Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung [Reprint 2018 ed.] 9783110841893, 9783110051599


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German Pages 594 [608] Year 1968

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Table of contents :
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen
Einführung
A. Vorbereitender Teil
I. Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung
II. Hilfsmittel
III. Die epistulae Heroidum des P. OVIDIUS Naso
IV. Die schreibende Heroine in der Buchillustration
B. Imitatio
I. Begriffsbestimmung der Ovid-Imitation; Darstellung ihrer Typen
II. Imitatio in Spätantike und Mittelalter
III. Frühhumanistische imitationes: Die Wiederentdeckung der epistula Sapphus und ihr e Nachahmungen
IV. Angelus de Curibus Sabinis (Angelo Quirino Sabino) und seine humanistischen Nachfolger
V. Lateinische imitationes im 16., 17. und 18. Jahrh
VI. Imitatio in den nationalen Sprachen
VII. Parodien der epistulae Heroidum
C. Der heroische Brief bildender und unterhaltender Zielsetzung
I. Die Erneuerung der heroischen Briefdichtung in Italien
II. Die Briefdichtung in Frankreich von etwa 1450 bis etwa 1600
III. Die heroische Briefdichtung in England: Michael DRAYTON
IV. Niederländisches Zwischenspiel
V. Giambattista MARINO und sein Kreis
VI. „Heldenbrieffe" in Deutschland
VII. Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung (etwa 1500—1700)
VIII. Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700: der heroische Brief in der Schulstube
D. Der heroische Brief im Zeitalter der Empfindsamkeit: Liebesverzicht und Seelenfreundschaft
I . Alexander POPE, Eloisa to Abelard (1717)
II. Yarico und Inkle
III. Chronologische Vorbemerkungen zur Abailard-Dichtung in Frankreich
IV. Ch. P. COLARDEAU (1732 — 1776)
V. Cl. J. DORAT (1734—1780)
VI. Charakteristik der Héroide im Zeitalter Dorat's
VII. Bestandsaufnahme der heroischen Briefdichtung in Frankreich 1758—1789
VIII. Die Thematik der Héroide
IX. Die Héroide im übrigen Europa
E. Ausklang: Der heroische Brief im 19. Jahrh
I. Restaurationsversuche in Frankreich
II. Die letzten lateinischen Dichter
III. Ausklang in Deutschland
IV. Ein Schlußwort aus Florenz
F. Die Kritik an der heroischen Briefdichtung
G. Rezeption, Inkrimination, Adaptation
I. Rezeption der epistulae Heroidum in Hoch- und Spätmittelalter—- eine Vorstufe künftiger Adaptationen
II. Exkurs: Der poetische Brief des Carlo CAVALCABUE von Cremona an die Dichterin Bartolommea di Mattugliano und deren Antwort (1406)
III. Die Umwertung der ovidischen exempla in Gegenbeispiele
H. Die religiöse Briefdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts
I. Heroides Sacrae
II. Religiös-moralische Briefdichtung: J. BALDE S. J.
III. Religiös-politische Briefdichtung im Jesuiten-Orden
I. Mahn- und Sendschreiben
I. Zur Einführung
II. Mahn- und Sendschreiben im italienischen Humanismus
III. Das poetische Sendschreiben in Frankreich (15./16. Jahrhundert)
IV. Mahn- und Sendschreiben in Deutschland im Zeitalter der Reformation
V. Briefdichtung von typisierten Absendern von der Mitte des 16. Jahrh. an
K. Briefe von Verstorbenen und von Sterbenden
L. Briefe des Teufels
M. Bevorzugte Themen der heroischen Briefdichtung (Ansätze zu einem Sach-Index)
Einleitung
1. Die Ecclesia als Briefschreiberin
2. Die Seele als Briefschreiberin
3. Briefgedichte zu Stoffen des Alten Testamentes
4. Kaiser, Könige und Päpste in der heroischen Briefdichtung
5. Abailard und Heloise
6. Mariana Alcoforado, die Portugiesische Nonne
7. Octavia — M. Antonius — Kleopatra
8. Briefgedichte um Ovid
9. Sappho und Phaon
10. Sophonisbe und Massinissa
11. Werther und Charlotte
Anhang: Ovidische Frauen-Gestalten der Mythologie (Heroinen)
N. Register
1. Länder und Städte, die für die Entstehung heroischer Briefe von Bedeutung waren
2. Die heroischen Briefdichtungen in chronologischer Anordnung ( = Publikationsliste)
3. Verzeichnis der Autoren
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Der heroische Brief: Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung [Reprint 2018 ed.]
 9783110841893, 9783110051599

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Heinrich Dörrie • Der heroische Brief

Dido schreibt an Aeneas, Stich von Jacobus H A R R E W I J N , vgl. S. 84ff.

Heinrich Dörrie

Der heroische Brief Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung

Walter de Gruyter & Co. Berlin 1968

Mit 9 Bildtafeln

Archiv-Nr. 3650 681 © 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Gutteniag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 (Printed in Germany) Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie. Mikxokopie) zu vervielfältigen, Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co. Umschlaggestaltung: Barbara Proksch, Frankfurt am Main

Chi non compatisce à gli errori della stampa, non conosce cosa sia immanità. Lo stampatore a chi legge, prefazione a La Dionea di Gio. Francesco Loredano, V 1636

Inhalt Einführung

1

A. Vorbereitender Teil I. Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung a) Zur Benennung dieser Gattung

7 7

b) Versuch einer Wesensbestimmung 10 1. auf Grund schematischer Kriterien 10 2. auf Grund der Stilgesetze, die in der heroischen Briefdichtung erkennbar sind 11 c) Der ästhetische Reiz und die literarische Funktion der heroischen Briefdichtung 21 d) Divergierende Tendenzen

25

e) Begründung der Untergattungen der heroischen Briefdichtung . . . .

28

f) Die Entwicklung der Untergattungen in ihren Grundzügen 1. Der literarisch-unterhaltende Brief 2. Der erbauliche Brief 3. Mahn- und Sendschreiben 4. Briefe von Toten oder Sterbenden 5. Briefe aus der Hölle g) Gründe für das Erlöschen der heroischen Briefdichtung

30 31 40 42 44 44 45

II. Hilfsmittel a) Zur Anlage dieser Arbeit

52 52

b) Hinweise für den Benutzer: Einführung in die Bibliographie; Abkürzungen 53 c) Bibliographie der allgemeinen Hilfsmittel 1. Bibliographie der Bibliographien 2. Bibliographie literaturgeschichtlicher Hilfsmittel d) Bibliographie der speziellen Hilfsmittel: Bibliographie der literaturwissenschaftlichen Behandlung und Kritik der heroischen Briefdichtung 1. seit etwa 1880 2. vor etwa 1820

57 57 59 61 61 62

Vili

Inhalt e) Bibliographie der Gedichtsammlungen, die ganz oder teilweise heroische Briefe enthalten

65

f) Hinweise auf ungedruckte heroische Briefe

68

g) Texte, die unerreichbar blieben, und einschlägige Zitate, die sich nicht verifizieren ließen

70

III. Die epistulae Heroidum des P . O V I D I U S Naso IV. Die schreibende Heroine in der Buchillustration

73

82

B. Imitatio I. Begriffsbestimmung der Ovid-Imitation ; Darstellung ihrer Typen II. Imitatio in Spätantike und Mittelalter III. Frühhumanistische imitationes: Die Wiederentdeckung der Epistula Sapphus und ihre Nachahmungen IV. Angelus de Curibus Sabinis (Angelo Quirino Sabino) und seine humanistischen Nachfolger V. Lateinische imitationes im 16., 17. und 18. Jahrhundert VI. Imitatio in den nationalen Sprachen VII. Parodien der epistulae Heroidum

91 96 101 104 107 112 121

C. Der heroische Brief mit bildender und unterhaltender Zielsetzung I. Die Erneuerang der heroischen Briefdichtung in Italien a) Vor- und Randformen der heroischen Briefdichtung in Italien

125 . . . . 126

b) Die ersten heroischen Briefe auf der Basis literarischer oder historischer Situationen 141

II. III. IV. V.

Die Briefdichtung in Frankreich von etwa 1450 bis etwa 1600 . . 147 Die heroische Briefdichtung in England: Michael D R A Y T O N . . . 158 Niederländisches Zwischenspiel 163 Giambattista M A R I N O und sein Kreis 170

VI. „Heldenbrieffe" in Deutschland a)

CHR. H O F M A N N

von Hofmannswaldau und seine Richtung

b) Antithese: Der erbauliche Brief

182 182 196

VII. Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung (etwa 1500—1700) 204 a) Poetische Briefe, von erfundenen Personen gewechselt (meist Briefpaare) 205 b) Poetische Briefe, unter Lebenden gewechselt

209

c) Der scherzhafte Brief

211

VIII. Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700: der heroische Brief in der Schulstube 214

Inhalt

IX

D . D e r heroische Brief im Zeitalter der Empfindsamkeit: Liebesverzicht und Seelenfreundschaft. I. Alexander POPE, Eloisa to Abelard (1717) II. Yarico und Inkle III. Chronologische Vorbemerkungen zur Abailard-Dichtung in Frankreich IV. Ch. P. COLARDEAU (1732—1776) V. Cl. J. DORAT (1734—1780) VI. Charakteristik der Héroide im Zeitalter Dorat's VII. Bestandsaufnahme der heroischen Briefdichtung in Frankreich 1758—1789 VIII. Die Thematik der Héroide

223 227 231 234 237 239 241 268

a) Skandalfälle der jüngsten Vergangenheit

260

b) Situationen aus aktuellen Romanen oder Dramen

262

c) Das Motiv des Liebesverzichtes

264

d) Heroische Briefe ohne erotisches Motiv

270

IX. Die Héroide im übrigen Europa a) in Deutschland

272 272

b) in den Niederlanden

276

c) in Schweden

280

d) in Rußland

281

e) in Spanien und Portugal

284

f) in England

286

E . Ausklang: Der heroische Brief im 19. Jahrhundert I. II. III. IV.

Restaurationsversuche in Frankreich Die letzten lateinischen Dichter Ausklang in Deutschland Ein Schlußwort aus Florenz

F . Die Kritik an der heroischen Briefdichtung

291 295 298 301 305

G. Rezeption, Inkrimination, Adaptation I. Die Rezeption der epistulae Heroidum in Hoch- und Spätmittelalter — eine Vorstufe künftiger Adaptationen 339 a) Die epistulae Heroidum in der Rezeption des Mittelalters 1. Die exemplarische Bedeutung der ovidischen Frauengestalten . . . 2. Die aus Ovid gewonnenen exempla im Verhältnis zu den von der Bibel gebotenen Normen 3. Die epistulae Heroidum (namentlich 1, 3, 5, 7, 13, 16 und 17) als Supplement zur Troia-Literatur 4. Ovids Heroinen im Ovide moralisé und in den Weltchroniken . . .

340 341 342 345 347

X

Inhalt b) Die exempla-Sammlungen des Frühhumanismus 1. Frühformen 2. G. B O C C A C C I O und Verwandte

350 350 353

3. G e o f f r e y CHAUCER u n d J o h n GOWER

355

4. Weitere Zeugnisse

357

II. Exkurs: Der poetische Brief des Carlo CAVALCABUE von Cremona an die Dichterin Bartolommea di MATTUGLIANO und deren Ant-

wort (etwa 1406)

358

III. Die Umwertung der ovidischen exempla in Gegenbeispiele

. . . 363

a) Grundsätzliches

363

b) Baptista

364

MANTUANUS

c) Die Heroides Christianae des Helius

EOBANUS

Hessus

369

d) Die literarische Nachfolge der Heroides Christianae auf evangelischer Seite 374

H. Die religiöse Briefdichtung des 16. und 17. Jahrhunderts I. Heroides Sacrae

381

a) Grundsätzliches

381

b) Neubeginn religiöser Briefdichtung

382

c) Heroides Sacrae als Dicht- und Ausdrucksform im Jesuiten-Orden. . . 389 1. J a c o b BIDERMANN ( 1 5 7 7 — 1 6 3 9 )

389

2. Heroides Sacrae in Flandern und in den Niederlanden

394

Anhang: Fra Giuseppe PARASCANDOLO OCarm

402

I I . Religiös-moralische B r i e f d i c h t u n g : J . BALDE SJ

404

III. Religiös-politische Briefdichtung im Jesuiten-Orden

406

a) S i d r o n i u s HOSSCHIUS u n d W i l h e l m BECANUS

b) Der Ovidius Christianus Dichtungen

des P. Laurent

LE

406 BRUN

SJ

und verwandte 409

c) Religiös-nationale Briefdichtung des Jesuiten-Ordens in ÖsterreichUngarn 412

I. Mahn- und Sendschreiben I. Zur Einführung

431

a) Grundsätzliches

431

b ) F r a n c e s c o PETRARCA

433

c) Die lamenti italienischer Städte und Staaten

II. Mahn- und Sendschreiben im italienischen Humanismus

436

. . . .

438

III. Das poetische Sendschreiben in Frankreich (15./16. Jahrhundert) . 443 IV. Mahn- und Sendschreiben in Deutschland im Zeitalter der Reformation 453 V. Briefdichtung von typisierten Absendern von der Mitte des 16. Jahrhunderts an 464

Inhalt

XI

Briefe von Verstorbenen und von Sterbenden

483

Briefe des Teufels

497

Bevorzugte Themen der Briefdichtung (Ansätze zu einem Sach-Index)

506

1. Die Ecclesia als Briefschreiberin

508

2. Die Seele als Briefschreiberin

509

3. Briefgedichte zu Stoffen des Alten Testaments

509

4. Kaiser, Könige und Päpste in der heroischen Briefdichtung

511

5. Abailard und Héloìse

517

6. Mariana ALCOFORADO, die portugiesische Nonne

523

7. Octavia — M. Antonius — Kleopatra

525

8. Briefgedichte um Ovid als Dichter heroischer Briefe

526

9. Sappho und Phaon

528

10. Sophonisbe und Massinissa

529

11. Werther und Charlotte

530

Anhang: Ovidische Frauen-Gestalten (Heroinen der Mythologie) . . . 531

Register 1. Länder und Städte, die für die Entstehung heroischer Briefe von Bedeutung waren 535 2. Die heroischen Briefdichtungen in chronologischer Anordnung (Publikationsliste) 536 3. Verzeichnis der Autoren

571

Verzeichnis der Abbildungen Titelbild: Dido schreibt an Aeneas, Stich von Jacobus Acht Bildtafefeln (eingefügt nach S. 87) :

HARREWIJN

Phaedra schreibt an Hippolytos, Stich von J. Harrewijn Laodamia küßt, während sie schreibt, die Büste des Protesilaos, der gleichzeitig vor Troia fällt, Stich von J. H. •Acontius an Cydippe, Cydippe an Acontius, Illustrationen zum Kommentar des A. Volscus und des Ubertinus Clericus, Venedig 1512 ^Illustration zur Epistula Sapphus aus dem gleichen Werk *Byblis schreibt an ihren Bruder Caunus, Illustration zu Les Métamorphoses d'Ovide etc., Brüssel 1677, S. 259 Cydippe schreibt an Acontius, Stich von J. Harrewijn Hermione schreibt an Orestes; im Durchblick: Orestes tötet Pyrrhus ; Stich von J. Harrewijn. Canace erhält, während sie an Macareus schreibt, die Aufforderung, sich zu töten. Im Durchblick : Aeolus befiehlt, das Kind der Canace den Hunden vorzuwerfen. Stich von J. Harrewijn. Die mit * bezeichneten Abbildungen entstammen Druckwerken aus dem Besitz der Bibliothèque Royale zu Brüssel, der ich für die Erlaubnis zum Abdruck herzlich danke. Die übrigen Abbildungen = Stiche von Jacobus Harrewijn (s. S. 84ff.) sind einem Expl. im Besitz des Verfassers entnommen.

Einführung Wer sich anschickt, die Nachwirkung der epistulae Heroidum in Mittelalter und Neuzeit nachzuzeichnen, sieht sich einer ganz ungemeinen Stoff-Fülle gegenüber. Das ist zunächst verwunderlich — denn die gängigen Handbücher pflegen das jeweils Originale (oder für original Gehaltene) in den Vordergrund ihrer Betrachtung zu rücken; einer auf Ovid bezogenen Literatur schenken sie gar nicht oder nur ungern Beachtung. Solches oft befremdliche Tot-Schweigen kann den, der näher zuschaut, nicht lange täuschen. Die Dichtungen, in welchen Ovid die — selten glücklichen, oft unheilvollen — seelischen Beziehungen darstellt, welche zwei Liebende miteinander knüpfen, sind bis in das 19. Jahrh. hinein für die abendländische Dichtung ein Modell von ständiger Aktualität gewesen. Es gilt, eine Literaturgeschichte der heroischen Briefdichtung zu schreiben. Zwar wird eine solche Literaturgeschichte kaum Namen zu nennen haben, die man der Weltliteratur zurechnet — immerhin verdankt sie Francesco Petrarca und Alexander Pope wichtige Impulse; aber eine ganz bestimmte Bedeutung darf die Geschichte dieser Literatur für sich in Anspruch nehmen: sie erforscht ein literarisches Genos, in dem Originalität nichts, dagegen ein möglichst vollendeter Nachvollzug von schon Gegebenem alles bedeutete. Eine auf Originalität gerichtete Betrachtung der Literatur wird dieses Genos auch weiter verachten — es vermag gar nicht in die Blickrichtung solcher Betrachtung zu treten. Richtig verstandene Kulturgeschichte wird sich vielleicht dieser Forschungsrichtung annehmen. Denn das Bewußtsein weiter Zeiträume ist weit stärker von derart nachvollziehender, in die Breite wirkender und dabei variierender Literatur geformt worden, als von den stets seltenen Höhen-Leistungen, die oft erst von Nachfahren voll gewürdigt werden. Was die Ovids epistulae Heroidum nachvollziehende Literatur hervorgebracht hat, läßt sich den drei Bereichen der Rezeption, der Imitation und der Adaptation zuordnen; für diese drei Termini sollen künftig synonym die Ausdrücke Übernahme, Nachahmung und Umsetzung verwendet werden. Was die derart nachvollziehenden Dichter beabsichtigten, läßt sich gleichfalls dreifach unterteilen: 1

Heroische Briefdichtung

2

Einführung

A. Einige wollten erziehlich oder erbaulich wirken. B. Andere wollten in politischer oder kirchenpolitischer Diskussion eine aktuelle Wirkung erzielen. C. Weitaus die meisten wollten unterhalten. Vielleicht ist es voreilig, den recht großen, bisher noch nie aufgearbeiteten Komplex derart theoretisch-begrifflich zu unterteilen. Immerhin hat diese Gliederung den Vorteil, dem, was bisher sichtbar wird, praktisch gerecht zu werden. Sie darf und soll indes nur als eine Arbeitshypothese angesehen werden; sie hat zu verschwinden, wenn neue Erkenntnisse über das Wesen dieser Dichtgattung die damit aufgerichteten Abgrenzungen als störend oder sinnwidrig erweisen. Vorerst empfiehlt sich die Reihenfolge Rezeption, Imitation, Adaptation darum, weil sie (trotz vieler Überschneidungen) die in verschiedenen Zeiträumen verschiedene Ovid-Nachwirkung kennzeichnet: Rezeption = Übernahme fand vorwiegend während des Hohen und Späten Mittelalters statt, als man ovidische Texte z. T. modifiziert, nicht selten aber in wörtlichen Übersetzungen in zeitgenössische Werke herübernahm und in diese förmlich einbaute. Imitation — Nachahmung ist die dem Humanismus aller Zeiten gemäße Form der Nachfolge Ovids : entweder werden die ovidischen Stoffe mit den eigenen Worten des Dichters neu behandelt, oder es werden Antworten zu den ovidischen Briefen verfaßt. Wer rezipiert, bedient sich fast immer einer nicht-lateinischen Sprache; wer imitiert, tritt zu Ovid entweder in Konkurrenz oder in Korrespondenz ; darum mißt er sich in Ovids Sprache mit seinem Vorbild. Adaptation = Umsetzung bedeutet: man erschließt der Dichtung Stoffe und Probleme, die Ovid fremd waren. Man hält aber an Ovids Form — der Form des heroischen Briefes — fest; denn man bedarf dieser Form; ohne sie müßte man fürchten, nichts Gültiges zu sagen. Nicht wenige wissen, daß diese Dichtart einen bestimmten poetischen Reiz ausübt, weil alle Aktion suspendiert ist ; so bedient man sich des heroischen Briefes, um historische, vor allem aber seelische Situationen mit den Kunstmitteln Ovids darzustellen. Die Rezeption erlischt mit dem Beginn der Neuzeit1 ; die Imitation, neben der Rezeption das ganze Mittelalter hindurch gepflegt, verliert mehr und mehr an Boden ; freilich bringt sie im 18. Jahrh. die Ovid-Travestie hervor, namentlich in England. Statt ihrer entfaltet sich, von Italien aus vordringend, breit àie Adaptation-, aus drei verschiedenen Ansätzen gehen — alle auf ovidischer Basis — drei verschiedene Dichtungsformen hervor : das Send1

A. W. VON SCHLEGEL hat in seiner Ballade .Ariadne' (vgl. unten S. 120) längere Partien aus Ovids 10. Brief und aus Catull c. 64 rezipiert und miteinander verschmolzen. Entstanden ist damit etwas, das der moderne Leser als Plagiat empfindet — längst war legitimer Rezeption der Boden entzogen. Soviel ich sehe, hat niemand den seltsamen Versuch wiederholt.

3

Einführung

schreiben, das im Namen einer allegorischen Figur spricht, der erbauliche Brief — Heroides

sacrae, in w e l c h e m d a s ovidische P o s t u l a t , d a ß

nur Frauen solche Briefe schreiben, am strengsten erfüllt wird, und die literarische epístola eroica, die den weitesten Widerhall fand und die — von Lissabon bis St. Petersburg verbreitet — es verdient, eine europäische Dichtform genannt zu werden. Ihre Geschichte reicht von 1470 bis 1840; die erste solche Dichtung wurde geschaffen, um Lorenzo den Prächtigen zu erfreuen, die letzte trägt die Merkmale des beginnenden viktorianischen Zeitalters an sich.

Mein aufrichtiger und herzlicher Dank gebührt den zahlreichen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren, die meine Arbeit durch viele Nachweisungen und Ergänzungen bereichert haben. Wohin ich mich wandte (und ich habe mit allen im Text aufgeführten Bibliotheken korrespondiert), traf ich auf hilfsbereites Verständnis. Die GelehrtenRepublik, von der das 18.Jahrh. träumte, scheint im Zusammenwirken der über 50 Damen und Herren, die ich um ihre Hilfe bat, verwirklicht zu sein. Diese Einmütigkeit eines literarischen Europa hat mir tiefen Eindruck gemacht. Ich danke allen Helfern sehr herzlich. Besonders habe ich der Fernleihe der UB Münster zu danken. Die dort tätigen Damen haben mit bewährter Findigkeit das Ihre getan, um mir Hunderte von entlegenen Drucken zugänglich zu machen. Bei den schwierigen Korrekturen haben mich Frau I. SCHWARK und Herr Fr. ZELLERHOFF mit viel Verständnis, ja mit Spürsinn nachhaltig unterstützt; auch ihnen für die ausdauernde Hilfe meinen wärmsten Dank! Wieviel dieses Buch im Großen und im Detail, in der Vorbereitung und beim Abschluß meiner Frau verdankt, das müßte in einem eigenen Buche dargestellt werden. Um's aber doch in einem Wort zu sagen: Operi

Münster i. W . , im Juni

I*

1968

adfuit.

HEINRICH DÖRRIE

A. Vorbereitender Teil

I. Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung a) Zur Benennung dieser Gattung In diesem Buche soll eine Literatur-Form vorgestellt werden, die trotz ihrer einstigen Bedeutung so völlig vergessen worden ist, daß nun gar Überlegungen zur zweckmäßigsten oder treffendsten Benennung dieser Gattung angestellt werden müssen. Gedichte dieser Gattung wurden in Italien im 17. und 18. Jahrh. efiistole (h)eroiche, in Frankreich épitres héroïques genannt. Dem entsprach in England die Bezeichnung Heroical(l) Epistles; deutsche Dichter nannten diese Dichtungen ¡pelbenbrieffe. Dagegen taucht die Bezeichnung Heroide (frz. héroide, span. heroyda1) nur ganz sporadisch2 auf; in Frankreich scheint zunächst nur J. B. de C R O I S I L L E S 3 (1619), dann in zeitlich weitem Abstand B. F O N T E N E L L E (1698) dieses Wort für heroische Briefe verwendet zu haben. Erst 1758 wird—schlagartig—das Wort héroide als literarischer Terminus aufgenommen4. Denn in jenem Jahre hatte COLARDEAU'S Nachdichtung des von P O P E verfaßten Briefes der Heloise an Abailard einen ungemeinen Erfolg. Danach und dadurch wurde die ,Heroide' während der drei Jahrzehnte, die der Revolution vorangingen, zur literarischen Mode5. Ja, man glaubte, in ihr eine Dichtgattung von Eigenartigerweise tragen die Dichtungen des Don Diego de VERA y Ordonez de Villaquiran, die im eigentlichen Sinne gar keine heroischen Briefdichtungen sind, den Titel Heroydas Belicas y Amor osas (Barcelona 1622), vgl. unten S. 206. Das Wort heroyda stand also zur Verfügung, hatte aber noch keine terminologische Einengung erfahren. 2 Allerdings hatte dieses Wort einen ständigen und legitimen Ort im erbaulichen und im religiösen Brief. Nahezu alle Sammlungen solcher Briefe (vgl. unten S. 381ff,) sind überschrieben mit Heroides Christianae oder Heroides Sacrae, womit der Abstand von den Heroides Ovidianae bezeichnet werden soll. Eben darum kann Heroides ohne unterscheidendes Beiwort jahrhundertelang nicht gesagt werden. 8 Vgl. unten S.114. 4 Offenbar war das Wort so neu, daß es den Lesern verdeutlicht werden mußte. So F. de LA HARPE, Essai sur l'héroide en général (Ausg. vgl. unten S. 244) : L'héroide n'est autre chose qu'une épître héroique comme le terme lui-même désigne. Der Abbé PARMENTIER, pièces fugit. 5, 252, stellt fest: La lettre héroique annonce par son titre seul qu'elle doit être l'interprète des Héros. 6 Sorgfältig verzeichnet der Baron F. M. GRIMM in seiner correspondance littéraire 1

8

Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

gleicher Aussagefähigkeit und Gültigkeit zu besitzen8,wie etwa Tragödie oder Roman sie boten. Wohl zu allen Zeiten war man sich bewußt, daß Ovid durch seine epistulae Heroidum der Ahnherr dieser Gattung ist. Aber durch ein auf Flüchtigkeit beruhendes Mißverständnis7 setzte man die Gestalten Ovids ( = Heroides) gleich mit der Gattung8. Dies Faktum ist lehrreich als Beleg dafür, daß den Dichtern von Heroides die Erinnerung an die im vorklassischen Frankreich ab und an gepflegte epistre heroique abhanden gekommen war9. So hat erst jener Neu-Ansatz von 1758 das Wort Mroide zum Terminus geprägt. Unter diesem Namen ist die Gattung von H E R D E R , von La H A R P E und nachmals von den Romantikern aufs bitterste bekämpft worden. Unter diesem Namen fristet sie ein kümmerliches Dasein in einigen französischen und deutschen Handbüchern10. Mit einem Seufzer der Erleichterung konstatierte einst E. N. VIOLLET-le-Duc d. Ä.11, daß diese Gattung erloschen sei. Die wenigen Zeilen, die Viollet-le-Duc diesem Phänomen gewidmet hat, sind zur Basis der leider meist kenntnisarmen und den Sachverhalt verzeichnenden Lexikon-Artikel s. v. Heroide geworden. — Hiernach scheint es angebracht, an der ursprünglichen Bezeichnung epistola (h)eroica wieder anzuknüpfen. Darum wurde für das hier zur Rede stehende literarische Phänomen die Bezeichnung .heroische Briefdichtung' gewählt. Nur für den spätesten Abschnitt (ab 1758), und nur insofern die Dichter selbst ihr Werk so nannten, scheint die Bezeichnung .Heroide' zulässig.

8

7

8

9

10 11

das Erscheinen der einzelnen Gedichte dieser Gattung. Seine Aufzeichnungen werden zum wertvollen Hilfsmittel, die Chronologie innerhalb dieser Welle von Publikationen, die einander respondieren, festzustellen. Wohl mit Rücksicht darauf erkannte die Académie Française bereits 1762 das Wort héroide an. Das Mißverständnis ist aus dem Umstand erklärbar, ja entschuldbar, daß in den gängigen Ausgaben die Dichtung Ovids mit Epistulae Heroides (statt: epistulae Heroidum) überschrieben war, was sich zum Terminus verfestigte; vgl. S. 83,145A. 35. Es wäre nahezu korrekt gewesen, wenn man Sammlungen solcher Gedichte mit Hiroides (als fem. plur.) bezeichnet hätte. Aber üblicherweise publizierte man diese Gedichte einzeln, verwandte also héroide im Singular. Und man hatte gar kein Arg dabei, in solchen Dichtungen vorwiegend Männer als Heroen zu Wort kommen zu lassen. Damit wird die Unschärfe vollends unerträglich. Dem Gedicht des Abbé P A R M E N T I E R folgt in der Sammlung pièces fugitives 5 , 2 5 1 eine literarhistorische Erwägung. Dieser Autor, weithin La H A R P E verpflichtet, weiß nur von Versuchen in dieser Dichtgattung unter Ludwig XIV., und er weiß von F O N T E N E L L E . Das Verdienst wirksamer Neu-Belebung wird einzig C O L A R D E A U zugeschrieben. Vgl. Übersicht unten S. 65. Emmanuel-Nicolas VioixET-le-Duc (1781—1857), Précis d'un traité de poétique et de versification, P 1829, 197, vgl. unten S. 64.

Zur Benennung dieser Gattung

9

Nur im Frankreich des 17. Jahrh. (mit einer Ausstrahlung nach Spanien12) und nur in der Terminologie des Jesuiten-Ordens ist der Terminus epistola heroica anders verstanden worden. Nach einer von P. Jos. JOUVENCY SJ (1643—1719) formulierten Definition13 muß ein poetischer Brief dann als epistola heroica bezeichnet werden, wenn er an Könige oder hochstehende Personen gerichtet ist. Bei dieser Definition ist die Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen, daß jemand unter dem Namen einer mythischen oder historischen Person schreiben könnte. Alle Briefe sind als aktuell gedacht, der Pseudonymität ist kein Raum gelassen. Im literarischen Bereich ist diese abweichende Terminologie nicht wirksam geworden. Darum kann und soll es bei der oben begründeten Benennung bleiben. Nur sollen hier die Titel jener Dichtungen verzeichnet werden, die der Dichter epistolas heroicas benannte, obwohl sie nach der gängigen Begriffsbestimmung keine sind. Pierre Le MOYNE S J (1602—1671), Lettre héroïque envoyée à Mgr. le Prince, en Catalogne, P 1648 [Paris BN], B L F 42376. ders., La veue de Paris, lettre héroique et morale à Mgr. le Chancelier, P 1 6 5 9 . B L F 42384. ders.. Lettre héroique à Mgr. le Prince, sur son retour, P 1660. B L F 42386. ders., Lettre héroique sur le temps et sur l'inconstance des choses humaines, P 1657. B L F 42383. ders.. Le spéculatif, lettre héroique et morale à Mgr. le cardinal Antoine Barberin, P 1656. B L F 42389.

Rund ein Jahrhundert später begegnen in England folgende Analogien : William MASON, An heroic epistle to Sir W. Chambers, Lo 1773 [London BM]. William COMBE, An heroic epistle to. . .Lord Craven.. . L o 1775 [London BM]. William CRAVEN (first Earl of Craven), The heroic epistle... answered, Lo 1776 [London BM]. 12

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Einziger Beleg: Don Diego de VERA y Ordonez de Villaquiran, Heroydas Belicas y Amorosas, Barcelona 1622; hierin schreibt der Dichter an hochgestellte Personen, allen voran an die Könige von Spanien und von Frankreich. P. Jos. JOUVENCY S J , Institutiones poeticae I V 2, 2 (zitiert nach einem Nachdruck Turin 1870): De epistola poetica. Quid est epistola poetica? R. Est epistola poetica versibus scripta cultuque ornata poetico. Quomodo dividuntur epistolae poeticae? R. Dividuntur in heroicas philosophicas et familiares. Heroica est quae ad reges vel illustres viros scribitur et res eorum praeclare gestas narrat, velut Boileau epist. 4 ad Regem Ludovicum . . . Diese Einteilung ist ersichtlich auf der Basis der horazischen Epistolographie gewonnen und im Hinblick auf Boileau erweitert worden. Auf Ovids epistulae Heroidum fällt kein Seitenblick -— in der Societas Jesu waren sie keine Schullektüre (vgl. unten S. 395 A. 31.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

b) Versuch einer Wesensbestimmung 1. aufgrund schematischer Kriterien Dieser Gattung werden im folgenden alle literarischen Werke zugerechnet, die folgende Merkmale aufweisen: 1. Es handelt sich durchweg14 um Dichtung in Versen. 2. Diese Dichtungen geben sich als Briefe. 3. Sie lassen einen „Helden" als Absender und meist auch als Empfänger erkennen. Der Dichter schreibt also nicht im eigenen Namen 15 . 4. Mit der Wahl des „Helden" ist ein heroischer Brief situationsgebunden; er muß aus einer intrigue im Sinne des 17. Jahrh. hervorwachsen16. Allgemeine oder grundsätzliche Probleme — eigentlicher Gegenstand nichtheroischer Briefdichtung von Horaz bis Boileau und weit darüber hinaus — können im heroischen Brief nur durch das Medium des schreibenden „Helden" behandelt werden. Diese vier Merkmale bewirken eine starke Bindung der heroischen Briefdichtung ; auf ihnen beruht die Konstanz der Gattung. Weitgehende Freiheit besteht in der Wahl a) des Helden, b) der Situation. Die Entwicklung, welche die heroische Briefdichtung durchlaufen hat — einschl. der Absonderung mehrerer Unter-Genera — ist ganz wesentlich daher bestimmt, welche Motiv-Kreise und welche Kreise heroischer Gestalten ins Blickfeld der Dichter treten. Dabei wird angestrebt, daß Held und Situation dem Lesepublikum schon vor der Lektüre bekannt sind17 — notfalls unterrichtet ein argumentum oder ein avertissement den Leser über das Wichtigste. Mit aller Strenge aber ist die Stilhöhe festgelegt : der Held darf keine triviale oder Alltags-Persönlichkeit sein ; die Situation darf nicht banal, nicht vulgär, nicht plebejisch sein; die sprachliche Gestaltung hat sich diesen Erfordernissen anzupassen. Einzig in der Travestie werden diese Regeln mutwillig verletzt. Systematisierende Literaturbetrachtung ordnet die heroische Briefdichtung gern mit der Elegie zusammen. Dafür nimmt man in Anspruch, daß Ovids epistulae 14

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Ab und an ergeben sich Verzahnungen der heroischen Briefdichtung mit ProsaWerken — so bei der Entstehung der Gattung, durch die scherzi geniali des Gianfrancesco L O R E D A N O und durch die Toten-Briefe der Elisabeth R O W E . Blickt man aufs Ganze, so sind das seltene Ausnahmen. Ausnahme blieb auch der Versuch von N. R E N O U A R D und J. B. de C R O I S I L L E S (vgl. S. 114), Ovid-Nachahmungen in Prosa anzubieten. Damit bleibt die reiche Literatur poetischer Briefstellerei, in der der Dichter im eigenen Namen spricht, außer Betracht. Die beste Definition der Gattung gibt Daniel C R A V F U R D im Xitel seines Werkes Ovidius Britannicus, London 1703: Love Episttes in Imitation of Ovid, being an Intreague betwixt two Persans of Quality. Diese Tendenz hat zu weitgehenden Folgerungen geführt; vgl. unten S.14,27f.,205.

Versuch einer Wesensbestimmung

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Heroidum formal gesehen Elegien sind. Aber das ist auch der einzige Berührungspunkt — für eine Wesensbestimmung des heroischen Briefes ist aus seiner (vermeintlichen!) Nähe zur Elegie nichts zu gewinnen. Soweit im 18. Jahrh. Erwägungen zur Theorie des heroischen Briefes angestellt wurden, sprachen sich alle dafür aus, den heroischen Brief klar von der Elegie zu trennen 18 .

2. aufgrund der Stilgesetze, die in der heroischen Briefdichtung sind

erkennbar

An die Seite einer von außen gewonnenen, formalen Bestimmung soll nun eine zweite treten, die von der inneren Gesetzlichkeit hergeleitet ist. 1. Alle heroische Briefdichtung geht auf die epistulae Heroidum des Ovid zurück. Allen Dichtern dieser Gattung ist vorgegeben —vielen bewußt, wenigen unbewußt — in der Nachfolge Ovids zu stehen. Damit ist die .Ausgangslage' sehr verschieden von der in den Genera Epos, Lyrik, Lehrgedicht, Roman, Komödie und Tragödie. Dort bot die Antike für jedes Genos viele exempla, verfaßt von vielen Dichtern beider Sprachen. Dagegen sind die epistulae Heroidum das einzige Gegenbeispiel. Nur in diesem Falle geht eine moderne Gattung auf ein einziges antikes Dichtwerk zurück. Darum sind sowohl die stilistische Bindung an Ovid, als auch das Rivalisieren mit Ovid19 viel stärker ausgeprägt als etwa die Bindung moderner Tragödie an Seneca oder moderner Komödie an Terenz. 2. Le principal but de l'héroide est d'émouvoir20. Mit diesem Nenner ist die Gemeinsamkeit bezeichnet, die sich durch alle heroische Briefdichtung trotz aller Vielfalt zieht. In diesem Merkmal, daß der heroische Brief auf Gemütsbewegung abzielt, setzt sich die von Ovid herrührende Zwecksetzung fort, daß die epistulae Heroidum regelmäßig Suasorien sind. Und die Auffaltung der heroischen Briefdichtung in mehrere Unter-Genera hat ihren konstitutiven Grund darin, zu welchen Reaktionen die vom Dichter erweckte Gemütsbewegung führen soll. Durchweg ruft ein Mahn- oder Sendschreiben zu politischer oder konfessioneller Entscheidung auf ; die Heroides Sacrae wollen erbauen und zu religiöser Vertiefung führen. Zwischen beiden Gruppen stehen die .Briefe aus dem Jenseits', die teils auf die moralische Besserung des Einzelnen, teils auf politische Wirkung zielen. Gewiß ist ein überwie18

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Vgl. A. M. H. B l i n de Sainmore, Vorrede zu Héroides ou Lettres en vers, 3 P 1767: L'élégie se contente de gémir près d'un cercueil\ l'héroide éclate et se précipite elle même au tombeau. In seinem Grabgedicht auf Cl. Dorât Aux mânes de Dorât rühmt Antoine Marie Le M i e r r e , pièces fugitives, P 1782, 234, den Verstorbenen mit dem wohl gelungenen Vers: Aussi fécond qu'Ovide, et souvent son rival. Dieser Satz steht in der Vorrede zu : Héroides ou lettres en vers, 3 e édition, par M . B l i n de Sainmore, P 1767.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

gender Teil der heroischen Brief-Dichtung .unterhaltender' Natur — das besagt aber nicht, daß der Leser in der Stellung des nüchternen Beobachters belassen wird. Sondern er wird nach Möglichkeit in die seelischen Spannungen 21 des schreibenden Helden hineingezogen. So sehr die heroische Briefdichtung historische oder literarische Stoffe bevorzugt hat — sie hat sich nie der Möglichkeit begeben, im aktuellen Bereich zu wirken22. 3. Die heroische Briefdichtung ist außerstande, Handlung darzustellen. Sie pflegt Situationen nachzuvollziehen und Motive künftiger Handlungen erkennen zu lassen. Ihr monologisches Element macht sie geeignet, einen Helden im Zwiespalt oder im Entschluß abzuschildern. Also stellt sie statt Handlung seelische Abläufe vorzugsweise23 dar. Damit hat die heroische Briefdichtung etwas vorwiegend Analytisches an sich ; aber sie entläßt ihren Leser fast nie mit dem Bewußtsein einer gefundenen Lösung24. Freilich kommt dem Wunsche, am Ende müsse ein dénouement stehen, ab und an — jedoch nicht häufig — das Briefpaar entgegen. Ein ungeschriebenes Gesetz hat — von verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen — verhindert, daß die heroische Briefdichtung sich zum Briefroman oder zur Briefnovelle ausweitet. Hier und da einmal ist einem Briefpaar ein dritter Brief zugefügt worden 25 , durch den das dénouement erkennbar wird. Eine Briefnovelle in Versen ist indes nur ein einziges Mal verfaßt worden ; — nämlich von Francesco ZAMBECCARI 26 . Im übrigen ist der Dichter eines heroischen Briefes 21

Die Lektüre eines heroischen Briefes soll dem Leser Tränen entlocken, so B L I N de Sainmore in der o. zit. Vorrede La meilleure défense qu'on puisse oposer (sic !) aux détracteurs de l'héroide, c'est d'en donner une qui les intéresse et leur arrache des larmes. M. Le M I E R R E rühmt in seinem Grabgedicht auf Cl. Dorât Aux mânes de Dorât, pièces fugitives. P1782, 234 Tu devais nous rouvrir une source de larmes. 22 Das ist daran abzulesen, wie mehrere Dichter gegen die Justizirrtümer in den Mordprozessen gegen Jean Calas und Thérèse Danel auftraten, vgl. unten S. 261 f. 23 Im avertissement zur Epître d'Héloise à Abélard, traduite de M. Pope et mise en vers par M. F E U T R Y , L O 1 7 5 1 , wird gerühmt: On y peint les combats de la nature et de la grâce, de la passion et de la vertu. 24 Hierin liegt der Grund, warum eine aufs Aktuelle gerichtete Briefdichtung den Leser mit der Forderung entlassen konnte, an der Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit mitzuwirken — so in den Briefen, die um den Fall Calas herum entstanden. 25 Beispiele dafür finden sich bei H O F M A N N S W A L D A U und bei L O H E N S T E I N (vgl. unten S.183f.), die beide die skandalumwitterten Liebesgeschichten, die Gegenstand ihrer Briefdichtungen sind, durch Vermehrung der Briefe in die Länge ziehen, und Cl. D O R A T (unten S. 252), der die rührende Geschichte von Yarico-Zeila immer weiter ausspann; den letzten Brief fügte er hinzu, damit der Leser den Ausgang der Geschichte, ein happy-end, kennen lernt. 26 Francisci ZAMBECCARII equitis et poetae laureati (ca. 1 4 4 5 — 1 4 7 5 ) epistulae de amore Philochrysi et Chryseae, Bologna 1496.

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Versuch einer Wesensbestimmung

genötigt, in dem einen Brief, oder höchstens in einem Briefpaar, seinen Stoff zu erschöpfen. 4. Durch dieses Gesetz rückt der heroische Brief in die Nähe des Monologs im Drama. Auch dieser muß — jedenfalls in der Tragödie — die Forderung nach Erhabenheit erfüllen, und er kann nur von einem „Helden" im Sinne des oben S. 10 umrissenen Begriffes gesprochen werden. Dabei ist der heroische Brief der strengen Forderung, welche die „Einheit des Ortes" der Tragödie auferlegt, zu einem Teil entrückt: Er kann sich an eine weit entfernte Person wenden, die nach den Regeln des Dramas gar nicht auftreten könnte27. Aber der heroische Brief war viel strenger, als das für die Tragödie galt, an das Postulat der .Erhabenheit' gebunden. Die Tragödie vermochte sich ins Bürgerliche zu wandeln. Aber während ein sich als bürgerlich empfindendes Zeitalter sich im bürgerlichen Trauerspiel widergespiegelt fand, blieb der heroische Brief an die Notwendigkeit gebunden, Menschen darzustellen, die in Lebensstellung, Schicksal oder Liebeserlebnis außergewöhnlich waren. Er konnte nicht bürgerlich werden, weil er das Durchschnittliche oder Typische im bürgerlichen Lebenskreise nicht zum Thema haben konnte. Seine Ausdrucksmöglichkeiten sind auf das Erhabene beschränkt. 5. Im Unterschied zur Tragödie gibt der heroische Brief keine Exposition28. Das liegt mit an dem Vorbild, das die efiistulae Heroidum des Ovid gaben; diese sind mit deutlichem Verzicht auf alles Einleitende verfaßt; einige brüskieren gar den Leser durch ihren unvermittelten Einsatz29. Aber auch ohne diese traditionelle Bindung an das ovidische Vorbild mußte der heroische Brief an einer — gewiß oft fragwürdigen — Unmittelbarkeit festhalten. Die Fiktion, daß ein Held in zwiespältiger, bedrohter oder unheilvoller Lage einen Brief schreibt, wäre in vielen Fällen gänzlich absurd geworden, wenn der Held seinem Partner umständlich die Lage auseinandersetzen müßte. Daß alle heroischen Briefe in Wahrheit nicht für den fiktiven Adressaten, sondern für den wirklichen Leser geschrieben sind, läßt der Dichter aus guten Gründen stets im Dunkeln (vgl. unten S. 25). Deshalb hat er nur in ganz bescheidenem Maße — und das nur mittelbar — die Möglichkeit zur Verfügung, seinen Leser zu informieren. Im Grunde muß dieser, 27

Hier liegt der Grund, warum z. B. Samuel BRANDON seiner Tragödie The virtuous Octavia, L o 1598, ein Briefpaar Octavia-Antonius beigibt: Er gewinnt die Möglichkeit, die dramatische Situation über das szenisch Mögliche fortzuspinnen.

28

Natürlich kann — vor und außerhalb — ein argumentum gegeben werden — was aber wohl stets als schwacher Notbehelf empfunden wurde.

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J. VAHLEN, =

Über die Anfänge der Heroiden

des Ovid,

AbhPreußAkad.

