Der erzählte Zögling: Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung [1. Aufl.] 9783839417379

Dieses Buch zeigt, wie Dokumente handeln, wie Informationen literarisch zu Tatbeständen gemacht werden - kurzum: wie ein

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German Pages 402 [404] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorrede
Einleitung
Kapitel 1: Besichtigung
1.1 Zum Aufbau der Darstellung
1.2 Zur Untersuchungsfrage
1.3 Die Untersuchungsfrage
1.4 Aktueller Forschungsstand
Kapitel 2: Projektierung
2.1 Zur Beobachtung des Beobachters beim Beobachten
2.2 Der Gegenstand der Untersuchung
2.3 Methode und Vorgehen der Untersuchung
Kapitel 3: Ortstermin – Erziehung im Schatten von Wissenschaft und Ideologie
3.1 Zum „Sozialen Rassismus“ im NS
3.2 Ziele und Möglichkeiten der Fürsorgeerziehung
3.3 Innere Mission und Diakonie
3.4 Die „Neinstedter Anstalten“
Kapitel 4: Was nicht in der Akte ist, ist nicht in der Welt
4.1 Aktenzögling A
4.2 Aktenzögling D
4.3 Aktenzögling H
4.4 Auswertung der Untersuchungsergebnisse
Kapitel 5: Resümee des erzählten Zöglings
5.1 Anliegen der Untersuchung
5.2 Zusammenführung der Untersuchungsergebnisse
Literatur und Quellen
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Der erzählte Zögling: Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung [1. Aufl.]
 9783839417379

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Matthias Zaft Der erzählte Zögling

Histoire | Band 24

Matthias Zaft (Dr. phil.) unterrichtet Medizingeschichte und -ethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und forscht zu wissenschaftshistorischen und -theoretischen Themen sowie zu ethischen Fragen der Technikfolgeabschätzung in der Medizin und den Biowissenschaften.

Matthias Zaft

Der erzählte Zögling Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Susanne Weidemann-Zaft Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1737-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorrede │ 7 Einleitung │ 11 Kapitel 1: Besichtigung │ 29

1.1 Zum Aufbau der Darstellung │ 29 1.2 Zur Untersuchungsfrage │ 31 1.3 Die Untersuchungsfrage │ 62 1.4 Aktueller Forschungsstand │ 66 Kapitel 2: Projektierung │ 75

2.1 Zur Beobachtung des Beobachters beim Beobachten │ 75 2.2 Der Gegenstand der Untersuchung │ 89 2.3 Methode und Vorgehen der Untersuchung │ 102 Kapitel 3: Ortstermin – Erziehung im Schatten von Wissenschaft und Ideologie │ 131

3.1 Zum „Sozialen Rassismus“ im NS │ 131 3.2 Ziele und Möglichkeiten der Fürsorgeerziehung │ 149 3.3 Innere Mission und Diakonie │ 153 3.4 Die „Neinstedter Anstalten“ │ 157

Kapitel 4: Was nicht in der Akte ist, ist nicht in der Welt │ 165

4.1 Aktenzögling A. │ 165 4.2 Aktenzögling D. │ 211 4.3 Aktenzögling H. │ 246 4.4 Auswertung der Untersuchungsergebnisse │ 337 Kapitel 5: Resümee des erzählten Zöglings │ 353

5.1 Anliegen der Untersuchung │ 354 5.2 Zusammenführung der Untersuchungsergebnisse │ 357 Literatur und Quellen │ 367

Vorrede

Im Sommer 2010 verteidigte ich an der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg meine Dissertation; in dieser Arbeit hatte ich mich den narrativen Strukturen in Biographien von Zöglingen deutscher Fürsorgeerziehung in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewidmet. Die vorliegende Veröffentlichung macht diese Untersuchung zugänglich, wenngleich es mit der Zugänglichkeit so eine Sache ist. Den an der Thematik Fürsorgeerziehung interessierten Leser etwa mag die ausführliche (und bisweilen möglicherweise auch umständlich erscheinende) Entwicklung des Untersuchungsansatzes, die Ausbreitung und detaillierte Begründung der Methodik, und die letztlich schrittweise Anwendung und Erprobung desselben am Material befremden, vielleicht auch langweilen. Bei diesem Leser entschuldige ich mich bereits an dieser Stelle; selbstverständlich nicht, ohne bei ihm dennoch auf eine gewinnbringende Lektüre zu hoffen, die erforderliche Willensstärke vorausgesetzt. Denjenigen Leser, den die Lektüreerfahrung sogenannter wissenschaftlicher Untersuchungen bislang nur mäßig bis zutiefst enttäuscht zurückgelassen hat, missgestimmt aus dem Grund, da solche Veröffentlichungen Forschungsresultate mit Vorliebe auf eine Weise präsentieren, als hätten die Ergebnisse sich aus dem Anliegen scheinbar von selbst ergeben, als hätte eine Idee am Gegenstand gleichsam nur noch überprüft und dann das Ergebnis notiert zu werden brauchen, diesen unzufriedenen Leser, zuallererst also auch mich selbst, hatte ich bei der Konzeption dieses Buches vor Augen. Deshalb habe ich die Form, in welcher die Untersuchung tatsächlich stattfand, für die Veröffentlichung beibehalten – nicht zum Ärgernis des Lesers, sondern zur Offenlegung der Bezüge meiner Arbeit, zur

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Überprüfbarkeit meiner Schlüsse, gern auch zur Anregung eigener Untersuchungen. Wenn auch um ihren akademisierten Sprachduktus gebracht, geben die folgenden Seiten Anliegen, Methodik und Ergebnisse dieser Qualifikationsarbeit unmittelbar wieder. (Der einem solchen Schreibanlass eigene Selbstvergewisserungs-Charme blieb der Veröffentlichung gleichwohl erhalten.) Für das gelingende Zustandekommen der Untersuchung möchte ich Reinhard Hörster und Pia Schmid (Universität Halle), Jürgen Wieggrebe und Manfred Pacho (Neinstedter Anstalten), Ute Hoffmann (Gedenkstätte für die Opfer der NS-‚Euthanasie‘ Bernburg) sowie Jutta Helm und der Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin) meinen herzlichen Dank aussprechen. Allen ungenannt gebliebenen kritischen, geduldigen, wachen und ungeduldigen Geistern um mich herum, weiß ich für ihren Einsatz nicht minder zu danken; ihre Fragen und Anregungen, ihr Interesse und ihre Stirnfalten haben gleichermaßen Anteil am Werden des erzählten Zöglings. Seine tatsächliche Geburt jedoch verdankt sich letztlich einzig dem Beistand des wiederum Schönsten dieser Geister. Ohne die Liebe und Kritik, die Ermutigung, die Unterstützung und den Widerspruch meiner Frau gäbe es weder mein Glück noch die nachfolgende Darstellung. 

Einleitung

I. „Es handelt sich in diesem Buch um Leben oder Untergang von jungen Menschen – um keine hysterische Verstiegenheit und auch keine weinerliche Beschwörung: der Mensch ist gut. Auch diese jungen Menschen, die eine verhängnisvolle Folge von Begebenheiten in Anstalten geworfen hat, wo man sich anmaßt, die jeweils geläufigen oder gewünschten Anschauungen über die Erziehung zur Nützlichkeit, Ergebenheit und einer bürgerlichen Sättigung, die von vorgestern anhängt, an ihnen auszuprobieren, haben den Kampf aller gegen alle auszutragen, in dem nur der Gesunde leben bleibt und Leben schafft.“1

Nicht zum Zweck der Widmung wurden diese Sätze dem erzählten Zögling vorangestellt – vielmehr umreißen sie den Ort,2 der in seiner Gesamtheit der Untersuchung als Basislager taugt. Von hier aus macht sie sich auf in verschiedene Richtungen, hierher kann sie zurückkehren, um erneut aufzubrechen.

1

LAMPEL (1929), S. 9.

2

In Wahrheit besteht dieser Ort aus mehreren Orten; eine solche Ortschaft bilden, ineinander verschränkt, etwa ein geistiger, ein sprachlicher und ein historischer Ort.

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Auch der Illustration des Untersuchungsanliegens dienen diese Sätze als Quartier. Sie stammen aus dem Buch: „Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen“, verfasst und herausgegeben von PETER MARTIN LAMPEL, erstmals erschienen im Jahr 1928. Die Veröffentlichung LAMPELS folgt seinen Erlebnissen als Hospitant in der Erziehungsanstalt ‚Struves Hof‘, „nur eine halbe Bahnstunde von Berlin entfernt“,3 und steht vertretend für die Zustände in deutschen Erziehungsheimen der Weimarer Republik, welche keineswegs nur die männlichen unter den Zöglingen betraf. Vom Alltag der Fürsorgeerziehung wird aus der Binnenperspektive in (man beachte den programmatischen Titel des Buches) „Jungen in Not“ berichtet, und darin tauchen vielfach ebenso alltägliche wie verschiedenfache Formen von Gewalterfahrung der Fürsorgezöglinge auf.4 Diese z.T. ‚regulären Erziehungsmittel‘ ebenso wie die Ermöglichung von Misshandlungen der Zöglinge auch untereinander, bildeten ferner über die Veröffentlichung Lampels hinaus manchenorts die An-

3

LAMPEL (1929), S. 11. „[...] Lampel, [...] deutsche[r] Wandervogel, Putschist, Schriftsteller und Maler[...].“ ITALIAANDER (1964). Die an ERVIN GOFFMAN erinnernde innenperspektivische Darstellung einer Institution mit totalitären Zügen, (wenngleich ohne den ‚Goffmanschen soziologischen Blick‘) ist bei LAMPEL von einer literarisch ambitionierten Sprache geprägt, die trotz berechtigter Vorbehalte (hinsichtlich literarischen Gesetzmäßigkeiten und Eigenlogiken) eine ‚Gegenschau‘ zu den funktionalen Anordnungen, Berichten und Gutachten der Fürsorgeerziehungsbehörden ermöglicht. Zu den (nicht nur politisch) nonkonformen ‚Haltungen‘ in LAMPELS Leben und Arbeiten ist bislang eine eher überschaubare Anzahl von Beiträgen erschienen, auf die antibürgerliche und antiliberale Positionierung LAMPELS in ‚Jungen in Not‘ wird an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen; nicht allein deshalb ist die Veröffentlichung von 1928 stärker als politische denn als pädagogische Schrift zu lesen. Zu LAMPEL vgl. RÜSING (2003), RINKE (2000), Freie Akademie der Künste Hamburg (Hg.) (1964).

4

Innerhalb der individuellen Unterbringungsverläufe und Behauptungsstrategien in den Einrichtungen wird in den Aufzeichnungen LAMPELS wiederholt ein von ausgeprägter körperlicher Gewalt bestimmter Umgang der Zöglinge untereinander sowie deren Anwendung als ‚Erziehungsmittel‘ seitens der Einrichtungsmitarbeiter herausgestellt. Vgl. LAMPEL (1929), S. 22ff.

E INLEITUNG | 13

klagepunkte gegen Mitarbeiter und Leitungskräfte von Erziehungsheimen.5 Zur Last gelegt wurden „brutale Behandlungsmethoden und Gewalttaten der [nicht selten] [...] auf sich allein gestellten und schlecht bezahlten ‚Erzieher‘ sowie eine starke Ausnutzung der ‚Zöglinge‘“, die ebenso wie „völlig unzureichende äußere Bedingungen in den Heimen“6 erstmals überhaupt öffentlich zur Sprache kamen. Mehrere Strafprozesse zwischen 1930 und 1932 führten zu einzelnen Verurteilungen sowie einer kurzzeitig verstärkten öffentlichen Wahrnehmung der Fürsorgeerziehung als ein reales Phänomen des Aufwachsens im 20. Jahrhundert. Dass es sich hierbei um einen zwar realen, gleichwohl traditionell marginalisierten Bereich handelte, dass nicht allein die ‚Zöglinge in Not‘ geraten waren, sondern die Fürsorgeerziehung insgesamt, ist auch in Zusammenhang zu stellen mit der Tatsache, dass das Gros der deutschen Bevölkerung mit der außerhäuslichen staatlichen Ersatzerziehung gar nicht in Berührung kam. Weniger als ein Prozent der Minderjährigen war von Alltag und Erziehungsbedingungen in Heimen der Fürsorgeerziehung direkt betroffen.7

II. Wurde man ins Nachkriegsdeutschland der 1920er Jahre geboren, war es sehr gut möglich, heranzuwachsen, ohne bis zum Abschluss der Schule oder dem Erreichen der Volljährigkeit auch nur einmal in ‚offiziellen‘ Kontakt mit anderen als den elterlichen Erziehungsberechtigten zu kommen. Wurde man ohne denselben Vater groß, lag das Risiko etwas höher; ‚normalerweise‘ aber geriet man mit den staatlichen Erziehungsbehörden nicht in Kontakt – und wenn doch, dann gelangten 99,3 von 100 Kindern und Jugendlichen schlussendlich nicht ins Heim.

5

Zu den Strafprozessen gegen Fürsorgeeinrichtungen in der Weimarer Republik BANACH (2007) u. HOFMANN/HÜBENER/MEUSINGER (Hg.) (2007).

6

HASENCLEVER zit. in: JORDAN/MÜNDER (Hg.) (1987), S. 26f.

7

Gesetzt den Fall, dass sich die Zahlen Preußens auf das gesamte Deutsche Reich übertragen lassen, befanden sich im Jahre 1925 etwa 0,7% aller Kinder und Jugendlichen in Fürsorgeerziehung (zur Berechnung siehe Anmerkung am Ende des Kapitels).

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In einem statistisch weniger ‚normalen‘ Fall, wenn etwa jemand die Regeln der Gesellschaft verletzte, z.B. Gewalt ‚unverhältnismäßig‘ ausübte oder erfuhr, zog das gewöhnlich korrigierende Maßnahmen nach sich; in Abhängigkeit von Person sowie von Schwere und Umständen des Falls wurden Ermahnungen und Verwarnungen ausgesprochen sowie Sanktionen verhängt; dies fiel unter die Zuständigkeit der Eltern bzw. der Schule, der Lehr- oder Beschäftigungsstelle. In manchen oder besonders schweren Fällen geschah es, dass das Jugendamt den Eltern Erziehungshilfen an die Seite stellte; schließlich sah man die erste Elternpflicht darin, das Kind zu einem tätigen Glied der Gesellschaft zu erziehen. „Das Jugendamt als Anwalt des ‚Wohls des Kindes‘ sollte die Bedürfnisse aller Jugendlichen, der gefährdeten wie der nicht gefährdeten, vertreten und war selbst der institutionelle Ausdruck vielfältiger Reformbestrebungen der Jahrhundertwende. Als Amtsvormund hatte es die Rechte der unehelichen Kinder und Waisen zu schützen sowie die Kinder zu beaufsichtigen, deren Eltern das Recht auf Erziehung ihrer Kinder eingebüßt hatten [...]. Die vom Jugendamt beauftragten Familienfürsorgerinnen hatten die Aufgabe, drohende oder bereits eingetretene Verwahrlosung zu erkennen – und wo notwendig – eine Unterbringung in einer Anstalt oder einer Pflegefamilie zu veranlassen.“8

Half Kind wie Eltern auch ein ambulanter Erziehungsbeistand nur wenig, bot sich, wenn möglich, die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder die Anwendung stationärer Erziehungshilfe (für das Kind als direkten Empfänger dieser Hilfe) an. Diese Maßnahme zielte auf die Herauslösung des Kindes aus der, seiner Entwicklung augenscheinlich nur unzureichend förderlichen, häuslichen Umgebung, um es alternativ in ein von pädagogisch geschulten Kräften gestaltetes Umfeld zu verbringen – wobei die Isolierung den eher technischen, und von daher leichter zu realisierenden Vorgang darstellt, während das Vorhandensein pädagogisch qualifizierten Personals vor Ort vom Gesetzgeber nicht garantiert werden konnte. Zwar war im Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG, im Juni 1922 im Reichstag verabschiedet, im Juli 1923 im Reichsgesetzblatt angezeigt und am 1. April 1924 „für ganz Deutschland“9 in Kraft getreten,) verkündet worden:

8

KUHLMANN (2008), S. 14f.

9

Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), Vorwort.

E INLEITUNG | 15

„Die öffentliche Ersatzerziehung dient der Durchführung des Rechts auf Erziehung nach § 1 und damit dem Ersatz der privaten Erziehung des oder der familienrechtlich zur Erziehung Berechtigten [...]“10,

die fachpersonellen Voraussetzungen für die Gestaltung einer geeigneten Erziehungssituation blieben aber ebenso ungenannt wie die anzuwendenden Erziehungskonzepte vage; letztere lassen sich am ehesten noch bezeichnen als situativ wähl- und anwendbar. „Sache der Ausführung der Ersatzerziehung ist die tunlichst vielseitige und anpassungsfähige Gestaltung namentlich der Anstaltserziehung [...] durch die richtigen, befähigten Erzieher [,] mittelst der der Eigenart des Zöglings am besten angepassten Erziehungsmethode eine Umbildung wenn nicht des Charakters, so doch der aus ihm fließenden Handlungen im Sinne der Gewöhnung an ein soziales Leben möglich sein muß.“11

Dem Gesetz nach musste ein jeder, dessen grundsätzliche Erziehbarkeit außer Frage stand, prinzipiell sich auch erziehen lassen können. Das Erziehungsziel öffentlicher Erziehung orientierte sich an dem eines Aufwachsens in der Herkunftsfamilie. „Das Kind ist für die Gesellschaft zu erziehen, und das Ziel der Erziehung bestimmt sich nach seiner Brauchbarkeit für die Gesellschaft.“12 Über Inhalt und Mittel dieser Zielsetzung bestand in erzieherischen Fachkreisen wie außerhalb derselben weitgehend Konsens, dem gegenüber „genuin pädagogische Reformdebatten [sich] nur mühsam“13 zu behaupten vermochten. „Menschen, die im Rahmen der Jugendwohlfahrt im besonderen Sinne pädagogisch interessiert waren, fanden sich in der ‚sozialpädagogischen Bewegung‘ zusammen, aus der heraus auch die ‚Gilde Soziale Arbeit‘ hervorging, die regelmäßig Tagungen und Treffen organisierte und zum Sprachrohr der reformorientierten Pädagoginnen und Pädagogen wurde [...]. Allerdings beeinflussten sie weit mehr die öffentliche Diskussion als die Praxis der Kinderheime und

10 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), in: BÄUMER/HARTMANN/ BECKER (1923), S. 216. 11 A.a.O., S. 217. 12 A.a.O., S. 36. 13 KUHLMANN (2008), S.15.

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Erziehungsanstalten, die erst um 1980 einen wirklichen Bruch mit der Tradition der alten ‚Zwangserziehung‘ vollzog.“14

Zu den gesetzlichen Unterbringungsgründen in Fürsorgeerziehung (im weiteren: FE) zählte ‚abweichendes Verhalten‘ beim Heranwachsenden ebenso wie seitens der oder des Erziehungsberechtigten; sexuelle Handlungen an oder andere Formen von Gewalt und Vernachlässigung gegenüber Minderjährigen waren insbesondere bei den weiblichen Zöglingen eine der häufigsten Ursachen für die Unterbringung in Erziehungseinrichtungen. CAROLA KUHLMANN weist darauf hin, dass in „[...] der Statistik der Fürsorgeerziehung [...] keine Kategorie [existierte], die als Einweisungsgrund den Mißbrauch oder die Vergewaltigung durch den Vater angab. Trotzdem machten gerade diese Fälle einen hohen Prozentsatz aus. In den Akten erschienen sie nicht selten, wenn auch oft in verschlüsselter, scheinbar unwichtiger Form. [...] [Doch] [n]icht nur durch Erwachsene, sondern auch innerhalb der eigenen Altersgruppe erlebten Mädchen sexuelle Gewalt.“15

Kam es zur Heimunterbringung, war der oder die Betreffende von nun an ein Zögling. Dieser blieb für mehrere Monate in der Einrichtung, wechselte unter Umständen das Erziehungsheim, so dass, bis zur Beendigung der Erziehungsmaßnahme, die gesamte Unterbringungsdauer durchaus einige Jahre betragen konnte, je nachdem, wie gut und wie schnell der Zögling vor Ort Fuß fassen und von den dortigen Kräften auf den gewünschten Weg (zurück-)gebracht werden konnte – beziehungsweise aus den Aufzeichnungen über den Zögling ein solcher Entwicklungsverlauf hervorging. Ließ die ‚Entwicklung‘ des Zöglings sich über einen längeren Zeitraum als ansteigende Kurve darstellen, und diese sich auch aus den Erziehungs- und Entwicklungsberichten, die von der Heimleitung regelmäßig ans Jugendamt und die FE-Behörde geschickt wurden, ablesen, dann erhöhte dies die Chancen, das Erziehungsheim in absehbarer Zeit zu verlassen. Zur durchschnittlichen Unterbringungsdauer von Zöglingen in Einrichtungen der Fürsorgeerziehung sind in den verfüg-

14 KUHLMANN (2008), S. 15. 15 KUHLMANN (1989), S. 97.

E INLEITUNG | 17

baren Statistiken keine Angaben enthalten, die für die vorliegende Untersuchung ausgewerteten Zöglingsakten weisen eine Unterbringungsspanne von 2 bis 8 Jahren auf. Grundsätzlich verließ das Heim erst wieder, an wem der Zweck seiner Fürsorgeerziehung erfüllt worden war. „Die Ursachen der Anordnung der FE. [...] geben den Aufschluß über den jeweiligen Zweck der einzelnen FE.; der Zweck kann daher nicht abstrakt festgelegt, sondern muß je nach dem vorbeugenden oder heilenden Charakter der FE. beantwortet werden; er unterscheidet sich grundsätzlich nicht von den Zielen jeder privaten Erziehung.“16

Galt ein solches Erziehungsziel als erreicht, wurde die Fürsorgeerziehung offiziell, d.h. von der zuständigen FE-Behörde, für beendet erklärt. Ebenso führte der Eintritt der Volljährigkeit des Zöglings (Vollendung seines 19. Lebensjahres) zur Beendigung der Erziehungsmaßnahme.

III. Ähnlich wie die Darstellungen des frühen NSDAP-Mitglieds (und späteren ‚Linken‘ und noch späteren Emigranten) PETER MARTIN LAMPEL in „Jungen in Not“ und „Revolte im Erziehungshaus“,17 setzt auch die vorliegende Untersuchung bei den Erziehungsobjekten der Fürsorgeerziehung der Weimarer Republik und ihres Nachfolgestaates an, beschäftigt sich mit außerfamiliären Korrektureinrichtungen und deren Klientel. Vor allem aber, und darin unterscheidet die Unter-

16 RJWG §62, Abs.3.: „Zweck der FE., wie er [...] hier kurz zusammenfassend angegeben wird, ist zunächst der allgemeine Zweck jeder Erziehung im Sinne einer planmäßigen Einwirkung auf den Zögling zur Förderung seiner körperlich, geistig und sittlichen Entwicklung. Im Besonderen dient die FE. je nach Lage des Einzelfalls der Verhütung drohender oder der Beseitigung eingetretener Verwahrlosung.“, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 217. 17 Auf LAMPELS Buch „Jungen in Not“ basierendes Theaterstück, erstmals aufgeführt 1928 im Berliner Thalia-Theater.

18 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

suchung sich von Veröffentlichungen wie der LAMPELS ebenso wie von den übrigen, bisher zur (Geschichte der) deutschen Fürsorgeerziehung erschienen wissenschaftlichen Arbeiten, untersucht sie, wie (auf welche Art und Weise) und wie stark (in welchem Maß) dasjenige, was lediglich flankierender Teil einer FE-Maßnahme zu sein scheint, tatsächlich ein integrativer Bestandteil derselben ist. Die Rede ist von der Zöglingsakte, einem nur vermeintlich trivialen Ort, an welchem unterschätzte Kräfte am Werk sind. Eine ihrer ersten Wirkungen zeigt sich in der Verdopplung des Ortes ‚Akte‘: neben dem Ordner zum Sammeln und Ordnen von Vorgangszeugnissen existiert von Beginn des Sammelns und Ordnens an auch der Topos ‚Akte‘, welcher ortsungebunden Deutungen und Erklärungen, Prognosen und Begründungen, im weitesten Sinne: ‚Wissen‘ vorrätig hält. Als Topos nicht minder wirkmächtig denn als realer Speicherraum zwischen zwei Pappdeckeln der Marke Leitz, sind beide ‚Orte‘ aufeinander angewiesen, mehr noch, sie verweisen unablässig aufeinander. Doch damit nicht genug, auch zwischen den Aktendeckeln existiert eine Art ‚unabgeschlossenes Verweissystem‘. Dasjenige Dokument, das als Teil einer Sammlung von Dokumenten in die Akte gelangt, ist nicht nur Träger einer Information, die von nun an und für lange Zeit ‚in der Akte steht‘ (Topos), dies Dokument verändert auch seine informative Bedeutung, und damit oftmals seinen sachlichen Gehalt in Abhängigkeit von seiner Position innerhalb der Akte; jederzeit besteht die Möglichkeit zur Konversion des einstmaligen Dokumenteninhalts, je nachdem, in welchem Zusammenhang es (an-)geordnet, zu welchen weiteren Dokumenten es in welche Beziehung gesetzt wird. So kann die Erziehereinschätzung eines Zöglings als ein vorwiegend in sich gekehrtes, stilles und kontaktvermeidendes Kind Verwendung finden als Beleg für die Sehnsucht des Jungen oder Mädchen nach seiner Herkunftsfamilie ebenso wie als Indiz für die ‚Ererbtheit‘ der mütterlichen Schwermut mit Hang zu Depressionen. In Abhängigkeit von der Frage, welche an die Akte gestellt wird, in Abhängigkeit von der zu treffenden Entscheidung, etwa der Genehmigung eines halbwöchigen Urlaubs vom Heim nach Hause oder des ‚Gebotenseins‘ einer Anzeige zur Unfruchtbarmachung beim Erbgesundheitsgericht, hängt die Verwendung desselben Dokuments zu durchweg unterschiedlichen Beweisführungen ab, und in keinem der beiden Szenarien mit minder größerer ‚Richtigkeit‘.

E INLEITUNG | 19

Für jeden Zögling existierte eine solche Dokumentensammlung, von jedem Zögling gab es eine Akte; er brachte sie mit ins Heim, oder besser: sie folgte ihm dorthin. In der Akte wurde festgehalten, gesammelt und fixiert, was für den ‚Fall‘ relevant schien. Informationen verschiedenen Typs und unterschiedlicher Herkunft, schwarz auf weiß, ob Tinte oder Bleistift: was einmal in der Akte stand, war nunmehr in der Welt und existierte; der Mädchenname der Großmutter, das ‚(un-)sittliche Verhalten‘ der Kindsmutter, die Krankheiten des Großvaters, die Todesursache des Vaters, die Arbeitsstelle des Stiefvaters, und ob er trinkt, die Einschätzung vom ehemaligen Klassenlehrer, die Untersuchungsergebnisse vom Heimarzt, das Verhältnis zu den übrigen Zöglingen, die Schulnoten vom letzten Zeugnis und dem davor, ob man Post bekam und von wem, ob man schon einmal versucht hatte, das Heim zu verlassen und ob man log, wie oft man ins Bett machte und eigentlich alles, was jemals wichtig sein könnte, um Aussagen über den Zögling und seine Entwicklung zu treffen; an erster Stelle natürlich der Grund für die Fürsorgeerziehung, die Anordnungsursache der Maßnahme, ein die Zöglingsbiographie in mehrfacher Hinsicht ‚eröffnendes‘ Dokument. In den bislang erschienenen Untersuchungen18 zu Zöglingsbiographien wurden die Akten der Fürsorgeerziehung selten anders gelesen und untersucht als in anderen Institutionen entstandene, schriftliche Quellensammlungen zu Personen und Vorgängen auch: als regelrechte Faktenträger, als objektive Datensammlungen, mit deren Hilfe – unter fachkundigem und quellenkritischem Gebrauch – Abläufe rekonstruiert und nach bestimmten Kriterien einer Bewertung unterzogen wurden; vielfach jedoch, ohne die Bedingungen solcher Wirklichkeitskonstruktionen methodenkritisch zu thematisieren. In unserer Darstellung wird demgegenüber aufgezeigt, dass die Zöglingsakte zwar ein im Verlauf der Fürsorgeerziehung anwachsender Korpus von Dokumenten ist, Dokumenten heterogenen Typs, erstellt an verschiedenen Orten unter verschiedenen situativen Bedingungen, der Gebrauch dieser Dokumentensammlung jedoch durchaus ambivalenter Natur ist. Die Verwendung der gesammelten Aufzeichnungen

18 Vgl. die Arbeiten von BANACH (2007), BLUM-GEENEN/KAMINSKY (1995), FASTNACHT (1992), KENKMANN (1992), FENNER (1991), KUHLMANN (1989), AICH (Hg.) (1973).

20 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

dazu, Aussagen zum bisherigen Verlauf der Erziehungsmaßnahme zu treffen (Retrodiktion), verlangt nämlich ebenso nach einer Anordnung des Materials zu einem ‚aussagekräftigen Muster‘, wie es auch bei entwicklungsprognostischen Aussagen (Prädiktion) der Fall ist. Unter der Prämisse, dass die gesammelten Aufzeichnungen zwischen den Zöglingsaktendeckeln deutlich weniger Darstellungen der ‚Entwicklung‘ oder das ‚Abbild‘ des ‚Erziehungsverlaufs‘ eines Zöglings sind, sondern vielmehr den Eigenheiten (Strukturen, Gesetzen, ‚Mechanismen‘) des Mediums ihrer Verfasstheit unterliegen: der Sprache (konkret: des zur Wissens-Organisation, -Vermittlung und -Darstellung gewählten Narrativs), arbeitet die Untersuchung die konstituierenden Bedingungen und Elemente eines solchen und deren Handhabung sowie die Konsequenzen dieser Form(en) von Wissensbildung für den Betreffenden heraus. Nicht von ungefähr den medizinischen Fallgeschichten19 von Patienten ähnlich (oder gar verwandt?), ‚erzählen‘ auch die Aufzeichnungen zur jeweiligen Erziehungsmaßnahme eines Zöglings, und zwar im Wortsinn. Um solcherart Wissen bereitzustellen, welches zu Aussagen und Handlungen befähigt, folgt der Gebrauch der Materialien einer Zöglingsakte nicht minder literarischen Mustern der Wissensproduktion, als dies der Gattungszugehörigkeit nach ‚offizielle‘ Literatur auch praktiziert. Zu diesen, bei der Hervorbringung sprachlich an-

19 „Seit die Medizin existiert, hat es Fallgeschichten gegeben – mit wechselnder Intensität kamen sie seit Hippokrates zur Anwendung –, nie aber waren sie für die Rationalität und Autorität der Disziplin derart bestimmend wie zum Zeitpunkt ihrer Durchsetzung als empirischer (Natur-)Wissenschaft (1800), nie kamen sie derart epidemisch zur Darstellung wie zum Zeitpunkt ihrer zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung (1900) und nie wirkten sie derart über die Klinik hinaus als Paradigma einer ganzen Kultur und Literatur wie am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert.“ RALSER (2006), S. 116. Zur Konstruktion von Wissen in und durch medizinische(n) Fallgeschichten MEIER (2006), zur Narrativität und Geschichte der klinisch-psychiatrischen Fallgeschichte RALSER (2006), zur Poetologie des Wissens der Moderne RENNECKE (2008), zur Sprache von Krankenakten als Quelle der Sprachgeschichte vgl. Arbeitsstelle Holocaustliteratur, Institut für Germanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen, http://www.holocaustlite ratur.de/index.php?content=85&category=10.

E INLEITUNG | 21

wendbarer Wissensformationen und deren Darstellung erfolgreich angewandten, literarischen Strategien und Praktiken lassen sich die Homogenisierung, Chronologisierung und Telelogisierung des Darzustellenden zählen. Im Fall einer Erziehungsmaßnahme benötigt der ‚abzubildende‘ Verlauf dieser Maßnahme eine Richtung, benötigt die ‚Entwicklung‘ des Zöglings innerhalb dieser Maßnahme Differenzen, um als ‚Entwicklung‘ überhaupt erfassbar zu sein, sowie Gründe und Motive für die Richtung, das Maß und die Dauer ihres Verlaufs. Der tatsächliche, faktische Informationsgehalt der einzelnen Dokumente der Zöglingsakte kommt ‚von sich aus‘ in diesem Verfahren weitaus anders zum Tragen, als bei seiner Erstellung absehbar ist; selbst ein ‚Schlüsseldokument‘ wie der Unterbringungsbeschluss bekommt im Prozess der Unterbringung gegebenenfalls verschiedene Funktionen und Positionen (‚Rollen‘) in der Narration des ‚Fallverlaufs‘ zugewiesen. Die Anordnung von Momentaufnahmen zu einer stimmigen Folge, die Organisation situativer Darstellungen und kontingenter Einzelgeschehnisse zu einem sinnhaften Ganzen: einer konsistenten und kohärenten Unterbringungsgeschichte, erfolgt unter Einsatz genuin literarischer Verfahren in der Akte eines Zöglings. Setzen wir die in der Unterbringungsgeschichte eines Zöglings mündende Organisation einzelner dokumentierter Elemente analog zur medizinischen Fallgeschichte „am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert“,20 dann finden sich Ausgangspunkt, Anliegen und Selbstverständnis der vorliegenden Untersuchung zusammengefasst in der Aussage von MICHAELA RALSER zur Fallgeschichte wieder: „Was die Fallgeschichte aber im Eigentlichen ausmacht, bringt sie über die Klinik hinaus: ihre unhintergehbar narrative Struktur. Diese gilt für all ihre Formen [...]. Noch die Wissenschaftlichste ihres Genres ist auf die Erzählung als Kohärenz, Evidenz und Sinn stiftendes Darstellungselement angewiesen. Man mag der Poetik des Falls misstrauen oder ihr erliegen, sicher ist, dass die Form der Fallgeschichte das Potential in sich trug und trägt, nicht nur Erzählung zu sein, sondern auch Erzählungen in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.“21

20 RALSER (2006), S. 116. 21 A.a.O., S. 117.

22 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

Demnach ist die Zöglingsakte weit mehr als ein Requisit in einem behördlichen Verfahren und pädagogischem Prozess, mehr auch als die Ansammlung von Zustandsbeschreibungen (Darstellungen) und diese verknüpfende Empfehlungen und Anordnungen: Ohne sich diese Leistungen reflexiv zu vergegenwärtigen, bildet die Akte selbst ein großes Narrativ, zusammengesetzt aus teilweise abgeschlossenen, teilweise durchgängig miteinander verknüpften Erzählungen (Geschichte eines Milieus, Geschichte eines Missbrauchs, Geschichte einer Verwahrlosung, Geschichte der Unterbringung einer Verwahrlosung in FE, Geschichte von Erziehungshindernissen, Geschichten aus dem Heim); und zwar deutlich mehr, als in wissenschaftlichen Untersuchungen zu Zöglingsbiographien bislang berücksichtigt. In der vorliegenden Studie gehen wir von daher der Frage nach, wie das spezifische Wissen vom Zögling als Objekt öffentlicher erzieherischer Maßnahmen zustande kam, mittels dessen Entscheidungen über (weitere Erziehungs-)Maßnahmen gefällt und begründet wurden, die den Unterbringungsverlauf des Zöglings (als Bestandteil seiner Biographie) maßgeblich beeinflussen sollten. Dabei wird die Prämisse zugrundegelegt, dass die Zöglingsakte, als Topos wie als tatsächlicher Ort, an dem „das Fach- und Dienstwissen der Bürokratie planmäßig [aufgenommen und] geordnet“22 wird, ihr performatives Potential primär entlang einer sprachlich-narrativen Ordnungslogik entfaltete. Untersucht werden die Dokumente der Zöglingsakten auf ihre Ordnungslogik und Struktur hin, mittels derer das heterogene Material zu konstitutiven Elementen jeweils einer durchgängigen Erzählung gefügt werden konnte, deren Untertitel, gleich um welchen Zögling es sich handelt, lauten könnte: Geschichte einer Verwahrlosung. Ausgehend vom Ort und Vorgang, an dem die Untersuchung ansetzt und welcher derselbe ist, an und in dem das Erziehungsobjekt Zögling hervorgebracht wurde: die Fallgeschichte in der Zöglingsakte nämlich, präsentiert sich der Zögling auch als literarische Figur, und zwar nicht nur bei Peter Martin Lampel, sondern als ein Resultat administrativer und pädagogischer Vorgänge. Da das den jeweiligen, einzelnen Fallgeschichten gemeine, konstitutive Element in der Anordnung der Aussagen, in der Struktur des

22 Brockhaus-Enzyklopädie (1986), Bd. 01, S. 285, Stichwort: Akten.

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Materials vermutet wird, und nicht als ein den beschriebenen Personen gemeinsames, identisches Merkmal, werden diese Erzählungen über Zöglinge der Erziehungsfürsorge aus den 1930er und -40er Jahren in ihrer narrativen Verfasstheit strukturanalytisch untersucht. Die Zöglingsakten stammen von verschiedenen Erziehungseinrichtungen, und ‚folgten‘ den Zöglingen letztlich in die „Neinstedter Anstalten“, einer Einrichtung der Inneren Mission im damaligen Freistaat Anhalt (heutiges Sachsen-Anhalt), wo die männlichen Kinder und Jugendlichen zum Zweck der Fürsorgeerziehung im Knabenheim „Lindenhof“ untergebracht worden waren. Die über den gesamten Zeitraum der Untersuchung erfolgte Quellensuche in den Archiven des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt (LHA-SA), diverser Stadtarchive sowie den ehemaligen Erziehungseinrichtungen des Landes Anhalt, führte zu verschiedenen Resultaten. So ließen trotz intensiver Materialsichtung in besagten Archiven und Einrichtungen sich keine kompletten Zöglingsakten ausfindig machen – mit Ausnahme der Funde im Neinstedter „Lukashauses“ im August 2006; nichtsdestotrotz erfolgte im Zuge der Recherchen die Aufnahme und Ausarbeitung von – für die historische Kontextualisierung der Fürsorgeerziehung im Freistaat Anhalt – durchaus relevantem Material: so sprechen die Akten ebenso von versuchter Einflussnahme von NSV und HJ auf Jugendamts- und Jugendgerichtsverfahren wie von (letztlich) erfolgreicher Verweigerungshaltung seitens der Erziehungsverbände gegenüber (partei-)politischer Instrumentalisierung ihrer Heime, enthalten Sterilisations- und ‚Verlegungs‘-Listen minderjähriger Zöglinge, künden vom Bemühen eines Heimleiters um erhöhte Mittelzuweisungen, von der Forderung eines anderen Heimleiters nach einer deutlichen Imageverbesserung der Erziehungsheime, von Anzeigen zur Unfruchtbarmachung und deren Begründungen, vom Aspekt der Arbeitskraft ‚Zögling‘, und weiterem mehr. Die Ergebnisse der – insgesamt 7313 Blatt bearbeiteten Aktenmaterials – dienen gemeinsam mit der einschlägigen Forschungsliteratur der Kontextualisierung wie Kontrastierung der ‚Schwerpunktquellen‘ der Studie, der Aktendokumente der „Neinstedter Anstalten“. Diese Akten sind Teil des im „Lukashaus“ der „Neinstedter Anstalten“ schlummernden, und mir dankenswerterweise zum Zweck der Untersuchung zugänglich gemachten Quellenkorpus; dieser weist

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einen Umfang von ca. 2000 Akten23 auf, allesamt in stark verschmutzen Zustand; von diesen, sowohl Zöglings- und Pfleglingsakten,24 wurden für die Untersuchung insgesamt 105 Einheiten gesichtet, von denen sich 65 aufgrund des enthaltenen Materials, dessen Dichte und Zugänglichkeit als relevant hinsichtlich der Forschungsfrage erwiesen,25 diese wurden transkribiert (2430 Blatt) und im weiteren nach nunmehr spezifizierten Kriterien schließlich diejenigen drei Zöglingsakten mit einem Umfang von insgesamt 809 Blatt ausgewählt, an welchen schließlich die Textanalyse angewendet und das Zustandekommen und ‚Konsistenzerhalten‘ des Objekts Zögling anhand des Verlaufs der jeweiligen Zöglingsbiographie untersucht werden konnte. Hierzu erfolgte die Analyse der Texte ausgewählter Dokumente hinsichtlich Aufbau und Struktur des Textes, eine Analyse und Verwendung der lexikalischen Mittel26 (hinsichtlich Bedeutungshervorbringung und -zuweisung, v.a. Verben), eine Analyse der Geschehensebenen,27 die Ermittlung von Erzählmodus und Erzählhaltung sowie eine Isolierung der Geschehensmomente. Wenn nämlich der Zögling in den Dokumenten ‚seiner‘ Akte nicht nur ‚erschriebenes‘ Resultat einer fortwährenden Narration war, sondern immer auch selbst als Skript für den Umgang mit dem Anstaltszögling Verwendung fand, galt es, dieses Skript in den Texten sichtbar

23 Die 105 bearbeiteten Akteneinheiten enthielten durchschnittlich 30-50 Blatt; legt man dieses Verhältnis für den übrigen Bestand zugrunde, ist von einem Aktenkorpus von 80.000 Blatt auszugehen. 24 Pflegling war die Bezeichnung für eine Person gleich welchen Alters und Geschlechts, die wegen „geistiger Behinderung oder Anfallserkrankungen“ in einer Einrichtung wie der „Elisabethstiftung“ in Neinstedt untergebracht wurde. Ein Zögling wurde diejenige minderjährige Person, gleich welchen Geschlechts, genannt, die infolge vormundschaftsrichterlicher Anordnung von Fürsorgeerziehung in einer Erziehungseinrichtung wie dem „Lindenhof“ in Neinstedt untergebracht wurde. 25 Zur Untersuchungsfrage: Kapitel 1, Die Untersuchungsfrage; zu den Auswahlkriterien ausführlich: Kapitel 2, Auswahl der Akten. 26 Welche Wörter werden in welchen Texten wie verwendet? Vgl. RIECKE/ FEUCHERT, S. 10. 27 Geschehensebenen meint die Ebenen des Textes der Geschichte, deren primärer Organisationsmodus ein chronologischer ist.

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zu machen. Dazu müssen die Texte als literarische gelesen und untersucht werden.

IV. So handelt, verkürzend und zusammenfassend gesagt, die folgende Arbeit von Erziehung, Zöglingen und Sprache. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Annahme, dass ein spezifischer Gegenstand in seinen Eigenschaften maßgeblich bestimmt wird von den Umständen seiner Hervorbringung sowie des Mediums, mittels und innerhalb dessen er konstituiert wird. Untersucht wird am Beispiel der Fürsorgeerziehung, was Sprache vermag, wenn sie zur Beschreibung und Darstellung von Sachverhalten sowie zur Erklärung von Ereignissen und Vorgängen Verwendung findet. Die Fürsorgeerziehung diente für den untersuchten Zeitraum dazu, Minderjährige, deren Benehmen und Eigenschaften derart beschrieben wurden, dass es gewissen Kriterien entsprach, unter Anwendung erzieherischer Maßnahmen mittelfristig zu erwünschten Verhaltensweisen zu motivieren. Um unerwünschtes wie angestrebtes Verhalten überhaupt ‚fassen‘ zu können, bediente man sich (nicht nur) in der Fürsorgeerziehung der Darstellung desselben unter Verwendung sprachlicher Mittel; ebenso zur Erklärung von Vorkommnissen und Ereignissen und der Verbindung solcher zu Vorgängen und Abläufen. Diese Darstellungen fanden Eingang in die Zöglingsakte – und in die Zöglingsbiographie. Da nominelle ‚Beschreibungen‘ immer auch Hervorbringungen sind, kommen beim Vorgang der ‚Darstellung‘ Deutungs- und Plausibilitätsmuster zur Anwendung, die mit dem darzustellenden Gegenstand ursächlich nicht das Geringste zu tun haben müssen, mehr noch: beim besagten Gegenstand, in der Untersuchung dem Zögling, handelt es sich um das Objekt einer Erziehungsmaßnahme, den das Aufschreibsystem der Fürsorgeerziehung als solchen erzeugte und hinterließ. Seinen Spuren in den materialen Hinterlassenschaften geht die Untersuchung nach; die Akten der ‚Maßnahme Fürsorgeerziehung‘ bilden den Ort dieser Suche, um herauszufinden, wie Gegenstand und (Re-)Präsentationsmedium einander bedingen. Sichtbares und spürbares Medium solch prozesshafter Aktivität ist die Sprache, dem Untersuchenden zugänglich als Schriftsprache. Die

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institutionellen Biographien von Fürsorgezöglingen werden aus diesem Grund und zu diesem Zweck auf ihren sprachlich erzeugten Realitätsanspruch und ihre interne Konsistenz hin beforscht. Dazu begibt die Untersuchung sich methodisch in Analysebereiche, die in der jüngeren Sprachwissenschaft und Literaturtheorie wurzeln. Die Wirkweisen narrativer Strukturen bilden den Fluchtpunkt, auf den die Abhandlung zuhält, der, wenn es glückt, wiederum sie zusammenhält. Viele unserer Erkenntnis- und Erklärungsprozesse sind unwissentlich eingebettet in tradierte Erzählordnungen; ‚logisches Denken‘ oftmals nicht minder als ‚sachliche Darstellungen‘ und ‚wissenschaftliches Argumentieren‘. (Unterschiede liegen allenfalls im Grad der Offenlegung zugrundeliegender Paradigmen und Prämissen). Auch in dieser Darstellung als Präsentation einer wissenschaftlichen Untersuchung kommen Erzählmuster und Sprachbilder zur Anwendung; manche von ihnen ‚scheinen durch‘, andere ‚verbergen‘ sich im Text – dem für die Untersuchung verfassten ebenso wie dem analysierten eines jeden Akteneintrags. Die bei der Nennung und Beschreibung von Personen in der Arbeit erfolgte Verwendung zumeist nur einen grammatischen Geschlechts, des generischen Maskulinums, erfolgt nicht aus politischen Gründen, sondern hat seine Ursachen im Pragmatischen und Sprachästhetischen. Soweit nicht anders benannt, wurde die weibliche Form mitgedacht und mitgemeint. Die Heranziehung und Analyse von Akten durchweg männlicher Zöglinge liegt ursächlich ebenso wenig im Politischen begründet, sondern ist schlichtweg trivial zu nennendes Resultat des Umstandes, dass die einzig vollständigen und zum Zweck der Untersuchung zugänglichen Zöglingsakten aus einem ehemaligen Knabenheim stammen. Nicht der ‚Rekonstruktion‘ des in den Akten geschilderten Geschehens gilt das Forschungsinteresse der Untersuchung, nicht der Geschichtlichkeit und dem Beharrungspotential pädagogischer Konzepte; der Rhetorik der Wissensproduktion für den konkreten Fall der Zöglingskonstituierung mittels ‚seiner‘ Akte nachzugehen, die Entfaltung der sprachlich-narrativen Ordnungslogik ihrer sprachlichen Verfasstheit nachzuzeichnen, machen Anliegen und Ziel der Untersuchung aus. Und nicht zuletzt, Antwort geben zu können auf die Frage, ob eine Akte gelesen werden kann als Ort von Hervorbringung und Bewahrung, Bewährung und Entscheidung.

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Um der Ergebnispräsentation der Arbeit vorzugreifen: für die untersuchten Akten lässt sich nachweisen, dass die in ihnen versammelten Dokumente und deren Arrangement maßgeblich den weiteren Verlauf, den ‚Erfolg‘ oder ‚Misserfolg‘ der Erziehungsmaßnahme beeinflussten. Von daher sind die Ankündigungen PETER MARTIN LAMPELS, sein Buch würde handeln vom „Leben oder Untergang junger Menschen“ auf die Untersuchung übertragbar auch insofern, als dass diese das Zustandekommen von Aussagen untersucht, das Leben desjenigen unmittelbar betreffend, der in den Fürsorgeakten geführt wurde. Der Logik dieser Aussagen zufolge gewinnt der letzte zitierte Satz LAMPELS an eigener Geltung, wonach „nur der Gesunde leben bleibt und 28 Leben schafft“ – (erb-)kranken Zöglingen drohte die Unfruchtbarmachung, einigen drohte die Ermordung; über die Notwendigkeit solcher ‚Maßnahmen‘ entschied nicht zuletzt ‚ihre‘ Akte. Anmerkung zur Berechnung der Zöglingszahl in der Weimarer Republik Dass sich in den 1920er Jahren etwa 0,7% aller Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 20 Jahren in Fürsorgeerziehung befanden, lässt sich zahlenmäßig nicht absolut belegen – dennoch scheint die Zahl als ‚Richtwert‘ durchaus ihre Berechtigung zu haben. Geht man davon aus, dass, entsprechend der Ergebnisse der Volkszählung von 1925, in jenem Jahr im gesamten Deutschen Reich 63.178.619 Einwohner lebten (siehe Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich für das Jahr 1929, hg. vom Statistischen Reichsamt, Jg. 48, Berlin [1929], S. 5) und sich (Backes u. Clemens [1998], S. 34 zufolge) unter diesen 15.668.297 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 20 Jahren befanden, so erhält man für diese Altersspanne einen prozentualen Wert von 24,8% in Bezug auf die Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 1925. Um nun zu ermitteln, wie viele der 15,7 Millionen Kinder und Jugendliche Fürsorgezöglinge waren, ließe sich der Weg mit Peukert ([1986], S. 329 und 349) über Preußen gehen. Spätestens hier wird es jedoch relativ ungenau. Peukert liefert zwar belegbare Zahlen (Preuß. Statistik über die Fürsorgeerziehung 1923 und 1928), die Bezugsgrößen jedoch bleiben unbelegt. Für unser Rechenbeispiel taugen demnach nur Erstere: Für das Jahr 1925 wurden für

28 LAMPEL (1929), S. 9.

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Preußen 64.384 Zöglinge ermittelt. Preußen war damals nach wie vor die bevölkerungsreichste und flächenmäßig größte Einheit des Deutschen Reiches. Mutmaßen wir also, dass sich der Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 20 Jahren von 24,8% der Gesamtbevölkerung auf rein preußische Verhältnisse übertragen läßt. Der Volkszählung von 1925 zufolge hatte Preußen (laut Handbuch für den Preußischen Staat für das Jahr 1930, hg. vom Preußischen Staatsministerium, Jg. 136, Berlin 1930, S. 48) im selben Jahr 38.175.989 Einwohner – und entsprechend (mit Hilfe der ‚vagen‘ Prozentgröße von 24,8 ermittelt) 9.467.645 Kinder und Jugendliche im Alter von 6-20 Jahren. Setzen wir nun die benannten Parameter für Preußen zueinander in Beziehung, so ergibt sich aus der Anzahl der Fürsorgezöglinge in Bezug auf die Gesamtzahl der Personen der entsprechenden Altersspanne ein prozentualer Wert von 0,68. Wiederholt davon ausgehendend, dass sich die preußischen Verhältnisse auf das gesamte Deutsche Reich übertragen lassen, kommen wir nach dieser Rechnung zu dem Schluss, dass sich im Jahre 1925 etwa 0,7% aller Kinder und Jugendlichen in Fürsorgeerziehung befanden.

Kapitel 1: Besichtigung

1.1 Z UM AUFBAU DER D ARSTELLUNG Bevor wir uns in die Untersuchung hineinbegeben, ein kurzer, dafür durch und durch trockener Überblick zu deren Aufbau und Darstellung. Die Untersuchung der narrativen Strukturen in Zöglingsbiographien ist demnach gegliedert in 5 Kapitel. Das 1. Kapitel wirft einen historischen Blick auf die Fürsorgeerziehung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, und entwickelt daran (und daraus) die Fragestellung der Arbeit. Der historische Teil ist dabei relativ knapp gehalten, dient er dem Anliegen der Untersuchung entsprechend vielmehr zum Aufspannen eines Verortungsrahmens des zu untersuchenden historischen Geschehens als einer Analyse der Geschichte der Fürsorgeerziehung in Weimarer Republik und Nationalsozialismus, ihrer Bedingungen, Institutionen und Selbstverständnisse.29 Darüber hinaus kommen in jeder, selbst einer nominell beschreibenden Darstellung vergangener Ereignisse beim Verfasser vorhandene, historische (und politische) Deutungsmuster zum Tragen; dem vollständig zu entgehen, gelingt freilich selbst nicht über die Kürze einer Darstellung, dennoch verringert dieselbe zumindest den Anspruch impliziter Deutungshoheit. Aus dem Aufriss des für die Untersuchung relevanten historischen Geschehens (1.2) wird die Untersuchungsfrage herausgearbeitet (1.2 und 1.3), sowie am aktuellen Forschungsstand zur Fürsorgeerziehung in Weimarer Republik und Nationalsozialismus geprüft (1.4).

29 Zu Jugendpolitik und Jugendfürsorge im Nazismus siehe ausführlich STEINACKER (2006), S. 428-889.

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Nachdem die Fragestellung der Untersuchung formuliert und begründet ist, wird sie im 2. Kapitel in Bezug gesetzt zum Untersuchungsgegenstand. Zu diesem Zweck wird derselbe aus (wissens-)theoretischen Vorannahmen und Ausführungen (2.1) isoliert (2.2), und im Weiteren die zu verwendende Untersuchungsmethode entsprechend der Verfasstheit und Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes entwickelt und beschrieben (2.3). Das 3. Kapitel nimmt erneut historisches Geschehen in den Blick, dergestalt, dass ergänzend zum Verortungsrahmen fürsorgerischen Handelns (vgl. Kapitel 1) nun nach Konzepten hinter den Erziehungsund Sozialisationsbedingungen im Nationalsozialismus gefragt wird. Dazu dienen Überlegungen und Ausführungen zum positivistischen Menschenbild des Sozialrassismus und der Rassenhygiene (3.1). Was bedeuten die Erwartungen an ‚die‘ Wissenschaften bezüglich der ‚Verbesserung des Menschen‘ für die ‚zu Verbessernden‘ (Patienten, Pfleglinge, Zöglinge)? Diesem Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit in der Fürsorgeerziehung widmet sich das Unterkapitel 3.2, um sich im Anschluss den Institutionen und Orten der Umsetzungsbemühungen zuzuwenden. Entsprechend wird das Kapitel beschlossen von der Beschreibung desjenigen konfessionellen Anbieters öffentlicher Erziehung, welcher mit der Fürsorgeerziehung der untersuchten ‚Fälle‘ betraut worden war, der Inneren Mission/Diakonie (3.3), sowie einer übersichtsartigen Darstellung einer entsprechenden Einrichtung, den „Neinstedter Anstalten“ (3.4). In Kapitel 4 nun kommt endlich die Untersuchungsfrage am Untersuchungsgegenstand zur Anwendung; die Akten von drei, zwischen 1934 und 1940 in den „Neinstedter Anstalten“ als Zöglinge zur Erziehung Untergebrachten werden mithilfe des (in 2.4 entwickelten ) textanalytischen Verfahrens daraufhin untersucht, von welcher Art das spezifische Wissen vom Zögling in dessen Akte, seine Genese und ‚Natur‘ war – und mit welchen Folgen für seine Zöglingsbiographie. Der letzte Teil der Arbeit, das 5. Kapitel, führt die (in Kapitel 4) erarbeiteten Ergebnisse der Akten(text-)Analyse mit den Ausgangsfragen der Untersuchung zusammen, prüft, inwieweit die eingangs aufgestellten Hypothesen am untersuchten Gegenstand eingelöst werden konnten bzw., wie weit und unter welchen Bedingungen sie über diesen hinaus Geltung beanspruchen können.

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1.2 Z UR U NTERSUCHUNGSFRAGE Probleme beim Aufwachsen Die vorliegende Abhandlung hängt maßgeblich zusammen mit dem Phänomen, dass zwischen den verschiedenen menschlichen Lebensaltern ein, in unserem Jahrhundert als ‚Heranwachsen‘ oder als ‚Jugend‘ bezeichneter, biographischer Abschnitt liegt, welcher verbunden ist mit Reiz wie Risiko gleichermaßen. Als riskant wird der Abschnitt in mancherlei Hinsicht von den Heranwachsenden selbst, in ungleich höherem Maß aber vom übrigen Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Nun sind Klage (über den verderbten Zustand der Jugend) und (eine daraus abgeleitete) Furcht vor der Zukunft beileibe kein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts, sondern bereits vor der Antike auftretende (rhetorische) Figuren des Erfolgsstücks: … denn sie wissen nicht, was sie tun. Die Entstehung der Schriftsprache vor ca. 5500 Jahren ermöglichte u.a. auch, die Sorge der älteren über die heranwachsende Generation in angemessene Worte zu kleiden, und so der Nachwelt zu überliefern. An die 4000 Jahre währen die – schriftlich dokumentierten – Klagegesänge nun schon, und mit einer Absetzung des Stückes ist alsbald nicht zu rechnen. Die Untersuchung, Darstellung und Einschätzung der zu verschiedenen Zeiten durchaus verschiedenen Umgangsweisen mit und Zuständigkeiten für die unumgehbare Tatsache des Heranwachsens erfolgte bereits in einer Vielzahl von Arbeiten,30 und bildet das Anliegen dieses Buches nicht. Stattdessen setzen wir, relativ spät, in ‚der‘ europäischen Moderne31 ein, zu einer Zeit, in der die Versorgung und Erziehung ‚bedürftiger‘

30 Dieser Angelegenheit widmen sich Arbeiten von ARIES (1977), SHORTER (1977), DE MAUSE (1979), GILLIS (1980), TREMP (2000), LEVI/ SCHMITT (1996, 1997), ELIAS (1976, 1997), HONIG (1999) u.a. 31 Der formale Epochenbegriff kann und soll nicht über die Heterogenität und Dialektik der Moderne, ihren (uneinholbaren) Anspruch nach Freiheit und Gleichheit aller von Anfang an, ihre materialistisch geprägte Wirklichkeit und ihre „Reaktivierung mythischer Kräfte“ inmitten einer vermeintlichen Vorherrschaft instrumenteller Vernunft hinwegtäuschen. So liegt für WALTER BENJAMIN ein, wenn nicht sogar das Wesensmerkmal moder-

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Kinder und Jugendlicher als öffentliche Angelegenheit bereits gesellschaftlich installiert war und die zunehmende alleinige Zuständigkeit des Staates sich in der Herausbildung und Konsolidierung außerfamiliärer Erziehungseinrichtungen äußerte. Die Frage nach der Gründerzeit einer modernen Jugendfürsorge beantworten entsprechende Untersuchungen in Abhängigkeit ihres Ansatzes naturgemäß verschieden. Ob man im Anschluss an SACHSSE/ TENNSTEDT32 eine Linie von der Fürsorgepolitik mittelalterlicher Städte bis zur Neuzeit ziehen mag (wie MÜNCHMEIER33 oder PEUKERT34) oder die Herausbildung charakteristischer Merkmale der Disziplin erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts feststellen kann und (wiederum wie SACHSSE35) die Herausbildung moderner Jugendfürsorge als genuinen Bestandteil des modernen Wohlfahrtsstaates versteht, hängt mit der jeweiligen Auffassung von Geschichtsschreibung nicht weniger zusammen als mit der Bestimmung der Begriffe sowie des Verhältnisses von Fürsorgepolitik und Sozialpädagogik. Vernetzt man die konstitutiven Merkmale von Sozialpädagogik, oder in unserem

nen Lebens in „der religiösen Struktur des Kapitalismus“, und zwar „nicht nur, wie [Max] Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung. [...] Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen und Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“ BENJAMIN, Kapitalismus als Religion [Fragment], in: BAECKER (2003), S. 15-18. (Vgl. dazu auch PEUKERT (1989), S. 109 ff. und die „Wachablösung der Religion durch die Wissenschaften“). Die umfassende Ökonomisierung des Lebens, die symbolische Inszenierung von Waren und ihre Fetischisierung, der quasi-religiöse (letztendlich jedoch nicht ent-, sondern verschuldende!), permanent betriebene Kultus um Waren, Menschen und Leistungen zählen für BENJAMIN ebenso zu den Merkmalen der Moderne wie der zeitgenössische Glaube an das Moderne der Zeit, an ihren Fortschritt, ihr Demokratie- und Technikverständnis, an die Beantwortbarkeit erster wie letzter Fragen, an die Lösbarkeit der Probleme irdischen Daseins. 32 SACHSSE/TENNSTEDT (1998). 33 MÜNCHMEIER (1981). 34 PEUKERT (1986). 35 SACHSSE (1996).

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Fall: von Fürsorgeerziehung (Pädagogisierung, Institutionalisierung, Professionalisierung) mit dem Aspekt einer verwaltenden Ordnung (zentrale administrative Erfassung und Zugreifbarkeit), verkleinert der zeitliche Rahmen für die Verortung moderner Fürsorgepolitik sich in Deutschland auf die letzten 150 Jahre. Fügt man als konstitutives Element eine tendenziell nivellierte Verrechtlichung des Feldes der Jugend-Hilfe/-Pflege/-Fürsorge hinzu, verengt sich dieser Rahmen nochmals auf ziemlich genau 130 Jahre. (Das Reichstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871 und die Novelle zum RStGB von 1876 geben Kunde von der zunehmend systematischen Verzahnung von Erziehung und Staatsgewalt zum Ende des 19. Jahrhunderts.) „Der rechtliche Vorläufer der Fürsorgeerziehung war die sogenannte ‚Zwangserziehung‘ von 1878, die regelte, dass kriminell gewordene Kinder und Jugendliche statt ins Gefängnis in eine ‚Erziehungsanstalt‘ eingewiesen werden konnten, weil man bei ihnen noch auf eine erzieherische Beeinflussung und nicht nur auf Strafe setzen wollte [...].“36

Dass es sich dabei um Erziehungseinrichtungen handelte, die zum Ende des 19. Jahrhunderts Kinder und Jugendliche in ihren, zunehmend pädagogischen, Blick nahmen, ist aus praxeologischen wie epistemologischen Gründen erwähnenswert: Angenommen, ein Zustand, ein Verhalten, ein Etwas wird als problematisch wahrgenommen, dann können wir davon ausgehen, dass zu jeder Zeit, unabhängig vom Namen der Gesellschaftsform, sich diesem Etwas gegenüber verhalten wurde. Nun mag das Verhalten diesem Etwas (z.B. auffälligem Benehmen) gegenüber im Laufe der Zeit durchaus verschiedener Art gewesen sein – muss es sogar, schließlich war das- oder derjenige, demgegenüber es sich zu verhalten galt, nicht durch alle Zeiten hindurch das gleiche Objekt. Der verlorenen Seele wurde sich aus anderen Gründen – und deshalb auch mit anderen Mitteln – zugewandt als dem arbeitsscheuen Subjekt, der kriminellen Person, dem kranken Leib oder dem verwahrlosten Kinde. „Bei der 1900 eingeführten Fürsorgeerziehung musste zwar nicht einmal eine Straftat mehr vorliegen, um in eine Erziehungsanstalt eingewiesen zu werden,

36 KUHLMANN (2008), S.11.

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sondern lediglich eine eingetretene oder nur drohende ‚Verwahrlosung‘. Trotzdem änderte dies nichts an dem Strafcharakter der Erziehungsanstalten.“37

Ob Rettungshaus oder Erziehungsheim, ob Arbeitshaus oder Heilanstalt: mithilfe eines bestimmten Mittels sollte das Objekt der Aufmerksamkeit zu einem bestimmten Ziel hin bewegt werden – geläutert, gebessert, geheilt, erzogen, diszipliniert. (Oder es wurde, im Falle ungenügender Passung von ‚Mittel‘ und ‚Objekt‘, verwahrt. Zu welchem Zwecke? Nun, zuvörderst zu eben dem der Verwahrung; in der Geschichte der Fürsorge wie auch anderswo ein nicht seltenes Phänomen.) Dass der Blick auf das Objekt ebenso wie die Wahl des Mittels immer auch Ausdruck der technischen Möglichkeiten, der Technologie sowie der gesellschaftlich gültigen Vorstellungen vom ‚Richtigen‘ sind, braucht an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden; es reicht, dass wir diesen Umstand im Blick behalten, wenn wir uns im Weiteren einer solchen Maßnahme zuwenden wollen: der Erziehung der gefährdeten und verwahrlosten Jugend durch den Staat.

Staat und Erziehung Gleich welcher Art die Interventionsursachen sein mochten, wurde der korrigierende Umgang mit Minderjährigen seit der Zeit der Aufklärung und des Absolutismus als eine öffentliche Angelegenheit begriffen.38 Die Jugendfürsorge gilt als eine solche ‚Frucht der Moderne‘, entstanden in den 1880er Jahren, als sich der Gedanke staatlicher „Socialpolitik“ im Kontext einer veränderten Wahrnehmung der Probleme

37 KUHLMANN (2008), S.11. 38 In seiner Untersuchung zur Frühneuzeitlichen Armenfürsorge als Disziplinierung geht RICHTER trotz der Umstrittenheit dieser Bestimmung von Armenfürsorge der Frühzeit als Frühform der Sozialpädagogik aus. „Sie erinnert daran, dass die pädagogische Bearbeitung sozialer Probleme bei der Armutsbevölkerung ansetzte, wobei vor allem an die Kinder der städtischen Unterschicht zu denken ist. Als konzeptionell und institutionell eigenständiger Bereich hat sich die Jugendfürsorge im 16. Jh. aus dem Armenwesen heraus entwickelt.“ RICHTER (2001), S. 16f.

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der industriellen Klassengesellschaft und der vielfältigen sozialreformerischen und sozialpolitischen Lösungsversuche in ersten gesetzlichen und institutionellen Regelungen niederschlug.39 Die „Erfindung und Erprobung der Sozialpädagogik“,40 und somit eine Neuorientierung der Jugendarbeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatten dazu geführt, dass die Heranbildung der jungen Generation der subalternen Klassen41 nicht mehr den konventionellen familialen, schulischen und informellen Sozialisationsinstanzen allein überlassen, sondern einer planenden, intervenierenden und umformenden Fürsorgebürokratie unterstellt wurde. Dazu bedurfte es eines entsprechenden Jugendrechts, einer rechtlichen und institutionellen Verankerung bis dato unvollendeter Reformansätze. Mit Inkrafttreten des preußischen Fürsorgeerziehungsgesetzes (FEG) im Jahr 1900 wurde die staatliche Ersatzerziehung (als staatlich organisierte und finanzierte Unterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie) erstmals mittels Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), und damit außerhalb des Strafrechts, gesetzlich geregelt. In den Jahren zuvor, zwischen 1876 und 1900, war die Anwendung von Zwangserziehung bei Minderjährigen entsprechend dem Strafgesetzbuch (StGB)42 durchgeführt worden; die Verankerung einer erzie-

39 „Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch die äußerste Zurückhaltung des Staates auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege allgemein und der Kinder- und Jugendfürsorge im besonderen gekennzeichnet.“ PEUKERT (1986), S. 44. 40 PEUKERT (1989), S. 307. In diese Phase quasi experimentellen Erprobens und konzeptionellen Erweiterns gehörte die Neuregelung des Vormundschaftsrechts, die Installation erster Jugendgerichte, die Erweiterung der Möglichkeiten zur Fürsorgeerziehung in den Landtagsgesetzen von 1900, die Ausdifferenzierung des in der Jugendwohlfahrt tätigen Verbandwesens und seiner Kommunikationsformen, verbandliche und später staatlich subventionierte Jugendpflegetätigkeiten sowie die zunächst örtliche Koordination dieser Tätigkeiten. Vgl. PEUKERT (1986), S. 49f. 41 Begriffsgebrauch im Anschluss an GRAMSCI zur Beschreibung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen mit fehlenden Zugangsmöglichkeiten zu hegemonialen Teilen der Gesellschaft und nur geringen Mitteln zur Teilnahme und Mitgestaltung öffentlicher politischer Diskurse. 42 Nach den §§ 55-56 StGB konnten solche Minderjährige unter 18 Jahren in Zwangserziehung genommen werden, denen die Einsicht in die Strafbar-

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herischen Maßnahme im Strafrecht trug von Beginn an zur Kennzeichnung der zur Zwangserziehung „be- und verurteilten“ Kinder und Jugendlichen als wenig gemeinschaftsdienliche „Elemente“ bei. Dieses Stigma sollte in den folgenden Jahrzehnten sowohl der Fürsorge selbst anhaften als auch ihrem Klientel, den zur Ersatzerziehung überwiesenen Heranwachsenden. „Man ging weiter davon aus, dass die Erziehungsmaßnahmen durchaus als Strafe empfunden werden sollten, weil das Verhalten der Kinder oder Jugendlichen diese strafende Behandlung in den Augen derer, die die Fürsorgeerziehung anordneten, rechtfertigte.“Śř

Öffentliche Erziehung in der Krise Nach Ende des Ersten Weltkriegs wurden die Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland in besonderem Maße mitbestimmt von Armut und Wohnungsnot. Die Zahl der Arbeitslosen im Land war, als eine Folge der Weltwirtschaftskrise, im Winter 1927/28 auf 3 Millionen angestiegen, und auch die Jahre nach 1929 blieben geprägt durch zunehmende Verelendung weiter Bevölkerungsteile,44 unter denen vor allem Proletarierfamilien, und innerhalb dieser wiederum vor allem Kinder und Jugendliche betroffen waren. Unter den immer zahlreicher werdenden Erwerbslosen befanden sich im Sommer 1931 Schätzungen zufolge 500.000 Jugendliche unter 21 Jahren. Mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit erhöhte sich in den Augen nicht weniger Zeitgenossen die „soziale Unordnung“ in der Gesellschaft: Tausende jugendlicher ‚Wanderer‘ bevölkerten die Landstraßen und städtischen Obdachlosenasyle, die Jugendkriminalität äußerte sich in ihren spektakulären Formen in ‚Verbrecherbanden‘ und Straßenprostitution, zunehmend wurden gewalttätige, nicht selten politisch motivierte Auseinandersetzungen vor

keit ihres Handelns fehlte. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. Vom 26. Februar 1876. Berlin 1867, S. 17, vgl. BLUM-GEENEN/KAMINSKY (1995), S. 1f. 43 KUHLMANN (2008), S. 11. 44 Die zwei Jahre zuvor eingeführte Arbeitslosenversicherung vermochte kaum etwas an der sozialen Lage der Arbeiterfamilien zu ändern.

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allem arbeitsloser junger Männer auf den Straßen der Republik registriert. Ebenso wie bisher gültige Erklärungs- und Interpretationsmodelle, wirkte auch das System der Jugendfürsorge angesichts der akuten sozialen Gefährdung weiter Teile der Gesellschaft überfordert, reagierte es herausgefordert und unterminiert zugleich.45 Zu den Aufgaben der öffentlichen Jugendfürsorge zählte es, sich mit der Erziehungsbedürftigkeit Minderjähriger zu befassen, entsprechend den Erfordernissen des jeweiligen ‚Falls‘ präventiv oder korrigierend einzugreifen, um dem gesetzlich verbürgten Recht eines jeden deutschen Kindes „auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ (RJWG 1922, §1)46 Geltung zu verschaffen. Wenngleich Maßnahmen für arbeitslose Jugendliche nicht zu den Pflichtaufgaben der öffentlichen Jugendfürsorge gemäß RJWG zählten, versuchten großstädtische Jugendämter im Rahmen ihrer Mittel, mithilfe improvisierter Erfassung und Betreuung erwerbsloser Heranwachsender47 die Situation etwas abzumildern. Da die Regierung die Massenarbeitslosigkeit in erster Linie mit der Wiederherstellung eines ausgeglichenen Staatshaushaltes zu bekämpfen suchte, wurde ein Großteil der Kosten für die Arbeitslosenunterstützung auf die Wohlfahrtsetats der Gemeinden verlagert, welches wiederum zu finanziellen Kürzungen bei anderen Zweigen der Wohlfahrtspflege führte.48 Die Streichungen trafen sowohl den Bestand von Fürsorgekräften als auch die Einrichtungen der kommunalen Jugendfürsorge, darunter insbesondere fakultativ im RJWG genannte Aufgaben, z.B. Einrichtungen für arbeitslose Jugendliche. Angesichts der Wirkungslosigkeit ihrer zunehmend bedeutungslos und willkürlich erscheinenden fürsorgerischen Beschäftigungsangebote an und individueller Eingriffsmaßnahmen für junge Arbeitslose, suchten die liberalen und sozialdemokratischen Fachkreise in der Jugendfürsorge nach neuen Wegen in der Sozialpädagogik.

45 Vgl. HARVEY (1989) in: Soziale Arbeit und Faschismus, S. 200. 46 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 2. 47 Von den 1932 5,6 Millionen registrierten Arbeitslosen war rund 1 Million unter 25 Jahre alt. Vgl. SIMON (1996), S. 48. 48 Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1932 bezogen mehr als 10 Millionen Menschen laufend materielle Unterstützung der kommunalen Fürsorgeämter. Vgl. AYASS (1995), S. 57.

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So zog auch der 1931 unter BRÜNING eingerichtete und unter v. PAPEN ausgebaute Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) einige kurzlebige Hoffnungen auf sich, der Masse der arbeitslosen und unbeaufsichtigten Jugendlichen, die das System der Jugendfürsorge nicht erfasste, materielle Hilfe und erzieherische Aufsicht angedeihen zu lassen.49 Wie weitere, in mittelbarem Zusammenhang mit dem FAD stehende und vielpublizierte Maßnahmen50 der PAPEN- und SCHLEICHER-Regierungen, um die erwerbslose Jugend vor materiellen und seelischen Schäden zu retten, bot auch der unfreiwillig „Freiwillige ArbeitsDienst“ keine Lösung der Probleme von Arbeitslosigkeit und Armut. Vielmehr bildeten die Arbeitslager eine Projektionsfläche für die generell hohe Leistungserwartung an die Pädagogik, von welcher Lösungen in einer als krisenhaft erlebten Zeit dringlich erhofft wurden.51 Zu einem solchen Zeitpunkt, wo einerseits drastische Mittelreduzierungen als haushaltspolitische Konsequenz den Aktionsradius der öffentlichen Jugendfürsorge merklich verengten und sich andererseits die im Zuge der Reformbewegung u.a. angestrebte soziale Reintegration von Fürsorgezöglingen mittels Arbeit kaum mehr durch die Behörden der Fürsorgeerziehung (FE) organisieren ließ, färbte sich die Debatte um Aufgaben, Erziehungsmethoden und Anstaltstandards der Fürsorgeerziehung zunehmend ideologisch ein.52

49 Wider besseren Wissens angesichts deutlicher Mängel und der offensichtlichen Gefahr des Missbrauchs durch rechte Wehrverbände gaben nicht wenige in den Kreisen der Jugendfürsorge sich dem Glauben an die (v.a. von der Volkslagerbewegung als solche gepriesenen) beispiellosen sozialpädagogischen Möglichkeiten des FAD hin. Vgl. HARVEY (1989) in: Soziale Arbeit und Faschismus, S. 217; DUDEK (1988), S. 179. 50 Die vom „Reichskuratorium für Jugendertüchtigung“ durchgeführten vormilitärischen Ausbildungskurse wurden v.a. von den Wehrverbänden (mit Ausnahme des Reichsbanners), den NSDAP-Untergliederungen und den Bünden nachgefragt. Das „Notwerk der deutschen Jugend“ sollte der „arbeitslosen Jugend Gelegenheit zu ernsthafter beruflicher Bildungsarbeit bieten und ihr sonstige sinnvolle geistige und körperliche Betätigung ermöglichen. [...]“ Schreiben SCHLEICHERS an v. PAPEN v. 17.10.1932, BAR 43II, Bd. 519, in: DUDEK (1988), S. 186f. 51 Vgl. DUDEK (1988), S. 251. 52 A.a.O., S. 202.

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Die Auseinandersetzungen um ‚die Zukunft‘ reflektierte die Suche nach einer neuen Politik, die geeignet schien, die finanziellen und pädagogischen Probleme der Fürsorgeerziehung zeitgleich zu lösen. Die beiden Notverordnungen des Jahres 1932 führten in ihren Kernmaßnahmen zu einer verkürzten Dauer von Fürsorgeerziehung sowie einer Verkleinerung des Kreises der Anspruchsberechtigten, wobei die prognostizierten Erziehungserfolge maßgeblichen Einfluss hatten auf die Gewährung der fürsorgerischen Leistungen. Diese Neuregelungen verschafften denjenigen Kräften Vorschub, die schon seit längerem in unterschiedlicher Lautstärke gefordert hatten, ‚Schwererziehbare‘ bzw. ‚Unerziehbare‘ von der Fürsorgeerziehung fernzuhalten respektive auszusondern und anderen Maßnahmen zuzuführen.53 Deutliche Differenzen, Wesen und Ausgestaltung solcher ‚Maßnahmen‘ betreffend, verstärkten u.a. erneute Forderungen nach einem Bewahrgesetz.54 Mittels der „Verwahrung“ sollten insbesondere alterbedingt entlassene, jedoch noch nicht „gebesserte“ Fürsorgezöglinge zugreifbar sein.55 Zwar konstatierte der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag (AFET) in seinen Beratungen zu den Notverordnungen im Dezember 1932, dass es „weder einen Typen des Schwererziehbaren noch des Unerziehbaren“ gäbe, und verwies in diesem Zusammenhang auf die Schwere der „Verantwortung, jemand als unerziehbar zu bezeichnen“;56 die Bewusstmachung dieser Verantwortung fand jedoch nicht immer eine adäquate Entsprechung in der pädagogischen Praxis. Der Grund für Misserfolge wurde regelmäßig auch, und nicht selten einzig, bei den Zöglingen gesucht; als ‚Schuld‘, die auch dazu

53 Vgl. GUSE/KOHRS (1989), S. 229. Bei den Beratungen zu den Notverordnungen war bereits 1931 die Überweisung „unerziehbarer“ Fürsorgezöglinge in Arbeitshäuser erwogen, dann jedoch, vor allem aufgrund energischer Proteste pädagogischer Reformer, wieder verworfen worden. 54 Zu den Bemühungen um die Schaffung eines Bewahrungsgesetzes vgl. vertiefend: WILLING (2003). 55 Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge veranschlagte Mitte 1925 den Kreis der als bewahrungsbedürftig eingeschätzten Personen auf 8.000-10.000 Personen. Vgl. AYASS (1995), S. 16. 56 O.Verf.: „Berichte“ in: Jugendwohl, 22. Jg., Heft 1. Freiburg i. Br. 1933, S. 19-21, in: GUSE/KOHRS (1989), S. 231.

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diente, das pädagogische Konzept der Einrichtung einer Überprüfung vorzuenthalten. Zur Absicherung einer solchen Praxis wiederum kamen bei der ‚Dokumentation‘ der Vorgänge in den Zöglingsakten vielfach literarische Strategien zur Anwendung, mittels derer ‚Richtigkeit‘ und ‚Erfordertheit‘ der angewandten Maßnahmen sich angesichts der ‚Unerziehbarkeit‘ oder ‚Minderwertigkeit‘ eines Zöglings gewissermaßen (von) selbst bestätigten. Die Aufzeichnungen der Einrichtungen ‚belegten‘ die ‚Richtigkeit‘ und dennoch ‚Aussichtslosigkeit‘ der erzieherischen Schritte in einem Satz, brachten These und Antithese in einem Gedanken unter, der für die Zöglingsbiographie eine Leitfunktion besaß. In der Analyse der Zöglingsakten werden wir mehrfach diese rhetorische Figur antreffen, die sich mit ihren Opponentenpaarungen im Aktantenmodell fassen lässt.57 Zurück in die Weimarer Republik und die Krise der öffentlichen Erziehung. In das professionelle Selbstverständnis der in der Jugendfürsorge Tätigen brach vielfach eine gefühlte Hilflosigkeit angesichts der Folgen wirtschaftlicher und politischer Instabilität ein, offenbarte sich die ‚Bankrotterklärung‘ der Fürsorgeerziehung vornehmlich im Hinblick auf ältere und ‚schwer verwahrloste‘ Jugendliche. Versuche, sich durch Entlassungen oder Überweisungen auffälliger, schwererziehbarer oder aus sonstigen Gründen unliebsamer Kinder und Jugendlicher aus Einrichtungen der Fürsorgeerziehung hin zu anderen Kostenträgern58 ‚Luft zu verschaffen‘, modifizierten die Jugendfürsorge bereits deutlich.

57 Vgl. zum Aktantenmodell Anm. 177. 58 Die Möglichkeit der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung und Überweisung in eine andere Einrichtung bei „Unausführbarkeit der Fürsorgeerziehung“ sah bereits das RJWG vor (RJWG, §73 2. c): „Die Entlassung setzt Sicherstellung einer anderweitigen gesetzlichen Bewahrung des Minderjährigen voraus, da diese Anormalen im Interesse der Allgemeinheit, die vor ihnen geschützt werden muß, wie ihrer selbst einer solchen bedürfen. [...] Der Landesgesetzgebung bleibt die nähere Regelung der Bewahrung überlassen, solange dies nicht reichsrechtlich geschieht.“ Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 282. Die Mehrzahl der reichsweit 218 Minderjährigen (aufgrund „erheblicher geistiger oder seelischer Regelwidrigkeit“) und 67 über 18-jährigen („aus Gründen, die in der Person liegen“), die nach den neuen Bestimmungen

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Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 veränderten sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der jugendfürsorgerischen Fachkreise dann unmissverständlich; ihrem Wesen und Charakter nach hatte sie sich als staatliche Ersatzerziehung „der Zielsetzung des Führers Adolf Hitler für den nationalsozialistischen Staat und für seine Erziehungsziele einzufügen.“59 Deutlich spür- und sichtbar wurde die neue Ausrichtung u.a. am „wachsende[n] Einfluß und [den] zentralen Zuständigkeiten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und der Hitlerjugend (HJ) auf Ziele und Inhalte der Jugendhilfe [...]. Die HJ übernahm weitgehend die Jugendpflege, die Aufgaben der Jugendfürsorge gingen zum großen Teil an die NSV über. [...] [I]n weiten, vor allem ländlichen Gebieten des Reiches [...] gelang es der NSV, die Jugendämter auf die sogenannten hoheitlichen Aufgaben, insbesondere die Amtsvormundschaft und die Sorge für ‚minderwertige‘, weniger ‚wertvolle‘ Kinder und Jugendliche zurückzudrängen.“60

Die Veränderung der politischen Landschaft, hin in Richtung: Schaffung ‚eindeutiger Verhältnisse‘, stellte nach Ansicht nicht weniger Erzieher auch der Fürsorgeerziehung erfolgversprechendere Arbeitsbedingungen in Aussicht, sprich: die tatsächliche Möglichkeit, fortan verbesserte Erziehungsarbeit zu leisten. Rückblickend hieß es über die veränderten Erziehungsbedingungen: „Früher mußte man die Fürsorgeerziehung immer wieder von vorne anfangen, weil der Zögling in der marxistisch-liberalistischen Zeit nach der Entlassung aus dem Heim in eine Umwelt hineinkam, die ihn schnell wieder verdarb.“ 61

am Ende des Rechnungsjahres 1932/33 aus Anstalten der Fürsorgeerziehung entlassen wurden, wurde anschließend in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht. Vgl. HARVEY (1989), S. 216. 59 O.Verf.: „Die Gestaltung der Fürsorgeerziehung. Denkschrift des Allgemeinen Fürsorgetages.“, in: Jugendwohl, 22. Jg., Heft 7/8. Freiburg i. Br. S. 133, 207, in: GUSE/KOHRS (1989), S. 232. 60 JORDAN (1987), S. 27. 61 Referat zum Thema: „Moderne Fürsorgeerziehungsarbeit“ während eines Elternabends der Ummelnder Anstalten, Helle Augen, Januar-Juli 1937, S. 48, in: KUHLMANN (1989), S. 59.

