager). 41 Im Rahmen dieser Ambivalenz überliefert die Bibel keinen ungebrochenen Helden David, auch ihn hat seine Macht letztlich korrumpiert. Die (redaktionelle Ergänzung der) Buße Davids in 2Sam 12 bessert das schlechte Image aus 2Sam 11 allerdings in doppelter Weise wieder auf: Zum einen wird der Tod des Urija durch den Tod des illegitimen Kindes gewissermaßen stellvertretend gesühnt (2Sam 12,13f), 42 zum anderen erscheint die Figur des David nun bußfertig und asketisch, wenn er für das Leben des todgeweihten Kindes fastet. Insbesondere diese ebenfalls exemplarische Bußfertigkeit Davids hat einen Nachhall in Ps 51 gefunden, nachdem der Text in 2Sam 12,13 diese nur knapp vermeldet und nicht weiter ausgestaltet. Aufgrund der Schilderung einer exemplarischen anthropologischen Ambivalenz, David der hybride Sünder ‒ David der demütige Büßer, ist genau diese Episode zu einem die christli40 Vgl. u. a. FREVEL, Geschichte, S. 109. 41

So verraten die detaillierten Schilderungen in 2Sam 11; 1Kön 1 einen sehr informierten Erzähler. Doch woher stammten diese Informationen? Sicher nicht aus zeitgenössischen oder zeitnahen Archiven, die eine derart illoyale Erzählung kaum hervorgebracht oder aufbewahrt hätten. Da die Erzählung zugleich die gesamte davidische Dynastie in ein schlechtes Licht rückt, lässt sich dafür kaum ein vorexilisches Setting ausmachen – sie dürfte fiktiv sein und ggf. einen exilisch-nachexilischen Diskurs um die Institution des Königtums spiegeln. 42 KU, Weisheit, S. 71 f., deutet dies auf den bewussten Bruch des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, da nach 2Sam 11,5 David über sich selbst das Todesurteil verhängt habe, stattdessen nun aber das Kind sterben müsse. Hierbei zeige der Verfasser der Thronfolgegeschichte eine ironische Distanz zu der von ihm erzählten Geschichte mitsamt ihrem Personal und damit eine Nähe zu Kohelet.

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che Rezeption der Davidfigur prägenden Text geworden, weil eben diese Folge von Sünde (und deren Erkenntnis), Buße und Vergebung (2Sam 12,13a–b), die christliche Soteriologie zu präfigurieren scheint 43 – und weil gerade deshalb David umso mehr als idealer Herrscher wahrgenommen werden kann. Die inneralttestamentliche Rezeption zeigt indes, dass die Bücher der Chronik auf diese Dimension völlig verzichten: Sie überliefern die David-Batseba-Episode in 2Sam 11f ebenso wenig wie die anstößigen Kapitel 1Kön 1f, die keine vergleichbare redaktionelle Milderung erfahren haben. Es heißt lapidar: »David war alt und lebenssatt und bestellte seinen Sohn Salomo zum König.« (EÜ: 1Chr 23,1). Der kultische Fokus der Chronikbücher bedarf einer unanstößigen Gründungsätiologie des Jerusalemer Heiligtums, so dass sowohl David als auch Salomo als strahlende und unbefleckte Herrscher eines goldenen Zeitalters erscheinen. 44

2. Die Perspektiven der frühchristlichen Autoren Kaum überraschend beziehen sich die frühchristlichen Autoren, wie zuletzt Theresia Heithers Studie zu David in der Reihe »Biblische Gestalten bei den Kirchenvätern« zeigte, häufig auf diese zentrale Person des sog. Alten Bundes. 45 Angesichts der prominenten Stellung des Königs sowohl im Tanach als auch in den frühesten christlichen Schriften als Patriarch, Prophet und Teil des Stammbaums Jesu 46 verwundert es nicht, dass der Fokus auf sehr unterschiedlichen Aspekten und Episoden des Lebens Davids und seiner Königsherrschaft liegt. Letztere wird in der Regel als erfolgreich beurteilt und ist auch in der 43

Das Alte Testament geht wie das Neue davon aus, dass der Mensch ein »Sünder« ist. Doch die Verankerung der Sünde im Menschen reicht im Alten Bund nicht so tief hinab wie im Neuen: Nach Gen 6,5; 8,21 ist zwar das »Trachten des menschlichen Herzens böse von Jugend an« (EÜ), aber nicht das Herz selbst. »Böse« sind demnach die Taten und ihre Maximen, nicht der Mensch an sich. 44 Zur ebenfalls ambivalenten Beurteilung der David-Batseba-Urija-Episode im rabbinischen Judentum, auf die hier nicht eingegangen werden kann, vgl. OBERHÄNSLI-WIDMER, Midrasch, S. 5–8. Die Verf.n resümiert: »Überblickt man dementsprechend die jüdische Wirkungsgeschichte Davids, so kristallisiert sich inner-alttestamentlich und nach-alttestamentlich eine vergleichbare Entwicklungslinie heraus. Während die älteren Samuelbücher David ambivalent und durchaus mit kritischen Einschüben umreißen, beschönigen die späteren Texte – Propheten, Psalmen, Chronik – die Figur bis zur Unkenntlichkeit. Während das talmudische Schrifttum versucht, David in der gesamten Komplexität der biblischen Darstellung und den Interessen der eigenen Epoche zu fassen, beweihräuchern ihn die späteren Texte – Kabbala, Jalqutim und Blütenlesen – über alle Maßen.« (S. 13). 45 Vgl. HEITHER, David, S. 12, die auf etwa 20.000 Belege zu David in der frühchristlichen Literatur verweist. Viele Quellenhinweise verdanke ich ihrer Studie. 46 Für eine Analyse des neutestamentlichen Befunds vgl. z. B. KARRER, Von David zu Christus, S. 327–365.

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modernen Forschung bereits ausführlich analysiert worden. 47 Wie allerdings positionieren sich die ersten Christen zu Davids Ehebruch und dem von ihm in Auftrag gegebenen Mord, zu Delikten also, die nach geltendem römischen Recht schwere Verbrechen und in der israelitisch-jüdischen Tradition schwere Sünden gegen Gott sind? Die christlichen Autoren bieten zu diesen Fragen ein überraschend vielgestaltiges Deutungspanorama an, das im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden soll. 48 Dieses ist nicht nur vom jeweiligen Sitz im Leben der einzelnen Schriften, sondern ebenso vom Schriftverständnis und den exegetischen Methoden der konkreten Theologen bestimmt. Weil sie die Texte, die im Zuge der Kanonisierungsprozesse zum Alten Testament werden, als von Gott inspiriert verstehen, deuten sie sie auf der Suche nach ihrem tieferen Sinn, ihrem Geheimnis, häufig gleichzeitig auf mehreren Ebenen. 49 Dabei sind sie in der Regel von der Absicht geleitet, das Berichtete entsprechend zu aktualisieren und auf die Situation ihrer Adressaten anzuwenden. 50 Dies wiederum beeinflusst die Sicht auf Davids Verbrechen und damit sein Versagen massiv.

47

Vgl. z. B. DANIÉLOU, David; DIETRICH / HERKOMMER, König David; DIETRICH, David. Der Herrscher mit der Harfe; LINAFELT / CAMP, The fate of King David. 48 Bei der Textauswahl habe ich grundsätzlich darauf geachtet, dass nicht nur allgemein von Davids Schuld, wie oft in den Psalmenhomilien, sondern jeweils konkret von Ehebruch und Mord die Rede ist. Die Vollständigkeit der Belege kann in diesem Rahmen selbstverständlich nicht angestrebt werden. Ich danke meinen Mitarbeiterinnen, Katharina Pultar und Nadine Breitbarth, herzlich für ihre wertvollen Anregungen zu diesem Beitrag. 49 Die klare Trennung und eindeutige Identifikation der verschiedenen Sinnebenen der Texte wird nicht nur durch z. T. unterschiedliche Begrifflichkeiten der frühchristlichen Autoren, sondern auch durch eine variierende Terminologie in der Forschung erschwert. In diesem Beitrag werden eine wörtliche (leibliche, historische, literale) und eine übertragene Bedeutungsebene gegenübergestellt. Im übertragenen Sinn kann ein Text entweder moralisch-allegorisch (seelisch, die Seele belehrend) oder mystisch-allegorisch (geistlich, den Geist auf Glaubensgeheimnisse hinweisend, Origenes gebraucht den Begriff anagogisch) interpretiert werden. Als weitere Variante einer übertragenen Deutung ist die Typologie zu nennen, wobei die Grenzen zur allegorischen Auslegung fließend sein können. Die typologische (figurative) Interpretation verweist, indem sie eine heilsgeschichtliche Kontinuität voraussetzt, auf unterschiedliche Zusammenhänge zwischen dem Alten und Neuen Bund bzw. etwas weiter gefasst zwischen Vergangenheit und Zukunft, die auch mit den Stichworten umbra (= Gesetz/AltesTestament) – imago (Bild im Evangelium) – veritas (Wahrheit in der zukünftigen Zeit des Heils) beschrieben werden können, vgl. dazu z. B. TZVETKOVA-GLASER, Origenes, S. 21; ULRICH, Allegorie III., S. 6 f.; WEIGL u. a., Typos/Typologie, S. 613–615; HEIL, Schriftsinn I., S. 531 f.; REVENTLOW, Epochen 2, S. 74. 50 Vgl. z. B. MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 559 f.

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2.1 Tertullian von Karthago

Schon Tertullian von Karthago rekurriert mit durchaus sehr unterschiedlichen Intentionen auf David und die von ihm begangenen Verbrechen. In einer frühen Erwähnung im Jahr 203 dient ihm der König, ausgehend vom Literalsinn, als Beispiel dafür, dass selbst ein probatus zu einem späteren Zeitpunkt verloren gehen könne. Tertullian betont diesen Aspekt, seine Adressaten mahnend, im Kontext der Klage über die Anfälligkeit von Christen für Häresien, die er wiederum mit der Gnosis gleichsetzt. Nur der Sohn Gottes sei ohne Sünde. 51 In Adversus Marcionem kommt Tertullian nur andeutend auf Davids Vergehen gegen das Haus des Urija zu sprechen, um dadurch die Barmherzigkeit Gottes nach dem Schuldbekenntnis des Königs zu unterstreichen 52 – diese Akzentuierung richtet sich gegen ein negatives, von Tertullian seinem Gegner Markion zugesprochenes Gottesbild. 53 Wiederum einige Jahre später bemüht der Apologet ein typologisches Verständnis und präsentiert David in De pudicitia als einen (schwer schuldig gewordenen) Repräsentanten des Vergangenen und nun Überholten. Während es für den König Israels noch möglich gewesen sei, sich von der Ermordung des Urija und vom Ehebruch durch ein Schuldbekenntnis zu reinigen, seien Unzucht und Ehebruch seit Christus selbst durch die Buße nicht mehr vergebbar. 54 Wiederum etwas später verweist Tertullian in De monogamia antithetisch auf die polygame Lebensweise einiger Patriarchen als letztlich überwundene Etappe der Entwicklung hin zur Monogamie, weshalb die Vielehe den Christen keinesfalls als Vorbild dienen könne. Besonders scharf kritisiert der Apologet in diesem Zusammenhang David, der eine seiner Ehen »sogar durch Blutvergießen erlangt habe«, sowie Salomo, der »sogar reich an Ehefrauen gewesen sei«. 55 Ein weiteres Mal verkörpert David als Typus des Alten Bundes damit eine vormalige Phase der Heilsgeschichte, die Tertullian nun als Kontrastfolie zur Illustration der Überlegenheit des Neuen Bundes dient.

51 Tertullian von Karthago, De praescriptione haereticorum 3, 3–5, S. 232–234. 52 Tertullian von Karthago, Adversus Marcionem 2, 17, S. 274–278. 53 Vgl. DRECOLL, Altes Testament in der Alten Kirche, S. 98–100. 54

Tertullian von Karthago, De pudicitia 6, 3, S. 1298, formuliert: Operum iuga reiecta sunt, non disciplinarum. Libertas in Christo non fecit innocentiae iniuriam. Zu David äußert er sich ebd. 6, 9, S. 1290, zur Gegenüberstellung der Zeit vor und nach Christus ebd. 6, S. 1289–1291. 55 Tertullian von Karthago, De monogamia 6, 4, S. 1236 f.: etiam per sanguinem nuptias sibi ingeren(s).

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2.2 Origenes

Aus dem umfangreichen Werk des Origenes sei nur auf eine einzige Thematisierung des Ehebruchs und Mords hingewiesen, die als eine ungewöhnliche Deutung allerdings besondere Aufmerksamkeit verdient. 56 Die einschlägige Textstelle stammt aus dem 243/4 entstandenen Römerbriefkommentar, der nur in einer von Rufin gekürzten und 406 ins Lateinische übersetzten Fassung vorliegt. 57 Den Ausgangspunkt für Origenes’ Äußerungen zu David, Batseba und Urija bildet dessen Reflexion darüber, warum Paulus behaupte, jeder Mensch erweise sich als Lügner (Röm 3,4). Erklärend verweist der Theologe zunächst auf Ps 115,11 (116,11) als Herkunftsort dieses Zitats, wobei er unterstreicht, dass dem geisterfüllten Propheten David als Verfasser der Psalmen dennoch zu glauben sei, insofern das Wort Gottes an ihn in besonderer Weise ergangen sei. 58 Diese Glaubwürdigkeit illustriert Origenes in einem zweiten Schritt an Ps 50 (51) und speziell Vers 6, der ein Schuldbekenntnis Davids vor Gott sei: »Gegen dich allein habe ich gesündigt«. Diese Aussage sei (auf der wörtlichen Ebene) zunächst nicht zu verstehen, weil David durch Mord und Ehebruch doch auch gegen Urija, dessen Verwandte, gegen Batseba und ihr ganzes Haus gesündigt habe. Den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Aussagegehalt des Psalmverses und 2Sam wertet Origenes als Hinweis auf das Vorhandensein einer tieferen Sinnebene. Diese könne nur durch eine allegorische Auslegung (in allegoriam) des Ehebruchs und Mords erkannt werden. 59 Da man verschiedene Frauengestalten um Salomo als Abbilder gottfremder Sekten deuten könne, sei, so Origenes, die Frau des Fremden, des Hetiters Urija, ebenfalls auf diese Weise zu verstehen. David habe sie begehrt und genommen, worauf der Herr, um abweichende Sekten in Davids Haus zu verhindern, die Erstgeburt habe sterben lassen. Dabei bezeichnet Origenes (genauer Rufin) diese Ereignisse als Bilder (figurae) und Rätsel (aenigmata). Er erklärt, dass David deshalb im Psalm alleine seine Schuld gegen Gott betone, weil Ehe56

Einen Überblick zu Origenes’ Schriftauslegung findet man z. B. bei KANNENGIESSER, Handbook 1, S. 536–574 (Beitrag von Herrmann J. VOGT). 57 Zur Exegese des Origenes vgl. z. B. MARKSCHIES, Origenes, S. 75–79, speziell zum Römerbriefkommentar ebd., S. 79–86; dazu HEITHER, S. 7–23. Griechische Fragmente zur Prüfung der Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der Übersetzung Rufins existieren nur wenige. 58 Origenes, Commentarius in epistulam ad Romanos 2, 10 (14), 189–259, S. 185–189; Übersetzung S. 319–323. Die Argumentation ist etwas kompliziert: Davids Aussage, dass jeder Mensch ein Lügner sei, kann deshalb Glauben geschenkt werden, weil an ihn das Wort Gottes erging. Deshalb sei er nicht als Mensch, sondern als Gott zu bezeichnen – und damit grundsätzlich vertrauenswürdig. 59 Origenes, Commentarius in epistulam ad Romanos 2, 10 (14), 260–273, S. 189; Übersetzung S. 325. Zu den Bedingungen einer legitimen Verwerfung des wörtlichen Sinns vgl. TZVETKOVAGLASER, Origenes, S. 20.

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bruch und Mord als Figurationen für eine falsche Haltung gegenüber den Sekten zu verstehen seien. Diesen Irrtum Davids könne wiederum alleine Gott richtig beurteilen – das Gesamt des Geschehens ist demnach auf einer allegorisch-mystischen Ebene zu deuten. 60 Dabei werden die eigentlichen Vergehen Davids nach 2Sam zwar nicht geleugnet, ihre Bedeutsamkeit aber durch die tiefere Sinnebene des Bibeltextes merklich relativiert. Die schwere Schuld des Königs konstatiert Origenes demnach sowohl in einem wörtlichen als auch in einem übertragenen Verständnis, David fungiert jeweils als ein zur Mahnung der Adressaten herangezogenes Negativbeispiel. 2.3 Ambrosius von Mailand

Der Bischof von Mailand hat sich in zwei einschlägigen, apologetisch ausgerichteten Schriften dezidiert mit dem Ehebruch und Auftragsmord des David auseinandergesetzt. Dabei gilt die früher als unecht beurteilte Apologia altera 61 mittlerweile recht unstrittig als die ältere Schrift des Ambrosius, die auf eine kaum bearbeitete Mitschrift von Predigten vor allem über Ps 50 (51) zurückzugehen scheint. 62 Zum Auftakt referiert der Prediger kurz die Umstände des Ehebruchs und Mords, die nach dem biblischen Zeugnis nicht zu leugnen seien (Haec facta sunt nec negantur.). 63 Überzeugt davon, dass Davids Schuld dennoch zu erklären und nicht anstößig sei, liefert er im Folgenden verschiedene Interpretationen der Verbrechen. 64 Seine Ausführungen richten sich, so betont er mehrfach, getrennt voneinander an »Heiden«, »Juden« und »Christen« und sollen durch ihre Bandbreite offenbar das Spektrum der Verteidigungs- bzw. Erklärungsmöglichkeiten repräsentieren. 65 Um dies zu erreichen, rekurriert der Bischof auf verschiedene Formen der Schriftauslegung. 66 So 60

Origenes, Commentarius in epistulam ad Romanos 2, 10 (14), 285–319, S. 190–192; Übersetzung S. 327–329. Zu seiner Methode vgl. z. B. auch REVENTLOW, Epochen 1, S. 170–193. 61 Sie wird (fälschlich) auch als Apologia secunda bezeichnet. 62 In der Datierungs- und Abhängigkeitsfrage folge ich LEPPIN, Das Alte Testament, S. 120 f., 125, 130–133, mit einer ausführlichen Darstellung des Forschungsstands. HEITHER, David, S. 100, hält Ambrosius dagegen eher nicht für den Verfasser. 63 Ambrosius von Mailand, Apologia altera 2, 5, S. 148; 10, 50, S. 198. 64 Quomodo igitur defendentur?: Ambrosius von Mailand, Apologia altera 2, 5, S. 148. Zu den Auslegungsmethoden des Ambrosius vgl. einführend REVENTLOW, Epochen 2, S. 53–77. MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 566, spricht von der »Entschärfung« durch allegorische Auslegung. 65 Ob Ambrosius hier tatsächlich reale unterschiedliche Personengruppen adressiert? Mir scheint eher plausibel, dass er deren theoretisch denkbare Argumente aufgreift und dabei jeweils eine christliche Zielgruppe im Blick hat. 66 Zur Vorstellung des Ambrosius und auch Origenes, dass dieser Auslegungsprozess von Christus selbst ermöglicht und begleitet wird, z. B. MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 568 f.

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betont Ambrosius gegenüber den »Heiden«, dass David ein typischer, mit Fehlern bzw. Sünden behafteter Mensch gewesen sei, der der Begierde (libido) nachgegeben habe. Dieses Fehlverhalten nimmt der Prediger zum Anlass, um seine Adressaten nachdrücklich zur Beherrschung verschiedener Leidenschaften aufzufordern, 67 wobei er auf den vorbildlichen Umgang Davids mit der Schuld und der notwendigen Buße verweist. Mit Blick auf die »Heiden« hebt der Mailänder Theologe also die moralisch-allegorische Bedeutung der Erzählung über David hervor. Anschließend führt der Bischof gegenüber den »Juden« mithilfe umfangreicher christologischer Reflexionen aus, dass David nicht zuletzt aufgrund seiner Sünden nicht der erwartete Messias gewesen sein konnte, sondern nur auf den verheißenen Sohn Gottes verweise. 68 Mit Blick auf die christlichen Rezipienten legt er weiterhin typologisch deutend sehr ausführlich dar, dass David mit seiner Schuld und Reue Christus sowie die Kirche der Heiden und Sünder mit ihren Sakramenten und den Möglichkeiten der Sündenvergebung präfiguriere. 69 Der Ehebruch verweise auf das Heil, 70 die entblößt badende Batseba, die von David in Liebe umarmt werde, auf die sündhafte menschliche Natur, die von Christus durch die Taufe wie eine Braut angenommen und erlöst werde. 71 Tatsächlich, so schlussfolgert Ambrosius, zeigten die mysteria der Erzählung von Ehebruch und Mord, die nur durch typologische sowie moralisch- und mystisch-allegorische Interpretationen aufzuspüren sind, dass nicht nur nichts zu verurteilen, sondern auch vieles Löbliche zu finden sei. 72 Die zweite, etwa 386/7 zu datierende, umfangreichere Schrift De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 73 lässt sich wohl ebenfalls auf

67

Ambrosius von Mailand, Apologia altera 3, 6–20, S. 150–160. Schon Origenes betont die Notwendigkeit, verschiedenen Adressatenkreisen ein angepasstes Niveau theologischer Reflexion zuzumuten, vgl. z. B. TZVETKOVA-GLASER, Origenes, S. 20 f. 68 Ambrosius von Mailand, Apologia altera 4, 21 – 5, 30, S. 160–176. 69 Ambrosius von Mailand, Apologia altera 5, 31 – 12, 75, S. 176–220. Der schnelle Tod des in der illegitimen Beziehung gezeugten ersten Kindes verweise wiederum auf die Juden, die nicht zur vollen Erlösung gelangen, vgl. ebd. 7, 38, S. 184 – eine aus heutiger Perspektive sehr problematische Auslegung! 70 Ambrosius von Mailand, Apologia altera 10, 50, S. 198. Der Bischof fügt an, dass deshalb auch nicht jeder Ehebruch zu verurteilen sei. 71 Sehr deutlich z. B. Ambrosius von Mailand, Apologia altera 8, 40–42, S. 186–190. An anderen Stellen betont der Bischof dagegen stärker die Beziehung zwischen Christus und seiner Kirche. 72 Ambrosius von Mailand, Apologia altera 10, 51, S. 200; 11, 54, S. 202. Zu den biblischen Texten, die sowohl mystisch- als auch moralisch-allegorisch zu interpretieren sind, vgl. MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 560. 73 Mitunter findet sich auch die Bezeichnung Apologia prima. Ob die Widmung an Theodosius tatsächlich auf Ambrosius zurückgeht, ist strittig, vgl. die Ausführungen von F. LUCIDI zum Befund der Handschriften, Sancti Ambrosii Episcopi Mediolanensis Opera 5, S. 55. LEPPIN, Das

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Homilien zurückführen, die Ambrosius zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Gesamttext zusammenfügte. Dabei bezieht er im Vergleich zur Apologia altera deutlich mehr literarische Quellen mit ein, besonders hervorzuheben sind die Psalmenkommentare des Origenes 74 und des Didymus des Blinden. 75 Nach eigenen Aussagen motivierten den Mailänder Bischof zu diesem Werk konkrete Fragen von (sehr wahrscheinlich christlichen) Lesern bzw. Gemeindemitgliedern, warum sich der große Prophet David des Ehebruchs und Mordes schuldig gemacht habe. Ambrosius vermutet hinter solchen Anfragen ein fehlendes Verständnis für den (tieferen) Sinn der Schriften und die verborgenen Geheimnisse, das er im Folgenden zu beheben versucht. 76 Dafür präsentiert er wiederum eine ausführliche, auf verschiedenen Deutungsebenen angesiedelte Verteidigung des David, 77 bei der er auch mit dem wörtlichen Sinn des Textes argumentiert: David habe sich trotz seiner insgesamt vorbildlichen Lebensführung nur ein einziges Mal schwer verfehlt, 78 wobei der Mord an einem Unschuldigen in seiner Schwere durch die fehlenden Motive Hass und Grausamkeit zu relativieren sei. 79 Vielfach verweist Ambrosius darauf, dass eine solche Schuld Ausdruck der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur sei, 80 niemand außer Christus selbst sei ohne Sünde. 81 Außergewöhnlich zeige sich David dagegen in der Art des Umgangs mit den Verbrechen, obwohl er, was der Bischof mehrfach unterstreicht, als König den menschlichen Gesetzen gar

Alte Testament, S. 130 f., verweist zurecht darauf, dass der Kaiser im Text selbst gar nicht angesprochen wird. 74 Zur Diskussion der Abhängigkeit der exegetischen Hermeneutik des Ambrosius von Origenes vgl. z. B. MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 559–569. 75 Vgl. dazu die detaillierten Belege bei P. HADOT und M. CORDIER in ihrer Edition, Sources Chrétiennes 239, S. 10, 49–58, 197–203. Die Überlieferung dieser Texte ist unzureichend: Während die Psalmenhomilien des Origenes bis auf Exzerpte in griechischen Fragmenten nur in einer lateinischen Übersetzung vorliegen, sind die Psalmenkommentare des Didymus nur unvollständig erhalten. 76 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 1, S. 70. 77 Dieser erste Teil umfasst die Kapitel 1–40. Zur teilweise starken Abhängigkeit der Kapitel 3–8 von der Argumentation des Didymus vgl. HADOT / CORDIER, Sources Chrétiennes 239, S. 10 f. Dort sind die ersten 40 Kapitel der Schrift als »un long prologue au commentaire« charakterisiert (ebd. S. 12). 78 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 2, S. 70; 4, S. 74; 26, S. 106; 40, S. 122. Davids ideale Herrschaftsausübung wird an anderen Stellen betont, vgl. ebd. 29–32, S. 110–114; 38, S. 120. 79 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 36, S. 116– 118; 40, S. 122. 80 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 6: fragilitas naturae, S. 76–78; 15f., S. 92–94. 81 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 10, S. 84; 57, S. 152–154; 59, S. 156–160.

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nicht unterworfen sei. 82 Dieses Verhalten illustriere wiederum seine Tugend (virtus) in besonderer Weise: »Sein Fall ist etwas (ihm mit allen Menschen) Gemeinsames, aber etwas (für ihn) Spezifisches ist sein Bekenntnis«. (Lapsus communis, sed specialis confessio). 83 Durch seine schnelle und umfassende Reue und Buße werde David zu einem unüberbietbaren Beispiel insbesondere für andere schuldig gewordene Christen 84 – Ambrosius ergänzt in diesen Kontexten die Erklärung auf der Ebene des Literalsinns um eine pädagogischbelehrende Interpretation. Neben einer moralisch-allegorischen Auslegung gebraucht der Bischof Elemente einer sowohl typologischen als auch mystisch-allegorischen Exegese, wobei sich auf diesen Deutungsebenen die Frage nach einer Schuld des historischen Davids gar nicht mehr stellt. Den fraglichen Ereignissen komme eine wichtige erzieherische Aufgabe zu, sie seien Teil des göttlichen Heilsplans und verwiesen dabei nicht nur auf die Berufung der Heiden, sondern auch auf die Vereinigung des Wortes mit der menschlichen Natur. 85 Ausdrücklich formuliert Ambrosius, dass Batseba in ihrer Vereinigung mit David auf die Verbindung zwischen Christus und der Kirche (congregatio nationum) voraus deute: Die nackte Aufrichtigkeit des Geistes und die offene Einfachheit (der Kirche bzw. Batsebas) verführten den Geist des wahren Davids und ewigen Königs (also Christus) durch das rechtfertigende Geheimnis des wahren Bades (d.h. durch die Taufe) und forderten seine Liebe (caritas) heraus. Urija dagegen stehe für den Satan, der zurecht getäuscht werden müsse. Deshalb sei der wahre David (Christus) heimlich wie ein Ehebrecher in die Welt gekommen, um dann sein legitimes Recht zu beanspruchen. 86 Davids Reue und Buße seien zudem geprägt von seinem Vorauswissen über die zukünftige Vergebung aller Sünden, den Glanz der Gnade durch die Taufe und die Eingießung des heiligen Geistes. 87 Diesen Ausführungen des Mailänder Bischofs folgt eine versweise Exegese des Ps 50 (51), die in verschiedenen Teilen deutlich von den Psalmenkommen82

Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 15, S. 92; 51, S. 142–144, vgl. LEPPIN, Das Alte Testament, S. 122 f. 83 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 15, S. 92. 84 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 5f., S. 74–78; 15f., S. 92–94. Die vorgelegte moralisch-pädagogische Argumentation stimmt weitgehend mit den Ausführungen zu David überein, die Ambrosius in der Expositio Evangelii secundum Lucam 3, 37, S. 278, präsentiert. 85 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 2–14, S. 70–90; 20–23, S. 96–100. 86 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 14, S. 90. 87 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 23, S. 100. Zum Gedanken der Vorankündigung der Taufe als wirklicher Sündenvergebung im Alten Testament bei Ambrosius vgl. REVENTLOW, Epochen 2, S. 74 f.

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taren des Origenes und Didymus beeinflusst ist. 88 Ambrosius interpretiert den Psalm traditionell als Sündenbekenntnis und Bitte um Vergebung, wobei er den schuldig gewordenen König selbst zur Sprache kommen lässt. Auch hier steht zunächst dessen vorbildlicher Umgang mit der eigenen Schuld im Mittelpunkt, verbunden mit daraus abgeleiteten Ausführungen über die Sündhaftigkeit aller Menschen. 89 Dies führt weiter zu der im Zentrum der Exegese stehenden prophetischen Vision Davids zur zukünftigen Vergebung seiner eigenen Sünde durch das Heilsgeheimnis in Christus und die Taufe, was ausführlich und detailreich geschildert wird. 90 Ambrosius resümiert mehrfach, dass Mord und Ehebruch David nicht als persönliche Schuld anzulasten, sondern mit der umbra mysterii, dem Schatten des Geheimnisses, in Verbindung zu bringen seien. 91 Damit wird auf dieser Deutungsebene aus dem auf der wörtlichen Ebene unschuldigen Opfer Urija 92 eine Person, deren »Ermordung« folgerichtig erscheint, weil diese Tat ein Abbild für das Vorgehen gegen die Sekten ist. 93 Solche unterschiedlichen Deutungsebenen waren auch Ambrosius bewusst. Als er vermutlich 389/90 in seinem Kommentar zum Lukasevangelium auf David rekurrierte, bot er wiederum eine wörtliche und eine übertragene, sowohl moralisch- und mystischallegorische als auch typologische Deutung der Schuld Davids an. 94 In diesem Kontext reflektierte er ausdrücklich über die daraus resultierenden verschiedenen Sinnebenen des Bibeltextes: »Ein Geheimnis im figurativen, eine Sünde im historischen Sinn; die Schuld durch den Menschen, das Geheimnisvolle durch 88

Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 41–85, S. 122–188, zur literarischen Abhängigkeit vgl. HADOT / CORDIER, Sources Chrétiennes 239, S. 10–16, 21–24, 26, 32. 89 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 53–57, S. 144–154. 90 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 58–85, S. 154–188. 91 Ambrosius von Mailand, De Apologia prophetae David ad Theodosium Augustum 40, S. 122, vgl. auch 81, S. 182–184. In seiner Schrift Expositio Evangelii secundum Lucam 3, 38f., S. 278– 280, folgt der moralisch-pädagogischen Exegese ebenfalls eine typologische Interpretation. Wie MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 567, zeigt, ist sowohl für Ambrosius als auch für Origenes der alttestamentliche typus die umbra veritatis, vgl. dazu auch REVENTLOW, Epochen 2, S. 74. 92 So z. B. Ambrosius von Mailand, Apologia altera 6, 34, S. 180, der Urija an dieser Stelle als vir religiosus et devotus bezeichnet. 93 Vgl. Ambrosius von Mailand, Apologia altera 9, 48, S. 196: Urija war religiosus et castus, dennoch musste seine Verbindung zu Batseba (als Ausdruck des Alten, Bösen, Vergangenen) durch die neue Verbindung zu David (und damit zu Christus) überwunden werden: Ergo iam Uri occisus est in typo legis, ut synagoga legis laqueis solueretur… . Der Tod des Urija sei notwendig, so die doch etwas konstruierte Argumentation des Ambrosius, damit Batseba nicht des Ehebruchs beschuldigt werden könne. 94 Ambrosius von Mailand, Expositio Evangelii secundum Lucam 3, 37–39, S. 278–280.

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das Wort.« (Mysterium igitur in figura, peccatum in historia; culpa per hominem, sacramenta per uerbum.). 95 Die Episode verfolge zwei Intentionen, insofern sie sowohl in das Geheimnis (der Vermählung der Kirche mit dem wahren David, wie Christus genannt werde) als auch in die vollkommene Buße einführe. 96 Die übertragene Deutung des Bibeltextes ermöglicht damit sowohl die Erkenntnis des Mysteriums und damit Glauben und Heil als auch eine gute eigene Lebensführung. 97 Dabei stellt Ambrosius im Unterschied zu Origenes zunehmend einen Zusammenhang zwischen den Begriffen mysterium bzw. sacramentum und den gottesdienstlichen Riten bzw. deren alttestamentlichen Bezügen her. 98 Als Ambrosius etwa zeitgleich im Jahr 390 Kaiser Theodosius nach dem Massaker von Thessaloniki in einem berühmt gewordenen Brief zu Reue und Buße aufforderte, zog er auch für diesen Fall das Vorbild des alttestamentlichen Königs und Propheten heran. Vom konkreten Versagen der historischen Person ausgehend, betonte der Bischof moralisch allegorisierend dessen idealen, von Demut (humilitas) geprägten vorbildlichen Umgang mit seiner schweren Schuld und drängte den schuldig gewordenen Kaiser zur Nachahmung eines solchen Verhaltens. 99 2.4 Hieronymus

Auf die von ihm wörtlich verstandene schwere Schuld Davids und dessen vorbildhaften Umgang mit seinen Vergehen kommt Hieronymus vor allem in zwei Briefen zu sprechen, die sich mit dem Thema Buße beschäftigen. 100 In seinem Oceanus gewidmeten Nekrolog zum Tod der Mutter Fabiola (397/400) 95 Ambrosius von Mailand, Expositio Evangelii secundum Lucam 3, 38, hier S. 280. 96 Ambrosius von Mailand, Expositio Evangelii secundum Lucam 3, 38f., S. 278–280. 97

Zu diesen Überlegungen, die bereits Origenes ähnlich präsentiert, vgl. auch MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 560–569. 98 Dazu MARKSCHIES, Ambrosius und Origenes, S. 561. 99 Ambrosius von Mailand, Epistula extra collectionem 11 (51), vor allem 11 (51), 7f., S. 214 f. Zur wirkmächtigen Rezeption dieses an sich eher unspektakulären Ereignisses vgl. z. B. LEPPIN, Demut und Macht, S. 50–69. Mit dem Hinweis auf die frühere Entstehung der beiden Apologien verwirft LEPPIN, Das Alte Testament, S. 125, 127, zurecht die Deutung, Ambrosius habe in diesen beiden Schriften die alttestamentlichen Erzählungen politisch instrumentalisiert. Hinzuweisen ist weiterhin darauf, dass Ambrosius von Mailand Parallelen zwischen David und Theodosius bereits 388, allerdings in einem ähnlichen Kontext, herausgestellt hatte, vgl. Epistula extra collectionem 74 (40), 22, S. 67 f.; 1 (41), 25, S. 159. 100 Zu den prosopographischen Angaben vgl. FÜRST, Hieronymus, S. 195, 241 f. u. ö. Zur Bedeutung des historisch-philologischen Kommentierens durch Hieronymus, der andererseits durchaus auch nach einem weiteren, geistlichen Sinn suchte, vgl. REVENTLOW, Epochen 2, S. 43–52; KANNENGIESSER, Handbook 2, S. 1094–1133 (Beitrag von Pierre JAY).

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betont er Parallelen zwischen dem berühmten Königs Israels und Fabiola. Die römische Adelige hatte sich von ihrem ersten Ehemann scheiden lassen, war eine zweite Ehe eingegangen und führte nach dem Tod des zweiten Mannes ein asketisches, von Großzügigkeit geprägtes Leben. Hieronymus schildert detailliert Fabiolas öffentliches Schuldbekenntnis und das sich anschließende kirchliche Bußverfahren nach ihrer Verwitwung. Dies verknüpft er mit Ausführungen zu Davids Reue über dessen Mord und Ehebruch, die diesen als idealen Maßstab erscheinen lassen. 101 Einige Jahre später sah sich Hieronymus veranlasst, an einen vermutlich aus Aquitanien stammenden Grundbesitzer Rusticus ein Mahnschreiben über die Buße zu schicken. Dieser war seiner Ehefrau nicht, wie offenbar zugesagt, zu einer Bußwallfahrt nach Palästina nachgereist, weshalb ihm Hieronymus mithilfe von Zitaten aus Ps 50 (51) mahnend das reumütige Verhalten Davids angesichts von Ehebruch und Mord vor Augen stellte. Eine schwere Sünde (magnum peccatum), so Hieronymus, erfordere große Barmherzigkeit (magna misericordia). Der Sünder (peccator) und bußfertige David (paenitens) habe sich in einen Lehrer (magister) verwandelt, dem, so legen es die Ausführungen nahe, Rusticus nachfolgen solle. 102 2.5 Johannes Chrysostomus

König David stellt auch für Johannes Chrysostomus eine bedeutende alttestamentliche Figur dar. Für unsere Fragestellung sind zunächst die vermutlich insgesamt neun Predigten über die Buße von Interesse, die der Prediger in Antiochien vortrug. Die Gestalt und das Vorbild des sündigen David spielen in der sicher echten Homilia 2, die von den verschiedenen Wegen der Buße handelt, eine besondere Rolle. Dort unterstreicht Johannes die Aufforderung an seine Adressaten zu einem Bekenntnis ihrer Schuld (in der Kirche) zunächst mit dem abschreckenden Beispiel des Kain. Dieser habe seine Schuld verleugnet und sei letztlich auch wegen dieser fehlenden Übernahme von Verantwortung von Gott streng bestraft worden. 103 Der Prophet und König David dagegen habe, was der Presbyter wiederholend betont, zwar noch im vorangeschrittenen Alter einen Ehebruch und Mord begangen, aber durch sein schnelles Schuldbekenntnis seine Verfehlungen getilgt. Der Prediger malt aus, wie Davids Leidenschaft den Verstand zunächst vernebelt und der Körper über die Seele geherrscht habe, worauf Gott den Propheten Natan wie einen Arzt zu einem Kranken schickte. Natan wiederum habe, um eine Eskalation zu ver101 Hieronymus, Epistula 77, 4, S. 40–42. 102 Hieronymus, Epistula 122, 3, 2–4, S. 63 f. 103

Johannes Chrysostomus, De poenitentia homilia 2, 1, S. 283–286.