1881

Kl. Sehr. I I 72ff., hat das Nötige gegen die Vermutung gesagt, viele Briefe seien

am Anfang verstümmelt.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

ehe er die Lektüre beginnt, zumindest den äußeren Ablauf der Dinge kennen 30 . Während also die Tragödie (wenn ihr Dichter das will) ein neues sujet einführen und durch eine Exposition dem Publikum vertraut machen kann, ist dies dem heroischen Brief durchaus unmöglich. Wichtigstes Stilgesetz für diesen ist: Er muß durchaus und immer Zweitvollzugzl einer dem Lesepublikum bekannten Situation sein. Damit ist er auf Stoffe beschränkt, die den Gebildeten vertraut waren32. Damit ist dem heroischen Brief ein Rahmen gegeben, der sich je länger desto mehr als eine allzu starre Beschränkung erwies. Wohl kann der Dichter eines heroischen Briefes an einer Situation, über die ein Vorgänger (Mythograph, Historiker, Dichter) rasch hinwegging, Feinarbeit leisten. Er kann die Analyse einer ungewöhnlichen Lage oder eines ungewöhnlichen Charakters verfeinern. Er kann ein rhetorisches Kunstwerk schaffen. Er kann durch sein Gedicht mit einem Vorgänger rivalisieren und diesen zu übertreffen versuchen. Zweierlei kann er nicht: er kann keine originale Dichtung geben, und er kann nichts über sich selbst aussagen. In einer Zeit, die vom Dichter weder Originalität noch Selbstaussage forderte, war das kein Makel. Im Gegenteil, ähnlich der Kunst des Kupferstechers, der manches Detail klarer hervorhebt als das Original es bietet, war der heroische Brief als Dichtgattung hochgeachtet. Zweifellos wollte ein Lesepublikum von beachtlicher Breite 33 eben solche Zweitvollzüge. Zweifellos empfand es literarischen Genuß bei verweilendem Betrachten des Details, namentlich beim Auskosten des Emotionalen, an dem diese Dichtungen reich sind. 6. Aus den dargestellten Wesens-Merkmalen ergibt sich, daß die heroische Briefdichtung eine Literatur für Gebildete darstellt. Deswegen ist sie viel mehr, als das für andere Literaturformen gilt, in ganz Europa verzweigt; viel mehr als anderwo gibt es hier Responsionen und Beziehungen über die Bereiche der Nationalsprachen hinweg. Heroische Briefdichtung war eine europäische Angelegenheit. 30

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Nur die deutschen Dichter des ausgehenden 17. Jahrh. machten aus der Not eine Tugend: Sie fügten einen Brief oder ein Briefpaar in den Höhepunkt oder in den Schluß einer Liebesnovelle ein; anders ausgedrückt: durch sie wurde das argumentum in Prosa zu einem Bestandteil der Dichtung erhoben. Darum fällt es gerade außerhalb des nur unterhaltenden Bereiches dem Dichter leicht, den Leser zur Revision eines Urteils oder einer Sachlage aufzufordern. Der moderne Forscher gewinnt damit ein selten täuschendes Indiz für den Bildungsumfang, den die Dichter in den verschiedenen Epochen ihrem Lesepublikum zutrauten. Sehr viele der heroischen Briefdichtungen wurden dreimal, einige bis zu sechsmal neu aufgelegt.

Versuch einer Wesensbestimmung

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Das ist ein Mitgrund dafür, warum die Erforschung der heroischen Briefdichtung in nur einer Sprache34 nur Weniges und Unergiebiges zu Tage fördert. Allerdings ist der Beitrag der heroischen Briefdichtung zu den National-Literaturen geringfügig geblieben. Keine der NationalLiteraturen rechnet einen oder mehrere heroische Briefe zum beispielhaften, zum .klassischen' Schatz ihres Schrifttums. Das liegt gewiß mit an den Wertungen des 19. Jahrh., nach denen die Auswahl des Beispielhaften (Klassischen) vorgenommen wurde. Als der Hauptgrund aber darf dieser vermutet werden: was die heroische Brief-Dichtung im literarischen Leben des 16., 17. und 18. Jahrh. bedeutete, erschließt sich nur, wenn man die Beiträge aus allen europäischen LiteraturSprachen zusammenhält. Dann wird zumindest die Breite dieser literarischen Strömung deutlich — und diese Breite war so erheblich, daß man die heroische Briefdichtung als ein kultur- und literar-geschichtlich recht erhebliches Phänomen bezeichnen darf. Zugleich wird deutlich, warum man bei und trotz solcher Wirkung in die Breite kaum Wirkung in die Tiefe erwarten oder gar fordern darf. Zumindest würde man mit herkömmlichen Methoden die Wirkung in die Tiefe nicht .messen' können. Denn im Motivischen, im EmotionalSentimentalischen und oft auch im Gedanklichen ist die heroische Biiefdichtung nun einmal Zweitvollzug. Mithin vermag heroische Briefdichtung wohl anzuzeigen, daß dieses oder jenes Motiv (z. B. Abailard und Heloise) eine in die Tiefe reichende Wirkung ausübte. Aber regelmäßig ist eine solche Tiefenwirkung nicht in der heroischen Briefdichtung begründet — sondern dieser Grund liegt vor ihr. Darum wird sich literargeschichtliche Forschung darauf beschränken müssen, die Breite und die Variationsfähigkeit der heroischen Briefdichtung darzustellen. Auf Fragestellungen, die originaler Dichtung gegenüber legitim sind, wird man bei der heroischen Briefdichtung verzichten müssen. 7. Der heroische Brief kann seine Aufgabe, Zweitvollzug zu sein, in zweierlei Weise erfüllen: a) er kann einen bereits literarisch geformten Vorgang nachvollziehen. Besonders die epistola eroica der Italiener ist hierher zu rechnen : gern, fast regelmäßig, wählen die Dichter Stoffe aus den als klassisch geltenden Epen Ariosts und Tassos. Dieser Aspekt darf als Nachvollzug klassischer Werke, als ein Stück Klassizismus bezeichnet werden. b) er kann einen zuvor ungeformten Stoff ins Dichterische erheben. Hierdurch ist die Spätform, die heroide der Franzosen, gekennzeichnet. Diesen Dichtern geht es oft darum, aus nicht-literarischen, 34

Nur für den Bereich der heroischen Briefdichtung in der deutschen Literatur liegt eine solche Monographie vor: Gotthold E R N S T , Die Heroide in der deutschen Literatur, Diss. phil. Heidelberg, 1901.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

aber glaubwürdig dokumentierten Geschehnissen die eigentliche Wahrheit hervorleuchten zu lassen. Und diese Wahrheit ist regelmäßig die des sentiment, das poetischer Verklärung bedarf. Auf eine Zwischenstufe zwischen (a) und (b) dürfen heroische Briefe eingeordnet werden, die Situationen der Großen Geschichte bieten. Die klassischen Historiker, namentlich Livius, sind von Anfang an als „Quellen-Autoren" für würdige Stoffe zugelassen. Aber je mehr man sich auf die Suche nach der Wahrheit von sentiment und fassion begibt, umso mehr verläßt man das „Große Welttheater", um das Ergreifende und das Rührende gerade durch periphere Episoden in den Blick zu bekommen. 8. In der durch Fontenelle begonnenen Diskussion darüber, ob neben dem Vers auch die Prosa als Trägerin dichterischer Aussage zugelassen werden könne, nehmen die Dichter heroischer Briefe eine entschieden abweisende Haltung ein. Sie mußten sich gegen eine Entwicklung stemmen, die mit den übrigen an den Vers gebundenen Gattungen auch die heroische Briefdichtung entwerten sollte. Tatsächlich galt für den Brief die alte, im übrigen längst verlassene Trenn-Linie weiter: nur was in Versen verfaßt ist, darf als Hohe Literatur gelten; was den Brief anlangt, fällt der Begriff Prosa noch immer mit dem Begriff Vulgär-Sprache zusammen. Damit wird — gewiß unbewußt — eine Grund-Voraussetzung nachvollzogen, von der einst Ovid ausging. Gegen allen antiken Brauch, der sonst Briefe nur in Prosa35 zuläßt, ließ Ovid seine Heldinnen ihre Briefe in elegischen Distichen schreiben, so wie sie als tragische Heldinnen in iambischen Trimetern hätten sprechen müssen. Um so mehr mußte es auf das damalige Lesepublikum wirken, wenn sie in dieser erhabenen Form von dem schreiben, was sie erlebten und worum sie kämpfen : um die Erfüllung ihres amor. Von dieser Voraussetzung Ovids aus haben gerade seine spätesten Nachfahren es bewirkt, die literarische Entwicklung, in einem kleinen Bereich wenigstens, rückwärts laufen zu lassen. Während bereits recht spürbar36 wurde, daß die alten Dichtgattungen, die an den Vers gebunden waren, in den Schatten der Prosa-Dichtung traten, haben die Dichter heroischer Briefe es fertig bekommen, markante Situationen aus erfolgreichen Romanen in Vers-Dichtungen umzusetzen. 86

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Als Ausnahme zu nennen ist freilich das poetische Billet — z. B. Catull c. 13, Horaz c. 1,20 — wofür die Anthologia Palatina manches Beispiel bietet. Bezeichnenderweise vermeiden es solche nugae, als hohe Dichtung gelten zu wollen. Und die einzige Ovid-Nachahmung auf diesem Gebiet — Anth. Pal. 5, 9 (Rufinos ?) — beansprucht nichts anderes, als ein solches Billet zu sein. Vgl. A. M. H. Blin de Sainmore, Oeuvres diverses, 2, P 1775, 111 . . . nous avons abandonné le virelay, le rondeau, le sonnet, la ballade . . . l'ode même a perdu son éclat...

Versuch einer Wesensbestimmung

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Dieser Anachronismus war nur möglich, weil diese Dichter, und mit ihnen wenigstens ein Teil ihres Publikums, davon überzeugt waren, nur im Vers vermöge der poetische Wert und die sentimentale Wahrheit vollkommen aufzuleuchten. 9. Von dieser Beobachtung aus gewinnt man einen Zugang zu der seltsam zwiespältigen Haltung dieser Dichter, was die dokumentierte und was die poetische Wahrheit anlangt37. Auf der einen Seite bekennen sie sich dazu, das Natürliche (und darum Wahre) in sentiment und -passion zum Gegenstand ihrer Dichtungen zu machen; sie sind auf der Suche nach dem Ursprünglichen und Naiven. Darum sind Stoffe wie der von Abailard und H&oise oder der von der portugiesischen Nonne oder von dem unschuldigen Indianer-Mädchen, das der böse Mr. Inkle in die Sklaverei verkauft38, die beliebten Gegenstände dieser Dichtung. Aber wenn sie einen solchen Stoff aufnimmt, ist sie sogleich genötigt, ihn vom Naiven ins Sentimentale zu wenden. Daß dieser Dichtung die Aufgabe zukommt, den sentimentalen Wert einer Geschichte voll zur Geltung zu bringen, wird immer wieder betont. Die Prosa-Darstellung (so argumentierte man) läßt zu vieles in grober Ungeformtheit. Die Gestaltung in Versen sublimiert das zuvor Rohe so, daß es erlesenen Geschmackes würdig ist. Und vor allem kann sentiment und passion nur im Verse passend ausgedrückt werden. Damit rücken passion und sentiment in ein — wie man meinte — direktes Verhältnis zur poetischen Wahrheit. Diese kann nur so — in dichterischer Erhöhung — ausgesagt werden, weil jede Niedrigkeit = bassesse ein enttäuschender Stilbruch wäre, der die poetische Wahrheit ernstlich in Frage stellen müßte. Von hier aus ist es zu erklären, warum es schönen Geistern nicht genügte, den Bericht über Werthers Leiden in Prosa zu lesen. Namentlich in England wurden mehrere dichterische Versuche gemacht (vgl. unten S. 288), die als naiv verstandenen Äußerungen Werthers über seine Liebesleiden in heroischen Briefen sentimentalisch nachzuvollziehen. Als auf ein weiteres Beispiel sei auf Henrik Collot d'EscuRY hingewiesen: er glaubte, Zugang zum authentischen Briefwechsel des Königs Gustav Adolf von Schweden und seiner Hofdame Ebba Brahe zu haben39. Nach Beginn des .kritischen Zeitalters' würde jeder, der eine solche Entdeckung macht, einen derart bedeutenden Text in 87

38 89

Die nachfolgenden Betrachtungen gelten vornehmlich für den zweiten Aspekt heroischer Briefdichtung (oben: b). Das Verhältnis solcher Dichter, die einen bereits literarisch gestalteten Stoff wählten, zur poetischen Wahrheit war ungebrochen und blieb unreflektiert. Vgl. unten S. 227 f. In Wirklichkeit war er auf fingierte Briefe gestoßen, die in Schweden, namentlich in Stockholm, zum Teil handschriftlich verbreitet, umliefen. 2

Heroische Briefdichtung

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

möglichst angemessener Edition publizieren. Diese Regel galt im Jahre 1805 noch nicht. Noch Collot d'Escury erblickte seine Aufgabe darin, den sentimentalen Gehalt (und damit die Wahrheit) in zwei heroischen Briefen seinem Lese-Publikum mitzuteilen — und das in untadligen elegischen Distichen ovidischer Prägung. Damit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen bezeichnet, ohne die die heroische Briefdichtung nicht bestehen konnte. Ein Lesepublikum, das sich daran gewöhnte, die Wahrheit, die aus authentischen Zeugnissen spricht, für keiner Steigerung mehr fähig zu halten, ja, das eine solche Wahrheit der poetisch überarbeiteten vorzog — ein solches Lesepublikum konnte der heroischen Briefdichtung keinen Raum mehr gewähren. Damit war zugleich der heroischen Brief dichtung der Weg in die Verbürgerlichung abgeschnitten — ein Ubergang, durch den sich die Tragödie am Leben zu erhalten vermochte. 10. Nur in einer der drei Untergattungen (vgl. S. 31 ff.) ist das für Ovids epistulae Heroidum kennzeichnende General-Thema bewahrt worden, ja ein Charakteristikum geblieben: In der Hauptsache kreist der literarisch-unterhaltende Brief um das Thema der Liebe. Im Ansatz nimmt sich auch der erbauliche Brief dies Thema zum Gegenstand: nur wird der amor terrenus in wieder und wieder motivierter Entscheidung durch den amor caelestis substituiert (vgl. unten S. 363f.). Dieser amor caelestis ist das Motiv aller Märtyrerinnen, den Marter-Tod zu sterben.

Vermutlich ist der Grund, warum Ovid jene 1 5 + 3 Liebesbegebenheiten auswählte und in Briefgedichten behandelte, aber viele andere in mythischer Erzählung berühmte Liebesgeschichten überging, nie deutlich erkannt worden; es war Ovid daran gelegen, 15 Heroinen in ihrer personellen Verschiedenheit gleicher Lage gegenüber zu zeichnen. Denn der amor, die Liebesbindung einer jeden Heroine ist bedroht, ja, der amor ist unerfüllbar geworden. Aber die Heroine weiß es noch nicht. Welchen Brief wird sie in derart hoffnungsloser Situation, deren Aussichtslosigkeit der Leser weiß, verfassen ? Derartige Untersuchungen zur dichterischen Absicht Ovids40 sind offenbar nie angestellt worden41. Daher sind die Dichter heroischer Briefe weit davon entfernt, bei der Auswahl ihrer Stoffe einen so subtilen Maßstab anzulegen, wie Ovid das tat. Thema des heroischen Briefes literarischer Prägung kann jede Liebeshandlung sein, von der der Autor erwarten darf, sie werde 40

41

Vgl. m. Aufsatz: Die dichterische Absicht Ovids in den epistulae Heroidum, Antike und Abendland 13, 1967, 41—55. Hierzu ist auf D. C R A V F U R D hinzuweisen, der in seinem Ovidius Britanniens (1703) beanstandet, daß in Ovids Briefen alle Liebesgeschichten unglücklich enden. Das ist D. C R A V F U R D ZU eintönig; er wird seinen Lesern auch heitere Liebesgeschichten bieten.

Versuch einer Wesensbestimmung

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sein Lesepublikum fesseln. Denn: Le principal but de l'Heroide est d'emouvoir (vgl. oben S. 11). Verständlicherweise hat die Suche nach immer Erfolgreicherem dazu geführt, daß man einerseits das Bizarre, andererseits das Aktuelle, ja Sensationelle, oft genug das Skandalöse aufsuchte (S. 27). Zum Teil ist von hier aus die Tendenz verständlich zu machen, nach Möglichkeit Liebesgeschichten zu behandeln, deren Seltsamkeit dokumentarisch belegt war. Das wohl Bezeugte mußte im Emotionalen stärker wirken, als die kühnste Erfindung eines Dichters. Die italienische Phase der heroischen Briefdichtung (S.141f.) ist durchzogen von dem Zwiespalt, daß man einerseits literarisch gestaltete Liebeshandlung nachvollzog und durch kühn ersonnene concetti aufhöhte, während man sich andererseits Bahn brach zur nacherzählten „Haupt- und Staatsaktion", deren Mittelpunkt nicht notwendig eine Liebesgeschichte sein mußte. Den Anfang hiermit hatte G. F. LOREDANO in seinen scherzi geniali gemacht. Ihm folgt darin L. CRASSO, von dessen 15 epistole Heroiche offenbar planmäßig 5 Gegenstände behandeln, die dem Thema „Liebe" weit entrückt sind42. Entgegen der italienischen „Mode" konzentrieren sich M . D R A Y TON und in seinem Gefolge Ch. HOFMANN von Hofmannswaldau gänzlich auf die amores historischer .Heroen' — bei M. DRAYTON sind dies durchweg Könige und Königinnen Englands, deren oft außereheliche, durchweg unglücklich endende Liebesbindungen so erzählt werden, daß das Mitgefühl des Lesers mit solchem Liebesleid erweckt wird. Das Spiel, das Ch. HOFMANN von Hofmannswaldau mit seinen Lesern treibt, ist wesentlich vielschichtiger (vgl. unten S.184f.). Der dichterischen Absicht, den Leser die Liebe der Großen dieser Welt (nicht nur deutscher Kaiser, sondern Fürsten mehrerer Länder) miterleben zu lassen, ist eine unverkennbare Freude am Skandalösen beigemischt. Seither bleibt die Liebe — und seit A . P O P E speziell die Veredelung der Liebe zur Seelenfreundschaft — unverrückt das Thema der heroischen Briefdichtung. In dieser Kontinuität drückt sich das Erbe Ovids besonders deutlich aus. Die Gültigkeit dieser Feststellung wird nicht dadurch verringert, daß ab und an ein anderer Themenkreis auch im literarisch-unterhaltenden Brief behandelt wird. Es sind Briefe von Sterbenden oder von Toten an Lebende. In der Untergattung des Mahnund Sendschreibens sind gern Sterbende als Briefschreiber gewählt worden. Denn das letzte Wort eines Sterbenden hat die Gültigkeit eines Testamentes, mehr noch, einer Weissagung. Wenn es also darum ging, einer Suasorie recht tiefgreifende Wirkung zu 42

So z. B. Mose a Faraone, oder, philosophisch interessant: Piatone ad Aristotele: Da weist Piaton seinen ungehorsamen Schüler wegen zahlreicher Abweichungen von der platonischen Lehre zurecht. In diesem Brief spiegelt sich die zeitgenössische Kontroverse zwischen Piatonikern und Aristotelikern wider. 2*

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

verleihen, konnte es sich empfehlen, einen Sterbenden, oder einen Verstorbenen aus dem Jenseits schreiben zu lassen. Diese Briefe aus dem Jenseits sind zweifellos nur zum kleinsten Teil von Ovids Vorgang her zu motivieren (vgl. unten S. 485) — aber in der französischen „Welle" der heroischen Briefdichtung rechnete man Briefe von Sterbenden kurzerhand mit zur heroide. Dafür hatte man, mit dem Blick auf Ovid, einen guten Grund: acht von den 18 Briefschreiberinnen schreiben ihren Brief, den sicheren Tod vor Augen, einige mit der Absicht, ihrem ungetreuen Liebhaber ein Vermächtnis zu hinterlassen. Auf diese ovidische Wurzel berief man sich namentlich im 18. Jahrhundert gern, um Briefe von Sterbenden — besonders gern von Verurteilten, die der Hinrichtung entgegensehen — in die heroische Briefdichtung aufzunehmen. Dieser „Seitentrieb" vereinigtsich mit dem Hauptstrang der heroischen Briefdichtung, wenn z .B. bei Lorenzo C R A S S O Karl I . von England oder bei J. B. P I C H E Ludwig XVI. von Frankreich jeweils vor der Hinrichtung sich im heroischen Brief von der Gattin verabschiedet. Ein ganz hybrides Beispiel für den Brief einer Sterbenden hat Chr. K U F F N E R in seiner Heroide einer Rose gegeben (1817): Kurz, ehe sie im Album eines Sammlers zwischen Löschpapier gepreßt wird, schildert die Rose ihren Lebenslauf und ihre Mitwirkung beim Liebeswerben eines Dichters . . .

Diese auf Ovid bezogene und von Ovid hergeleitete Thematik macht zu einem sehr wesentlichen Teil die Kohärenz der Untergattung „Literarisch-unterhaltender heroischer Brief" aus. Während in den beiden anderen Untergattungen (Mahn- und Sendschreiben, erbaulicher Brief) Ovids dichterische Absicht entweder gänzlich bei Seite gelassen oder durch eine seelsorgerlich-erziehliche Absicht substituiert wird, erweist sich der literarisch-unterhaltende Brief als die eigentliche Fortsetzung und Nachfolge Ovids — dies sowohl nach der Zahl der einschlägigen Dichtungen als ganz besonders nach der Konstanz von Thematik und Stoffwahl. Die vorstehenden Betrachtungen haben deutlich gemacht, daß der zunächst schematischen Bestimmung dieser Gattung eine literaturgeschichtliche, ja eine geistesgeschichtüche Realität entspricht. Die Dichtungen, von denen hier die Rede sein wird, haben nicht allein dadurch gemeinsame Merkmale, daß sie durchweg „fingierte Briefe in Versen" sind — wie die knappste Abgrenzung lauten könnte. Sondern die derart gekennzeichnete Gattung hat wohl erkennbare, ihr innewohnende Gesetze; Intentionen und Wirkung dieser Dichtung entsprechen ihnen. Natürlich hat die heroische Briefdichtung — wie wohl alle literarischen Phänomene — eine Randzone. Aber diese Randzone ist ungewöhnlich schmal: Nur wenige Dichter haben es versucht, sich sowohl den Gesetzen dieser Gattung und dazu noch anderen unterzuordnen. So stellt sich die heroische Briefdichtung trotz aller ihr innewohnenden Variation als ein im Grunde fest umrissenes Phänomen dar; Form, Intention und Wirkung stehen in übersehbarem und sinnvollem Verhältnis zueinander. Der moderne Betrachter läuft also keine Gefahr, hier nur der Form nach Ähnliches zusammenzuordnen: Die innere Kohärenz dieser Gattung ist augenfällig — und obendrein

Der ästhetische Reiz und die literarische Funktion

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wird diese Kohärenz durch eine keineswegs kleine Zahl literarhistorischer Verbindungslinien, also durch objektive Kriterien, bewiesen. c) Der ästhetische Reiz und die literarische der heroischen Briefdichtung

Funktion

Seit rund 150 Jahren 43 hat die literarische Welt das Organ verloren, Reiz und Wirkung dieser Dichtgattung aufzunehmen — eine Wirkung, die zuvor in breiten Kreisen verspürt wurde. Namentlich die italienischen und die französischen Dichtungen dieser Art sind durchweg sechs- oder siebenmal neu aufgelegt worden — ein deutlicher Beweis dafür, daß sie ihr Lesepublikum hatten. Die völlige Unterbrechung literarischer Tradition hat den Nachteil, daß moderne Forschung lediglich rational rekonstruieren kann, worauf denn Reiz und Wirkung der heroischen Briefdichtung beruhten. Diese Unterbrechung hat zugleich eine weite Distanz geschaffen, also den Vorteil bewirkt, daß die Erforschung dieses Gegenstandes, von vorgefaßten Wertungen ungetrübt, in gesicherter Objektivität vor sich gehen kann. Das dürfte den (wohl nur vermeintlichen) Mangel ausgleichen, daß in der Tat niemand mit diesen Dichtungen „mitempfinden" kann. Im ersten Jahrhundert heroischer Briefdichtung — von der Mitte des 15. bis tief hinein ins 16. Jahrh. — hat die Rivalität mit Ovid eine beherrschende Rolle gespielt. Man wußte sich poetischer Leistungen von der Art klassischer Vollendung fähig, wie sie nach damaligem Wissen44 seit Ovid nicht gelungen war. Freude und Genugtuung über das neue Können waren offenbar groß — gleich ob man der heroischen Briefdichtung neue Stoffe erschloß — wie es Luca PULCI tat, oder ob man Versuche in ungewohnten Formen unternahm45, oder ob man den Formenreichtum Ovids zu ausgesuchter Huldigung für eine Fürstin 43

F. RASSMANN, Heroiden der Deutschen, 2 Halberstadt 1824, teilt in einer Anmerkung zu p. IV der Vorrede mit: „Erst vor etlichen Jahren schloß der unternehmende Buchhändler Brockhaus, als er unter andern auch für das Fach der Elegie eine Preisbewerbung veranstaltete, die Heroide von der Concurrenz aus." Damit dürfte der Zeitpunkt bestimmt sein, von dem an die heroische Brief-Dichtung nicht mehr als literaturfähig und somit nicht als preiswürdig galt.

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Den Renaissance-Dichtern fehlte gewiß völlig die Kenntnis davon, daß es im Mittelalter eine Ovid-Imitation gegeben hatte (vgl. S. 96f.). Freilich, hätten sie diese Gedichte gekannt, sie hätten sie aus vorwiegend formalen Gründen mißbilligt. So versuchte z. B. Joannes Jovianus PONTANUS (1426—1503) die sapphische Strophe des Horaz für die heroische Briefdichtung zu gewinnen: das 13. Gedicht der Lyra trägt die Überschrift Polyphemus ad Galatheam; hier sind die aus Theokrit und Ovid wohlbekannten Motive zur Liebesbotschaft des Kyklopen an Galathea zusammengefaßt und in sapphische Strophen gebracht — ein Versuch, der nicht wiederholt wurde.

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ausbeutete 46 — oder ob man neue Wege ging, indem man diese Dichtart erbaulichen oder politischen Zielen zuordnete. Einen wichtigen Impuls empfing die heroische Briefdichtung aus der Freude, ja dem Spieltrieb mancher Humanisten, mit antiken Briefschreibern in Kontakt zu treten. Es machte einfach Spaß, auf Briefe, die aus der Antike erhalten waren, Antworten zu verfassen. Man gewann damit das Bewußtsein, in geistiger Gemeinschaft mit antiken Denkern zu leben, denn mit einem solchen Brief legte man ja vor sich und vor anderen Zeugnis davon ab, daß man dem antiken Kulturkreis und seiner Gesinnung zugehörig war. Wie dies Verlangen einen der Großen der italienischen Renaissance ergriff, dafür liegt ein schönes Selbst-Zeugnis vor: Die antike Briefsammlung des Diogenes an verschiedene Philosophen 47 war von Francesco G R I F F O L I N I aus Arezzo ins Lateinische übersetzt worden48. Diese Ubersetzung kam dem Leone Battista A L B E R T I (1404—1472) in die Hände; er verfaßte Antwortbriefe darauf, die unter folgendem Titel erschienen: Epistolae septem Epimenidis Megasthenis et Cratetis nomine Diogeni scriptae, auch zitiert als epistolae Septem variae eruditionis, in: L. B. Alberti opera inedita, H. M A N C I N I curante, Florenz 1890, 267 f. [Parma B P ] 'ex codice Mediolanensi bibliothecae Ambrosianae signato I 193 inf.'

Den Entschluß zu dieser Briefkomposition erläuterte L. B. Alberti in einem Brief an den Übersetzer FranciscusAretinus ( = F r a n cesco Griffolini). Dieser Brief ist erhalten in Oxford, Bodl. Libr. Canon. 172 und lautet: Baptista Francisco Arretino salutem plurimam dicit. Leo Baptista salutem. Places tu quidem oratione soluta, et places versu, habeoque tibi gratias, quod Diogenem nostris familiarem effecisti. Nam cum istas eius epistulas ex te legissem, nescio quo modo ita factum sit ut ex tempore illico unis atque alteris respondere aggressus sim, neque destiti uno spiritu scribere usquedum visus quoque mihi sum eo animi impetu respondisse quo ille scripserat. Adeptus igitur per te sum iucundam lucubratiunculam. Quod ita si tibi homini eruditissimo videbitur, dabis hoc nostrae amicitiae ut quorum animus coniunctus sit eorum etiam lucubrationes uno in codice coniungantur. Vale. 46

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B A S I N I O da Parma und G. P O R C E L I O wetteiferten in heroischen Briefen, deren Gegenstand (z. T. auch Schreiberin) Isotta degli Atti, die Geliebte des Sigismondo Malatesta zu Rimini war. Zugleich feindeten sich die beiden konkurrierenden Dichter bitterlich an: Porcelio beging eine Reihe prosodischer Fehler, und Basinio prangerte diesen Mangel an Latinität mit Schärfe an. I N : Epistolographi Graeci, ed. R . H E R C H E R , P 1 8 7 1 , 2 3 5 — 2 5 8 . Die Ubersetzung trägt den Titel: Diogenis epistulae a Francisco Aretino in Latinum translatae . . . impress. Florentiae per Antonium Venetum (o. J.) [Siena BC],

Der ästhetische Reiz und die literarische Funktion

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Zweimal spricht es L. B. Alberti aus, daß er sich uno animo mit den griechischen Denkern fühle — deswegen bittet er ja den Übersetzer, seine Antworten mit den ins Lateinische übersetzten, für original gehaltenen Briefen zusammen zu nehmen und so zu veröffentlichen. Dieser Brief muß als ein wichtiges Zeugnis dafür angesehen werden, aus welchem Geist — nämlich aus dem Bewußtsein geistiger Einheit mit der Antike — solche Antwortschreiben verfaßt wurden. Im gleichen Jahrzehnt, da L. B. Alberti diese Philosophen-Briefe in Prosa verfaßte, ging Angelus de Curibus Sabinis (unten S. 104) an die Niederschrift von Antworten auf die epistolae Heroidum. Die italienischen efistole eroiche des 17. Jahrh., und in Korrespondenz mit ihnen England's heroical epistles sind auf einen literarischen Genuß hin angelegt, den man als „Verweilen beim Beispielhaften" bezeichnen darf. Die Italiener wählen ihre Stoffe durchweg aus der als klassisch gewerteten Epik des 15. Jahrh., namentlich aus den Dichtungen Ariosts und Tassos. Demgegenüber beutet M. DRAYTON die englische Geschichte aus wie ein Epos, in dem Stoffe und Handlungen von anerkannter Vorbildlichkeit bereitliegen. Der gleichen Tendenz darf die reichliche Briefdichtung zugeordnet werden, die um das Alte Testament kreist, vor allem also die Briefgedichte des H. v. ZIEGLER und Kliphausen mit den mehrfachen Fortsetzungen (vgl. unten S. 198). Diese Stoffwahl opponiert spürbar gegen die .leichfertige' Thematik d e r B r i e f d i c h t u n g e n HOFMANNSWALDAU'S u n d LOHENSTEIN'S.

Denn so sehr diese mit ihrer Schule nach Form und Inhalt den Marinisten, insbesondere Pietro MICHIELE verpflichtet waren, so sehr die concetti der in Italien herrschenden Richtung von deutschen Dichtern nachgebildet wurden — in zwei Punkten nimmt die Schlesische Schule die nachmalige Entwicklung vorweg: a) sie wendet sich in ihrer Stoffwahl auf das Aktuelle49, ja Skandalöse; b) sie strebt danach, die Emotionen des Lesers zu erregen, d. h. ihn psychagogisch in den Bann des schreibenden Helden zu ziehen. Das tut sie freilich mit jener Hypertrophie stilistischer Mittel, die anfangs helle Bewunderung60, später empörten Abscheu hervorrief61.

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Darin ging einzig Lorenzo CRASSO voraus (unten S . 1 7 8 ) , der 1 6 5 1 einen heroischen Abschiedsbrief König Karls I. von England, angeblich verfaßt vor seinem Tode ( 1 6 4 9 ) , gedichtet hatte. So C. F. KIENE, Poetische Nebenstunden, Lpz 1681, in der Vorrede zum Brief der Bathseba an Uria. Dieser Abscheu wird verständlich, wenn man den Brief, den HOFMANNSWALDAU den Abelard an Heloise schreiben läßt, neben POPE'S Brief Eloisa to Abailard hält. Solcher Vergleich lehrt, warum das 18. Jahrh. alle Brücken abbrach, die zur Barockdichtung führten.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

Just in der Zeit (um 1700), als es heroische Briefgedichte in Frankreich 52 nicht gab, äußerte sich André DACIER (1651—1722) über den ästhetischen Reiz heroischer Briefe: Quod si novum, at certe pulchrum est versibus et strida oradone scribere eiusmodi epistulas. Hinc enim et maior familiaritas in suos elucet, et nonnullam scribenti libertatem et amoenitatem tribuunt Musae. Ita sane quaedam facilius enarrantur et quae per se austera audiunt iucundius excipiuntur53. Offenbar empfand A. Dacier etwas von den Vorteilen der Aktualisierung, die er auf der einen Seite mit familiaritas in suos bezeichnet, und die auf der anderen Seite mit libertas und amoenitas5i charakterisiert sind. Der Abstand zwischen dem Dichter und seinem Gegenstand erscheint als aufgehoben, weil „der Gegenstand" — nämlich der leidende oder handelnde Held — zur Feder greift und im eigenen Namen schreibt. Soviel sich erkennen läßt, hat A. D A C I E R diese Äußerung in einer Stellungnahme zur quereile des anciens et des modernes getan; anscheinend war ihm daran gelegen, die Briefdichtungen Ovids und seiner Nachfolger zu rechtfertigen. In der letzten, von COLARDEAU und vonDoRAT eröffneten Episode der heroischen Briefdichtung ist es, wie Dichter und Leser einhellig bezeugen, der sentimentale Mitvollzug gewesen, der die Zeitgenossen in Bann zog. Diese Dichtungen wurden als schön empfunden, weil sie edle Rührung hervorriefen — ein sentiment, dem man sich gern, ja bis zu Tränen, hingab. Wahrscheinlich ist damit eine Linie angedeutet, die die Entwicklung der heroischen Briefdichtung nachzeichnet. Diese Linie führt vom Verweilen beim Vorbildlichen — wobei der Leser einen ihm bereits gegenwärtigen Bildungswert nachvollziehend nochmals aufnimmt — zu einem sehr viel aktiveren Teilnehmen des Lesers: Dem 18. Jahrh. genügt betrachtendes Verweilen nicht ; die Distanz zwischen der Dichtung und dem Leser soll überwunden, ja aufgehoben werden. Statt eines pädagogischen Effektes wird ein psychagogischer Effekt angestrebt. Gegenstand einer jeden derartigen Dichtung ist nun eine noble Passion — und diese kann nicht nüchtern und par distarne aufgenommen werden. Sie muß die passion des Lesers erwecken und in ihr Wider82

Einzig B. Le Bovier de FONTENELLE (1656—1756) veröffentlichte 1698 vier heroische Briefe (vgl. unten S. 214f.), womit er ganz allein da stand. Auch die lateinische Dichtung Frankreichs (vgl. unten S. 149, 445) brachte heroische Briefe im eigentlichen Sinne damals nicht hervor.

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Zitat entnommen aus: Love without affectation etc., Lo 1709 preface p. II (vollst. Titel unten S. 224, vgl. S.311). Das Zitat aus A. DACIER dient dazu, zu rechtfertigen, daß der ungenannte Ubersetzer die fünf Briefe der portugiesischen Nonne in englische Verse umsetzt und damit in Konkurrenz zu Ovid tritt. Dies Zitat vermochte ich

M

nicht zu verifizieren. Im nächsten Satz erscheint der Vorzug libertas als facilius, der Vorzug amoenitas als iucundius wieder: Der Vorzug der Gattung besteht in der Uberwindung von Abständen ; sie vermag dem Leser nahezubringen, was ihm sonst fern und fremd bleiben würde.

Divergierende Tendenzen

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hall finden. Ob ihr dies gelingt, ist das Kriterion ihres Wertes; BLIN de Sainmore ist überzeugt, daß die ärgsten Kritiker der heroischen Briefdichtung schweigen müßten, wenn es gelingt d'en donner une qui les interesse et leur arrache des larmesS5. d) Divergierende Tendenzen Die bemerkenswerte Geschlossenheit der heroischen Briefdichtung wird aufgelockert — manchmal auch in Frage gestellt — durch Tendenzen, in denen sich der Wunsch der Dichter kundtut, ihre Freiheit gegenüber allzu starren Regeln zu behaupten. Es ist vorauszuschicken, daß im 14. und 15. Jahrh. das Vorbild Ovids dreimal aktuelle Bedeutung gewann66. Diese drei von einander fast unabhängigen rinascimenti des heroischen Briefes haben zur Entstehung dreier in der Konzeption wohl geschiedener Untergattungen geführt. Die älteste unter ihnen — es ist das Mahn- und Sendschreiben an Lebende — schließt sich gewöhnlich in allem Formalen am engsten an Ovid an, führt aber in der Intention am weitesten über Ovid hinaus. Denn das Mahn- und Sendschreiben (vgl. S.4311), von typisierten Gestalten (sog. Allegorien) an Lebende gerichtet, zielt immer auf aktuelle Wirkung (es realisiert also die Fiktion der epistulae Heroidum Ovids. Denn auch Acontius wollte ja Cydippe, Paris wollte Helena zu wohl bestimmten Handlungen veranlassen). So ist das Mahn- oder Sendschreiben meist in recht ovidischer Weise Suasorie — aber es ist niemals Zweitvollzug. Insofern ist diese Untergattung lediglich als eine Randform der heroischen Briefdichtung anzusprechen. Die ovidischen Stilmittel werden für Zwecke eingesetzt, die der übrigen Briefdichtung fremd sind. Der Akzent liegt nur sekundär bei der Leistung des der Fiktion nach Schreibenden (d. h. der betr. „allegorischen" Figur); er liegt primär bei der Person, an die der Brief gerichtet ist: denn der Brief ist ja daraufhin angelegt, den Adressaten zu bestimmtem Handeln oder Unterlassen zu bewegen. Erst die abgemilderte Spätform begnügt sich damit, zu gratulieren oder zu kondolieren, zu huldigen oder Komplimente auszusprechen. Gewiß ist auch der erbauliche Brief auf aktuelle Wirkung gerichtet. Aber diese Intention drückt sich nicht so aus, daß ein Lebender angesprochen (d. h. angeschrieben) wird. Sondern das jeweilige exemflum — heroische Bewährung einer Märtyrerin, eines Jesuitenpaters oder eines Mitgliedes des k. k. Erzhauses67 — soll auf den Leser wirken. 66 56 67

A. M. H. BLIN de Sainmore, Heroides ou lettres en vers, 3P1767, aus dem avertissement. Darüber ausführlich unten S. 31 ff. Diese Zusammenordnung mag absonderlich erscheinen, bezeichnet aber die Personenkreise, aus dem Schreiber und Schreiberinnen in dieser Untergattung ausgewählt wurden.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

Hier ist nicht, wie beim Mahn- und Sendschreiben, die dichterische Absicht Ovids nahezu gänzlich verlassen, sondern die (vermutete) Absicht Ovids ist mit Entschiedenheit korrigiert, also durch eine bessere ersetzt. Gab Ovid exem-pla, die unheilvoll wirken müssen, so wird nun der Leser durch heilsame exempla zum Guten geleitet. Mehrfache Reflexionen (vgl. S. 363 ff.) zeigen deutlich, daß man damit Ovid, dessen Briefform und Diktion man mit Genauigkeit folgte, ganz bewußt im Moralischen korrigierte. So wie das Christentum moralisch dem Heidentum überlegen war, so sollten die Heroides Sacrae und andere erbauliche Briefdichtungen den Heroides Ovidianae überlegen sein. In dieser Substitution des Wertwidrigen durch werthafte Literatur (unter Bewahrung der als gültig anerkannten Form und Sprache) scheint man einen Teil des moralischen Fortschrittes erblickt zu haben, wie ihn nur das Christentum, und speziell der Jesuiten-Orden, heraufführen konnte58. Die hier wirkenden Tendenzen spielen vom Seelsorgerlich-Erbaulichen bis zum Erziehlichen hinüber — solche Umsetzung wurde nötig, da diese Literatur, zunächst für Erwachsene bestimmt, schließlich nur in der Schulstube daheim war. Am Postulat des Zweitvollzuges hält diese Dichtung insofern fest, als sie exemfla reproduziert, die anderweit dokumentarisch belegt sind — so in der Heiligen-Legende, in der Geschichte des Jesuitenordens oder der höfischen Historiographie des Hauses Habsburg. Aber da die moralische Intention stets die gleiche sein muß, da sozusagen immer das Gleiche herauskommt, werden an die Vorkenntnisse der Leser kaum Anforderungen gestellt. Denn auch ohne solche vorherige Kenntnis weiß der Leser vorher, wie der auf die Probe gestellte Märtyrer sich entscheidet, er weiß vorher, daß der Imperator invictissimus immer siegt (denn über Niederlagen wird kein erbaulich-patriotischer Brief verfaßt). So ist hier eine ganze Literatur von seltsamer Spannungslosigkeit entstanden. Zum Ausgleich bietet sie breiten Raum für Sentenzen — oft genug Richtigstellung ovidischer sententiae (vgl. unten S. 369)—und für erbauliche Ermahnungen. Alles in allem kennzeichnet sich diese Untergattung als ein durch die exemplarische Absicht motivierter Nachvollzug. Weit differenzierter sind divergierende Tendenzen im Bereich der unterhaltenden heroischen Briefdichtung. Auch dieser ist der Aspekt des Pädagogischen nicht fremd: der Zweitvollzug ist ja hervorragend geeignet, Elemente des Bildungsgutes fest einzuprägen. Besonders sind die älteren heroischen Briefdichtungen, die in Italien entstanden (vgl. S. 141 f.) sind, hier zu nennen. In ihnen werden regelmäßig amatorische Situationen aus der hohen Literatur nachvollzogen. Aber wie zu erwarten, mußte gerade das bald eintönig erscheinen, und so 58

Es gibt zu denken, daß, von den Briefdichtungen des Fra G . P A R A S C A N D O L O abgesehen, nie ein anderer Orden in diesem Bereich mit der Societas Jesu wetteiferte.

Divergierende Tendenzen

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dringt in der unterhaltenden Untergattung der heroischen Briefdichtung bald eine Tendenz vor, die das allzu Bekannte meidet, dafür aber das Gesuchte, das Extreme und schließlich das Sensationelle aufsucht. Auch diesem gewinnt man nicht selten eine — meist warnende — Moral ab. Aber im Unterschied zum erbaulichen Brief strebt der unterhaltende Brief im Ganzen vom Exemplarischen weg. War dies gegeben, so erhob sich freilich alsbald die Schwierigkeit, das Einmalige oder Erstmalige, und besonders das Sensationelle im Zweitvollzug darzubieten. Denn eine Sensation, ein zweites Mal durchlebt, ist meist nicht mehr sehr sensationell. In diesem Widerspruch haben alle die Tendenzen ihre Wurzel, die die enge Bindung der Gattung an den Zweitvollzug lockern möchten. Manche Briefgedichte sind darum ausgesprochen schwach, weil der Dichter so tun muß, als vollzöge er etwas seinen Lesern Bekanntes zum zweiten Male.— Das einfachste Mittel, den vermutlich nicht informierten Leser über die Briefsituation ins Bild zu setzen, war eine treffende Überschrift, und, reichte dies nicht aus, ein Untertitel. Von da war es ein leichter Schritt zu knapp informierendem Vorspruch oder argumentum. Schließlich bildete sich, namentlich bei deutschen Dichtern desl7. Jahrh., der Brauch aus, die Handlung ausführlich bis zu dem Punkte zu erzählen, da der Held seinen Brief schreibt, dann die Handlung weiter zu führen bis zum Brief der Heldin, und dann den Ausgang der Geschichte zu erzählen. Man bot dem Leser also Novellen an, deren Höhepunkten heroische Briefe eingefügt sind. So wurde gerade an den beiden Höhepunkten die Handlung angehalten, und der Leser wurde zum Zeugen der Überlegungen und der Gefühle gemacht, die den Helden und die Heldin im entscheidenden Augenblick erfüllten. Diese Ausgestaltung des Ganzen zur Novelle scheint auf Deutschland — namentlich die Nachfahren Chr. HOFMANN von Hofmannswaldau's — beschränkt geblieben zu sein. Immerhin bietet die französische Briefdichtung des 18. Jahrh. die nahezu vollständige Analogie: dort beginnt das avertissement zu wuchern, das den Leser mit der besonderen Situation des schreibenden Helden vertraut macht. In manchen Fällen erreicht es die vierfache Länge des dann folgenden Briefes. Nahezu regelmäßig werden dann, wenn die Gattung blüht (die Konkurrenz also zahlreich ist) Versuche gemacht, in folgender Weise von der Fessel des Zweitvollzuges loszukommen: Man versucht zur reinen, durch keine Dokumentation zuvor festgelegten Novelle überzugehen. So entstehen Versnovellen in Briefpaaren, deren Schreiber erfundene Gestalten sind. In diesen geht es — meist ganz schlicht —, um Werbung und Erhörung oder um Ablehnung und Verzicht. Die Handlung muß schlicht, ja, banal sein. Denn wenn der Brief durch Erzählung einer komplizierten Vorgeschichte belastet würde, verlöre er das Letzte an Wahrscheinlichkeit.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

Aber rascher noch als bei Briefen mit literarisch-historischem Hintergrund mußte man die Erfahrung machen, daß es den Leser ermüdete, die Liebesnöte von Melidor und Dorinde oder von Strephon und Cleone mitzuerleben. Solche Erfindungen waren allzu unverbindlich — sie ließen den Wunsch nach dokumentierter und somit „wahrer" Sensation in Liebesdingen doppelt rege werden — und so blieben Briefdichtungen mit erfundenen Briefpartnern ohne Erfolg und ohne Nachwirkung. e) Begründung der Untergattungen der heroischen Briefdichtung Wie sich bereits gezeigt hat, ist die heroische Briefdichtung von mehreren Blickpunkten her als Gattung definiert : Sie genügt klar umrissenen formalen Bestimmungen (vgl. oben S. 10f.); sie ist ausnahmslos der Stilebene des Erhabenen zugeordnet (vgl. oben S. 10, 13) ; sie ist in recht starkem Maße literarischen Traditionen unterworfen, so daß sich Aussagen zu einer Gattungsgeschichte machen lassen ; die zahlreichen formal gleichartigen Gedichte stehen also nicht als zufällige Analoga nebeneinander, sondern es bestehen genetische Zusammenhänge. Und vor allem: diese Dichtungen sind daraufhin angelegt, im Leser eine vom Dichter gewollte seelische Bewegung auszulösen. Bei allem historischen Interesse, das die planvoll ausgewählten Situationen heroischer Briefdichtungen wachrufen, steht das Moment informierenden Erzählens (narratio) nie im Vordergrunde 59 ; ein heroischer Brief will seinen Leser etwas miterleben 60 lassen — daher die stets empfundene Nähe zum Dramatischen. Ja, die Distanz vom Leser zur handelnden oder leidenden Person ist viel geringer 61 als die vom Zuschauer zum Schauspieler. Deswegen appellieren die Dichter mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Stil- und Ausdrucksmitteln nicht an den Verstand des Lesers, sondern an sein Gefühl — an sentiment und passion. In allen diesen Momenten weist die heroische Briefdichtung auf Ovid zurück : Von ihm gehen alle Traditionen aus — sowohl im Formalen wie im Stilistischen — durch ihn ist sie als erhaben und als psycha59 60

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Vgl. oben S. 12; auf das Moment des Narrativen wird ganz planmäßig verzichtet. So teilt B E L L A N D E R (Pseud.) seine §elbeit*93rife... allen curiösen £tebi)aberrt ju öergönnter ©emütp«©tgö§uttg mit (ca. 1700). Vgl. A. M. H. B L I N de Sainmore im avertissement zu seiner ersten Heroide, Biblis à Caunus, son frère, 1760: . . . dans la tragédie, l'action doit se passer sur le théâtre... dans l'héroide, elle doit se passer dans le coeur.