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Die Umstände der Zeit schienen also vielversprechend für pädagogische Ambitionen, die nicht nur Verhaltensänderung an sich, sondern vielmehr deren Anlage auf Dauer im Sinn hatten. Zur Zielverwirklichung bediente man sich in der fürsorgerischen Theorie und Praxis zunehmend einer im politischen und wirtschaftlichen Klima der letzten Weimarer Jahre hoffähig gewordenen Unterscheidung zwischen „Erziehbaren“ und „Unerziehbaren“.62 Bei „lediglich erziehungsgefährdeten Kindern und Jugendlichen“,63 die aller Prognosen nach aufgrund ihrer „Erbgesundheit“ und offenbaren „Normalität“ zu einem „nützliche[n] Mitglied der menschlichen Gesellschaft“,64 sprich: einem arbeitsfähigen und arbeitswilligen Volksgenossen hin erziehbar schienen, sollte dies ambulant durch Familienhilfe, Erziehungsberatung und Jugendbetreuung oder in Heimstätten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) erfolgen. „Die Form

62 RJWG §73. 2 a): „Unausführbarkeit der FE. muß nachgewiesen werden, d.h. es muß die Aussichtslosigkeit, daß nach Lage des Falls der Zweck der FE. erreicht werden kann, feststehen. [...] 2 b) Die Unausführbarkeit muß auf Gründe, die in der Person des Minderjährigen liegen, zurückzuführen sein. [...] Persönliche Eigenschaften und Gründe, die hier in Betracht kommen, sind: Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie, schwere Psychopathie in allen ihren verschiedenen Formen, die zur Unerziehbarkeit mit den normalen Mitteln der Erziehung in einer Erziehungsanstalt oder Familie führen, – Hang zu Vergehen, zur Liederlichkeit, zur Arbeitsscheu – , in den Grenzfällen wird es zuletzt von dem Urteil eines psychiatrischen Sacherständigen abhängig sein, ob vorwiegend die Art der Ausführung der FE. für die Erfolglosigkeit ursächlich ist oder ob es persönliche Gründe sind; [...].“ Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 282. Zur Unterscheidung der „Erziehbaren“ von „Unerziehbaren“ weiter: DÖRNER (1991). 63 JORDAN (1987), S. 27. 64 Als ein Ziel, dessen nachweisliches Erreichen die vorzeitige Entlassung eines Zöglings aus der FE ermöglicht, nennt das RJWG unter § 72, 3 A a) „[...] auch seine Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit [...], da hiervon in der Regel wesentlich mit abhängt, ob der Minderjährige als ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu betrachten ist.“ Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 276.

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der Erziehung wird, als Erziehungsfürsorge bezeichnet, deutlich von der klassischen Fürsorgeerziehung abgesetzt.“65 Um die übrigen, „stärker gefährdeten, erbminderwertigen, schwererziehbaren, potentiell aber noch resozialisierbaren Kinder [...] und Jugendlichen,“66 deren drohende oder bereits eingesetzte Verwahrlosung von Sozialmedizinern und Juristen67 in einem Großteil der Fälle als „anlagebedingt“, und von daher als ererbte Krankheit zu ‚behandeln‘, diagnostiziert wurde, sollten sich v.a. die konfessionellen Fürsorgeverbände kümmern. Gemäß biologistisch geprägten, und nationalsozialistisch aufgefrischten Vorstellungen, waren Wohlfahrtspflege und Jugendfürsorge in vielen Fällen ohnehin nur deshalb nötig, weil durch die Fürsorge eben diese ‚per se Minderwerten‘ unterstützt wurden. Das „Abschneiden des natürlichen Ausleseprozesses“68 auf Kosten der Volksgemeinschaft habe aus der Fürsorgeerziehung eine ‚Minderwertigenfürsorge‘ werden lassen. Zur Verbesserung ihre Reputation, und somit einer erhofften Erhöhung ihrer beruflichen Bestehenschancen, versuchten die Akteure sukzessive, die Fürsorgeerziehung weg von der „Minderwertigenfürsorge“ hin zu einer, zumindest als unumgänglich akzeptierten Erziehungsmaßnahme im NS-Staat zu etablieren. Dazu gehörte auch die Übernahme des offenen sozialen Rassismus’ der Nationalsozialisten in die fürsorgerische Praxis, mit allen entsprechenden Folgen für ‚auffällige‘ Kinder und Jugendliche.

65 JORDAN (1987), S. 27. 66 Ebenda. 67 Neben den wenigen etablierten Zentren sozialpädagogischer Theoriebildung (HERMANN NOHL in Göttingen, CHRISTIAN JASPER KLUMKER in Frankfurt) interessierten sich überwiegend die Institute für Wohlfahrtspflege oder Jugendpsychiatrie der medizinischen, wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Fachbereiche für die Jugendfürsorge. Von daher lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Forschung und Ausbildung, bezugnehmend auf die Fürsorgeerziehung in den 1920er Jahren, hauptsächlich auf medizinischen und kriminalpolitischen Fragestellungen. Vgl. KUHLMANN (1989), S. 80. 68 Vorwurf HITLERS an die Wohlfahrtspflege in seiner Abschlussrede auf dem Nürnberger Parteitag 1929. BOCK (1986), S. 24.

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Ins Heim zur Erziehung Das Kriterium Verwahrlosung spielte bei der Gesetzesanwendung eine maßgebliche Rolle; die Anordnung von Fürsorgeerziehung konnte gemäß RJWG aufgrund drohender oder bereits eingetretener Verwahrlosung minderjähriger Personen erfolgen. RJWG §63, Abs. 7 b): „Der Begriff der Verwahrlosung ist tatsächlicher und rechtlicher Natur [...]. Es kommt [...] weniger die körperliche als die geistige und vor allem die sittliche Verwahrlosung in Betracht. Sittliche V. liegt vor, wenn der Minderjährige sich in sittlicher Beziehung nicht normal entwickelt, sein Verhalten Anstoß erregt und Zweifel daran begründet, ob er zu einem brauchbaren Gliede der Gesellschaft sich entwickeln werde [...] ‚Sittliche Verwahrlosung‘ umfasst alle Fälle der sogenannten objektiven Verwahrlosung, die wie das sittliche Verderben des bisherigen Rechts keineswegs eine allgemeine zu sein braucht, derart, daß sie in zahlreichen Charaktereigenschaften sich äußert; es genügt, die Verwahrlosung auf einem bestimmten Gebiete […], dahin gehört: Müßiggang da, wo – wie heute für jeden nicht arbeitsunfähigen Staatsbürger – Arbeit sittliche Pflicht ist [...], das Sichbewegen in schlechter Gesellschaft, Unzuchttreiben, Betteln, Landstreichen, Umhertreiben, dauerndes Schulschwänzen, Begehen von Straftaten; sowie die Aufrechterhaltung eines geschlechtlichen Verhältnisses mit einem verwahrlosten, arbeitsscheuen Manne gegen den Willen der Eltern [...].“69

69 Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 230. Die kategoriale Unterscheidung nach „objektiver“ oder „subjektiver“ Verwahrlosung („objektive“ Verwahrlosung meint eine Gefährdung des Minderjährigen, resultierend aus unzureichender Erziehungs- und/oder Versorgungsleistung der Eltern; „subjektive“ Verwahrlosung meint eine Verhaltensauffälligkeit des Minderjährigen selbst, bspw. kriminelle oder als unsittlich erachtete Handlungen), die CAROLA KUHLMANN (1989, S. 89ff.) in ihrer Dissertation als entscheidend für die Art der Zöglingsunterbringung vornimmt, erfolgt zu epistemologischen Zwecken, verschweigt dies aber in ihrer Anwendung; nämlich, dass die verwendeten Verwahrlosungskategorien ein Artefakt und (eben) nicht historischer Herkunft sind. So ist im RJWG (§63, Abs. 7 b) dann von „objektiver Verwahrlosung“ die Rede, wenn „vor allem die sittliche Verwahrlosung“ beschrieben wird, welche der Unterscheidung nach KUHLMANN zweifelsfrei als am und im Minderjährigen

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Über Art und Ort der Fürsorgeerziehung entschied die Einschätzung der mit der Angelegenheit betrauten Fürsorgekräfte sowie deren Empfehlungen an das Amtsgericht im Fall eines Unterbringungsverfahrens. So wurden die zu treffenden Entscheidungen darüber, ob die Einweisung eines Kindes oder Jugendlichen in eine Fürsorgeanstalt „angeraten“ oder „erforderlich“ sei, maßgeblich beeinflusst durch die Gutachten der Jugendamtsmitarbeiter, die mit ihren Bewertungen den Vormundschaftsgerichten die Begründungen für ihre Urteile lieferten.70 Dass „auffälliges Verhalten“ und „sittliche Verwahrlosung“ Minderjähriger zuallererst zusammenhängen mit dem Ort ihres Aufwachsens, lag nicht nur für Pädagogen und Fürsorger der Zeit auf der Hand; auch in den preußischen Jahresstatistiken zu den Gründen der Unterbringung Minderjähriger in Fürsorgeerziehung der Jahre 1933 bis 1940 führen „Eigentumsvergehen“ (63%) und „sexuelle Verwahrlosung, einschließlich Homosexualität und gewerblicher Unzucht“ (63%) in der Liste knapp vor „schlechte[n] häusliche[n] Verhältnisse[n]“ (55%).71 Da die Betreffenden mehrheitlich proletarischen Verhältnissen entstammten, nicht selten aus Scheidungsfamilien kamen oder die Kinder lediger oder verwitweter Mütter waren, lässt sich mit einiger Berechtigung von einer sozialen Bedingungskomponente im Anordnungsprozess von Fürsorgeerziehung sprechen.72

auszumachen, und von daher unter ihre Kategorie der „subjektiven Verwahrlosung“ zu subsumieren wäre. 70 Dabei zeigen Untersuchungen, dass sowohl die Vormundschaftsgerichte als auch die Jugendämter die Maßnahme der Fürsorgeerziehung (regional verschieden) recht unterschiedlich beurteilten. Vgl. KUHLMANN (1989), S. 89. 71 Vgl. KUHLMANN (1989), S. 88f. 72 Einem Kausalzusammenhang zwischen familiärer Situation, elterlichen erwerbs- und Einkommensverhältnissen und der Anordnung von Fürsorgeerziehung soll dennoch nicht das Wort geredet werden, einzig der Umstand Berücksichtigung finden, dass „die meisten Fürsorgezöglinge aus sogenannten gestörten Familien und aus sozialen Unterschichten stammten [...]“. Bei einem Fünftel der Fürsorgezöglinge traf der „Herkunfts-Ansatz“ nicht zu; so weist etwa DETLEV PEUKERT darauf hin, dass sich „die rund 20% [...] [der] besonders ‚schweren‘ Fälle der Fürsorgeerziehung [...] nicht nur einem Herkunftsmilieu aus Unterschichten und sozialen Randgruppen zuordnen“ lassen. PEUKERT (1986), S. 156.

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Dennoch beruhten zunehmend mehr Anordnungen von Fürsorgeerziehung auf Gründen, die ,im Minderjährigen selbst‘, ihm also (wortwörtlich) „im Blut“ lagen. Während die meisten Prozentzahlen über die Jahre weitgehend konstant blieben, wurden „vererbte Krankheiten“ als Überweisungsgrund entsprechend zunehmend häufiger „festgestellt“. In solch einem Fall hatte der Betreffende fortan nicht ‚nur‘ – aller Versuche eines Imagewandels der Fürsorgeerziehung zum Trotz – mit dem Zöglings-Stigma der „Minderwertigkeit“ zu leben; er war ab sofort auch dem durch und durch realen Risiko ausgesetzt, seiner ‚minderwerten Eigenschaften‘ (sprich: Anlagen) ‚gemäß‘ zwangssterilisiert, und nicht selten mit derselben Begründung, später zwangsverwahrt zu werden.73 Hinzu kommt, dass der Anordnungsvorgang, indem er mit derartigen Verwahrlosungs-Indikatoren zur Begründung der Notwendigkeit von Fürsorgeerziehung hantierte, aus dem Betreffenden einen potentiellen Kandidaten für die 1939 beginnenden Tötungen von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten machte. Zur Anzeige „erbkranker“ Personen, gleich welchen Alters und Geschlechts, waren sowohl Anstaltsleiter,74 Amtsärzte, Ärzte, später auch Zahn- und Schulärzte, Hebammen und Masseure, ebenso Fürsorgerinnen und Kommunalbeamte angehalten. Darüber hinaus konnte jeder, der dies für seine Pflicht als ‚Erbpoolpfleger‘ und Volksgenosse ansah, jemanden bei den Behörden als „erbkrankverdächtig“ melden. Während die ,zweifelhaften Fälle‘ mit den unsicheren Erfolgsaussichten den konfessionellen Erziehungsanstalten überlassen wurden, den „erbkranken“ Zöglingen unter ihnen die Unfruchtbarmachung bevorstand und das Risiko der Ermordung nicht ausgeschlossen war (und zwar nicht nur bei Entlassung und Überweisung in eine Heil- und

73 Unter den 400.000 Menschen, die zwischen 1933 und 1945 sterilisiert wurden, befanden sich auch Fürsorgezöglinge. KLEE (1993), S.171. 1935 wurden 60% aller Zwangssterilisierten wegen angeborenem Schwachsinn und 20% wegen Schizophrenie zeugungsunfähig gemacht Vgl. KUHLMANN (1989), S. 132. 74 In der Durchführungsverordnung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) vom 05.12.1933 wurden die Fürsorgeerziehungsanstalten bezüglich der Anzeigepflicht „erbkrankverdächtiger“ Zöglinge den Pflegeanstalten gleichgestellt. Vgl. KUHLMANN (1989), S. 133.

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Pflegeanstalt), konzentrierte sich die NSV-Jugendhilfe auf die „wertvollen“ unter den „gestrauchelten“ Jugendlichen.75 Für diese Minderjährigen, deren nicht eben problemfreies Aufwachsen die öffentliche Erziehung ebenso auf den Plan rief wie dasjenige der heranwachsenden, „erblich belasteten“ Kinder und Jugendlichen, bestand die Möglichkeit einer relativ umfassenden Betreuung, von Beratung über Familienhilfe bis hin zur kurzfristigen Unterbringung in einer Jugendheimstätte.76 In der Regel kamen in die NSV-Jugendheimstätten „erbgesunde, erziehbare, förderungsfähige und -willige und gemeinschaftsfähige Minderjährige“,77 deren Eltern Wohnungsschwierigkeiten hatten, deren Mütter arbeiteten oder deren verwitwete Väter zum Wehrdienst mussten: Unterbringungsgründe, die sich bei der Mehrzahl der übrigen, in konfessionellen Erziehungsheimen untergebrachten, Fürsorgezöglinge ebenfalls ausmachen ließen. Vor Ort, in einem Erziehungsheim der Inneren Mission etwa, hatten überwiesene Minderjährige recht bald Gelegenheit, neben dem Anstaltsleiter, den Erziehern und dem sonstigen Personal, eine ganze Schar – ähnlich wie sie selbst – sogenannter „schwer zu erziehender“ oder „von Verwahrlosung bedrohter“ Kinder und Jugendlicher –seit Anordnung der ,Maßnahme‘ Zöglinge genannt – kennen zu lernen. Neben den neuen Gesichtern gab es vor Ort so manches, was der Neue bisher noch nicht gekannt hatte, etwa Formen und Ausmaß von Gewalt.78

75 Neue Jugendhilfefälle sollten derart verteilt werden, daß die NSV-Jugendhilfe „insbesondere erbgesunde und erziehbare Jugend und die konfessionellen Verbände insbesondere erbkranke und asoziale Jugend betreuen.“ KUHLMANN (1989), S. 66. 76 Massiv wie kaum eine andere NS-Organisation, griff die NSV (auch) in die Familienhilfe ein. Vgl. HANSEN (1991), S. 247; HAAG (1994), S. 12, 14ff.,18, 27. 77 KUHLMANN (1989), S. 183. 78 Sowohl aus den Aufzeichnungen LAMPELS (1929) wie auch den Untersuchungen KUHLMANNS (1989, 2008) und BANACHS (2007) geht ein hohes Maß an alltäglicher körperlicher und psychischer Gewalt in den Erziehungseinrichtungen hervor.

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Den Schulbesuch wiederum galt es nicht neu zu entdecken; dieser war im Heim genau so obligatorisch wie bei den Pflegeeltern oder daheim, und durchaus nicht weniger von Bedeutung. Anhand der Schulleistung wurde überprüft, wie gut man sich bereits hatte ‚erziehen‘ lassen; und wenn das sonstige Verhalten nicht allzu oft Grund zu Tadel und Bestrafung bot – oder es von der Fürsorgeerziehungs-Behörde aus „erzieherischen Gründen“ nicht untersagt worden war, dann durfte der Zögling Briefe schreiben,79 zu besonderen Anlässen Besuch empfangen, und vor allem: nach Hause fahren. In den Sommerferien oder zu Weihnachten, für drei bis vier Tage zu Besuch. Für alle Zöglinge gleichermaßen entscheidend waren die Aufzeichnungen vom Fortgang der Heimerziehung. Ließ deren Verlauf sich, nach Aktenlage, als Erfolgskurve zeichnen, die den pädagogisch herbeigeführten Fortschritt gewissermaßen manifestierte und die innerhalb wie außerhalb der Einrichtung als ein solcher gelesen wurde, dann konnte der Zögling möglicherweise die längste Zeit Zögling gewesen sein; wenn denn der Erziehungserfolg anhielt. Während nämlich Ausschläge der Erziehungskurve nach oben ein mögliches Indiz, längst aber noch kein Garant, für eine baldige Beendigung der FEMaßnahme waren, bürgten Ausschläge nach unten für eine Fortdauer des Heimaufenthalts. Erst das nachweisliche Erreichen des Zwecks der Maßnahme „[...] im Sinne einer planmäßigen Einwirkung auf den Zögling zur Förderung seiner körperlich, geistig und sittlichen Entwicklung [...]“,80 welcher entsprechend des jeweiligen ‚FE-Falls‘ nominell höchst individuell gefasst und gehandhabt wurde, führte zur Entlassung aus der Erziehungseinrichtung sowie, mit zeitlichem Abstand, zur Aufhebung der Fürsorgeerziehung von Amts wegen. Was in der Regel auch gelang - wenn man sich denn ‚erziehen‘ ließ, und dies aus den Entwicklungsberichten ablesbar war. Und wenn die eigenen Eltern nicht versuchten, Richtigkeit und Zweck der Heimerziehung ihres Kindes fortwährend in Frage zu stellen und entspre-

79 Aus der Veröffentlichung LAMPELS (1929) wird (u.a.) ersichtlich, dass so mancher Zögling neben Briefen (an die Familie) auch Gedichte, Tagebuch o.ä. schrieb, was er „daheim“ [=außerhalb vom Heim] nicht oder nicht in dem Maße getan hatte. 80 RJWG §62, Abs.3., in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 217.

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chende Schreiben verfassten. Oder sich darüber gar bei übergeordneten Behörden beschwerten. Man durfte als Zögling natürlich selbst nicht allzu viel anstellten im Heim. (Oder sich zumindest nicht erwischen ließ, was drinnen deutlich schwieriger war als außerhalb.) Vor allem durfte man nicht versuchen, das Heim unerlaubt zu verlassen. Oder der Küche ein paar Eier abhanden kommen lassen. Oder einem Erzieher ein wenig Tabak. Oder der Schwester ein paar Tabletten. Mit denen konnte man versuchen, ein bisschen Fieber zu bekommen, um nicht zur Schule, oder später, mit 14 oder 15 Jahren in Stellung, zur Arbeit zu müssen und stattdessen im Bett bleiben zu können.Şŗ Kam die Sache ans Licht, hatte man persönlich dafür gerade zu stehen; in jedem Fall wurde der Vorfall vermerkt, schriftlich festgehalten in der Akte, wo beim nächsten Lesen der Aktennotiz (nur noch) feststand, dass dieses Ereignis stattgefunden hatte, dass es ‚wahr‘ war, realer Teil der Zöglingsbiographie war, und damit Teil des Zöglings.

Zukunftsentscheidungen Mit der grundsätzlichen Entscheidung über die Notwendigkeit einer Maßnahme der Jugendhilfe, mit der Prognose hinsichtlich der Erziehbarkeit des Heranwachsenden, mit dem Abwägen über den „volksgemeinschaftlichen“ Nutzen einer solchen Erziehungsmaßnahme, mit einem entsprechenden Gutachten zur Anordnung der Unterbringung in Fürsorgeerziehung sowie mit der Beurteilung des Zöglings während der Maßnahme hinsichtlich eines erwartbaren Erziehungserfolges,82

81 In den Darstellungen des Heimalltags bei LAMPEL treten diese Verhaltensweisen der Zöglinge wiederholt auf, beispielsweise „Aspirin-Rauchen“ LAMPEL (1929), S. 38. „Unehrliches“ und „falsches Verhalten“ sowie „unerlaubtes Entweichen“ aus dem Heim oder der Dienststelle, finden sich ebenso in den untersuchten Zöglingsakten, als Vergehen. 82 In Fällen von ‚chronischer Renitenz‘ konnten die Jugendlichen durch die Jugendämter in „Jugendschutzlager“ überwiesen werden, die der „Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität“ unterstanden. Bewacht wurden die Lager von Kommandos der SS. Vgl. GILSENBACH (1988), S. 120.

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lag die Entscheidung über den weiteren Biographieverlauf (des Heranwachsenden sowie, mittelbar, des seiner Nächsten) maßgeblich in den Händen der zuständigen Einrichtungen insofern, als dass vor allem auf ihren Schreibtischen an der Biographie des Zöglings geschrieben wurde. An diesem Vorgang setzt die vorliegende Untersuchung ein, an ihm entfaltet sich ihr Erkenntnisinteresse: Wie wurde dasjenige Wissen, welches anstehenden Entscheidungen zugrunde gelegt wurde, erzeugt, wie wurde es mit neuem Wissen verbunden, derart, dass eine konsistente Unterbringungsgeschichte aus den Akten hervorging? Nicht der Frage nach den Traditionslinien von Fremdunterbringung, Familienhilfe und Heimerziehung soll nachgegangen werden, nicht die Verteilungskämpfe zwischen angestammten und staatlich eingesetzten Erziehungseinrichtungen nachgezeichnet werden; ebenso wenig steht die Frage nach der ‚tatsächlichen‘ gesellschaftlichen Funktion dieser Einrichtungen und nach der ‚richtigen Lesart‘ derselben im Vordergrund des Interesses.83 Der Gegenstand, auf den unser Interesse sich richtet, ist derjenige, welcher im untersuchten Material ‚auftaucht‘;84 sich dort ‚verhält‘, sich ‚entwickelt‘, ‚enttäuscht‘, ‚überrascht‘, Einfluss nimmt auf ‚seine Zukunft‘: Es ist der Zögling in der Akte, und es sind die Kräfte, die ihn dort als eine bestimmte (und zu bestimmende) Figur ‚halten‘. Der Kreis derer, die zum ‚ursprünglichen‘ Entstehen eines AktenZöglings beitragen konnten, umfasst nahezu das gesamte öffentliche wie private Umfeld eines Heranwachsenden. So waren am letztlich bürokratischen Prozess, der über den weiteren Verlauf jugendlicher Biographien entscheiden sollte, neben Mitarbeitern der Städtischen und der Landes-Jugendämter, der Arbeitsämter, des jeweiligen Amtes für Volkswohlfahrt und der Gesundheitsämter auch Angehörige von „Hitlerjugend“ (HJ) und „Bund Deutscher Mädel“ (BDM), Mitarbeiter der Handelslehranstalten oder Berufsschulen, Arbeitgeber, Beamte des

83 Beispiele dafür geben Untersuchungen wie die PEUKERTS, DUDEKS oder ROTHS, welche die sozialdisziplinierende „Primärfunktion“ der Fürsorge- und Fürsorgeerziehungsbewegungen des 19. und v.a. 20. Jahrhunderts herausstellen. 84 Bzw., welchen unsere Fragestellung am und im Material hervorbringt, erzeugt.

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Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) bzw. seiner Kriminalpolizeistellen, medizinische Gutachter, Erzieher und Anstaltsleiter sowie ‚gemeinschaftsdienlich‘ eingestellte Personen aus der näheren (Wohn-) Umgebung85 der Zu-Erziehenden beteiligt. In der Mehrzahl der zu entscheidenden Fälle wurde das Votum über eine Unterbringungs- oder eine sonstige Maßnahme auf Basis der bereits vorhandenen Aktenlage abgegeben, wobei die Berichte der Fürsorgeerziehungsbehörde über die bisherige Fallentwicklung fallspezifisch durch Erziehungslisten über die Zöglinge oder Persönlichkeitsberichte ergänzt wurden. Worte auf Papier werden Fakten in der Welt. Berief sich die vormundschaftsrichterliche Anordnung von Fürsorgeerziehung und Unterbringung in einer (konfessionellen) Erziehungseinrichtung auf gutachterliche Indizien oder ‚Belege‘ von „Minderwertigkeit“ beim Minderjährigen, dann war dieser Zustand fortan in der Akte, und damit fortan in der Welt und somit in der Sicht auf den Zögling; eine nicht zu hinterfragende, gleichsam faktische Vorbedingung, die jede weitere anstehende Entscheidung vor-prägen sollte, mit welcher die Mitarbeiter der Behörden und Gesundheitsämter, der Erbgesundheitsgerichte und Erziehungseinrichtungen die Entwicklung des zu erziehendenden Minderjährigen beeinflussten, seine Biographie86 maßgeblich mitgestalteten.

85 „In ihrer Beurteilung stützten die Fürsorgerinnen sich in vielen Fällen auf Denunziationen von Nachbarn. Besonders alleinerziehende Frauen standen unter Beobachtung.“ KUHLMANN (1989), S. 91. Bei der Auswertung der Zöglingsakten werden wir das beschriebene Vorgehen antreffen. 86 In seiner Untersuchung von Jugendamtsakten verwendet PRODOSH AICH (1973) diesbezüglich den Begriff der Sozialbiographie(n); diese unterscheiden sich nach AICH von Lebensläufen, „wie sie die Betroffenen selbst verfasst hätten“ insofern, als dass sie von gesellschaftlich beauftragten Institutionen maßgeblich mitgestaltet und aufgezeichnet werden.“. Vgl. AICH (1973). Die Frage, inwieweit (und als was) ein Lebenslauf außerhalb eines Mediums, etwa eines sprachlichen, tatsächlich (und andauernd konsistent) existiert, kann an dieser Stelle nicht hinreichend geklärt werden. Es soll lediglich der Verweis auf den in der vorliegenden Untersuchung verfolgten Ansatz erfolgen, wonach sprachlich erzeugte und vermittelte Wirklichkeit als eine durchaus reale wie wirkmächtige Tatsache angesehen und gehandhabt wird; die begriffliche Herkunft von Biographie (gr. Aufzeichnung des Lebens, Lebensbeschreibung) legt überdies bereits nahe,

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Führten jedoch auch die eingeleiteten erzieherischen Maßnahmen beim Zögling zu keinem oder nur unbefriedigendendem Entwicklungsresultat hinsichtlich seiner künftigen Brauchbarkeit als Glied der Volksgemeinschaft, stand den Landesjugendämtern87 vom November 1941 an als „letztes Erziehungsmittel [...] die Unterbringung in einem Jugendschutzlager“88 zur Verfügung. „Das vom Reichskriminalpol.-Amt eingerichtete Jugendschutzlager Moringen ist zur Unterbringung männlicher über 16 Jahre alter Minderjähriger bestimmt, die kriminell besonders gefährlich oder gefährlich sind und bei denen die Betreuung durch die Jugendhilfe, insbesondere auch Schutzaufsicht und Fürsorgeerziehung, versagt hat oder von vornherein erfolglos erscheint. Das Reichskriminalpol.-Amt entscheidet über die Unterbringung in jedem Einzelfalle. Vor der Unterbringung muß eine gutachterliche Äußerung des Gau- (Landes-) Jugendamtes (Fürsorgeerziehungsbehörde) vorliegen. Infolge Erweiterung des Lagers stehen demnächst erneut Plätze zur Unterbringung zur Verfügung [...].“89

Zu den dortigen „Erziehungsmittel[n] [zählten] straffe Lagerzucht, angespannte Arbeit, weltanschauliche Schulung, Sport, Unterricht, planmäßige Freizeitgestaltung.“90 Ein halbes Jahr später teilte ein Runderlass des Reichsinnenministeriums den Jugendämtern mit, dass, wo erforderlich, nunmehr auch für weibliche Zöglinge die Unterbringung in Jugendschutzlagern möglich sei.

dass über dasjenige, was nicht schriftlich festgehalten wurde, berechtigterweise keine Aussage getroffen werden kann. Der Biographie nach, gibt es zeitgleich außerhalb derselben: Nichts. 87 Die Landesjugendämter hatten gleichzeitig die Funktionen der Fürsorgeerziehungsbehörden inne. Brandenburgisches Nachrichtenblatt für Wohlfahrtspflege, Januar 1943, in: GUSE (1997), S. 7. 88 BLHA, Pr.Br. Rep. 55 Provinzialverband Abt. VII a, Nr. 218, Bl. 4, in: GUSE (1997), S. 12; Vgl. auch KUHLMANN (1989), S. 221ff. 89 RdErl. d. RMdI. v. 3.10.1941-IV W II 41/41-8400, LHA Magdeburg, C92 Nr. 4513. 90 Ministerialblatt des Reichs- u. Preußischen Ministeriums der Innern, hg. v. Reichsministerium d. Innern 1944, S. 445, 1066, in: GUSE (1997), S. 22.

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„Mit der Unterbringung einer vorläufig beschränkten Anzahl weiblicher Minderjähriger in dem Jugendschutzlager Uckermark [...] kann voraussichtlich ab 1.6.1942 begonnen werden. Für die Einweisung gilt der RdErl. v. 3.10.1941 entsprechend. Ich ersuche, wegen der dringlichsten Fälle alsbald das Erforderliche zu veranlassen.“91

Anmerkung Nur zur Erinnerung: die Rede ist von Heranwachsenden,92 deren Verhalten eine Vereinnahmung und Funktionalisierung ihrer Jugend gegebenenfalls erschwerte. Ob diese ‚Verweigerung‘ nun eine dezidierte Oppositionshaltung gegenüber der ‚übrigen‘, volksgemeinschaftlich dienenden Jugend und deren Platz innerhalb der „totalen Gemeinschaft“93 verkörpert haben mag (oder kann oder soll) oder eher als Ausdruck grundsätzlicher gesellschaftlicher Ablehnung und gezielter politischer Auflehnung lesbar ist oder aufgrund sozialer Desintegration und wirtschaftlicher Unsicherheit und deren Folgen zustande gekommen sein mag oder aber besser als Gemengelage aus individuellen Motiven und strukturellen Ursachen (nur) im Einzelfall erklärbar wird, soll an dieser Stelle nicht verhandelt werden.94

91 RdErl. d. RMdI. v. 1.4.1942 – IV W II 25/42-8400, LHA Magdeburg, C92 Nr. 4513. 92 „Die Altersgrenze von 16 Jahren kann in begründeten Ausnahmefällen unterschritten werden.“ Ministerialblatt d. Reichs- u. Preußischen Ministeriums der Innern, hg. v. Reichsministerium des Innern 1944, S. 445, in: GUSE (1997), S. 21. 93 „Der Begriff [des totalen Krieges] ist nur eine Folgerung aus dem Begriff der totalen Gemeinschaft. [...] Wenn die Gemeinschaft einmal von innen in ihrer ganzen Wahrheit und Unbedingtheit erkannt ist – und das bedeutet der Nationalsozialismus in der Geschichte des deutschen Volkes -, dann ist auch erkannt, daß diese Gemeinschaft als Ganzes in den Krieg eintritt. Eine Trennung zwischen Machtzustand und Lebenszustand, zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern kann es dann nicht mehr geben. [...] Der Begriff des totalen Krieges gibt der Einsicht Ausdruck, daß jeder Versuch eines Gliedes der Gemeinschaft, sich auf irgendeine Weise außerhalb des Kampfes zu halten, erkenntnismäßig auf einer Fiktion beruht und ethisch ein Verbrechen ist.“ BAEUMLER (1942), S. 34f. 94 Weiterführend dazu: SIMON (1996); PEUKERT (1986 und 1987).

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Zur Rolle der Jugendfürsorge jedoch lässt sich, anknüpfend an die bisherigen Untersuchungen zur Geschichte und Funktion der deutschen Fürsorgeerziehung und die Befunde der eigenen Untersuchung, Folgendes festhalten: Die Jugendbehörden und Erziehungseinrichtungen in Kaiserreich und Weimarer Republik fanden ihren Platz im gesellschaftlichen Gefüge auch in einer funktionalen Rolle bei der „Durchsetzung der ökonomischen, politischen und kulturellen Ansprüche der politischen und so95 zialen Führungsschichten“; im Übergang zum und innerhalb des Na-

tionalsozialismus, änderten sich zwar die Träger- und Organisationsstrukturen der Jugendpflege umfassend, ihre Rolle innerhalb des radikal normierenden und selektierenden Gesellschaftsmodells jedoch blieb in ihren Grundzügen unangetastet, ihre Funktions-Logik weitgehend unverändert, wenngleich sie nunmehr in (rassenideologisch) verschärfter Art und Weise zur Anwendung kam. Entsprechend füllte die Jugendfürsorge ihre (traditionelle) Rolle zur Herstellung und Sicherung politischer Hegemonialität aus, erweitert um den eugenischen Aspekt nationalsozialistischer Biopolitik, in einem nunmehr „totalen Krieg nach innen“:96 Erfassung und (Um-)Formung desjenigen Teils der Familien, Kinder und Jugendlichen, welcher aufgrund seines Verhaltens und/oder seiner Leibhaftigkeit durch das Raster erwünschter und/oder erforderlicher Eigenschaften ‚wertvoller‘ Volksgenossen fiel. „Alles Dokumentierte und Gelesene spricht dafür, daß die Jugendbehörden ihre Funktion in diesem Krieg erfüllt haben, als wichtiger Faktor zur Aufrechterhaltung der sogenannten Heimatfront.“97

95 STEINACKER (2006), S. 890. 96 MANFRED KAPELLER in seinem Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung über die Jugendkonzentrationslager Moringen und Uckermark am 15. August 1995 im Landesjugendamt Brandenburg zur Sichtbarwerdung des BAUMLERSCHEN Konzepts von „totaler Gemeinschaft und totalem Krieg“ als Krieg nach innen und außen am Beispiel der sog. Jugenderziehungslager: „Die Jugend-KZs waren Ausdruck des totalen Krieges nach innen, wie Baeumler ihn theoretisch skizziert.“ KAPELLER (1999), S. 251. 97 KAPELLER (1999), S. 251.

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Angesichts dessen halte ich es dennoch und gerade für wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass mit dem Attestieren einer funktionalen gesellschaftlichen ‚Macht-Sicherungs-Rolle‘ die Fürsorgeerziehung nicht ansatzweise erschöpfend beschrieben und durchdacht ist. SVEN STEINACKER etwa stellt in seiner umfangreichen Untersuchung zur Entwicklung staatlicher Jugendpolitik „vom Kaiserreich bis zum Ende des Nazismus“ auch so etwas wie einen, über funktionale Intentionen hinausreichenden Mehrwert der auf „die Herstellung eines stabilen Entsprechungsverhältnisses zwischen gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionserfordernissen und individuellen Denk-, Wahrnehmungs- und Lebensweisen [...] [ab]zielenden [...] pädagogischen Arrangements“ jugendpolitischer „Erziehungs- und Führungsinitiati-

ven“ heraus. Denn, so STEINACKER weiter: „Die Bemühungen um die Vermittlung bestimmter Verhaltensrationalitäten und normativer Standards gehen dabei nicht in negativen Prozessen der Zurichtung oder Disziplinierung auf, sondern basieren als produktive Subjektivierungsmechanismen auch auf Momenten individueller Autonomie und Konsens. Wenn disziplinierende Strategien damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind und, wie die Arbeit [STEINACKERS, Anm. d. V.] reichhaltig belegt [...], in durchaus massiver Weise angewandt wurden, können die hegemonialpädagogischen Führungstechniken prinzipiell auch für ihre Adressaten einen Gebrauchswert besitzen oder, mit anderen Worten: jenseits ihrer herrschaftsstabilisierenden Funktion subjektiv als Hilfe erfahren werden.“98

Ihre historischen gesellschaftlichen Funktionen ergeben und ändern sich zweifelsohne (auch) in Abhängigkeit der Fragerichtung, von welcher her sich dem Gegenstand Fürsorgeerziehung angenährt wird; beispielsweise stehen die (Aus-)Wirkungen und Erlebens-Facetten von Fürsorgeerziehung bislang noch zur systematischen Erforschung aus, zu den Anliegen unserer Untersuchung zählt dies jedoch nicht. Sie widmet sich dem Gegenstand, dem Objekt der Fürsorgeerziehung, dem Zögling. Nicht in seinem unmittelbaren Erleben der Intervention, auch nicht hinsichtlich der Frage, welche Gründe und Motive hinter den Handlungen des Minderjährigen gestanden haben mögen, aufgrund derer er aus seiner Herkunftsfamilien heraus genommen und in Erziehungsheimen untergebracht wurde, sondern einzig als derjeni-

98 STEINACKER (2006), S. 890f.

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ge Zögling, den die Vorgänge um und seine Unterbringung in Fürsorgeerziehung hervorbrachten: den Zögling also, den ,seine‘ Akte hinterließ.

Die Akte als Schatten und Orakel Noch vor Beginn seiner Existenz als ‚ordentlicher‘ Zögling, also noch vor der amtsrichterlichen Anordnung von FE und der Überstellung in ein Erziehungsheim, ‚bekam‘ der „auffällige und/oder von Verwahrlosung bedrohte“ Minderjährige eine Akte, womit das Fundament seiner Existenz als Akten-Zögling gelegt wurde. Die Akte enthält biographische Ausschnitte aus seiner Zeit vor der Fürsorgeerziehung, sie protokolliert und systematisiert ‚relevante‘ Ereignisse während der Zeit als Zögling, und bildet im Laufe der Erziehungsmaßnahme einen stetig wachsenden Datenpool, aus welchem ‚relevantes‘ von ‚weniger relevantem‘ Material getrennt und geordnet bzw. aussortiert wird. Gemäß dem behördlichen Zweck einer Akte, Dokumente aufzunehmen und zu ordnen, in welchen ‚Wissen‘, Vorgänge, Ereignisse fixiert sind, versammelt die Akte eines jeden Zöglings also dasjenige ‚Wissen‘, welches bislang von ihm (und seinem ‚Fall‘) erhoben worden ist und welches als relevant für den Vorgang Fürsorgeerziehung erachtet wird. Dazu zählen „Informationen (a) über das Subjekt, das als ‚Fall‘ zum Gegenstand der Akte wird (u.a. statistische, biographische Angaben wie z.B. das Geburtsdatum, den Namen, das Delikt), (b) über diejenigen, die diese Akten führen (z.B. als Unterschriftsberechtigte, als Gutachter(innen), selten auch als Subjekte (z.B. in persönlichen Stellungnahmen, handschriftlichen Kommentaren). [...] Eine Akte enthält darüber hinaus (c) Informationen über die Beziehungen der beteiligten Personen auf den jeweiligen Ebenen (z.B. bei der Dokumentation institutioneller Entscheidungen über [...] [als erforderlich erachtete Maßnahmen], aber auch bei Beurteilungen und Stellungnahmen, die einzelne Personen abgeben).“99

99 MUCKEL (1997), S. 18.

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Mit jedem Vorgang und jedem Dokument erweitert sich der Aktenkorpus, vergrößert sich der Fundus, aus welchem beim Blick zurück wie beim Blick nach vorn geschöpft werden kann. Über die Dauer der gesamten Maßnahme, anlässlich derer die Akte existiert, an jedem neuen Tag, den die Erziehungsmaßnahme mit sich brachte: die Akte war immer schon bereits ,da‘. Gleich dem Igel, der den Hasen in der Buxdehuder Heide chancenlos besiegt, indem er ihn sich zu Tode hetzen lässt, gibt es über den gesamten Vorgang der Fürsorgeerziehung für den Zögling kein davor, kein: ‚vor der Akte‘. Und schon gar nicht gegenüber dem Überweisungsbeschluss des Amtsgerichts: dem Eröffnungsdokument der Akte ebenso wie dem der ‚ordentlichen‘ Zöglingsexistenz. Die Akte glich einem Schatten, der stetig wuchs. Oder einem Orakel. Standen ‚erzieherische‘ Entscheidungen (Bestrafung, Post, Urlaub, Besuch, Entlassung) oder andere Unklarheiten (Erbgesundheit) ins Haus, und Erzieher und Hausvater/Heimleiter waren diesbezüglich uneins, dann wandten sie sich an die Akte des Betreffenden; aus ihr ließ sich am ehesten ablesen, wie die aktuelle Situation zu betrachten, zu deuten, zu handhaben sei. Handelte es sich vielleicht um einen Vorfall, der ‚typisch‘ war für den Zögling und seine ‚Veranlagung‘ oder mochten andere Motive im Handeln des Minderjährigen eine Rolle gespielt haben? Gab es im bisherigen Unterbringungsverlauf so etwas wie einen Faden, der sich aufnehmen und an den sich anknüpfen ließ? Kaum anders ging es bei Gericht, in der FürsorgeerziehungsBehörde oder beim Jugendamt vor sich. Auch hier bewies eine solche Materialsammlung ihren speziellen, unvergleichlichen Wert, ging aus ihr doch genauestens hervor, wie der Zögling sich entwickelt hatte, seit er in Heimerziehung untergebracht war, welches die Ursachen dafür waren (für die Unterbringung wie für die Entwicklung), und was sich daraus schließen ließ. Wies der Betreffende klare Entwicklungsfortschritte auf, dann waren die Erziehungsversuche im Heim der richtige Weg gewesen. War das nicht der Fall, und die Bemühungen um den Zögling zeigten bei jenem keinen feststellbaren Erfolg, musste die Vorgehensweise geprüft, überdacht, möglicherweise ,nachjustiert‘ werden. Dazu aber

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mussten die Gründe ausfindig gemacht werden, die verantwortlich waren für den fehlenden Erziehungserfolg.100 War der Zögling etwa krank, und deshalb nicht erziehbar, konnten die pädagogischen Bemühungen ja nicht anders, als zu scheitern; woran die Werkzeuge des Fachs keinen Halt fanden, daran mussten andere Instrumente sich versuchen, medizinische beispielsweise. War der Zögling gesund, und dennoch nicht erziehbar, konnten die Gründe in seiner ablehnenden Grundhaltung den pädagogischen Bemühungen gegenüber liegen. Es galt also, den Zögling von den Vorteilen einer prinzipiellen Einstellungsänderung zu überzeugen. Hierzu wurden Kombinationen aus Einzelmaßnahmen und ,gruppendynamischen Argumentationsformen‘ erprobt, deren Wirkkräften kaum jemand über längere Zeit widerstehen mochte.101

100 Mit Fortschreiten des Jahrhunderts unterschieden die Antworten auf die Frage nach der Erziehbarkeit sich z.T. deutlich; war man um die Wende zum 20. Jahrhundert davon ausgegangen, nahezu jedes Kind in einem gewissen Maß erziehen zu können, hielt in den 20er Jahren sukzessive, in den 30ern bald recht massiv die Einsicht Einzug, einer Utopie aufgesessen zu sein: aufgrund verschiedenartiger ‚Veranlagungen’ fanden sich nicht bei jedem Kind die zur Erziehung erforderlichen ‚Voraussetzungen‘. 101 Das RJWG regelt unter §70 („Erziehungsrecht und -pflicht“) die Anwendung „geeigneter Zuchtmittel“ zu Erziehungszwecken: „Die Erziehungsgewalt mit dem Züchtigungsrecht (d.h. Anwendung geeigneter Zuchtmittel) hat die FEB. nach Auswahl der Erziehungsstelle dieser zu übertragen. [...] Maß und Art der Züchtigung ergeben sich im allgemeinen mangels gesetzlicher Bestimmungen nach der Sachlage aus dem Zweck einer vernünftigen Erziehung (RGSt.40, S. 432), für die besondere Anstaltserziehung nach den Grenzen einer maßvollen, vernünftigen und durch die Umstände gebotenen Anstaltszucht (Vgl. RGSt.42, S. 359).“ §70 RJWG, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 272. Zur Anwendungspraxis der Strafe als Erziehungsmittel finden sich bei LAMPEL (1929) für die 20er Jahre ähnliche Hinweise wie bei KUHLMANN (1989) für die 30er und 40er Jahre: „Ein noch immer sehr ungeklärtes Thema freilich bleibt das Prügeln. Fürsorgezöglinge zu schlagen, ist offiziell schon lange verboten, und es ist selbstverständlich und wird auch allgemein beachtet, daß man alle guten Mittel ausschöpft. Aber doch wird es in gewissen Momenten, für die man keine endgültige Definition geben kann, auf einen raschen Klaps hinaus-

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Wenn doch, dann war derjenige für die Fürsorgeerziehung gänzlich ungeeignet, und musste möglicherweise über den (Um-)Weg der Arbeit ,erzogen‘ werden.102 Eines aber war allen Zöglingen der Fürsorgeerziehung, ob erziehbar oder renitent, ob männlich oder weiblich, gemein: seit das Jugendamt sich mit ihnen zu beschäftigen begonnen hatte, seit man sich ein Bild von ihnen gemacht hatte, seit sie zum Fall geworden waren, existierte eine weitere Version von ihnen.

Der Akten-Zögling Von jeder leiblichen Person, gleich, ob sie Kurt oder Lieselotte oder Martin gerufen wurde, befand sich nun eine Version in der Welt, die sich aus Aufnahmebögen und Beobachtungen, Berichten und Diagnosen zusammensetzte. Fatalerweise ist diese Version weitaus mehr ist als nur eine weitere, eine papierne Ausgabe des Zöglings, seine Beschreibung qua Auflistung ‚wesentlicher‘ Merkmale; die im angefer-

kommen müssen, der nicht schädigt, aber einen Punkt bedeutet.“, vgl. LAMPEL (1929), S. 29. „Die zur Verfügung stehenden und am häufigsten gebrauchten Erziehungsmittel waren und blieben trotz gegenteiliger Appelle Strafen und Belohnen. Die Kinder und Jugendlichen mußten gehorchen und wenn sie es nicht taten, so war dies ein Zeichen ihrer Verwahrlosung. [...] Nach 1933 wurde die Bedeutung der Prügel wieder aufgewertet. Im Juni 1934 forderten die Fürsorgeerziehungsdezernenten Preußens eine scharfe Nachprüfung der Bestimmungen über die Disziplinarmaßnahmen (Arrest, Kostentzug, Züchtigung) in de[n] FE-Anstalten [...]. Am 5.7.1935 wurde durch Erlaß das Züchtigungsrecht ‚zur sofortigen Wahrung der Autorität’ wieder eingeführt. Jede vom Erzieher und Anstaltsleiter vorgenommene Züchtigung mußte in ein Strafbuch eingetragen werden, damit die Züchtigungen von der zuständigen Behörde überprüft werden konnten. Die Fürsorgeerziehungsbehörden begrüßten diese Regelung.“ KUHLMANN (1989), S. 114. 102 Diese Praxis konnte (ebenso wie die Verwahrung Schwererziehbarer) auf eine lange Traditionslinie zurückblicken, und feierte in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts eine ,kraftvolle‘ Renaissance.

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tigten und gesammelten Material enthaltene, oder mittels der Sprache der ‚Beschreibung‘ vielmehr erst konstituierte Figur, ist beileibe kein Abbild vom Zögling. Im Gegenteil: Ihr Leib aus Schrift und Papier, Sprache und ‚Sinn‘ verdeckt den Zögling vielmehr. Anstatt den Blick auf ihn zu schärfen, verstellt sie ihn. Oder er-stellt ‚ihn‘, fortwährend. Auch (oder gerade) in der Dichtheit ihres Materials, der Menge an gesammelten Daten vom Objekt der Erkenntnis, entpuppt die vermeintlich mikroskopische Logik der Wirkweise der Akte sich als eine kaleidoskopartige.103 Anstelle des Zöglings erfasst der pädagogisch forschende Blick vorwiegend unbedingte strukturale Arrangements aus den Bruchstücken der Zöglingsbiographie, seines Habitus’ etc., die den Konstruktionsbedingungen des Instruments entsprechend zueinander in Beziehung gesetzt werden. Gleichwohl weisen die Versionen vom Zögling, die verschiedenen Akten-Zöglinge durchaus ‚Gemeinsamkeiten‘ auf; nicht mit ihren ‚Originalen‘, diese Frage gilt es nicht zu klären, sondern untereinander: alle verfügen über eine nicht unerhebliche Menge gemeinsamer ‚Merkmale‘, scheinen Variationen ein und desselben Typus’ von Zögling zu ‚sein‘. Von daher lautet eine These (und letztlich auch ein Ergebnis) meiner Untersuchung wie folgt: Trotz der zufälligen Formation des erzeugten, randomisierten Objekts meint der Beobachter, Bekanntes, Vertrautes, Benennbares vorzufinden, verhielten sich die Verantwortlichen (Lehrer, Erzieher, Gutachter, Fürsorger, Amtsrichter) in der historischen Situation der Fürsorgeerziehung beim Blick in die Akte, als hätten sie immer nur den einen, den realen Zögling vor sich.104

103 Vgl. LÉVI-STRAUSS (1989), S. 49f. 104 An dieser Stelle verlassen wir die Sichtweise von LÉVI-STRAUSS, nach welcher „dem Arrangement, entstanden aus dem Zusammentreffen von zufälligen Ereignissen [...] mit einem Gesetz [...], kein Objekt in der Erfahrung des Beobachters [...]“ zu entsprechen scheint. (1989), S. 50. Für unsere Untersuchung der Möglichkeit eines Zustandekommens des Akten-Zöglings erscheint die strauss'sche Denkfigur kaleidoskopartiger Logik, Zufall und Gesetz, dennoch erhellend wie bereichernd.

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Dass es sich hierbei um mehr als nur eine akademische Spitzfindigkeit oder einen gähnenden „Alles-ist-Text“-Trugschluss handelt, führt die Untersuchung der Zöglingsakten auf die Konstituierungsweise(n) ihres Gegenstandes hin vor Augen, verfügt doch der Akten-Zögling über eine enorme Wirkkraft, über einen dynamischen Eifer, das Verhältnis von ‚Original‘ und vermeintlichem ‚Abbild‘ umzukehren. Weshalb eine weitere These lautet: Nicht der reale Zögling gestaltet die Figur in den Akten, ist deren Vorbild, Eichmaß, Prototyp – das Gegenteil scheint der Fall. Die Figur des Akten-Zöglings nimmt in gehörigem Maß Einfluss darauf, wie der reale Zögling wahrgenommen wird, welches Bild er abgibt, schließlich auf die Einschätzung seines Verhaltens, seiner Entwicklung, die Wirksamkeit der Erziehungsbemühungen um ihn. Als die komplettere, konsistentere, stimmigere – die evidente – Version von beiden, schreibt die Figur des Akten-Zöglings gar gehörig mit an den Akteneinträgen und -vermerken, und damit am Unterbringungsverlauf des Zöglings in Fürsorgeerziehung, indem sie immer dann ‚sichtbar‘ hervortritt, wenn Besagter nicht anwesend ist oder sich uneindeutig verhält. Dies ist ein besonders wichtiger Punkt: die Figur des Akten-Zöglings hat nicht nur ein viel besseres ‚Gedächtnis‘, sie scheint auch eine ausgeprägte Abneigung gegen jegliche Art von Kontingenz zu besitzen. Nicht ohne Grund wird in der vorliegenden Untersuchung der ihr einzig zugängliche Zögling, eben dieser AktenZögling, als eine auch literarische Figur gefasst, obgleich es sich bei selbiger um das Resultat administrativer und pädagogischer Vorgänge handelt. Eine Untersuchung zum Zögling als Figur in der Literatur, 105 zum Zögling in der Literatur müsste gesondert erfolgen; meine Fragestellung zielt ab auf die narrativen Verfahren, die den Zögling an die vorgängigen Wissensbestände über ihn und an die Vorgänge in der Einrichtung banden. Ob, inwieweit und in welchem Maß sich das Verhalten des ,Zöglingsaußerhalb-der-Akte‘ in der Darstellung ‚dieses Verhaltens‘ in der Akte niederschlug, also in der Konstitution des Akten-Zöglings, ob es folglich ‚Schnittmengen‘ und ‚Deckungsgleichheiten‘ zwischen beiden

105 Gern auch durch PETER VON MATT.

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gegeben haben mag, darüber ließen sich bestenfalls Spekulationen anstellen. Deshalb sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Untersuchung keinen (zwischen Zöglingsverhalten als ‚tatsächlichen Ereignissen‘ und Aktenaufzeichnung) vergleichenden Ansatz verfolgt, wie immer ein solcher auch konzipiert und aufgebaut sein mag.

1.3 D IE U NTERSUCHUNGSFRAGE Fünf Hypothesen Akten der Fürsorgeerziehung wurden in den bislang erschienenen Untersuchungen106 zu Zöglingsbiographien selten anders gelesen und untersucht, als die in anderen Institutionen entstandenen, schriftlichen Quellensammlungen zu Personen und Vorgängen auch: als regelrechte Faktenträger, als objektive Datensammlungen, mit deren Hilfe – unter fachkundigem und quellenkritischem Gebrauch – Abläufe rekonstruiert und nach bestimmten Kriterien einer Bewertung unterzogen werden können; vielfach jedoch, ohne die Bedingungen solcher Wirklichkeitskonstruktionen methodenkritisch zu thematisieren. Demgegenüber stelle ich folgende Behauptungen zur Überprüfung auf: 1.

2.

Die Dokumente der Zöglingsakte, die im Verlauf der Fürsorgeerziehung angefertigt wurden, sind deutlich weniger Darstellungen der ‚Entwicklung‘, deutlich weniger ‚Abbild‘ des ‚Erziehungsverlaufs‘ eines Zöglings, sondern unterliegen vielmehr den Eigenheiten (Strukturen, Gesetzen, ‚Mechanismen‘) des Mediums ihrer Verfasstheit: der Sprache; konkret: des zur Wissens-Organisation, -Darstellung und -Vermittlung gewählten Narrativs. Die Fürsorgeerziehungs-Akte ist mehr als die Ansammlung von Zustandsbeschreibungen (Darstellungen) und diese verknüpfende Empfehlungen und Anordnungen: Die Akte ist ebenso ein großes Narrativ, zusammengesetzt aus z.T. abgeschlossenen, dennoch durchgängig miteinander verknüpften Erzählungen (Geschichte

106 Vgl. die Arbeiten von BANACH (2007), BLUM-GEENEN/KAMINSKY (1995), FASTNACHT (1992), KENKMANN (1992), FENNER (1991), KUHLMANN (1989), AICH (Hg.) (1973).

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3.

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eines Milieus, Geschichte eines Missbrauchs, Geschichte einer Verwahrlosung, Geschichte der Unterbringung einer Verwahrlosung in FE, Geschichte von Erziehungshindernissen, Geschichten aus dem Heim); und zwar deutlich mehr, als in wissenschaftlichen Untersuchungen zu Zöglingsbiographien bislang berücksichtigt. Die Darstellung des gesamten ,Fall‘-Verlaufs (= eine Akte) eines Zöglings ist eine Ansammlung von relativ engen Variationen (Fortschreibungen) einer Erzählung, zumeist basierend auf dem Unterbringungsbeschluss, deren Wirkung nicht danach bemessen werden sollte, über welche Quantität (Länge/Kürze) ihr lesbarer Text verfügt; ihre Wirkmacht resultiert maßgeblich aus ihren Bezügen, speist sich aus Bezugnahmen vorsprachlicher Konzepte und verdankt sich der unreflektierten Verwendung konventioneller (Geschehens-)Ordnungsmuster. Das stete Wirken linearer, und von daher kausaler Denkweisen, führt in der Akte zu fortgesetzter Organisation von ‚Neuem‘ wie ‚Vorhandenem‘ nach bekannten Mustern; auffälliges Merkmal hierbei ist die Haltung zur Kontingenz von Ereignissen, ein auf Suspendierung zielender Umgang mit Nicht-Notwendigkeiten, die in der Verlaufsdarstellung der Erziehungsmaßnahme deshalb schlichtweg nicht vorkommen.

Ebenso wenig, wie überlieferte Vorgangs-Aufzeichnungen (Akten) ‚tatsächliche‘ Ereignisse und deren Verlauf abbilden, repräsentiert ein ‚Wissen vom/über ein Objekt‘ dieses Objekt. Da solch ein spezifisches Wissen nicht einfach vor- oder aufgefunden, sondern in einem Prozess hervorgebracht (Poiesis) wird, gilt es also zu fragen, unter welchen (rhetorischen) Bedingungen dieses Herstellen erfolgt. Sucht man innerhalb des Wissens-Produktionsprozesses – und damit in der Herstellung des Objektes selbst – nach einer diesem Verfahren zugrundeliegenden Logik, so kann es sich nicht um eine dem Objekt immanente/inhärente Logik handeln, bringt man die signifikante Verbundenheit von Wissen(-sentstehung) und seiner Artikulation in Anschlag. Zu fragen ist folglich weniger nach einer Logik der Poiesis als vielmehr nach einer Rhetorik der Wissensproduktion. Denkt man diesen Prozess als ein originelles Hervorbringen und Konfigurieren von Beschreibungsmethoden, kategorialen Bestimmungen und Anordnungen, Modellen und Begrifflichkeiten, dann kommen darin poetische Verfahren wie Narrativierung und Figurierung zum Einsatz.

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Von diesem Ausgangspunkt, dass bei der Generierung jeglichen Wissens literarische Strategien und Praktiken der Darstellung Anwendung finden, dass Wissen durch den fortgesetzten Austausch von kulturellen Zeichen, rhetorischen Figuren und narrativen Strukturen entsteht, wird nunmehr die Erzählung des ,Falls‘ (die Fallgeschichte selbst) thematisiert, welche sich durch eine allgemeine Tendenz zur Homogenisierung, Chronologisierung, Telelogisierung auszeichnet, worunter auch die Handhabung von Kontingenz fällt. Obgleich unzählige verschiedene Kinder und Jugendliche in Fürsorgeerziehung überwiesen und untergebracht wurden, tauchen diese unzähligen verschiedenen Kinder und Jugendlichen in den Fürsorgeakten nicht auf. Wer in den Akten erscheint, ist ein bestimmter, in Nuancen variierender, vom Typus her jedoch immergleicher Fürsorgezögling: aus überfordertem Elternhaus stammend, zu unsozialem Verhalten neigend, stark triebgesteuert, erblich belastet, von Verwahrlosung bedroht, eingestuft in die Kategorie ‚schwererziehbar‘ bis ‚minderwert‘, deshalb untergebracht im konfessionellen Erziehungsheim. Die Untersuchung fragt von daher: Wie kam das spezifische Wissen vom Zögling als Objekt öffentlicher erzieherischer Maßnahmen zustande, mittels welchem Entscheidungen über die weiteren Erziehungs-Maßnahmen gefällt und begründet wurden, die das Erziehungsobjekt ‚Zögling‘, seinen Unterbringungsverlauf, kurzum: seine Zöglingsbiographie maßgeblich beeinflussen sollten. Unter der Prämisse, dass die Zöglingsakte, als Topos wie als tatsächlicher Ort, an dem „das Fach- und Dienstwissen der Bürokratie planmäßig [aufgenommen und] geordnet“107 wird, ihr performatives Potential primär entlang einer sprachlich-narrativen Ordnungslogik entfalten konnte, werden die Dokumente der Zöglingsakten auf ihre Struktur hin untersucht, mittels derer das durch und durch heterogene Material zu konstitutiven Elementen jeweils einer durchgängigen Erzählung gefügt wurde. Das den jeweiligen, einzelnen Fallgeschichten gemeine, konstitutive Element wird in der Anordnung der Aussagen, in der Struktur des Materials vermutet (und nicht als ein den beschriebenen Personen gemeinsames, identisches Merkmal); von daher werden diese Erzählun-

107 Brockhaus-Enzyklopädie (1986), Bd. 01, S. 285, Stichwort: Akten.

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gen über Zöglinge der Erziehungsfürsorge aus den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in ihrer narrativen Verfasstheit strukturanalytisch untersucht. Zusammenführen lässt sich das bislang auf- und ausgeführte Fragewissen in einer fünften Hypothese: 5.

Die Sprache in den Akten, mittels derer ein ‚Fall‘ erzählt wird, bestimmt dessen Verlauf zusammen mit dem vor-gängigen ‚Fall‘Wissen in viel höherem Maße als andere Faktoren (z.B. Beobachtungen des Verhaltens, der ‚Entwicklung‘ eines Zöglings in der Einrichtung); die vom Autor wie Leser ‚mitgebrachten‘ Sinn- und Deutungsmuster zählen nicht weniger zu den Wirkweisen narrativer Objekterzeugung als konventionelle Erzählordnungsprinzipien wie Linearität und Teleologie, die bei der ‚Verlaufsdarstellung‘ der Zöglings-‚Entwicklung‘ Anwendung finden. Ein gravierendes und folgenschweres Manko der Aktenautoren gegenüber dem nominell literarischen Autor besteht in der fehlenden Reflexion und Kenntlichmachung ihrer eigentlichen, poietischen Leistung beim Verfassen der Aktendokumente, während ein ebenso gravierender wie folgenschwerer Unterschied zum Verfasser einer wissenschaftlichen Untersuchung in der fehlenden Kenntlichmachung der Bezüge, der ‚Entnahmeorte‘ seines verwendeten ,Wissens‘ innerhalb der Abhandlung liegt. Gegenüber beiden Strategien, der des Literaten wie derjenigen des wissenschaftlichen Autors, kann der Leser sich verhalten; er kann bei seiner Lektürehaltung die Produktionsbedingungen des Hervorgebrachten gewissermaßen in Rechnung stellen. Fehlt deren implizite oder explizite Kenntlichmachung, wird eine Lektüreerwartung des Faktischen, Tatsächlichen nahegelegt.

Zur Überprüfung dieser Behauptung werden, wie bereits angedeutet, im weiteren Textdokumente aus den Zöglingsakten daraufhin gelesen und untersucht, auf welche Weise in ihnen der Zögling hervorgebracht, als welche ‚Art‘ von Zögling er darin fixiert und in welcher Weise sein Unterbringungsverlauf dargestellt wurde. Ließ sich seine Zeit im Erziehungsheim als ‚Erfolgsgeschichte‘ schreiben, etwa als Prozess fortschreitenden ‚Erzogenwerdens‘, als ,Reife- und Entwicklungsgeschichte‘ fassen, oder zeichnen sich die Darstellungen in der

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Akte eher durch Unverbindlichkeit und Unbeständigkeit aus, findet sich in den Unterbringungsaufzeichnungen eher ein Konglomerat aus Einzelepisoden ohne konventionell sinnhaft verknüpfbare Merkmale? Gemäß ihren Vorannahmen (Hypothesen 1–5) vergleicht die Untersuchung nicht die Darstellungen in den Akten mit Vorgängen außerhalb derselben (Wies Kind A. tatsächlich Verhaltenweisen auf, die auf Imbezillität schließen lassen?), sondern analysiert die sprachlich dargestellte und hergestellte Realität auf das Wie ihrer Wirksamkeit (Textstruktur, Erzähltextanalyse, Sprechhandlungen), sowie auf ihre, über bloße Sprache hinausgehenden Folgen („...ist unterzubringen..., ...ist unfruchtbar zu machen..., ...ist durch und durch minderwertig...“). Mit anderen Worten: Wer (oder was) schrieb wie die Geschichte des Zöglings? Wer (oder was) nahm Einfluss auf die Richtung, in welche sich der ‚Fall‘ – und damit der Zögling – entwickelte? In welcher Beziehung standen Unterbringungsakte und Unterbringungsverlauf?

1.4 AKTUELLER F ORSCHUNGSSTAND Die Betrachtung ‚der Welt‘ 108 als sprachlich Vermittelte ist keine Erfindung der europäischen Moderne; dennoch lässt etwa der Strukturalismus als angewandte epistemologische Technologie sich weitgehend zurückführen auf die strukturale Linguistik de SAUSSURES sowie

108 Der Gebrauch des Begriffs: Welt fußt in diesem Zusammenhang auf Grundannahmen der philosophischen Anthropologie, genauer der Kulturanthropologie ERICH ROTHACKERs (1982, 1966). Es sind demnach weder Welt noch Umwelt ‚einfach so‘ vorhanden, sondern werden vom Menschen „kraft der geschauten Gestalt [erst dazu] gemacht [...]. Beliebigkeit verwandeln wir [Menschen] in Bedeutsamkeit.“ Diese Leistung, diesen aktiven, kreativen Vorgang, „dieses Ereignis des schöpferischen Erfindens, bestehend aus [...] sprachlichem und pragmatisch-praktischem Zugriff, nennt ROTHACKER: aus der Wirklichkeit eine Welt herausdeuten. Welt konstituiert sich durch menschliche Schöpfung aus Wirklichkeit. Und Welt bezieht sich stets auf die jeweils ‚lebendige’, das heißt die gesprochene Sprache. [...] ‚Welt‘ ist konkretes Wissen über Wirkliches, insofern Wirklichkeit überhaupt ‚erscheint‘, d.h. für den Menschen wahrnehmbar ist.“ HAHN (2008), S. 77 u. 80.

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den Russischen Formalismus.109 Während sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus den regionalen Ansätzen vor allem drei lokale Strukturalismen herausbildeten (der tschechische, der französische und der sowjetische Strukturalismus),110 erfolgte die Rezeption in Deutschland eher allmählich, seit den späten 1960er Jahren befördert (auch) durch die bundesdeutsche Studentenrevolte.111 Lange Zeit fiel die Textförmigkeit der (sozialen) Welt in Deutschland, mit Ausnahme der Diskursanalysen Foucaultscher Tradition, z.B. von LINK, LANDWEHR, KELLER, BOHNSACK et al.,112 mehrheitlich in den Zuständigkeitsbereich der Literaturwissenschaft(en).113 Ebenso mehrheitlich ließ sich die Historiographie der übrigen Wissenschaftsdisziplinen davon kaum stören, weshalb im und für den deutschsprachigen Raum die Arbeiten von MARIETTA MEIER,114

109 Zum Russischen Formalismus und VLADIMIR PROPP vgl. Kapitel 2, Pkt. 2.4 in diesem Buch sowie EHRLICH (1987), EAGLETON (1992), STRIEDTER (1988), PAUKSTADT/KAYSER (1979), S. 128ff. 110 Vgl. u.a. EAGLETON (1992), S. 74ff. 111 Vgl. PAUKSTADT/KAYSER (1979), S. 128ff. 112 Zu nennen sind hier (beispielhaft und stellvertretend für eine Vielzahl von Publikationen) Arbeiten von JÜRGEN LINK (1996), SIEGFRIED JÄGER (2004), REINER KELLER (2004), REINER KELLER/ANDREAS HIRSELAND/WERNER SCHNEIDER/WILLY VIEHÖVER (2001, 2004, 2005); HANNELORE BUBLITZ/ ANDREA D. BÜHRMANN/CHRISTINE HANKE/ANDREA SEIER (1998), ACHIM LANDWEHR (2004), JÜRGEN MARTSCHUKAT (2003), PHILIPP SARASIN (2003), MICHAEL MASET (2002), die aus verschiedenen Perspektiven (Literatur-, Sozial-, Geschichtswissenschaften) versuchen, sich diskursanalytisch den jeweiligen Fragestellungen theoretisch und forschungspraktisch zu nähern. 113 Vgl. diesbezüglich etwa das Forschungsprojekt Sprache von Krankenakten als Quelle der Sprachgeschichte der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen, in welchem unter Leitung von JÖRG RIECKE psychiatrische Krankenakten aus der Zeit des NS hinsichtlich institutionellen Sprachgebrauchs, professioneller Verortung des Fachs und möglicher individueller Folgen für die ‚Beschriebenen‘ untersucht werden. Vgl. auch http://www.holocaustlite ratur.de/index.php?content=85&category=10. 114 MEIER (2006).

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MICHAELA RALSER115 et al. als herausragend zu nennen sind – und dies nicht infolge ihres Seltenheitswerts. Nicht weniger hervorzuheben sind die Untersuchungen von Narrativen der Humanwissenschaften, Ergebnisse eines Konstanzer Graduiertenkollegs,116 die sich gleichsam an die Einlösung des Postulats von ‚Wissenschaft als (vorwiegend) kultureller Praxis‘117 machen; dabei werden bei der Frage nach dem Zustandekommen von Wissensobjekten historische Wissensräume durch- und die wissenschaftlichen Disziplinengrenzen überschritten, wobei letztlich neue Wissensräume118 er- und geöffnet werden, welche den Ausgangsort künftiger Untersuchungen stellen. (Eine im besten Sinne alternativlose Begegnung mit dem Wissen (in) der Moderne: „Modernes Wissen ist ein entortetes Wissen, ein Nichtwissen, das sich von seiner Reduktion her immer schon selbst reflektiert [...]. Analog zum neuen Geist eines Denkens ohne Referenz beschreibt sich der Ort des Subjekts in der Moderne als ein Ort ohne Ort, als ein unablässig dezentrierter, weil in ständiger Bewegung begriffener Punkt einer (imaginären) Karthographie.“)119

115 RALSER (2006). 116 „Der vorliegende Band ist das Resultat einer Konferenz des [...] DFGgeförderten [...] Graduiertenkollegs Die Figur des Dritten, die im Juni 2005 an der Universität Konstanz stattgefunden hat.“ HÖCKER/MOSER/WEBER (Hg.) (2006), Vorwort. 117 Vgl. MOSER (2006), S. 12. 118 Um beispielsweise dem Dilemma der Frage nach der ‚Herkunft‘ der Wissenschaftsobjekte (real oder fiktional, gegeben oder gemacht) zumindest auszuweichen, schlägt etwa BRUNO LATOUR das Beschreiten eines dritten, transdualen Weges, gleichsam zwischen Naturalismus und Strukturalismus verlaufend, vor, welcher beide Seiten in sich aufnimmt. „Ein Objekt, das gleichzeitig naturgegeben und kulturell verfertigt, eigendynamisch und extern determiniert ist, wäre von diesem Weg aus betrachtet nicht kontradiktisch, sondern komplementär. Es wäre etwas, wofür Bruno Latour die Begriffe ‚Hybrid‘ oder ‚Faitiche‘ vorgeschlagen hat; etwas, das symbolische Zuschreibungen in sich aufnimmt, dessen Faktizität damit jedoch nicht ausgelöscht oder ignoriert werden kann.“ MOSER (2006), S. 12f. 119 RENNEKE (2008), S. 10.

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Tatsächlich werden in diesen Untersuchungen Material und Gegenstand mit- und gegeneinander verschränkt, im Fall von MEIER und RALSER die sprachliche Konstruktion und Konstitution von und in medizinischen Fallgeschichten konsequent in Anschlag gebracht. Derartiges Insistieren auf eine konkrete Poiesis von Wissen, etwa die epistemische Beschaffenheit von Medizin und Patienten in Krankenakten, stellt nicht nur ein Desiderat dar; in gleicher Weise initialisiert sie die vorliegende Studie, von ihr leiht diese sich ein Stück disziplinengelösten Denkens, welches eine Eigenheit so mancher Veröffentlichung zwischen Konstanz und Basel ausmacht.120 In der medizinischen Historiographie finden immerhin seit den 1980er Jahren ansatzweise kulturwissenschaftliche Prämissen eine Entsprechung, beim Umgang mit Wissens- und Wissenschaftsobjekten (Körper, Diagnosen, Symptome, Terminologien) deren Verfasstheit und Beschaffenheit stärker ins Visier zu nehmen, etwa in der Berücksichtigung einer unumgänglichen Historisierung von Körperlichkeit.121 Die sprachliche Verfasstheit des Wissensobjekts ‚Psychiatriepatient‘ als Zeichen und Erzählung zwischen literarischem und psychoanalytischem Diskurs stellte 1992 STEPHANIE KICELUK122 heraus;

120 Zur Fremd- und Selbst-Konstituierung einer ‚Baseler psychiatrischen Persönlichkeit‘ in administrativen und in Egodokumenten etwa NELLEN/ SCHAFFNER/STINGELIN (2007); zur Frage nach der Vergleichbarkeit und Generalisierbarkeit von Fallbeispielen vgl.: traverse. Zeitschrift für Geschichte. Fallgeschichten 2006/2; darin u.a. zum Einsatz narrationsstruktureller Modelle in Anwendung auf die Untersuchung von Emigrantenbiographien BARTMANN (2006) sowie die Untersuchung von Trauerarbeit und spezieller Darstellungsmodi anhand schreibender Subjekte RICHTER (2006). 121 Stellvertretend und beispielhaft DUDEN (1987, 1991, 2002), zur Körpergeschichte selbst LORENZ (2000). 122 KICELUK (1993); zuerst erschienen unter dem Titel „The Patient as Sign and Story: Disease Pictures, Life Histories, and the First Psychoanalytic Case History” im Journal of Clinical Psychoanalysis, 1 (1992), S. 333368. Vgl. dazu auch YVONNE WÜBBEN (2009): Ordnen und Erzählen. Emil Kraepelins Beispielgeschichten, die anhand der Verwendung (wissenschaftlich!) standardisierter Patientendaten unter gleichzeitigem Rückgriff auf ausführlich präsentierte Verlaufsgeschichten die vermeintlich klare

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sie legt in ihrer Untersuchung dezidiert dar, dass das psychiatrische Dokumentationssystem sich (seit PINEL) zugleich in der Tradition des semiologischen und des narratologischen Diskurses befand; während das semiologische Epistem sich am Krankheitsbild festmacht, rückt das narratologische die Lebensgeschichte des Patienten in den Mittelpunkt des „Falls“. Eine weitere Untersuchung zum ‚Alltag mit Akten‘ nimmt (u.a.) den ‚objektkonstituierenden Mehrwert‘ personenbezogener Akten (-führung) in den Blick; auf Grundlage der Grounded Theory untersucht PETRA MUCKEL123 die Wirkung von personenbezogenen Akten als „komplexe Kontrollinstrumente zur Bewältigung von Unsicherheit und Ungesichertsein“124 im institutionellen Alltag verschiedener Einrichtungen. Der hierbei ermittelte ‚Charakter‘ von Akten reicht erheblich über bloße (pragmatische wie herrschaftsstabilisierende) ‚Ordnungs- und Verwaltungsfunktionen‘ hinaus; er ragt in gedächtnispsychologische Bereiche ebenso wie in Areale symbolischer Repräsentationshaftigkeit ebenso wie in Gebiete „tatsächlicher Stellvertretung“: als jederzeitiges (= ewiges) Medium und Instrument zum Beweis von ‚Wirklichkeit‘. Auch an die pädagogische Geschichtsschreibung oder besser noch: mit ihren Ergebnissen an die Pädagogik direkt herangetragen wurden Untersuchungen zur Wissens- und Objektkonstituierung; bei HARALD WELZER et al.125 etwa zur Frage nach erinnerungstheoretischen Konzepten in Hinblick auf Vergangenheitserklärung, -rezeption und -darstellung außerhalb der akademischen Historiographie. Darüber hinaus aber lassen sich für die Pädagogik und ihren Gegenstand im für die vorliegende Untersuchung relevanten Zeitraum kaum Untersuchungen ausmachen, die sich dem Objekt der Aufmerksamkeit (je nach Lesart: Kind, Jugendlicher, Arbeiterkind, Zögling, Deviant, Asozialer, Arbeitsscheuer, Krimineller, Halbstarker) nicht

Trennung zwischen ‚reiner‘ Naturwissenschaft und ‚bloßer‘ literarischer Sphäre als Trugschluss der psychiatrischen (Selbst-)Verortung beschreibt; des weiteren CHRISTIANE FREY (2007): Am Beispiel der Fallgeschichte. Zu Pinels ,Traité médico-philosophique sur l' aliénation’. 123 MUCKEL (1997). 124 A.a.O., S. 11. 125 WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL (2003).

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über einen ideengeschichtlichen (etwa disziplinierungstheoretischen Ansatz) oder sozialgeschichtlichen Ansatz hinaus anzunähern versuchen würden.126 Fraglos haben die Untersuchungen von MICHEL FOUCAULT immer auch genuin pädagogische Bereiche im Blick, entsprechend seiner Intentionen und Fragestellungen aber immer ‚nur‘ als funktionalen Teilbereich von Gesellschaft.127 Untersuchungen zur Geschichte der Sozialen Arbeit in Deutschland, und darin, zur Geschichte der Fürsorgeerziehung überhaupt liegen also zahlreich vor; namentlich für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 lassen sich vor allem regionalhistorische oder auf Institutionen fokussierte Studien finden.128 In den jüngeren Untersuchungen erfahren strafrechtlich relevante Grenzüberschreitungen im Bereich der Fürsorgeerziehung wachsende Beachtung; hierbei spielen nicht mehr allein die Verhaltensweisen und Aufwachssituationen, die als Überweisungsgründe von Kindern und

126 Z.B.: AYASS (1995), BARON (1989), BLUM-GEENEN (1997), BLUMGEENEN/KAMINSKY (1995), BRUNNER (2000), BUDDRUS (2003), DÖRNER (1991), DUDEK (1988), FASTNACHT (1992), FENNER (1991), GUSE (1997), HANSEN (1991), HARVEY (1989), HUBER (1986), JUREIT (1995), KRAUS (19974), KUHLMANN (1989), NEUGEBAUER (1997), OTTO/SÜNKER (1989), PEUKERT (1987a, 1987b, 1986, 1983), PRESTEL (2003), RAMSAUER (2000), ROTH (1983), ROTHMALER (1991), ROTHMALER/GLENSK (1992), SCHIKORRA (2000), SIMON (1996), WOLFF (1999). Systemisch (beispielsweise psychoanalytisch geprägte Herangehensweisen an Methode, Zweck, Gegenstand und Praxis Sozialer Arbeit, wie etwa von SIEGFRIED BERNFELD (1969) und von AUGUST AICHHORN (1925/ 1987) praktiziert) bzw. systemtheoretisch (wie beispielsweise die Arbeit von BETTINA HÜNERSDORF 2009 zum ‚Klinischen Blick‘ in der Sozialen Arbeit) orientierte Ansätze stellen hier eine – in ihrer Umfassentheit kluge – Ausnahme dar. Vgl. zur Sozialen Praxis und der (nachträglicher) Methodenbildung bei AICHHORN auch HÖRSTER (2001), S. 104ff. 127 Vgl. FOUCAULT (z.B. 1976, 1988, 1990, 2009). 128 BANACH (2007); HOFMANN/HÜBENER/MEUSINGER (Hg.) (2007); STEINACKER (2007); BACHMANN/VAN SPANKEREN (Hg.) (1995).

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Jugendlichen in öffentliche Erziehungseinrichtungen Verwendung fanden, die maßgebliche Rolle, sondern zunehmend die ‚Umstände‘ und ‚Verhältnisse‘ innerhalb solcher Einrichtungen. So stellt etwa die Dissertationsarbeit von SARAH BANACH129 die Evangelische Heimerziehung der 1920 und -30er Jahre namentlich auf „den Prüfstand“; beispielhaft, auch für weitere Erziehungsheime der Inneren Mission, untersucht sie das Zustandekommen eines Strafverfahrens der Kieler Staatsanwaltschaft gegen die Fürsorgeerziehungsanstalt Ricklingen. Neben weiteren Befunden arbeitet BANACH dabei eine grundsätzliche Verschiedenheit in der Wahrnehmung der Erziehungssituation im Heim heraus, wozu sie den Briefwechsel zwischen einem ehemaligen Ricklinger FE-Zögling (und Kläger im Strafprozess) und dem vormaligen Anstaltspfarrer und Heimleiter auf Gründe für diese Differenz hin durchleuchtet. Diese rühren, BANACH zufolge, vom Grundverständnis missionarisch motivierter Erziehungsarbeit auf der einen und der Erfahrung alternativlosen Ausgeliefertseins an eine fremdbestimmte und mit fremdem Sinn versehene Umgebung auf der anderen Seite. Diese Differenz führe auf Seiten der Verantwortlichen zu einer Form ‚systemischer Betriebsblindheit‘, welche Störungen im vorgesehenen Ablauf einzig als Bestätigung der Notwendigkeit ihrer Tätigkeit wahrnehmen ,könnten‘: Verhaltensauffälligkeit, ‚Rebellion‘ und ‚Renitenz‘ werden hiernach nicht zu einer Prüfstelle von eigenem pädagogischen Konzept und Praktik, sondern evozieren stattdessen deren weitere, womöglich verschärfte Anwendung; ein Befund, der auch die Arbeiten von EGGERT /VAN SPANKEREN/THAU (1995), FASTNACHT (1992), KUHLMANN (1989), AICH (Hg.) (1973) u.a. diesbezüglich eint, und den auch die Ergebnisse meiner Untersuchung von Zöglingsakten nicht dementieren können. Neben dieser Bilanz kennzeichnet die genannten Untersuchungen von Akten der Fürsorgeerziehung das Anliegen, auf Basis von Aktenaufzeichnungen Geschehnisse und Personen zu „rekonstruieren“ (Biographien, Handlungsmotive, Befindlichkeiten), um im weiteren an diese Konstrukte interpretative Deutungen heranzutragen. Diese „erklärenden“ Aussagen wiederum werden nicht selten als dem Material – und damit einem vergangenen Geschehen – eigen präsentiert, berechtigen von daher zur Frage nach der Reflexionsebene zwischen Forschungsanliegen, verwendeter Methodik und untersuchtem Material.

129 BANACH (2007).

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Nicht selten bewirkt eine vornehmlich ambitionierte Herangehensweise noch im Nachhinein eine erneute Vereinnahmung der Untersuchungsobjekte, etwa der Zöglinge in Einrichtungen der Inneren Mission. Unter den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen der letzten Jahre zu institutioneller Jugendfürsorge herauszustellen ist m.E. die Untersuchung von SVEN STEINACKER,130 die umfangreichste, und für einige Zeit wohl ergiebigste Arbeit zur öffentlichen Erziehung in Kaiserreich und Nationalsozialismus. Bemerkenswert bei STEINACKER sind, neben der Dichte und Fülle des Materials, die historisch und theoretisch reflektierte Handhabung der Fragestellung sowie, und vor allem, bestehender Deutungs- und Systematisierungsmodelle. So arbeitet er u.a. mit PEUKERTS131 Interpretationsansatz der „Dialektik von Hilfe und Herrschaft“ fürsorgerischer Arbeit, verlässt diesen jedoch auch wieder bzw. erweitert ihn um (Subjektivierungsmechanismen wie Zurichtung oder Disziplinierung inhärenten) „Momente individueller Autonomie und Konsens“.132 Gesondert zu nennen ist darüber hinaus die Untersuchung von PRODOSH AICH et al.133 aus dem Jahr 1973 zu Fürsorgeerziehung und Verwaltung, welche den Verlauf von Zöglingsbiographien auf ihre institutionellen Bedingungen hin in den Blick nimmt, das enorme ‚Gewicht der Zöglingsakten‘ beim (vielfach nur mittelbar vom Zöglingsverhalten abhängigen) Zustandekommen von „Sozialbiographien“ als vor allem behördlichen Verwaltungsakt herausarbeitet, allerdings ohne diese Interdependenzen auf das Material selbst, die verfassten Fürsorgeakten nämlich, auszuweiten. Doch selbst die fehlende narratologische Reflektion lässt den Ertrag der aichschen Untersuchung,

130 STEINACKER (2007). 131 PEUKERTS unzweifelhafter Verdienst fußt in der eher soziologischen und geschichtsphilosophischen Herangehensweise an das historische Material (ein Vorgehen, welches Untersuchungen wie etwa die CAROLA KUHLMANNS zur Fürsorgeerziehung im NS sowie darüber hinaus bis heute vermissen lassen); so atmen PEUKERTS Untersuchungen zu Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge bis 1932 spürbar MARX und HEGEL und WEBER. Zur peukertschen Lesart der Moderne vgl. auch PEUKERT (1989). 132 STEINACKER (2006), S. 891. 133 AICH (Hg.) 1973.