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meiden, David nicht mit den schweren Anklagen konfrontiert, sondern die Geschichte vom reichen und armen Mann erzählt, worauf der König schnell seine eigene schwere Schuld und Sünde gegen den Herrn erkannte und Vergebung erlangte. 104 Damit legt auch Johannes den Fokus nicht auf die Verbrechen Davids, obwohl dieser drastisch mit einer »Perle im Schmutz/Kot« 105 verglichen wird, sondern auf dessen schnelle Reue und Buße. Ebenfalls in antiochenischer Zeit und damit vor 397 entstand das umfangreiche Corpus der Predigten zum Matthäusevangelium. Der Presbyter erläutert, dass ihn die kritischen Anfragen der Manichäer und Anhänger des Markion herausforderten, sich mit den überall bekannten Verbrechen des Königs von Israel auseinanderzusetzen. David, so konzediert er detailreich, habe fraglos schwerste Sünden auf sich geladen, indem er trotz seiner herausragenden Position und des fortgeschrittenen Alters die Ehe gebrochen und einen Mord begangen habe, und zwar an einer unschuldigen Person, der er zuvor bereits durch den Ehebruch Unrecht zugefügt habe. Doch seien diese Delikte aber gerade deshalb weder von der Schrift noch von ihm als Prediger verheimlicht worden, weil sich mit ihrer Hilfe Davids vollkommene Tugend erweisen lasse. Diese bringe er trotz der Schwere der Schuld durch seine radikale und mutige Bereitschaft zu Umkehr und Buße zum Ausdruck. David dient dem Prediger damit nicht nur als Vorbild für alle Adressaten, die geringere Schuld auf sich geladen haben und diese bereuen sollen, sondern zugleich auch als mahnendes Beispiel für einen jederzeit möglichen schnellen und tiefen Fall. 106 In dieser Passage formuliert Johannes interessanterweise eine Mitbeteiligung des Teufels, der dem König eine tödliche Wunde zufügte, die dieser seinerseits schnell parierte. Delikte und Buße werden mit einem Waffenkampf verglichen, aus dem David zwar schwer verletzt, aber siegreich hervorgeht. 107 Aufgrund dieser Verdienste habe Christus selbst David gegenüber den Juden als einen Propheten gewürdigt, der auf ihn verweise. 108 Die Ausführungen des antiochenischen Presbyters führen damit nahezu alle Aspekte an, unter denen die Sünden und damit das Versagen Davids betrachtet werden können. Dabei betont Johannes, dem Literalsinn der Texte große Bedeutung zumessend, deren moralische Zielrichtung und versucht, die eigenen Adressaten zu einem konkreten Verhalten zu motivieren: Der seine Tat und schwere Schuld aufrichtig und schnell bereuende und büßende Sünder

104 Johannes Chrysostomus, De poenitentia homilia 2, 2, S. 286 f. 105 Johannes Chrysostomus, De poenitentia homilia 2, 2, hier S. 286: ὁ μαργαρίτης ἐν βορβόρῳ. 106 Johannes Chrysostomus, Homilia in Matthaeum 26, 6–8, S. 340–344. 107 Johannes Chrysostomus, Homilia in Matthaeum 26, 7, S. 341–343. 108

Johannes Chrysostomus, Homilia in Matthaeum 26, 8, S. 343 f., vgl. Mt 22,41–46.

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David wird zum Vorbild. 109 Es fällt auf, dass Johannes trotz der explizit genannten Manichäer und Markioniten in den vorgestellten Kontexten auf eine explizit typologische Interpretation verzichtet – möglicherweise als bewusste Reaktion auf deren denkbare Vorbehalte. 2.6 Asterius der Homilet

Von Asterius sind neben verschiedenen Homilienfragmenten insgesamt 31, leider nur in gekürzter Form erhaltene Predigten zu den Psalmen 1–15 und 18 auf uns gekommen, die er Ende des 4. und Anfang des 5. Jahrhunderts im antiochenischen Raum verfasste. Durch die Überlieferung seines Werks unter dem Namen des Johannes Chrysostomus ist zu diesem eine enge Beziehung hergestellt worden, tatsächlich lässt sich aber nur eine begrenzte literarische Abhängigkeit von Johannes’ Psalmenhomilien nachweisen. 110 So ist die Psalmexegese des Asterius nach dem Urteil von W. Kinzig »ohne echte Parallele« 111 und insofern von besonderem Interesse. In den genannten Homilien – darunter keine zu Ps 50 (51) – kommt verschiedentlich die Schuld Davids durch Ehebruch und Mord zur Sprache, die Asterius im Sinne eines historischen Tatsachenberichts wörtlich deutet. Die Begierde 112 habe zunächst zum Ehebruch und dann zum Mord geführt. Dabei wird David als böser Liebhaber, die namenlos bleibende Frau als unschuldiges Lamm beschrieben, die »den fleckenlosen und untadeligen Körper für ihren Mann […] bewahrte.« 113 Asterius verzichtet damit eindeutig auf eine Schuldzuweisung an Batseba, die er ohne jede Einschränkung als Opfer charakterisiert! So sei auch der weitere geschichtliche Verlauf als Strafe Gottes für Davids fehlerhaftes Handeln zu deuten. 114 Dabei sei die Flucht Davids vor seinem Sohn Absalom mit Davids Flucht vor dem göttlichen Gesetz in Beziehung zu setzen, das Mord und Ehebruch verbietet. Weil der König Krieg gegen ein fremdes Haus geführt habe, entstehe nun Krieg gegen ihn in seinem eigenen Haus. 115 Zu dieser Strafe Got109 Vgl. z. B. auch Johannes Chrysostomus, Homilia in Matthaeum 60, 1, S. 583–585. 110 Vgl. KINZIG, Asterius, S. 3 f., 75f., mit Hinweisen auf weitere mögliche Vorlagen. 111 KINZIG, Asterius, S. 75. 112

Asterius der Homilet, 5 In Psalmum 4 Homilia 2, 5, S. 35 f. Der Anlass selbst ist ein nichtiger, insofern David im falschen Moment einer Frau beim Baden zusieht, vgl. die Übersetzung, S. 157. 113 Asterius der Homilet, 5 In Psalmum 4 Homilia 2, 4, S. 35, vgl. die Übersetzung, S. 156 f. 114 Asterius der Homilet, 3 In Psalmum 3, 3, S. 15, vgl. die Übersetzung, S. 123: »Es ist nicht meine Idee. Es ist der Ausspruch Gottes. Wo aber Gott der Interpret ist, kann niemand widersprechen.« 115 Asterius der Homilet, 3 In Psalmum 3, 3–6.13, S. 15 f., 19, vgl. die Übersetzung, S. 122–124, 126.

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tes zählt Asterius weiterhin den Tod des ersten mit Batseba gezeugten Kindes. Weil David schnell zur Buße bereit war und dies als Gerechtigkeit bezeichnete, gewährte allerdings auch Gott schnell Vergebung 116 – dies hält der Prediger seinen Adressaten moralisch-allegorisierend im Blick auf ihre eigene Situation vor Augen. 117 2.7 Salvian von Marseille

Salvian von Marseille verfolgt wiederum eine andere Intention, auf die abschließend aufmerksam gemacht werden soll. Wenn er in seiner vermutlich zwischen 440 und 450 verfassten Schrift De gubernatione Dei 118 den Nachweis erbringen will, dass die Wirren der Völkerwanderungszeit als Gericht und Strafe Gottes zu verstehen seien, rekurriert er auf die durch Heiligkeit und Verdienste überragende Gestalt Davids und die gleichwohl streng bestraften Vergehen. Dabei relativiert Salvian – und hier unterscheidet er sich von den bisher behandelten Autoren – Davids Schuld, indem er den vorausgehenden Ehebruch selbst gar nicht thematisiert und das Mordopfer Urija aufgrund seiner Herkunft abwertet: Dieser entstamme einem gottlosen und feindlichen Volk. Doch bereits in diesem weniger schweren Fall, so die Akzentuierung des Presbyters, habe Gott eine harte Strafe verhängt, was er durch ein unvollständig wiedergegebenes Zitat von 2Sam 12,9–12 und unter weitgehender Auslassung der Rolle des Natan dokumentiert. Da selbst der eine Fehler (error) des heiligen David nicht verborgen bleiben konnte und trotz Schuldbekenntnis und strenger Buße u. a. mit dem Tod des durch das Verbrechen gezeugten Kindes sofort schwer gestraft wurde, 119 schlussfolgert, belegt und ermahnt der Autor seine Adressaten, dass Gott auch gegenwärtig richte. 120 Auch Salvian interpretiert den Text damit unter Zuhilfenahme einer moralisierenden Allegorese.

116

Asterius der Homilet, 5 In Psalmum 4 Homilia 2, 5.7.11, S. 35 f., 38, vgl. die Übersetzung, S. 157–159. Vgl. auch das Schuldbekenntnis Davids in Asterius der Homilet, 12 In Psalmum 6, 2, S. 82, vgl. die Übersetzung, S. 237 f.; 24 In Psalmum 12 Homilia 2, 7, S. 184, vgl. die Übersetzung, S. 408; Fragmentum 18: In Psalmum 17, 5, S. 265, vgl. die Übersetzung, S. 517. 117 Asterius der Homilet, 5 In Psalmum 4 Homilia 2, 9, S. 37, vgl. die Übersetzung, S. 158. 118 Zur Datierung vgl. LAGARRIGUE, Sources Chrétiennes 220, S. 11–15. 119 Salvian von Marseille, De gubernatione Dei 2, 4, S. 170–176. 120 Salvian von Marseille, De gubernatione Dei 2, 4–6, S. 170–182.

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2.8 Fazit

Die Verbrechen und damit das Versagen Davids fordern die christlichen Autoren insbesondere aufgrund ihres göttlich-inspirierten Schriftverständnisses dazu heraus, einen tieferen Sinn bzw. das verborgene Geheimnis der überlieferten Vorkommnisse zu ermitteln. Dies führt zu erstaunlich unterschiedlichen Interpretationen, die jeweils zugleich vom Anliegen der Aktualisierung der Texte für die konkreten (christlichen) Adressaten und für die eventuell in den Blick genommenen Gegner beeinflusst sind. Wenn die exemplarisch betrachteten Interpretationen sich überhaupt zum Literalsinn äußern, dann leugnen sie, wie vor allem Origenes und Ambrosius von Mailand zeigen, die schwerwiegende Schuld Davids keineswegs. Dies kompensierend verzichten sie auf einer moralisch-allegorischen Deutungsebene zugleich selten darauf, den Ehebruch und Mord mit den herausragenden Verdiensten und Eigenschaften des Königs von Israel zu kontrastieren, hier sei insbesondere an Johannes Chrysostomus erinnert. In diesem Kontext betonen sie einerseits die vorbildliche, schnelle und umfassende Buße, andererseits dient ihnen Davids Versagen zugleich als Ausgangspunkt für unterschiedlich akzentuierte Aussagen über die Fragilität der menschlichen Natur. 121 Dies geschieht unabhängig davon, ob sie Davids sündhaftes Verhalten auf das Wirken des Teufels zurückführen oder seine eigene Verantwortung stärker unterstreichen. Urija, seltener auch Batseba 122 wie bei Asterius, werden in beiden Fällen als unschuldige Opfer des Königs von Israel gezeichnet, während der Tod des ersten gemeinsamen Kindes als letztlich angemessene Strafe Gottes für Davids Schuld hingenommen wird. Die typologischen Deutungen der Ereignisse differieren in ihrem Urteil über das Vergangene. Vor allem Tertullian von Karthago betont dezidiert den (moralischen) Fortschritt in der nun christlichen Zeit. Dagegen unterstreichen andere Autoren stärker, dass David auf Christus verweise – in diesen Fällen wird seine Schuld weniger akzentuiert. Mit Blick auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen Juden und Christen ist der von Ambrosius von Mailand vorgetragene Bezug zwischen dem Kindstod und dem Schicksal der Juden problematisch, während Origenes an dieser Stelle einen ebenfalls schwierigen Zusammenhang mit den Häretikern herstellt. Ambrosius von Mailand sieht in den Vorkommnissen und handelnden Personen die Verbindung Christi mit der Kirche (der Heiden und Sünder), die Sakramente und die Sündenverge-

121 Vgl. dazu die von HEITHER, David, S. 83–86, zusammengetragenen Beispiele. 122

Vgl. DIETRICH, David. Der Herrscher mit der Harfe, S. 252–255, mit Hinweisen zur Diskussion einer möglichen Mitschuld Batsebas durch die Jahrhunderte. Die Rollen Davids und Batsebas in 2Sam sind sicherlich als uneindeutig zu charakterisieren.

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bung präfiguriert. Auf mystisch-allegorischer Ebene erscheint damit auch die Ermordung des Urija als zwangsläufige Notwendigkeit. »David nutzte seine Machtstellung aus und verfiel der Sünde. Es ist aufschlussreich, dass die Väter dies nicht zur Sprache bringen, oder nur sehr verhalten.« 123 Dieses Urteil von Theresia Heither scheint nach der stichprobenartigen Überprüfung ergänzungsbedürftig: Ehebruch und Mord führen die frühchristlichen Autoren, die zum Teil auf konkrete diesbezügliche Rückfragen ihrer Adressaten verweisen, vor allem dazu, die wörtliche Sinnebene zu verlassen und auf tiefere, übertragene Deutungsebenen hinzuweisen. Indem sie die Verbrechen überhaupt thematisieren, rücken sie allerdings ins Bewusstsein, was die neutestamentlichen Texte noch gänzlich ignorierten. Ausblickend ist schließlich ein letzter Gesichtspunkt zu benennen: Davids Umgang mit seiner Schuld eignet sich aus christlicher Perspektive mehr und mehr auch dazu, ihn als idealen Herrscher zu charakterisieren und (christliche) Regenten an ihm zu messen. 124 So fordert und unterstreicht besonders Ambrosius von Mailand als neue christliche Herrschertugend die Demut (humilitas) des Kaisers. 125 Damit wird, wie Hieronymus formuliert, tatsächlich aus dem Versager David, dem peccator und paenitens, ein magister.

123 Vgl. HEITHER, David, S. 79. 124

Vgl. LEPPIN, Das Alte Testament, S. 119–130. Zur positiven Bewertung der Sünde eines Herrschers als Nachweis seiner Befähigung zur Herrschaft an einer Stelle im babylonischen Talmud vgl. KLEIN, Streben, S. 229–338. Einen Ausblick in die byzantinische Rezeption Davids gibt LUDWIG, David – Christus – Basileus, S. 367–382; zur frühbyzantinischen und westlichen Rezeptionsgeschichte vgl. z. B. auch ZAHND, Novus David, S. 71–87, der zugleich zu einer differenzierten Betrachtung der einerseits kirchlichen und andererseits höfischen Quellen mahnt. 125 Zur Rolle des Ambrosius und der Rezeption des Bußakts von Mailand vgl. LEPPIN, Demut und Macht, S. 50–69; zu den Kriterien der Akzeptanz eines christlichen Kaisers und zur Bedeutung verschiedener alttestamentlicher Narrative LEPPIN, Kaisertum und Christentum, S. 210–214; LEPPIN, Das Alte Testament, S. 119–130; allgemeiner auch HERKOMMER, Typus Christi – Typus Regis, besonders S. 393. Zum weiterentwickelten Gebrauch der Demutsvorstellung vgl. MEIER, Die Demut des Kaisers, S. 135–158.

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David, der Versager

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Rene Pfeilschifter Versagen als Kategorie bei der Beurteilung von Kaisern und Kaisertum ∗

Nur selten sagen wir jemandem ins Gesicht: »Du bist ein Versager.« Das ist nicht sehr höflich und es strapaziert soziale Beziehungen. Das ist natürlich kein Problem für den Historiker, der meist Personen kritisiert, die seit Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden tot sind. Dennoch begegnet einem in wissenschaftlicher Literatur nur selten ein Satz wie: ›Dieser König (oder Politiker, Bischof, Künstler, etc.) war ein Versager.‹ In diesem Wort drückt sich eben ein harsches Urteil aus, weder subtil noch anschlussfähig für Differenzierung, unempfänglich für hellere Schattierungen. Deshalb zögerte ich ein wenig, als ich die freundliche Einladung zu der Tagung erhielt, aus der dieser Sammelband erwuchs. Ich war mir nicht sicher, ob der Begriff zu einem besseren Verständnis historischer Personen oder politischer Systeme beitragen kann. Die Skepsis ist abgeklungen, sonst würde es diesen Aufsatz nicht geben. Ganz verschwunden ist sie nicht, aber dem trägt ja das Fragezeichen im Titel des Bandes Rechnung. Jedenfalls mag es nützlich sein, wenn ich in einem ersten Teil etwas zur Begrifflichkeit sage, bevor ich die Kategorie des Versagens in einem zweiten Teil auf das römische Kaisertum anwende. Das Verb ›versagen‹. Zunächst ein paar Selbstverständlichkeiten: Ich lasse transitive Bedeutungen beiseite. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts war das wörtliche Verständnis ›durch Sagen zu etwas bestimmen, einem anderen versprechen‹ geläufig. ›Ich habe meine Tochter versagt‹ bedeutete ›ich habe meine Tochter jemandem zur Frau versprochen‹. Dieser Sinn ist obsolet. 1 Weitgehend bekannt dürfte dagegen noch das Verständnis als ›verweigern, zurückhalten‹ sein. ›Ich habe meiner Tochter etwas versagt.‹ Das ist freilich eine sehr getragene, laut Duden gehobene, tatsächlich aussterbende Ausdrucksweise, die ∗ Das gesprochene Wort des Vortrags ist weitgehend beibehalten. Die Anmerkungen beschränken 1

sich auf das Nötigste. DUDEN, Bd. 9 S. 4264 s. v. versagen 3; PAUL / HENNE / KÄMPER / OBJARTEL, Wörterbuch S. 1098 s. v. versagen 1.

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einem in gesprochenem Deutsch nicht mehr begegnet und auch im Schriftlichen nur noch selten. 2 Es bleibt die vergleichsweise junge Bedeutung ›den Erwartungen nicht entsprechen‹. Das ist die heute selbstverständliche, und um sie geht es hier natürlich. ›Die Maschine hat versagt‹, sprich, sie funktioniert nicht mehr. Oder, besser, denn bisher ging es immer um Personen: ›Ich habe versagt.‹ Die Tochter als Objekt braucht es hier nicht mehr, sie muss nicht einmal mitgedacht sein. Das Verb ist intransitiv gebraucht, und auch dem Sinn nach bezieht es sich ganz auf das Subjekt. 3 Dies letzte wird noch verstärkt im ›Versager‹. Es geht hier ja nicht so sehr um das Verb, auch nicht um den substantivierten Infinitiv ›das Versagen‹, die beide auf Tätigkeit und Vorgang zielen. Sondern ganz konkret um den ›Versager‹, die Zustandsbeschreibung einer Person, die immer wieder bzw. vollständig scheitert und ganz die Schuld für diesen Zustand trägt. 4 Was ich damit meine, wird deutlicher, wenn wir den Begriff des Verlierens zum Kontrast heranziehen. Verlierer begegnen einem in der wissenschaftlichen Literatur weit häufiger – also solche, die auch so benannt werden. Jemanden aus der sicheren historischen Distanz einen Verlierer zu nennen, stellt offenbar kein großes Problem dar. Denn damit verbindet sich zunächst keine Bewertung der Person. Ein Verlierer ist lediglich jemand, der etwas verloren hat, der ein (vielleicht nur einmaliges) Scheitern erlitten hat. 5 Der Grund dafür mag in einem anderen liegen, der sich als überlegen erwiesen hat – der Gewinner –, in misslichen Umständen, in widrigen Strukturen. Es ist keineswegs impliziert, dass er in der Person des Verlierers liegt. Es gehört immer der Antagonist oder das antagonistische Moment dazu. Vorausgesetzt, ein Wissenschaftler definiert das Feld des Vergleichs hinreichend – zum Beispiel, ganz simpel: eine Schlacht –, dann ist gegen eine solche Kategorisierung nichts einzuwenden. 6 Jemanden aber Versager zu nennen – das heißt zu werten, eindeutig und sehr negativ. Und der Versager ist selbst schuld: Das Scheitern liegt nicht am 2

DUDEN, Bd. 9 S. 4263 f. s. v. versagen 2; KLAPPENBACH / STEINITZ, Gegenwartssprache, Bd. 6 S. 4099 s. v. versagen 1; PAUL / HENNE / KÄMPER / OBJARTEL, Wörterbuch S. 1098 s. v. versagen 2. 3 DUDEN, Bd. 9 S. 4263 s. v. versagen 1; KLAPPENBACH / STEINITZ, Gegenwartssprache, Bd. 6 S. 4099 s. v. versagen 2; PAUL / HENNE / KÄMPER / OBJARTEL, Wörterbuch S. 1098 s. v. versagen 3. Diesen Bezug auf Personen kennen GRIMM / GRIMM, Wörterbuch, Bd. 12,1 Sp. 1031–1035 s. v. versagen, trotz reicher Bedeutungspalette noch nicht. 4 Die meisten Wörterbücher würdigen diese Aspekte gar nicht, der Duden immerhin den ersten: DUDEN, Bd. 9 S. 4264 s. v. Versager a: »jmd., der [immer wieder] versagt«. 5 DUDEN, Bd. 9 S. 4247 f. s. v. Verlierer: »1. jmd., der etw. verloren hat. 2. jmd., der in einem [Wett]kampf, einer Auseinandersetzung o. Ä. besiegt wird, unterliegt«. Das Bedeutungsspektrum des Substantivs ist gegenüber dem Verb deutlich eingeschränkt: ebd. S. 4247 s. v. verlieren; KLAPPENBACH / STEINITZ, Gegenwartssprache, Bd. 6 S. 4082 f. s. v. verlieren. 6 Anders urteilen GRAUL / NEBELIN, Umrisse S. 68, 85, die im Begriff des Verlierers eine »stark wertende Kategorie« (68) erkennen. Dies scheint mir besser auf den Versager zu passen.

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schlechten Wetter – wenn das Fußballspiel verlorengeht –, an der Geschicklichkeit des Diebes – wenn das Portemonnaie gestohlen wird –, an der besseren Ausrüstung des Feindes – wenn der Krieg zu einem Desaster wird. Vielmehr kommt in einem solchem Rückschlag eine grundlegende Eigenschaft einer Person zum Ausdruck: das Versagertum, das schon zuvor da ist und nur jetzt sichtbar wird. Hier einmal die Synonyme, die der Duden kennt: Unfähiger, Flasche, Niete, Blindgänger, Loser, Krücke, Null, Nulpe, verkrachte Existenz, Pfeife, Sandler, Schwächling, Abziehbild, Taugenichts, Nichtsnutz, Schlawiner, Sack, Saftsack, Saftarsch. 7 Ein Versager ist keineswegs gleichbedeutend mit einem Verlierer. Karl XII. von Schweden war ein historischer Verlierer: Mit ihm ging die schwedische Großmachtstellung unter. Aber war der junge König deshalb ein Versager? Er war einer der größten Schlachtenlenker seiner Zeit, und selbst in der Niederlage gegen Peter den Großen befeuerte er die Phantasie der Zeitgenossen, als er am Hof des Sultans in Konstantinopel auftauchte. Die Gründe für sein Scheitern liegen nicht nur in persönlichen Unzulänglichkeiten, sondern auch und vielleicht sogar überwiegend im Mangel an Ressourcen, die es einem kleinen Land wie Schweden schwermachten, auf Dauer in der ersten Reihe der europäischen Mächte zu agieren. Kaiser Friedrich II. war seinen Zeitgenossen der stupor mundi, das Staunen der Welt, und er kommt in der Gegenwart alle paar Jahre wieder in Mode, auch wenn man ihn zu Unrecht für einen eher versehentlich ins Mittelalter geratenen Menschen der Moderne hält. Doch mit Friedrich endete die große Zeit seines Hauses, er starb im Kirchenbann und mit ihm die universalen Ambitionen des sacrum imperium. Doch die waren von keinem zu erfüllen, auch vom glänzendsten der Hohenstaufen nicht. Ein Verlierer also, kein Versager. Und um auch einmal in meine eigene Epoche zu gelangen: Hannibal gilt noch heute als einer der größten Feldherren, er brachte den Römern vernichtende Niederlagen bei – nur um den Machtverlust Karthagos zu erleben und selbst als verbitterter alter Mann im Exil Selbstmord begehen zu müssen. Ihn Versager zu nennen wäre aber ein törichtes Urteil. Aus Siegern können Verlierer werden, wie diese Beispiele zeigen. Natürlich geht es auch umgekehrt: Kaiser Herakleios musste in der ersten Dekade seiner Regierung einen Rückschlag gegen die Perser nach dem anderen hinnehmen, bevor er in einer der dramatischsten Wenden der Geschichte die Levante vollständig zurückeroberte und das Perserreich in die Knie zwang. Herakleios wäre noch heute eine Legende – wenn er nicht ein paar Jahre später alles erneut und diesmal endgültig an die Araber verloren hätte. Eine tragische Ge7

DUDEN s. v. Versager, www.duden.de (zuletzt eingesehen am 27. Februar 2018); MÜLLER, Duden, Bd. 8 S. 725 s. v. Versager.

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stalt, gewiss, aber kein Versager. Denn Herakleios hatte schwere Niederlagen erlitten, aber doch auch gezeigt, was in ihm steckte. Eine semantische Zwischenbemerkung: Diese analytische Scheidung zwischen Versager und Verlierer ist, das muss ich zugeben, nicht eine, die sich exakt mit dem heutigen Sprachgebrauch deckt. Verlierer ist nicht nur jemand, dem etwas abhandengekommen ist oder der jemandem oder etwas unterlegen ist, sondern Verlierer kann auch der umfänglich aufgrund seiner persönlichen Voraussetzungen Gescheiterte sein. Sagt man über jemanden: »Er ist ein Verlierer«, so meint der Sprecher häufig exakt dasselbe, wie wenn er sagen würde: »Er ist ein Versager.« Ich glaube aber, dass diese Bedeutung eine relativ neue ist. Zumindest habe ich sie in den Wörterbüchern nicht gefunden. Meine Vermutung ist, dass hier eine Sinnübertragung von dem englischen Wort ›loser‹ vorliegt. 8 Das engere deutsche ›Verlierer‹ hat also eine gewisse Unschärfe erhalten. Wie dem auch sei: ›Versagen‹ meint also ein grundsätzliches Scheitern, weil in ihm die Unzulänglichkeit einer Persönlichkeit zum Ausdruck kommt, eine Unzulänglichkeit, die natürlich nicht einfach abgeschüttelt, ausgewechselt oder verbessert werden kann. Es impliziert aber nicht ein umfängliches Scheitern in jedem Lebensbereich. Sagt die Liebhaberin über den Liebhaber: »Er ist ein Versager«, so meint sie das Bett damit – und nicht die sportlichen Leistungen des Mannes, der letztes Jahr drei Marathonläufe absolviert hat. Sagt die Tochter diesen Satz über den Vater, so meint sie dessen Verhalten im Familienkreis – nicht seinen Aufstieg in den Vorstand eines börsennotierten Konzerns. Versagen ist also meistens, auch wenn es sprachlich nicht unbedingt angezeigt wird, durch den Kontext oder durch die Perspektive des Urteilenden sektoral begrenzt. Das trifft ja auch auf diesen Band zu: Der Herrscher als Versager. Also nicht als Liebhaber, als Sportler, Familienvater, sondern in seiner Rolle als maßgeblicher Politiker. Doch das ist eine scheinbare Einschränkung. Der Band handelt von der Vormoderne, der zeitlich späteste Beitrag beschäftigt sich mit dem Mittelalter. Bei vormodernem Herrschertum lässt sich aber nicht einfach eine private Rolle von einer öffentlichen trennen. Für die Stabilisierung einer Herrschaft war nicht nur die befriedigende Erledigung der Staatsgeschäfte wichtig, sondern auch die Performance bei der Jagd, in der Familie, ja selbst in der Sexualität. Diese sozialen Rollen unterschieden sich durchaus voneinander, aber sie flossen in der einen Person zusammen und konnten nicht voneinander isoliert werden, ohne das jeweilige ›Konzept‹ des Herrschertums erheblich zu schädigen und in eine Krise zu stürzen. Individuum und herrscherliche Aufgabe 8

OXFORD ENGLISH DICTIONARY ONLINE s. v. loser 2e, www.oed.com (zuletzt eingesehen am 28. Februar 2018): »An unsuccessful or incompetent person, a failure«.

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waren derart eng miteinander verbunden, dass das eine ohne die andere nicht denkbar war. Der vormoderne Herrscher konnte also nicht einfach aufhören, wenn er nicht mehr wollte, oder, wenn etwas schiefging, zurücktreten wie ein moderner Regierungschef. Eine Abdankung war der Ausnahmefall, und es mussten zwingende Gründe dafür vorliegen. Reste dieses Verständnisses finden wir in der heutigen westlichen Welt – da inzwischen sogar Päpste zurücktreten – nur noch im britischen Königshaus. Zu überlegen wäre freilich, ob nicht moderne Diktatoren einzubeziehen sind. Bei einem Kim Jong-un scheint es nicht weniger als bei einem vormodernen Monarchen auf die Gesamtleistung anzukommen, nicht zuletzt auf Frisur und Familienmanagement. Dasselbe gilt für manchen zentralasiatischen Despoten, und auch bei Stalins Regiment lassen sich durchaus Züge höfischen Herrschertums erkennen. Aber diese, die scheinbar so wesentliche Barriere zwischen Vormoderne und Moderne übergehende Perspektive sei hier nur angedeutet. Stattdessen ein Definitionsvorschlag: Das Versagen eines vormodernen Herrschers ist ein weitreichendes, nicht auf einzelne soziale Rollen begrenztes Scheitern, es liegt in seiner Person begründet und kann deshalb nicht, wie beim Verlieren, bei nächster Gelegenheit wiedergutgemacht werden. Der versagende Herrscher ist also nicht tauglich, die Herrschaft weiterzuführen. Was hilft uns das nun weiter? Nicht viel, scheint es: Untauglichkeit zur Herrschaft ist ja keine objektive Kategorie, es ist eine Zuschreibung, die der nächste schon nicht billigen mag, und im Begriff des Versagens steckt auch noch diese starke, fast moralische Wertung. Viele der Aufsätze dieses Bandes konzentrieren sich daher, und zwar völlig zu Recht, auf solche Zuschreibungen: »›Versagen‹ als subjektive Bewertung« – darüber schreibt Notker Baumann – oder »Æthelred the Unready im Urteil seiner Zeitgenossen« – so Dominik Waßenhoven. 9 Dennoch wage ich den Versuch, ›Versagen‹ als objektive Kategorie zu erproben – soweit Objektivität in den Geisteswissenschaften möglich ist –, und zwar am Beispiel des römischen Kaisertums, das mir dafür besonders geeignet zu sein scheint. Damit komme ich zum zweiten Teil. Das Kaisertum scheint mir deshalb besonders lohnend, weil es die Möglichkeit des Versagens in das politische System integriert hatte und es somit einen Weg gab, ein Problem mit dem Individuum an der Spitze zu lösen, ohne das System selbst zu gefährden: die Usurpation, die Herausforderung und der Sturz des Kaisers. Um dies zu erklären, muss ich ein bisschen ausholen, und ich bitte um Verzeihung, dass ich jetzt Dinge referiere, die nicht wenigen Lesern wohlbekannt sind. Nach Mommsens Urteil gab es »wohl nie ein Regiment 9

Auch GRAUL / NEBELIN, Umrisse S. 68 f., 81 f., 88 f., fassen den Begriff des Verlierers vornehmlich als einen der Zuschreibung auf.

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[…], dem der Begriff der Legitimität so völlig abhanden gekommen wäre wie dem augustischen Principat«. 10 Ursache dafür war natürlich, dass Augustus vorgab, die res publica wiederherzustellen, und res publica darf dabei durchaus auch im modernen Sinn von Republik verstanden werden. Der Monarch durfte nicht offen als solcher anerkannt werden, und Augustus war ernsthaft darum bemüht, öffentliche Huldigungen von Untertanen nach Möglichkeit zu vermeiden, war er doch nur Erster unter Gleichen. Das heißt nun nicht, dass die Römer nicht bemerkt hätten, dass sie in einer Monarchie lebten. Natürlich taten sie es, die meisten waren dafür und wollten sie bald nicht mehr missen. Die Alleinherrschaft erwies sich nämlich aus regierungsökonomischen Gründen (›good governance‹) als recht vorteilhaft, und damit meine ich weniger die oft angeführte bessere Verwaltung der Provinzen als die Schaffung eines Kristallisationspunktes für die Loyalität der relevanten sozialen Gruppen, insbesondere der Armee und der stadtrömischen Bevölkerung. Aber auch die zurückhaltenderen Senatoren fanden bald Gefallen an einem Herrn, denn sie erhielten einen gar nicht so kleinen Anteil am Regiment und viele, jedenfalls die bedeutenderen unter ihnen, träumten davon, einmal selbst Caesar zu werden. Dennoch, so richtig König durfte der Princeps nicht sein. Augustus und Tiberius waren selbst noch in den Normen der egalitären Aristokratie sozialisiert worden und wiesen gar kein angemessenes monarchisches Sozialverhalten auf. 11 Wurde jemand Princeps, so gehörte es zum guten Ton, sich ein bisschen zu zieren, als ob man sich lieber ins Privatleben zurückziehen wolle – ein Opfer für die Allgemeinheit, das von den Lobrednern dann natürlich ausgiebig anerkannt wurde. 12 Das Kaisertum war zwar bald eine feste, nicht mehr wegzudenkende Größe. Institutionalisiert wurde es jedoch nur zögerlich. Das zeigte sich schon in der Titulatur, die zusammengeklaubt war aus verschiedenen republikanischen (Amts-)Bezeichnungen (imperator) und vererbten Eigennamen (Caesar). 13 Die Stellung eines Princeps existierte rechtlich lange nicht. Sie setzte sich, wiederum, zusammen aus diversen republikanischen oder pseudorepublikanischen Amtsvollmachten. 14 Die berühmte sog. lex de imperio Vespasi10 MOMMSEN, Staatsrecht II 2 S. 844. 11 Vgl. dazu PFEILSCHIFTER, Augustus. 12

Das Material hat HUTTNER, Recusatio, zusammengestellt. Wie wichtig die Andeutung des Machtverzichts war, zeigt sich darin, dass nachträglich zumindest eine entsprechende innere Haltung behauptet wurde, falls einmal kein entsprechendes Handeln vorlag: Plinius, Panegyricus 5,2–7; 9,4 f. über Trajan. 13 KIENAST / ECK / HEIL, Kaisertabelle, geben den besten Zugang zu der schwankenden Titulatur der einzelnen Kaiser, S. 19–38 legen sie die Grundlagen des Systems dar. Vgl. daneben immer noch MOMMSEN, Staatsrecht II 2 S. 763–786. 14 Diese Gewalten hat BLEICKEN, Verfassungsgeschichte S. 27–42, souverän skizziert, freilich mit einer anderen Bewertung der lex de imperio Vespasiani als oben im Text.

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ani aus dem Jahre 69 wird oft als letzter Baustein für die Integration des Prinzipats in die römische Staatsordnung gesehen. Dabei ist sie ein Beweis für das Gegenteil: Vespasian wird in dem Gesetz nicht der Prinzipat übertragen, sondern einzelne Vollmachten. Und diese nicht, weil der Princeps sie eben gewöhnlich innehatte – wie Tacitus verkürzend schreibt –, sondern weil Augustus, Tiberius und Claudius sie innegehabt hatten, einzelne Personen also (die exemplarischen ›guten Kaiser‹). 15 Und genauso erwarb Vespasian jetzt für sich diese Vollmachten, für seine Person, ohne dass er sie weitergeben oder gar das Bündel als so etwas wie ein Grundgesetz des Reiches festlegen konnte. Das ist sehr bemerkenswert für ein Volk, das zu Zeiten der Republik sehr genau normativ geregelt hatte, was die Konsuln tun und lassen durften, welche Vollmachten der Praetor hier hatte und welcher Vorbehalt für die Wahl eines Volkstribunen dort galt. Abstraktionen des Prinzipats wurden vermieden. 16 Ich will und sollte das hier nicht weitertreiben. Eine vor allem rechtliche Betrachtungsweise, die lange gerade die deutschsprachige Forschung dominierte, hat zu kuriosen Schlüssen geführt, etwa dass die Republik fortgedauert habe oder der Princeps tatsächlich ein republikanischer Magistrat gewesen sei. 17 Natürlich war der Prinzipat etwas Unrepublikanisches, natürlich war er auch eine rechtliche Größe. Aber doch so, dass einzelne Principes aufeinanderfolgten und jedes Mal mehr oder weniger mühsam ein neuer Herrscher ausgeguckt wurde, in einer Funktion, die in den ersten beiden Jahrhunderten ihres Bestehens nur wenig eigenes Gewicht hatte, sondern wesentlich von der Energie derjenigen lebte, die sie ausfüllten. »Mit dem Tod des Princeps stirbt auch der Prinzipat.« 18 Egon Flaig hat vor nunmehr einem Vierteljahrhundert aus Mommsens Bemerkung der mangelnden Legitimität neue Schlüsse gezogen und den Prinzipat als Akzeptanzsystem erklärt. Dieses Modell hat breiten Widerhall gefun15

Corpus Inscriptionum Latinarum VI 930 = Dessau, Inscriptiones Latinae Selectae 244 = Crawford, Roman Statutes S. 39; Tacitus, Historien IV 3,3: at Romae senatus cuncta principibus solita Vespasiano decernit. Ähnliche Gesetze gab es schon für frühere Kaiser: BRUNT, Lex S. 95–107. Die vieldiskutierte sog. diskretionäre Klausel Z. 17–21 verleiht Vespasian keine unumschränkte Herrschaftsgewalt, sondern gewährt dem Princeps nach schon republikanischem Vorbild Handlungsvollmachten für im Gesetz selbst nicht bedachte Fälle: PABST, Annäherungen S. 135–140. Für die Bedeutung von exempla zumindest für den frühen Prinzipat, auch im Sinne von ›good governance‹, vgl. PEACHIN, Government S. 82–86. 16 JACQUES / SCHEID, Rome S. 23–25, entwerfen für die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte ein »scénario théorique d’investiture« (23), das eben das ist: theoretisch, ohne ausreichende Berücksichtigung des historischen Kontexts. 17 Republik: CASTRITIUS, Prinzipat. Magistrat: MOMMSEN, Staatsrecht II 2 S. 749–754; III 2 S. 1262. Dass Mommsen dabei auch die soziopolitische Ebene, anders als viele seiner Nachfolger, völlig im Blick hatte, hat WINTERLING, Dyarchie, gezeigt. Vgl. auch PFEILSCHIFTER, Kaiser S. 2 f. mit Anm. 1 f. 18 TIMPE, Untersuchungen S. 126.

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den, wenigstens in Deutschland. Der Princeps hing von der Zustimmung der wichtigsten sozialen Gruppen ab, der Eliten (Senat), der Soldaten (in Rom vor allem der Prätorianer) und des Volks der Stadt Rom, später der Stadt Konstantinopel. Sie erhielten vom Kaiser Status, Anerkennung und materielle Privilegien und wahrten ihm dafür die Loyalität. Akzeptanz kann aber verlorengehen. Der Kaiser musste sie immer wieder von neuem verdienen, und zwar durch Leistung. Tat er das nicht, entzogen ihm die Statusgruppen des Reiches ihre Akzeptanz und sahen sich nach einem neuen Herrn um. Ein Usurpator trat auf, und oft musste ein Bürgerkrieg über den besseren Anspruch entscheiden. In solchen Situationen war das einzige Recht, das zählte, das des Stärkeren. Die Herrschaft des Kaisers war also verlierbar. 19 Das meinte ich vorhin damit, dass die Möglichkeit des Versagens in das politische System integriert war. Die Kategorie des Versagens wird damit objektivierbar. Versagen ist nicht ein Urteil des Wissenschaftlers, nicht ein Protest kritischer Zeitgenossen, sondern ein in der Sanktion nachvollziehbarer und überprüfbarer kausaler Vorgang. Denn Sturz und Versagen waren eng aufeinander bezogen, es gab keine Faktoren, die einen versagenden Kaiser dennoch auf dem Thron hielten. Kein Hausgesetz, keine Thronfolgeordnung, kein Geblütsrecht, keine Primogenitur, keine Gleichsetzung von Königsheil und Wohlergehen des Landes, kein metaphysischer Körper des Königs, der im physischen nicht attackiert werden darf. All diese juristischen, sakralen und theologischen Normen, die in Mittelalter und Neuzeit so manchen Versager auf dem Thron hielten, existierten in Rom nicht oder waren nur schwache, leicht zu durchbrechende Normen. Zwar versuchten insbesondere die christlichen Kaiser, ihre Herrschaft zu immunisieren, durch eine Einsetzung von Gott oder eine Salbung, also einen außerweltlichen Bezug, aber diese Versuche waren nicht von Erfolg gekrönt. 20 Damit bin ich bei der Dauer dieser Ordnungskonfiguration angelangt. Ich behaupte, dass das integrierte Versagen nicht nur den Prinzipat prägte, sondern das römische Kaisertum überhaupt. Damit meine ich natürlich nicht das westliche, von Karl und Otto dem Großen aufgenommene Kaisertum, das auf ganz anderen Voraussetzungen ruhte. Aber doch das östliche, byzantinische, das in Kontinuität zum römischen stand, nach dem Verständnis der Zeitgenossen auch ein römisches war und bis 1453 dauerte. Natürlich verschwanden die Bedingungen des ersten Jahrhunderts, welche die Ausbildung dieser Spielart von Monarchie erst ermöglicht hatten. Aber auch später, als das Kaisertum nach außen viel unverhohlener repräsentiert und viel gründlicher legitimiert wurde, blieb es dabei, dass Kaiser herausgefordert werden konnten. Setzten sie sich durch, waren sie keine Versager. Stürzten sie, waren sie es und verloren 19 FLAIG, Kaiser S. 11–207, 550–568. 20

Vgl. PFEILSCHIFTER, Kaiser S. 76–85.