Begründung der Unter-Gattungen

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gogisch bestimmt: Alle ovidischen epistulae sind Suasorien; die Schreiberinnen (und dazu die drei werbenden Schreiber der Briefe 16, 18, 20) suchen ihren Partner zu bestimmten Handlungen zu bewegen, damit das bedrohte foedus amoris erhalten bleibt oder wieder hergestellt wird62. Aber es würde zu frostigen Mißverständnissen führen 63 , wenn man alles, was diese Heroinen schreiben, allzu einschichtig auf den mythischen Adressaten bezieht: Der eigentliche Adressat ist gerade bei Ovid der Leser, der die psychische Bewegung der schreibenden Heroine zugleich miterleben und beurteilen soll64. Den Bereich der für heroische Dichtung .möglichen' Stoffe hat man nachmals gewaltig erweitert. Aber das eben skizzierte Gesetz der ovidischen Dichtung hat man immer im Auge behalten. Gewiß, die dichterischen Fähigkeiten vieler reichten nicht aus, um den Leser wirklich in den Bann der Dichtung zu ziehen. Man hat vor allem allzu leicht außer acht gelassen, daß literatur-erfahrene Leser sich nicht durch affekt-gefüllte Verse zur Aufgabe der kritischen Distanz bringen lassen — ein Fehler, den Ovid nicht beging. Die heroische Briefdichtung wurde dann zu einem Atavismus, als sie sich an einen Leser von atavistischer Naivität wandte. Man kann wohl einwenden, sie habe sich ihre Aufgabe zu leicht gemacht; aber sie hat in der psychagogischen Wirkung auf den Leser zu allen Zeiten ihr oberstes Ziel gesehen. Von dieser Feststellung aus läßt sich verständlich machen, warum sich die heroische Briefdichtung in mehrere Untergattungen aufgliedert: Das sind Untergattungen, die in großer Unabhängigkeit von einander existieren; Querverbindungen sind im ganzen selten, denn aus guten Gründen nehmen die Vertreter dieser Untergattungen kaum Notiz von einander. Mit anderen Worten, die Traditionen der heroischen Briefdichtung leben in diesen Untergattungen; denn diese Untergattungen sind dadurch bestimmt, welche Wirkung man auf den Leser erzielen will: Es gilt also, nach der psychagogischen, oder nach der pädagogischen Absicht zu fragen. Das ist eine wichtige Frage — denn seit dem Ende des 15. Jahrh. — sonderten sich die poetae puri von den -poetae impuri ab. Und diese Sonderung erfolgte unter der Fragestellung, welche Wirkung denn ein Gedicht auf den Leser ausübe — eine erbauende oder eine herabziehende. Sowie man sich nicht mehr damit begnügte, mit Ovid auf seinem eigenen Felde zu rivalisieren, mußte sich die voluntas auctoris neu 62

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Einzig Paris und Acontius, die Schreiber der Briefe 16 und 20, möchten ein foedus amoris beginnen. Allen anderen geht es um dessen Rettung oder Erhaltung. Im vergangenen Jahrhundert hat dies zu vielen frostigen Mißverständnissen geführt, weil man den lebendigen Bezug, den Ovid herstellen will, verkannte. In jeder ovidischen Heroine ist der ursprünglich ,heile' amor zumindest bedroht, oft entartet oder verkümmert — mit der einzigen Ausnahme Penelopes. Diese 15-fache Variation kann der Leser nur genießen, wenn er zu urteilen und mitzuerleben fähig ist.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

konstituieren. Derjenige, der Ovid nach Stoff und Stil imitiert, sucht zweifellos „nur" den gleichen literarischen Genuß zu bewirken wie sein Vorbild. Aber zu keiner Zeit ist der Klassizismus derart aufs Museale gerichtet gewesen, daß er sich mit solcher Reproduktion begnügt hätte. Freilich ist solches Reproduzieren immer geübt worden (S. 112—120). Aber es stellte sich doch von vornherein die Aufgabe, von der Imitation zur Adaptation überzugehen, und bei diesem Schritt ist — manchmal naiv 66 , manchmal mit unverkennbar durchdachtem Radikalismus — entschieden worden, welchen Zwecken denn die nach Ovid geformte Dichtung dienen sollte. Hier ergibt sich folgendes Paradoxon: Diese Dichtung würde ersticken, wenn sie nicht wieder und wieder versuchen würde, in mindestens einem Aspekt von Ovid freizukommen. Einerseits ist ihr Grundgesetz die imitatio Ovids. Andererseits würde sie zur repetitio veröden, wenn nicht an irgendeiner Stelle der „Sprung ins Freie" gelingt. Es wäre sehr wohl denkbar gewesen, daß dichterische Absichten von großer Verschiedenheit zu einer Fülle kaum mehr vergleichbarer Adaptationen geführt hätten. Die literarischen Konventionen scheinen aber so gebieterisch gewesen zu sein, daß die Zahl der Typen und Untergattungen trotz größter Variation und trotz vieler Überschneidungen übersehbar geblieben sind. Nach reiflichem Überlegen ex schien es als das Geeignetste, diese Untergattungen in solcher Reihenfolge zu behandeln, daß der wachsende Abstand von Ovid erkennbar wird: In der literarisch-unterhaltenden Untergattung ist das General-Thema Ovids beherrschend geblieben : amor. Der erbauliche Brief ist aus bewußter Korrektur Ovids erwachsen: Das Thema amor kann nur im heilbringenden Sinne verstanden werden als amor Dei; um so strenger hält man an den formalen Gegebenheiten Ovids fest. Will der erbauliche Brief eine heilbringende Wirkung, so will das Mahn- und Sendschreiben eine unmittelbare und aktuelle Wirkung erzielen. An Ovidischem bleibt im Grunde nur die Briefform — neben mancherlei Reminiszenzen. Die Thematik ist von jeder Bindung gelöst. f ) Die Entwicklung der Untergattungen in ihren Grundzügen Hier soll eine knappe Skizze davon gegeben werden, welche Stadien diese Untergattungen durchliefen. Für den Nachweis des Details sei auf den Hauptteil der Arbeit verwiesen; eine einführende 66

So kennen die Dichter am Hofe des Sigismondo Malatesta (vgl. S. 133ff.) nur ein Ziel: Alle an Ovid geschulte Kunst wird wie zu einem Feuerwerk aufgewendet, um Isotta zu preisen.

Die Entwicklung der Untergattungen

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Zusammenfassung schien nötig, weil das überreiche (und oft noch kaum durchgearbeitete) Detail sonst den Blick auf das Ganze verstellt. Der literarisch-unterhaltende Brief 1. Neben die reine imitatio, die das ganze Mittelalter hindurch geübt wurde, und die erst im 18. Jahrh. verebbte, trat im 15. Jahrh. das Bestreben, das, was Ovid einst leistete, an selbst gewählten Stoffen selbst zu vollziehen. Hier ist etwas vom Drang der Renaissance nach Selbständigkeit zu verspüren: Man sucht nach neuen, von Ovid nicht verwendeten Stoffen — zunächst im Rahmen antiker Überlieferung. So nimmt Luca PULCI (f 1 4 7 0 ) , der erste nachweisbare Autor heroischer Briefe, kurzerhand die römische Geschichte, das heißt die von Vergil und von Livius gebotenen Stoffe hinzu, die ihm ebenso Literatur gewesen sein dürften wie Ovids Dichtungen. Ein gutes Jahrhundert später (so Marco FILIPPI, 1 5 8 4 ) ist der klassische Bereich, in dem die Epen Boiardos, Ariosts und Tassos stehen, dem Bereich der antiken Stoffe ebenbürtig, und eine Generation später sind Giambattista MARINO und sein Kreis eifrig darum bemüht, aus dem nunmehr als verbindlich angesehenen Kreis literarischer Stoffe die Themen für heroische Briefe zu entnehmen — so wie Ovid die für ihn maßgebenden Dichter Homer und Vergil ausgebeutet zu haben schien. Zunächst also erfüllt diese heroische Briefdichtung die Funktion, die Epen der neuen (italienischen) Klassik als ebenso legitime Bildungsinhalte zu erweisen wie die der antiken Klassik. Sicher muß die Briefdichtung Michael DRAYTON'S, die der Zeit nach noch etwas vor jenem Überschwang der Marinisten liegt, in diesen Zusammenhang gestellt werden: Boten den Italienern Heldenepen wie das vom Rasenden Roland die Stoffe für heroische Beispiele, dann durfte man die Engländer auf die Beispiele ihrer Geschichte verweisen: Das Zeitalter Elisabeth's I. hatte die Besinnung auf die Größe der nationalen Geschichte gebracht; nun rivalisierten DRAYTON'S Heroical Epistles vermutlich gerade durch ihren durchgehend amoureusen Inhalt mit den historischen Dramen Shakespeares; der unbestreitbare Erfolg von Drayton's Dichtungen beweist, daß sie ihre Leser ebenso zu ergreifen vermochten wie die Dramen den Zuschauer. Die Antithese zur rein literarischen epistola eroica der Italiener liegt auf der Hand: Während man dort ausgedachte Stoffe behandelte, mußte die historische Wahrheit in dichterischer Formung noch weit eindrucksvoller sein. Beiden Ansätzen — dem italienischen wie dem englischen — war indes gemeinsam, daß die für legitim erachteten Stoffkreise a) dem Bildungsgut, also dem Bereich des als klassisch Erachteten, angehörten, und b) daß sie mit Gegenwart oder Alltag in keinem Zusammenhang standen. Dem Postulat der Erhabenheit war also schon von der Begrenzung der Stoffkreise her Genüge getan.

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Die heroische Briefdichtung als literarische Gattung

Den ersten Einbruch in die Gültigkeit dieser Regel stellt ein heroischer Brief von Pietro MICHIELE dar: Epistola di Hidraspe a Dianea, V 1635. Dieser Brief erschien gleichzeitig, ja vielleicht sogar ein paar Monate früher als: La Dianea, ein Roman von G. F. LOREDANO. Dieser hatte offenbar MICHIELE Einblick in das Manuskript gestattet, und Michiele hat den Höhepunkt des Romans, die Werbung des edlen Prinzen um die schöne Prinzessin, so ausgestaltet, wie seit langem an klassischen Stoffen aller Art66 geübt: er läßt den Prinzen Hidraspes einen Brief an Dianea schreiben. Das muß als geschickte Werbung für den noch unbekannten Roman67 verstanden werden; mit solcher Dichtung wurde vorweg genommen, daß der Roman LOREDANO'S gleichen literarischen Wert habe (oder haben werde) wie die bisher als klassisch geltenden Dichtungen Vergils oder Tassos, Ariosts oder Boiardos. Von da an gilt die Regel nicht mehr, daß Stoffe für heroische Briefe aus anerkannten, ja legitimen Stoffgebieten genommen werden. Das Stilgesetz der Erhabenheit ist nicht verletzt — am Hofe der Dianea geht es so pompös zu wie man nur wünschen kann. Aber das bisher gültige Gesetz, eine zeitliche Distanz zu wahren, kann von nun an vernachlässigt werden. Es ist eine Bresche geschlagen für das Eindringen aktueller Stoffe. Freilich, noch mischt man das Alte mit dem Neuen. Lorenzo CRASSO, der seine epistole heroiche 20 Jahre später veröffentlicht (1655), stellt zwischen einen Brief des Moses an den Pharao und der Medea an Jason ein hochaktuelles Gedicht, das er auf den 12. 7.1652 datiert: Carlo Stuard ad H* M* di Borbone — es ist der Abschiedsbrief Karls I. von England (f30. 1. 1649). Der heroische Brief hat damit die Legitimation gewonnen, auch Aktuelles zu behandeln, sofern es nur rührend und sofern es erhaben ist. In Deutschland sind diese Dichtungen aus der Schule MARINO'S stark beachtet worden68. Man wird den heroischen Briefen HOFMANNSWALDAU'S und LOHENSTEIN'S gewiß am besten gerecht, wenn man sie von diesen italienischen Vorbildern her versteht. Der oft vermutete 66

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Pietro MICHIELE veröffentlicht 1640 sein dispaccio di Venere; darin gibt er eine so bunte Musterkarte benutzter klassischer Autoren wie kaum ein zweiter. Der Brief des Prinzen Hidraspes, nun um eine Antwort Dianeas vermehrt, steht als 6. Stück in dieser Sammlung. Es gibt den Brief des Hidraspes — mit gleichem Titel — als „Sonderdruck" [Bologna UB] und an den Roman LOREDANO'S angebunden [Bergamo BC]; beide Werke weisen den gleichen Satz und das gleiche Format auf. So hat z. B. ein Unbekannter, abgedruckt bei B. NEUKIRCH 6, Lpz 1709, 16—20, die Sßerliebte SRebe bet geilen $f)tt)ne att benSettofrateä au3 be§ Loredano scherzi geniali ubetiejjt — und zwar in einen sehr von HOFMANNSWALDAU inspirierten heroischen Brief. Insbesondere hat Nicolaus von BOSTEL in seinen ^(Joetijdjen 92eben«2Betc£en (nad) be§ ©eel. Autoris SLobe au§ beffeti Sjinterlaffenen ©Triften colligiret), Hamburg 1708, gerade den Brief des Prinzen Hidraspes (von ihm in Diaspe umbenannt) nebst Antwort übersetzt.

Die Entwicklung der Untergattungen

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französische Einfluß ist gering — denn in Frankreich gab es vor 1758 keine nennenswerte heroische Briefdichtung. Ganz offenbar haben beide — HOFMANNSWALDAU und LOHENSTEIN — stark auf die Aktualität der heroischen Briefe hin tendiert. Die beharrenden Kräfte in dieser Gattung (und auch beim Lesepublikum) sind aber so stark, daß beide Dichter ihre Absicht maskieren. HOFMANNSWALDAU schildert in 14 Briefpaaren berühmte Liebesgeschichten aus der europäischen Geschichte. Solange er die Stoffe aus dem Mittelalter nimmt, gibt er die Namen offen an (Briefpaare 1—7 und 14 = Ab61ard und Heloise). Von der Zeit Karls V. an nennt Hofmannswaldau die Namen der Liebenden nur unter recht gesuchten Verschlüsselungen69, was er S. 80 motiviert: SRunmetjro aber mufj tcE) auff§ neu Jjinter ben gürijang / unb toerbe gtetdjfatn gelungen / tnid) bet SJiafique auf futfce Seit ju gebrauchen; SBann alle SBelt fo urteilen tuoilte / tote fie billig jollte / unb man nic£)t bisweilen ©emiitljer antreffe / fo aucf) au§ ben beften SBIumen @ifft ju faugen fid) bemilijeten /ftmrbeid) niemals Bon meinem erften SBege abptoeidjen mid) unterfangen I)aben. fetjn aber bie Safter bet SBelt befannt/ unb biefe§ eben nötiget midj ettt»a§ berbedter ya. ¡fielen. HOFMANNSWALDAU gewinnt damit die Möglichkeit, seine Schilderung von Liebesbegebenheiten, die mit Eginhard und Emma beginnt, bis in die jüngste Vergangenheit fortzusetzen. Nicht nur die Überschreitung der zeitlichen Schwelle führt ihn aus dem Bereich des .Klassischen' heraus. Viel schwerer wiegt der Umstand, daß der Gegenstand der verschlüsselten Briefpaare 8—13 die Mesalliancen und die Ehebrüche in deutschen Fürstenhäusern sind. Hier wird also nicht nur das Aktuelle, sondern in wohlbedachter Auswahl das Skandalöse zum Gegenstand der heroischen Briefdichtung gemacht. Das Gleiche gilt für die Heldenbriefe D. C. von LOHENSTEIN'S (1680); sie scheinen die zeitlich und räumlich weit entfernten amourösen Geschichten König Peters des Grausamen zu behandeln. Aber auch das ist nur eine Verschlüsselung des eigentlich Gemeinten. B. NEUKIRCH in seiner Sammlung I, Lpz 1697, 3ff. wiederholt den durch den Druck von 1680 bekannten Text; er bezeichnet den Autor eindeutig durch die Buchstaben C. D. v. L. = Caspar David von LOHENSTEIN, aber in diesem Text sind die Namen und die Überschriften geändert. Die ganze Dichtung behandelt: (Earl £ubtt»g§, ©jurfürften Oon ber ^falj 70 mit 9Jt. bterjeljn ®elben*33riefe / üott einer tiotnefjmeit fianb aufgefeget / in fetner eigenen ©pra^e gebrücEet Bordeigen fan / bie leinet IeicE)tliat ber §erc Don §offmann3tt>albau in feinen öortreflidjen §eIben=S9riefen / fefjen laffen / bie it)m ettnaä prächtiger au§ ber gebet gefloffen ftnb / alä bor jeiten bern Ovidio feine Epistulae Heroicae. Bouterwek 10, 295 [scharfer Tadel]. Max Frhr. v. Waldberg, Die Galante Lyrik, Straßburg 1885, 132—137 „roheste Sinnlichkeit". G. Ernst, 27—39. Erwin R O T E R M U N D , Chr. H. von Hofmannswaldau, Stuttgart 1963; dort 18ff. Bibliographie der Drucke. Vgl. ferner 37—42.

Josef ETTLINGER, Christian Hofman von Hofmanswaldau, Diss. Heidelberg 1891, berichtet 117 über die hs.liche Bezeugung der .Heldenbriefe'. Sie liegen vor in einer HS. der Landesbibl. Dresden, M 216; sie tragen dort den Titel £iebe§*. 2. ( = David Caspar von Lohenstein) gezeichnet; offenbar bestand die von G. Ernst 89 ff. vermutete Absicht gar nicht, die Gedichte Lohensteins zu plagiieren — sondern der Abdruck, der nach dem Tode sowohl Lohensteins wie des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz erfolgte, gibt offenbar die Entschlüsselung des von Lohenstein zunächst nur verschlüsselt bezeichneten Skandalfalles: die langjährige Verbindung des Kurfürsten mit der Raugräfin von Dassel. C.SPEYER, Eine lit. Fälschung a.d.J.1693; Neue Heidelberger Jahrbücher NF 1926, 78—83 weist einen anonymen Druck Köln 1693 nach, in welchem diese Gedichte Chr. Hofmann von Hofmannswaldau zugewiesen werden; B. Neukirch berichtigt das. 1681

Christoph Friedrich KIENE, $JSoetifd£)e Slebenftunben / §etotfdjen ©eiftern ju fonberbaljrer SSeluftigung öerfertiget, Fkft—Lpz 1681 [Münster UB]. Zit. Neumeister 65; Bouterwek 10, 1817; G. Ernst, 89.

Die Poetischen Nebenstunden gliedern sich in 4 Bücher: 1. Gedichte, 2. Elegien, 3. Sonette, 4. Grabschriften. Im ersten und im zweiten Buche sind mehrere Dichtungen entweder heroische Briefe im eigentlichen Sinne oder stehen diesen sehr nahe — vor allem dadurch, daß sie Motive, die schon in heroischen Briefen behandelt waren, neu gestalten. Mehrfach läßt der Dichter im Unklaren, ob ein Gedicht als ein Brief oder als eine Rede verstanden werden soll. Folgende Gedichte sind als heroische Briefe — oder als solchen nahestehend — zu notieren: 9

Nur im Schlußsatz erwähnt der Autor seine Absicht, dieser Liebesgeschichte das Briefpaar von Philipp I I . von Spanien und der Fürstin von Eboli beizugeben.

Chr. Hofmann von Hofmannswaldau und seine Richtung I 6 ®ie Hogenbe ©etmania (vgl. u. S. 470) I 10 ißijrtjne att beit SEenofiateä10 II 2 ®ba au SIbam im ißarabieä11 II 3 So(epf) ju «ßotip^otS ©emaljlin 12

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II 4 SBattyfeba an Uria 13 II 8 Suftina an if)te (ättern14 II 10a Œanbaulenâ ©emaljlin an @t)ge3 10b @t)geâ an SanbaulenS ©emaijlin

An dieser letzten Stelle also ist es zu einem vollständigen Briefpaar gekommen; die Situation ist die Herodots, I 11. Wahrscheinlich schließt sich Chr. F . K I E N E einem bisher nicht ermittelten Vorbild an. Chr. F. Kiene läßt durchweg erkennen, daß er auf den Schultern seiner Vorgänger steht. Wo er einen entlegenen Zeugen oder Gewährsmann hat — wie Andreas Alenus — zitiert er ihn; italienische Vorbilder, die ihm zweifellos vorgelegen haben 15 , nennt er nicht. Dagegen rühmt er mit unverhohlener Bewunderung die dichterische Leistung Hofmannswaldau's, dem man heroische Briefe gleichen dichterischen Wertes wie des Ovid verdanke (zitiert oben S. 184). Dieser Verzicht Kiene's auf eigene inventio legt es nahe, daß er dichterischen Vorlagen auch da folgte, wo er sie nicht nennt. Das gilt für das Briefpaar des Gyges mit der Frau des Königs Kandaules, und das gilt wahrscheinlich auch für den Brief der Justina an ihre Eltern. Hier wird eine Schauergeschichte berichtet: Justina wird von ihrem Mann gequält und gefoltert; der Dichter läßt in der Prosa-Einleitung keinen Zweifel darüber, daß der eifersüchtige Mann die edle und reine Frau grausam töten wird. Das Gedicht ist also ein Abschiedsbrief der Todgeweihten an ihre Eltern. Der Brief nimmt darum eine Sonderstellung ein, weil der Stoff aus keinem der .legitimen' Stoffgebiete entnommen ist. 10

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Ein Vorbild, das Chr. F. Kiene benutzte, ohne es zu nennen, bot Giov. Franc. Loredano, scherzi geniali II 7 Frine lasciva (vgl. oben S. 175). Vgl. Lorenzo C R A S S O , epistole eroiche nr. 3, Adamo ad Eva. Die Kühnheit, Adam an Eva oder umgekehrt schreiben zu lassen, ist immer wieder bemerkt worden — so Gottsched 665 — vgl. unten S. 330 A. 49. Vgl. Caspar Barlaeus, eleg. I 7, vgl. oben S. 166. Nach Kiene's Angabe aus Andreas A L E N U S , Heroides Sacrae I 19 geschöpft; vgl. unten S. 386. Donatien Alfonse François marquis de S A D E (1740—1814), veröffentlichte 1791 seinen nachmals berühmt-berüchtigten Roman Justine. Nun ist bereits die Justine des Chr. Fr. K I E N E voll .Sadismus' : Hier dürfte eine genetische Verbindung bestehen; es gab einen apokryphen Justine-Roman, aus dem beide schöpften: La Narquoise Justine, lecture pleine de recréatives aventures et de morales railleries contre plusieurs conditions humaines, P 1636 [Paris, Bibl. Ars.], anonym aus dem Spanischen übersetzt. Auch für das Gedicht I 8 ®et (Selbftmötbet Sejanus, das gewiß kein Brief sein soll, ist auf Gio. Franc. Loredano, Scherzi geniali I 10 zu verweisen: Seiano Disfavorito.

,Heldenbrieffe" in Deutschland

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ca. 1680 Magnus Daniel OMEIS = Dämon (1646—1708), ©tünbltcfje Slnleitung jur SLeutfdjen accuratett SReim« unb $tdjtlunft / burdj n ö t i g e Sefyrart / beutltc£)e Sftegulrt unb reine Sjempel »orgeftellet . . . benutzt: Andere Auflage, Nürnberg 1712 [Münster ÜB], S. 278: ®et Seutfdje tn. £>etnr. Sinsheim Bon Siegler unb Mtyijaujen. Lpz 1710 [Göttingen ÜB], Inhalt: — jeweils mit Antwortbrief 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Pharao—Sarai Mahalat—Esau Joseph—Assenat Moses—Zipora Athniel—Achsa Simson—die schöne Timnatherin David an Michal6 Phalti—Michal Amnon—Thamar

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Adonias—Abisag Die egetnischen Weiber—Salomon Jesabel—Ahab Joseph—Marion Herodes—Herodias; dazu Tasera an Herodes 15 Elisabeth—Zacharias 16 Psyche—Psychophilus

Begründung 103: 28eil e3 aud) grande Mode tOOtben / ©od)§ett'Gratuiationes in Form bet Söttefe / als ob SBräutigam unb Staut einanber fdjrteben / abjufaffen / toollen wir ebenfalls einen SBetfucf) in folgenben tljun . . . [folgt Cleander an Elmande, — Elmande an Cleander]. Vgl. S. 207f. 4 Ein einziger Satz ersetzt diese 109: ©g ift aber fingixet / bafi Sltttnon gefdjrieben / ef)e er bte 33Iut»®d)anbe begangen. 6 Die hier genannten Stationen der Liebesgeschichte zwischen Amnon und Thamar stützen sich auf 2. Kö. 13, 15/16 und ebda. 19/20. • Der Antwortbrief der Michal an David stammt von Regina Maria PFITZERIN; vgl. unten S. 200 und S. 262. 3

200

„Heldenbrieffe" in Deutschland

Der letzte Brief, den Psyche an ihren Freund (und Erlöser!) schreibt, verrät einerseits den Einfluß der Urania Victrix des J. B A L D E SJ (vgl. unten S. 404). Andererseits sind Reminiszenzen aus dem Märchen Amor und Psyche des Apuleius eingearbeitet — im Ganzen ein ungewöhnlicher Schritt aus dem alttestamentarischen Stoffbereich heraus. 1710

Regina Maria PFITZERIN, Michal an David, steht in: §elbenliebe bet ©cfjrifft Sitten Uttfa Sieuen Seftamentö . . . von Georg Christian Lehms, Lpz 1710, 168—171.

Folgende Notiz weist die Urheberschaft an dem Brief der Michal an David eindeutig der R . M. Pfitzerin zu: G. Chr. Lehms, Teutschlands galante Poetinnen etc. Frankfurt 1715, 155 am Schluß der dort mitgeteilten Proben aus ihren Dichtungen: Sßtr wollen e§ Reibet) bewenben laffen, wenn wir nur nocf) berühret: bafj biefe galante Poetin aud) ba3 8ßecf)t Ijabe, ftd) in bem bon unä Oerfertigten anbern Steile ber bon bem berühmten §ertn bon S i e g l e t imb ffliptjaufen angefangenen unb bon uns fortgelegten ®elben«8iebe ber ©grifft Sitten unb bleuen Seftamenteä einen S3rieff jujueignen. SBitt jicf) jemanb bie SölüJje geben, folgen j u lefen, wirb et pag. 168 feqq in ber SUid)aI Antwort an ben betfolgten ®abib j u finben fetjn. Durch diese Notiz entschlüsselt G. Chr. Lehms die Andeutung, die er in der Vorrede zu seiner ,Helden-Liebe* macht: ® a aber eine Sßrobe barinnen j u finben, bie nicfet meine Strbeit, fonbern bon einer galanten Poetin berfertiget, beten ©eift in btefer eblen S3efcf)äff» tigung gang Wa§ @onberba^re§ unb beren SJiamen id) in bem jegt unter ©änben ^abenben SBerfe „Steutfdilattbä galante Poetinnen" genannt, mit 9lacf|brucE erweljnen Werbe. 1710

Jan Baptista WELLEKENS (1658—1726), Michol aan David—David aan stehen in: J. B. Wellekens en P. Fläming, Dichtlievende uitspanningen, 1710, 121 ff. Vgl. oben S. 169 und 196.

1714/5

Regina Maria PFITZERIN, ®ie getrennte Siebe beä Saladins unb ber Arsinoe (Briefpaar), steht auf s. 145—155 7 in: Seutfdjlanbä galante Poetinnen mit iljren ftnnreidjen unb netten groben Uiebft einem Slnfjang . . . unb einer SBor« rebe, baß ba§ SBeiblidje @Sefcf)Iedjt fo gefdjidt jum ©tubieren aI3 ba§ 9KännItd)e, auägefertiget bon ©eorg K^riftian £et)m§. Fkft 1715.

1722

Hubert Korneliszoon POOT (1689—1733), Brief van Vasthi aen Ahasverus, steht im Kapitel .Bybelstoffen' in den Gedichten, 2. Aufl. Delft 1726 (noch nicht in den ,Mengeldichten', Rotterdam 1716).

7

Michol, A.dam

Dazu der Herausgeber G. C. LEHMS : Qdj fjabe bie CSIjte, faft ein bollgefdjttebeneS SSucE) bon iljren fcE)önen ißoefien j u befigen / unb fan berfidjern, bafj ¡oldje gute $en* feeS barinnen boriommen, bie oljnfeijlbar einen Siebljaber ber eblen $ßoefie contentiren muffen. Slbfonberliä) ijat fie ficfj in ben $elben*S3rteffen fel)r geübt, unb Wollen wir aud) ben 2lnfang babon machen, folcfte bem geneigten Sefer j u communiiren, botijet aber bem Qnntialt ber barunter begrteffenen £iebe3*3ntrtgue, fo ouä be§ §errn SatanberS ungtiidfeetigen SßrinceSäin Arsinoe genommen, jugleid) mit beifügen. Der Prosa-Roman von August Bohse [Pseud. Talander], ®ie unglüdfeelige ^ringeffm Arsinoe, erschien zu Nürnberg 1 1698, 2 1714. Regina Maria Pfitzerin dürfte ihren Brief unmittelbar nach Erscheinen der 2. Aufl. verfaßt haben.

Antithese: Der erbauliche Brief

201

vor 1729 Benjamin NEUKIRCH (1666—1729), S a t i r e n Uttb poetifdje Söriefe, hrsg. von J . C. RASCHE, Fkft—Lpz 1757 [Köln UB] 8 . Inhalt: 1—110 Übersetzung der Satiren Boileau's. 113 Wotalifdje »tiefe bet alten ißijilofopiien 1 2 3 4 5 6

ißittacuä an ben (£töfu3 ©olon an ben unglücHidjen ©töfuS StöfuS an ben ©olon XijaleS an ben ©olon 9ßi(ifttatueopi)üu3 4 £i|eopf)iIu3 an bte $i)öbe 5 2)et öetläumbete §etme3 an ben Qiafon 6 Qafon an ben Kermes 7 ®et gefangene ©imon an ben Stquiia

9 10 11 12 13

8 9iquila an ben ©imon

18 Ulimene antwortet bern 9Iefcf)t)lu3.

C. H. SEIDEL, SBiblifcEje §elbettbtiefe, in 12 fonbetlidjen SiebeSbegebenljeiten be3 Sitten Seftamenteä aU ein britter SLijetf j u be§ §rn. ö. 3 t e g l e t 3 §elbenliebe öorgeftellet. *Lpz 1729, Schweidnitz — Lpz 1732. Inhalt:

1746

1

14 15 16 17

SOtanfuetuä an ben geftürjten 9tulu§ StuIuS an ben 3Kanfuetu§ SJtanfuetuS an ben Stuluä 21ulu3 an ben 9Jlanfuetu3 ®et ungebulbige Eapfjot übet fein böfeS SBeib, an ben Slemiliuä 9temiliu§ an ben ©apfyot ItanquiHa an ben $i§cretu3 ®i§ctetu3 an bie Stanquüla 9iefd)t)Iu3 an bie (Slimene

12 Briefpaare

Cain—Calamana Judas—Bessue Lamech—Zilla Thamar—Judas Nahor—Milca Ameran—Iocheleth Ismael—die Egypterin Aron—Eliseba Abraham—Ketum Hiob—Dina Abimelech—Rebecca Tobias—Sara Zit. Jördens, Lexikon der Dichter V 625 [anonym], Neue Heldenbriefe, Prenzlau und Lpz, verlegt von Christian RAGOCZY 1746, darin fünf ,Herolden' aus pommerscher Geschichte. 1.2. Stoislaf und Brantislawa, Gräfin v. Gürzkow 3.4. Wartislaf und Jutha 5. Rüdiger an Wanda. Zit. G. Ernst 131 f., Hain 3, 136.

Das Expl., das ich benutzte, war nicht ganz vollständig: Das Titelblatt ist durch einen hs.lichen Eintrag ersetzt, der indes mit dem im Catalogue of the British Museum textgleich ist, und es fehlt der letzte Druckbogen, mit Textverlust ab Nr. 15; die letzten vier Briefe werden nach dem Inhaltsverzeichnis mitgeteilt.

202

„Heldenbrieffe" in Deutschland

Hiernach erscheint folgende abschließende Bemerkung am Platze: Die Entwicklung der heroischen Briefdichtung in Italien, England und Deutschland zwischen 1500 und 1700 muß im Zusammenhang mit der Blüte des Petrarkismus, und mit der plötzlichen Verneinung des Petrarkismus9 gesehen werden. Gewiß — der Abstand darf nicht geleugnet werden: Eigentlich hat sich der Dichter im Gedicht seiner Geliebten zu nähern (und diese Geliebte findet er gewöhnlich geneigt, ihn zu erhören). Der heroische Brief transponiert diese aktuelle Situation in den Bereich mythischer, besser heroischer Vorkommnisse. Und in diesem Bereich sind die jeweiligen Empfängerinnen heroischer Briefe ebenso bereit, den Helden zu erhören, wie es die auf die Gegenwart bezogene Lyrik postuliert. In diesem Bereich wie in jenem gelten die gleichen concetti, es gilt die gleiche Metaphorik, es gelten die gleichen Regeln, die Absichten des Werbers spielerisch zu verhüllen und zugleich deutlich, sehr deutlich werden zu lassen. Wegen dieser engen Nachbarschaft zur aktuellen Werbung kann der heroische Brief wieder und wieder zur aktuellen Situation in Beziehung gesetzt werden. So geht Heinrich MÜHLPFORDT (vgl. S. 2 0 7 ) in seinen Hochzeitscarmtwa gern von mythologischen Situationen aus (z. B. die in der Oder badende Venus), um dem Gegenstand seines Carmen — die jeweilige Hochzeit -— poetische Feierlichkeit zu verleihen. Genausogut kann er fingierte Personen, hinter denen man Braut und Bräutigam erkennt (vgl. unten S. 207) einander poetische Briefe schreiben lassen: Diese drücken aus, wie das Paar sich zu einander sehnt, und welches Glück die Hochzeitsnacht gerade diesem jungen Paar bringen wird. Gegen jede Wahrscheinlichkeit wird so getan, als ob die Braut noch während sie zur Hochzeit angekleidet wird, dem künftigen Herrn ihr glühendes Liebesgeständnis ablegte . . . Hier kommt nichts auf Historizität, sondern alles auf Aktualität an. Nicht anders steht es mit den Briefen des G. P R I T I U S (vgl. S. 2 0 8 ) ; sie sind gar als Werbe-Briefe gedacht, welche jeweils ein Geistlicher seiner zukünftigen Pfarrfrau sendet (die jedes Mal im Tone beglückter Zustimmung antwortet) — hier ist der Übergang von heroischer Briefdichtung zu einem Briefsteller vollzogen: Schüchterne Ehekandidaten 9

Mit leider unzulänglichen Mitteln sucht Jörg Ulrich FECHNER, Der Antipetrarkismus, Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik, Heidelberg 1966, diese Wende zu beschreiben und zu motivieren. Eine solche Studie müßte von einem Kenner der europäischen, nicht nur der deutschen Literatur geschrieben werden. Über die Rolle, die der heroische Brief als Ausdrucksmittel des Antipetrarkismus spielte, fällt kein Wort; auch sonst leidet die Arbeit an der Lückenhaftigkeit der Nachweisungen.

Antithese: Der erbauliche Brief

203

mögen sich solcher Hilfe bedienen, um formvollendet zu werben; gleiches Ziel hat J . B . M E N C K E == Philander von der Linde seinen galanten Briefen gesetzt. Zweifellos liegt es am .petrarkistischen' Grundzug der ursprünglichen heroischen Briefdichtung, daß sie in hohem Maße beispielhaft wirkte. Nachdem man die Formen gegenwärtigen Werbens auf die Helden Ariosts und Tassos zurückprojiziert hatte, erhielt man sie von dort als verbindliche Vorbilder zurück. Aber sobald man sich vom Vorbild Petrarcas löste, wurde die bisher gültige , Bildungswelt' der heroischen Briefdichtung zum Gegen-Modell, zum Gegenstand der Travestie: So ganz offen in England, wo die Jahrzehnte 1670—1700 eine recht nennenswerte Reihe burlesker Ulk-Gedichte hervorbrachten, in kaum aufhellbarer Verschleierung in Deutschland: Wer kann sagen, ob Chr. HOFMANN von Hofmannswaldau's Briefpaar, das Abailard und Heloise gewechselt haben sollen, in seiner pointierten Rührseligkeit ernst gemeint ist — oder ob da eine durchaus subtile Travestie beabsichtigt war ? Vermutlich ist das Gedicht ernst gemeint nur für den, der es ernst nehmen will. Auf jeden Fall liegt es an den poetischen Bedingungen, welche auf die Spätphase des Petrarkismus wirkten, daß die Übergänge ins (scheinbar) Erbauliche, ins aktuelle Liebeswerben und vor allem in die Travestie sehr leicht gemacht wurden. Die Leser waren nicht mehr naiv genug, um die Liebesschwüre in vordergründiger Einsichtigkeit ernst zu nehmen: J e länger je mehr erschuf sich dies poetische Programm die Doppelbödigkeit, die Mehrschichtigkeit; diese Form löste sich selbst auf, nachdem der Hintergrund höhere Bedeutung erlangt hatte als der jedem einsichtige Vordergrund. Hierin liegt der wichtigste Grund dafür, warum um 1700 die heroische Briefdichtung ein Ende erreicht zu haben scheint; was die preziöse Ausgestaltung anlangt, war wohl noch im Scherz (vgl. unten S. 211), aber nicht mehr im Ernst eine Steigerung möglich. Darum gab es einen Neubeginn nur unter völlig veränderten Umständen. Dem französischen Rokoko wurde der heroische Brief wieder glaubwürdig — nicht als Träger mutwilligen poetischen Spieles, sondern als Träger vertiefter poetischer Wahrheit. Der Liebesverzicht von Abailard und Heloise schien in so hohem Maße von poetischer Wahrheit erfüllt zu sein, daß eine ganze Generation darin wetteiferte, P O P E ' S Briefgedicht zu übertreffen. In dieser neuen Phase ist die heroische Briefdichtung gänzlich von den Fragestellungen des Petrarkismus gelöst; sie ist nur darauf gerichtet, die Wahrheit von Empfindung und Leidenschaft dichterisch zu gestalten.

VII. Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung (etwa 1500—1700)

Es soll nun dargestellt werden, inwiefern die heroische Briefdichtung von einer „Zone der Unscharfe" umgeben war —• einer Zone, in die vielerlei Analogien zur heroischen Briefdichtung einzuordnen sind. Hierbei ist vorauszuschicken, daß Briefe von Sterbenden oder von Verstorbenen an Lebende nicht als „Nebenform" anzusehen sind (vgl. oben S. 126); solche Briefe sind durch das ovidische Vorbild vollauf motiviert; mindestens sechs der ovidischen Heroinen senden ihrem Geliebten die ultima verba als Vermächtnis und als Weissagung. Briefe von Sterbenden oder Verstorbenen haben ihren legitimen Platz unter den Mahn- und Sendschreiben, die aus dem Jenseits an einen Lebenden gerichtet werden. So ist auf S. 484 zu verweisen. Ferner soll in der folgenden Aufstellung abgesehen werden von allen Brief-Fiktionen in Prosa1. Wohl ist anzumerken, daß nirgends Prosa-Briefe bekannt wurden, die mit heroischen Briefen in Konkurrenz treten oder mit ihnen verglichen werden können. Sondern erdichtete Briefe in Prosa werden stets in ganzen „Sammlungen", also als Briefromane oder Briefnovellen vorgelegt — und deren gibt es eine so ungewöhnliche Fülle, daß sie sich bibliographischer Erfassung vorerst entzieht2. 1

Ein Beispiel ist freilich so possierlich, daß ich es nicht unterdrücken möchte: Carlo MOSCHENI, Lettere missive e responsive delle bestie, 1672 [BergamoBC], 2 Bologna 1673 [Parma BP], enthält 30 Briefpaare, unter den verschiedensten Tieren gewechselt. Das Vorwort weist „ganz unschuldig" auf Bileams Esel und auf antike Fabeln hin, in denen Tiere sprechen (dann können sie auch schreiben). Aber die Absicht gegenwartsbezogener Satire ist offenkundig. Es wenden sich jeweils niedrige oder demütige Tiere an hochgestellte — so ist das Rhinozeros Exzellenz und hoher Beamter, der den Bittsteller ungnädig abkanzelt. Zweifellos ist das Ganze eine Satire auf die venezianische Hierarchie, deren Vertreter vermutlich so abkonterfeit waren, daß der Wissende sie erkannte. Offenbar hatte C. MOSCHENI keine Kenntnis vom mittelalterlichen roman de renard = Reineke Fuchs.

2

Ansätze zu solcher Bibliographie bieten G. F . SINGER, The Epistolary Novel, 'New Y o r k 1933, 2 1963; Ch. E . KANY, The Beginnings of the Epistolary Novel, Berkeley 1937; V. MYLNE, The Eighteenth-Century French Novel, Manchester 1965. So Nützliches diese Arbeiten bieten, gerade in der Erforschung der Anfänge sind sie lückenhaft.

Poetische Briefe, von erfundenen Personen gewechselt

205

Endlich bleiben — wie in dieser Arbeit durchgängig — poetische Briefe außer Betracht, die ein Dichter im eigenen Namen an Zeitgenossen schreibt. Unter den Formen, die wohl erkennbar mit dem heroischen Brief wetteifern, hebt sich zunächst einmal diese heraus:

a) Poetische Briefe, von erfundenen Personen gewechselt (meist Briefpaare) Oben S. 25 f. wurde versuchsweise eine Motivierung gegeben, warum Dichter aus der Notwendigkeit auszubrechen versuchen, historisch oder literarisch dokumentierte Liebesgeschichten in Briefen zu behandeln. Diese Nebenform sucht sich vom Zwang des Zweitvollzuges freizuhalten. Zurückzuverweisen ist zunächst auf Franciscus ZAMBECCARIUS, de amore Philochrysi et Chryseae, verfaßt vor 1472, gedruckt Bologna 1496 (vgl. oben S. 130); es ist dies die einzige mir bekannte Versnovelle in Briefen (vor dem 18. Jahrh.). Deutlich ist die Tendenz, Ovid zu ergänzen, erkennbar bei Andry de la VIGNE, quatre epistres d'Ovide etc., verfaßt 1497, gedruckt P 1534 (vgl. oben S. 151). Unter den Schreibern dieser Briefe kann nur la belle Amazone (3. Brief) in den Mythos eingeordnet werden; alle übrigen Gestalten — auch Cezias, der Adressat der Amazone — sind erfunden. Möglicherweise sind es Pseudonyme für Lebende, vergleichbar der Lettre d'Erothée ä Néogame etc. (vgl. oben S. 70 und S. 156). Bezeichnenderweise ist das 16. Jahrh., da die heroische Briefdichtung sich zur Geschlossenheit heranbildete, ganz arm an Briefen, die erfundene Personen wechseln. Erst das 17. Jahrh. läßt eine solche „Begleitmusik" zur heroischen Briefdichtung erklingen. Bisher ist es nicht gelungen, in Spanien eine heroische Briefdichtung nachzuweisen. Wohl läßt der Bursario des Juan RODRÍGUEZ de la Cámara (oben S. 156) den Ansatz erkennen, durch eine Erweiterung der ovidischen Briefe zu neuen heroischen Briefen zu gelangen. Aber dieser Ansatz ist nicht weiter verfolgt worden. A. ALATORRE hat in einer materialreichen Studie sorgsam zusammengetragen, was an Ovid-Übersetzungen und Ovid-Imitation im spanischen Bereich nachzuweisen ist. Aber es ist kein heroischer Brief darunter. Der Einfluß Ovids auf die spanische Dichtung ist Jahrhunderte hindurch sehr stark gewesen (vgl. oben S. 157). Zugleich war der literarische Austausch mit Italien zu den Zeiten, als der heroische Brief blühte, sehr rege. Trotzdem sind in Spanien keine heroischen Briefe im eigentlichen Sinne zu beobachten. Wohl gab es einige Dichtungen,

206

Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung

die unter die Randformen einzuordnen sind — aber keine von ihnen ist als Zweitvollzug anzusprechen. So muß vermutet werden, daß diese Bedingung der heroischen Brief dichtung, eine gegebene Situation nachzuvollziehen, auf den inneren Widerspruch der Dichter und des Publikums stieß. Erst von etwa 1770 an begegnen Übersetzungen der damals en vogue stehenden französischen heroides; eine eigenständige heroische Briefdichtung hat Spanien nicht hervorgebracht — und man wird vermuten dürfen: nicht hervorbringen wollen. Auch in Frankreich waren die Widerstände gegen diese italienische Mode stark; ihr hat sich Spanien gänzlich verschlossen. So sind nur folgende Dichtungen nachzuweisen, in welchen erfundene Personen Briefe wechseln: vor 1610 Christobal Mesquera de FIGUEROA (1547—1610), Epistola de Lucinda a Medoro; epistola en respuesta de Medoro a Lucinda, benutzt: Obras, Madrid 1955, 1,

1621

1612

186—214.