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wenngleich nicht unter epistemologischer Perspektive, so doch unter der Fragestellung nach der Weise von Tatsachenkonstituierung in der Sozialen Arbeit, nicht (zu) gering schätzen. Zum Schluss der Sichtung des aktuellen Forschungsstandes soll ein Beitrag von ADOLF KENKMANN134 erwähnt werden, welcher sich eher instrumentell mit Akten der Fürsorgeerziehung auseinandersetzt, nämlich, um an ihnen den Umgang mit historischen Quellen zu illustrieren. Dieser exemplarische Umgang (und die damit verbundene Vernachlässigung deutender und erklärender Ansätze zur Sozialen Arbeit) mit dem Material führt bei KENKMANN nicht nur zur Freilegung der Vielzahl von Akteuren beim Zustandekommen von Fürsorgeerziehung, sondern verfügt auch über ein (vielen Untersuchungen durchaus nicht eigenes,) angenehmes und erkenntnisbeförderndes Verhältnis von Nähe und Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Allen aufgeführten (bzw. gemeinten) Arbeiten – von PEUKERT über AYASS über DÖRNER über KUHLMANN bis zu STEINACKER – ist überdies nichtsdestotrotz gemein, dass in ihnen die sprachliche Verfasstheit des untersuchten Materials wenig Berücksichtigung findet; als hätten Debatten um Strukturalismus und Dekonstruktivismus, lingiustic turn und das ‚Ende der Meistererzählung‘ vorwiegend auf kulturwissenschaftlichen Tagungen und im Zuge aktueller Theorieentwicklungen eine Rolle gespielt, zeigt gerade die pädagogische Historiographie sich in ihrer praktischen Anwendung wissenspoetologischen Implikationen gegenüber eher verschlossen.

134 KENKMANN (1992), S. 133-152.

Kapitel 2: Projektierung

2.1 Z UR B EOBACHTUNG DES B EOBACHTERS BEIM B EOBACHTEN Es ist bisher hoffentlich nicht unbemerkt geblieben, dass die Untersuchung narrativer Strukturen in behördlichen Dokumenten und Aufzeichnungen konfessioneller Erziehungseinrichtungen hinsichtlich ihrer Perspektiven und Methoden Anleihen bei der neueren Kulturgeschichte nimmt, wonach zum Zeitpunkt vor einer (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit einem Gegenstand kaum spezifische Aussagen über ihn getätigt werden können, da nicht von einer Statik, einer ‚Natur‘ desselben ausgegangen wird, sondern von spezifischen Bedingungen bei dessen Herausbildung, etwa kommunikativen.135 So wird

135 Während anderswo behauptet wird, ‚nach dem Spiel sei vor dem Spiel‘, lässt sich dies für das Aufkommen und die Anwendung neuer Denkstile und Theorien nicht bestätigen. Trotz pathetischer Anmutung der Aussage: Es gibt nach dem Einbruch (oder besser: Ausbruch) veränderter Sichtund Erklärungsweisen kein Zurück zu einem unveränderten ‚Davor‘, keim heimwärts in ein (vom Neuen) unberührt gebliebenes Land. Entsprechend ist auch die vorliegende Arbeit ein „Kind ihrer Zeit“, ein Produkt „poststrukturalistischer Theorien“, gefertigt (oder besser: zustande gekommen) unter den Bedingungen aktuell zugänglicher Denk- (also: Diskurs-) Räume – und unter Anknüpfung an diejenigen davor. So wurden Rolle und Dimension von Sprachlichkeit bei dem und für das Zustandekommen eines wissenschaftlich zu untersuchenden Objekts nicht erst im Zuge des sog. linguistic turn bedacht, für verschiedene (v.a. geisteswissenschaftliche) Disziplinen sukzessive herausgearbeitet und schließ-

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etwa der Sprache bei der Konstituierung sozialer Wirklichkeit außerordentliche Bedeutung beigemessen, nicht weniger ist dies beim Umgang und der Annäherung an zurückliegende ‚Ereignisse‘, Wissensbestände und -organisationsformen zu berücksichtigen. „Auch Geschichte als sinnvolle Erzählung von einer vergangenen Zeit kommt erst durch die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit zustande.“136

Gemäß ihrer epistemologischen Verortung auf den staubtrockenen Feldern „grundlegender Skepsis gegenüber der Sprache als einem transparenten Medium zur Erfassung und Vermittlung von Wirklichkeit“137 geht die Arbeit davon aus, dass weder der zu untersuchende Gegenstand (dem Untersuchenden) oder die Untersuchung selbst (von einem Leser) vorgefunden werden kann, noch dass sie überhaupt unmittelbar zugänglich sind. Die Darstellung etwa einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist ein mehrheitlich schriftsprachlich verfasstes, von Menschenhand

lich (kollektiv?) etabliert, sondern wurden bereits zuvor sichtbar, beispielsweise in den Etablierungsbemühungen der Psychologie als anerkannte wissenschaftliche Disziplin. Ging die Psychologie um die Wende zum 20. Jahrhundert etwa von einer allgemein anerkannten, unmittelbaren Zugänglichkeit des Seelenlebens aus, wiesen (sprachkritische) Zeitgenossen wie SIEGMUND FREUD, WILHELM JERUSALEM oder FRITZ MAUTHNER auf die unumgängliche Vermittlungsleistung durch Bilder und Sprache hin. Dazu MAUTHNER 1923 im 1. Band seiner bereits 1901 veröffentlichten Beiträge zu einer Kritik der Sprache: „Wir besitzen aber nur eine einzige arme Sprache, und quälen uns umsonst, an ihren Krücken den Abgrund zwischen Physiologie und Psychologie zu überspringen. Nur Metaphern bietet uns die Sprache, nur Bilder.“ (S. 289) Diese Uneindeutigkeit stände den wissenschaftlichen Ambitionen der Disziplin notwendigerweise im Wege, wobei es nicht gelte, sie zu ignorieren, sondern sich, angesichts ihres unleugbaren Vorhandenseins, ihrer konstruktiv zu bedienen. Eine Forderung, die sich ebenso die vorliegende Untersuchung zueigen macht – um sie an sich selbst zu richten, ihren Gegenstand, ihren Ansatz, ihre Leser. 136 LANDWEHR (2009), S. 14. 137 A.a.O., S. 44.

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(und -hirn) erzeugtes, also künstliches Gebilde. Ein artifizielles, dennoch durchaus reales Gebilde. Oder, um die Worte GIORGIO MANGANELLIS zu gebrauchen: Wenn überhaupt etwas ein Recht darauf habe, mit dem Namen ‚Wirklichkeit‘ belegt zu werden, „[…] dann ist es wahrscheinlich die Sprache selbst. Es ist die einzige Realität, die wir kennen.“138 Auch in unserem Fall, der Untersuchung von narrativen Strukturen in Zöglingsakten, handelt es sich um ein gedanklich-sprachlich hervorgebrachtes, letztlich allein schrift-sprachlich vervielfachbares Gebilde, welches ebenso wie die untersuchten Textdokumente nicht frei ist von narrativ bestimmten Sinnbildungs- und Darstellungsmustern. Ebenso wie eine medizinische Fallgeschichte oder die Zöglingsbiographie der Fürsorgeerziehung ist auch eine wissenschaftliche Abhandlung eingebunden in kulturelle Muster der Hervorbringung und Organisation von ‚Wissen‘. Trotz deutlicher formaler Vorgaben (etwa an eine Dissertation), ist die verfertigende Darstellung einer Untersuchung immer auch eine Erzählung;139 erzählt wird vom Untersuchenden, seiner Untersuchung, und von beider ‚Entwicklung‘; ausgehend vom Zustand des Fragens und der Ungewissheit wird erzählerisch ein Prozess der Bewältigung und Lösung angedeutet, welcher vollzogen werden muss, um zum Ende hin den Ausgangszustand überwunden zu haben und Rückschau zu halten, und davon zu berichten, wie es zum letztlich vorliegenden Ergebnis kam; davon zu erzählen, wie es zu dem wurde, als welches es sich jetzt, am Schluss, darstellt.

138 MANGANELLI (2000), S. 148. 139 Erzählung meint Darstellung und (sinnbildende) Verknüpfung von Tatbeständen (nicht nur unter Verwendung narrativer Elemente); in unserem Fall beschränkt sich das Untersuchungsinteresse auf sprachlich vollzogene Vorgänge der Sinnkonstituierung. Die Verwendung einer, der Literatur entlehnten, episch-assoziierten Form erfolgt aus folgenden Gründen: Die Tatsache des Verfassen, Adressierens, ‚Erkenntnis‘-Suchens der Untersuchung kann (mit all ihren Schwierigkeiten) explizit (bzw. implizit, in der Erzählung selbst, durch ihre Struktur) problematisiert werden. Ausgehend davon, dass die Struktur einer erzählenden Darstellung sich vorrangig an ‚literarischen Gesetzen‘ orientiert, überprüft eine solche Vorgehensweise auch die Annahme, wonach die Form, die Struktur, maßgeblich den Inhalt bestimmt.

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Nicht anders als beim ‚klassischen‘ Erzählen auch, ‚entwickelt‘ sich die Untersuchung und mit und in ihr das Darzustellende, gibt es auch in wissenschaftlichen Abhandlungen beschleunigende und hemmende Momente, gibt es einen Zielpunkt, auf den die Untersuchung sich zu bewegt. Und es gibt einen Verfasser, jemanden, der die Darstellung aufbaut, entwirft, verfasst, wieder verwirft, neu konstruiert, wieder verfasst; ein Vorgehen, welches solange anhält, bis das Anliegen der Untersuchung: die wissenschaftliche Analyse eines Sachverhalts, mit der Darstellung dieser Analyse, mit der Schilderung der Untersuchung in Deckung gebracht wurde. Wobei derjenige, der diesen Vorgang vollzieht, ein scheinbar durchaus anderer zu sein scheint als derjenige, der die Untersuchungsfragen und -methodik generiert. Forscher und Autor einer wissenschaftlichen Untersuchung scheinen voneinander getrennte Persönlichkeiten zu besitzen; während der erste die Unternehmung aktiv vorantreibt und maßgeblich gestaltet, macht der Schreiber am ehesten durch seine passivische Grundhaltung auf seine Tätigkeit ,aufmerksam‘, etwa durch seinen Schreibstil. Möglichst jeden Hinweis auf seine ohnehin schon zurückgenommene Existenz vermeidend, scheint es ihm prinzipiell eher unangenehm, dass er zu tun hat, was er hinterlässt. Dieses durch und durch gespaltene Verhältnis zwischen Untersuchendem und Verfasser einer Arbeit lässt sich für die vorliegende Darstellung ebenso bestätigen, wie es bei der Mehrzahl wissenschaftlicher durchweg Abhandlungen anzutreffen ist. Der Hinweis darauf ist weniger mit Bedauern verbunden; er dient eher dazu, Narrativität als Element wissenschaftlicher Darstellungen unter dem Aspekt ihrer Erfordertheit zur Kenntnis zu nehmen. Möglicherweise ist die erzählerische Darstellung (Aufbau, Durchführung, Ergebnis, Erkenntnis etc.) einer Untersuchung ein Resultat der prekären Stellung des Autors solcher Darstellung. Es scheint, als müsse der Anschein erzeugt und aufrechterhalten werden, die Untersuchung habe zwar der namentlich genannte Wissenschaftler, der Forscher durchgeführt, die entsprechende Abhandlung derselben habe sich aber mehr oder weniger ‚von selbst‘ verfasst. Der Autor wird gewissermaßen ‚hinter‘ den Erzählmechanismen versteckt, die wiederum bewirken, dass die Darstellung sich ‚wie von selbst‘ von einem Punkt A auf einen Punkt B, ihr Ziel, hin bewegt. Doch an wen richten sich dann die rhetorischen Fragen? Und wer stellt sie an wen? Handelt es sich um einen Dialog zwischen Verfasser und Forscher? Oder richtet die Ansprache sich an den imaginären Leser, den heimlichen Mitver-

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fasser eines Textes? Murmelt am Ende gar eine Vielzahl von Stimmen zwischen den Zeilen, obgleich der Text schlussendlich nur einen Namen als Verfasser angibt? Die Untersuchung narrativer Strukturen in Zöglingsbiographien bildet diesbezüglich keine Ausnahme, auch hier scheinen verschiedene Personen mit verschiedenen Persönlichkeitstypen am Werk zu sein, auch hier trifft ein passivischer Schreibstil auf eine ausgesuchte Anordnung der Textelemente, werden rhetorische Fragen ge- und Vermutungen angestellt, Fährten gelegt und Spuren verfolgt. Auch in einem solchen Sinne versteht die Untersuchung das Erzählnarrativ als Methode wie als Vehikel zur Hervorbringung und Darstellung von ‚Wissen‘ gleichermaßen.

Erneut Hypothesen Wie wir also bisher wissen, sind uns aus einem ehemaligen Heim der Fürsorgeerziehung Aufzeichnungen in Form von Zöglingsakten erhalten und zugänglich, welche den materialen Gegenstand der Untersuchung bilden. Diese Akten enthalten chronologisch geordnete Unterlagen zum Vollzug der mit der Maßnahme betrauten Einrichtung der Inneren Mission, was weder überrascht noch irritiert, da dies durchaus einem Zweck von Akten entspricht, zu dokumentieren und zu sammeln. Wie bereits in der Untersuchungsfrage des vorangegangenen Kapitels beschrieben, sollen nun unter der Fragestellung nach Möglichkeiten des Zustandekommens eines spezifischen, (bei der Aktenlektüre wie in der Forschungsliteratur) immer wieder auftauchenden Typus’ von Zögling, die Akten einzelner Zöglinge untersucht und gelesen werden als Erzählung(en) vom jeweiligen Zögling. Als Zöglingsgeschichten, als Fallgeschichten. Ihrem Anliegen und ihren Vorannahmen nach möchte die Untersuchung aufzeigen, dass, und unter Zuhilfenahme welcher Mittel und Verfahren, der Akten-Zögling ebenfalls nichts anderes ist als ein künstlich (nämlich narrativ) erzeugter Gegenstand – ähnlich einer wissenschaftlichen Untersuchung beispielsweise; ein Wissensobjekt, welchem der Untersuchende (Verfasser und Leser gleichermaßen) sich außerhalb des Textes, außerhalb der Sprache gar nicht zu nähern wüsste (und könnte).

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Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: An keiner Stelle der Untersuchung wird mit keinem Gedanken die reale Existenz, wird das tatsächliche Vorhandensein von Zuständen, Prozessen, Entitäten etc. außerhalb von Texten in Frage gestellt oder verneint, weder für den Bereich der Fürsorgeerziehung noch anderswo. In ihrer unmittelbaren Existenz werden weder physische Materialitäten noch Ereignisse noch Erfahrungen noch Diskurse angezweifelt – es soll lediglich der Tatsache Geltung verschafft werden, dass der jeweilige Zugang Dritter einzig ein (medial) vermittelter sein kann. Einen Weg mittelbarer Zugänglichkeit etwa ermöglicht die Berücksichtigung der Verwendung von Sprache. Gehen wir in diesem Zusammenhang vom Zutreffen der folgenden, durch und durch trivialen Annahme aus: Ungenanntes ist wie Unbekanntes – nämlich wenig tauglich bei der (Er-)Klärung von Sachverhalten. Der Grund für das Hantieren mit Hypothesen wie dieser liegt in der Relevanz der Aussage für die Untersuchung: zum einen hinsichtlich des (für die Untersuchung) zur Verfügung stehenden Aktenmaterials, zum anderen in Bezug auf den ‚historischen Kontext‘ der zu untersuchenden Quellen, also die beschreibende Darstellung sozialer, politischer, ‚gesellschaftlicher‘, historischer Bedingungen und Umstände, unter welchen die überlieferten Ereignisse stattfanden. Begeben wir uns nun bitte in die Situation des Untersuchenden; wir öffnen die Akte eines Zöglings aus dem Erziehungsheim am Harz, entnehmen der Sammlung ein maschinegeschriebenes Dokument, und denken uns dessen Text (z.B. den halbjährlichen „Erziehungsbericht zur schulischen und sonstigen Entwicklung“) als vorerst einzig verfügbare Datenquelle, dann enthält dieser Text genau 100% an Information; innerhalb dieser Angaben existiert kein Unerwähntes, Unbeschriebenes, kurz: kein Unbekanntes; weder formal (– also in einer Form, es sei denn, in ‚Form‘ einer Leerstelle)140 noch inhärent, binnen der Argumentationsstrukturen und Beweisführungen.

140 Ob der zur „Leerstellen-Überbrückung“ von WOLFGANG ISER eingeforderte „wandernde Blickpunkt“ ( als der „Modus, durch den der Leser im Text gegenwärtig ist“) auch angesichts des in den untersuchten Akten vermuteten Darstellungsnarrativs unabdingbar ist, oder ob die Erzähltheit

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Und zwar, so der Fortgang unserer Behauptung, weder für den Leser noch für den Verfasser des Textes. Und dennoch geht die Untersuchung davon aus, dass ‚Unbekanntes, weil Unbenanntes‘ beim Verfassen wie beim Lesen von Texten eine maßgebliche Rolle spielt, dass mit Vorerfahrungen, Topoi und ungenannten (bzw. nicht explizit genannten) Bezugnahmen gearbeitet wird – und dass sich dies auch für das Verfassen der Unterbringungsakten, für die Entstehung der Zöglingsbiographie annehmen und nachweisen lässt.141 Sache des Verfassers ist es, ihm Bekanntes, ganz gleich, ob Erlebtes, Erlesenes, Erfahrenes etc. in eine ‚überlieferungsfähige Form‘ zu bringen. Dazu hat er sein Material, sein Wissen zu formieren und zu strukturieren, Phänomene (Vorkommnisse, Ereignisse, Begebenheiten) gedanklich zu isolieren und sprachlich in einen sinnhaften Zusammenhang zu stellen, derart, dass das Ergebnis dieses Verfahrens ein (vor-

der Darstellung (als ausdrücklich nicht-fiktionale Darstellung) nicht in ausreichendem Maß zur erforderlichen Konsistenzbildung beiträgt, gilt es in der Untersuchung (auch) zu überprüfen. Vgl. ROLF GÜNTER RENNER: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart (1996), S. 279; ISER (1990), S. 193ff. „Achtung, sie stehen vor einer Leerstelle!“ Lässt sich ohne solchen Hinweis überhaupt ein Fehlen, eine Nicht-Anwesenheit erkennen? Oder anders gefragt: welche Form ließe denn auf eine Leerstelle schließen? Möglicherweise erweitert die ‚aussparende‘ Vorgehensweise des Künstlers MARCEL DUCHAMP unseren eidetischen Horizont. DUCHAMP „baut[e] eine Form um das herum, was traditionell errichtet wurde“. GRÜNBEIN (2001), S. 28. „Die Leerräume des Museums zeigen das durch die Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa nicht mehr Darstellbare, das Verlorene. Sie machen den Verlust sicht- und fühlbar.“ Berechtigt erscheint an dieser Stelle die Frage, inwieweit von Leerstellen (noch) zu denken und zu reden möglich ist, wenn diese Verwendung finden als eine Abwesenheit konkret benennendes Medium; vgl. Voids (Leerräume) im Bau des „Jüdischen Museums“ Berlin. Diesen nominellen Leerstellen wird (konzeptuell oder interpretativ) eine Bedeutung zugeeignet, im Fall des LIBESKIND-Baues verdeutlichten sie die Abwesenheit „der Juden in der Gesellschaft“. 141 Weiterführend dazu siehe Kapitel 2.4.

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läufig) stimmig Kohärentes sei. Diese Herausforderung gilt für das Verfassen von ‚wissenschaftlicher‘ Literatur in ebensolchem Maß wie für das Verfertigen von (ihrer Gattungsbezeichnung nach) „fiktionaler“ Literatur.142 Lässt man die aufgestellten Annahmen vorerst gelten, dann folgt daraus eine Frage, eine Forderung und zwei Ableitungen: Die Frage ist die nach der Rolle des Autors, des Verfassers, des Schreibers einer Darstellung, und zwar unabhängig davon, ob es sich bei dem produzierten Text um einen Bericht in einer Zöglingsakte oder um eine Untersuchung wie die vorliegende handelt. Dieser Schreibende verfolgt (mindestens) eine Absicht, die er unter Anwendung der ihm verfügbaren Mittel zu verwirklichen sucht. Über eine Gewähr jedoch für das Eintreten des beabsichtigten Ergebnisses (Erlebnisses) bei seiner Leserschaft verfügt weder ein (primär) auf Unterhaltung setzender, noch ein um Agitation oder ein um Berichterstattung oder um Kunde-Geben bemühter Verfasser. Gelegentlich stimmen (Verfasser-)Absicht und (Text-)Wirkung weitgehend überein, was zumindest für den Leser vorteilhaft sein kann, dann etwa,

142 „Wenn Literatur ‚kreatives‘ oder ‚imaginatives‘ Schreiben bedeutet, heißt das dann, dass Geschichte, Philosophie und Naturwissenschaften unkreativ und unimaginativ sind?“ EAGLETON (1992), S. 2. Mit einer Unterscheidung verschiedener Gattungen wird m.E. vor allem dem (antizipierten) Text-Gebrauch nach unterschieden, (vielleicht auch) der angenommenen verschiedenen Nutzerschaft von Literatur nach. Hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen scheint mir eine Trennung eher künstlich und für unsere Zwecke so wenig hilfreich wie die saussuresche strikte Trennung von Bezeichnendem und Bezeichnetem. (Ob Gefühl oder Wissen, ob Anschauung innerer oder äußerer Vorgange – um sichtbar, vermittelbar, fassbar zu werden, braucht es Übersetzung in Sprache. Und gleich, ob diese Sprache aus Wörtern oder Tönen oder Farben oder Bewegungen oder Gestalten oder Lauten oder Haptik aufgebaut ist, die gesetzte Grenze zwischen Ausgedrücktem und Ausdruck ist zuallererst Symptom einer einhegenden Erkenntnisweise, einem domestizierenden Umgang mit dem Möglichen.). Zum Text-Gebrauch vgl. auch „Paratextualität“ und „Architextualität“ bei GENETTE (1993).

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wenn der Text notwendige Informationen instruktiven Charakters enthält, die über den Text hinausgehen und auf Anwendung in der außersprachlichen Realität abzielen. Für das Text-Objekt wiederum, etwa den Zögling in einem Bericht, kann ein solcher Realitätstransfer vom Schrifttext in die Erziehungspraxis von durchaus ambivalenter Natur sein; wenn nämlich die dargestellte (sprachliche) Realität unmittelbar auch außersprachliche, praktische Schritte nach sich zieht, zeitigt ein solches Gelingen für das Objekt der Anwendung gleichermaßen tragische Konsequenzen. („...ist aufgrund seiner fortgeschrittenen...“; „...ist infolge ihrer angeborenen sofort...“; „...kann wegen nachgewiesenem...“) Für den lesenden Umgang mit einem (z.B. dem vorliegenden) Text ergibt sich von daher die Forderung, den Umstand seiner Entstehung, die Tatsache seiner Verfasstheit zu einem bestimmten Zweck, nicht aus dem Blick zu lassen. Dies zu berücksichtigen, gilt für den gegenwärtigen Text ebenso, wie für die (für ebendiese Untersuchung) herangezogenen Texte, und zwar sowohl für die veröffentlichten als auch die unveröffentlichten Quellen. Nach dem Grund für die doch recht umständliche Ausbreitung solch grundsätzlicher, rezeptionsästhetischer Gedanken zum Verhältnis von Text – Autor – Wirklichkeit in diesem Abschnitt des Buches befragt, soll auf die Implikationen derselben hingewiesen werden, die sich für den Verfasser wie den Leser der Untersuchung ergeben: Wenn (allgemein) 1. 2. 3. 4.

ein Text ein Text ein Text ein Text ist, ohne Verfasser kein Text ist, ohne Leser kein Text ist, ein Text nicht ohne Grund, Zweck, Absicht (geschrieben) ist,

und (speziell) 5. die vorliegende Darstellung verfasst wurde unter Verwendung von (ihrer Textsorte nach) nicht-fiktionalen Texten aus unveröffentlichten („Primärquellen“ und „Sekundärquellen“, aus den ZöglingsAkten stammend) wie veröffentlichten Quellen (Texte publizierter Darstellungen von politischen, sozialen, „geschichtlichen“ Ereig-

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nissen und von Ideen/Hypothesen über deren Gründe, Ursachen, Zusammenhänge), dann: 6. besteht der Unterschied zwischen den verwendeten „Textsorten“ offenbar einzig in der Tatsache ihrer bisherigen Publikation/NichtPublikation.ŗŚř Daraus folgt: 7. In Bezug auf ihren Aussagegehalt, ihre ,Wahrheitsnähe‘ verlangen alle verwendeten „Textsorten“ vorläufig nach einem gleichwertigen, unterschiedslosen Umgang. Die schriftliche Einschätzung der schulischen Leistungen eines Minderjährigen durch einen Volksschulleiter ist in gleichem Maß sprachlich hervorgebrachte Realität, und taugt von daher in gleichem Maß zur Konstruktion von speziellen Ereignissen, wie etwa die Abschrift des Briefes einer Mutter an den Leiter eines Erziehungsheimes oder das Protokoll einer Gerichtsverhandlung zur Anordnung von Fürsorgeerziehung oder ein Kapitel aus DETLEV PEUKERTS Untersuchung zu „Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge“. In keinem der genannten Fälle lässt sich aus dem kulturellen Geflecht der Gegenstandskonstitution heraustreten, um das dargestellte Ereignis, gleichsam ‚von außen‘ zu betrachten. Die relevante Frage der Untersuchung angesichts dieser Vorannahmen läuft von daher darauf hinaus, zu prüfen, auf welche Weise in den verschiedenen Texten unterschiedlicher Herkunft eine konsistente, eine verbindungsfähige, über den ursprünglichen Text hinaus an- und verwendungsfähige Realität zustande kam – und unter welchen Umständen diese für welchen Zeitraum tragfähig, anwendbar, funktionstüchtig war. Nach Ansicht des Untersuchenden gelang dies über die Anordnung des (Sprach-)Materials mithilfe narrativer Strukturen.

143 Eine Unterscheidung nach verschiedenen Diskurstypen (z.B. Beschreibung, Argumentation etc.) kann an dieser Stelle unterbleiben, ändert sie doch nichts an ihrer Funktion für den Verfasser: Mitteilung zu geben von der Tatsache ihres Vorhandenseins.

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Nichts erzählt sich (von) selbst Erwartet man vom Berufsstand des Historikers, Tatbestände der Vergangenheit sinnbildend miteinander zu verknüpfen sowie den Gegenwärtigen mögliche Deutungsvorschläge für Geschichte anzubieten oder historische ‚Erkenntnis‘ zu bilden, dann trifft dies Ansinnen nicht weniger auch auf die Tätigkeit von Schriftstellern, Erzählern, Verfassern, kurz: Verfertigern von Literatur zu.144 Mindestens zwei Ereignisse zueinander in Beziehung zu stellen, sie zu einer neuen Einheit zusammenzufügen, verlangt nach imaginativen Fähigkeiten ebenso wie nach Möglichkeiten der Realisation. Ohne die Kenntnisse narrativer Grundmuster und deren ‚erzählerischer‘ Anwendung etwa reichte es kaum zur ‚chronologischen‘ Darstellung, zur scheinbar unverbundenen Aneinanderreihung von Quellen,145 geschweige denn zum Erzählen einer Geschichte.146

144 Die begriffliche Grobschlächtigkeit muss an dieser Stelle (und evt. noch eine ganze Weile) tapfer ertragen werden, um sich nicht (bereits) in diesem Teil der Untersuchung in historiographische sowie literaturtheoretische Debatten zu versteigen. (Vgl. vorerst RAYMOND FEDERMANS Begriff: „Surfiction“ als Bezeichnung für Literatur, welche die Frage von konstruierter bzw. imaginierter Wirklichkeit thematisiert, FEDERMAN (1992)). Erleichterung verschafft vielleicht eine Begriffsdefinition PANDELS zur Geschichtsschreibung: „Historiographie ist durch Theoriesprache angereichertes Erzählen.“ PANDEL (2004), S. 412. 145 Quelle verstanden als zeitgleich oder zumindest zeitnah zum berichteten Ereignis entstandene Tatsache. PANDEL (2004), S. 410f. Demgegenüber der Mediävist JOHANNES FRIED zum Verhältnis von Quelle als Tatsache und Quelle als Bildgleichnis: „‚Quelle‘ ist, darüber darf sich niemand einer Illusion hingeben, eine in die Irre führende Metapher. Sie assoziiert sprudelndes Leben, Unmittelbarkeit, Ursprung reinen Wissens, lautere Wahrheit. Die Texte, Gegenstände oder Sachverhalte aber, die mit diesem Namen belegt werden, führen von sich aus keinerlei Erkenntnis mit sich, keine Wahrheit, kein Leben, so dass Geschichte aus ihnen quölle wie frisches Wasser aus dem Boden. Sie sind nichts weiter als beschriebener Schreibstoff, Tonscherbe, Sprachgebilde, Tradition, eine Sammlung von Fakten oder – als erzählender Text – isoliertes und statisch

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Jede Geschichte, ob Schilderung von Begebenheiten, Ideen oder Erinnerungen, benötigt einen Anfang. (Dies ist selbst dann der Fall, wenn sie – auf einer Zeitachse betrachtet – „im Krebsgang“ erzählt wird, von späteren Ereignissen zu früheren hin.) Letztlich unabhängig von der Erzählung, setzt der Erzählende einen Markstein, von welchem aus er eine Geschichte entwickelt, das Darzustellende strukturiert, Abfolgen und Gleichzeitigkeiten, Absehbarem und Unerhörtem einen Sinn (ver-)leiht. Aufgrund dieser Leistung präsentiert der Erzähler nicht nur Vorgefundenes (Gehörtes, Gesehenes, Erlebtes, Erlesenes, Aufgezeichnetes etc.), vielmehr schöpft er (im Sinne von ‚schaffen‘). Er fügt etwa bis dato amorphe Lebensläufe von Menschen ein in eine Struktur, erstellt eine Konstellation, rahmt sie zu einem, dem Anlass der Narration nach, sinnhaften Gebilde. Als solches etwa präsentieren sich die Unterbringungsbeschlüsse der Zöglingsakten: Obwohl es sich um verschiedene Personen handelt, geht aus allen Unterbringungsdokumenten hervor, dass angesichts der Bedingungen des Aufwachsens, in Verbindung mit den ‚charakterlichen Eigenheiten‘ des Minderjährigen, die Überweisung in Fürsorgeerziehung einen notwendigen Schritt darstellt. Der Status der ‚Unvermeidbarkeit‘ dieses Ereignisses strahlt von nun an auf jedes weitere Vorkommnis in der Zöglingsbiographie, versieht jede neue Information mit seinem (An-)Schein. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem Umgang mit schriftsprachlich verfassten Quellen, in unserem Fall mit Akten,147 stellt sich

erscheinendes Erinnerungsbild.“ FRIED (2007), S. 241. Vgl. dazu in diesem Buch auch Abschnitt: „Auf der Suche nach Wissen“. 146 Anregend dazu PANDEL (2004), S. 408ff., der jedoch („Weiterhin gehen deutsche Uhren nach wie vor“) die strikte Trennung von historischem und literarischem Erzählen einfordert. Vgl. ebenda, S. 412. 147 Aus gegebenem Anlass scheint der Hinweis unabdingbar, dass die Verwendung des Begriffs Akten dem klassischen Verständnis folgt, wonach es bei Akten sich um „[...] im Zuge [eines] laufenden schriftlichen Geschäftsganges entstandene Aufzeichnungen und Verhandlungen, die auf Rechtsgeschäfte hinführen oder sie ausführen [...]“, handelt, „die jeweils aus mehreren, in sich unselbständigen Schriftstücken bestehen“. Entschieden distanziert sich der unserer Untersuchung zugrunde liegende Ansatz

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dringend, da wir es in diesen Akten mit erzählten Ereignissen zu tun haben, deren Besonderheit nicht nur darin besteht, dass ihre Eingangsdokumente einander zum Verwechseln ähneln, sowie über eine die Akte wie die Erziehungsmaßnahme (im Wortsinn) eröffnende Funktion verfügen, sondern, dass es sich bei diesen Eingangsdokumenten immer auch um Schlusskapitel (von ebenfalls bemerkenswerter Ähnlichkeit) handelt: Es handelt sich jeweils um die Schlusskapitel einer dem Ereignis der Überweisung ins Erziehungsheim vorangegangen Erzählung (möglicher Titel: Vorgänge, die die Anordnung von Fürsorgeerziehung erforderlich machten), über deren Zustandekommen uns gleichwohl keine Informationen außerhalb der Erzählungen vorliegen. Zwar finden sich Hinweise zu den Vorgängen, die einen Minderjährigen in FE und damit ins Heim brachten, in ‚seiner‘ Akte, doch ist diese Erzählung bereits abgeschlossen, hat ihre Konsistenz unter Beweis gestellt, auch dadurch, dass das erzählte Ergebnis tatsächlich eingetreten ist. An sie hat die Darstellung des Zöglingsverhaltens im Heim anzuknüpfen, und sie, nach Möglichkeit, fortzuschreiben. Im Fall unserer Untersuchung münden die Erzählungen in einem Erziehungsheim der „Neinstedter Anstalten“, genauer: im „Knaben – Rettungs- und Brüderhaus; hier wurden Fürsorgezöglinge betreut.“148 Die Einrichtung befindet sich am Fuße des Harzes, im Freistaat Anhalt, im Gau Magdeburg-Anhalt, denn die Erzählungen findet statt zur Zeit (bzw. der Vor-Zeit) des Nationalsozialismus. Hin zu diesem Ereignis an genau diesem Ort und zu genau dieser Zeit hat die Darstellung aller vorherigen Ereignisse schlussendlich geführt; sie markiert den Endpunkt der vorherigen und den Beginn der aktuellen Erzählung(en) der untersuchten Akten: der Heimunterbringung. Da der Untersuchende nicht nur das Anfangskapitel der Akten (= das Schlusskapitel der „vorherigen Erzählung“) kennt, sondern auch um die Fürsorgeerziehungs-‚Enden‘ weiß, darüber also im Bilde ist, wie die in der Akte erzählte Geschichte der Unterbringung jeweils zu

jedoch von der ebenso klassischen Annahme, Akten „dokumentier[t]en das, was geschehen“ ist, siehe BRANDT (1998), S. 103f. 148 Unveröffentlichte Abschrift eines Referats mit dem Titel: Die Auswirkungen der Euthanasiemaßnahmen der NS-Zeit in den Neinstedter Anstalten, gehalten 1989 vom damaligen Vorsteher der „Neinstedter Anstalten“, Pfarrer ROLF LÖFFLER auf der Konferenz „Euthanasie im Dritten Reich“ in Lobetal. Vgl. auch Hoffmann (Hg.) (2001), S. 68.

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Ende geht, steht es ihm nicht frei, sie anders als auf dieses Finale hin zu lesen – und zu erzählen. Die Arbeit an der Akte erfolgt also von Beginn an unweigerlich auch von deren ‚Schlusskapitel‘, deren Ende her. Und läuft darauf zu. Wenn wir dem manifesten Gedanken Plausibilität und Erklärungskraft zuerkennen wollen, sprachlich-symbolische Repräsentation von Objekten nicht als einen Vorgang von Platzhalterschaft und Stellvertretung zu (miss-)verstehen, sondern als Prozess von Sichtbarmachung und Poiesis, dann folgt daraus, dass jene Objekte im nichtsprachlichen Modus nicht nur verborgen bleiben – sie existieren (für die Untersuchung) nicht einmal. Ausgehend vom Ansatz, dass ‚Wissen‘, Ideen, Theorien sich keineswegs einfach auf-finden oder vor-finden lassen, sondern es sich dabei um (kulturell) Verfertigtes handelt, (welches wiederum erst sichtbar/hörbar/greifbar wird aufgrund seiner ‚Stofflichkeit‘ – und in unserem Fall heißt dieser Stoff Sprache,), möchte ich diese Darstellung gelesen wissen unter der Maxime ihrer Verfasstheit, wonach beim Umgang mit ‚Wissen‘ dessen Verfertigtheit in Anschlag zu bringen ist, Logik und Rhetorik der Poieses als epistemologischer Kamm zu verwenden ist, über welchen das (spezifische) ‚Wissen‘ vom (spezifischen) Gegenstand geschoren werden soll. Dazu wird versucht, dieses spezifische ‚Wissen‘ in seiner Materialität zu fassen, Sprache nicht (nur) als Form zu denken, in welcher ‚Tatsächliches‘ lediglich abgebildet oder beschrieben wird, sondern im Prozess des Verfassens der Arbeit dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ‚Tatsächliches‘ immer auch (erst) verfasst, geschrieben wird. Die Untersuchung handelt daher weniger von zusammengetragenen ‚Fakten‘ (z.B. den Akten von Fürsorgezöglingen), die einander oder bereits zu früheren Zeitpunkten zusammengetragenen ‚Fakten‘ gegenüberstellt und auf Übereinstimmung und erkenntnisfördernden Mehrwert hin überprüft werden, noch vom Vorgang des Zusammentragens selbst; sie handelt vielmehr vom (und behandelt das) Verfassen von Texten: Texten zur sprachlichen Darstellung – und damit Herstellung – von Ereignissen, Texten wiederum über diese Dar- und Herstellungen, so dass die präsentierten Ereignisse in und für diese Arbeit einzig als Texte existieren.

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Um transparent zu machen, weshalb die Untersuchung zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt an einem ganz bestimmten Ort149 einsetzt, ist es unerlässlich, ihren Gegenstand selbst skizzenhaft zu illustrieren.

2.2 D ER G EGENSTAND

DER

U NTERSUCHUNG

Erinnern wir uns an die im Kapitel 1 aufgestellte Behauptung, der ,Zögling-in-den-Akten‘ habe mit dem ,Zögling-außerhalb-der-Akten‘ nicht mehr gemein, als dass einige Bruchstücke beider Biographie(n), als losgelöste, isolierte Fragmente (Daten)150 betrachtet, miteinander übereinstimmen; etwa sind beide unter gleichem Namen bekannt, kamen mit gleichem Körpergewicht am gleichen Tag auf die Welt und besitzen die gleiche Blutgruppe. Zahlen, Namen und Diagnosen in einem Lebenslauf. Über weite Strecken wiederum haben die beiden miteinander nicht das Geringste zu tun, etwa dann und dort, wo an den Akten-Zögling noch nicht zu denken ist. Dies ist solange der Fall, bis beide ‚auf Deckung übereinander gelegt‘ werden, bis aus dem bisherigen Leben des betreffenden Kind oder Jugendlichen anhand von Fragmenten ein scheinbar komplettes Bild entworfen wird, welches dann als ‚schlüssige‘ Biographie des späteren Zöglings zur Anwendung kommt. Weiterhin haben wir behauptet, dass während der Zeit der Fürsorgeerziehung, da ‚beide‘ Zöglinge gewissermaßen simultan existieren, der Einfluss des ,Zöglings-außerhalb-der-Akten‘ auf den AktenZögling von begrenzter, mittelbarer Natur sei, während im umgekehrten Fall der ,Zögling-in-den-Akten‘ in hohem Maß den (Biographie-) Verlauf seines ‚Namensvetters‘ zu prägen und unmittelbar zu beein-

149 Ähnlich wie der (Erzähl-)Fluss erst Struktur erhält durch seine Richtung und (v.a.) Identität erlangt durch die Beschreibung/Nennung seines Verlaufs – seiner Topographie –, taugen Zeitverläufe, -abschnitte, selbst Zeitpunkte in einer erzählenden Darstellung nur dann, wenn sie eine örtliche Identität zugeschrieben bekommen. Als amorphes Phantom taugt Chronos für unsere Zwecke kaum. 150 Zur (begrifflichen) Verwendung sowie der (praktischen) Handhabung von Quellen, Akten, Daten, Ereignis siehe Anmerkung am Ende dieses Abschnitts.

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flussen in der Lage ist. Die Folgerung daraus lautete, der AktenZögling führe ein erzähltes ‚Eigenleben‘. Im Abschnitt 2.1 wurde das Anliegen laut, Genese und Konstituierung dieses Eigenlebens auf den Grund gehen zu wollen. Das Wie, die Methodik dieses Unterfangens, soll im Abschnitt 2.3 dargelegt werden, Ansinnen des folgenden Abschnitts ist die Präzisierung des Untersuchungsobjekts.

Auf der Suche nach Wissen Denkt man ‚Forschen‘ als eine Tätigkeit, deren Ausübung einen Zuwachs an Erkenntnis verspricht, dann ließe ‚Forschen‘ (als ein instrumentelles Denken) sich womöglich als eine Suchbewegung charakterisieren, „die sich auf der Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen bewegt“ŗśŗ. Mit ähnlich hoher Berechtigung aber könnte man einen solchen Vorgang auch als Schöpfungsakt begreifen. In beiden Bezeichnungen tauchen Bilder auf (betitelte Ergebnisse abgeschlossener Prozesse) und illustrieren in ihrer Verwendung gleichsam das Dilemma, vor welches uns der Versuch stellt, die Suche nach ‚Wissen‘, sprachlich generalisiert, zu fassen. Kann ‚Wissen‘ gesucht und gefunden oder kann es gar erschaffen werden? Oder nur gewonnen? (Im Sinne eines Preises ebenso wie eines Destillats oder eines Bodenschatzes.) Oder führen die allen Modellen innewohnenden Vorstellungen (von ‚Wissen‘) in die Irre, eben weil es sich bereits um Modelle handelt? ((Ver-)Leiten unsere Imaginationen vom Wissen uns lediglich zu weiteren Visualisierungen von Begriffen?152 Zappen wir durch unsere

151 HANS-JÖRG RHEINBERGER, NZZ-Online, 05.05.2007, S. 3. 152 Vgl. etwa FRITZ MAUTHNERS skeptische Anmerkungen zu den (Un-)Möglichkeiten der Sprache [vgl. Anm.134] oder die Erwartungen an den sog. iconic turn, wobei die Eigenheiten des Bildlichen sich m.E. ebenso auf Begriffsvisualisierungen, auf Sprachbilder, auf bildgestütztes Denken übertragen lassen: „Weitertreibend ist Bildlichkeit hier vor allem durch ihre Fähigkeit des Zeigens, durch ihre Evidenz anstelle bloßer Referenz sowie durch ihre unübersehbare Materialität. Und mehr noch: Der Iconic Turn kann der übermächtigen Sprach- und Textfixierung durchaus Paroli bieten, indem er dem Bildlichen selbst ein ganz eigenes kognitives Ver-

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Version vom Museo del Prado (oder anderen Anschauungs-Orten)153 und gleichen die Titel unserer Begriffs-Gemälde ab mit dem gesuchten Begriff – oder werden wir gezappt?) Sowohl Suchen als auch Schöpfen154 bezeichnen aktive (bewusste?) Vorgänge, die auf etwas gerichtet sind, ein Ziel, einen Zustand, ein Objekt, von welchem der Tätige zumindest eine (vage) Vorstellung besitzt, ein Bild oder eine Idee. Wonach sonst sollte er suchen, wonach sonst könnte er erschaffen?

mögen zuerkennt: „Denn das ‚Bild‘ ist nicht irgendein neues Thema, es betrifft vielmehr eine andere Art des Denkens.“. Vgl. BOEHM 2007, S. 27, zit. in: BACHMANN-MEDICK (2008), S. 11. 153 Ort, Topos: vgl. BARTHES (1988) S. 66f. 154 Erneut ein solcher Visualisierungs-Begriff, der unwillkürlich weitere Bilder ‚auftauchen‘ lässt: Schöpfen kann den Vorgang des Erschaffens ebenso meinen wie den eines (unendliches) Aus-Etwas (hinauf/heraus)Förderns, Michelangelos Schöpfergott ebenso wie die Quelle ewigen Wassers, ewiger Liebe, ewigen Heils, ewigen – nicht zugreifbaren – Wissens. Bilder wie diese stellen nicht nur bloße Tätigkeiten dar, sondern allegorisieren mittels der gewählten, konkreten Darstellung über die abgebildete Tätigkeit hinaus, rückverweisen so auf die (Vorstellungs-)Welt des Autors (und damit auf eine kollektive Vorstellung von Welt, auf ein geteiltes Welt-Bild). Die Praktizierung dieser Konvention, wonach Anschauung (Wahrnehmung) weitgehend identisch sei mit Angeschautem (Wahrgenommenem), erlaubt uns die Ausbildung routinierter Handlungsweisen, deren Zweck über den Erhalt des nackten Lebens hinausgeht; das Fragen nach dem Wesen der von uns wahrgenommenen Dinge und Vorgänge, beispielsweise. Oder nach Wesen und Bedingungen der Wahrnehmung selbst. Oder nach der Vorstellung von Wissen (und dessen Zustandekommen, beispielsweise derjenigen, der die Autorenfigur des blinden Sehers HOMER zugrunde liegt). Aber wir schweifen ab; wichtig erschien mir an dieser Stelle, auf den unumgänglichen blinden Fleck hinzuweisen, den die bedingte Bildhaftigkeit unserer Sprache in unser aller Augen hinterlässt: Die Welt, sowohl ihr Wesen als auch ihr Antlitz, als Ergebnis ihrer Ansicht. Eine aufwändige Konsequenz wäre die fortwährende Reorganisation unserer Realität. Zum Verhältnis von Sprache und Bildern, Erinnerung und Realität eindrucksvoll ART SPIEGELMAN: Maus (2008).

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Nach diesem Verständnis ist der gelingende Forschungsprozess nichts anderes als das allmähliche (oder schlagartige) Auffinden einer Lösung (etwa eines Zusammenhangs, einer Mechanik, eines Algorithmus’) oder die Verdinglichung bereits Gedachten, Geahnten, Gefühlten, meist in Form von Zeichen. Ausgehend von der Richtigkeit dieser Annahme, wären Erkenntnisse, wäre neues ‚Wissen‘ nichts anderes als neue Kombinationen von bisher Gedachtem, Genanntem, Bezeichnetem, Bekanntem. Unbekanntes155 käme nicht vor, (höchstens Unverstandenes, Unbegriffenes, Unplausibles): in welcher Form, in welcher Erscheinung denn könnte sichtbar, ahnbar, denkbar werden, wovon weder Bild noch Begriff zeugt? Und wie erst sollte sich dessen Fehlen156 bemerkbar machen? Wer also behauptet, er wisse, was er alles nicht wisse, bezeichnet damit bereits dasjenige, zu dessen Ausführung, Durchführung, Verwirklichung es ihm an Verständnis, Fähigkeit, Fertigkeit, Gelegenheit fehlt – nicht aber die Abwesenheit von Ungedachtem, Ungeahntem. Wie nun kann es zu wirklich Neuem kommen, wenn dieses „definitionsgemäß nicht vorhersehbar“ ist, also „auch nur begrenzt herbeigeführt werden“157 kann?

155 Fremdes bis zum Akt seiner Be-Nennung. 156 Zur Leerstelle vgl. Anm. 140. 157 HANS-JÖRG RHEINBERGER, NZZ-Online, 05.05.2007, S. 3. In seiner Einleitung zu Experiment-Differenz-Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge (1992) zitiert RHEINBERGER den suchenden SIGMUND FREUD und dessen Überlegungen um den „richtigen Anfang wissenschaftlicher Tätigkeit“ aus dem Jahr 1915: „Wir haben oftmals die Forderung vertreten, daß eine Wissenschaft über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine Wissenschaft mit solchen Definitionen, auch die exakteste nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann weiter gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt. [...]“ (FREUD 1982, S. 81) Dazu führt RHEINBERGER aus: „Was Freud hier zu denken gibt, ist die unsägliche Spur der wissenschaftlichen Aktivität. Es hat den Anschein, als stünde das Verhältnis der ‚Entnahme‘ von ‚Ideen‘ aus der ‚Wirklichkeit‘ und der ‚Unterwerfung‘ der ‚Wirklich-

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Eine mögliche Antwort erfordert einen Wechsel der ObjektSubjekt-Perspektive zwischen Forschendem und Erkenntnis: Danach lässt Es, das Neue, sich nicht auffinden wie der Stein der Weisen – Es stellt sich ein. Mit einer beneidenswerten Souveränität tritt Es zutage, bestimmt Zeitpunkt sowie Art und Weise seines Erscheinens ebenso frei, wie Es aus seinem Faible für ausgefallene Maskeraden kein Geheimnis macht. Doch steckt nicht hinter einem solchen Perspektivwechsel letztlich nichts weiter, als eine durch und durch romantisierende Verklärung zahlreich dokumentierter (und historisch längst durchschauter) Wissensbildungsprozesse? Nostalgisches Hohelied auf Offenbarungserlebnisse genialischer Geister? Kerzenscheinwärme im Kämmerlein gegen Suchmaschinenkälte? Mitnichten; seit geraumer Zeit schon ist die Vorstellung von ‚der‘ Wissenssuche nicht mehr unbeFleckt,158 im Gegenteil. Nur, dass eine

keit‘ unter ‚Ideen‘ im Zentrum der Argumentation. Im Spiel des Entnehmens/Unterwerfens schärft sich allmählich das, was vielleicht einmal die Grundbegriffe einer Wissenschaft ausmachen wird. [...] Freud redet hier nicht [...] einem platten Empirismus das Wort; er versucht vielmehr, den Primat des Machens von wissenschaftlichen Erfahrungen gegenüber ihren begrifflich verfaßten und verfestigten Resultaten zur Geltung zu bringen.“ RHEINBERGER (1992), S. 11f. 158 Zur Entmystifizierung des Auftauchens, des In-die-Welt-Gelangens von neuem Wissen trug wesentlich der polnische Mediziner, Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker LUDWIK FLECK bei; wenn auch infolge der Rezeptionsgeschichte seiner Schriften mit gut 30-jähriger Verspätung im Wissenschaftstheorie-Betrieb angekommen, mutet die FLECKSCHE Sicht heute vergleichsweise unspektakulär an, so dass sich die Radikalität derselben in ihrer Zeit (Empirismus, Positivismus, Wiener Kreis) und ihrer Disziplin (Bakteriologie) wohl nur ansatzweise nachvollziehen lässt. Spektakulären Erkenntnisgeburten und genialischen Wissenseingebungen ebenso wie Reduzierungen auf Protokollsätze hält Fleck die Leistung der umgebenden Wissensgemeinschaft, des Denkkollektivs entgegen. Wissensgewinn vollzieht sich nach FLECK auf eher evolutionäre Weise, in Inhalt und Form maßgeblich bedingt durch seine Umgebung, weshalb er neue Aussagen auch am ehesten für historisch und soziologisch fassbar erachtete. Wissen ist demnach ebenso Produkt seiner Entstehungsbedingungen wie der Forscher in Denkkollektive involviert ist. Erforscht wer-

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solche ‚Suche‘, die immer ein Abgleich ist, nicht mittels „PageRanking“159 oder anderer Algorithmen sich vollzieht, sondern nach eigenen, den Gesetzen ihres Gegenstands verläuft. Und bestimmter Umstände, Versuchsanordnungen bedarf, um Aussicht auf Erfolg, sprich: die Chance auf tatsächliches Betreten von Neuland, zu haben. (Seit jeher werden (solche) Bilder und Vergleiche gebraucht um zu beschreiben, was sich der ausschließlich sprachlichen Darstellung so vehement verwehrt.)160 Um diesen Prozess, diesen nebulösen Übergang mitzuteilen, und sei es nur uns selbst, können wir der Bilder nicht entbehren, denn sobald wir Es161 in Worte kleiden (können), ist das Neue längst da. Die Ankunft selbst, gewöhnlich unplanmäßig, bleibt unbeobachtet, erst vom Erscheinen selbst kann berichtet werden. „Denn nicht wir wissen, es ist zuallererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.“162 Nicht unwahrscheinlich, dass Pflege und Instandhaltung der Gleisanlagen von höherem Nutzen sind als eine lückenlose Kenntnis der Fahrpläne.

den könne das Zustandekommen entsprechend durch eine, „sich auf die Soziologie des Denkens und die soziologische Geschichte der Wissenschaftsentwicklung stützende Theorie des Erkennens [...], [etwa durch den Vergleich „verschiedene[r] Denkstile [und die Untersuchung des] Kreislaufs der Gedanken innerhalb der verschiedenen Denkstile“. Vgl. FLECK (1983), S. 75. 159 Google-Such-Algorithmus. 160 Selbst der ‚entmystifizierende‘ LUDWIK FLECK, ebenso Kind seiner Zeit, wie er es jeder Erkenntnis unterstellt, gibt sich nicht der Illusion reinen, losgelösten, unmittelbaren Wissens hin, und bedient sich zur Veranschaulichung seiner Gedanken ebenso gebräuchlicher Visualisierungstechniken wie seine Zeit- und Denkgenossen auch. „Eine Entdeckung erscheint zuerst als ein schwaches Widerstandsavisio, das die im schöpferischen Chaos der Gedanken abwechselnden Denkoszillationen hemmt. Aus diesem Avisio entsteht auf dem Weg des sozialen, stilisierenden Kreisens der Gedanken ein beweisbarer, d.h. ein Gedanke, der sich im Stilsystem unterbringen läßt.“ Vgl. FLECK (1983), S. 75. 161 Die Personalisierung allein spricht Bände... 162 HEINRICH VON KLEIST, Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden. Internetausgabe Kleist-Archiv Heilbronn, S. 6.

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Zu den Umständen, den Bedingungen, die sein (oder ihr?) Eintreffen erst ermöglichen, zählt das Gespräch, der Dialog (– wer auch immer der Partner sein mag),163 nicht minder als das Schreiben. Oder die Kombination aus beidem, was uns dem Sinn und Zweck von rhetorischen Fragen in einem Text möglicherweise etwas näher bringt. „Das Schreiben [...] selbst ist ein Experimentalsystem. Es ist eine Versuchsanordnung. [...] Es gibt den Gedanken eine materielle Verfassung – und zwar eine, die das Entstehen von Neuem ermöglicht.“164 Ob Es sich tatsächlich einstellen mag, am Schreibtisch oder (andernorts) im Gespräch, bleibt trotz Versuchsaufbau nach Vorschrift einem direkten Zugriff entzogen. (Ungeachtet der warmen Bäder und Vollmondimitationen: noch die geschickteste Hebammenkunst stößet an Grenzen, die der Gedanken Natur ihr setzt.) Wenn also (auch) im Vorgang des Schreibens Neues entsteht, warum sollte dieser Vorgang für das Schreiben (Verfassen) unserer Untersuchung nicht ebenso gelten wie für das Schreiben (Verfassen) von Akten-Einträgen?

163 „Denken als Dialog auszulegen, kann bis Plato zurückverfolgt werden. Plato meinte, das Wesen des Denkens ist ein innerer Dialog der Seele mit sich selber.“ ZHENG (1992), S. 178. Im angesprochenen Dialog Theaitetos lässt PLATON den Sokrates die Frage nach dem Wesen des Wissens entsprechend dialogisch bedenken. Bemerkenswert auch die Anmerkungen der Figur des Sokrates zum Wesen von Erinnerung: explizit wird die Ungleichheit der Erinnerung an Erlebtes und das Erlebte selbst betont. Vgl. dazu auch RICOEUR (2004), S. 28. 164 HANS-JÖRG RHEINBERGER, NZZ-Online, 05.05.2007, S. 3. RHEINBERGERS Verständnis der Sprache als einer Materialisierungseinrichtung von Gedanken lässt sich zurückführen auf die sogenannte mentalistische Zeichentheorie der doppelten Repräsentation (oder mentalistische Abbildtheorie der Sprache), wonach ein Zeichen auf eine Vorstellung, einen Begriff verweist, der wiederum auf ein außersprachliches „Ding“ Bezug nimmt; ein Begriffsverständnis von Sprache, welches bereits bei Aristoteles Verwendung fand. Vgl. POHL (Magisterarbeit 2006/07), dort Anm. 61 u. 70.

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Die Zöglingsakte als selbsterfüllende Prophezeiung Um den Zögling ausfindig zu machen, müssen wir an dem Ort nach ihm suchen, an dem bekanntermaßen Wissen über ihn zusammengetragen und versammelt wurde, in der Zöglingsakte; denn bei allem Insistieren auf den Zögling im Text als dem (einzig verfügbaren) Objekt unserer Aufmerksamkeit – der tatsächlich zugängliche, greifbare Gegenstand ist der Text vom Zögling, zu finden in seiner Akte. Ihrem Zweck nach handelt es sich bei Zöglingsakten um personenbezogene Akten, die, der Dokumentation des laufenden Vorgangs dienend, in unserem Fall: die Durchführung einer Erziehungsmaßnahme schriftlich zu repräsentieren, entsprechende Dokumente zum ‚Fall‘ enthalten. Für das Verständnis der Untersuchung ist es von großer Bedeutung, zweierlei hervorzuheben: 1.

2.

Zum Fundort der Akten: Die (begrifflich wie untersuchungspraktisch) verwendeten Zöglingsakten stammen aus einer Einrichtung, (d.h. das enthaltene Material wurde in ein und derselben Einrichtung in dieser Akte gesammelt). Zum Entstehungsort der Akten: Gleichwohl stammen die einzelnen Dokumente innerhalb einer Zöglingsakte aus verschiedenen Quellen, d.h. z.T. von der (Fundort-)Einrichtung verschiedenen Orten.

Darüber hinaus ist wiederholt zu betonen, dass die Akte nicht erst in der untersuchten Einrichtung einsetzt/,beginnt‘, im Untersuchungsfall den „Neinstedter Anstalten“, sondern jeder Zögling bereits eine ‚Vorakte‘ in die Einrichtung mitbrachte. Die Führung der Akte setzte ein mit Aktivwerden der Fürsorgebehörden, des Jugendamtes. Mit diesem Schritt kam der (‚reale‘) Zögling ebenso wie der Akten-Zögling in die Welt. Vom amtsrichterlichen Unterbringungsbeschluss (Heimüberweisung mit Begründung) über den Aufnahmebogen (der Erziehungsanstalt) samt ärztlichem Untersuchungsbogen sowie Beschreibungen der elterlichen/familiären Verhältnisse des Zöglings, finden sich im Aktenkorpus verschiedene Entwicklungsprotokolle und Erziehungsberichte (z.B. an das Jugendamt, das Amt für Volkswohlfahrt und/oder die Fürsorgeerziehungs-Behörde), ggf. Beschlüsse zur Unfruchtbarmachung (Erbgesundheitsgericht), Schulzeugnisse, Briefwechsel (Kos-

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tenträger, Elternhaus, Jugendamt), ggf. Dienst- und Erziehungsverträge (zwischen Erziehungseinrichtung und Arbeitsstellen), ggf. Überstellungen in weitere Einrichtungen (Erziehungsheime, Erziehungslager, psychiatrische Anstalten) oder Entlassung ins Elternhaus sowie schlussendlich die Beendigung der Fürsorgeerziehung (Aufhebung nach erfolgreicher Erziehungsmaßnahme, Beendigung wegen altersbedingten oder sonstigen Ausscheidens aus dem Zuständigkeitsbereich der Erziehungsbehörden, Aufhebung wegen Undurchführbarkeit). Wie andere Akten ist auch die Zöglingsakte weitaus mehr als nur ein Ort, begrenzt durch zwei Aktendeckel. Zum einen – zum Ersten – ist die Akte freilich ein solcher ‚natürlicher Ort‘; zusammengesetzt aus Papier, Pappe und Heftklammern, dient er der Aufbewahrung von Dokumenten. Zum anderen, dennoch gleichzeitig, dient der Ort der Akte dazu, das in den angesammelten Dokumenten befindliche ‚Wissen‘ (Daten, Aufzeichnungen über Vorgänge, Fakten) aufzunehmen, „das Fach- und Dienstwissen der Bürokratie [sowohl] planmäßig“165 zu versammeln als auch – womit wir bei einer weiteren Funktion der Akte sind – es zu ordnen. Im bürokratischen Prozess erfüllt die Akte also mindestens zwei verschiedene Funktionen (auf verschiedenen Ebenen): neben dem Sammeln von Schriftstücken dient die Akte auch zur Herstellung von Ordnung(en): einer Ordnung der ‚Daten‘ untereinander ebenso wie einer Ordnung (außerhalb der Akte) mithilfe dieser ‚Daten‘.166 Erklärliches Ziel sind die „Strukturierung von Wirklichkeit und [die] Organisation von behördlicher und gerichtlicher Arbeit.“167 Eine weitere funktionale Eigenschaft erhalten Akten unter Berücksichtigung ihres performativen Potentials; da dieses nicht losgelöst vom ordnenden Charakter derselben betrachtet werden kann, interessieren uns umso mehr die konstitutiven Aspekte dieser installierten Ordnungen. Indem „sie z.B. Rechtsgeschäfte ausführt“, kann die Akte

165 Brockhaus-Enzyklopädie (1986), Bd. 01, S. 285, Stichwort: Akten. 166 Bei diesen ‚Daten‘ handelt es sich sowohl um Messdaten als auch, in weitaus größerer Zahl, um schriftliche Repräsentationen von Ereignissen, Vorkommnissen, Handlungen unter der plausiblen Annahme, beide ‚Sorten’ von Daten könnten mit ähnlicher Genauigkeit Realität erfassen. 167 MUCKEL (1997), S. 15.

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„performativ in die Wirklichkeit eingreifen“,168 den semantischen Gehalt ihrer immanenten Ordnungslogik weitgehend ungebrochen selbst verwirklichen, d.h. ‚faktifizieren‘. Die Verbindung zur selbsterfüllenden Prophezeiung drängt sich auf, bei welcher das Ergebnis eines Vorgangs gleichsam als Beleg für die Richtigkeit einer anfänglichen Annahme oder Behauptung gelesen wird. Auch im Fall der Zöglingsakte bringt die Akte schlussendlich einen Zögling hervor, der haargenau ihren Ordnungen entspricht – Oder gar erst entspringt? –, was gleichsam als verifizierendes Moment der Dokumentation ebenso gelesen werden kann wie als ein rückwirkend abschließender Beleg für die Notwendigkeit dessen, was es zu dokumentieren galt. Quod erat demonstrandum. Das umfangreiche „Handbuch zur Behördlichen Schriftgutverwaltung“169 geht im Abschnitt B: Ordnen und Registrieren der Bedeutung und Schwierigkeit ,richtigen Ordnens‘ nach. „Ordnen heißt, eine sinnvolle Beziehung zwischen Elementen herzustellen, die als Ordnung erkennbar ist. In der Schriftgutverwaltung sind die Elemente in erster Linie Schriftstücke oder Akten. ‚Sinnvoll‘ ordnen heißt, unter den zahllosen Möglichkeiten des Ordnens die geeignetste, zweckmäßigste zu finden.“170

Der Zweck des Ordnens also bestimmt die Methode, unter deren Anwendung eine Ordnung herzustellen ist. Und wonach bemisst sich die sinnvollste Anordnung der verschiedenen Schriftstücke, worin besteht der allererste Zweck einer zweckmäßigen Ordnung innerhalb schriftlicher Wirklichkeitsrepräsentationen? „Der gewichtigste Zweck des Ordnens ist das Erleichtern, ja Sicherstellen der Bereitstellung. Schriftgut ist so zu ordnen, dass jederzeit für die Bearbeitung die erforderlichen Unterlagen in dem notwendigen Umfang und in einem vertretbaren Zeitraum zur Verfügung gestellt werden können. [...] Ein zweites wichtiges Ziel des Ordnens ist es, nur das Benötigte beizubehalten und alles andere möglichst einfach und frühzeitig auszusortieren.“171

168 Ebenda. 169 HOFFMANN (2000). 170 A.a.O., S. 79. 171 A.a.O., S. 80.

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Unter einer solchen Prämisse ,zweckhafter Ordnung‘ bietet sich ein verändertes Bild auf unsere Akten. Wenn das Wissen vom Zögling, wenn das Material, welches in die Akte gelangte und in ihr ausschließlich (an-)geordnet und (aus-)sortiert wurde nach Maßgaben/ Vorgaben der Verwaltungseffizienz, können wir die Suche nach dem ,Zögling-in-der-Akte‘ spätestens an dieser Stelle abbrechen. Wenn die aktenimmanente Ordnungslogik, die infolge der performativen Wirkungsmöglichkeit der Akte auch noch wirklichkeitsrückgebunden ist, nicht am Gegenstand der Akte ausgerichtet ist, sondern vielmehr darauf, Schriftstücke möglichst zeitnah ablegen und wiederfinden zu können, werden wir in unseren Zöglingsakten nichts finden (können) als das Produkt behördlicher Verwaltungseffizienz. Wenn wir jedoch andererseits davon ausgehen, dass die Akte nicht restlos in ihrer Verwendung als Ordnungs- und Verwaltungsinstrument ‚aufgeht‘, sondern dass die „[…] Schaffung und Abbildung von Informationen in einer ‚zweiten Wirklichkeit‘ [ebenfalls] [...] zu den banalsten[!] Wesensmerkmalen einer personenbezogenen Akte“172 zählt, erscheint uns die Annäherung an den Akten-Zögling über die Untersuchung der Bedingungen und Strukturen seiner ‚Existenz‘ als eben dieser Akten-Zögling dennoch aussichtsreich. „Vergleichbar der Sprache und der Schrift repräsentiert eine Akte Ausschnitte von Wirklichkeiten (Welten) der verakteten Person, der verakteten Institution, der Zeit ihrer Entstehung ect. Als Instrument der institutionellen Arbeit erhält diese Repräsentationsfunktion einer Akte in verschiedener Weise Bedeutung: Sie konstruiert in spezifischer Weise Biographien und Bilder derjenigen Personen, über die sie angelegt werden (auch: derjenigen Personen, die Akten anlegen), sie beeinflußt die Wahrnehmungen der Aktenrezipient(innen)en in mehrfacher Hinsicht und tangiert Beziehungen innerhalb des institutionellen Alltags.“173

Die methodischen Schritte der ‚Annäherung‘ an den Zögling in den Aufzeichnungen werden im Folgenden erläutert. Fassen wir zuvor bis zu diesem Punkt zusammen: Gegenstand der Untersuchung sind die Akten, die im Verlauf von FE-Verfahren ‚entstanden‘, indem Dokumente angefertigt und ge-

172 MUCKEL (1997), S. 106. 173 Ebenda.

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sammelt wurden, die mit der Anordnung der Maßnahme, dem Erziehungsvorgang, dem ‚Fall‘ zusammenhingen, die Auskunft gaben über Grund und Verlauf des Vorgangs. Unsere bisherigen Überlegungen zur Funktion und Handhabung von Akten stützen die Behauptung, die gesammelten und zusammengefügten Dokumente einer Akte, hätten, anstatt lediglich Auskunft zu geben über den bisherigen Verlauf, den weiteren Verlauf maßgeblich beeinflusst, und zwar dergestalt, dass der nächste Schritt, die ‚angemessene Reaktion‘ häufig bereits angedeutet, vorgezeichnet war. Die Akte wurde so zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Anmerkung Der (begrifflichen) Verwendung sowie der (praktischen) Handhabung von Quellen, Akten, Daten, Ereignis in unserer Untersuchung liegt folgendes Verständnis zugrunde: – Quellen: verstanden als Gesamtheit der vorliegenden/vorfindbaren (vs. zu erzeugende/herzustellende) Zeugnisse/Materialien (in unserem Fall schriftlicher Art), mit deren Hilfe Ereignisse beschrieben werden können. In vorliegender Untersuchung bilden die Zöglingsakten unsere Quellen, für welche (wiederholt) hervorzuheben ist, dass sie nicht ‚eigens und absichtlich zum Zweck (historischer Überlieferung geschaffen worden‘ sind, sondern Zeugnisse (i.S. von Zeugen) sind von ordnenden und verwaltenden Vorgängen. – Akten: Unabhängig davon, ob vom Historiker zum Zwecke seiner Forschung untersucht oder in einer Einrichtung (z.B. Verwaltungsabteilung einer Behörde) während der Bearbeitung eines Vorgangs angelegt: bei Akten handelt es sich um eine Form von Materialsammlung, die zu verschiedenen Zwecken erstellt werden. Indem sie über die Aufnahme von Materialien, zumeist Dokumenten, entscheiden, und dieses Material einem vereinbarten System entsprechend anordnen, stellen Akten ebenso eine Ordnung her, wie sie das aufgenommene Material archivieren. Handelt es sich um personenbezogene Akten, dienen sie, über ihre ordnende und verwaltende Funktion hinaus, als Instrumente der Repräsentation; sie präsentieren ein Bild der enthaltenen Informationen (wobei oftmals die Rede von einem ,Abbild‘ ist), schaffen auf einer durchaus realen Ebene gleichsam eine ‚zweite Wirklichkeit‘. – Daten: verstanden als eindeutig zuordenbare (i.S. von instrumentell messbar) und eindeutig (z.B. mittels Zahlen) darstellbare Einzel-Infor-

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mationen (z.B. Kalenderdaten, Raumtemperatur, Lebensalter, Körpergröße, Blutgruppe, Sehstärke, etc.). Weiterhin verstanden als (im Rahmen eines definierten Kulturkreises) verlässliche (i.S. von eineindeutige) Information, zu deren weiterer Verwendung immer ein Bezugssystem erforderlich ist. Ebenfalls als Zahl darstellbare, jedoch nicht direkt erhebbare, mittelbare Informationen (z.B. Zeugnisnoten, Ergebnisse von Intelligenztests, Auswertungen von Befragungen, sprachliche Erhebungen) werden nicht als verlässliche Information verstanden und deshalb nicht unter dem Begriff ‚Daten‘ gefasst bzw. verwendet. Ferner als ‚Daten‘ verstanden (und verwendet) werden sprachliche Informationen, die auf eindeutige Weise Beziehungen beschreiben (verwandtschaftlich, z.B. Bruder, Sohn; institutionell, z.B. Angestellter, Vorsteher...) oder individuelle (physiologische) Eigenschaften oder Zustände benennen (z.B. biologisches Geschlecht, Augenfarbe, Schwangerschaft, Fraktur, Hämatom). Die Verwendung medizinischer Termini zur Beschreibung von Eigenschaften oder Zuständen allein ist oftmals kein hinreichendes Merkmal, eine Information situations- u. zeitüberdauernd als verlässlich (und damit als Datum) zu betrachten. Es handelt sich bei dieser „diagnostischen“ Operation oftmals um einen deskriptiven (und somit wie alle vergleichenden, zuordnenden Beschreibungen in seinen Möglichkeiten begrenzten) Vorgang, der immer kontextuell gebunden vorgenommen wird, d.h. (immer auch) disziplinär fokussiert, normativ gefärbt, erfolgt. (Vgl. Diagnosen wie: erbkrank, abnormal, minderwertig, ADS). Dennoch werden solcherart ‚Daten‘, bei denen es sich um schriftliche Repräsentationen von Ereignissen, Vorkommnissen, Abläufen handelt, gewöhnlich ähnlich gehandhabt wie Messdaten, unter der plausiblen Annahme, beide Arten von Daten könnten mit ähnlicher Genauigkeit Realität erfassen. – Ereignis: verstanden als singulärer, an Ort und Zeit gebundener Vorfall, als nicht abbildbarer Vorgang, der lediglich beschrieben, nicht jedoch wiederholt oder reproduziert werden kann. Der Bericht, das Protokoll, die Anekdote vom Ereignis selbst ist bereits ein Ereignis. Dieses spezielle Verständnis und der daraus folgende Gebrauch der genannten Begriffe folgt in erster Linie dem Untersuchungsansatz dieser Arbeit und gilt ausschließlich in deren Rahmen. Verständnis und Gebrauch sind nicht übertragbar auf Begriffsverständnis und Verwen-

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dung durch andere Personen, beispielsweise die Verfasser der zur Untersuchung verwendeten Akten.

2.3 M ETHODE UND V ORGEHEN DER U NTERSUCHUNG Wie bereits angeführt, wurden die Zöglingsakten angelegt und geführt nach Maßgaben ‚effizienten Ordnen und Verwaltens‘, ihrem Zweck nach nicht verschieden von anderen Personenakten. Rein materiell setzt eine jede dieser Akten sich zusammen aus Papier, Pappe und Heftklammern; zum Zweck der Untersuchung wollen wir sie nun provisorisch mit Analyseebenen durchziehen, wollen diese als Erkenntniswerkzeuge in die Akte ein-ziehen, sie in ihr aufspannen.

Akten: Analyseebenen Auf einer dieser Ebenen, der ‚aus Papier, Pappe und Heftklammen‘, finden wir mit und in der Akte vor: eine Ansammlung von Textdokumenten (raschelnd und riechend), die an bestimmten institutionellen Orten zu bestimmten Zwecken (Ordnen, Repräsentieren, Verwalten) angefertigt wurden, und an anderen Orten diese Zwecke erfüllen sollten. Auf einer anderen Ebene, der sprachlich-semantischen (oder: lexikalischen und syntaktischen Ebene),174 finden wir mit und in der Akte vor: sprachliche Zeichen und deren Verbindungen nach bestimmten Prinzipien zu konventionellen Sinneinheiten (etwa Wörtern), die wiederum angeordnet sind zu größeren konventionellen Sinneinheiten (Wortgruppen, Satzglieder, Sätze), die wiederum arrangiert werden

174 Die lexikalische Ebene besteht aus relativ selbständigen sprachlichen Zeichen. Zentrales Element dieser Ebene sind Wörter. Auf der syntaktischen Ebene werden die unterschiedlichen Beziehungen bestimmt, die die Einheiten der lexikalischen Ebene, z.B. die Wörter, eingehen, wenn sie zu höheren Einheiten verbunden werden. Sätze und Wortgruppen sind die Haupteinheiten der syntaktischen Ebene.

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können zu noch größeren Einheiten (etwa Texten), welche allerdings aus deutlich mehr als nur einer Sinneinheit zusammengesetzt sind. Ab einem bestimmten Organisationsgrad ist es mit jeder dieser Sinneinheiten (einzeln oder in Kombination mit weiteren) möglich, tätig zu werden: etwas zu tun, bspw. zu sprechen; mit diesem Tun (zugleich oder zeitversetzt) wiederum besteht die Möglichkeit, noch etwas anderes zu tun: zu Bezeichnen, zu Benennen, zu Ernennen, zu Erkennen, Anzuerkennen, Abzuerkennen etc. Auf wieder einer anderen, der textsemantischen Ebene (oder textualen Ebene),175 finden wir mit und in der Akte vor: eine Ansammlung von Narrativen als Modi einer a. Hervorbringung/Erzeugung von Wissen, und b. Organisation/Verwaltung von Wissen und Vorgängen/Abläufen dienend. Und wieder auf einer weiteren Ebene finden wir mit und in der Akte vor: eine Geschichte des Aufwachsens im Arbeitermilieu in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, eine Geschichte zur Genese des rassenhygienischen Paradigmas und dessen Folgen für Medizin und Pädagogik, eine Geschichte der Sozialen Arbeit zur Zeit der Weimarer Republik, eine Geschichte der institutionellen Verwaltung Sozialer Arbeit, eine Geschichte der Inneren Mission, eine Geschichte des Sozialrassismus, eine Geschichte... Neben weiteren Implikationen heißt das bis zu dieser Stelle: jede Akte ist gefüllt mit Vor-Gängen, mit Handlungen (Beobachtungen, Anweisungen, Mitteilungen, Konstituierungen, Hervorbringungen), die wir uns zugänglich machen mittels der Untersuchung auf verschiedenen Analyseebenen. Nun hat das Einziehen künstlicher Trenn-Schichten (Ebenen) weitreichende Folgen, u.a. epistemologische, die es im Weiteren zu berücksichtigen gilt; zu diesem Zweck stellen wir fest: 1.

Es handelt sich um eine abstrakte, artefaktielle Trennung, die im Akt der Handlung selbst nicht vorkommt und ausschließlich analytische Funktion besitzt.

175 Meint die Ebene, auf der die Analyse der Kombination von Sätzen zu Texten erfolgt.

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2.

3.

4.

Trotz des abstrakten Charakters der Analyseebenen kann keine derselben bearbeitet werden, ohne in Berührung zu kommen mit den übrigen Ebenen; sie gleichen eher den Fäden in einem Spinnennetz, weshalb die Bezeichnung „Ebene“ ausschließlich schematisierenden Charakter, im Höchstmaß vereinfachende, vergröbernde Wirkung hat. Der Untersuchungsvorgang erfolgt also notwendigerweise auf mehreren Ebenen zugleich, selbst bei ausdrücklicher Bearbeitung nur einer bestimmten Ebene. Keine dieser Ebenen soll gegeneinander ausgespielt oder ihr der Vorrang vor anderen hinsichtlich ihrer Existenzberechtigung eingeräumt werden: Da eine historisch angelegte Untersuchung wie die vorliegende nicht im luftleeren Raum, nicht im geschichtslosen Raum erfolgen kann, sondern immer ein Geschichtskonzept, modell, -bild voraussetzt, welches fortgeschrieben oder revidiert, keinesfalls aber ignoriert werden kann, schreibt die Untersuchung (trotz ausdrücklicher Untersuchung der Frage nach der Beziehung von Unterbringungsakte und Unterbringungsverlauf) immer auch mit an einer der Geschichten zur Kindheitsgeschichte, Medizingeschichte, Pädagogikgeschichte, Verwaltungsgeschichte, Geschlechtergeschichte, Rezeptionsgeschichte..., die sich aus den Akten herauslesen lassen.) Die Frage der Ebenen-Verwendung beantwortet sich aus ihrer methodischen Relevanz für die Beantwortung unserer Untersuchungsfrage. Weiterhin: da die Untersuchungsfrage das Verhältnis, die Beziehung von Unterbringungsakte und Unterbringungsverlauf im Blick hat, bleibt die Mehrzahl weiterer analytischer Arten der Materialverwendung weitgehend unberücksichtigt. (Wir werden also weder eine weitere Geschichte des Aufwachsens im Arbeitermilieu der 1930er Jahre noch eine weitere Geschichte zur Genese des rassenhygienischen Paradigmas und dessen Folgen für Medizin und Pädagogik schreiben noch eine weitere Geschichte der Sozialen Arbeit zur Zeit der Weimarer Republik noch eine weitere Geschichte der Verwaltung noch eine weitere Geschichte der Inneren Mission schreiben oder eine weitere Geschichte zum Sozialrassismus in Deutschland. Oder etwa doch? Impliziert nicht jede Beschreibung von historischen Geschehnissen eine (räumliche und zeitliche) Verortung dieser Geschehnisse? Und erfordert diese Verortungsleistung nicht eine dezidierte Vorstellung von

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5.

dieser Epoche, setzt ein bestimmtes Geschichts-Bild von ihr voraus?)176 Die Reichweite der mittels der Untersuchung von Textdokumenten gewonnenen Aussagen geht nicht über den theoretischen Rahmen der Untersuchung hinaus.

Wir halten fest, dass die Analyse-Ebenen von uns eingezogen wurden, (wir sie zum Zweck der Untersuchung also selbst installiert haben), wir mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung auf und mit ihnen arbeiten wollen; prinzipiell auf allen, verstärkt aber auf der textanalytischen Ebene. Da wir davon ausgehen, dass der Zögling in der Akte unter Anwendung vorwiegend erzählerischer Narrative hervorgebracht, und sein Unterbringungsverlauf von diesem Organisationsschema beeinflusst wurde, liegt der Schwerpunkt der Untersuchung vermehrt auf der Analyseebene der Texte und der narrativen Verknüpfung derselben.