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neben der politischen meist auch ihre physische Existenz. Es gab Ausnahmen, sogar Versager, die an die Macht zurückkehrten wie Justinian II. im Jahr 705 – aber die Regel war das nicht. Warum erhielt sich die Usurpation über so viele Jahrhunderte? Weil sie einen unglaublichen Vorteil für die Stabilität des politischen Systems bot. Die Möglichkeit eines systemkonformen Herrschersturzes erlaubte die Scheidung von Funktion und Funktionsinhaber. Ein versagender Kaiser diskreditierte noch nicht das Kaisertum. Und ein versagender Kaiser konnte gestürzt werden, ohne das Kaisertum in Frage zu stellen. Anders ist das seltsame Phänomen nicht zu erklären, dass es gerade am Anfang eine Reihe von Kaisern gab, die der komplizierten Konstruktion des Augustus nicht gerecht wurden, die Konstruktion selbst aber von Kaiser zu Kaiser stärker wurde. Tiberius war zwar fähig, wandte sich aber seit seinem Rückzug nach Capri immer mehr von seinen Pflichten ab. Claudius erfüllte seine Aufgabe recht und schlecht. Caligula und Nero aber waren Ausfälle, Nulpen, um in der Duden-Diktion zu bleiben. Trotz dieser zweifelhaften Bilanz der julisch-claudischen Familie stand der Prinzipat im Jahre 68 unbestritten da, und ein reichsweiter Bürgerkrieg wurde nicht um eine alternative Herrschaftsform ausgefochten, sondern darum, wer neuer Kaiser werden durfte. Die Möglichkeit, den Kaiser zu stürzen, stärkte das Kaisertum, eben weil es solches gestattete. Die Usurpation war ein Ventil zum Abbau von Unzufriedenheit. Der ›schlechte‹ Kaiser konnte zum Betriebsunfall erklärt werden, während das System an sich recht ordentlich funktionierte. Man fing immer wieder bei Null an, eben deswegen, weil der Prinzipat an sich nur vage definiert war und man Schwächen leicht dem einzelnen Princeps anlasten konnte. So wurde die Herrschaftsform des Kaisertums eben dadurch, dass sie zunächst kaum institutionalisiert war, es bald umso mehr, weniger rechtlich als politisch: Eine andere Regierungsform war nicht mehr denkbar. Christian Meier hat für die späte Republik das berühmte Diktum der Krise ohne Alternative geprägt. 21 Bald darauf hatten die Römer schon wieder eine alternativlose Ordnungskonfiguration. Nur die Krisen, die blieben aus oder konnten lange gemeistert werden. Das lag einerseits, blickt man auf die Ausdehnung des Reiches und seine schwer zu verteidigenden Grenzen, daran, dass eine Alleinherrschaft strukturelle Vorteile beim schnellen Krisenmanagement bot. Andererseits und vor allem aber waren innere Auseinandersetzungen relativ rar. In der späten Republik waren weite Teile Italiens und der Provinzen vom Bürgerkrieg erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden. Jetzt gab es eher kurzfristige Konflikte, die häufig innerhalb Roms oder Konstantinopels 21

MEIER, Res publica amissa S. 201–205.

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entschieden werden konnten, wenn sie aber im Reich ausgefochten wurden, mit dem Tod des Kaisers oder des Usurpators rasch endeten. Die Gefolgsleute des Unterlegenen wurden meist nicht massakriert, wie in Bürgerkriegen üblich, sondern erhielten Verzeihung. Es wurde eben nicht um eine Sache gekämpft, sondern um eine Person. Und wenn der Feind sich als fähiger Kaiser erwies, der eigene Anführer aber als Versager, dann fiel es auch den Soldaten nicht schwer, aus Überzeugung einen neuen Treueid zu schwören. Wer genau Kaiser war, machte für einen überwältigend großen Teil der Bevölkerung ohnehin keinen Unterschied. Dass Kämpfe um den Inhaber der obersten Vollmachten schnell beendet wurden, war ein Segen für das Imperium und stärkte seine Widerstandskraft gegenüber äußeren Gegnern. So überwanden die Römer selbst Scheusale auf dem Thron und erhielten sich doch politische Stabilität. Wie anders sah das in der Neuzeit aus! Zar Nikolaus II., Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Karl von Österreich hatten 1917 und 1918 so gründlich versagt, dass ihr Sturz auch das kaum bedauerte Ende der Monarchie als dominierender Regierungsform in Europa bedeutete. Auf Ludwig XVI. brauche ich hier nicht einzugehen. Interessanter, da etwas subtiler, ist der Fall seines Bruders und Nachnachfolgers Karl X., der, als er ein paar absolutistische Tendenzen zeigte, zwar nicht die Monarchie zum Einsturz brachte. Doch die Julirevolution von 1830 verschob die Gewichte deutlich zuungunsten des französischen Königs. Ähnlich kostete in England die Glorreiche Revolution von 1688 Jakob II. zwar nicht den Kopf und die Monarchie nicht die Existenz – aber die Herrschaft des Parlaments ist seitdem nicht mehr bestritten worden, jedenfalls nicht vom König. In allen diesen Fällen bewirkte eine unzulängliche Herrschaftsausübung nicht nur den Sturz des Monarchen, sondern auch eine Neujustierung des politischen Systems. Welche Folgen das haben konnte, zeigt die Französische Revolution. Von einem schlechten Monarchen löste sich ein Land nur mit Schmerzen, und oft genug behielt man ihn lieber, trotz offensichtlicher Unfähigkeit, zurückgehalten von Überlegungen der Legitimität, der Religion und, das zumeist, weil es eben undenkbar war. So betrachtet, hatten die Römer eine glänzende politische Erfindung gemacht. Die Trennung des Kaisers vom Kaisertum sorgte dafür, dass (1) man meist leidliche Herrscher hatte, (2) zur bestehenden Spielart der Monarchie keine Alternative existierte und also auch nicht darüber gestritten wurde, schließlich dass (3) Kaisertum wie Imperium derart stabilisiert wurden, dass sie über fast eineinhalb Jahrtausende bestehen blieben. Dass sich eine Herrschaftsform derart lange erhält und dabei durchgehend die dominierende politische Rolle spielt, ist ganz ungewöhnlich. Vergleichbar sind am ehesten die Pharaonen, die freilich auf ungleich schmalerer territorialer Grundlage

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agierten. Das kaiserliche China übertraf Rom mit seinen mehr als zweitausend Jahren zweifellos an Dauer, aber die dortigen Herrscher wurden nicht selten von mächtigen Höflingen und regionalen Fürsten in den Schatten gestellt, welche die eigentliche Macht innehatten. Noch mehr gilt dies für das japanische, nun schon ähnlich lange wie das römische dauernde Kaisertum. Eine Schattenseite soll nicht unerwähnt bleiben: Die politische Innovationskraft des Römischen und des Byzantinischen Reiches blieb begrenzt. Von der Experimentierfreude der Griechen der archaischen, klassischen und noch hellenistischen Zeit will ich gar nicht reden. Sie ermöglichte ihnen, Ordnungen zu schaffen, die ihren sich wandelnden Bedürfnissen sehr gut entsprachen. Aber auch die Fähigkeit der Römer der Republik, für ihre inneren Konflikte originelle Lösungen zu finden – ich nenne nur das Volkstribunat –, findet in späteren Zeiten kein Äquivalent mehr. Innovationen wurden durch äußeren Druck erzwungen, wie die Reichskrise des dritten Jahrhunderts, den Verlust der Levante im siebten Jahrhundert oder den Vierten Kreuzzug 1204. Innere Anstöße fehlten aber weitgehend. Insbesondere für Byzanz besteht das unausrottbare Vorurteil, es habe über ein unbewegliches, ja sklerotisches politisches System verfügt. Das Gegenteil ist richtig, dieses System war sehr effizient und über Jahrhunderte erfolgreich. Aber gerade der Erfolg verhinderte grundlegende politische Umbrüche. Es war nicht nötig, jenseits eines autokratischen Kaisertums Herrschaftskonstellationen zu erproben, die vielleicht neue Bahnen eröffnet und dem Römischen Reich ein noch längeres Leben eröffnet hätten. So blieben Reich und Kaiser untrennbar miteinander verbunden. Die Türken vermochten dem Kaisertum erst dadurch ein Ende zu bereiten, dass sie nicht nur Konstantin XI., alles andere als ein Versager, tapfer kämpfend an den Toren Konstantinopels niederhieben, sondern auch das Imperium Romanum vom Erdboden tilgten. Kann Versagen eine hilfreiche Kategorie bei der Beurteilung von Kaisern und Kaisertum sein? Ich denke, sie kann am ehesten bei der Herausarbeitung von Unterschieden zu anderen, vornehmlich monarchischen Herrschaftssystemen helfen. Das habe ich hier in Ansätzen zu skizzieren versucht. Vielleicht ist ein solcher Versuch nicht gleich ein Ausrufezeichen wert, wie im Titel dieses Bandes. Aber vielleicht auch kein Fragezeichen.

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Patrick Schollmeyer Ein Unfallfahrer auf dem Kaiserthron Anmerkungen zu Neros Versagen als Wagenlenker

Spätestens seit Aloys Winterlings wegweisender Biographie des römischen Imperators Gaius Caesar Augustus Germanicus, genannt Caligula, hat sich in der einschlägigen altertumswissenschaftlichen Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass die auf uns gekommene schriftliche Überlieferung der Antike zu den als ›wahnsinnig‹ eingestuften ›schlechten‹ Kaisern in aller Regel bewusst ehrvernichtend tendenziös ist und die rein negative Sicht der römischen Senatsnobilität widerspiegelt. 1 Hierbei wird von einem medialen Rachefeldzug und Vernichtungskrieg der Senatoren an denjenigen Herrschern ausgegangen, die sich nicht an die von Augustus vorgegebene Kostümierung faktisch monarchischer Herrschaft in einem pseudorepublikanischen Gewand gehalten hätten, sondern stattdessen offen den verhassten Königen der hellenistischen Großreiche mit ihrer Inszenierung absoluter Herrschermacht in zuweilen heroisch-theomorphen Formen gefolgt seien. 2 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden einige bereits bekannte antike Textstellen zu Kaiser Neros Engagement als Wagenlenker und seinem darin im- wie explizit geäußerten spezifischen Versagen als Herrscher nochmals zusammengestellt sowie einer kritischen Kommentierung unterzogen werden. 3 Dabei kann es wegen der gut zweitausendjährigen Distanz zu den geschilderten Ereignissen keinesfalls darum gehen, dem Wahrheitsgehalt der in den Texten geäußerten Vorwürfen auf die Spur zu kommen. 4 Vielmehr steht ausschließlich die Frage nach den Gründen der negativen Bewertung von Neros ursprünglich beabsichtigter Botschaft oder besser Wirkung im Zentrum, die er 1 WINTERLING, Caligula passim. 2 Zum Begriff der »mali principes« s. ausführlich NAUTA, Mali principes S. 25–41. 3

Vgl. zu diesem Komplex zusammenfassend DÖLGER, Nero als Rennfahrer S. 316–320 und zuletzt DEPPMEYER, Kunst der Verfehlung S. 13–19 mit weiterer Literatur. 4 Einschlägig zu Neros diversen ›Wirklichkeiten‹ ist der gleichnamige Sammelband: WALDE (Hrsg.), Neros Wirklichkeiten.

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mittels seiner später zu einem ›Fehlverhalten‹ umgedeuteten Auftritte als Wagenlenker beim zeitgenössischen Publikum erzielen wollte, wobei freilich noch genauer zu definieren ist, um welches Zielpublikum respektive um welchen Diskurs es sich hierbei genau handelte. 5

Vorwürfe An den Anfang der Betrachtungen gehört das bekannte negative Urteil von Kaiser Hadrians kurzzeitigem procurator ab epistulis Caius Suetonius Tranquillus (um 70 – nach 122 n. Chr.), 6 da es Nero ausdrücklich als einen Versager darstellt. So ist in Suetons nach 120 n. Chr. publizierten Vita des Kaisers zu lesen (24, 2), dieser habe an vielen Orten den Wagen selbst gelenkt, in Olympia sogar ein Zehngespann (aurigavit quoque plurifariam, Olympiis vero etiam decemiugem). Obwohl er bei diesem Rennen vom Wagen gefallen sei (sed excussus curru), hätte man ihn bekränzt, d.h. zum Sieger ausgerufen (neque eo setius coronatus est). Sueton garniert diese Nachricht vom kaiserlichen Rennunfall mit zusätzlichen Hinweisen, erstens auf Neros eigenen Tadel an Mithridates’ Auftritt im Zehnergespann (quamvis id ipsum in rege Mithradate carmine quodam suo reprehendisset), zweitens darauf, dass der Kaiser nach dem Sturz nicht wieder aus eigener Kraft in den Wagen gekommen wäre (ac rursus repositus), und schließlich drittens, dieser hätte aufgrund mangelnder Kondition auch noch vor dem Erreichen des Zieles aufgeben müssen (»cum perdurare non posset, destitit ante decursum«). Eher allgemein gehalten ist dagegen das älteste literarische Zeugnis zu Neros Fehlverhalten als Rennfahrer. Es stammt vom römischen Historiker und Senator Publius Cornelius Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.), der unter Kaiser Nerva im Jahr 97 n. Chr. sogar als Konsul amtierte. In seinem wohl zwischen 110 und 120 n. Chr. publizierten Geschichtswerk Annales (14, 14, 1) erwähnt er, einen Rennwagen mit Viergespann zu fahren (curriculo quadrigarum insistere) als alte Leidenschaft (vetus cupido) Neros. Zugleich bewertet er diese cupiditas eindeutig negativ, indem er sie der zweiten mit Eifer betriebenen Lust (studium) des Kaisers, nämlich öffentlich zur Kithara zu singen, an die Seite stellt und sie mit den Worten charakterisiert, sie sei nicht weniger anstößig (nec minus foedum). 5

Vgl. die wichtigen Ausführungen von HOSE / FUHRER, Repräsentation und Diskurs S. 11–24, bes. S. 15–18 zur Bedeutung von Diskursen als Rahmen für gesellschaftliche Verhandlungen, in denen die Rolle(n) der Kaiser definiert werden und zu Angeboten aus diversen sozialen Gruppen an die jeweiligen Herrscher, ihre monarchische Rolle stärker zu betonen. 6 Generell zu Suetons Beurteilungen Kaiser Neros s. PAUSCH, Kaiser, Künstler, Kitharöde S. 45–73.

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Die hier anklingende negative Beurteilung der kaiserlichen Rennaktivitäten verschärft Tacitus nochmals an anderer Stelle in den Annales (XV 67, 1–2) mit der Wiedergabe der von ihm (Annales XV 67, 3) als authentisch reklamierten Worte (ipsa rettuli verba) des Tribunen Fabrius Flavius. 7 Dieser habe beim Verhör nach seiner Verhaftung im Zusammenhang mit der pisonischen Verschwörung Nero entgegen geschleudert (Annales 15, 67, 2), er hasse ihn (oderam te) und dieser Hass habe eingesetzt, nachdem der Kaiser zum Mutterund Gattinnenmörder, Wagenlenker, Schauspieler und Brandstifter geworden sei (odisse coepi, postquam parricida matris et uxoris, auriga et histrio et incendiarius extitisti). Neros Auftritte als Wagenlenker wurden folglich bereits im frühen 2. Jahrhundert n. Chr. von Autoren zur stereotypen Kennzeichnung seines schlechten Charakters verwendet. 8 Die erhaltenen Schriftzeugnisse überliefern einen Topos, der in der Antike offenbar recht erfolgreich war und die Sicht auf den Kaiser prägte. Noch der unter den Kaisern der severischen Dynastie zu höchsten Staatsämtern gelangte Senator und Geschichtsschreiber Lucius Cassius Dio (um 163 – nach 229 n. Chr.) wiederholt in seiner romaike historia die Vorwürfe an zwei Stellen. Die eine Passage ist recht kurz und informiert den Leser darüber, dass Nero tatsächlich in aller Öffentlichkeit als Wagenlenker aufgetreten sei, was als Sittenlosigkeit (akolasia) gebrandmarkt wird (62, 15, 1). In der anderen (63, 6, 3–4) wird zunächst wertneutral auf Neros öffentlichen Gesang und seine Rennwagenfahrten hingewiesen, bei denen er wie die grüne Wagenrennfraktion und mit einem Wagenlenkerhelm auf dem Kopf gekleidet gewesen sei. Erst im zweiten Satz fällt dann das vernichtende Urteil, dieses Verhalten habe den armenischen König Tiridates mit Ekel erfüllt (eph hois ho Tiridates auton men dyscherainon). 9 Neben diesen Äußerungen antiker Autoren zu Neros Engagement als Wagenlenker sind darüber hinaus Kommentare zu dessen triumphalen Einzug in

7 Zur Kommentierung dieser Textstelle s. bereits HORSMANN, Wagenlenker S. 80 f. 8

In der modernen Forschungsliteratur ist dies zwar bestens bekannt, doch stehen dort zumeist Neros Sängeraktivitäten im Vordergrund des Interesses, s. hierzu beispielsweise CHAPLIN, Nero S. 53–83; KRÜGER, Nero S. 106–110; MALITZ, Nero S. 144–164 und PAUSCH, Kaiser, Künstler, Kitharöde S. 45–73; Sonnabend, Nero S. 130–147; DEPPMEYER, Verfehlungen des Künstlers Nero S. 210–216. Vgl. aber HORSMANN, Wagenlenker passim und bes. S. 78–90 sowie WALDHERR, Nero S. 107–129, bes. S. 113–117. 9 Zum zeitgebundenen Beurteilungshintergrund der Wertungen Cassius Dios s. die für die folgende Beurteilung grundlegenden Bemerkungen von SCHULZ, Nero und Domitian S. 405–435, die ausführlich auf die rhetorische Negativierungsstrategie des Autors eingeht, ursprünglich positiv gemeinte Repräsentationselemente ins Gegenteil zu verkehren.

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Rom nach seiner Rückkehr aus Griechenland einschlägig, 10 wo er bei allen großen Wettkämpfen als Wagenlenker, Schauspieler und Sänger aufgetreten war und zahllose Siegeskränze gewonnen hatte. 11 So geht Sueton gleich nach seiner Schilderung von Neros Sturz in Olympia ausführlich auf die Inszenierung vom reversus des Kaisers ein (Vita des Nero 25, 1–2). Dieser sei zunächst nach Neapel zurückgekehrt und dort mit weißen Pferden (albis equis) 12 durch eine eigens in die Stadtmauer gebrochene Bresche eingezogen. Sueton fügt hinzu, dass ein solcher Brauch bei den Hieroniken, den Siegern in den heiligen Spielen üblich sei (ut mos hieronicarum est). Ferner gibt er an, ein solcher Einzug habe auch in Antium, Albanum und dann in Rom stattgefunden, wobei er auf letzteren schließlich ausführlicher eingeht. Dabei hebt er hervor, dass nur in Rom ein besonderer Wagen genutzt worden sei und zwar derjenige, auf dem einst Augustus triumphiert habe (curru Augustus olim triumphaverat). Auch äußert er sich zur purpurnen Kleidung Neros, über die dieser einen mit goldenen Sternen besetzten griechischen Mantel getragen habe (in veste purpurea distinctaque stellis aureis chlamyde). Als Kopfschmuck Neros nennt er den olympischen Siegerkranz (coronamque capite gerens Olympiacam), während der Kaiser in der rechten Hand dagegen den pythischen gehalten haben soll (dextra manu Pythiam). Zusätzlich erscheint es Sueton wichtig darauf hinzuweisen, vor dem kaiserlichen Wagen seien die errungenen Siegeskränze (praeeunte pompa ceteram) sowie Tafeln getragen worden, auf denen die Zuschauer hätten lesen können, wo und über wen, mit welchem Gesang und mit welchem Bühnenstück Nero gesiegt habe (cum titulis, ubi et quos quo cantionum quove fabularum argumento vicisset). Den Abschluss bildeten plausores, die immer wieder laut ausriefen, sie seien die Augustiani und Soldaten seines Triumphes (militesse triumphi eius). Bemerkenswert ist, dass Sueton hierbei von ovantium ritu spricht. Geführt habe diese ovatio von einem Bogen am Circus Maximus über das Velabrum und das Forum zum Palatium mit dem dortigen Apollontempel (dehinc diruto circi maximi arcu per Velabrum forumque Palatium et Apollinem petit). 13 10

KRÜGER, Nero S. 394–403, bes. 400–403 über gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Betrachtungen zu Neros Auftreten in Griechenland; SONNABEND, Nero S. 148–178. Zu Neros Griechenlandfahrt aus archäologischer Sicht zuletzt MATTERN, Perionike S. 217–225. 11 Vgl. hierzu STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 127–142 mit ausführlicher Diskussion der weiteren Forschungsliteratur. 12 Dabei ist sich Sueton sehr wohl bewusst, dass dies etwas Besonderes darstellte. Vgl. hierzu Caesars Triumph des Jahres 46 v. Chr., bei dem dieser ebenfalls ein weißes Viergespann nutzte: Cassius Dio 43, 14, 3. 13 Zur Diskussion des genauen Endpunktes vgl. die Bemerkungen von STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 138 mit zweifelsohne zutreffender Bewertung: Nero habe eine

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Dasselbe Ereignis findet auch bei Cassius Dio Erwähnung, wenngleich mit bemerkenswerten Modifikationen (63, 20, 1–6). So heißt es bei Dio, man habe extra ein Stück der Mauer und Teile der Tore abgerissen, was Einige mit dem Hinweis auf eine entsprechende bei der Heimkehr siegreicher Wettkämpfer übliche griechische Sitte erklärt hätten. Noch vor dem kaiserlichen Triumphwagen, von dem ausdrücklich erwähnt wird, er sei derjenige, den einstmals Augustus bei seinen zahlreichen Siegesfeiern nutzte, wären Männer in die Stadt eingetreten, die Neros Siegeskränze präsentiert hätten, gefolgt von weiteren Männern mit tragbaren Holztafeln, auf denen detailliert der Name des Spieles, die Art des Wettkampfes und die Angabe standen, dass Nero Caesar als erster aller Römer von Weltbeginn an diesen Sieg errungen habe. Der Kaiser selbst soll während dieser Zeremonie ein goldbesticktes Purpurgewand und auf dem Haupt einen Olivenkranz getragen sowie in der Hand den pythischen Lorbeer gehalten haben. Ausführlicher als Sueton berichtet Cassius Dio zudem, Nero sei nicht alleine im Wagenkasten gewesen, sondern vom berühmten und ihm unterlegenen Kitharöden Diodoros begleitet worden. Zusätzlich präzisiert Cassius Dio Suetons pauschalen Hinweis auf die plausores und Augustiani dahingehend, dass sowohl Senatoren als auch Ritter und Soldaten gemeinsam dem kaiserlichen Triumphwagen gefolgt seien, und vor allem erstere hätten lautstark gerufen: »Heil dir, Olympiasieger, heil pythischer Sieger! Augustus! Augustus! Heil Nero, unserem Hercules! Heil Nero, unserem Apollo! Der einzige Sieger der Großen Tour! Der einzig Eine vom Beginn der Zeit! Augustus! Augustus! Göttliche Stimme! Selig, welche Dich hören dürfen!« (Übersetzung Otto Veh). Diese Gesänge sind dem Historiker offenbar in besonderer Weise peinlich, sodass er sie mit dem Hinweis auf ihre Echtheit zu entschuldigen sucht. Warum, so fragt er (63, 20, 6), sollten Umschreibungen gebraucht und nicht die Worte genauso wiedergeben werden, wie sie tatsächlich gesprochen worden seien. Bei Cassius Dio führt die Fahrt des Nero ebenfalls durch den Circus Maximus und über das Forum. Von dort aber sei der Kaiser zuerst auf das Kapitol gestiegen und habe sich erst danach zum palation begeben, wobei der Apollontempel nicht explizit genannt wird. 14 Auch erfahren wir nur durch diesen Autor, dass im Rahmen der sich anschließenden Feierlichkeiten Neros Wagenrennsiege im Mittelpunkt gestanden hätten. Cassius Dio (63, 21, 1–2) spricht von einer Niederlegung der 1808 vom Kaiser in dieser Disziplin gewonnenen Siegeskränze am ägyptischen Obelisken des Circus. Auch soll Nero an allen »bemerkenswerte Neuzentrierung der sakralen Landschaft der urbs« vorgenommen und damit versucht, »seine Verbindung zu Apollon, dem Patron der Künste, effektvoll zu inszenieren«. 14 Anders STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 138, die den Apollontempel ausdrücklich erwähnt.

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anlässlich der Feiern in Rom veranstalteten Wagenrennen selbst teilgenommen haben, wobei er sich zuweilen angeblich besiegen ließ, um seine übrigen Siege umso glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Insgesamt gesehen lassen sich die antiken Vorwürfe zu Neros Rennwagenaktivitäten wie folgt bündeln: Sein öffentliches Auftreten als Wagenlenker wird von Autoren wie Tacitus, Sueton und Cassius Dio übereinstimmend als sittenlos dargestellt, bei dem selbst auswärtige Herrscher aus dem Orient Ekel und gestandene Römer Hass empfunden hätten. Darüber hinaus gewinnt man bei der Schilderung des Einzugs Neros in Rom durch Sueton und Cassius Dio den Eindruck, die Ausgestaltung der Prozession nach Art eines Triumphes respektive Ovatio habe bei diesen Autoren genau deshalb Missfallen erregt. Ferner fällt auf, dass die genannten Hauptkritiker Neros Auftritte als Wagenlenker in der Regel mit seinen als Sänger und Schauspieler parallelisieren, wobei sie mal die eine, mal die andere ›Verfehlung‹ in den Vordergrund stellen. In dieser Form sind diese vermeintlichen Fehltritte seither fester Bestandteil eines medialen Vernichtungskrieges post mortem, der letztlich darauf abzielt, den Kaiser als Unwürdigen, geradezu Geisteskranken zu diskreditieren.

Hintergründe Wir sehen heute viel klarer, dass das negative Bild des Nero in erster Linie eine literarische Konstruktion der Siegerseite im Machtkampf zwischen Kaiser und Senat ist, geschrieben von Männern, die ein von den Standards der römischen Republik allzu weit sich entfernendes Auftreten des ersten Mannes im Staat stets als Ausdruck von Tyrannei und Willkür empfunden haben. Denn an der Maskerade eines republikanisch verbrämten Kaisertums musste sich jeder Nachfolger des Augustus messen lassen. 15 Zentral war dabei die Vorstellung vom princeps als einem primus inter pares, der von den Senatoren selbst zum quasi ersten Magistrat des Imperiums gemacht werde, indem sie ihn freiwillig mit besonderen übergeordneten Vollmachten ausstatteten. Sein Auftreten in der Öffentlichkeit sollte daher weitestgehend den Traditionen senatorischer Selbstdarstellungsformen entsprechen. Wer von den Herrschern dagegen opponierte, indem er etwa andere Repräsentationsmuster aufgriff, geriet schnell in den Verdacht der Tyrannei; und von hier bis zum Sturz und Verunglimpfung als wahnsinnig war es dann meist nicht mehr sehr weit.

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Vgl. zum Folgenden grundlegend: MILLAR, The Emperor; ALFÖLDI, Repräsentation; BLEICKEN, Regierungsstil, s. auch HOSE / FUHRER, Repräsentation und Diskurs S. 14 f.; FLAIG, Den Kaiser herausfordern S. 174–207. 265–270.

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Weshalb aber wurden dabei von den antiken Autoren neben Anderem ausgerechnet auch Neros Versuche als Wagenlenker ins Feld geführt, als es darum ging, den Herrscher im Nachhinein zu verunglimpfen? Zugleich drängt sich die Frage auf, was der junge Kaiser damit eigentlich ursprünglich beabsichtigt hatte, doch sicher nicht, sich vor aller Augen lächerlich zu machen und seinen Wahnsinn zu offenbaren. Zunächst ist auf das diffuse Image der Wagenlenker in der römischen Kaiserzeit hinzuweisen, wie es Gerhard Horsmann in seiner Mainzer Habilitationsschrift zu diesem Thema deutlich herausgearbeitet hat. 16 Die von ihm zusammengetragenen Schriftquellen zeigen zwar einerseits durchaus eine gewisse Ambivalenz in der gesellschaftlichen Beurteilung von Wagenlenkern, lassen andererseits aber auch keinen Zweifel daran, dass es sich für Mitglieder der senatorischen Oberschicht und erst recht für den Kaiser nicht ziemte, sich derart öffentlich zu produzieren. Es scheint vor allem dieser Aspekt der öffentlichen Zurschaustellung wie bei den histriones gewesen zu sein, zu denen die aurigae allerdings erst in der Spätantike ausdrücklich gezählt worden sind, der bei hochstehenden Herren als leumundsunverträglich galt. Darauf geht insbesondere Tacitus expressis verbis ein, wenn er schreibt (Annales 14, 14, 2), Seneca und Burrus sei es zweckmäßig erschienen, im Vaticanischen Tal einen abgeschlossenen Platz herzurichten, damit er dort von Publikum unbeobachtet seine Übungen als Wagenlenker abhalte (clausumque valle Vaticana spatium, in quo equos regeret, haut promisco spectaculo). Hinzu kam die teils prekäre soziale Herkunft vieler Wagenlenker, von denen doch einige definitiv aus dem Sklavenstand stammten. Es verwundert daher nicht, wenn in der ›senatorischen‹ Geschichtsschreibung häufiger Berichte vom vertraulichen Umgang tyrannischer Kaiser mit Wagenlenkern geradezu als Topos schlechter Herrschaft zu finden sind. 17 Tacitus beispielsweise lastet in den Historiae (2, 87, 2) dem Vitellius den Umgang mit scurrae, histriones und aurigae an, an deren entehrender Vertraulichkeit er merkwürdigerweise seine Freude gehabt habe (quibus ille amicitiarum dehoenestamentis mire gaudebat). Dabei bezeichnet er solche Leute vernichtend als aus schändlichem, lasterhaften Volk (e plebe flagitiosa) kommend. Dass es sich bei einem derart harschen Urteil nicht um einen Einzelfall handelt, zeigen andere Belegstellen für ähnlich gelagertes kaiserliches Benehmen. Sueton moniert ein entsprechendes Fehlverhalten bei Caligula (Vita des Caligula 54, 1) und erwähnt das Wagenlenken wiederum zusammen mit anderen 16 Zum Folgenden s. HORSMANN, Wagenlenker passim. 17

Vgl. zum nachfolgenden Abschnitt und den dort zitierten Beispielen HORSMANN, Wagenlenker S. 78–90 zu ähnlich gelagertem Fehlverhalten weiterer Kaiser bis zur Spätantike mit Verweis auf die antiken Belegstellen sowie bes. S. 80–83 zu Nero.

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›Schandtaten‹ wie seinem Engagement als Gladiator, Sänger und Tänzer (Thraex et auriga, idem cantor atque saltator). Auch hier ist wiederum Cassius Dio schärfer, wenn er behauptet (59, 5, 2), Caligula hätte sich von Wagenlenkern und Gladiatoren regelrecht leiten lassen und habe sich zum Sklaven der Schauspieler und der sonstigen Bühnenwelt gemacht. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Rechtfertigungen Dass Nero respektive sein Umfeld sich dieser Problematik voll bewusst waren, wird allein schon deutlich im Zusammengang mit der bereits erwähnten Anekdote von Senecas und Burrus’ letztlich defensiver Entscheidung, einen mehr oder minder versteckten Übungsplatz anlegen zu lassen, womit diese freilich den Vorwurf im Prinzip als zutreffend akzeptierten. Die an gleicher Stelle bei Tacitus (Annales 14, 14, 1) überlieferte Rechtfertigungsstrategie Neros, die zugleich seine eigentlichen Absichten näher beleuchtet, stellt dagegen einen offensiven Akt der Selbstverteidigung dar, der darauf angelegt war, die aus traditionell-römischer Sicht prekären Grenzüberschreitungen ins absolut Positive zu drehen. So soll dieser häufiger gesagt haben, Wagenrennen seien eine königliche, von den führenden Persönlichkeiten der alten Zeit gerne geübte Kunst und sie seien durch die Siegeslieder der Dichter verherrlicht und den Göttern zu Ehren veranstaltet worden (concertare equis regium et antiquis ducibus factitatum memorabat, idque vatum laudibus celebre et deorum honori datum). Eine solche Erklärung spielt offenkundig mit den als positiv dargestellten griechischen Traditionen, die der römischen Sicht bewusst entgegengesetzt werden. Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Neros Argument nur bedingt einen wahren Hintergrund hat. Einerseits gehörte die Beteiligung an Wagenrennen in der Tat zu den vielfältigen Repräsentationsformen der griechischen Aristokratie und seit hellenistischer Zeit auch einiger königlicher Dynastien. 18 Insbesondere scheinen sich die Ptolemäer, dort selbst viele weibliche Mitglieder des Herrscherhauses, in diesem Bereich vermehrt engagiert zu haben. 19 Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. künden voller Stolz eigens zu den Siegen verfasste Epigramme von all diesen Erfolgen, und auch in materieller Hinsicht sorgte man in Gestalt aufwändiger Gespann18

Zu diesem Themenkomplex ausführlich SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 6–52 sowie JÜNGER, Gespann und Herrschaft passim, bes. S. 313–363 zur Aufnahme des Viergespannmotivs im Hellenismus. 19 Wichtig: HOSE, Hippika S. 283–317 und CRISCUOLO, Agoni e politica S. 311–333.

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denkmäler in nicht unerheblichem Umfang für eine auf Dauer angelegte visuelle Memoria. Solche Siege besaßen ein ungeheures Prestige. 20 Andererseits sind die hochgestellten Herren Griechenlands bis auf ganz wenige Ausnahmen niemals selbst gefahren und schon gar nicht die wenigen Siegerinnen. Diese anstrengende körperliche Aufgabe, die zudem einiges an Training verlangte, wurde von spezialisierten Wagenlenkern übernommen, deren Namen allerdings im Gegensatz zu denen der eigentlichen Gespannbesitzer bezeichnenderweise keine Aufnahme in die offiziellen Siegerlisten fanden. Hinter solchen Aktivitäten steckte ursprünglich zwar durchaus ein Konzept von Heldentum, wie wir es etwa aus der Ilias kennen, wo bei den Leichenspielen für Patroklos tatsächlich die Heroen selbst gegeneinander im Wagenrennen antreten (Homer, Ilias 23), doch gilt das für die historische Zeit nur noch bedingt. 21 Hier kam es vor allem auf die Demonstration von Reichtum und damit verbundenem sozialen Status an. Zudem wurden auch die athletischen Wettkämpfer mit der Zeit immer professioneller und es entwickelte sich zumindest in bestimmten Disziplinen ein regelrecht professionell zu nennendes Berufsathletentum, sodass langsam die ›homerische‹ Aura verlorengegangen zu sein scheint. Alexander der Große soll sich jedenfalls regelrecht geweigert haben, in Olympia im Wettkampf persönlich anzutreten, und zwar mit dem Argument, dort träfe er nicht auf Könige. 22 Insofern hinkt Neros Vergleich beträchtlich. Hinzu kommt, dass der Wagen in Rom einen anderen Zeichenwert besaß, der weit über ein rein ökonomisch fundiertes Statussymbol oder ein gelegentlich damit noch verbundenes Heroenimage hinausreichte und gänzlich anders legitimiert war. 23 Die traditionelle Rolle des Kaisers hätte darin bestanden, den Wagen in der Öffentlichkeit ausschließlich in ehrenvoller Weise zu gebrauchen, d. h. als Magistrat ein klar definiertes Wagenfahrtrecht zu nutzen. 24 Denn dieses war seit alters her ein wichtiger Bestandteil des republikanischen Insignienwesens. Der Amtsantritt eines Consuls, die pompa circensis eines spielegebenden Magistraten und als Höhepunkt der Einzug als Triumphator in Rom boten den glanzvollen Rahmen für die würdige Nutzung eines currus zur Sichtbarmachung senatorischer dignitas. Diesen Vorgaben folgte Nero zwar im Prinzip, jedoch nicht exklusiv und noch dazu in zum Teil modifizierter Form. Auf der einen Seite akzeptierte er in 20

So auch HORSMANN, Wagenlenker S. 2 mit Anm. 4, der am Bespiel einer Textstelle des Cornelius Nepos die diametral andere Auffassung der Griechen zu diesem Thema der Sicht der Römer kontrastierend gegenüberstellt. 21 Vgl. zum gesamten Abschnitt die zusammenfassenden Bemerkungen von SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 37–52 und JÜNGER, Gespann und Herrschaft S. 7–221. 22 Plutarch, Alexander 4. Vgl. SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 50 mit Anm. 277. 23 Zum Folgenden s. SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 52. 139–151. 24 Vgl. SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 152–168 zu Wagenmonumenten römischer Kaiser.

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der Öffentlichkeit durchaus eingespielte Selbstdarstellungsformen des Senats, ließ sich beispielsweise einen Ehrenbogen in der Hauptstadt dedizieren, auf dem wie bei all seinen kaiserlichen Vorgängern auch eine Statue des Geehrten im Triumphwagen stand. 25 Auf der anderen Seite spielte der Kaiser mit den Traditionen und provozierte gezielt signifikante Änderungen, die offenbar von senatorischer Seite als Tabubrüche empfunden worden sind oder zumindest in der späteren Rückschau als solche dargestellt wurden. In diese Reihe gehört auch Neros zweckentfremdete Nutzung von Augustus’ currus triumphalis. Die einschlägigen Schriftzeugnisse fanden bereits Erwähnung. Zuletzt hat sich Elke Stein-Hölkeskamp ausführlicher damit befasst, wobei sie den rahmengebenden Einzug in eine Reihe ähnlicher Auftritte von ihm selbst sowie Caligula 26 stellt und als Adaptionen des traditionellen römischen Triumphzuges ›zwischen Parodie und Perversion‹ bewertet. 27 Ihrer Ansicht nach sei Nero dabei »eigenwillig« und »kreativ« vorgegangen, habe jedoch nicht die Absicht verfolgt, die Senatorenschaft aus diesen Aktivitäten gänzlich auszuschließen, ihr folglich auch nicht auf diese Weise zu verdeutlichen versucht, dass er als Kaiser aus eigener Machtvollkommenheit kein Interesse mehr an überkommenen, vom Senat zu bewilligenden Ehren besitze, wie es noch Caligula getan hatte. 28 Dieses Ziel wäre vielmehr dadurch erreicht worden, dass Nero die Teilhabe der Senatoren explizit zugelassen habe. Denn nur so hätte er sie öffentlich zu einfachen Claqueuren degradieren und dergestalt seiner radikal-selbstreferentiellen Vorstellung von kaiserlicher Herrschaft Ausdruck verleihen können. 29

25 S. hierzu ausführlich KLEINER, Arch of Nero passim. 26

Wichtig in unserem Zusammenhang ist die wie ein Triumphzug gestaltete zweitägige Prozession über die künstliche Schiffbrücke von Bauli nach Puteoli und wieder zurück, bei der Caligula den Quellen nach bei der Rückkehr am zweiten Tag in einem Wagen gefahren und dabei von weiteren Wagenfahrern seiner engeren Gefolgschaft begleitet worden sein soll: STEINHÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 128–130 Anm. 5–7 mit Verweis auf die wichtigen Quellen Sueton, Caligula 19, 2–3 und Cassius Dio 59, 17, 3–6. 27 STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 127–142, bes. 134–142 zu Nero. 28 STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 132 f. zu den Absichten Caligulas, die darauf ausgelegt gewesen seien, die traditionelle Fortschreibung der Hierarchien gegenüber dem Senat in einer eindrucksvollen Machtdemonstration aufzubrechen und zwar durch dessen bewussten Ausschluss von entsprechenden Zeremonien. Die einschlägigen von STEINHÖLKESKAMP a. O. S. 132 mit Anm. 12 diskutieren Bemerkungen von Sueton, Caligula 48, 2–49, 2 beziehen sich auf konkrete Verbote Caligulas. Die Senatoren durften im Gegensatz zu equestri ordini et populo bei seinem Einzug in Rom nicht dabei sein und für ihn sowie seine Verwandten eigentlich auch keine Ehrungen beschließen, wobei er sich zugleich trotz seines eigenen Verbotes beklagte, er sei um einen Triumph gebracht worden. 29 STEIN-HÖLKESKAMP, Zwischen Parodie und Perversion S. 141.