Lope de VEGA, Belardo a Amarillis, in: Poesias liricas, Madrid 1926, 2, 196—204. Ein scherzhaftes Briefpaar scheint darauf hinzuweisen, daß dennoch eine Gattung solcher Art bestand, die zu parodieren lohnte: Francisco de QUEREDO Villegas, Carta de Escarramon a la Mendez; respuesta de la Mendez a Escarramon3. Carta de la Perala a Lampuga su bravo; respuesta de Lampuga a la Perala, 1 Barcelona 1612.

Escarramon ist ein Zuhälter, der aus dem Gefängnis an seine „Schutzbefohlene" schreibt; das andere Briefpaar gehört dem gleichen Milieu an; die Briefe sind durchsetzt von recht deftigen Zweideutigkeiten. Aber es gelang bisher nicht, diese Briefe auf ein literarisches Muster zurückzuführen. Wahrscheinlich travestieren diese Briefe ein Vorbild aus der hohen Literatur. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an: 1619

Cesare ORSINO (Pseud. Stopino fl638), Epistole amorose, V 1619 — darin Fileno a Clori, 241; Eurilla a Silvio, 251. Zit. Crescimbeni II 67. 1622 Diego de VERA y ORDONEZ de Villaquiran, Heroydas belicas y amorosas, Barcelona 1622 (vgl. oben S. 157 A. 18) [Wien NB], Dieser Dichter richtet Briefe im eigenen Namen als Heroydas an die Könige Spaniens und Frankreichs und an mehrere Granden. um 1650 Francesco BRACCIOLINI aus Pistoia, Ravanello alla Nenciotta e risposta della medesima, in: Poesie pastorali e rusticali raccolte . . . dal dott. Giulio FERRARIO, o. O. 1808, 348—354. Diese Dichtung bietet den Werbebrief eines toskanischen Bauernjungen an eine Dorfschönheit. 1645 Giovanni Battista BERTANNI, Epistole amorose historiate del cav. Gio. Bertanni dedicate alla Gloria degli illustriss. signori Gio. Francesco Loredano e Pietro Michiele, Padua o. J., aber 1645 [Amiens und London BM]. Zit. Quadrio 625 (enthält Liebesbriefe erdichteter Personen). 3

In literarischem Zusammenhang mit dieser Gestalt steht die Romanze El v o n Antonio HURTADO y Mendoza, Obras 3, 9 2 — 9 5 .

Escarramon

Poetische Briefe, von erfundenen Personen gewechselt

207

Diese Gedichtsammlung stellt den Übergang vom Liebesbrief zur Briefnovelle dar. Personen und Situationen sind durchaus unhistorisch — das Wort historiate im Titel besagt, daß die Briefe in eine novellistische Situation, eine .Geschichte' also, einzuordnen sind. Offensichtlich ist dies, die novellistische Einkleidung der Brief-Situation, für die deutsche Dichtung der darauf folgenden Generation zum Vorbild geworden. 1694

Petrus Daniel HUET (1630—1721), Ad Lycoridem ex persona Cn. Cornelii Galli, ut illam perfidiae suae paeniteat, in: Poemata, 4 Utrecht 1700 [Brüssel B R ] , 6 P 1719; carmina P 1739; auch in: Recentiores poetae Latini et Graeci quinque, Leiden 1743.

Offenbar ist ein gegenwärtiges Erlebnis „verschlüsselt", indem es dem Cn. Cornelius Gallus zugeschoben wird. 1670/1671 Heinrich MÜHLPFORDT (1639—1681), Sleonbet unb 3lofeIIen§ 3Becf)felbrteif, bet) bem unb §od)jett§fefte, bett 18. 9iot). 1670 abgegeben (zusammen 100 Verse). Stuf 9t. 3 . auf b. 3t. unb Sungf. 6 . 2Jt. £>. ©odEtgett, ben 27. $AN. 1671 (Perlemuth richtet einen Brief an Hyazinth, dieser antwortet; 38 und 48 Verse). Stuf § n . g. P. J . u. D. 3ungf. 3 t 2ft. SS. §od)jeit, ben 4. fjebt. 1671 (Florino an Rubelle, nebst deren Antwort, 68 und 68 Verse), in: Seutfdje @ebic£)te, Breslau 1686, 40—48.

Unter seinen vielen Hochzeitsgedichten hat H. M Ü H L P F O R D T das Briefschema nur diese drei Mal angewendet; ersichtlich stehen diese drei Briefpaare unter dem Einfluß Ch. HOFMANN von Hofmannswaldau — und ebenso deutlich ist von hier aus die Dichtung des Io. G . P R I T I U S (unten S . 2 0 8 ) vorbereitet. Unter den fingierten Namen durften sich die Hochzeitsgäste das Brautpaar vorstellen, wie es kurz vor der Verehelichung einander schreibt, in Erwartung deutlich bezeichneter Freuden. In seinen SSertnifcf)ten @ebicE)ten hat H. Mühlpfordt zwei Poeme an Perlemuth gerichtet. Gleichem Anlaß und gleicher Stil-Haltung entspringt folgendes Briefpaar: 1678

1681

1699

[anonym] Stuf § e r r n Don §euti)aufen unb $ f t . © t 3 t Äatjferin $ocfoeit. ®en 15. Maj. An. 1678. Briefpaar igtjacmtf) an glorinben, glortnbe an |)t)acinti) Stehen bei Neukirch 6, 192—99. Christoph Friedrich KIENE, ^uftitta an iljre ©Item, steht in: Sßoettfcf)e SIEBEN* ftunben / §etoifcE)en ©eiftern ju fonberbaijrer Seluftigung berfertiget. Fkft-Lpz 1681 [Münster ÜB], Vgl. oben S. 188 A. 14. Gottlieb STOLLE (Pseud. Leander 1673—1744), ©tytöia an glorinbo, bei Neukirch 6, 1710, 258—259. Nicht hierher gehört desselben Autors ißoetifcfjer S3tief* tnedjfel jtoifdjen Seanber unb gloretten, bei Neukirch 5, 1710, 305—317 4 ; denn unter Leander ist der Dichter selbst zu verstehen.

* Die Originalausgabe ®eutf(f)e föebidjte unb ©alante @ebid)te, o. O. 1699, blieb unauffindbar; vgl. oben S. 71.

208

Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung

um 1700 [pseudonym] BELLANDER, §elben»93rtefe etlidjer unglüdli(i)»S8etIibten ollen cutiöfen Siebíjabern / j u öergönnter © e m ü t ^ S r g ö f c u n g mitgetfyeilet öon fflellattfaern. ö l s o . J . 1702

I n h a l t : Siebe jtt)ifd)en ißetarbo unb Sötifeiben — Sofarbo uttb Dlinben. Ioannes Georgius PRITIUS (1662—1732), SBertraute 33tteffme(F)felung ÜOTnehmet e^eltcE) fid) öetfnüpffenbet ^ e t f o n e n , i n : S t o b e n der Beredtsamkeit etc., Lpz 1702,

485.

Hier bietet J . G. PRITIUS sechs Briefpaare im heroischen Stile Hofmannswaldau's an. Sie werden gewechselt von ungenannten Personen, je einem werbenden Bräutigam und einer sittsam J a sagenden Braut. Unter den „vornehmen Personen" soll man sich evangelische Geistliche vorstellen, die um eine künftige Pfarrfrau werben. 1703

1720

David CRAVFURD, Ovidius Britanniens or Love Epistles in Imitation of Ovid being an Intreague betwixt two Persons of Quality5, L o 1703 [ L o n d o n B M ] , Inhalt: 1—52 Introduction (in Prosa) 41 Hermes to Amestris 51 Amestris to Hermes 62 Hermes to Amestris 72 Amestris to Hermes 77 Hermes to Amestris 82 Amestris to Hermes 89 Timandra to Adrastus 96 Lysander to Callista 103 Daria to Odmar 115 Strephon to Cleone 126 Phaon to Sapho 132 Theseus to Ariadne 140 Olivia to Thyrsis 149 Thyrsis to Olivia. Martha FOWKE, Epistles of Clio to Strephon, a Collection of Letters, ' L o 1720; Lo 1729 [London BM], Gottfried B e n j a m i n HANCKE, SBettlicEje ©ebidjte. Lpz 1727. [ B r a u n s c h w e i g T H ] darin 1 2 3 : $ e t TOuibau g l u j j bandet 3t)ro ©jcellenj bem ©rafen bon © p o n ! int 9faí)men be3 tönigreid)e§ ©ö^etmb Bot g-nttobuetion ber SBellfd^en Dpern 2 6 0 : ® e r unöerljoffte SluSgang einer intglüdfeeligen Siebe. I n eine novellenartige Erzählung sind eingelegt Briefe von 1 Clorinie an Dorindo, 2 Dorindo an Clorinien 2 9 3 : » t i e f an fflinfaen 2

1727

3 8 5 : 9lu3 beé Dbibii I X . 5Bud)e feinet Sßermanblungen = Übersetzung der ByblisGeschichte, darin der Brief der Byblis. vor 1747 V. BOURNE ( f l 7 4 7 ) , Sweet William's Farewell to Black Ey'd Susan = Guilelmus Susanne valedicens (zweisprachig), i n : Poematia Latine partim reddita, partim scripta, 5 L o 1764 [Brüssel B R ] .

Das Gedicht verdient Erwähnung wegen der ausgesprochen ovidischen Latinität der lateinischen Fassung. Der engl. Text ist 1720 von John GAY (1685—1732) verfaßt. 6

Diesem Untertitel k o m m t hohe Bedeutung zu, weil in i h m eine Definition des heroischen Briefes enthalten ist; vgl. S. 10 A. 16; 18 A. 41.

1796

Poetische Briefe, unter Lebenden gewechselt

209

Gale Isaacus G A L E S , Menander Susannae, in: Deliciae poeticae fasciculi Leiden 1796 [Brüssel BR],

VIII,

b) Poetische Briefe, unter Lebenden gewechselt Hier gilt es, bis auf die Anfänge der heroischen Briefdichtung zurückzugehen : 1449—1453 Tobia del B U R G O (fl449) und B A S I N I O da Parma (1426—1457), Liber Isottaeus, verfaßt 1449—1453, Erstdruck P 1539, ed. Ferruccio F E R R I , Città del Castello 1922.

Uber diese Sammlung huldigender Briefe wurde oben S. 133 ff. berichtet ; sie sind alle unter lebenden Personen gewechselt, zu denen auch die beiden Dichter gehören. Mit diesem Epistelkranze gehört eng zusammen: Titus Vespasianus STROZZA ( 1 4 2 4 — 1 5 0 5 ) , Sigismundus ad Isottam, in: Eroticon Hb. II, V 1513, 28—34 [Bergamo BC, Parma BP], 1469/70 Luca P U L C I (1431—1470), Lucretia a Lauro, in : Pistole, *F 1481 [Modena BA, Florenz BN].

1453

Dies ist die erste der Pistole, die L. P U L C I dem jungen Lorenzo de'Medici, nachmals dem Prächtigen, widmete. Mit Lucretia ist eine Hofdame Lorenzo's gemeint 6 , mit Lauro Lorenzo selbst. In ihrem Briefe drückt Lucretia ihre Ergebenheit dem jungen Fürsten gegenüber aus, der um sie warb und erhört wurde. 1509

P. Faustus A N D R E L I N U S aus Forli, Epistola in qua Anna gloriosissima Francorum regina exhortatur maritum . . . regem Ludovicum duodecimum etc. P o. J. [vgl. oben S. 140].

Ein Huldigungsbrief im Stile des liber Lsottaeus. In Frankreich, wo diese Diktion noch unbekannt war, erregte der Brief Aufsehen ; er wurde zweimal im Jahr seines Erscheinens ins Französische übersetzt, vgl. unten S. 446. um 1515 Baldassare CASTIGLIONE (1478—1529), Hippolyte Balthassari Castilioni coniugi [verfaßt unter dem Pontifikat Leos X.], steht in: Carminum liber, benutzt: Carmina quinque illustrium poetarum, F 1552 [Paris BN],

Dieser Brief steht dem Arethusa-Brief des Properz nahe (eleg. 4, 3). Der Anlaß ist dieser: B. Castiglione mußte eine Reise nach Rom unternehmen. Er faßt nun den Abschiedskummer und die guten Er6

Die Wahl dieses Namens wurde offenbar durch die hystoria de duobus amantibus des Enea Silvio PICCOLUOMINI (vgl. oben S . 126ff.) nahegelegt. 14 Heroische Briefdichtung

210

Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung

mahnungen seiner Frau Hippolyte halb scherzhaft, halb ernst in diesem Brief zusammen. um 1534

Francesco Maria MOLZA (1489—1544), Ad

Henricum

Britannum

regem

uxoris repudiaiae nomine, in : Carmina illustrium poetarum Italorum, hrsg. von Io. Matthaeus TOSCANUS, P 1577, 1, 43—46.

Eine zugleich amatorisch und konfessionspolitisch sensationelle querela : Katharina von Aragon schreibt an Heinrich V I I I . von England, der sie verstoßen hat und um der Wiederheirat willen sich von der Suprematie des Papstes frei macht. Der Brief ist offenbar in die Zeit zu datieren, da dieser Bruch hochaktuell war. ca. 1555

Petrus LOTICHIUS Secundus (1528—1560), Helicana

Mario

(zwei Briefe),

stehen als Eleg. V 29 und 30 in: P. Lotichii Secundi elegiae, ed. Joach. CAMERARIUS, L p z 1561.

Zit. Ellinger II 379, briefl. Hinweis F. NEUBERT : Hélissenne de Crenne ließ 1538 ihren Roman erscheinen ,Les angoisses douloureuses qui procèdent

d'amours',

ferner: 1539 ,Lettres familières et invectives' — zweifellos knüpft die Wahl des Namens .Helicana' an das damals aktuelle Werk an.

Diese Briefe entstanden bei folgendem Anlaß : P. Lotichius Secundus unternahm mit seinem Freunde Marius eine weite Fußreise; Marius war mit .Helicana' verlobt. Zweimal tat nun P. Lotichius so, als finde man im abendlichen Quartier einen Brief der Helicana an ihren Verlobten vor. In den Augen des Marius hat seine Braut den Rang einer mythischen Heroine: darum läßt P. Lotichius sie stilgerecht in wohlgefeilten elegischen Distichen schreiben. 1621

[anonym, aber] Claude Barthélémy MORISOT (1592—1661), Epistre de Nestor à Léodomie sur la mort de Protésilas. Consolation à M. de Bellegarde sur la mort de M. de Termes. Vers Latins sur le mesme sujet, Dijon 1621. B L F 50590.

Einzig der Titel weist daraufhin, daß ein Anklang an mythologische Beziehungen gesucht wurde : So wie Nestor Laodamia hätte trösten können, als sie um ihren Gatten trauerte, so wird die hier formulierte consolatio trösten. 1629

Caspar BARLAEUS (1584—1648), Epistula maritum

audacius süb ipsis Silvae Ducis

Ameliae moenibus

ad Fredericum militantem,

Henricum

in: Poematum

vol. I, Leiden 1631, 155 [Münster UB]. Laurent Le BRUN SJ, Eloquentia Poetica etc., P 1655, 715—717.

Die Fürstin Amalia fordert ihren Gatten, Heinrich Friedrich von Nassau, auf, bei der Verteidigung der Freiheit der Niederlande gegen Spanien recht vorsichtig zu sein; vgl. S. 165. Der Brief bezieht sich auf die Belagerung von s'Hertogenbosch 1629. vor 1705 Johann B. MENCKE (Pseud. Philander von der Linde), Liebe zwischen der Philuris und Lesbia7 7

Mit Philuris bezeichnet J.B.MENCKE die Stadt Leipzig (vgl. unten S. 475), mit Lesbia eine lebende Dame, die aus Leipzig abreist, der bisherigen Heimat aber ihre Liebe zusichert.

Der scherzhafte Brief

211

Liebe zwischen dem Menalcas und seiner Jägerin Liebe zwischen Dämon und Chloris, in: Galante Gedichte, Lpz 1706 [Göttingen UB]; vgl. oben S. 194.

Nach drei Briefpaaren literarischen und historischen Inhalts folgen obige drei Briefpaare, die unter erfundenen oder verstellten Personen der Gegenwart gewechselt werden. vor 1824 Rhynvis FEITH (1763—1824), Werther aan Ismene, in: Dicht- en prozaische Werken, Rotterdam 1824, vol. 6, 197/8.

Es kann kaum ein Zweifel sein, daß der Dichter mit Werther sich selbst, mit Ismene die von ihm Umworbene meint. Daß er sich hinter dem Namen Werthers verbirgt, gibt ihm das Recht, seine Werbung mit Werther'scher Empfindsamkeit vorzutragen. So sehr Rh. Feith sich dadurch selbst darstellt, so blaß bleibt das Bild der von ihm angebeteten Ismene. Das Gedicht hebt an: Ontvang den jongsten groet, beminlijkste aller vrouwen! Van hem, wien't eerst uw oog de Liefde komen deed: Ach kann een sterveling op aardsch geluk vertrouwen ? Mijn heil hing aan de Min, de Min schiep al mijn leed. c) Der scherzhafte Brief

Die heroische Briefdichtung nimmt sich ernst — und es sieht nicht so aus, als ob viele Dichter dieser Gattung viel Spaß verstanden hätten. Wahrscheinlich war Ch. HOFMANN von Hofmannswaldau in dieser Hinsicht eine ungewöhnliche Ausnahme. Es ist von weitaus den meisten Dichtern nicht gesehen worden, daß Ovids Briefdichtungen poetisches Spiel im besten Sinne waren — und so ist der Aspekt des Spielerischen nur sehr selten nachvollzogen worden. Außer Betracht bleiben hier die eigentlichen Ovid-Parodien und die Parodien auf Übersetzungen, deren kurze Liste oben S. 121 f. mitgeteilt ist. Zusammengefaßt sind hier alle Briefe in Versen, die der Definition des heroischen Briefes entsprechen, aber entweder in sich scherzhaft verstanden werden wollen oder die Gattung parodieren oder unter der Draperie des heroischen Briefes einen Gegner verspotten. Für die französische Briefdichtung, auch für die scherzhafte, ist auf S. 147 zu verweisen; viele der oft witzigen Briefe stehen der heroischen Briefdichtung allzu fern, um hier berücksichtigt zu werden. 1640

8

Vincent VOITURE (1598—1640), Lettres, publiées par Octave UZANNE, 2 voll., P 1880 [alle in Prosa]. Darin : I 27 : A Mlle de Rambouillet sous le nom du roi de Suède*.

Dieser Brief ist gewiß nur eine Spielerei — hinter ihm steht freilich die Kenntnis von den glühenden Liebesbriefen, die Gustav Adolf von Schweden einer Hofdame (Ebba Brahe) schrieb. Ein gleichartiges Schreiben erhält nun das Fräulein von Rambouillet. 14»

212

1658

Rand- und Nebenformen der heroischen Briefdichtung I I 331 ff. Lettres en vieux langage (p. e. Lettre de Monsieur le conte de St. Aignan estant prisonnier9). Giuseppe ART ALE (1628—1679), Sforza Attendulo a Braccio Fortebraccio, in: Enciclopedia poetica, 1 Perugia 1658, benutzt 3 V 1666 [Bergamo BC] 401.

In seiner Enciclopedia poetica gibt G. ARTALE Beispiele für jede Dichtgattung; an efistole eroiche hat er vier beigesteuert; auf drei ernste Beispiele verschiedener Stoffgebiete folgt als .Satyrspiel' das oben aufgeführte : Es berichtet von der Dupierung eines miles gloriosus — d. i. Braccio Fortebraccio — durch einen schlaueren Partner. Vgl. oben S. 179. 1672

1678 1706

Carlo MOSCHENI, Lettere missive e responsive delle bestie dedicate all'università de' signori curiosi, V 1672 [Bergamo BC], Bologna 1673 [Parma B P ] ; 30 Briefpaare in Prosa, alle mit reichen Anm. Vgl. S. 204 A. 1. Samuel BUTLER (1613—1680), An Heroical Epistle of Hudibras to his Lady; the Lady's Answer to the Knight, in: Hudibras, p a r t 2, 1678. [anonym aber:] Stephan CLAY, An Epistle from the Elector of Bavaria to the French King after the Battle of Ramillies, Lo 1706, 20 SS. [London BM; auf S. 17—20 Huldigungsgedicht: To the Duke of Marlborough],

Dieses Gedicht wurde irrtümlich Matthew

PRIOR

zugeschrieben.

Während sich üblicherweise im heroischen Brief Sieger ihrer Erfolge rühmen, ist das hier — im Stile des lamento — umgekehrt: Der Kurfürst von Bayern wendet sich als der kläglich Besiegte an seinen ebenso besiegten Bundesgenossen. 1710 1713

J o h a n n B. MENCKE = Philander von der Linde, Kartell be3 Bramarbas an Don Quixote, i n : Vermischte Gedichte, Lpz 1710, 220—222. [anonym, aber] George SEWELL ?, Sempronia to Cethegus, with reply, a satire on the Duke and the Duchess of Marlborough, Lo 1713 [London BM],

Natürlich soll man die Charakterzeichnung, die Sallust, coni. Cat. 25 von Sempronia und 43, 3 u. 4 von C. Cornelius Cethegus gibt, auf das hier verhöhnte Paar beziehen. 1749

Cyprien Antoine LIEUDÉ de Sepmanville, Lettre de Mme Sémiramis à M. Catilina, mise en vaudeville par un chansonnier de Paris. Au Parnasse o. J. [aber 1749]. Quérard u d W gibt keine weiteren Daten zum Autor.

Der literarische Ulk besteht darin, daß Semiramis, Titelheldin der Tragödie von VOLTAIRE (aufgeführt 1748) sich an Catilina, den Protagonisten der Tragödie von Claude Prosper Jolyot de CRÉBILLON d. Ä. (richtiger: sieur de Crais-Billon, 1674—1762) wendet. Der Anachronismus ist dadurch gänzlich aufgehoben: Es vergleicht sich die 9

Hier wird die Prosa der Gegenwart in die chevalereske Umgebung des ausgehenden R i t t e r t u m s zurückversetzt: Ein Freund Voiture's saß in der Bastille —• und durch die Transposition wird die Situation ins Komische gehoben und so entschärft.

Der scherzhafte Brief

213

erfolgreiche Tragödie des Vorjahres (Semiramis 1748) mit dem nunmehr (1749) erfolgreichen Stück. Dabei muß man mit heraushören, daß vor allem die Schauspielerin spricht, die die Semiramis spielte; eine Reihe von (nicht mehr völlig nachvollziehbaren) Anspielungen beruht darauf, daß Semiramis und Catilina Schauspieler auf der gleichen Bühne sind. 1760

1765

Johann Heinrich Gottlob von J U S T I (1720—1781), ©attJtifdjeS ©djtetöen ber ©djnürbriifte an ba§ gtauenjimmet. ®ejfen SIntmott batauf. In: Scherzhafte und satyrische Schriften, 3 Bde. Bin—Stettin—Lpz 1760, II 20—35. [Prosa] Daniel S C H I E B E L E R (1741—1771), ©lumbalflitfct) an ©tilbridj, in: 9tu3erlefene ®ebid)te i)t§g. öon 3 . & S(d)enbutg, Hamburg 1773 [Bonn UB] 27 10 und bei Rassmann 31—40. Biogr. J. J. Eschenburg, eng mit Schiebeier befreundet, in der Vorrede I—XLVI der o. a. Ausgabe.

Das Gedicht ist eine Parodie auf den Schwulst der Briefdichtung in der voraufgehenden Generation. Die Situation ist der Reise Gulliver's nach dem Reiche der Riesen, Brobdignag, entnommen. Das Riesenmädchen Glumdalklitsch hat sich in Gulliver, der in Brobdignag Grildrich heißt, verliebt. Durch die absurde Situation wird die von Glumdalklitsch geäußerte Sentimentalität ad absurdum geführt. 1795

Original Letters of Sir John Falstaff and his Friends, by a Gentleman, a Descendant of Dame Quickly, from Genuine MSS which have been in the Possession of the Quickly Family near four hundred Years, o. 0 . 1 7 9 6 , (Hrsg. James W H I T E ) Prosa.

Diese Briefsammlung muß darum als ein Curiosum erwähnt werden, weil ihr Verfasser die shakespearische Welt, in der Sir John Falstaff agiert, mit viel literarischer Treue nachvollzieht; der Reiz dieser Lektüre kann im Grunde nur auf Leser wirken, die mit eben dieser Welt Shakespeare's vertraut sind. Insofern steht diese Sammlung auf einer Linie mit den Dichtungen namentlich italienischer Autoren, die als klassisch geltende Werke — gern Epen — nachvollziehen. Als recht bezeichnend muß die pseudo-wissenschaftliche Dokumentation hervorgehoben werden. Der Leser erfährt, daß er es mit authentischen Texten zu tun hat; schon im Titel wird er über deren .Überlieferungsgeschichte' informiert. 10

Hierzu notiert Eschenburg, das Gedicht sei im Hamburgischen Journal 1765, II 421 abgedruckt worden.

VIII. Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700: der heroische Brief in der Schulstube Das ausgehende 17. und das frühe 18. Jahrh. stellen in der Geschichte des heroischen Briefes fast ein Vacuum dar : In Italien ist die heroische Briefdichtung seit 1669 zu Ende; in Deutschland läuft sie in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts aus; nur in Österreich blüht die Dichtung lateinischer Briefe erbaulich-patriotischen Inhalts (vgl. unten S. 412). Freilich verfaßt in diesem Zeitraum A. POPE seinen Brief Eloisa to Abelard-, aber dieser Brief sollte eine merkwürdig lange „Anlaufzeit" haben, bis er literarische Wirkungen auslöste. So bleibt dieser Brief hier außer Betracht ; er muß dem nächsten Kapitel vorangestellt werden. Ein einziger Versuch auf diesem Gebiet ist damals in Frankreich gemacht worden : es ist dies der Recueil de Poésies diverses von Bernard Le Bovier-FoNTENELLE (1698) ; er ist ohne nennenswerte Nachfolge gebheben. Im ganzen hat der heroische Brief während zweier Generationen scheinbar seine Kontinuität als Gattung verloren. Es werden da und dort einzelne Versuche auf diesem Felde gemacht (vielleicht war auch A. POPE'S Eloisa-Brief ein solcher Versuch). In diesen Versuchen klingt viel von der bisherigen Geschichte der Gattung nach, aber diese Versuche stehen offenbar nie oder nur selten in Wechselbeziehung zueinander (so wie das zuvor bei der „Welle" heroischer Briefdichtung in Italien und Deutschland/Holland, sowie nachmals in Frankreich, zutrifft). So wird in diesem Kapitel über einige heroische Briefgedichte als disiecta membra berichtet. Diesem Kapitel werden auch solche Briefgedichte zugeordnet, die (wiewohl nach 1758 entstanden) keinen Zusammenhang mit der dann anhebenden „französischen Welle" erkennen lassen. Die Briefe, mit denen Bernard Le Bovier de FONTENELLE (1657—1757) zunächst an die Öffentlichkeit trat, dürfen nur als Randformen und als Vorarbeiten zu seinen Pastorales (XP 1688) gelten: 1678



Bernard Le Bovier de F O N T E N E L L E , L'indifférence à Iris, in: Mercure galant, Januar 1678, 139—144; BLF 307B3. ders., Tyrsis à la belle Iris, ebda. Mai 1678, 3—21; BLF 30764.

Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700

215

Erst ca. 20 Jahre später unternahm es Fontenelle, zur heroischen Briefdichtung der Italiener in Konkurrenz zu treten. 1698

Bernard Le Bovier-FoNTENELLE (1657—1767), im Anhang zur 2. Aufl. der Pastorales; P 1698 [Paris B N ] (nicht in B L F ) . Recueil de Poésies diverses. 2Oeuvres,

Amsterdam 1716, vol. 3, 159 ff.

Inhalt: 1 Dibuiadis à Polèmon

3 Arisbe au jeune

2 Flora à Pompée1

4 Cléopatre à Auguste

Marius1

In knappem avertissement legt Fontenelle seine Absicht dar: Quoyque les Poesies qui suivent ne soient point Pastorales, on a crû les pouvoir ioindre à ce petit Volume, ne fust-ce que pour le remplir (!). — Les quatre Epistres que l'on va voir ont esté faites à l'imitation des Héroides d'Ovide, et ce n'est qu'un essay d'un Ouvrage, où il seroit entré un bien plus grand nombre. Les suiets de ces Lettres sont pris dans l'Histoire, au lieu qu'Ovide a pris les siens dans la Fable. Mais la Fable est trop usée présentement et l'Histoire peut fournir des suiets plus nouveaux, surtout si l'on cherchait dans les endroits un peu détournez. Fontenelle läßt mithin keinen Zweifel daran, daß er sich in solcher Ovid-Imitation nur versuchen will. Wohl zitiert er Ovids Werk als Héroides, hat aber für seine Gedichte diesen Titel nicht beansprucht. Die späteren freilich (vgl. unten S. 318) legen ihn ohne Bedenken diesen Gedichten bei. Fontenelle ist sich voll bewußt, daß er sein Vorbild in entscheidendem Punkt verläßt. Er wählt seine Stoffe aus der Geschichte, nicht aus dem Mythos. In anderer Hinsicht freilich hat er sich eng an Ovids Vorbild gehalten : Die Verfasser der Briefe sind sämtlich Frauen. Diese vier heroischen Briefgedichte sind der einzige Beitrag Frankreichs während des 17. Jahrh. ; sie sollten später als Anknüpfungspunkt für die 1758 beginnende neue Entwicklung eine gewisse Bedeutung gewinnen. Zweifellos hat weder Fontenelle selbst noch seine Mitwelt diesem essay d'un ouvrage besonderen Wert beigemessen. J. J. ESCHENBURG nahm den Brief der Arisbe an Marius in seine Beispielsammlung auf. In die Zukunft weist der einzige heroische Brief der 1713

Anne Countess of WINCHILSEA (1661—1720), An Epistle from Alexander to Hephaestion in his Sickness, in : Miscellany Poems on Several Occasions, written by a Lady, o. O. 1713; benutzt: The poems . . . edited . . . by Myra REYNOLDS, The Decennial Publications, second sériés, vol. 5, Chicago 1903, 139—141.

Hier kommt es auf den historischen Zusammenhang gar nicht mehr an2; im Mittelpunkt des Briefes steht die Freundschaft zwischen 1 2

Diese Briefe übersetzte Lord HERVEY 1764 ins Englische; vgl. unten S. 216. Es bleibt belanglos, ob die Dichterin von ihrem Anachronismus wußte: Denn der historische Hephaistion starb im Okt. 324, rund neun Monate vor Alexander (Juni 323).

216

Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700

zwei großen Männern, und diese Freundschaft beherrscht gar die Todesstunde Alexanders und füllt sie aus. Auf historisches Kolorit ist fast gänzlich verzichtet; um so mehr steigt die exemplarische Geltung: So könnte jeder Freund vom Freunde Abschied nehmen. Es kann sehr wohl sein, daß die Dichterin auf den nahezu gleichzeitigen Brief von A. P O P E , Eloisa to Abelard, antwortet oder seine Grundlinie weiterführt. War dort das Grundthema .Vergeistigte Liebe über das Grab hinaus', so ist hier das Thema ,Freundschaft über das Grab hinaus' — beides empfindsame Überlegungen, die 15 Jahre später aus den Briefen von Verstorbenen der Elisabeth R O W E ( 1 7 2 8 ) widerklingen sollten. Insofern kommt dem—sonst gänzlich isolierten — Briefe des sterbenden Alexander die Bedeutung einer Brücken-Stellung zu. vor 1743

Lord 3 John HERVEY (1696—1743), Epistles in the manner of Ovid.

Inhalt: Monimia to Pkilocles Flora to Pompey Arisbe to Marius Junior. Front Fontenelle Roxana to Usbeck. Front Les Lettres Persanes Epilogue design'd for Sophonisba and to have been spoken by Mrs. Oldfield\ benutzte Ausg.: Robert DODSLEY'S Collection of Poems, vol. 4. (1766) 78—104. Der 2. Brief, Flora to Pompey, gleichfalls eine Nachahmung FONTENELLE'S, steht auch in Eschenburgs Beispielsammlung 275—8.

Der erste dieser Briefe ist insofern nicht .heroisch', als der Dichter eine Liebeshandlung zwischen Personen seiner Erfindung spielen läßt; immerhin hat er auch ihn als in the manner of Ovid bezeichnet, worunter offenbar zu verstehen ist, daß es sich um Briefe handelt, in denen sich eine Liebeshandlung ausdrückt. Die übrigen drei Briefe hängen von der Thematik zeitgenössischer französischer Briefliteratur ab: Zwei von F O N T E N E L L E , der letzte von den Lettres Persanes (von Charles Marie Secondat de La Brede et de MONTESQUIEU,

1715).

Immer noch wurde lateinische Briefdichtung gepflegt: 1742

Thomas GRAY (1716—1771), Epistola Sophonisbae ad Massinissam, 'ed. by W. MASON, New York 1775, benutzt'. The Complete Poems English, Latin and G r e e k , e d . H . W . STARR a n d J . R . HENDRICKSON, O x f o r d 1 9 6 6 , 1 5 3 .

Während freilich solche lateinische Dichtung aus der Welt der Erwachsenen verschwand, wurde sie in der Schulstube noch lange gepflegt. Da ist zunächst das Beispiel Eton's: 1755—1779 Musae Etonenses, seu carminum Etonae conditorum delectus, opere et cura Gulielmi HERBERT. Eton, 1 1795, 2 1817, 2 voll. [Wolfenbüttel HAB], s

Lord seit 1723; vorher Baronet John Hervey of Ickworth.

Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700

217

Hier sind lateinische und griechische Dichtungen veröffentlicht, die aus der Feder von Eton-Boys stammen; durchweg sind die Gedichte nur mit dem Familien-Namen des Verfassers und der Jahreszahl bezeichnet. Liebenswürdigerweise steuerte H. K. PRESCOT, derzeit Librarian of Eton College, die Anmerkungen zu den einzelnen Verfassern bei; noch heute enthalten die Archive von Eton College Auskunft über die damaligen Schüler. In dieser Sammlung sind folgende epistolae heroicae enthalten: 1765 1756 1758 1763 o. J . 1765 1779

Tighe 4 , Cercopithecus Corinnae: I 175/6 Tighe4, Iaricon Inculo: I 54/6 Pepys5, Sophonisba Massinissae: I 19/20 G. Heath«, Eloisa Abelardo: I 299—301 Rushout 7 , Phaedra loquitur: I 276/7(N) Hare 8 , Syphax Sophonisbae: I 56/7 Lord Wellesley 9 , Octavia Antonio: I I 117.

Die Wahl der Themen für heroische Briefe ist ein treuer Spiegel damaliger Interessen: Da erscheinen die altgewohnten Themata neben hochaktuellen. Sophonisba an Massinissa (vgl. unten S. 529), Octavia an M. Antonius (vgl. S. 525) sind aus alter Tradition geschöpft. Das Phaedra-Gedicht des John RUSHOUT10 zeugt von fleißiger SenecaLektüre; freilich hat R. nun eine Phaedra geschaffen, die ihre Triebhaftigkeit zurückdämmt; sie will lieber sterben als ihre castitas verletzen 11 ; sie geht voll Reue über einen nur gewollten, aber nicht William TIGHE, 1753—1756. M. P. for Attibon, Edward TIGHE, 1753—1756. Younger brother of William. William went to St. John's College, Cambridge, Edward to the same College. 5 William Weiler PEPYS at Eton 1753—1758. He subscribed to the editions of ,Musae' 1 7 5 5 and 1 7 9 5 . • George HEATH was boy at Eton 1757—1763 and Head Master 1791—1801. ' RUSHOUT — probably John. In the School 1753—1756. M. P. for Evesham. Created Lord Northwick 26 Oct. 1797. 8 Hare may have been Charles HARE (born 1749) who became a King's scholar at Eton in 1762; or James HARE (a famous wit) said to have written one of the best sets of verses ever known at Eton, afterwards Minister plenipotentiary at Warsaw. He was at Eton from 1760—65 (whereas Charles left in 1763), so we may regard James as more likely. 9 WELLESLEY, elder brother of the Duke of Wellington, afterwards Governor-General of India and Marquis Wellesley. Buried in Eton College Chapel. At Eton 1771—1778 (having been previously at Harrow). 1 0 Diesem Gedicht ist vom Herausgeber nicht, wie sonst meist, eine Jahreszahl beigefügt; man wird es in das letzte Schuljahr Rushout's, also 1756, zu setzen haben. 11 Zunächst, v. 22, wird der Refrain-Vers aus Ovids Deianirabrief umgesetzt: impia, quid dubitas, impia Phaedra, mori ? Im Schlußdistichon kommt R. der ovidischen Dido nahe: Casta tarnen moriar: sic, siciuvat ire sub umbras', / sic liceat laeso posse placereviro. 4

218

Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700

vollzogenen Fehltritt in den Tod. Dabei hat der junge Autor sich gewiß nicht bewußt gemacht, welche Korrektur am antiken Bild der Phaedra er damit vollzieht — denn diese Phaedra handelt nach den hohen ethischen Grundsätzen, zu denen John Rushout in Eton College erzogen wurde. Andere Themen geben Zeugnis, daß man in Eton mit Interesse verfolgte, was die Zeit an aktuellen Gegenständen bot. G. Heath, nachmals Leiter von Eton College, ließ als Schüler Eloisa an Abelardus schreiben — ein Briefgedicht, das sicher frei ist vom Einfluß der gerade damals ( 1 7 5 8 ) beginnenden Hochflut französischer Briefdichtung, das aber eben so sicher den Einfluß von A.Pope (vgl. unten S.223ff.) verrät. Der jüngere der beiden Tighe hat gar einen stilistisch wohl gelungenen Brief zu dem Skandalfall des Mr. Inkle geschrieben (vgl. unten S. 229) — nahezu 30 Jahre, ehe J. H. Hoeufft einen Brief zum gleichen Thema dichtete. Neben den vielen traditionsbelasteten Themen fällt besonders auf, daß dem älteren Tighe eine neuartige und Ovids würdige inventio gelang: Er läßt eine Meerkatze an Corinna schreiben, und es gelingt ihm, der krassen Antithese — das häßliche Tier schreibt an das hübsche Mädchen — eine Reihe hübscher Wendungen abzugewinnen. Ausführlich wird unten S. 387 von dem anderen bezeichnenden Beispiel die Rede sein: Die heroische Briefdichtung wurde besonders in den Collegia SJ der provincia Austriaca gepflegt. Was dort gedichtet wurde, fällt zum überwiegenden Teil unter die Rubriken „Der erbauliche Brief" (S. 381 ff.) und „Briefdichtung von typisierten Absendern" (S. 4 6 4 ) . Nur die Sammlung von C. MICHAELER (über ihn S. 4 2 5 ) enthält einige Stücke, die, sämtlich im Zuge jesuitischen Schul-Unterrichtes entstanden, hier aufzuführen sind. Hier zunächst der Fundort dieser Gedichte : 1789

12

Carolus M I C H A E L E R (1735—1804), Collectio poetarum stylo et sapore Ovidiano scribentium, W 1789, 2 voll. [Paris BN], Darin: I 1 7 2 Elegiaca Ferdinandi G R E B M E R S J 1 2 : Epistola qua amicam rusticanam urbana altera ad se invitât ; Chloris Galatheae; 218 vv. 183 Galathea Chloridi; 102 w . Der Ansatz zu dieser Dichtung ist Horaz, serm. 2, 6 entnommen, wo die Stadtmaus die Landmaus einlädt; nun ist die Handlung unter Menschen verlegt und zur Idylle erweitert. I I 1 7 3 Carolus M I C H A E L E R , Epistola qua Aristoteles Stagirita libellum repudii mittit philosophiae sibi ingratae et aliam sibi sponsam deligit rhetoriam.

Am witzigsten ist eine nicht-epistolarische Briefdichtung Grebmer's, eine Elegie mit dem Titel Dirae (a. O. I 136). Sie schildert die Schrecken des Schulbeginns nach den Ferien.

Verlöschender Impuls der heroischen Briefdichtung um 1700

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194 ders., Epistola apologetica philosophiae ad Aristotelem quam ille perfidiae accusaverat. Das sujet dieses Briefwechsels ist der ,Pytine' des Kratinos nachgebildet, deren Fabel man aus den Aristophanes-Scholien kannte: Der Dichter verläßt seine rechtmäßige Gattin, die Komödie, um der Flasche anzuhangen. Entsprechend wird hier Aristoteles zum Apostaten; der Schwerpunkt dieser Dichtung liegt auf der Apologie der Philosophie. Recht bemerkenswert ist die anti-aristotelische Tendenz.

Nicht erreichbar war der Text folgender Dichtung, die — nach dem Titel zu urteilen — dieses Kapitel abschließt: 1789

Samuel ANDRAD, Epistula quaedam Zit. Holzmann—Bohatta I I 1176.

ad P. Ovidii

Nasonis

cineres,

W 1789.

D. Der heroische Brief im Zeitalter der Empfindsamkeit: Liebesverzicht und Seelenfreundschaft

I . Alexander POPE, Eloisa to Abelard ( 1 7 1 7 )

1717

Alexander POPE (1688—1744), Eloisa TILLOTSON, vol. 2, 1940, 299—327.

to Abelard, benutzt:

POEMS, ed. Geoffrey

Diese Briefdichtung A. POPE'S leitet eine neue — die letzte — Epoche der heroischen Briefdichtung ein. Folgende charakteristische Merkmale verdienen es, hervorgehoben zu werden: 1. Dies Gedicht beruht auf einem als authentisch geltenden1 Briefwechsel. Indem A. Pope die Brief-Situation zu einem Gedicht steigert, macht er Gebrauch von dem Recht des Dichters, kraft seiner Intuition und kraft seiner Gestaltung zum Eigentlichen vorzudringen. Dieses Eigentliche liegt in dem authentischen Brief zwar vor, bleibt aber verborgen, bis der Dichter diesen Schatz poetischer Wahrheit hebt. A. Pope's Eloisa-Brief ist ein wichtiger Markstein in der Geschichte dieses Postulates, daß allein der Dichter zur Wahrheit vorstößt. Seine Intuition füllt den Platz aus, den für antike Dichter der Mythos einnahm. Dies ist der Ort, wo der Schatz poetischer Wahrheit gesucht werden muß. 2. Dieser Schatz nun ist — was den Brief der Eloisa an Abelard betrifft — die Absage an die irdische Liebe und die Hinwendung zu einer von allem Irdisch-Fleischlichen freien Liebe. Man muß sich vor Augen halten, wie stark die radikale Scheidung Piatons, Symp. 180 D auf das puritanische England wirkte. Im Abailard-Stoff war nun der beispielhafte „Fall" gefunden: Die Liebenden sind nach dem calamitösen Überfall auf Abailard verhindert, ihre Liebe fleischlich zu vollziehen2. Das gibt Eloisa Anlaß, nicht nur ihre Treue zu Abelard zu 1

2

In diesem Rahmen dürfen die Zweifel außer Betracht bleiben, die hinsichtlich der uneingeschränkten Authentizität dieser Briefe geäußert wurden. Das 17. und das 18. Jahrh. nahmen diese Briefe als im Wortlaut verbürgt hin. In die kritische Fragestellung führt gut ein: B. SCHMEIDLER, Der Briefwechsel zwischen Abälard und Hiloise eine Fälschung ? Archiv für Kulturgeschichte 11, 1913, 1—30. In der novellen-artigen Erzählung von Kombabos und Stratonike, die Lukian, de dea Syria 17—25 erzählt, liegt eine Vorform des Abailard-Motivs vor. Als sich die Königin Stratonike in Kombabos verliebt, entmannt sich dieser. Dadurch konnte er später, als er des Ehebruchs mit der Königin angeklagt war, den Beweis seiner Unschuld antreten. Lukian erzählt dies in einer eng an Herodot angelehnten Stilisierung; damit wird verwischt, daß es sich um eine Kultlegende handelt, die dem

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Alexander Pope, Eloisa to Abelard (1717)

bekennen, sondern vor allem die von allem Fleischlichen gereinigte, ins Geistige erhobene Liebe zu preisen, die fortan zwischen ihr und Abailard herrschen wird. 3. Knapp 50 Jahre zuvor hatte Ch. HOFMANN von Hofmannswaldau (vgl. oben S. 185) diesen Stoff im letzten Briefpaar seiner Sammlung behandelt — und zwar ohne alle Empfindsamkeit und mit derbem Verweilen bei dem Verlust von Abailards Männlichkeit und deren Folgen. Sollte A. POPE dies Briefpaar gekannt haben, so ist seine Auswertung der historia calamitatum Abailards als ausdrückliche Ablehnung der Hofmannswaldau'schen Gröblichkeit aufzufassen; es ist wohl kein schärferer Gegensatz in der Gesamt-Auffassung denkbar als der zwischen dem Hofmannswaldau'schen und dem Pope'schen Gedicht. In diesem siegt die reine Liebe über alles Sinnliche, ein Bekenntnis, mit dem es A. Pope zweifellos ernst ist. Im Vordergründigen enthält j a auch das Briefpaar Chr. HOFMANN'S von Hofmannswaldau dies Bekenntnis zu enthaltsamer Läuterung; aber das Spiel des Dichters besteht darin, dieses .Bekenntnis' durch zahlreiches Detail unglaubwürdig zu machen. Von solcher Doppelsinnigkeit ist A. POPE weit entfernt. Ihm ist dieser Triumph der Empfindsamkeit heiliger Ernst. Hier wird zum ersten Male in der heroischen BriefÖichtung der Verzicht auf die körperliche Erfüllung der Liebe und der Gewinn einer im rein Seelischen begründeten Freundschaft gefeiert. Das hat ungemein in die Zukunft gewirkt: J. J. ROUSSEAU'S Nouvelle Heloise steht ebenso im Banne der von A. POPE ausgelösten Welle des empfindsamen Liebesverzichtes wie J. W. GOETHE'S Leiden des jungen Werthers. Im frühen 18. Jahrh. freilich war derlei noch ungemein neu — und man muß den Finger darauf legen (vgl. unten S. 231), daß die Imitation dieses Pope'schen Gedichtes nicht sogleich (1717), sondern erst 40 Jahre später (1758) einsetzte — dann allerdings mit der Wucht einer geradezu hemmungslosen literarischen Mode. Indes stand A. P O P E mit dieser Briefdichtung nicht vereinzelt da: Seit 1669 waren die fünf Briefe der Mariana Alcoforado, der portugiesischen Nonne, in ihrem französischen Wortlaut bekannt und bald darauf ( 1 6 7 8 ) von Sir Roger L'ESTRANGE ins Englische übersetzt. Aber der diesen Briefen zugrundeliegende Sachverhalt bedurfte des poetischen Ausdrucks; so erschien: 1709

[anonym] L O V E without A F F E C T A T I O N , I N Five L E T T E R S from a Portuguese Nun to a French Cavalier. Dane into English Verse, from the newest Edition, lately printed at Paris, Lo 1709 [London BM].