Akten: Ebene der Textsemantik Das Insistieren auf eine textsemantische Analyse, eine Untersuchung auf der Ebene der Narrative, folgte ursprünglich dem Gedanken, die Rekonstruktion der Entstehung eines Textes fruchtbar zu machen für die Analyse eines solchen Textes. Wenn wir aber daran festhalten, dass der mithilfe eines konventionellen sprachlichen Arrangements hervorgebrachte Gegenstand, der Akten-Zögling, das Resultat seiner Erzähltheit ist – und nicht ein Abbild ‚seiner selbst‘ in Sprache –,177 sollte unser Augenmerk weniger

176 Wie ACHIM HAHN in Rückgriff auf den Kulturanthropologen ERICH ROTHACKER (1888-1965) notierte: „Weltbilder sind konkret.“ HAHN (2008), S. 80. 177 Der amerikanische Philosoph und Kunstkritiker ARTHUR C. DANTO bestimmt, KARLHEINZ STIERLE zufolge, etwa die Geschichte als auch eine Geschichte, „als Abbildung eines Prozesses, der das Gleichgewicht eines Zustandes aufhebt und über eine Folge von Veränderungen einen neuen Zustand erreicht, der sich zum ersten konträr verhält. Doch läßt Danto kein Missverständnis darüber aufkommen, daß nicht der Gegen-

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auf einem Rekonstruktionsversuch der Textentstehung liegen, als vielmehr auf der Art und Weise der sprachlichen Verfasstheit in Hinblick auf die Hervorbringung seines Gegenstandes und dessen Position(-ierung) im Geschehen und im Verhältnis gegenüber den Aktanten178 der Erzählung. Das Navigieren auf einer erzähltextanalytischen Ebene erfolgt unter Verwendung sprach- und literaturwissenschaftlicher Prämissen, die an dieser Stelle nur in einem knappen, für die Untersuchung erforderlichen Rahmen dargestellt werden. Im Gefolge von Strukturalismus und Hermeneutik entwickelte in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere die Literaturwissenschaft „eine avancierte Theorie des literarischen Kunstwerks [...], was es zum Beispiel ermöglichte, die Erzählsituation im literarischen Text zu untersuchen und strikt vom realen Autor zu unterscheiden“,179 die

stand es ist, der seine Organisationsform bedingt, sondern daß vielmehr die Organisationsform selbst den Gegenstand als solchen allererst konstituiert.“ STIERLE (1990), S. 352. 178 Zum Aktantenmodell nach GREIMAS siehe nachfolgende Ausführungen im Text und an dieser Stelle vorerst in Kurzform: Vom französischen Strukturalisten JULIEN GREIMAS stammt nicht nur das Diktum der Erzählbarkeit der Welt, sondern auch ein textsemiotisches Analysemodell zur strukturalen Untersuchung von Texten. Handelnde Subjekte in Erzählungen werden, „strukturalistisch“ nach dem ihrer Beziehung zugrundeliegendem Konzept (z.B. Oppositionen, Parallelismen, Äquivalenzen ect.) befragt, von GREIMAS (in Anlehnung an PROPP, tatsächlich jedoch der phrastischen Syntax LUCIEN TESNIÈRES entlehnt) als Aktanten betrachtet: keine Figuren, sondern funktionale Handlungsträger, vorstellbar etwa als Opponenten, wobei die Rollen der Aktanten neben Personen auch von Gegenständen oder abstrakten Begriffen besetzt werden können. In seinem Aktanten-Modell nimmt GREIMAS die Unterscheidung möglicher Aktanten in drei Gegensatzpaare vor: Subjekt – Objekt, Sender – Empfänger, Helfer – Widersacher; vgl. dazu GREIMAS (1972); STIERLE (1977), S. 220; KLINKERT (2004), S. 122f.; GÜHLICH/RAIBLE (1977), S. 139f.; KIM (2002), S. 46ff.; JANNIDIS (2004), S. 46ff. 179 MÜLLER-FUNK (2007), S. 44, und weiter: „Die bekanntesten schulbildenden Autoren sind für den deutschen Sprachraum Franz K. Stanzel,

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narrative Semiotik. Als Voraussetzung von Literatur blieb das Sprachsystem (zwar) weiterhin der Gegenstand der Linguistik, wurde aber nicht als mit der Literatur identisch betrachtet; die linguistische Analyse von Texten versteht sich von daher nicht als literaturwissenschaftliche Analyse. 180 Die narrative Semiotik ist, PAUL RICOEUR zufolge, gekennzeichnet durch drei Merkmale: Es handele sich erstens um „ein systematisches deduktives Verfahren, das eine Vielfalt von narrativen Ausdrucksformen in Mythos, Folklore, Roman, Drama, Film und Comic, in Geschichtsschreibung, Malerei und Konversation auf einige ganz wenige Typen zurückführt.“181 Eine prinzipiell unendliche Menge von Narrationen lässt sich der Annahme zufolge zurückführen auf eine begrenzte Zahl narrativer Grundtypen. Zweitens konstruiere die narrative Semiotik ihre Modelle aus der Linguistik de SAUSSURES; sie „löst die systematische langue, den Code aus der empirisch realisierten Sprache (parole) aus und trennt damit den synchronen Akt der Sprache vom diachronen.“182 Dazu RICOEUR: „Die Immanenz der Beziehungen, also die Gleichgültigkeit des Systems gegenüber der außersprachlichen Wirklichkeit, ist eine wichtige Konsequenz der Regel der Abgeschlossenheit, die eine Struktur kennzeichnet.“183

Günther Müller und Eberhard Lämmert, für die französische Literaturtheorie Gérard Genette, Claude Bremond und A.-J. Greimas.“, ebenda. Der deutschen Erzählforschung werden dabei, verglichen etwa mit französischer oder angelsächsischer Narratologie, verhältnismäßig geringe internationale Bezugnahme und mangelnde Aufnahme und Umsetzung theoretischer Impulse des Strukturalismus bescheinigt. 180 Vgl. PAUKSTADT/KAYSER (1979), S. 132; weiter: „Es gibt keine linguistischen Merkmale, an denen sich eindeutig erkennen läßt, daß es sich bei einem bestimmten Text um Poesie handelt.“ URSULA MANTELOOMEN in: PAUKSTADT/KAYSER (1979), S. 132. 181 MÜLLER-FUNK (2007), S. 45. 182 A.a.O., S. 46. 183 RICOEUR (1989), Zeit und Erzählung, Bd. 2. S. 53, in: MÜLLER-FUNK (2007), S. 46.

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Drittens sei die narrative Semiotik, wie der Strukturalismus sie ausgebildet habe, ‚organisch‘ in dem Sinne, dass sie vom Vorgang des Ganzen ausgehe und eine Stufenhierarchie der Teile etabliere. „Sie beschreibt und rekonstruiert den ‚Konfigurationsvorgang‘ mit Hilfe logischer Modelle und konzentriert sich dabei auf die Funktionen der Handlung. Die Logifizierung geht dabei mit der Entzeitlichung Hand in Hand.“184 Die Relevanz der Handlungen, besser: der Handlungs-Funktionen, stellte bereits der russische Philologe VLADIMIR PROPP in seiner Untersuchung russischer Zaubermärchen heraus. PROPPS Morphologie des Märchens185 aus dem Jahre 1928 gilt als ein „womöglich unüberbietbarer Vorläufer einer schematisierenden, auf den Handlungsablauf konzentrierten Theorie des Narrativen“;186 nach dieser liegt, stark verkürzt, allen untersuchten Märchentexten eine vergleichbare und übertragbare (oder austauschbare) Handlungsstruktur zugrunde. „Alle aktualisierten russischen Zaubermärchen sind Variationen eines einzigen nicht aktualisierten Märchens“,187 dessen Handlungsstruktur sich in einer algebraischen Handlungsstruktur darstellen lässt. Diesen (bei PROPP insgesamt 31 an der Zahl), den Handlungsverlauf abbildenden Handlungssegmenten (Funktionen) wiederum entsprechen 7 Handlungsträger (Aktanten). Da es sich bei diesen nicht um Figuren handelt, sondern um Inhaber von Funktionen (Handlungsrollen), sind die Aktanten an bestimmten Stellen (in PROPPS Märchen) austauschbar; so kann eine bestimmte Handlung einerseits verschiedene Funktionen annehmen, anderseits auch können verschiedene Handlungen funktional identisch sein. Der funktionale Wert eines konkreten Handlungselements (oder Aktanten) ergibt sich danach erst aus der Position, welche ihm innerhalb der Struktur der Erzählung (bei

184 MÜLLER-FUNK (2007), S. 46. 185 PROPP (1975). Der Untersuchung des Philologen PROPP, die erstmals 1928 erschien, liegt ein Korpus von 100 russischen Märchen zugrunde; ins Englische übertragen wurde die Arbeit erst 30 Jahre später, die Übertragung ins Französische erfolgte 1965, in deutscher Sprache wurde sie im Jahre 1972 vom Hanser-Verlag München herausgegeben. 186 MÜLLER-FUNK (2007), S. 46. 187 Ebenda.

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PROPP: des Märchens) zugewiesen wird. „Nicht variabel dagegen sind die Reihenfolge, die aktiven und passiven Hauptpersonen sowie der Kern der Handlung“;188 letzterer ist gekennzeichnet durch eine konsequent binäre Struktur. Während PROPPS Untersuchung (und damit die Reichweite derselben) sich auf einen „eng definierten, sogar kulturell spezifizierten Gegenstandsbereich, auf eine bestimmte Textsorte des Märchens in einer bestimmten Kultur“189 beschränkte, wurde dieser Bereich nachfolgend vom taxonomischen Strukturalismus mit (s)einer deutlich abstrakteren Fassung der Beschreibungsmodelle erweitert. „In dieser Linie liegen in etwa die narrativen Semiotiken Bremonds, Greimas’ und Barthes’.“190 Von PROPP übernimmt der französische Strukturalist JULIEN GREIMAS in den 1960er Jahren das Schema der Verteilung von Aktanten auf Figuren,191 handlungsbestimmend sind bei GREIMAS 6 Aktanten:192 Subjekt, Objekt, Sender, Empfänger, Gegenspieler (Opponent) und Helfer. Überdies dehnt er die narrative Semiotik aus auf Bereiche weit über Märchen und Literatur hinaus. Unter Anwendung eines mehr oder minder starken Reduktionismus gelingt der narrativen Semiotik die Offenlegung „[…] der basalen Elemente jedweden Erzählens. Es ließe sich das Erzählen in einem aperçu als ‚episches Denken‘ bezeichnen. Dieses verbürgt das Moment der Spannung. Unabhängig von jedweder inhaltlichen Ausfüllung bedeutet Erzählen: eine bestimmte Relation zur Welt und zu meiner Umgebung einzu-

188 MÜLLER-FUNK (2007), S. 47. 189 A.a.O., S. 48. Zu PROPPS Morphologie siehe auch JANNIDIS (2004), S. 98ff.; FIETZ (1998), S. 147ff.; KIM (2002), S. 46ff. 190 MÜLLER-FUNK (2007), S. 48. 191 Den Begriff Aktant entlehnt GREIMAS „der phrastischen Syntax Lucien Tesnières (Eléments de syntaxe strukturale, (1953)), um die narrative, transphrastische Struktur des Diskurses zu beschreiben.“ KIM (2002), S. 48. 192 FOTIS JANNIDIS weist darauf hin, dass GREIMAS in späteren Aufsätzen „die Anzahl der Aktanten reduziert und thematische Rollen als Zwischenebene zwischen Figuren und Aktanten eingeschoben“ habe. JANNIDIS (2004), S. 100.

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nehmen, die mich in die Rolle als Handelnden und als Erleidenden drängt. Darüber hinaus tritt der teleologische Grundcharakter erzählten Handelns und das moralische Grundmuster, das solcher Teleologie zugrunde liegt, sichtbar hervor. In traditionellem Erzählen wird die Missetat nur begangen, um sie zu ahnden und ihren Verursacher als Bösen zu bestrafen. Die Erzählung traditionellen Zuschnitts, die auch in nicht-literarischen Versionen der ‚Sinngebung des Sinnlosen‘ (Theodor Lessing) am Werk ist, schafft retrospektiv eine gesetzliche Notwendigkeit, die jedwede Alternative ausschließt“.193

Erzählen: schaffen und ordnen Einem Erzählen, welches Zöglinge hervorbringt und Entwicklungen schildert, welches von Hindernissen und deren Überwindung berichtet, sind wir in den Akten auf der Spur. Die aus der ‚klassischen‘ narrativen Semiotik weiterentwickelte Semiotik, etwa von ROLAND BARTHES,194 dient als analytischer

193 MÜLLER-FUNK (2007), S. 49. Verfasser der Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919) ist der deutsch-jüdische Philosoph und Publizist THEODOR LESSING (18721933); entstanden während des I. Weltkriegs, betont die Schrift die sinnstiftende Rolle der Geschichtsschreibung, durch deren perspektivische Konstruktion ,die Geschichte‘ erst im Nachhinein mit Sinn, mit Bedeutung versehen würde. Vgl. VON PETERSDORFF (2006), S. 201ff., sowie LESSING (1921). 194 Auf die Barthesche Semiotik soll und kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; zum einen mangelt es nicht an verkürzten (und verkürzenden) Darstellungen zur selben, zum anderen wähnt die Arbeit sich angeregt, inspiriert, gewärmt vom Essayisten und Kulturkritiker BARTHES und dessen Lust am Text, weshalb Ausführungen zu dessen empathischen Ansätzen fraglos apologetisch atmeten, zum Dritten haben Grundzüge seiner Sichtweisen sich mittlerweile in ,den Kulturwissenschaften‘ etabliert, und zum Vierten führte ein Zugang zu BARTHES an den Türen (oder Bibliotheken) nicht Weniger vorbei, mögen an den Pforten nun Namen stehen wie GILLES DELEUZE oder JACQUES LACAN oder KARL MARX oder ANDRÉ GIDE. Nur so viel sei an dieser Stelle angeführt:

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Kamm, die Verflochtenheit (oder Verfilztheit?) von individuellen Erscheinungen und tradierten Narrationsmustern zu ordnen, ‚Erzählfäden‘ sichtbar und auf die Orientierung der Darstellung an der, Kettfäden vergleichbar, vorgegebenen Struktur aufmerksam zu machen. Jedoch behauptet weder der Ansatz der Untersuchung, noch die Narratologie BARTHES’, dass „Erzählung und Leben ein und dasselbe seien“;195 vielmehr wird eine narrative Grundierung in Anschlag gebracht, eine erzählerische Grundkonfiguration, die ihre Spuren hinterlässt in allem, was sie hervorbringt – oder in allem, was aus ihr hervorgebracht wird. Der bloße Bericht eines Vorgangs, die nominelle Schilderung eines Ereignisses, die vorgebliche Beschreibung einer Situation, weist nicht nur Erzählspuren auf, sondern folgt immer auch erzählerischen Grundmustern, enthält Strukturen narrativer Sinnstiftung. Wenngleich etwa der Anwendbarkeitsanspruch des GREIMASCHEN Aktanten-Modells auf alle erzählbaren Phänomene zwischenzeitlich starke Kritik und stellenweise Einbremsung erfuhr, ist die analytische Kraft zur Offenlegung von Strukturen in ‚klassischen‘ Erzähltexten (verschiedener Textsorten) nach wie vor überzeugend, zumindest für den Verfasser dieser Arbeit.

BARTHES erweiterte den Gegenstandsbereich der weitgehend auf Literatur beschränkten, traditionellen Erzählforschung radikal, löste die Narration gleichsam aus dem ausdifferenzierten ‚Literatur‘-System, betonte die kulturübergreifende Erzähltheit ‚des Lebens‘ (was wiederum nicht meint, verschiedene Kulturen erzählten grundsätzlich auf die gleiche Weise), postulierte (den seither vielfach kolportierten) ‚Tod des (intentionalen) Autors‘; ohne abzusehen von dem, der die Tätigkeit des Schreibens ausübt und/oder die (gesellschaftliche) Funktion des Schriftstellers erfüllt, reflektierte BARTHES zeitlebenslang den prekären Status des Erzählers. Und ohne abzusehen vom Text. Und vom Leser. Und vom Erzähler. Und von deren Kultur... Zum ‚Schriftsteller-Schreiber‘ vgl. BARTHES (1969), S. 44ff., zum ‚Taubenloch-Topos‘ BARTHES (1988), zur ‚Interpretation‘ nach der strukturalen Erzählanalyse BARTHES (2001), zum scheinbar Selbstverständlichen und dessen Ideologisierung in(-nerhalb) medialer Verwendungen BARTHES (2003), zum Näherkommen (an) BARTHES (2008), zum Verlieben BARTHES (2006). 195 MÜLLER-FUNK (2007), S.49.

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Von daher versucht die Arbeit nicht, ‚anzurennen gegen die Grenze(n) der Sprache‘; das erste Anliegen der Untersuchung der Akten liegt vielmehr darin, die narrativ funktionalen Elemente der verfassten und versammelten Textdokumente herauszuarbeiten, über eine bloße Quellenkritik und Verortung der Wörter ‚in ihrer Zeit und Bedeutung‘ hinaus sich anzunähern an die erzählte Verfasstheit dessen, was in dieser Erzählung ist, dergestalt, dass die Merkmale und Eigenschaften der in die Texte eingeschriebenen Handlungsrollen, der figuralen und personalen Konstellationen freigelegt werden und ihr Mit-Wirken, ihr Praktizieren und Initialisieren eines Erzählnarrativs sichtbar gemacht werden kann. Dessen teleologischer Grundcharakter soll in seiner Wirkweise dabei ebenso illustriert wie hinsichtlich der Organisation von ‚Geschehnissen‘ (nach chronologischen Prinzipien und anderen (erzähl-)logischen Erfordernissen, wie Kohärenz) überprüft werden. Die Richtung des erzählten Handlungsverlaufs ist dabei ebenso relevant wie seine pragmatische Realisation; nicht minder bedeutsam als die ästhetischen Praktiken, und ebenso hervorzuheben jedoch, sind die zugrundeliegenden ethischen Grundmuster, in ihrer Funktionalität „sichtbar“ zu machen u.a. über die Aktanten. Wenn wir also davon ausgehen, dass in den zu untersuchenden Texten ‚Ereignisse, Handlungen, Situationen‘ nominell beschrieben, tatsächlich aber erst geschrieben und narrativ miteinander in Verbindung gebracht werden, richtet sich unser analytisches Augenmerk auf die Verknüpfung der (solcherart erzählten) Einheiten (Erzähleinheiten) zu Sinnstrukturen, auf die Verkettung von Handlungen zu Handlungsverläufen, auf die funktionale Verwendung der einzelnen Handlungen und Indizien für den Verlauf der ‚Geschichte‘. Dabei stellt sich die folgende Frage: Ergibt der sogenannte Sinnzusammenhang der Geschichte sich gewissermaßen ‚von selbst‘, scheinbar ‚automatisch‘ aus der Komposition der Einheiten, oder ist er anzunehmen als aktiv vom Verfasser intendierter und unter (gezielter) Anwendung konstruktiver Prinzipien verfasster? Zum besseren Verständnis der weiteren Vorgehensweise bei der Untersuchung der Aktentexte, werden im Folgenden überblicksartig

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Grundannahmen zu Aufbau und Merkmalen von Erzähltexten dargestellt.196

Ebenen der Narration197 Folgende Kategorien schichten eine Narration horizontal:

TEXT DER GESCHICHTE (fixierte Gestalt eines narrativen Textes)

GESCHICHTE (Verknüpfung von Geschehensmomenten in zeitlicher Verlaufsform)

GESCHEHEN

KONZEPTE

(Handlungen, Sachverhalte,

(Thematischer Horizont

Zustände)

meist in Form von Oppositionen)

Die grundlegende, gleichsam ‚unterste‘ Ebene eines narrativen Textes wird von Geschehensmomenten gebildet; diese Geschehens-Momente sind komplexe, vor-sprachliche und (noch) sinndifferente Zustandsänderungen, die gleichsam eine notwendige Voraussetzung jeder Geschichte bilden. Die Ebene des Geschehens bildet im Verbund mit abstrakten Konzepten (Leitgedanken, thematischer Horizont) das ‚Fundament‘ einer Geschichte. Innerhalb einer narrativen Sinnkonstruktion, etwa einer Erzählung, werden Geschehensmomente nicht verfasst oder erstellt, sondern ‚vorgefunden‘. Geschehensmomente sind ohne jede Auswahl

196 Die Grundannahmen orientieren sich an den STIERLE (1977), KLAUSNITZER (2004), BRINKER (2005) u.a. Dass bei der Darstellung u.a. literaturwissenschaftliche Aspekte vielfach unberücksichtigt bleiben werden, ist ihrem Anwendungszweck geschuldet, die Methode der vorliegenden Untersuchung zu illustrieren. 197 Vgl. KLAUSNITZER (2004), S. 70.

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und Zuordnung gleichsam ‚gegeben‘: sie sind diffus und können unter beliebigen Gesichtspunkten zusammenhängend organisiert werden. Mental organisiert (sprachlich realisiert mittels Benennung durch Wörter, aber noch nicht textual fixiert), treten Geschehensmomente als Erzähleinheiten auf. Erzähleinheiten sind a) einzelne (sprachliche) Handlungen,198 die (vorerst ausschließlich) in sich sinnvoll und zielgerichtet sind, und/oder b) Beschreibungen von Zuständen, Stimmungen oder Sachverhalten. (Erzähleinheiten, die Auskünfte über Personen und Situationen geben, werden als Indizien bezeichnet). Für sich genommen, verfügen Handlungen nur über einen begrenzten Sinn und erhalten erst in der Verknüpfung mit anderen Handlungen einen tatsächlichen (möglichen) Sinn; in der Anordnung, Verkettung, Verknüpfung mit anderen Handlungen ergeben sie den Sinnzusammenhang der Geschichte. Die Funktion einer Einzelhandlung bzw. einer Handlungssequenz besteht in der ‚Einführung‘, in der ‚Daraufhinführung‘ (zu) einer anderen Handlung, welche wiederum eine weitere Handlung nach sich zieht – was den Verlauf der Geschichte vom Ende her betrachtet schließlich zu einer kausalen Abfolge macht. Solch eine Verkettung von Handlungen vermittelt den Eindruck, als ‚musste‘ das erzählte Geschehene letztlich so und (‚konnte‘) nicht anders ablaufen (Eindruck von Zwangsläufigkeit). Ihre Andersartigkeit gegenüber ‚tatsächlichen‘,199 beispielsweise experimentell messbaren Kausalverhältnissen rührt im Falle erzählter Kausalität daher, dass die wahrgenommene, vermeintlich zwingende Kausalbeziehung zwischen den Ereignissen nicht den Ereignissen selbst oder ihrer Abfolge ‚entspringt‘, sondern eine Hervorbringung, ein Effekt narrativer Texte ist. (Beispielsweise erscheint im geschlossenen Zusammenhang einer Erzählung die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen als eine vermeintlich stringente Kette von Ursache und Wirkung.)200

198 Handlungen meint: absichtsvolle und zielgerichtete Aktionen. 199 Meint: nach unabhängig von Ort und Beobachter wirksamen Prinzipien. 200 Angewandt auf die Historiographie, weist HAYDEN WHITE diesbezüglich auf jeweilige Plotstrukturen hin, die erzählten Ereignissen vom Erzähler ‚verliehen‘ werden, um aus ‚bloßen Chroniken‘, aus einer Menge von überlieferten Elementen, eine erzählbare Geschichte zu machen. Zur ‚Geschichte gemacht‘ würden diese Elemente durch Auslassung/Marginalisierung, durch Akzentuierung oder durch Hierarchisierung bestimmter

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Zurück zu den Ebenen der Narration: Die Geschichte organisiert die Geschehensmomente bzw. tendenziell eher unübersichtlichen Erzähleinheiten, indem sie die Handlungen, Sachverhalte und Zustände so (an-)ordnet, dass ein Zusammenhang zwischen Anfangspunkt und Endpunkt der Geschichte erkennbar wird: Die Geschichte hat eine auf der Zeitachse abbildbare Differenz zwischen Zustand a und Zustand b plausibel zu erklären. Geordnet wird nicht nur nach chronologischen Erwägungen; auch – und vor allem – nehmen bestimmende Leitgedanken, Konzepte, eine thematische Fundierung des Erzähltextes vor. (So können sich Geschichten beispielsweise in einem Rahmen konzeptueller Opposition entfalten.) Als Instanzen zur Herstellung eines Zusammenhangs der Geschichte bereiten Konzepte die semantische Organisation einer Erzählung vor, indem sie einen Bedeutungshorizont bereitstellen, innerhalb dessen sich ein Geschehenszusammenhang in besonderer Sinnhaftigkeit entfalten kann Sind Konzepte nicht in expliziter Weise ‚greifbar‘, kann es hilfreich sein, sich den handelnden Figuren und ihrem Handlungstypus zuzuwenden. Fragen lässt sich dann und dort beispielsweise nach der Konstellation von Figuren und Situationen (In welcher Situation werden Protagonisten und Antagonisten eingeführt? Sind bestimmte Figuren an bestimmte Handlungsorte gebunden und darüber mit Bedeutung ausgestattet?). Zugleich ist nach einer möglichen Konfliktstruktur samt davon ausgelöstem Handlungsverlauf zu fragen: Gibt es einen handlungsauslösenden Konflikt? (Wie wird er aufgebaut, entfaltet, gelöst?) Die narrative Ordnung der Geschichte schließlich wird in die sprachliche Ordnung des ‚fertigen‘ Textes (Text der Geschichte) übersetzt durch den Erzähldiskurs: der Erzähldiskurs nimmt eine Perspektivierung der Geschichte durch eine erzählende Instanz vor, organisiert die erzählte Zeit und richtet den Erzähltext auf einen Rezipienten aus.

Ereignisse unter andere. WHITE zufolge etwa ist kein historisches Ereignis ‚an sich‘ tragisch, sondern ‚nur‘ aus einer bestimmten Perspektive, im Kontext einer (artifiziell) strukturierten Folge von Ereignissen. „Als potentielle Elemente einer Geschichte betrachtet, sind historische Elemente wertneutral.“ WHITE (1994), S. 128f.

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Am Text der Geschichte schließlich, dem einzigen für den Leser unmittelbar zugänglichen Element im narrativen Gefüge einer Erzählung, lassen sich beispielsweise die Erzählsituation (Wer erzählt? Wie stehen Erzähler und Figuren zueinander? Wie wird das Erzählte präsentiert?) oder die Organisation von Zeit herausarbeiten. Kommen wir vom grundsätzlichen Aufbau einer Narration und deren Untersuchungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer strukturellen und funktionalen Beschaffenheit nun zu denjenigen Texten, an denen die dargestellten Prämissen Anwendung finden sollen: personenbezogene Akten von Zöglingen der Fürsorgeerziehung. Dazu ist es angebracht, in knapper Form Aufschluss zu geben zum Zustandekommen des Untersuchungsensembles, zur Auswahl der schlussendlich analysierten Akten aus dem gesamten gesichteten Materialkorpus.

Auswahl der Akten Eigentlich hätte unsere Untersuchung eine gänzlich andere werden sollen; Konzept, Methode, selbst der Titel der Studie standen fest. Die ursprüngliche Untersuchungsabsicht dieser langen, ersten Etappe bestand darin, die ‚institutionellen Gründe und Ursachen‘ des Zustandekommens und der Verlaufsrichtung von ‚Fürsorgekarrieren‘,201 diese

201 Fürsorgekarriere als institutionelle Karriere, unter Bezugnahme auf die Untersuchung ‚abweichenden Verhaltens‘ am Beispiel der psychiatrischen Anstalt von ERVING GOFFMAN. Vgl. GOFFMAN (1973). Das „Karriere“-Konzept GOFFMANS schien mir geeignet, um den Verlauf institutioneller – und damit gesellschaftlich stellvertretender – Etikettierungsprozesse unerwünschten Verhaltens auf seine ‚Zwangsläufigkeit‘ hin zu untersuchen. Wie die Insassen der von GOFFMAN untersuchten psychiatrischen Anstalt, befanden sich auch die von FE-Behörden und in Erziehungseinrichtungen ‚erfassten‘ Kinder und Jugendlichen in einer „totalen Institution“, inmitten permanenter Zuschreibungs- und Definitionsprozesse. Anders jedoch als GOFFMAN sollte die eigene Untersuchung keinen Beitrag zum Studium des Selbst unter institutionellen Bedingungen leisten, der „moralischen Karriere“ der Stigmaträger; vielmehr sollten die

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‚befördernde‘ oder ‚hemmende‘ Bedingungen auf der sogenannten ‚Entscheidungsebene‘ der Fürsorgeerziehungsbehörden herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck sollten die Akten möglichst aller an der Verwaltung und Bearbeitung von Fürsorgefällen beteiligten Behörden daraufhin untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Intentionen und Motiven die verschiedenen beteiligten ‚Fallbearbeiter‘ Einfluss auf den Karriereverlauf des Zöglings nahmen, ob institutionelle und/oder individuelle ‚Entscheidungsspielräume‘ (‚Handlungsspielräume‘) bei der Bearbeitung eines auffälligen Kindes oder Jugendlichen bestanden. Zur allmählichen Einsicht in die ‚Möglichkeitsgläubigkeit‘ meines Untersuchungsansatzes, sowie die selbst herbeigeführte Verengung von Analysekonzept und (damit) ‚Forscherblick‘ infolge rigider eigener und theoretischer Vorannahmen, trat die chronische Unzufriedenheit angesichts Zahl und Güte der gesuchten und gesichteten Quellen, woraus schließlich eine notwendige Überarbeitung der Forschungsfrage – und letztendlich die Neuanlage der gesamten Untersuchung folgten.202

Gründe und Ursachen auf Seiten der mit dem ‚Fall‘ befassten Einrichtungen und ihrer Mitarbeiter herausgearbeitet werden. 202 Über den gesamten Zeitraum der Untersuchung erfolgte die Quellensuche in den Archiven des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt (LHA-SA), diverser Stadtarchive sowie den ehemaligen Erziehungseinrichtungen des Landes. Während etwa das „Heinrichshaus Großpaschleben“ und das „Erziehungsheim Gut Lüben“ bei Burg sich einer Zusammenarbeit verschlossen, zeigten sich die Mitarbeiter des ehemaligen „Mädchenerziehungsheim St. Johannis“ in Bernburg sowie – ab August 2006 von Anfang an – des „Lukashauses“ der „Neinstedter Anstalten“ sehr kooperativ. Trotz intensiver Materialsichtung in allen Archiven und Einrichtungen ließen sich (mit Ausnahme der Funde im „Lukashauses“ in Neinstedt im August 2006) keine kompletten Zöglingsakten ausfindig machen; nichtsdestotrotz erfolgte die Aufnahme und Ausarbeitung von – für die historische Kontextualisierung der Fürsorgeerziehung im Freistaat Anhalt –relevanten Materials: die Akten sprechen ebenso von versuchter Einflussnahme von NSV und HJ auf Jugendamts- und Jugendgerichtsverfahren wie von (letztlich) erfolgreicher Verweigerungshaltung seitens der Erziehungsverbände gegenüber (ausschließlich partei-)politischer Instrumentalisierung

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Nach 24 Monaten (weiterer, nunmehr jedoch) neuausgerichteter Suche, schließlich: erfolgreiche Materialfunde samt Zugang zum und Nutzungserlaubnis desselben in einem Kellerraum des „Lukashauses“ der „Neinstedter Anstalten“, es erfolgten mehrere Sichtungen der Akten und, parallel dazu, eine Feinjustierung der aktualisierten Untersuchungskonzeption, Fragestellung und Analysemethode(n). War die Materialsuche bislang weitgehend unter der Prämisse erfolgt, durch die überlieferten Quellen (hindurch) Zugang zu erhalten zu den historischen Abläufen (Anordnung von Fürsorgeerziehung, Zöglingsunterbringung in Erziehungseinrichtungen, Verlauf der Erziehungsmaßnahme) samt zugrundeliegenden (institutionellen wie individuellen) Motivlagen und Handlungsgründen, konnte nun, im Angesicht der in unerhofft großer Zahl zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen (Gutachten, Überweisungen, Zeugnisse, Berichte, Protokolle) der Fürsorgeerziehung(-sbehörden) aus den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, der nicht nur modifizierte, sondern letztlich neu herauspräparierte Untersuchungsansatz erprobt werden, also der Frage nach dem Zustandekommen des spezifischen Wissens vom Zögling hinsichtlich der Materialität und Verfasstheit dieses Wissens sowie der Verbindung von ‚Material‘ und dessen ‚Objekt‘, von Akte und Zögling, zuvörderst Aufmerksamkeit zu schenken. Der diesbezügliche Quellenkorpus im „Lukashaus“ der „Neinstedter Anstalten“ verfügt über einen Umfang von ca. 2000 Akten,203 welche sich durchweg in einem stark verschmutzen Zustand befinden, und bis auf Markierungen mit dem Anfangsbuchstabens des Familien-

ihrer Heime, enthalten Sterilisations- und „Verlegungs“- Listen minderjähriger Zöglinge, künden vom Bemühen eines Heimleiters um Erhöhung von Mittelzuweisungen, von der Forderung eines anderen Heimleiters nach einer deutlichen Imageverbesserung der Erziehungsheime, von Anzeigen zur Unfruchtbarmachung und deren Begründungen, vom Aspekt der Arbeitskraft ‚Zögling‘ usw. Die Ergebnisse der – insgesamt 7313 Blatt bearbeiteten Aktenmaterials – dienen (gemeinsam mit einschlägiger Forschungsliteratur) der Kontextualisierung wie Kontrastierung der ‚Schwerpunktquellen‘ der Arbeit, der Aktendokumente der „Neinstedter Anstalten“. 203 Die 105 bearbeiteten Akteneinheiten enthielten durchschnittlich 30-50 Blatt; legt man dieses Verhältnis für den übrigen Bestand zugrunde, ist von einem Aktenkorpus von 80.000 Blatt auszugehen.

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namens der in den Akten geführten Person auf dem Aktendeckel keinerlei Systematisierung oder Kategorisierung aufweisen. Es handelt sich bei den vorgefundenen Dokumenten um Unterbringungs-Akten von Personen, die zwischen 1926 und 1944 als Zöglinge oder als Pfleglinge204 in den Einrichtungen der „Neinstedter Anstalten“ untergebracht worden waren. Für unsere Studie sind ausschließlich die Akten der Fürsorgezöglinge von Interesse; bei ihnen handelt es sich, der Konzeption der Neinstedter Erziehungseinrichtung „Knaben- Rettungs- und Brüderhaus“ nach, durchweg um männliche Zöglinge. Von den aufgefundenen Zöglings- und Pfleglingsakten wurden insgesamt 105 Einheiten gesichtet, von denen sich 65 aufgrund des enthaltenen Materials, dessen Dichte und Zugänglichkeit, als relevant hinsichtlich der Forschungsfrage erwiesen, d.h., das Gros der enthaltenen Dokumente befand sich nicht nur in einem nutzbaren Erhaltungszustand, sondern enthielt auch Texte, die z.T. an den verschiedenen Orten der Zöglingsbiographie entstanden waren, und Befunde vom, sowie Auskünfte über den Zögling mitteilten. Nach erfolgter Transkription wurden unter den für relevant befundenen Akten nach verschiedenen Kriterien diejenigen Akten ausgewählt, an welchen schließlich die Textanalyse praktiziert werden sollte.

204 Als Pfleglinge wurden Personen, gleich welchen Alters und Geschlechts bezeichnet, die wegen „geistiger Behinderung oder Anfallserkrankungen“ in einer Einrichtung wie der „Elisabethstiftung“ in Neinstedt untergebracht wurden. Zöglinge wurden diejenigen minderjährigen Personen, gleich welchen Geschlechts, genannt, die infolge vormundschaftsrichterlicher Anordnung von Fürsorgeerziehung in einer Erziehungseinrichtung wie dem „Lindenhof“ in Neinstedt untergebracht wurden. „Im KnabenRettungs- und Brüderhaus wurden Fürsorgezöglinge betreut [...], 1935 lebten in der Lindenhofstiftung um die 180 Zöglinge, während in den Gebäuden der Elisabethstiftung [...] zu Beginn der Euthanasiemaßnahmen etwa 700 geistig behinderte Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts lebten.“ Unveröffentlichte Abschrift eines Referats mit dem Titel: Die Auswirkungen der Euthanasiemaßnahmen der NS-Zeit in den Neinstedter Anstalten, gehalten 1989 vom damaligen Vorsteher der „Neinstedter Anstalten“, Pfarrer ROLF LÖFFLER auf der Konferenz „Euthanasie im Dritten Reich“ in Lobetal. Vgl. auch Hoffmann (Hg.) (2001), S. 68.

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Zu den formalen Kriterien zählte an erster Stelle die Dokumentation möglichst der gesamten Unterbringungsdauer in Fürsorgeerziehung mit einer möglichst hohen Materialdichte. (Nicht selten fanden sich halbleere Akteneinheiten, da infolge einer Weiterverlegung des Zöglings zwar der Aktendeckel samt Personalangaben vor Ort verblieben, die Dokumentation des „Vorgangs Fürsorgeerziehung“ aber in die aufnehmende Einrichtung mitgegeben worden war.) Neben möglichst wenigen ‚Lücken‘ zwischen den einzelnen Dokumenten der Akte mussten deren Texte auch rein formal tatsächlich nutzbar sein, d.h. bezüglich ihrer stofflichen Materialität mussten die Dokumente einer Akte voneinander zu trennen, lesbar und zu transkribieren sein. Ein weiteres maßgebliches Kriterium bei der Auswahl zu analysierender Akten stellte darüber hinaus die Vorfindbarkeit einer Vielzahl verschiedener Textsorten in einer Akteneinheit dar, d.h. neben den bei der Textanalyse verstärkt berücksichtigten Texten (Berichte, Protokolle und Gutachten) sollten sich möglichst noch weitere Textsorten (interne wie externe Anfragen, Notizen, interne Mitteilungen, Briefe, Vorschriften, Verträge etc.) auffinden und verwenden lassen, um das Zusammenwirken der verschiedenen Texte (und Textsorten) bei der Zöglingskonstituierung untersuchen zu können. Zu den inhaltlichen Kriterien bei der Aktenauswahl zählte die Abbildung des ‚Erziehungsverlaufs‘, d.h. des Unterbringungsverlaufs mitsamt seiner Richtungsnahmen und Erziehungsorte in den Zöglingsakten. Wie ‚vorhersehbar‘, wie linear verlief den Aufzeichnungen zufolge eine Erziehungsmaßnahme? Tauchen ‚Erklärungen‘ und ‚Gründe‘ für ‚Hemmungen‘, ‚Störungen‘, Kontingenzen in den Darstellungen auf? Inwieweit markierten Verlegungen eine Änderung der Verlaufsrichtung in der Zöglingsbiographie? Vor allem bezüglich dieser Fragestellungen sollten die ausgewählten Akten möglichst viel ‚Material‘ besitzen, Dokumente aus verschiedenen Einrichtungen sowie an möglichst verschiedene Adressaten enthalten. Dieses Kriterienensemble in Anschlag gebracht, führte in einem weiteren Schritt zur Verringerung des Auswahlvolumens auf weniger als 10 Akteneinheiten; unter diesen kamen nun Aspekte der Kontrastierung und Vergleichbarkeit zur Anwendung, dergestalt, dass die abgebildeten Zöglingsbiographien in konkreten Punkten (Zeitraum der Unterbringung; Unterbringung in unterschiedlichen Einrichtungen, deren letzte die „Neinstedter Anstalten“ sein mussten; Verlauf der Unter-

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bringung hin zu einer Entlassung aus der Fürsorgeerziehung vor Erreichen der Volljährigkeit) miteinander vergleichbar sein sollten, sowie sich in den Aktenaufzeichnungen der jeweiligen Erziehungsmaßnahmen singuläre Merkmale (z.B. Aufzeichnungen zur ‚Uneinsichtigkeit‘ seitens der Eltern gegenüber der angeordneten Maßnahme und deren Versuche, Einfluss zu nehmen auf die Unterbringung ihres Kindes; ‚Entstehung‘ von ‚Informationen‘ zum „Charakter“ der Herkunftsfamilie eines Zöglings; Argumentationsweisen zum ‚Beleg‘ ‚persönlicher Defizite‘ beim Zögling) vorfinden lassen sollten, welche mit dem Ablauf der jeweiligen Fürsorgeerziehung möglicherweise in Zusammenhang zu bringen wären. Diese Merkmale ließen sich an den drei schlussendlich zur Untersuchung ausgewählten Akten ausmachen, woraufhin die Akteneinheiten von Zögling A., D. und H. (Umfang von 809 Blatt), unter Anwendung der dargestellten Methodik, auf das Zustandekommen und ‚Konsistenzerhalten‘ des Objekts Zögling anhand des Verlauf der jeweiligen Zöglingsbiographie hin untersucht wurden. Nachdem nun die Auswahl der zu untersuchenden Akteneinheiten abgeschlossen war, begann die Analyse der Dokumente und ihrer Texte; dazu war die Klärung der Vorgehensweise und einiger Vorannahmen nötig – bevor diese kurz umrissen werden, finden sich zuvor an dieser Stelle einige Bemerkungen zu den verschieden Textsorten, die wir in der Akte vorfinden (vgl. formale Auswahlkriterien der zu Untersuchenden Akten).

Textsorten Jede Akte enthält verschiedene Dokumente; diese Dokumente sollen auf einer formalen Ebene, entsprechend ihren Texten, unterschieden werden, und zwar nach Textsorten. Textsorten sind ein Mittel zur Einteilung von Texten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie an immer wiederkehrende Kommunikationshandlungen gebunden sind, also bestimmten Textkonventionen unterliegen. Nach HEINEMANN/VIEHWEGER205 können Textsorten als „globale sprachliche Muster zur Bewältigung von spezifischen kom-

205 HEINEMANN/VIEHWEGER (1991).

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munikativen Aufgaben in bestimmten Situationen umschrieben werden“.206

Für unsere Untersuchung von primärer Bedeutung ist die Textsorte des Berichtes und/oder des Protokolls. Mit der Bezeichnung Texttyp werden Klassen von Textsorten bezeichnet, die sich bestimmte Merkmale teilen. Grundsätzlich werden hier drei Texttypen unterschieden, außerdem gibt es einen Mischtyp. Es gibt den darstellenden oder informativen, den expressiven und den appellierenden Typ. Die Klassifizierung von Textsorten erfolgt nach ihrer Textfunktion; darunter verstehen wir im Rahmen der Untersuchung (als Basiskriterium) die Kommunikationsabsicht des Verfassers, die an den Rezipienten gerichtete Instruktion, wie der Text zu verstehen sei.207 Ihrer Funktion nach können Texte unterschieden werden in: a. deskriptive Texte, b. narrative Texte, und c. argumentative Texte, wobei in vielen Texten Vermengungen von deskriptiven, narrativen und argumentativen Funktionen zu finden sind.208 Darüber hinaus werden unter dem Aspekt des Bezugs zur außersprachlichen Realität und unter Referenzaspekten fiktionale von nichtfiktionalen Texten unterschieden, Gebrauchtexte (pragmatische Texte)

206 HEINEMANN/VIEHWEGER (1991), S. 170. Trotz vieldeutiger Verwendung des Muster-Begriffs lässt nach HEINEMANN/VIEHWEGER sich ein ‚gemeinsames Fundament‘ zu dessen Verständnis feststellen: demnach ist ein ‚Muster‘ oder ‚Schema‘ „[...] eine Wissensstruktur über die sequentielle Realisierung von Texten und Gesprächen, die Sprecher in ihrer sprachlichen Tätigkeit zur Realisierung bestimmter Interaktions- und Handlungsziele erworben haben. Schemata und Muster sind in der gesellschaftlichen Praxis erprobte Wege zur Zielrealisierung, die mit Handlungskontexten in einem systematischen Zusammenhang stehen.“ HEINEMANN/VIEHWEGER (1991), S. 194. 207 Vgl. SCHOENKE (2009). 208 Vgl. BEAUGRANDE/DRESSLER (1981), S. 190f.

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von literarischen/poetischen Texten, wobei die Gleichsetzung literarischer Texte mit fiktionalen Texten keineswegs unproblematisch ist: Behauptet (und im Verlauf der Untersuchung nachgewiesen und dargestellt) wird, dass die ‚Berichte‘ in den Akten deutlich mehr an Erzählungs-Merkmalen aufweisen, als für diese Textsorte (und ihre Funktion) ‚zulässig‘ ist. Wenn also die Verfasstheit und Beschaffenheit der nominellen Textsorte ‚Bericht‘ in den Akten tatsächlich strukturelle Merkmale erzählerischer Narrative aufweist, dann gilt zu überprüfen ob – und wenn, inwieweit – ‚Form‘ und ‚Inhalt‘ Hand in Hand gingen. Doch nun (endlich) zur Vorgehensweise bei der Aktenanalyse.

Vorgehen bei der Untersuchung der Akten Wir könnten uns der Akte eines Zöglings solchermaßen nähern, dass wir sie lesen als eine Geschichte, deren Narrationsachse die Differenz zwischen ihrem Anfangs- und Endpunkt markiert.209 Gestützt würde dieses Vorgehen durch eine chronologische (An-)Ordnung der Dokumente. Die gebräuchlichste Differenz ist vermutlich zeitlicher Natur, d.h. die Narrationsachse verläuft parallel zur erzählten Zeit, und Anfang und Ende der Darstellung sind voneinander verschieden, zumindest hinsichtlich des Datums, welches der Kalender nennt. Weitere, über die bloß zeitlichen hinausgehenden Differenzen, etwa am Zögling(-sverhalten) beobachtbare Unterschiede, sollen in der Untersuchung nicht zum Kriterium eines Fall-Narrativs erhoben werden; zum Ertragsreichtum einer solchen Analyse-/ Sichtweise bräuchte es einen einzigen Erzähler, der den gesamten Fall-Verlauf durchgängig beschreibt. Die (Verfasser-)Situation ist im Fall unserer ausgewählten

209 Die Geschichte/Erzählung organisiert die Geschehensmomente bzw. tendenziell eher unübersichtlichen Erzähleinheiten, indem sie die Handlungen, Sachverhalte und Zustände so (an)ordnet, dass ein Zusammenhang zwischen Anfangspunkt und Endpunkt der Geschichte erkennbar wird: Die Geschichte/Erzählung hat eine auf der Zeitachse abbildbare Differenz zwischen Zustand A und Zustand B plausibel zu erklären.

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Akteneinheiten, in denen sich jeweils von unterschiedlichen Personen verfasste Texte finden, eine andere.210 Gleichwohl soll das Fehlen eines einzelnen, einzigen Erzählers (in Form einer Person) uns nicht davon abhalten, uns der jeweiligen, gesamten Darstellung der ‚Unterbringung in Fürsorgeerziehung‘ (= der gesamten Akte) als einer durchgehenden Erzählung anzunähern; zum Zweck der Überprüfung der aufgestellten Thesen bezüglich des Zusammenhangs von ‚Material‘ und ‚Objekt‘, soll die gesamte Akte eines Zöglings als eine durchgehende (eine nicht geplante, dennoch fortgeschriebene), aus mehreren ‚Episoden‘ zusammengesetzte Erzählung betrachtet und untersucht werden. Darüber hinaus – und in Ergänzung zueinander – werden in der Untersuchung auch einzelne ‚Unterbringungsabschnitte‘ als in sich abgeschlossene Erzählungen gelesen, beispielsweise ein Unterbringungsbeschluss, ein Entwicklungsbericht, ein Abschlussbericht. Formal gehören diese Abschnittsdarstellungen zur Textsorte ,Berichte‘.

Die Ordnung (in) der Akte Die ‚Ordnung‘ (Arrangement der Dokumente einer Akteneinheit), in welcher der Untersuchende die Akte vorfindet, ist eine unter vielen; es handelt sich weder um die erste noch um die letzte in der Geschichte eines Aktenkorpus. Zuvörderst hängt die Anordnung der Dokumente zusammen mit der Verwendung, mit der Funktion, dem Zweck der Akte.211 Die Akte entstand mit Einsetzen eines Verwaltungsvorgangs und dient(e) in erster Linie basalen Zwecken: dem Aufbewahren und Ordnen von Dokumenten. Wenngleich sich bei weitem nicht jedes der Dokumente, die (wiederum) zur Anfertigung weiterer Dokumente ge-

210 Sie erinnert eher an ‚Variationen mit/zum Thema‘ und Stille-Post-Spiel als an ein ‚klassisches Autoren-Kollektiv‘. 211 Zum Zweck der Akte vgl. Kap. 2.2, Die Zöglingsakte als selbsterfüllende Prophezeiung Der Versuch einer Darstellung des Ablaufs: der Modellierung, Entstehung und Veränderung des Aktenkorpus̕ zählt nicht zu den primären Anliegen dieser Untersuchung; darüber hinaus sind innerhalb der Untersuchung diesbezügliche Aussagen von nur spekulativem Gehalt möglich.

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nutzt wurden, noch in der Akte finden lassen, sollen die vorhandenen Dokumente auf ihre Beziehung zueinander untersucht und überprüft werden. Dazu muss eine neue Ordnung hergestellt werden gegenüber derjenigen, in der die Akte vorgefunden wurde. Es gliche vermutlich einer Illusion, anzunehmen, das Lesen der Akte in aktuellem Zustand/in der derzeitigen Ordnung brächte eine Chronologie der beschriebenen Ereignisse, in welcher sie sich zutrugen, ans Licht – zum Zweck der Untersuchung wird das Material dennoch linear-chronologisch (d.h. der Chronologie der Erstellung der Dokumente folgend) geordnet, womit die Wahl auf das vertrauteste (und wohl meistverwendete) Ordnungsmuster fällt, welches mit geringstmöglicher theoretischer Vorannahme das Material zur Analyse vorbereitet, vorstrukturiert.212 Chronologisch ordnen heißt im vorliegenden Fall: Entbindung der Aktendokumente von der Ordnung, in der sie vorgefunden wurden (nämlich der Ordnung, in welche die letzte Einrichtung sie brachte = die Ordnung, welche die letzte Einrichtung in die Akten einschrieb); stattdessen erfolgt die Neuordnung in einer veränderten Reihenfolge gemäß konventionellen, d.h. linearen chronologischen Vereinbarungen.213

212 „Gewöhnlich folgt die Geschichtsschreibung der Zeit, ihr Grundmuster ist die Chronik, die zeitliche Sequenz der Ereignisse.“ SCHLÖGEL (2003), S. 9. Diese Dominanz des Zeitlichen, so SCHLÖGEL weiter, habe sich in der geschichtlichen Erzählung wie im philosophischen Denken beinahe eine Art Gewohnheitsrecht erworben, welches stillschweigend akzeptiert und nicht weiter hinterfragt werde. Doch beileibe nicht nur dort, möchten wir hinzufügen; in jedermanns „Weltzugang“ bildet Zeitlichkeit ein ‚Wahrnehmung vor-strukturierendes Grundmuster‘, realitätsstiftend und nicht sichtbar, it works in progress, reflektierbar erst nach Abschluss des Vorgangs. Zeitlichkeit als Denk- und Wahrnehmungskategorie findet Verwendung (oder verwendet sich) als Indiz für Realitäts-Kongruenz zwischen Ereignis und -Rezeption. 213 Aus diesem Vorgehen ist jedoch nicht unmittelbar zu schließen, dass die linear-chronologische Anordnung von Ereignisdarstellungen allein schon für erkenntnisfördernd gehalten wird; dies ist ebenso wenig der Fall hinsichtlich arbiträrer (Neu-)Ordnungen der (Vorgänge beschreibenden und Objekte hervorbringenden) Dokumente entlang einer stellvertretenden

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Nach dem Herbeiführen einer anschlussfähigen Ordnung unter den Dokumenten der Akte schließt die Frage danach sich an, welche Dokumente analysiert werden sollen, d.h., nicht nur gelesen, benannt und evt. beschrieben, sondern textanalytisch beforscht. Die Antwort lautet: Diejenigen, die maßgeblich Auskunft geben darüber, wie bisheriges Geschehen, aktueller Stand und künftige Maßnamen miteinander verbunden sind, in welcher Beziehung, in welchem Zusammenhang sie miteinander – und zueinander – stehen. In den Blick genommen werden Dokumente, die sich den folgenden Textsorten zuordnen lassen: Berichte, Gutachten/Empfehlungen, Zeugnisse, Einschätzungen/Beurteilungen. Den Texten dieser Textsorten gemein ist ihre kommunikative Funktion: zu berichten, d.h., ‚Tatsächliches‘ (Vorgänge, Zustände, Abläufe) darzustellen, sachlich und zusammenhängend. Unterscheiden lassen sich die zu untersuchenden Texte der Akten bezüglich ihres primären Verwendungszwecks (Kommunikationszweck) nach: A.

einrichtungsinterner/FE-„Behörden“-Kommunikation (FE-Behörde, Amtsgericht, Erziehungsheim, Jugendamt) Textdokumente: Unterbringungsbeschluss, Beobachtungsbogen, Entwicklungsbericht, Binnen-Mitteilung, z.B. Aktennotiz)

und B. externer Kommunikation (Stadtschule, Stadtarzt, Eltern, Polizei, Arbeitgeber, Ortsgruppenleitung) Textdokumente: ärztliche Gutachten, Schulzeugnis, schulische/ ärztliche Empfehlungen, Urlaubsgesuche. Textsorten unterliegen immer bestimmten Sprach- und Textkonventionen. Die ‚offizielle‘ Kommunikationsabsicht eines Verfassers: der Zweck seines Schreibens, schlägt sich nieder in der Art der konkreten

Ordnung – als würde ein Umgruppieren, Neuaufstellen von Schatten die dazugehörigen Objekte „bewegen“. Für die Untersuchung der Textdokumente erforderlich ist lediglich eine Ordnung, welche Teil eines übertragbaren Sinn- und Verstehenszusammenhangs ist und auf möglichst alle zu untersuchenden Akten übertragen werden kann.

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Umsetzung seines Anliegens. „Einfache Sätze mit denotativer Wortwahl und enger thematischer Bindung realisieren die Funktion der Darstellung.“214 Weitere Kommunikationsabsichten treten weniger offen zutage; sie lassen sich ‚verschleiert‘ übermitteln, unterbringen, einschleusen, indem sie sich an den ‚tatsächlichen‘ Teil einer Mitteilung heften, in der Hoffnung, gleichermaßen ernst genommen zu werden. Unser Augenmerk also liegt auf denjenigen Texten der Akte, die aufgrund ihrer (nominal proklamierten) kommunikativen Funktionsabsicht (– in der sich ihr Bezug zum darzustellenden Gegenstand realisiert) zur deskriptiven, darstellenden Textsorte gezählt werden können. Der Bericht über einen Vorgang, etwa über Verhalten und Entwicklung des Zöglings während seines bisherigen Aufenthalts im Erziehungsheim X, ist verfasst und gerichtet an einen Empfänger, Leser, in unserem Beispiel etwa einen Mitarbeiter der Fürsorgeerziehungsbehörde, und hat die Erwartungen, Bedingungen, die stillschweigend an ein Dokument dieser Textsorte gestellt werden, möglichst restlos zu erfüllen. Worin nun besteht die Bringschuld des Berichts? Er muss zuallererst informieren, Nachricht geben vom ‚Tatsächlichen‘, vom Faktischen. Der Modus, die Art und Weise, in welcher der Bericht „Wissensräume auffüllt, deren Steuerungsmittelpunkte Objekte oder Situationen sind“,215 hat den Gegenstand möglichst unverfälscht darzustellen und eindeutig zwischen ihm und dem Empfänger zu vermitteln. Doch damit nicht genug der Anforderungen an einen Text, welcher Bericht geben will: Die berichteten Ereignisse, Geschehnisse sind dem Zeitpunkt der Verfertigung des Berichts vorgängig, d.h., dieser retrospektiert bereits ereignetes Geschehen, stellt einen Zugang zu diesem her. Nicht mithilfe eines Wurmlochs, womit er uns in der Zeit zurückversetzt und zu Augenzeugen des tatsächlichen, unmittelbaren Geschehnisses macht, sondern mittels seiner Schilderung organisiert der Berichttext eine Folge von Geschehensmomenten zu verständlichen (benenn- und damit darstellbaren, möglichst sinnhaften) Ganzheiten, und stellt sie als Erzähleinheiten dar. Er vermittelt damit nicht nur zwischen uns (Leser) und einem Geschehen, sondern auch zwischen des-

214 KLAUSNITZER (2004), S. 57. 215 Vgl. BEAUGRANDE/DRESSLER (1981), S. 190.

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sen einzelnen Momenten. Seine Darstellung verknüpft und verbindet dasjenige, was in der ‚Sphäre des realen Geschehens‘ sich unvermittelt, unverbunden/unverbindlich – unzusammenhängend – und sinndifferent ereignet, und schreibt durch dieses verknüpfende Arrangement Sinn hinein, schreibt ursächliche Bedeutung zu, erzeugt den Eindruck von Kausalbeziehung zwischen den dargestellten Einzel-Geschehen. Dieser Leistung nach ist ein Bericht also auch ein narrativer Text, der mittels seiner Sequentialität Kohärenz zu erzeugen vermag zwischen einzelnen Geschehenselementen und Zustandsveränderungen. Doch nicht nur „die zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge“ ist konstitutives Element von Narrativität, hinzu tritt die Medialität, d.h. „die Vermittlung in Konstruktion, Präsentation und Interpretation dieser Abfolge aus einer bestimmten Perspektive“.216 Wir erinnern uns: in vielen Texten finden sich Vermengungen von deskriptiven, narrativen und argumentativen Funktionen. Und fraglos erleichtert diese Melange es dem Rezipienten, sich ein ‚Bild zu machen‘, eine ‚Vorstellung zu bekommen‘; zu verstehen, weshalb. Die Gründe für die fehlende Alleinherrschaft der Deskription in Berichten liegen verschieden, sind aber eng verbunden mit der Funktion(-sabsicht) des Dokuments: Die Beschreibung des sichtbaren Verhaltens einer Person in verschiedenen Situationen kann etwa dazu dienen, auf die Vielzahl an interessanten Betätigungsmöglichkeiten hinzuweisen, die ein Reiseanbieter künftigen Urlaubern verspricht. Die Beschreibung des sichtbaren Verhaltens einer Person in verschiedenen Situationen kann ebenso dazu dienen, eine generalisierbare, über die situativen Bedingungen hinausweisende Aussage über die beschriebene Person zu treffen. In beiden Fällen vollzieht sich eine Suche nach situationsunabhängigen, überdauernden Elementen, um die an und für sich unzusammenhängenden, genuin sinndifferenten Geschehensmomente zueinander in Beziehung zu setzen, sie in einer sinnhaften Struktur anordnen zu können, aus welcher heraus sie, ,scheinbar von sich aus‘, eine Bedeutung besitzen.217

216 HÜHN/SCHÖNERT (2007), S. 2. 217 Ein Vorgang, der sich als ‚Bedeutungsevokation‘ bezeichnen ließe.

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Soweit, so gut; nur findet dieser (bedeutungsevokative) Sachverhalt weder Eingang in den Titel des Dokuments noch in die Begründungslogik oder in die Argumentationsdarstellung. Das mag im Falle eines Dokuments namens: Reiseprospekt, zu bedauern, dennoch verschmerzbar sein; im Unterbringungsbeschluss eines Kindes hat der fehlende Hinweis auf die narrative Leistung des Verfassers beträchtliche, weitreichende (d.h. über den Moment hinausreichende) Folgen. (Wobei die narrativen Leistungen des Verfassers nicht verkannt werden sollen, im Gegenteil: je ‚besser‘ diese sind, desto überzeugender (i.S. von glaubhafter) und stimmiger ist sein Bericht.) Eine in Fürsorgeerziehung unterzubringende minderjährige Person etwa wird darüber ‚charakterisiert‘, dass ihr Verhalten in verschiedenen Situationen auf Gemeinsamkeiten hin erzählend verglichen wird, um damit ein situationsunabhängiges Moment ‚herauszustellen‘ (tatsächlich: zu generieren), welches ursächlich verantwortlich ist für das geschilderte (und beklagte) Verhalten. Ein Anfangsverhalten (A) noch vor Beginn der FE ‚muss‘ derart ‚gewesen‘ sein, dass es ‚notwendigerweise‘ zur Anordnung der FE ‚führte‘; es ‚kann‘ sich also nur um asoziales und/oder verwahrlostes Verhalten ‚gehandelt‘ haben, woraus wiederum auf den Zustand (B) des Betreffenden zu schließen ist. Steht dieser einmal fest als Eigenschaft (C) des nunmehr Zöglings, bricht sich daran fortan jeder Blick auf ihn: Verhalten (A)  asoziales/verwahrlostes Verhalten  Verwahrlosung (B)  Unterbringung in FE  minderwertiges Verhalten  Charakterfehler, z.B. Minderwertigkeit (C) Erbkrankheit  Notwendigkeit von Sterilisation. Ob der ‚Bericht‘ in den Darstellungen zur Unterbringung tatsächlich zu diesen Hybrid-Texten gezählt werden muss, soll überprüft werden anhand der Analyse der Unterbringungsbeschlüsse, Beobachtungsbögen und Entwicklungsberichte in den ausgewählten Zöglingsakten der Fürsorgeerziehung. Die Texte, die (zusammengefasst zu einer ‚großen Erzählung‘ oder als einzelne Dokumente) eine solche Leistung vollbrachten, werden untersucht und daraufhin befragt, wie (d.h. unter Zuhilfenahme welcher semantischer und narrativer Mittel und Methode(n) eine solche Realitäts- und Bedeutungshervorbringung a) erfolgte, und im weiteren Verlauf b) aufrechterhalten (bzw. aufrechtzuerhalten versucht) wurde.

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Entsprechend werden die Texte solcher Dokumente folgendermaßen untersucht: – Aufbau und Struktur des Textes; – Analyse und Verwendung der lexikalischen Mittel218 (hinsichtlich Bedeutungshervorbringung und -zuweisung, v.a. Verben); – Analyse der Geschehensebenen;219 – Ermittlung von Erzählmodus, Erzählhaltung sowie – Isolierung der Geschehensmomente. Es sei wiederholt und nachdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht das geschilderte Geschehen rekonstruiert werden soll; vielmehr wird der Versuch unternommen, der Rhetorik der Wissensproduktion nachzugehen für den konkreten Fall der Zöglingskonstituierung in ‚seiner‘ Akte, der Entfaltung der sprachlich-narrativen Ordnungslogik in ihrer sprachlichen Verfasstheit.

218 Welche Wörter werden in welchen Texten wie verwendet? Vgl. RIECKE/FEUCHERT, S. 10. 219 Geschehensebenen meint die Ebenen des Textes der Geschichte, deren primärer Organisationsmodus der chronologische ist. „Als Ordnungsform ist ‚Geschehen‘ allein durch den zeitlichen Zusammenhang (die chronologische Ordnung) bestimmt [...]“. HÜHN/SCHÖNERT (2007), S. 10. Trotz ähnlicher Bezeichnung nicht zu verwechseln sind (1) ‚textuale‘ Geschehensebenen mit (2) sinndifferenten Geschehensmomenten: Letztere meinen noch immer diffuse (vor-sprachliche) Zustandsänderungen, die ‚von sich aus‘ weder über Sinn noch Bedeutung noch Struktur verfügen, während Erstere Abläufe, Vorgänge (organisierte Zustandsänderungen) innerhalb des Textes bezeichnen, die auf verschiedenen Zeitebenen sich vollziehen.

Kapitel 3: Ortstermin – Erziehung im Schatten von Wissenschaft und Ideologie

3.1 Z UM „S OZIALEN R ASSISMUS “

IM

NS

Vorbemerkung Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fristeten ernsthafte Auseinandersetzungen mit grundlegenden Konzepten und Weltbildern innerhalb des, oder besser: hinter dem Nationalsozialismus, die dennoch nicht als genuin nationalsozialistisch gelten, eher Schattendasein. Zu diesen ‚Konzepten‘ zählen sozialrassistische Grundannahmen noch deutlicher als etwa das rassenhygienische Menschenbild, wenngleich die Schnittpunkte beider ‚Konzepte‘ in ihrer Quantität eher vielmehr das Ausmaß von Schnittflächen besitzen. 220

220 Die unmittelbar vom „Sozialen Rassismus“ des Nationalsozialismus Betroffenen, erlebten in der Nachkriegszeit einen ähnlich beschämenden Mangel an öffentlichem Interesse – und ebenso seitens „zuständiger“, nachkriegsdeutscher Behörden. Beispielsweise getrauten sich Überlebende der ,Nazi-Medizin‘ erst deutlich mehr als 40 Jahre nach offizieller Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft im Mai 1945, in Detmold einen Verein der „‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“ zu gründen (Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V.). Vgl. KLEE (1993), S. 170, u.a., bspw. ravensbrückblätter, 29. Jahrgang Nr. 11 Juni 2003. Hg.: Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. (http://www.lichtblick99.de/aufsatz11.html).

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„Sozialer Rassismus“ meint die Ausgrenzung und Vernichtung von Menschen, die aufgrund bestimmter „diagnostizierter“ Merkmale, etwa „Anlage“ oder Verhaltensweisen, zu „minderwerten“ Personen erklärt werden. Im Nationalsozialismus wurden diese Menschen zu Gruppen zusammengefasst, deren „Minderwertigkeit“ sich aus einem Zustand oder einer Eigenschaft des Betreffenden ableitete, die (ob tatsächlich vorhanden oder nicht,) derart zu ,ihrem‘ Stigma wurde: „Rasse-/Erbunreinheit“, Alter, „Behinderung“, Sexualität oder „Unerziehbarkeit“. Solchem Vorgehen liegt ein zutiefst positivistischer Wissenschaftsansatz zugrunde, nach welchem sich relevante Eigenschaften menschlicher Organismen nicht nur anhand von zuvor definierten Merkmalen eindeutig feststellen, sondern auch dahingehend beurteilen

Der Deutsche Bundestag erklärte sich erst im Jahr 1988 bereit, das nationalsozialistische Sterilisierungsgesetz als „eindeutige Äußerung nationalsozialistischer Rassenpolitik“ moralisch zu ächten. WISNIEWSKI, ROSWITHA: Wiedergutmachung Nationalsozialistischen Unrechts in der 11. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, Bonn 1991, in: KLEE (1993), S. 171. Außer Kraft gesetzt wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bis heute nicht – es gelangt nicht mehr zur Anwendung. Lediglich die Urteile der Erbgesundheitsgerichte (Anordnungen der Sterilisationen) wurden 1998 durch das NS-Aufhebungsgesetz für ungültig erklärt. Gleichwohl wurden die „medizinischen Opfer“ des Nationalsozialismus nicht als Verfolgte durch das NS-Regime eingestuft, woraus folgte, dass die durch das Sterilisationsgesetz Geschädigten nach den Bundesentschädigungsgesetzen (BEG) keinen Anspruch auf Entschädigung hatten. Als entschädigungs-anspruchsberechtigt galten im Rechtssinn nur solche „Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“, die wegen ihrer gegen den Nationalsozialismus gerichteten politischen Überzeugung, wegen ihrer „Rasse“, ihres Glaubens oder ihrer Weltanschauung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen Schäden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in ihrem beruflichen oder wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hatten (§ 1 Abs. 1 BEG). Zum juristischen Umgang mit dem Erbgesundheitsgesetz auch: SCHEULEN, ANDREAS: Zur Rechtslage und Rechtsentwicklung des Erbgesundheitsgesetzes 1934. Dokument vom 03.02.2005. http://www.licht blick 99.de/ ticker978_05.html, u.a.

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lassen, ob es sich bei ihnen um veränderliche oder unveränderliche Eigenschaften handelt. Dieses, beispielweise in der konventionellen, sog. „Schulmedizin“ noch heute erfolgreich praktizierte Vorgehen, enthält an sich noch keine moralischen Prädikate, gleichwohl normalistische Implikationen, arbeitet die westliche Medizin gemäß ihres naturwissenschaftlichen Paradigmas doch mit normierenden Prämissen und standardisierten Konzepten.221 Was nun haben die Kriterien zur Wissensbildung und die praktische Anwendung derart erzielter Erkenntnisse der modernen Medizin des 21. Jahrhunderts zu tun (oder gar gemein) mit nationalsozialistischer Rassenhygiene und Sozialrassismus? Nicht zuletzt den unerschütterlichen, durchaus ,mythisch‘ zu nennenden Glauben der Wissenschaft an „richtige“, an ,tatsächliche‘ Erkenntnis.

„Rassen-Lehre“ Unter den verschiedenen Quellen, welche das Weltbild des „Dritten Reichs“ speisten, lassen sich drei Ströme ausmachen, die bereits im 19. Jahrhunderts zu fließen begonnen hatten: Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus. Diese Bestandteile der NS-Ideologie waren durchaus auch in anderen (vorwiegend europäischen) Ländern virulent, stellten insofern kein ausschließlich deutsches Phänomen dar. Die deutsche Besonderheit bestand in der Verdichtung und Anwendung der keineswegs neuen, bis dato jedoch überwiegend theoretischen Entwürfe, Konzepte und Konstrukte innerhalb nur weniger Jahre. Inmitten des Konglomerats, aus welchem das NS-Menschenbild zusammengesetzt ist, lässt sich ein

221 Zur Rolle des Normalen und des Normativen bei der Wissensbildung in modernen Gesellschaften u.a. bei LINK (1997), der sich mittels „Dispositiv-Konzept“ der für den Normalismus konstitutiven Produktivität von Kulturtechniken, Apparaten und Darstellungsverfahren annähert und die „seit vielen Jahrzehnten anwachsende und anhaltende Wirkung vernetzter Normalitäts-Dispositive auf die Kultur und insbesondere auf die allgemeine, alltägliche Sprache“ hervorhebt. LINK (1997), S. 187.

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theoretischer Fluchtpunkt von integrativer Wirkkraft benennen: die Theorie von der Existenz menschlicher Rassen.222 Der Hauptgegenstand dieser „Rassentheorie“ umfasst die Lehre von der ewigen Existenz und Unveränderlichkeit verschiedenster, ungleichwertiger Rassen, wobei die Schöpfungskrone zu tragen ausschließlich den Häuptern der sogenannten arischen Rasse vorbehalten sei.223 Ein besonderes Merkmal von Rassen bestehe darin, dass sie Element und Impetus aller menschheitsgeschichtlichen Ereignisse vereinigten, von der Staatenbildung bis zur Kulturschöpfung. Diese Hö-

222 In seiner (empfehlenswerten) „Untersuchung zur Verzahnung von positivistischer Wissenschaft und Ideologie in der sozialwissenschaftlichen Theorie“ überprüft MARCO SCHÜTZ deren Wirkweise gewissermaßen auf der ‚Okklusionsebene‘ des Rasse-Begriffs. Er untersucht hierzu die Schriften von LUDWIG GUMPLOWICZ, GUSTAVE LE BON, GEORGES VACHER DES LAPOUGE und LUDWIG WOLTMANN, vier europäischen Autoren, die „ungefähr im Zeitraum von 1880 bis 1910 jeweils eine sozialwissenschaftliche Theorie entworfen [haben], in der der Begriff der Rasse eine zentrale Rolle spielt“, hebt aber hervor, dass „jeder der vier Autoren [...] diesen Begriff anders“ definiert habe. SCHÜTZ (1994),

S. 13.

Nicht nur anhand der Untersuchung SCHÜTZES wird deutlich, wie inhomogen die theoretischen und terminologischen Voraussetzungen rassentheoretischer Entwürfe waren; die praktischen Umsetzungen und Anwendungen aus solchen Annahmen entstandener Konzepte waren nicht weniger ‚denkstilgeschuldet’, ließen etwa an Anknüpfbarkeit untereinander oder v.a. anderen Erklärungsmodellen zur menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber deutlich zu wünschen übrig. Zur ‚positivistischen Anthropologie‘ etwa SCHÜTZ (1994), S. 34ff. 223 Zur Zeit der Opium- und Kolonialkämpfe äußerte sich das Überlegenheitsgefühl der „deutschen Rasse“ beispielhaft in den Worten des Theologen PAUL ROHRBACH: „Über die Hottentotten geht das Urteil meist dahin, daß sie wirtschaftlich im weitesten Sinne unbrauchbar sind und insofern kein Interesse an der Erhaltung der Rasse besteht.“ zit. n. HOSS, C. et al. (1988): 100 Jahre deutscher Rassismus. Kölnische Gesellschaft für Christl.-jüdische Zusammenarbeit. In: PFEIFFER (Hg.) (1992), S. 213f.

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herwertigkeit, ihre alleinige Kulturfähigkeit, unterscheide die arische Rasse dann auch, und vor allem, von allen übrigen. Die Unterscheidbarkeit der Rassen nach biologisch-physiologischen Merkmalen, zählt ebenso zur „Rassentheorie“ wie die Bedrohungsszenarien einer „Rassenvermischung“. Düstere Prophezeiungen vom drohenden Niedergang der wesenhaft überlegenen arischen Rasse, infolge nivellierender Blutsvermischung, kennzeichnen die einschlägigen kulturpessimistischen Schriften von GOBINEAU224 über CHAMBERLAIN225 bis zu HITLER. „Die Blutsvermischung und die dadurch bedingte Senkung des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens aller Kulturen, denn die Menschen gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem reinen Blute zu eigen ist.“226

Zwar hatte eine Übertragung von naturwissenschaftlichen und naturgeschichtlichen Gedanken und Kenntnissen auf Politik und Gesellschaftstheorien bereits im Europa des 18. Jahrhunderts stattgefunden, freilich ohne die Popularität zu erlangen, mit deren Hilfe sie spätestens im Nationalsozialismus ihre politische Wirkmacht entfalten konnte. Bereits 1868 hatte der deutsche Zoologieprofessor ERNST HAECKEL den „Kampf ums Dasein“ in seiner Ausdeutung der Selektionstheorie CHARLES DARWINS227 auf die Völkergeschichte übertragen;

224 GRAF VON GOBINEAU, JOSEPH ARTHUR (1898/1901): Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Leipzig. 225 CHAMBERLAIN, HOUSTON STEWART (1899): Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. München. 226 HITLER, ADOLF (1938): Mein Kampf., München, S. 324, in: HUBERT (2001), S. 53. 227 DARWIN, CHARLES (1859): On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. London. Erste deutsche Übersetzung von HEINRICH GEORG BRONN unter dem Titel „Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampf ums Daseyn“, Stuttgart 1860. DARWIN orientierte sich bei der Ausarbeitung seiner Selektionstheorie stark an der Überbevölkerungsthese des englischen Nationalökonomen THOMAS ROBERT MALTHUS, wonach die Mitglieder einer jeden

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der „natürlichen Auslese“ bei DARWIN hatte HAECKEL in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte228 eine ‚künstliche Auslese‘ hinzugefügt, wobei er auf gängige Überlieferungen zum Umgang der Spartaner mit schwächlichen Kindern verwies.229 Folgt man ERNST KLEE, maß HAECKEL auch der Todesstrafe eine besondere Bedeutung bei, erfülle sie doch die Funktion der ‚künstlichen Auslese‘ und unterbinde zweifelsfrei und dauerhaft eine Weitergabe der verbrecherischen Anlagen.230

Population dazu tendieren, sich ungeachtet der Begrenztheit der ihnen zur Verfügung stehenden Nahrungsmitteln zu vermehren. Vgl. SCHÜTZ (1994), S. 31. Die vermeintliche Analogiebildung zwischen der „Entstehung neuer Arten“ und der „Berechtigtheit des einen Lebens gegenüber einem anderen“, wie etwa von HAECKEL betrieben, lässt vollkommen außer Acht, dass DARWIN von natürlichen, d.h. ‚zufälligen‘ Variationen ausging, und damit die biologische Evolution von jedweder Teleologie befreite. 228 ERNST HAECKEL (1868): Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft. Berlin. 229 „Ein ausgezeichnetes Beispiel von künstlicher Züchtung der Menschen in großem Maßstabe liefern die alten Spartaner, bei denen auf Grund eines besonderen Gesetzes schon die neugeborenen Kinder einer sorgfältigen Musterung und Auslese unterworfen werden mussten. Alle schwächlichen, kränklichen oder mit irgendeinem körperlichen Gebrechen behafteten Kinder wurden getötet. Nur die vollkommen gesunden und kräftigen Kinder durften am Leben bleiben, und sie allein gelangten später zur Fortpflanzung.“ ERNST HAECKEL (1902): Natürliche Schöpfungsgeschichte. 10., verb. Aufl., Berlin, S. 153, zit. n. TRUS (1995), S. 30. 230 Vgl. KLEE (1994), S. 16. Die Annahme von der „Ausmerzbarkeit“ des „Verbrecherischen“ durch die Verhinderung einer Fortpflanzung von ‚Verbrechern‘ (durch Sterilisation, Fortpflanzungsverbot oder Todesstrafe) besaß seit jeher den funktionalen Reiz des Konkreten.

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Früher „Sozialdarwinismus“ Mit diesen Ideen stand HAECKEL gleichsam Pate für die frühe Phase des „Sozialdarwinismus’“, dessen entscheidenden Gedanken, nämlich den einer Übertragung des survival of the fittest-Ansatzes von der Natur auf den sozialen Bereich, bereits einige Jahre zuvor der englische Sozialphilosoph HERBERT SPENCER formuliert hatte.231 Hierbei wird die menschliche Gesellschaft zum einen als Organismus verstanden, in dem gerade der Konkurrenzkampf der Individuen für immerwährenden zivilisatorisch-sittlichen Fortschritt bürgt, und damit das Vertrauen auf die natürliche Harmonie und die automatische Aufwärtsbewegung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses gewährleistet. Zum anderen gehört die Forderung nach „natürlicher Züchtung“ zu den frühesten Äußerungen, in denen sozialrassistische Maßnahmen aus eugenischen Gründen mittels „sozialdarwinistischer“ Argumente befürwortet wurden.232 Entgegen ihres vermeintlichen Ursprungs, geht die „sozialdarwinistische“ Rassenhygiene vom antidarwinistischen und von DARWIN selbst missbilligten Konzept einer „Hemmung der Auslese” aus, davon nämlich, dass die „natürliche Auslese“ nicht mehr gelte. Folgerichtig beriefen die Rassenhygieniker bzw. Eugeniker, anstatt auf DARWIN, sich auf die Revisionisten FRANCIS GALTON (prägte 1883 den Terminus „Eugenik“), WILHELM SCHALLMAYER und ALFRED PLOETZ.233 Die Vertreter dieser Lehre konstatierten bei Männern und Frauen eines Teils der Gesellschaft Formen von „Entartung“ („Degenera-

231 SPENCER, HERBERT (1851): Social Statics. London. 232 Vgl. BLEKER/JACHERTZ (Hg.) (1993), S. 37. 233 „Rassenhygiene, so der deutsche Name der Eugenik, bedeutete im Endeffekt nichts anderes als eine züchterische Kontrolle der menschlichen Fortpflanzung. [...] Durchaus in darwinistischem Sinne wurde eine ‚Rasse‘ von Galton und ebenso von den ersten deutschen Eugenikern Wilhelm Schallmayer (1857-1919) und Alfred Ploetz (1860-1940) als eine Abstammungs- und Fortpflanzungsgemeinschaft begriffen. Es ist aber wahrscheinlich auf eine unterschwellige lamarckistische Beeinflussung zurückzuführen, wenn bei ihnen die Worte Rasse und Volk sich in ihrer Bedeutung annäherten. Jedenfalls verfielen sie nicht darauf, innerhalb eines Volkes verschiedene Rassen zu unterscheiden.“ SCHÜTZ (1994), S. 34.

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tion“), verursacht durch eben dieselbe Anpassung an die Umwelt („Selektion“), die der ,Motor‘ historischen Wandels sei. Jedoch schütze die moderne Gesellschaft durch Humanität (seit PLOETZ „Humanitätsduselei“), moderne Medizin und soziale Reformen die Armen, Kranken, Schwachen, Behinderten, kurz: die „minder Werten“, und entzöge sie damit dem vernichtenden Urteil nach dem Gesetz der „natürlichen Auslese“.234 Durch das menschliche Eingreifen in die Prozesse „natürlicher Auslese“ sei an deren Stelle eine „Gegenauslese“ getreten, welche die „minder Werten“ auf Kosten der „Wertvollen“ begünstige. Aus diesem Grund sah sich die rassenhygienische Bewegung in der Verantwortung, die ‚Natur‘ in ihre Rechte überhaupt erst einzusetzen, indem die Gesellschaft, welche die „natürliche Auslese“ in „Gegenauslese“ verkehrt habe, nunmehr die Funktion einer Gegen-„Gegenauslese“ übernehmen solle.235 Während im 19. Jahrhundert mit der Evidenz derselben auch die Bereitschaft zunahm, sich mit der sozialen Frage236 auseinander zu

234 „Das Gegenteil von der künstlichen Züchtung [...] der alten Spartaner bildet die individuelle Auslese, welche in unseren modernen Kulturstaaten durch die vervollkommnete Heilkunde der Neuzeit ausgeübt wird. Denn obwohl immer noch wenig imstande, innere Krankheiten wirklich zu heilen, besitzt und übt dieselbe doch mehr als früher die Kunst, schleichende, chronische Krankheiten auf lange Jahre hinauszuziehen.“ ERNST HAECKEL (1902): Natürliche Schöpfungsgeschichte. 10., verb. Aufl., Berlin, S. 154, zit. n. TRUS (1995), S. 30. 235 Vgl. STEPHAN, NANCY (1982): The Idea of Race in Science: Great Britain 1800-1960, Oxford, in: BOCK (1986), S. 29f. 236 Soziale Frage steht schlagwortartig für die im 19. Jhd. geprägte Bezeichnung für die Gesamtheit der ‚sozialen und sozialpolitischen Probleme‘, die aus dem Zusammenleben und Zusammenwirken der verschiedenen sozialen Schichten, Stände, Klassen und Berufsgruppen resultieren. Zu den zahlreichen, relativ früh eingeleiteten Maßnahmen zur „Lösung“ der sozialen Frage oder zumindest Bekämpfung der durch sie hervorgerufenen Probleme zählen ebenso Veränderungen der Arbeits- und Produktionsbedingungen (1839 Verbot von regelmäßiger Kinderarbeit unter 9 Jahren auf Hüttenwerken, ab 1848 beginnender Kampf um Achtstundentag, ab 1878 Fabrikinspektionen in Dtl.), sozialpolitische Maßnahmen (1883 Krankenversicherungsgesetz, 1884 Unfallversicherungsgesetz,

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setzen, war diese eng mit der Entwicklung neuer Produktionsverfahren und einem bis heute anhaltenden Fortschritts- und Machbarkeitsglauben verknüpft. Beweismächtig für die Glaubensstärke an die Möglichkeiten einer Einflussnahme zur Lösung der ‚sozialen Frage‘ sind die Vorstellungen von einer gesetzlichen Geburtenregelung, wenngleich diese wiederum nur einen Sonderfall weitreichender Überlegungen ausmachten, wie ALEXANDER TILLE sie 1895 formulierte: „Das Darwin’sche Gesetz des Kampfes ums Dasein findet auf die Menschheit die Anwendung, daß man soziale Bedingungen schafft, unter denen die von Geburt Begabteren und Tüchtigeren zu reichlicher Nahrung kommen, während jedermann umso weniger zu essen haben soll, je untüchtiger er ist, sodaß also die Untüchtigsten unfehlbar zu Grunde gehen und sich nicht fortpflanzen können.“237

Knapper lässt sich das Anliegen „positiver“ und „negativer Eugenik“ kaum in Worte fassen. Nur allzu rasch richtete sich die Kombination eines Denkens in Kategorien ökonomischer Nützlichkeit in Verbindung mit ‚wissen-

1889 Invaliditäts- u. Altersversicherungsgesetz, 1891 Arbeiterschutzgesetz, 1903 Kinderschutzgesetz, 1911 Angestelltenversicherung ect.) wie soziale und humanwissenschaftliche Institutionen und Praktiken. Die Frage nach der Wirksamkeit und der Leistungsfähigkeit des Sozialstaates verfügt nach Ende des 20. Jh. über eine ähnlich hohe Brisanz wie zu Beginn. Vgl. FUCHS/RAAB (2001), S. 755; weiterführend u.a. CASTEL (2000). 237 TILLE, ALEXANDER (1895): Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Leipzig, in: PFEIFFER (Hg.)(1992), S. 214. Von einigem Interesse wäre es, zu untersuchen, wie in der protestantischen Tradition das Verhältnis von ‚Tüchtigkeit und Versorgung‘ sich in vor-rassentheoretischer/vor-rassenhygienischer Zeit geäußert und entwickelt hat, wie Recht auf Leben und Recht auf Unterstützung ineinander zu gehen begannen, wie aus dem neutestamentlichen (2. Brief des Paulus an die Thessalonicher) „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ ein: „Wer nicht arbeiten kann, soll auch nicht essen“ deutscher Eugeniker sich herausbildete.