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Erklärungen Diese Einschätzung ist zweifelsohne richtig und offenbart, worauf es Nero offenbar ankam, das bewusste Um- und Neudeuten traditioneller Repräsentationsformen, um auf diese Weise deutlich zu machen, bei wem die tatsächliche Macht lag. Denn zwischen den Zeilen der antiken Autoren wird deutlich, dass es bei dieser senatorischen Kritik im Grunde genommen vor allem um das alleinige Vorrecht der Definition von letztlich konservativen Wertmaßstäben und der Einhaltung traditioneller Rollenvorstellungen ging. Hier sichtbar andere Akzente zu setzen, schmälerte nicht nur das Ansehen der Senatoren, sondern wirkte auf diese gesellschaftliche Gruppe geradezu bedrohlich, da sie Gefahr lief, ihren exklusiven Einfluss auf den Kaiser und damit den direkten Zugang zur Macht zu verlieren. Wenn der Princeps sich in der Öffentlichkeit anders gerierte als die traditionsverbundenen Senatoren, wäre der Unterschied zu deutlich und damit die republikanische Maskerade geradezu obsolet geworden. Für die Senatoren konnte dies nicht akzeptabel sein, wollten sie weiter im Spiel die pares sein, die einen primus lediglich duldeten. Vor diesem Hintergrund erscheint es insbesondere problematisch, dass andere Quellen andeuten, Nero habe das Wagenlenken gewissermaßen als geradezu heroische, sogar göttliche Disziplin verstanden. 30 Suetons Bemerkungen hierzu (Vita des Nero 53) stellen einen allgemeinen Zusammenhang mit Hercules sowie einen speziellen mit Apollo (Gesang) und Sol (Wagenlenken) her (destinaverat etiam, quia Apollinem cantu, Solem aurigando aequiperare existimaretur, imitari et Herculis facta). In diesen Kontext gehören ebenso die schon erwähnten Sprechchöre, die laut Cassius Dio den Einzug Neros in Rom begleitet haben sollen. Auch hier hören wir von Hercules und Apollo (63, 20, 5). In ähnlicher Weise soll laut Tacitus (Annales 14, 14, 1) Nero seine Auftritte als Sänger mit dem Hinweis auf Apollo 31 gerechtfertigt haben. Der Gott sei nicht nur in Griechenlands Städten, sondern auch in römischen Tempeln in einem solchen Gewand zu sehen (enimvero cantus Apollini sacros, talique ornatu adstare non modo Graecis in urbibus, sed Romana apud templa numen praecipuum et praescium). Direkt auf Sol scheint sich Nero bei der berühmten Darstellung auf einem Sonnensegel bezogen zu haben, von dem Cassius Dio (63, 6, 2) behauptet, dort wäre Nero in der Mitte von Sternen umgeben zu sehen gewesen, wie er einen Wagen lenke. Diese Imitation des Helios-Sol ist auch sonst in der neronischen Repräsentationskunst bestens belegt. 32 30

S. bereits DÖLGER, Nero als Wagenlenker S. 319 f. zur Frage, ob Nero damit beabsichtigt habe, sich tatsächlich als Sonnengott zu zeigen. 31 S. das instruktive Kapitel von CHAPMAN, Nero S. 112–144 zu »Shining Apollo«. 32 Vgl. BERGMANN, Strahlen der Herrscher S. 133–213.

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In den Augen manch traditionsbewusster Römer war ein solcher Vergleich jedoch in Teilen problematisch. Dabei ging es weniger darum, die damit verbundenen charismatischen Züge eines Herrschers als vielmehr seine angemaßte Göttlichkeit zu akzeptieren. 33 Das Erstere stellte per se kein wirkliches Problem dar. Das Gegenteil dürfte der Fall gewesen sein, da virtus eine der herausragenden Qualitäten eines Princeps zu sein hatte. Insofern bot sich ein panegyrisch gemeinter Vergleich zu Hercules durchaus an. 34 Dieser Heros als Inbegriff männlich-tapferer Lebensführung und übermenschlicher Kräfte spielte seit archaischer Zeit schon in Griechenland eine wichtige Rolle in der Selbstdarstellung der politisch Mächtigen; 35 eine Rolle, die er auch im Hellenismus nicht einbüßte und von den dortigen Herrscherhöfen direkt ins republikanische Rom vermittelt wurde. 36 Fraglich war allenfalls die spezielle Art und Weise, mit der Nero seine virtus demonstrieren wollte. Die ohne Zweifel ungeheuren Kräfte, die ein Wagenlenker noch dazu einer, der zehn Pferde zu bändigen hatte, aufbringen musste, um ein derart gefährliches und kräfteraubendes Rasen überhaupt meistern zu können, eigneten sich hierzu vor dem Hintergrund der bereits oben aufgezeigten negativen Einstellung der römischen Eliten zum Wagenlenkertum jedoch ausdrücklich nicht. Denn ihre Männlichkeit stellten die römischen Herren ausschließlich bei der Jagd und vor allem in der Schlacht unter Beweis, aber keinesfalls in der Arena. Das mit Auftritten in rasenden Gespannen verbundene Pathos billigte man allenfalls echten Göttern zu. 37 Hier gehörte es durchaus zu eingeübter Sehpraxis, sich ihr Erscheinen als Fahrt in einem Wagen vorzustellen. 38 Bei entsprechenden Bildern sind die Pferde häufig in der Levade dargestellt und unterstreichen auf diese Weise visuell den beabsichtigten pathetischen Gesamteindruck einer möglichst glanzvollen Götterepiphanie. Es verwundert daher nicht, wenn gerade die divinisierten Herrscher als neue Gottheiten derart zu sehen waren. 39 Für einen lebenden Kaiser konnte so etwas eingedenk der spezifischen römischen Traditionen in diesem Bereich mit der Ablehnung hellenistischen Gottkönigtums aber durchaus ein Problem darstellen. Amtierende Prin33

Es ist allerdings fraglich, was unter dem Begriff Göttlichkeit genau zu verstehen ist. Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von BERGMANN, Strahlen der Herrscher S. 214–230 zur inhaltlichen Bewertung des Göttervergleichs im Rahmen der politischen Symbolik der Kaiserzeit. 34 Allg. s. WÜNSCHE (Hrsg.), Herakles – Herkules. 35 Herakles / Hercules war sowohl Patron aller Sportler (WÜNSCHE, Herakles Patron S. 328–355) als auch Alter ego der Herrschenden (SCHULZE, Vorbild der Herrschenden S. 344–366). 36 Grundlegend: RITTER, Hercules. Zu kaiserzeitlichen Beispielen s. HOFF, Commodus als Hercules S. 114–134. 37 Vgl. hierzu kontrastierend die Bemerkungen von KNAUß, Herakles im Viergespann S. 294–302. 38 SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 62–82 zu griechischen und S. 125–136 zu römischen Götterwagen. 39 SCHOLLMEYER, Gespanndenkmäler S. 167 f.

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cipes waren keine Götter, 40 sondern hatten im vorgegeben öffentlichen Performanzrahmen des frühen Prinzipats ausschließlich die ihnen vom Senat zugedachte magistratische Rolle zu erfüllen. Doch handelt es sich bei all den geschilderten Bemühungen Neros um Apolls Sanges- und Sols Wagenlenkerkunst tatsächlich um seinen Versuch, hiermit sichtbar hellenistische Gottkönigmuster zu etablieren? 41 Bereits Marianne Bergmann vertrat bezogen auf Interpretationsansätze zum Koloss des Nero und der Domus Aurea dezidiert die Ansicht, der Kaiser habe sich nicht vorrangig wie ein Monarch nach Art des Orients oder der Ptolemäer darstellen wollen. Ebenso sprach sie sich gegen die Existenz einer einheitlichen Herrschaftsprogrammatik aus. Stattdessen sei bei diesem Herrscher mit einem »Komplex verschiedener, möglicherweise konträrer Vorstellungen« zu rechnen. Konkret schlug sie vor, Neros Verhalten insbesondere auch im Kontext des römischen otium zu interpretieren und es als Ausdruck einer »allgemeinen moralischen Umorientierung der römischen Gesellschaft« zu begreifen. 42 Ausführlich stellt sie in ihrer wegweisenden Untersuchung die Einbettung der kaiserlichen Aktivitäten und Ambitionen im Bereich der Förderung von Literatur sowie griechischer Agonistik dar. 43 Dabei weist sie zu Recht darauf hin, dass diese Teil einer breiten Zeitströmung und zudem nicht ohne eine gewisse Tradition waren, wobei freilich in dieser Phase der Entwicklung die traditionelle kritische Sicht auf bestimmte Aspekte einer solchen Lebensführung noch nicht vollständig überwunden gewesen sei. 44 Bergmanns Überlegungen gipfeln folgerichtig in der Feststellung, Nero habe letztlich nichts Anderes getan, als 40

Zum Problem der Vergöttlichung römischer Kaiser und einer entsprechenden Praxis der Herrscherverehrung s. CANCIK / HITZL (Hrsg.), Herrscherverehrung in Rom; CLAUSS, Kaiser und Gott. 41 Davon unberührt ist freilich die Frage nach der spezifischen Erwartungshaltung des griechischöstlichen Publikums und einer Wirkungsweise im entsprechenden Rahmen, s. hierzu MÜLLER, Nero und Domitian S. 283–317. 42 BERGMANN, Koloß S. 25. Zur Frage »Hellenic Monarch or Roman Megalomaniac?« s. die zusammenfassenden Bemerkungen von SHOTTER, Nero S. 46–63. 43 Ausführlich zu diesem Bereich s. HEINEMANN, Sportsfreunde S. 217–263, der richtig herausarbeitet, dass Neros griechisch-agonistische Bemühungen vor allem seiner Selbstdarstellung dienen sollten und darauf zielen, traditionelle öffentliche Kommunikationsformen in Frage zu stellen respektive eine entsprechende Änderung herbeizuführen. 44 Vgl. BERGMANN, Koloß S. 27–30, bes. S. 28 f. zur konservativen Luxuria- und vor allem Levitaskritik, wovon letztere insbesondere den Bereich der griechischen Agonistik betraf. Traditionellerweise fiel die griechische Knabenausbildung im Gymnasion bei römischen Konservativen unter das vernichtende Diktum der lascivia. Der Ort habe unter den Griechen die schändliche Päderastie befördert, das dortige Treiben letztlich zur Verweichlichung ehemaliger militärischer Zucht beigetragen und damit den Untergang einstiger griechischer Größe verursacht. Vgl. hierzu a. O. die in den Anmerkungen 165–168 genannte Forschungsliteratur sowie die einschlägigen antiken Textzeugnisse von Tacitus, Annales 14, 20 und Lucan, Bellum Civile 7, 269.

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»die für das otium bestimmten Lebensformen in den alltäglichen Lebensstil zu integrieren und den Lebensgenuss in ein Genussleben zu überführen«. 45 Griechische Bildung, insbesondere Theater, Gesang und Literatur, aber auch Agonistik spielten hierbei eine große Rolle, führten im öffentlichen Bereich zugleich aber zu einer Reihe von kulturellen Missverständnissen respektive bewussten Missdeutungen. 46 Für den Bereich des otium waren derartige Aktivitäten dagegen zentral, zumal die griechische Welt sie aufgrund einer vollkommen anders gelagerten kulturellen Tradition keineswegs geringschätzte, sondern stattdessen als integraler Bestandteil zur Repräsentation hoher und höchster sozialer Ränge nutzte. 47

Bewertungen Wir können nunmehr besser verstehen, was Nero mit seinen Auftritten als Wagenlenker offenbar ursprünglich beabsichtigt hatte. Seine Performances waren Versuche, das traditionelle Kaiserimage durch stärker charismatische Züge in griechischer Tradition zu erweitern. Die entsprechenden Rollenvorbilder entsprachen einem besonderen Imageverständnis mit vornehmlich panegyrisch gemeinten heroischen, zuweilen gar göttlichen Elementen, wie es in Griechenland spätestens seit hellenistischer Zeit für Personen mit politischer Macht eingeübte Sozialpraxis und auch den Römern bestens bekannt war, wenngleich sie solche Auftritte im negotium lange Zeit als Ausdruck königlicher Tyrannei oder zumindest unrömischen Verhaltens negativ bewerteten. Im otium hatte sich die Nobilität Roms dagegen längst Freiräume geschaffen. Dort, sozusagen im Privaten, konnten sie ungeniert dem frönen, was sie bei ihren eigenen öffentlichen Auftritten lange Zeit ablehnen mussten. Hier entfaltete sich der volle Reiz eines gewissermaßen griechischen Lebens. Aus einer solchen Tradition heraus agierte Nero, und nur innerhalb dieser war das Ganze auch positiv verständlich. Gerade das aber wollte der Kaiser ändern und Selbstdarstellungsformen, die im otium seit langem akzeptiert waren, zu öffentlicher Anerkennung verhelfen, mithin normverändernd wirken. Dabei hatte Nero gewiss nicht vornehmlich die senatorische Oberschicht – zumindest die Jüngeren von ihnen – im Blick, suchte dabei nicht ausschließlich deren Akzeptanz. Vielmehr ist er – um es modern auszudrücken – ein Populist gewesen, der sich bewusst ins grelle 45 BERGMANN, Koloß S. 29. 46

Vgl. hierzu die oben in Anm. 8 genannte Literatur und insbesondere FANTHAM, Performing Prince S. 17–28 und MRATSCHEK, Nero the Imperial Misfit S. 45–62. 47 S. hierzu oben Anm. 20 und 41 mit den dort zitierten Hinweisen.

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Rampenlicht der Rennbahnen und Bühnen stellte, weil er hier auf die Mehrheitsbevölkerung traf und diese durch sorgfältig inszenierte Showauftritte zu Begeisterungstürmen veranlassen konnte, die in der Auseinandersetzung mit den Senatoren geradezu politisches Kapital darstellten. Bereits bei Tacitus (Annales 14, 14, 2) heißt es bezogen auf Neros Übungen in der Wagenlenkerkunst, man habe das Volk hierzu eingeladen und dieses habe Beifall gespendet (mox ultro vocari populus Romanus laudibusque extollere), weil der Pöbel vergnügungssüchtig sei und sich an der Neigung des Princeps erfreue, wenn diese in die gleiche Richtung gehe (ut est vulgus cupiens voluptatum et, si eodem princeps trahat, laetum). Applaus und Ordnung waren, wie es Paul Zanker einmal ausgedrückt hat, eben untrennbar miteinander verbunden. 48 Wer die öffentlichkeitswirksame Zustimmung der Plebs erringen konnte, besaß ein nicht unerhebliches Pfund, mit dem sich im politischen Tagesgeschäft gut wuchern ließ. 49 Vor diesem Hintergrund erscheint die eingangs zitierte Geschichte von Neros Sturz in Olympia in einem etwas anderen Licht. Den Wahrheitsgehalt von Suetons Vorwurf, der Kaiser habe als Wagenlenker noch dazu versagt, werden wir im wörtlichen Sinn schlichtweg niemals zweifelsfrei bewerten können. Denn nur diejenigen, die wirklich dabei gewesen sind, wussten genau, ob Nero bei seinem Auftritt in Olympia tatsächlich aus dem Wagen gefallen war. Wir hingegen können lediglich sicher sagen, dass Nero damals, wenn nicht aus dem Wagen, so doch zumindest in zweifacher Hinsicht aus der Rolle fiel, gleichermaßen als Kaiser wie ironischerweise ebenso als heroisch-kraftvoller Wagenlenker. Suetons Häme über den gestürzten, von anderen wieder in den Wagen gehobenen und dann letztlich kraftlosen Nero, der damit sein angemaßtes Heldenimage in Olympia im wahrsten Sinn des Wortes in den Sand setzt, ist unverkennbar. Zudem müssen die kaiserlichen Auftritte als Wagenlenker in den Augen der Senatoren auch ohne Sturz schon ausreichend schockierend gewirkt haben, galten ihnen aurigae doch als gesellschaftlich minderwertig. Nero entehrte sich damit gewissermaßen persönlich, was unter Umständen noch tolerierbar gewesen wäre. Dass der Kaiser aber mit einem solchen Verhalten, bei dem er die Nähe zur plebs infima suchte und hierdurch für alle sichtbar die alte exklusive Verbundenheit zwischen Princeps und Senat aufkündigte, die Senatoren gleichfalls selbst herabwürdigte, konnten sich diese keinesfalls gefallen lassen. Die senatorische Sicht folgte einem etablierten Ver48 ZANKER, Augustus S. 151–157. 49

In diesem Zusammenhang erscheinen die senatorischen Claqueure bei Neros triumphalem Einzug in Rom in einem besonderen Licht. Vgl. auch die Bemerkungen von KRÜGER, Nero S. 125 f. zur Bildung der kaiserlichen Beifallklatscher.

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ständnis von kaiserlicher als letztlich magistratischer Macht mit einem entsprechenden öffentlichen Gebaren, bei dem dignitas und die Beachtung althergebrachter Insignien sowie Riten des öffentlichen Auftritts im Zentrum standen, eben eine Monarchie im alten republikanischen Magistratsgewand und Performanzrahmen, oder in anderen Worten, traditionelle nicht charismatische Herrschaft. 50 Dass eine strikte Befolgung dieser Normen und in Konsequenz ihrer Ablehnung eine negative Deutung seines Handelns nicht das propagandistische Ziel des Kaisers gewesen sein kann, liegt auf der Hand. Stattdessen suchte er als Ausdruck eines neuen goldenen Zeitalters seine Inszenierung mit panegyrischen Zügen aufzuwerten und die kaiserliche Rolle an heroisch-göttlichen Vorbildern teils neu auszurichten: Hercules der kraftvolle Superheld – Apollo der Sänger – Sol der Wagenlenker. In den besprochenen Quellen ist hiervon freilich nur wenig zu spüren, handelt es sich bei ihnen doch um den Versuch der Wiederherstellung senatorischer Deutungshoheit, sozusagen um die literarische Fortschreibung einer traditionell republikanischen Herrschaftsauffassung und damit einer Festschreibung kaiserlichen Idealverhaltens, wie es vornehmlich den Erwartungen der Senatoren entsprach. Zu diesem Zweck griffen sie als damals die öffentliche Meinung und wichtige politische Entscheidungsprozesse noch dominierende gesellschaftliche Gruppe zum Mittel der damnatio memoriae, die letztlich eine bis in die Moderne reichende Wirkungsmächtigkeit entfaltet hat. Nero scheiterte also nicht wirklich als Wagenlenker. Vielmehr versagte er in medialer Hinsicht, da er die von ihm für seine entsprechenden Auftritte gewählten Formate in den zu seiner Zeit weiterhin tonangebenden senatorischen Kreisen nicht erfolgreich etablieren konnte.

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Vgl. hierzu MEIER, Augustus S. 225–287.

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Notker Baumann Versagen als subjektive Bewertung Kaiserbilder bei Gregor von Nazianz

Einem Versager gelingt das Geforderte nicht, er vermag Erwartungen nicht zu erfüllen. Indem er an einer Aufgabe scheitert, beweist er diesbezüglich sein Unvermögen. Salopp ausgedrückt zeigt er sich als Loser und sieht sich Helden, Siegertypen und Gewinnern gegenüber. So sehr man sich auch anstrengt: Niemand ist gegen Situationen des Versagens gefeit. Ob etwas als Versagen oder Erfolg angesehen wird, hat außer mit Faktoren, die sich weitgehend sachlich und unvoreingenommen messen lassen, auch mit persönlichen Erwartungshaltungen zu tun. Dass solche Einstellungen hineinspielen, unterstreicht die Subjektivität der Beurteilung. Wer hinter eigenen Wünschen zurückbleibt, fühlt sich gescheitert. Allerdings beurteilen Menschen nicht nur sich selbst als Versager, sondern erfahren obendrein von anderen entsprechende Bewertungen. Sie werden vielleicht der Unfähigkeit bezichtigt oder als Verlierer gezeichnet. Neben ›objektiveren‹ Einordnungen werden womöglich gänzlich einseitige Einschätzungen tradiert. Wie zu jeder Zeit gilt das auch in der Spätantike und für deren Kaiser. Gregor von Nazianz erweist sich als Meister einer tendenziösen Darstellung mit nicht zu unterschätzendem Einfluss auf die weitere Geschichtsschreibung. Er hegt gegenüber einigen Herrschern Erwartungen, die diese partiell oder gar nicht befriedigen, und stellt sie (in Teilen) als Versager dar. Als er um 329/330 1 in Kappadokien geboren wird, regiert Kaiser Konstantin das Römische Reich. Gregor erlebt bis zu seinem Tod 389/390 2 fünf weitere Herrscher, die das Imperium bzw. dessen Osten lenken, darunter Constantius II. (337–361), Julian (361–363) und Theodosius (379–395). Sein Bildungsweg führt ihn von Nazianz über Caesarea in Kappadokien und Caesarea in Palästina nach Alexandria und Athen, wo er etwa zehn Jahre verbringt. Als knapp Dreißigjähriger kehrt er 1

Vgl. MCGUCKIN, Saint Gregory of Nazianzus, S. 3; MORESCHINI, Introduzione a Gregorio Nazianzeno, S. 7. 2 MCGUCKIN, Saint Gregory of Nazianzus, S. XI, spricht von 390/391.

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wieder in seine Heimat zurück und hält sich, mit teilweise längeren Unterbrechungen, die nächsten 16 Jahre in Nazianz auf; ab 362 ist er Priester, ab 372 Bischof. 375 zieht er sich nach Seleukia in Isaurien zurück, bis er 379 nach Konstantinopel gerufen wird. Nach seinem Rücktritt als Bischof der Hauptstadt übernimmt er Ende 381 für weitere zwei Jahre die Leitung der Kirche von Nazianz und sucht dann auf dem Besitz seiner Familie bei Arianz Ruhe. Räumlich kreist Gregors Leben also um Nazianz, wohingegen für die Kaiser des Ostens, die in einigen Fällen viel unterwegs sind, Antiochia und Konstantinopel feste Aufenthaltsorte darstellen. Den zeitlichen Hintergrund bildet ein Jahrhundert, in dessen Verlauf das Christentum von einer erlaubt ausgeübten Religion allmählich zur Staatsreligion wird. Dieser Artikel weist auf, dass sich das Versagen von Herrschern gemäß Gregors Schriften als vorwiegend subjektive Bewertung zeigt. Seine Darstellungen zweier Kaiser beleuchten das beispielhaft. Weil Gregor seine Meinung im Laufe seines Lebens etwas variiert, in manchem zuspitzt, sind die Aussagen chronologisch geordnet. Einige Seitenreferenzen verdeutlichen die Subjektivität der Einschätzungen. Zunächst kommt ein Kaiser in den Blick, der sich für Gregor nur in Teilbereichen als Versager geriert.

Kaiser Constantius II. als Versager in Teilbereichen Ab September 337 lenkt Constantius II. die Geschicke des östlichen Reichsteiles, seit 353 herrscht er allein über das Römische Reich. Als dieser Kaiser im November 361 44-jährig stirbt, ist Gregor, der sich zu dessen Lebzeiten nicht über ihn äußert, etwa 31 Jahre alt. Über Constantius II. berichtet Gregor insgesamt einiges Positives. Gleichwohl versagt dieser Herrscher laut ihm in zwei Punkten: Zum einen verhindert er nämlich nicht, dass ausgerechnet Julian, der als ›Apostat‹ vom christlichen Glauben abfällt, sein Nachfolger auf dem Kaiserthron wird. Zum anderen fördert er die homöische, nicht aber die sich später durchsetzende nizänische Glaubensrichtung. Gregor formuliert Ende 364/Anfang 365 in seiner ersten Invektive gegen Julian hinsichtlich dessen Vorgänger Constantius II., dass Einfalt (ἁπλότης) unvorsichtig sei, Menschenfreundlichkeit (φιλανθρωπία) Schwäche bei sich habe und, wer vom Bösen frei sei, am wenigsten das Böse argwöhne. 3 Constantius II. wird als naiv geschildert. Dass er Julian als seinen Nachfolger eingesetzt hat, sei einerseits seiner Redlichkeit zuzuschreiben, andererseits seiner Einfältigkeit im Sinne von Dummheit. Insgesamt lässt sich in Gregors Schriften die 3

Vgl. Gregor, Oratio 4,38, S. 138.

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Einfalt des Herzens als Tugend, die Einfalt des Geistes aber vorwiegend als Schwäche fassen. 4 Der Vorwurf der Gutmütigkeit, eher der Naivität (εὐήθεια), wurde laut Gregor seitens mehrerer Personen erhoben: Der Kaiser habe einem sehr übel und feindlich gesinnten Menschen die Herrschaft anvertraut. Er habe ihn sich zuerst mit der Ermordung seines Bruders (Gallus) zum Feind gemacht, ihm dann mit der Caesarenernennung Macht übertragen. Gregor möchte Constantius II. verteidigen und zeigen, dass die Humanität (φιλανθρωπία) des Kaisers weder ganz und gar unvernünftig (μὴ παντάπασιν ἄλογον) gewesen sei, noch ihm kaiserlicher Großmut und Fürsorge (μηδὲ ἔξω τῆς βασιλικῆς μεγαλονοίας καὶ προμηθείας) gefehlt hätten. 5 In der zweiten Invektive gegen Julian, Oratio 5, 6 fügt Gregor einen weiteren Punkt herrscherlichen Versagens hinzu: Constantius II. habe nämlich die homöische Glaubensrichtung gefördert. Wenn es auch den Anschein gehabt habe, als ob der Kaiser den wahren Glauben verwirrte, müsse man das dem Stumpfsinn und der falschen Lehre seiner Beamten vorwerfen, die sich einer einfachen und im Glauben labilen Seele bemächtigten, die unter dem Vorwand der Genauigkeit seinen Eifer zur Bosheit machten. 7 Constantius II. ist also an der Verwirrung des wahren Glaubens insofern beteiligt, als er sich schlecht beraten lässt; immerhin zieht er entsprechende Untergebene heran, die ihn beeinflussen. Ihnen wird dann die Schuld gegeben. Dass Constantius II. als Homöer gewirkt hat, deutet Gregor in den Jahren 365/366 nur an, 8 und er verharmlost die religiöse Gesinnung des Kaisers. Das ist umso bemerkenswerter, als nizänische – also ›rechtgläubige‹ – Bischöfe aufgrund ihres Glaubens mit Constantius II. große Schwierigkeiten haben und in die Verbannung geschickt werden. Anders als für diese Theologen steht offensichtlich die Frage der genauen Ausprägung des Glaubens nicht im Fokus, den Gregor in den Jahren 364 bis 366 auf Constantius II. richtet. Es legt sich die Vermutung nahe, dass es sich für ihn, den späteren Neunizäner, zumindest

4 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 59–62. 5

Vgl. Gregor, Oratio 4,39, S. 138–140. – Milde seitens der Herrscher ist generell gefordert, wie auch Fürstenspiegel zeigen, etwa Senecas Schrift De clementia (Kaiser Nero gewidmet). 6 Gregors Oratio 5 dürfte zwischen Ende 365 und Mai 366 (also während der Usurpation des Procopius) verfasst worden sein. 7 Vgl. Gregor, Oratio 5,16, S. 324, Z. 16–22. Dieser Satz findet sich allerdings nicht in allen Manuskripten, vgl. BERNARDI, Introduction, in: SC 309, S. 69. Daraus lassen sich unterschiedliche Schlüsse ziehen: Dieser Abschnitt habe einen Kopisten empört (ebd. S. 69; vgl. außerdem ebd. S. 326, Anm. 1). Oder aber, dass die Authentizität anzuzweifeln sein könnte, vgl. HAUSERMEURY, Prosopographie, S. 55; LUGARESI, Commento. Orazione V, S. 207 f. Leider lässt sich das hier nicht entscheiden. 8 Vgl. Gregor, Oratio 5,16, S. 322–324.

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bis zu einem Alter von etwa 35 Jahren um keine entscheidende Thematik handelt. Etwa 18 Jahre nach dem Tod Constantius’ II. hält Gregor (379, 380 oder 381) in Konstantinopel eine Ansprache, ein ἐγκώμιον, zu Ehren von Athanasius, dem etwa vier Jahre vorher verstorbenen Bischof von Alexandria (Oratio 21). 9 Er formuliert dort, dass Constantius II. in seinen letzten Zügen liegend Reue empfunden habe. Er soll sich dreier Fehlgriffe bewusst geworden sein, die seiner Herrschaft ganz und gar unwürdig waren: Der Ermordung seiner Familie, 10 der Ernennung des Apostaten und der Neuerung im Glauben, das heißt der Begünstigung von Häresie. Constantius II. verlangt nämlich von der ganzen Kirche das ›homöische Reichsbekenntnis‹, das die Synode von Konstantinopel im Dezember 359/Januar 360 erlassen hat. Gemäß seinen vermeintlich letzten Worten käme nun die wahre Lehre wieder zu Kräften, die Opfer von Gewalt würden laut und frei ihre Meinung äußern und ihr Eifer würde den Zorn schärfen. 11 Im Frühjahr oder Frühsommer 380 hält Gregor Oratio 25. 12 Darin spricht er wohl auch über die Regierungszeit Constantiusʼ II., 13 unter dem das Schlechte aufgelebt sei. Reißende Wölfe hätten sich auf die Kirche gestürzt, um sie zu zerfleischen. Priester hätten sich gegen Priester bewaffnet, Gemeinden seien gegen Gemeinden gerast, der Kaiser habe der Gottlosigkeit freien Lauf gegeben und Gesetze gegen den rechten Glauben erlassen. Bei ihm herrschten diejenigen, die weder Männer noch Frauen sind, also Eunuchen. 14 Jedenfalls bezeichnet Gregor hier die Regierung Constantius’ II. als schlechte und legt ihm die Kämpfe innerhalb der Kirche zur Last. Um 380 findet sich somit bei Gregor eine deutlich negativere Sicht auf Constantius II. als etwa 15 Jahre zuvor in den Orationes 4 und 5. Punkte des Versagens werden stärker herausgestellt. Die Situation der Christen hat sich unter Kaiser Theodosius, der mitt-

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Wahrscheinlich wurde Oratio 21 aus Anlass eines Festtags für Athanasius (vielleicht am 2. Mai, seinem Todestag, oder am 18. Januar) gehalten. MCGUCKIN, Saint Gregory of Nazianzus, S. X, rechnet mit dem 2. Mai 380. 10 Constantius II. trifft der Vorwurf, nach dem Tod Kaiser Konstantins (337) seine Verwandten ermordet zu haben. Eine direkte Schuld kann ihm zwar nicht nachgewiesen werden, möglicherweise schritt er aber nicht gegen die Morde ein, vgl. BARCELÓ, Constantius II. und seine Zeit, S. 47–49. 181. Julian könnte für die Schuldzuweisung verantwortlich sein. 11 Vgl. Gregor, Oratio 21,26, S. 164–166. 12 Oratio 25, ein »Lob der Philosophie«, das vom Lob auf den Kyniker Maximus ausgeht, verfasst Gregor im Frühjahr bzw. Frühsommer 380. Vgl. ELM, Waiting for Theodosius, S. 184. MCGUCKIN, Saint Gregory of Nazianzus, S. X, nennt das Jahr 380. 13 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 67 f. 14 Vgl. Gregor, Oratio 25,9, S. 176–178.

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lerweile regiert, allerdings kirchenpolitisch geändert, im Sinne Gregors verbessert; auch Gregors eigene Theologie hat sich weiter entfaltet. 15 Seitenreferenzen verdeutlichen die Subjektivität von Gregors Darstellung. Neben dem späteren Kaiser Julian ist es insbesondere Ammianus Marcellinus, 16 der als nichtchristlicher Schriftsteller über Kaiser Constantius II. schreibt. Ammianus betrachtet die Regierungszeit dieses Herrschers in größerem zeitlichem Abstand. 17 Auch der Rhetor Libanius 18 äußert sich ausgiebig zu ihm, mit großer Antipathie. Beide verfolgen andere Interessen als Gregor und stellen das Wirken des Kaisers entsprechend grundverschieden dar. Während Gregor Constantius II. vorwirft, Julian als Nachfolger installiert zu haben, bedeutet gerade das in Ammianus’ und Libanius’ Augen eine besonders günstige Entwicklung; denn Julian ist für sie der Held, dessen negative Kontrastfolie Constantius II. bildet. 19 Allein Ammianus berichtet auch davon, dass Constantius II. in seinen letzten Momenten, noch bei klarem Verstand, Julian als Nachfolger einsetzt. 20 Bevor Constantius II. gegen den aufbegehrenden Julian ins Feld zieht, hält er laut Ammianus eine Rede an seine Soldaten, in der er sein menschliches Verhalten (humanitas) als Irrtum eingesteht. Er habe geglaubt, dass es den Reichsgeschäften von Nutzen sei. 21 Hier scheint die für Gregor zunächst wichtige Entschuldigung Constantius’ II. anzuklingen, dieser habe Julian aufgrund von Philanthropie unterstützt. Laut Ammianus habe Constantius II. zudem als gerecht und gütig gelten wollen. 22 Besondere Milde und Nachsicht lobt auch Libanius am verstorbenen Herrscher. 23

15

BRENNECKE, Studien zur Geschichte der Homöer, S. 93, Anm. 7, schreibt über Gregors Orationes 18 und 21: »Beide Reden sind nach dem kirchenpolitischen Umschwung unter Theodosius gehalten, als Gregor bereits zu den führenden Theologen der neunizänischen Theologie gehörte«. Vgl. auch LEPPIN, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II., S. 60, Anm. 3. 16 Ammianus Marcellinus wird etwa 330 im syrischen Antiochia geboren, lebt seit ungefähr 380 in Rom, stirbt dort ca. 395. Vgl. z. B. DEMANDT, Ammianus Marcellinus, S. 380–383; NESSELRATH, Kaiserlicher Held und Christenfeind, S. 30. 17 Die Bücher seiner Res gestae, die sich mit Constantius II. beschäftigen, hat Ammianus zwischen 384 und 392 verfasst, vgl. ROSEN, Ammianus Marcellinus, S. 32 f. Siehe außerdem WHITBY, Images of Constantius, S. 77–88. 18 Libanius wird 314 im syrischen Antiochia geboren und stirbt auch dort, wohl zwischen 393 und 395. 19 Bei Gregor hingegen bildet Constantius II. die christliche Kontrastfolie für den abtrünnigen Julian. 20 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,15,2; 21,15,5, S. 166; 22,2,1, S. 8. 21 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,13,10, S. 162. 22 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,11, S. 170. 23 Vgl. Libanius, Oratio 19,47–49, S. 296–300.

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Bei Ammianus und Libanius findet sich ebenso wie bei Gregor der Vorwurf der Verwandtenmorde gegen Constantius II. 24 Sie halten seine Schuld für gesichert. Der Einfluss der Eunuchen bei Hof soll diesen drei Autoren gemäß groß gewesen sein. 25 Vermutlich stellt die schlechte Beratung durch Eunuchen einen Aspekt des allgemein zur Regierungszeit des Theodosius (der seinerseits für Ähnliches kritisiert wird) existierenden Bildes von Constantius II. dar. Für Ammianus und Libanius hat er außerdem außenpolitisch versagt 26 – anders als für Gregor. 27 Wie dieser ist Ammianus der Meinung, dass Constantius II. keine intellektuelle Begabung vorweisen kann. 28 Auch Ammianus erwähnt, dass der Kaiser den Christen keinen einfachen Glauben ermöglicht, sondern ihn durch superstitio verwirrt, zu theologischen Diskussionen ermuntert und für Spaltungen gesorgt habe. 29 Ansonsten tangiert die Homöerfrage die nichtchristlichen Schriftsteller kaum. Das sieht für nizänisch-christliche Bischöfe völlig anders aus: Athanasius von Alexandria, 30 Hilarius von Poitiers 31 und Lucifer von Cagliari 32 verfassen Invektiven gegen Constantius II., weil er eine abweichende Form des Christentums vertritt. Allerdings kritisieren sie den Kaiser nicht allesamt durchgehend. Das von Athanasius – zunächst wohl aus taktischen Gründen – verwendete positive Constantius II.-Bild schlägt ins Gegenteil um, sobald er sich nichts mehr von ihm verspricht. Er erkennt in diesem Kaiser schließlich den Antichristen oder dessen Wegbereiter 33 und sieht in den einflussreichen Hofeunuchen einen wichtigen Grund für die homöische Einstellung des Kaisers. 34 Auch Hilarius wendet sich enttäuscht vom Kaiser ab, als dieser ihn (359/360) nicht anhört. In seiner Schrift Contra Constantium findet sich ein Pamphlet, das Constantius II. als Antichristen mit den großen Verfolgerkaisern in eine Reihe stellt. 35 Lucifer zeigt sich besonders kompromisslos nizänisch und spart gleichermaßen nicht an Kritik und Polemik gegenüber dem Herrscher. Jedoch nimmt beispielsweise 24 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,8, S. 168–170; Libanius, Oratio 18,31, S. 298. 25

Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,16, S. 172; Libanius, Oratio 18,152, S. 376–378; Oratio 62,9 f., S. 350 f. 26 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,15, S. 172; Libanius, Oratio 18,165.205–207, S. 388. 414–418. 27 Vgl. Gregor, Oratio 4,34, S. 132–134. 28 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,4, S. 168. 29 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 21,16,18, S. 172. Außerdem BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 77 f. 30 Athanasius wird vielleicht zwischen 295 und 299 geboren, er stirbt am 3. Mai 373. 31 Hilarius wird um 315 in Poitiers geboren, er stirbt dort 367/368. 32 Lucifer stirbt 370/371. 33 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 88–90. 34 Vgl. Athanasius, Historia Arianorum 38,3–5, S. 204. 35 Vgl. Hilarius von Poitiers, Contra Constantium 7–11, S. 180–192.

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Ephräm der Syrer den Kaiser gegen Vorwürfe des Homöertums in Schutz: Constantius II. sei durch irrende Priester bzw. Bischöfe fehlgeleitet worden. 36 Ephräm ist es vielmehr wichtig, ihn als Verteidiger seiner Heimatstadt Nisibis herauszustellen. Der Vergleich mit anderen Autoren verdeutlicht also, dass die beiden Punkte des Versagens, die Gregor bei Constantius II. anmahnt, subjektiven Charakter tragen. Dass Julian ihm auf dem Kaiserthron nachfolgt, wird je nach eigener Glaubenshaltung durchaus positiv wahrgenommen. Entsprechendes gilt für die Tatsache, dass Constantius II. das Homöertum fördert. Einen Ephräm etwa scheint das nicht besonders zu stören, ganz zu schweigen von homöisch ausgerichteten Theologen. Während Gregor bei Constantius II. nur in Teilbereichen Versagen konstatiert, schreibt er allerdings einem anderen Herrscher ein völliges Versager-Image zu.

Kaiser Julian als Versager auf ganzer Linie Seit November 355 ist Julian Caesar, ab Ende 361 Augustus des Römischen Reiches. Durch seine Politik als Kaiser will er heidnische Traditionen wiederbeleben und das Christentum zurückdrängen. Im Juni 363 stirbt er bei einem Persienfeldzug. Gregor erhebt gegen Julian schwere Vorwürfe, die sich vor allem zwei Bereichen zuordnen lassen: zum einen dem weiten Feld antichristlichen Handelns, zum anderen dem militärisch-politischen Sektor. Zum ersten Themenkreis gehört, dass sich Julian trotz Taufe dem alten Glauben zugewandt hat. Weil er vom christlichen Glauben abgefallen ist, bezeichnet Gregor ihn als Apostaten, Abtrünnigen. 37 Zudem habe sich Julian hinterlistig verhalten und möglichst verborgen agiert, vor allem gegenüber Christen. Er habe die Bildung heidnischerseits monopolisiert und Christen davon ausgeschlossen. Ihm sei es ein Anliegen gewesen, den Jerusalemer Tempel wiederaufzurichten, was auf wundersame Weise nicht gelungen sei; 38 der Kaiser erweist sich als unfähig für 36 Vgl. Ephräm der Syrer, Hymnus de fide 87,21–23, S. 271 (Übers. S. 231). 37

In den Schriften Gregors erscheint diese Bezeichnung (oder auch deren Derivate) an 15 Stellen, zur Hälfte direkt auf Julian bezogen (Oratio 4,1, S. 86–88; 5,17, S. 324–328; 18,32, S. 462; 21,26. 32, S. 164–166. 176–180; 36,5, S. 250–254; 43,30, S. 192–194). Der Begriff ist bereits bei Ijob 34,18 (LXX) belegt. – Der erste, der ihn so genannt hat, soll Maris, Bischof von Chalkedon und prominenter Befürworter des »Arianismus«, in Auseinandersetzung mit dem Kaiser gewesen sein, vgl. Sokrates Scholastikus, Historia ecclesiastica 3,12,1, S. 206; Sozomenus, Historia ecclesiastica 5,4,8, S. 198. 38 Vgl. Gregor, Oratio 5,3–7, S. 296–306. Außerdem BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 134– 136.