Heiligtum der Atargatis zu Hierapolis zuzuordnen ist. Im 18. Jahrh. ist gewiß nur der literarische Aspekt jener Erzählung gesehen worden, in welcher das AbailardMotiv vorgebildet zu sein schien: Demnach war nur durch das Opfer, das Kombabos brachte, zu erreichen, daß seine Liebe rein und ungefährdet blieb.

Alexander Pope, Eloisa to Abelard (1717)

225

In der Vorrede legt der Herausgeber, vom Übersetzer verschieden, sehr achtenswerte Kenntnisse über Theorie und Geschichte der heroischen Briefdichtung an den Tag. Er bekennt sich zu dem gleichen Grundsatz, dem A. Pope acht Jahre später folgen sollte: Eine solche Lage des Gefühls, wie sie für die portugiesische Nonne bestand, kann nur in Versen ausgedrückt werden. Allein der Dichter ist berufen, diese Wahrheit auszusagen. Mit anderen Worten: Wahrheit bedarf des poetischen Mittlers — sonst bleibt sie verborgen. Neben diese Kongruenz mit der Absicht A. Pope's tritt eine andere, die sich im Paradox des Titels äußert: Love without A ffectation. Hierin — wie in der ganzen Briefsammlung — drückt sich das puritanische Axiom aus, daß körperliche Zuneigung die Liebe verunreinigt. Das Büchlein verhieß mithin dem Leser das Miterleben einer Liebe, die von jeglichen Schlacken der Fleischlichkeit frei war. Der gleiche Titel könnte über dem Eloisa-Briefe A. Pope's stehen. Diese Versifikation der fünf Briefe der portugiesischen Nonne mag als Beweis und als Illustration dafür stehen, daß die puritanische Forderung nach keuscher Liebe den Bereich theologischer Paraenese, die Predigt, verlassen hatte und in der Dichtung heimisch zu werden begann. A. Pope hat sich mit seinem Eloisa-Brief an die Spitze einer Entwicklung gesetzt, die sich immerhin bereits deutlich abzeichnete. A. Pope hat sie nicht hervorgerufen; aber sein Brief hat das Entscheidende dazu beigetragen, daß dieses Thema: „Liebesverzicht — dafür empfindsame Seelenfreundschaft" ein halbes Jahrhundert später zum beherrschenden Thema wurde — und das in Frankreich! Noch für Chr. HOFMANN von Hofmannswaldau war das Briefpaar Abailard—Heloise nur Anhang zu zehn Briefpaaren gewesen, in denen Haupt- und Staats-Aktionen gekrönter Häupter (freilich in eroticis) der Gegenstand waren. A. POPE'S Beitrag zur Entwicklung der Gattung besteht in einer Art Umwertung dessen, was man als Heros zu verstehen hat. Bisher waren als Schreiber heroischer Briefe durchweg Heroen des Mythos, Hauptgestalten klassischer Dichtwerke und schließlich die Großen der Geschichte legitim gewesen — kurz, •persons of quality, wie es noch 1703 David CRAVFURD definiert hatte (vgl. oben S. 208). Diese Abgrenzung gilt seit A. Pope's Eloisa-Brief nicht mehr. Künftig ist als Heros definiert, wer sich als Heros des Gefühls erweist. Wohl erscheint eine gewisse Dokumentation als unerläßlich, daß wirklich jemand in solche Gefühls-Lage versetzt wurde. Und es kann auch weiter nicht darauf verzichtet werden, daß diese Gefühle rein und edel waren (sonst hätte ihnen ja keine dichterische Wahrheit innegewohnt). Aber man durfte fortan davon absehen, solche Gestalten nur auf den Höhen des Mythos, der Literatur oder der Geschichte zu suchen und auszuwählen. Der Mönch Peter Abailard und 15 Heroische Briefdichtung

226

Alexander Pope, Eloisa to Abelard (1717)

die Nonne Eloisa werden zu Prototypen einer neuen Art heroischer Briefschreiber: Fortan durfte ein reines, unverdorbenes Naturkind (wie Yariko, vgl. unten S. 227ff.) mit dem gleichen Recht unter den Briefschreiberinnen erscheinen wie Dido oder Lucretia. An die Stelle erlauchten Standes tritt als Legitimation der Heroismus des Gefühls. Allerdings sollte es 40 Jahre und länger dauern, bis diese von A. Pope vollzogenen Änderungen Allgemeingut der heroischen Briefdichtung wurden. Zwar wurden einige Antwortgedichte versucht; als die der Zeit nach nächsten sind anzuführen3: 1725

1747 1755

James T . C . D E L A C O U R , Abelard to Eloisa in answer to Mr. Pope's Poem, J Lo 1726; "Dublin 1730 [beide: London BM], James CAWTHORN, Abelard to Eloisa, first published 1747; benutzt Chalmer's Collection 14, 326. Judith MADAN, geb. Cowper, Abelard to Eloisa, in: Poems of Eminent Ladies, London 1755, vol. 2, 137—144 (vgl. S. 288).

Aber erst nach 1765 erreichte die Welle der Abailard-Dichtung von Frankreich her zurückgeworfen, England aufs Neue; danach erst (Nachweisungen unten S. 286ff.) wird diese Dichtgattung in England in beachtlicher Breite heimisch. 8

Hierzu bin ich Frau Prof. Dr. H. H O M E Y E R sehr zu Dank verpflichtet; sie prüfte die nachfolgenden Angaben und ergänzte sie. Weitere Heloisa-Gedichte sind im Teil M (Stoff-Register) nachgewiesen.

IL Yarico und Inkle Zunächst wurde in England eine Welle der Empfindsamkeit durch die zugleich empörende und rührende Geschichte von Yarico und Inkle ausgelöst. Die literarischen Zeugnisse, welche diese Welle zurückgelassen hat, gehören einer weit niedrigeren Ebene an; sie reichen nicht entfernt an A. POPE heran. Aber wahrscheinlich lag es an diesem zweiten, sogleich in breite Kreise dringenden Impuls der Rührung, daß die Saat der PoPE'schen Eloisa in Frankreich so fruchtbar aufging. Neben diesen beiden Themen — Yarico und Inkle, Abailard und Heloise — ist wohl nur ein weiteres zu vergleichbarer Wirkung gekommen: Die Leiden des jungen Werthers. Richard LIGON, True and Exact History of the Islands of Barbadoes, Lo 1657,55, berichtet von einer Indianer-Sklavin, die er in seinem Hause hatte. Sie hatte einst einem jungen Engländer, der in Not geriet, das Leben gerettet und war ihm an die Küste gefolgt; ein Schiff, das nach Barbados segelte, nahm beide auf. Dort angekommen, verkaufte der junge Engländer dieses Mädchen als Sklavin. In der letzten Zeile dieses Berichtes nennt R. LIGON den Namen des Mädchens: Yarico1. Schon bei R. Ligon ist diese Yarico mit allen Zügen des stolzen, freien, durch seine Knechtschaft ungebeugten Naturkindes ausgezeichnet. Zwei Generationen später griff Sir Richard STEELE im Spectator Nr. 11 vom 13. 3. 1711 diese Geschichte wieder auf; er verdichtete sie durch Beifügung folgender Einzelheiten: Der Name des jungen Engländers lautet Mr. Thomas Inkle; seine Abfahrt von England wird auf den Tag genau bestimmt (16. 6. 1647). Ähnlich wie im Berichte R. Ligon's wird Mr. Inkle von seinen Begleitern getrennt und gerät in Not, wird aber von Yarico gerettet. Deren natürliche Anmut wird mit reichem Detail geschildert. Und nun kommt es zur wirkungsvollen amfilificatio der ursprünglichen Geschichte: Mr. Inkle erwidert Yaricos Liebe; das Paar lebt mehrere Monate zusammen, wobei es sich eine eigene Sprache erschafft; das alles spielt sich in pastoral-idyllischer Landschaft ab: Mr. Inkle schläft beim Rauschen von Wasserfällen und beim Gesang von Nachtigallen. Endlich kommt das Schiff, das 1

Sie ist inzwischen Mutter geworden; Vater ihres Kindes ist einer der christlichen Sklaven im Hause R. Ligon's. Hier besteht also keine Verbindung zwischen ihrer Mutterschaft und dem jungen (bei R. Ligon nicht benannten) Engländer. 15*

228

Yarico und Inkle

beide nach Barbados bringt. Die empörende Schlußpointe wird in wenigen Sätzen zusammengedrängt: Das monatelange Liebes-Idyll bedeutet für den Geschäftsmann Inkle einen beträchtlichen Verdienstausfall. Um diesen auszugleichen, verkauft er Yarico an einen Sklavenhändler. Diese2 möchte ihn von dem Verkauf zurückhalten; sie ruft ihm zu, daß sie von ihm schwanger ist. Darauf erhöht Inkle den Kaufpreis. Dieser Kontrast — das gemeinsame Leben, fern aller europäischen Konvention, in der Unschuld der Natur, und dagegen die brutale Profitgier des Mr. Inkle, sowie er in seine (verderbte) Welt zurückkehrt — ist von ungemeiner Wirkung gewesen: Hierzu sind Verserzählungen3, Tragödien, Komödien, Ballett-Aufführungen in allen Sprachen Europas gedichtet worden; eine nahezu vollständige Bibliographie4 weist knapp 50 Bearbeitungen des Stoffes nach, wozu noch zwei lateinische Briefgedichte treten. Der junge Goethe plante, den Stoff zu gestalten; Lucien Bonaparte machte einen Roman in zwei Bänden daraus (1799). Obgleich nach dem Bericht im Spectator, der als Basis für diese Geschichte anerkannt war, Yarico von aller Zivilisation gänzlich unberührt ist6, also weder lesen noch schreiben kann, sind ungewöhnlich viele heroische Briefe gerade zu diesem Thema gedichtet und Yarico in die Feder gelegt worden. Das ist ein fast paradoxer Widerspruch zu den sonst üblichen Gepflogenheiten der Gattung: wohl konnte ein anderweit dokumentierter Briefwechsel, wie der von Abailard und Heloise, dichterisch aufgehöht werden. Hier aber — und es dürfte das einzige Mal sein — läßt man eine junge Frau, die man gerade als das Naturkind kennzeichnen möchte, sentimentalische Briefe schreiben. So sehr man sonst auf die Wahrscheinlichkeit einer solchen Fiktion bückte — in diesem Falle hat man es nicht motiviert, warum gerade diese Yarico auf englisch, französisch und lateinisch Briefe schreibt. Tatsächlich hat der anonym veröffentlichte erste Brief derart als Vorbild gewirkt, daß viele es versuchten, ihm gleichzukommen. Hier die Liste dieser Briefe: 2

8

4

6

Eine kleine Unwahrscheinlichkeit: Wieso versteht sie die Verhandlung zwischen Mr. Inkle und dem Sklavenhändler ? Sehr nachhaltig wirkte Chr. F. G e l l e r t , Inkle und Yariko, in: Fabeln und Erzählungen, Lpz 1746. Inkle and Yarico Album, selected and arranged by Lawrence Marsden Price, Berkeley (California) 1937. L. M. Price sind nur die lateinischen Gedichte, unten S. 229, entgangen. Nach dem Bericht des Spectator geht sie in paradiesischer Nacktheit einher; sie weiß nicht einmal, was Kleider sind (davon ist bei R. Ligon natürlich nicht die Rede, da er die dortigen Winter kennt). Mr. Inkle verspricht ihr die schönsten Kleider, wenn sie ihm nach England folgt; dies Versprechen ist für Yarico — außer ihrer Liebe — ein wichtiges Motiv mitzukommen.

Yarico und Inkle 1736

229

[anonym] Yarico to Inkle, an Epistle, *Lo 1736 ; 2Glasgow 1760; 3 Dublin 1771; «Springfield 1784; »Hartford 1792; "Marblehead 1792; 'Boston 1794; auch in: Rev. John ANKETELL, Poems on Several Subjects, 1 Dublin 1793; 2 Boston 1795E.

Der Anfang dieses Gedichtes hat starke formale Ähnlichkeit mit dem Beginn des PoPE'schen Eloisa-Briefes ; beide Heroinen beschreiben den Ort, an dem sie sich aufhalten. Dabei fließt dem anonymen Dichter Yaricos gar der Reim in die Feder, den A. POPE V. 1/2 verwendet. Auch sonst hat A. POPE'S Gedicht oft als Vorbild gedient. Vielleicht hat darum die anonyme Dichtung so stark gewirkt. 1738 1760

1766

[anonym] The Right Hon. The Countess of •*** ; An Epistle from Yarico to Inkle after he had left her in Slavery, Lo 1738 [London BM]. John WINSTANLEY (11750), Yarico's Epistle to Inkle, a Poem occasioned by reading Spectator I 11, in: Poems written occasionally, vol. 2, Dublin 1751 [Yale University Library], Edward (oder William ?) TIGHE, Iaricon Inculo, Musae Etonenses I, 2 Eton 1817, 64—66.

1764

1766 1766

1767 1782 1783 1792 1793

1802

Claude Josèphe DORAT (1734—1780), Lettre de Zeila, jeune sauvage, esclave à Constantinople, à Valcour, officier français. P 1764, 43 SS [ P a r i s BN] = pièces fugit. 1, 67. ders.. Réponse de Valcour à Zeila . . . P 1766 [Paris BN] = pièces fugit. 1, 97. [anonym aber] Edward JERNINGHAM, Yarico to Inkle, an Epistle by the Author of the Elegy written among the Ruins of an Abbey, Lo 1766 [London BM], auch in: Eschenburg, Beispielsammlung 279. Claude Josèphe DORAT, Lettre de Valcour à son père, pour servir de suite et de fin au roman de Zeila . . . Paris 1767, 31 SS [Paris B N ] — pièces fugit. 1, 131. [anonym] Epistle from Yariko to Inkle, in : Lady's Magazine 13, 1782, 664 — ein lyrisches Gedicht. Jacob Henrik HOEXJFFT, laricus puellae Americanae ad Ynclum Anglum epistola, in: Pericula poetica, o. O. 1783, 32—37 [Pans BN], [anonym] Amicus, Yarico to Inkle, in: American Museum 11, 1792, Anhang Poetry 26—27. [anonym] Yarico to Inkle, in: Scots Magazine 65, 1793, 242 und in: Gentleman's Magazine 63, 1793, 660; dort lateinische Übersetzung von Lord DEERHURST; beide Texte haben 16 Verse (lat.: daktyl. Hexameter; engl.: 4 Strophen). W. SMITH of Southwark, Inkle to Yariko, in : Lady's Magazine, or Entertaining Companion 33 vom 8. 3. 1802, S. 216; John WEBB of Haverhill, Yarico to Inkle, ebda. 3. 6. 1802, S. 436; W. SMITH, Inkle to Yarico, Epistle II, ebda. 7. 9. 1802, S. 496; John WEBB, Yarico to Inkle, Epistle III (siel) ebda. 6. 11. 1802, S.714.

Hier hat es also die Redaktion einer unterhaltenden Zeitschrift für publikumswirksam gehalten, eine ganze Korrespondenz zu veröffentlichen. Dabei kann es sehr wohl sein, daß John W E B B spontan ' Schon 1771 hatte J . ANKETELL dies Gedicht als das seine herausgegeben, wobei er es leicht modifizierte. Die oben nach L. M. PRICE (vgl. Anm. 4) aufgeführten Drucke weisen recht starke Abweichungen voneinander auf. Sie erlauben es, ein Stemma der textlichen Abhängigkeit aufzustellen; vgl. L. M. PRICE a. O. 14.

230

Yariko und Inkle

auf den ersten Brief antwortete, und daß W. SMITH ebenso spontan darauf reagierte (es kann dies auch bestellte Arbeit gewesen sein). In den beiden Briefen Inkle's spricht ein Bußfertiger, der um Verzeihung fleht. Selbstverständlich gewährt Yarico diese Verzeihung, denn sie ist inzwischen Christin geworden. Wenn auch keine Hoffnung besteht, daß Yaxico und Inkle einander auf Erden wiedersehen, so werden sie sich doch gewiß im Himmel wiedertreffen . . . Die Geschichte des unschuldigen Indianermädchens ist allein in 16 heroischen Briefen behandelt. Damit kommt diese Geschichte in ihrer Breitenwirkung 8 dicht an die Quantität der Abailard—HdloiseDichtungen heran. Es scheint wichtig, auf die chronologische Abfolge zu blicken: Die Briefdichtung um Yarico ist schon 1736/8 — und zwar in England — vollauf entfaltet; dagegen erlebt die Briefdichtung um Abailard und Heloise trotz A. Pope's Vorgang 1717 erst 1758/9 ihren Höhepunkt — und das in Frankreich. So gilt es nun, nach dieser Einschaltung über Yarico und Inkle, zum beherrschenden Thema Abailard und Heloise zurückzukehren. 8

Vgl. E. BEUTLER, Essays um Goethe, »Wiesbaden

1946, I 452—461.

III. Chronologische Vorbemerkungen zur Abailard-Dichtung in Frankreich Es bedarf einiger Vorbemerkungen zur Chronologie der nachmals unübersehbaren Abailard-Literatur1. Die Briefe Abailards an Heloise in ihrer stets als original angesehenen Gestalt hatten seit 1616 wieder Beachtung in Frankreich gefunden; sie wurden mehrfach2 ins Französische übersetzt. Zur gleichen Zeit wählte sich Hofmannswaldau (vgl. S. 185) diesen Gegenstand, um damit seine Sammlung der Heldenbriefe abzuschließen — ein wichtiger Hinweis auf das Interesse, das diese Briefe2, und vor allem die calamitates Abailards, erweckt hatten. Dieses Interesse beweist auch die für 1676—1679 reich bezeugte Prosa-Literatur hierzu; vgl. die Aufstellung unten S. 517. Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist vor allem das Faktum wichtig, daß wenige Jahre vor A. POPE, nämlich 1714, die calamitates Abailards von einem französischen Dichter in einem heroischen Briefpaar behandelt wurden; der sentimentalische Gehalt dieser Geschichte hat also (unabhängig von A. Pope) zur Gestaltung gedrängt — und das in einer Zeit, da der heroische Brief in Frankreich als Gattung unbekannt war: 1714

Pierre François Godard de BEAUCHAMPS (1689—1761), Les lettres ¿'HELOISE et d'ABAILARD mises en vers françois, 1 P1714 [Paris BN] — enthält ein Briefpaar; 2 P 1721 [Paris BN] Augmentée d'une Lettre d'Héloise; 3 P 1737, «nachmals mit abgedruckt in: Lettres d'Héloise et d'Abeilard — vgl. unten S. 521. Biogr. Quérard udW.

Die mehrfachen Auflagen, von denen drei vor der Hochflut heroischer Briefdichtung in Frankreich erfolgten, enthalten den Beweis dafür, daß weder diese Dichtgattung noch ihr Thema dem Publikum 1

2

Die Schreibung des Namens Abailard schwankt: Der mittlere Vokal wird auch als -ei-, -é- und als -è- wiedergegeben. Die Schreibung mit -ai- überwiegt indes durchaus, so daß ich mich dem angeschlossen habe, weil hier nicht eine Studie über den historischen Abelardus, sondern über A. als literarische Gestalt im 18. Jahrh. gegeben werden soll. Die Wiedergabe der Buchtitel hält sich selbstverständlich an die vom jeweiligen Autor gewählte Schreibung. Die erste Ausgabe legte André DUCHESNE 1616 vor. Eine erste und für längere Zeit maßgebende Übersetzung stammt von BUSSY de Rabutin, o. J . aber 1666; für weitere Nachweisungen vgl. S. 517 f.

232

Vorbemerkungen zur A b a i l a r d - D i c h t u n g

fremd war oder von ihm abschätzig behandelt wurde. Sondern das Lesepublikum in Frankreich war auf beides bis zu einem gewissen Grade vorbereitet. Neben eine solche von A. Pope unabhängige Dichtung über das Abailard-Thema trat 1751 die erste3 Vers-Übersetzung des Pope'schen Gedichtes. Ihr Autor, A. A. J. FEUTRY, scheint kaum Beziehungen zu Paris gehabt zu haben, so daß seine Ubersetzung dort vorerst unbekannt blieb. Obendrein bezeichnete er seine Arbeit als Ubersetzung — traduite. Das dürfte ein Mitgrund dafür gewesen sein, daß dieses Gedicht nicht auf gleicher Ebene rangierte wie die gleichartigen Entwürfe, die sich als imitation bezeichneten. Freilich, unmittelbar nach dem außergewöhnlichen Erfolge COLARDEAU'S wurde in Paris ein zweiter Abdruck des zunächst in London erschienenen Gedichtes veranstaltet — aber der Verlust der virtuellen Priorität Colardeau gegenüber war nicht mehr einzuholen. Erst heute kann der Literatur-Forscher feststellen, daß dem Erfolge Colardeau's zwei Vorstufen vorausgingen — die des Beauchamps und die des Feutry: 1761

Aimé

Ambroise

Joseph

FEUTRY

(1720—1789),

traduite de M. Pope et mise en vers par M. Feutry.

Epître

1Lo

d'Hêloise

à

Abélard,

1761 [ P a r i s B N ] , 2 • S P 1 7 6 8 ,

«Rennes 1766 (in: Recueil de pièces fugitives 41—63),

5P

1778

(in der v o n

A . CAILLE AU veranstalteten Sammlung 1 ; vgl. unten S. 622). Biogr. N B G u d W .

Incipit : Dans ce sombre désert, -paisible solitude, séjour de l'innocence et de la quiétude . . . Im Vorwort wird die (ebenso für A. Pope's Briefgedicht geltende) Voraussetzung, unter der Heloise ihren Brief schreibt, genau bezeichnet: Une lettre qu'Abélard écrivit à un de ses amis tomba entre les mains d'Hêloise. Den sentimentalischen Gehalt des Gedichtes bestimmt der Ubersetzer wie folgt : On y feint les combats de la nature et de la grâce, de la passion et de la vertu. 8

Z u v o r hatte die Duchesse d'AIGUILLON eine Ubersetzung in Prosa vorgelegt: A n n e Charlotte de Crussol-Florensac, duchesse d'AIGUILLON, Epitre traduite de l'anglois,

d'Héloise

à

Abailard,

benutzt: P 1768 u n d Genf 1768. Möglicherweise diente dieser

T e x t als Basis f ü r Colardeau. Diesem T e x t geht ein abrégé über die Geschichte A b a i lards u n d Heloises voraus (Verf. M . MARIN, Censeur R o y a l ) . Dieser abrégé ist nachmals textgleich in die 2. und weitere A u f l a g e n des Colardeau'sehen Briefgedichtes übernommen. 4

I n dieser Sammlung, in der alles zusammengefaßt ist, w a s an französischer A b a i l a r d Dichtung bis dahin zugänglich war, ist der N a m e FEUTRY zu FLEURY verderbt. D a s ist ebenso bezeichnend f ü r die Unachtsamkeit des Herausgebers w i e f ü r die rasche Vergessenheit, der dieser R i v a l e Colardeau's anheim fiel.

Vorbemerkungen zur Abaüard-Dichtung

233

Im Jahre 1758 — also dem Jahre, da Colardeau's Briefgedicht einen ungemeinen Erfolg errang, wurde die Textfassung von A. A. J. FEUTRY zweimal in Paris neu abgedruckt. Das läßt auf das tiefgehende Interesse eines Publikums schließen, das beide Fassungen miteinander verglich. Von unmittelbarer Bedeutung dürfte ferner folgende Sammlung gewesen sein, welche die bisher bekannten Prosa-Bearbeitungen zusammenfaßte : 1709

[anonym] Nouveau recueil, contenant la vie, les amours, les infortunes, les lettres d'Abailard et d'Hêloise, et plusieurs autres lettres amoureuses, tirées des meilleurs auteurs, 2 voll. 1 A.dam 1709—1747 8 Auflagen. Diese Sammlung ist eine Vorläuferin der nachmals von A. CAILLEAU (S. 239 A. 1 und 522) veranstalteten.

Vor allem aber verdient Aufmerksamkeit, daß Abailard und Heloise zu Gestalten der Tragödie wurden : 1752

Jean Baptiste GUYS, Abailard et Éloise, pièce dramatique en vers et en cinq actes, LO 1752 [London BM].

Leider ist nicht bekannt, ob J. B. Guys damit einen Erfolg davontrug. Immerhin ist damit bezeichnet, was den Interessierten zu Paris an diesem Stoffe am Vorabend von Colardeau's Erfolg zugänglich war; derart also war der Hintergrund, vor dem Colardeau sich auszeichnete.

IV.

1758

C h . P . COLARDEAU ( 1 7 3 2 — 1 7 7 6 )

Charles Pierre COLARDEAU (1732—1776), Lettre d'Héloise à Abailard, traduction libre de M. Pope, J au paraclet 1 1758, 2 P 1758 [beide: Paris BN], auch in: pièces fugit. 4, 281.

Das Interesse an diesem Gedicht war so groß, daß noch im gleichen Jahr eine zweite — und wie üblich vermehrte — Auflage erschien. Colardeau gab dem Neudruck ein zweites heroisches Briefgedicht bei : Héroide d'Armide à Renaud, sujet tiré de la Jérusalem délivrée2, auch in: pièces fugit. 4, 311.

Offenbar hatte Ch. P. Colardeau Kenntnis von der heroischen Briefdichtung der Italiener, namentlich Giamb. MARINO'S — das dürfte ihn bewogen haben, seinen Stoff aus dem dort als klassisch geltenden Bereich des italienischen Epos zu wählen. So rechtfertigt Colardeau seine Stoffwahl mit dem Hinweis auf Ovid — so wie dieser seinen Stoff aus Vergil gewählt habe (nämlich die Liebesleiden der Dido), so er, Colardeau, aus dem Epos Tassos. Hiermit befindet sich Colardeau, ohne davon zu wissen, in der Nachfolge der italienischen Schule. Noch 1758 versuchte Colardeau, einen Antwortbrief des Abailard an Héloise zu schreiben; indes publizierte er nur ein Fragment®. Ein Jahr später weiß es FRÉRON in der année littéraire 1 7 5 9 , 4, 3 4 0 — 3 5 0 mit warmer Anerkennung zu loben, daß Cl. J . D O R A T dieses Gedicht ergänzt habe. Später löste sich dieser nahezu ganz von Colardeau's Vorbild; er veröffentlichte 1766 eine eigene Lettre d'Abailard à Héloise. Dieses ungewöhnliche Zwischenspiel — Ergänzung einer nur halb fertig1

2

3

Abailard hatte das Oratorium zum Parakleten bei Quincey in der Nähe von Nogent sur Seine begründet. E r bewohnte es einige Zeit und schenkte es später Heloise, die dort Äbtissin wurde. Nachmals wurden beide dort bestattet. Gern wird im 18. Jahrh. das Kloster au paraclet als Druckort angegeben, so als ob die Briefe Heloises dort hätten gedruckt werden können. Man setzt spielerisch die Datierung, die die authentischen Briefe hätten tragen müssen, mit dem Druckort gleich. Vgl. unten S. 241. GRIMM, corresp. IV 79 kündigt dies Gedicht unterm 1. 2. 1759 an. Eine Ubersetzung ins Russische erschien in MoflHoe «KeMecHq. H3fl. I 1779, 222—228; eine Übersetzung ins Spanische steht in Colección 1804. Oeuvres de Colardeau, nouvelle édition, P 1825, 37—40 [Expl. im Bes. des Verf.], Den Erstdruck vermag ich nicht nachzuweisen; dieser lag F R É R O N , ann. litt. 1758, 3, 251 vor; ann. litt. 1759, 4, 340—350 verweist F R É R O N darauf.

Ch. P. Colardeau (1732—1776)

235

gestellten Versepistel des Abailard — zeigt deutlich, welch ungemeine Bedeutung dies Thema hatte. Hier schien der Weg zur Berühmtheit aufgetan zu sein. J . J . E S C H E N B U R G in seiner Beispielsammlung hat einen heroischen Brief als Werk Colardeau's abgedruckt: Lausus à Lydie. Seltsamerweise fehlt dieser in der Gesamt-Ausgabe der Werke Colardeau's ; unter der reichen Literatur der Einzeldrucke (vgl. unten) erscheint dieser Titel nirgends; kein Anonymen-Lexikon nennt ihn; der Baron G R I M M in seiner Correspondance littéraire nimmt keine Notiz davon ; andererseits gibt J . J . Eschenburg keinen Hinweis, wo er den von ihm abgedruckten T e x t 4 fand. Bei diesem völligen Mangel an anderweitiger Bezeugung (die sonst lückenlos zu sein pflegt) muß die Vermutung geäußert werden, daß J . J . Eschenburg sich irreführen ließ: Vermutlich stammt dies Gedicht nicht von Colardeau.

Über Colardeau's literarisches Werk unterrichtet recht wohlwollend F. de La H A R P E im Anhang zu Band 8 des Lycée : Sur les oeuvres d e C . ; v g l . F . B O U T E R W E K 6 , 3 9 1 u n d B L A N K E N B U R G / S U L Z E R 2,

86.

Zuvor stellte La H A R P E einen eingehenden Vergleich zwischen Colardeau's Übersetzung und dem Pope'schen Original an: Sur la lettre d'Héloise à Abailard, traduite de Pope par M. Colardeau et réimprimée en 1772; sie steht in: Oeuvres de M. de La H A R P E , P 1778, 5, 283ff. Hier äußert La H A R P E vielerlei Tadel; bei nahezu allen Veränderungen, die Colardeau vornahm, erklärt sein Kritiker das Original für besser5. Wenn La H A R P E nachmals im Lycée 8 günstiger über Colardeau urteilt, so vor allem darum, um diesen über Cl. J . D O R A T ZU stellen, den La Harpe von ganzem Herzen haßte 6 . Keine der anderen dichterischen Unternehmungen hat Colardeau zu nennenswertem Erfolg geführt — weder seine Tragödie Astarbé noch seine Übersetzungen aus dem Englischen (Les Nuits de Young) noch seine Umsetzung des Temple de Cnide von Montesquieu in Verse. Diese Dichtungen führten ihn wohl in die Académie (1776), machten 4

5

8

Außer in E S C H E N B U R G ' S Beispielsammlung findet sich der T e x t in der Sammlung Héroides et pièces fugitives, Frankfurt-Lüttich 1769, 7, 149—160; nur von dort kann Eschenburg den Text genommen haben. Ihm geht ein Gedicht Colardeau's voraus {Epître à Minette) ; daraus dürfte Eschenburg zu Unrecht geschlossen haben, auch der Brief des Lausus sei Eigentum Colardeau's. Diesen Vergleich, nun geradezu grundsätzlich zu Ungunsten Colardeau's, nahm nachmals C H A T E A U B R I A N D , génie du Christianisme, I I I 6 [ P 1822, vol. 12, 131, Expl. der U B Lille] wieder auf: Nun werden Colardeau nicht nur seine stilistischen Mängel, sondern sein esprit irreligieux zum Vorwurf gemacht. In ihm straft Chateaubriand den Rationalismus der voraufgehenden Epoche ab. E s traf sich, daß F. de L a H A R P E der Nachfolger Colardeau's in der Académie française wurde. L a Harpe hatte also den éloge auf seinen Vorgänger zu halten (aus dem fast nichts für vertiefte Kenntnis Colardeau's zu gewinnen ist; vgl. Vorrede zur Ausg. von 1825 X I I — X I V ) . Colardeau war kurz nach seiner Wahl zum académicien gestorben; er hatte seinen Sitz in der Akademie nicht einnehmen können.

236

Ch. P. Colardeau (1732—1776)

ihn aber nicht zum Dichter. Das einzige Werk, durch das er wirklich Aufsehen erregte, die Umsetzung des Pope'schen Briefes, war H¿lotse ä Abailard. Damit hat er eine Welle ausgelöst, besser gesagt, eine Mode begründet, die 20 Jahre lang bestimmend sein und bis 1789 nur sehr langsam abklingen sollte — zum Kummer der meisten Kritiker, welche die Schwächen dieser Dichtart wohl durchschauten. Man sollte gewiß Colardeau's dichterisches Verdienst an diesem Erfolg nicht zu sehr betonen, aber es verdient, festgehalten zu werden, daß sich ein großes Lesepublikum auf lange Zeit in Opposition zur herrschenden Kritik begab: 30 Jahre lang hatten sehr schwache Erzeugnisse dieser sentimentalen Dichtart wieder und wieder Erfolge bei einem Publikum, das sich einmal von Colardeau hatte rühren lassen. Lange Zeit kämpfte die Kritik eines Baron GRIMM umsonst dagegen.

V. Cl. J.

DORÂT

(1734—1780)

Über Colardeau's großen, aber singulär bleibenden Erfolg hinaus ist Cl. J. DORAT SO recht zum Faiseur dieser Gattung geworden. Wieder und wieder wurde er vom Baron Grimm wegen dieser Geschäftigkeit angegriffen; aber dieser mußte es hinnehmen, daß ein recht breites Publikum die Dichtungen Dorat's schätzte. Darum ist Dorat der einzige Vertreter der heroischen Briefdichtung, den der Baron Grimm eingehender, wenn auch meist ironischer Besprechungen würdigt. Dorat beging den für ihn nachmals sehr belastenden Fehler, sich mit Voltaire zu überwerfen; er mokierte sich in einer Vers-Epistel über die Mérope des .Patriarchen'. In Ferney revanchierte man sich durch folgendes Epigramm : Bon Dieu, que cet auteur est triste en sa gaieté! Bon Dieu, qu'il est pesant dans sa légèreté! Que ses petits écrits ont de longues préfaces! Ses fleurs sont des pavots, ses ris sont des grimaces. Que l'encens qu'il prodigue est plat et sans odeur! Il est, si je l'en crois, un heureux petit maître. Mais si j'en crois ses vers, ah! qu'il est triste d'être Ou sa maîtresse ou son lecteur! Trotz seiner Bosheit kennzeichnet dies Epigramm, das vermutlich von La HARPE1 stammt, nicht nur die Schwächen, sondern auch die Vorzüge Dorat's — so schien es geeignet, statt einer Charakteristik hier mitgeteilt zu werden. Zunächst übrigens wurde obiges Epigramm für eine Spötterei Voltaire's gehalten, und in diesem Glauben verfaßte Dorat sehr respektvoll, aber dabei witzig, ein Gegen-Epigramm, das allen Vorwürfen recht gab, aber das Urteil der maîtresse einflocht — sie2 gab Voltaire's Vermutung nicht recht. Als Dorat gestorben war (1780), verzeichnete der Baron GRIMM folgenden Vierzeiler, der in Paris kursierte : GRIMM, corresp. 7, 471, wo der Text mitgeteilt ist; was Dorat's Reaktion anlangt, vgl. ebda. 7, 500 und 8, 49. 2 In den Salons zu Paris war selbstverständlich bekannt, daß Cl. J . Dorat seit 1762 mit der geistreichen Fanny de BEAUHARNAIS (richtig: Marie Anne Françoise Mouchard, 1 7 3 7 — 1 8 1 3 ) eng liiert war.

1

238

Cl. J. Dorât (1734—1780)

De nos •papillons enchanteurs émule trop fidèle il caressa toutes les fleurs excepté l'immortelle. Aber es wurde zugleich eine Stimme laut, die wohl für den Leserkreis sprach, der Dorat's Leistung ohne boshafte Einschränkung anerkannte : A. M . Le M I E R R E 3 hob in seinem Nekrolog die Beziehung zu Ovid hervor, in der sich Dorat seiner Intention nach ständig befand. Dabei rühmt Le Mierre den Verstorbenen mit dem schönen Vers : Aussi fécond qu'Ovide et souvent son rival. . . 8

A. M. Le MIERRE, AUX Mânes de Dorat, 1780, in: Pièces fugitives, P 1782.

VI. Charakteristik der Hêroide im Zeitalter Dorat's Die Hochflut an heroischer Briefdichtung, die durch Colardeau und dann namentlich durch Dorat hervorgerufen wurde, hat ihre typischen Besonderheiten nicht nur in der Themen-Wahl und in der .Höhenlage des Gefühls', wovon noch zu sprechen sein wird, sondern schon in der Ausstattung kommt der besondere Stil dieser erneuerten Gattung zu klarem Ausdruck: Erstens: Man bevorzugt die Publikation einzelner Briefe. Nur bei wenigen Autoren ist es nachmals zur Sammlung1, Sichtung2 und Ordnung gekommen. Üblicherweise ließ man heroische Briefe, wenn auch mit umfänglichen Vorreden ausgestattet, als einzelne Hefte kursieren. Dahinter mag die Absicht stehen, es solle kein anderes Gedicht mit der ganz besonderen Gefühls-Situation gerade dieses Gedichtes konkurrieren. Mehr im Vordergrunde stand gewiß der Wunsch der (meist jungen) Autoren, sich rasch mitzuteilen, d. h. das, was fertig war, sogleich vorzulegen. So wird zur Regel, was früher die Ausnahme war 3 : Diese Gedichte laufen, oft erst handschriftlich, dann aber gedruckt, in schmalen Heften bei dem interessierten Lesepublikum von Paris um. Diese Publikationsform ist umsomehr verständlich, weil es ja ganz besonders auf den Erfolg in Paris4, und weil es dort auf raschen Erfolg ankam. Darum ist die herkömmliche Art, solche Dichtungen in ganzen Bänden zu veröffentlichen, zu jener Zeit nie angewandt wor1

Die heroischen Briefdichtungen bestimmter Autoren sind gewöhnlich eist in einer Ausgabe letzter Hand oder nach dem Tode vereinigt worden. Große Bedeutung hat indes eine Sammlung gehabt, in die man recht viele heroische Briefe aufnahm: Collection d'Héroides et de pièces fugitives, 1769 (vgl. S. 67). Nachmals verdiente die Sammlung Beachtung, die A. C A I L L E A U veranstaltete: In sie nahm er nahezu alle Briefe in Prosa und in Versen auf, die zum Thema Abailard und Héloise geschrieben waren. 2 Hier und da ist die zunächst veröffentlichte Form eines heroischen Briefes verändert oder geglättet worden. Einzig J. F. de La H A R P E hat einige seiner allzu eilig verfaßten ,Heroiden' später unterdrückt. * U m eines raschen literarischen Erfolges willen hatte z. B. P. M I C H I E L E 1635 einen Vor-Abdruck des BriefesHidraspe a Dianea unternommen; vgl. oben S. 176f. * Hier ist an den Mißerfolg von A. A. J. Feutry zu erinnern (vgl. oben S. 232), der, weil in Paris unbekannt, dort keine Beachtung fand, so daß ihm Ch. P. Colardeau zuvorkam.

240

Charakteristik der Heroide

den. Da man eine Wirkung in Paris bezweckte, sprachen äußere und innere Gründe dafür, an der Fiktion festzuhalten, daß der Dichter das Ergebnis einer fruchtbaren Stunde seinen Freunden mitteilte. Cl. J. D O R A T sorgte dafür, daß die Ausstattung der Heftchen dem entsprach. Gerade diese Drucke, wenn sie auch nur einen oder zwei Bogen umfassen, sind sorgfältig, ja liebevoll gestaltet. Regelmäßig ist ihnen ein Titelkupfer und eine Schlußvignette, oft auch noch anderer Buchschmuck beigegeben. Der Baron Grimm spottet darüber: Solcher Schmuck sei das allein Wertvolle an diesen Drucken, und man kaufe sie, wenn man Gravuren, nicht wenn man Verse sammle. Aber die sorgfältige und modische Ausstattung der Heftchen hat gewiß sehr zur Verbreitung beigetragen. Dabei wurde freilich auch die Freude am Sammeln vom vorausschauenden Verleger in Rechnung gestellt 5 : Dieser verwahrte die Druckstöcke, so daß später Neudrucke (mit veränderter Jahreszahl) möglich wurden, besonders dann, wenn neue Werke eines erfolgreichen Dichters das Interesse an älteren Gedichten weckte. Das Format änderte man nicht, so daß auch die Besitzer der ersten Drucke mehrere Hefte zu Bänden vereinigen konnten 6 . 5

6

In allen diesen Dingen ging Cl. J. Dorat voran: Seine gesammelten Werke in 12 Bänden sind nichts anderes als die zusammengebundenen Erstdrucke, meist jede Hdroide mit besonderem Titelblatt. Allerdings hat D. — namentlich im Briefe Abailards an Heloise — recht tief in den Text der ersten Fassung eingegriffen. Ein geheftetes Expl. der Bibl. nat. zu Paris von [ M A S S O N de Pezay] Lettre d'Ovide a Julie (vgl. unten S. 251) enthält den avis aux relieurs, welches die beim Binden zu beachtende Reihenfolge der Hiroides a) von Dorat, b) von Masson de Pezay ist.

VII. Bestandsaufnahme der heroischen Briefdichtung in Frankreich 1758—1789 Nun sind die Schwierigkeiten erheblich, nicht nur einen möglichst vollständigen Überblick über diese Literatur — die sich selbst als fugitive bezeichnet — zu gewinnen, sondern vor allem, diesen Überblick zu vermitteln. Als erstes soll eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme vorgelegt werden. Das erscheint darum als nötig, weil vieles bei Erscheinen kaum beachtet, anderes von den Kritikern mit Verächtlichkeit abgetan wurde. Denn man muß sich vor Augen halten: Die auf den folgenden Seiten aufgeführten Dichtungen sind durchweg im Gegensatz zur damals richtungweisenden Kritik entstanden. Auf der einen Seite hat J . F . de La H A R P E in der heroischen Briefdichtung, wie er selbst einsehen mußte, nicht eben erfolgreich, Cl. J . DORAT mit persönlichem Haß verfolgt 1 und wohl mit aus diesem Grunde nachmals in seinem Lycée die ganze Gattung totgeschwiegen. Auf der anderen Seite hat die maßvolle Kritik von D I D E R O T und vom Baron GRIMM immer wieder auf die unverkennbaren Schwächen der einzelnen Dichter und der ganzen Gattung hingewiesen, wobei es nicht ohne manchmal köstliche Ironie abgeht 2 . Kurz, es stellte sich (vielleicht zum ersten Male, seit es eine Literatur-Kritik gab) die paradoxe Lage ein, daß der 1

2

Die recht unerfreulichen Kontroversen zwischen La Harpe und Dorat sind in ermüdender Vollständigkeit abgedruckt in Oeuvres de M. de La Harpe (in 6 Bden), P 1778, 2, 104 ff. (dort gegen Colardeau) und 6, 295 — dort als Entgegnung gegen eine Verteidigung Dorat's neue, besonders scharfe Angriffe. So z. B. Grimm, Corresp. 7,324 (Mai 1767): Zeila, von Valcour verführt und verkauft, ist Sklavin des Sultans geworden. Valcour erkennt nun erst, was ihm Pflicht und Liebe gegenüber Zeila gebieten; nach mißlungener Entführung aus dem Serail (!) bittet er sie vom Sultan los. Dieser, großmütig wie König Thoas in Goethes Iphigenie, läßt die Liebenden ziehen — so der von Dorat gewollte Ablauf. Der Baron von Grimm meint, Valcour habe für seine vielen kleinen und großen Schuftigkeiten erst die Bastonade und dann die Hinrichtung verdient. Während der Vorbereitungen dazu hätte der Sultan seiner Zeila die Briefe Valcours vorlesen lassen sollen, damit Zeila ein Urteil über die Qualitäten Valcours als Liebhaber und als Autor gewänne — eine gute Variation des epigrammatischen Witzes (vgl. oben), der Cl. J. Dorat empfindlich getroffen hatte. 16 Heroische Brief dichtung

242

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789

Publikums-Erfolg und das Urteil der berufenen und berufsmäßigen Kritiker einander stracks widersprachen. Bei dieser Lage hat die Kritik vieles nicht zur Kenntnis nehmen können, wenn die Zahl der umlaufenden Exemplare so klein war, daß keines einen v. Grimm oder F R É R O N erreichte. Und vieles hat sie, wie dargestellt, nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Vieles erschien anonym3, und wiewohl vor allem der Baron Grimm oft meisterlich auf den Verfasser rät, ein paarmal hat er geirrt. Gar nicht selten beruhen die Zuweisungen anonym erschienener Gedichte auf handschriftlichen Notizen in den Expl. der Bibliothèque Nationale, die diese Dichtungen in bewundernswerter Vollständigkeit besitzt. In einigen Fällen ist die Zuweisung ernstlich strittig. So ist die Lage der Bezeugung in dieser letzten Phase der heroischen Briefdichtung in vielem reicher an offenen Fragen als in den früheren Epochen. Daher scheint es richtig, zunächst einmal alles Bezeugte in chronologischer Reihenfolge vorzuführen. Im Nachstehenden wird der Versuch gemacht, die Erstausgaben vollständig aufzuführen ; neun Zehntel von ihnen liegen in der Bibliothèque Nationale zu Paris vor. Auf spätere Ausgaben wird nach Möglichkeit hingewiesen — so immer auf den Wieder-Abdruck in den pièces fugitives4; aber Vollständigkeit konnte in dieser Richtung nicht erstrebt werden. Für die Chronologie sind von unschätzbarem Wert die wöchentlichen und monatlichen Aufzeichnungen des Barons Grimm5; im Nachstehenden wird die von Grimm gebotene chronologische Ordnung zugrunde gelegt6. Dagegen war es unmöglich, die Hunderte von Bänden der Année littéraire erschöpfend durchzusehen7. Wo Stichproben gemacht wurden8, ergab sich, daß die Correspondance littéraire des Barons G R I M M 8

V o r allem die Erstlinge ließ man regelmäßig anonym erscheinen; war ein E r f o l g errungen, dann bekannte man sich gern dazu. O f t darf man auf einen Mißerfolg schließen, wenn ein Autor sich nachmals nicht zu seinem Gedicht bekannte.