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schaftlich begründbaren‘238 Bestrebungen zur Erhaltung eines ,guten‘ nationalen Erbgutes gegen die Schwachen im eigenen Land. Im gleichen Jahr wie TILLE, forderte ADOLF JOST in seiner Studie Das Recht auf den Tod239 die „Freigabe“ ‚Unheilbarer‘ zur „Tötung auf eigenes Verlangen“ – sowie die „Freigabe“ der Tötung unheilbarer Geisteskranker. Zur Begründung führte JOST, neben juristischen und medizinischen Gründen, in erster Linie ökonomische Erwägungen an. Auf gefühls- und volksökonomische Aspekte verkürzt, lauteten die gegeneinander abzuwägenden Argumente bei der Frage nach einer „Freigabe“ zur Tötung utilitaristisch althergebracht: einem Minimum an ökonomischem Nutzen stehe ein Maximum an Qualen und Kosten gegenüber.240

238 Zum Verhältnis zwischen aufgeklärter, ‚gänzlich rationaler‘ Wissenschaft als Garant für Naturbeherrschung, (ein Prozess, der als solcher nicht der Hinterfragung, sondern der Vollendung harrt) auf der einen Seite, und ihrem letztlich ‚mythischen Kern‘ (nicht als „Rest“, sondern ‚Wesen‘) auf der anderen Seite, wie folgt in der Dialektik der Aufklärung: „Je mehr die Denkmaschinerie das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte. Denn die Mythologie hatte in ihren Gestalten die Essenz des Bestehenden: Kreislauf, Schicksal, Herrschaft der Welt als die Wahrheit zurückgespiegelt und der Hoffnung entsagt. In der Prägnanz des mythischen Bildes wie in der Klarheit der wissenschaftlichen Formel wird die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt und das bloße Dasein als Sinn ausgesprochen, den es versperrt. [...] Die Einmaligkeit des mythischen Vorgangs, die den faktischen legitimieren soll, ist Trug.“ HORKHEIMER/ADORNO (1993), S. 33. Bis heute freilich bedienen auf ihrer gralsgleichen Suche nach ewigem Sinn im Sein und überdauernder Bedeutung der Zeitläufte selbsternannte „Freigeister“ wie PETER SLOTERDIJK sich dennoch immer (und immer wieder) gern und medienwirksam des zu allen Zeiten beliebten Griffs in die Weltgeschichtstrommel. Vgl. u.a. SLOTERDIJK, Zorn und Zeit (2006). Doch so sehr auch SLOTERDIJK als KASSANDRA sich geriert, bleibt sein Vorgehen kaum weniger unoriginell als etwa dasjenige des deutschen Kunstmalers NEO RAUCH, der ebenso emsig wie der Professor aus Karlsruhe an bedeutungsschweren Bilder zur Zeit (sich) schafft. 239 JOST, ADOLF (1895): Das Recht auf den Tod. Sociale Studie. Göttingen. 240 Vgl. BURKHARDT (1981), S. 25. u. KLEE (1994), S. 17.

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Diesen Denkkategorien sowie dem Gedanken vom unbedingten Erhalt der eigenen Rasse verhaftet, äußerte der Arzt ALFRED PLOETZ im Jahr 1895 sehr konkrete Vorstellungen, um die angestrebten Ziele auf straf-befreitem Wege zu erreichen. Er verknüpfte Forderungen nach „negativer“ wie „positiver Eugenik“ zur Utopie eines „idealen Rassenprozesses“,241 wobei die Ausführungen des Mediziners PLOETZ in ihrer Konkretheit das uneinholbar-utopische Moment derjenigen des Rassenhygienikers PLOETZ zu suspendieren scheinen: „Verfolgen wir ein junges Ehepaar, dem die Fortpflanzung aufgrund ihrer Qualitäten, [...], erlaubt war, in seinen weiteren Schicksalen. Die Lebensführung der Gatten ist beherrscht von der Rücksicht auf die Erzeugung guter Kinder, sie suchen nach gesunder Wohnung, zuträglicher Nahrung, vermeiden die Einfuhr von allerlei Giften, wie Alkohol und Tabak, bewegen sich viel in frischer Luft und leben überhaupt ihrem [sic!] Elternberuf schon lange vor der Zeugung. Diese selbst wird nicht irgend einem Zufall, einer angeheiterten Stunde überlassen, sondern geregelt nach den Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen aufgestellt hat. [...] Nach Beginn der Schwangerschaft wird die junge Mutter als eine höchst wichtige Persönlichkeit betrachtet, man gewährt ihr alle möglichen Mittel für ihr eigenes und das Gedeihen ihrer Leibesfrucht, sowie für den ungestörten Ablauf der normalen Geburt. Stellt es sich trotzdem heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder mißgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Aerzte-Collegium, das über den Bürgerbrief der Gesellschaft entscheidet, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dosis Morphium. Die Eltern, erzogen in strenger Achtung vor dem Wohl der Rasse, überlassen sich nicht lange rebellischen Gefühlen, sondern versuchen frisch und fröhlich ein zweites Mal, wenn ihnen dies nach ihrem Zeugnis über Fortpflanzungsbefähigung erlaubt ist. Dieses Ausmerzen der Neugeborenen würde bei Zwillingen so gut wie immer und principiell bei allen Kindern vollzogen werden, die nach der 6. Geburt oder nach dem 45. Jahr der Mutter bezw. dem 50. Jahr des Vaters überhaupt noch – entgegen einem gesetzlichen Verbot – geboren werden.“242

Die Möglichkeit praktischer Anwendung einer ‚naturwissenschaftlich gedachten‘ (– und von daher „technischen“) Rationalität zur Lösung akuter gesellschaftlicher Probleme entsprang und entsprach einer brei-

241 Vgl. TRUS (1995), S. 27. 242 PLOETZ (1895), S. 144f.

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ten zeitgenössischen Wahrnehmung um die Jahrhundertwende.ŘŚř Eine ‚Lösung‘ der „Zukunftsfrage der Rasse“ erschien ebenso drängend wie möglich; für PLOETZ war es von größtem Interesse, Deutschland zur „Reinheit der Rasse“ zurückzuführen. Es galt, das „Rassewohl“ herzustellen, und zwar durch „Erzeugung“ möglichst vieler Nachkommen, von welchen der „schlechtere Teil“ einer scharfen „Ausjäte“ unterworfen würde, sowie im weiteren durch den (fortwährenden) „Kampf ums Dasein“ und durch Verhinderung der Kontraselektion – das heißt: keine Kriege und Revolutionen, aber auch kein Schutz der Kranken und Schwachen.244 So lehnte PLOETZ Kranken- und Arbeitslosenversicherung als schädliche Aufhebung des „Kampfes ums Dasein“ ab, da dieses Instrument als „Auslesefaktor“ in aller Schärfe erhalten bleiben müsse; Armenpflege dürfe nur minimal betrieben und nur auf solche Leute beschränkt sein, die keinen Einfluss mehr auf die „Brutpflege“ hätten. „In Wirklichkeit ist allerdings die Armuth eine Ausjäte-Erscheinung, die Schwächsten fallen ihr am ehesten zum Opfer. Allerdings dies ist doch nicht immer der Fall [...], [j]edenfalls besitzen wir in dem oekonomischen Kampf um’s Dasein eine ausserordentlich wirksame Art der natürlichen Auslese.“245

Ähnlich skeptisch stand PLOETZ, der für die Anfangszeit der „Rassenhygiene“ die entscheidende Figur bleibt, der ärztlichen Hilfe an sich gegenüber; Vorbehalte wurden in besonderem Maße gegen Geburtshelfer und Kinderärzte geäußert.

243 Trotz dieses weitverbreiteten und wirkmächtigen „Glaubens“ an die weitreichenden praktischen Möglichkeiten auf Theorien aufbauender Erkenntnisse der naturwissenschaftlich basierten Wissenschaften, wurden dennoch nicht nur die ‚Grenzen der Machbarkeit‘, sondern auch die ‚Herkunft der Erkenntnis(se)‘ zunehmend stärker problematisiert. „[So] markierten die [...] [1900] erschienene „Traumdeutung“ von Siegmund Freud und die ebenfalls 1900 begründete Quantentheorie Max Plancks genau jenen Umschlagspunkt, an dem die Wissenschaft ihr bisher so selbstbewusst expandierendes rationalistisch-mechanistisches Theoriegebäude zweiflerisch, ja selbstzweiflerisch unterminierte.“ PEUKERT (1989), S. 63. 244 Vgl. PLOETZ (1895), S. 147. 245 A.a.O., S. 151.

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„Wenn die natürliche Auslese der Schwachen doch in Form von allerlei Kinderkrankheiten [...] in ihr Recht treten will, kommt der Arzt dazwischen und bereichert in vielen Fällen die Menschheit um eine schwache Constitution, die sich später oft nur selbst zur Last wird”.246

Sollten die Forderungen einer konsequenten „Rassenhygiene“ sich nicht wie vorgesehen realisieren lassen, sei freilich um die „Zukunft der Rasse“ zu bangen, erschienen doch „[…] die Beschränkung des Kampfes ums Dasein und das Anwachsen der Contraselektion [...] hauptsächlich als Gefolge des Siegeszuges, die der humanitäre Gleichberechtigungsgedanke durch unsere moderne Culturwelt angetreten hat”.247

Doch trotz Drohung mit (= Bedrohung durch) grassierende(r) Degeneration (als absehbare, gleichwohl unumgängliche Folge der rücksichtslosen Umsetzung von Aufklärungsidealen unter Anwendung von Praktiken und Erkenntnissen „des“ medizinischen ‚Fortschritts‘), stand die wissenschaftliche Beweisführung des „Sozialdarwinismus“ auf eher tönernen Füßen. Nicht ohne Grund verschränkten seine Vertreter in ihrer Argumentation vielfach Ideologie und Wissenschaft248; ohne kategoriale Trennung freilich, schien eine solche logisch oft gar nicht möglich – und nicht nötig.249 Und so passt es dann auch irritationsfrei in unsere Geschichte vom „Sozialrassismus“, dass an der Wende vom „langen 19. Jahrhundert“ zum 20. Jahrhundert,250 dem Zeitalter der Extreme,251 in Deutschland

246 A.a.O., S. 150. 247 A.a.O., S. 194 . 248 Vgl. etwa das beliebte Sujet der „Kulturkämpfe“, 100 Jahre später noch immer (oder wieder) beliebt, u.a. auch bei SLOTERDIJK, Die Verachtung der Massen (2000). 249 Insofern handelt es sich eher um epistemologisches als ein historisches „Problem“. 250 Der Begriff vom „langen 19. Jahrhundert“ knüpft an die in der Historiographie weitgehend etablierte Vorstellung einer ‚geschichtlichen Etappe‘ an, welche sich mit den Daten 1789 und 1914 umreißen lässt. Der Begriff des sich logisch anschließenden „kurzen 20.Jahrunderts“ dagegen scheint deutlich weniger unstrittig, wofür der politische/ideologische Hintergrund

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„geradezu symbolhaft und genau zum richtigen Zeitpunkt für [eine] praktische Verwertung“,252 die Vererbungsgesetze GREGOR MENDELS eine Wiederentdeckung feiern dürfen, sprich, für die Forschung nutzbar gemacht werden.253 Dominierten bis dahin in der scientific community (trotz DARWIN im Nomen „Sozialdarwinismus“) die Vorstellungen des französischen Naturforschers JEAN BAPTISTE LAMARCK254 von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften und Merkmale, ging man nun, sukzessive aber stetig, von einer in ihrem Wesen unveränderlichen, genotypischen Veranlagung aus. Angesichts der von eugenisch inspirierten Bevölkerungstheoretikern daraus abgeleiteten Forderungen nach ‚genetischer Auslese‘, hatten gesellschaftlich Unerwünschte im Fortgang des Jahrhunderts entsetzlich an den Folgen dieser ,Lehre‘, oder besser: an der Umsetzung derart begründeter Forderungen in die Tat zu leiden.

des Begriffsstifters ERIC HOBSBAWN nicht unwesentlich mitverantwortlich zeichnen mag. Vgl. u.a. WEHLER (2008), Vorwort. 251 HOBSBAWN (1995). 252 BOCK (1986), S. 37. 253 „Die Genetik ist eine Wissenschaft des 20. Jahrhunderts: Die von Mendel 1856 beobachteten statistischen Erbgesetze wurden erst 1900 für die Forschung nutzbar gemacht; die Mutationstheorie von Hugo de Vries datiert aus dem Jahr 1901. [...]“ SCHÜTZ (1994), S. 49, Anm. 24. 254 LAMARCK (1744-1829) hatte 1809 in seiner „Philosophie zoologique, ou, Exposition des considérations relative à l'histoire naturelle des animaux“ eine detaillierte Erläuterung derjenigen Faktoren und Mechanismen vorgelegt, welche, den Ergebnissen seiner Untersuchungen nach, die ‚natürliche Entwicklung der Organismen‘ bedingen. Danach könne man die Akkumulation erworbener Eigenschaften mit einer kontinuierlichen Vervollkommnung der Lebewesen gleichsetzen. „Während im idealtypischen Lamarckismus die ‚richtigen‘ Variationen aufgrund der Milieueinflüsse und Lebensgewohnheiten entstehen und dann durch die Vererbung bewahrt werden, geht der idealtypische Darwinismus von den Variationen als Gegebenheiten aus und läßt dann die Selektion im Kampf ums Dasein entscheiden, welche von ihnen sich durchsetzen und welche nicht. Dem lamarckistischen ‚Optimismus‘ steht, wenn man so will, ein darwinistischer ‚Fatalismus‘ gegenüber.“ SCHÜTZ (1994), S. 32.

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Die Verabschiedung des Gesetzes zur Unfruchtbarmachung „erbkranker“ Personen und dessen Anwendung vom Januar 1934 an, ist nur ein Beispiel für die normative Gebrauchbarkeit wissenschaftlicher SeinsErklärungen. Die vorausgegangenen Diskussionen um die Zielgruppe der ‚Maßnahme‘, um die Wortfassung des Textes, um Anwendungsbereiche und -kriterien reichen zurück bis in die 1920er Jahre.255 Das zugrundeliegende Bild vom Menschen und von der Wissenschaft sowie vom beiderseitigen Verhältnis reicht noch weiter zurück, von Deutschland über Frankreich und England bis nach Polen – und retour. Es schließt die ‚phrenologische Anthropologie‘256 ebenso ein wie die verschiedenen klassifikatorischen und genealogisierenden Rassentheorien des 19. Jahrhunderts – freilich ohne, dass eines dieser (geradezu prototypisch) positivistischen Konzepte derart unmittelbare Anwendung innerhalb der eigenen Bevölkerung fand, wie es unter nationalsozialistischer Ägide dann schließlich hunderttausendfach praktiziert wurde. Eine derart radikale, d.h. rücksichtslose Anwendung ‚erkennender Wissenschaft‘, wie schließlich im Nationalsozialismus praktiziert, wurde von den frühen Rassentheoretikern und Sozialdarwinisten gegebenenfalls nicht direkt vorweggenommen – sie ermöglichten es den seinerzeit Verantwortlichen dennoch, auf eine solche Weise zu denken. Im Rückblick auf den Zeitlauf scheint es illusorisch anzunehmen, dass das „Glaubensbekenntnis“ eines (medizin-)wissenschaftlichen Fortschritts – ohne ethische Brechung – mittlerweile an Wirksamkeit eingebüßt hätte.257 Ist die Unfruchtbarmachung „leicht Schwachsinniger“ oder die Ermordung „schwer Schwachsinniger“ im Deutschland der 1940er Jahre also auch zurückzuführen auf den Anspruch (und den Glauben) beispielsweise der Humanwissenschaften, künftig unbegrenzt ‚heilen‘, ‚bessern‘, ‚erziehen‘ zu können? Ist eine Vorstellung von, ein Entwurf, zu welchem hin: gestaltet, geformt, bewegt werden soll, nicht Voraus-

255 Vgl. etwa BENZENDÖRFER (2006), S. 20ff. 256 Vgl. SCHÜTZ (1994), S. 37ff. 257 Exemplarisch sei nur die notwendige Debatte um den Einsatz spezifischer Untersuchungsverfahren und Diagnostiken zur Früherkennung von „Anlage- oder Entwicklungsdefekten“ bei Ungeborenen genannt.

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setzung und Bestandteil jeder korrigierenden Maßnahme, gleich ob sie im medizinischen, pädagogischen oder politischen Kontext wurzelt? Mit der „Wiederentdeckung“ des „materiellen Ewigkeitssubstrats, des Erbcodes“258 um die Jahrhundertwende – inklusive seiner Bedeutung für das Menschenbild –, suchten (v.a. die Human-) Wissenschaften nach einem Ausweg aus einem Prozess, für dessen Dynamik sie, folgt man DETLEV PEUKERT, selbst verantwortlich zeichneten. Zwar war es gelungen, Krankheit, Alter und Tod aus dem Alltag des modernen Lebens herauszudrängen, jedoch um den Preis, dass diese zunehmende Alltags- und damit Lebensferne individueller Verfallsvorgänge wiederum die elementare Unsicherheit in ihrem Umgang erhöhte. Es galt, die Kluft zwischen Anspruch an und Versprechen durch Wissenschaft und ihren tatsächlichen Grenzen zu überwinden. PEUKERT zufolge, wurde diese Leistung weniger als Resultat forcierter Forschung erbracht, als vielmehr durch eine mythische Verdoppelung des Zielobjekts.

Wissenschaft und „soziale Frage“ Die entscheidenden Durchbrüche in der „westlichen“ Medizin, die Versprechen einer wissenschaftlichen Persönlichkeitsdiagnostik, Therapie und Erziehung – mit Hilfe von Psychologie und Pädagogik – wurden umrandet und ergänzt durch eine ‚Verstaatlichung‘ des Umgangs mit Sicherheitsrisiken. Hinzu kamen die beschriebenen Erklärungsangebote sowie schließlich die Durchsetzung des sozialhygienischen Paradigmas, das zunehmend weniger auf die gesellschaftlichen als auf die ‚biologischen Ursachen‘ von Krankheit und Devianz abzielte. In wenigen Jahrzehnten entstand so ein Ensemble von humanwissenschaftlichen Theorien und Methoden einerseits, und ein Netzwerk sozialer Institutionen und Praktiken anderseits, deren Einrichtung auch davon motiviert gewesen sein mag, die „soziale Frage“ zu ‚lösen‘. Dabei ließen die humanwissenschaftlichen Disziplinen und sozialen Institutionen und Professionen sich – berechtigterweise – von Anfang an dadurch irritieren, dass ihre Mittel endlich und ihre Erfolge

258 PEUKERT (1989), S. 110.

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begrenzt waren. Ein Großteil ihrer Entwicklungsgeschichte kreiste von daher um die beiden Pole eines umfassenden Geltungs- und Gestaltungsanspruchs auf der einen, und die bittere Erfahrung der Realität: eine ihre Einflussmöglichkeiten begrenzende Wirklichkeit, auf der anderen Seite.259 Ferner lastete der Erwartungsdruck, dem sich ,die Wissenschaft‘ seit ihrer „Wachablösung“ der Religion aussetzt, so schwer, dass sie, um ihm gerecht zu werden, nicht umhin konnte, sich nun ebenfalls sinnstiftender Mythen zu bedienen.260 Da die implizite Dialektik einer Allmacht suggerierenden Wissenschaft mit innerwissenschaftlicher Rationalität nicht auflösbar schien (zumindest „solange es der Wissenschaft nicht [gelang], den Tod abzuschaffen“261), trieb die Logodizee der Humanwissenschaften diese in die Irrationalität. Sie musste sich in der schrittweisen Eliminierung des Todes verrennen, die indes durch den Lebensgang jedes einzelnen Individuums immer neu falsifiziert wurde. Der naheliegende Ausweg schien in der Verdopplung des Objekts der Humanwissenschaften in den vergänglichen Einzelkörper und den potentiell ewigen Volkskörper zu bestehen. Nur an Letzterem, und besonders an dessen „materiellem Ewigkeitssubstrat, dem Erbcode“, bewährte sich der unvergängliche Triumph der Wissenschaft. Nur in der

259 PEUKERT (1989), S. 106f. 260 Um die Jahrhundertwende erschien auf der einen Seite das Vakuum, das der Rückzug kirchlicher Lebensprägung aus dem industrie-gesellschaftlichen Alltag hinterließ, so groß, und auf der anderen Seite der Triumph säkularisierter, wissenschaftlich-rationaler Weltbemächtigung so überwältigend, dass sich die „Wachablösung“ von der Religion zur Wissenschaft als Fundus für die sinnstiftenden Mythen des Alltags beinahe reibungslos vollziehen konnte. In Analogie zur Theodizee der Weltreligionen (Frage nach der Rechtfertigung eines als allmächtig und gerecht gedachten Gottes in der so offensichtlich von Leid und Ungerechtigkeiten beherrschten Welt), stellte sich den Wissenschaften die Frage der Logodizee: Wie rechtfertigt sich das rationale Ideal des größten Glücks der größten Zahl in diesseitiger Vollkommenheit vor der Tatsache, dass es in jedem Einzelfall durch Krankheit, Leid und Tod dementiert wird? Vgl. Peukert (1989), S. 109f. 261 PEUKERT (1989), S. 110.

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„Aufspaltung“ in Individuum und „Volkskörper“, in Einzelwesen und „Rasse“, ließ sich die Grenzerfahrung des Todes hinwegdisputieren. Insofern bot die Bewegung der Sozialdarwinisten – später die der Nationalsozialisten – wieder eine Sprache an, in der über den Tod verhandelt werden konnte. Indem er der Pflege und Verbesserung des ewigen Volkskörpers diente, gewann selbst der Tod eine „sinnvolle“ Komponente, und zwar in zwei Dimensionen: zum einen als „Heldentod“ und zum anderen als „Ausmerze“.262 Allerdings unterliegt der Versuch, durch Verdopplung des Objekts der Humanwissenschaft derselben zu „unvergänglichem Triumph“ zu verhelfen, in gleichem Maß der historischen Konjunktur wie auch der „Wert“ des Individuums an sich. In Zeiten gesellschaftlichen und humanwissenschaftlichen ‚Wachstums‘ und ‚Fortschreitens‘ äußert(e) Machbarkeitsglaube sich in nahezu grenzenlosem Fortschrittsoptimismus, welcher Hindernisse durch Aussicht auf baldige Überwindung relativiert(e).263 In Zeiten von Ent-

262 Vgl. PEUKERT (1989), S. 110f. 263 In den letzten Jahren erlebten die sog. Neurowissenschaften einen regelrechten Boom, entsprechend werden enorme Erwartungen an die Hirnforschung gestellt. Nicht nur wird im Gehirn etwa nach der biologischen Basis des Mitgefühls gesucht, sondern die Implikationen der Forschungsergebnisse auf unser aller Bild vom Menschen und die Grundsätze menschlichen Zusammenlebens entsprechend den Experimentresultaten neu bedacht. Vgl. diesbezüglich u.a. RIZZOLATTI/SINIGAGLIA (2009); GEYER (2007); ROTH/ GRÜN (Hg.) (2006); SINGER (2003). Elf führende deutsche Hirnforscher veröffentlichten im Herbst 2004 gemeinsam ein Manifest zur Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Neben der Prophezeiung, eine weite Verbreitung der Forschungsergebnisse werde das bisherige (dualistische) Menschenbild drastisch verändern, äußerten die Autoren die Erwartung direkter, konkreter Anwendbarkeit der bisherigen Resultate der Hirnforschung. Das erhoffte Einsatzspektrum soll von der Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen (Alzheimer, Morbus Parkinson), psychischer Krankheiten (Schizophrenie, Depressionen) bis hin zur dauerhaften Modifikation bestimmter „auffälliger“ Verhaltensdispositionen reichen. Vgl. Gehirn und Geist. Ausgabe 06/2004.

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wicklungshemmungen und Krisen jedoch schlug er (noch immer) um, stieß er doch allerorten auf unüberwindbare Grenzen. „Gegen die Utopie der positiven Formung des Volkskörpers wird dessen Ideal nunmehr negativ profiliert. An die Stelle des Versprechens auf Zuwendung und Förderung für jeden einzelnen tritt nun die Bestimmung, Ausgrenzung und Beseitigung des unnormalen und kranken Individuums.”264

Anspruch und Anerkennung Es kommt zur Prüfung derer, die nach Zuwendungen, nach Leistungen, nach Unterstützung verlangen, denn einen bedingungslosen Anspruch sieht ein solcher Gesellschaftsentwurf nicht vor. Geprüft wird nicht nur auf Vorliegen formaler Anspruchsvoraussetzungen, sondern zuallererst die grundsätzliche Geeignetheit des Betreffenden. Weist er diejenigen Merkmale und Eigenschaften auf, die es perspektivisch zu mehren, zu heben, zu fördern gilt? Im Anschluss an die Prüfung kommt es zur Sonderung der Gesichteten; der ‚Befund‘, also die Begründung einer solchen Einteilung, gibt nun die Richtung vor für den Umgang mit dem Betreffenden: ob als Patient, als Schüler, als Zögling oder als Pflegling – nur bei aussichtsreicher Prognose wurden die aufzuwendenden Mittel, wurde eine derartige Ressourcenhandhabung ihres Einsatzes für wert befunden.

3.2 Z IELE UND M ÖGLICHKEITEN DER F ÜRSORGEERZIEHUNG Ähnlich wie die „soziale Frage“ – und mit dieser ursächlich als auch in ihren Auswirkungen eng verknüpft – hatte die Frage nach einem ‚adäquaten Umgang‘ mit der (als eigenständige Lebensphase ‚eben erst entdeckten‘) Jugend, insbesondere aber dem als verwahrlost geltenden Teil derselben, bereits vor der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend öffentliches Interesse geweckt. Eine sich bildende Fachöffentlichkeit, bestehend aus Lehrern, Juristen, Heimerziehern u.a., organisierte sich

264 PEUKERT (1989), S. 111.

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in zahlreichen Vereinen und setzte sich in Publikationen und Fachzeitschriften verstärkt mit „dem verwahrlosten Jugendlichen“ auseinander. Dieser weise, so die (verschiedene Definitionen und Kriterien verbindende,) verbindliche Gemeinsamkeit, entweder Formen objektiver Verwahrlosung (infolge fehlender elterlicher Fürsorge) oder subjektiver Verwahrlosung (als unsittliche oder verbrecherische Anlage im Kind selbst) auf. Auf diese Weise wurde hinsichtlich der Ursachen jugendlichen (Fehl-)Verhaltens recht früh eine Unterscheidung in „Milieueinfluss“ und „Erbanlage“ vorgenommen. Die Implikationen solcher Trennung, bezüglich einer Aussonderung der vermeintlich erblich belasteten Jugendlichen, wurden zu diesem Zeitpunkt nicht diskutiert. Vor allem sollte durch sozialpädagogische Maßnahmen die als Gefahr (für den Minderjährigen und die Gesellschaft) begriffene „Kontrolllücke“ bei verhaltensauffälligen Jugendlichen rasch geschlossen werden.265 Als „zuchtlos“ und „verwildert“ geltende „Halbstarke“ sollten mittels Fürsorgeerziehung ebenso zu „religiös-sittlichen Menschen [...] und zu brauchbaren Arbeitern“266 erzogen und ausgebildet werden wie „sittlicher Verderbtheit“ ausgesetzte Mädchen und Frauen, um, ein Jeder an seinem Platz, „anstatt eine Plage der Gesellschaft, nützliche Mitglieder derselben [zu] werden.“267

265 Das Fehlen direkter elterlicher oder behördlicher Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten bei denjenigen jugendlichen Lehrlingen und Arbeitern, die bei (anderen als ihren Herkunfts-) Familien und Lehrmeistern als Schlafgänger lebten, wurde als gefährlicher Freiraum angesehen, der „zuchtloses“ und „unsittliches“ Verhalten begünstige. 266 Aus den Ausführungsbestimmungen des Ministers des Innern vom 18. Dezember 1900, Abschnitt V. Vgl: SCHMITZ/LUDWIG: Die Fürsorgeerziehung Minderjähriger. Düsseldorf 1901, S. 194, in: BLUM-GEENEN/ KAMINSKY (1995), S. 4. 267 SCHMITZ, LUDWIG (1901), S.33, in: BLUM-GEENEN/KAMINSKY, (1995), S. 5.

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Anspruch und Wirklichkeit Doch weder die neue Begriffswahl (Fürsorgeerziehung anstelle von Zwangserziehung), noch die in Umsetzung von Reformvorschlägen erfolgte rechtliche Neuregelung,268 vermochten das öffentliche Ansehen der Fürsorgeerziehung zu heben. Hatte der neuen Fürsorgeerziehungspraxis anfangs noch „der Charakter eines wissenschaftlich kontrollierten Gesellschaftsexperiments“ angehaftet, 269 und im Sog eines ungetrübten Vertrauens in den wissenschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen (über-)große Erwartungen an die Wirkmacht der neuen Erziehungs- und Sozialisationsinstanz im besonderen geweckt, enttarnten deren tatsächliche Möglichkeiten und „Erziehungsergebnisse“ diese Hoffnungen großteils als phantastisches Wunschdenken. Die Fürsorgeerziehung war weder in der Lage, die sozialen Verhältnisse ihrer Klientel (insbesondere der aus Arbeiterfamilien stammenden Kinder und Jugendlichen)270 wirksam zu verbessern, noch herrschte seitens des Personals zustimmende Bereitschaft, sich hinsichtlich der zu erreichenden Erziehungsziele an den Lebenswelten seiner Zöglinge zu orientieren. Das Ausbleiben sichtbarer Erziehungserfolge (bei Mädchen deutlich häufiger der Fall als bei Jungen, da diese v.a. zu „sittlicher Einstellung“ hin erzogen werden sollten) wurde als schuldhaftes Versagen des Zöglings gewertet, welcher sich den Anstrengungen und Bemühungen der Erzieher gegenüber renitent zeige. Die Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) im Jahr 1922 und des Reichsjugendgerichtsgesetzes (RJGG; fixierte das Erziehungsprinzip bei jugendlichen Rechtsbrechern) im Jahr darauf,

268 Der bis dahin ausschließlich strafrechtliche Begründungskontext der Zwangserziehung wurde durch den Begriff Verwahrlosung ersetzt, welche es von nun an mittels Fürsorgeerziehung zu verhindern galt. 269 PEUKERT (1986), S. 143. 270 „Unzureichende Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit, ökonomische Notwendigkeit der Berufstätigkeit von Frauen oder älteren Kindern bildeten häufig den Hintergrund sozialer Not, vor dem ein Familienleben nach bürgerlicher Vorstellung gar nicht entstehen konnte.“ BLUM-GEENEN/ KAMINSKY (1995), S. 3.

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war das Ergebnis eines seit 1919 währenden legislativen Prozesses, in welchem um Gewicht und Stellung der freien Träger und Behörden gerungen worden war.271 Letztlich erst zustande gekommen durch die Übertragung wesentlicher legislativer Kompetenzen der Bundesländer an das Reich, enthielt die schließlich verabschiedete Fassung des RJWG im §1 die programmatische Aussage: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“.272

Doch nicht nur das „Recht des Kindes“ auf staatliche Ersatzerziehung im Falle fehlender familiärer Erziehung wurde mit dieser Gesetzesfassung festgeschrieben, auch dem Anspruch der freien Träger, ihre bisher starke Stellung in der Jugendpflege weiterhin zu behaupten, wurde Genüge getan. „Insoweit der Anspruch des Kindes auf Erziehung von der Familie nicht erfüllt wird, tritt, unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit, öffentliche Jugendhilfe ein.“273

271 Wenngleich diese beiden Gesetze in einigem Abstand zu den weitgespannten Entwürfen der Reformer (Reichserziehungs- oder Reichsjugendgesetz, in dem alle sozialpädagogischen Maßnahmen und Praxisfelder, evt. sogar alle pädagogischen Instanzen neu koordiniert und effektiviert werden sollten) blieben, sicherte diese erstmalig reichsweite Regelung verschiedener jugendrechtlicher Bereiche doch die in der örtlichen Praxis zwischenzeitlich entstandene institutionelle und verfahrensmäßige Grundstruktur der Jugendarbeit durch Jugendämter ab. Vgl. PEUKERT (1986), S. 50. 272 §1 RJWG zit.n.: Das Jugendwohlfahrtsrecht nach dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrtsrecht und den übrigen Reichs- und preußischen Landesgesetzen nebst Ausführungsbestimmungen zusammengestellt von Landesrat Dr. Karl Vossen, hg. v. Landesjugendamt der Rheinprovinz Düsseldorf. (1933), S. 18, in: BLUM-GEENEN/KAMINSKY, (1995), S. 5. 273 §1 RJWG zit.n.: Das Jugendwohlfahrtsrecht (1933), S. 18, in: BLUMGEENEN/KAMINSKY, (1995), S. 5.

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Nicht zuletzt der desolaten Haushaltslage geschuldet, trat das Gesetz schließlich nur in nivellierter Form in Kraft; in erster Linie fielen Abschnitte, die Mehrkosten erwarten ließen, der Novelle zum Opfer. Die Einsparungen betrafen, neben der Errichtung von Jugendämtern, in erster Linie die Jugendpflege und die Unterstützung hilfebedürftiger Jugendlicher. Auf diesem Weg reduzierten sich zum einen die Pflichtausgaben des Staates bzw. nachgeordneter Stellen, zum anderen verstärkte sich dadurch die Stellung der freien Wohlfahrtspflege, die von der Novelle nicht berührt wurde.274 Die Zersplitterung von Ressorts und Kompetenzen sollte ein fortwährendes Merkmal der deutschen Fürsorgeerziehung bleiben. Während der Staat275 für Reglementierung, Aufsicht und Finanzierung der öffentlichen Erziehung verantwortlich zeichnete, überließ er die praktische Durchführung privaten Organisationen. In erster Linie waren es die Kirchen und ihre karitativen Verbände (v.a. die evangelische Innere Mission und die katholische Caritas), die Einrichtungen zur Fürsorgeerziehung betrieben. Als traditionelles Arbeitsgebiet der karitativen Organisationen beider Kirchen, veränderte sich der Charakter der christlichen Heimerziehung in Folge des Fürsorgeerziehungsgesetzes (FEG). So, wie sich der Kreis der zu betreuenden Minderjährigen um Fürsorgezöglinge erweiterte, die von der Provinzialbehörde überwiesen wurden, dehnten sich die bisherigen Aufgabenbereiche auf neue Felder aus und führten zu Veränderungen in Programm und Praxis. Die christliche Fürsorge entwickelte sich „[...] in wachsendem Maß aus Werken freier christlicher Barmherzigkeit zu Instrumenten öffentlicher Wohlfahrtspflege“.276

3.3 I NNERE M ISSION

UND

D IAKONIE

„Die Betrachtung der Geschichte der Inneren Mission, der historischen Vorläuferin der späteren Diakonie, während der Zeit des Nationalsozialismus hat ihre

274 Vgl. PEUKERT, (1986), S. 139. 275 Die Provinzialverwaltungen waren in Preußen die ausführenden Behörden der Fürsorgeerziehung. Vgl. BLUM-GEENEN/KAMINSKY, (1995), S. 6. 276 TALAZKO, zit. in: EGGERT/VAN SPANKEREN/THAU (1995), S. 266.

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eigene Geschichte, die nicht frei ist von mythischen Überhöhungen. Die Bedrohung sowohl von Einrichtungen wie von Einzelpersonen der Inneren Mission durch den seine Weltanschauung absolut setzenden Nationalsozialismus wurde oftmals als selbstverständlicher Ausweis eigenen Gegnertums genommen und damit das Bild eines Widerstandes aus christlichen wie humanitären Beweggründen gezeichnet. Aspekte der Mitwirkung und des fehlenden Widerspruchs zum NS-Regime konnten dabei lange Zeit übersehen bleiben.“277

Den Untiefen der Rezeptionsgeschichte ebenso geschuldet wie der anderslautenden Fragestellung unserer Untersuchung, findet sich an dieser Stelle keine ‚Geschichte der Inneren Mission, ihrer Haltung und ihres Umgangs mit nationalsozialistischen Forderungen‘;278 stattdessen dient die entsprechende Ausführung einer knappen Darstellung des kirchlichen Fürsorgeträgers Innere Mission als Konkretum der hier untersuchten Fragestellung. „Dienst“-Begriff der Diakonie279 und „Dienst“-Anspruch der Mitarbeiter waren seit ihrem institutionellen Bestehen eng miteinander verknüpft; in ihrem Dienst am „Herrn in seinen Elenden und Armen“280 waren Diakone wie Diakonissen über dasselbe Dienstideal miteinander verbunden. Hatte dessen weltliche Konkretion im 19. Jahrhundert im wesentlichen im Dienst an Kranken, Behinderten und sozial Schwachen in den Anstalten der Inneren Mission bestanden, weitete er sich nachfolgend „allmählich auf die Bereiche der Kirchengemeindearbeit einerseits und der offenen sozialen Arbeit andererseits aus.“281 So traten nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend auch Diakone in den Dienst der öffentlichen Wohlfahrtspflege, stellten so einerseits Fachkräfte zur Verfügung, und leisteten derart andererseits ihren

277 JENNER/KAMINSKY (1997), in: JENNER/KLIEME (Hg.) (1997), S. 13. 278 Diesbezüglich in Überblicksform: a.a.O., S. 16f.; deutlich ausführlicher bei HÄUSLER (1995) sowie KAISER (1989). 279 diakonos, griech. für Diener. 280 WILHELM LÖHE: Diakonissenspruch, in: Quellen zur Geschichte der Diakonie, Bd.2 (1963), S. 379, zit. in: HÄUSLER (1995), S. 12. 281 HÄUSLER (1995), S. 12.

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(Pflicht-)Beitrag zur „Verwirklichung der christlichen und sozialen Widergeburt des heillosen Volkes“.282 Zur „beruflichen Emanzipation der Diakone“283 (auch vom traditionellen Dienstbegriff der Männlichen Diakonie) während der demokratischen Jahre Weimars, trug auch die Bereitschaft der Inneren Mission bei, trotz ihres grundsätzlichen Vorbehalts gegen den pluralistischen Staat „die sich neu eröffnenden finanziellen und beruflichen Möglichkeiten des zügig expandierenden sozialstaatlichen Sektors zu nutzen.“284 Dennoch offenbarte die Krise des Wohlfahrtsstaats gegen Ende der 1920er Jahre, von welcher die Innere Mission deutlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, zunehmend auch eine „[…] tiefsitzende Skepsis der Diakone und gab den Ausschlag für die vollständige Ablehnung des ‚Weimarer Systems‘, das sich als erfolglos bei der Bewältigung der sozialen Probleme gezeigt und die Polarisierung der Gesellschaft verschärft hatte.“285

Legt man diese Ansichten zur liberalen Staatsform der Weimarer Demokratie zugrunde, nimmt es nicht wunder, dass sich bei Vertretern von evangelischer Kirche und Innerer Mission explizite Hoffnungen auf eine „gesellschaftliche Umgestaltung im traditionellen Sinne“286

282 Aus einem Aufsatz von JOHANN HINRICH WICHERN in den „Fliegenden Blättern“ (1847), zit. in: a.a.O., S. 13. Es ist vermutlich überflüssig darauf hinzuweisen, dass die von WICHERN gebrauchte Begriffsverwendung von ‚christlichem Heil‘ und ‚zu erlösendem Volk‘ mit der späteren nationalsozialistischen Verwendungsweise ursächlich nicht zusammenhängt. 283 „Die berufliche Emanzipation der Diakone [wird] als wesentlicher Bestandteil ihrer zunehmenden Professionalisierung begriffen [...].“, a.a.O., S. 16. 284 A.a.O., S. 17. 285 HÄUSLER (1995), S. 17. 286 JENNER/KAMINSKY (1997), in: JENNER/KLIEME (Hg.) (1997), S. 16. „Das Spektrum der eigenen Ziele bestand, grob zusammengefaßt aus einer Rechristianisierung der Gesellschaft, die den Kampf gegen Säkularismus, Bolschewismus und Demokratie zum Inhalt hatte. Aber auch

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regten, als im Frühjahr 1933 die frisch (und mehrheitlich) gewählten Nationalsozialisten sich mit deutsch-nationalen und konservativen Kräften umgaben. War die politische Mentalität innerhalb der Inneren Mission von einer antidemokratisch und revisionistisch zu nennenden Grundhaltung geprägt, gab für die sozialpraktische Arbeit ihrer Mitarbeiter eine weitgehend ‚unpolitische Fixierung‘ auf den Staat und dessen Rahmengesetzgebung den Ausschlag; man war als Verband darum bemüht, auch im ‚evangelischen Kirchenkampf‘ eine möglichst neutrale Position zu vertreten und zu verteidigen, vermied es von daher eigens, sich einer Seite zuordnen zu lassen.287 Solcherlei Taktieren schloss wiederum nicht aus, dass Einrichtungsleiter ihre politische Gesinnung teils recht deutlich zum Ausdruck brachten, dies vor allem dann, wenn diese mit der nationalsozialistischen weitgehend übereinging. Eine loyale Haltung von Anstaltsleitung und Diakonenschaft ist etwa für die „Neinstedter Anstalten“ überliefert.288 Begründet wurde dieses Auftreten unterschiedlich; verbindendes Moment aller Erklärungsversuche ist die „[…] äußere Bedrohung der Inneren Mission als konfessioneller Wohlfahrtsverband [...] durch die NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, A.d.V.],

gegen die als erniedrigend empfundenen Folgen des Versailler Vertrages hoffte man nunmehr vorgehen zu können.“ Ebenda. 287 „Bereits im Dezember 1933 hatte die Konferenz aller Landesgeschäftsführer die kirchenpolitische Neutralität der Inneren Mission verkündet.“ JENNER/KAMINSKY (1997), in: a.a.O., S. 17. 288 Vgl. HÄUSLER (1995), S. 207-214, 232-236, 307-312 u.a. „Das ausdrückliche Bekenntnis der nationalsozialistischen Regierung zum Christentum nahmen Vorsteher und Mitglieder der Diakonenschaft in Neinstedt erleichtert auf. [...] [Der Vorsteher der Einrichtung, A.d.V.] Pastor Büchsel wollte bei der Verwirklichung einer vermeintlich christlicheren Ordnung unter der nationalsozialistischen Regierung mitwirken und in diesen Dienst ein ‚höchst aktives, kämpferisches und opferbereites Christentum‘ stellen. Gleichzeitig sollte die Loyalitätsbekundung gegenüber dem neuen Staat politischen und wirtschaftlichen Druck von der Anstalt und ihren Mitarbeitern nehmen.“ WIEGGREBE (2001), in: HOFFMANN (Hg.) (2001), S. 60f.

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die sich ihrerseits als der nationalsozialistische Wohlfahrtsverband zunehmend exponierte.“289

Während die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt die Fürsorge für die ‚Vollwertigen‘, für die ‚Förderungswürdigen‘ unter den Leistungsempfängern in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellte, sollten sich für die erbbiologisch und rassenhygienisch „Minderwerten“, für die Alten und Gebrechlichen sowie die psychisch Kranken und die Behinderten die konfessionellen Wohlfahrtsträger wie die Innere Mission zuständig zeigen. Deren Unwillen angesichts der solchermaßen verordneten Beschränkung ihrer Zuständigkeits- und Tätigkeitsfelder zeigte sich verschiedenfach, „[d]ie hieraus resultierenden Konflikte prägten sich regional und je nach Wohlfahrtspflegeorganisation unterschiedlich aus.“290 Konstitutives Merkmal der über die nächsten zehn Jahre hinaus andauernden Konfrontationen zwischen konfessionellen Trägern und die NSV unterstützenden Gauleitern, Landes- und Provinzialverwaltungen um Kompetenzen, Privilegien und Zuständigkeiten, blieb die Unzufriedenheit der kirchlichen Einrichtungen mit dem ihnen zugewiesenen Klientel.

3.4 D IE „N EINSTEDTER ANSTALTEN “ „Zu den bedeutungsvollsten und segensreichsten Schöpfungen der christlichen Liebestätigkeit, die während der Anfänge des Industriezeitalters im Bereiche der Evangelischen Landeskirche Anhalts entstanden sind, zählen die Anstalten zur Erziehung verwahrloster oder sittlich gefährdeter Kinder.“291

Zu den Einrichtungen der Inneren Mission, die vom offiziellen Ende der Weimarer Republik an ihr Heil und ihre Zukunft in einem offenen Bekenntnis zum Geist der neuen Regierung suchten, zählen die „Nein-

289 JENNER/KAMINSKY (1997), in: JENNER/KLIEME (Hg.) (1997), S. 17. 290 Ebenda. 291 „Denkschrift über die in Anhalt bestehenden Fürsorgeerziehungshäuser im Rahmen der evangelischen Inneren Mission.“ nach 1945, Verf. unbek, Archiv der „Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis“ Bernburg.

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stedter Anstalten“.292 Ursprünglich als „Rettungshaus für verwahrloste Knaben“ im Jahr 1850 vom Ehepaar NATHUSIUS auf dem „Gut Neinstedt“ gegründet und mit einem ebenfalls errichteten Brüderhaus für Diakone verbunden, entstanden in den nächsten Jahrzehnten vor Ort, auf dem „Lindenhof“, weitere Einrichtungen zur Ausbildung, Erziehung und Beschulung der Zöglinge sowie der wirtschaftlichen Versorgung der Einrichtung. Erziehung und Ausbildung orientierten sich an den „christlichen“ Wertmaßstäben der Diakone und sonstigen Mitarbeiter, Demut und autoritärem Gehorsam.293 Die von der jüngeren Schwester des Rettungshausgründers PHILIPP VON NATHUSIUS, JOHANNE NATHUSIUS ebenfalls in Neinstedt, im Jahr 1861 als Heim für geistig behinderte Kinder, eröffnete „Elisabethstiftung“ zur Pflege und Erziehung geistig behinderter und anfallskranker Menschen bildete den zweiten Pfeiler der zukünftigen „Neinstedter Anstalten“.

292 Nicht mit allen Einrichtungen der Inneren Mission gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Behörden der neuen Regierung so konstruktiv wie im Fall die „Neinstedter Anstalten“; während in Neinstedt vom 30. September 1938 an Anstaltsinsassen „verlegt“ werden, verweigert etwa die Leitung des Wernigeröder Behindertenheims „Zum Guten Hirten“ das Ausfüllen der (späteren ‚T4‘-) Fragebögen beharrlich. Vgl. JENNER/ KLIEME (Hg.) (1997), S. 134. In einem Bericht des Innenministeriums vom 12. Dezember 1941 („Schlussbericht über die Planung Provinz Sachsen vom 24.11.-05.12.1941“), die „Umnutzung“ der vorhandenen Anstalten (auch der Inneren Mission) der Provinz Sachsen betreffend, heißt es zur Einrichtung in Wernigerode: „In dieser kleinen Anstalt sind alles Schwachsinnige; ausserdem werden allem Anschein nach die Fragebögen nicht ausgefüllt. [...] gez. Dr. Becker, Berlin“. Dokument Nr. 126563, Archiv der „Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis“ Bernburg. 293 In den Hausregeln des „St. Johannis-Asyls“ Bernburg, einem Erziehungsheim der Inneren Mission für „gefallene Mädchen und Frauen“, heißt es zum „christlich-evangelischen Geist“, der in der Anstalt herrsche: „Wer in dieses Haus eingetreten, bedenke, daß er an eine Stätte gekommen ist, an der der Heiland der Sünde auch der schwer verirrten Seelen in Gnade und Geduld nachgeht, um sie von dem Wege des Verderbens auf den Weg des Heils, der Friedens und der Ehre zurückzuführen.“ In: „Denkschrift über die in Anhalt bestehenden Fürsorgeerziehungshäuser im Rahmen der evangelischen Inneren Mission.“ nach 1945, Verf. unbek, Archiv der „Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis“ Bernburg.

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Um 1900 zählte die „Elisabethstiftung“ mit ihren Schul-, Ausbildungsund Pflegeabteilungen zu den größten Sozialwerken für geistig behinderte und anfallskranke Menschen in Deutschland.294 Dreißig Jahre später waren die „Elisabethstiftung“295 und die Stiftung des „Knaben- und Rettungshauses“296 unter dem Dach der „Neinstedter Anstalten“ vereinigt. Der amtierende Vorsteher der Evangelischen Stiftung „Neinstedter Anstalten“, Pfarrer JÜRGEN WIEGGREBE, beschreibt die Verhältnisse zum Ende der Weimarer Republik in Neinstedt wie folgt: „Innerhalb weniger Jahre war die Anzahl der in Neinstedt erzogenen Kinder und Jugendlichen auf etwa die Hälfte gesunken. (Nach Angaben Büchsels waren es im August 1933 noch 93 Zöglinge, während die Einrichtung früher 180 Kinder und Jugendliche erzog.) Dadurch war nicht nur die Einrichtung hart getroffen, sondern auch die in der Erziehungsarbeit tätigen Diakone. Die sinkende Zahl der ‚Zöglinge‘ drängte sie in die Arbeitslosigkeit, zudem hatten sie heftigen Angriffen seitens der staatlichen Behörden zu begegnen, die die diakonische Erziehungsarbeit für veraltet hielten und zum Teil autoritäre und grausame Erziehungsmethoden [!] anklagten.“297

294 Vgl. JENNER/KLIEME (Hg.) (1997), S. 141. 295 „Die Stiftung unterhielt Häuser in Neinstedt und in der Einrichtung ‚Schloß Detzel’ bei Satuelle [...] mit Unterrichts-, Ausbildungs- und Pflegeabteilungen für geistig behinderte Männer, Frauen und Kinder.“ WIEGGREBE (2001), in: HOFFMANN (Hg.) (2001), S. 59. 296 „Die Stiftung des ‚Knaben- und Rettungshauses‘ [...] trug die Fürsorgeerziehung für milieugeschädigte Kinder und Jugendliche. [Ihr] war das Brüderhaus, in dem Diakone ausgebildet wurden, zugeordnet. Die examinierten Diakone arbeiteten in der Behinderten- und Fürsorgearbeit in Neinstedt und in anderen Beschäftigungsfeldern innerhalb der Landeskirchen.“ Ebenda. 297 A.a.O., S. 60. In den 1930er Jahren war es im Zuge der sog. „Anstaltsskandale“ in Deutschland zu mehreren Strafprozessen gegen Erzieher und Einrichtungsleiter gekommen, wegen körperlicher Misshandlung von Zöglingen etwa gegen Erzieher der evangelischen Erziehungsanstalt „WaldhofTemplin“ der „Inneren Mission“. Die Veröffentlichung von PETER MARTIN LAMPELS Buch „Jungen in Not“ im Jahr 1929 sowie das auf den darin geschilderten Darstellungen basierende Theaterstück „Revolte

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Doch trotz Begrüßung des nationalsozialistischen Machtantritts durch die Neinstedter Anstaltsleitung im Frühjahr 1933 unter Vorsteher Pfarrer BÜCHSEL wurde dieser bereits im darauffolgenden Jahr abgesetzt, und der Posten mit dem 34-jährigen MARTIN KNOLLE, NSDAPMitglied und „Deutscher Christ“, neu besetzt. KNOLLES Amtseinsetzung war sowohl durch die Einrichtung selbst, wie auch maßgeblich durch Gauleitung und NSDAP-Kreisleitung forciert worden.298 „Er förderte den Anschluss großer Teile der Neinstedter Diakonenschaft an die Deutschen Christen, der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Parteiung innerhalb der Evangelischen Kirche Deutschlands.“299

Dieses, als strategisches Taktieren deutbare Vorgehen, verhinderte jedoch weder den Einzug von Parteivertretern in den Vorsitz des Verwaltungsrates des „Elisabethstifts“, noch wehrte es direkte Eingriffe in die Unversehrtheit der Neinstedter Anstaltsbewohner ab.300 Nach heu-

im Erziehungshaus“ hatten großes mediale Interesse an der Thematik evoziert, woraufhin die öffentliche Aufmerksamkeit sich für einige Zeit auf Fragen des ‚erlaubten‘ und ‚richtigen‘ erzieherischen Umgangs mit Fürsorgezöglingen richtete. Vgl. dazu HOFMANN/HÜBENER/MEUSINGER (Hg.) (2007) sowie LAMPEL (1929). 298 Vgl. HÄUSLER (1995), S. 214. „Als radikalster Exponent der NS-Bewegung unter den Brüderhausvorstehern sorgte er dafür, daß die politisch-theologischen Konflikte innerhalb der Männlichen Diakonie auch nach dem Ende der Gleichschaltungsphase anhielten.“ Ebenda. 299 WIEGGREBE (2001), in: HOFFMANN (Hg.) (2001), S. 61. 300 „Wieviele Bewohner der Neinstedter Anstalten zwangssterilisiert wurden, können wir nicht angeben. Sicher ist, daß die Opfer überwiegend behinderte Bewohner der zur „Elisabethstiftung“ gehörenden Häuser waren. Hier lebten 1933 740 Männer, Frauen und Kinder. Nach den noch vorhandenen Dokumenten wurden die Sterilisationen im Stadt- und Kreiskrankenhaus Quedlinburg vorgenommen. [...] Die Abtransporte von geistig behinderten Menschen aus Neinstedt, die wir mit den ‚Euthanasie‘Morden in Bernburg in Verbindung bringen müssen, begannen am 30. September 1938. [...] Es folgten dann zunächst in größeren und schließlich in kleineren Zeitabständen Abtransporte nach Altscherbitz und Uchtspringe.“ a.a.O., S. 63ff.

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tiger Neinstedter Lesart, brachte seine wehrhafte Haltung gegen die staatliche Vereinnahmung der Anstalt Pastor KNOLLE schließlich um seinen Posten als Anstaltsvorsteher.301 Sein Vertreter, der 2. Anstaltspfarrer HANS SOMMERER, war ebenso wie KNOLLE Mitglied der NSDAP und Anhänger der „Deutschen Christen“; 1939 wurde er KNOLLES Nachfolger als Anstaltsvorsteher. Unter seiner Führung habe sich die Einrichtung „den Maßnahmen des Staates weitgehend widerstandslos ausgeliefert, wenngleich es während des Krieges nicht zu einer Übernahme der Anstalten durch die Provinz kam.“302

„Zwischen 1939 und 1943 wurden mehr als 700 geistig behinderte Menschen im Zuge der Aktion ‚T4‘ in staatliche Heime ‚verlegt‘, von denen die Mehrzahl in der Bernburger Tötungsanstalt ein qualvolles Ende fand.“ HÄUSLER (1995), S. 385. 301 „Mit Hilfe eines Protesttelegramms, das auf seine Bitte vom Zentralausschuß der Inneren Mission verfasst an die Provinzialverwaltung ging, versuchte er, den staatlichen Übergriff abzuwenden und setzte sich damit einem von der Kreis- und Gauleitung der NSDAP angestrengten Parteistrafverfahren und der anschließenden Suspendierung vom Amt des Vorstehers aus.“ WIEGGREBE (2001), in: HOFFMANN (Hg.) (2001), S. 61f. „Insofern ist nicht nur sein eigenwilliger Charakter und der bestehende Konflikt mit den Vertretern der Arbeitsfront in Neinstedt, sondern insbesondere sein kompromißloses Eintreten für den Erhalt der Selbstständigkeit der Neinstedter Anstalten als Ursache für das Parteiausschlußverfahren anzusehen, das im Dezember 1938 gegen Knolle eingeleitet wurde. Da im Verwaltungsrat inzwischen die Parteimitglieder die Oberhand gewonnen hatten, fand Knolle in diesem Gremium keine Unterstützung und wurde als Vorsteher ausgeschaltet.“ HÄUSLER (1995), S. 385. 302 HÄUSLER (1995), S. 385. Die Rolle HANS SOMMERERS wird in der Literatur ebenso ambivalent wie tendenziös dargestellt wie die seines Vorgängers – und von 1945 an wiederum Nachfolgers – MARTIN KNOLLE. So weisen der amtierende Vorsteher der „Neinstedter Anstalten“ WIEGGREBE und sein Vorgänger LÖFFLER unisono darauf hin, dass „[…] das gesamte Euthanasiegeschehen [...] zu einer Zeit geschah, als Pastor Sommerer Anstaltsleiter war“, während es bei JÜRGEN WIEGGREBE im laufenden Text weiter heißt: „Die Abtransporte von geistig behinderten Menschen aus Neinstedt, die wir mit den ‚Euthanasie‘-Morden in Bernburg in Verbindung bringen müssen, begannen am

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Die Motive für SOMMERERS Verhalten mögen an anderer Stelle erörtert werden, die „Pfleglingsliste“ mit den „Verlegungsdaten“ der Bewohner des „Elisabethstifts“ nennt für den Zeitraum September 1938 bis November 1943 die Zahl von 744 Personen als „entlassen“.303 Das Datum der jeweiligen „Verlegung“ stimmt dabei nicht selten direkt mit den Daten sogenannter „T4-Transporte“ überein, im Übrigen gilt dies auch für die „Überweisungen“ einiger Fürsorgezöglinge aus Neinstedt in andere Einrichtungen. „Sämtliche Entlassungen wurden mit der Unterschrift des damaligen Vorstehers Pastor SOMMERER eingeleitet.“304 Eine letzte Anmerkung noch zum Verhalten des Einrichtungspersonals den Abtransporten ‚ihrer‘ Pfleglinge gegenüber. Nach WIEGGREBE taugte auch in Neinstedt der Topos: „kriegswichtige Maßnahme“ als ausreichende, da ‚offizielle‘ Begründung für die massenhaften „Verlegungen“ von Anstaltsinsassen. „Da die Abtransporte jedoch regelmäßig von Betreuungspersonal aus der Einrichtung begleitet wurden, erfuhren einige Mitarbeiter mehr. Eine Zeugin, die

30. September 1938“, also innerhalb der Amtszeit von MARTIN KNOLLE. Inwieweit Verantwortungs- oder Schuldzuweisungen mitbestimmt sind etwa von der Wiederaufnahme seiner Vorstehertätigkeit im Juli 1945 und dem Verhalten der Kirchenleitung, eine politische Entnazifizierung KNOLLES zu vermeiden, sollen an dieser Stelle nicht abschließend bedacht, lediglich auf die jeder Institution eigene Geschichtsschreibung aufmerksam gemacht werden. Vertiefend zum kircheninternen Umgang mit der politischen Haltung KNOLLES während und nach der nationalsozialistischen Regierungszeit: HÄUSLER (1995), S. 434ff.; ROLF LÖFFLER, Manuskript zu seinem Referat, „wie es [in den 1990er Jahren] in Lobetal gehalten“ wurde, S. 2 sowie WIEGGREBE (2001), in: HOFFMANN (Hg.) (2001), S. 62. 303 „Davon wurden in Einrichtungen, die uns als ‚Zwischenanstalten‘ bekannt sind, verlegt: in die Landesheilanstalt Altscherbitz: 467 Menschen, in die Landesheilanstalt Uchtspringe: 86 Menschen, in die Landesheilanstalt Jerichow: 73 Menschen. Es lassen sich sowohl Einzelverlegungen als auch Verlegungen größerer Bewohnergruppen nachweisen [...],“ deren Verbindung mit der Aktion „T4“ augenfällig ist. a.a.O., S. 64. 304 A.a.O., S. 65.

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wahrscheinlich 1941 zwei Transporte mit der Bahn nach Uchtspringe begleitete, erinnerte sich: ‚Beim zweiten Transport habe ich in Uchtspringe eine dortige Mitarbeiterin nach einem Pflegling des ersten Transportes gefragt, der vor vier Wochen passiert war. Ich wollte den Jungen noch mal besuchen. Sie: Aber wo leben sie denn? Die sind nicht mehr da!‘ Die Zeugin hat sich daraufhin geweigert, weitere Verlegungen zu begleiten.“305

Von aktiverem Verhalten, um Bewohner der „Neinstedter Anstalten“ vor Abtransporten zu schützen, etwa durch private Unterbringung, wird ebenfalls berichtet. Hierbei tauchen die Namen von Verantwortlichen auf, deren Unterschriften sich auch auf den „Verlegungs- und Entlassungsdokumenten“ ebenso wie auf Sterilisationsanzeigen befanden, „darunter der leitende Anstaltsarzt Dr. Nobbe und der ehemalige 2. Anstaltspfarrer Pastor Richter, [...] auch Pastor Knolle und seine Frau.“306 Die Namen und Unterschriften dieser Personen werden uns auch im folgenden Kapitel, der Untersuchung von Neinstedter Zöglingsakten, begegnen.

305 A.a.O., S. 66. 306 A.a.O., S. 67.

Kapitel 4: Was nicht in der Akte ist, ist nicht in der Welt

Das Erschließen eines Textes erinnert nicht nur semantisch an einen Akt der Bewegung, an einen (Vor-)Gang im Raum.

Mit Hilfe des im Kapitel 2.3 ausgebreiteten Instrumentariums zur Text- und Erzählanalyse werden im Folgenden ausgewählte Zöglingsakten ‚durchschritten‘, um die in ihnen angewandten Mittel zur ‚Herstellung‘ und ‚Weiterverarbeitung‘ ihres Gegenstandes: des Zöglings, seiner ‚Eigenschaften‘, seines Verhaltens, zu ermitteln und zu untersuchen. Hierbei soll sich der Rückgriff auf das Aktanten-Modell der ‚klassischen‘ Erzähltextanalyse als hilfreich erweisen, um die erzählerische Verfasstheit und Angeordnetheit des Aktenmaterials nachzuweisen.

4.1 AKTENZÖGLING A. Unterbringungsbeschluss Beim vorliegenden Dokument (Aktennummer 3 A X[?]I 31/35) handelt es sich um das der Chronologie nach früheste Dokument des gesamten Aktenkorpus’: die Abschrift des Unterbringungsbeschlusses in FE. Sie wurde angefertigt am 2. September 1937, ihre Übereinstim-

166 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

mung mit der „Urschrift“ beglaubigt vom Justizsekretär,307 der als (seiner Tätigkeitsbezeichnung nach) Protokollant der Verhandlung auch für das Zustandekommen des Papiers verantwortlich zeichnen dürfte. Das Originaldokument, welches die Anordnung der Fürsorgeerziehung mitsamt der diesen Schritt evozierenden Gründe schriftlich fixiert und sie dem Verfahren Abwesenden mitteilt, wurde am 12. August 1937 vom Amtsgerichtsrat308 PAPERLEIN gezeichnet, von welchem angenommen werden kann, dass ihm auch die Leitung der Verhandlung oblag. Das vorliegende Dokument ist Träger sowohl des Ergebnisses der (vormundschafts-) gerichtlichen Verhandlung als auch der Gründe, die dieses hervorbrachten, und baut sich wie folgt auf: Aufbau Unterbringungsbeschluss Der Beschluss umfasst 70 Textzeilen (angeordnet auf 2 Seiten, schreibmaschinegeschrieben) und setzt sich formal zusammen aus folgenden Teilen:

1. Titel a: 2. Titel b:

ABSCHRIFT

(Z.01)

BESCHLUSS

(Z.02)

(welcher im darauffolgenden Satz – 3 Zeilen – zusammengefasst wird) (Z.04-07)

307 „Gerichtsschreiber (früher Gerichtssekretär oder Aktuar) [...], der Gerichtsbeamte, dem die Beurkundung der gerichtlichen Verhandlungen sowie die Sammlung und Aufbewahrung der Gerichtsakten obliegt. Die Reichsgesetzgebung weist dem G. außer der Protokollführung die Erteilung von Abschriften und Ausfertigungen, die Bescheinigung der Rechtskraft der Erkenntnisse [...] und die Erteilung von vollstreckbaren Ausfertigungen der Urteile zu. [...]“ Meyers Großes Konversationslexikon 1905, Bd.07, S. 641. 308 = Amtsrichter.

K APITEL 4: W AS NICHT

3. Titel c:

IN DER

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IST NICHT IN DER

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GRÜNDE (welche in den folgenden 50 Zeilen (Z.09-59) ausgeführt werden, „Beweisaufnahme“) die beiden folgenden Sätze (Z.60-65) „verkünden das Urteil“, während der letzte Satz (Z.66-67) das Urteil nochmals bestätigt, indem rhetorisch der Bogen geschlagen wird zum Anlass und Eröffnungssatz des Dokuments: der (nunmehr) begründeten Anordnung von FE ORT, DATUM, UNTERSCHRIFT

4. Titel d:

(Z.68-70)

Um die Eigenheiten des Textes dieses Beschluss-Dokuments besser untersuchen zu können, soll das dargestellte Geschehen auf die Struktur(en) hin untersucht werden, in/mittels welcher das Geschehen (der „Inhalt“) an den Text der Darstellung gebunden („vertextet“) ist. Dazu werden die konzeptionell angelegten GeschehensebenenřŖş herausgearbeitet und die beteiligten Akteure dargestellt.

GESCHEHENSEBENE 0:

Beschluss der Unterbringung des A. in FE am 12. August 1937 (wirksam seit ebd.!)

Akteur:

Gründe/Motive:

Amtsgericht Querfurt (ordnet Unterbringung des A. in FE an,

k.A.

teilt Anordnung mit

Informationspflicht, Beschluss bildet Grundlage weiteren behördl.

fordert Umsetzung der Anordnung ein)

Vorgehens

309 Geschehensebenen meint die Ebenen des Textes der Geschichte, deren primärer Organisationsmodus der chronologische ist, z.B. der Zeitraum der aktuellen Verhandlung, der Zeitraum, in welchem die zur Begründung angeführten Vorkommnisses stattfanden, der Zeitraum der ersten Verhandlung etc. Auf diesen Ebenen finden in der sprachlichen Darstellung organisierte Zustandsänderungen statt: Ereignisse, Vorgänge und Handlungen.

168 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

Akteur des Geschehens ist das Vormundschaftsgericht/Amtsgericht Querfurt, ohne unmittelbar zu handeln (nicht: ich ordne an, ich teile mit, ich fordere); diese typischen Sprachhandlungsverben fehlen in den sprachlichen Äußerungen der GESCHEHENSEBENE 0 völlig. Dennoch finden all diese Aktionen statt, und darüber hinaus noch mehr. Wie geschieht das? Die Information wird illokutionär geäußert (gemeinte Äußerung weicht von geäußerter ab, Anordnung wird „stumm“ kommuniziert), und die erwarteten Handlungen werden perlokationär in Gang gesetzt, zeigen erst im Vollzug Wirkung (performatives Potential) Betrachten wir den Satz, auf dem der Text die Geschehensebene ansiedelt, genauer: „Der am 29.September 1926 geborene [A.], wohnhaft in Querfurt, Sohn des Arbeiters [...] und dessen Ehefrau [...] geb. [...] ist in Fürsorgeerziehung unterzubringen.“(Z.4-7)

Formal leistet dieser Satz eine mehrfache Synthese insofern, als er eine Behauptung/These mit der daraus abgeleiteten (notwendigen) Reaktion sprachlich vereint, sowie der Begründung gleichsam voranstellt, diese (logisch vorangehenden Ursachen, Gründe als) Begründung zeitlich (im Lesefluss) nachordnet, damit den tatsächlichen Ablauf umkehrt und die nun (erst) genannten Gründe/Begründung in die Pflicht nimmt, sie „zur Tatsachen-Erfüllung“ zwingt. Dies bedeutet, dass alles, was sich nachfolgend unter „Gründe“ aufgeführt findet, ausschließlich im Dienst dieser „Einlösung“ steht, und auch entsprechend – und zwar ausschließlich – derart gelesen werden will. Präsentation des letzten Gliedes einer (vermeintlichen) Kausalkette. Es handelt sich beim Eröffnungssatz demnach auch um eine Leseanweisung. Die Handlung selbst (in diesem Fall die Verhandlung) ist bereits abgeschlossen, nur ihr Ergebnis wird präsentiert. Durch Abschluss der Handlung wir diese gleichsam immun gegenüber Zweifeln a. an ihrer grundsätzlichen Berechtigtheit; ohne diese hätte jene gar nicht erfolgen können, vor einem ordentlichen Gericht in einem ordentlichen Verfahren; dessen Abschluss ist damit legitimiert; b. am Zweck der Handlung; c. an der Richtigkeit des Ergebnisses.

K APITEL 4: W AS NICHT

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Der erste Satz des Unterbringungsbeschlusses vollzieht310 mindestens drei verschiedene, dennoch miteinander korrespondierende Handlungen, erfüllt insofern folgende Funktionen:311 repräsentative, direktive und deklarative gleichermaßen: 1. Er informiert; teilt neben biographischen Angaben v.a. das Ergebnis der Verhandlung um Anordnung von FE mit (repräsentative Fkt.); 2. er weist an, wie der folgende Text zu lesen ist: als „Vor-Gang“ zum Beschluss, eine (nachträgliche) Präsentation des Vorangegangenen, als geschlossene (vs. ergebnisoffene) Argumentationskette, deren Resultat nicht verhandelbar ist, sondern die direkte, nämlich die kausale Ableitung der Unterbringung zeitigt („indirekte“ direktive Fkt.); 3. er fordert auf zur Umsetzung des mitgeteilten Ergebnisses (verstärkt durch die Verwendung des Gerundivum: „[...] ist unterzubringen [...]“)312 (direktive Fkt.); 4. er erklärt das Objekt (des Satzes wie der Verhandlung) augenblicklich zum In-FE-Unterzubringenden, zum Zögling, (Verzicht auf ein Modalverbum „schafft Tatsachen“) (deklarative Fkt.). Ohne diesen Eröffnungssatz, in welchem das Vormundschaftsgericht Querfurt sein Verhandlungsergebnis mitteilt, und mit welchem es einen Markstein setzt, Realität konstituiert, Fakten schafft, an deren Berechtigung keine Zweifel bestehen (noch aufkommen sollen), und zu deren Einhaltung unmissverständlich aufgefordert wird, hätte der

310 Auf der sprachlichen Handlungsebene. 311 Nach SEARLE lassen sich 5 Typen von Sprechaktmustern unterscheiden, denen dann exemplarische Verben zugeordnet werden: 1. repräsentative (darstellende, informierende), 2. direktive (auffordernde), 3. kommissive (selbstverpflichtende), 4. deklarierende (Tatsachen schaffende), 5. expressive (Einstellungen, Gefühle ausdrückende), vgl. „Taxonomie von oben“, siehe: Pragmalinguistik, S. 67f. 312 Enthält die Satzkonstruktion ein Verb mit passivischer Bedeutung (Vgl. Gerundiv, vgl. Gerundivum im Lateinischen: kann eine Notwendigkeit ausdrücken) (= „ist unterzubringen“), welches sich auf das Satzsubjekt im Nominativ bezieht („A. ist ...“), wird damit eine Absicht oder ein Zweck signalisiert.

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übrige Teil (immerhin 58 Zeilen) des Beschluss-Dokuments es recht schwer, sich berechtigterweise Geltung zu verschaffen. Kommen wir zu diesem Teil, zu den Gründen, auf die der Beschlusssatz baut und zu seiner Erklärung ins Feld führt. Die Darstellung der Gründe, die schließlich zum Unterbringungsbeschluss führten, orientiert sich an der Chronologie „verfahrensrelevanter“ Geschehnisse, an welchen der Erzählfaden sich festmacht und sie miteinander verbindet.313 Dargeboten werden sie dem Leser von einem wissenden Erzähler, was insofern nicht verwundert, als er den Ausgang der Verhandlung mitsamt seinen maßgeblichen Gründen bereits kennt.314 Mit der Beschreibung der Ausgangssituation setzt er gut zwei Jahre zuvor ein, im November 1935, als vom Kreisjugendamt Querfurt schon einmal der Antrag auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung gestellt, auf Antrag des Vaters das Verfahren ausgesetzt, und schlussendlich Schutzaufsicht angeordnet worden war. Dieser erzieherischen Maßnahme wird ein Ausbleiben der üblichen Beschwerden über das Verhalten von A. zugeschrieben, bis dann im Mai 1937 „von neuen [sic!] die Klagen ein[setzten]“. Soweit die Darstellung der Chronologie; der Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Verfahrens und dessen amtlicher Ablauf werden wohl als bekannt vorausgesetzt oder bleiben aus anderen Gründen ungenannt. Kaum mehr ergiebig ist die argumentativ-narrative Auskleidung des gespannten Zeitrahmens (November 1935 – Mai 1936 – August 1937).

313 Organisation der erzählten Zeit (als eine Aufgabe und Leistung des Erzähldiskurses), vgl. KLAUSNITZER (2004), S. 78. 314 Perspektivierung der Geschichte durch eine erzählende Instanz (als weitere Aufgabe und Leistung des Erzähldiskurses). Erzählende Instanz arrangiert und komponiert die Ordnung der Geschichte auf eine bestimmte Perspektive hin. Vgl. ebenda. Berichtet die erzählende Instanz als Erzähler aus der Außenperspektive über Vorgänge, an denen er nicht beteiligt ist, liegt eine auktoriale Erzählsituation vor. Vgl. a.a.O., S. 79. Erzähler und Autor sind jedoch nicht identisch! (Ausnahme: Geschehensebene 5).

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Der Unterbringungsantrag vom November 1935 „wurde damit begründet, dass sich der Minderjährige wiederholt Diebstähle und Tierquälereien hatte zu Schulden kommen lassen“, Beispiele werden aufgeführt. „So hatte [der zur Tatzeit 8-9jährige] aus der Wohnung der [Nachbarin] Frau H. eine silberne Uhr gestohlen, die er verkaufen wollte. [...] [Außerdem] wurde er wiederholt von H. angetroffen, als er aus [ihrem] Garten Gemüse stahl.“

Auf Vorhaltungen wegen seiner Vergehen, „aber auch sonst [, zeigte sich] der Minderjährige der Frau H. gegenüber sehr frech und ungezogen.“ Der Erzähler räumt ein, dass ein solches Verhalten von A. sicher auch damit zu tun hätte, „dass zwischen den Familien A. und H. Feindschaft besteht“, aber „an der durchaus mangelhaften Erziehung von Seiten der Eltern [...] liegt es auch.“ Hinzu kommen („Weiter wurde ihm damals schon zur Last gelegt...“): ausgenommene Vogelnester, ein zu Tode gebrachtes Meerschwein, Klagen von Seiten der Schule über Zuspätkommen, fehlende Hausaufgaben und mangelnde Vorbildwirkung sowie Herumtreiben auf der Straße, wogegen „seine Eltern nicht eingeschritten sind“. Womit die GESCHEHENSEBENEN 1 UND 2 abgesteckt wurden, der Zeitraum der Verhandlung sowie derjenige, in welchem die dargestellten Vorkommnisse sich ereigneten. Da der Text beide Ebenen erzählerisch ordentlich miteinander vermengt, und keineswegs so eindeutig herausstellt, wie wir dies zum Zweck der Untersuchung anstellen, erfolgt die Bearbeitung ihrer Figuren, deren Darstellung und Handlungen gemeinsam.

GESCHEHENSEBENE 1:

erste Verhandlung des Antrags auf Unterbringung in FE (5. November 1935)

Akteure:

Gründe/Motive:

Kreisjugendamt Querfurt (stellt Antrag

Anzeige gegen A. bzw.

begründet Antrag)

Verhalten des A.

172 | D ER ERZÄHLTE Z ÖGLING

Amtsgericht Querfurt (nimmt Verfahren auf

Antrag des KJA

setzt Verfahren aus

Einschätzung der Lage

ordnet Schutzaufsicht an) Vater des A. (erbittet Verfahrensaussetzung

Vermeidung von FE für A.

verspricht strenge Erziehung)

GESCHEHENSEBENE 2:

Zeit vor der Antragstellung im November 1935

Akteure:

Gründe/Motive:

A. (stiehlt Uhr aus Nachbarwohnung stiehlt Gemüse aus Nachbargarten

Feindschaft zwischen den Familien,

freches, ungezogenes Verhalten

mangelhafte Erziehung seitens der Eltern

gegenüber Nachbarin H., droht mit Gewalt gegen deren Tochter) nimmt Vogelnester aus,

k.A.

tötet Meerschweinchen,

k.A.

treibt sich auf Straße herum

fehlende Aufsicht

kommt zu spät zur Schule

k.A.

Nachbarin H. (beklagt Verhalten des A.,) (bringt dies zur Anzeige?)

wird bestohlen, fühlt sich u. ihre Tochter bedroht

Lehrer u. Rektor (beklagen Verhalten u. Leistungen

Sorge um Schüler A.?

schlechtes Vorbild für Mitschüler)

Sorge um Mitschüler

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Sprachliche Merkmale des dargestellten Geschehens auf Ebene 1 und 2 (Z.9-40) Verwendete Verben: Kreisjugendamt Querfurt

Antrag gestellt (Z.10), Antrag begründet (Z.11), legt zur Last (Z.26)

Lehrer u. Rektor

(be)klagen sehr oft, (Z.29)

Amtsgericht Querfurt

setzt Verfahren aus (Z.34) versucht herbeizuführen (Z.36)

Eltern des A.

schreiten nicht ein (Z.32/33)

Vater des A.

bittet um Verfahrensaussetzung (Z.34) verspricht strenge Erziehung (Z.35)

Frau H.

machte Vorhaltungen (Z.15/16)

A.

hat zu Schulden kommen lassen (Z.13) hat gestohlen (Z.14) wollte verkaufen (Z.15) bedrohte mit Worten (Z.16) sagte (Z.18) ist ungezogen gewesen (Z.20) ist frech gewesen (Z.20) stahl Gemüse (Z.22) nimmt Vogelnester aus (Z.26/27) tötet Meerschweinchen (Z.28) ist sehr schlechtes Vorbild (Z.30/31) hat sich viel herumgetrieben (Z.31/32)

A. ist Objekt der Verhandlung; wenn von ihm die Rede ist (auf 32 Zeilen 15-mal), wird er nicht beim Namen genannt, sondern beschrieben anhand von:

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Verhalten und Eigenschaften Wenn A. beschrieben wird, dann erhalten seine Verhaltensweisen den Charakter von Eigenschaften: ist ungezogen, ist frech, ist kein gutes Vorbild. Ausnahmslos alle aktiven Handlungen sind eindeutig negativ konnotiert (stehlen, herumtreiben, drohen, töten), selbst seine Äußerungen belegen sein ungezogenes Tun („Gehst Du, dann rupp ich deinem Mädchen die Borsten einzeln raus.“ (Zn.17/18), [...] sagte zu seinem Bruder: „Die ist ja verrückt.“ (Zn.18/19)) Verwendete Substantive: (konkret verwendet hier: als Bezeichnung für belebte, zählbare Individuata) – der Jugendliche – der Junge – der Minderjährige

(1x) (2x) (2x)

(Z.10) (Z.31, 38) (Z.12, 19)

Verwendete Pronomen: (konkret hier: Personalpronomen) – er – ihm/ihn

(8x) (2x)

(Z.13, 15, 16, 18, 21, 26, 27, 29) (Z.15, 26).

Um den Zwischenstand an dieser Stelle kurz zusammenzufassen: die Untersuchung der verwendeten Wörter zeigt an, – wie das Verhandlungsobjekt dargestellt (sprachlich konstruiert) wird, – dass das genannte Verhalten kein singuläres oder zufälliges ist, sondern auf ganz bestimmte, benennbare Ursachen zurückgeführt werden kann: Eigenschaften des Kindes sowie mangelhafte Erziehung. Die Verknüpfung dieser „Verhaltensweisen und Eigenschaften“ mit bezeugten Vorkommnissen (als narrative Leistung der erzählenden Instanz) bringt eine Ordnung in die Gemengelage, sorgt für Klärung der Verhältnisse, in welchen die beteiligten Personen und deren Handlungen zueinander stehen.

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Danach zieht eine Konfliktlinie sich zwischen den beteiligten Gruppen (Nachbarfamilie/Schule vs. A./Elternhaus), zu deren Beseitigung Kreisjugendamt und Amtsgericht hinzugezogen wurden. Der Darstellung der Situation (bis November 1935) zufolge kann eine Lösung des Konflikts nur erreicht werden, indem a. der Sich-fehl-Verhaltende (A.) sein (ausschließlich) negatives Verhalten ändert (Einwirkung der Eltern, Schutzaufsicht) oder b. er aus der Situation entfernt wird (Unterbringung in FE). Der bestehende Konflikt zwischen Nachbarfamilie, Schule (vertreten durch Kreisjugendamt KJA) und Verhalten des A. (vertreten durch Vater) [Geschehensebene 2] soll gelöst werden durch eine Entscheidung des Amtsgerichts [Geschehensebene 1]. Bis dahin ist der Verlauf der erzählten Geschichte relativ absehbar. Doch entscheidet das Amtsgericht nicht, wie vom Kreisjugendamt beantragt, auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung, sondern entspricht der Bitte des Vaters, und ordnet Schutzaufsicht an.315 Diese Maßnahme scheint nach Einschätzung der Lage (Gefährdung des Kindwohls infolge mangelhafter Erziehungsleistung) durch das Gericht „geboten und ausreichend“.316

315 Im konkreten Fall A.: vorbeugende Schutzaufsicht. „Die vorbeugende Schutzaufsicht will den Eintritt der drohenden Verwahrlosung eines Jugendlichen verhüten, während die heilende die bereits eingetretene Verwahrlosung wieder beseitigen will.“ (S. 193) Weiter nehmen die Autoren des RJWGs in den Vorbemerkungen zur Schutzaufsicht eine sachliche Abgrenzung der Schutzaufsicht von der Fürsorgeerziehung vor: „Bei der Schutzaufsicht übt der Erziehungsberechtigte die Erziehung seines Kindes weiter aus und wird nur durch den Helfer in seiner Tätigkeit unterstützt und überwacht; bei der Fürsorgeerziehung hingegen geht der Erziehungsberechtigte seines Erziehungsrechtes verlustig, es wird ihm entzogen. Die Schutzaufsicht stellt also eine Ergänzung der privaten Erziehung, die Fürsorgeerziehung dagegen den Ersatz der privaten durch die öffentliche Erziehung dar. [...] Bei der Schutzaufsicht verbleibt der Jugendliche in seiner bisherigen Umgebung, bei der Fürsorgeerziehung wird er daraus entfernt.“ Abschnitt VI RJWG, Vorbemerkungen zur Schutzaufsicht, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 197. 316 „Ein Minderjähriger ist unter Schutzaufsicht zu stellen, wenn sie zur Verhütung seiner körperlichen, geistigen und sittlichen Verwahrlosung gebo-

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Die Entscheidung des Amtsgerichts [auf Geschehensebene 1] scheint auch die Konfliktsituation zwischen Nachbarin H. und A. sowie zwischen Schule und A. [Geschehensebene 2] zu entspannen – das Problem scheint vorerst gelöst. Mit der Anordnung von Schutzaufsicht anstatt der geforderten Unterbringung in Fürsorgeerziehung nimmt die Entwicklung der Geschichte nun einen anderen Verlauf, als vom Initiator der Verhandlung (dem Kreisjugendamt) intendiert. Und obwohl dessen Interessen gewahrt werden (die aktuelle Situation wird als unhinnehmbar anerkannt), zeigt das Kreisjugendamt sich unzufrieden mit dem Verhandlungsergebnis – und auch den Erzähler stimmt der Verlauf unzufrieden; nach Schilderung der Vorfälle scheint aus seiner Sicht nur eine Reaktion angemessen: Unterbringung in Fürsorgeerziehung. Der Erzähler übernimm von dieser Stelle an in der Erzählung die „Sichtweise“ des Kreisjugendamtes, inklusive dessen Forderung, und stellt sich klar hinter diese. Der Enttäuschung über die anders als gefordert ausgefallene Entscheidung des Amtsgerichts wird Luft gemacht: „Trotzdem wurde das Verfahren ausgesetzt...“, „Tatsächlich sind dann [für die Dauer eines Monats] keine Klagen über den Jungen gekommen...“), um des weiteren Verlaufs der Dinge wegen im nächsten Satz zu triumphieren: „Dann setzten aber von neuem die Klagen ein.“ (Dieser Satz branntmarkt das Scheitern des Vorgehens und eröffnet die ‚nächste Runde‘ der Beweisaufnahme.) Es ist nun scheinbar offensichtlich, dass die amtsrichterliche Entscheidung, den Jungen nicht in Fürsorgeerziehung zu geben, wohl doch nicht die richtige gewesen sein dürfte. Im Weiteren entwickelt der Erzähler entsprechend Ehrgeiz, den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Dazu bedarf es jedoch schlagkräftigerer Argumente als bisher. Wieder werden an dieser Stelle die weiteren Geschehensebenen des Textes aus diesem herausgearbeitet, um die Textstruktur sichtbar zu machen: Im Unterschied zum bisher beschriebenen Zeitraum bis zum Mai 1937 (hier wurden die Geschehensebenen 1 und 2 stark miteinander verknüpft), sind die beiden chronologisch später angesiedelten Geschehensebenen 3 (Mai-August 1937) und 4 (2. Verhandlung) vom Autor

ten und ausreichend erscheint.“ §56 RJWG, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 197.