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religiöse Angelegenheiten. 39 Zudem habe er eine Art heidnische Gegenkirche aufbauen wollen. Schließlich – das betrifft den zweiten Bereich – habe Julian als Befehlshaber beim Feldzug gegen die Perser versagt, was zu seinem Ende geführt habe: in den Augen Gregors eine Strafe Gottes. Nach dem Tod Julians formuliert Gregor zwei Schmähreden auf ihn, zwei Invektiven 40 (die Orationes 4 und 5). Wahrscheinlich sind diese Texte gar direkte Antworten auf Libaniusʼ Orationes 17 und 18. 41 Das erste Pamphlet reagiert auf Libaniusʼ Versuch, Julian in der Klagemonodie (Oratio 17 42) zu vergöttlichen, ist aber wohl bereits zu dessen Lebzeiten in Vorbereitung. 43 Es wird nach Julians Tod einer abschließenden Redaktion unterzogen und Ende 364 (oder Anfang 365) fertiggestellt. 44 Oratio 5 hingegen dürfte während der Usurpation des Procopius 45 geschrieben worden sein. Im Unterschied zu Oratio 4 finden sich darin zahlreiche Abschnitte, die sich auf die Orationes 17 und besonders 18 46 (Epitaphios) des Libanius beziehen könnten. 47 Libanius’, aber ebenso Ammianus’ positive Darstellungen zeigen, dass auch andere Autoren mit ihrer subjektiven Bewertung Einfluss auf das Kaiserbild nehmen wollen. Zu Beginn des Proömiums 48 von Oratio 4 wendet sich Gregor an alle Völker. Die Mächte des Himmels hätten nicht nur unbedeutende Herrscher vernichtet, sondern den Drachen (δράκων) und Apostaten (ἀποστάτης), den gemeinsamen Gegner und Feind aller, denjenigen, der auf der Erde mit wahnsinnigen Drohungen gewütet hat, der viel Unrecht gegen Gott ausgesprochen und getan hat. 49 Wie bereits erwähnt wirft Gregor Julian vor, nicht offen vorgegangen zu sein, sondern hinterlistig gehandelt zu haben. Er habe nämlich den christlichen Kämpfern die Ehre des Martyriums missgönnt. So habe er versucht, Gewalt anzuwenden, ohne gewaltsam zu erscheinen – die Christen leiden zu lassen, ohne ihnen die Ehre zu geben, für Christus zu leiden. 50 Julian 39 Vgl. ELM, Sons of Hellenism, Fathers of the Church, S. 447–452. 40

Gregor meint sogar, eine Julian gemäße Invektive zu verfassen, sei angesichts von dessen Schlechtigkeit gar nicht möglich, vgl. Gregor, Oratio 4,79, S. 200–202. 41 Eine solche These geht auf ASMUS, Die Invektiven des Gregorius von Nazianz, S. 325–367, zurück. 42 Datiert zwischen Jahreswechsel 363/364 und Spätsommer 364, vielleicht auf das Frühjahr 364, vgl. WIEMER, Libanios und Julian, S. 254 f. 43 Zu Details vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 153 f. 197 f. 44 Vgl. LUGARESI, Introduzione. Orazione IV, S. 45. 45 Procopius wird unter Valens am 28. September 365 von Truppen in Konstantinopel zum Gegenkaiser ausgerufen, am 27. Mai 366 wird er enthauptet. 46 Datiert auf Sommer 365, vgl. WIEMER, Libanios und Julian, S. 260–266. 47 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 154 mit Anm. 459 und S. 200 f. 48 Das Proömium umfasst Oratio 4,1–20, vgl. KURMANN, Oratio 4 gegen Julian, S. 14 f. Außerdem ELM, Sons of Hellenism, Fathers of the Church, S. 344. 49 Vgl. Gregor, Oratio 4,1, S. 86–88. 50 Vgl. Gregor, Oratio 4,58, S. 164.

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habe keine Märtyrer verursachen wollen, wie Gregor betont, 51 weil er sich der Kraft bewusst gewesen sei, die von ihnen auf christliche Gemeinden ausstrahlt. Eine direkte gewalttätige Verfolgung wie unter Diokletian habe er vermeiden wollen 52 und andere Formen der Benachteiligung von Christen gewählt. Dass die julianische Verfolgung hinterlistig auf Tricks und Spitzfindigkeiten gründete, um sein Bild als milder und gerechter Herrscher herauszustellen, 53 habe sie so gefährlich gemacht. Immer wieder hält Gregor dem Kaiser vor, heimlich agiert zu haben: Wenn es für einen Kaiser sehr hässlich sei, durch Gewalt beherrscht zu werden, so sei es noch schändlicher und unanständiger, seine Vorhaben und Pläne hinterlistig zu verbergen. 54 Eine für Gregor zentrale Frage betrifft die Bildung, weshalb er entsprechend empfindlich darüber schreibt: 55 Zwar sei Julian wegen vieler fürchterlicher Taten hassenswert, keines seiner Verbrechen scheine allerdings größer als das im Bildungsbereich. Wer die Literatur schätzt und sein Leben an sie hängt, solle sich mit ihm empören. 56 Dass Julian versuche, Christen von der παιδεία und den λόγοι auszuschließen, 57 trifft Gregor ganz persönlich, weil er Literatur und Bildung schätzt. 58 Er macht aus der Rhetorik ein regelrechtes Glaubensbekenntnis, indem er seine Liebe für sie wie eine zweite Berufung nach Gott darstellt: Er halte sich nur an die Literatur und beklage die Mühen nicht, die sie ihn einst gekostet hat. Ihm habe die Kraft der Redekunst immer als erstes am Herz gelegen – gleich nach dem Allerersten, also nach Gott und nach den Hoffnungen außerhalb der sichtbaren Dinge. Bei Pindar heißt es, dass alles Eigene drängt: Deshalb müsse er darüber reden. Immerhin sei es doch richtig, dem Logos mit Literatur für die Literatur Dank zu sagen. 59 Julian habe laut Gregor also versucht, Wissen sozusagen zu monopolisieren. 60 Christen von der παιδεία auszuschließen, wäre die sicherste Art, sie aus der πόλις auszugrenzen. Denn der Plan Julians habe darin bestanden, die Christen der Redefreiheit zu 51

Vgl. Gregor, Oratio 4,27. 58. 68. 84, S. 120–122. 164. 176–178. 210–214; Oratio 21,32, S. 176– 180; Oratio 42,3, S. 54–58. Vgl. auch Libanius, Oratio 18,123, S. 358. Entsprechend stellt z. B. Teitler auch die historische Wirklichkeit von sechs antiochenischen Märtyrern in Frage, vgl. TEITLER, Ammianus, Libanius, Chrysostomus, and the Martyrs of Antioch, S. 263–288. 52 Vgl. GADDIS, There is no Crime, S. 90 f. 53 Vgl. Gregor, Oratio 4,57–63, S. 162–172. 54 Vgl. Gregor, Oratio 4,81, S. 204–206. 55 Vgl. Gregor, Oratio 4,4–6. 95–109, S. 90–96. 238–264. – Außerdem hierzu BOUFFARTIGUE, L’empereur Julien, S. 601–603. 56 Vgl. Gregor, Oratio 4,100, S. 248. 57 Vgl. Gregor, Oratio 4,101, S. 248–250. Außerdem auch VAN DAM, Kingdom of Snow, S. 196– 198. 58 Vgl. auch Gregor, De vita sua 112–118, S. 58; Carmen 2,2,7,39–49, Sp. 1554. Außerdem CRIBIORE, The School of Libanius, S. 165–169. 59 Vgl. Gregor, Oratio 4,100, S. 248. 60 Vgl. Gregor, Oratio 4,4–6. 100–106, S. 90–96. 248–258; Oratio 5,29. 39, S. 350–352. 374–376.

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berauben, sie aus allen Versammlungen, von öffentlichen Plätzen, Volksfesten und Gerichtshöfen fernzuhalten. 61 Ein weiterer Kritikpunkt an Julian trifft dessen Versuche, der christlichen Kirche Konkurrenz zu machen. Constantius II. habe richtig erkannt, dass Rom zusammen mit den Christen gewachsen sei, denn Macht und Herrschaft seien mit dem Erscheinen Christi gekommen, so Gregor. 62 Julian hingegen habe Philosophen bewundert, die nur in abstrakter Weise, nämlich mit Worten, Städte gründen, 63 und habe gegen die Christen gearbeitet, die ihm aber zugleich als Vorbild dienten. Denn er habe sogar noch weitergehende Maßnahmen geplant, die Organisation einer Art heidnischer Kirche. Er sei bereit gewesen, in jeder Stadt Schulen zu instituieren, Rednerpulte, bevorzugte und niedere Sitze einzurichten. Es sei ihm um die Lesung und Deutung derjenigen hellenischen Lehren gegangen, die die Sitten ordnen oder einen verborgenen Sinn enthalten. 64 Wechselgebete und Bestrafung von Sündern nach dem Maß ihrer Sünden habe er einführen wollen, darüber hinaus etwas der Initiation Gemäßes sowie Weiteres, was das Christentum bietet. Außerdem habe er Unterkünfte und Gasthäuser bauen wollen, sowie Herbergen, Wohnungen für Jungfrauen und Zufluchtsorte. 65 Obendrein wolle er Fürsorge (φιλανθρωπία) für Arme betreiben, auch durch Empfehlungsbriefe. Denn das alles habe er bei den Christen besonders bewundert. 66 Kurz: Gregor wirft Julian vor, eine Art heidnische Gegenkirche nach christlichem Modell mit sozialen Einrichtungen für Bedürftige errichtet haben zu wollen. Der Kaiser habe vorgehabt, bei seinen heidnischen Gottesdiensten Lesungen, Auslegungen und Wechselgebete einzuführen, und somit »Nachäfferei« (τίνα [...] πιθήκων μιμήματα) 67 betrieben. Als nächstes verhängnisvolles Geschehen, das wohl die Kritik einiger Zeitgenossen auf sich zieht, nennt Gregor den Feldzug Julians gegen Persien. Dieser beginnt im März 363 und endet wenige Monate danach in einem Desaster – mit dem Verlust der römischen Provinzen jenseits des Tigris. 68 Für Gregor ist klar, dass dieser Krieg von Beginn an Wahnsinn war, der unabhängig von der Strategie in eine Katastrophe führen musste. Übermütig geworden durch seine Erfolge in Gallien und ohne die tatsächliche, durch seine Religionspolitik geschwächte Situation des Römischen Reiches im Blick zu haben, habe Julian 61 Vgl. Gregor, Oratio 4,96, S. 240–242. 62

Vgl. Gregor, Oratio 4,37, S. 136. Ein Ausschnitt aus der langen Gegenüberstellung (Synkrisis) der beiden Kaiser. 63 Vgl. Gregor, Oratio 4,44, S. 144. 64 Vgl. hierzu KURMANN, Oratio 4 gegen Julian, S. 371. 65 Vgl. KURMANN, Oratio 4 gegen Julian, S. 374–376. 66 Vgl. Gregor, Oratio 4,111, S. 266–268. 67 Gregor, Oratio 4,112, S. 268–270. 68 Vgl. Gregor, Oratio 5,8–12, S. 306–316.

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losgeschlagen. Er habe Mut mit Waghalsigkeit verwechselt, konnte Wunsch und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen und habe sich vor Ktesiphon bereits als Sieger feiern lassen. 69 Gregor betritt hier das Feld römischer Außenpolitik mit einer klar defensiven Haltung: In erster Linie gelte es, bereits zum Römischen Reich gehörende Gebiete zu bewahren und zu verteidigen. 70 Insgesamt zeigt Gregor, dass er sich durchaus in außenpolitische Themenstellungen einbringen kann. 71 Auskünfte weiterer Autoren werfen ein andersartiges Licht auf Kaiser Julian. Für Ammianus Marcellinus und Libanius ist er ein Heroe. Insofern stehen ihre Aussagen über diesen Herrscher in völligem Kontrast zu denen Gregors. Als ehemaliger Soldat gilt das Interesse des Ammianus besonders Julian als General und dessen militärischen Leistungen. 72 Die Bücher 23 bis 25 seiner Res gestae beschäftigen sich recht detailliert mit dem Persienfeldzug, an dem Ammianus selbst teilnimmt, und Julians Tod. Sie umfassen also lediglich die fünf Monate März bis Juli 363. Unter den vielen Tugenden, über die der Kaiser demgemäß verfügt, findet sich die von Ammianus geschätzte Eigenschaft der Nüchternheit (sobrietas). 73 Seine Darstellung weist fundamentale Unterschiede zum Versuch Gregors auf, den Herrscher und sein Handeln in polemischer Form mittels Invektiven anzuprangern und als dunklen Hintergrund für seinen Vorgänger zu verwenden. Libanius, der nach dem frühen Tod Julians angeblich Selbstmordgedanken hegt, gehörte zu einer Gruppe von sieben Männern, die den Kaiser in Antiochia berieten. Dass Julian sich vom Christentum ab- und dem Heidentum zugewandt hat, stellt er positiv heraus. 74 Mit dem Herrscher hat er gemein, dass er den alten Götterglauben und die Bildung direkt verbunden sieht. Das Schreckgespenst eines solchen ›Hellenismus‹ bildet den Hauptkritikpunkt Gregors an Julian. Der Kampf um die Deutungshoheit führt möglicherweise zwischen Gregor und Libanius zu einem Schlagabtausch: Auf dessen Monodie folgt Gregors erste Schmähschrift, die Libanius mit seinem Epitaphios beantwortet und dafür noch die zweite Invektive kassiert. Aber auch innerchristlich verlaufen Gräben, denn mit der Haltung Gregors zur παιδεία kann Ephräm, der vom »Gift der Weisheit der Griechen« 75 spricht, überhaupt nichts anfangen. Ein Rhetorenedikt, das neben Gregor auch Johannes Chrysostomus nega69 Vgl. Gregor, Oratio 5,8 f., S. 306–310. 70 Vgl. Gregor, Oratio 5,8, S. 306–308. 71 Vgl. LUGARESI, Introduzione. Orazione V, S. 60 f. 72 Vgl. NESSELRATH, Kaiserlicher Held und Christenfeind, S. 31 mit Anm. 57. 73 Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 22,7,9, S. 18. 74 Vgl. Libanius, Oratio 13,12, S. 8. 75

Ephräm, Hymnus de fide 2,24, S. 7, Übers. S. 7.

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tiv erwähnt 76 und selbst Ammianus als inclemens bezeichnet, 77 beunruhigt ihn wohl kaum. Ephräm ist Opfer des misslungenen Persienfeldzugs Julians, in dessen Folge er seine Heimatstadt Nisibis verlassen muss und Hymni contra Julianum verfasst. Wie Gregor erwähnen Ephräm und Johannes Chrysostomus den versuchten Jerusalemer Tempel-Wiederaufbau negativ. 78 Dass Julian nicht für Märtyrer habe sorgen wollen, bestätigen Libanius und Johannes Chrysostomus. 79 Kontraste in den Darstellungen lassen sich teilweise mit der unterschiedlichen religiösen Verortung der Autoren erklären, bei Libanius und Gregor noch verstärkt durch den konkurrierenden Anspruch auf die hellenische Bildung. Julians Handeln hat fast durchgehend den Erwartungen Gregors an ihn nicht entsprochen, 80 er hat seiner Meinung nach versagt. Welches Fazit bezüglich der Bewertungen durch Gregor lässt sich aufgrund der angestellten Untersuchung also ziehen?

Das Verdikt des Versagens Die Eigenart der persönlichen Akzente Gregors tritt vor dem Hintergrund der Seitenreferenzen klar hervor. Versagen von Kaisern erweist sich bei ihm als eine subjektive Kategorie der Bewertung. Um Objektivität bemüht er sich nicht – das ist weder sein Ziel noch sein Anspruch. 81 Darüber hinaus wird deutlich: Ob ein Herrscher in der weiteren Geschichtsschreibung als Versager oder Held gilt, hängt neben anderem mit der Frage zusammen, welche Darstellung die Deutungshoheit erringen kann. Bezogen auf Julian treten Erinnerungen miteinander in Konkurrenz. »Wichtig war es, in dieser Kette möglichst das letzte Wort zu behalten und durch eine schlüssige Deutung andere Positionen zu überschreiben.« 82 Gregor will Lese- und Ur76 Vgl. Johannes Chrysostomus, In Iuventinum et Maximinum martyres 1, Sp. 571–573. 77

Vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 22,10,7, S. 40; 25,4,20, S. 170–172. Erwähnt wird ein Gesetz des Kaisers als inclemens, das den christlichen Lehrern der Rhetorik und Grammatik Lehrtätigkeit verbietet, wenn sie nicht zum Götterkult übertreten. 78 Vgl. Ephräm, Hymnus contra Julianum 4,18–23, S. 89 f.; Johannes Chrysostomus, De s. Babyla contra Iulianum et gentiles 119, S. 258–260. 79 Vgl. Libanius, Oratio 18,123, S. 358; Johannes Chrysostomus, De s. Babyla contra Iulianum et gentiles 120, S. 260–262. 80 Wenige Ausnahmen finden sich in Gregor, Oratio 4,75, S. 192–194: So sei der cursus publicus besser organisiert worden, es sei zu einem Nachlass an Steuern und Abgaben gekommen, die Auswahl der Beamten und das Einschreiten gegen Diebe sei besser gewesen – alles kleine Dinge, die für einen kurzen Moment Glück brächten und den Eindruck erweckten, sie seien dem Reich sehr nützlich. 81 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 374. 82 STENGER, Hellenische Identität, S. 275.

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teilskriterien, besonders der julianischen Geschichte, bieten. Er sieht sich durch den schon bald einsetzenden Kult des Verstorbenen zu einer stark ins Persönliche gehenden Polemik genötigt. Denn er möchte eine solche Gefahr für immer ausschließen und dementsprechend dieses Ereignis als für die Kirche grausam schildern. 83 Zwei Gründe sind für Gregors harsche Kritik ausschlaggebend: Zum einen erwächst ihm Julian zum Bildungskonkurrenten, der die Ausübung seines eigentlichen Berufes unterbinden kann. Zum anderen erhält der von Julian propagierte Konnex aus hellenischer Bildung und altem Glauben dadurch besondere Brisanz, dass innerchristlich der Stellenwert von griechischer παιδεία umstritten ist und die Gefahr besteht, dass Christen derartige Einschränkungen durch den Kaiser gar nicht als solche wahrnehmen. Somit spornt Julian Gregor nicht nur zur Sorge dafür an, Christen den Zugang zur Bildung offenzuhalten, sondern sich auch innerhalb der Kirche für eine entsprechende Berücksichtigung klassischer Erziehung einzusetzen. Persönliche Bildungskonkurrenz und die Frage des innerchristlichen Stellenwerts der παιδεία elektrisieren Gregor dermaßen, dass er sich nach dem Tod des Kaisers im Kampf um die Deutungshoheit über dessen Leben und Leistung engagiert und dabei die Darstellungen anderer Autoren verdecken möchte. Vor einem positiven Andenken an diesen Kaiser hat er geradezu panische Angst: 84 Er muss ihn als Versager abstempeln. In deutlich schwächerer Form gilt Ähnliches für Constantius II., da er Julian den Weg bereitet und die homöische Glaubensrichtung gefördert hat. Welche Kriterien legt Gregor also an? Was erwartet er, was wertet er als Versagen? Außen- und innenpolitische Fragen verfolgt er vor dem ›objektiven‹ Hintergrund der Wohlfahrt des Römischen Reiches und des Friedens. Als sonstige Richtlinien erweisen sich die persönliche Religiosität des Kaisers und dessen Religionspolitik gegenüber derjenigen christlichen Richtung, die Gregor selbst vertritt und die sich im Laufe seines Lebens für ihn als richtig zeigt. Der Bildungsaspekt spielt für Gregor, der freien Zugang zur παιδεία einfordert, eine große Rolle. Auch weitere persönliche Akzente fließen in seine Darstellung ein. Die Philanthropie eines Herrschers, besonders gegenüber christlichen Glaubensgenossen Gregors, sind ihm Maßstab, und – abwertend – Beeinflussbarkeit oder abträglich verstandene Einfalt (ἁπλότης). Ein Kaiser hat die Aufgabe des Beschützers und Vorstehers (προστάτης) wahrzunehmen. 85 Gregor bewertet Charaktereigenschaften und Entwicklungen in erster Linie nach seinen eigenen, vielleicht nach kirchlichen, seltener nach reichspolitischen Krite83 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 155 f. 84 Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 359. 85

Vgl. Gregor, Oratio 4,21.74, S. 114–116. 190–192 (hier ironisch) und 97, S. 242–244. Außerdem COULIE, Les richesses, S. 117 f.

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rien. 86 Stellenweise legt er es wie im Fall von Julian darauf an, seine Meinung zu tradieren und durch ein deutlich konturiertes Kaiserbild die weitere Geschichte zu beeinflussen. Wer einen Herrscher als Versager darstellt, hat Gründe dafür und verfolgt damit Ziele. Selten grundlos, aber auch keineswegs absichtslos wird jemandem das Verdikt des Versagens angeheftet, wie Gregor von Nazianz zeigt.

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Vgl. BAUMANN, ›Götter in Gottes Hand‹, S. 362.

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Johannes Chrysostomus, In Iuventinum et Maximinum martyres, ed. Jacques-Paul Migne, Patrologia Graeca 50, Paris 1862, Sp. 571–578. Libanius, Oratio 13, ed. Albert Francis Norman, Libanius. Selected works in three volumes. Vol. I, The Julianic Orations, London 1969, S. 1–32 (basierend auf Richard Foerster, 1903–1908). Libanius, Oratio 17, ed. Albert Francis Norman, Libanius. Selected works in three volumes. Vol. I, The Julianic Orations, London 1969, S. 251–274 (basierend auf Richard Foerster, 1903–1908). Libanius, Oratio 18, ed. Albert Francis Norman, Libanius. Selected works in three volumes. Vol. I, The Julianic Orations, London 1969, S. 277–486 (basierend auf Richard Foerster, 1903–1908). Libanius, Oratio 19, ed. Albert Francis Norman, Libanius. Selected works in three volumes. Vol. II, Selected Orations, London 1977, S. 268–308 (basierend auf Richard Foerster, 1903–1908). Libanius, Oratio 62, ed. Richard Foerster, Libanii Opera 4, Orationes 51–64, Hildesheim 1963, S. 346–382. Sokrates Scholastikus, Historia ecclesiastica, Kirchengeschichte, ed. Günther Christian Hansen, Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte. Neue Folge 1, Berlin 1995, S. 1–395. Sozomenus, Historia ecclesiastica, Kirchengeschichte, ed. Joseph Bidez und Günther Christian Hansen, Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte. Neue Folge 4, Berlin 1995, S. 1–408.

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Dominik Waßenhoven Vom Verraten und Beraten Æthelred the Unready (978–1016) im Urteil seiner Zeitgenossen

Sein Lebensweg war bekanntlich grausam am Anfang, erbärmlich in der Mitte und schändlich am Ende. 1

Mit diesen Worten leitet Wilhelm von Malmesbury den Abschnitt zur Herrschaft von Æthelred II. in seinen Gesta regum Anglorum ein, die er etwas mehr als hundert Jahre nach dem Tod des Königs geschrieben hat. An anderer Stelle beschreibt Wilhelm die Maßnahmen, die Æthelred angesichts der dänischen Einfälle während seiner Herrschaftszeit ergriff, folgendermaßen: Unterdessen schob der König, ein tüchtiger Mann und Inbegriff eines Schläfers, so wichtige Angelegenheiten auf und gähnte in einem fort; und wenn er einmal wieder zu Sinnen gekommen war, dass er sich wenigstens auf dem Ellbogen aufrichten konnte, fiel er auf der Stelle in sein Elend zurück: Denn entweder lastete die Untätigkeit auf ihm oder das Schicksal wandte sich gegen ihn. 2

Wilhelm beklagt im Anschluss, dass dem Heer, das sich den Angreifern entgegenstellte, der Anführer fehlte. Die Beispiele aus dem 12. Jahrhundert ließen sich vermehren, weil andere Autoren die Sichtweise Wilhelms von Malmesbury aufgegriffen haben – und das taten auch moderne Forscher bis ins 20. Jahrhundert. Genannt seien nur zwei Beispiele, die zum einen typisch sind und zum anderen aus sehr einflussreichen Werken stammen. In den 1860er- und 1870er-Jahren veröffentlichte Edward Freeman ein sechsbändiges Werk zur Geschichte der normannischen Eroberung. Bei der Behandlung der Vorge1

William of Malmesbury, Gesta regum Anglorum ii.164.1, S. 268: »Eius uitae cursus seuus in principio, miser in medio, turpis in exitu asseritur […].« – Ich danke Levi Roach für die Durchsicht des Beitrags und für seine hilfreichen Hinweise. 2 William of Malmesbury, Gesta regum Anglorum ii.165.7, S. 272: »Rex interea, strenuus et pulchre ad dormiendum factus, tanta negotia postponens oscitabat, et si quando resipuerat ut uel cubito se attolleret, confestim uel grauante desidia uel aduersante fortuna in miserias recidebat.«

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schichte geht er bis ins 10. Jahrhundert zurück und kommt deshalb auch auf Æthelred zu sprechen, den wir, so Freemans Worte, »ohne zu zögern als schlechten Mann und schlechten König bezeichnen können.« 3 »Seine Herrschaft sah wenig außer der Vernachlässigung königlicher Pflichten, wenig außer Schwäche, Konzeptlosigkeit, Feigheit, blindem Vertrauen in unwürdige Freunde und sogar offenkundige Verräter.« 4 In ähnlicher Weise bezeichnete auch Frank Stenton in seinem erstmals 1943 veröffentlichten und lange als Standardwerk herangezogenen Buch »Anglo-Saxon England« Æthelred als schwachen König und als König von einzigartiger Inkompetenz. 5 Die Historiker, die Æthelreds Herrschaft als eine Zeit nationalen Verfalls betrachten, werden – so Stenton – hinreichend durch zeitgenössische Meinungen gestützt. 6 Das negative Urteil erklärt sich aus der dänischen Eroberung durch Knut den Großen im Jahr 1016. 7 Sie ereignete sich zwar erst nach Æthelreds Tod im April desselben Jahres, doch schon Knuts Vater, Sven Gabelbart, hatte es 1013 geschafft, sich ganz England zu unterwerfen und Æthelred aus dem Land zu vertreiben – der englische König musste sich mit seiner Frau Emma und den beiden Söhnen Eduard und Alfred in die Normandie zurückziehen. Die dänische Eroberung war der Kulminationspunkt einer Entwicklung, die bereits zu Beginn von Æthelreds Herrschaft ihren Anfang genommen hatte. Æthelred war 978 nach der Ermordung seines älteren Halbbruders Eduard König geworden, und seit 980 kam es wieder zu Einfällen durch skandinavische Wikinger, während es unter seinem Vater Edgar (959–975) eine Zeit des Friedens gegeben hatte. 8 Rund zehn Jahre später wurden die Unternehmungen der Skandinavier umfangreicher und trafen nicht nur die Küsten, sondern auch das Landesinnere. Größere Gruppen von Wikingern zogen immer wieder plündernd durch das Land und blieben teils mehrere Jahre. Neben der Beute setzten sie dabei auch auf Tributzahlungen: Die Angelsachsen mussten immer größere Summen aufbringen, um die Skandinavier zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. Sven Gabelbart war möglicherweise schon in den 990er Jahren an solchen Einfällen beteiligt, aber dabei ging es noch nicht um die Erobe3

FREEMAN, History S. 258 f.: »Æthelred the Second […] is the only ruler of the male line of Ecgberht whom we can unhesitatingly set down as a bad man and a bad King.« 4 FREEMAN, History S. 259 f.: »His reign of thirty-eight years displays little but the neglect of every kingly duty, little but weakness, impolicy, cowardice, blind trust in unworthy favourites and even in detected traitors, acts of injustice and cruelty, some of which are laid to the charge of the King himself, while others, if he did not himself order, he at least did nothing to hinder or punish.« 5 STENTON, Anglo-Saxon England S. 374: »[…] a weak king […]«; S. 395: »[…] a king of singular incompetence.« 6 STENTON, Anglo-Saxon England S. 394: »The historians who regard Æthelred’s reign as a time of national degeneracy have good contemporary opinion behind them.« 7 Dazu und zum Folgenden ROACH, Æthelred S. 287–311; BOLTON, Cnut S. 53–91. 8 Zu Edgar siehe KEYNES, Edgar, rex admirabilis.

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rung des Landes. Das änderte sich dann 1013, allerdings konnte Sven seine Herrschaft nicht lange ausüben, denn er starb bereits im Februar 1014. Nach seinem überraschenden Tod wurde Æthelred von den angelsächsischen Großen noch einmal zurückgeholt 9 und konnte Knut, der von den Anhängern Svens zum König ausgerufen worden war, vertreiben. Knut setzte 1015 zur erneuten Eroberung an; darauf folgte eine Phase langwieriger Auseinandersetzungen mit Æthelred und schließlich mit Edmund Eisenseite, der nach Æthelreds Tod seinem Vater als König nachgefolgt war. Knut konnte in der Schlacht von Assandun einen wichtigen Sieg gegen Edmund erringen, dennoch kam es zur Teilung Englands. Erst nachdem Edmund im November 1016 gestorben war, wurde Knut in ganz England als König anerkannt und herrschte bis zu seinem Tod im Jahr 1035. Vor dem Hintergrund der häufigen Wikingereinfälle, die schließlich in die dänische Eroberung mündeten, ist es daher nicht verwunderlich, dass Æthelred als »the Unready« in die Geschichte eingegangen ist – der Unvorbereitete. Æthelred sei nie bereit gewesen, erfolgreich gegen die Einfälle der Dänen vorzugehen, so dass sie schließlich England erobern konnten. Der Beiname stammt allerdings erst aus dem 14. oder 15. Jahrhundert, 10 wobei eine ältere altenglische Bezeichnung offensichtlich falsch interpretiert und umgedeutet wurde. Denn der altenglische Beiname, unræd, bedeutet »schlecht beraten« oder »nicht beraten«. Er spielt nicht zuletzt auf den Namen des Königs an, denn Æthelred unræd lässt sich in etwa mit »Edler Rat, ohne Rat« übersetzen, wobei man sich fragen kann, ob Æthelred ratlos gewesen sein soll oder keine Ratschläge angenommen hat. 11 Erstmals schriftlich belegt ist dieser Beiname im 13. Jahrhundert, er dürfte aber schon im 12. Jahrhundert in Gebrauch gewesen sein, da Æthelred in einem lateinischen Text der 1180er Jahre mit nullum consilium umschrieben wird. 12 Ob der Beiname schon auf die Zeit kurz nach der dänischen Eroberung zurückgeht, ist fraglich. 13 Ob Æthelred bereits bei seinen Zeitgenossen einen schlechten Ruf genoss, soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Dafür werden sowohl Quellen herangezogen, die noch zu seinen Lebzeiten entstanden sind, als das Scheitern der angelsächsischen Abwehrbemühungen noch nicht abzusehen 9 Vgl. dazu unten bei Fußnote 73 ff. 10 KEYNES, Declining Reputation S. 240 f. 11 Vgl. KEYNES, Declining Reputation S. 240. 12

Walter Map, De nugis curialium, Dist. 5, c. 3, S. 412: »[…] rex Edelredus, quem Anglici Nullum Consilium uocauerunt, quia nullius erat negocii.« – »[…] König Æthelred, den die Engländer Ohne Rat nannten, weil er untätig war.« Vgl. KEYNES, Declining Reputation S. 240; ROACH, Æthelred S. 6 f. 13 LAWSON, Archbishop Wulfstan S. 571, Anm. 2; vgl. KEYNES, Declining Reputation S. 240; skeptisch: ROACH, Æthelred S. 7.

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war, als auch solche, die kurz nach seinem Tod geschrieben wurden. Die Urkunden und Rechtstexte, die von Æthelred selbst ausgingen, bleiben dabei unberücksichtigt. 14 Stattdessen werden neben den Angelsächsischen Chroniken, die eine kohärente Erzählung bieten, aber erst aus der Rückschau geschrieben wurden, mehrere Predigten, Traktate und Briefe herangezogen, die Kommentare zum König enthalten. 15

Die Æthelred-Annalen Während die ältere Forschung, wie oben gezeigt wurde, den schlechten Ruf aufgriff, den Æthelred bereits im Mittelalter hatte, konnte die jüngere Forschung seit den 1970er Jahren die Einschätzung von Æthelreds Herrschaft revidieren. Simon Keynes hat einerseits Æthelreds Urkunden genau untersucht und dabei festgestellt, dass von Untätigkeit und Inkompetenz nicht die Rede sein kann. In neueren Biographien von Ryan Lavelle, Ann Williams und Levi Roach wird diese ausgewogene Sichtweise weiter ausdifferenziert. 16 Simon Keynes und Pauline Stafford haben außerdem festgestellt, dass die Berichte in den Angelsächsischen Chroniken, die bis auf kleinere Abweichungen den gleichen Text bieten, von einem Autor kurz nach der dänischen Eroberung geschrieben wurden. 17 Der retrospektive Blickwinkel lässt sich an mehreren Stellen erkennen, wenn der Autor auf spätere Ereignisse oder Verhaltensweisen von einzelnen Personen verweist. 18 Man spricht für diesen Abschnitt der Angelsächsischen Chroniken in den Handschriften CDEF meist von den Æthelred-Annalen. In der Handschrift A finden sich dagegen für den Zeitraum von Æthelreds Herrschaft nur Einträge zu den Jahren 984, 993, 994 und 1001. 19 Für die Beurteilung seiner Königsherrschaft ist man deshalb auf die ÆthelredAnnalen angewiesen; andere zeitgenössische Quellen, die in ähnlicher Ausführlichkeit berichten, gibt es nicht.

14

In seinen Urkunden hat Æthelred sich (zumindest ab 993) selbst kritisiert und damit möglicherweise auch andere bestärkt, Kritik an ihm zu üben; siehe zu diesen Urkunden CUBITT, Politics of Remorse; INSLEY, Charters; ROACH, Penitential Discourse. 15 Vgl. zur Quellenlage ROACH, Æthelred S. 7–15. 16 LAVELLE, Æthelred; WILLIAMS, Æthelred; ROACH, Æthelred. 17 Das bezieht sich auf die Handschriften CDEF der Angelsächsischen Chroniken: KEYNES, Declining Reputation S. 229–231; vgl. WINKLER, Royal Responsibility S. 77 f.; STAFFORD, Unification S. 8. Zusammenfassend zur Überlieferung der Angelsächsischen Chroniken: KEYNES, Manuscripts. 18 KEYNES, Declining Reputation S. 230, führt mehrere Beispiele an. 19 ASC (A) S. 78–81.

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Das negative Bild, das in den Æthelred-Annalen gezeichnet wird, haben die Autoren des 12. Jahrhunderts weiterentwickelt, so die Meinung von Keynes. 20 In jüngster Zeit ist diese Meinung allerdings in Frage gestellt worden. In ihrer Dissertation aus dem Jahr 2013 hat Emily Winkler für mehrere Autoren des 12. Jahrhunderts untersucht, wie sie die Könige und ihr Handeln im Zusammenhang der Eroberungen von 1016 und 1066 darstellen. Neben den Werken Wilhelms von Malmesbury hat sie dabei die Chronik des Johannes von Worcester und die Historia Anglorum Heinrichs von Huntingdon analysiert. 21 Eine ihrer Beobachtungen ist, dass der Einfluss der Æthelred-Annalen auf die Ansichten der Historiker des 12. Jahrhunderts überschätzt worden sei. Neben der negativen Sichtweise, die besonders bei Wilhelm und Heinrich zu finden ist, konnte Æthelreds Königtum auch deutlich positiver gedeutet werden, so wie Johannes von Worcester es getan hat. 22 Winkler hat zwar einen ausführlichen Vergleich der Æthelred-Annalen mit den Werken des 12. Jahrhunderts angestellt, ihr ging es aber um die Deutung des Königtums durch diese späteren Historiker, während sie die Angelsächsischen Chroniken nur als Folie für ihre Untersuchung herangezogen hat. Die Æthelred-Annalen selbst sind in der jüngsten Forschung ebenfalls eingehend untersucht worden im Hinblick darauf, ob der König tatsächlich so negativ dargestellt wird, wie die vorherrschende Forschungsmeinung bisher Glauben macht. Andreas Lemke und Courtnay Konshuh kommen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass es nicht Æthelred ist, der negativ dargestellt wird, sondern dass stattdessen seine Berater kritisiert werden. 23 Lemke hat außerdem die Darstellung der dänischen Invasoren analysiert, und zwar auch aus philologischer Perspektive. Die Dänen würden demnach zwar einerseits als Betrüger dargestellt, aber in Anlehnung an altenglische Heldenepik andererseits auch heroisiert. Sein Fazit lautet, dass der Chronist nicht den Wikingern die Schuld an der Eroberung gibt, sondern den Angelsachsen. 24 Konshuh stellte fest, dass die Æthelred-Annalen im Gegensatz zu früheren Abschnitten der Angelsächsischen Chroniken wenig auf den König selbst eingehen und ihn auch nur selten beim Namen nennen. 25 Sie bemerkte außerdem, dass Æthelred häufig in Kombination mit den witan auftritt, also mit den

20 KEYNES, Declining Reputation S. 236–239. 21

The Chronicle of John of Worcester; Henry, Archdeacon of Huntingdon, Historia Anglorum; William of Malmesbury, Gesta regum Anglorum. 22 WINKLER, Royal Responsibility S. 281. 23 LEMKE, Voices; KONSHUH, Anraed. 24 LEMKE, Voices S. 55: »[…] the chronicler does not blame the Vikings but the Anglo-Saxons.« 25 KONSHUH, Anraed S. 141 f.

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königlichen Beratern. 26 Das sei besonders bei umstrittenen Entscheidungen der Fall wie etwa Tributzahlungen an die Dänen. 27 Wenn militärische Aktionen misslungen sind – und das kommt in den Æthelred-Annalen häufig vor –, dann wird der König nie als Verursacher genannt. 28 Der Chronist habe Æthelred so wenig wie möglich charakterisiert, um zu zeigen, dass er an den Intrigen dieser Zeit keinen Anteil hatte. 29 Die Analyse sowohl von Konshuh als auch von Lemke zeigt, dass die Æthelred-Annalen kein negatives Bild des Königs zeichnen, sondern den angelsächsischen Adel und die Berater des Königs für das Scheitern verantwortlich machen. Da man über den Autor der Æthelred-Annalen und den Ort der Entstehung nichts weiß, lässt sich nur vermuten, in welchem Umfeld diese Darstellung von Æthelreds Herrschaft entstanden sein könnte. 30 Wer hatte möglicherweise ein Interesse daran, den Adel verantwortlich zu machen und den König gewissermaßen zu entlasten? Courtnay Konshuh ist der Meinung, der Chronist habe die schlechten, untreuen angelsächsischen Großen kritisiert und gleichzeitig die mutigen und loyalen Adligen positiv hervorgehoben. Ihrer Ansicht nach war es durch diese Art der Darstellung möglich, die angelsächsischen Adligen dem Hof Knuts des Großen einzugliedern, während sie zugleich davor gewarnt wurden, den König zu hintergehen, wie sie es mit Æthelred getan hätten. 31 Konshuh hält es deshalb für möglich, dass die Æthelred-Annalen für Knut oder sogar in seinem Auftrag geschrieben wurden. 32 Die Überlegung, dass der Chronist im Umfeld des Königshofs schrieb mit der Motivation, den angelsächsischen Adel zu integrieren, ist durchaus bedenkenswert und weist eine gewisse Plausibilität auf. Demgegenüber halte ich die These, dass die Æthelred26

Das altenglische witan (Sg. wita) heißt wörtlich »die Weisen« und bezeichnet die weltlichen und geistlichen Großen des Reiches, die dem König beratend zur Seite standen. 27 KONSHUH, Anraed S. 142 f. Vgl. DAMON, Advisors S. 75, der Æthelred eher als zu sehr beraten ansieht: »Some said one thing, some said another, and some wavered. One might be more exact in calling [Æthelred] ›ofer-ræd‹ than ›unræd‹: a man of too many counsels rather than none.« 28 KONSHUH, Anraed S. 143. 29 KONSHUH, Anraed S. 145: »On the contrary, the chronicler has left Æthelred as uncharacterised as possible in order to show his lack of involvement in all of the intrigues taking place through these decades.« SHEPPARD, Families S. 80, hat eine andere Interpretation vorgelegt: »In the Æthelred-Cnut-Chronicle, the king is not sufficiently present at the narrative centre, that is, on the battlefield […].« Die Kritik, der König sei auf dem Schlachtfeld nicht ausreichend präsent gewesen, findet sich auch schon zur Zeit Æthelreds; siehe dazu unten bei Fußnote 59 ff. 30 KEYNES, Declining Reputation S. 232, hat die These aufgestellt, dass die Æthelred-Annalen von einem Londoner geschrieben wurden. 31 KONSHUH, Anraed S. 158: »This method of criticising bad (and dead) Anglo-Saxon nobles while praising the brave and loyal ones would allow Anglo-Saxon nobles to be integrated into Cnut's court, while at the same time cautioning them against betraying him as they had done to their previous king.« 32 KONSHUH, Anraed S. 159.