4

[anonym] Collection d'hêroides et pièces fugitives, 11 Bde, Lüttich-Lpz 1769—1771; B d 1—3 auch: F k f t - L p z 1769; trotz abweichender Angabe des Druckortes handelt es sich um die gleiche Ausgabe. Diese Sammlung wird als pièces fugit. zitiert.

6

Correspondance littéraire, philosophique et critique par GRIMM, DIDEROT, RAYNAL, MEISTER etc., revue sur les textes originaux... par Maurice TOURNEUX, 9 voll., Paris 1876ff. I m Folgenden zitiert: GRIMM, corresp.

6

Freilich bedarf diese gelegentlich der Korrekturen, denn nicht immerhaben v. Grimm und Diderot Kenntnis v o m ersten Abdruck eines heroischen Briefgedichtes erhalten; manchmal registrierten sie eine 2. oder 3. Auflage.

7

Gründlich durchgesehen wurden die Jahrgänge 1770—1772 (je acht Bände für ein

8

So für die Jahre 1758 und 1759.

Jahrl).

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789

243

an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Zu notieren ist nur, daß N. FRÉRON in der Année littéraire neue heroische Briefe gewöhnlich mit freundlicher Zustimmung begrüßt, während der Baron GRIMM und seine Mitarbeiter sie mit sarkastischer Ironie verwerfen. etwa 1758 Sébastien Roch Nicolas de CHAMFORT (1740—1794), Calypso à Télémaque, in: Oeuvres complètes, P an I I I , vol. 3, 346—359; auch pièces fugit. 7,161—168. Lit. Renate LISZT-MARZOLFF, S. R. N. Chamfort, ein Moralist im 18.Jahrh., Freiburger Schriften zur Roman. Philologie 3, 1966, bes. 11 f.

Der Herausgeber P. R. AUGUIS berichtet in einer notice sur Chamfort von der Entstehung dieses heroischen Briefes; er verdankt das Nachstehende dem citoyen S ELIS: Cette héroide, imprimée dans plusieurs recueils, mais anonyme, est de Chamfort, et l'un de ses premiers ouvrages. Il était encor au Collège. Un de ses camarades, nommé FontaineMalherbe, en fit une de ce sujet, et la lui montra en lui demandant conseil. Le sujet plut à Chamfort, mais il en trouvait les vers si mauvais qu'il n'y vit point d'autre remède que de la refaire en entier: c'est ce qu'il fit, et il ne conserva qu'un très petit nombre des vers du premier Auteur. . . Man wird als sicher annehmen dürfen, daß dieser Stoff nicht der Lektüre Homers, sondern der Lektüre Fénelons entsprungen ist. Die Anekdote ist aber bezeichnend für die Mode, .Heroiden' zu schreiben; sie veranlaßte also selbst Schüler, auf diesem Wege nach Unsterblichkeit zu streben. Eine objektive Datierung dieses Briefgedichtes ist nicht gegeben. Man wird aber gewiß nicht über das Jahr 1758 zurückgehen dürfen — denn da war S. R. N. de CHAMFORT noch zu jung, und die Heroide noch nicht en vogue. Man wird aber auch schwerlich über das 18. Lebensjahr Ch.s herab gehen dürfen, da man sich Ch. als Schüler des Collège des Grassins zu Paris zu denken hat. vor 1769 ? Charles Pierre COLARDEAU ?, Lausus à Lydie,in: Eschenburg,Beispielsammlung 6, 204—212. pièces fugit. 7, 149—160; vgl. oben S. 235. Der Stoff ist der Aeneis, 10. Buch, entnommen. 1758 |LÉVÊQUE (nicht nachweisbar), Imitation de la quatorzième héroide d'Ovide: Hypermnèstre à Lyncée. Zit. GRIMM, Corresp. I V 51, 15. 11. 1758. 1758

1759



9

Claude Josèphe DORÂT (1734—1780), Philomèle à Progné, auch in: pièces fugit. 1, 55. P 1758 (nur durch späteren Nachdruck bekannt). Zit. GRIMM, Corresp. I V 120, Juni 1759; ders., Julie, fille d'Auguste, à Ovide, Héroide*par l'auteur de Philomèle, auch in pièces fugit. 1, 187. Den Haag—P 1759 [Paris BN]. Übersetzung ins Span.: Colección 1804. Zit. GRIMM, Corresp. I V 143; ders., Héro à Léandre, par l'auteur de Julie et de Philomèle, P 1759;

Das Gedicht basiert auf der Briefsammlung in Prosa Lettres de Julie à Ovide, P 1753. Die Verfasserin war Charlotte Antoinette de Bressay, marquise de LEZAY-Marnésia, gest. 1785 (vgl. unten S. 258f.). 16*

244 1769

1759

1769

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789 ders., Abailard à Héloise, A.dam 1769 [Paris BN]. Dies Gedicht enthält eine Antwort auf den von Colardeau übersetzten Brief Pope's. Dorat bemerkt in der Vorrede: Cette réponse a couru manuscrite dans le tems de la lettre d'Héloise. Comme j'avois été prévenu, je ne la fis point imprimer; auch pièces fugit. 7, 189— 196. Zit. Eschenburg, Beispielsammlung 213 ff. Marie Augustin Louis XIMENEZ (1726—1817), César au Sénat Romain avant de passer le Rubicon. Zit. GRIMM, corresp. 4, 160, Okt. 1769. Dieser Erstdruck ist nur durch dies Zitat bekannt. Biogr. Quérard udW. Wiederabdruck : M. A. L. XIMENEZ, Choix de poésies anciennes ou inédites, P 1806 [Paris BN], [Anonym, Zuweisung unsicher] Lettres Portugaises en vers par Mad.lle D'Ol***. Lissabon-P 1769 [Paris BN], Zit. GAY, bibl. ouvr. amour, (mit der Vermutung, der Autor sei ein Mann, Marquis d'Ol***). MICHAUD Biogr. Univ. weist dieses Briefpaar A. L. de XIMENEZ zu, ebenso ein hs.licher Eintrag auf dem Titelblatt des Expl. zu Paris BN.

Der dem Autor bekannte Briefwechsel ist in einem Briefpaar zusammengezogen. 1769

[anonym, aber] Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore (1733—1807), Sapho à Phaon, héroide, o. O. o. J . [aber P 1769] [Paris BN]. Aus dem voraufgehenden avertissement : Ce n'est point ici une traduction, mais une imitation très libre.. . L'auteur a cru que le nom de Sapho à la tête d'un ouvrage en vers, suffisoit seul pour le rendre intéressant.. . Biogr.: Biogr. Univ., Quérard udW. Ein zweiter Abdruck erfolgte P 1766. Eine spanische Übersetzung steht in der Colección von 1804. Das Gedicht ist aufgenommen in die pièces fugit. 4, 229—246. — Gérard Du DOYER de Gasteis (1732—1798), Un disciple de Socrate aux Athéniens, in: Recueil d'Héroides, A.dam 1769 (dort Nr. 6) [Paris Bibl. Ars.] Zit. Grimm, Corresp. IV 303. — Jean François de LA HARPE (1739—1803), Héroides nouvelles, précédées d'un essai sur l'Héroide en général. iA.dam-P 1759 [Paris BN], 2 P 1764 [Paris BN]. Inhalt: Montezume à Cortés, auch in: pièces fugit. 6, 61. Elisabeth de France à Don Carlos.

Angeblich erfolgte der Druck der 1. Aufl. ohne Wissen des Verfassers; tatsächlich deckt sie sich bis auf das Titelblatt mit der 2. Aufl. Zit. Eschenburg, Beispielsammlung 237, vgl. Quérard udW., der nur die 2. Aufl. von 1764 kennt. 1760

[anonym, aber] Claude Marie GIRAUD (1711—ca. 1780), Epître du Diable ( = Voltaire), Vienne, chez le libraire de la cour 1760 [Siena BC].

àMdeV..

Dieser Brief ist mehrfach, und stets mit fingiertem Druckort, gedruckt worden, vgl. unten S. 501. Eine Hofbuchdruckerei bestand in Wien 1760 noch gar nicht. Vgl. Quérard udW Giraud. Auf diesen Brief verfaßte A. M. H. Blin de Sainmore eine Antwort im Namen Voltaires, vgl. unten S. 501.

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789

245

1760

Jean François de LA HARPE, Colon à César, Hannibal à Flaminius, P 1760 [Paris BN], auch in pièces fugit. 6, 67 u. 72. Zit. GRIMM, Corresp. I V 243, Juni 1760. — Jean François de La HARPE, Socrate à ses amis, nur aus Zitationen bekannt.

Der Text dieses Gedichtes ist nur aus einem späteren Abdruck10 bekannt. Wann das Gedicht zuerst gedruckt wurde, ist unbestimmt. Da die Apologie des Socrates von G. Du DOYER de Gasteis zum Stoff einer heroischen Briefdichtung gewählt wurde, ist zu vermuten, daß die beiden Dichtungen aufeinander respondieren, womit ein Anhalt für die Datierung des La Harpe'schen Gedichtes gewonnen wird. 1760

Louis Sébastien MERCIER (1740—1814), Hécube à Pyrrhus, P 1760. Nur erwähnt von Quérard udW. Text in pièces fugit. 7,169—175. 1760 Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore (1733—1807), Biblis a Caunus, son frère, par l'auteur de Sapho, „Halicarnasse" (Genf?) 1760 [Paris BN], auch in: pièces fugit. 4, 167—183. Biogr. Quérard udW. Das voraufgehende avertissement (auch pièces fugit. 4, 155—166) hat für die Kritik und die Theorie der Mroide Bedeutung; vgl. unten S. 316. 1761 [anonym, aber] Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore (1733—1807), Gabrielle d'Estrées à Henri IV, dédiée à Voltaire, Au chasteau d'Anet 11 1761 [Paris BN], Zit. GRIMM, Corresp. I V 505, Juni 1761; vgl. Bouterwek 6, 398 und Eschenburg, Beispielsammlung 223 ff., auch pièces fugit. 4, 203 — 218.

Hier ist — wie in der italienischen Phase der heroischen Briefdichtung üblich — eine Episode aus einem neu-klassischen Epos, nämlich der Henriade Voltaires zum Gegenstand des Briefes gemacht worden. Dieser empfand das Kompliment, das in dieser Stoffwahl lag, und antwortete mit einem sehr schmeichelhaften Gedicht, das GRIMM, corresp. V 19/20 mitteilt. 1762 — —

10 11

12

Sébastien Marcellin Mathurin GAZON d'Ourxigné (F 1784), Ariane à Thésée, héroide nouvelle, auch in: pièces fugit. 7, 177. P 1762 [Paris BN], Vgl. Quérard udW. Louis Sébastien MERCIER (de Bodène, 1740—1814), Canacé à Macarée18 et Hypermèstre à Lyncée; Médée à Jason, P 1762 [Paris BN] ; ders., Philoctète à Poean, son père. Héroide. *P 1762, 2 P 1764 (vgl. unten S. 246). Vgl. Quérard udW.

pièces fugit. 6, 76—79. Das Schloß von Anet befand sich im Besitz des duc de Vendôme, eines Nachkommen der Gabrielle d'Estrées. So hat A. M. H. Blin wohl die Aktualität zu vermehren geglaubt, indem er das Schloß von Anet zum (natürlich fiktiven) Druckort wählte. Die nächste Parallele dazu stellt der Druckort ,au paraclet' dar, den man für den Druck der Briefe Abailards und Heloises angab (vgl. oben S. 234 A. 1.) Im avertissement spricht der Dichter über seine Intention: ihm habe daran gelegen de supprimer toute idée d'inceste . . .

246 1763

— — —

1764

— — —

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789 [anonym aber] PEYRAUD de Beaussol, Echo à Narcisse, Poème en trois chants, dans un genre nouveau, qui tient de l'héroide, de l'élégie et de l'idille13, Den Haag— P 1763, auch pièces fugit. 6, 203ff. Louis Sébastien MERCIER (1740—1814), Médée à Jason, après le meurtre de ses enfans. !Den Haag-P 1763, 2 P 1764 (vgl. oben S. 119). Vgl. Quérard udW.; ders., Sénèque mourant à Néron, héroide. 1763; vgl. Quérard udW., 2 P 1764 (vgl. unten S. 494) ; ders., Epître d'Héloise à Abélard, imitation nouvelle de M. Pope, Brüssel—P 1763; vgl. Quérard udW., 2 London 1764 [Paris BN], Zit. Eschenburg, Beispielsammlung 236; Blankenburg/Sulzer 2, 86. [anonym, aber], Louis Sébastien MERCIER (1740—1814), Héroides et autres pièces de poésies, P 1764 [Pans BN], Inhalt: B Philoctète dans l'isle de Lemnes, à Paean, son père (vgl. S. 245) 16 Sénèque mourant à Néron (vgl. S. 494) 26 Aiax, avant de se donner la mort 31 Les larmes de Milton sur la perte de sa vue13* 34 Les regrets de Haller, sur la mort des sa Femme13t> 40 Thoris et Clarice, imitation de l'Anglois 43 Idylle. ders., Calas sur l'échafaud à ses juges. P o. J . Nach Quérard: 1764; Grimm, corresp. V I 261hat das Gedicht erst im April 1765kennengelernt; auch pièces fugit. 8,167ff. Claude Josèphe DORAT, Lettre de Zeila, jeune sauvage, esclave à Constantinople, à Valcour, officier françois, P 1764 [Paris BN] ; ders., Lettre de Barnevelt13c, dans sa prison, à Truman son ami, X P 1764, 2 P 1767.

Hierzu sind folgende Ubersetzungen bekannt : 1. Barnwell im Gefängniss, Yariko in der Sklaverey, zwei heroische Gedichte [Prosa], Braunschweig 1766, 2. Heroische Briefe : Des Barneveits an den Truman und Der Zeila an den Valcour [in Versen], Augsburg 1766, 3. C. C. M. LUND (Übers.), Zeilas Bref til Walcour och Walcours Bref til Zeila, Lund 1789; alle drei nachgewiesen von Lawrence Marsden PRICE, Inkle and Yarico Album, Berkeley 1937, 160; vgl. oben S. 228 A. 4, dazu zwei russ. Übersetzungen, nachgewiesen unten S. 282. Dieses Gedicht wird darum hier erwähnt, weil der Autor selbst es der héroide zurechnet — wohl darum, weil der bei Ovid so knapp pointierte .Dialog' der Echo hier zu einem breiten Redepaar ausgeweitet ist. In Wirklichkeit kommt dies Gedicht unter allen Gattungen dem Epos am nächsten. Mit gutem Blick hat der Dichter die innere Verwandtschaft der ovidischen Echo und des Narcissus erkannt, aber die Kraft für die Ausführung des Plans, die beiden Gestalten zu konfrontieren, hat ersichtlich nicht ausgereicht. 13a Hier hat Mercier, wie er selbst bezeugt, das 3. Buch Paradise lost z.Vorbild genommen. 13b Mercier entschuldigt sich, daß er dies sujet gewählt habe, es könne als taktlos erscheinen, daß er A. v. Haller's (1708—1777) Empfindungen wiedergebe; es geschehe indes aus großem Mitempfinden. 130 Hiermit vollzieht C. J . Dorat die Szene nach, in der die Tragödie George Barnwell von George LILLO (1693—1739) kulminiert.

13

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789 1764

247

Nicolas Etienne de FRAMERY (1745—1810), Réponse de Valcour à Zetta'",¡ Zit. GRIMM, C o r r e s p . 6, 11/2, J u n i 1 7 6 4 1 4 , Q u é r a r d u d W .



Alexandre Frédéric Jacques MASSON de Pezay (fl777), Lettre d'Alcibiade à Glycère bouquetière d'Athènes (auch: pièces fugit. 4, 69), Lettre de Vénus à Pâris (auch: pièces fugit. 4, 79), Lettre à la maîtresse que j'aurai (ebda. 4, 87). Genf— P 1764, 36 SS [Pans BN], Zit. GRIMM, C o r r e s p . 6, 47/8, A u g u s t 1 7 6 4 1 5 . V g l . Q u é r a r d u d W .



Claude Josèphe DORÂT, Lettre du comte de Comminges à sa mère1*, suivie d'une lettre de Philomèle à Progne". P 1764 [Paris BN]. Zit. GRIMM, C o r r e s p . 6, 133/4 (Dez. 1 7 6 4 ) .



[anon. aber] Jean Pierre COSTARD (1743—1815), Lettre de Cain, après son crime, à Méhala, son épouse, P 176518 [Paris BN], auch in pièces fugit. 5, 135—146. Zit. GRIMM, C o r r e s p . 6, 1 3 8 (Dez. 1 7 6 4 ) .

1765

Nicolas Thomas BARTHE (1734—1785), Lettre de l'abbé de Raneé à un ami, écrite dans son abbaye de la Trappe, J P 1765 [Paris BN], ^n: Oeuvres diverses, P 1779, 8—92, auch in pièces fugit. 5. 222—233, Zit.



— —



ESCHENBURG,

Beispielsammlung

6,

236.

GRIMM,

corresp.

6,

228/9,

März 1765. Vgl. unten S. 266. [anonym] Héroide: Zamon à Zélie. Zit. GRIMM, Corresp. 6, 240, März 1765. Dieses Gedicht ist nur durch Grimm's Kritik bekannt : Rien n'est plus bête et plus triste que Zamon, si ce n'est son auteur, qui prouve qu'on peut être tragique sans émouvoir. Offenbar sind hier Phantasie-Gestalten als Schreiber und Empfänger eines heroischen Briefes gewählt worden — eine auffallende Ausnahme. Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore, Jean Calas à sa femme et à ses enfans. Héroide, P 1765 [Paris BN], auch in: Pièces fugit. 4, 269—280. [anonym, aber nach Quérard udW.] L. S. MERCIER, Calas sur l'échafaud à ses juges, o. O. 1765 [Paris BN] und pièces fugit. 8, 167 ; Erstausgabe 1764, vgl. S . 261. [anonym, aber nach Barbier] P. J . B. NOUGARET (1742—1823), L'ombre de Calas le suicidé à sa famille. A.dam—P 1765. Zit. GRIMM, Corresp. 6, 261, April 1765 erwähnt die drei vorstehenden Gedichte als gleichzeitig erscheinende Héroides zum Falle Calas. Dessen Rehabilitierung war unterdessen entschieden; im gleichen Jahr wurden seine Witwe und seine Kinder bei Hofe empfangen.

Die vorstehend aufgeführten, auf den Fall Calas bezogenen Briefgedichte sind in einem Convolut der Bibliothèque Nationale zu Paris, 14

15 14

17 18

GRIMM beurteilt dies Gedicht noch weit schlechter als das Gedicht C. J . Dorat's, auf das es antwortet. GRIMM mahnt, nach scharfer Ablehnung: Messieurs, vous vous faites trop imprimer. Der Stoff stammt aus dem Roman der Mme. de TENCIN, Les amans malheureux ou les mémoires du comte de Comminges; zur ungemeinen Nachwirkung dieses Stoffes vgl. unten S. 266. Das Gedicht Dorats wurde ins Russische (von J . W. Knjashnin) und ins Spanische übersetzt. Erneuter Abdruck des schon 1759 erschienen Gedichtes. Die Biographie Universelle (udW) datiert das Gedicht auf 1763. Grimm bespricht es im Dez. 1764; das Expl. der Bibliothèque Nationale trägt das Druckjahr 1765. — Das Gedicht wurde in der Colección (vgl. S. 285) ins Spanische übersetzt).

248

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789

fonds Bengesco 283, zusammengefaßt. Dabei geht der letztgenannte Brief (der des Selbstmörders) in abgewandelter Form der Sammlung voran : [anonym] Histoire des malheurs de la famille des Calas jusqu'après le jugement rendu en leur faveur four la justification de la mémoire de Jean Calas, père, le 9 mars 1765, -précédée de Marc-Antoine Calas, le suicidé, à l'univers, Héroide, P1765 auch pièces fugit. 8, 77—88. [danach: Jean Calas à sa femme et à ses enfans, Héroide, P 1765, und\ Calas sur l'échafaud à ses juges, o. O. 1765 — textgleich mit den oben erwähnten Ausg.]. Vermutlich ist der Text der hier voranstehenden Héroide nach der Rehabilitierung J. Calas' zu einer Apologie vor dem Universum umgeschrieben worden. Vgl. S. 261. 1764

Edouard Thomas SIMON de TROYES (1740—1818), L'hermaphrodite, Grenoble 1764, 2 P 1765 mit der Beigabe ou Lettre de Grandjean à Françoise Lambert, sa femme. Anne de Boulen à son cruel époux Henry VIII.

Zit. GRIMM, Corresp. 6, 291/2, Juni 1765. Ganz gegen seine Gewohnheit lobt Grimm diese beiden Gedichte — er nennt sie bien assortis. Im Jahre 1764 hatte das Parlament zu Paris die Ehe des .Hermaphroditen' Grandjean annulliert (GRIMM, corresp. 6,182) ; der Prozeß über diesen pikanten Gegenstand hatte Aufsehen erregt. Es ist bezeichnend, daß knapp ein Jahr später19 eine Héroide darüber vorliegt, welche sentimens ein zur Liebe Unfähiger seiner „Frau" ausspricht. Durch jenen Prozeß hatte das Abailard-Thema eine unerwartete Aktualisierung erfahren20. Das zweite der hier aufgeführten Gedichte war geeignet, in der Revolutionszeit wieder abgedruckt zu werden (o. O. o. J.). Als Datierungshinweis dient die Unterschrift : Cen (citoyen) Simon. Der Titel lautet nun : Arrestation de la Reine d'Angleterre et sa translation dans la prison de la Tour à Londres. Inhalt: 1. (in Prosa) Horrible massacre de tous les Chefs du parti de la Reine, parmi lesquels se trouve un proche parent du Ministre Pitt et plusieurs autres Nobles de distinction. 2. (in Prosa) Lettre de la Reine d'Angleterre au Parle19 20

Schon 1764 wurde das erstere der beiden Gedichte in Grenoble gedruckt (Paris BN). Davon gibt Zeugnis ein Schriftsatz des Dr. CHAMPEAUX, Réflexions sur les hermaphrodites, relativement à Anne Grand-Jean, qualifiée telle dans un mémoire de M. VERMEIL, Avocat au Parlement. Avignon-Lyon 1765. Hier liegt das Gegengutachten vor, das den Hermaphroditen G. zu einem vorzugsweise männlichen Wesen erklärt, da er die Liebe einer Frau zu erregen vermag. Es wird polemisiert gegen das für das Parlament zu Lyon verbindliche Gutachten, durch das G. zur Frau (daher der Vorname Anne) erklärt wurde. Diesem medizinischen Gutachten ist im Expl. der Bibliothèque Nationale zu Paris ein Expl. der 1. Aufl. des heroischen Briefes hierzu beigebunden.

Bestandsaufnahme : Frankreich 1768—1789

249

ment, dans laquelle elle lui reproche sa tyrannie, et le menace de la guerre civile. 3. (in Versen) Les imprécations contre le peuple anglais. 4. (in Versen) Lettre de la Reine d'Angleterre au Roi son ¿poux, Héroide, o. O. o. J . [Paris BN]. Mit geringfügigen Textänderungen ist das schon 1766 veröffentlichte Gedicht abgedruckt; die drei vorausgehenden Stücke dienen zur historischen Orientierung des Lesers. 1766 Jean Claude Laurent de LA GRAVIERE, Lettre [hsl. : ou héroide] du Comte d'Essex à Elisabeth, reine d'Angleterre. Nancy o. J . [aber 1765] 28 SS. [Paris BN].

Im avertissement stellt der Dichter sehr ausführlich die Geschichte des Grafen Essex dar; 13ff. gibt er einen Überblick, wer vor ihm diesen Stoff behandelte. Er weiß von drei Tragödien: La Calprénède (1638), Thomas Corneille (1678) und Abbé Boyer (1678). Außerdem ist sich der Dichter bewußt, in Konkurrenz zu Colardeau und Dorat zu treten : Le public, accoutumé aux belles Héroides de MM. Collardeau (sic!) et Dorat me jugera -peut-être avec rigueur. . . 1765

1766

Sébastien Marcellin Mathurin GAZON d'Ourxigné (fl784), Héloise à son époux, héroide nouvelle, P 1765, auch in piecès fugit. 7,197. Dort ist zum Titel vermerkt: Imitation de la première des véritables Lettres d'Héloise à Abailard. [anonym, aber] François Jean WILLEMAIN d'Abancourt (1746—1803), Lettre de Narwal à Williams, son ami, P 1765 [Paris BN],

Narwal schreibt aus dem Gefängnis, in das Wolmar ( !) ihn hat werfen lassen. Wolmar hat Narwal's Sohn erschossen und bietet nun falsche Zeugen auf, die Narwal belasten. Narwal wird zum Tode verurteilt. Dieser Kriminalfall wird so entwickelt, daß die Analogie zum Fall Calas ins Auge springt. GRIMM, corresp. 7, 65, Juni 1766, nennt dies Gedicht, kennt aber den Autor nicht. Vgl. NBG udW Abancourt. 1765 —

[anonym, aber] Nicolas Antoine ROMET, Lettre de Pétrarque à Laure, P 1765, auch: pièces fugit. 5, 147, [Paris BN]. Zit. GRIMM, Corresp. 6, 292, Juni 1765. Jean Pierre COSTARD (1743—1815), Lettre de Lord Vilford à milord Dirton21 son oncle, précédée d'une lettre de l'auteur-, P 1765 [Paris BN], pièces fugit. 5, 1 9 3 — 2 1 8 . Zit. GRIMM, Corresp. 6, 292, J u n i 1765. Vgl. Quérard udW., und





21

22

Blankenburg/Sulzer 2, 86. Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore, Lettre de Biblis à Caunus, son frère. Neudruck des 1760 erstmals erschienenen Gedichtes, erst jetzt von GRIMM, corresp. 6, 312, Juli 1765, angezeigt: Son poème est d'un froid à glacer. Abbé PARMENTIER22, Lettre de Caton d'Utique à César, P 1766 [Paris BN] und pièces fugit. 5, 237—250. Zit. GRIMM, Corresp. 6, 449, Dez. 1765. Ceux d'entre

Der Stoff ist entnommen dem Roman von F. Baculard d'ARNAUD, Fanny, ou l'heureux repentir. Höchst lehrreich ist die Selbst-Aussage dieses Autors über seine Gefühlslage (volupté de mélancolie, so pièces fugit. 5, 185/6). Darüber unten S. 325. Quérard udW. gibt seine Lebensdaten nicht; er verzeichnet nur, daß der Abbé Parmentier ancien sécrétaire de Monsieur war. P. ließ seinem Briefgedichte eine historisch-kritische Untersuchung folgen, über die unten S. 317 A. 17 berichtet wird.

250

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789 eux qui ont été sifflés au théâtre, se jettent dans la poésie héroïque, évoquent les mânes de tous les grands hommes de l'antiquité et les font jaser en vers français alexandrins.

Blankenburg/Sulzer 2,87 : 9Jîit bem getoöijnlicfyen begriff ber ^eroibe ftimrnt ber ^nïjalt biefer ©piftel garniert übereilt ; utib noci) toettiger bie ganje gbee mit bem ©jaraïter beë Saio, toeldjer Çanbeln, aber nidjt \i)Voa%tn, unb nicf)t }o bici jcfjtoatjen mu| loie i)ier. 1766

Gabriel MAILHOL (1725—-1791), Lettre en vers de Gabrielle de Vergy à la comtesse de Coucy, soeur de Raoul de Coucy. P 1766 [Paris BN] V I I -f- 51 SS., auch pièces fugit. 5, 291. Zit. Blankenburg/Sulzer 2, 87; Grimm, Corresp. 7, 62, Juni 1766. Biogr. Quérard udW., NBG.

Gegenstand des Briefes ist eine Schauergeschichte, die in die Zeit Ludwigs I X . von Frankreich verlegt ist. Gabrielle liebt Raoul, muß aber den grausamen M. de Fagel heiraten. Dieser erfährt von ihrer Liebe, setzt Gabrielle gefangen und erzwingt so den Verzicht Raouls. Aus dieser Situation ist der Brief geschrieben ; durch den pathetischen Liebesverzicht rückt der Brief in die Nähe der Briefe Héloises. Die spannende Geschichte wird dadurch zu Ende geführt, daß dem Brief eine Romanze beigegeben ist, die sich als zeitgenössisch ausgibt : Raoul folgt seinem König Ludwig I X . auf einem Kreuzzug, wobei er stirbt. Auf dem Totenbett trägt er seinem écuyer auf, sein Herz einzubalsamieren und es Gabrielle zu überbringen. Der écuyer führt das aus, wird aber, bevor er Gabrielle erreicht, von dem rachsüchtigen M. de Fagel abgefangen. Dieser gibt — mit anderem Fleisch — der Gabrielle dies Herz zu essen und sagt ihr dann, was sie aß. Sie stirbt am gebrochenen Herzen. . . QUÉRARD, La France Littéraire udW. Imbert schreibt dem Barth. Imbert folgende Dichtung zu : Gabrielle de Passy, parodie de Gabrielle de Vergy, 1777. Vgl. GRIMM, corresp. 11, 540. Diese Parodie wurde im Sept. 1777 aufgeführt: sie nahm die Tragödie Gabrielle de Vergy von P. L. Buirette de BELLOY (vgl. S. 262) aufs Korn. 1766



Nicolas Louis FRANÇOIS de Neufchateau en Lorraine (1750—1828), Lettre de Charles 1er à son fils, le prince de Galles retiré en France, Neufchateau 1766 und in poésies diverses, A.dam 1768 [Paris BN]. Zit. GRIMM, Corresp. 7, 63, Juni 1766. Quérard udW François, NBG udW François. [anonym, aber] François Jean WILLEMAIN d'Abancourt (1745—1803), Lettre de Gabrielle de Vergy à sa soeur. P 1766 [Paris, BN]. Zit. NBG udW Abancourt, Blankenburg/Sulzer 2, 86.

Der Autor, der als M. W. . . d'A*** zeichnet, berichtet im avertissement, er habe diesen Stoff im Mercure de France von 1752 gefunden : Les infortunés amours de Gabrielle de Vergy et de Raoul de Coucy.

251

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789

Das dürfte ein Hinweis auf die damals aufgeführte Tragödie gewesen sein (vgl. obenS. 250). Nun erklärt der Autor, er publiziere sein Gedicht, weil er von der Veröffentlichung eines analogen Gedichtes durch „M" (Mailhol) weiß. um 1766 Bernard Josèphe SAURIN (1706—1781), Epître d'Héloise à Abailard, imitée de Pope, in: Lettres et épîtres amoureuses d'Héloise et d'Abailard, auparacleto.J. [ P a r i s B N ] ; und in: Lettres d'Héloise et d'Abeilard, traduites librement d'après les Lettres originales Latines par le comte de BUSSY—RABUTIN, éd. M. E . MARTINEAULT, P 1841 [ P a r i s BN], 1766

— 1767

1767 1767





Claude-Josèphe DORÂT, Lettres P 1766 [ P a r i s B N ] ,

en vers, ou épîtres

héroiques

et

amoureuses,

Inhalt: Octavie à Antonius = pièces fugit. 1, 157 Héro à Léandre = pièces fugit. 1, 175 Abailard à Héloise = pièces fugit. 1, 183 Das zweite und das letzte Gedicht sind gegenüber der ersten Fassung (vgl. oben S. 243f.) stark überarbeitet. Dorat selbst versichert La réponse d'Abailard est absolument neuve. Ders., Réponse de Valcour à Zeila, précédée d'une lettre de l'auteur à une femme qu'il ne connaît pas, P 1766. J e a n François de LA HARPE (1739—1803), Servilie à Brutus après la mort de César. L a Harpe selbst teilt in der Neuausgabe seiner Oeuvres, P 1778 XI 105 mit, dies Gedicht habe den Preis der Akademie zu Marseille im J a h r 1767 erhalten. Ein Druck vor dem genannten von 1778 war bisher nicht nachzuweisen. [anonym, aber] Henry PANCKOUCKE, Don Carlos à Elisabeth, A.dam—P 1767 [Paris BN], auch in pièces fugit. 6, 113. Vgl. Quérard udW. J . F . de L a HARPE, vgl. GRIMM, corresp. 7, 307 (Mai 1767) : l'épitre qu'il vient d'adresser à M. Barthe en réponse à sa Lettre de l'abbé de Rancé vous convaincra qu'il a le talent des vers. Alexandre Frédéric Jacques MASSON de Pezay (fl777), Lettre d'Ovide à Julie, précédée d'une lettre en prose à M. Diderot, P 1767 [München S B , Paris B N ] , auch pièces fugit. 4, 117—124. Zit. GRIMM, corresp. 7, 309, Mai 1767: il n'en reste rien, absolument rien\ c'est un gazouillement sans idées . . M. d'Alembert a très-plaisamment appelé M. de Pezay le bémol de M. Dorat. Louis Sébastien MERCIER (1740—1814), Letire de Dulis à son ami, *Lo und P 1767; 2 P 1768, auch pièces fugit. 5, 267—276. Zit. Quérard udW., GRIMM, corresp. 7, 309, Mai 1767. Über den Inhalt unten S. 268.



Antoine Alexandre Henry POINSINET (1735—1768), Gabrielle d'Estrées à Henri IV, A.dam 1767 [ P a r i s B N ] , auch in pièces fugit. 8, 177. Zit. GRIMM, Corresp. 7, 3 0 9 , Mai 1 7 6 7 . I m Unterschied zu A. M. H. Blin de Sainmore, der Gabrielle d'Estrées auf dem Totenbett schreiben läßt, klagt hier die noch jugendliche Gabrielle darüber, daß Heinrich IV. sie verließ. Aber noch während sie schreibt, kommt Heinrich IV. siegreich zu ihr zurück. Hier ist der Versuch gemacht, ein Stück Handlung in den Brief herein zu ziehen, etwa nach dem Vorbild der ovidischen Deianira (9). Der Autor hatte dieses

252

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789

Gedicht schon 1760 konzipiert, arbeitete es aber nach Erscheinen des Gedichtes von A. H. M. Blin de Sainmore (oben S. 245) um. A. A. H. Poinsinet ist stolz darauf, daß Voltaire ihn seiner Freundschaft würdigte : So ordnet er sein Gedicht einer bestimmten Situation der Henriade Buch I X zu und wählt ein Distichon der Henriade als Motto. 1767

. . . de SAINT HULET, Lettre de Berneval à Julie, son amante, ou le fanatisme de l'amour, Lo 1767 [Pans BN],

Der Vater überrascht die beiden Liebenden; da der Sohn glaubt, sich gegen einen unbekannten Eindringling zur Wehr setzen zu müssen, verwundet er seinen Vater. Dieser schickt den Sohn nach La Trappe und nötigt ihn zum Liebesverzicht. Dies erste (und einzige) Werk des Autors variiert das Abailard-Motiv. 1767



Claude Josèphe DORAT, Lettre de Valcour à son -pire, pour servir de suite et de fin au roman de Zeila, précédée de l'apologie de l'Héroide en réponse d'un inconnu à M. Diderot, P 1767 [Paris BN], auch in: pièces fugit. 1, 131. Zit. GRIMM, corresp. 7, 324, Mai 1767 bespricht das Gedicht mit zorniger Ironie. Louis Robert Parfait DURUFLÉ (1743—1792), Servilie à Brutus, après la mort de César. Zit. GRIMM, Corresp. 7, 496, November 1767; vgl. Quérard udW. Im Druck war dieser Text nicht nachzuweisen; der Brief gleichen Themas, der pièces fugit. 8, 61—62 abgedruckt ist, entstammt einer gemeinsamen Publikation von J . B . de MAILLY und N. L . FRANÇOIS; vgl. unten. Nachmals (1775) dichtete

L. R. P. DURUFLÉ einen Antwortbrief des Brutus an seine Mutter Servilia (unten S. 256). — [anonym, aber] Robert Martin Le SUIRE (1737—1815), La Vestale Clodia à Titus (zwei Briefe), [o. O. o. J., aber] P 1767 [Paris BN], Zit. GRIMM, Corresp. 7, 510, Dezember 1767; vgl. Quérard udW. — Sébastien Marcellin Mathurin GAZON d'Ourxigné, Epître de Phillis à Démophoon, P 1767, auch in pièces fugit. 7, 233. 1768 ders., Pénelope à Ulysse, P 1768, auch in pièces fugit. 7, 247. 1768

[anonym, aber] J . B . de MAILLY (1744—1794) et N. L . FRANÇOIS de Neuf-

chateau (1750—1828), Canacé à Macarée, imitée d'Ovide (incipit: Peut-être de mes maux cette image tracée...) Servilie à Brutus, après la mort de César (incipit: C'en est donc fait, cruel ? Tes mains toutes sanglantes. ..), in: Poésies diverses de deux amis ou pièces fugitives, A.dam 1768, S. 24—30 und 106—116, auch in: pièces fugit. 8, 43 f. und 51 f.

Zuvor hatten L. S. MERCIER einen Brief der Canace (oben S. 2 4 5 ) und J . F . de La HARPE einen Brief der Servilia (oben S. 251) verfaßt. Servilia war die Gattin des Cassius und (aus früherer Ehe) die Mutter des Brutus. Einen Brief zum gleichen Thema weist Grimm, Corresp. 7, 4 9 6 , Nov. 1 7 6 7 , dem L. R . P . DURUFLÉ zu; vielleicht irrig? Etwa 1768 [anonym] Epître de Didon à Énée, nur: pièces fugit. 221—231. (Incipit: Les eignes du Méandre expirans sur ses bords...)

Dieses Gedicht ist eine eng sich an den Text Ovids anlehnende imitation. Ein avertissement, das die Situation der Dido ganz knapp

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789

253

bezeichnet, leitet es ein. In der Sammlung ,pièces fugit'. folgen hierauf (7, 233) die Briefe der Phyllis (2) und (7, 247) der Penelope, beide durch gleichartige avertissements eingeleitet. Der Verfasser der beiden letzteren ist S.M.M. GAZON d'Ourxigné (vgl. oben S. 119). E s liegt nahe, ihm auch den anonymen Dido-Brief zuzuweisen. Über die nicht verifizierbare Angabe F. BLANKENBURG^, ein sonst unbekannter Autor namens CERCEAU sei der Verfasser dieses Briefes, vgl. oben S. 72. 1768

Anne Pierre COUSTARD de Massi (1734—1793), Lettre de Sapho à Phaon, imitée d'Ovide, par C. de M., 1768. Zit. Barbier, dict. udW Lettre und D B F . vor 1769 ? Charles Pierre COLARDEAU ?, Lausus à Lydie, pièces fugit. 7, 149—160. — Gabriel MAILHOL, Epître du comte de Fayel, époux de Gabrielle de Vergy à Fayel, son frère, pièces fugit. 8, 31—46. 1769 [anonym] Lettre de Phryné à Xénocrate, Thèbes 1769.

Zit. Th. GAY, BOA wo — zweifellos zu Unrecht — Cl. J . DORÂT als Autor vermutet wird. Dieses Gedicht war mit den bibliographischen Mitteln der Bibliothèque Nationale nicht nachzuweisen — bedauerlich darum, weil hier das einst von Gianfr. LOREDANO angeschlagene Thema wieder aufgenommen ist (vgl. oben S. 176). Mit hoher Wahrscheinlichkeit darf folgende russische Fassung als Übersetzung oder Paraphrase des französischen Textes angesehen werden :

1769

1770

1770 1771

ÜHCBMO pHHbi KO KceHOKpaTy (Prosa), in: MoflHoe «KeMecOT. H3fl. I I 1780, 186-209. Jean Nicolas Marcellin Guérineau de ST. PÉRAVI, Zaluca à Josèphe, suivie de la nouvelle Bethzabé, et de quelques poésies réimprimés. Genf—P 1769 [Paris BN], auch in pièces fugit. 8, 209. Zit. Blankenburg/Sulzer 87. Apokrypher Tradition folgend, hat der Dichter dem Weib Potiphars den Namen Zaluca gegeben (VULG Gen 39, 7—17). Im Liebes-Verzicht Josephs klingt das Abailard-Thema fort. Claude Josèphe DORÂT, Lettres d'une chanoinesse de Lisbonne à Melcour, officier français. Den Haag—P 1770, 119 SS. [Paris BN]. Zit. GRIMM, Corresp. 9, 269, März 1771. [ . . . ] vicomte de P o u j ADE, Régulus au Sénat, héroide. Paris 1770, 7 SS. [Paris BN]. [anonym] Sainval à Rose, épître (nicht bei Barbier). Zit. DIDEROT, Corresp. 9, 3 9 7 , Dez. 1 7 7 1 .

Die beiden Liebenden haben zusammen den Brief von Héloise gelesen. Darauf deutet Rose dem verliebten Sainval an, sie werde ihm nicht widerstehen können, wenn er so schreiben und sprechen könne wie der Dichter jenes Briefes — also Pope oder Colardeau. Vgl. unten S. 269.

Nach der knappen Inhaltsangabe Diderot's zu urteilen, muß dieses Gedicht einen Angelpunkt der heroischen Briefdichtung dargestellt haben. Diderot scheint es für ernst genommen zu haben und hält es darum für abgeschmackt. Sollte nicht der (leider bisher nicht

254

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789

identifizierte23) Autor eine satirische Persiflage der heroischen Sentimentalität versucht haben ? Zum Namen Sainval: Jene Generation bildet gern fingierte Namen mit dem Bestandteil -vai-. So Valcour (Figur Cl. J. D O R A T ' S , vgl. oben S . 247), Berneval (Figur S î . H U L E T ' S , vgl. oben S . 252), Narwal (Figur F. J. W I L L E M A I N d'Abancourt's, vgl. oben S. 249), D'Orval (Figur N. J. L . GILBERT'S, vgl. unten). Endlich schuf die nachmalige Mme de Staël in einer (später nicht wieder gedruckten) Jugenddichtung die Figur eines Sinphal. Den Namen Sainval endlich verwendet DUSAUSOIR (vgl. unten S. 291) in seinen Lettres amoureuses d'Emilie et de Sainval. DUSAUSOIR (1737—1802) soll erst 1794 als Dichter debütiert haben. Wäre es denkbar, daß dieser Autor .seine' Figur Sainval schon vorher eingeführt hätte ? Allerdings macht es der Charakter seiner übrigen Gedichte unwahrscheinlich, daß DUSAUSOIR kritische Distanz gegen diese Dichtart gewonnen haben sollte. 1772

Nicolas Joseph Laurent GILBERT (1751—1780), Le début poétique, P 1772 {Paris BN]. Zit. GRIMM, corresp. 9, 322, FRÉRON, Année litt. 1772, 5, 181. Inhalt : 1 Didon à Enée 2 La marquise de Gange à sa mère 3 Le criminel. D'Orval à Mèlidor.

Alle drei Briefe sind von Sterbenden geschrieben. Vgl. unten S. 494. 1771

Barthélémy IMBERT (1747—1790), Thérèse DAN ET24 à Euphémie, Héroide, M. Imbert*. P 1771 [Paris BN], Biogr. Quérard udW.

par

Eine Parallele zum Falle Calas: Der Gatte der Briefschreiberin ist in den Verdacht geraten, seine Mutter ermordet zu haben. Er und seine Frau Thérèse Danel (diese wegen Mittäterschaft) werden zum Tode verurteilt. Das Urteil an ihm wird vollstreckt. Da Thérèse schwanger ist, wird ihre Hinrichtung aufgeschoben; sie muß aber der ihres Mannes zusehen. Der Brief, in dem sich Thérèse D. an eine Verwandte wendet, ist in der Absicht geschrieben, Aufschub und neue Untersuchung des Falles zu erwirken. Auf die ganz ähnlich liegende Affäre Calas wird in der ausführlichen Vorrede p. 9 hingewiesen. Als dieser Brief erschien, war die Angelegenheit noch in der Schwebe, d. h. Thèrèse D. durch die Hinrichtung bedroht. Erst im 2. Abdruck (1777 — vgl. unten S. 256) erfährt der Leser, daß Thérèse D. freigesprochen und ihr Mann nachträglich rehabilitiert wurde. 23

24 25

Vergeblich habe ich E. C. FRÉRON, L'année littéraire für die Jahre 1770—1773 durchgesehen — Fréron berichtet über dies Gedicht nicht. Im 2. Abdruck (1777) ist der Name berichtigt in Danel. Den hierauf bezüglichen Beitrag zur Correspondance littéraire hat DIDEROT beigesteuert: 9, 397, Dez. 1771: Ces enfans-là ont la rage de choisir des sujets terribles.

Bestandsaufnahme: Frankreich 1758—1789 1772

255

[anonym, aber] de VAUVERT, Lettre du chevalier de Séricour à son père, A.dam 1772 [Paris BN].

Voller Name und Lebensdaten dieses Autors ließen sich nicht ermitteln. GRIMM, corresp. 9, 434 und FRERON, année litt. 1772, II 276—287 verzeichnen die komplizierte Handlung: Séricour liebt Fanie, eine Türkin. Zunächst ist er selbst zum Übertritt zum Islam bereit, um die Geliebte heiraten zu können. Als dann diese dem Christentum zuneigt, ermordet sie ihr fanatischer Vater Achmed nebst ihren und Séricour's Kindern26. Diese ganze Geschichte berichtet Séricour im Brief seinem Vater: Hier hat also die Héroide als Ersatz für eine Erzählung gedient. Diese Neuerung wird von Fréron hoch gelobt, vom Baron Grimm scharf getadelt. 1772

1772

? ?

[anonym, aber] de VAUVERT, Lettre de Julie d'Etanges à son amant, à l'instant où elle va épouser Wolmar. A.dam 1772 [Paris BN], Zit. GRIMM, corresp. 9, 434. Der Stoff ist dem Höhepunkt von J . J . ROUSSEAU'S Roman La Nouvelle Héloise entnommen : Julie, hierin Héloise gleich, leistet auf ihre Liebe Verzicht. [anonym, aber] Michel de CUBIÈRES27—PALMÉZEAUX (17B2—1820), Lettre d'un solitaire de Chalcide à une dame Romaine, suivie de pièces fugitives. P 1772 [Paris BN], Zit. Fréron, année litt. 1772, VI 105. Ein Brief des Hl. Hieronymus über die Beglückungen der Askese, namentlich des Liebesverzichtes. [anonym, aber] Marie Augustin Louis de XIMENES (1726—1817), Lettre de Marie Françoise de la Baume, Duchesse de la Vallière à Louis XIV, o. O. o. J . [Paris BN], Der Name der Briefschreiberin lautet richtig: Françoise Louise de la Baume le Blanc, duchesse de la VALLIÈRE (1644 — 1 7 1 0 ) .