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sehr klar voneinander getrennt, weshalb wir die Untersuchung der Geschehensebenen, ihrer Akteure sowie der zur Darstellung verwendeten sprachlichen Merkmale nunmehr getrennt vornehmen können. GESCHEHENSEBENE 3:

Zeit zwischen Mai 1937 und Anordnung der FE (12. August 1937)

Akteure:

Gründe/Motive:

A. klettert in elterl. Wohnung

k.A.

entwendet Geld kauft davon Süßigkeiten verzehrt Süßigkeiten „hat zuhause freien Lauf“

Abwesenheit des Vaters, fehlende Erziehung der Mutter

nimmt Vogelnester aus

k.A.

treibt sich viel auf der Straße herum

k.A.

Vater des A. ist zuhause abwesend

Erwerbsarbeit

Mutter des A. kümmert sich unzureichend um A.

k.A.

Sprachliche Merkmale des dargestellten Geschehens auf Ebene 3 (Z.41-59) Verwendete Verben: A.

hat (Leiter an Fenster) gestellt (Z.41/42) war eingestiegen (Z.42) hat gestohlen (Z.43) hat vernascht (Z.43) weiss genau (Z.43/44) hat Vogelnester ausgenommen (Z.45/46) begeht Tierquälerei (Z.46) hat sich viel herumgetrieben (Z.48)

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wurde Gelegenheit gegeben (Z.48/49) hat freien Lauf (Z.55) droht, zu verwahrlosen (Z.59) Eltern des A.

gaben Gelegenheit (Z.49) haben keine Macht (Z.55/56)

Vater des A.

ist auf Arbeit (Z.49/50) kümmert sich nicht, wie nötig (Z.50/51) vernachlässigt das Kind (Z.54)

Mutter des A.

kümmert sich nicht genügend (Z.52)

Die hier aufgeführten Handlungen betreffen ausschließlich A. und seine Familie, und sie gleichen denjenigen von Ebene 2: A. handelt aktiv, aber ‚falsch‘, die Eltern handeln passiv und somit ebenso fehlerhaft. Ihr Handeln trägt zudem defizitären Charakter: um A. wird sich nur ungenügend gekümmert (Z.50), er wird vernachlässigt (Z.54). A. taucht insgesamt 14-mal auf. Verwendete Substantive: (konkrete Verwendung hier: als Bezeichnung für belebte, zählbare Individuata) – der Junge – der Minderjährige – das Kind

(3x) (2x) (2x)

(Z.53, 55, 59) (Z.51, 58) (Z.53, 54)

Verwendete Pronomen: (konkret hier: Personalpronomen) – er – ihm/ihn

(5x) (2x)

(Z.41, 43, 45, 46, 47) (Z.48, 56)

Auswertung Standen Eltern/Vater und A. bislang auf der gleichen Seite, so wird deren solide Einheit nun demontiert: A. bestiehlt die eigenen Eltern! Die Schuldfähigkeit des 10-jährigen Knaben wird im nächsten Satz bestätigt, ebenso das vorhandene Unrechtsbewusstsein hinsichtlich des Ausnehmens von Vogelnestern. (Handeln wider besseres Wissen also.)

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Um hinsichtlich der Zielverwirklichung des Erzählers nun ganz auf Nummer sicher zu gehen, wird die Strategie zur Belegung der unbedingten Notwendigkeit einer Unterbringung um ein (im gesamten bisherigen Verfahren absolutes) Novum erweitert: in der 52./53. Zeile kommt erstmals das schlagkräftigste Argument überhaupt ins Spiel: die Gefährdung von leiblichem und seelischem Wohl des Kindes. (Bisher war vom Jungen, Minderjährigen, einmal vom Jugendlichen die Rede. Nun aber tritt das Kind auf die Bühne, ein, wenngleich nicht frei von Fehlern, dennoch bedingungslos schützenswertes Wesen.) Wurde der Minderjährige in der ersten Verhandlung in seinem beklagten Verhalten der Nachbarsfamilie gegenüber noch als eine Art ,verlängerter Arm der Eltern‘ dargestellt, die auch sein sonstiges Verhalten eher duldeten als lenkten („dagegen sind seine Eltern nicht eingeschritten“), wird nun das Kind zuhause vernachlässigt („so wird das geistige und leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet, dass der Vater das Kind vernachlässigt“). Das Wohl317 des Kindes aber ist ein deutlich höheres Gut als gestohlenes Gemüse oder geplünderte Vogelnester: der öffentlich-rechtliche Anspruch jeden Kindes auf Erziehung (anstatt bloßer leiblicher Nothilfe) ist eine der Errungenschaften des RJWG von 1923,318 und eine drohende oder gar bereits eingesetzte Verwahrlosung ein stichhaltiges Argument, um eine Unterbringung in Fürsorgeerziehung zu erwirken. Da sich der Erzähler der Wirkung seiner Indizien in der zweiten und finalen Verhandlung dennoch nicht gänzlich sicher ist, bricht er

317 Wohl = Voraussetzung zur Tüchtigkeit. 318 „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit.“ §1, Abschnitt 1 RJWG, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 3. In den Ausführungen zum §1 verweisen die Autoren auf die doppelte Bedeutung dieses Paragraphen: „[...] das Gesetz als Ausdruck einer staatlichen Verpflichtung zu kennzeichnen, die in ihren Forderungen noch über das Gesetz hinaus weist, und der öffentlichen Jugendhilfe ihre Stellung neben der Familie und den freiwilligen Leistungen der Gesellschaft zu bestimmen. Außerdem wird durch ihn als leitender Gesichtspunkt aller Jugendhilfe die Erziehung aufgestellt anstatt der bloßen leiblichen Nothilfe.“ In: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 35.

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mit dem Stil seiner bisherigen Argumentation (Präsentation von „Beweismaterial“) und fasst (die bisherige Erzählebene verlassend!) seine eigene Darstellung sowie deren Bedeutung rasch zusammen (traut der Wirkung der narrativen Darstellung nicht mehr): „Der Junge hat zu Hause freien Lauf. Seine Eltern haben über ihm [sic] keine Macht. Es besteht auch keine Aussicht, dass von Seiten der Eltern jetzt eine energische Erziehung einsetzt, damit der Minderjährige auf einen besseren Weg zurückgeführt werden kann. Der Junge droht also zu verwahrlosen.“

Zweifelnd, ob die präsentierten Indizien auch wirklich ausreichen, um daraus sicher auf einen Zustand zu schließen, der wiederum die Anwendung der gesetzlichen Bedingungen rechtfertigt, kommt nach der bislang kommentierenden Schilderung nun die Exegese: – aus Indizien: „der Junge hat zu Hause freien Lauf“; – werden Diagnosen: „seine Eltern haben über ihm [sic!] keine Macht“; – werden Prognosen: „es besteht auch keine Aussicht, dass von Seiten der Eltern jetzt eine energische Erziehung einsetzt, damit der Minderjährige auf einen besseren Weg zurückgeführt werden kann“; – und das bedeutet: „der Junge droht also zu verwahrlosen“.319

319 Unter solchen Umständen, solcher „Beweislast“, steht das Vormundschaftsgericht nicht nur in einer moralischen Verantwortung, sondern schlichtweg in der Pflicht, Fürsorgeerziehung anzuordnen: „Das VG. hat die Pflicht zur Überweisung zur FE beim Vorhandensein ihrer Voraussetzung z.Zt der Beschlussfassung [...].“ §63, Abs.3,a. RJWG. (1923) in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 221. Dass bei gleicher Lesart der Indizien durchaus auch eine andere Vorgehensweise als die Überweisung in ein Erziehungsheim möglich gewesen, also vom Gesetzgeber vorgesehen, wäre, wird weder im Unterbringungsbeschluss, noch der anschließenden behördlichen Korrespondenz mit einer Silbe erwähnt. Erst deutlich später, nach knapp 2 Jahren im Erziehungsheim, wird diese Möglichkeit erstmals von den „Entscheidungsträgern besprochen“, also von KJA, Schule und Erziehungsheim – nicht von A. und seinen Eltern.

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Wozu es bisher 1 1/2 Dokumentseiten brauchte: die unbedingte Notwendigkeit von Herausnahme aus der Familie und Unterbringung in Fürsorgeerziehung (als einzig möglicher Schlussfolgerung aus dem geschilderten Geschehen) deutlich zu machen, gelingt nunmehr in 4 Sätzen. Die Kluft zwischen Fall und Gesetz, zwischen Ist- und SollZustand wurde (vielleicht nicht argumentativ aufgefüllt, aber zumindest) narrativ geschlossen, mit dem Effekt, dass sich die Darstellung des „Ist-Zustands“ liest wie eine Schablone, die problemlos auf die erforderlichen Voraussetzungen für Unterbringung in Fürsorgeerziehung passt. Nach derlei Vorbereitung kann nahtlos die Geschehensebene 4 ansetzen, auf welcher die Geschehnisse der 2. Verhandlung ihren Abschluss (ihre Vollendung) finden.

GESCHEHENSEBENE 4:

zweite Verhandlung des Antrags auf Unterbringung in FE (12. August 1937?)

Akteure:

Gründe/Motive:

[k.A.] Kreisjugendamt Querfurt (stellt erneut Antrag [k.A.]

drohende Verwahrlosung des A.

begründet Antrag neu [k.A.]) Vormundschaftsgericht Querfurt (nimmt Verfahren wieder auf [k.A.] bewertet Darstellung

Antrag des KJA Prüfung auf Handlungskonsequenzen

ordnet Unterbringung in FE an)

Erfüllung der gesetzl. Voraussetzung

Auswertung Obwohl das Kreisjugendamt einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt haben muss (sonst wäre es nicht zu einem solchen gekommen), und obwohl der Antrag auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung erneuert worden und mit stichhaltigen Beweisen unterstützt

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worden sein muss, taucht das Kreisjugendamt als handelnder Akteur in der gesamten zweiten Verhandlung nicht auf. Es wird somit der Eindruck erweckt, als sei der weitere Verlauf (Darbieten der Indizien zum Nachweis drohender Verwahrlosung aufgrund fehlender Erziehungsmacht der Eltern) ein natürlicher, selbstmotivierter und -getriebener Vorgang gewesen. Das Auswerten der Indizien, mit entsprechender Schlussfolgerung (drohende Verwahrlosung), und die anschließende Entscheidungsfindung (Anordnung von Fürsorgeerziehung) oblag allein dem Vormundschaftsgericht, nach „dessen Ermessen geeignete Unterbringung nicht erfolgen“ [konnte] ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel (Zn. 6264).320 Und für all jene, die sich im Umgang mit einer solchen Gefährdungssituation möglicherweise unentschlossen fühlten, und geeignete Mittel gegeneinander abwägen sollten, referiert der Erzähler die gesetzliche Implikation des „aufgedeckten Tatbestands“: „Somit ist zur Verhütung der Verwahrlosung, da auch die Voraussetzung des § 1666 BGB gegeben ist, eine anderweitige Unterbringung nötig. Ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel kann aber eine nach dem Ermessen des Vormundschaftsgerichts geeignete Unterbringung nicht erfolgen.“321 Um kühn die Verhandlung ab- und damit den Erzählkreis final zu schließen, ändert er im letzten Satz die Zeitform vom bisherigen Präteritum der Verhandlung [Handlungsebene 1+3] bzw. dem tatsachenkonstatierenden Präsens der schlussfolgenden Ableitung [Handlungsebene 4] in die aktuelle Gegenwart zum bereits feststehenden, und seit dem Eröffnungssatz längst bekannten Beschluss der Verhandlung [Handlungsebene 0]. Von diesem aus ist die Anordnung der Unterbringung längst abgeschlossen, liegt deren Zeitpunkt in der Vorvergangenheit. („Somit war gemäss §§ 63 Abs. I Ziff. lm 65 Abs. I, III RJWG. die Fürsorgeerziehung anzuordnen.“) In diesem Satz findet sich noch eine weitere Geschehensebene (materialisiert in Zn.66-67), die zwar inhaltlich direkt anschließt an 4 und 0, zeitlich aber auf keiner dieser beiden Ebenen zu verorten ist. Es

320 Vgl. wortwörtlich: §63 RJWG, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 229. 321 Ebenda.

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scheint sich hierbei um den Zeitraum des Verfassens, der Verfertigung des Dokuments zu handeln; Erzähler und Autor/Verfasser sind einzig in diesem Fall, auf dieser Ebene nämlich, identisch. Wüsste der Leser nicht im Voraus (vom ersten Satz des Dokuments an), wie die Geschichte ausgeht, wäre er erstaunt über den überraschenden Ausgang bzw. missgestimmt der schlechten Erzählung des Stoffes wegen. Nun beansprucht das Dokument aber keine narrative Kunstfertigkeit im literarischen Sinn, sondern gibt sich als offizielles Dokument aus, welches verbürgte Tatsachen zusammenfügt zu einem rechtmäßigen (und aus diesem Grund verpflichtenden,) gerichtlichen Unterbringungsbeschluss. Wir werden bei der Untersuchung des Verlaufs der angeordneten Fürsorgeerziehung von A. auf weitere, für den Unterbringungsverlauf maßgebliche Dokumente stoßen, anhand derer die Folgen/Wirkung a. des Beschlussdokuments vom 12. August 1937 (als eine Handlung), sowie b. einzelner Textstellen und Formulierungen (als Handlungen vorprägende Entscheidungen) beispielhaft beleuchtet werden. Aufschluss darüber, welche Formulierungen in der Darstellung von A. handlungsleitende Funktionen übernahmen, geben u.a. die Markierungen einzelner Textstellen des Dokuments im Verlauf seiner weiteren Verwendung. Zwar lassen sich die Unterstreichungen nicht eindeutig einem Leser und seiner Institution zuordnen; die hervorgehobenen Textstellen werden uns als Topoi in späteren Dokumenten, im weiteren Verlauf der Fürsorgeerziehung, wiederholt begegnen: Diebstähle, Tierquälereien, ungezogen und frech, mangelhafte Erziehung von Seiten der Eltern, Vogelnester ausnimmt, Meerschweinchen auf grausame Art und Weise, zu spät in die Schule, keine Schulaufgaben gemacht, ein sehr schlechtes Vorbild, Strasse herumgetrieben, gestohlen, viel herumgetrieben… Auch unter diesem Aspekt handelt es sich beim untersuchten Unterbringungsbeschluss um ein wirkmächtiges Dokument; es verfügt nicht nur über verschiedene Wirkungs- und Bedeutungsebenen (vgl. die ver-

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schiedenen Funktionen: repräsentative, direktive und deklarative (vollzieht Sprachhandlungen)), sondern es bildet auch das Eingangskapitel der Fallakte A. (Akte wie Fall gleichermaßen), ist Schlüsseldokument im Wortsinn.322 Auf dieses Kapitel der Akte wird nunmehr fortwährend Bezug genommen; es findet Verwendung als Legitimat ebenso wie als Ideengeber, und v.a.: es gibt keine Möglichkeit mehr, jemals wieder in ein früheres „Davor“ zu gelangen, weder für die beruflich mit dem „Fall“ Beschäftigten, noch für den Untergebrachten, den Zögling. Was im Unterbringungsbeschluss geschrieben steht, ist Gesetz. Dies gilt es zu erfüllen, nicht auf seine Berechtigung hin zu überprüfen. Im Anschluss an den Beschluss des Vormundschaftsgerichts vom 12. August setzt die Umsetzung der angeordnete Fürsorgeerziehung ein; es gibt nicht wenig vorzubereiten und in Erfahrung zu bringen, um A. keinen Tag länger als nötig in „seiner bisherigen Umgebung zu belassen.“ Die zuständige Fürsorgeerziehungs-Behörde in Merseburg fordert Einschätzungen an über A., beim Rektor der Stadtschule Querfurt ebenso wie beim örtlichen Pfarrer, ordnet eine ärztliche Untersuchung an, die der leitende Arzt des Krankenhauses Querfurt, Dr. KUHWALD, am 11. Oktober vornimmt, und bestimmt schließlich das Erziehungsheim, in welches A. am 22. Oktober überwiesen wird – 9 Wochen nach dem Beschluss des Vormundschaftsgerichts – und wohin ihn eine Woche später ein Mitarbeiter des Kreisjugendamts überführt.

Landeserziehungsheim Nordhausen Für 22 Monate wird das Landeserziehungsheim Nordhausen, Weingarten 15, für A. zum neuen Zuhause; Verwaltungsanwärter JANKOWSI überstellt ihn am 28. Oktober gegen Mittag dem dortigen Direktor, verbunden mit der Auskunft, es handele sich bei A. um den Enkel

322 Sogar im doppelten Wortsinn: (1) auf der Untersuchungsebene trägt es bei zur Entschlüsselung des „Falls A.“, (2) prägt es die mittelbare Verlaufsrichtung auf der „Verlaufsebene“ der Unterbringung des A. in Fürsorgeerziehung maßgeblich.

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eines Trinkers. Der Direktor notiert die Mitteilung, quittiert JANKOWSKI die Überstellung, weist eine ärztliche Untersuchung von A. an, und heftet den Vorgang ab (Vermerk: „zu den Akten“); zwei Tage darauf geht die Aufnahmeanzeige des Heimes an den Oberpräsidenten, Verwaltung des Provinzialverbandes in Merseburg. Am 11. November, zwei Wochen nach Beginn der Heimerziehung, vereitelt Lehrer EGGE den Versuch von A., „das Heim nach der 2. Pause zu verlassen“. Erzieher BRANDT erteilt dem Vorsteher der Einrichtung schriftlich Meldung über den Vorfall, berichtet über die beharrlichen Behauptungen von A., einem Streich älterer Zöglingen aufgesessen zu sein; entsprechend habe er ihn „wegen seiner hartnäckigen Lügerei und des versuchten Verlassens bestraft“,323 der Vorfall landet in der Akte. Eine Woche später erfolgt die bei A.’s Aufnahme angeordnete ärztliche Untersuchung auf seinen „Geisteszustand“ hin; der zuständige Psychiater der Landesheilanstalt Pfafferode diagnostiziert bei dem 11-Jährigen: „Schwachsinn erheblicheren Grades mit Neigung zu Diebstählen, Tierquälereien und Umhertreiben“, womit er nahtlos an das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung von Dr. KUHWALD anschließt. (Dieser hatte am 11. Oktober bei A. „Neigung zu unsozialen Handlungen, zu impulsiven Verkehrtheiten, und zum Weglaufen“ festgestellt). Auch der weitere Teil der Einschätzung des Pfafferoder Psychiaters und Medizinalrats gibt Anlass zu Zweifeln, ob ihm zum Zeitpunkt der Untersuchung (oder zumindest der Abfassung des Ergebnisses derselben), nicht noch weitere Anhaltspunkte zur Beurteilung von A. zur Verfügung standen als allein seine klinisch-diagnostischen Fähigkeiten. So taucht der jüngste Vorfall um A.’s Versuch, unerlaubt das Heimgelände zu verlassen, ebenso als ärztliches Untersuchungsergebnis auf wie die häuslichen Umstände, die beim Vormundschaftsgericht thematisiert worden waren. („Eltern haben sich nicht um das Kind gekümmert. [...] Machte im Heim einen Fluchtversuch.“) Aus A.’s als ungenügend bewerteten, schulischen Leistungen liest der Psychiater ihn im hiesigen Heim am falschen Platz, aus der Gesamtsumme der Untersuchungsergebnisse schließt er auf die Notwendigkeit, A. sterilisieren zu lassen, freilich erst „zu gegebener Zeit“.

323 Erster direkter Hinweis auf erzieherische Maßnahmen durch Mitarbeiter des Heims Nordhausen, weitere folgen.

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Schließlich liegt mit Schwachsinn (erheblicheren Grades) eine Erbkrankheit vor, die bereits der leitende Krankenhausarzt Dr. KUHWALD bei A. diagnostiziert hatte („geistig besteht bei ihm ein gewisser Grad von angeborenem Schwachsinn (Imbezillität) [...]“), welche zum einen eine stimmige Erklärung böte für das Fehlverhalten von A., zum anderen das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) zur Anwendung bringt. Zur drohenden Verwahrlosung des 11-Jährigen (infolge mangelnder elterlicher Erziehung) kommt innerhalb von 5 Wochen Heimerziehung die Bestätigung vererbten mittelgradigen Schwachsinns hinzu, welcher die Erklärung bietet für das an ihm beobachtete Verhalten: fehlende Gefühls- und Willenskontrolle infolge angeborener Krankhaftigkeit (krankhafte Neigung zum Weglaufen, krankhafte Neigung zu unsozialen Handlungen, krankhafte Neigung zu impulsiven Verkehrtheiten) und perspektivisch entsprechende Konsequenzen zeitigt: Verlegung in Anstalt mit Hilfsschule, Unfruchtbarmachung. Deutlich wird die Zusammenführung verschiedener Erzählmomente (denn es ist kein beobachtbares Geschehen, selbst der „Fluchtversuch“ wird nacherzählt!) im Beobachtungsbogen vom 7. Dezember, dem ersten ausführlichen Bericht, den das Heim nach 6-wöchiger Beobachtungszeit in Nordhausen an die Fürsorgeerziehungs-Behörde verfasst. Beobachtungsbogen Der Beobachtungsbogen ist untergliedert in fünf verschieden stark formalisierte Teile: 1.

Personalien (= Formular), ½ Seite;

2.

Familie

3.

Entwicklung vor Überweisung in Fürsorgeerziehung, unterteilt in: a. bisheriger Lebenslauf, b. gesundheitliche (körperliche) Entwicklung, c. geistige (intellektuelle) Entwicklung, d. Charakterentwicklung, sittliches und soziales Verhalten;

(frei auszufüllen, Vorstrukturierung durch vorgegebene inhaltliche Schwerpunkte, ½ Seite);

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(jeweils frei auszufüllen, Vorstrukturierung durch vorgegebene inhaltliche Schwerpunkte, jeweils ½ Seite); 4.

Bisheriges Verhalten im Heim (frei auszufüllen, Vorstrukturierung in a. bis d. durch vorgegebene inhaltliche Schwerpunkte, a. 1 Seite, b. bis d. 1 Seite);

5.

Ergebnis der pädagogischen Beobachtungen des Heims und Vorschläge für die weitere Erziehung (frei auszufüllen, Vorstrukturierung durch vorgegebene inhaltliche Schwerpunkte, 1 Seite).

Der erste Teil, der Personalbogen, gleicht einem Formular mit einzusetzenden Einzelinformationen; die übrigen Teile des Berichts, die Angaben zur Familie, zur ärztlichen Untersuchung, der bisherigen Entwicklung sowie darauf gründender, weiterer Erziehungsvorschläge sind in einem freien Text zu formulieren. Für diese Texterstellung stehen instruktive Wendungen als „Orientierungshilfen“ zur Verfügung; konkrete Leitfragen unter jeder Rubrik führen wesentliche (vom Berichttext erwartete) Aspekte auf, bieten mögliche Gedankenstütze und Formulierungsvorschläge in einem an. Eine solche Praxis erinnert nicht zufällig an die Briefsteller des 18. Jahrhunderts insofern, als dass mittels konkreter Fragen und Formulierungsvorschläge direkt Einfluss genommen wird auf die Sprache des Textes, und damit auf seinen Inhalt. Die Angaben zu Punkt 1. Personalien, weichen nicht ab von den bisher aus der Akte bereits bekannten Daten (Name; Wohnort; Geburtstag; Geburtsort; Bekenntnis: evangelisch, getauft; Überweisung zur Fürsorgeerziehung durch Amtsgericht Querfurt; Beschluss vom 12. August 1937; Endgültige Fürsorgeerziehung nach §63 RJWG., Abs.1, Ziffer 1; Tag der Aufnahme 28. Oktober 1937), könnten also aus dieser erhoben worden sein. Die Frage nach bisheriger Schutzaufsicht wurde übergangen, Auskünfte hätte die Akte auch hierzu liefern können. Auf diese Informationsquelle wird nach Möglichkeit auch bei den folgenden beiden Teilen des Beobachtungsbogens gesetzt; die Rubrik 2. Familie und 3. Entwicklung VOR Überweisung in Fürsorgeerziehung ist mit dem Hinweis versehen: „Zu 2 und 3 – soweit aus den Ak-

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ten ersichtlich ist oder durch Nachfrage beim Jugendamt festgestellt werden kann.“ Die Umsetzung legt den Schluss nahe, dass die Aktenangaben für ausreichend erachtet wurden, verglichen mit der erheblichen Anzahl an Leitfragen bleiben die Angaben unter Punkt 2 eher spärlich. Wie in den Angaben zur Person, reproduzieren die Angaben zur Familie den bisherigen Aktenstand, der Leser liest Bekanntes, aber: in bisher ungesehener Anordnung: „Großvater:

nach Angabe des Begleiters Trinker.

Vater:

[...], Arbeiter, kümmerte sich wenig um den Jungen.

Mutter:

[...], keinen erzieherischen Einfluss, vernachlässigte den Jungen.“

Soweit sind die Informationen bekannt, ihr Arrangement aber ist neu. Standen bisher die Eltern mit ihrem Verhalten maßgeblich als Ursache für die Verwahrlosung ihres Sohnes im Mittelpunkt des Fürsorgeerziehungsverfahrens, bekommt in der familiären Konstellation nunmehr der Großvater seinen Platz zugewiesen. Daraus folgt zweierlei: 1. Eröffnung eines neuen Erzählstrangs (vom Großvater zum Enkel) 2. Aktivierung eines alternativen Denk-Schemas/Erklärungs-Musters (vom bloßen Verhalten – schlechte Angewohnheit – zur Erblehre – schlechte Gene; Vermengung von Beobachtbarem mit Latentem, Unsichtbaren) Damit werden neue „Fakten“ installiert (bzw. bekannte Informationen neu arrangiert), an die narrativ jederzeit angeknüpft werden kann, sind sie doch bereits in die Erzählung eingeführt, und damit tauglich als Ursache/Motiv für weitere Handlungsmomente. Durch die Einarbeitung „neuer Fakten“ (krankhafter Alkoholismus = Erbkrankheit nach GzVeN), kommt es zu einer „Neubewertung“ des Sachverhalts A.: schlechte/kranke Erbanlagen = mittelgradiger Schwachsinn = Erklärung für scheiternde Beschulung und für unsoziales Verhalten = Heimwechsel erforderlich sowie „zu gegebener Zeit“ Unfruchtbarmachung). Auf den folgenden beiden Seiten fragt Punkt 3 nach der Entwicklung von A. VOR der Überweisung zur Fürsorgeerziehung, unterteilt in 4 Unterpunkte. Ähnlich wie unter Punkt 2 bleiben die Ausführungen

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weit zurück hinter den Möglichkeiten der Leitfragen bzw. weiterführenden Informationen durch Auskünfte des Jugendamts; Unterpunkt 3a. Bisheriger Lebenslauf paraphrasiert den Unterbringungsbeschluss vom 12. August („[...] Vater und Mutter vernachlässigten die Erziehung des Jungen, [...] hatte Gelegenheit, sich ständig herumzutreiben, [...] Diebstähle, Tierquälereien und freche Redensarten [...]“) – bis auf den letzten Satz, in welchem der bisherige Faktenstand der Akte deutlich überschritten wird. Weder in den Einschätzung noch im Unterbringungsbeschluss wurde A. eine vorhandene bzw. eingesetzte Verwahrlosung attestiert, die Unterbringung wurde mit Schutzbedürftigkeit vor drohender Verwahrlosung begründet; nun aber schließt der bisherige Lebenslauf, der sich ausschließlich aus aktenkundigen Informationen zusammensetzt, mit der Feststellung: „Da die Verwahrlosung schon weit fortgeschritten war, wurde FE angeordnet.“ Ebenso wie die Einführung des Großvaters in den Fall A., illustriert dieses „nachträgliche Faktenschreiben“ die Mächtigkeit von Narration, Elemente (z.B. biographische) aus einem begrenzten kollektiven Informationspool (Pool loser Erzählenden) auszuwählen, „stimmig“ zu arrangieren und zu modifizieren. Und was könnte angesichts solch schwierigen Verhaltens, wie A. es in der Vergangenheit ebenso wie hier im Heim an den Tag legt(e), stimmiger sein, als eine bereits vor der Unterbringung weit fortgeschrittene Verwahrlosung. Sprachlich wird aus einem gerüchteweise trinkenden Großvater belastete (belastende) familiäre Erbmasse, wird aus einer drohenden Verwahrlosung eine bereits inkorporierte; dieser Schritt hängt nicht nur die Latte für erwartbare Erziehungserfolge des Heimes um einiges höher, etwaige Misserfolge „erklärt“ er bereits, vorauseilend; die auf den Weg gebrachten Sprachhandlungen (vgl. Eröffnungssatz) wirken im Vollzug wiederum objektkonstituierend: aus der Beschreibung wird ein Ist-Zustand, den alle fortan mit A. Befassten ebenfalls „feststellen“ werden (vgl. selbsterfüllende Prophezeiung). Der Unterpunkt 3b.: Gesundheitliche (körperliche) Entwicklung vor der Überweisung in Fürsorgeerziehung, fügt dem hierzu vorhandenen Aktenwissen nichts hinzu, zitiert das einzige, vor der Heimunterbringung erstellte ärztliche Gutachten wörtlich, und kennzeichnet es, unter Angabe der Quelle, als Zitat. Über dieses Gutachten hinausgehende Angaben finden sich nicht; auch hier wurden auf weiterführende Informationen durch „Nachfragen beim Jugendamt“ verzichtet,

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offenbar erachtete der Verfasser die vorhandenen für ausreichend: So war A. zum Zeitpunkt der Untersuchung vor 6 Wochen für sein Alter ein wenig zu klein, in „relativ gute[m] Kräfte- und Ernährungszustand“, „geistig besteht [...] gewisser Grad von angeborenem Schwachsinn (Imbezillität) mit sehr geringem Erwerb von Schulkenntnissen. Neigung zu unsozialen Handlungen, impulsiven Verkehrtheiten und zum Weglaufen.“ Angaben, die der Unterbringung von A. nicht nur aktenkundig sind, sondern seitdem gewissermaßen bereits wiederholt verifiziert wurden (Fluchtversuch von A. samt Leugnung desselben; psychiatrisches Gutachten), wodurch das KUHWALD-Gutachten nicht mehr eine bloße fachliche Einschätzung ist, sondern zur Tatsache gerinnt: Was dort geschrieben steht, trifft zu, wie man sehen kann. Die Angaben unter 3c.: Geistige (intellektuelle) Entwicklung vor der Überweisung in Fürsorgeerziehung sind gewohnt knapp gehalten; 2 Sätze, beide beziehen ihre Information offenkundig aus den Akten, genauer: der Einschätzung des Rektors der Querfurter Stadtschule vom 16. September, eine Angabe zur Herkunft (wie unter 3b) findet sich nicht. Angesichts der gängigen Übernahme von Informationen fällt auf, dass der erste der beiden Sätze im (logisch korrekten) Präteritum verfasst ist („Besuchte die 8-stufige Stadtschule in Querfurt und war in der 7. Klasse.“), der zweite Satz jedoch im Präsens steht, als fuße er auf aktuellen Beobachtungen aus der Heimzeit („Stört den Unterricht, keine Beteiligung“), obwohl diese Rubrik ausdrücklich die Entwicklung vor der Überweisung in Fürsorgeerziehung abfragt. Ein erneuter Brückenschlag über die Zeit, (fort-)geschriebene Konstanz der Verhältnisse, früherer A. und jetziger gleichen sich aufs Haar. Der letzte Unterpunkt zur Entwicklung vor seiner Heimunterbringung fragt nach A.’s Charakterentwicklung, sittlichem und sozialem Verhalten, und ist an Knappheit tatsächlich nur schwer zu unterbieten. Auf 19 Leitfragen wird in einem Satz Auskunft gegeben, wenngleich die letzte Frage Formulierungsbeistand geleistet zu haben scheint (zumindest taucht der Terminus „Rohheiten“ zuvor in der Akte nicht auf). „Trieb zum Umhertreiben, zu Rohheiten an Tieren, zu Diebstählen.“

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Auch diese Aussagen basieren auf Angaben vorhandener Aktendokumente, wie zuvor wird keine weitere Informationsquelle herangezogen, um Richtigkeit/Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der nächste Punkt im Beobachtungsbogen bringt uns aus der Zeit vor der Fürsorgeerziehung in die Zeit der Berichterstellung, in die Gegenwart der Unterbringung. Er fragt nach A.’s bisherigem Verhalten im Heim, ist untergliedert in 4 Unterpunkte, von denen Punkt a. der meiste Raum zur Verfügung steht. Angeboten werden diesem Punkt zur Beantwortung insgesamt 33 Leitfragen, an denen sich auch der diesbezügliche Bericht orientiert. Mit 23 Zeilen der bisher ausführlichste unter allen bisherigen Texten des Beobachtungsbogens, ist auch er handschriftlich verfasst, der Schrift nach ist auf denselben Verfasser zu schließen; eine weitere Gemeinsamkeit mit den vorherigen Texten besteht in seiner feststellenden Sprache. Der Verfasser gibt nicht an, was er beobachtet, sondern Vorkommnisse so wieder, wie sie sich ereignet haben/wie sie sind. Die Vorkommnisse werden moderierend verbunden, Motive und Gründe erkannt und genannt, Verhalten bewertet, notwendige Schlüsse gezogen. So wird bereits Bekanntes (nach-)erzählt und erklärt (Fluchtversuch, Lügengeschichten, geringe schulische Leistungen, Störung des Unterrichts, überschwängliche Phantasie), die entsprechenden Konsequenzen gefordert (Verlegung in Heim mit Hilfsschule). Obwohl es sich um einen einzigen Vorfall handelt, der zudem in der Form, in welcher permanent auf ihn Bezug genommen wird, einzig schriftlich, als Nacherzählung eines Vorgangs in der Akte existiert, wird der „Fluchtversuch“ – ebenso wie im psychiatrischen Gutachten – zum Symptom für A.’s krankhaftes Verhalten. Entsprechend erhält er auch im Bericht zum bisherigen Verhalten im Heim illustrierende Funktion, steht beispielhaft für all jenes, was bereits (und noch) im Argen liegt bei A. „Sein starker Trieb zum Umhertreiben veranlasste ihn schon nach kurzer Zeit seines Hierseins einen Fluchtversuch zu machen“ (Z.2-4), hat demnach so starke Kontrolle über A., dass er ihn nötigt, offensichtlich falsche Dinge zu tun, und deren Konsequenzen daraufhin hilflos ausgeliefert zu sein. („Er wusste weder wohin er sich wenden wollte noch warum er fortwollte. Nach seiner Rückkehr log er sinnlos und zog andere Kinder mit in die Angelegenheit hinein.“ (Z.4-6) Bemerkenswert an dieser Erzählvariante des Flucht-Vorkommnisses ist nicht

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nur die dramaturgische Ausschmückung des Ablaufs,324 sondern vielmehr die Tatsache, dass wesentliche Informationen, sowie deren Handhabung, außerhalb des Fokus’ bleiben. So kann nur sein starker Trieb zum Umhertreiben A. zur Entweichung veranlasst haben, denn einen anderen Grund kann es nicht gegeben haben. Oder geben. Eine mögliche Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation etwa? Nein, schließlich habe er derartiges nicht geäußert; im Gegenteil, A. „wusste ja nicht einmal [...] warum er fortwollte“ (Z.4-5). Nicht minder bemerkenswert an diesem Bericht sind zwei weitere Sachverhalte, deren Benennung tatsächlich neu ist, sie in keinem Dokument zuvor genannt wurden, deren Handhabung aber Bestandteil des gleichen Erzählmusters zu sein scheint. Als handele es sich – wie beim Umhertreiben – um eine altbekannte Verhaltensauffälligkeit, schildert der Verfasser unaufgeregt das bis dato nirgends erwähnte regressive Verhalten. „An sich selber ist der Junge sehr schmutzig. Er kotet die Hose ein und verschmiert seinen Kot selbst auf die Schulbücher.“(Z.8-10) Ebenso neu – bisher unbenannt – und unaufgeregt ist auch die Anführung des Verhaltens bei körperlichen Stimulationen: „[A.] ist sehr feige, fürchtet sich vor dem kleinsten körperlichem Schmerz.“ (Z.1416) Man möchte nicht fragen, welche Situationen Anlass zu solcher Auskunft gegeben haben mögen, benötigt allerdings keine besonders ausgeprägte Phantasie, um zu üblichen Erziehungsmaßnahmen zu gelangen, offiziellen wie inoffiziellen.325 Ob A. im Landeserziehungs-

324 Dem ersten Bericht über den Vorfall nach hat „Herr EGGE [A.] oben am [...] Tor zufällig getroffen und wieder in die Schule gebracht.“ In dieser (bereits nacherzählenden) Schilderung tauchen weder die Begriffe „Flucht“, „Entweichen“, noch „Suche“ oder „Rückkehr“ auf, die dem Vorfall narrativ zum Fluchtversuch qualifizierten. Doch machen wir uns die Lesart der Heimmitarbeiter zu eigen, es habe sich um einen Versuch gehandelt, das Gelände (das Erziehungsheim, die ganze Fürsorgeerziehung) zu verlassen... 325 Auch ein Jahrzehnt nach Heimrevolten wegen unhaltbarer Zustände waren körperliche Bestrafungen zu Erziehungszwecken ebenso an der Tagesordnung wie Misshandlungen der Zöglinge untereinander, mehr oder weniger geduldet vom Heimpersonal. Vgl. KUHLMANN (2008); LAMPEL (1929).

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heim Nordhausen aus ,erzieherischen Gründen‘ körperlich Gewalt angetan wurde oder er an Handlungen anderer Zöglinge zu leiden hatte, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden; Indizien sprechen für beide Varianten, so etwa der Hinweis auf die Bestrafung nach seinem Antreffen am oberen Tor oder das wiederholte Insistieren auf die notorische Unglaubwürdigkeit von A.’s Aussagen. Wem auch immer gegenüber sich Zögling A. bezüglich seiner Erlebnisse im Erziehungsheim geäußert hatte oder äußern würde: als verlässlicher Zeuge taugt A. nicht. Im Gegenteil, wenn die Pferde seiner Phantasie mit ihm durchgehen, kann er schon einmal durch und durch unwahre Behauptungen vorbringen, die aber zweifelsohne realer Entsprechung entbehren, und selbst wenn nicht, wer könnte schon unterscheiden zwischen Lüge und Wahrheit. „Seine phantastischen Lügengeschichten werden so hartnäckig als wahr betont, daß man den Eindruck hat, als glaube er selber daran. Er kann keinen Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit machen.“ (Z.16-19)

Die letzten beiden Sätze des Berichts zu 4a. Bisheriges Verhalten im Heim hingegen greifen bereits Erzähltes aus der Akte auf, „bekräftigen“ dies durch Steigerungen („[...] ist im Unterricht der Normalschulklasse nicht erträglich“ (Z.20-21), und stellen sich hinter die geforderten Konsequenzen: („Es ist notwendig, daß der Junge in ein Heim mit Hilfsschuleinrichtung verlegt wird.“ Z.22-23), qualifizieren diese als einzig richtige. Damit endet der ausführliche Teil des Berichts zur bisherigen Heimunterbringung, die weiteren drei Unterpunkte teilen sich eine Seite, die diesbezüglichen Angaben sind entsprechend knapp gehalten. Nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung bezüglich des körperlichen Gesundheitszustandes fragt 4b. (ohne Leitfragen) – die entsprechenden Angaben stammen möglicherweise vom Heimarzt Dr. BITTERSOHL, ohne dass dieser jedoch zitiert wird oder zeichnete. „Kräfte und Ernährungszustand: mäßig, Knochenorgane o.B., Gebiß defekt, Herz und Lunge o.B., etwas kurzsichtig, Gehörvermögen gut, macht debilen Eindruck.“

Um Beurteilung des seelischen Gesundheitszustandes und der seelischen Verhaltensweise ersucht Unterpunkt 4c., und konkretisiert das Erkenntnisinteresse genauer in der Leitfrage: „Leidet der (die) Minder-

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jährige an einer erheblichen geistigen oder seelischen Regelwidrigkeit?“ Oder anders gefragt: Gibt es Gründe unabänderbarer Natur, die gegen eine grundsätzliche Erziehbarkeit des Zöglings sprechen? Lohnen sich die angeordneten Maßnahmen der Fürsorgeerziehung überhaupt angesichts des festgestellten (Gesundheits-) Zustands? Die Antwort fällt erstaunlich unkonkret aus; im Unterschied zur bisherigen klaren Haltung dem beklagten Verhalten gegenüber, und vor allem den umgehenden Erklärungen desselben, scheint der Verfasser sich bei dieser Frage nicht festlegen, die Auslegung der Angaben eher delegieren zu wollen. Die beiden Angaben lauten wie folgt: „Starker Hang zu fantastischen Lügen und zum Fortlaufen.“ sowie „Übertriebene Angst bei körperlichen Schmerzen.“ Es fällt auf, dass die körperlichen Schmerzen bereits zum zweiten Mal Eingang in den Bericht finden, zumal sie an dieser Stelle, in Kombination mit A.’s ,Schwierigkeiten‘ bei der Triebbeherrschung, narrativ keine eindeutige Funktion übernehmen, die den bisherigen Verlauf erklären und den angestrebten Verlauf befördern würde.326 Bemerkenswert auch, das Augenmerk des Lesers – erster Adressat ist die oberste FE-Behörde – wiederholt auf das Vorhandensein körperlicher Schmerzen zu lenken; möglicherweise ist die Leitung des Erziehungsheims Nordhausen sich der Untadeligkeit ihres Vorgehens auch einfach nur bewusst... Das Ergebnis der Intelligenz- und evt. psychologischen Prüfung, besonders im Hinblick auf die berufliche Eignung, ist zum Zeitpunkt der Berichterstellung „noch nicht bekannt“; wenn denn ein solcher Test überhaupt erfolgte, in der Akte findet sich keine Anordnung oder Absichtserklärung, A. entsprechend untersuchen zu lassen.

326 Uneindeutige Erzählmomente sind weder selten noch ungewöhnlich; sie werden vom Autor gemeinhin gebraucht, um Offenheit, fehlende Prädestiniertheit des weiteren Geschichtsverlaufs zu simulieren. In unserem Fall, dem Bericht zur Einschätzung des bisherigen Verhaltens im Heim und daraus abzuleitend, künftiger Maßnahmen, wirken uneindeutige Indizien eher kontraproduktiv für das tatsächliche Anliegen des Berichts, zumal jeder zweite Satz ausruft: Der Minderjährige ist so stark gestört, dass er in ein anderes Heim gehört!

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Im letzten Teil des Beobachtungsbogens versammeln sich die bisherigen Angaben und Ausführungen zu Zögling A., und werden zu beurteilen verlangt. War in den Punkten 1-4 des Bogens (rein formal) Deskription gefordert – wie zu lesen war, dominierten die beschreibenden Aspekte die Darstellungen unterschiedlich stark – so fragt Punkt 5 nach dem Ergebnis der pädagogischen Beobachtungen des Heims und Vorschlägen für die weitere Erziehung; zur Beschreibung soll sich nun ausdrücklich die Reflexion hinzu gesellen. Und als gelte es, eigens die These unserer Untersuchung zu belegen, findet das in den Darstellungen der ersten vier Punkte dargebotene Material Eingang in den abschließenden Bericht, wird dort, den Erfordernissen der Darstellung entsprechend, aufbereitet, angepasst, angeordnet – und dann beginnt eine weitere Erzählung vom minderwerten Zögling A.; möglicher Untertitel der aktuellen Variante: und seinen Erlebnissen im Heim. Der Aufbau des Ergebnisberichts ordnet aktenkundige Angaben zu einem Erzählstrang, der von der Vergangenheit in die Gegenwart führt, die beschriebenen Vorkommnisse also in einer zeitlichen Abfolge an, leitet aneinander anschließende Vorgänge und Maßnahmen aus vorhergehenden ab, erzeugt über die Anordnung auf der zeitlichen Ebene eine (den Vorgängen scheinbar eigene) Kausalbeziehung; 34 maschinegeschriebene Zeilen, verfasst vom Direktor der Einrichtung. Wie bei der Mehrzahl der Beobachtungsfragen zuvor, werden auch dem Verfasser des abschließenden Berichts Leitfragen (13 an der Zahl) an die Hand gegeben, auf deren Bezugnahme der Text jedoch keine eindeutigen Schlüsse zulässt. Zusätzlich zu den Leitfragen findet sich, wie bei Punkt 4c., die Frage nach der grundsätzlichen Erziehbarkeit des Zöglings, diesmal in einer expliziteren Fassung: „Sind aus Gründen, die in der Person des Minderjährigen liegen, Zweifel über die Ausführbarkeit der Fürsorgeerziehung hervorgetreten – gegebenenfalls inwiefern?“ Zu dieser Frage gibt der Verfasser, ähnlich wie auf die Frage nach der Beurteilung des seelischen Gesundheitszustandes und der seelischen Verhaltensweise, Auskunft, indem er das völlige Scheitern der bisherigen Erziehungsversuche schildert, behält sich aber eine eindeutige Antwort vor. Auch diese Haltung ist keine unbekannte, vielmehr zieht sie sich durch den Beobachtungsbogen: Obwohl in unserem Heim bisher kein Nachweis für die Erziehbarkeit des Zöglings er-

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bracht werden konnte, halten wir sie dennoch nicht für ausgeschlossen, doch möge bitte ein Anderer sich daran versuchen. Der erste Abschnitt des Ergebnisberichtes referiert die Unterbringungsgründe, die Angaben scheinen direkt aus dem Unterbringungsbeschluss zu stammen, denn wie im Beschlussdokument auch, übernimmt A. im Abschlussbericht (wieder) den aktiven Part im Geschehen.327 Der Verfasser fügt den vom Vormundschaftsgericht aufgeführten Gründen keine weiteren hinzu, erwähnt das Versagen der Schutzaufsicht sowie die erzieherische Hilflosigkeit der Eltern, „diesen schwierigen Jungen zu bändigen“ (Z.6-7). Im nächsten Abschnitt wird das Gutachten des Dr. KUHWALD in voller Länge zitiert, handelt es sich doch um die objektive Einschätzung des Falls durch „den leitenden Arzt vom Krankenhause im Querfurt“, einen Experten also, welches daraufhin, im Fortgang der realen Geschehnisse wie im vorliegenden Bericht, einer lebensnahen Überprüfung unterzogen wurde. Im darauffolgenden Kapitel nämlich findet der Leser die KUHWALDʼschen Diagnosen aufs Haar genau bestätigt, gleichsam empirisch belegt. „Nach seinem Verhalten im hiesigen Heim haben sich diese Feststellungen des Arztes bestätigt.“ (Z.14-15) Diese Aussagen werden in der nachfolgenden Charakterisierung noch erweitert, die Reichweite der eigenen Erziehungsbemühungen wird vorsorglich abgesteckt, denn ohne die entsprechende Voraussetzungen beim Zögling wird keine Erfolgsgarantie übernommen. „Der Junge ist geistig und moralisch völlig minderwertig. Er ist hochgradig schwachsinnig, völlig gemütsarm, ohne Willensantrieb und bar jeglicher ethischen Vorstellungen und Werturteile.“ (Z.15-18)

Wie der Verfasser des Berichts zu einer derart drastischen Einschätzung kommt, geht aus den Dokumenten der Akte nicht hervor; die konstatierenden Aussagen der Zeilen 15-18 stützen sich auf keine überlieferten Angaben, so dass zu ihrer Erklärung, neben persönlichen Motiven, nur die für notwendig erachtete Rechtfertigung wegen ausbleibendem Erziehungserfolg, sowie das Bestreben nach einer

327 „[...] er beging Diebstähle, Tierquälereien, nahm Vogelnester aus, schwänzte die Schule, fertigte keine Schularbeiten an, war äußerst frech und ungezogen und trieb sich auf der Straße umher“ (Z.2-5).

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schnellstmöglichen Verlegung von A. in ein „entsprechendes“ Heim herangezogen werden können. Doch selbst, wenn man die Beschreibung des Ist-Zustands von A.328 als narrative Vorbereitung für die nachfolgend beschriebenen Erziehungsschwierigkeiten liest, hilft das nicht über ihre Inkohärenz stiftende Wirkung hinweg. Wurde soeben noch das Gutachten des Querfurter Klinikleiters als Beweis wissenschaftlicher Genauigkeit zitiert, wird nun seine Einschätzung unversehens modifiziert: den von KUHWALD diagnostizierten „gewissen Grad von angeborenem Schwachsinn (Imbezilliät)“ steigert der Verfasser zu „hochgradig schwachsinnig“, was nach der Nomenklatur der Zeit Idiotie bedeutete. Selbst bei der jüngsten Untersuchung durch den Heimarzt Dr. BITTERSOHL, machte A. einen „debilen Eindruck“, also die leichteste Form geistiger Einschränkung. Ebenso kontraproduktiv für die eigene Argumentationskette wirkt das Insistieren auf Gemütsarmut und fehlenden Willensantrieb, wenn im Fortgang des Berichts geklagt wird, dass A. „dauernder Aufsicht bedarf, damit er nicht wegläuft.“ Willenlose Fluchtversuche also, und davon dann gleich mehrere? Bisher war immer nur von einem einzigen, beobachtet-erzählten Versuch die Rede gewesen, bisher hatte ein einziger solcher ausreichen müssen als Manifestation von A.’s triebhafter Veranlagung zum Umhertreiben, als Ausdruck seiner Unberechenbarkeit; warum diese Mühe, wenn es zu Belegzwecken doch noch zahlreich weitere gegeben hat, wie der Verfasser angibt? Ob es für diese dann wohl wenigstens einen Anlass gab? Wir ahnen, dass dem nicht so ist, denn wie bereits zuvor bei A. reinweg kein Grund für eine übertriebene Schmerzempfindlichkeit vorlag, so auch im Fall der latenten Fluchtgefahr: A. begeht Handlungen, zu denen „er keinerlei Grund hat“ (Z.20-21). Also können diese Handlungen, nach Heim-Lesart, nur Ausdruck des beschriebenen Ist-Zustands sein, der bei A. „festgestellt“ wurde. Entsprechend werden auch seine „Unsauberkeiten“ beschrieben – und gelesen –, als Ausdruck hochgradigen Schwachsinns, ebenso seine „völlig ungenügenden schulischen Leistungen“; „er kann sich nicht konzentrieren, kann nicht folgen, so daß eine Vorstellungserweiterung nur in ganz geringem Maße stattfindet“ (Z.24-25).

328 „[...] ist [...] minderwertig, ist [...] schwachsinnig, [ist] [...] gemütsarm, [ist] ohne Willensantrieb, [...].“

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Der Bericht erreicht hier einen Punkt, wie er klassischer kaum sein kann, gleich, ob in faktischer oder fiktionaler Literatur: die Exposition des Konflikts ist abgeschlossen, was fehlt, ist das Wissen um die Mittel seiner Lösung. Doch halt, wie wäre es denn, die Störung der Situation durch Entfernung des Störenfrieds zu beheben? Eine zugegebenermaßen nicht wirklich originelle, dafür bewährte Handlungsoption, die bereits den entnervten Klassenlehrer wieder ruhig schlafen ließ und angespannte Nachbarschaftsverhältnisse harmonisieren half. Nur haftet diesem Schritt immer auch ein wenig der Hauch von Unfähigkeit an, vom Unvermögen zu adäquater Situationsbewältigung, weshalb man ihn als Option gern an sich herantragen lässt, als Inspiration von außen, gewissermaßen. Und wie der Zufall es will, hatte bereits das psychiatrische Gutachten vor einem Monat genau diesen Schritt vorgeschlagen, mehr noch, A.’s „Verlegung in ein Hilfsschulheim für nötig erachtet“ (Z.28). Wenn der Psychiater den Zögling in der hiesigen Anstalt für fehl am Platz hält, dann wird er berechtigte Gründe für solche Einschätzung haben, die es an dieser Stelle nicht anzuzweifeln gilt, und denen man sich als Verantwortungsträger durchaus anschließen kann. Ebenfalls schließt sich der Verfasser des Berichts der Forderung nach Unfruchtbarmachung des A. an, dabei verlässt er die Ebene der Paraphrasierung des Gutachtens, wird selbst zum Experten, kraft dessen Autorität die Notwendigkeit eines solchen Eingriffs nun zweifelsfrei konstatiert werden kann: „Ebenso ist seine Unfruchtbarmachung zu gegebener Zeit erforderlich.“ (Z.30). Zum Abschluss fasst der Berichtverfasser noch einmal den status quo um Zögling A. zusammen, und schließt mit der sorgfältig vorbereiteten Forderung nach dessen „baldiger Entfernung aus dem hiesigen Heim“ (Z.33-34). Der Beobachtungsbogen mit dem klaren Appell an die Fürsorgeerziehungs-Behörde verlässt das Landeserziehungsheim Nordhausen am 12. Dezember 1937, zusätzlich versehen mit der Bemerkung, „Einen Lebenslauf kann der Junge noch nicht schreiben“, wird vom Oberpräsidenten – Verwaltung des Provinzialverbandes Merseburg –, am 22. Dezember zurückgesandt mit dem Hinweis, „Vordruck F.29 noch auszufüllen und beizufügen“. Einen Weihnachtsurlaub bei den Eltern oder deren Besuch bei A. erwähnt die Akte nicht.

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1938 Am 4. Januar macht sich der Beobachtungsbogen erneut auf den Weg nach Merseburg, nunmehr mit ausgefülltem Vordruck F.29. Der aus zwei Blättern bestehende Bogen blieb leer, was angesichts der vehementen Forderung der Heimleitung nach baldiger Entfernung von A. aus dem hiesigen Heim verwundert, denn es handelt sich um das Formular: Zur Aufnahme in eine Anstalt mit Hilfsschuleinrichtung wird vorgeschlagen. Oder es verwundert auch nicht, denn eingetragen in ein Formular, entfalten die zuvor über mehrere Seiten ausgebreiteten Gründe für einen solchen Vorschlag weitaus weniger Wirkung als in der erzählten Form eines Berichts. Die narrative (Eigen-)Dynamik scheint sich zu verlieren im stark formalisierten Frage-Antwort-Schema des Bogens, selbst der Wahrheitsgehalt der Angaben scheint weniger stark zu variieren als noch im Berichttext selbst. So steht unter Punkt 5: Geistige und körperliche Krankheitserscheinungen: „Schwachsinn, gez. Dr. Bittersohl“ geschrieben, der Willensantrieb wird mit „gering“ beschrieben, ebenso die Konzentrationsfähigkeit. Die Aufführung von guten und schlechten Charaktereigenschaften (Punkt 8) erscheint eher unausgewogen („schmutzig, starker Trieb sich herumzutreiben, verlogen, erfindet phantastische Lügengeschichten, feige, nässt und kotet die Hose ein.“), an kriminellen Neigungen (Punkt 10) wird bei A. festgestellt: „Nimmt seinen Kameraden Spielzeug weg.“ Das Formular beschließt die Frage nach Beobachtungen während eines früheren Heimaufenthaltes hinsichtlich Intelligenz und motorischer Betätigung, die Antwort lautet: „Geistig mindestens 4 Jahre zurück.“, es zeichnen Direktor HERRMANN und Lehrerin KRAEFT, 4. Januar 1938, Nordhausen. Um das Ergebnis der beantragten Verlegung von A. aus dem Landeserziehungsheim vorwegzunehmen: in den nächsten 18 Monaten kommt es zu einer solchen nicht. Aus welchen Gründen auch immer die FE-Behörde Merseburg dem dringlichen Vorschlag zur Aufnahme in eine Anstalt mit Hilfsschuleinrichtung nicht nachkam: im Beobachtungsbogen – und damit in der Akte – festgeschrieben (be-)findet sich von nun an ein geistig und moralisch völlig minderwertiger, hochgradig schwachsinniger, völlig gemütsarmer Zögling ohne Willensantrieb und bar jeglicher ethischen Vorstellungen und Werturteile, dessen beschriebenes Verhalten von keinem der Beteiligten anders gelesen wur-

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de denn als Ausdruck von Schwachsinn und fortgeschrittener Verwahrlosung des 11-jährigen, schon gar nicht als Ausdruck möglicher Hilflosigkeit. Das Attribut „Minderwertigkeit“ taucht im Diskurs um „Ballastexistenzen“, „Ausmerzung“ und „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ seit den 1920er Jahren vorerst v.a. in Juristen-, Theologen- und Medizinerkreisen auf, hält jedoch relativ zeitnah Einzug auch in Fürsorgeerziehungs-Debatten, findet einen gesetzlichen Rahmen in „Ermächtigungsgesetz“ und „Sterilisationsgesetz“, beide beschlossen 1933, und verschärft sich in den nächsten 4 Jahren rigoros, bis hin zur Erfassung und Tötung unerwünschter Personen. Spätestens mit Beginn und Durchführung systematischer Tötungen von „Ballastexistenzen“ in und aus Heil- und Pflegeanstalten im Herbst 1939, bleibt die Attribuierung „völlig minderwertig“ und „hochgradig schwachsinnig“ nicht länger nur Synonym für „lebensunwert“, es wird zu dessen eindeutigem Indiz, der Bezeichnete zum Todeskandidaten. Und wie so viele andere Debatten, war auch die Auseinandersetzungen um die Ausmerzung Einzelner (Personen wie Gruppen) zum Wohle des Volkskörpers nicht im Verborgenen geführt worden, weder in den kurzen Jahren der Weimarer Demokratie noch in nachfolgenden. Sowohl in fachwissenschaftlichen Kreisen als auch in populären Publikationen wurde sich grundsätzlichen wie detaillierten Fragen gewidmet, wurden ausführlich und erbittert um Berechtigung oder Verpflichtung diskutiert, Beurteilungskriterien aufgestellt, Art und Form der Durchführung beraten.329 Wie so oft im zwischenmenschlichen

329 In den rassenhygienischen Diskurs war auch die Fürsorgeerziehung involviert, schließlich zählte sie unter den Teilnehmern und Gestaltern (im Gegensatz zu Theologen und Juristen) letztlich zur Exekutiven, ebenso wie die Medizin. Im November 1934 lud der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag zu seiner Jahrestagung auch Prof. Dr. med. VILLINGER nach Würzburg ein, um sich von seinen Erfahrungen mit der Durchführung des Erbkrankheitenverhütungsgesetzes an männlichen Fürsorgezöglingen berichten zu lassen. Referent VILLINGER galt seit den 1920er Jahren als Experte für Fürsorgezöglinge und jugendliche Kriminelle, hatte in seiner Funktion als leitender Arzt der Anstalt Bethel vom sog. Sterilisationsgesetz (14. Juli 1933) von Beginn an ausgiebig Gebrauch gemacht, und veranschaulichte

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Miteinander, war die Sprache der Tat voraus gegangen, in diesem Fall eine konkrete, radikale Sprache.330 Die Vergabe solcher Attribute an Pfleglinge wie an Zöglinge erfolgte also wissentlich; im Wissen um die „Bedeutung“ dieser Zuschreibungen samt der ganz realen, praktischen Konsequenzen. Am 9. Januar 1938 wird A. erstmals besucht, von Mutter und Schwester; wie der Heimleitung mitgeteilt wird, ist „Nachteiliges“ nicht beobachtet worden. Der nächste Besuch erfolgt ein halbes Jahr später, am 3. Juli 1938, wieder Mutter und Schwester, diese zeigten sich „sehr ruhig und zurückhaltend“, wie der Aktenvermerk berichtet. Dieser Rhythmus wird beibehalten, A. sieht seine Familie im Jahr zweimal, die Besuche werden vorher ordnungsgemäß vom Vater bei der Heimleitung angemeldet, darüber hinaus weiß die Akte nichts über die Vorgänge im Heim zu berichten. Jeweils im Juni 1938 und 1939 geht ein ausgefülltes Formularblatt von Nordhausen an die FE-Behörde nach Merseburg, der turnusgemäße Erziehungsbericht für Schulpflichtige; die Angaben sind karg, Umfang und Inhalt lassen den Schluss zu, man habe sich im Heim mit der Anwesenheit von A. abgefunden.

den interessierten Tagungsteilnehmern Praxis, Notwendigkeit und Schwierigkeiten der Unfruchtbarmachung von Fürsorgezöglingen. Auch auf Reaktionen der Jugendlichen und ihrer Angehörigen geht der Mediziner ein, dessen Name später auf der Liste der Gutachter der „T4-Aktion“ stehen wird. Der Vortrag wird im darauf folgenden Jahr von der renommierten Zeitschrift „Kinderforschung“ im Wortlaut abgedruckt. Vgl. WILKES (2002): Wie erlebten Jugendliche ihre Zwangssterilisation in der Zeit des Nationalsozialismus?, Der Nervenarzt 2002, 73, S. 1055-1057. 330 In diesem Fall eine Sprache von derart überschießender Radikalität, dass sie „unter bestimmten Umständen in der Realität eingeholt werden kann.“ Wie wir wissen, blieb es bei der Möglichkeit allein nicht. SCHMUHL (1997); Eugenik und „Euthanasie“ – Zwei Paar Schuhe? Westfälische Forschung 47, S. 757-762.

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Beurlaubung nach Hause Im August 1939, 22 Monate nach seiner Unterbringung im Landeserziehungsheim Nordhausen, nimmt der bisherige Verlauf eine unerwartete Wende: A. wird von einem Tag auf den anderen nach Hause beurlaubt. Nicht wegen vorzeitigem Erreichen des Zwecks der Fürsorgeerziehung, sondern aus Gründen, die mit seinem Verhalten in keinem direkten Zusammenhang stehen: einem kurzfristig veränderten Nutzungskonzept des Provinzialerziehungsheims Nordhausen. Ein auf den 30. August 1939 datierter, vom Direktor unterzeichneter, darüber hinaus unausgefüllter Formulartorso, teilt die Ereignisse um das Landeserziehungsheim mit. „Das hiesige Heim ist seit einigen Tagen einem anderen Zwecke zugeführt worden. Auf Anordnung seiner vorgesetzten Behörde musste es umgehend von den Zöglingen geräumt werden. Daher habe ich am 28./29.d.Mts. ........ geb. am ....... 19 ....... zu den Angehörigen nach Hause beurlaubt“.331

331 Ähnlich wie beim Unterbringungsverlauf von Zögling D. (Vgl. Kap. 4.2), sorgt im August 1939 in Nordhausen ein unvermittelter, ein „äußerer“ Impuls für die neue, unverhoffte Richtungnahme in A.’s Unterbringung. (Von außen meint von außerhalb des Erzählrahmens auf die Geschichte einwirkend, aus Sicht der Erzählenden: ungeplant und unverhofft.) Zur Rolle des Zufalls hinsichtlich des Eintretens unerhörter Geschehensmomente, den Schwierigkeiten der erzählerischen Integrierbarkeit derselben in eine weitgehend geschlossene Darstellung sowie der praktischen Relevanz solch zufälliger Ereignisse vgl. Anm. 346 im Kap. 4.2.; bezüglich der überraschenden Beurlaubung von Zögling A. nachhause infolge unerwarteter äußerer Umstände (Heimräumung infolge behördlicher Anordnung) gilt es anzumerken, dass Zufallsmomente wie der beschriebene, in den Unterbringungsakten von Fürsorgezöglingen weitaus häufiger auftauchen, im praktischen Fallverlauf eine weitaus erheblichere Rolle spielen, als in den erzählten Verlaufsberichten der Einrichtungen dokumentiert. Die Situation von A. kann dafür als beispielhaft angesehen werden, dass und wie zufällige, (i.S. von: von den Beteiligten ungeplante, nichtantizipierte) Ereignisse zu neuen (in diesem Fall für den Zögling und seine Familie durchaus essentiellen) Möglichkeiten führen können; im vorliegenden Fall zur Aussicht auf Neubewertung der Situation, möglich ge-

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Einen Monat vor seinem 13. Geburtstag sieht A. seine Familie und die elterliche Wohnung in Querfurt wieder, sein Vater bestätigt am 5. September 1939 der Heimleitung in Nordhausen, „dass mein Sohn bei mir eingetroffen ist“, das Kreisjugendamt Querfurt wird gebeten, „die Aufsicht über das Kind zu übernehmen“. Weiter weist Heimleiter HERRMANN darauf hin, dass in Anbetracht der knappen zeitlichen Ressourcen „eine vorherige Anfrage beim dortigen Jugendamt über Geeignetheit der häuslichen Verhältnisse [...] in diesem Fall nicht möglich [war], weil schnell geräumt werden mußte, und mir zur Freigabe des Heimes nur wenige Tage zur Verfügung standen.“ Die häuslichen Verhältnisse bei A.’s Heimkehr werden in der Akte nicht weiter erwähnt, bleiben aber alles andere als unbedeutend für A. und seine Familie. Sein bisheriges „Heim“ übersendet ein SchulÜberweisungszeugnis („besuchte die 5-klassige Heimschule vom 28.10.37 bis 28.8.39 und wurde aus der 5. Klasse 1. Schuljahr entlassen“), und A. beginnt das neue Schuljahr in der Stadtschule Querfurt. Viereinhalb Monate vergehen ohne aktenkundige Vorkommnisse, A. verlebt Weihnachten zuhause, geht zur Schule, bis eine Anfrage aus Nordhausen an das Kreisjugendamt Querfurt das behördliche Verfahrensrad erneut in Bewegung setzt. 1940 Wie es denn nun weiterginge mit A., möchte das Landeserziehungsheim wissen, ob nach Einschätzung des Kreisjugendamtes die Durchführung der Fürsorgeerziehung auch außerhalb des Erziehungsheimes erfolgen könne, in Familienerziehung beispielweise, die rechtlichen Vorgaben durch das RJWG ließen den Verantwortlichen den erforderlichen Spielraum.332

worden erst durch ein Verlassen, Durchbrechen des bisherigen Erzählrahmens. 332 Im Kommentar zum §62 RJWG verweisen die Autoren auf die Familienerziehung als mittelfristige Zielanstrebung von Fürsorgeerziehung. „Die Familienerziehung bleibt das Ziel jeder Ersatzerziehung, auch wo zunächst wegen Verwahrlosung Anstaltserziehung vorhergehen muß; Ausnahmen ergeben sich nur bei anormalen Zöglingen.“ RJWG (1923), S. 258. §69 des RJWG sieht vor, dass „der Minderjährige mindestens bis zum Aufhören der Schulpflicht in einer Familie seines Bekenntnisses“

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Um die Brisanz dieser Anfrage auch nur annähernd abschätzen zu können, müssen wir uns kurz vor Augen führen, wer unter Hinweis worauf wonach fragt: Der Direktor des Landeserziehungsheims Nordhausen, dem A.’s Verhalten vom Beginn seiner Unterbringung im Heim an höchst suspekt erschien, der als Erklärung hierfür lediglich Schwachsinn und Minderwertigkeit fand, hätte während dieser 22 Monate währenden Unterbringung durchaus Gebrauch machen können von der Möglichkeit, auf die er jetzt abzielt, um A. auf keinen Fall wieder im Heim aufnehmen zu müssen: Durchführung von Fürsorgeerziehung außerhalb des Heims. In keinem der bisherigen Berichte wurde diese Möglichkeit auch nur in Erwägung gezogen. Nun, da die bisherige Art der Fürsorgeerziehung ungeplant unterbrochen worden ist, und der Zögling sich wieder im Elternhaus befindet, zieht selbst die Direktion des Nordhausener Erziehungsheims Familienerziehung näher in Betracht; zu diesem Zeitpunkt kommt ein solcher Vorschlag ja auch nicht mehr einer Anerkennung fremdgezogener Grenzen der Erziehbarkeit gleich. Als Folge der Anfrage also gilt es, die Situation vor Ort daraufhin zu überprüfen, ob eine erneute Unterbringung im Erziehungsheim oder Erziehung in einer Familie, vielleicht sogar unter öffentlicher Aufsicht in der eigenen, angeraten scheint, kurzum: die Frage zu beantworten, welche Richtung A.’s Biographieverlauf nehmen soll. Analog zum Zustandekommen seiner Beurteilung im Heim, spielen A., sein „tatsächliches“ Verhalten sowie die Beziehungen im Elternhaus nur eine Rolle unter vielen bei der Entscheidungsfindung um angemessenes Vorgehen: Das behördliche Verfahrensrad, angetrieben von Berichten über Vorgänge und papierner Korrespondenz zwischen

unterzubringen ist, in einer anderen als seiner Herkunftsfamilie also. (S.257) „Als eine besondere Art der Familienerziehung“ besteht aber auch die Möglichkeit, „in Ausführung einer angeordneten Fürsorgeerziehung [...] die Erziehung in der eigenen Familie des Minderjährigen“ anzuordnen, freilich „unter öffentlicher Aufsicht“ und auf Widerruf. Seit kurzem möglich sei dies „auch schon im Anfangsstadium nach Anordnung der FE., wobei die Bedingung erfüllt sein muß, daß durch die Überweisung in die eigene Familie der Zweck der FE. nicht gefährdet wird.“ RJWG (1923), S. 258.

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den beteiligten inkludierten Einrichtungen rotiert, als wäre es ein ohne äußere Einwirkung in Gang gehaltener, unmotivierter Richtungsgeber. Der entsprechende Schriftverkehr führt über die Heimleitung in Nordhausen; das Kreisjugendamt Querfurt bearbeitet die Anfrage des Heimleiters, indem es Erkundigungen einholt bei der Stadtschule Querfurt. Schulrektor PAPKE versagt der Möglichkeit seine Zustimmung, A. in Familienerziehung und damit weitere drei Jahre an seiner Schule zu wissen, und führt in einem entsprechenden Bericht die offensichtlichen Nachteile einer solchen Variante aus, und dem Kreisjugendamt wie der Heimleitung vor Augen. Der Bericht vom 24. Januar 1940 liest sich wie eine Collage aus gerichtlichem Unterbringungsbeschluss und Beobachtungsbericht des Erziehungsheims: Bedingt durch „die lasche Zucht im Elternhause“ erhielt „der minderwertige Charakter des Knaben [...] bald wieder raschen Auftrieb“ – und machte die anfangs noch bemerkbaren „Einwirkungen der Erziehung im Landeserziehungsheim“ umgehend wieder zunichte. Auch die Eltern erwiesen sich nicht als wirkliche Hilfe, anstatt „ihn derb zu zügeln“, „ließ seine Mutter sich von den frechen Gebaren des Jungen beeinflussen.“ Doch nicht nur daheim, „auch in der Schule versuchte [A.] frech zu werden und mußte oft zurechtgewiesen werden.“ In den Augen des Rektors ist A. ein denkbar schlechtes Vorbild für seine Mitschüler, weshalb eine Rückversetzung in eine niedrigere Klasse als Möglichkeit ausscheidet, hätte doch A. dort Gelegenheit wohl Gelegenheit, die jüngeren Kinder negativ zu beeinflussen. Auch seine, bereits seit dem ersten Antrag auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung benannten und im Erziehungsheim Nordhausen bestätigten „kriminellen Neigungen“ bleiben nicht unerwähnt: „A. steht auch in dem Verdacht, an einem Gelddiebstahl in der Klasse beteiligt zu sein.“ In den Angaben des Rektors bleibt sein Ansinnen nicht verborgen: der minderwertige Charakter in Verbindung mit fehlender erzieherischer Konsequenz durch seine Eltern disqualifizieren A. als Schüler an seiner Schule. Um aber ganz sicher zu gehen, dass sein Anliegen auch zum Erfolg – und A. wieder ins Heim – führt, greift er zu einer Methode, deren Wirksamkeit uns bereits der Unterbringungsbeschluss des Vormundschaftsgerichts beispielhaft vor Augen führte: die Betonung des Kindeswohl. Setzte Rektor PAPKE bisher auch einiges daran, A. in denk-

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bar schlechtem Licht zu schildern, so bricht nun unerwartet Empathie sich Bahn, indem er zu bedenken gibt: „Für den Schüler A. wäre es bestimmt besser, wenn er wieder in Anstaltsverwahrung käme.“ Er gibt sich aus als A.’s Erfüllungsgehilfe, nichts anderes im Sinn, als ein zufriedenes Kind: „Er hat auch den Wunsch geäußert, bald wieder ins Heim zurückzukehren. gez. Papke, Rektor.“ Des Rektors Einschätzung der aktuellen Situation vor Ort erfährt Bestätigung durch Kreisjugendamtsmitarbeiter SCHAEFER, und wird, mit kurzer Anmerkung versehen, am 3. Februar 1940 an den Direktor des Erziehungsheims nach Nordhausen weitergeleitet. SCHAEFER schließt sich der Beurteilung PAPKES an, und faktifiziert diese, indem er schreibt: „Die Zurücknahme des A. in Anstaltserziehung liegt nicht nur im Interesse des Jungen, sondern auch im Interesse seiner Mitschüler und Spielkameraden, denen er ein schlechtes Beispiel ist.“ Direktor HERRMANN sieht nun keinen Grund, der Darstellung durch die beiden Institutionen zu widersprechen, schließlich hatte er bereits vor Jahren auf die Minderwertigkeit und die damit verbundenen Probleme hingewiesen; damals jedoch hatte die Fürsorgeerziehungs-Behörde ihn bei deren Lösung allein gelassen, nun bestätigen ihm Schulrektor und Kreisjugendamt, dass er bereits damals recht hatte mit seiner Einschätzung des Falls. In seinem Schreiben an die Merseburger FürsorgeerziehungsBehörde erläutert er die eingegangenen Zeilen von Schule und Kreisjugendamt nur entsprechend knapp, um dann darauf hinzuweisen, dass der Befund ihn keinesfalls überrasche, schließlich „liegt bei [A.] Schwachsinn erheblichen Grades vor, [weshalb] seine Überweisung in eine Anstalt mit Hilfsschuleinrichtung schon vom hiesigen Heim aus bei der Behörde beantragt“ worden war, und zwar bereits vor zwei Jahren. Seiner Einschätzung zufolge würde A. „in den Neinstedter Anstalten [...] am richtigen Platze sein“, und fügt eindrücklich hinzu: „Ich bitte seine Zuweisung zu diesen Anstalten verfügen zu wollen.“ Kein Wort mehr von Familienerziehung; das Rad, es dreht sich. Das Schreiben geht am 10. Februar nach Merseburg; am 21. Februar, keine 14 Tage später, verfügt der „Oberpräsident – Verwaltung des Provinzialverbandes Merseburg“, A. erneut unterzubringen, und zwar im Landeserziehungsheim „Karlshof“ in Wabern, „34 km von Kassel entfernt“.

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Landeserziehungsheim „Karlshof“ Am 28. März 1940 trifft A. im Erziehungsheim „Karlshof“ ein – und verlässt es nach 3 Monaten wieder, am 29. Juni in Richtung Neinstedt. Der Grund für den kurzen Erziehungsaufenthalt in Wabern: „Der Minderjährige leidet an hochgradigem Schwachsinn.“ Wie bereits der Anstaltsleiter in Nordhausen, hält auch der kommissarische Leiter des „Karlshofs“ „den Minderjährigen für nicht tragbar in unserem Heim. Er gehört in eine Heil- und Pflegeanstalt. Wir bitten um eine baldige Mitteilung, ob eine Unterbringung in eine derartige Anstalt von hier aus erfolgen kann“. In Merseburg kommt man dem Antrag aus Wabern vom 31. Mai nach, die Fürsorgeerziehungs-Behörde ordnet am 25. Juni A.’s Überweisung in die Neinstedter Anstalten an, am 29. Juni geht den Eltern in Querfurt ein Schreiben zu: „Ihr Sohn [...] wurde heute dem Erziehungsheim in Neinstedt/a.Harz zugeführt.“

„Neinstedter Anstalten“ Die Unterbringungsgeschichte des Zöglings A. endet nicht am 29. Juni 1940 in Neinstedt, auch nicht die Aufzeichnung ihres Verlaufs in „seiner“ Akte. Dennoch endet unsere Untersuchung des bisherigen Unterbringungsverlaufs an dieser Stelle; der Fortgang der Fürsorgeerziehung über den 29. Juni hinaus ließe sich bestenfalls (nach-)erzählen, doch soll dies nicht unser analytisches Anliegen sein.333 Das zur Beantwortung der Untersuchungsfrage angewandte methodische Vorgehen benötigt derlei Dokumente, wie sie vom Zeitpunkt der Heimunterbringung in Wabern an nicht mehr Bestandteil der Akte sind; der Fürsorgeerziehungs-Verlauf bis zu diesem Punkt konnte im vorangegangenen Abschnitt mithilfe von „Schlüsseldokumenten“ da-

333 Was wiederum nicht bedeutet, Untersuchungsverfahren gegeneinander in Stellung zu bringen, im Gegenteil: ein Gutteil der gesamten Untersuchung, nicht zuletzt ihre Struktur, besteht aus nichts anderem als aus (Nach-)Erzählungen: von Vorgängen, zu denen uns die Akte Anlass und Auskunft gab, von deren Auswahl und Arrangement, einem Erzählmuster entsprechend Kohärenz erzeugend, und einem Anlass angemessen.

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raufhin befragt werden, wie mittels behördlicher/institutioneller Sprachverwendung „Tatsachen“ hervorgebracht wurden, durch InVerhältnissetzung zu anderen „Tatsachen“ Bedeutung „erhielten“, aus denen sich weitere Tatsachen ableiteten. Und wie all diese „Tatsachen“ einen verbindlichen Realitätsanspruch behaupten konnten. Sprachlich gebundenes Wissen Die Konstituiertheit der sozialen Wirklichkeit des untersuchten „Falls“ A. stellt sich dar als regelgeleitet und kontingent zugleich: akzeptierte Regeln bei der Sprachverwendung und Übereinkunft über Wortbedeutung beispielsweise ermöglichen intentionale Anwendung zum Zweck antizipierbarer Zielerreichung. Die Beteiligung einer nicht geringen Zahl sozialer Akteure an der Bewertung aktueller Situationen, und der Herbeiführung „angemessener“ Konsequenzen wiederum, fügt dem Geschehen eine wesentliche Komponente der Unvorhersehbarkeit hinzu. Da es sich beim Objekt der Frage nach dem „richtigem“ Vorgehen jedoch nicht um ein eventuell unter Denkmalschutz zu stellendes Gebäude, sondern um ein menschliches Wesen, dem Gesetz nach bereits schutzbefohlen, handelt, wohnt dem Ganzen ein ethischer Aspekt inne, und zwar von Beginn an. Die Berücksichtigung, ja selbst das bloße Bemerken solch ethischer Dimension des eigenen Sprach-Handelns, lässt sich für keinen der beteiligten Akteure feststellen. Das Kreisjugendamt, als vom RJWG angelegte Institution, nimmt seine Arbeit auf nach „Bedarf“, d.h. wenn es auf eine Situation aufmerksam wird, die ein behördliches Einschreiten nötig macht. Dazu muss in einem ersten Schritt die Situation in Augenschein334 genom-

334 Zwar bin ich mir der logischen Unvermittelbarkeit von Ungleichzeitigem in der Formulierung bewusst, dennoch weckt das behördliche Vorgehen den Eindruck, es versuche genau dieses: mit Hilfe von Darstellungen (Beschreibungen) abgelaufene Vorgänge zu reproduzieren, gar zu reanimieren. Kein ausschließliches Problem der Fürsorgeerziehung vor 75 Jahren: jede Zeugenaussage vor Gericht, jede polizeiliche Befragung am „Tatort“ läuft der fraglichen Situation, dem vorgängigen Ereignis, zwangsläufig immer hinterher.

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men, beschrieben und bewertet werden. Führt die Bewertung zu dem Schluss, die Situation lasse auf einen Sachverhalt schließen, welcher ein Einschreiten, ein Tätigwerden erfordere, wird in einem zweiten Schritt ein Antrag gestellt auf Anordnung eben solcher Intervention. Zur Bekräftigung des Antrags führt der Antragsteller Beweise ins Feld, die vom Vormundschaftsgericht geprüft und zu seiner Bewertung der Situation verwendet werden. Erweisen sich in diesem Prozess die zur Beurteilung herangezogenen Informationen als tauglich, erhalten sie den Status von Wissen,335 von unhintergehbaren Tatsachen. Dieses tatsächliche Wissen bildet den Prüfstein in einer jeden neuen Situation; dann, wenn Unbekanntes domestiziert und eingeordnet oder Trägheit, also Beibehaltung des Geläufigen, zur Debatte gestellt wird. Doch in welcher Form liegt es denn vor, dieses in Tatsächliches überführte Wissen, worin oder wodurch tritt es zutage? Nicht in ungebundener Form, nicht an sich, sondern immer nur vermittelt: über die Verwendung sprachlicher Strukturen. Ebenso wie Handlungen, werden Wissensformationen erzeugt durch Benutzung von Sprache, samt den ihr zugrundeliegenden Strukturen. Auf den bisherigen Verlauf der Fürsorgeerziehungs-Maßnahmen bezogen könnte man die Frage stellen, wer denn dann nun an A. gehandelt habe, handlungsleitendes Wissen erzeugt habe über ihn; Amtsgerichtsrat PAPERLEIN oder sein Unterbringungsbeschluss? Heimleiter HERRMANN oder der von ihm verfasste Bericht? Dr. KUHWALD oder sein ärztliches Gutachten? Der Verfasser von Texten, die Ausführenden, oder gar die Texte selbst? Die Frage ist untauglich für unsere Zwecke, da ihr die Vorannahme zugrunde liegt, Sprache sei nichts weiter als ein Vehikel, ein Transporter, vom Verfasser mit Fakten (Absichten, Meinungen, Wissen) beladen und auf die Reise geschickt, vom Empfänger entladen und gebraucht.

335 Der Transformationsvorgang zum Status: Wissen ist irreversibel. Und weil ein Status statisch ist, ist er nicht dynamisch. Ohne triftigen Grund, ohne unumgehbares Erfordernis bleibt der Wissensstatus ein tatsächlicher, d.h. Was man weiß, ist. und: Es ist, wie man weiß. In Anwendung befindlich, wird einmal Gewusstes nach bestätigender, verifizierender Anknüpfung suchen, nach Passung.