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Annalen im Auftrag von König Knut entstanden sind, für ausgeschlossen. Dagegen spricht, dass für die Zeit seiner Herrschaft nur sehr kurze Notizen in den verschiedenen Versionen der Angelsächsischen Chroniken enthalten sind. 33 Es scheint mir wenig plausibel, dass Knut für die Zeit seiner Vorgänger eine ausführliche Darstellung in Auftrag gab, für die eigene Herrschaft aber keine vergleichbaren Berichte anfertigen ließ. Außerdem wird Knuts Verhalten im Jahr 1014 sehr negativ dargestellt, da er mit den Bewohnern von Lindsey zu einer Übereinkunft kam, sie aber im Stich ließ, als er vor Æthelred zurückweichen musste. Der Autor bezeichnet Knut in diesem Zusammenhang als Betrüger. Zugleich berichtet er davon, dass Knut einige Geiseln, die noch seinem Vater gestellt worden waren, verstümmelte. 34 Diese Darstellung ist nur schwer mit der These einer Auftragsarbeit durch Knut in Einklang zu bringen. Die Æthelred-Annalen waren demnach kein gezielter Versuch des Amtsinhabers, seinen Vorgänger zu kompromittieren. Andreas Lemke hat die fehlende oder nur zurückhaltende Kritik am König in den Æthelred-Annalen darauf zurückgeführt, dass der Chronist sich der angelsächsischen Königsfamilie gegenüber verbunden gefühlt und darauf gesetzt habe, dass Æthelreds Söhne aus dem normannischen Exil zurückkehren und gegen die dänischen Usurpatoren vorgehen würden. Gleichzeitig habe er seine Vorstellungen, wie man die dänische Eroberung hätte vermeiden können, angesichts der Umstände, in denen er schrieb, nicht offen artikulieren können. 35 Die Verbundenheit zum angelsächsischen Königshaus, die Lemke in den Æthelred-Annalen erkennt, lässt sich aber auch verstehen, ohne dass der Chronist auf eine zukünftige Herrschaft durch Æthelreds Söhne hoffte. Diese vermutete Darstellungsabsicht scheint mir unnötig kompliziert und konstruiert zu sein. Der Chronist hat seine Kritik am König möglicherweise auch deshalb nicht deutlicher formuliert, weil Knut im Sommer 1017 Emma, die Witwe Æthelreds, geheiratet hatte. Knut legitimierte seine Herrschaft unter anderem durch diese Ehe, durch die er auch eine Verbindung zu seinen angelsächsischen Vor33

Die Herrschaftszeit von Knut nach der Eroberung (1017–1035) nimmt in den Editionen etwa zweieinhalb Seiten ein: ASC (C) S. 103–105, ASC (D) S. 63–65, ASC (E) S. 74–76; zum Vergleich: der Zeitraum 998–1016 hat in den Æthelred-Annalen einen Umfang von 12–15 Seiten: ASC (C) S. 88–103, ASC (D) S. 50–62, ASC (E) S. 62–74. 34 ASC (CDE) 1014: »And Cnut gewende him aweig ut mid his flotan, and wearð þæt earme folc þus beswicen ðuruh hine, and wende þa suðweard oþ he com to Sandwic and let don up þær ða gislas þe his fæder gesealde wæron and cearf of hiora handa and earan and nosa.« (C, S. 99) – »Und Knut wich ihm [Æthelred] mit seiner Flotte [aufs Meer] aus, und das arme Volk [von Lindsey] wurde auf diese Weise von ihm betrogen; und er wandte sich südwärts bis er nach Sandwich kam und ließ dort die Geiseln, die seinem Vater gestellt worden waren, an Land bringen und schnitt ihnen ihre Hände, Ohren und Nasen ab.« 35 LEMKE, Voices S. 55 f. und S. 36.

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gängern herstellen konnte. 36 Damit betonte Knut die Kontinuität zu Æthelred, und darin kann man einen Grund für die Zurückhaltung des Chronisten gegenüber Knuts Vorgänger sehen. In den Æthelred-Annalen wird der König also nur indirekt kritisiert, weil er schlechten Ratschlägen gefolgt sei und sich mit unklugen Beratern umgeben habe; der Fokus der Kritik liegt eindeutig auf dem Verhalten des angelsächsischen Adels. Ob sich diese Sichtweise auch in den Quellen findet, die noch zu Lebzeiten Æthelreds entstanden sind, soll im Folgenden geklärt werden. Die Analyse dieser Quellen soll Aufschluss darüber geben, wie die Zeitgenossen ihren König eingeschätzt haben, ob sie ähnlich wie der Chronist der ÆthelredAnnalen vor allem das Umfeld des Königs attackierten, ob sie den König selbst kritisierten und in welcher Form sie ihre Kritik geäußert haben.

Berater und Verräter Wulfstan, der zunächst Bischof von London war und 1002 Erzbischof von York und Bischof von Worcester wurde, war einer der wichtigsten Berater von König Æthelred und hat maßgeblich an mehreren Gesetzen für ihn mitgewirkt. 37 Seine bekannteste Schrift ist die »Predigt des Wolfs an die Engländer« (Sermo Lupi ad Anglos). 38 In dieser Predigt erhebt der Erzbischof schwere Vorwürfe gegen die Angelsachsen. Der Text enthält mehrere lange Auflistungen von Sünden, die von den Angelsachsen begangen worden sein sollen. Die Dänen werden dagegen als Strafe Gottes für die Sünden der Engländer gedeutet. Ein wesentlicher Kritikpunkt, den Wulfstan an seine Zuhörer richtet, ist die Untreue, wie aus der folgenden Passage hervorgeht: […] fast alle waren betrügerisch und haben andere verraten, sowohl mit Worten als auch mit Taten. Und fast alle verleumden andere mit beschämenden Beleidigungen […]. Deshalb gibt es im ganzen Land große Untreue gegenüber Gott und gegenüber der Welt, und außerdem sind hier im Land solche, die ihren Herrn auf unterschiedliche Art betrogen haben. Und der größte Verrat am Herrn ist, wenn ein Mann die Seele seines Herrn betrügt. Und es ist ebenso ein sehr großer Verrat, wenn man seinen Herrn heimtückisch tötet oder ihn aus dem Land treibt. Beides ist in diesem Land geschehen: Eduard wurde betrogen, getötet und verbrannt und Æthelred wurde aus dem Land getrieben. 39 36 BOLTON, Cnut S. 100 f.; STAFFORD, Queen Emma and Queen Edith S. 7 f. und S. 176–178. 37 Zu Wulfstan zuletzt zusammenfassend RABIN, Political Writings S. 9–16. 38 Lupus (Wolf) ist ein Pseudonym, das Wulfstan verwendete. 39

Wulfstan, Sermo Lupi ad Anglos S. 55–57: »[…] ac mæst ælc swicode and oþrum derede wordes and dæde; and huru unrihtlice mæst ælc oþerne æftan heaweþ mid sceandlican onscytan […].

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Der letzte Satzteil kann natürlich erst geschrieben worden sein, nachdem Æthelred Ende 1013 ins normannische Exil gegangen war. Es sind deshalb – und auch aus anderen Gründen – verschiedene Vorschläge für eine Datierung der Predigt gemacht worden, die in drei verschiedenen Fassungen überliefert ist. 40 Diese Diskussion kann hier unberücksichtigt bleiben, weil die längste Fassung, aus der das angeführte Zitat stammt, in jedem Fall vor der dänischen Eroberung entstanden ist. Sonst ergäbe es keinen Sinn, die skandinavischen Raubzüge als göttliche Strafe für das sündige Verhalten der Angelsachsen zu deuten und gleichzeitig am Ende der Predigt zur Umkehr aufzurufen, um das Schlimmste zu verhindern. Damit soll nicht gesagt werden, dass andere Versionen der Predigt, die die Hinweise auf die Däneneinfälle auslassen, nicht auch nach der Eroberung vorgetragen worden sein könnten, als Kritik an den herrschenden Zuständen ist die Predigt aber in jedem Fall bereits zur Herrschaftszeit von Æthelred entstanden. Die Inspiration für eine Passage am Ende der Predigt in der längsten Fassung erhielt Wulfstan dabei offensichtlich aus den Briefen Alkuins. Der Angelsachse am Hof Karls des Großen stand im Briefkontakt mit Bischöfen und Königen seiner Heimat. Seine Briefsammlung ist unter anderem in einer Handschrift vom Beginn des 11. Jahrhunderts erhalten, die offensichtlich im Auftrag von Wulfstan angefertigt wurde. 41 Wie Gareth Mann plausibel machen konnte, stammen viele Anstreichungen in dieser Briefsammlung von Wulfstan selbst. 42 In einem Brief an Erzbischof Æthelhard von Canterbury (793–805) ist eine Passage unterstrichen, in der Alkuin an den britischen Geschichtsschreiber Gildas erinnert, der schon im 6. Jahrhundert seine (christlichen) Landsleute aufrief, zum rechten Glauben zurückzukehren, um die Vertreibung durch die (heidnischen) Angelsachsen noch abzuwenden. 43 Diese

Forþam her syn on lande ungetrywþa micle for Gode and for worolde, and eac her syn on earde on mistlice wisan hlafordswican manege. And ealra mæst hlafordswice se bið on worolde þæt man his hlafordes saule beswice; and ful micel hlafordswice eac bið on worolde þæt man his hlaford of life forræde, oððon of lande lifiendne drife; and ægþer is geworden on þysan earde: Eadweard man forrædde and syððan acwealde and æfter þam forbærnde, and Æþelred man dræfde ut of his earde.« 40 Siehe LIONARONS, Homiletic Writings S. 152–160, für eine ausführliche Zusammenfassung der verschiedenen Datierungen sowie ihren eigenen Ansatz; vgl. ROACH, Æthelred S. 279–281. 41 MANN, Development. 42 Siehe dazu insbesondere MANN, Development S. 245, Anm. 26. 43 Alcvini Epistolae, Nr. 17, S. 47; Two Alcuin letter-books, ed. Chase, Nr. 10, S. 74. Zur Unterstreichung durch Wulfstan siehe MANN, Development S. 245 f.; vgl. ROACH, Æthelred S. 283. Die Handschrift Cotton Vespasian A.XIV liegt als Digitalisat vor; die entsprechende Passage findet sich auf fol. 146r: http://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=cotton_ms_vespasian_a _xiv_f146r.

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Passage hat Wulfstan ins Altenglische übersetzt und in seinen Sermo Lupi übernommen. 44 Wulfstan misst in seiner Predigt der Treulosigkeit und dem Verrat einen hohen Stellenwert bei, wie der folgende Abschnitt zeigt, der kurz nach der oben zitierten Passage zu finden ist: Wir wissen auch von dem Verbrechen, dass ein Vater seinen Sohn für einen bestimmten Wert verkauft hat, und ein Sohn seine Mutter, und ein Bruder gab einen anderen in die Gewalt von Fremden; und all dies sind schwere und schreckliche Vergehen […]. Und doch gibt es mehr und mannigfaltige Dinge, die dieses Land schädigen: Viele sind meineidig und außerordentlich verlogen, und Eide werden oft und immer wieder gebrochen […]. 45

Die Lügen und Eidbrüche werden hier besonders hervorgehoben und als noch schlimmeres Vergehen eingeordnet als der Verkauf von Verwandten. Der Vorwurf der Untreue, den die Æthelred-Annalen dem angelsächsischen Adel machen, wurde also auch schon während der Herrschaftszeit von Æthelred erhoben.

Kritik am König Neben dem Adel stand auch der König selbst in der Kritik. Hierfür lässt sich ebenfalls ein Beispiel aus einem von Wulfstans Texten anführen, genauer aus 44

Wulfstan, Sermo Lupi ad Anglos S. 65–66: »An þeodwita wæs on Brytta tidum, Gildas hatte, se awrat be heora misdædum, hu ny mid heora synnum swa oferlice swyþe God gegræmedan þæt he let æt nyhstan Engla here heora eard gewinnan and Brytta dugeþe fordon mid ealle. And þæt wæs geworden, þæs þe he sæde, þurh ricra reaflac and þurh gitsunge wohgestreona, þurh leode unlaga and þurh wohdomas, þurh biscopa asolcennesse and þurh lyðre yrhðe Godes bydela, þe soþes geswugedan ealles to gelome and clumedan mid ceaflum þær hy scoldan clypian. Þurh fulne eac folges gæslan und þurh oferfylla and mænigfealde synna heora eard hy forworhtan and selfe hy forwurdan.« – »Zur Zeit der Briten gab es einen weisen Mann, der Gildas hieß und über ihre Missetaten schrieb, wie sie durch ihre Sünden Gott so sehr verärgerten, dass er schließlich dem Heer der Engländer erlaubte, ihr Land zu erobern und alle Tugend der Briten völlig zu zerstören. Und dies kam, wie er sagte, durch Räubereien der Mächtigen und durch die Gier nach unrechtmäßigem Gewinn, durch die Gesetzlosigkeit des Volkes und durch ungerechte Urteile, durch die Untätigkeit der Bischöfe und durch die üble Feigheit von Gottes Predigern, die die Wahrheit verschwiegen und viel zu oft mit ihren Kiefern murmelten anstatt laut zu rufen. Durch den üblen Stolz der Menschen und durch Maßlosigkeit und zahllose Sünden verwirkten sie ihr Land und gingen selbst unter.« 45 Wulfstan, Sermo Lupi ad Anglos S. 58: »Eac we witan georne hwær seo yrmð gewearð þæt fæder gesealde bearn wið weorþe, and bearn his modor, and broþor sealde oþerne fremdun to gewealde; and eal þæt syndan micle and egeslice dæda […]. And gyt hit is mare and eac mænigfealdre þæt dereð þysse þeode: mænige synd forsporene and swyþe forlogene, and wed synd tobrocene oft and gelome […].«

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einer Sammlung von Texten, die in der Forschung meist unter dem irreführenden Titel »Institutes of Polity« firmieren. In einer Reihe von kurzen Texten, die sich in verschiedenen, mit Wulfstan in Verbindung gebrachten Handschriften finden, 46 nimmt der Erzbischof die Pflichten der Menschen für die christliche Gesellschaft in den Blick, angefangen beim König über geistliche und weltliche Amtsträger bis hin zu einfachen Laien. Die Texte lassen sich nicht eindeutig datieren, weshalb es nicht sicher ist, ob einzelne Passagen aus der Herrschaftszeit von Æthelred stammen oder erst zur Zeit von Knut entstanden sind. Wulfstan ist dafür bekannt, dass er seine Schriften häufig überarbeitet, immer wieder umgestaltet und auch neu zusammengesetzt hat. Für die Texte, die mit der Bezeichnung »Institutes of Polity« zusammengefasst werden, heißt das: Wir wissen nicht, ob Wulfstan ein zusammenhängendes Werk fertiggestellt hat, und wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt darauf hingearbeitet hat. 47 Unabhängig von dieser problematischen Überlieferungslage lassen sich einzelne Passagen finden, die die Aufgaben des Königs zum Thema haben. In einem Text »Über den König« (Be cyninge) heißt es: Durch eines Königs Weisheit wird ein Volk glücklich, erfolgreich und siegreich. Und daher soll ein weiser König das Christentum und das Königtum stärken und ihm Ansehen verleihen, und immer soll er das Heidentum unterdrücken und der Verachtung preisgeben. 48

In der Handschrift Junius 121 wird diesen beiden Sätzen noch ein weiterer vorangestellt: Durch einen törichten König wird ein Volk sehr oft, nicht nur einmal, unglücklich gemacht durch seine schlechte Führung. 49 46

Insofern ist die Unterscheidung von JOST in zwei Fassungen irreführend, denn in keiner der fünf Handschriften, die Teile der Institutes of Polity enthalten, ist ein zusammenhängender, fortlaufender Text zu finden. Zwischen den einzelnen Texten, die zu den Institutes of Polity gerechnet werden, stehen andere Texte wie Auszüge aus Rechtsverordnungen oder Predigten, die nicht zur Polity gerechnet werden. Die Handschriften sind: British Library, Cotton Nero A.I; British Library, Cotton Tiberius A.III; Cambridge, Corpus Christi College, MS. 201; Cambridge University Library, MS. Add. 3206; Oxford, Bodleian Library, Junius 121. Vgl. die Zusammenstellung bei JOST, Institutes of Polity S. 8–15; vgl. ferner TRILLING, Sovereignty S. 62 f. 47 Vgl. TRILLING, Sovereignty S. 64: »[…] both the manuscript contexts and the extracts themselves indicate a collection of related ideas rather than a cohesive, planned composition.« RABIN, Political Writings S. 101 f., folgt im Wesentlichen der Unterscheidung von JOST, Institutes of Polity, und datiert I Polity auf ca. 1008–1016 sowie II Polity auf 1020–1023. 48 JOST, Institutes of Polity S. 47 (I Pol. 11–12/II Pol. 14–15): »Þurh cyninges wisdom folc wyrð gesælig and gesundful and sigefæst. And ðy sceal wis cyning cristendom and cynedom miclian and mærsian, and á he sceal hæþendom hindrian and hyrwan.« 49 JOST, Institutes of Polity S. 47 (II Pol. 13): »Þurh unwisne cyning folc wyrð geyrmed for oft, næs ǣne, for his misrǣde.« Der Text ist in dieser Handschrift mit Be eorðlicum cyninge (Über den

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Das scheint mir Kritik an den Zuständen zur Zeit von Æthelred zu sein, denn die Aussage des Textes, dass ein König weise und umsichtig herrschen soll, wird auch ohne diese vorgeschaltete Ergänzung deutlich. Es lässt sich allerdings nicht feststellen, wann Wulfstan diese Passage überarbeitet und den Satz mit der Kritik am König eingefügt hat; es ist durchaus möglich, dass er es erst nach der dänischen Eroberung tat. Zeitgenössische Kritik an König Æthelred hat es aber ebenfalls gegeben. Neben Wulfstan, auf den ich später zurückkommen werde, ist vor allem Ælfric zu nennen, der unter Bischof Æthelwold (963–984) in Winchester ausgebildet wurde. 50 Nachdem er Mönch und Priester geworden war, wurde er um 987 auf die Bitte des Thegns Æthelmær in das Kloster Cerne in Dorset geschickt. Spätestens 1005 wurde er Abt des Klosters Eynsham in der Nähe von Oxford, einer Neugründung durch Æthelmær. Die Umstände dieser Neugründung sind ungewöhnlich, denn Æthelmær, der über seinen Vater, den Ealdorman Æthelweard, mit der Königsfamilie verwandt war, fiel um 1005 wahrscheinlich der sogenannten Palastrevolution zum Opfer. 51 Er verbrachte daraufhin einige Jahre selbst in Eynsham. Ælfric könnte in dieser Zeit also auch deshalb kritische Töne gegenüber Æthelred angeschlagen haben, weil sein Förderer Æthelmær seinen Einfluss im Umfeld des Königs eingebüßt hatte. 52 Ælfric hat eine Reihe von Predigten und Heiligenleben geschrieben, in denen er immer wieder auf die aktuellen Umstände seiner Zeit verwies. In einem seiner Texte, der unvollständig überliefert ist und meist Wyrdwriteras genannt wird, diskutiert er die Frage, ob ein König seine Truppen selbst in die Schlacht führen oder stattdessen auf zuverlässige Anführer zurückgreifen sollte. 53 Er zieht unter anderem Könige aus dem Alten Testament heran, um die militärische Hilfe, die sie in Anspruch nahmen, zu verdeutlichen: Geschichtsschreiber, die von Königen berichten, erzählen uns, dass die alten Könige in früheren Zeiten überlegten, wie sie ihre Last erleichtern könnten, denn ein einzelner Mann kann nicht überall sein und alle Dinirdischen König) überschrieben, weil er auf einen kurzen Text »Über den himmlischen König« (Be heofonlicum cyninge) folgt; vgl. JOST, Institutes of Polity S. 39–41. 50 Zu Ælfric allgemein: GODDEN, Ælfric; HILL, Ælfric, bes. S. 35–38 und S. 60 f. 51 Zur »Palastrevolution« siehe KEYNES, Diplomas S. 209–213; ROACH, Æthelred S. 203–215; vgl. HILL, Ælfric S. 90 f.; zu Æthelweard siehe WORMALD, Æthelweard. 52 Vgl. UPCHURCH, A Big Dog Barks S. 532: »It would seem then that Abbot Ælfric recognized around 1005 what a chronicler saw at the end of Æthelred’s reign or shortly thereafter: that a lack of cohesiveness among the ruling class, not poor policy, was to hamstring the king and, ultimately, the nation. While Ælfric does not, indeed could not, level such an accusation at the king as the chronicler does, he finds his mark close to the center in the witan and their spiritual leaders.« ROACH, Æthelred S. 215: »It is […] interesting to note that the tone of Ælfric’s writings becomes distinctly darker during his Eynsham years.« Siehe aber auch unten, Fußnote 68. 53 Ælfric, Homilies, ed. Pope, II, Nr. XXII, S. 725–733.

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ge auf einmal ertragen, auch wenn er die alleinige Herrschaft hätte. Da setzten die Könige zu ihrer Unterstützung Ealdormen unter sich und sandten sie oft zu vielen Gegnern, wie es geschrieben ist in heidnischen Büchern und in der Bibel; […] die Könige selbst aber blieben zu Hause, beschäftigt mit anderen Sorgen zum Nutzen ihres Volkes. 54

Während Simon Keynes und Pauline Stafford darin eine Verteidigung von Æthelreds Vorgehensweise sahen, die Führung seiner Heere anderen zu überlassen, 55 hat Mary Clayton in Wyrdwriteras eine Kritik an dieser Praxis festgestellt, weil Ælfric die Auswahl der richtigen Heerführer als gutes Beispiel anführt und damit implizit die Auswahl, die Æthelred getroffen hat, kritisiert haben könnte. 56 Diese Kritik ist sehr indirekt, aber in anderen Texten wird Ælfric deutlicher. In seiner vor 998 verfassten Predigt De Oratione Moysi gibt er beispielsweise eine Rede Gottes an Mose wieder: Und wenn du immer noch nicht umkehren wirst, werde ich dir ein Schwert senden, und deine Feinde werden dich schlagen und sie werden dein Land grausam verwüsten, und deine Städte werden zerstört und verwüstet. Ich werde auch Feigheit in eure Herzen senden, so dass keiner von euch es wagen wird, euren Feinden zu widerstehen. So sprach Gott vor langer Zeit zum Volk Israel, aber das ist das, was uns in letzter Zeit deutlich erkennbar beinahe widerfahren ist. 57

Mit dem letzten Satz bezieht Ælfric Gottes Worte unmittelbar auf seine eigene Zeit und kritisiert die Feigheit der Angelsachsen sowie ihre Unfähigkeit, sich militärisch gegen die Einfälle der Skandinavier zur Wehr zu setzen. 58 54

Ælfric, Homilies, ed. Pope, II, Nr. XXII, S. 728: »Wyrdwriteras us secgað, ða ðe awritan be cyningum, þæt þa ealdan cyningas on ðam ærran timan hogodon hu hi mihton heora byrðena alihtan, for þan ðe an man ne mæg æghwar beon, and ætsomne ealle þing aberan, þeah ðe he anweald hæbbe. Ða gesetton þa cyningas, him sylfum to fultume, ealdormen under him, and hi oft asendon to manegum gewinnum, swa swa hit awriten is ge on hæþenum bocum ge on Bibliothecan […].« – S. 731: »and ða cyningas sæton him sylfe swaðeah æt ham ymbe oðre bysga heora leodum to þearfe.« Der Begriff »ealdormen«, der von Ælfric hier anachronistisch gebraucht wird, wird im 10. und frühen 11. Jahrhundert für die regionalen Repräsentanten des angelsächsischen Königs und damit die oberste Ebene des angelsächsischen Adels verwendet. 55 KEYNES, Diplomas S. 206–208; STAFFORD, Unification S. 14. 56 CLAYTON, Ælfric and Æthelred S. 82–86; vgl. CROSS, Byrhtferth’s Historia regum S. 70 f.; LAWSON, Archbishop Wulfstan S. 572, Anm. 3. 57 Ælfric, Lives of Saints, ed. Skeat, no. XIII, S. 294–296: »And gif ge þonne git nellað eow wendan to me. ic sende eow swurd to and eow sleað eowre fynd. and hi þonne awestað wælhreowlice eower land. and eowre burga beoð to-brocene and aweste. Ic asende eac yrhðe Into eowrum heortum. þæt eower nan ne dear eowrum feondum wið-standan. Þus spræc god gefyrn be þam folce israhel. hit is swa ðeah swa gedón swyðe neah mid us. nu on niwum dagum and undigollice.« Zur Datierung siehe HILL, Ælfric S. 56–58. 58 Vgl. GODDEN, Apocalypse S. 133–137.

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Während Ælfric in Wyrdwriteras argumentiert, dass der König nicht selbst kämpfen, sondern gute Heerführer auswählen und sich ansonsten um seine anderen Aufgaben kümmern soll, entwirft er in anderen Texten das Ideal eines entschieden kämpfenden Königs. Einer dieser Texte ist die um 995 angefertigte altenglische Übersetzung von De duodecim abusivis (Über zwölf Missbräuche). Die lateinische Grundlage, die im 7. Jahrhundert in Irland entstanden ist, war sehr weit verbreitet und ist in mehr als vierhundert Handschriften erhalten. 59 Der neunte Missbrauch handelt vom ungerechten König (rex iniquus). Dieser Abschnitt hatte großen Einfluss auf die Idee von den christlichen Pflichten des Königs, nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent. 60 Mary Clayton hat Ælfrics Übersetzung einer ausführlichen Analyse unterzogen und geht davon aus, dass sie für die angelsächsische Elite bestimmt war, die eine wichtige Rolle in der Führung der Gesellschaft einnahm. 61 Ælfric hat den Text in seiner Übersetzung gekürzt und vereinfacht – das trifft auch auf den Abschnitt zum rex iniquus zu. Dabei ist die folgende Passage seinem Rotstift nicht zum Opfer gefallen: Weise Männer sollen [den König] beraten und er soll nicht ärgerlich werden. Er soll immer Gottes Klöster schützen und die Armen speisen und entschlossen gegen angreifende Heere kämpfen und sein Land beschützen. Er soll ehrliche Männer als Vögte einsetzen […]. 62

Erneut wird die Auswahl der richtigen Berater angesprochen, der König selbst aber soll sein Land schützen und in den Kampf führen, er trägt letztlich die Verantwortung. 63 Noch deutlicher wird Ælfric in einem Brief, den er an den Ealdorman Sigeweard richtete, auch wenn der König dabei nicht direkt genannt wird. In diesem Brief, der vermutlich 1006 oder später geschrieben wurde, 64 kommentiert Ælfric einige Schriften aus dem Alten und Neuen Testament, darunter die Taten der Makkabäer: 59 CLAYTON, Two Ælfric Texts S. 34–52; CLAYTON, De Duodecim Abusiuis S. 142 f. 60

CLAYTON, Two Ælfric Texts S. 52–56 zum Einfluss auf England; CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 113 f.; CLAYTON, De Duodecim Abusiuis S. 141. 61 CLAYTON, Two Ælfric Texts S. 70: »Even though the vernacular, like the Latin, deals with all sections of society, there are distinct indications that the primary audience that Ælfric had in mind was one of powerful, wealthy, devout men, who had an important role in guiding society, and that his treatment of some of the abuses was influenced by his awareness of this audience.« 62 CLAYTON, Two Ælfric Texts S. 128: »Witan him sceolon rædan and he ne sceal beon weamod. Godes mynstra he sceal mundian æfre, and fedan þearfan, and fæstlice winnan wið onsigendne here, and healdan his eðel. He sceal soðfæste men settan him to gerefan […]«; vgl. ebd. S. 129: »Wise men must advise him and he must not be prone to anger. He must always protect God’s churches and feed the poor and fight resolutely against an attacking army and guard his country. He must appoint honest men as his reeves […].« 63 Vgl. CLAYTON, De Duodecim Abusiuis S. 160 f.; ROACH, Æthelred S. 113 f. 64 GODDEN, Apocalypse S. 141 f.; vgl. HILL, Ælfric S. 63 f.

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Sie kämpften erbittert mit Waffen gegen das heidnische Heer […]. Dann kämpfte Mathathias, der große Thegn Gottes, mit seinen fünf Söhnen gegen das Heer viel häufiger als du glauben wirst, und sie gewannen den Sieg durch den wahren Gott, an den sie glaubten nach dem Gesetz des Mose. Sie wollten nicht nur mit schönen Worten kämpfen, so dass sie wohl sprachen, sich aber hinterher abwandten […]. 65

Ælfric lässt Makkabäus, einen der Söhne von Mathathias, anschließend in direkter Rede Hilfe von Gott erbitten, um den Gegner zu besiegen, und fährt fort: Dann erfüllte Makkabäus diese Worte mit mächtigen Taten und überwand seinen Feind, und deshalb wurden seine siegreichen Taten in zwei Büchern der Bibel aufgezeichnet zur Ehre Gottes, und ich übersetzte sie ins Englische; lies sie, wenn du willst, als Ratschlag für euch selbst. 66

Ælfric spielt offensichtlich darauf an, dass das Versprechen zu kämpfen in seiner eigenen Zeit in England nicht eingehalten wurde. Auch wenn Makkabäus hier nicht als cyning (König) bezeichnet wird, ist er im Rahmen der Handlung doch als Anführer zu erkennen und damit als ein konkretes Vorbild für einen König, der sein Land gegen Feinde verteidigen muss. Die Kritik richtet sich demnach an Æthelred, ohne dabei die Verantwortung des angelsächsischen Adels negieren zu wollen. 67 Der pointierteste Aufruf an den König, nicht nur die Verantwortung zu übernehmen, sondern persönlich zu handeln, findet sich in einer Predigt für den Sonntag nach Christi Himmelfahrt, für die Ælfric erneut den Abschnitt zum rex iniquus verwendet hat. 68 Zunächst werden auch hier die weisen Berater genannt, mit denen sich der König umgeben soll. Ebenso wird von ihm 65

Ælfric, Libellus S. 217: »[…] hig wunnon mid wæmnum þa swiðe wið þone hæðenan here […]. Hwæt þa Mathathias, se mæra Godes ðegen, mid his fif sunum, feaht wið þone here miccle gelomlicor ðonne þu gelyfan wylle. And hig sige hæfdon þurh þone soðan God þe hig on gelyfdon æfter Moyses æ. Hig noldon na feohtan mid fægerum wordum anum, swa þæt hi wel spræcon, and awendon þæt eft […].« Das altenglische ðegen/þegn (Thegn) lässt sich nur schwer übersetzen; es beschreibt einen königlichen Gefolgsmann, wobei sich Ansehen und Wohlstand erheblich voneinander unterscheiden konnten. 66 Ælfric, Libellus S. 218: »Machabeus þa gefylde ðas foresædan word mid stranglicum weorcum and oferwann his fynd, and sint forði gesette his sigefæstan dæda on þam twam bocum on bibliothecan, Gode to wurðmynte. And ic awende hig on Englisc and rædon gif ge wyllað, eow sylfum to ræde.« 67 SHEPPARD, Families S. 81–85, liest dagegen aus den meisten von Ælfrics Schriften, vor allem aus seiner Übersetzung von De duodecim abusivis, aus dem Brief an Sigeweard und aus Wyrdwriteras, das Ideal eines Königs, der nicht selbst an den Kampfhandlungen teilnehmen sollte. 68 Ælfric, Homilies, ed. Pope, I, Nr. IX, S. 372–392; vgl. CLAYTON, Ælfric and Æthelred S. 80–82. Der Text entstand vermutlich kurz bevor Ælfric Abt in Eynsham wurde, wie Pope in seiner Edition vermutet (I, S. 333). Daher lässt sich die Kritik am König, die Ælfric zumindest indirekt übte, nicht nur in seiner Zeit als Abt finden.

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gefordert, sein Volk gegen angreifende Heere zu schützen, und schließlich heißt es: Jeder König ist heilig, der Gottes Volk schützt und mit Liebe lenkt, nicht mit Grausamkeit, […] und der auch willens ist, sollte eine solch große Not bestehen, sein eigenes Leben zu geben für den Nächsten zum Schutz seiner Leute, so wie der Heiland sich selbst für uns gab […]. 69

Die persönliche Verantwortung des Königs wird hier noch einmal in gesteigerter Form angesprochen und mit dem Tod Christi parallelisiert. Die Zurückhaltung des Königs, selbst auf das Schlachtfeld zu ziehen, scheint auch von anderen thematisiert worden zu sein. Darauf deuten jedenfalls zwei Charakterisierungen Alfreds des Großen, der sich am Ende des 9. Jahrhunderts ebenfalls Angriffen von Skandinaviern ausgesetzt sah. In der altenglischen Lebensbeschreibung des heiligen Neot, die vermutlich in den ersten beiden Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts entstanden ist, wird Alfreds Begegnung mit einem skandinavischen Heer folgendermaßen beschrieben: »[…] er flüchtete sofort erschrocken und verließ all seine Kämpfer und seine Anführer und all sein Volk, seine Schätze und Schatztruhen, und schützte sein Leben.« 70 Während hier eine mögliche Kritik an den Zuständen der eigenen Zeit auf die erste Eroberungswelle der Skandinavier übertragen wird, deutet Byrhtferth von Ramsey 71 den König positiv. In seiner Historia regum hat er Assers Vita Alfreds des Großen verarbeitet und dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die Aufgabe des Königs gelegt, seine Truppen selbst in die Schlacht zu führen, wie Katherine Cross zeigen konnte. Sie liest die Historia regum, die sie ans Ende von Æthelreds Herrschaftszeit datiert, als Text, der Loyalität unter den Angelsachsen und Widerstand gegen die Dänen hervorrufen sollte. 72 Auch wenn Æthelred am Ende seiner Herrschaft möglicherweise eher bereit war, selbst in den Kampf zu ziehen, konnte er die militärische Niederlage gegen Sven Gabelbart nicht verhindern, so dass er sich am Ende des Jahres 1013 ins Exil in die Normandie zurückzog. Nachdem Sven im Februar 1014 überraschend gestor-

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Ælfric, Homilies, ed. Pope, I, Nr. IX, S. 381: »Ælc cyning bið hálig þe gehylt Godes folc, and mid lufe gewissað, ná mid wælhreownysse, […] and wyle éac syllan, gif hit swa micel néod bið, his agen líf æt nextan for his leode ware, swa swa se Hælend sealde hine sylfne for ús […].« Vgl. CLAYTON, Ælfric and Æthelred S. 81. 70 Old English Life of Seinte Neote S. 132: »he sone forfyrht fleames cepte, and his cæmpen ealle forlet, and his hertogen, and eall his þeode, madmes and madmfaten, and his life gebearh.« Vgl. CROSS, Heirs of the Vikings S. 135; zur Datierung ebd. S. 224 f. 71 Grundlegende Informationen bei LAPIDGE, Byrhtferth. 72 CROSS, Byrhtferth’s Historia regum, bes. S. 68–71 und S. 76: »[…] we should attribute Byrhtferth’s Historia regum to the latter part of Æthelred’s reign, as a text intended to provoke loyalty among the English and resistance to the Danes.«

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ben war, haben die angelsächsischen Großen erwogen, Æthelred wieder zurückzuholen. In der Angelsächsischen Chronik heißt es dazu: Dann bestimmten [oder: empfahlen] alle witan, die in England waren, sowohl Geistliche als auch Laien, nach König Æthelred zu schicken, und erklärten, dass ihnen kein Herr lieber wäre als ihr natürlicher [oder: einheimischer] Herr – falls er sie gerechter regieren würde als zuvor. Darauf schickte der König seinen Sohn Eduard hierher mit Gesandten und bat sie, sein ganzes Volk zu grüßen, und sagte, dass er ein gnädiger Herr sein und alle Dinge verbessern werde, die sie alle verabscheuten; und alles, was gegen ihn getan oder gesagt worden sei, solle vergeben werden unter der Bedingung, dass alle sich ihm einmütig und ohne Verrat zuwenden. Da wurde vollständige Freundschaft geschlossen mit Eid und Schwur auf beiden Seiten […]. 73

Das Thema der Untreue des Adels gegenüber dem König kommt hier, wie auch sonst in den Æthelred-Annalen, wieder zur Sprache, denn Æthelred soll die Loyalität ihm gegenüber eingefordert haben. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die witan ebenfalls Bedingungen stellten: Æthelred sollte eine gerechtere Herrschaft ausüben als bisher. Das heißt im Umkehrschluss, dass zumindest Teile des angelsächsischen Adels nicht mit der Art und Weise einverstanden waren, wie Æthelred seine Herrschaft ausgeübt hatte. 74 Der Autor der Æthelred-Annalen gibt hier möglicherweise nicht seine eigene Meinung wieder, denn er formuliert in indirekter Rede 75 und betont, dass alle weltlichen und geistlichen Ratgeber des Königs die Entscheidung getroffen hätten. Mit der Rückholung Æthelreds und der gegenseitigen Eidesleistung ist ein Text in Verbindung gebracht worden, der hier ebenfalls von Interesse ist: Es handelt sich um die altenglische Übersetzung der Promissio regis, also eines Versprechens, das der König während der Krönungszeremonie gab. Erstmals belegt ist dieses Versprechen, das auch als Krönungseid bezeichnet wird, in 73

ASC (CDE) 1014: »Ða

geræddon þa witan ealle þa on Engla lande wæron, gehadode and læwede, þæt man æfter þam cyninge Æþelrede sende, and cwædon þæt him nan hlaford leofra nære þonne hiora gecynda hlaford, gif he hi rihtlicor healdan wolde þonne he ær dyde. Þa sende se cyning his sunu Eadweard hider mid his ærendracum and het gretan ealne his leodscype and cwæð þæt he him hold hlaford beon wolde and ælc þæra ðinga betan þe hi ealla ascunodon, and ælc þara ðinga forgyfen beon sceolde þe him gedon oþþe gecweden wære, wið þam ðe hi ealle anrædlice butan swicdome to him gecyrdon; and man þa fulne freondscipe gefæstnode mid worde and mid wedde on ægþre healfe […].« (C, S. 98 f.). 74 Vgl. LAWSON, Archbishop Wulfstan S. 571: »This passage is of crucial importance suggesting […] that Æthelred – not euphemistic bad counsel – was by this time held personally responsible for injustice and hateful practices […].« 75 Vgl. KONSHUH, Anraed S. 144, die in Bezug auf die Stelle in ASC 1014 meint, dass diese Aussage nicht die Meinung des Autors widerspiegelt, sondern auf die witan zurückgeht (»reported speech«).