1772

1773

Wiederabdruck unter gleichem Titel ( = unrichtiger Namensform) : M. A. L. de XIMENES, Oeuvres, P 1772. Zit. GRIMM, corresp. 10, 125. Das Gedicht ist, bei gleichbleibender Verszahl, recht gründlich überarbeitet, vor allem in den Versanfängen. Die historische Einordnung gibt folgender Satz: Cette lettre paraît écrite le 2 Juin 1674, au moment où elle s'est rendue religieuse Carmélite ( -f- Zusatz der Neufassung) sous le nom de Soeur Louise de la Miséricorde. Adrien Michel Hyacinthe BLIN de Sainmore (1733—1807), La duchesse de La Vallière à Louis XIV., in: Héroides ou lettres en vers, 4 P 1773 [Paris BN, München SB].

Mit diesem Briefgedicht trat A . M. H . BLIN in Wettbewerb zu dem vorerst anonym veröffentlichten Brief des Marquis XIMENEZ (vgl. 26

27

Das war, wiewohl Fiktion, dennoch hochaktuell: Der fanatische Türke vollzieht eben das, dessen man Jean Calas für fähig gehalten hatte. Er bringt sein Kind um, ehe es den befürchteten Glaubenswechsel vollzieht, vgl. unten S. 261 und 491. Nachmals (seit 1775) zog dieser Autor es vor, sich PALMÉZEAUX ZU nennen. Denn P. A. RIVAROL, gestützt auf Catull c. 36, hatte folgendes Rätselgedicht verfaßt, dessen Lösung Cubières ergibt: Avant qu'en mon dernier le tout se laisse choir ses vers à mon premier serviront de mouchoir.

256

Bestandsaufnahme : Frankreich 1758—1789

oben S. 255), der die Herzogin von La Vallière beim Eintritt ins Kloster an Ludwig X I V . schreiben ließ. Vgl. auch oben S. 193. 1775

Louis Robert Parfait DURUFLÉ (1742—1793), Brutus à Servilie, après la mort de César, P 1775 [Paris BN],

Dies ist die Antwort auf den acht Jahre zuvor verfaßten Brief (vgl. oben S. 252) der Servilia an Brutus. Dieser Brief des Brutus enthält die .klassische' Motivierung des Tyrannenmordes. Sein Motto lautet : Peuple Roi, commandez. Dieser Brief bietet lehrreiche Illustration, wieweit die französische Revolution geistig schon vorbereitet war. 1775

[Pseudonym] PONTEUIL, richtig: TRIBOULET28, Lettre d'Henriette de Verville à Seligny, ' ( w o ! ) 1775, 2(benutzt) Lille 1777 [Paris BN],

Dies Gedicht ist angeregt durch M. LEONARD, La nouvelle Clémentine. Das Thema ist erzwungener Liebesverzicht: Die grausame Mutter Henriettes verhindert die Heirat der Liebenden. Sie läßt Henriette in eine gefängnisartige Zwangs-Anstalt bringen, wo Henriette vor ihrem kläglichen Tod diesen Brief schreibt. 1777

1777

Barthélémy IMBERT (1747—1790), Oeuvres, Den Haag 1777 [Paris BN], Darin : 81 Thérèse Danel à Euphémie, Héroide*9 97 Lettre du poète Simonidès sur la mort de son ami30. Laurent François DUPOIRIER, Le Czar Pierre Alexiovich au Czare'vich Alexei, in: Essais de poésies, P 1777 [Paris BN], zit. Fréron, année litt. 1771, 4, 322. Biogr. Quérard udW (keine Daten).

Diese Héroide enthält das Lob der aufgeklärten Monarchie: Peter der Große macht seinem Sohn bittere Vorwürfe, er lasse tyrannischer Selbstherrlichkeit die Zügel schießen und vernichte damit sein, des Vaters, Werk zum Schaden des Volkes. Der Sohn ist als tyrannischer Autokrat geschildert; Peter d. Gr. stellt sich selbst als einen milden Vater des Vaterlandes dar, dessen weise Staatslenkung nur auf das Wohl des Volkes zielt. Diesem gab er Gesetze, an die sich auch der Herrscher bindet. Darum hat er ein Recht, jeden, auch den eigenen Sohn (Brutus!) zu bestrafen, der sich dem Wohl der Allgemeinheit widersetzt. Hier spiegelt sich ein Stück damaliger Publizistik wider, die um das Problem des idealen Monarchen und des Gemeinwohls — Quérard und die anderen biograph. Hilfsmittel geben keine Auskunft über die Lebensdaten von Ponteuil-Triboulet. Nach Barbier, dict. anon. war Triboulet Schauspieler. 29 Der Text ist der gleiche wie in der Flugblatt-Ausgabe von 1771; aber es ist ein neues Vorwort beigefügt, das von der Wiederherstellung der Gerechtigkeit berichtet. 80 Imbert vermerkt über das Vorbild, dem er folgte : je lisois dans la traduction de M. HUBER une espèce d'Héroide de M. BUSCH —, womit aber J. J. Dusch gemeint ist, dessen moralische Briefe zur Erziehung des Herzens, Lpz 1759, sich B. Imbert zum Vorbild genommen hat.

28

Bestandsaufnahme: Frankreich 1768—1789

257

salut public — kreiste. Schwer verständlich ist nur, warum Peter der Große als Exempel für landesväterliche Milde ausgewählt wurde. 1778

Jean François de La HARPE (1739—1803), Oeuvres, 6 voll., P 1778 [Lille ÜB], Darin I I 96—112 eine Abteilung Héroides. I n einer theoretischen Einführung (95—104) motiviert es La Harpe, warum er vier seiner bisherigen heroischen Briefdichtungen eliminiert hat 3 1 ; er findet sie nun zu monologisch. Dann wendet sich La Harpe scharf gegen Colardeau, der La Harpe's Kritik an seiner Version zurückgewiesen hatte. Zum Schluß lehnt La H a r p e generell alle weitere HeroidenDichtung ab. Dennoch teilt er zwei seiner heroischen Briefe erneut mit (unter Angabe des Erscheinungsjahres) 1 0 2 — 1 0 4 Annibal

1781

à Flaminius

(1760);

105—112 Servilie à Brutus après la mort de César, pièce qui a remporté le prix de poésie à l'Académie de Marseille en 1767. Louis Jean Baptiste Simonnet de MAISONNEUVE (1750—1819), Héroide ou Lettre d'Adelaide de Lussan au comte de Comminges, par M. de Maisonneuve. P 1781 [Paris BN].

Das Gedicht steht nicht in Oeuvres, ed. M. E. Chéron, 1825. Der Dichter setzt den Roman Les amants malheureux ou mémoires du comte de Comminges der Mme de Tencin als bekannt voraus32. Anders als Dorat (vgl. S. 247) hat er als Situation des Briefes den Augenblick gewählt, da Adelaide als Nonne in die Kartause von La Trappe eingetreten ist. Nun unternimmt sie es, an ihren Geliebten, der Mönch von La Trappe ist, zu schreiben. Die auffällige Analogie zum Schicksal Abailards und Heloises ist offenbar beabsichtigt. 1782 1783 1786 1788

31

32

Abbé de L'Espinasse de LANGEAC (1748, oder 1760—1838), Colomb dans les fers à Ferdinand et Isabelle, LO—P 1782 [Paris BN]. I. M. Laurent de LA GRAVIÈRE, Discours de la femme d'Attilius Régulus et réponse, o. O.1783. Zit. Quérard udW. Jean Louis LAYA (1761—1833), Les derniers moments de la présidente de Tourvel. Lettre de Bidon à Enée, i n : Essais de deux amis, P—Lo 1786 [Paris BN]. Pierre Victor Jean BERTHRE de Bourniseaux (1769—?), Dom Pèdre à Inès de Castro, héroide, Madrid — P 1788, 16. SS. Cette héroide, composée par l'auteur à l'âge de 18 ans fut son titre d'admission parmi les Membres du Musée de Paris (Quérard, la France Littéraire udW).

Vgl. a. O. 95 : L'auteur, qui, pour payer le tribut à la mode, en avait fait plusieurs dans sa première jeunesse, telles que Montezuma à Cortès Caton à César Elisabeth à Dom Carlos Socrate à ses amis les a retranchées de ce Recueil. . . Das Vorwort hebt an : Presque tous les gens de Lettres et les amateurs ont lu les mémoires du comte de Comminges, et le drame intéressant que M. d'Arnaud a composé d'après ces mémoires. F ü r die bibliographischen Nachweisungen vgl. oben S. 247.

17 Heroische Briefdichtung

VIII. Die Thematik der Hèroide Die Auswahl der Themen vollzieht sich nach denselben Gesetzen, wie sie in der heroischen Brief-Dichtung außerhalb Frankreichs vor diesem Zeitraum zu beobachten waren. Fünf Jahre lang herrschen klassische Stoffe vor. Zu diesen klassischen Stoffen gehört vor allem die Geschichte von Abailard und Héloise, die wieder und wieder variiert wird1. Sehr breiten Raum nimmt die Neu-Behandlung ovidischer Stoffe ein; in den Jahren 1759—1764 herrschen diese vor2. Nur in verhältnismäßig geringer Zahl treten daneben Stoffe aus der römischen Geschichte. Cl. J. Dorat nimmt das Thema Octavia—Marc Anton wieder auf3; M. A. L. Ximenez läßt Caesar an den Senat zu Rom schreiben, da er den Rubicon überschreitet, eine Dichtung, die sich an Lucan inspiriert hat ; La Harpe endlich läßt Cato von Utica an Caesar schreiben — ein sujet, das sich der Abbé Parmentier später gleichfalls wählte — und er läßt Hannibal einen Brief an Flaminius schreiben. L. S. Mercier, an Loredano's Scherzi geniali angelehnt, läßt den sterbenden Seneca an einen tyrannischen Nero schreiben. Daneben stehen ganz wenige Briefe, die als Zweitvollzug moderner Literatur angesehen werden müssen : S. R. N. de Chamfort hat seinen Brief der Calypso an Telemach aus dem Télêmaque Fénelons geschöpft; der Brief der Hecuba an Pyrrhus ( = Neoptolemos) weist auf Racines Andromaque zurück (Verfasser: L. S. Mercier, 1760), und was A. M. H. Blin de Sainmore die sterbende Gabrielle d'Estrées an Heinrich IV. schreiben läßt, ist aus dem Stoffkreis der Henriade Voltaires gewählt, dem das Gedicht gewidmet ist. Vorerst — das heißt in den fünf Jahren 1759—1764 — greift man nur zögernd über den Stoffkreis hinaus, der durch klassische Geschichte und durch hohe Literatur umschrieben ist. Ein vorerst unmerkliches Ausbrechen aus diesem Kreise stellt Cl. J. Dorat's Brief der Julia an Ovid dar4. An und für sich ist nichts besser begründet, als einen heroischen Brief an Ovid gerichtet sein zu lassen — an Ovid, dessen heroische Briefe man mit solchem Eifer imitiert. Aber dieser 1 2 3 4

Zusammenfassende Liste aller Abailard-Dichtungen unten S. 517. Hierzu eine zusammenfassende Liste oben S. 118 f. Vgl. unten S. 525. Vgl. S. 526.

Die Thematik der Héroide

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Brief der Kaisertochter Julia (zu welchem nachmals ein Antwortbrief erscheint) ist tatsächlich eng angelehnt an den Briefroman der Mme. de LEZAY-Marnésia, der 1753 anonym erschien5. Gewiß, die 43 ProsaBriefe der Julia an Ovid, die er enthält, möchten als echt genommen werden (sie leiten sich von einem Handschriftenfund in einer Ruine zu Herculaneum her). Wer diesen Stoff aufgreift, darf sich durch diese Fund-Legende für legitimiert halten, er habe es mit authentischen Briefen zu tun. Mit viel größerer Entschiedenheit hat La Harpe den Kreis der klassischen Geschichte verlassen: Er läßt Montezuma, den letzten König der Azteken, an Cortes schreiben6, und er verwendet als erster7 die Liebesbindung des Don Carlos an seine Stiefmutter als ein dichterisches sujet — dies auf der Basis der nouvelle historique von Saint Réal8. Hier zum ersten Male sind — ohne Beschönigung — Stoffe aus Überlieferungen geschöpft, die nicht zu den klassischen gehören. Von 1764 an wendet sich der Geschmack mehr und mehr solchen Stoffen zu, die Aktualität besaßen; klassische Stoffe in der Art der bisher gewählten treten spürbar zurück. Wieder war es Cl. J. Dorat, der diese Wendung einleitete. Die Aktualität konnte in drei Richtungen gesucht werden: a) Man konnte Skandalfälle der jüngsten Gegenwart — darunter gern vor Gericht verhandelte Fälle — zum Gegenstand nehmen, b) Man konnte Situationen aus erfolgreichen Romanen oder Dramen zum sujet heroischer Briefe wählen. Im einen Fall hatte man den Vorteil, dokumentarisch bezeugte Wahrheit9 dichterisch gestalten zu können. Im anderen Falle (b) konnte man aus einem Ablauf, der dem Publikum bekannt war, diejenige Situation herausgreifen, die am stärksten rühren mußte. In beiden Fällen kam es darauf an, den sentimentalischen Gehalt — ihn verstand man als die dichterische Wahrheit — so stark wie möglich herauszuarbeiten. c) Gleich welche Wahl man traf, der Stoff mußte der .sentimentalischen Aktualität' entsprechen. Nun gilt es, diesen Punkt genau zu bezeichnen : Es ist der Verzicht auf körperliche Erfüllung der Liebe — bei Weiterbestehen eines ins Geistige sublimierten Liebesbundes. Es ist dies recht eigentlich das Gesetz, nach dem sich dieser Aspekt 5

Vgl. S. 243 A. 9. La Harpe teilt nicht mit, und ich habe nicht herausgefunden, aus welchem historischen Bericht er seine Information entnahm. 7 Eine Antwort auf diesen Brief verfaßte H . P A N C K O U C K E : Don Carlos à Elisabeth, 1 7 6 7 . 8 C . V . de S A I N T - R É A L , Don Carlos, nouvelle historique, hrsg. von André L E B O I S , Avignon 1965. 8 Vgl. Ch. P. Colardeau, Avertissement précédant Armide à Renaud . . . s'appuyant sur des faits historiques ou sur une fiction reçue, elle ( = l'héroide) a nécessairement plus de chaleur et plus d'intérêt. 8

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der heroischen Briefdichtung bestimmt: Sie kommt von dem Popeschen Eloisa-Brief her. Und in häufiger Variation des dort vorherrschenden Grund-Themas hat man wieder und wieder versucht, dem Motiv des Liebes-Verzichtes neue Wirkungen abzugewinnen. Gern sind Klöster der Schauplatz solcher Dichtungen, in welche der Held, oder die Heldin, oder beide sich zurückgezogen haben. Aber das Thema wird ebenso in die modernste Gegenwart verfolgt: Was mochte der ,Hermaphrodit' Grandjean seiner Frau bei der Annullierung der nie vollzogenen Ehe zu sagen haben? Ein heroischer Brief antwortete darauf. In viel weiteren Zusammenhängen hat Hellmuth PETRICONI dieses Motiv untersucht: Der Verzicht auf Liebe, Romanistisches Jahrbuch 16, 1965, 115—127. Er geht aus von J. R A C I N E , Bérénice 1 5 0 0 Je l'aime, je le fuis: Titus m'aime, il me quitte (für derart paradoxale Haltung eines Liebenden wäre nun freilich auf das catullische odi et amo zu verweisen!); hiernach verfolgt H.Petriconi das Motiv am Roman der comtesse de La FAYETTE, La princesse de Clèves, und schließt mit einem Ausblick auf Romane Th. FONTANE'S. Vermutlich war das Thema .Liebes-Verzicht' so vielschichtig, daß es sich von drei oder vier literarischen Ausprägungen aus nicht erschließen läßt. Auf jeden Fall sind aus der heroischen Briefdichtung reiche Beiträge dazu zu gewinnen, die a. O. vernachlässigt sind.

a) Skandalfälle der jüngsten Vergangenheit Hier eröffnet Cl. J . Dorat den Reigen : Er nahm die Geschichte von Yarico und Mr. Inkle zum Gegenstand, bringt aber eine Reihe von unwahrscheinlichen Verschönerungen an. Das Paar wird zunächst umbenannt in Zeila und Valcour — und da letzterer französischer Offizier ist, kann er gar nicht so schuftig handeln, wie Mr. Inkle es leider tat 10 . Die dokumentarisch bezeugte Wahrheit wird also durchaus verlassen. In diesem Falle galt es Handlung darzustellen, nämlich die Umkehr des zunächst ehrvergessenen Valcour. Dazu reichte ein Briefpaar nicht aus; ein drittes Stück mußte darstellen, wie Valcour seinen späten, aber hochherzigen Entschluß ausführt. So ergaben sich drei Briefe: Lettre de Zeila, jeune sauvage, esclave à Constantinople, à Valcour, officier françois, 1764, Réponse de Valcour à Zeila, 1766, Lettre de Valcour à son père, pour servir de suite et de fin au roman de Zeila, 1767. Wie schon in der heroischen Briefdichtung der Italiener, so reizte es auch hier die Zeitgenossen, .mitzuspielen' — so erschien unmittelbar nach Erscheinen des ersten dieser drei Briefe eine antwortende Dich10

Im avertissement motiviert D. die Namensänderung und vor allem die Verschönerung im Charakterlichen ausdrücklich — mit klarem Hinweis auf die moralische Inferiorität dieses Engländers. Im gleichen Sinne hat J . H . H O E U F F T nachmals (vgl. S.276f.) die Geschichte zu scharfer Invektive gegen das perfide Albion ausgewertet.

Skandalfälle der jüngsten Vergangenheit

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tung: Réponse de Valcourt à Zeila von N. E. FRAMERY. Wahrscheinlich ließ Cl. J. Dorat darum über zwei Jahre verstreichen, ehe er diese Folge, nachmals als Roman bezeichnet, fortsetzte — so durfte er sicher sein, daß das recht schwache Antwort-Gedicht sich beim Publikum .abgenutzt' hatte. Hierbei handelte es sich immerhin noch um einen Skandalfall, der so ins Abenteuerliche hinein gesteigert war11, daß der Bezug zur Wirklichkeit gänzlich verlorenging. Anders stand es mit damals berühmten, vor Gericht verhandelten Fällen, wo es darum ging, die in Akten und in Plaidoyers festgehaltenen Fakten und Argumente ins Sentimentalische zu erhöhen. Der erste dieser Fälle war der Justizirrtum im Falle des Jean Calas. Dieser rief drei heroische Briefdichtungen hervor, die erste bereits 1764. L. S. MERCIER läßt darin den verurteilten Calas, kurz ehe die Strafe des Gerädert-Werdens an ihm vollzogen wird, eine Rede an seine Richter halten. Die beiden anderen sind .echte' heroische Briefe : A. M. H. Blin de Sainmore läßt Calas einen Abschiedsbrief an Frau und Kinder schreiben (1765). Im avertissement nennt er offen die Quelle für seine schönsten concetti: C'est ici le lieu d'avouer que je dois les -plus beaux endroits de mon ouvrage aux plaidoyers des avocats. Das dritte Stück hierzu, vermutlich von P. J. B. NOUGARET verfaßt, ist ein .Brief aus dem Jenseits' (vgl. unten S. 4 9 1 ) : Der verstorbene Sohn des J. Calas reinigt seinen Vater von dem Verdacht des Mordes, indem er aus dem Jenseits an die Seinen schreibt. Damit kommt eine Person zu Wort, die einerseits das Rätsel gültig lösen kann, und die andererseits in Vernehmungen nicht hatte gehört werden können. Der Autor gewinnt damit die Möglichkeit, über das Bekannte hinaus neue Wendungen und Feinheiten beitragen zu können. Von den eben genannten Dichtungen ist nur die erste (L. S. MERCIER, 1764) zu einer Zeit veröffentlicht, als das Urteil gegen J. Calas und seine Familie noch Rechtskraft hatte. Damals erforderte es Mut, mit einer solchen Dichtung Voltaires Bemühung, dieses Urteil umzustoßen, zu unterstützen. Die beiden anderen Gedichte traten an die Öffentlichkeit, als das Wieder-Aufnahme-Verfahren schon im Gang war oder gar zugunsten der Familie Calas abgeschlossen war (1765). Sechs Jahre später ereignete sich im Norden Frankreichs ein bestürzender Parallelfall zu dem Justiz-Irrtum von Toulouse : Das Ehepaar Danel geriet in den Verdacht, die Mutter des Mannes durch Gift 11

Dem Leser werden viele Unwahrscheinlichkeiten zugemutet: Ein Indianermädchen wird an den Hof des Sultans verschlagen ; der plötzlich edelmütig gewordene Retter versucht eine Entführung aus dem Serail, die aber mißlingt. Der noch viel großmütigere Sultan schenkt ihm seine Sklavin, obwohl der Sultan sie gerade eben zu seiner Geliebten machen wollte. Und dann kehrt das Paar nach Frankreich heim und erbittet den Segen der Eltern. Vor allem ist die Gestalt Valcours vom schuftigen Verführer zum edlen Retter gewandelt.

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getötet zu haben. Beide wurden zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung an dem Manne wurde, gleichfalls durch das Rad, vollstreckt, die der jungen Frau Thérèse D. wurde aufgeschoben, weil sie schwanger war. Bei diesem Stande der Dinge erschien, offenbar eilig12 gearbeitet, ein heroischer Brief von B. IMBERT, Thérèse Danet à Euphémie, héroide (1771). Die 2. Aufl. von 1777 unterrichtet den Leser durch ein neues Vorwort, daß der Prozeß neu aufgerollt und nun wenigstens zugunsten der Thérèse Danel entschieden wurde. Alles in allem liegt hier — sowohl in der Rechtslage wie in der dichterischen Behandlung — eine bis in die Einzelheiten gehende Analogie zum Falle Calas vor. b) Situationen aus aktuellen Romanen oder Dramen Den Schritt, zum Thema heroischer Briefe nicht Situationen aus hoher, sondern aus aktueller Literatur zu wählen, hatte man zuvor in Italien und in Deutschland getan : Zu erinnern ist an die Briefdichtung P. M I C H I E L E ' S , der eine Gipfel-Situation aus dem Roman La Dianea von Gianfr. LOREDANO auswählte (vgl. S. 176), und an Regina Maria PFiTZERin, die sich den Arsinoe-Roman von TALANDER ( = Bohse) zum Vorwurf nahm. Wenn nun französische Briefdichtung mit unverkennbarer Vorliebe auf derlei Stoffe rekurriert, so ist daraus keine genetische Verbindungslinie zu erschließen. In allen Fällen ging es darum, Situationen zu vollziehen, die einem möglichst weiten Lesepublikum wohl vertraut sein sollten. Solche Vertrautheit durfte dann erwartet werden, wenn man auf ein vielgelesenes, jetzt eben en vogue befindliches Werk zurückgriff. Dabei kam wenig darauf an, ob es sich um ein Drama oder einen Roman handelte — die Hauptsache war, daß der Stoff an sentiment und an passion appellierte. Den ersten Schritt in diese Richtung tat CI. J. DORAT, der sich in seiner Lettre de Barneveit, dans sa prison, à Truman(t), son ami (1764) an ein englisches Erfolgsstück anschloß. Über die gleichartige Lettre du comte de Comminges à sa mère (1764) wird unten S. 266 zu handeln sein. Diesem Beispiel folgt J. P. COSTARD : Seine Lettre de Lord Vilford à milord Dirton, son oncle (1765) nimmt sich den Roman Fanny, ou l'heureux repentir von F. Baculard d ' A R N A U D zum Vorbild. Mehrere heroische Briefe kreisen um die schreckliche Geschichte der Gabrielle de Vergy, nachmals Heldin einer Tragödie von Pierre Laurent Buirette de B E L L O Y (1727—1775), gedruckt 1770, erfolglos 12

Kennzeichnend für die Eile dieser Publikation ist der Umstand, daß B. Imbert den Namen der in Not geratenen Frau ungenau mitteilt (Danet); richtig in der 2. Aufl.: Danel.

Situationen aus aktuellen Romanen oder Dramen

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aufgeführt 1 7 7 7 . F . J . W I L L E M A I N d'Abancourt, der nach G . M A I L H O L (beide 1766) einen Brief hierzu veröffentlichte, verweist ausdrücklich auf einen Bericht im Mercure de France von 1752, der unter dem Titel Les infortunés amours de Gabrielle de Vergy et de Raoul de Coucy die historia calamitatum des unseligen Liebespaares bot13. Diese Berufung auf den .authentischen' Bericht im Mercure de France ist gewiß gegen G. M A I L H O L gerichtet. Denn dieser hatte sich eine eigene Dokumentation geschaffen, indem er seinem Brief, der eine notvolle Situation aus dem Anfang der verwickelten Handlung nachvollzieht, eine ,Romanze' beigab, die — angeblich von einem Troubadour des 13. Jahrh. stammend — die ganze traurige Geschichte berichtet. Der Erfolg dieser Briefe und der Widerhall, den der Bericht im Mercure de France erweckt hatte, ließen es als aussichtsreich erscheinen, die nachgelassene Tragödie des P. L . B. de B E L L O Y 1 7 7 7 auf die Bühne zu bringen. Freilich muß sie so abgeschmackt gewesen sein, daß es noch im gleichen Jahre 1777 lohnend erschien, eine Parodie aus der Feder von Bart. I M B E R T aufzuführen14. Wohl um den Erfolg wettzumachen, den F. J. W I L L E M A I N d'Abancourt hatte, ließ G. M A I L H O L einen Brief des eifersüchtigen comte de Fagel an seinen Bruder erscheinen (vor 1 7 6 9 ) 1 5 , womit scheinbar die andere Seite zu Wort kommt, in Wahrheit der niedrige Verbrecher entlarvt wird. Das Briefpaar Elisabeth de France à Don Carlos (von J. F. de La H A R P E , 1 7 5 9 ) und Don Carlos à Elisabeth (von Henry P A N C K O U C K E , 1767) scheint der .Großen' Geschichte entnommen zu sein, basiert aber tatsächlich auf der nouvelle historique von St. R E A L ( 1 6 7 2 ) . Ähnlich steht es mit den korrespondierenden Gedichten Julie, fille d'Auguste, à Ovide (von Cl. J. DORÂT, 1759) und Lettre d'Ovide à Julie (von A. F. J. M A S S O N de Pezay, 1 7 6 7 ) — auch diese sind nur scheinbar der Lebensgeschichte Ovids, in Wahrheit dem Briefroman der Charlotte Antoinette de Bressay, marquise de LEZAY-Marnésia ( 1 7 5 3 ) entnommen. Hinter der Zuneigung zweier Dichter zur Liebesgeschichte der Gabrielle d'Estrées steht keineswegs nur historisches Interesse, sondern die Bewunderung, ja die Schwärmerei für die Henriade VOLTAIRES: A. M. H . B L I N de Sainmore widmet seinen Brief ( 1 7 6 1 ) V O L T A I R E , der mit schön gedrechseltem Epigramm dankt16. A . A . H . P O I N S I N E T stellt seinem Brief ( 1 7 6 7 ) ein Distichon aus der Henriade als Motto voran und gestaltet in seinem Brief eine ganz bestimmte Situation der Henriade. 13

Selbst das Thyestes-Motiv wird hervorgeholt: Der Ruchlose läßt die unschuldige und nichts ahnende Gabrielle Raouls, des Geliebten, Herz essen. Das ihre bricht, als sie erfährt, was sie aß.

14

Grimm, corresp. 11, 4 5 0 und Quérard udW. Barth. IMBERT.

16

Einziger Textzeuge : Kèces fugit. 8, 3 1 — 4 6 .

16

GRIMM, corresp. V 1 9 / 2 0 .

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Die Thematik der Héroide

Schon 1 7 7 2 gestaltet de VAUVERT eine der Höhepunkt-Situationen der Nouvelle Héloise von J. J. ROUSSEAU im heroischen Brief : Lettre de Julie d'Etanges à son amant, à l'instant où elle va épouser Wolmar. 1 7 7 6 legte de MURVILLE einen analogen Versuch vor. Die Katastrophe im Roman La nouvelle Clémentine von M. LÉONARD ist im Abschiedsbrief Lettre d'Henriette de Verville à Seligny (von PONTEUIL = Triboulet, 1 7 7 5 ) nachgebildet. Und noch der letzte Vertreter der Gattung, DUSAUSOIR, gestaltet eine der lettres d'une Péruvienne (nämlich die 6.) der Françoise de GRAFIGNY ( 1 7 6 1 ) zu einem Briefgedicht um. c) Das Motiv des Liebesverzichtes Das sentimentalische Jahrhundert ist auf der Suche nach der durch keine Fleischlichkeit beschmutzten Liebe. Es ist hier nicht der Ort, die Wurzeln dieser Vorliebe aufzudecken — sie dürften ebenso bei der gegenreformatorischen Moral, welche die Josephs-Ehe empfahl, wie im puritanischen England liegen. Kurz nacheinander wurden Abailards Briefe und die Briefe der portugiesischen Nonne Mariana Alcoforado bekannt (letztere 1 6 6 9 ) . Die große Zahl der Nachdrucke und der Erweiterungen läßt erkennen, welchem Interesse diese glücklich/unglücklichen Geschichten begegneten. In beiden Geschichten, die man als Briefromane las, wird die Nicht-Erfüllung der Liebe in ihrem körperlichen Bereich mehr als kompensiert durch die Erfüllung der Liebe in geistiger Freundschaft. Die Briefe der Mariana Alcoforado erfuhren zwei Erweiterungen ; von diesen kann die zweite, die der Geschichte ein recht plumpes hapfy end anheftet, außer Betracht bleiben. Aber die erste Umformung ist darum bezeichnend, weil hier nicht die Enttäuschung der verlassenen Mariana Alcoforado, sondern die Dauer der beiderseitigen Seelen-Verbindung — über die trennenden Pyrenäen hinweg — zur Hauptsache gemacht wird. Die erste Fassung in Versen (auf englisch) trägt den bezeichnenden Titel: Love without affectation1. Die contradictio, in diesem Titel paradoxal ausgedrückt, weist daxauf hin, was das Lese-Publikum in London schon um 1709 wünschte: Jene Sublimierung des LiebesErlebens, das sich in schönen Gefühlen ausdrückt, aber nicht auf Erfüllung drängt. Liebe kann nur solange ein Gegenstand der Poesie sein, als sie von der Prosa der Erfüllung unberührt ist. Damit wird Liebe — in solcher Verklärung — zu einem hervorragenden Gegenstand heroischer Briefdichtung. Diese meidet ohnehin 1

Vollst. Xitel : L O V E without A F F E C T A T I O N , I N Five L E T T E R S from a Portuguese Nun to a French Cavalier. Done into English Verse, from the newest Edition lately printed at Paris, Lo 1709.

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alles Prosaische; man darf sie diejenige Dichtform nennen, die am meisten von der Prosa abgekehrt ist. Folgerichtig kehrt sie sich, so sehr es nur möglich ist, vom prosaischen Verlauf der Liebes-Dinge ab; sie kultiviert stattdessen die dichterische Erhöhung der geistigen Bindung — der Seelen-Freundschaft, die durch keine äußeren Widrigkeiten gestört wird. Im Grunde ist nie wieder ein sujet gefunden worden, in dem sich dies so vollkommen ausdrücken ließ wie in der Geschichte von Abailard und Heloise. Daher die hohe Zahl von Nach- und Neu-Dichtungen, die dieser Stoff erfahren hat2. Daher konnte J. J. Rousseau keinen wirksameren Titel für seinen Roman der Julie d'Etanges3 finden als La Nouvelle Heloise. Sie ist eine moderne Heloise, denn sie zieht sich nicht in ein Kloster zurück, sondern findet und erfüllt an der Seite Wolmar's eine philanthropische Aufgabe. Sie bewährt sich also nicht im Sinne des früheren monastischen, sondern im Sinne des Rousseauschen Menschheits-Ideals. Aber als Seelenfreundin hält sie St. Preux eine Treue, die sich mehr und mehr läutert. Rousseau hat damit eine Heloise gestaltet, die in ihrer Wendung auf philanthropische LebensErfüllung Rousseau's modernen Idealen entspricht; aber in der Gestaltung der sentimentalischen Seelenfreundschaft — die Wolmar ebenso einschließt wie St. Preux und Julie — ist Rousseau auf das stärkste jener Strömung verpflichtet, die auf poetische Verklärung eines reinen Liebes-Bundes gerichtet war. Nun wird die Intensität dieser Strömung an einer ganzen Reihe von heroischen Briefgedichten sichtbar. Es sollen im folgenden alle diejenigen hervorgehoben werden, in denen dieses Motiv von der sublimierten Liebe dominiert. Kaum vernehmlich klingt dieses Thema an in J.Fr.deLaHarpe's Brief Elisabeth de France ä Don Carlos. Wie unten S. 318f. gezeigt werden soll, gingen LaHarpe's literarische Bestrebungen, was die heroische Briefdichtung anlangt, mit der allgemeinen Richtung nicht konform; so hat er das Motiv des Liebesverzichts, das hier hätte verfolgt werden können, nicht in die Mitte gestellt: Elisabeth schreibt an Don Carlos, als dieser schon vom Tode bedroht ist; es ist ein Klagebrief der Elisabeth, in dem das Motiv la gloire est de se vaincre nur am Rand anklingt. 2

8

Vgl. unten S. 517 ff., wo das vollständige Verzeichnis aller Nachdichtungen zum Abailard/Heloisa-Stoff gegeben wird. Dieser Roman, 1760 erschienen, fand folgende Nachklänge in heroischer Briefdichtung : De VAUVERT, Lettre de Julie d'Etanges à son amant, à l'instant où elle va épouser Wolmar, P1772 (vgl. oben S. 255, 264). Ein mir nicht zugängliches, anonymes Gedicht Julia to St. Preux, Lo 1786, ist vielleicht Übersetzung des vorigen.

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Die Thematik der Héroide

Mit gewohnter Zielstrebigkeit hat Cl. J. Dorat im Jahre 1764 das Abailard-Motiv — sozusagen mit veränderten Dekorationen — in den Mittelpunkt gestellt. Der Stoff ist dem Roman der Mme. deTencin 4 Les amans malheureux ou les mémoires du Comte de Comminges (1737) entnommen: Die Häuser Comminges und Lussan sind verfeindet. Aber der junge Comte de Comminges lernt Adelaide de Lussan kennen — da beide incognito reisen, erfahren die Eltern früher als das Paar selbst die Wahrheit. Der ergrimmte Comte de Lussan schließt seine Tochter in einen Turm ein, bis sie den häßlichen Marquis de Benaridès heiratet. Bei diesem nun tritt der Comte de Comminges als Maler in den Dienst, um Adelaide zu portraitieren. Der Entdeckung dieser List folgt ein Duell, dem Benaridès lebend entrinnt ; um sich an dem Comte de Comminges zu rächen, vergiftet er Adelaide (das Gift führt aber nur einen Scheintod herbei). Die beiden Liebenden halten einander für tot. Ohne voneinander zu wissen, treten beide in das Kloster La Trappe ein, wo Adelaide ihren Geliebten bei der Messe wiedererkennt. Diese abwechslungsreiche Handlung hat bei den Zeitgenossen der Mme. de Tencin Beifall und Bewunderung gefunden. F. T. M. Baculard d'Arnaud 5 machte daraus ein Drama in drei Akten, das 1765 gedruckt erschien. Cl. J. Dorat wählte aus diesem Stoff den Augenblick, da der Comte de Comminges seine Geliebte verloren wähnt. Er begründet nun in einem Brief an seine Mutter den Entschluß, in das Kloster La Trappe zu gehen (1764). Im Jahre 1781 griff Louis Jean Baptiste Simonnet de Maisonneuve auf diesen ergiebigen Stoff zurück. Hier schreibt Adelaide de Lussan, als auch sie ins Kloster eingetreten ist, an den Comte de Comminges. Sie schreibt, wie Heloise schreiben müßte — in diesem Brief ist die Parallelität zur Situation der Heloise stark herausgearbeitet. Der Brief Cl. J. Dorat's (von 1764) rief ein analoges Gedicht von N. Th. Barthe hervor: Lettre de l'abbé de Rancé à un ami, écrite dans son abbaye de la Traffe, P 1765. Dieser Brief hat die Bekehrungsgeschichte des Armand Jean Le Bouthillier de Rancé (1626—1700) zum Gegenstand — ein geschichtliches Faktum also. Mehrfach war darauf hinzuweisen, wie sehr die heroische Briefdichtung nach historischer Dokumentation strebt. Hier war nun eine historisch beglaubigte Situation gegeben, welche den gleichen emotionalen ,Gehalt' enthielt wie die von Cl. J. Dorat behandelte Situation aus dem Roman Les amans malheureux : A. J. Le Bouthillier de Rancé konvertierte 4 6

Sie war die Mutter d'Alembert's. Uber diesen erfolgreichen Autor Dirk INKLAAR, François-Thomas Baculard d'Arnaud, ses imitateurs en Hollande et dans d'autres pays, diss. phil. Groningen 1925, bes. 64ff. und 150 ff.

Das Motiv des Liebesverzichtes

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1657 zu radikaler monastischer Lebensform. Seine Geliebte, Mme de Montbazon, war unerwartet an den Pocken gestorben; der nichts ahnend von einer Reise zurückkehrende Le Bouthillier stößt auf ihren furchtbar verstümmelten Leichnam. Diese Erschütterung führte ihn zu dem Entschluß, in La Trappe einzutreten; nachmals hat er den Karthäuser-Orden zu seiner alten Strenge zurückgeführt 6 . Diese historisch gesicherten Fakten, von N. Th. Barthe in Rivalität zu Dorat's Dichtung behandelt, bieten ein geradezu vorbildliches Fundament für den heroischen Brief, der den Umschwung von der irdischen zur himmlischen Liebe verherrlicht. Ein anderer Aspekt des ,Abailard'-Themas wurde der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit den beiden Prozessen um den .Hermaphroditen' Grandjean bewußt. Dieser mit schwerer Mißbildung behaftete Mensch war erst als Mädchen erzogen, vom 13. Lebensjahr an aber auf Anraten des Orts-Geistlichen als junger Mann gekleidet und angesehen worden. Er heiratet — und seine Frau wird erst von einer Freundin, die Grandjean's Unzulänglichkeit kennt, darüber aufgeklärt, daß ihre Ehe keine Ehe ist. Es folgt ein Kriminal-Prozeß, durch den Grandjean zur Auspeitschung verurteilt wird, weil er das Sakrament der Ehe mißbraucht habe. Aber das Parlament zu Paris führt in der Revisions-Verhandlung ein milderes Urteil herbei : Die Ehe wird annulliert, Grandjean bleibt straflos, wird aber gehalten, künftig Frauenkleider zu tragen. Das Urteil basierte auf einem medizinischen Gutachten, das über die Mißbildung Grandjeans referiert: zweifellos ein unglücklicher Mensch, dem die nachmaligen calamitates Abailards von Geburt an anhafteten. Dieser Fall nun — in der Pariser Gesellschaft breit diskutiert — entfachte die sentimentalische Neugier : Auf welcher Gefühlsbasis mochte Grandjean seine Ehe geschlossen haben ? Was mochte er seiner Frau zu sagen haben, als das Gericht die Ehe trennte ? Nach allem, was vorausgegangen war, wußte die Öffentlichkeit, daß Grandjean mit dem Leiden Abailards geschlagen war; sie wußte aber auch, daß die Frau Grandjean's, Françoise Lambert, nicht wie Héloise an einer Seelenfreundschaft ihr Genügen fand. Hier war also ein Konflikt gegeben, da ein Mensch, der nur unkörperliche Liebe zu geben vermochte, an der rauhen Wirklichkeit scheiterte. Das Briefgedicht des E.Th. SIMON (vgl. S . 249) nimmt diesen Konflikt zum Thema. Hält man sich das geradezu hektische Interesse, das man im damaligen Paris für diese Angelegenheit bekundete 7 , vor Augen, dann mutet es wie eine Ironie des Schicksals an, daß der künftige König • Vgl. F. R. vicomte de Chateaubriand, Vie de Rancé. 7 Grimm, corresp. 6, 182 ff. und 291 ff. berichtet mit eingehender Breite.

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Die Thematik der Héroide

während langer Jahre nicht imstande sein sollte, seine Ehe zu vollziehen. Noch freilich sah das niemand voraus : Der künftige Ludwig XVI. wurde 11 Jahre alt. In eben diesem Jahre 1765 starb sein Vater, so daß Ludwig nunmehr als Dauphin am Hofe hohen Rang einnahm. Nachdem das Mißgeschick des unglücklichen Grandjean eine solche Neugier erregt hatte — wie mußte man kurze Zeit danach dem Dauphin nachspüren ? Jenes Jahrzehnt ist nicht nur vom Interesse an der Nouvelle Héloise, sondern in noch viel höherem Maße vom Interesse am Nouvel Abailard inspiriert. Gelegentlich führte das zu kitschiger Kolportage. Über den Liebesverzicht der Gabrielle de Vergy, besungen in einem heroischen Brief von Gabriel Mailhol 1766, ist oben S. 263 das Nötige gesagt; noch im gleichen Jahr nahm François Jean Willemain d'Abancourt das Thema wieder auf (oben S. 250). Die oft beobachtete Tendenz des sentimentalischen Liebesverzichtes kann auch einmal in ihr Gegenteil pervertiert werden. L. S. Mercier hat in seiner Lettre de Dulis à un ami folgendes Spiel einer mindestens barocken Phantasie in Verse gebracht : Ein Mönch — Dulis — hält Totenwacht am Sarge eines jung und unschuldig verstorbenen Mädchens. Der Mönch vergeht sich an ihr — wobei und worauf das Mädchen aus dem Scheintod erwacht. Elle s'était couchée fille, et se relève mère . . . Der schuldige Mönch beichtet, aus dem Gefängnis schreibend, einem Freund sein Verbrechen, wobei er darüber reflektiert, ob er Liebe empfunden habe. Trotz der grauslichen Einkleidung — ja durch diese Einkleidung — dominiert das Sentimentalische. Im Grunde ist es doch wieder eine Variation am Grund-Typ .Abailard und Héloise', die hier gewagt wird. R. M. Le Suire läßt die Vestalin Clodia an den Kaiser Titus schreiben, der ihr seine Liebe eröffnet hat. Auch diese Vestalin ist eine .Répliqué' der Heloise; sie erwidert die Liebe des Kaisers, aber in der Keuschheit der Vestalin — und geht dafür in den Tod (2. Brief) : klassizistische Abwandlung der klösterlichen Keuschheit. Einen gewissen Abschluß dieser Literatur edlen Verzichtens bedeuten die Briefe von Cl. J. Dorât: Lettres d'une chanoinesse de Lisbonne à Melcour, officier françois, die 1770 erschienen. In einer ganzen Serie von Versbriefen, die selbstverständlich die echten Briefe der Mariana Alcoforado nachbilden, ist jede nur denkbare Nuance des hier möglichen oder angemessenen sentiments festgehalten. Da Cl. J. Dorat seine Seelengemälde mit unbestreitbarem Geschick anlegt und in Verse bringt, dürfte diese Serie von Briefen andere davon abgehalten haben, sich auf diesem Felde zu versuchen. Die Welle der sentimentalischen heroischen Briefe ebbt von nun an spürbar ab. Dorat selbst ist auch nicht mehr auf diesem Wege vorangeschritten; sein nächstes Brief-Werk — Les sacrifices d'amour — verfaßte er in Prosa.

Das Motiv des Liebesverzichtes

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Damit hörte er auf, der Schrittmacher der heroischen Briefdichtung zu sein8. Den nie wieder übertroffenen Höhepunkt intellektuellen Spiels mit sentimentalischer Abailard-Verklärung enthält der (anonyme) Brief von Sainval an Rose, über den Diderot9 im Dez. 1771 referiert. Die beiden Liebenden haben zusammen den Brief von H61oise an Abailard gelesen — zweifellos den berühmten Brief, den Colardeau verfaßte. Solche Lektüre hat auf Rose fast die gleiche stimulierende Wirkung wie einst auf Francesca da Rimini10. Freilich ist es nicht genug, daß Sainval, wie Paolo Malatesta, als Mit-Lesender ihre Empfindungen teilt. Nein — Sainval müßte so dichten können wie der Autor des Eloisa-Briefes; dann würde Rose sich ihm nicht versagen können. Die Nachbildung der berühmten Szene aus Dantes Inferno ist unverkennbar. An die Stelle von Lancelot's Liebesroman ist der Brief Heloises an Abailard getreten — jener Brief, der die Beglückung durch reine Seelenfreundschaft in leuchtenden Farben schildert. Nun muß man die Ambivalenz von Roses Liebesversprechen voll verstehen: Wenn Sainval in der Lage ist, so gefühlvoll zu dichten wie Colardeau, dann muß er auch Gleiches fühlen: Er kann dann seine poetische Liebesglut für Rose gewiß gar nicht in der Prosa der LiebesErfüllung ersticken. Wahrscheinlich ist das ganze sujet von dieser Ironie durchzogen, von der sich Diderot keine Rechenschaft gegeben hat. Diderot fand lediglich den Eifer belustigend, mit dem sich nun Sainval daran macht, die poetische Bedingung, die Rose ihm stellte, zu erfüllen: et voilä Sainval, ivre de l'espoir, d'entretenir Rose de sa passion tant qu'il lui filaira. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß dies sujet und seine Ausführung ernst gemeint waren. Vermutlich war hier eine recht feine Parodie der nun in ihren Möglichkeiten schon fast erschöpften Gattung beabsichtigt. Jedenfalls ist dies das einzige Mal, daß ein heroischer Brief den Erfolg eines anderen heroischen Briefes zum Gegenstande hat. Alt ist das Märchenspiel, daß der Freier ausgefallene Wünsche der Prinzessin (etwa: Turandot) erfüllen muß, ehe er sie heimführen darf. Unübertroffen aber ist der bizarre Einfall, daß die LiebesBewährung darin gefordert wird, der Bewerber müsse die Sentimentalität Heloises und Abailards übertreffen. Denn das hebt seine Potenz als Liebhaber nach allen Regeln dieses Spieles auf. Mit diesem witzigen circulus virtutum hat der anonyme Dichter die zuvor allzu sehr überSchon 1766 spottete Grimm, corresp. 6, 469 : M. Dorai nous promet de ne nous donner plus rien d'héroique. Il conçoit que nous pouvons en avoir assez, et il vaut mieux le sentir tard que jamais. 9 Diesen Artikel steuerte D. Diderot, Grimm vertretend, der Correspondance littéraire bei, vgl. 9 , 3 9 7 . 1 0 DANTE, Inferno 5, 138. 8

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Die Thematik der H6roide

schätzte Abailard-Dichtung ad absurdum geführt. Hier überschlägt sich die Welle, die bald darauf verebben sollte. Die Versuche, das von D . D I D E R O T zitierte Briefgedicht nachzuweisen, schlugen bisher fehl. Nun besitzt die Bibl. de 1'Arsenal zu Paris einen Brief in Versen von B. F. de ROZOY an Mlle Sainval: L'usage des talens, ¿pitre ä Mlle Sainval etc., a. O. 1766. Nun gibt die Namens-Ähnlichkeit zu denken: Bestand ein Zusammenhang zwischen dem (nicht nachweisbaren) Brief Sainval ä Rose und diesem Brief de Rozoy (auch: Durosoi) ä Mlle Sainval? Vermutlich sind hier die Anspielungen so dicht, daß sie nicht mehr völlig entschlüsselt werden können. d) (Beilage) Heroische Briefe ohne erotisches Motiv Sozusagen als Gegenprobe zum Gesagten dürfte eine Aufstellung darüber willkommen sein/welche heroischen Briefe aus dem Bereich von Unterhaltung und Bildung abgefaßt sind, ohne daß das Motiv der Liebe hereinspielt. Bei dieser Aufstellung bleiben außer Betracht alle Briefe, die ohnehin als,Randformen'ausgesondert werden mußten (oben S. 204ff.), weil sie der Besonderheit heroischer Briefdichtung nicht voll entsprechen, ferner alle Briefe von Sterbenden oder von Verstorbenen an Lebende (vgl. S. 485ff.) und die religiösen oder erbaulichen Briefe (vgl. S.369ff.). Einbegriffen sind also alle Briefgedichte, die als Werke der Literatur anzusehen sind, weil sie sich literarischer Konkurrenz und literarischer Kritik stellen. ca. 1599/1604 J a n u s D o u z A d. Ä. (1546-—1604), Epistola Jacobae Ba.va.rae ad Johannem patruum; Hugo GROTIUS (1583—1645), Responsum Johannis Bavari ad Jacobam, S. 163.