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Die Bedeutung von Sprache entsteht – in Abhängigkeit ihrer Präsentation – erst durch und in ihrer Verwendung, mag diese auch explizit intendiert sein; ihre Mittelbarkeit sorgt für Möglichkeit, nicht Garantie, nicht im Gebrauch, und schon gar nicht „von sich aus“. Was wiederum keinen Sprachverwender von seiner Verantwortung entbindet, sich die Folgen seines (Sprach-)Handelns zu vergegenwärtigen, selbst wenn nur von der Möglichkeit ihres Eintretens auszugehen ist. (Schon gar nicht, wenn die Folgen so aussehen können, wie zuvor anhand von „Verlaufsdokumenten“ aus der Fürsorgeerziehung dargestellt.) Und weiter? Reproduzieren sich Topoi der Beschreibung in unendlicher Folge? Nun, zumindest solange, bis sie abgelöst oder ersetzt werden durch passendere Beschreibungen, sowohl im Sinne von genauer, zutreffender als auch funktionell brauchbarer. Die Situation ihres Gebrauchs ist ebenso ausschlaggebend wie der Ort, das Taubenloch, dem sie entnommen sind. Es lässt sich spekulieren, ob die bis dahin potentiell wirkmächtigen unter ihnen seit A.’s Unterbringung in Neinstedt von ihrer Erklärmacht einiges eingebüßt hatten, oder ob sich der „Fall A.“ nun auch ohne ihre Zuhilfenahme erzählen ließ (oder ob die entsprechenden Dokumente sich einfach nicht mehr in der Akte befinden), zumindest geht deren Verwendung seit dem 29. Juni 1940 merklich zurück. Und A.? Er wird nunmehr zumindest anders beschrieben als in den Berichten der ersten beiden Erziehungsheime. Zwar gibt es auch in Neinstedt anfangs noch „Anlass zu Tadel“; als Ursache dafür wird aber nicht A. genannt, sondern sein Verhalten. Zum ersten Mal seit Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Vormundschaftsgericht Querfurt am 12. August 1937 wird in der schriftlichen Darstellung, in der Beschreibung des „Zöglings“ A., explizit unterschieden zwischen Person und Verhalten. Und diese Trennung wird beibehalten, 5 Jahre lang, bis die „Fürsorgeerziehung des Jugendlichen am 28.9.1945 auch endgültig aufgehoben“ wird. Bis dahin ist es ein langer Weg, der hier nicht erzählt werden wird, obwohl die Akte durchaus Anhaltspunkte nennt, an denen sich ein Erzählfaden festmachen ließe. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, und an Vorkommnissen und Ereignissen aus diesem Abschnitt von A.’s Unterbringungsgeschichte hält die Akte einiges bereit, allein ich scheue mich bereits, aus den überlieferten Darstellungen auszuwählen, um auch nur grob zu skizzieren. Ob umrisshaft oder

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verbunden, jede Form schriftlicher Darstellung hieße, erneut und wiederum den Gesetzen der Narration zu gehorchen, hieße, erneut und wiederum auszuwählen und wegzulassen, von einem Punkt auf den nächsten hinzuschreiben, ein neues Bild zu entwerfen. Und wie sollte dieses Bild aussehen? Wie das glückliche Ende einer tragischen Entwicklungsgeschichte? Wie die Fortsetzung einer unverschuldeten, andauernden Leidensgeschichte? Oder wie der Beleg für schlussendlichen Erziehungserfolg?

4.2 AKTENZÖGLING D. Die Untersuchung der in der Akte enthaltenen Dokumente, die maßgeblich Einfluss nehmen konnten auf den Verlauf der Fürsorgeerziehung, erfolgt, analog zur Aktenanalyse von A., dem im Kapitel Die Untersuchungsfrage beschriebenen Vorgehen, d.h., der näheren Betrachtung von Aufbau und Struktur des Textes folgt die der lexikalischen Mittel und ihrer Verwendung, flankiert von einer Analyse der Geschehensebenen. Der Aktenkorpus besitzt einen Umfang von 116 Blatt und umfasst den Zeitraum vom 24. Oktober 1933 bis zum 14. Januar 1936. Wie bei jeder der bisher untersuchten Akten, ragt die Einfassung der berichteten Zeit weit über den von den Ausstellungsdatierungen der Dokumente aufgespannten Zeitrahmen hinaus, die Narrativität der schriftlichen Darstellungen (Beschlüsse und Berichte zumeist) verbindet die „verbürgten“ Ereignisse mit den berichteten. Auch die Akte von D. befindet sich in der Ordnung, in welche die letzte mit der Fürsorgeerziehung betraute Einrichtung sie brachte, d.h., die Dokumente liegen nicht in der Reihenfolge ihrer Verfertigung vor. Das einer solchen Chronologie nach früheste Dokument ist, wie auch im Aktenkorpus von A., der Unterbringungsbeschluss. Fast 4 Jahre vor dem Beschluss für A., entschied ein Amtsgericht auch bei D. auf Vorliegen der Voraussetzungen für eine Unterbringung in Fürsorgeerziehung.

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Unterbringungsbeschluss Das Dokument trägt die Aktenummer XII 18751, und wurde am 24. Oktober 1933 als Abschrift des vom selben Tag stammenden, originalen Unterbringungsbeschlusses erstellt und beglaubigt. Unterzeichnet vom Richter des Anhaltischen Amtsgerichts in Bernburg, REINICKE, teilt der Beschluss Ergebnis sowie Begründung der abgeschlossenen Verhandlung um die Anordnung von Fürsorgeerziehung mit. Aufbau Unterbringungsbeschluss Das Dokument gleicht formal allen gesichteten Unterbringungsbeschlüssen, wenngleich deren Textlänge durchaus variiert; hier sind es 42 maschinegeschriebene Textzeilen, die sich über 1 ½ Seiten erstrecken; der äußere Aufbau also entspricht auch demjenigen, mit welchem das Vormundschaftsgericht Merseburg am 12. August 1937 die Unterbringung von A. in Fürsorgeerziehung anordnen wird (vgl. 4.1).

1. Titel a:

ABSCHRIFT

(Z.01)

(Z.02) 2. Titel b: BESCHLUSS (welcher im darauffolgenden Satz – 2 Zeilen – zusammengefasst wird) (Z.03-04) 3. Titel c: GRÜNDE (welche auf insgesamt 24 Zeilen (Z.09-32) ausgeführt werden, „Beweisaufnahme“) Der letzte Satz (Z.32-34) „verkündet das Urteil“, und bestätigt es, indem er Bezug nimmt auf den Anlass und Eröffnungssatz des Dokuments: die (nunmehr) begründete Anordnung von Fürsorgeerziehung.

4. Titel d:

ORT, DATUM, UNTERSCHRIFT (Z.35-37) AUSFERTIGUNG (Ort, Datum, Unterschrift) (Z.38-42)

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Analog zur Untersuchung des Beschlussdokuments bei A., untersuchen wir den vorliegenden Text zunächst auf die Strukturen der Vertextung des beschriebenen Geschehens hin; wie bereits erprobt, legen wir zu diesem Zweck die konzeptionell angelegten Geschehensebenen frei.336 Die erste der insgesamt drei Geschehensebenen wird abgebildet durch die beiden Sätze zu Beginn und am Ende des Dokuments, in denen der Beschluss des Amtsgerichts dargestellt und mitgeteilt wird. „Der Schüler [D.] aus Bernburg wird in Fürsorgeerziehung genommen.“ (Z.34) „Daher mußte nach §63 Jugendwohlfahrtsgesetzes [sic!] Fürsorgeerziehung angeordnet werden.“ (Z.33-34)

Das Geschehen ist verortbar im Hier und Jetzt des Anhaltischen Amtsgerichts, reicht aber über diesen Ort und Zeitpunkt hinaus, weit in die Zukunft; die der Akteure wie die des (Satz- wie Verhandlungs-)Objekts. Auf einer weiteren Geschehensebene erzählt der Verfasser des Beschlussdokuments die bisherige Geschichte des Kindes D., beginnend mit dessen unehelicher Geburt am 8. Juli 1922, über die Sorgerechtsübernahme durch den Stiefvater und Ehemann der Kindsmutter, bis zu D’s. neuntem Lebensjahr, als die „Klagen über die Führung des Knaben [...] [durch] Magistrat, die Schule und einige Privatpersonen [...] einsetzten“ (Z.9-11). Dazu benötigt der Text nicht mehr als drei Sätze, eines führt zum anderen, erzählt wird im Präteritum. Es folgt die amtsgerichtliche Anordnung von Schutzaufsicht am 12. März 1931, ohne den beabsichtigten Erfolg („die Führung des

336 Während bei der Textanalyse der Akte von A. die Durchführung der einzelnen Untersuchungsschritte in extenso dargestellt wurde, wird bei der Auswertung weiterer Zöglingsakten im Fortgang der Untersuchung stellenweise auf ein solches Voraugenführen der einzelnen Arbeitsschritte verzichtet, freilich, ohne deren Gebrauch zu tangieren. Wie gehabt, werden die Geschehensebenen herausgearbeitet, die beteiligten Akteure sowie die Art und Wirkungsweise der sprachlichen Handlungen untersucht. Die Ergebnisse finden Eingang in den Text, es wird jedoch für die Akten D. und H. aus Gründen der Lesbarkeit darauf verzichtet, alle notwendigen Untersuchungsschritte nochmals zu explizieren.

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Knaben [ist] nicht besser geworden.“ (Z.14), und damit biegt die Darstellung ein in die Straße, die direkt zum Amtsgericht führt und flankiert wird von Begebenheiten der letzten Monate, genauer: „der diesjährigen Sommerferien und später“ (Z.15). Der Schilderung der fraglichen Vorkommnisse räumt der Verfasser vergleichsweise viel Raum ein; waren die ersten 11 Lebensjahre D.’s in 9 Textzeilen erzählt, benötigt die Darstellung von D.’s Verhalten während der letzten Schulferien nahezu doppelt so viel an Text. Was hatte er sich zuschulden kommen lassen? „[Gemeinsam mit einem anderen] Knaben [...] entwendete er [...] Spielzeug, [...] einen Bootsriemen, [...], leere Flaschen, [...] eine Taschenuhr und eine Kette.“ (Z.16-26)

Zum Diebstahl hinzu gesellt sich ausgeprägte Neugierde. „[Außerdem] ist D. im Freibad unter die Wechselzellen gekrochen und hat dort durch die Spalten Frauen und Mädchen beim Auskleiden beobachtet.“ (Z.2628)

Hier endet die 2. Geschehensebene, die D.’s Werdegang vom Kind zum Unter-Schutzaufsicht-Gestellten umfasst, und die nun zum zweiten Mal beim Amtsgericht angelangt ist. Die nächste Geschehensebene schließt daran unmittelbar an, sucht nach einer plausiblen Erklärung für das zuvor geschilderte Verhalten, beansprucht dafür nicht mehr als einen Satz, welcher im Präsens erzählt, dass „der Junge [...] von seinen Eltern [...] nicht genügend beaufsichtigt [...] wird, so daß bei der Unzulänglichkeit der Erziehung die Gefahr besteht, daß die Verwahrlosung des Knaben einen immer größeren Umfang annimmt“ (Z.29-32).

Und übergibt bereits an die nächste Geschehensebene, (diejenige des Beschlusssatzes, also desjenigen, der das Dokument eröffnete), indem vom Ende her, vom Ende des erzählten Werdegangs wie vom zeitlichen Ende, vom Abschluss der (Ver-)Handlung aus, geschlossen wird: „Daher mußte nach §63 Jugendwohlfahrtgesetzes [sic!] Fürsorgeerziehung angeordnet werden.“ (Z.33-34)

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Unterschrieben, ausgefertigt und beglaubigt – damit wird vom Anhaltischen Amtsgericht Bernburg für rechtsgültig erklärt und in Kraft gesetzt, was sich im Beschlusssatz (Z.3-4) des Dokuments ankündigt hatte: „Der Schüler [D.] aus Bernburg wird in Fürsorgeerziehung genommen.“

Die Einlösung dieses repräsentierenden wie deklarierenden Satzes erfolgt im Nachhinein, „seine Prophezeiung“ stets im Blick, denn nichts anderem dienen die 15 von insgesamt 16 Sätzen, als deren Wahrwerdung. Obwohl der erste Satz des Bernburger Beschlussdokuments dieselben Leistungen erbringt wie der Beschlusssatz des Merseburger Vormundschaftsgerichts im „Fall A.“, (ebenfalls unterstützt durch die im Text auf- und ausgeführten Gründe), unterscheiden sich beide Dokumente gravierend. Worin bestehen diese Unterschiede? Nicht im Aufbau; in beiden Fällen gilt es, das im Eröffnungssatz bekannt gegebene Verhandlungsresultat argumentativ stimmig – aus den dargebrachten Fakten heraus – zu begründen. In den zur Bewältigung dieser Aufgabe verwendeten, erzählerischen wie sprachlichen Mitteln, werden die Unterschiede offenbar. Auch der Beschlusssatz im „Fall“ D. teilt mit (: die Unterbringung in Fürsorgeerziehung) und deklariert (: den Schüler zum Zögling), im Unterschied zum Merseburger Beschlusssatz337 vollzieht sich in ihm jedoch keine zusätzliche Exklusionsleistung; der Beschluss erklärt D. einzig zum Zögling – nicht zum Anormalen, die Maßnahme selbst für völlig legitim, und zwar für alle Beteiligten: um angesichts der unzulänglichen Erziehung eine Zunahme der Verwahrlosung zu vermeiden, wird D. in Fürsorgeerziehung genommen.338 Ebenso verzichtet der Bernburger Begründungstext auf „besondere“ erzählerische Leistungen (Spannungsbögen, Vorausblicke, Zusammenfassungen, Erklärungen und Implikationen des Geschilderten), wie er überhaupt ohne tendenziöse sprachliche Mittel auskommt. Die

337 „Der am 29. September 1926 geborene [A.], wohnhaft in Querfurt, Sohn des Arbeiters [...] und dessen Ehefrau [...] geb. [...] ist in Fürsorgeerziehung unterzubringen.“ Unterbringungsbeschluss A. (Aktennummer 3 A X [?] I 31/35), (Z.4-7). 338 Vgl. demgegenüber die Verwendung des Gerundivum bei A.

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Handlungen von D. werden beschrieben und bewertet, neutral und unaufgeregt, zur Kenntnis genommen ohne eine künstliche Kriminalisierung. D. entwendet, lässt sich Flaschengeld auszahlen, beobachtet nackte Menschen, nimmt Spielzeug mit. Der Grund dafür liegt auf der Hand: fehlende Aufsicht, die Folge ebenso: drohende Verwahrlosung. Da die Anordnung von Schutzaufsicht, 2 ½ Jahre zuvor, nicht zum erhofften Ergebnis geführt hatte, die „Führung des Knaben nicht besser geworden“ (Z.14) ist, kommt zur Lösung des Problems nur die Unterbringung in Fürsorgeerziehung in Betracht. Ein Ergebnis der narrativen Leistung des Verfassers besteht darin, dass D.’s Geschichte sich scheinbar von selbst erzählt, die Vorkommnisse und resultierenden Handlungen scheinbar eigenmotiviert auf- und auseinander folgen; hinter der Darstellung verschwindet der Erzähler nahezu. Besonders eindrucksvoll demonstriert der unvermittelte Übergang von der 2. Geschehensebene zur 3. diese Leistung; nach der dichten, von Sachlichkeit geprägten Beschreibung von D.’s Verhalten während der Schulferien, bedarf es keiner weiteren Anmerkung seitens des Erzählers, um dieses Verhalten als notorisch abweichend zu erkennen, aus ihm den Grad bereits eingesetzter Verwahrlosung abzulesen. Ein anderer als der richtige Schluss wird weder der Situation noch dem Leser zugestanden, weshalb der Wechsel der Ebenen ohne jeden (den Lesefluss lenkenden) Kommentar auskommt, ohne sprachliche Gestaltung des Übergangs. Kein „Außerdem“ oder „Zusätzlich“ oder „Weiterhin“ oder „Hinzu kommt...“ leitet von der (scheinbar bloßen) Wiedergabe berichteten Verhaltens über zu den möglichen Ursachen und Konsequenzen; als handelte es sich um ein weiteres, bloßes Faktum, welches aus sich heraus bereits bezeugt wäre, weshalb auf „weitere Belege“ verzichtet werden kann, deutet der Erzähler – für den Leser gleich mit – seine eigene Darstellung: „Von seinen Eltern wird der Junge nicht genügend beaufsichtigt, so daß bei der Unzulänglichkeit der Erziehung die Gefahr besteht, daß die Verwahrlosung des Knaben einen immer größeren Umfang annimmt.“ (Z.29-32)

Siedelte das Geschehen nicht plötzlich in der Gegenwart, fände der Ebenenwechsel fürwahr unsichtbar statt. Man könnte dieses Vorgehen kühn nennen, ökonomisch oder effizient – wären diese Attribute nicht

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bereits anderweitig konnotiert; nennen wir diese Art des Erzählens einfach ausreichend, im Sinne von wirkungsvoll. D. braucht weder als verdorben, minderwertig und triebgesteuert dargestellt werden, seine Eltern nicht als hilflos und überfordert oder erbkrank beschrieben, das „Schlüsselwort“ Verwahrlosung nicht inflationär gebraucht werden: ihre Funktion erfüllt die Erzählung dennoch zur Genüge. Doch trotz des möglicherweise größeren erzählerischen Geschicks: führt der Unterbringungsbeschluss von Bernburg nicht dennoch zum gleichen Ergebnis wie der des Merseburger Vormundschaftsgerichts bei A.? Das Elternhaus wird als ungeeigneter Ort für ein optimales Heranwachsen angesehen, also tritt die Fürsorgeerziehung in Kraft, trennt Kind und Herkunftsfamilie, aus einem Schüler wird ein Zögling... So sehr die Resultate sich auch ähneln, bedingt durch die Art und Weise ihres Zustandekommens, werden sie begleitet von verschiedenen Effekten, deren Wirkung und Reichweite unterschiedlicher nicht sein könnten. Diese, aus narrativen Gründen sprachlich hervorgebrachten, kollateralen Effekte, lassen sich so bald nicht wieder deaktivieren; sie wirken eine zeitlang maßgeblich auf den weiteren Verlauf der Unterbringung, treten immer wieder dann besonders deutlich hervor, wenn Entscheidungen zu fällen sind, wenn die Frage zu beantworten ist, wie es denn jetzt weitergeht mit Zögling A. oder D. oder X. Die Konsequenz mag trivial erscheinen, ist in ihrer Anwendung jedoch höchst folgenreich – für denjenigen, an dessen Beschreibung fortwährend geschrieben wird: Was in keiner Akte geschrieben steht, existiert (sprachlich konstituiert) vorerst nicht, und kann demzufolge in Entscheidungssituationen weder als Argument, nicht einmal als Orientierung, als Aufhänger verwendet werden, jedenfalls nicht nach positivistischem Verständnis.339 Die über ihren primären Zweck hinausgehende Bedeutung eines darstellenden Dokuments, eines amtlichen Beschlusses ebenso wie eines fachlichen (medizinischen wie pädagogischen) Gutachtens, hängt

339 Um ALS ETWAS erkannt werden zu können, muss dasjenige ALS ETWAS benennbar sein.

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maßgeblich davon ab, auf welche sprachlichen Hervorbringungen es verzichtet, welche Topos-Nennung ein Text nicht enthält. Und jede einzelne Akte weist deutlich mehr als nur einen solcher Texte auf. Für den FE-„Fall“ D. ebenso wie für A. – ebenso wie für alle anderen untersuchten Unterbringungsverläufe – führt dies zu einem paradox anmutenden Ergebnis: Je „restloser“ ein Geschehen in der narrativen Darstellung aufgeht, umso weniger lose Erzählenden bleiben „übrig“ und laden ein zur Anknüpfung und narrativen Neuverwertung. Beim restlosen Erzählen gelingt es dem Erzähler, jedes Geschehensmoment durch die narrative Konstruktion in eine narrative Funktion zu überführen; jedes Erzählmoment hat (s)eine spezifische Funktion im Hinblick auf ein vorausliegendes oder nachfolgendes Erzählmoment.340 Hinterlässt die Darstellung einen Rest afunktionaler Momente, solche, die nicht „restlos“ aufgehen in der aktuellen Geschichte, erhöht dies für die Darstellung die Eventualität, zur Fundgrube zu werden für neue, andere Erzählvarianten. Ohne Zweifel orientieren sich gerade Verlaufsbeschreibungen am bereits vorhandenen Material, knüpfen an bisherige Darstellungen an – und führen diese weiter oder schlagen eine neue Richtung ein: Bisheriges dient (immer auch) als Orientierungspunkt, an dem aktuelles Geschehen (narrativ) ausgerichtet wird. Die bloße „Plünderung“ von Erzählmomenten und Topoi hingegen zielt nicht darauf ab, einen wahrgenommenen Verlauf zu dokumentieren (und damit erst als Tatsache hervorzubringen), sondern nützt vorrangig der Realisierung eigener Ideen und Vorstellungen vom Verlauf, dient dazu, die „Entwicklung“ eines Zöglings tatsächlich erst zu erschreiben. Daraus folgt nicht, dass des Zöglings Zukunft umso weiter offen steht, je weniger seine Akte über ihn mitzuteilen weiß, sondern: je schlanker und geschlossener die Darstellung seiner Person, seines Verhaltens, seines „Zustandes“, umso mehr erzählerisches Geschick und Vermögen muss der Verfasser der nächsten Darstellung aufbringen, um willkürlich eine weitere, ebenfalls in sich stimmige Darstellung als auch eine stimmige Fortsetzung der Verlaufsgeschichte zu schreiben.

340 Vgl. STIERLE (1977), S. 213.

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Wobei aus: stimmiger erzählt nicht automatisch ein: besser für den Beschriebenen resultiert... Darüber hinaus gestehen wir den Dokumenten einer Zöglingsakte sowie ihrer „Erzähltheit“ ein gewisses Maß an Einflussnahme auf den Unterbringungsverlauf zu, jedoch immer nur als ein Faktor unter vielen, wie bereits der „Fall“ A. zeigte; trotz wiederholter Bezugnahme auf den rassenhygienischen Diskurs, trotz dezidierter Hinweise auf die Erfordertheit seiner Unfruchtbarmachung, trotz mehrfach bekräftigter „Minderwertigkeit“ und „Schwachsinn höchsten Grades“, wurde A. bis zu seiner Entlassung aus der Fürsorgeerziehung im September 1945 nicht sterilisiert.341 (Dass er infolge dieser wiederholten Beschreibungen zum potentiellen „Verlegungs“-Kandidaten im Rahmen der „T4-Aktion“ erst geschrieben wurde, steht auf einem anderen Blatt.)342

341 Zwischen 258.000 und 349.000 zur Unfruchtbarmachung angezeigte Personen entgingen diesem Eingriff nicht, und wurden zwischen 1934 und 1945 sterilisiert, bei fehlender ,Einsicht in die Erfordertheit‘ des Eingriffs auch unter Anwendung von unmittelbarem Zwang; wie hoch die Zahl der, infolge solcher Empfehlung wie bei A. für diesen Eingriff. „Vorgesehenen“, jedoch noch nicht beim Erbgesundheitsgericht Angezeigten war, lässt sich nicht genau beziffern. Vgl. BENZENHÖFER (2006), S. 7. Den Sterilisationslisten des Staatlichen Gesundheitsamts für den Stadtund Landkreis Bernburg lässt sich die Zahl von 430 angezeigten Sterilisationen entnehmen, von denen 350 durchgeführt wurden; unter den Angezeigten befanden sich 26 Fürsorgeerziehungs-Zöglinge, von denen 18 zwangsweise unfruchtbar gemacht wurden. (LHASA, DE, Staatliches Gesundheitsamt Stadt- u. LK BBG) 342 Mit 13 Jahren, am 29. Juni 1940 wurde A. – samt „seiner“ Akte, „seinem Sterilisationsbedarf“, „seiner geistigen und moralischen Minderwertigkeit“, „seinem Schwachsinn höchsten Grades“ – vom „Karlshof“ Wabern nach Neinstedt verlegt, in das Erziehungsheim „Lindenhof“. Vom 29. Januar 1940 an bis zum Frühjahr 1942 wurden v.a. psychisch kranke und behinderte Bewohner der „Neinstedter Anstalten“ sukzessive in andere Einrichtungen verbracht, welche vielfach als „Zwischenanstalt“ im Rahmen der „Aktion T4“ dienten, und von wo aus die sog. Tötungsanstalten Transporte „abriefen“, abgestimmt auf das Ermordungstempo der jeweiligen Einrichtung und ihres Personals. Für den mitteldeutschen Raum dien-

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Zurück zu D. und „seinem“ Unterbringungsbeschluss. Mag die Zahl der – von mir, dem Untersuchenden – prognostizierten, kollateralen Effekte in seinem Fall auch vergleichsweise gering ausfallen, am Resultat der gerichtlichen Verhandlung selbst ändert dies nichts: D. wird „aus seiner bisherigen Umgebung [entfernt]“343 und in einem geeigneten Erziehungsheim untergebracht, zunächst im „Friederikenhaus“ in Bernburg.

„Friederikenhaus“ Bernburg Über die Unterbringung im Bernburger Erziehungsheim selbst liegen uns keine Aufzeichnungen vor, d.h. unsere diesbezüglichen Vorstellungen und Angaben setzen sich zusammen aus späteren Erwähnungen in der Akte, sind also (nicht mehr und nicht weniger als) narrative (Re-)Konstruktionen.

te die Heil- und Pflegeanstalt Bernburg als „zuständige“ Tötungsanstalt; während die Arbeit in einem Teil der Klink Therapie, Heilung und Pflege psychisch kranker Patienten diente, wurden im Keller des ehemaligen „Männerhauses II“ Kinder, Frauen und Männer vergast. Neben „Verlegungen hochgradig Schwachsinniger“ und anderer „Minderwerter“ jeden Alters aus Neinstedt, sind „außerdem Verlegungen aus dem Erziehungsheim „Lindenhof“ nach Uchtspringe“ bekannt. Wie auch die „ProvinzialIrrenanstalt Altscherbitz“, ein weiteres Ziel von „Patienten-Verlegungen“ aus Neinstedt, diente die „Landes- Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe“ als „Zwischenanstalt“ für die Tötungsorte Bernburg und Brandenburg. Nicht nur in der Gaskammer Bernburgs, auch in den Anstalten selbst wurden „Patienten“ von Mitarbeitern der Einrichtung getötet; nach dem „offiziellen Ende“ der Vergasungs-„Euthanasie-Aktion T4“, fanden in den (nunmehr ehemaligen) Zwischenanstalten vermehrt gezielte FalschMedikation ebenso wie Verhungern- oder Verdurstenlassen Anwendung; in Uchtspringe wurden derart um die 500 Menschen ermordet. Vgl. Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und Einrichtungen der Inneren Mission. (1997), S. 141f. Vgl. KLEE (1993) S. 319 u. KLEE (1986) S. 120ff., 284ff. 343 §63 RJWG, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 219.

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1934 Weder können wir die Unterbringungsdauer im „Friederikenhaus“ genau bestimmen (die Akte schweigt sich über das Aufnahmedatum ebenso aus wie über das Verhalten von D. im Heim), noch liegen uns ärztliche Untersuchungsergebnisse oder pädagogische Beobachtungsbögen vor. Gesprächig wird die Akte erst wieder am 6. März 1934, also 4 ½ Monate nach Anordnung der Fürsorgeerziehung durch das Bernburger Amtsgericht. Das Jugendamt Bernburg wendet sich an den Vorstand des Neinstedter „Elisabethstiftes“ mit der Bitte, einer Verlegung des Fürsorgezöglings D. von Bernburg nach Neinstedt zuzustimmen. Der Grund für dieses Ansinnen hat weniger zu tun mit D. selbst, er wird beschrieben als „normal begabter, psychisch aber sehr schwieriger Junge“, vielmehr hat dieses Anliegen zu tun mit der räumlichen Nähe von Erziehungsheim und Elternhaus, von welchem D. bisher „maßlos verwöhnt und gar nicht erzogen wurde“. Dem gilt es abzuhelfen, weshalb sowohl Heimleiter STREI als auch das Jugendamt „eine Verlegung für notwendig [...] halten, weil die Eltern die Erziehung durch häufige Besuche gefährden.“ Zwar wissen Jugendamt wie Erziehungsheim, dass sie D.’s Eltern auch in Neinstedt den Kontakt zu ihrem Sohn dauerhaft nicht ohne weiteres untersagen können, dennoch rechnen sie im Fall einer Verlegung mit einem Besuchsrückgang; „da der Stiefvater nur Wohlfahrtsunterstützung bezieht, ist nicht zu befürchten, dass er seine häufigen Besuche nach dort fortsetzt“.

„Neinstedter Anstalten“ Am 7. März geht das Schreiben in Neinstedt ein; dort zeigt man sich dem kollegialen Ersuchen gegenüber offen; bereits einen Tag darauf, am 8. März, wird D. „nach dort überführt“, in das Neinstedter Knabenheim „Lindenhof.“ Weitere Unterlagen wie „(1) Geburtsurkunde, (2) Impfschein, (3) Fürsorgeunterbringungsbeschluß und (4) polizeiliche Ummeldebescheinigung“ folgen 2 Tage später. Soweit zur Durchführung von D.’s „Überweisung aus erzieherischen Gründen“ in eine Einrichtung mit Hilfsschule, um den Kontakt nachhause, und den elterlichen Einfluss solcherweise zu reduzieren.

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Was teilt uns nun, nach seiner Verlegung aus Bernburg, die Akte über D. mit? Über das Ergebnis der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung vom 13. März 1934 hinaus zunächst nicht viel – deutlich mehr Raum nimmt der Schriftverkehr zwischen Erziehungsheim, Eltern, Jugendamt und Anhaltischer Verwaltungsbehörde ein. D.’s Eltern zeigen sich nämlich keineswegs gewillt, das verordnete Besuchsverbot zu akzeptieren, im Gegenteil, sie versuchen, grundsätzlich gegen den Beschluss der Unterbringung ihres Sohnes in Fürsorgeerziehung vorzugehen. Doch der Reihe, sprich: der Chronologie der Akte nach. Fünf Tage nach seiner Ankunft im Erziehungsheim „Lindenhof“ wird D. vom Anstaltsarzt Dr. WITTENBERG auf seinen „körperlichen und sonstigen Zustand“ hin untersucht, das Ergebnis in einem halbseitigen Formular festgehalten, fünf handschriftliche Angaben. Der Arzt attestiert D. einen „guten Kräfte- und Ernährungszustand“, bemerkt „mehrere schadhafte Zähne“ sowie ein „Mal auf der rechten Wange“. D.’s Sprache sei „regelgerecht“, geistig allerdings erscheint er dem Arzt ein „Psychopath“. Mehr Angaben, Ausführungen oder Erklärungen zum Untersuchungsergebnis finden sich im weiteren Verlauf der Akte nicht. Am selben Tag, 13. März 1934, wird D. „über das Beschwerderecht belehrt“, wie ein gleichlautender Vordruck bekannt gibt, welcher neben einer „offiziellen“ auch D.’s Unterschrift trägt. Briefe: Bitten und Beschwerden Die Beschwerden lassen nicht lange auf sich warten, wenn auch nicht vom 11-jährigen D. persönlich. Bereits vor der Verlegung von Bernburg nach Neinstedt hatte D.’s Mutter beim Jugendamt wie beim Anhaltischen Staatsministerium die angedrohte Verlegung ihres Sohnes aus dem Bernburger „Friederikenhaus“ in ein entfernteres Erziehungsheim beklagt und seine sofortige Entlassung ihres Sohnes aus der Fürsorgeerziehung beantragt. Dieser Antrag vom 26. Februar 1934 wird einen Monat später, nach bereits erfolgter Unterbringung im Erziehungsheim Neinstedt, von Herrn LÜDICKE, Anhaltisches Staatsministerium, Abteilung Wirtschaft, beantwortet – und abgelehnt. Das Schreiben, welches neben dem Bernburger Jugendamt auch der Heimleitung in Neinstedt zugeht, weist die empörte Mutter deutlich in ihre Schranken; die aktuelle Situation – Unterbringung in Fürsorgeerziehung – sei schließlich erst zustande gekommen durch die

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„Verwahrlosung“ ihres Sohnes, und habe sich verschärft einzig durch ihr uneinsichtiges Verhalten, das permanente Bemühen nämlich um Kontakt zu ihrem Kind. Dieser Kontakt jedoch bestärke D. nur noch in seiner aufsässigen Haltung den Erziehern gegenüber, wodurch der angestrebte Erziehungserfolg zunehmend fraglich werde. „Dieses Ziel wird aber geradezu unerreichbar sein, wenn Sie nicht aufhören, Ihren Sohn während seines Aufenthaltes im Erziehungsheime zu beeinflussen. Anderenfalls gibt es eine zwiespältige Erziehung, die unter allen Umständen von verderblicher Wirkung für Ihren Sohn sein wird.“

Und welche liebende, und von daher verantwortungsvolle Mutter, würde denn ihr eigenes Interesse über dasjenige der Nation stellen, nämlich: „Ihren Sohn noch zu einem nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft zu erziehen [...]? [...] Sie [...] würden es sicherlich selbst am meisten begrüßen, wenn es gelänge, Ihren Sohn noch zu einem ordentlichen Menschen zu machen.“

An so viel notwendige Einsicht zwar appellierend, der Wirkung dieses Appells dennoch nur mäßig trauend, schließt das Schreiben LÜDECKES sicherheitshalber mit einer kräftigen Drohung an D.’s Mutter: „Wir fordern Sie jedoch auf alle Fälle auf, sich jeder Beeinflussung Ihres Sohnes, die ihn in Widerspruch mit den Zielen der Fürsorgeerziehung setzen könnte, zu enthalten, widrigenfalls wir gegen Sie mit anderen Mitteln vorgehen würden.“

Weder Besuche oder Aussicht auf Entlassung aus der Fürsorgeerziehung also, sondern eine konsequente Umsetzung des gerichtlich angeordneten Erziehungsauftrags. In diesem Sinne, und da man von behördlicher Seite aus nicht gewillt ist, es bei leeren Drohungen zu belassen – diesbezüglich den erzieherisch für nachteilig befundenen Einfluss der Eltern am Erziehungsort selbst auf ein Minimum zu reduzieren für unumgänglich hält – empfiehlt das Schreiben LÜDECKES dem Jugendamt Bernburg, „nötigenfalls bei der Anstaltsleitung in Neinstedt ein Besuchsverbot gegenüber den Eltern durchzusetzen“, und fügt eher beiläufig hinzu: „dass die Briefe und sonstigen Sendun-

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gen der Eltern einer Vorprüfung in Neinstedt unterliegen und nötigenfalls zurückgehalten werden, halten wir für selbstverständlich.“ Beispielhaft illustrieren diese Vorgänge, wie die Vorerfahrung der einen Erziehungseinrichtung, sowie der behördliche Umgang mit deren Darstellung, Blick und Umgang der nächsten Einrichtung zu lenken und (vor-)zuprägen vermag, im vorliegenden Fall ganz ausdrücklich; erfolgten die Vorprägungen bisher mittels impliziter Empfehlungen, teilen das Staatsministerium – und im Anschluss daran das Jugendamt Bernburg selbst – im „Fall“ D. der nächsten Einrichtung ihre Erwartungen und Anweisungen hinsichtlich richtigen Vorgehens ganz konkret mit. Neu sind weder die Erwartungen und noch Anweisungen, nur finden sie in den meisten der übrigen behördlichen Dokumente, wie in den pädagogischen Berichten und ärztlichen Gutachten, mehrheitlich im Subtext derselben ihren Platz. Nicht so in diesem Fall: 14 Tage nach Eingang des Schreibens LÜDECKES aus dem Anhaltischen Staatsministerium, wendet sich das Jugendamt Bernburg an die Heimleitung in Neinstedt, und übersendet am 14. April 1934 nicht nur „ergebenst [ihre] Handakten über den kürzlich dort untergebrachten [D.] zur gefälligen Kenntnisnahme“, sondern auch einen beigefügten Interpretationsschlüssel zur richtigen Lektüre der Akten, „aus denen [nämlich] ersichtlich ist, dass es sich um einen besonders schwierigen Jungen handelt.“ Von Subtext keine Spur, im Gegenteil: „Wir bitten besonders das letzte Schreiben des anhaltischen [sic!] Staatsministeriums zu beachten und auf jeden Fall ein Besuchsverbot auf ein halbes Jahr gegenüber den Eltern zu erlassen [...]“.

Auf dem Spiel steht nämlich nicht weniger als Sieg oder Niederlage an der Erziehungsfront: „[...] da mit einem Erfolg der Fürsorgeerziehung nur zu rechnen ist, wenn es gelingt, den Einfluss der Eltern völlig auszuschalten.“

Ganz so, als handele es sich um Epidemiologen bei ihrem verzweifelten Versuch, einer Seuche Herr zu werden, oder um tapfere Generäle, die Versorgungslinien des Feindes zu kappen verdammt, handhaben die behördlichen Akteure den „Fall“ D. wie ein reines Abstraktum: es gibt ein Ziel, und es gibt einen Weg, der zu diesem führt; beide sind

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bekannt, nun gilt es, die Umsetzung zu realisieren; die Verluste sind möglichst gering zu halten. Bereits die angewandte Sprache (er-)schafft eine Form von Realität, die alternative Realitäten entweder ausblendet oder nachordnet, unterordnet, abwertet. Konstituierung (von Wirklichkeit) und Ideologisierung (von Handlungen) vollziehen sich in einem Schritt, der wiederum einen Abdruck zurücklässt, den die nachsprachlichen Aktivitäten ausfüllen. Und meist auch nahtlos in die Spur hineinpassen, die sprachlich vorbereiteten, fühl- und messbaren tatsächlichen Geschehnisse. Der Akte von D. zufolge verläuft die Unterbringung im Neinstedter Erziehungsheim wie behördlich vorgesehen – die Heimleitung vor Ort weiß, was sie wissen soll, der Kontakt zwischen den Angehörigen wird unterbunden, ganz gleich, ob der Großvater oder der Stiefvater anfragt: Briefe ebenso wie Besuche bleiben untersagt, bei Nichteinhaltung werden Post wie Besucher wieder nach Hause geschickt. Dennoch dringen D.’s Angehörige auf die Einhaltung von Absprachen, wie im Brief des Stiefvaters an die „Direktion des Knabenheims Lindenhof in Neinstedt“ vom 26. August 1934: „Laut mündlicher Aussprache vom 27.6.34 im Büro Ihrer Anstalt bitte ich, [...] höflichst anfragen zu dürfen, ob mit dem 25.ds. Monats nun endlich das Besuchsverbot meines Kindes [D.] seinen Abschluß erreicht hatte. Sollte dies der Fall sein, so bitte ich die Direktion höflich, mir nebst Ehefrau für Sonntag, den 5.8.34 einen Besuch zu gewähren. Mit deutschen [sic!] Gruß“

Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses gewährt die Bitte am folgenden Tag, und stimmt dem elterlichen Besuch ihres Sohnes für den 5. August zu – allerdings nicht ohne Auflagen: „Wir bitten Sie aber schon jetzt alles was die Erziehung Ihres Sohnes ungünstig beeinflussen könnte, zu vermeiden, damit nicht wieder ein Besuchsverbot verhängt werden muss. Heil Hitler!“

Auch der familiäre Briefverkehr ist wieder zugelassen, zumindest finden sich von nun an zahlreich Karten und Briefe in D.’s Akte. In

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einem Schreiben vom 31. Juli bedanken seine Großeltern sich herzlich bei D. für eine Karte aus Neinstedt, geben Auskunft zu gestellten Fragen, zumeist den gesundheitlichen Umständen näherer Verwandter, und „freuen sich schon alle auf [D.’s] Besuch.“ Obgleich die Akte seit Aufhebung des Brief- und Besuchsverbots nicht Nachteiliges über D.’s Verhalten zu berichten weiß, hält man sich im Heim offensichtlich genau an die behördlichen Empfehlungen aus Bernburg, und macht auch von einer „Vorprüfung“ der Briefe gewissenhaft Gebrauch. Diesem Umstand ist es zu verdanken/geschuldet, dass sich neben den Schreiben seiner Verwandten, auch ein Brief von D. an seine Eltern in der Akte befindet, datiert auf den 8. September 1934; neben einer Anmerkung des Verfassers („Bitte sofort antworten.“) trägt das Schreiben auch einen Vermerk der Anstaltsleitung: „nicht abgesandt“. Dokumente wie diese Briefe zwischen D. und seinen Angehörigen, verfasst von Personen, die privat (= vs. beruflich) in die (Fürsorgeerziehung-)Situation involviert sind, erweisen sich für die Untersuchung als durchaus ambivalent. Einerseits weisen sie keines derjenigen Merkmale auf, um ein (FE)-verlaufsprägendes Schlüsseldokument zu sein, mittels welchem ein Entwurf, eine Darstellung vom Zögling in die Welt gebracht wurde und „dort“, in unterschiedlichem Maß, Realisierung erfuhr. (Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, der Brief eines Zöglings enthalte nicht auch einen Entwurf seines Verfassers.) Andererseits ermöglichen sie Einblick in die Binnenperspektive auch desjenigen, welcher in allen anderen Dokumenten ausschließlich von außen konstituiert wird.344

344 Was also könnte interessanter sein, als die eine Sicht durch die andere zu ergänzen? Da es sich bei diesen Binnenperspektiv-Dokumenten jedoch ebenso (wie bei allen anderen Außenperspektiv-Dokumenten) um sprachlich zustande gekommene Darstellungen handelt, entstanden aus ganz bestimmten Motiven, als Realisierungen ganz bestimmter Möglichkeiten, kann ich ihnen in der Untersuchung keinen anderen erkenntnisfördernden Wert zugestehen als den übrigen Dokumenten auch. Auch sie enthalten eine Sicht auf die Vorkommnisse, von denen die Akte erzählt, die Sicht des Zöglings. Dessen Darstellungen auf Passung mit den Darstellungen (des Erzie-

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Wenn wir nun also damit beginnen (würden), die verschiedenen Puzzlesteinchen mit den unterschiedlichen Entwürfen vom Zögling zusammenzusetzen, die unterschiedlichen Entwürfe aneinander reiben, solange, bis sie ins Bild passen, die bisher weißen Stellen farbig auffüllen, dem einen Steinchen den Vorzug vor dem anderen geben, bekämen wir aller Voraussicht nach schließlich eine Discokugel anstatt musivischer Kunst. Trotz der Möglichkeit also, innerhalb des institutionellen Aufschreibesystems der Stimme eines Betroffenen Raum zu geben, der Konstituierungsmacht der „amtlichen“ und behördlichen Verfasser eine ebenfalls schreibend (vom Zögling selbst!) erzeugte Realität gegenüberzustellen, selbst auf die Gefahr hin, die Verlaufsdarstellung gegebenenfalls mit ein wenig emotionalem Kolorit anzufärben, finden die privaten Briefe (Binnendokumente) keinen Eingang in die Textanalyse unserer Untersuchung; dennoch nehmen wir sie als nachweisliche Tatsache zur Kenntnis, als materialisierten Ausdruck der Beziehung zwischen untergebrachtem Kind und seiner Familie, deren Unzufriedenheit und Kummer über den status quo aus jeder geschriebenen wie ungeschriebenen Zeile spricht. Sowie als Schilderung der aktuellen Umstände; nicht zu Vergleichszwecken mit „offiziellen“ Darstellungen über die Umstände im Heim, sondern als „Zustands-Bericht“ eines 12-jährigen an seine Eltern, der uns vorliegt in jenem nicht weitergeleiteten Brief. Heim-Brief Über das Heimleben schreibt D. zwei Sätze, die schwerlich als Anlass der unterbundenen Weiterleitung durch die Heimleitung getaugt haben mögen. („Bei uns ist gantz herrliches Wetter, wir waren schon oft baden. In den großen Ferien machen wir wieder eine große Wanderung, die dauert 11 Tage, das macht noch mehr Freude.“) Ansonsten bedankt er sich für den Brief seiner Eltern, bittet um Briefpapier („So kann ich Euch öfter schreiben, das beste ist, immer gleich mit Briefmarke, aber

hungsheimes, der Behörden...) der übrigen Dokumente zu untersuchen hieße, verschiedene Erzählungen miteinander zu vergleichen, brächte uns im Hinblick auf die Untersuchungsfrage also nicht voran. Die Untersuchung dieser Dokumente erforderte eine andere Fragestellung, und damit eine andere Arbeit.

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keine Adresse. Mit Briefmarke kommt er viel eher fort, weil ich ihn da selbst zur Post bringen kann.“), erkundigt sich nach dem Befinden zahlreicher Verwandter, und wägt die Möglichkeiten ab, wer ihn denn wohl einmal besuchen kommen könnte, zuallererst natürlich die Eltern („Hoffentlich besucht ihr mich bald mal? Oder [...] könnten mal mit den Rädern kommen. [...] E. könnte mich doch mal besuchen, oder hat er keine Zeit? [...]“). Weiterhin regt er an, sein Großvater könne ihm doch „ein bar Kriegsbücher schicken“, und, bei der Gelegenheit, am besten etwas zu essen („Wenn er nicht weiß, was er schicken soll, so wird ich ihm gleich sagen: ein Stücke Schinken, ein Stücke Wurst oder ne ganze, das ist egal oder was sonst in der Räucherkammer hängt. [...] Hauptsache ist, man hat was zu essen.“) Soviel von D. über D.; in den Aufzeichnungen des Erziehungsheims taucht er (wieder) auf in einem undatierten, schätzungsweise zwischen September und November 1934 verfassten Bericht. Bei diesem Bericht handelt es sich um ein einrichtungsinternes, „inoffizielles“ Gutachten, welches herangezogen wird zur Abfassung offizieller Berichte, wie dem im November 1934 an den Bernburger „Magistrat, Abt. Jugendamt“ übersandten. Erzieher-Gutachten Unterzeichnet wurde das undatierte Gutachten von Erzieher STARKE, bestehend aus einem freien Text mit 19 maschinegeschriebenen Zeilen. Im Unterschied zu sonstigen, schriftlichen Einschätzungen innerhalb der Einrichtung, fällt der Text allein schon hinsichtlich seiner formalen Darstellung – durch den Verzicht auf handschriftliche Erstellung – auf, in inhaltlicher Hinsicht wachsen die Differenzen (gegenüber intra- wie interinstitutionellen Darstellungen) auf ein beachtliches Maß an. Der Bericht, der sich dem Zögling, dessen Entwicklung und Verhalten im Heim widmet, zeichnet ein Bild von D., wie es uns in keinem weiteren Dokument der Akte überliefert ist. Und beweist, dass eine kritische Einschätzung durchaus ohne despektierliche Äußerungen auszukommen vermag. Da der nächste offizielle Bericht des Erziehungsheimes an das Jugendamt Bernburg offensichtlich Bezug nimmt auf das Gutachten von Erzieher STARKE, widmen wir uns beiden Texten in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Abfassung.

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Bis auf den ersten Satz ist der undatierte, inoffizielle Bericht des Erziehers im Präsens verfasst; er schildert beobachtetes Verhalten, und zieht aus diesem mögliche Schlüsse. Der Eingangssatz (Z.4-5) stellt eine Verbindung her zwischen D.’s Vergangenheit und seinem derzeitigen Aufenthalt in Neinstedt; doch anders als bisher – und danach wieder – verbreitet, kommt am 8. März 1934 nicht „einer der schwierigsten Zöglinge des [Bernburger] Heims überhaupt“345 in Neinstedt an, stattdessen trifft D. auf dem „Lindenhof“ scheinbar ohne (s)eine Vergangenheit ein. Ohne Erwähnung, und damit Fortschreibung der Umstände und Verlegungsgründe, wurde er im Bericht STARKES lediglich „am 8.März 1934 vom Friederikenhaus in Bernburg nach dem Lindenhof Neinstedt überwiesen“; von da an berichtet der Text aus dem Hier und Jetzt über D.: „[...] ist ein fleißiger Junge der bestrebt ist, sich in Zucht zu halten. Er versucht neben kleinen Entgleisungen Ordnung zu halten und ist bemüht, seinem Erzieher keine Schwierigkeiten zu bereiten. Er ist anstellig und besitzt seinem Alter entsprechend eine leichte Auffassungsgabe.“ (Z.6-10)

Ebenso positiv schildert der Text D.’s Sozialverhalten („sein Verhalten gegenüber den Kameraden ist einwandfrei [...]“ (Z.11), weist hin auf einen Hang zu „eindrücklichem“ Auftreten in Wettkampf- und sportlichen Spielsituationen („[...] beim Spiel beteiligt er sich flott, wenn er dabei auch gern eine besondere Rolle spielen möchte“ (Z.11-12), hebt seine schulischen Leistungen hervor („Geistig ist [D.] sehr rege und in der Klasse übertrifft er in Ausdruck und Wissen so ziemlich alle seiner Kameraden.“ (Z.16-17), und schließt mit einer hoffnungsvollen, wenngleich ambivalenten Prognose („Bei weiterer guter Entwicklung verspricht [D.] ein brauchbarer Mensch zu werden“ (Z.18-19). Ein sowohl erziehbereiter wie erziehbarer Zögling also, der im Bericht des Erziehers STARKE auftaucht, aufgeweckt und klug, nicht frei von Unzulänglichkeiten, dennoch bemüht um konfliktarmes Miteinander.

345 Vgl. Schreiben des Anhaltischen Staatsministerium, Abteilung Wirtschaft vom 29. März 1934 an die Mutter von D., bezugnehmend auf ihre Beschwerde über die beabsichtigte Verlegung ihres Sohnes von Bernburg nach Neinstedt.

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Erziehungs- und Entwicklungsbericht Der Zögling, den das Jugendamt Bernburg Anfang November 1934 im Neinstedter Erziehungs- und Entwicklungsbericht vorfindet, hat mit dem zuvor vom Erzieher beschriebenen Zögling nur wenig gemein; lediglich Name und Aufnahmedatum weisen auf dieselbe Person hin. Ebenfalls maschinegeschrieben, verfügt das offizielle Dokument über exakt die Textlänge wie der interne Bericht, ist nicht persönlich unterschrieben, sondern schließt mit Tagesgruß und Nennung des Verfassergremiums („Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ (Z.19-20). Die Darstellung legt die Vermutung nahe, als wäre sie verfasst worden unter direkter Verwendung der überweisungsflankierenden Dokumente des Jugendamtes Bernburg vom März des Jahres 1934. Der institutionelle Zöglings-Entwurf aus Bernburg („Friederikenhaus“, Anhaltisches Staatsministerium, Abteilung Wirtschaft und Jugendamt) wird in diesem Bericht ohne erkennbares Irritationsmoment oder gar Korrekturbedarf übernommen, auf den „aktuellen Stand“ gebracht und postwendend zum Urheber zurückgesandt. Wir finden eine, vom Vorstand des Neinstedter Erziehungsheims anerkannte, sprich: für wahr befundene und brav, sprich: exakt weitererzählte Darstellung der Unterbringungsgeschichte im Dokument vom 3. November 1934 vor, d.h., ins Jugendamt Bernburg kehrt eine Geschichte heim, die ein halbes Jahr zuvor von dort als Prognose „ausgegangen“ war, und mit ihrer Bestätigung im Gepäck zurückkehrt. (Viel exakter kann selbst die medizinische Zunft nicht arbeiten...) Unter dieser Prämisse (Zutreffen der „offiziellen“ Darstellung, Eintreten der „offiziellen“ Prognose, und damit Bestätigung derselben „Richtigkeit“) beschreibt der Text des Dokuments die Unterbringungsgeschichte des D. als eine, die geprägt ist von Mühen und Undankbarkeit, von richtigen Entscheidungen und steten Rückschlägen, von Kummer und Hoffnung. Wie der Bericht des Erziehers STARKE, setzt auch die Darstellung des Knabenrettungshaus-Verwaltungsrates ein mit einem Brückenschlag zwischen Vergangenheit (Zeit vor der Unterbringung im Neinstedter Erziehungsheim) und dem Aufenthalt vor Ort, führt in apologetischer Manier Gründe und Wirkungen des „von der Anhaltischen Regierung verhängten Besuchsverbots von ¼ Jahr [wegen der] ungünstigen Beeinflussung durch seine Eltern“ (Z.35) aus, verschweigt die zeitliche Verdopplung dieser erzieherischen Maßnahme, vermutet dafür die Richtigkeit der familiären Kontakt-

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unterbindung („was scheinbar für die Erziehung des Knaben günstig gewesen ist.“(Z.6), bleibt entsprechende Belege jedoch schuldig. Im Weiteren betont der Bericht nämlich wiederholt die absolute Notwendigkeit „strenger Beaufsichtigung“ (Z.7), denn nur dann sei D. bestrebt, „sich in die Zucht zu nehmen und die von ihm aufgetragenen Arbeiten befriedigend auszuführen. Wird er nicht beaufsichtigt, so drückt er sich gern vor der Arbeit.“ (Z.9-10) Auch mit den Charaktereigenschaften von D. stehe es nicht zum Besten („[...] ist sehr leicht beleidigt, rechthaberisch, vorlaut, verlogen und trotzig“, Z.10-12), überhaupt mangele es ihm an Bereitschaft zur Unterordnung („Im Umgang mit seinen Kameraden will er gern der Anführer sein.“, Z.12-13) Auch seine schulischen Leistungen sind im offiziellen Bericht keineswegs so einwandfrei („In der Schule ist sein Betragen nicht ohne Tadel, Fleiss und Leistungen befriedigend.“, Z.14-15), wie noch im internen Gutachten beschrieben („Geistig ist [D.] sehr rege und in der Klasse übertrifft er in Ausdruck und Wissen so ziemlich alle seiner Kameraden“ STARKE, Z.16-17). Überhaupt ist D. „geistig Psychopath“, wie der Bericht weiter ausführt, die Diagnose der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung vom 13. März verwendend, ohne Kenntlichmachung der Quelle allerdings, wie überhaupt die gesamte Darstellung (ihrem Darstellungsmodus nach) ausschließlich auf eigenen Beobachtungen und Erfahrungen der Verfasser zu basieren scheint. Vermeintliche Zeugenschaft als Verifikationsgarant. Und so schließt der nominelle Bericht (den Erzählzirkel wie die Darstellung des Zöglings) ab mit einer nicht unerwarteten Prognose, wonach bei fortgesetzter tüchtiger Erziehungsarbeit mit einem absehbarem Erfolg zu rechnen sei. („Bei weiterer zielbewusster Heimerziehung wird die Fürsorgeerziehung für [D.] zum Nutzen sein. Wir bitten ihn darum im hiesigen Heim zu lassen.“, Z.16-18) Inwiefern weitere, zielbewusste Heimerziehung und deren behaupteter Nutzen für D. in direktem Zusammenhang, bzw. überhaupt in irgendeinem Zusammenhang stehen, bleiben die Schlusssätze schuldig, ebenso wie im gesamten Bericht auf einen feststellbaren Erziehungsfortschritt (i.S. einer Änderung = Anpassung des Zöglingsverhaltens an örtlich gestellte Maßgaben) nicht verwiesen werden kann. Im Gegenteil, der Bericht insistiert fortwährend darauf, von sich aus, aus eigenem Antrieb fände bei D. keine merkliche Verhaltenssteuerung statt.

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Obwohl der Erzählkreis auf der formalen Ebene sprachlich geschlossen wird, bleibt auf der inhaltlichen Ebene einiges offen, u.a. die fehlende Schlüssigkeit zwischen der beschriebenen Wirkungslosigkeit erzieherischer Maßnahmen und einem dennoch: weiter so am Schluss des Erziehungsberichts an das Jugendamt. Halbjahresbericht Der Halbjahresbericht, der einen Monat später an die Fürsorgeerziehungs-Behörde der Provinz Sachsen geht, zeichnet ein vergleichbares Bild über die Entwicklung D.’s während der letzten 6 Monate seiner Unterbringung im Neinstedter Erziehungsheim. Hervorgehoben werden D.’s „Eigensinn“ und „oftmals tadelnswertes Verhalten“, sowohl „im Hause“ als auch „in der Schule“, sein fragwürdiges Sozialverhalten „den übrigen Zöglingen gegenüber“ („[D.] ist ein großer Angeber! Gegen Kleinere ist er häufig brutal.“), sowie sein Verhältnis zur Arbeit („[D.] spielt gern den Anführer, drückt sich aber selbst vor jeder Arbeit“). Summarisch verneint der Bericht deshalb auch eine mögliche Unterbringung D.’s außerhalb des Erziehungsheims („Familienpflege können wir deshalb noch nicht befürworten, weil er keinen guten Einfluss auf die Gemeinschaft ausübt.“) Und eine vorzeitige Entlassung kommt erst recht in Frage, D.’s Charakter verbiete derzeit einen solchen Schritt („Nein, steht sittlich sehr tief“). Unterschrieben vom Hausvater KLEIN, erhalten die oberste Erziehungsbehörde der Provinz Sachsen sowie das Jugendamt Bernburg diese Darstellung und Empfehlung im Dezember 1934. Elternbriefe Zur selben Zeit liegt auf dem Schreibtisch besagten Hausvaters „des Knabenheims Lindenhof Neinstedt“ ein Brief aus Bernburg, in welchem D.’s Eltern geradezu flehentlich darum bitten, ihren Sohn wenigstens über Weihnachten zu sich nach Hause holen zu dürfen. Anders als in den übrigen zahlreichen Schreiben der Eltern, die zwar fortdauernd so sachlich und höflich wie selbstbewusst gehalten sind, ergeht sich der weihnachtliche Bittbrief in besonders ergebener Form und Sprache, sowohl Wortwahl als Grammatik betreffend. Auf 22 Zeilen zwischen direkter und indirekter Ansprache wechselnd, holen D.’s Eltern weit aus, um ihr Anliegen dem Heimleiter gegenüber möglichst nachvollziehbar zu begründen – und ihn schließlich zu einer wohlwollenden Entscheidung zu motivieren.

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„Sehr geehrter Herr Hausvater! Unterzeichnete, die Eltern des in Ihrem Heim untergebrachten Schülers [D.] aus Bernburg bitten den Herrn Anstaltsleiter um die Bewilligung eines Weihnachtsurlaubes für Ihren Sohn. Da der Junge nun schon über 1 Jahr aus dem Elternhaus fort ist und seine Führung nach Ihrer Ansicht sonst gut ist, bitten wir Sie höflichst, den Jungen zum [sic!] Weihnachtsfeiertagen auf einige Tage zu beurlauben. Wir verpflichten uns für seine pünktliche Rückkehr in das Heim.“ (Z.3-13)

Neben einem, dem Vernehmen des Hausvaters KLEIN nach, wenig zu beanstandenden Verhalten ihres Sohnes, sowie der unverhältnismäßig langen Trennung voneinander, führt der Brief als weiteres „Argument“ die Hochzeitsfeier von D.’s Onkel während der Weihnachtsfeiertage ins Feld, woran der Wunsch anknüpft, „bei dieser Familienfeierlichkeit den Jungen einmal wieder im Kreise unserer Familie um uns zu haben“(Z.15-17). Der Brief schließt in der Hoffnung, „mit der bescheidenen Bitte um wohlwollende Genehmigung unseres Gesuchs, sowohl wohlwollendem Bescheid Ihrerseits dankbar entgegen sehend“ (Z. 18-21) mit deutschen Gruß – in Neinstedt jedoch überwiegen die Bedenken. Aus „erzieherischen Gründen“ lehnt Hausvater KLEIN am 6. Dezember 1934 das Bittgesuch aus Bernburg ab, am letzten Tag des Jahres geht ein weiteres Schreiben der Eltern ein, ihr Kind zumindest am 6. Januar in Neinstedt besuchen zu dürfen; ob die Erlaubnis dazu erteilt wurde, und ob es zu einem Wiedersehen zwischen Eltern und Kind Anfang Januar 1935 kam, verschweigt die Akte. 1935 Das (chronologisch) nächstfolgende Schreiben in der Akte, welches D. „zum Anlass“ hat – ohne die monatliche Pflegegeldberechnung zu sein – stammt vom 28. Februar 1935, wieder von D.’s (Stief-)Vater. In seinem handschriftlichen Brief („[...] bitte Schrift zu verzeihen, da nur in der Baubude geschrieben“), wendet er sich wieder einmal an Hausvater KLEIN, und bittet, „da [ihm] als Vater am Gedeihen und Erziehen [s]eines Sohnes sehr viel liegt, [ihm] eine mündliche Aussprache für Sonntag den 10.3.35 zu gewähren.“. Gegen ein Gespräch scheint nichts zu sprechen, der Brief zumindest trägt am unteren Rand einen Vermerk des Empfängers: „kann kommen“, die entsprechende Mitteilung scheint D.’s (Stief-)Vater jedoch nicht zu erreichen.

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Vom 11. März nämlich stammt das nächste elterliche Schreiben, diesmal an Herrn Pfarrer und Einrichtungsleiter KNOLLE gerichtet. Es schildert ausführlich die Situation und bringt die „innigste Bitte“ um einen Besuchstag vor, „wenigstens für Ostern“. Höchst bemerkenswert an diesem Brief sind die „Argumente“, derer er sich bedient; verzichteten bisherige Schreiben auf eindeutige politische Stellungnahme ebenso wie auf ideologische Bezugnahmen, versucht das aktuelle Gesuch des (Stief-)Vaters an Pastor KNOLLE, nunmehr auch auf diesem Feld „auf Nummer sicher“ zu gehen. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, als ultima ratio sei eine eindeutige Positionierung zur aktuellen Politik als mittlerweile unumgänglich erachtet worden, die Bezugnahme auf den nationalistisch-völkischen Diskurs als Möglichkeit zur Chancenerhöhung hinsichtlich „wohlwollender Behandlung“ angesehen worden. So fordert D.’s (Stief-)Vater von der Heimleitung die Gelegenheit geradezu ein, gemeinsam mit der Kindsmutter berechtigterweise einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können. „Ich nehme an, daß ich nebst meiner Gattin als deutsche Eltern auf den Hinblick unseres Führers am Aufbau einer deutschen Jugend teilnehmen dürfen.“ (Z.16-19) Und hebt im folgenden Satz ab auf die persönlichen Motive, die, wenn auch nicht ausschließlich politischer Natur, dennoch die Ernsthaftigkeit unterstreichen, mit welcher er seiner Erziehungsverantwortung nachzukommen versucht („Mir als Vater vor allem liegt viel daran, aus meinem Kinde einen tüchtigen Stammhalter zu machen.“, Z.19-21). Zwei Tage später, am 13. März 1935, verlassen das Neinstedter Erziehungsheim zwei Mitteilungen gleichen Inhalts, in welchen Hausvater KLEIN D.’s. (Stief-)Vater mitteilt, es sei ihm „recht, wenn Sie am kommenden Sonntag, den 18. März hier erscheinen“, schließlich liege ihm „selbst [...] etwas daran, [sich] über [D.] auszusprechen. Mit deutschen Gruß. Heil Hitler!“. Ein Aktenvermerk vom 17. März gibt an, dass der Besuch zustande kam, und Hausvater KLEIN D.’s Stiefvater bei dieser Gelegenheit „persönlich versprochen habe, seinem Sohn [D.] zu Ostern ein paar Tage Urlaub [zu] gewähren.“ Das Jugendamt Bernburg sei um Mitteilung gebeten worden, „ob der Urlaub von dort zugelassen werden kann.“ Am 25. März geht die Mitteilung des „Verwaltungsrates des Knabenrettungshauses Neinstedt“ an D.’s Eltern nach Bernburg, der Osterurlaub ihres Sohnes sei nunmehr auch vonseiten des Jugendamtes

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genehmigt und erläutert die Formalitäten um Bahnfahrzeiten und preise. Kein Urlaub Dennoch findet D.’s Familienbesuch über Ostern nicht statt. Wie zuvor bereits, sind die Gründe hierfür weniger im korrekten oder unkorrekten Verhalten des Zöglings im Erziehungsheim zu suchen, noch in der fehlenden Einhaltung der Beantragungsfristen, sondern in der politischen Unzuverlässigkeit des Elternhauses. Allem Anschein zum Trotz, sich dem Erziehungsheim gegenüber als politisch einwandfrei darzustellen, konnte das Jugendamt Bernburg gerade noch rechtzeitig, vor Ostern nämlich, in Erfahrung bringen, „dass die Familie [von D.] mit einer in Bernburg als politisch sehr unzuverlässigen Familie [X.] verkehrt, die dauernd gegen jede behördliche Maßnahme vorgeht und grundsätzlich Opposition treibt“ (Z.7-19). Um vor diesem Hintergrund den bisherigen Erziehungserfolg der Unterbringungsmaßnahme nicht unnötig zu gefährden, sieht Jugendamtsmitarbeiter ACKERMANN sich in seinem Schreiben vom 3. April 1935 „zu seinem Bedauern gezwungen, die Einwilligung zurückzunehmen. Es liegt die Befürchtung sehr nahe, dass [D.] in den Urlaubstagen sehr gegen die Anstalt aufgehetzt wird und die weitere Erziehung des Knaben im Heim sich dann besonders schwierig gestaltet.“ (Z.12-15),

womit eine politische Erziehung der Eltern über das Kind erfolgen soll. Das Erfordernis einer solchen Maßnahme „beweist“ sich aus dem bisherigen Taktieren der Kindsmutter, ihren Sohn um nahezu jeden Preis aus der Einrichtung nach Hause zu bekommen. So habe D.’s Mutter ihre Hoffnung auf Entlassung des Kindes aus dem Erziehungsheim noch immer nicht aufgegeben, sondern sich „in einem Entlassungsgesuch [...] an die Schwester des Führers nach Bergdesgaden“ (Z.16-17) gewandt. In diesem Bittschreiben habe sie behauptet, ihr Sohn habe in Neinstedt „einen hässlichen Ausschlag am Kopf durch Ansteckung bekommen, der nicht sachgemäß behandelt worden sei“ (Z.18-20). Entsprechend bittet das Jugendamt um einen „möglichst eingehenden Bericht“ zu diesem Sachverhalt sowie „über die Führung des Knaben im Heim“ (Z.20-22).

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Das Erziehungsheim antwortet dem Jugendamt Bernburg noch am gleichen Tag, dem 4. April 1935; auch D.’s Eltern wird unversehens Mitteilung gemacht vom geänderten Stand der Dinge. Dem Jugendamt Bernburg teilt der „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses Neinstedt“ in seinem kurzen Schreiben zum einen „ergebenst mit, dass ein ausführlicher Bericht über [D.] bereits abgesandt worden ist.“(Z.5-6), zum anderen erklärt man sich „mit der Streichung des Urlaubs einverstanden“, und fügt hinzu, man habe „nur nicht vorgreifen“ wollen (Z.5-9). Nach der Bekräftigung der gemeinsamen Linie schlägt das Schreiben selbstbewusstere Töne an; es fasst besagten Erziehungsbericht zusammen, betont die unbedingte Notwendigkeit weiterer Heimerziehung („Aus den drei Gutachten (Heim, Schule und Arzt) ist einwandfrei zu ersehen, dass [D.] unbedingt noch weiterhin der Heimaufsicht bedarf. Der Entlassungsantrag ist demnach abzulehnen.“ (Z.9-12) und schließt Ansteckbarkeit bei der „Furunkellose an der Kopfhaut“ des Jungen aus, „wie aus dem ärztlichen Gutachten, was unserem Bericht beigefügt war, zu ersehen“ (Z.12-14). Erziehungs- und Entwicklungsbericht Wie angesprochen, setzt dieser Bericht, datiert auf den 3. April 1935, sich zusammen aus „drei Gutachten (Heim, Schule und Arzt)“; drei verschiedene Teile, jeweils von einem anderen Autor stammend. Die „Endredaktion“ oblag einem vierten, der dafür verantwortlich zeichnete, welche der Darstellungen unverändert übernommen, und aus welcher die Angaben lediglich stellenweise entnommen wurden, „Heil Hitler!“ grüßt der „Verwaltungsrates des Knabenrettungshauses Neinstedt“ (Z.50-51). So wird der ursprüngliche Bericht des Erziehers STARKE (vom 31. März 1935) auf knapp die Hälfte gekürzt; wie bereits beim Bericht vom November 1934 der Fall, bleiben dabei diejenigen Elemente der Darstellung auf der Strecke, die maßgeblich für die Ausgewogenheit des Bericht verantwortlich sind. Der Schulbericht, gezeichnet von Schulleiter ECKHARDT, wird hingegen vollständig übernommen, ebenso das ärztliche Gutachten, gezeichnet vom Anstaltsarzt Dr. WITTENBERG. Während der Bericht ECKHARDTS die noch immer bestehenden „Charakterfehler“ (Z.28-29) seines Schülers hervorhebt („waren [in der Vergangenheit] so schwer“ (Z.29), „sind noch immer nicht ausgeglichen“ (Z.32), „maßloser Trotz, selbst Jähzorn“ (Z.32-33) und daraufhin eine „Ent-

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lassung aus der Heimerziehung für verfrüht“ (Z.36) ansieht, die deshalb „im Interesse des Jungen abgelehnt werden [...] müsste“ (Z.37), zielt die Darstellung von Sanitätsrat und Anstaltsarzt WITTENBERG vorwiegend darauf ab, den Verdacht von Infektionskrankheiten im Neinstedter Erziehungsheim entschieden von sich zu weisen. Der Zögling selbst habe seinen Ausschlag zu verantworten, habe doch „der Junge bei seiner Neigung zur Unsauberkeit die Behandlung, die durch den Anstaltsarzt vorgenommen wurde, nicht so unterstützt, wie es hätte geschehen müssen“ (Z.44-46). Darüber hinaus sei die Furunkellose längst abgeheilt, („seit Januar 1935“, Z.47). Das Bemerkenswerte am Gutachten des Mediziners ist dabei weniger die Frage nach dem tatsächlichen Zustandekommen des Kopfhautausschlags bei D., sondern vielmehr die Reaktion des Arztes auf die Frage nach dem Zustandekommen des Kopfhautausschlags beim Zögling. Offenbar verstanden als mögliche Kritik an oder Infragestellung der eigenen Tätigkeit, tritt eine unmittelbar apologetische Haltung zutage, deren Funktionsmechanismen einer ähnlichen Logik zu folgen scheinen, wie sie uns auch auf dem pädagogischen Feld begegnet: Das Resultat einer „Operation“ bestimmt maßgeblich, auf wessen Einwirkung sich ihr Zustandekommen zurückführen lässt. Einen Erfolg (Erziehung oder Heilung) verantwortet ursächlich der Vertreter der Profession, ein Misslingen liegt überwiegend begründet in der Haltung und Verfassung des „Behandelten“ (Patient oder Zögling) selbst. Obgleich es die „richtigen“ Erziehungsmaßnahmen sind, (daran besteht in keinem der Entwicklungs- und Erziehungsberichte auch nur der Hauch eines Zweifels), die Erzieher STARKE, Schulleiter ECKHARDT u.a.m. Zögling D. angedeihen lassen – wie sollen sie denn zum Ziel führen, wenn die schlechten (Charakter-)Eigenschaften des Zöglings die Wirkung immer wieder torpedieren? Wie soll der Anstaltsarzt denn für Gesundheit im Heim sorgen können, wenn seinen Anweisungen nur ungenügend Folge geleistet wird? In dieser Hinsicht enthält der Bericht vom 4. April 1935 an das Jugendamt Bernburg nichts Neues, einzig neu sind die Angaben von Erzieher STARKE zu D.’s Unterbringung in Neinstedt: „Seit März 34 [d.h., seit seiner Aufnahme in Neinstedt, Anm. d. V.] war D. in verschiedenen Stubenkameradschaften untergebracht, die längste Zeit in der 3. Familie, wo er sich z.Zt. auch wieder befindet.“ (Bericht STARKE vom 31. März 1935, Z.4-7)

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Von einer Entlassung D.’s aus dem Heim raten Erzieher STARKE, Schulleiter ECKHARDT sowie der „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ Neinstedt unisono ab: „charakterlich zeigt [der Junge einfach noch] zu wenig Halt, [weshalb] er noch längere Zeit straffer Heimerziehung bedarf.“ (Z.22-24)

Erziehung Die straffe Heimerziehung äußert sich u.a. auch darin, dass D.’s Kontakt zu seinen Eltern rigoros unterbunden wird. Besuchsanfragen werden abgelehnt, Anträge auf Beurlaubung nach Hause ohnehin, selbst massive Beschwerden ignoriert. Es vergehen April, Mai, Juni, Juli, August – die Haltung der Heimleitung bleibt unverändert. Gleich, ob D.’s (Stief-)Vater an Hausvater KLEIN, Anstaltsleiter Herrn Pastor KNOLLE schreibt, sich bei der Fürsorgeerziehungs-Behörde in Dessau beschwert oder „beschwerdeführend an den Führer Herrn Adolf Hitler persönlich“ (Schreiben vom 5. April 1935) sich wendet, der „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ Neinstedt gibt sich in seinen Antwortschreiben unverrückbar. So ähnelt das Schreiben an D.’s (Stief-)Vater vom 2. August 1935, fünf Monate nach dem gescheiterten Osterurlaub, den vorherigen Absagen zwillingsgleich. „Im Anschluss an die dortige Anfrage betr. Urlaub Ihres Sohnes noch in den Sommerferien müssen wir Ihnen nach Rücksprache mit dem Jugendamt Bernburg mitteilen, dass der Urlaub abgelehnt ist. Wir stellen Ihnen anheim zu den Herbstferien erneut einen Urlaubsantrag beim dortigen Jugendamt zu stellen. Heil Hitler!“

Da der Erfolg seiner Beschwerdeführung bei Herrn Hitler eher mäßig ausfiel, wendet sich D.’s (Stief-)Vater einen Monat später an das Jugendamt Bernburg, um dort „für seinen Sohn [D.] einen HerbstferienUrlaub [zu] erbitten“. Das Schreiben geht am 4. September 1935 beim Jugendamt ein, mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf zu besagten Ferien, wird weitergeleitet nach Neinstedt, von wo am 9. September folgende Antwort nach Bernburg ergeht, dass D. „in den Herbstferien einen Urlaub von 4 Tagen voraussichtlich erhalten wird, falls seine Führung bis dahin nicht zu Klagen Anlass gibt. Das genaue Datum wird dem Vater noch mitgeteilt“.

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Das genaue Datum wird D.’s (Stief-)Vater nicht mitgeteilt, ebenso wenig Details zu den An- und Abreisemodalitäten, denn zum wiederholten Mal kommt der angekündigte Urlaub nicht zustande. In Neinstedt sitzt man die Angelegenheit aus, lässt D., ebenso wie Eltern und Jugendamt im Unklaren, solange, bis das Jugendamt Bernburg sich am 12. Oktober 1935 nach den Gründen der Funkstille erkundigt. Daraufhin teilt der „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ Neinstedt dem Jugendamt Bernburg am 14. Oktober 1935 in einem kurzen, 8zeiligen Schreiben mit, „dass der beabsichtigte Urlaub für [D.] nicht genehmigt werden konnte.“ (Z.2-4) Die genannten Gründe würden geradezu tragikomisch anmuten, träfen sie in ihren Folgen nicht die, behördlicher Willkür einmal mehr sich restlos ausgeliefert Fühlenden, D. und seine Familie. Diese konnten deshalb sich nicht wiedersehen, da „infolge einer Verlegung unserer [sic!] Knabenheims nach dem Johannenhof [...] die Herbstferien um eine Woche vorverlegt wurden. Inzwischen hat der Schulunterricht wieder begonnen, sodass eine Beurlaubung nicht mehr in Frage kommen kann.“ (Z.4-8)

Wohlgemerkt, auf Nachfrage wird dem Jugendamt diese Mitteilung zugestellt, nicht den Eltern. Der Oktober vergeht, wie auch der November, die Akte schweigt. Am 7. Dezember geht ein elterlicher Brief aus Bernburg an Hausvater KLEIN nach Neinstedt; D.’s (Stief-)Vater „erlaubt [sich in diesem Schreiben], nochmals an den Weihnachtsurlaub zu erinnern“ (Z.46), und bittet ebenso nochmals ausdrücklich um Gewährung desselben, sowie darum, ihm seinen Sohn „nicht erst heilig Abend zu schicken, da [er] beabsichtige, Ihm einen Anzug und Schuhe zu kaufen“ (Z.1315). Der Brief schließt mit den besten Wünschen für ein „fröhliches Weihnachten und ein frohes Neujahr“ an Hausvater KLEIN „nebst Familie“, und trägt neben der (stief-)väterlichen Unterschrift noch drei weitere Anmerkungen späteren Datums. Die erste Bemerkung, von Hausvater KLEIN am 9. Dezember 1935 unterschrieben, befürwortet den beantragten Urlaub, ebenso wie diejenigen von Anstaltsleiter und Pastor KNOLLE und Anstaltsarzt Dr. WITTENBERG am Tag darauf.

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Nachdem in Neinstedt bezüglich dieser Frage Einigkeit herrscht, wird der Urlaubs-Vorschlag am 10. Dezember 1935 zur Überprüfung an das Jugendamt nach Bernburg weitergegeben. Möglicherweise hat die einstimmige Befürwortung des letzten Urlaubsgesuchs ihren Grund auch in der Befürchtung, dass einige der bisherigen, pädagogisch begründeten Entscheidungen sich, einer möglichen Überprüfung auf ihr Zustandekommen und ihre Richtigkeit hin unterzogen, als „erklärungsbedürftig“ herausstellen könnten. Warum sollte man ohne erforderlichen Anlass den erzieherischen Kurs („charakterlich zeigt [D. einfach noch] zu wenig Halt, [weshalb] er noch längere Zeit straffer Heimerziehung bedarf.“ Bericht vom 4. April 1935, Z.22-24) der letzten 33 Monate derart unverhofft verlassen? Stattdessen erscheint das Gegenteil, eine baldige Entlassung nunmehr tatsächlich eine mögliche Option, fährt das Schreiben des Neinstedter Verwaltungsrates an das Jugendamt doch fort mit der Bitte um eine nochmalige Prüfung der „Frage [von D.’s] Entlassung“ (Z.6-7). Derselbe D., dem „aus erzieherischen Gründen“ im gesamten letzten Jahr fortwährend elterlicher Besuch untersagt, dem „aus erzieherischen Gründen“ während der gesamten Zeit seiner Unterbringung jeglicher Urlaub verwehrt wurde, steht zum allerersten Mal überhaupt auch nur vor der Chance, das Neinstedter Erziehungsheim verlassen zu können. Waren es die Verbesserungen in seinem Verhalten während der letzten Monate? Hat er endlich gelernt, seine charakterlichen Defizite besser zu kontrollieren? Wurden die erzieherischen Ziele der Fürsorgeerziehung bei D. gar bereits erreicht? Im Fortgang des Schreibens des Neinstedter Verwaltungsrates an das Jugendamt Bernburg vom 10. Dezember 1935 deutet nichts darauf hin, im Gegenteil: „Erziehungsschwierigkeiten bestehen nach wie vor. Er ist noch immer sehr dickköpfig, trotzig, widerspenstig.“ (Z.14-16) Zwar ließe sich mit Fug und Recht behaupten, dass „die bisherige Heimerziehung [...] Erfolg gehabt hat, jedoch kann die FE noch weiter nicht als erreicht angesehenen werden. Es ist deshalb weitere Heimerziehung notwendig. Wir bitten um gefällige Äusserung. Heil Hitler!“ (Z.16-20).

Neue Leser Ihre Ursache finden die konträren sprachlichen Handlungen (Bitte um Überprüfung der Entlassungsmöglichkeit vs. Konstatierte Renitenz) in

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einem scheinbar unerwarteten Ereignis, welches sich der Einflusssphäre des Neinstedter Verwaltungsrates wie auch des Jugendamtes zu entziehen scheint. Ein außerhalb des gepflegten Erzählkreises stehender Akteur, ein externes Gremium nämlich, nimmt Momente der FEUnterbringung in den Blick, und liest sie zu einer Geschichte, die in der bisherigen Erzählweise der Unterbringungsgeschichte nicht aufgeht, sondern zu erheblichen Irritationen führt. Dergleichen scheint sich abgespielt zu haben in den letzten Wochen des Jahres 1935, obschon uns über das Ereignis nur in einem einzigen Satz berichtet wird, in eben jenem „Kurswechsel-Schreiben“ des Neinstedter Knabenrettungshausverwaltungsrats vom 10. Dezember an das Jugendamt Bernburg. Besagter Satz folgt unmittelbar auf die Bitte um nochmalige Überprüfung einer Entlassungsmöglichkeit von Zögling D., und liefert auch die Erklärung solch unerhörten Ansinnens: „Gelegentlich einer Revision durch die Regierung wurde beanstandet, dass [D.] in einer Anstalt mit Hilfsschule untergebracht ist“ (Z.7-10). Und, als wollte es die Tatsächlichkeit der Beanstandung gleichsam anerkennen, schiebt das Schreiben hinterher: „Geistig ist er seinen Mitschülern überlegen“(Z.10-11). Ein Umstand, der sowohl dem Jugendamt Bernburg als auch den Verantwortlichen in Neinstedt, sprich dem „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ vom Beginn der Unterbringung an keineswegs unbekannt war. Jeder Bericht der letzten 21 Monate, die inoffiziellen von Erzieher STARKE oder Schulleiter ECKHARDT ohnehin, aber selbst die offiziellen an das Jugendamt, enthielt dezidiert Hinweise zum intellektuellen Leistungsvermögen des Zöglings D. Solange dieser Umstand sich „natürlich“ in die, zwischen Erziehungsheim und Jugendamt hin- und hererzählte Unterbringungsgeschichte integrieren ließ, reichte er als Anlass für ein Um- oder Neuschreiben nicht aus. Für einen mit dieser Geschichte Unvertrauten hingegen, bot er ein Irritationsmoment ausreichenden Ausmaßes, um der bewährten Erzählweise ihre Grenzen klar aufzuzeigen. Eine solche narrative Schwachstelle, die nun offen zu Tage tritt, die überhaupt erst sichtbar wurde von einem Ort außerhalb der Erzählung her, bestand im nachlässigen Umgang mit Sachverhalten, mit, selbst nach eigenem Verständnis, messbaren Tatbeständen, mit Fakten. Die salomonische Lösung des Dilemmas liefe nach Ansicht der Neinstedter Verantwortlichen nicht auf eine unmittelbare Entlassung

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aus dem Erziehungsheim in sein Elternhaus, sondern auf eine Verlegung D.’s in ein anderes Erziehungsheim, ohne Hilfsschule, hinaus; beispielsweise in die „Landeserziehungsanstalt Nordhausen“ (Z.1314). Das Antwortschreiben des Jugendamts Bernburg geht sechs Tage darauf, am 16. Dezember 1935, in Neinstedt ein. Darin teilt Amtsmitarbeiter ACKERMANN mit, dass er mit dem Vorschlag des Weihnachtsurlaubs konform gehe, von daher vonseiten des Jugendamts „einer Beurlaubung des [D.] zu Weihnachten [...] stattgegeben werden kann“ (Z.2-3). Hinsichtlich der möglichen Unterbringung des Zöglings in einem anderen Erziehungsheim gibt das Schreiben sich zurückhaltend, und mahnt an, „eine nochmalige Verlegung des Jungen in ein anderes Heim soll[e] noch überlegt werden“ (Z.3-5). Stattdessen bringt der unterzeichnende ACKERMANN eine neue Vorgehensvariante ins Spiel, welche bis dato ungenutzte „Erziehungsressourcen“ im Blick hat: „Vielleicht kann man ihn doch zunächst auf kurze Zeit ins Elternhaus beurlauben und mit der Hitlerjugend gemeinsam seine weitere Entwicklung überwachen“ (Z.5-8). Jedoch stehe „der endgültige Bescheid noch aus“ (Z.8-9). Während die Entscheidung um die Frage, ob ihm weitere Monate oder Jahre im Erziehungsheim bevorstehen, noch nicht gefällt – bzw. noch nicht mitgeteilt – ist, erhält D. die Möglichkeit, seine Eltern zu besuchen. Es dauert drei Tage, bis nach der Zustimmung zum Weihnachtsurlaub durch das Jugendamt Bernburg, am 19. Dezember eine Karte nach Bernburg geht, auf welcher ein ergänzter Vordruck D.’s Eltern Mitteilung davon macht, „daß wir Ihren Sohn [...] Weihnachten auf 5 Tage vom 23. Dezember bis 27. Dezember zu Ihnen beurlauben wollen. Für eine pünktliche Rückkehr in die Anstalt müssen Sie natürlich Sorge tragen. Das Reisegeld ist sogleich an die Anstalt zu senden. Der Junge muß am 27. Dezember wieder hier eintreffen. Mit freundlichem Gruß, ergebenst. Pastor.“ (Z.4-12)

Das Schreiben vom 19. Dezember trägt keine Unterschrift, kann seinen Empfänger schwerlich vor dem 20. Dezember 1935, einem Freitag erreicht haben, so dass ein pünktliches Eintreffen des Reisegeldes bei D. vor seinem Abreisetag nicht eben garantiert werden konnte.