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einer überarbeiteten Version des sogenannten zweiten englischen Krönungsordo. Der Ordo, der den Ablauf, die Gebete und Handlungen einer Königskrönung wiedergibt, wurde in dieser Form vermutlich um 960 verfasst. 76 Bei der Promissio regis handelt es sich um ein dreifaches Versprechen, das der König vor der Weihe ablegen musste: Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit verspreche ich dem christlichen Volk, das mir untergeben ist, drei Dinge: Erstens, dass Gottes Kirche und das gesamte christliche Volk in meinem Herrschaftsgebiet Frieden wahren; zweitens, dass ich Personen jeglichen Ranges Räuberei und alles Unrechte verbiete; drittens, dass ich bei jedem Urteil Recht und Barmherzigkeit verspreche und anordne, so dass der gütige und barmherzige Gott, der lebt und herrscht, uns allen deshalb seine ewige Gnade gewähren möge. 77

Dieses Versprechen ist recht allgemein gehalten und an sich nicht außergewöhnlich – es findet sich in ähnlicher Form auch in kontinentalen Krönungsordines. 78 Dadurch, dass man dem zukünftigen König das Versprechen noch vor der Salbung abnahm, versuchten der Adel und insbesondere die Geistlichen, die für den Ordo zuständig waren – allen voran die Bischöfe –, die Eignung des Königs noch vor seiner Einsetzung festzustellen und damit mehr Einfluss auf die Herrschaft (oder zumindest die Auswahl) des Königs zu nehmen. Dieser Versuch lässt sich auf die Zeit um 960 datieren, als der zweite englische Ordo überarbeitet wurde. Die altenglische Übersetzung der Promissio regis hat eine kurze Einleitung, die einige Hinweise auf den Entstehungskontext liefert. Es heißt dort: »Dieses Dokument ist Buchstabe für Buchstabe in Übereinstimmung mit dem Dokument geschrieben, das Erzbischof Dunstan unserem Herrn in Kingston an dem Tag gab, als er zum König gesalbt wurde.« 79 Damit kommen theoretisch drei Könige in Betracht, nämlich die drei, die Dunstan, Erzbischof von Canterbury, 76

NELSON, The second English Ordo S. 370 f. Es handelt sich um den zweiten englischen Ordo in der Version B, die möglicherweise auf Veranlassung von Bischof Æthelwold von Winchester zu Beginn von Edgars alleiniger Regierung Anfang der 960er Jahre entstanden ist. 77 CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 148: »On þære halgan þrynnesse naman. Ic þreo þing behate cristenum folce. and me underðeoddum; An ærest þæt godes cyrice and eall cristen folc minra gewealda soðe sibbe healde., Oðer is þæt ic reaflac and ealle unrihte þing. eallum hadum forbeode. Þridde þæt ic behate and bebeode on eallum dómum riht and mildheortnesse. þæt us eallum arfæst and mildheort god þurh þæt. his ecean miltse forgyfe. Se lyfað and rixað.«; vgl. LIEBERMANN, Gesetze S. 214–217. 78 BÜTTNER, Weg zur Krone S. 108–111; NELSON, Kingship, bes. S. 251–263 [im Nachdruck S. 143–155]. 79 CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 148: »Ðis gewrit is gewriten stæf be stæfe. be þam gewrite þe dunstan arcebisceop sealde urum hlaforde æt cingestune. þa on dæg þa hine man halgode to cinge.«

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gesalbt haben könnte: Edgar, der von 959 bis 975 regierte, Eduard der Märtyrer, der von 975 bis 978 König war, und Æthelred, der 979 zum König gesalbt wurde. Die altenglische Übersetzung des Krönungsversprechens muss demzufolge zwischen 960 und 1016 entstanden sein, denn zum einen wurde Dunstan erst 960 Erzbischof von Canterbury und kann vorher keinen König gesalbt haben, zum anderen ist von dem gesalbten König als »unser Herr« die Rede – er muss zum Zeitpunkt der Abfassung also noch gelebt haben. In der altenglischen Übersetzung der Promissio regis folgen nach dem eigentlichen Krönungseid noch zwei weitere Absätze, die als eine Art Ansprache an den König gesehen werden können. Mary Clayton vermutet, dass Wulfstan für diese Abschnitte und damit für die altenglische Version der Promissio regis in der vorliegenden Form verantwortlich ist. Sie bringt den Text mit Æthelreds Rückholung 1014 in Verbindung und mit seinem vorhin genannten Versprechen, von dem die Angelsächsischen Chroniken berichten. 80 Der erste Abschnitt der Ansprache, die auf den Krönungseid folgt, lautet: Der christliche König, der diese Dinge befolgt, wird für sich selbst weltliche Ehre erwerben und der ewige Gott wird Erbarmen mit ihm haben sowohl in diesem Leben als auch im ewigen Leben, das nie enden wird. Falls er nicht erfüllen wird, was er Gott versprochen hat, werden sich die Dinge wenig später verschlimmern in seinem Volk, und am Ende wird das Schlimmste herauskommen, wenn er nicht rechtzeitig Genugtuung leistet, solange er lebt. O geliebter Herr, schütze wenigstens Dich selbst eifrig! Erinnere Dich immer wieder daran, dass Du die Herde, über die Du in diesem Leben als Hirte eingesetzt bist, präsentieren und führen musst und dann erklären musst, wie Du über die geherrscht hast, die Gott selbst bereits mit seinem Blut erkauft hat. 81

Der König wird hier direkt angesprochen und seine Verantwortung für das Volk, das ihm anvertraut ist, wird betont. Es ist sehr gut vorstellbar, dass Æthelred mit dieser Ansprache an sein Versprechen erinnert werden sollte, das er bei seiner Krönung abgegeben hatte. Gleichzeitig werden ihm die Konsequenzen aufgezeigt, die er zu tragen hat, wenn er dieses Versprechen nicht 80

CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 131–145 (zur Autorschaft), S. 145–147 (zur Datierung). 81 CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 148: »Se cristena cyng þe þas þing gehealdeð. he geearnað him sylfum woroldlicne weorðmynt. and him éce god. ægðer gemiltsað. ge on andwerdum life. ge eac on þam ecean þe æfre ne ateorað; Gif he þonne þæt awægð. þæt gode wæs behaten. þonne sceal hit syððan. wyrsian swyðe. sóna on his þeode. and eall hit on ende. gehwyrfð on þæt wyrste. butan he on his liffæce. ær hit gebéte. Eala leof hlaford beorh huruþinga georne þe sylfum. Geþenc þæt gelome þæt þu scealt þa heorde. forð æt godes dome. ywan and lædan. þe þu eart to hyrde gescyft on þysum life. and þonne gecennan hu þu geheolde. þæt crist ær gebohte. sylf mid his blóde.«

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erfüllen sollte. Im letzten Absatz der altenglischen Promissio regis wird der König zudem auf das Jüngste Gericht verwiesen: Die Gerechtigkeit eines gesalbten Königs ist, dass er keinen Menschen [unrechtmäßig?] verurteile, und dass er Witwen, Waisen und Fremde verteidige und schütze; und Diebstahl verbiete; und Ehebrüche korrigiere; und diejenigen trenne, die Inzest begehen; und Hexen ganz und gar verbiete; Zauberei zerstöre; Verwandten-Mörder und Eidbrecher aus dem Land treibe; die Bedürftigen mit Almosen versorge; die Alten und Weisen und Moderaten als Ratgeber habe; und gerechte Männer mit Ämtern betraue; denn für alles, was sie unrechtmäßig tun durch seine Macht, muss er am Tag des Jüngsten Gerichts Rechenschaft ablegen. 82

Bei der Auflistung der Aufgaben des Königs hat sich der Autor, ähnlich wie Ælfric in einigen seiner Texte, an dem neunten Missbrauch über den ungerechten König aus De duodecim abusivis orientiert und einige Formulierungen übernommen, wobei er Kürzungen vornahm und die Reihenfolge umstellte. 83 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Satz über die Ratgeber und Amtsinhaber ans Ende der Liste gesetzt und damit betont wird. Die Auswahl der richtigen Ratgeber, der richtigen Earls, Bischöfe und Äbte wird damit zum Höhepunkt der gerechten Taten eines christlichen Königs. 84 Hier lässt sich erneut indirekte Kritik an Æthelred ausmachen, denn wenn es zutrifft, dass dieser Text dem König bei seiner Rückholung vorgetragen wurde, wird betont, dass er nun die richtigen Männer an die entscheidenden Stellen setzen sollte – und damit ist implizit gesagt, dass er das bisher nicht oder zumindest nicht in ausreichendem Maß getan hat. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Ratgeber, die von den Æthelred-Annalen kritisiert werden, in der altenglischen Promissio regis eher gestärkt. Eine ähnliche Tendenz lässt sich übrigens auch in einem

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CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 149: »Gehalgodes cynges riht is. þæt he nænigne man ne fordeme. and þæt he wuduwan. and steopcild. and ælþeodige werige. and amundige. and stala forbeode. and unrihthæmedu gebete. and siblegeru totwæme. and grundlunga. forbeode. wiccan. and galdra adilige. mægmyrðran and manswaran of earde adrife. þearfan mid ælmyssan fede. and ealde. and wise. and syfre him to geþeahterum hæbbe. and rihtwise mæn him to wicnerum sette. for þan swa hwæt swa hig to unrihte gedoð þurh his aful. he his sceal ealles gescead agyldan on domesdæg.« 83 Der Autor der altenglischen Promissio regis hat vermutlich nicht die Pseudo-Cyprian-Version von De duodecim abusivis benutzt, die Ælfric vorlag, sondern eher die Variante aus der Collectio canonum Hibernensis; siehe dazu CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 95. 113–118. 126–128. 139 f.; vgl. CLAYTON: Two Ælfric Texts S. 55. 84 CLAYTON, Old English Promissio Regis S. 128: »The author of the Old English has here made the clauses relating to advisors and officers of the king the climax of his list, leading into the final statement, which, like the concluding statement of the second section, is concerned with the Last Judgement.«

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Text über die Ratgeber des Volkes (Be ðeodwitan) finden, der zu den »Institutes of Polity« gerechnet wird: Königen und Bischöfen, Grafen und Herzögen, Vögten und Richtern, Schriftkundigen und Gesetzeskundigen geziemt mit Recht in Göttlichem und Weltlichem, dass sie einig werden und Gottes Gesetz lieben. Und die Bischöfe sind Herolde und Lehrer des göttlichen Gesetzes, und sie sollen [das Recht] predigen und das Unrecht verbieten; und wer es verschmäht, auf sie zu hören, habe dafür die Verantwortung vor Gott selbst. 85

Die Bischöfe werden in einem Atemzug mit den Königen genannt, und sie sind es auch, auf die alle – inklusive des Königs – hören sollen, denn nur sie können den Willen Gottes und die himmlische Ordnung – also Godes riht und Godes lage, das göttliche Gesetz, wie Wulfstan es ausdrückt – in richtiger Weise wiedergeben. Sie sind die Verkünder von Gottes Wort, dem sich auch der König zu fügen hat. 86 Damit scheint Wulfstan den geistlichen Beratern, und allen voran den Bischöfen, zu denen er selbst gehörte, mehr Einfluss auf die Herrschaft des Königs sichern zu wollen.

Æthelred: Ein Versager? Die Tatsache, dass man Æthelred 1014 aus dem Exil zurückgeholt und erneut als König akzeptiert hat, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der führende Adel ihn nicht als Versager gesehen hat – ansonsten wäre dieser Schritt nicht zu erklären. Es ist aber ebenso deutlich geworden, dass die Zeitgenossen Æthelred auch einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die Kritik an seiner Herrschaftsweise und seinen Maßnahmen zur Abwehr der Däneneinfälle wurde nicht offen vorgetragen, sondern meist vorsichtig oder indirekt formuliert. Dabei lässt sich bereits ein Vorgriff auf seinen späteren Beinamen erkennen, denn schon zu seinen Lebzeiten war von misræd die Rede, also von schlechtem 85

JOST, Institutes of Polity S. 62 (II Pol. 41–42): -»Cyningan and bisceopan, eorlan and heretogan, gerefan and deman, larwitan and lahwitan gedafenað mid rihte for Gode and for worulde, þæt hi ánræde weorðan and Godes riht lufian. And bisceopas syndon bydelas and Godes lage lareowas, and hi sculan riht bodian and unriht forbeodan: and se þe oferhogige, þæt he heom hlyste, hæbbe him gemæne þæt wið God sylfne.« 86 Vgl. GATES, Preaching S. 115 f.: »If the bishop is to instruct the king in God’s law, and if the king is to legislate in support of God’s law, then it is the bishop who should claim primary authority.« Siehe auch TRILLING, Sovereignty S. 77: »while the king may be responsible for ensuring that justice is carried out in his kingdom, the bishop is ultimately responsible for making sure that the king knows what justice is.« Anders als Trilling denke ich jedoch nicht, dass Wulfstan eine Unterordnung des Königs unter den Bischof im Sinn gehabt hat (ebd.: »In this stricture, the king becomes, however briefly, subordinate to the authority of the bishop.«)

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Rat oder Führungsschwäche. Ælfric benutzt dieses Wort in seiner Predigt für den Montag der Großen Litaneien um den 25. April, in der er auf die Aufgaben verschiedener Gesellschaftsgruppen eingeht. Ein unweiser König, heißt es darin, wird viel Unglück hervorrufen for his misræde. 87 Der Begriff selbst ist mehrdeutig, da er einerseits die schlechte Beratung des Königs durch andere meinen kann, andererseits aber auch die schlechte Führung durch den König selbst. Der Abschnitt handelt allerdings vom König, weshalb die Kritik hier nicht auf die Berater zielt, sondern auf den Herrscher. Mary Clayton hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Begriff misræd als Grund für die Probleme des Königreichs mit Bedacht gewählt ist in einer Zeit, in der der König Æthelred heißt. 88 In ähnlicher Weise hat auch Wulfstan misræd in seinem Text Be eorðlicum cyninge (Über den irdischen König) verwendet, in einer Formulierung, die stark an Ælfric angelehnt ist. 89 Auch dieser Text handelt vom König, misræd meint daher eindeutig »schlechte Führung«. 90 Ælfric und Wulfstan üben also eindeutige Kritik am König, nehmen gleichzeitig aber auch den angelsächsischen Adel in die Verantwortung. Wulfstan setzte sich zudem für eine Stärkung der geistlichen Berater ein. Die Kritik in den Æthelred-Annalen, die um 1020 geschrieben wurden, zielte dagegen eher auf die Berater des Königs als auf den Herrscher selbst. Am Eintrag zum Jahr 1011 lässt sich das anschaulich ablesen: »All dieses Unheil widerfuhr uns durch unræd […].« 91 Unræd lässt sich an dieser Stelle mit »schlechter Rat« oder »unkluger Plan« übersetzen. Hier ist der später gebräuchliche Beiname, der zweifellos auf die Kritik zurückgeht, die in den Æthelred-Annalen insgesamt geübt wurde, bereits klar zu erkennen. Wenige Jahre nach der dänischen Eroberung, die allen deutlich gemacht hat, dass Æthelreds Herrschaft die angelsächsische Niederlage nicht verhindern konnte, wurde aus schlechter Führung schlechte oder fehlende Beratung – aus misræd wurde unræd. Damit soll nicht gesagt werden, dass misræd nicht auch »schlechte Beratung« bedeuten und unræd nicht mit Führungsschwäche in Verbindung gebracht werden kann. Die Begriffe sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen, sie spiegeln aber die Tendenzen der Quellen wider. Die Æthelred-Annalen geben insgesamt der Illoyalität der Adeligen und der Ratge87

Ælfric, CH II, Nr. XIX, S. 183: »And hí beoð geyrmede ðurh unwisne cyning. on manegum ungelimpum. for his misræde;« – »Und sie werden betrübt durch einen unweisen König, durch viele Unglücke, wegen seiner schlechten Führung.« 88 CLAYTON, Ælfric and Æthelred S. 72: »[…] in an England under attack and ruled by a king named Æthelred, to blame the misfortunes of a kingdom on the misræd of the king seems very deliberate.« 89 JOST, Institutes of Polity S. 47 (II Pol. 13); siehe oben, Fußnote 49. 90 So auch die Übersetzung von JOST, Institutes of Polity S. 47. 91 ASC (CDE) 1011: »Ealle þas ungesælða us gelumpon þuruh unrædas […]« (C, S. 95).

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ber des Königs die Schuld, während Æthelred selbst nicht direkt kritisiert wird, sondern allenfalls indirekt, weil er sich mit den falschen Leuten umgeben habe. Diese Sichtweise wurde im 12. Jahrhundert erneut umgedeutet und zum Bild eines ratlosen und nie vorbereiteten Königs verzerrt. Ein halbes Jahrhundert nach der normannischen Eroberung trug dieses Bild dazu bei, den endgültigen Untergang der angelsächsischen Herrschaft zu verarbeiten. Erst die Historiographen des 12. Jahrhunderts, die Æthelreds Herrschaft in dieser Weise umgedeutet haben, machten Æthelred zum Versager.

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Vom Verraten und Beraten

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João Vicente de Medeiros Publio Dias Nikephoros III. Botaneiates (1078–1081) Der konstruierte Versager

1. Einführung Kaiser Nikephoros III. Botaneiates (reg. 1078–1081) ist sicherlich keiner der bekanntesten byzantinischen Herrscher. Seine Regierung wird normalerweise nur als ein Präludium zur zwar bedeutenden, doch gleichzeitig umstrittenen Herrschaft des Alexios I. Komnenos (reg. 1081–1118) angesehen. Im Gegensatz dazu wird jene des Kaisers Nikephoros III. von der modernen Forschung eher negativ beurteilt, wenn sie denn überhaupt Berücksichtigung findet. Tatsächlich befand sich Byzanz gegen Ende des 11. Jahrhunderts aufgrund von politischen Wirren, Bürgerkriegen und Invasionen aus drei verschiedenen Richtungen in einer sehr schwierigen Lage, der sich die damals herrschenden Kaiser zu stellen hatten. 1 Nikephoros III. war gemäß der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, aber auch der heutigen Forschung zufolge, der falsche Mann zur falschen Zeit. Er habe aufgrund seiner Schwäche und seines Leichtsinns alles schlechter als seine Vorgänger gemacht und zudem kein richtiges politisches Programm besessen. So wird im Oxford Dictionary of Byzantium die Herrschaft des betagten Botaneiates als ineffektiv charakterisiert. Er habe sich politisch ganz auf seine freigelassenen Sklaven Borilos und Germanos sowie auf Isaakios und Alexios Komnenos verlassen. Zudem habe ihn seine extravagante Freigebigkeit seinen Beratern gegenüber gezwungen, die Gehälter der Beamten zu reduzieren und die Währung abzuwerten 2. Eine Sicht, die im Eintrag des Dumbarton Oaks-Online-Bleisiegelkatalogs wiederholt wird, wo zudem darauf hingewiesen wird, dass er durch eine Rebellion gegen Michael

1 2

Allgemeine Literatur zum 11. Jh. in Byzanz: ANGOLD, Byzantine Empire; KALDELLIS, Streams of Gold; LEMERLE, Cinq Études. BRAND / CUTLER, Nikephoros III Botaneiates S. 1479.

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VII. Doukas an die Macht kam. 3 In ihrer Monografie über Kaiser Alexios I. bezeichnet Élisabeth Malamut ihn als mittelmäßigen Kaiser (empereur médiocre) und seine Herschaft als letzte Phase der Auflösung des Reiches, in der Revolten und Bürgerkriege aufeinander folgten. 4 Die bestimmenden Elemente dieser Charakterisierungen des Nikephoros III. sind demnach sein Alter, seine Usurpation, seine grenzenlose Freigebigkeit, seine Abhängigkeit von Borilos und Germanos sowie sein Beitrag zum Verfall des Byzantinischen Reiches. 5 Die fast dreijährige Herrschaft und die schwierigen Umstände, unter denen Botaneiates regierte, erlaubten ihm tatsächlich nicht, viel zu leisten. Als Beispiel einer Kaisercharakterisierung bietet das Bild des Nikephoros III. in der byzantinischen Geschichtsschreibung, das die moderne Forschung übernahm, indes interessante Elemente, welche es ermöglichen, die während der Herrschaft seiner Nachfolger existierenden politischen Umstände genauer zu beleuchten. In diesem Aufsatz wird daher ein neuerlicher Blick auf die Herrschaft dieses Kaisers geworfen, wobei der Schwerpunkt darauf liegt, die Entstehung der Darstellung des Nikephoros III. als gescheiterten Kaisers schlechthin bereits durch die byzantinischen Historiographen zu verstehen und die diesem Bild zugrunde liegenden politischen Interessen zu identifizieren, die kritiklos durch die moderne Historiographie übernommen wurde.

2. Byzantinische Darstellungen Die obengenannten Bewertungen des Nikephoros als Versager beruhen weitgehend auf Charakterisierungen, die in der byzantinischen Geschichtsschreibung zu finden sind. Als Hauptquellen für seine Herrschaft sind zu nennen: die Geschichte des Michael Attaleiates, der sogenannte Skylitzes Continuatus, die Materialien für eine Geschichte des Nikephoros Bryennios, die Alexias der Anna Komnene sowie die Epitome des Ioannes Zonaras. Unter all diesen Autoren war es allein Michael Attaleiates, der Botaneiates in einem ausgesprochen positiven Licht darstellt. Sein wahrscheinlich noch 3

http://www.doaks.org/resources/online-exhibits/gods-regents-on-earth-a-thousand-years-of-byz antine-imperial-seals/rulers-of-byzantium/nikephoros-iii-botaneiates-1078-81 (Zugang am 4. Dezember 2017). 4 MALAMUT, Alexis Ier. Comnène S. 51. 5 Für die Herrschaft und Karriere des Nikephoros III. Botaneiates s. OSTROGORSKY, Geschichte des byzantinischen Staates S. 287–289; TREADGOLD, History of the Byzantine State S. 607–611; BRAND / CUTLER, Nikephoros III Botaneiates S. 1479; BURGMANN, Law for Emperors S. 247– 248; KARAGIORGOU, On the Way to the Throne S. 105–132; KALDELLIS, Streams of Gold S. 266– 270.

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während der Herrschaft des Kaisers erschienenes Werk enthält eine umfangreiche Lobrede auf diesen Kaiser. 6 Attaleiates beschrieb ihn als menschenfreundlich, freigebig, mutig und äußerst populär. Seine Machtübernahme wurde als Befreiung von der Tyrannei Michaels VII. Doukas und dessen logothetes tou dromou Nikephoritzes dargestellt. Ohne Blutvergießen und unter dem Jubel des Volkes sei Nikephoros Kaiser geworden. 7 Als Herrscher habe er Schulden erlassen 8 und gute Gesetze verabschiedet. 9 Dimitris Krallis verweist jedoch auf Doppeldeutigkeiten im Kaiserlob des Attaleiates. Demnach berichtete Attaleiates in seiner Darstellung der militärischen Karriere des Nikephoros Botaneiates vor dessen Machtübernahme ausschließlich von Niederlagen. Dessen Marsch als Rebell auf Konstantinopel wurde zudem beschrieben, als ob er sich in Sicherheit flüchten wollte, indem Attaleiates den Zug des Nikephoros mit der Flucht der Juden aus Ägypten verglich. Nikephoros selbst wurde − im Gegensatz zu den von Attaleiates auch verehrten Vorgängern Isaakios I. Komnenos und Romanos IV. Diogenes − nicht als militärischer Anführer, sondern als ein Herrscher, der lieber in Konstantinopel blieb, beschrieben. 10 Skylitzes Continuatus stützte sich in seiner Darstellung stark auf Attaleiates, ließ jedoch dessen Lobrede aus. Seit langem ist umstritten, ob der Verfasser dieses Werks Ioannes Skylitzes selbst war. In der aktuellen Forschung überwiegt jedoch die Ansicht, dass Ioannes Skylitzes der Autor war und das Werk wahrscheinlich in den ersten Jahren der Herrschaft des Alexios I. geschrieben habe. 11 Im Skylitzes Continuatus wird Nikephoros III. zumeist neutral dargestellt. Eine negative Beurteilung findet man nur in einem Absatz, in dem der Autor Folgendes behauptete: Der Kaiser war aber an Einfachheit und Aufrichtigkeit gewohnt und änderte daher seine Einstellung auch nicht. Er war überaus freigebig und verschwenderisch und zeigte allen bereitwillig seine Zuneigung. Er hatte zwei Sklaven, Borilos und Germanos, die sich [aber] ihm gegenüber nicht wie Sklaven verhielten, sondern ohne Zögern alles in die Tat umsetzen, was sie wollten. Ihretwegen wurde man auch als unwürdige

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Zur Geschichte des Michael Attaleiates s. HUNGER, Hochsprachliche Profane Literatur I S. 382– 389; TINNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik S. 135–143; KRALLIS, Michael Attaleiates; TREADGOLD, Middle Byzantine Historians S. 312–329; NEVILLE, Guide S. 150–154. 7 Michael Attaleiates, Historia, 191 f., übers. Kaldellis und Krallis S. 479–499. 8 Michael Attaleiates, Historia, 203, übers. Kaldellis und Krallis S. 515. 9 Michael Attaleiates, Historia, 199 f., übers. Kaldellis und Krallis S. 503–505. 10 Zur Gesetzgebung des Nikephoros III. s. u. S. 8–10. 11 Zu Skylitzes Continuatus siehe HUNGER, Hochsprachliche Profane Literatur I S. 119; HOLMES, Basil II S. 80–91; TINNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik S. 119–121; Ioannes Skylitzes, Synopsis Historion, übers. John Wortley S. XXXI; TREADGOLD, The Middle Byzantine Historians S. 329–339; NEVILLE, Guide S. 155–161.

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Person zu den Herausragenden des Senats gezählt, worüber sich die [Senatoren] allen gegenüber als verärgert zeigten. 12

Kritik an Nikephoros kann in zwei verschiedenen Stellen in den Materialien für eine Geschichte des Nikephoros Bryennios beobachtet werden, erstens im Vorwort, das eine Rechtfertigung der Machtübernahme des Alexios I. ist, und zweitens im Bericht über die Herrschaft des Nikephoros III., also in den letzten Kapiteln des Werkes. 13 Sehr wahrscheinlich ist Nikephoros Bryennios nicht der Autor des Vorwortes. Die apologetischen Tendenzen und der panegyrische Stil in Bezug auf Alexios passen nicht zum Rest des Werks. Darüber hinaus enthält es faktische Fehler, die Nikephoros Bryennios sicherlich nicht unterlaufen wären. Beispielsweise wird Konstantios Doukas, der Sohn des Konstantinos X. (reg. 1059–1067), mit Konstantinos Doukas, dem Sohn Michaels VII. (reg. 1071–1078), verwechselt, während beide in den folgenden Kapiteln deutlich voneinander unterschieden werden. Bei dieser Passage handelt es sich daher höchstwahrscheinlich um einen nach dem Tod des Bryennios (1137/8) verfassten Zusatz. 14 Neben der spannenden Frage, warum die Machtübernahme des Alexios Jahrzehnte später noch verteidigt und gerechtfertigt werden musste, sind im Vorwort auch interessante Aussagen zu dem gestürzten Kaiser Nikephoros III. zu finden. 15 Nach dem anonymen Autor des Vorworts sei Nikephoros vor seiner Usurpation ein kluger und tapferer Mann, danach jedoch altersschwach und des Kaisertums nicht würdig gewesen. Alexios wiederum wird während des Aufstandes des Nikephoros Botaneiates als Verteidiger der dynastischen Rechte des Konstantios Doukas präsentiert. Er habe darüber hinaus versucht, Konstantios Doukas davon zu überzeugen, die Kaiserwürde anzunehmen. Dieses Vorhaben sei aber von der Bevölkerung der Hauptstadt abgelehnt worden. Als Bewahrer der Rechte der Doukai sei Alexios zum neuen Kaiser gegangen, um 12

Skylitzes Continuatus, S. 185 f.: Ὁ δὲ βασιλεὺς λιτότητι καὶ ἁπλότητι συνειθισμένος κατ’ οὐδὲν τοῦ οἰκείου ἐξέστη τρόπου. Φιλοδωρότατος δὲ ἦν καὶ προετικὸς καὶ πᾶσιν ἑτοίμως ἐπικλινόμενος. Ἦσαν δὲ αὐτῷ δοῦλοι δύο, Βορίλος τε καὶ Γερμανός, οὐ κατὰ δούλους αὐτῷ ὑπακούοντες, ἀλλὰ πᾶν τὸ αὑτοῖς βουλητὸν διαπραττόμενοι ἀνενδοιάστως· δι’ οὓς καὶ φορτικὸς τοῖς ἐξοχωτέροις τῆς συγκλήτου ἐνομίζετο, δακνομένοις ἐφ’ οἷς εἰς πάντας ἐπεδείκνυντο (wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen vom Verfasser des Beitrags). 13 Zu Nikephoros Bryennios und seinem Werk HUNGER, Hochsprachliche Profane Literatur I S. 394–400; NEVILLE, Heroes and Romans; NEVILLE, Guide S. 169–173; TINNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik S. 119–121; TREADGOLD, The Middle Byzantine Historians S. 344–354. 14 Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, ed. und übers. Paul Gautier, Vorwort S. 54–70. Zu einer Auseinandersetzung mit dem Vorwort der Materialien für eine Geschichte siehe Gautiers Einleitung seiner Edition des Werkes Bryennios, S. 47–51; STANKOVIĆ, Uvod u Materijal istorije Nićifora Vrijenija S. 137–148. 15 STANKOVIĆ, Uvod u Materijal istorije Nićifora Vrijenija S. 148. Neville scheint die Autorschaft des Vorwortes nicht zu problematisieren.

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ihn darum zu bitten, den Konstantios Doukas als Thronfolger anzuerkennen. Alexios hätte dann dem neuen Kaiser vorgeschlagen, Konstantios zu seinem seinen Nachfolger zu bestimmen. Das Vorhaben sei aber gescheitert, weil Botaneiates durch den Einfluss seiner Gefolgsmänner Borilos und Germanos Alexios gegenüber misstrauisch geworden sei. 16 Die beiden hätten zudem geplant, Alexios ins Exil zu schicken. Der misstrauische Kaiser habe darüber hinaus Alexios schwierigste militärische Aufträge erteilt. Diesem sei deshalb nichts anderes übrig geblieben als den Aufstand zu wagen. 17 In den folgenden von Nikephoros Bryennios selbst verfassten Kapiteln ist dieser weniger parteiisch und apologetisch Alexios gegenüber, ohne dass er freilich viel Positives über Nikephoros III. zu berichten hätte. Die von Attaleiates gelobte Großzügigkeit des Botaneiates stellte Bryennios negativ dar. Er behauptet, Nikephoros III. habe die Unterstützung der Bevölkerung auf Kosten des Staatsschatzes erlangt. Diese Politik habe zur Inflation der Würdenhierarchie und der Abwertung des Nomisma, also der Goldwährung, geführt, mit welcher die die Hofwürden begleitenden Zuwendungen – die rogai – und Löhne der Soldaten und Beamten bezahlt wurden. Die großzügige Politik des Kaisers und die türkischen Einfälle in Anatolien, wodurch sich die Konstantinopel zufließenden Steuer- und Abgabengeldern verringerten, hätten dann wiederum die Unterbrechung der Zahlung der rogai zur Folge gehabt. 18 Neben dem Beitrag, den Nikephoros III zum politischen und wirtschaftlichen Verfall des Byzantinischen Reiches leistete, führt Bryennios auch dessen negativen persönlichen Eigenschaften an, wie seine Schwäche und seine geistige Schlichtheit. Z. B. berichtet Bryennios, wie Isaakios Komnenos, der Bruder des Alexios, das Vertrauen des Kaisers gewann, indem er ihm syrische Gewänder schenkte: In dieser Zeit kam [...] Isaakios Komnenos aus Antiochia zurück. Als er die Schlichtheit des Kaisers erkannte und [sah], wie ihm die syrischen Gewänder gefielen, gab er [Isaakios] [ihm] oftmals solche und erlangte so das Wohlwollen des Kaisers für sich, sodass er großen Besitz erwarb, nach kurzer Zeit zum sebastos ernannt wurde und im Palast ein Haus zum Verweilen gewann. Er [der Kaiser] bediente sich seiner [Isaakios] sowohl bei Entscheidungen als auch bei Urteilen. Denn er [Isaakios] war auch scharfsinnig, die Wahrheit aufzuspüren, und bereit, das gesagte klar zu berichten. Indem er so im Palast blieb, förderte er die Einfäl-

16 Zum Gefolgschaftswesen in Byzanz s. BECK, Byzantinisches Gefolgschaftswesen S. 1–32. 17 Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, Vorwort S. 54–70. 18

Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, IV,1 S. 256–258.

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tigkeit des Kaisers und [schaffte es, dass] er völlig an seinen Lippen hing. 19

Die Schwäche des Botaneiates und das vermeintliche Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und seinen Gefolgsmännern schildert am ausführlichsten Anna Komnene. Als Fortsetzerin des unvollendeten Werkes ihres Ehemanns Nikephoros Bryennios beschrieb Anna Komnene den Aufstieg ihres Vaters Alexios Komnenos zur Herrschaft als eine Reaktion auf eine Verschwörung gegen ihn, die Borilos und Germanos angezettelt hätten. Die Historikerin stellte beide als Sklaven slavischer Herkunft dar, die die Kontrolle der Staatsgeschäfte an sich gerissen hätten. Dies sei nur deshalb möglich gewesen, weil Nikephoros III. einen wankelmütigen Charakter gehabt habe. 20 In dieser Position hätten Borilos und Germanos versucht, all jene auszuschalten, die mit ihnen um die Gunst des Kaisers hätten konkurrieren können. Das erste Opfer sei Georgios Monomachatos gewesen, den man deswegen nach Dyrrachion geschickt habe. 21 In der Folge hätten sich Borilos und Germanos verschworen, um Isaakios und Alexios Komnenos zu blenden. Die Bemühungen der Komnenoi-Brüder, die Unterstützung von Schlüsselfiguren wie Humbertopoulos, Gregorios Pakourianos und hauptsächlich der Kaiserin Maria von Alanien zu gewinnen, und auch ihre Entscheidung, den Aufstand gegen Botaneiates zu beginnen, um sich selbst zu retten, stellten für Anna Komnene letztlich eine Gegenreaktion auf das Handeln jener kaiserlichen Gefolgsmänner dar. Sie ging sogar so weit zu sagen, dass Borilos und Germanos Ambitionen auf das Kaisertum gehabt hätten. 22 Es wird noch zu zeigen sein, auf welche Weise die Kaisertochter –

19

Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, IV, 29 S. 299: Ἐν τούτῳ δ’ ἐπανῆκεν ἐκ τῆς Ἀντιοχέων καὶ ὁ τούτου ὁμαίμων ὁ Κομνηνὸς Ἰσαάκιος, ὃς τὴν βασιλέως ἁπλότητα διαγνοὺς καὶ ὡς χάριν ›ἔχει‹ τῶν ἐκ Συρίας ὑφασμάτων, συχνάκις τοιαῦτα διδοὺς τοσοῦτον τὴν βασιλέως ἐπεσπάσατο εὔνοιαν ὡς καὶ κτήσεων κατακυριεῦσαι πολλῶν καὶ σεβαστὸν ἀποδειχθῆναι διὰ χρόνου βραχέος καὶ οἰκίαν ἐν βασιλείοις λαβεῖν ἐπὶ τὸ προσμένειν· ἐχρῆτο δ’ αὐτῷ κἀν ταῖς κρίσεσι κἀν ταῖς ἀποφάσεσι, καὶ γὰρ ἦν ὀξύς τε θηρᾶσαι ἀλήθειαν καὶ τὸ ῥηθὲν ἀπαγγεῖλαι τρανῶς ἐπιτήδειος· οὕτως τοῖς βασιλείοις προσμένων τὴν βασιλέως ἁπλότητα ἐθεράπευε καὶ ὅλως εἶχε τοῖς ἑαυτοῦ χείλεσιν ἐκκρεμάμενον. 20 Anna Komnene, Alexias, 2, iv, 3, übers. Reinsch S. 76 f. Zu Alexias und Anna Komnene s. BUCKLER, Anna Comnena; HUNGER, Hochsprachliche profane Literatur I S. 400–409; SKOULATOS, Les personnages byzantins; GOUMA-PETERSON (Hrsg.), Anna Komnene and Her Times; BUCKLEY, Alexiad; NEVILLE, Anna Komnene; NEVILLE, Guide S. 174–185; TINNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik S. 153–157; TREADGOLD, The Middle Byzantine Historians S. 366– 386. Für eine zusammenfassende Darstellung des Borilos und des Germanos in der Alexias s. SKOULATOS, Les personnages byzantins S. 47–49. 21 Anna Komnene, Alexias, 1, xvi, 2-4, übers. Reinsch S. 66 f. 22 Anna Komnene, Alexias, 2, iv, 4, übers. Reinsch S. 78 f.

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wenig überraschend – die Reihenfolge der Handlungen dieser Akteure änderte, um ihren Vater in ein positives Licht zu rücken. 23 Ioannes Zonaras, der sein Geschichtswerk in der Mitte des 12. Jhs. verfasste 24, schilderte in ähnlicher Weise den Wankelmut des Kaisers, dessen mangelndes Interesse an der Leitung der Staatsgeschäfte sowie den Hochmut von Borilos und Germanos: Dieser Kaiser nun befasste sich nicht in besonderem Maße mit der Verwaltung des Staates, teils wegen seines hohen Alters und teils wegen seiner angeborenen Nachlässigkeit, sondern er zog den Metropoliten von Side hinzu und übertrug ihm die Sorge für das Gemeinwohl. Der Kaiser hatte aber auch zwei Diener, von denen der eine Borilos, der andere Germanos hieß. Diese nun machten mit allem und jedem, was sie wollten, selbst mit dem eigenen Herrn und Herrscher, so dass ihretwegen auch er von den Würdenträgern gehasst wurde, denen gegenüber sich die Diener sehr überheblich und dreist benahmen. 25

Als einziger Geschichtsschreiber aus komnenischer Zeit hebt Zonaras die Popularität des Nikephoros hervor. So habe die Bevölkerung von Konstantinopel die Stadtmauer bemannt, um den rebellierenden Truppen des Alexios Komnenos Widerstand zu leisten, allerdings ohne Erfolg. Denn es handelte sich dabei um »hergelaufene und im Krieg größtenteils unerfahrenen Menschen, oder vielmehr aus dem Marktgesindel und dem gewöhnlichen Volk aufgelesene Leute«, die sofort, als sie sahen, dass die aufständischen Truppen in die Stadt eindrangen, den Mut verloren und flohen. 26

23

Die Freiheit, die sich Anna Komnene bezüglich der Reihenfolge der Ereignisse herausnimmt, ist schon lange von der Forschung bemerkt worden, s. BUCKLEY, Alexiad S. 138; NEVILLE, Guide S. 174. 24 Zu Ioannes Zonaras und seinem Werk s. BACHIN / LANE (Übers.), The History of Zonaras S. 2– 7; GRIGORIADIS, Linguistic and Literary Studies; HUNGER, Hochsprachliche profane Literatur I S. 416–419; MANGO, Twelfth-Century Notices S. 221–228; NEVILLE, Guide S. 191–198; TINNEFELD, Kategorien der Kaiserkritik S. 144–147; TREADGOLD, The Middle Byzantine Historians S. 388–399. 25 Ioannes Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 725, übers. Trapp S. 157: Οὗτος τοίνυν ὁ βασιλεὺς τὸ μέν τι καὶ διὰ γῆρας βαθύ, τὸ δέ τι καὶ διὰ φυσικὴν χαύνωσιν οὐ πάνυ τι τῆς τῶν πραγμάτων ἥπτετο διοικήσεως, ἀλλὰ τὸν Σίδης μητροπολίτην καὶ οὗτος προσλαβόμενος ἐκείνῳ τὴν τῶν κοινῶν ἀνέθετο πρόνοιαν. ἦσαν δὲ τῷ βασιλεῖ τούτῳ καὶ δύο δοῦλοι, ὧν ὁ μὲν Βορίλος, ἅτερος δὲ Γερμανὸς ὠνομάζοντο· οὗτοι τοίνυν ἦγον τὰ πάντα καὶ ἔφερον ὡς ἐβούλοντο καὶ αὐτὸν τὸν κρατοῦντα καὶ κύριον ἑαυτῶν, δι’ οὓς καὶ μισεῖσθαι τοῦτον παρὰ τῶν ἐν τέλει συνέβαινε, προσφερομένων τῶν δούλων ἐκείνοις ἀλαζονικώτερον καὶ θρασύτερον. 26 Ioannes Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 728, übers. Trapp S. 159: σύγκλυδες ἄνθρωποι καὶ πολέμων οἱ πλείονες ἀδαεῖς ἢ μᾶλλον ἐξ ἀγοραίων ἀθροισθέντες καὶ πληθύος δημότιδος.