1622

Arthur JOHNSTON (1577—1641), Minerva Veneri. Venus Minervae. Zwar ist Venus Brief Partnerin; paradoxer Weise erörtern Venus und Minerva Bildungsfragen, vgl. oben S. 161. vor 1625 Antonio BRUNI (1593—1635), La madre Hebrea a Tito Vespasiano, in: Epistole heroiche I 1 (erbaulicher Einschlag), und Seneca a Nerone, ebda. II 6. vor 1655 [anonym] Elegia Senecae exulis ad Helviam matrem, in: Laurent LeBRUN, Eloquentia Poetica etc. 710—14. 1655 Lorenzo CRASSO, Belisario a Giustiniano, in: Epistole Heroiche 4, Piatone ad Aristotele ebda. 6, Orode al Senato Romano ebda. 8, Mose a Faraone ebda. 10 (erbaulicher Einschlag); Enea a Turno ebda. 13, Alessandro Severo ad Eliogabalo, ebda. 14. 1658 Giuseppe ARTALE (1628—1679), Sforza Attendulo a Braccio Fortebraccio, in: Dell' Enciclopedia poetica I, 401 ff., vgl. S. 179 und 212. vor 1729 Benjamin NEUKIRCH (1665—1729), Motaltfdje SBtiefefaeralten $F)ilofopfert 11 ; 11

Das letzte Briefpaar ist freilich auszunehmen: Phryne an Xenokrates mit Antwort; Phryne sucht Xenokrates zu verführen, dieser widersteht ihr.

Heroische Briefe ohne erotisches Motiv

271

ders.: ïioft» unb GsrntaljnunfläWefe redjtfci)affenet T r i f t e n (z. T. erbaulich), vgl. S. 201. 1769 Marie Augustin Louis XIMENEZ (1726—1817), César au Sénat Romain avant de passer le Rubicon, S. 244. 17B9 Jean François de La HARPE (1739—1803), Montezuma à Cortès, S. 244. 1760 ders.. Coton à César, Hannibal à Flaminius, S. 244. um 1760 ders., Socrate à ses amis, S. 245. 1762 Louis Sébastien MERCIER (1740—1814), Philoctète à Poean, son père, S. 245. 1765 François Jean WILLEMAIN d'Abancourt (1745—1803), Lettre de Narwal àWilliams, son ami, S . 2 4 9 . 1766 Nicolas Louis FRANÇOIS (1750—1828), Lettre de Charles 1er à son fils, le prince de Galles, retiré en France, S. 250. 1770 Vicomte de POUJADE, Régulus au Sénat, héroide, S. 253. 1771 Hans Carl Heinrich von TRAUTZSCHEN (1730—1812), Titus an seinen Vater, den J. Brutus, S. 273. 1777 Barthélémy IMBERT (1747—1790), Lettre du poète Simonidès sur la mort de son ami, S. 256. 1777 Laurent François DUPOIRIER, Le Czar Pierre Alexiovich au Czare'vich Alexei, S. 256. 1782 Abbé de L'Espinasse de LANGEAC (1748 od. 1760—1838), Colomb dans les fers à Ferdinand et Isabelle, S. 257.

In diesem Zusammenhang muß vorausverwiesen werden auf J. J. DUSCH, der (vgl. S. 274) eine heroische Brief-Literatur unter Verzicht auf das erotische Moment forderte.

IX. Die Hèroide im übrigen Europa Die literarische Bewegung, die Colardeau's Briefgedicht im Jahre 1758 auslöste, blieb nicht auf Frankreich beschränkt; heroische Briefdichtungen — bald als Übersetzungen französischer Gedichte (so besonders in Spanien und in Rußland), bald als ein Weiterdichten an der vorgegebenen Form (so besonders in England) — sind weithin in Europa nachzuweisen. Allerdings entziehen sich diejenigen Literaturen, in denen der heroische Brief schon einmal blühte, durchaus dem Einfluß der französischen H6roide. Aus Italien ist während des 18. Jahrh. überhaupt kein Beispiel heroischer Briefdichtung nachzuweisen; zugleich ist wohl bekannt und bezeugt1, mit welcher Feindseligkeit man sich in Italien dagegen wehrte, französischer Dichtung überhaupt einen Wert zuzuerkennen. a) In Deutschland Daß es in Deutschland nicht zur Nachblüte heroischer Briefdichtung kam, dürfte einen doppelten Grund haben. Zunächst wirkt mit, was in Italien bestimmend war: Auch in Deutschland beginnt man, sich gegen den literarischen Einfluß des Nachbarn zur Wehr zu setzen, den man zuvor — im Unterschied zu Italien — gern anerkannt hatte. Aber dies dürfte ein nur mitwirkendes Motiv gewesen sein neben folgendem, weit bedeutsamerem: Noch wußte man zu gut von der Herrschaft der Hofmannswaldau'schen Schule; zu sehr war man erfüllt vom Abscheu gegen die „roheste Sinnlichkeit2", die diese Gedichte .erfüllt' hatten; Dichtung war als ein Faktor der Moral entdeckt; darum wehrte man sich gegen den Rückfall in eine Art des Dichtens, welche den differenzierten Nachvollzug von Liebeserlebnissen3 keineswegs nur erbaulicher Art zum Gegenstand hat. Offenbar lehnte man nicht die französische Heroide schlechthin ab, sondern nur ihren stark betonten amatorischen Aspekt. Die wenigen Zeugnisse, auf die in Deutsch1

2

3

Statt vieler Belege diesen: Francesco ALGAROTTI (Kammerherr des Königs in Preußen um 1738/9) richtet die erste seiner epistole in versi (Opere, vol. 9, Cremona 1783) an die Italiener; diesen führt er die Bedeutung und den Wert der französischen klassischen Dichtung vor Augen; er tadelt seine Landsleute wegen ihrer obstinaten Ablehnung. So noch Max Frhr. von WALDBERG, Die galante Lyrik, Quellen und Forschungen 56, 1 8 8 5 , 1 3 1 ff. J. J . DUSCH tadelt Ovid deshalb ernstlich, weil seine Heroiden „nichts als Liebesgeschichten" enthalten; vgl. unten S. 274.

In Deutschland

273

land hinzuweisen ist, haben dies gemeinsam, daß sie vornehme und große Leidenschaften gestalten — nur die der Liebe nicht. Als D . SCHIEBELER und J . J . ESCHENBURG zusammen in Leipzig studierten, stellten sie einander im Spiel dichterische Themen. Aus solcher Übung erwuchs folgendes Briefpaar: 1761

Daniel S C H I E B E L E R (1741—1771), Elemetlä alt feilten @oi)rt £ijeoboru§. Johann Jacob E S C H E N B U R G (1743—1820), Sfjeobotuä on feinen SBater ©lernend, in: Daniel Schiebelers . . . auserlesene Gedichte, hrsg. von J . J. ESCHENBURG4, Hamburg 1773,19—26 [Bonn UB], und inj. J . E S C H E N B U R G S Beispielsammlung302ff.

Gegenstand des Gedichtes: Während der neronischen Christenverfolgung wird Clemens ins Gefängnis geworfen, wo er dem Märtyrertod entgegensieht. Es scheint, als wolle Theodoras sich dem Martyrium entziehen. Clemens' Brief enthält daher eine adhortatio ad martyrium5. Im Antwortbrief wirft Theodoras jede Schwäche von sich, dankt seinem Vater für die Mahnung und stellt sich dem Martyrium. Der gleiche D. Schiebeler hat mit Witz und Humor die Schwächen der übersteigerten heroischen Briefdichtung erkannt; das beweist sein Brief der Glumdalklitsch an Grildrich (oben S. 213): Ein Riesenmädchen aus dem Reiche Brobdignag hat sich in Gulliver ( = Grildrich) verhebt, obgleich er in Brobdignag nur die Größe eines Däumlings hat. Trotz dieses Mißverhältnisses schreibt ihm Glumdalklitsch einen glühenden und darum komischen Brief. Dies parodierende Gedicht ist ein vortreffliches, aber dabei vereinzeltes Zeugnis, daß der Überschwang der heroischen Briefdichtung in Frankreich sehr wohl zu Hamburg vernommen, aber nicht ernst genommen wurde. 1771

4

6

6

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Hans Carl Heinrich von TRAUTZSCHEN (1730—1812), ¡¡jeroiben: Xitug an feinen Sßatet ben SBrutuS6; ®on @iMo' an feinen greunb. In: Vermischte Schriften des Verfassers der militärischen und litterarischen Briefe, Chemnitz 1771.

J. J . E S C H E N B U R G , dem früh verstorbenen D. S C H I E B E L E R eng befreundet, gab dessen Gedichte heraus und fügte dabei sein Antwortgedicht mit ein; ebenso enthält seine Beispielsammlung (1795) das Briefpaar. Darum gehört das Briefpaar — als ein für das 18. Jahrh. ganz singuläres Zeugnis — mit unter die Heroides Sacrae; darum wird es S. 377 im Zusammenhang mit der religiösen Briefdichtung besprochen. Bezugsstelle ist Livius 2, 5—9: L. Junius Brutus hat seine Söhne zum Tode verurteilen lassen und wohnt selbst der Hinrichtung bei. Hier nun schreibt einer der Söhne an den Vater, dessen Unerbittlichkeit vollauf gebilligt wird; aber dieser Sohn soll den Vater an Seelengröße noch übertreffen. Hierzu hat H. C . H. von TRAUTZSCHEN selbst folgende Anmerkung eingerückt: ®on Siltrio ift ein ©ranb Bon Spanien, ber nad) einem gehabten Unglücfe einen prächtigen Sempel erbauen lägt, um in bemfelben bet) bem ©tabe feiner Saura fein ßeben ju befdpefjen. © e i t e r t ljat in feinen SBetien eine ©rjäljlung Bon einer äljit» licfjen ©ejdjidjte, Bon toeldjer icf) einige $etlen nadjgealjmt fiabe. 18

Heroische Briefdichtung

274

Die Héroide im übrigen Europa

Diese Vermischten Schriften werden eröffnet durch eine Abteilung ¡peroiben, die indes nur die beiden genannten Gedichte enthält. Vor allem deren erstes möchte vornehme Leidenschaft ausdrücken, nämlich die tiefe Reue des Sohnes dem Vater L. Junius Brutus gegenüber: Der Sohn (hier Titus geheißen) hat den Tyrannen Tarquinius aus Liebe zu dessen Tochter unterstützt und ist dabei dem Vater und Rom untreu geworden. Er bejaht es, dafür den Tod zu erleiden, bittet aber den Vater, sich mit ihm zu versöhnen: äJlein SSater ift berföijnt unb £itu§ ftirbt tietgnügt. Unverkennbar ist die Nähe dieser Dichtungen zu den moralisch-politischen Dichtungen der Franzosen. Daneben ist zu stellen: 1762 Christoph Martin WIELAND (1733—-1813), Briefe von Verstorbenen an hinterlassene Freunde; in: Poetische Schriften, Zürich 1762, vol. 2. [Chr. M. WIELAND notierte in der Vorrede, er habe diese Gedichte rund zehn Jahre vor der Drucklegung 1762 verfaßt].

Mit diesen Gedichten ahmt Ch.M. WIELAND die „Briefe von Verstorbenen" der Elisabeth ROWE (1728) nach; vgl. S. 161, 489. Er läßt im Unterschied zu dieser Dichterin die Verstorbenen sich in Versen an ihre Freunde wenden. Die hier ausgedrückten Gedanken über die Unsterblichkeit sind durchweg aus Piaton genährt. Zu erwähnen sind diese Briefgedichte hier, weil sie ausgesprochen un-ovidisch konzipiert sind; Chr. M. WIELAND veröffentlichte im gleichen Jahre 1752 seinen Anti-Ovid (im Alter von 19 Jahren also); mit diesen acht Briefen versucht er, ein Beispiel dafür zu geben, daß diese Dichtung sich von Ovid befreien kann. Eben dazu bekennt sich ausdrücklich: 1759 J. J. DUSCH (1725—1787), Moralische Briefe zur Erziehung des Herzens, xLpz 1759, 21764.

Diese Briefe sind in Prosa abgefaßt, und sie spielen, wie die Wielands, zwischen erfundenen Personen. Mithin stehen sie am Rande des hier Untersuchten. Es ist die erklärte Absicht des Verfassers, damit „ben DüibtuS in einemtoefentlidjen©tücfe ju übertreffen". In der Vorrede spricht er deutlich aus, daß er Ovid mißbilligt, weil er nur LiebesLeidenschaft darstellt: „ 3 $ toollte fie (bte Siebe§*£eibenfcf)aft) nur in* fofern fie moraliftf) ift unb Sinflufj auf bie ©dticEfale be§ SKenfdjen tjat gefdjilbert, unb tneijr al§ gefcijiibert, in tfjr gef)örige§ @Iei§ gehriefen ttriffen, bamit fie ntdjt nur beluftige, fonbern audj nüfce"8. Diese Intention führt 8

J. J. DUSCH wendet also als Richtschnur den programmatischen Horaz-Vers, ars poet. 333, an: aut prodesse volunt aut delectare poetae; aut simul

et iucunda

et idonea dicere vitae. Den Ovid und seine Nachahmer

trifft darum der Tadel, weil sie das prodesse haben zurücktreten lassen.

In Deutschland

275

freilich nicht zur Verbesserung, sondern zur gänzlichen Aufgabe der ovidischen Tradition. Indes war mit einem gewissen Nachdruck auf diese Brief-Gedichte Wieland's und Dusch's hinzuweisen: Hier ist die Moral, das ethische f rodesse mit Entschiedenheit zum poetischen Prinzip erklärt — und daraus ergibt sich notwendig, daß man mit Ovid nichts mehr anfangen kann. Weniger die Kritik Herder's (vgl. S. 33 0) als diese gegen Ovid gerichtete grundsätzliche Entscheidung hat Ovid und ovidische Traditionen dem 19. Jahrh. unleidlich gemacht. Hieran dürfte es liegen, daß nicht einmal die Bewunderung der „Leiden des jungen Werthers" heroische Briefe zu diesem Stoffe hervorrief, wie es in England und in Rußland (vgl. unten S. 283 und 286) reichlich geschah. Hierbei sei hingewiesen auf: Fritz Adolf HÜNICH, Die deutschen Werther-Gedichte, in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg I, 1921, 181—264.

Aus dieser Sammlung werden nachstehend die wenigen Gedichte hervorgehoben, die epistolarem Stil immerhin nahe stehen; echte Briefgedichte sind nicht darunter: 1775

— 1779

1782

1788

— 1805

Georg Ernst von RÜLING, Werther an Lotten, in: Der Teutsche Merkur 1775, Nr. 8, 97f.; Hünich a. O. 188. Werther spricht oder schreibt aus dem Grabe an Lotte. [anonym] Albert an Lottchen, in: Uber Goethe, Litterarische und artistische Nachrichten, hrsg. von A. NICOLOVIUS, Lpz 1828, 66f.; Hünich a. O. 191 ff. Freiherr von SPIEGL, Werther an M. den Jüngeren, aus dem Reiche der Todten, in: Poetische Blumenlese für das J a h r 1779, hrsg. von J . H. Voss, Hamburg 1779, 19; Hünich a. O. 217. (Vorname?) von SCHLEGEL, Werther an Lotten, in: Lieder eines leichten und fließenden Gesangs für das Ciavier . . . von Carl Christian AGTHE, Dessau 1782, 16f.; Hünich a. O. 224. Werther spricht oder schreibt aus dem Grabe an Lotte. [anonym] Letzter Aufsatz Werthers an Lotten, nachts nach eilf Uhr, in: Der satyrische Biedermann. Eine Wochenschrift, Erstes Heft, Prag 1788, 143ff., Hünich a. O. 233 ff. Hier ist der letzte Brief Werthers, in enger Anlehnung an Goethe's Text, in Verse gebracht. Gottlieb LEON, Lotte an Werther, in: Gedichte, Wien 1788, 13f., Hünich a. O. 235 f. Lotte spricht oder schreibt an den verstorbenen Werther. [anonym] Drey schöne weltliche Lieder, Wien 1805, Hünich a. O. 240f. Inhalt: 1. Lotte an Werthers Geist. 2. Werthers Geist an Lotte. 3. Albert an Werthers Geist.

Eine besondere Erwähnung verdient: 1795

18»

Christian Friedrich R A S S M A N N (1772—1831), Gcbuatb an Sannt), eilte ijjeroibe, Halberstadt 1795; Zit. [anonym] ? Fr. Arn. STEINMANN, Friedrich Raßmann's Leben und Nachlaß, Münster 1833 [Münster U B ] S. 43 und S. 7, mit dem Zusatz: eine §eroibe, biefficttlS M I I e t in SJhtfi! fefcte. Zugleich wird a. o. mitgeteilt, daß jedes der 1795—1797 erschienenen Gedichte einzeln gedruckt wurde.

276

Die Héroide im übrigen Europa

Die Wahl der Personen weist auf den zuvor berühmten Roman des F. Baculard d ' Ä R N A U D , Fanny ou l'heureux repentir. Neu ist nur, daß der Brief Eduards, weil er in Strophen mit Refrain gedichtet ist, gesungen werden kann — und daß er wirklich in Musik gesetzt wurde. Von Karl M Ü L L E R S Tonschöpfungen ist nichts auf uns gekommen. Endlich ist ein einziger Versuch zu notieren, das Gedicht, das in Frankreich jenen Überschwang auslöste, in Deutschland heimisch zu machen: 1791/2

Gottfried August B Ü R G E R (1747—1794), §e!oi|e Ott Slbelatb frei ttad) ^open, Göttingen 1796; benutzt: Werke, hrsg. von W. von W U R Z B A C H , Lpz o. J., vol. 2, 92—108; auch bei R A S S M A N N 43.

Wohlweislich knüpft G. A. Bürger nicht an die Fassung Colardeau's an, sondern er legt seiner Übersetzung das englische Original zugrunde. b) In den Niederlanden Ebenso reserviert wie die deutsche Öffentlichkeit verhielt sich die literarisch interessierte Öffentlichkeit in den Niederlanden. Rasch vorübergehen darf man an folgendem Briefgedicht: um 1775 Rhynvis F E I T H (1758—1824), Werther an Ismene, in: Dicht- en prozaische Werken, Rotterdam 1824, vol. 5, 197/8. Vgl. oben S. 211.

Dieser Dichter identifiziert sich mit Werther, in dessen Rolle er diesen Brief schreibt — das gab ihm das Recht zu drängender Empfindsamkeit 9 . Aber er dürfte einen guten Grund gehabt haben, die Umworbene nicht mit Lotte gleichzusetzen, sondern mit der sanften Ismene. Kurz, dies ist kein heroischer Brief, sondern ein persönlicher Brief mit verstellten Namen. Indes ist ein einziger Dichter stilechter heroischer Briefe in den Niederlanden zu nennen: 1783

Jacob Henrik H O E U F F T (fl843), Iaricus puettae Americanae ad Ynclum Anglum epistola; in: Pericula poetica, o. O. 1783, 32—37 [Göttingen UB, Paris B N ] und in: Carmina, Breda 1805 [Brüssel BR],

Zum Stoff, den dies Gedicht behandelt, ist auf S. 39 und 227ff. zu verweisen; J . H. H O E U F F T , der in seinen Gedichten mehrfach Haß und Verachtung gegen England ausspricht, hat das vielbehandelte • Zur Datierung: der Brief dürfte nicht lange nach dem großen Erfolg des Goethe'schen Werther verfaßt sein, und er konnte nur verfaßt werden, solange Rh. F E I T H annähernd das Alter Werthers hatte. Nachmals, als er Bürgermeister von Zwolle war, konnte er derlei nicht wohl schreiben.

In den Niederlanden

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Thema so gewendet, daß er in dem perfiden Mr. Inkle das ganze England trifft. 1806

Ders., Lycinnae carcere detentae ad matrem epistola; in: Carolina, Breda 180510, 28—33 [Brüssel B R ] ,

In einem Nachsatz weist J. H. HOEUFFT darauf hin, er habe den Stoff zu diesem Gedicht einer Kurz-Erzählung entnommen, die Rhynvis FEITH seinem Roman Julia' beigab. Diese Erzählung, betitelt .Themire'11, enthält die Geschichte der Verführung eines unwissenden Mädchens und die Klage der Verlassenen12. Während sie noch klagt, gebiert sie, ohne zu ahnen, was mit ihr vorgeht13, stürzt dann aber vor Schreck hart auf den Boden nieder „en verplet haar kind". Man findet die Ohnmächtige mit dem toten Kinde, sieht sie als Kindesmörderin an und schleppt sie ins Gefängnis; nach der Version von Rh. FEITH stirbt sie dort, ohne sich verteidigen zu können. Einerseits zeugt diese Geschichte von dem ungemeinen Interesse jener Zeit am Problem der Kindesmörderin. Andererseits ist sorgsam — wenn auch durch die unwahrscheinlichste Erfindung — motiviert, daß diese Themire unverschuldet in solchen Verdacht geriet. Nun ist es bewundernswert, wie J. H. HOEUFFT dieser an den Kitsch streifenden Erzählung des Rh. FEITH eine poetisch erhebliche Situation entnommen hat: Entgegen der Vorlage gewinnt Lycinna im Gefängnis ihr Bewußtsein zurück; sie schreibt ihrer Mutter einen rührenden Brief voll von Selbstvorwürfen; den sicheren Tod vor Augen bittet sie die Mutter14 um ihre Verzeihung. Im Unterschied zu vielen drittrangigen Erzeugnissen hat dieses Gedicht poetische Größe; untadelig in seiner sprachlichen Form drückt es die Reue und die Zerknirschung des schuldig geglaubten Mädchens aus. J. H. HOEUFFT hat sich vor allem darin den Erfordernissen der Gattung entsprechend verhalten, als er sein sujet der jüngsten Literatur entnahm. Gewiß steht Rh. FEITH mit seiner beinahe albernen Ausgestaltung der Geschichte von der Kindesmörderin im Schatten G. A. 10

11

12 13

14

Die Gedichtsammlung von 1805 ist im Ganzen eine Wiederholung der pericula poetica von 1783, indes um dieses wichtige Gedicht bereichert. J. H. HOEUFFT hat also mit Absicht diesen Namen durch den der Lycinna ersetzt; dieser Name ist nicht antik, begegnet aber als der Name der Geliebten des Basilius ZANCHIUS, Horti tres . . . Fkft 1567, Hortus I 170 ff. „Themire is gevallen, maar Themire is door den schijn der deugd misleid". „HemelI hoe ontroerde de onnoozde Themire, toen ze en schreijend wichtje aan hare voeten vand." Es gehört zur Exposition schon der FEITH'schen Erzählung, daß der Vater nicht mehr lebt.

278

Die Héroide im übrigen Europa

Bürger's und Goethe's15. Aber J . H . H O E U F F T hat diese inferiore Vorlage weit hinter sich gelassen; es ist ihm gelungen, ein seine Zeit tief beschäftigendes Problem dichterisch und menschlich zu erfassen und darzustellen. Selten liegt das Niveau des Nachvollzuges über dem des Originals; hier ist dem Nachvollziehenden — J . H . H O E U F F T — ein Kunstwerk gelungen. Der etwa gleichaltrige H. Baron Collot d'EscuRY trat in Wettstreit mit J . H . H O E U F F T , der ihn sehr schätzte 16 . Nun dominieren bei Collot d'EscuRY Briefe, durch die ein zum Tode Verurteilter sich vom Freunde oder vom Gatten verabschiedet; es mag am Beispiel der Hoeufft'schen Lycinna liegen, daß analoge Abschiedsbriefe so auffällig überwiegen. Henrik Baron Collot d'EscuRY, Heer van Heinenoord (1773 bis 1845), hat drei Gedichtbände verfaßt, die fast ganz von heroischen Briefgedichten ausgefüllt sind. Ein vierter Band faßt alles Bisherige zusammen, fügt aber nichts Neues hinzu: 1797

1. Musae iuveniles, Rotterdam 1797 [.Leiden RB], darin: 16 Nr. 4 Lucretia Collatino 23 Nr. 5 Sophonisba Massinissae 27 Nr. 6 Anna Boleynia Henrico VIII Angliae

Regi.

Die beiden ersten Themen sind in der heroischen Briefdichtung konventionell; unten S. 529 wird eine Zusammenstellung gegeben, welche Bearbeitungen das unerschöpfliche Sophonisba-Thema fand. Mit dem dritten Brief schöpft d'Escury aus einer modernen Quelle: 1714 waren fingierte Liebesbriefe Heinrichs VIII. an Anna Boleyn erschienen17, die inzwischen zweimal zum Gegenstande heroischer Briefdichtung geworden waren18. D'Escury wählt den Punkt der Geschichte aus, da die Hinrichtung Anna Boleyn's sicher geworden ist; er läßt sie einen Abschiedsbrief an den einstmals geliebten König schreiben. 16

16 17

18

Des Rh. FEITH Roman .Julia' (erste Veröffentlichung 1792) ist sehr stark an die .Leiden des jungen Werthers' angelehnt. Dem Druck von 1792 [Brüssel B R ] ist die Erzählung .Themire' nicht beigegeben [benutzt: Dicht- en prozaische Werken, Rotterdam 1824, vol. 5, 73/4; Münster UB]. Also liegt .Themire' zwischen 1792 und 1805 (Erscheinungsjahr von J. H. HOEUFFT, Carmina); Rh. Feith konnte also Kenntnis gewinnen von J. W. von GOETHE, Faust, ein Fragment, Lpz 1790. J. H. HOEUFFT, P L B 243; vgl. van der AA, Wordboek udW. d'Escury. Love-Letters from King Henry VIII to A nne Boleyn. Some in French and some in English. To which are added Translations ofthose written in French. With an Appendix, containing two Letters from A nne Boleyn to Cardinal Wolsey, with her last to Henry VIII (Prosa), Lo 1714. So William WHITEHEAD, Ann Boleyn to Henry the Eigth, 'o. O. 1743, vgl. S. 161, und Edouard Thomas SIMON, Anne de Boulen ä son cruel epoux Henry VIII, P 1765, vgl. S. 248.

In den Niederlanden

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Alle drei Briefe dieser Sammlung Iuvenilia sind also Briefe todgeweihter Frauen. 1800

2. Drei Jahre später erscheint: Carminum fasciculus, Dordrecht 1800 [Leiden R B ] ; darin : 1 Nr. 1 Eleonora Gustavo Wasae 16 Nr. 2 Abassa ad fratrem Haroun.

Der erste dieser Briefe bekundet das lebhafte Interesse des Verf. an der Geschichte Schwedens19; der zweite ist — ganz außergewöhnlich in der heroischen Briefdichtung — der Welt des Orients entnommen, oder besser, in diese hineinprojiziert : Haroun al Raschid hat seiner Schwester Abassa die Heirat mit dem Prinzen Giaffar, der sie liebt, nur unter der Bedingung gestattet, daß die Ehe nie vollzogen werde20. Als durch die Geburt eines Sohnes kund wird, daß das Paar diese Bedingung nicht einhielt, läßt Haroun beide hinrichten — zuvor schreibt ihm Abassa einen Abschiedsbrief. 1805

3. Carminum fasciculus alter, Dordrecht 1805 [Leiden R B ] ; darin : 1 Nr. 1 Hasselaria ad feminas Harlemenses21 6 Nr. 2 Egmondus Sabinae 14 Nr. 3 Gustavi Adolphi epistola amatoria ad Elbam22 Brahaeam 23 Nr. 4 Responsoria. Elba Brahaea ad Gustavum A dolphum.

Der Brief Egmonds an seine Gattin ist wieder ein Abschiedsbrief, vor der Hinrichtung geschrieben. Ob Goethes Egmont einen Einfluß auf diese Dichtung ausübte, ist nicht auszumachen. H. Collot d'Escury machte in den letzten Jahren des 18. Jahrh. eine ausgedehnte Reise nach Schweden. Schon der Brief der Eleonora (Helianira) an Gustav Wasa gibt sich als eine Frucht dieser Reise zu erkennen, mehr noch das Briefpaar, das die berühmteste Liebesgeschichte Schwedens behandelt — Gustav Adolf und Ebba Brahe. Ein Briefwechsel (wohl schwerlich der echte) wurde zum ersten Male 18

20

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Hier ermahnt Eleonora, die Mutter Gustav Wasa's, ihren Sohn, dem König von Dänemark, der die Union von Kalmar aufrecht erhalten wollte, tapferen Widerstand zu leisten. Höhepunkt des Briefes ist das vaticinium von der künftigen Größe des Hauses Wasa. In der 2. Aufl. lautet der Name der Schreiberin Helianira. Diesem Motiv dürfte keine Realität im Islam entsprechen. Indes scheint im 18. Jahrh. die Vorstellung verbreitet zu sein, daß die Tyrannei des Sultans soweit ging, Gatten den ehelichen Verkehr zu verbieten; vgl. M. de CuBiÈRES-Palmézeaux, L'heureux échange, nach: Lettre d'un solitaire de Chalcide etc., P 1773, 56; diese Verserzählung geht von der Prämisse aus, daß ein grausamer Sultan dem Paare Sémir und Néangir die Liebe verbietet. Dies ist kein heroischer Brief, sondern ein Aufruf der Hasselaria: Deren mutiges Auftreten soll im Befreiungskampf gegen die Spanier die für Harlem glückliche Wendung herbeigeführt haben. In dieser ersten Auflage verwendet d'Escury ständig die Namensform Elba, die er in der 2. Aufl. (vgl. nächste Seite, Anm. 26), in Ebba berichtigt.

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Die Héroide im übrigen Europa

1753 in Stockholm gedruckt, mußte aber sogleich wieder zurückgezogen werden23. C. G. WARMHOLTZ, Bibliotheca historica SveoGothica, Stockholm 1793, 16 weist unter Nr. 3473 den Titel der endgültigen Veröffentlichung auf: Kon. Gustav Adolphs och Fröken Ebba Brahes märkvärdiga Kärleks-handel, in 8°, Stockholm 1768; ein weiterer Abdruck erschien 1781. 1788 wurde in Stockholm als Schauspiel aufgeführt: J. H. KELLGREN, Gustaf Adolf och Ebba Brahe, lyrisk Drame24. Wahrscheinlich hat es außer den bibliographisch erfaßten Texten, dramatischen und novellistischen Bearbeitungen der Liebesgeschichte vielerlei apokryphe Tradition gegeben. In dem Jahrzehnt, als Collot d'Escury Schweden besuchte, dürfte dieser Stoff in mancherlei Bearbeitungen zugänglich gewesen sein. Der echte Briefwechsel dagegen ist vermutlich erst im 19. Jahrh. ans Licht gekommen. Zu dem recht vielfältigen Komplex ist die kleine Monographie zu vergleichen von C. M. STENBECK (vermutlich einem Nachkommen Ebba Brahe's26). Das zu diesem Stoff von H. Collot d'Escury gedichtete Briefpaar stellt, was die Vollkommenheit im Formalen anlangt, zweifellos den Höhepunkt seiner lat. Dichtung dar. Mit Recht hat er es daher in den Mittelpunkt der zweiten und endgültigen Ausgabe26 seiner Dichtungen gestellt. c) In Schweden Die schwedische Literatur27 bietet im 18. Jahrh.28 nur ein Beispiel heroischer Briefdichtung: 1763

Hedvig Carlotta NORDENFLYCHT (1718—1763), Fragment af en Heroide. Hildur tili Adil, in: Samlade Skrifter . . . utgivna av Hilma BORELIUS, andra delen, S t o c k h o l m 1926/7, 4 4 6 — 4 4 9 .

Diese Briefdichtung ist unvollendet geblieben; die Dichterin verfaßte sie in ihrem letzten Lebensjahr. Ob sie selbst sie eine Heroide genannt hätte ? Immerhin ist möglich, daß H. C. NORDENFLYCHT Kenntnis von französischen Heroides hatte. Aber sie wählt ihre Gestalten — Hildur, der um Adil wirbt — nicht aus den fersons of quality Für freundliche Auskunft hierüber habe ich Herrn Informationsbibliothekar Folke RUDBERG, Stockholm, sehr zu danken. 24 Diesem Drama lag ein Entwurf von der Hand Königs Gustaf I I I . zu Grunde. 25 Deren Stammbaum bei C. M. STENBECK, Till brefväxlingen mellan Gustaf Adolf och Ebba Brahe, Personhistorisk Tidskrift 1914, 104—115; am Ende des Aufsatzes teils Ausgabe, teils Register der echten Briefe. 26 Carminum fasciculus, den Haag 1817 [Münster TJB]. 27 Viele Hinweise verdanke ich meiner Tochter Elisabeth PIIRAINEN, die während eines Aufenthaltes in Uppsala, von dortigen Bibliothekaren freundlich beraten, nach heroischen Briefen forschte. 28 Für das 17. Jahrh. ist auf das Briefpaar Habor/Signill von Christoffer LEYONCRONA hinzuweisen; vgl. S. 190. 23

In Rußland

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aus, die den legitimen Fundus der heroischen Briefdichtung ausmachen. Allem Anschein nach sind Hildur und Adil von ihr erfundene Gestalten; es ließ sich kein Roman oder eine andere Dichtung nachweisen, deren Hauptpersonen Hildur und Adil sind. d) In Rußland Während der heroische Brief in Deutschland, den Niederlanden und Schweden nur zögernd aufgenommen wurde, hat man in Rußland mit Begier danach gegriffen; in Rußland, oder richtiger in den literarisch interessierten Kreisen St. Petersburgs, ist es zu einer modischen Welle heroischer Briefdichtung gekommen, die der in Paris kulminierenden Welle vergleichbar ist. Dabei kam der Verbreitung heroischer Briefliteratur der damalige Zustand der russischen Publikationsformen entgegen. Da gab es die große Zahl einmaliger Sammlungen und Auswahlen, und neben ihnen, gegen Ende des 18. Jahrh., erschienen analoge, aber periodisch erscheinende Auswahlhefte, alle zur Unterhaltung ihrer (sonst vermutlich müßigen) Leser bestimmt. Auf diesem schwerlich je vollständig29 zu übersehenden Wege strömte in reicher Menge französische Literatur nach Rußland ein — vor allem publikums-wirksame Literatur. Publikums-wirksam war die heroische Briefdichtung durchaus, ja allzusehr. Und sie hatte weiter den Vorteil, dem Umfang nach (mit Romanen verglichen) bescheiden zu sein. Das war wichtig, weil die monatlich erscheinenden Hefte kurze Texte erforderten. Manches Briefgedicht steht als Lückenbüßer am Ende seines solchen Heftes. Zu einem guten Teil besteht diese Literatur aus Übersetzungen, auch aus Ovid selbst30. Die Namen der Übersetzer sind oft nicht mehr zu ermitteln. Indes haben mehrere Dichter eigene Briefgedichte beigetragen. Die westliche Anregung begann, über die pure Übersetzung hinaus, fruchtbar zu werden. Am Anfang dieser Reihe von Dichtungen stehen mehrere Nachahmungen Ovids (freilich nicht immer als solche gekennzeichnet); vgl. oben S. 118f. 29

Das Nachstehende basiert vor allem auf den Nachweisungen von NEUSTROJEV: A. H. H E Y C T P O E B j yKa3aTejib K pyccKHM rioßpeMeHHbiM H3p,., CaHKTneTepSypr 1898. Von den vielen Periodica und Sammelbänden, die Neustrojev exzerpiert hat, war eines in Deutschland [Hamburg U B ] greifbar: MoflHOe e»ceMecH*J. H3«. hjih En6jmoTeKa /ym flaiwcKoro TyajieTa, CaHKTneTep6ypr 1779ff. Die übrigen vermochte ich zum Teil in Helsingfors einzusehen.

30

Als der Redaktor des MoflHoe e>KeiviecH*j. H3fl. (vgl. vorige Anm.) entweder mit seinen Mitarbeitern oder mit seiner Beschaffung neuer Stoffe in Schwierigkeiten geriet, stopfte er einen ganzen Jahrgang seines Blattes mit der Übersetzung der Metamorphosen voll.

282 1759 1763 1763 1764 1764 1768

Die Héroide im übrigen Europa [anonym] HJLiiHfla K ÄHMO^oirry, in: TpyfloJiwÖHBafl rraèjia 1759, 515—24 [Helsingfors UB]. Prosa! [anonym] A p u a n a k Te3eio, in: CBo6oflHbie qacti 1763, 372. [anonym] HnjiHfla KFLNMO(J)OHTYH3 IIy6. HacoHa, in: CEoÖo^HBIE wacM 1763, 636. [anonym] A p u a n a K Te3eio J nepeBOfl, in: Xtoßpoe HaMepemie 1764, 195. [anonym] EjieHa K riapucy, B CTHxax, in: JJoSpoe HaMepemre ebda. 291. AiieKcaHflp IlaHKpaTeBira CYMAPOKOB (1717—1777), repoHflbi: OcHejib«a K 3aBJioxy; 3aBjioxk OcHejibflein: IfeöpaHHbie npoH3BefleHHH, 2JIeHHHrpafl 1957, 165—169. [Münster, Slaw. Seminar],

Der Stoff dieser Briefdichtung stammt aus A. P. Sumarokov's erster Tragödie XopoB (1747 gedichtet, 1750 aufgeführt). Es ist ein patriotisches Drama: Auf Betreiben seiner tapferen Tochter Osnelda verjagt Savloch, der seinen großfürstlichen Thron in Kiew verlor, seine Feinde (Polen !) und nimmt seinen Thron wieder ein. Das Briefpaar hat die tapfere adhortatio der Tochter und den heroischen Entschluß des Vaters zu dieser Aktion zum Gegenstand. IIHC&MO rpaifca KOMMCHHÖI K

1771

.HKOB EOPHEOBHQ K H I D K H H H 3 1 ( 1 7 4 0 — 1 7 9 1 ) ,

1773

MaTepn ero, in: IfeöpaHHBie npoH3BeaeHHH, 2 JIeinnirpafl 1961, 615—625; auch in: MoflHoe «KeMecsra. H3fl. HJIH BuSjnioTeKa fljw aaMCKoro Tyajieia 1779. Vorlage dieses Briefgedichtes ist CI. J . DORAT, Lettre du comte de Comminges à sa mère etc., P 1764, vgl. S. 247. [anonym] Sjiercrpa K Opecry, in: Beiepa 2, 1773, 101.

1773 1774

1774

1779 1779 31

32

33 34

36

[anonym] ÜHCBMO BHBJHÌABI K KaBHy, in: Qrapinia H HoBH3Ha 2, 1773, 31—50 [Helsingfors UB] ; Prosa, als Übersetzung aus dem Deutschen gekennzeichnet. HBaH HBaHOBjra X E M H H I J E P (1745—1784), ÜHCbMo EapHBejiH32 K TpyMaHy H3 TeMHHqM, Tepoiwa flopa33, in : CoiKHeHHH h imcbiwa, CaHKTneTep6ypr, hrsg. von I. GROTE, 1873, 315—329. [Münster, Slaw. Seminar], Zit. Sopikov, No 8200. Baccronm rpHropteBira PYBAH (1739—1795), ÄBe HpoH«bi : 3JIOH3A KO AaeuapHYJ Apivuma K PaHOJibfly, CaHKTneTepöypr, o. J . 2 ebda. 1774, zit. Sopikov No 3099 und 6927; beide aus Colardeau übersetzt; letztere auch 3 HoBue OKMecHH. CoHimeHHH 3, 1786, 44 und 78 M . [anonym] EjieHa B03BpameHHaa MeHejiaio, in: Mo^Hoe eweMecai. H3fl. 1, 1779, 68—74. [Hamburg UB]. [anonym] 3jioH3a K AöejiapAy35, ebda. 1, 1779, 83—97.

J . B . Knashnin schrieb 1769 eine Tragödie ,Dido'. Im 5. Akt wird der Absage-Brief des Aeneas der Dido überbracht und von ihr verlesen. sie ! — Sopikov No 8199 weist auf eine andere, anonyme Ubersetzung der gleichen Vorlage hin: ÜHCbMO EapHBejibTa B Teivnnme ce^Hmaro K TpyiwaHy flpyry ero, nepeBO« c cJjpaimycKaro, 1791. Vgl. Cl. J . DORAT, Lettres en vers et oeuvres mêlées, P 1 7 6 7 , I 7—28 (vgl. oben S. 251). W. G. RUBAN war lange Zeit Herausgeber dieser Ztschr., vorher gab er die kurzlebige CiapHHa h H0BH3Ha (s. o.) heraus. In einer Anm. behauptet der ungenannte Verfasser, sein Gedicht habe er schon 1755 verfaßt; er beansprucht somit die Priorität vor Colardeau.

In Rußland

283

1780 1780 1780

[anonym] HpoHfla. CiwepTb KnapHHbi, ebda. 2, 1780, 163—172. [anonym] HpoHfla. HjieKipa K OpecTy, ebda. 2, 1780, 173—177. [anonym] MejiaHflp K JLHI;efle, ebda. 2, 1780, 83—89; beruht auf dem ProsaBrief des Alkiphron 4, 18, Menandros an Glykera. 1780 [anonym] Hponfla. ra6pnemia /je Bep>KH, ebda. 2, 1780, 177—185. Als Vorlage diente F. J . WILLEMAIN d'Abancourt, Lettre de Gabrielle de Vergy ä sa soeur, P 1766, oben S. 260. 1787 [anonym] Moirre3yM K KopTeuy, in: 3epKajio CßETA 4, 1787, 246ff.; Vorlage ist J . F. de La HARPE, Montezuma ä Cortes, A.dam-P 1759, vgl. S. 244. 1787 [anonym] BerypHH K KopHOJiHHy, in: HoBbie OKeMecaq. conmemiH 15, 1787, 57 f. 1787 [anonym] ÜHCBMO Ioaima Kaiuiaca K ero » e m HFLETHM,NEPEBOFLc (FCPAIMYCKOROJ CaHKTneTepSypr 1787. Zit. Sopikov No. 8219. 1787 [anonym] Amoia K BHKTopy, in: 3epKajio CßeTa 4, 1787, 209ff. Anjuta war die Titel-Heldin einer damals erfolgreichen Bauernkomödie von M. J . Popov, in welcher Anjuta das .unverfälschte Naturkind' darstellt. 1787 [anonym] ITHCBMO OT ejjpbi K Hnnojmxy, in: HoBbie OKeMecnq. co^HHEMM 27, 1787, 70. 1788 [anonym] ÜHCBMO OT KAHAKH K ManapeiOj OBHAHM, ebda. 28, 1788, 56. 1788 [anonym] AHflpoMaxa K ÜHppy, in: HoBbie ememecm. COTHHCHHH 29, 1788, 63. 1790 AHFLPEß HBAHOBH« B Y X A P C K H 0 (1764—1833) ÜHCBMO K HTEHE OT MY»A Hflymero Ha npHCTyn K ropoay, in: COMHHGHHH, CaHKTneiepöypr 1790. 1792 B. I\ PYBAH, Hponwa HJM imcbMO B cruxax OT BpnceHÄbi K AxHJiny, in: HoBbie EJKEMECHI. COIHHEMW 61, 1792, 54. 1792 ders., OBHflHeBa X I Hpon.ua OT KaHaKH K Manapeio, He 3afl0jn.r0 ÄO ea CMepra ebda. 63, 1792, 74. 1793 A. H. E y X A P C K H H , Kopa K AjiOHCy, B cruxax, CaHKTneTepöypr 1793, zit. Sopikov No 5750. Das sujet stammt aus F. J.MARMONTEL (1723—1799), Les Incas, P1778. 1794 BjiaflHcnaB AJREKCAHAPOBHW 0 3 E P 0 B (1769—1816), 3JIOH3A K ASejiapfly, HpoHjja, BOJibHbiH nepeBOfl c paimycKoro TBopeHHH Kojiapflo36, in: TpareflHH, CTHX0TB0peHHH, JleHHHrpa« 1960. zit. Sopikov No 4652. 1795 [anonym] 3B(T>PA3HH K MmiKypy37, in: MOCKOBCKHH >KYPHAJI 6, 1795, 156. 1796 [anonym] H . . . f l . . . fle M . . . o, ¿jHflOHa 3Heio, in: CanKTneTep6yprcKHH MepnypHH 4, 1796, 213—17 [Helsingfors U B ] ca. 1800 [anonym] ApnaflHa K Te3eio, HoBbie e>KeMecfl