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3. Seniler Kaiser oder beliebter Herrscher? Trotz des überwiegend negativen Urteils über Botaneiates in der byzantinischen Historiographie, gibt es doch Hinweise darauf, dass diese Charakterisierung zu relativieren ist. So schilderten Ioannes Zonaras und Michael Attaleiates eine Mordverschwörung gegen den Kaiser durch die Warägergarde. Der Versuch habe aber angesichts des Widerstands der anderen Teile der Kaisergarde keinen Erfolg gehabt. 27 Die Kämpfe zwischen treuen und aufständischen Truppen seien heftig gewesen. Trotzdem habe sich die Stadtbevölkerung dadurch nicht aufhetzen lassen, wie es sonst bei solchen Aufständen oftmals der Fall gewesen war. Rebellen nutzten häufig die Unbeliebtheit eines Kaisers, um beim Volk Unterstützung für ihre Usurpation zu gewinnen. 28 Dass solches nicht geschah und die aufständischen Soldaten allein und ohne Unterstützung der Bevölkerung kämpfte, ist sicherlich ein Indiz dafür, dass die Position des Nikephoros in Konstantinopel noch stark war. Das deutlichste Zeichnen der Popularität des Kaisers in der Hauptstadt findet sich jedoch im oben erwähnten Bericht des Zonaras über die komnenische Machtübernahme. Demnach habe Alexios im April des Jahres 1081 mit dem Rest der durch verschiedene Niederlagen und Bürgerkriege dezimierten byzantinischen Streitkräfte die Hauptstadt belagert. Nikephoros hätte dagegen nur über die kaiserliche Leibgarde und die Einheit der Soldaten aus Choma verfügt. Nikephoros III. sei nach Zonaras aber dennoch in der Lage gewesen, die Unterstützung der Stadtbevölkerung zu gewinnen, so dass die Einwohner Konstantinopels während der Belagerung die Stadtmauer besetzten, um so den Rebellen Widerstand zu leisten. 29 Diese kurzen Bemerkungen stimmen mit der Charakteriesung dieses Kaisers durch Attaleiates überein und sind klare Hinweise auf die Popularität dieses Kaisers und auf die Unbeliebtheit des Alexios und seiner Anhängerschaft bei der Bevölkerung der Hauptstadt. Die Popularität des Nikephoros III. resultierte anscheinend nicht nur aus seiner Großzügigkeit, sondern auch aus seiner Gesetzgebung. Attaleiates lobte den Kaiser, weil er Schuldenerlasse gewährt 30 und den alten Besitzern ihre Anlegestellen, die skalai, restituiert habe. 31 Diese waren angeblich unter Michael VII. und dessen logothetes tou dromou Nikephoritzes beschlagnahmt worden, um die Staatseinnahmen zu erhöhen. Obwohl Schuldenerlasse eine 27

Michael Attaleiates, Historia, 211 f., übers. Kaldellis und Krallis S. 536–541; Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 720 f., übers. Trapp S. 155. S. dazu SCHEEL, Skandinavien und Byzanz S. 154 f. 28 CHEYNET, Pouvoir et Contestation S. 202–205; KALDELLIS, The Byzantine Republic S. 89–164. 29 S.o. Anm. 26. Zur Situation des Militärs im Jahr 1081 s. BIRKENMEIER, Komnenian Army S. 56 f. 30 Michael Attaleiates, Historia, 203, übers. Kaldellis und Krallis S. 514–517; DÖLGER / WIRTH, Regesten, Reg. 1028 S. 73. 31 Michael Attaleiates, Historia, 199 f., S. 509 f.; DÖLGER / WIRTH, Regesten, Reg. 1027 S. 73.

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häufig ergriffene Maßnahme der Kaiser des 11. Jh. zu Anfang ihrer Herrschaft waren und deren schwache Legitimität widerspiegelten, scheint die Rückgabe der von Michael VII. konfiszierten Anlegestellen an deren älteren Besitzer eine Gegenleistung an die aristokratischen Gruppen der Hauptstadt für die Unterstützung seines Aufstandes gewesen zu sein. Interessanter ist jedoch das Gesetz, nach welchem der Kaiser im Falle der Bestrafung eines Hochverräters dreißig Tage zu warten habe, bis die gesetzlich bestimmte Todstrafe vollstreckt werden dürfe. Dasselbe Gesetz bestimmte auch, dass der Patriarch alle vier Monate den Kaiser an diejenigen, die mit Exilierung verurteilt worden waren, erinnern sollte, damit diese nicht in Vergessenheit geraten würden. Attaleiates erwähnte auch ein anderes Gesetz, nach dem kein Diener (theraputai) eines früheren Kaisers ohne gerechten Grund und legales Verfahren verurteilt werden sollte. 32 Nach Ludwig Burgmann stellen diese Bestimmungen des Nikephoros in der ganzen byzantinischen Gesetzgebung die einzigen Gesetze dar, die eine Beschränkung des kaiserlichen Handelns zum Ziel hatten. Da Nikephoros III. schon hochbetagt und in einer fragilen politischen Position war, glaubt Burgmann, dass das Gesetz zum Schutz der Amsträger vor ungerechter Behandlung mit Blick auf dessen Nachfolger geschaffen worden ist. Burgmann glaubt darüber hinaus, darin den Einfluss des Attaleiates in diesem Gesetz zu finden. 33 In der Tat waren diese und viele andere Maßnahmen des Botaneiates in der Schwäche seiner Position und seiner mangelnden Legitimität begründet, aber darin unterschied er sich nicht von denjenigen Kaisern, die nach Konstantinos IX. (reg. 1059–1067) regierten. Ohne die auf eine Zugehörigkeit zur Makedonischen Dynastie basierende Legitimität mussten die Herrscher danach streben, durch eine bewusst großzügige Politik und durch die Suche nach Unterstützern unter verschiedenen Gruppen in Konstantinopel ihre Position zu sichern. Die Begünstigten dieser Politik waren vorwiegend die städtischen Eliten, die sich aus reichen Werkstattbesitzern, Großhändlern, hauptstädtischem Klerus, hohen Beamten und niederen Würdenträgern zusammensetzten. 34 Die kaiserliche Großzügigkeit schien zudem allmählich anzusteigen. Jeder neue Kaiser musste seine Vorgänger dadurch übertreffen, dass er mehr Würden an mehr 32

Michael Attaleiates, Historia, 223–227, übers. Kaldellis und Krallis S. 570–580; VON LINGENTHAL, Ius Graecoromanum III S. 331–338; DÖLGER / WIRTH, Regesten, Reg. 1047 S. 80. Angeliki Laiou betrachtet dieses Gesetz als einen Versuch des Botaneiates, Borilos und Germanos für die Zeit nach seinem Tod abzusichern, s. LAIOU, Law S. 151–185, zum Gesetz: S. 179. 33 BURGMANN, A Law for Emperors S. 255 f. 34 BECK, Senat und Volk S. 30–35; ANGOLD, The Byzantine Empire S. 56–80; BRAVO GARCIA / ALVAREZ ARZA, La Civilización bizantina S. 89; KAZHDAN / EPSTEIN, Ann Wharton S. 69 f.; KALDELLIS, How to Usurp the Throne S. 43–56; CHEYNET, Pouvoir et Contestations S. 199–205; KYRITSES, The Imperial Council S. 57–69.

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Leute vergab. Daher entsprach die kaiserliche Freigebigkeit, die Attaleiates so ausführlich beschrieb und pries, wohl der historischen Realität. Wenn diese Aussage des Attaleiates mit der des Nikephoros Bryennios verglichen wird, wonach Botaneiates die Staatskasse ruiniert habe, zeigt sich deutlich, dass Bryennios damit die Lage beschrieb, die die Komnenoi nach ihrer Machtübernahme vorfanden. Offenbar überstieg die kaiserliche Freigebigkeit die Möglichkeiten der schon durch militärische Ausgaben und Steuerausfälle unter Druck geratenen Staatskasse. Trotz der Konsequenzen der Entwertung der Goldmünze, des Nomisma, im Laufe des 11. Jhs. für die Finanzen des Staats und die byzantinische Wirtschaft ist keine besondere Reaktion darauf in den Quellen zu finden. Dies ist in der Tat erstaunlich, weil eine solche Maßnahme ein Jahrhundert früher unter Nikephoros II. Phokas (reg. 963–969) erheblichen Widerstand hervorrief. 35 Paul Lemerle versucht dies damit zu erklären, dass diese Entwertung positiv wahrgenommen wurde, weil sie auf eine Monetarisierung der Wirtschaft infolge eines Wachstums des Handels und eine Dynamisierung der Wirtschaft hinweist. 36 Angold aber ist der Ansicht, dass die positive Wirkungen zufällig gewesen seien. Nach ihm seien die in der Goldwährung entlohnten Würden zu dieser Zeit eher ein Anzeichen des sozialen und politischen Aufstiegs der neuen, aber schon reichen Gruppe der Händler und Werkstattbesitzer von Konstantinopel als eine Einnahmequelle gewesen seien. Somit würde sich auch erklären, dass die Entwertung des Nomismas offenbar kaum eine Reaktion hervorrief. 37 Hier wird nicht versucht, diese komplexe, wichtige und kaum belegte wirtschaftliche Entwicklung zu erklären, sondern, wie sich sie auf die Popularität des Nikephoros III auswirkte und wie sie im Rahmen seiner Freigebigkeit verstanden werden könnte. Als Nikephoros III. Kaiser wurde, war die Entwertung des Nomisma schon weit fortgeschritten. Deswegen kann man sich vorstellen, dass die Bevölkerung von Konstantinopel – sowohl die oberen als auch die unteren Schichten – schon daran gewöhnt waren und sich insofern darüber freuten, dass sie nach dem von Nikephoritzes betriebenen strengen Fiskalismus wieder einen großzügigen Kaiser hatten. Es finden sich also genügend Hinweise dafür, dass Nikephoros III. eine bewusste Politik durchsetzte, die derjenigen seiner Vorgänger sehr ähnlich war, und zwar in Form von einer Belohnung der höheren Schichten der konstantinopolitanischen Bevölkerung durch die Expansion des Senats, einer Rückga-

35

Zu der Entwertung des Nomismas und ihren Folgen siehe LAIOU / MORRISON, Byzantine Economy S. 148–150; LEMERLE, Cinq études S. 285–287; ANGOLD, Political History S. 83–85. 36 LEMERLE, Cinq études S. 285–287. 37 ANGOLD, Political History S. 83–85.

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be ihres konfiszierten Eigentums und einer Gesetzgebung, welche die Mitglieder der Bürokratie vor politischer Instabilität schützte. Auch die Rolle, die Borilos und Germanos spielten, sowie deren Beziehung zum Kaiser müssen neu bewertet werden. Sie erscheinen in den Quellen als die größten Übeltäter und als diejenigen, die während der Herrschaft des Nikephoros III. hinter den Kulissen die eigentliche Macht innehatten. Ebenso muss die Darstellung der byzantinischen Geschichtsschreibung in Frage gestellt werden, wonach Borilos und Germanos eine Verschwörung gegen Alexios betrieben. Diese Auffassung war hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass beide den Komnenoi misstrauten und angeblich versucht hatten, Alexios und Isaakios auszuschalten. Tatsächlich muss die Version der Vorgänge nach Anna Komnene, dem anonymen Autor des Vorwortes der Materialien für eine Geschichte und Ioannes Zonaras, wonach die Entscheidung der Komnenoi, den Aufstand gegen Nikephoros Botaneiates zu wagen, eine Reaktion auf die von Borilos und Germanos ausgehende Bedrohung war, bezweifelt werden. Anhaltspunkte dafür finden sich in der Alexias selbst. Wenn man die von Anna Komnene beschriebenen Maßnahmen, welche zur Machtübernahme der Komnenoi führten, berücksichtigt, ist es schwer zu glauben, dass der Aufstand der Komnenoi lediglich eine verzweifelte Gegenmaßnahme gewesen sei. Hier ist etwa das Verhältnis zwischen dem Kaiser und der Kaiserin Maria von Alanien anzuführen, das dadurch belastet wurde, dass Nikephoros statt ihres Sohnes Konstantinos Doukas seinen Verwandten Synadenos zu seinem Nachfolger machen wollte. 38 Ebenso wichtig ist das Zusammenziehen der Truppen unter dem Befehl des damaligen megas domestikos Alexios unter dem Vorwand, die Stadt Kyzikos von den Türken zurückzuerobern 39 sowie die Unterstützung von Gregorios Pakourianos und Humbertopoulos, deren Einbeziehen in die Verschwörung sicherlich lange Verhandlungen erforderte. 40 Jede dieser Handlungen weist auf eine komplizierte Vorbereitung des Umsturzes hin und diskreditiert die von Anna Komnene angeführte Version einer spontanen Aktion. Berücksichtigt man andere Quellen, werden Annas Argumente sogar noch unglaubwürdiger. Zonaras erläuterte sehr deutlich und einigermaßen widersprüchlich – weil er auch den Aufstand der Verschwörung des Borilos und Germanos zuschreibt – dass Alexios und Isaakios ihren Aufstand lange vorausgeplant hätten. 41 Das später hinzugefügte Vorwort in den Materialien für eine Geschichte des Nikephoros Bryennios verwies klar auf die bestehenden 38 Anna Komnene, Alexias, 2, ii, 4, übers. Reinsch S. 73–75. 39 Anna Komnene, Alexias, 2, iv, 1–3, übers. Reinsch S. 77 f. 40 Anna Komnene, Alexias, 2, iv, 6–8, übers. Reinsch S. 79 f. 41

Ioannes Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 727, übers. Trapp S. 158.

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dynastischen Ansprüche sowohl von Seiten der Erben der Doukai als auch derjenigen der Komnenoi. Es darf zudem nicht übersehen werden, dass Anna Dalassene, die Mutter des Isaakios und des Alexios Komnenos, die Machtübertragung von Isaakios I. Komnenos auf Konstantinos X. Doukas im Jahr 1059 als eine Usurpation des Nachfolgenrechtes ihres Ehremannes Ioannes Komnenos, des Bruders des abdankenden Kaisers, angesehen hatte. Ihre kaiserlichen Ambitionen übertrug sie dann auf ihre Söhne. 42 Borilos und Germanos scheinen daher statt historischer Bösewichte eher treue Unterstützer des Nikephoros III. gewesen zu sein, welche die von den Komnenoi-Brüdern ausgehende Gefahr bemerkten und darauf reagierten. In diesem Sinne hatten sie das Amt eines paradynasteuon inne, eine häufig vorkommende halboffizielle Position, deren Funktion es war, dem Kaiser bei der Verwaltung zu helfen, und die als Brücke zwischen dem Herrscher und den anderen Ämtern diente. 43 Darüber hinaus weisen die Berichte über das Handeln der beiden darauf hin, dass Borilos und Germanos einer Art »Geheimdienst« vorstanden. Anna Komnene macht klare Vorwürfe in dieser Hinsicht: Das aber gefiel den Sklaven gar nicht, vielmehr fachte es ihren ohnehin brennenden Neid noch mehr an. Vieles, was sie im tiefsten Inneren gegen sie [Alexios und Isaakios] planten, verbreiteten sie hinter vorgehaltener Hand, vieles trugen sie heimlich dem Basileus zu, anderes wieder in aller Öffentlichkeit, wieder anderes durch Dritte, und versuchten so durch alle möglichen Intrigen, sie auf jede Weise loszuwerden. 44

Noch eine andere Stelle in der Alexias zeigt, dass Nikephoros III. auf das Mittel der Spionage zurückgriff. Als die Komnenoi ihre Rebellion begannen, wollten sie die Sicherheit der Frauen ihrer Familie garantieren. Daher flüchteten diese spät in der Nacht zu einem Zufluchtsort in der Nähe der Hagia Sophia, und zwar heimlich, weil sie den Enkel des Kaisers, den dieser mit einer Nichte von Alexios und Isaakios Komnenos verlobt hatte, und insbesondere seinen Erzieher nicht aufwecken wollten. 45 Obwohl es in der byzantinischen Elite geläufig gewesen zu sein schien, ein Kind vor der Hochzeit zu seinen Schwiegereltern zu schicken, um von ihnen erzogen zu werden, ist es gut vorstellbar, dass Nikephoros III. die Verlobung als Vorwand nutzte, um einen »Agenten« in den Haushalt der Komnenoi einzuschleusen. 46 42 Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, I, 2–3 S. 80–84. 43 S. BECK, Der byzantinische »Ministerpräsident« S. 309–338, insbesondere S. 329. 44 Anna Komnene, Alexias, 2, i, 3, übers. Reinsch S. 71. 45 Anna Komnene, Alexias, 2, v, 1–2, übers. Reinsch S. 81. 46

Anna Komnene selbst lebte mit Maria von Alania für einige Jahre, nachdem sie mit deren Sohn Konstantinos Doukas verlobt worden war. Anna Komnene, Alexias, 3, i, 4, übers. Reinsch S. 107.

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Die Loyalität des Borilos und des Germanos gegenüber dem Kaiser kann man auch bei ihrer letzten Erwähnung in der Alexias beobachten. Als nämlich die Truppen des Alexios schon in die Stadt eingedrungen waren und die Soldaten sich in der ganzen Stadt verteilt hatten und mit der Plünderung beschäftigt waren, habe Borilos versucht noch einmal Widerstand zu organisieren und die Truppen der Chomatenen und Leibgarde auf dem Konstantinsforum zu versammeln. Diese Maßnahme sei jedoch zu spät ergriffen worden, da der Patriarch Kosmas Nikephoros III. bereits von der Abdankung überzeugt hatte, indem er ihm dafür himmlischen Lohn in Aussicht stellte. 47 Wenn Borilos und Germanos tatsächlich, wie von Anna Komnene behauptete, das Kaisertum begehrt hätten, hätten sie sicherlich die Gelegenheit genutzt, um die Macht an sich zu reißen. Doch sie hielten Nikephoros bis zum Ende die Treue, sogar als der Kaiser selbst schon abzudanken bereit gewesen war.

4. Komnenische Verleumdung Es wurde bereits gezeigt, wie in der byzantinischen Geschichtsschreibung ein bestimmtes Bild des Nikephoros III. und seiner Herrschaft konstruiert wurde, das wohl nicht dem entsprach, was in der Tat geschehen ist. Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass Nikephoros III. ein erfolgreicher Kaiser gewesen sei, dessen Erbe von seinen Nachfolgern verunglimpft wurde. In der Tat setzte Nikephoros die großzügige Politik seiner Vorgänger, welche den byzantinischen Finanzen schadete, fort. Darüber hinaus konnte er weder effektiv auf die militärischen Herausforderungen seiner Zeit reagieren noch die Streitigkeiten innerhalb der byzantinischen Elite beilegen. Er herrschte aber sicherlich viel selbstbewusster und war bei der Bevölkerung der Hauptstadt viel beliebter als die Quellen – mit Ausnahme des Attaleiates und Zonaras – zuzugeben bereit waren. Es lohnt sich, nach den Gründen dieser Charakterisierung zu suchen. Mit der Ausnahme des Attaleiates, der wohl während Nikephoros’ Regierungszeit schrieb, wurden die anderen historiografischen Quellen zu dessen Herrschaft lange nach seinem Tod verfasst. Unter diesen ist die früheste der sogenannte Skylitzes Continuatus, der aus den ersten Jahrzehnten der Herrschaft des Alexios I. stammt 48, und die jüngste die Alexias, die am Anfang der Herrschaft

47 Anna Komnene, Alexias, 2. xii, 4-6, übers. Reinsch S. 103 f. 48

S. o. Anm. 11.

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Manuels I. Komnenos (1143–1180) fertiggestellt wurde. 49 Es überrascht daher nicht, dass diese Quellen von komnenischer Propaganda beeinflusst wurden. Die Feststellung, dass die Verleumdung der gestürzten Herrscher einen wichtigen Teil der Legitimierung eines Usurpators darstellte und sich dies in den Charakterisierungen jener Kaiser in der Geschichtsschreibung widerspiegelt, ist jedoch nicht neu. 50 Es ist trotzdem interessant zu fragen, warum gewisse Eigenschaften des Kaisers und gewisse Aspekte der Herrschaft des Nikephoros hervorgehoben, andere jedoch nicht erwähnt wurden. Wenn man die politischen Umstände, unter denen sein Nachfolger Alexios I. regierte und die Art und Weise, wie Alexios von der Geschichtsschreibung dargestellt wurde, berücksichtigt, ist die Charakterisierung des Nikephoros III. nachvollziehbar. Im Gegensatz zu Nikephoros III. erscheint Alexios I. in den Quellen als ein durchsetzungsfähiger Herrscher, der sich nicht scheute, notwendige, aber unbeliebte Reformen durchzuführen. Darüber hinaus führte er selbst die Streitkräfte, anstatt dies an andere Kommandanten zu delegieren. Allerdings führte der energische Führungsstil der Komnenoi nicht sofort zu militärischen Erfolgen. In dem ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft, bis zum Sieg gegen die Petchenegen bei Levounion im Jahr 1091, erlitten die Byzantiner gegen Normannen, Petchenegen und Türken kontinuierlich militärische Niederlagen. 51 Darüber hinaus hatten die Reformen des Alexios den Makel, dass sich seine Großzügigkeit auf seine Verwandten und engen Unterstützer beschränkte und dadurch eine starke Opposition hervorriefen. 52 Deswegen war die Position des Alexios in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft sehr schwach und instabil. Allerdings gelang es ihm, aufgrund glücklicher Umstände aber auch durch politische Kühnheit diese Schwierigkeiten zu überwinden. Am Ende zeigte sich Alexios politischer Erfolg darin aus, dass er lange regierte und eine Dynastie zu begründen vermochte. Angesichts dieser – auf lange Sicht gesehenen – Erfolge konnten Alexios und seine Familie ihre eigene Version der Vergangenheit etablieren. Teilweise auf traditionellen kaiserlichen Idealen, teilweise unter Bezug auf seinen eigenen Eigenschaften stilisierte sich Alexios als vorbildlicher Herrscher. Diese Idealisierung des Begründers der Dynastie setzte sich auch 49

Anna beschwert sich, dass ihr Bruder und ihr Neffe das Erbe ihres Vaters ruiniert hätten. Dies weist auf das Jahr 1145 als terminus post quem hin, s. Anna Komnene, Alexias, 14, iii, 9, übers. Reinsch S. 489. 50 CHEYNET, Pouvoir et contestation S. 177–190; TINNEFELD, Kategorien S. 184 f. 51 Leonora Neville zeigt, wie Anna Komnene versucht, das militärische Debakel ihres Vaters dadurch schön zu reden, dass sie in ihren Berichten über diese Niederlagen die heroischen Taten des Alexios betont und wie heldenhaft ihr Vater geflüchtet sei. Siehe NEVILLE, Anna Komnene S. 47 f. 52 Über die Opposition gegen die Reduzierung der kaiserlichen Großzügigkeit durch Alexios s. LILIE, Kaisers Macht und Ohnmacht S. 35–51; DIAS, Taming Constantinople S. 380–394.

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unter der Herrschaft seines Sohnes und seines Enkels fort. 53 Um Alexios als einen durchsetzungsfähigen Staatsmann zu charakterisieren, musste Botaneiates, der von ihm gestürzte Kaiser, das Gegenteil gewesen sein. Nikephoros III. wurde somit geradezu zu einem »Anti-Alexios« stilisiert. Neben dem, was in den Quellen über Eigenschaften und Taten des Nikephoros III. berichtet und dabei umgedeutet wird, soll abschließend noch auf das Ungesagte eingegangen werden. So wird die Popularität des direkten Vorgängers des Alexios bei der Bevölkerung Konstantinopels, die Attaleiates ausführlich beschrieb und Zonaras andeutete, in der von der komnenischen Propaganda beeinflussten Geschichtsschreibung im Grunde nicht mehr erwähnt. 54 Anna Komnene verschwieg natürlich die Unbeliebtheit ihres Vaters in der Hauptstadt, gab jedoch trotzdem einen Hinweis, indem sie berichtete, dass Alexios erst in der Lage gewesen sei, mit seinen Truppen in die Stadt einzudringen, nachdem er deutsche Söldner, welche einen Abschnitt der Stadtmauer bewachten, bestochen habe. 55 Der hartnäckige Widerstand, den die Einwohner leisteten, wird gleichwohl nirgends in der Alexias erwähnt. Zonaras, der den Regierungsstil des Alexios I. nicht billigte und unter allen Geschichtsschreibern der komnenischen Zeit gegenüber diesem Kaiser der kritischste war, erwähnte aber die Plünderung Konstantinopel durch die Truppen des Alexios, als handelte es sich um eine feindliche Stadt. 56 Dieser Beginn der komnenischen 53

Seine Nachfolger beanspruchten das Erbe des Alexios I. für sich. Mit ihrer Entscheidung, bei ihrem Schwiegersohn Nikephoros Bryennios eine Geschichte der Herrschaft des Alexios zu bestellen, wollte sich die Kaiserin Eirene Doukaina offenbar eine Darstellung der Herrschaft ihres Mannes Alexios nach ihren eigenen Vorstellungen verschaffen. Die Entscheidung der Anna Komnene, die unvollendete Arbeit des Bryennios fortzusetzen, beruht darauf, dass ihrer Ansicht nach ihr Bruder Johannes II. und ihr Neffe Manuel I. das Erbe ihres Vaters instrumentalisiert hätten. Es gibt zudem die Mousai, ein Gedicht, das Alexios zugeschrieben wird und an seinen Sohn und Nachfolger Ioannes II. adressiert ist, s. MAGDALINO, Pen of the Aunt S. 14–43. Für Kritik an der Zuschreibung der Mousai an Alexios s. MULLETT, Whose Muses? S. 195–220; REINSCH, Bemerkungen zu einigen byzantinischen ›Fürstenspiegeln‹ S. 404–419; zu den Befürwortern dieser Zuschreibung s. SHEPARD, ›Father‹ or ›scorpion‹? S. 68–132; MAGDALINO, The Empire of Manuel Komnenos S. 27–29. 54 Nikephoros Bryennios und der anonyme Autor des Vorworts zu den Materialien für eine Geschichte berichten, dass die Bevölkerung die kaiserlichen Ansprüche des Konstantios Doukas abgelehnt hätte. Infolgedessen mussten Konstantios und Alexios ihren Plan aufgeben. In der Episode stellen die Autoren keinen Bezug zur Popularität Botaneiates her, Nikephoros Bryennios, Hylē Historias, Vorwort S. 56–59 und III, 21 S. 246–249. 55 Ioannes Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 727 f., übers. Trapp S. 159; Anna Komnene, Alexias, 2, x, 2–4, übers. Reinsch S. 97 f. Zu den deutschen Söldnern (Nemitzoi) siehe TODT, Deutsche in Byzanz S. 651 f. 56 Ioannes Zonaras, Epitomē Historiōn, III, 729, 730, übers. Trapp S. 160: οὐδὲν ἄμεινον πολεμίων πρὸς τοὺς ὁμοφύλους διατιθέμενοι. Anna Komnene erwähnt auch die von den eindringenden Truppen angewandte Gewalt, wenn auch nicht so explizit wie Zonaras, Anna Komnene, Alexias, 2, x, 3, übers. Reinsch S. 98.

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Herrschaft hatte langfristige Folgen, denn die Stadtbevölkerung vergaß dies nicht. Als die Kreuzfahrer 1096 vor den Toren Konstantinopels standen, berichtete Anna Komnene Folgendes über die Stimmung in der Stadt: Nicht nur diejenigen Byzantiner, die zur Masse des Pöbels zählten und feige und kriegsunerfahren waren, stöhnten, seufzten und schlugen sich die Brust beim Anblick der Schlachtreihen der Lateiner, da sie vor Furcht nicht wußten, was sie tun sollten, sondern sogar mehr noch diejenigen, die dem Autokrator wohlgesonnen waren, denn sie dachten an jenen Donnerstag, an welchem es zur Eroberung der Stadt gekommen war, und sie fürchteten deshalb, es könne an diesem Tag, der jetzt wieder bevorstand, die Strafe für das eintreten, was damals geschehen war. 57

An dieser Stelle beschreibt Anna Komnene zwei verschiedene Gruppen: die einfachen Leute und »diejenigen, die dem Autokrator wohlgesonnen waren«. Erste hätten sich davor gefürchtet, nochmals eine Plünderung der Stadt zu erleben, Letztere dagegen, dass sie bestraft würden für das, was sie im April des Jahres 1081 getan hatten. Das heißt, dass noch im Jahr 1096, also fünfzehn Jahre nach der Machtübernahme, Alexios und seine Unterstützer von der Stadtbevölkerung isoliert und offenbar unbeliebt waren. Sie lebten noch im Schatten des Verbrechens, das ihre Herrschaft begründete. Hierzu findet sich eine interessante Stelle im Geschichtswerk des Niketas Choniates, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts schrieb. Alexios habe demnach nicht mehr das Drängen seiner Frau Eirene Doukaina ertragen, statt ihres gemeinsamen Sohnes Ioannes den Schwiegersohn Nikephoros Bryennios als Nachfolger des Alexios zu bestimmen. Ungeduldig habe er ihr Folgendes entgegnet: »In meinem Fall würde auch das ganze Reich der Rhomäer laut auflachen und meinen, ich hätte den Verstand verloren, wenn ich, der ich nicht auf rechtmäßige Weise, sondern durch das Blut meiner Verwandten und unchristliche Empörung in den Besitz der Herrschaft gelangt bin, bei der Bestimmung des Nachfolgers mein eigen Fleisch und Blut überginge und diesen Makedonier einsetzte« 58

57

Anna Komnene, Alexias, 10, ix, 4: οὐ μόνον δὲ ὁπόσοι τοῦ συρφετώδους ὄχλου τῶν Βυζαντίων καὶ ἀνάλκιδες πάντῃ καὶ ἀπειροπόλεμοι τὰς τῶν Λατίνων φάλαγγας θεασάμενοι ἔστενον ᾤμωζον ἐστερνοτύπουν μὴ ἔχοντες ὑπὸ φόβου ὅ τι καὶ δράσαιεν, ἀλλὰ καὶ μᾶλλον ὁπόσοι εὖνοι περὶ τὸν αὐτοκράτορα, τὴν Πέμπτην ἐκείνην φανταζόμενοι καθ’ ἣν ἡ τῆς πόλεως γέγονεν ἅλωσις, καὶ δεδιότες διὰ τοῦτο τὴν ἐνισταμένην ἡμέραν, μή τις ἔκτισις τῶν τότε γεγενημένων συμβαίη, übers. Reinsch S. 347 f. 58 Niketas Choniates, Chronike Diegesis, ed. Jan-Louis van Dieten, John 2, 6,1: ἐπ’ ἐμοὶ δὲ καὶ μάλα καπυρὸν γελάσειε τὸ Πανρώμαιον, καὶ τῶν φρενῶν κριθείην ἀποπεσών, εἰ τὴν βασιλείαν οὐκ ἐπαινετῶς εἰληφώς, ἀλλ’ αἵμασιν ὁμογενῶν καὶ μεθόδοις Χριστιανῶν ἀφισταμέναις θεσμῶν,

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Obwohl es sich bei dieser Episode um eine Erfindung oder zumindest eine Überarbeitung des Choniates handeln dürfte, können dieser Bericht, die Episode aus der Alexias über die Belagerung der Kreuzfahrer im Jahr 1096 sowie das Vorwort in den Materialien für eine Geschichte als starke Hinweise dafür gelten, dass das Trauma infolge der Machtübernahme des Alexios und ihre Illegitimität lange im byzantinischen Gedächtnis fortlebte. Dieses Ereignis stellte für die Komnenoi sogar noch nach dem Tod des Alexios ein Hindernis für eine Annäherung zwischen der Dynastie und der Bevölkerung Konstantinopels dar. Die Ursache dafür, dass die Popularität des Nikephoros in der komnenischen Geschichtsschreibung verschwiegen wird, läßt sich also dadurch erklären, dass Alexios, obwohl er es versuchte, nicht den Anspruch erheben konnte, beim Volk beliebter zu sein, als Nikephoros III. es gewesen war. Während seiner Herrschaft fand eine bis dahin unerreichte Zahl von sogenannten Schandzügen statt 59 sowie Häresieverfahren, an denen die städtische Bevölkerung sehr interessiert gewesen zu sein scheint. 60 Dies stellten höchstwahrscheinlich Versuche des Alexios dar, auf die Bevölkerung zuzugehen. Das trifft insbesondere auf die Schandzüge zu, in denen die Bestraften in einem Zug durch die Straßen Konstantinopels vorgeführt wurden. Dabei mussten sie verschiedene Demütigung erleiden, wie etwa rasiert zu werden, Eingeweide von Tieren zu tragen oder von Heralden begleitet zu werden, die allen Zuschauern ihre Verbrechen kund taten. Dabei wurde der Verurteilte von dem anwesenden Volk gedemütigt und verspottet. 61 Nach Dominik Heher handelt δεῆσαν ταύτης ἀφεικέναι διάδοχον, τὸν μὲν ἐξ ὀσφύος ἀποπεμψαίμην, τὸν δὲ Μακεδόνα εἰσοικισαίμην. Übers. Franz Gabler S. 37 f. 59 Wir kennen mindestens vier Gelegenheiten, in denen Alexios einen Schandzug als Mittel für die Bestrafung von Rebellen benutzte: bei dem anonymen Rebell, den Theophylaktos von Ohrid in seiner Rede 1087 erwähnt (CHEYNET, Pouvoir et Contestation, Eintrag 122 S. 95), bei Humbertopoulos in den 1090er Jahren (CHEYNET, Pouvoir et Contestation, Eintrag 124 S. 96), bei den Anemas Brüdern vor dem Jahr 1104 (CHEYNET, Pouvoir et Contestation, Eintrag 130 S. 100 f.) und bei Gregorios Taronites im Jahr 1108 oder 1109 (CHEYNET, Pouvoir et Contestation, Eintrag 131 S. 101). Die Datierung Cheynets bedarf jedoch noch einer weiteren Überprüfung. Für Schandzüge in Byzanz s. HEHER, Heads on Stakes S. 12–20; MCCORMICK, Eternal Victory S. 179–188. 60 Das Interesse der Bevölkerung an Häresieverfahren während der Herrschaft des Alexios wird nicht nur im Bericht der Anna Komnene über das Verfahren gegen Ioannes Italos und gegen die Bogomilen erwähnt. Auch in den Akten selbst wird darauf hingewiesen. Zum Verfahren gegen Iohannes Italos s. BROWNING, Enlightenment and Repression S. 3–23; CLUCAS, The Trial of John Italos; GOURNARDIS, Le procès de Jean S. 35–47; JOANNOU, Christliche Metaphysik. Zu den Bogomilen siehe OBOLENSKY, The Bogomils S. 275–276; SMYTHE, Alexios and the Heretics S. 238; ANGOLD, Church and Society S. 479–487; MAMANKAKIS, Ο αυτοκράτορας, ο λαός και η Ορθοδοξία S. 137–186; BECK, Actus Fidei S. 3–72; zu den Akten des Verfahrens gegen Basileios, den Bogomilen s. ebendort S. 48 f. 61 MCCORMICK, Eternal Victory S. 180.

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es sich um ein öffentliches Ritual, durch das die gemeinsamen Feinde des Staates ausgetrieben wurden. In ihnen habe es zwar den Anschein gehabt, als ob die Macht in der Hand des Volkes gewesen sei, doch letztlich hätten sie lediglich der Legitimierung kaiserlicher Autorität gedient. Deswegen hätten die Schandzüge die Beziehung zwischen Kaiser und seinem Volk gestärkt. 62 Die Bemühungen des Alexios seinen Ruf bei der Bevölkerung Konstantinopels zu verbessern, waren jedoch nur zum Teil erfolgreich, wie gerade gezeigt. Die Beliebtheit des Nikephoros war somit für Alexios und seine Nachfolger ein Makel. Alexios musste sich des Widerspruchs zwischen seinen finanziellen Reformen, welche die byzantinischen Steuerzahler belasteten, und der Gewährung privilegierter und gut belohnter Ämtern an seine Familie und seine Unterstützern bewusst gewesen sein. 63 Die beste Lösung für die komnenische Propaganda war es daher, die Beliebtheit des unmittelbaren Vorgängers der Dynastie der Komnenoi in Vergessenheit geraten zu lassen und sie bei der Darstellung von dessen Herrschaft zu verschweigen. Nur Zonaras war eine Ausnahme, der wahrscheinlich nicht zur inneren Clique der komnenischen Elite gehörte und sein Geschichtswerk am Ende seines Lebens als Mönch verfasste. 64 Alexios I. bemühte sich aber auch um die Unterstützung der Anhänger des ehemaligen Kaisers oder versuchte zumindest zu verhindern, dass sie sich der Opposition gegen ihn anschlossen. Vor ihrer Machtübernahme waren die Komnenoi sogar sehr eng mit Nikephoros III. verbunden gewesen, hatte er doch Alexios und Isaakios nicht nur eine hervorgehobene Position in seiner Herrschaft eingeräumt, sondern hatte auch geplant, diese Beziehung durch eine Eheschließung zu festigen, wie im byzantinischen Adel üblich. So war, wie schon erwähnt, der Enkel des Nikephoros III. 1081 mit der ältesten Tochter des ältesten Bruders des Alexios verlobt und wohnte mit Anna Dalassene, der Mutter der Komnenoi-Brüder, zusammen, weil sie anscheinend seine Erziehung übernommen hatte. 65 Nach seiner Machtübernahme versuchte Alexios, sich durch seine Heiratspolitik den Botaneiatai und ihren Anhänger wieder anzunähern. 66 Zieht man diese Bemühungen des Alexios um eine Versöhnung mit den Mitgliedern des von ihm gestürzten Regimes in Betracht, dann versteht man, warum Borilos und Germanos für das angebliche Scheitern der Herrschaft des Nikephoros verantwortlich gemacht wurden. Nikephoros war 62 HEHER, Heads on Stakes S. 19. 63

Die finanziellen Reformen und die Steuerpolitik des Alexios I. wurden jüngst thematisiert von SMYRLIS, The Fiscal Revolution S. 593–610. 64 Zonaras, Epitomē Historiōn, ed. I. Dindorf, I, 4‒9, übers. Trapp S. 25–30. 65 S. o. Anm. 45. 66 Zu den Beziehungen zwischen den Komnenoi, den Botaneiatai und deren Anhängern s. CHEYNET, Pouvoir et Contestation S. 370.

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dann dieser Version gemäß ein großer Mann, der bei seinem Aufstieg zum Thron alt und schwach war und daher nicht für das angebliche Debakel seiner Herrschaft verantwortlich zu machen sei. Schuldig seien Borilos und Germanos, die in der Lage gewesen seien, diesen einmal großen, aber wegen seines Alters geschwächten Mann, zu kontrollieren. Obwohl dieses Bild wohl nicht den historischen Fakten entsprach, kann man sich vorstellen, dass es ein Kompromiss war, den beide Seiten akzeptieren konnten.

5. Fazit Aufgrund der Kürze der Herrschaft des Nikephoros III. scheint unter ihm keine grundsätzliche Änderung in der politischen Ausrichtung vollzogen worden zu sein. Er setzte vielmehr die Politik seiner Vorgänger fort. Insofern hielt auch der Zerfall der politischen Ordnung der letzten Jahrzehnte an. Dies kann anhand der Reihe von militärischen Aufständen vor und während seiner Herrschaft beobachtet werden. Dennoch entsprach die Art und Weise, wie Nikephoros und seine Herrschaft durch die Geschichtsschreibung dargestellt wurden, vor allem dem Bedarf der neuen Dynastie der Komnenoi, durch die er abgelöst wurde. Die Komnenoi präsentierten sich als Erneuer des Römischen Reiches, als neue Konstantine, wobei ihr Erfolg auf ihren Reformen, also der starken Einschränkung der kaiserlichen Freigebigkeit und ihrem persönlichen Eingreifen als Feldherren beruhte habe. Die Regierung des Nikephoros III. sei infolgedessen zum Symbol des Verfalls und von allem, was in Byzanz falsch gelaufen sei, geworden. Während die Komnenoi sich als strenge Reformer darstellten, war Nikephoros verschwenderisch. Wenn die Komnenoi durchsetzungsfähige Anführer waren, die mit starker Hand das Militär und die Verwaltung kontrollierten, hatte Nikephoros anderen die Staatsleitung überlassen. Nur was die Beziehung zur Bevölkerung Konstantinopels anging, ließ sich die Stilisierung des den Nikephoros in allen Bereichen übertreffenden Alexios nicht aufrechterhalten, überschatteten doch die gewaltsame Machtübernahme des Alexios I. und seine umstrittenen Maßnahmen zur Sicherung seiner Herrschaft seine Regierung. Insofern wurde die Popularität des Nikephoros in der unter komnenischen Hegemonie produzierten Geschichtsschreibung unterdrückt. Die einzige Ausnahme stellt nicht zufälligerweise Zonaras dar, der von allen Autoren dieser Zeit Alexios gegenüber am kritischsten eingestellt war.

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