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Über das Ob – und wenn ja, den Verlauf – des Besuchs daheim, gibt die Akte keine Auskunft. 1936: Richtungswechsel Das, nach der Urlaubsmitteilung an seine Eltern nächste Aktendokument, ist ein weiterer Bericht über D., datiert auf den 3. Januar 1936, gerichtet an die „Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen“. Unterzeichnet ist der Halbjahresbericht von „Hausvater KLEIN“, inhaltlich deckt das erzeugte Bild sich stark mit dem Bericht vom April des Vorjahres. Demnach ist D. „stark von sich eingenommen“, „will der Klügste sein“, bringt anderen Zöglingen gegenüber seine Überlegenheit deutlich zum Ausdruck, „zankt von daher oft“; seine schulischen Leistungen geben keinen Anlass zur Klage. Am Harz nichts Neues also, alles wie gehabt? Von der bloßen Beschreibung, von der Nennung der „Fakten“ her, lässt sich keine Veränderung in der Darstellung des Zöglings ausmachen. Vor dem geänderten Hintergrund hingegen, auf eine neue Interpretationsfolie verbracht, legen diese Beschreibungen eine entschieden andere, eine ganz bestimmte Leseweise nahe; sie zu lesen nämlich als Indizien für ein „Ist hier durchaus fehl am Platz!“. Da jedoch sowohl die Interpretationsfolie selbst, als auch das Ergebnis der „Entlassungsfrage“ (vom 10. Dezember) im Bericht gleich mit auftauchen, bedarf es zusätzlich keines sonderlichen narrativen Geschicks, um dem beschriebenen „Entwicklungsverlauf“ die erforderliche Plausibiliät zu verleihen. So verneint der Bericht die vorgegebene Frage: „Kann die vorzeitige Entlassung aus der Fürsorgeerziehung – auf Widerruf oder endgültig – erwogen werden oder welche tatsächlichen Beobachtungen sprachen dagegen?“ nicht wie bisher, gibt auch keine Empfehlung ab, sondern verkündet: „Wird am 1. Febr. d.Jrs. entlassen, damit er aus der Volksschule entlassen werden kann, das Jugendamt wird ihn hoffentlich weiter beaufsichtigen“ (Z.11-14). Es liegt die Vermutung nahe, dass zwischen dem Jugendamt Bernburg und dem Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses Neinstedt diesbezüglich Gespräche geführt worden sind, die in der Akte nicht vermerkt wurden, denn die offizielle Mitteilung des Jugendamts über die Entlassung aus dem Erziehungsheim geht erst drei Tage nach dem Erziehungsbericht an Neinstedt ein. Das Schreiben des Jugendamts vom 14. Januar 1936 bezieht sich dabei auf die Anfrage aus Neinstedt vom 10.

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Dezember 1935 „betr. Beurlaubung des [D.] ins Elternhaus“ (Z.5-6). Diesbezüglich teilt Amtsmitarbeiter ACKERMANN dem Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses Neinstedt mit, „dass ich mich entschlossen habe, dem Antrage der Eltern stattzugeben, um eine nochmalige Verlegung des Knaben zu verhüten. Ich bitte deshalb, den Jungen am 1.Februar 1936 zu entlassen. Die Eltern werden hiervon benachrichtigt.“ (Z.6-11) Es grüßt „Heil Hitler! Der Oberbürgermeister – Jugendamt. J.V. gez. Ackermann.“, [beglaubigt vom Stadtinspektor].

Damit endet die Akte von D. aus Bernburg, vom 24. Oktober 1933 an Zögling der Fürsorgeerziehung, vorerst im Bernburger Erziehungsheim „Friederikenhaus“, vom 8. März 1934 an untergebracht im Neinstedter Erziehungsheim „Lindenhof“. Die Geschichte, die bis zum Dezember 1935 in der Akte erzählt wird, behielt 21 Monate lang ihre Gültigkeit, eben solange, wie D. im Erziehungsheim „Lindenhof“ untergebracht war. Weder sein Verhalten noch die Interventionsversuche seiner Eltern vermochten die Erzählung zwischen Jugendamt und Erziehungsheim nachhaltig zu stören, eher war das Gegenteil der Fall. Die „Störmomente“ vonseiten der Eltern, die sowohl den grundsätzlichen Sinn und Zweck, als auch die Art und Weise der Fürsorgeerziehung ihres Kindes nicht widerspruchslos hinzunehmen geneigt waren, ließen sich hervorragend in den Erzählverlauf integrieren, als Indizien nämlich für den schädlichen Einfluss der Eltern auf ihr Kind. Mit jeder Anfrage, jedem Einspruch und jeder Beschwerde durch die Eltern, wurde die Unterbringung außerhalb des Elternhauses umso „richtiger“, die Unterbindung solch schädlichen Einflusses umso notwendiger. Und D.? Am 24. Oktober 1933 in Fürsorgeerziehung genommen wegen unzureichender elterlicher Beaufsichtigung und wegen drohender Verwahrlosung, entwickelt er sich im Erziehungsheim „zu einem ordentlichen Menschen“, wie das Schreiben LÜDICKES vom 29. März 1934 das Erziehungsziel klar benennt? Wir wissen nichts über D.’s „Entwicklung“ oder sein Verhalten während seiner Zeit im Heim, was über die Darstellung seines Verhaltens in den Berichten und Gutachten hinausginge. Dieser Darstellung jedoch, dieser sprachlich erzeugten Realität, hat D. es zu verdanken, dass nicht er und sein Verhalten, sondern narrativ verwendbare Bruchstücke davon Eingang fanden in das erzeugte und weitergegebene Bild

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von ihm. In diesem Bild war weder eine Verlegung, und schon gar keine Entlassung vorgesehen; herbeigeführt wurde dieses Ereignis auch nicht durch eine Verhaltensänderung oder deren (Neu-)Beobachtung und -interpretation: ein von außen an die Betreffenden und Betroffenen herangetragenes Handlungsmoment bescherte dem bisherigen Verlauf seine neue Richtung.řŚŜ

346 Von außen meint von außerhalb des Erzählrahmens auf die Geschichte einwirkend, aus Sicht der Erzählenden: ungeplant und unverhofft. Liest man die Akte von D.’s Unterbringung in Fürsorgeerziehung als Verlauf aufeinanderfolgender Geschehnisse, als Unterbringungsgeschichte, fühlt der Leser sich angesichts des tatsächlichen Zustandekommens der Beurlaubung, und schließlich, Entlassung des Zöglings D. ins Elternhaus, gegebenenfalls nicht zufällig erinnert ausgerechnet an die Kriminalprosa des Schweizers FRIEDRICH DÜRRENMATT. Die erlesene Analogie soll nur an einem Beispiel knapp angerissen werden: In DÜRRENMATTS Roman Das Versprechen (1952) ermittelt der Kommissär Matthäi induktiv und zielstrebig den gesuchten Verbrecher. Er konstruiert das Profil des polizeilich gesuchten Mädchenmörders, entlastet damit einen aufgrund von Indizien bereits festgenommenen Tatverdächtigen, tritt mit „seinem“ Täter in Kommunikation, mit dem Ziel, dessen „Verhalten [...] in die eine oder andere Richtung zu lenken“, lockt ihn sprichwörtlich zur nächsten Tat – und wird des Täters gleichwohl nicht persönlich habhaft. Dennoch tötet der gesuchte Mädchenmörder keine Kinder mehr, er tötet niemanden mehr, denn er selbst ist tot. Ein Unfall hat sich ereignet, „der Mörder ist mit einem Lastwagen zusammengestoßen, bevor er den nächsten Mord verüben konnte.“ Nicht die absichtsvollen Handlungen und das professionelle Geschick des erzählten Protagonisten Matthäi lenken das Geschehen zu diesem Ausgang hin, schlichtweg spielt der Zufall sein Blatt aus. Das zufällige Scheitern der Kommunikation, ein DÜRRENMATTSCHES Leitmotiv, auch und v.a. in seinen dramatischen Arbeiten, in diesem Fall zwischen Ermittler und Täter, führt zum persönlichen Scheitern des Kommissars. „Das Rechtssystem ist zwar noch vorhanden, trägt aber nicht zur Vergeltung des Verbrechens bei.“ RUF (2006), S. 304. Es ist womöglich müßig, Vermutungen darüber anzustellen, was als der tatsächliche Auslöser für die Entlassung des Zöglings D. aus der Fürsorgeerziehung zu benennen ist – Fakt allerdings ist, dass die bisherigen Bemühungen seitens der Eltern um Entlassung ihres Sohnes aus der Heim-

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Ob die Beanstandung der Unterbringung im „falschen“ Heim womöglich zusammenhängt mit der nimmermüden Beschwerdeführung der Eltern, oder ob es sich um ein zufälliges Ereignis handelt, ist ebenso spekulativ wie die Frage, wie lange D. noch Zögling im Erziehungsheim „Lindenhof“ in Neinstedt geblieben wäre.

4.3 AKTENZÖGLING H. Wie die Textanalyse der Akten von A. und von D., orientiert auch die folgende Untersuchung sich in ihrer Durchführung am bisher angewandten Vorgehen, d.h., die Dokumente der Akte werden gelesen und untersucht auf ihr zöglingskonstituierendes Potential hin, desgleichen die Beziehungen der Texte zueinander. Wie und als was „gelangte“ der Zögling „in“ die Akte – und unter Anwendung welcher (sprachlichen) Mittel blieb er „darin“? (In der Fürsorgeerziehung wie in der Akte.) Wie wurde der Zögling als institutionell verwaltetes Objekt geschrieben und beschrieben, erzeugt und stabilisiert? Und: Wie lange hatte ein solcher Entwurf Bestand, wie weit trug die Kohärenz seines spezifischen, situativen Musters? Die 459 Blatt Papier, die den recht stattlichen Aktenkorpus bilden, umfassen einen Zeitraum von 10 Jahren; das „jüngste“ Dokument, die beglaubigte Abschrift des Überweisungsbeschlusses in Fürsorgeerziehung, stammt vom 16. Januar 1931, das chronologisch letzte Dokument datiert den 16. Mai 1941 und teilt die Entlassung des Zöglings H. aus der Fürsorgeerziehung mit. Zwischen diesen beiden Dokumenten spannt sich ein Kosmos auf aus berichteten Vorgängen und erzählten Ereignissen; von einer alleinerziehenden Mutter und verstorbenen Vätern und frühkindlichen Entwicklungen etwa, und von verschiedenen Erziehungsheimen und deren Personal, von pädagogischen Beobachtungen und ärztlichen Diagno-

unterbringung oder gar Beendigung der Fürsorgeerziehung allein nicht das schlussendliche Resultat, die unerwartete Biege im Unterbringungsverlauf zu zeitigen vermocht hatten; nicht bis zum unverhofften Ereignis von außen: „Gelegentlich einer Revision durch die Regierung wurde beanstandet, dass [D.] in einer Anstalt mit Hilfsschule untergebracht ist“ (10. Dezember 1935, Z.7-10).

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sen, von Erziehungszielen und Entlassungsanträgen, von Geschwistern und ihren Beziehungen, von Entscheidungen und ihren Begründungen, vom Erbgesundheitsgericht und vom landwirtschaftlichen Dienst. Diesen Erzählungen nachzugehen, sie auf „Tatsächlichkeiten“ abzuklopfen, ihrem möglichen Wahrheitsgehalt und ihren Bedeutungen nachzuspüren – während des Umgangs mit der Akte lauern diese Verlockungen unentwegt eine Handbreit unter der Untersuchungsoberfläche, und oftmals lässt sich ihnen nur schwer widerstehen, denn schließlich finden wir sie nicht irgendwo vor, sondern vor Ort, in der Akte von Zögling H., und schließlich haben sie alle zu tun mit ihm, und mit seiner Unterbringung und dem Raum dazwischen, und dennoch: Das Lesen der Erzählungen meint in unserem konkreten Fall die Analyse der Darstellung, die Untersuchung von textualer und sprachlicher Struktur, die Frage nach der Erzeugung des Zöglings. Wie hängen H. und „seine“ Unterbringung zusammen, in welcher Verbindung stehen beide zueinander; danach soll gefragt werden, daraufhin soll gelesen und analysiert werden. Gegenüber allen bisher untersuchten sowie den beiden beschriebenen Akten, weist der „Fall“ H. mindestens eine augenscheinliche Besonderheit auf: gleichzeitig mit H. werden auch seine drei Geschwister in Fürsorgeerziehung überwiesen. Dieser Umstand erklärt den Umfang des Unterbringungsbeschlusses, nicht aber sein Zustandekommen.

Unterbringungsbeschluss Wie bereits in den untersuchten Fällen zuvor, markiert der Unterbringungsbeschluss einen abstrakten, gleichwohl logischen wie chronologischen Anfangspunkt auf der Erzählachse der Unterbringung; entsprechend finden wir ihn in der Akte an vorderer Stelle.347

347 Vorausgesetzt, man liest die Akte chronologisch, als Unterbringungsgeschichte, als Darstellung einer Abfolge von (mehr oder minder zusammenhängenden) Vorkommnissen, die verordnete öffentliche Erziehung betreffend. Eine solche Lesart ist weder singulär, noch hält sie andere Lesarten berechtigtermaßen in ihrem Schatten – für unseren Zweck aller-

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Über 4 Seiten und 156 maschinegeschriebene Zeilen erstreckt sich der Beschluss, H., seine Schwester K. und die beiden Brüder G. und W. „unverzüglich aus der Umgebung [ihrer Mutter] zu entfernen“ (Z.149), vom Amtsgerichtsrat Dr. BÜTTNER am 16. Februar 1931 mit seiner Unterschrift für rechtskräftig erklärt, und von Justizsekretär FOERSTER in mehreren Ausfertigungen erstellt, „dem Herrn Landeshauptmann der Provinz Sachsen in Merseburg“ (Z. 156), also der zuständigen Fürsorgeerziehungsbehörde sowie dem städtischen Jugendamt Eisleben zur Übersendung. Aufbau Unterbringungsbeschluss Hinsichtlich seines formalen Aufbaus ist der Unterbringungsbeschluss der vier Geschwister K., H., G. und W. vom 16. Februar 1931 vergleichbar mit den bisher untersuchten Beschlussdokumenten vom 24. Oktober 1933 [Zögling D.] und 12. August 1937 [Zögling A.] (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2). In Anbetracht der Anzahl der simultan verhandelten „Fälle“, übersteigt der Umfang des vorliegenden Dokuments die bisher untersuchten Unterbringungsbeschlüsse jedoch merklich. Wie gehabt, gliedert sich das Dokument, der Form nach, in vier Abschnitte, deren erster und letzter Teil dem Dokument seine Einfassung geben, indem sie es benennen und eröffnen, sowie institutionell autorisieren und abschließen.

1. Titel a: ABSCHRIFT (Z.01) (samt Geschäftsnummer des Vorgangs: „Eisleben: XII. 3619/30.“ Z.02) 2. Titel b: BESCHLUSS (Z.04) (welcher im darauffolgenden Satz – über 21 Zeilen – zusammengefasst wird) (Z.05-25) 3. Titel c:

GRÜNDE (Z.26)

dings, dem Nachzeichnen der „Zöglingsentstehung“ im Verlauf der Fürsorgemaßnahme, spricht deutlich mehr für ihre Anwendung als dagegen.

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(welche auf insgesamt 122 Zeilen (Z.27-149) ausgeführt werden, „Beweisaufnahme“) Der letzte Satz (Z.146-149) „verkündet das Urteil“, und bestätigt es, indem er Bezug nimmt auf den Anlass und Eröffnungssatz des Dokuments: die (nunmehr) begründete Anordnung von Fürsorgeerziehung. 4. Titel d:

ORT, DATUM, UNTERSCHRIFT (Z.150-153) AUSFERTIGUNG (Ort, Datum, Unterschrift) (Z.154-156)

Die beiden mittleren Abschnitte enthalten den eigentlichen „Inhalt“, wenngleich dieser erst in der Rahmung, also „im Ganzen“, seine mehrdimensionale Wirkung zu entfalten vermag. Erst aus ihrer amtlichen Stellung in einem namentlichen Gerichtsbeschluss, gewinnt die Darstellung von fallrelevanten Umständen und Vorgängen ihr schlussendliches Handlungspotential:348 Konstituierungen vorzunehmen, Maßnahmen in Gang zu setzen – Legitimation inklusive. In Analogie zu den beschriebenen Untersuchungen der Unterbringungsbeschlüsse von A. und D., untersuchen wir das vorliegende Dokument zunächst auf die Strukturen der Vertextung des beschriebenen Geschehens hin; zu diesem Zweck sollen, wie bereits erprobt, die konzeptionell angelegten Geschehensebenen nachgezeichnet und beschrieben werden.349

348 Nach SEARLE lassen sich 5 Typen von Sprechaktmustern unterscheiden, denen dann exemplarische Verben zugeordnet werden. Vgl. Anm. 311 in Kapitel 4.1. 349 Wie bereits in den Untersuchungskapiteln zu A. und zu D. erläutert, erfolgt das „Einziehen“ der Geschehensebenen als methodisches Vehikel, um die textuale Darstellung des Geschehens innerhalb des chronologischen Organisationsschemas zu untersuchen. Woraufhin? Auf die dargestellten Zustandsänderungen, auf die jeweils in Stellung gebrachten Akteure, auf verortbare Opponenten hin. Das bei der Untersuchung der Unterbringungsakten von A. und von D. erprobte Vorgehen kommt auch bei der Analyse der Unterbringungsakte von H. zur Anwendung, ebenso wie der Verzicht auf die Illustration jedes einzelnen Arbeitsschrittes. Vgl. dazu Anm. 336 in Kapitel 4.2.

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Die Verkündung des Unterbringungsbeschlusses findet sich abgebildet auf der ersten Geschehensebene, angesiedelt vor Ort, den Zeitraum der Verhandlung abbildend; in zwei langen Sätzen, zu Beginn und am Ende des Dokuments, teilt das Amtsgericht Eisleben das Verfahrensergebnis mit, und stellt dieses schriftsprachlich dar. Die Kinder K., W., H. und G. „werden nach §63 Abs. 1 Ziff. des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt der Fürsorgeerziehung überwiesen.“ (Z.22-23), informiert der erste Satz des Dokuments, gibt damit die Leseweise der nachstehenden Begründung dieses Beschlusses vor, und erklärt die aufgeführten Personen von nun an zu Zöglingen. Der Vollzug der verschiedenen (Sprach-)Handlungen erfolgt umgehend, als Bezugsmoment stehen sie den sich ableitenden, anknüpfenden impliziten wie expliziten Aktionen von nun an zur Verfügung. In Entsprechung zu seinem Pendant, dem vorletzten Satz des Dokuments, steckt der Eröffnungssatz das semantische Feld ab, auf welchem in Form von Gründen (für die Unterbringung in Fürsorgeerziehung) 122 Zeilen lang Früchte sprießen, ihn einzulösen, als „richtig“ anzuerkennen. Nur in diesem Fall erhielte auch der Schlusssatz berechtigterweise seine Legitimität, wenn er nach ausführlicher Darlegung der Beschlussgründe über vier Seiten zu dem Fazit kommt: „Deshalb ist gemäß nach §63 Abs. 1 Ziff. 1 des Jugendwohlfahrtsgesetzes die Anordnung der Fürsorgeerziehung geboten.“ (Z.145-146). Auch dieser Satz vollzieht sprachliche Handlungen, erfüllt repräsentative, direktive und deklarative Funktionen gleichermaßen. Er holt ihn gleichsam ein, den ersten Satz; er informiert über dessen Wahrheitsgehalt, löst dessen Behauptung ein, indem er nach Sichtung und Bewertung der aufgeführten Gründe das gleiche Ergebnis zeitigt (deklariert ihn als richtig und somit wahr), und fordert unverzüglich zum Handeln auf; dieses sei deswegen dringend geboten, „um die Kinder unverzüglich aus ihrer Umgebung zu entfernen“ (Z.148149), wie er erläuternd nachschiebt; es wird der Eindruck nicht vermieden, der Abschluss des Dokuments stamme von einem anderen Autor als der Eröffnungssatz, als handele es sich bei den beiden letzten Sätzen um die Wiedergabe einer externen Expertenmeinung. Das Ergebnis selbst wirkt umso einheitlicher. Nun, da es uns in der ersten Geschehensebene präsentiert wird, gilt es zu klären, wie es auf den weiteren Ebenen zustande kam, woher es seine Argumente bezieht. Um die lange, auf Stabilität zusammengeschmiedete Beweiskette an dieser Stelle illustrativ zusammenzuraffen:

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über 149 Zeilen steht dasselbe Argumentationsschubfach offen, etikettiert mit dem Schildchen ‚Schlechte Mutter mit unsittlichem Lebenswandel‘. Begründung der Unterbringung Nicht die nun in Fürsorgeerziehung überwiesenen Kinder sind es, die sich fehlverhalten – die Kindsmutter selbst begründet mit der „gröblichen Vernachlässigung ihrer Erziehungspflichten [...] den Vorwurf unsittlichen Lebenswandels“ (Z.130-132), den der Unterbringungsbeschluss als schlagkräftigstes Argument direkt gegen die Alleinerziehende vorträgt. Sie, als Verantwortliche für das sittliche und körperlich gesunde Aufwachsen ihrer Kinder, trägt die Schuld für dessen Misslingen, gipfelnd in „der drohenden Verwahrlosung“ (Z.140) ihrer Söhne und ihrer Tochter. Dieser Tenor liegt als Bodensatz unter allen Geschehensebenen, die fortwährend ineinander überkippen, miteinander stets verbunden durch das Oppositionspaar: Entsprechung des zeitgenössischen Mutterbild vs. Tatsächliches Verhalten der Witwe C. So führt bereits die Verkündung des Unterbringungsbeschlusses im Hier und Jetzt auf der ersten Geschehensebene, den Umstand unehelicher Zeugung und Geburt der beiden jüngeren Kinder nach dem Tod ihres Ehemanns, unmissverständlich ins Feld. An dritter Stelle in der Aufzählung der vier, „der Fürsorgeerziehung überwiesenen“ (Z.23) Geschwister, nennt der Beschluss den „am 12. Februar in Eisleben geborene[n] [H.]“ (Z.8-9), teilt in seiner Weiterführung mit, dass H. und sein jüngerer Bruder G. „unehelich“ (Z.14) zur Welt gekommen und – demzufolge – „bevormundet [sind] bei dem Amtsgericht in Eisleben durch das Jugendamt der Stadt Eisleben“ (Z.16-17).350

350 Die Übertragung der elterlichen Gewalt auf einen gesetzlichen Vertreter, einen Vormund, wurde über das bereits 1922 verabschiedete, im Jahr 1924 in Kraft getretene RJWG einheitlich geregelt. Danach war eine Vormundschaft erforderlich „bei ehelichen Kindern, wenn beide Eltern tot sind oder wenn die verwitwete Mutter sich wieder verheiratet, und bei allen unehelichen Kindern. [...] Das uneheliche Kind hat zwar im Verhältnis zu seiner Mutter und ihren Verwandten die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes [...], aber es steht trotzdem nicht unter der elterlichen Gewalt der

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Diese Ausführungen gestalten den Übergang zur nächsten Geschehensebene, die Herkunft der Kinder behandelnd, fließend, wie auch im weiteren Text die Abgrenzung der einzelnen Geschehensebenen voneinander stellenweise nur sehr schwer möglich ist. Die klassische Opponentenpaarung erweiternd, kommt nämlich im aktuellen Fall eine dritte Fraktion ins Spiel: innerhalb der Konstellation Amtsgericht vs. Mutter, konstatiert eine der beiden Parteien, das Amtsgericht, die Existenz einer weiteren Opponentenpaarung: Mutter vs. Kinder. Darauf aufbauend, erfolgt die Beweisführung zur Ungeeignetheit des mütterlichen Haushalts als Ort verantwortbaren Aufwachsens ihrer Kinder.351 Auf 9 Zeilen klärt das amtsrichterliche Dokument über die genealogischen Beziehungen der Geschwister auf, denen zufolge die beiden älteren Kinder, K. und W. „aus der Ehe der Frau [C.] [...] stammen, welche seit 1920 verwitwet ist. Nach dem Tod ihres Mannes gebar sie unehelich noch [H.] und [G.].“ (Z.27-29)

Mutter. Es bedarf daher stets eines Vormunds, §1773 BGB. Die Mutter behält aber das Recht und die Pflicht der tatsächlichen Personenfürsorge, während die Vertretung des Kindes in persönlichen Angelegenheiten nicht der Mutter, sondern dem Vormund zusteht [...]. Der Vormund hat ferner die gesamte Vermögensfürsorge und nimmt, soweit es sich um die tatsächliche Personenfürsorge handelt, die Stellung eines Beistandes ein, d.h. er hat die Mutter zu unterstützen und zu überwachen und dem Vormundschaftsgericht jeden Fall, in dem es zum Einschreiten berufen ist, anzuzeigen, §1689 BGB.“ Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 92-93. 351 Das Vorhandensein dieser Opponentenkonstellation (Mutter vs. Kinder) hat u.a. zur Folge, dass die chronologische Abfolge von Zustandsänderungen (als primärem Organisationsmodus von Geschehen) auf der einen Geschehensebene permanent durchbrochen wird von Verweisen auf die andere Geschehensebene; ein andauerndes switchen zwischen Orten, Personen und Zeiten, zu Zwecken der Beweisführung. Diejenige Geschehensebene, auf welcher ein Bild von der Kindsmutter dargestellt wird, und die sich von 1928 bis 1931, bis an die Verhandlung heran erstreckt, tangiert unentwegt die Ebene, auf welcher die Darstellung der Entwicklung und des Zustands der Kinder praktiziert wird (1930 bis 1931, ebenfalls bis an die Verhandlung heran), und die zeitlich in der „Mutter-Ebene“ verortet ist.

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Vorerst lebte „der Erzeuger dieser beiden Kinder [...] im Haushalte der [C.] und sorgte mit für die Kinder“, doch seit er „1925 an Lungentuberkulose gestorben [...] ist, muss Frau [C.] allein für den Unterhalt und die Erziehung der Kinder sorgen.“ (Z.30-34) Womit die Darstellung in die Gegenwart mündet, und die Wirtschafts- und Wohnsituation der Familie vorstellt. „[Witwe C.] verdient angeblich 12-18 RM wöchentlich durch Arbeit und erhält eine Rente von 31,50 RM“ (Z.34-35). Trotz des grundsätzlich niedrigen Niveaus, liegt dieses Einkommen über dem statistischen Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland, welches zwischen 1930 und 1936 weniger als 1.000 Reichsmark betrug.352 Dennoch wird im nächsten Satz des Beschlussdokuments auf die Beklagenswürdigkeit der Verdienstsituation hingewiesen („Ebenso traurig wie diese allgemeinen Familien- und Wirtschaftverhältnisse sind die Wohnverhältnisse.“, Z.36-37) – und an der Wohnsituation beispielhaft illustriert: „Die Familie wohnt in einem nur 1 ½ Meter hohen, dunklen Raum, dessen Fenster in die Waschküche geht. Für die 4 Kinder und die Mutter sind nur 2 Betten da.“ (Z.37-39) Die Darstellung der Verhältnisse bis zu diesem Punkt (bis zur Z.39) legt bereits die Implikation nahe, Interessen und Belange der Kinder würden durch die Mutter nur unzureichend gewahrt. Obgleich sie infolge der eigenen Erwerbsarbeit ihren Kindern schon die nötige Erziehungszeit vorenthält, vermag sie ihnen dennoch keine ausreichende Heimstatt zu bieten. Von den „traurigen Familien- und Wirtschaftsverhältnissen“ (Z.36) geht der Text ohne weiteren Kommentar zur Beschreibung der Kinder über, um jeweils auf deren ungenügende Förderung infolge der häuslichen Umstände zu rekurrieren. Während die beiden älteren Geschwister K. und W. als „normal entwickelt“ und „gut begabt“ (Z.40 u. 5253) beschrieben werden, „ist [H.] dagegen von schwächlichem Körperbau“ (Z.58), weist aber ein ähnliches Schulbesuchsverhalten auf wie die beiden Älteren: „Auch er besucht die Schule unregelmäßig“ (Z.59). Im Folgenden listet die Darstellung ausführlich H.’s Fehltage aus dem „ersten Halbjahr 1930“ (Z.59-60) auf und führt die „Entschuldigungsgründe“ aus, betont dabei dezidiert den fragwürdigen Wahrheitsgehalt derselben, und verweist auf diesbezüglich bereits von

352 PETZINA/ABELSHAUSER/FAUST (1978), S. 102.

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Schulseite vorgebrachte Zweifel. „Die für das Fehlen von der Mutter vorgebrachten Entschuldigungen werden von seiten der Schule nicht für wahrheitsgemäß gehalten“ (Z.49-51), beispielsweise wurde H. „auch an diesen Tagen auf der Straße gesehen“ (Z.63). Außerdem fehle seinen „Schularbeiten [...] die Aufsicht“, seine „Leistungen [...] sind ungenügend, obwohl sie nach Ansicht der Schule bei Aufsicht besser sein könnten“ (Z.65-67). Beim Jüngsten der Geschwister, dem 5-jähigen G., kommt die Darstellung mit einem einzigen Satz aus: „Auch [G.] ist ein schwächliches Kind, das wegen seines Alters besonderer Aufsicht bedarf.“ (Z.68-69). Nun sind die Klagen seitens der Schule über Fehltage und wenig sorgfältig oder gar nicht angefertigte Hausaufgaben ein möglicherweise beklagenswerter Zustand, beileibe aber noch kein Indiz für eine drohende oder eingetretene Verwahrlosung bei allen vier Geschwistern, die nur durch eine Unterbringung in Fürsorgeerziehung abgewendet werden kann. Der tatsächliche Unterbringungsgrund also muss anders lauten, muss anderer Natur sein als nur gelegentliche Schulbummelei; die allgemeine Vernachlässigung der gesetzlichen Aufsichtspflicht durch die Mutter läge auf der Hand, schließlich befinde sie sich, wie sie selbst zugegeben habe, „den ganzen Tag auf Arbeit“, und müsse dabei auch „noch für die Kinder sorgen“ (Z.98-99). Doch selbst mit einer derartigen, von Frau C. selbst eingestandenen Mehrfachbelastung, lässt sich die Anordnung von Fürsorgeerziehung allein nicht begründen. Schließlich liegen weder Amtsgericht noch Jugendamt Hinweise der Schule, vom Hausverwalter, oder sonstigen anzeigeberechtigten Personen und Einrichtungen auf straffällige oder missbräuchliche Verhaltensweisen der vier Kinder vor. Im vorliegenden Fall, der Unterbringung ihrer vier Kinder in Fürsorgeerziehung, werden das Verhalten der Mutter und ihr Körper zur Projektionsfläche für die dringend nachzuweisende Kindswohlgefährdung. Obgleich sie das eigentliche Objekt des Unterbringungsverfahrens darstellen, und schlussendlich als Zöglinge von dessen Gelingen künden, baut die Begründung der Überweisung in Fürsorgeerziehung nicht auf dem Fehlverhalten der Kinder auf, sondern gewinnt erst Sinnhaftigkeit über die Diskreditierung der Mutter.

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Gegen ihr Verhalten richten sich die Vorwürfe, ihren Lebenswandel haben die Angriffe zum Ziel. Wie nur kann eine deutsche Mutter und zweifache Witwe, alleinstehend mit vier minderjährigen Kindern (von zwei verschiedenen Vätern) sich das Recht herausnehmen, ihre Mutterpflichten wiederholt zu verletzen; nicht nur, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen, sondern mehr noch, um sich privaten Vergnügungen mit Männern hinzugeben? Die Angriffe auf dem Sittlichkeits- und Geschlechterfeld nehmen einen vergleichsweise breiten Raum im Unterbringungsbeschluss ein, semantisch wie formal. Im „Begründungsteil“ des Beschlusstextes dienen 36 von 113 Zeilen allein der Aufgabe, ein schillerndes, gleichwohl eindeutiges Bild von der Kindsmutter aufzuspannen. Dieses zeigt sie als verantwortungslose, vergnügungssüchtige und sittenwidrige Person, „ohne nötiges Verantwortungsbewußtsein“ (Z.84) ihrer Aufgabe gegenüber: ihren Kindern, sowie ohne jede Einsicht in die Unrichtigkeit ihres Verhaltens („Nach ihrer Ansicht haben die Kinder genügend Aufsicht [...]. Sie erfülle ihre Aufsichtspflichten und führe keinen unmoralischen Lebenswandel.“, Z.90-92). Zur Bekräftigung seiner Vorwürfe schickt der Unterbringungsbeschluss daraufhin, in dieser Angelegenheit eindeutig konnotierte, Schlagworte und Topoi ins Feld, die gleichsam von selbst sprechen (sollen). Dort fechten dann „Anstoß erregt“ (Z.106) und „Männerbesuch“ (Z.108), „Lebensführung“ (Z.103), „Frauenasyl“ (Z.106) und „Vergehen gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ (Z.125-126) gegen eine hoffnungslos unterlegene „Moral“ (Z.104). Damit all diese Anschuldigungen, im Vollzug detailreich und ausführlich vorgetragen, weitaus mehr sind als nur bloße Behauptungen, wird ihnen noch ein Fundament gegossen: nicht weniger als „glaubwürdig von Augenzeugen angegeben“ (Z.112), also verbürgt, sind die vorgebrachten Beanstandungen, demnach vom Amtsgericht als Fakten verwendbar. Und die derart überführte Mutter? Zeigt sie nunmehr Einsicht und bittet um Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Aufgabe? Weit gefehlt, sie beharrt auf ihrer Sicht der Dinge, und „widerspricht deshalb der Fürsorgeerziehung namentlich hinsichtlich der beiden ehelichen Kinder“ (Z.92-94). Wie soll man da noch helfen? Angesichts also der bezeugten Sachlage, sowie der Uneinsichtigkeit der Kindsmutter hinsichtlich ihres beklagten Tuns bzw. Unterlassens,

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bleibt dem verantwortlichen Gremium als einzige Möglichkeit, der drohenden Weitergabe mütterlicher Verdorbenheit an die Kinder durch Kappung der Übertragungswege zuvorzukommen. Zwar ließe sich an den Kindern noch nichts Eindeutiges feststellen, um jedoch sicherzugehen angesichts der „großen Gefahr für ihre moralische und körperliche Gesundheit“ (Z.133), und da sich die Mutter renitent zeige, sei es „notwendig, die Kinder von der Mutter zu trennen“ (Z.140-141). Auf eine solche Weise erzählt – als Bericht vom Gefecht zur Rettung der Kinder vor dem schädlichen Einfluss der Mutter, als Plan vom richtigen Verhalten der Mutter, als Plan von der geordneten Erziehung der Kinder, als Plan von der Erziehung der Mutter per Wegnahme der Kinder – kann die Unterbringung der Kinder außerhalb des direkten Einflussbereichs der Mutter die einzig richtige Lösung sein, kann der Beschlusssatz somit nichts anderes sein als richtig. Auch deshalb hat die Erzählung Erfolg insofern, als dass die Ebene der Darstellung des (Fehl-)Verhaltens der Mutter, und dessen befürchtete Auswirkungen auf ihre Kinder, nahtlos mündet in die anscheinend natürliche Konsequenz; sichtbar und wirksam in der bekräftigenden Wiederaufnahe des Unterbringungsbeschluss-Satzes vom Beginn des Dokuments („Deshalb ist gemäß §63 Abs.1 Ziff.1 des Jugendwohlfahrtgesetzes die Anordnung der Fürsorgeerziehung geboten.“, Z.145146), und diesen gar noch überschreitet. Galt es im Text bisher, die Unterbringung der vier Geschwister in Fürsorgeerziehung grundsätzlich mit Gründen zu unterlegen, gilt es nun, da der prekäre Sachverhalt ausführlich in all seiner Brisanz ausgebreitet ist, keine weitere Minute mehr zu verlieren. Ob der erwartbare Widerspruch der Mutter gegen den amtsrichterlichen Beschluss bei diesem Schritt eine Rolle gespielt haben mag, sei dahingestellt, zumindest bleibt fraglich, woher ad hoc auf Gefahr im Verzuge gefolgert werden konnte, mangelte es bislang doch bereits an Belegen für die drohende Verwahrlosung überhaupt. Nichtsdestotrotz, der Beschluss treibt zur Eile, sowie jeden möglichen Einwand vor sich her, und empfiehlt abschließend:

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„Da Gefahr im Verzuge ist, müßte die vorläufige Fürsorgeerziehung gemäß §67 des Jugendwohlfahrtsgesetzes angeordnet werden, um die Kinder unverzüglich aus ihrer Umgebung zu entfernen.“ (Z.146-149)353

So endet der Text des Beschlussdokuments vom 16. Januar 1931 zur Unterbringung der vier Kinder der Witwe C. in Fürsorgeerziehung – und es beginnt ein neues Kapitel in der Biographie der Familie; für die Geschwister, den 7-jährigen H. wie seinen jüngeren Bruder G., zum Zeitpunkt der Überweisung in Fürsorgeerziehung 5 Jahre alt, ihre 11jährige Schwester K. wie den 10-jährigen W., setzt ein Lebensabschnitt als Zögling ein, für ihre Mutter geht ein anderer Abschnitt zuende.

Landesaufnahmeheim Osterburg Dem Beschluss des Eislebener Amtsgerichts wird umgehend entsprochen, die Geschwister aus ihrem Zuhause entfernt, am 24. Januar in Eisleben ärztlich untersucht und am 7. Februar 1931 im 170 km entfernten Landesaufnahmeheim Osterburg (i.d. Altmark) untergebracht. Wie die Abschrift eines Merkblatts für die vorläufige Unterbringung der Kinder bestätigt, liegen die Unterbringungsgründe in den, von Jugendamt und Amtsgericht ausführlich beklagten Verhaltensweisen der Mutter. Entsprechend finden sich auf dem Unterbringungsmerkblatt für den Heimaufenthalt Formulierungen aus dem Unterbringungsbeschluss wieder: („Eltern: Vater ist der Handelsmann [...], der 1926 gestorben ist. Mutter ist Frau verw. [C.]. Die Mutter führt einen

353 Die Bezeichnung vorläufige Unterbringung soll nicht darüber hinweg täuschen, dass „die vorläufige Fürsorgeerziehung eine vorweggenommene endgültige bedeutet.“ (§67 Ziff. 2b) Der Gesetzgeber erlaubt eine solche Maßnahme unter der Voraussetzung, dass „die schleunige Maßnahme [...] aus der Dringlichkeit der sofortigen Entfernung des Minderjährigen aus seiner bisherigen Umgebung folgen [...] muß.“(§67 Ziff. 2a) So muss beispielsweise zum „Aufschub der Unterbringung des Minderjährigen zur endgültigen Fürsorgeerziehung bis zum Verfahrensabschluß [ein] Beginn oder Fortschreiten der Verwahrlosung“ zu befürchten sein. (§76 Ziff. 2 a), Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 251ff.

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unsittlichen Lebenswandel, die Kinder drohen bei ihr zu verwahrlosen.“) Darüber hinaus werden körperliche Konstitution und Schulbummelei derselben Kategorie zugeordnet, zumindest führt das Dokument, H. betreffend, aus: „[H.]: ist von schwächlichem Körperbau, auch die Schule besucht er unregelmäßig“, um sich im Weiteren den Ausführungen des Amtsgerichts anzuschließen („Den Schularbeiten fehlt die Aufsicht, die Leistungen des Kindes sind ungenügend, obwohl sie nach Ansicht der Schule besser sein könnten“). Auf demselben Dokument finden sich die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung vom 24. Januar; zwar sei H. „frei [...] von ansteckenden Krankheiten und Ungeziefer“, leide jedoch an „Skrophulose und Ohreneccem“354, wie der untersuchende Mediziner, Stadtarzt Dr. DRESCHER attestiert. Als am 7. Februar H. und seine drei Geschwister im altmärkischen Erziehungsheim eintreffen, sind „ihre Unterlagen“ noch nicht vor Ort; sie werden vom Eislebener Jugendamt noch zusammengestellt, und gehen erst 14 Tage später im Landesaufnahmeheim ein.355

354 Skrophulose (oder Skrofulose): früher gebräuchliche Bezeichnung für einen Symptomenkomplex bei tuberkulösen Kindern, gekennzeichnet durch Augentzündung, chronischen Schnupfen und Lymphknotenschwellung. Ohreneccem: Ohrenekzem 355 In den Osterburger Ortschroniken, herausgegeben vom Heimatverein Osterburg e.V., finden sich über das Landesaufnahmeheim u.a. folgende Angaben: Im 1890 im neogotischen Stil errichteten „Anstaltsgebäude mit Hof- und Parkanlage“ in der Sedanstraße, war seit 1923 das „Provinziallandesaufnahmeheim der Provinz Sachsen“ untergebracht. Das Erziehungsheim „mit kirchlicher Begleitung“ leitete ab 1. Mai 1923 „der Theologe Joachim Allihn“, „als Anstaltspersonal standen ihm Diakonissen aus dem Mutterhaus Halle/Saale unter der Leitung der Oberschwester Emma Schumacher zur Seite. [...] Der Lehrkörper bestand aus den Herren Thiele [sic!], Arndt und Lust. Eingewiesen wurden in das Landesaufnahmeheim durch Dienststellen der Fürsorge Kinder und Jugendliche im Alter von zwei bis 18 Jahren [...]. Weitervermittelt wurden sie später nach einer Anstaltszeit hauptsächlich an Bauern und Handwerker in Pflegestellen. Die Belegung des Aufnahmeheims schwankte während des Bestehens zwischen 50 und 60 Kindern und Jugendlichen. Im Hauptgebäude der dama-

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Bis auf das Merkblatt für die vorläufige Unterbringung liegen der Osterburger Heimleitung vorerst keine weiteren Informationen zu den vier, als Zöglingen aufgenommenen Kindern vor. Am 8. Februar wird H., einem Vermerk der Akte nach, unterzeichnet vom Direktor, „heute über das Beschwerderecht belehrt“, am nächsten Tag teilt die Heimleitung der Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg in einem Schreiben die Aufnahme der vier Geschwister im Landesaufnahmeheim Osterburg mit. Drei Tage später, am 12. Februar, feiert H. seinen achten Geburtstag, sein Bruder G. wird am gleichen Tag 6 Jahre alt. Zwei Wochen nach ihrer Aufnahme trifft am 21. Februar oder 22. Februar eine Sendung des Jugendamts Eisleben mit Unterlagen zu den vier Geschwistern in Osterburg ein, „Geschäftszeichen Wf.J., [...] gez. Dr. WALTSGOTT“: „1. die Akten des Amtsgerichts Eisleben 3619/36 u. 3621/30 mit Rechtskraftbescheinigung des FE Beschlusses 2. 4 Gegurtsurkunden [sic!] 3. 4 Impfscheine 4. 4 Personalbogen 5. Fragebogen zwecks Einziehung der Kosten der PE. [sic!]“

Zusätzlich zu den Informationen der übersandten Akten hält es das Jugendamt Eisleben für angebracht, der Heimleitung in Osterburg noch einige gesammelte Erfahrungen im Umgang mit den vier Kindern aus Eisleben mit auf den Weg zu geben.

ligen Sedanstraße befanden sich neben den Schulräumen auch große Schlafräume sowie ein Kranken- und Schwesternzimmer, Büroräume und die Aula. [...] In einer Schneiderstube im Hauptgebäude wurde die Anstaltskleidung (Matrosenanzüge für die Jungen und Faltenröcke mit Blusen für die Mädchen) genäht. [...] Pastor Allihn war 28 Jahre Leiter des Landesaufnahmeheimes [...]; er wurde [dort] als sehr gerechter, umsichtiger und geachteter Leiter von den Mitarbeitern und den Anstaltskindern geschätzt. Die Diakonissen waren strenge Erzieher und versuchten gemeinsam mit den Lehrkräften aus den Anstaltskindern brauchbare Mitglieder der Gesellschaft zu machen.“ Soweit die Darstellung von ULRICH MERTENS aus dem Jahr 2008 zu Heim und Personal, Bewohnern und Verhältnissen. MERTENS (2008), S. 173-179.

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„Über die Kinder selbst geben wir noch folgendes an: [Die 11-jährige K.] macht zunächst einen verschlagenen, etwas rohen Eindruck. Dies verliert sich, wenn man sie im Umgang mit den jüngeren Geschwistern beobachtet, die sehr an ihr hängen. Sie hat dann eine mütterliche, umsichtige Art. Im ganzen erscheint sie für ihr Alter etwas frühreif. [Der 10-jährige W.] ist ein gut begabter, verschlossen wirkender Junge. In seinem Wesen ist etwas Herbes und Unzugängliches. [H.] und [G.] sind, wenn sie mit ihren Geschwistern zusammen sind, zutraulich und freundlich. Sie wirken ein wenig unbeholfen aber ganz kindlich und leicht lenkbar.“

Neben der Betonung der geschwisterlichen Beziehung, und deren Bedeutung für die einzelnen Kinder, weist das Schreiben auf die fehlenden Taufnachweise aller vier Kinder hin; um diese Unzulänglichkeit handhaben zu können, habe man die Einwilligung der Mutter eingeholt, „dass alle Kinder im evangelischen Glauben erzogen werden.“ Über den Verlauf der Erziehung im Heim schweigt sich H.’s Akte für die folgenden 8 Monate aus; es finden sich keine Angaben zu seiner Entwicklung, noch darüber, ob seine Mutter nach dem Beschluss des Amtsgerichts Eisleben in Widerspruch gegen die Unterbringung ihrer Kinder getreten ist, ob es zu Besuchen oder Briefkontakt mit ihren Kindern kam. Im Landesaufnahmeheim Osterburg fallen derweil die Kalenderblätter von der Wand: Februar, März, April, Mai, Juni, Juli, August, September, Oktober. Auf den 20. Oktober 1931 datiert die Osterburger Heimleitung den Beobachtungsbogen für den Zögling H., welcher anhand der Eindrücke der letzten Monate ein Bild, sowie das weitere Vorgehen bezüglich seiner Erziehung entwirft. Beobachtungsbogen Demnach befinden sich H. und seine Geschwister deshalb in Fürsorgeerziehung, weil „die Mutter die Kinder verwahrlosen ließ“356. Hin-

356 Der Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts Eisleben vom Januar des Jahres, aus welchem die Informationen zur Herkunft der untergebrachten Kinder nur stammen können, spricht noch von „drohender Verwahrlosung“.

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sichtlich seines geistigen Zustandes könne der Beobachtungsbogen H. kein besseres Zeugnis ausstellen, als dass seine Denkfähigkeit „reduziert“, Merkfähigkeit und Gedächtnis „schwach“, sowie Urteils- und Kombinationsfähigkeit nur „sehr schwach“ ausgeprägt seien. Hinzu kämen sein „haltlos[es], roh[es]“ Gefühls- und Willenleben, weshalb das allgemeine Urteil über H.’s geistigen Zustand nur lauten könne: „Leidet an angeborenem Schwachsinn leichten Grades und steht in seiner gesamten geistigen Entwicklung auf der Stufe eines 6jährigen Kindes.“ Dieses Urteil wiederum führt zu folgendem Vorschlag hinsichtlich des weiteren Vorgehens: „Erziehungsvorschlag: Ist für Familienpflege nicht geeignet. Da er der Aufnahme in eine Hilfsschule bedarf, wird vorgeschlagen, [H.] dem Kinderheim in Horburg zu überweisen.“ Der gleichermaßen diagnostische wie prognostische Bericht trägt die Unterschriften von Einrichtungsdirektor ALLIHN, Medizinalrat und Anstaltsarzt Dr. SAGE, sowie Lehrer THIEDE. Lag der ursächliche Grund für die Unterbringung von H. in einer Fürorgeerziehungs-Einrichtung gewissermaßen noch außerhalb des Jungen (Verwahrlosung des Kindes durch Fehlverhalten seiner Mutter), finden sich vom Zeitpunkt seines Aufenthalts im Erziehungsheim ausreichende Gründe für den weiteren Verbleib in Fürsorgeerziehung, die dem Zögling, seinen „Anlagen“ und seinem Verhalten selbst zuzuschreiben sind. Die Möglichkeit also, den „Unterbringungskreis“ überhaupt wieder verlassen zu können, hängt vom Augenblick des Hineingeratens an kaum noch vom dereinst primären Unterbringungsgrund ab; maßgeblich für die Frage des weiteren Verbleibs von H. in einem Heim wird zunehmend seine Beurteilung.357 Am 10. November geht im altmärkischen Heim ein Schreiben der Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen ein, welches deren Sicht auf den aktuellen Stand der Dinge schildert. In seiner Schilderung „betreffs der Angelegenheit [H.]“ teilt Landesverwaltungsrat

357 Das durch den Unterbringungsbeschluss beschlossene bisherige Kapitel (Vom Kind zum Zögling) verliert zwar weder seine Funktion noch seine Wahrheit, braucht aber notwendigerweise nicht fortwährend zitiert zu werden, solange die Fortführung der Erzählung im nächsten Kapitel (Der Zögling im Heim) regelgerecht und widerstandsfrei praktiziert werden kann.

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HESSE mit, dass er die Versetzung „des Knaben in ein Hilfsschulheim [für] dringend erforderlich“ erachte. Er habe sich diesbezüglich „am 6.d.Mts.“ vor Ort mit dem Heimdirektor persönlich ausgetauscht, sich „den Knaben angesehen“ sowie „das Für und Wider ausser mit dem Direktor auch mit dem Lehrer Thiede besprochen.“ Der dabei entstandene Eindruck lasse nach Ansicht HESSES keinen anderen Schluss zu, als „trotz der bekannten Bedenken gegen die Trennung von Geschwistern“ eben diesen Schritt zu veranlassen. Zwar sei H. ein „freundliches, aber stupides Kind, das trotz seiner 8 ½ Jahre nicht einmal seinen Namen, überhaupt kaum mehr als einige Buchstaben der Antiquaschrift (DU, DO) schreiben kann.“ Da „die Unterbringung aller 4 Kinder in demselben Ort und in grösserer Nähe sich nach Angabe des Direktors wohl bestimmt nicht ermöglichen lassen“ würde, müsse man (meint in diesem Fall: H.) die mit einer Aufteilung verbundenen Folgen in Kauf nehmen, zumal „beide Herren, der Direktor und der Lehrer, [...] ausserdem erklärten, dass der armselige Knabe die Trennung von seinen Geschwistern kaum empfinden und bestimmt bald vergessen würde“, ganz so, als hätten messbare Intelligenz und Intensität von Gefühlserleben unmittelbar miteinander zu tun. Fachlich und gewissenstechnisch derart abgesichert, kommt Landesverwaltungsrat HESSE entsprechend zu folgendem Schluss: „Es ist auch mein Eindruck, dass das Kind so stark minderwertig ist, dass es in eine Hilfsschule kommen muss. Vorschlag: Horburg.“358

358 Es wurde in diesem Buch wiederholt darauf hingewiesen, dass die Verwendung von Begriffen, die bei der Beschreibung von Menschen auf eine Wertigkeit/Werthaftigkeit abzielen, zum einen eingebettet war in den sozialhygienisch-sozialpolitischen Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und zum anderen spätestens in den 1930er Jahren auch die Anwendung „sozialhygienischer Maßnahmen“ implizierten. Das Prädikat minderwertig prädestinierte seinen Träger beispielsweise mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine Anzeige beim Erbgesundheitsgericht, welches, gemäß dem Reichsgesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, über das ,Erfordernis‘ seiner Sterilisation zu entscheiden hatte. Von daher überrascht es auch nicht, dass in H.’s 14. Lebensjahr seine Unfruchtbarmachung beantragt wird, in ihrer Notwendigkeit begründet vom Neinstedter Anstaltsarzt, Medizinalrat Dr. NOBBE, bearbeitet am 16. Oktober 1937 vom Erbgesundheitsgericht in Halberstadt. Die Beschreibung

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Dem Eindruck des Landesverwaltungsrats sowie der als notwendig erachteten Maßnahme wird von keiner der beteiligten Institutionen widersprochen; das Jugendamt Eisleben leitet umgehend die erforderlichen Schritte ein, und überweist, „nach der Verfügung des Herrn Landeshauptmann vom 14. November 1931“, H. an das Kinderheim „Samariterherberge“ in Horburg. Im entsprechenden Überweisungsschreiben zitiert Jugendamtsmitarbeiter Dr. ZISSELER den Direktor des Landesaufnahmeheims Osterburg, Pfarrer ALLIHN, wobei die mangelnden schulischen Leistungen des Zöglings für die Entfernung aus dem eigenen Heim weitaus weniger ins Gewicht fallen als vielmehr „die [im Heim] zu Tage getreten[en] nicht unerheblichen Charakterfehler“. Diese deckten das gesamte Spektrum ab und reichten von „Verschlossenheit, Haltlosigkeit und Unselbständigkeit im Handeln, eine[r] gewisse[n] Gefühlsstumpfheit, die sich in Rohheit gegen seine Kameraden auswirkt“ bis hin zu einer „nicht unerhebliche[n] Neigung zur Unehrlichkeit. Hiernach erscheint es [dem Heimdirektor] zweckmäßig, [H.] einem Erziehungsheim zu überweisen, wo er inmitten einer größeren Gemeinschaft Gelegenheit finden kann, diese Fehler abzuschleifen.“ Von einer dringenden Hilfsschulbedürftigkeit des Jungen oder gar den emotionalen Folgen einer Geschwistertrennung, auf die Landesverwaltungsrat HESSE zumindest hingewiesen hatte, ist in der Darstellung ALLIHNS keine Rede (mehr), woraus sich womöglich auf eine andere Motivlage schließen ließe, für die es aber keine (weiteren) Belege gibt. Zurück zum Unterbringungsverlauf. Nach seiner polizeilichen Abmeldung am 12. Dezember 1931 in Osterburg („nach vorübergehendem Aufenthalt verzieht [H.] nach Horburg b. Schkeuditz“), trifft H. drei Tage später, am 15. Dezember, im Kinderheim „Samariterherberge“ in Horburg ein.359

H.’s als minderwertig taucht im Unterbringungsverlauf erstmals in der Verwendung durch Landesverwaltungsrat HESSE auf; der Osterburger Anstaltsarzt SAGE als auch Direktor ALLIHN sprechen bei H. von angeborenem Schwachsinn leichten Grades. 359 Wie die Erziehungsheime in Neinstedt, wird auch das Horburger Kinderheim von der Inneren Mission betrieben, einem der konfessionellen Träger der freien Wohlfahrtspflege.

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„Samariterherberge“ Horburg Der Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg wird von Horburg am nächsten Tag in einem kurzen Schreiben Mitteilung von der Aufnahme gemacht, weiterhin „sind die Personalvorgänge wieder beigefügt, ferner ein ärztliches Gutachten“. In Horburg kann man sich nun anhand der Aktenlage ein Bild machen von H., den Grund seiner Unterbringung in Fürsorgeerziehung sowie der Überweisung aus Osterburg, sein Verhalten vor Ort beobachten – oder sich an jemanden wenden, der sich mit ihm auskennen könnte. Eine Woche, nachdem ihr Sohn im Heim „Samariterherberge“ aufgenommen wurde, erhält Frau C. in Eisleben Post aus Horburg. In einem 1 ½ -seitigen Brief vom 22. Dezember 1931, setzt die Heimleitung sie in ungewohnt transparenter Weise in Kenntnis über die Gestaltung der Unterbringung ihres Kindes.360 „Sehr geehrte Frau C.! Wie Sie wohl schon erfahren haben, ist Ihr Sohn [H.] hier bei uns im Kinderheim aufgenommen worden. Er besucht die 3. Klasse der mit dem Heim verbundenen öffentlichen Hilfsschule, und wir hoffen, dass er in dem Zusammenleben mit den übrigen Kindern und unter den hiesigen günstigen Verhältnissen bald eine grössere Freudigkeit für das Schulleben zeigt. Im übrigen dürfen Sie beruhigt sein, denn [H.] wird hier nur freundlich und anständig behandelt, erhält auch gutes Essen und ordentliche Kleidung, sodass Sie sich seinetwegen nicht zu sorgen brauchen. Wenn Sie mit uns Hand in

360 In keinem der bislang untersuchten Unterbringungsverläufe tauchte ein vergleichbares Schreiben auf, mittels welchem die Erziehungseinrichtung vergleichsweise empathisch Kontakt zu den Eltern der untergebrachten Kinder aufnimmt. Ob es sich dabei um ein auf den jeweiligen Zögling individuell zugeschnittenes Schreiben oder um einen fixen, der Situation nach nur leicht variierten Entwurf handelt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Da zumindest ein solcher Brief in der gesamten Untersuchung einmalig ist als auch ganz dezidiert die Positionen und Erwartungen der Beteiligten innerhalb des Unterbringungs- und Erziehungsprozesses beschreibt sowie eine bislang ungewohnte Binnenperspektive ermöglicht, wird er in diesem Fall vollständig wiedergegeben.

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Hand arbeiten und das beste des Jungen wollen, dann wird ihm der Aufenthalt hierselbst sicher zum Guten dienen. Haben Sie bitte volles Vertrauen zu uns und sehen Sie in uns nur die Freunde Ihres Kindes. Sie können ihm ab und zu schreiben. Er hat sich schon in die Verhältnisse gewöhnt und recht gut eingelebt. Sie werden sich dann evt. später gelegentlich eines Besuches selbst davon überzeugen können, dass [H.] hier gut aufgehoben ist. Wenn Sie ihn einmal besuchen wollen, so fragen Sie bitte 14 Tage vorher an. Sie erhalten darauf von uns Bescheid, an welchem Sonntag es hier passt. An Wochentagen sind Besuche nicht erwünscht, weil dadurch der Schulbetrieb leiden würde; ebenso ist an hohen Festtagen, wie Weihnachten und Neujahr und Ostern, Pfingsten kein Besuchstag. Zum Geburtstag wie auch zum Weihnachtsfest oder zu sonstigen besonderen Gelegenheiten dürfen die Kinder kleine Geschenkpakete bekommen. Ich bemerke aber, dass Esswaren durchaus nicht nötig sind, da in dieser Beziehung gut gesorgt wird. Wenn Sie gelegentlich einmal schreiben, wird es mir lieb sein, wenn Sie angeben können, ob [H.] vielleicht in seinen ersten Jahren schwere Krankheiten, evtl. welcher Art durchgemacht hat, ferner ob er an Krämpfen oder Bettnässen litt, oder ob Sie sonst von besonderen Vorkommnissen aus seinem Leben wissen. Solche Angaben sind für uns im Interesse der Erziehung überaus wertvoll. Ein Bildchen der Kleinsten Gruppe, der [H.] angehört, füge ich bei. Ihr Kleiner befindet sich aber noch nicht mit auf dem Bild. Mit freundlichem Gruss, Direktor.“

Unabhängig davon, wessen Belange in diesem Schreiben letztlich tatsächlich (mehr) Berücksichtigung finden (können), lässt bereits die Art der Informationsweitergabe sich als Besonderheit herausstellen; die mit der Ersatz-Erziehung beauftragte Einrichtung gibt ihrerseits Informationen direkt (meint: ohne Umwege über das Jugendamt oder die Fürsorgeerziehungsbehörde) an die Mutter weiter, spricht sie direkt an, und fordert von ihr im Gegenzug ebenso direkt Informationen zu ihrem Kind ein. Die Besonderheit dieses Schriftstücks fußt also auch in der Tatsache, dass mittels dieses Dokuments der Mutter des untergebrachten Kindes – erstmals im gesamten dokumentierten Verfahrensverlauf zur Unterbringung in Fürsorgeerziehung – gleichsam voraussetzungslos unterstellt wird, das Wohlergehen ihres Kindes läge ihr am Herzen.

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Diese a priori getätigte Annahme rehabilitiert Frau C. als Mutter,361 ermöglicht einen – zumindest kommunikativen – Neubeginn in der Beziehung zwischen Erziehungseinrichtung und Kindsmutter. Indem die Heimleitung nach ihrem Wissen, ihrer Erfahrung mit ihrem Kind fragt, erfolgt eine Aufwertung dieser Ressourcen, und damit ihrer Person. Kamen bislang im Verfahren zur Unterbringung ihrer Kinder primär Auskünfte, Einschätzungen und Schlussfolgerungen Dritter zur Anwendung, mittels derer der Prozess schlussendlich auf ungenügende Erziehungssorgfalt der Mutter infolge unsittlichen Lebenswandels rekurrierte, und wurde der Zeitraum zwischen Unterbringungsbeschluss und tatsächlicher Herausnahme der Kinder aus ihrem Zuhause, mit Verweis auf Gefahr im Verzuge, auf das Kleinstmöglichste beschränkt, stellt nun, 11 Monate nach der gerichtlichen Feststellung, sie erweise sich als Gefährdung für das gesunde Aufwachsen ihrer Kinder, das Schreiben der Horburger Heimleitung die Konstituierung einer partnerschaftlichen Beziehung in Aussicht. Zwar zählt es zur ersten Aufgabe dieser Erziehungseinrichtung, das als solches attestierte, mütterliche Erziehungsunvermögen kompetent zu kompensieren; dieser nominelle Grund der Unterbringung ihres Kindes – und damit auch der eigentliche Grund zur Kontaktaufnahme mittels besagten Schreibens – aber wird im Brief nicht explizit thematisiert. Als „Vorgeschichte“ wird er gleichsam ausgeblendet, nicht in Abrede gestellt, sondern an dieser Stelle der Beziehung für nicht relevant erklärt und entsprechend gehandhabt. Relevant sind vielmehr die beiderseitigen Erwartungen an den Umgang miteinander, sowie die Situation als solche, weshalb sie, wenn in diesem Fall auch nur vonseiten des Erziehungsheimes, explizit formuliert, sowie für die Kindsmutter – versuchsweise – transparent antizipiert werden. Unterstellt man dieser Beziehungsaufnahme das Kindeswohl als Movens, könnte man geneigt sein, den angenommenen „Neuanfang“, das Kappen der (Bedeutung der) Vorgeschichte im Umgang zwischen Erziehungsheim und Kindsmutter auch auf die Sichtweise auf und den Umgang der Mitarbeiter des Erziehungsheimes mit dem Zögling zu übertragen. Dieser Annahme zumindest widersprechen nicht die wenigen schriftlichen Darstellungen, die zwischen November 1931 und No-

361 Dass zweifelsohne die Vorstellung(en) von richtigem Muttersein zur Wiedereinsetzung in diese Rolle Voraussetzung sind, sei sehr wohl angemerkt, an dieser Stelle aber als nachrangig behandelt.

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vember 1934 im Erziehungsheim „Samariterherberge“ Horburg zum Verhalten und zur Entwicklung des Zöglings H. angefertigt werden und in der Akte aufzufinden sind. 1932 Die erste der Darstellungen von H. finden wir erst 8 Monate nach seiner Aufnahme am 15. November 1931. Abgebildet im Halbjahresbericht „Für Schulpflichtige“ stammt sie vom 6. Juli 1932, und ist adressiert an die Fürsorgeerziehungsbehörde des Provinzialverbandes Sachsen. Der Bericht fasst die Beobachtungen der Heimmitarbeiter für den Zeitraum Januar bis Juni 1932 in einzelnen Rubriken zusammen, und entwirft ein Bild vom Zögling, welches eher von Zuneigung als von Defizitorientiertheit bestimmt zu sein scheint. Oder aber die Geeignetheit des Unterbringungsortes sowie die Qualität der erzieherischen Arbeit unterstreichen möchte. Nach dem Verhalten des Zöglings befragt, schildert die JuliDarstellung H. als „stillen, sehr liebebedürftigen Jungen“, der nun allmählich beginne, „seine schüchterne, scheue, ängstliche Art abzulegen. Ab und an [sehe] man ihn schon lachen und mit den Kindern spielen.“ „Im Hause [beschäftige] er sich nicht gern, er [sei] in allen Dingen unbeholfen und unanstellig.“ Verglichen damit, „zeig[e] er [...] in der Schule mehr Teilnahme, seine Leistungen [seien] aber sehr gering (3. Hilfsschulklasse)“. Der Gesundheitszustand des Jungen könne „als befriedigend bezeichnet werden“, er sei „ab und zu noch Bettnässer“. Überhaupt, der Beschreibung nach, scheint der Schlaf für H. durchaus von Ambivalenz bestimmt zu sein; so weist der Bericht unter der Rubrik Bemerkungen (besondere Neigungen, sonstige Vorschläge usw.) auf folgendes hin: „leidet sehr an schreckhaften Träumen, zeigt grosse Angst bei Gewittern, fürchtet sich vor fremden Menschen“. Wieweit die nunmehr 1 ½-jährige Trennung von der Mutter, oder die ½-jährige von den Geschwistern ohne jeden persönlichen Kontakt Anteil hat am Befinden des Jungen, der im Februar im Horburger Heim seinen 9. Geburtstag zu begehen Anlass hatte, sei dahingestellt. Perspektivisch halte man die Möglichkeit einer anderweitigen Unterbringung dennoch für nicht empfehlenswert, etwa in Familienpflege, „da schwachsinnig und Hilfsschulschüler“. Diesem Bericht samt Einschätzung der Horburger Heimleitung scheinen von Seiten der verantwortlichen Stellen keine gegenteiligen

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Sichtweisen entgegengebracht worden zu sein, zumindest zeigt, bis zum Bericht für die zweite Jahreshälfte 1932, die Akte sich zum Verhalten und Befinden von H. verschwiegen. 1933 Die Beurteilung des weiteren Unterbringungsverlaufs vom 16. Januar 1933 weicht hinsichtlich Sichtweise und Darstellung kaum von der vorherigen ab; „Fleiss und Leistungen“ im schulischen Bereich hätten sich zwar „gebessert“, permanente erzieherische Aufsicht erwiese sich aufgrund seiner „unausgeglichenen, z.T. bockigen Verhaltensweisen [...] gerade im Umgang mit anderen Kindern“ als unumgänglich, weshalb Entlassung oder Unterbringung in Familienpflege „nicht in [...] Betracht kommen“. Also begeht H., einen Monat später, auch seinen 10. Geburtstag im Erziehungsheim in Horburg, und, um es vorwegzunehmen, seinen 11. Geburtstag im Februar 1934 ebenfalls. Bis dahin ist von einem Besuchsurlaub für H. zu seiner Mutter keine Rede, von einem Besuch derselben in Horburg ebenso wenig, auch über postalischen Kontakt weiß die Akte nichts mitzuteilen. „Im Juli 1933“ wird der erste Halbjahresbericht für 1933 verfasst. Er hinterlässt ein allmählich trüber werdendes Bild vom Zögling H., geprägt überwiegend von „Fehlverhalten“, „Übertritten“, „Ungehorsam“ und „Rechthaberei“. Seine Leistungen in der Schule könnten nunmehr als „gut beurteilt“ werden, sein Sozialverhalten weniger: „Wenn er die führende Rolle hat, ist er höflich und umgänglich, sonst kann er bockig und gereizt sein.“ Die Überweisung in Familienpflege oder gar vorzeitige Entlassung zu seiner Mutter könne noch nicht Betracht gezogen werden, denn „zufolge seiner Schwererziehbarkeit hat der schwachsinnige Junge die Fürsorgeerziehung nötig“. Darüber, wie lange dies noch der Fall sein wird, macht der Bericht des Horburger Erziehungsheims keine Aussagen. Den turnusgemäßen zweiten Halbjahresbericht für 1933 enthält uns die Akte vor, weshalb wir im darauffolgenden Kalenderjahr wieder einsetzen, im März 1934, einen Monat nach H.’s 11. Geburtstag.

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1934 Am 26. März geht in der „Samariterherberge“ Horburg ein Brief von Frau C. an ihren Sohn ein. Das Schreiben ist auf den 24. März datiert, richtet sich direkt an H., umfasst vier handschriftlich beschriebene Seiten, und teilt seinem Empfänger wichtige Ereignisse der letzten 1 ½ Jahre mit. Die für H. erste Neuigkeit besteht in der Mitteilung der Mutter, er sei nun die längste Zeit von ihr getrennt im Heim untergebracht gewesen, denn infolge der Veränderungen in ihrem Leben werde sie ihn bald wieder zu sich nach Hause holen können, wenngleich dieses sich nicht mehr in Eisleben befinde, da sie umgezogen sei. Der Grund für diesen Optimismus ergibt sich aus der zweiten unverhofften Mitteilung der Mutter, ihrer anstehenden Heirat. Sie wohne bereits mit ihrem künftigen Mann in einer gemeinsamen Wohnung in Ahlsdorf (bei Mansfeld), der neue Stiefvater verfüge über ein regelmäßiges Einkommen, so dass sie selbst nun wieder mehr Zeit für ihre Kinder habe. Sie werde bei den entsprechenden Stellen einen Antrag auf die Entlassung ihrer Kinder stellen, so dass sie schon bald alle wieder beieinander sein könnten. Zuvor aber würde sie H. in Horburg besuchen, um mit ihm alles persönlich und in Ruhe zu besprechen und zu schauen, wie es ihm ginge. Sie habe die Heimleitung in einem separaten Schreiben über ihre Besuchsabsicht für den ersten Osterfeiertag in Kenntnis gesetzt, und freue sich außerordentlich auf diesen Tag. In einem umgehenden Antwortschreiben vom 28. März bezüglich der mitgeteilten Besuchsabsicht dämpft die Heimleitung den Enthusiasmus der Beteiligten; Besuche der Zöglinge im Heim sind, wie am 22. Dezember 1931 im „Eingangsschreiben“ ausführlich dargestellt, nicht möglich speziell an besonderen Feiertagen, sowie grundsätzlich erst nach zuvor erfolgter, zweiwöchiger Ankündigung der Besuchsabsicht. Unter Berücksichtigung dieser Regelung schließt der Direktor das Schreiben der Heimleitung an Frau C.: „Deshalb muss ich Sie bitten, von Ihrem Besuch zu Ostern abzusehen und ihn auf den ersten Sonntag nach Ostern zu verlegen. [H.] selbst legt ein paar Zeilen mit bei. Heil Hitler! gez. HUMMEL, Direktor.“

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Wie sich bald herausstellt, kommt dieser erste mögliche Besuchssonntag aufgrund einer Veranstaltung im Erziehungsheim Horburg dann doch nicht infrage; Direktor HUMMEL unterrichtet H.’s Mutter am 11. April in einem kurzen Schreiben davon, dass es dem Heim trotz seiner Inaussichtstellung am 28. März leider „ganz unmöglich ist, Besuch zu empfangen, da wir durch den Volkstag für die Innere Mission sehr stark in Anspruch genommen sind. Es steht Ihnen frei, dann am Sonntag darauf, das wäre am 22. April, [H.] zu besuchen.“ In einem weiteren Brief an H. versucht die Mutter, ihren Sohn über das Hinauszögern des Besuchstermins hinwegzutrösten, berichtet von Verwandten, dem neuen Zuhause, bemüht sich, dem Kind Mut zu machen. Bis sie und ihr Sohn sich schließlich wiedersehen, vergehen von der Besuchsankündigung der Mutter an insgesamt vier Wochen – vorausgesetzt, der Besuch kam tatsächlich zustande; Anmerkungen zum Verlauf des Besuches oder zu Gesprächen zwischen Mutter und Heimleitung liegen uns nicht vor. Das nächste „offizielle“ Dokument in der Akte stammt vom 28. Mai; die Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen in Merseburg setzt die Heimleitung in Horburg darüber in Kenntnis, dass H.’s Mutter, ehemals verwitwet Frau C., mittlerweile verheiratete Frau S., „die Entlassung ihrer Kinder [...] aus der Fürsorgeerziehung beantragt [...] und zur Begründung des Antrages angegeben ha[be], sie sei wiederverheiratet, ihr Mann habe feste Arbeit und feste Wohnung und sie wolle ihre Kinder selbst erziehen.“ Während der verantwortliche Mitarbeiter der Fürsorgeerziehungsbehörde, TOBIEN, derweil „Ermittlungen über [...] diese Angaben und die häuslichen Verhältnisse der Mutter“ anstelle, bitte er Direktor HUMMEL darum, „sich inzwischen baldgefälligst darüber zu äußern, wie [H.] sich seither geführt hat, ob er innerlich schon so weit gefestigt ist, daß er den an ihn herantretenden Versuchungen aus eigener Kraft zu widerstehen vermag und ob zu hoffen ist, daß er sich auch ohne die dortige Aufsicht ordentlich halten wird.“

Das Ersuchen um eine solch weitläufige Prognose läuft zusammen in der Frage, die der letzte Satz des Schreibens schließlich stellt: „Wird die Entlassung aus der Fürsorgeerziehung dortseits befürwortet?“.

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Prognostik Das Schreiben des Heimdirektors HUMMEL mit der Einschätzung von H.’s aktuellem Entwicklungsstand, sowie des künftig erwartbaren Maßes an Selbstkontrolle, geht drei Wochen nach Anfrage in Merseburg ein. Die Darstellung ist datiert auf den 14. Juni 1934, ihr Umfang umfasst 25 Zeilen, maschinegeschrieben. Sie beginnt mit einer Aufführung der Erfolge, welche die Horburger Heimerziehung bei H. zeitigen konnte („Die bisher an [H.] geleistete Erziehungsarbeit hat beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Die Ausbrüche von Jähzorn und grosser Erregung kommen nicht mehr vor. An seinem Körper und in der Kleidung hält sich der Junge recht sauber, ihm übertragene Aemter und Aufträge von kleinem Umfange führt er willig aus“, Z.1-5); auf die „geistige Entwicklung“ des Zöglings leider ließen sie sich nicht unmittelbar übertragen, denn: „sie geht nicht gleichmäßig vor sich“ (Z.8). Zu Belegzwecken führt die Darstellung die Angaben der Heimschule zur schulischen Entwicklung von H. aus den Halbjahresberichten auf: „[D]as beweisen auch die Urteile der beiden Lehrer, die [H.] seit seinem Eintritt in unser Heim unterrichten. ‚6.7.1932: Die Leistungen sind sehr gering. 16.1.1933: Fleiss und Leistungen haben sich gebessert. Juli 1933: Fleiss und Leistungen sind gut. 30.12.33; Die Leistungen gehen eher zurück als voran. Juni 1934: In seiner geistigen Entwicklung ist ein Stillstand festzustellen.‘362 Danach kann ich eine Entlassung [H.’s] aus der Fürsorgeerziehung nur empfehlen, wenn seine fernere heilpädagogische Betreuung gesichert erscheint.“ (Z.8-19)

Diese Situation illustriert geradezu idealtypisch das Zustandekommen von Entitäten mittels Aussagen, beispielhaft nachverfolgbar an der „Beweisführung“ zur Aussage: „die geistige Entwicklung [des Zöglings] geht nicht gleichmäßig vor sich“ im Schreiben vom 14. Juni 1934.

362 Für Dezember 1933 und Juni 1934 finden sich in der Akte keine „Original-Dokumente“, aus denen die Beurteilung von H.’s Leistung(-sentwicklung) ausschnittsweise zu stammen scheint.

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Der Verfasser kommt einer Handlungsaufforderung, im vorliegenden Fall der konkreten Fragestellung der Fürsorgeerziehungsbehörde („Wird die Entlassung aus der Fürsorgeerziehung dortseits befürwortet?“) nach, indem er ein Votum abgibt, welchem zufolge er die Entlassung nicht vorbehaltlos empfehlen kann. Die Begründung des Urteils fußt auf der Aussage von der ungleichmäßigen geistigen Entwicklung des Zöglings, die sich wiederum auf Indizien stützt, nämlich einer Zusammenschau der schulischen Leistungsbeurteilungen, entnommen den Halbjahresberichten der letzten 24 Monate. In diesen Berichten wurden H.’s schulische Leistungen jeweils danach eingeschätzt, welchen Verlauf ihre Entwicklung während des vergangenen halben Jahres genommen hatte; innerhalb dieses konkreten Erhebungsund Deutungsrahmens können die gewonnenen Einschätzungen berechtigtermaßen Gültigkeit beanspruchen; ob sie nun wahr oder weniger wahr sind, in und für die klar umrissene Situation verfügen sie über den Status von Aussagen. Werden sie hingegen dieser Situation entnommen und aneinandergereiht wie gesichertes Spurenmaterial, verlieren die Einschätzungen zur konkreten Leistungsentwicklung ihr Vermögen zur Zeugenschaft; zu einem Vorgang befragt, welchen sie in der Gänze seines Umfangs zum Zeitpunkt ihrer Aussage noch überhaupt nicht in den Blick nehmen konnten, kann von daher weder ihre Einzelaussage an sich, noch in Summation mit den übrigen, Validität beanspruchen. Nicht weniger jedoch praktiziert der Verfasser des „Stillstandsschreibens“ vom 14. Juni 1934. Er fasst dasjenige argumentativ zusammen, was außerhalb seiner ursprünglichen Verfassungssituation (Anlass und zeitlicher Rahmen) nur noch mindertaugliches Mittel ist, um mittels dieser Neu-Fassung ein konkretes Bild zu erstellen, wobei er vorgibt, es handele sich weiterhin um das bereits vorhandene und mehrfach beschriebene Bild, lediglich der in den Blick genommene Ausschnitt sei nunmehr erweitert worden.363 Dass es sich bei diesem, scheinbar lediglich vergrößerten Bildausschnitt um ein komplett anderes: weil neues Bild vom Gegenstand (die Entwicklung eines konkreten Zöglings in einer konkreten Einrichtung) handelt, wird verstellt durch den Gebrauch der bisher verwendeten,

363 Vergleichbar mit dem Herauszoomen aus der vorherigen Betrachtungsebene.

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vertrauten Motive, Darstellungsweisen (vorgeblich „Abbildungs“weisen) und Leseweisen. Auch nominell soll es sich bei der neuen Darstellung um eine (zwar erweiterte, dennoch) alte handeln, wie die Verwendung bereits bekannten Beobachtungsmaterials (Halbjahresberichte) nahe legt. Denn wodurch sonst könnte eine Entwicklung anschaulicher beschrieben werden, als unter Verwendung einer Verlaufskurve; die Koordinaten des Graphen „seine[r] geistige[n] Entwicklung“(Z.7) bürgen für die Richtigkeit der „Abbildung“,364 handelt es bei ihnen doch um empirische Daten: erhoben zu verschiedenen Zeitpunkten während der letzten 24 Monate, sprechen sie anscheinend wie von selbst. Sie müssen nur „richtig“ befragt werden. Die „richtigen“ Fragen stellt ihnen der Verfasser der aktuellen Einschätzung, fragt er doch nach den Gründen für den „Stillstand in der geistigen Entwicklung“ bei Zögling H. Das nähere Umfeld, die Vor-Ort-Situation, scheidet als mögliche Ursache von vornherein aus, wurden die Erziehungsleistungen des Personals der „Samariterherberge“ doch bereits in den ersten Sätzen des Schreibens als von Erfolg gekrönt beschrieben. Wenn also externe Faktoren als Ursache nicht in Frage kommen, müssen folgerichtig wohl Eigenschaften des Zöglings selbst eine Rolle spielen; damit wäre auch geklärt, welcher Art die Widerstände sind; Widerstände, die sich, wie beschrieben, der prinzipiell erfolgreichen Erziehungsarbeit in den Weg stellen. An den Gestaden des Schwachsinns, angeborenem zumal, zerrinnen die Kräfte auch geschulter Pädagogik, weshalb es schließlich nicht wunder nimmt, dass eine vollständige Landnahme des Zöglings, seine sittliche und geistige Erziehung, in gewünschtem Umfang bisher nicht gelang. Noch nicht. Ein solch apologetisches Motiv lässt sich im „Stillstandsschreiben“ weder ausschließen noch überrascht es; schließt die Einschätzung doch mit dem Hinweis, an H. selbst sei die nötige Erziehungsarbeit bislang noch nicht beendet; diese zu leisten aber wäre die Einrichtung seiner gegenwärtigen Unterbringung geeignet wie kaum eine andere Institution, die mütterliche schon gar nicht.

364 Oder bringt die Abbild vorgebende Darstellung den Gegenstand gar selbst erst hervor?

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„Ob der Heimatort über eine Hilfsschuleinrichtung verfügt, ist mir nicht bekannt. Die Mutter scheint nach den hier eingegangenen Briefen für die Erziehung von Kindern wenig geeignet. [H.] selbst aber besitzt noch nicht das Urteilsvermögen und die sittliche Kraft, um die für jede Gemeinschaft notwendigen Gebote wieder zu erkennen noch zu erfüllen.“ (Z.18-25)

Die von Direktor HUMMEL unterzeichnete Einschätzung rät also von einer Entlassung ab, da diese, als vorzeitige, dem Wohle der kindlichen Entwicklung alles andere als förderlich sei, und gewährt dabei einen Blick auf das zugrundeliegende Prioritätengefüge: Beschulung und Erziehung im Heim steht vor einer Rückkehr ins Elternhaus mit unklarem Erziehungsresultat. Obgleich die „objektiven“ Gründe weder auf Seiten der Mutter noch ihres Kindes gegen einen solchen Schritt sprächen; will heißen: lebte das Kind unter den gegenwärtigen Umständen im elterlichen Haushalt, käme seine Trennung von der Familie, als notwendige Folge einer Heimunterbringung, wohl kaum in Betracht. Kam es jedoch einmal zu einem solchen Schritt, gelten zur Wiederaufhebung andere Kriterien als diejenigen, derer sich zur Herbeiführung bedient wurde. Das Schreiben der Heimleitung geht am oder nach dem 14. Juni 1934 an die Fürsogeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen nach Merseburg, Zögling H. bleibt weiterhin im Erziehungsheim „Samariterherberge“ in Horburg. Von der Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen aus Merseburg geht diese Beschlussmitteilung, hinsichtlich ihres Antrags auf Entlassung ihrer Kinder aus der Fürsorgeerziehung, erst 3 ½ Monate später, am 1. Oktober 1934, auch an die Mutter, Frau S. in Ahlsdorf.ȱřŜś Das 36-zeilige Schreiben trägt die Unterschrift des mit dem Vorgang betrauten Sachbearbeiters TOBIEN, der bereits im Mai bei der Direktion in Horburg um Einschätzung des Falls gebeten hatte. Der Kindsmutter in Ahlsdorf teilt sein Schreiben nunmehr mit, dass er „dem Antrage auf Entlassung [i]hrer [vier] Kinder [...] aus der Fürsorgeerziehung zur Zeit nicht zu entsprechen vermag“ (Z.1-3). Die

365 Über die Vorgänge während dieses Zeitraums von immerhin 14 Wochen liegen keine Dokumente in der Akte vor. Aus diesem Grund kann über die ungewöhnliche lange Frist der Entscheidungsfindung bzw. Mitteilung derselben an die Antragstellerin nur gemutmaßt werden.

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für eine Aufhebung der Fürsorgeerziehung gesetzlich geforderten Voraussetzungen – „wenn ihr Zweck erreicht, oder die Erreichung desselben anderweitig sichergestellt ist“ (Z.5-7) – „sind im vorliegenden Falle nicht erfüllt“ (Z.7-8). Zur Begründung verweist das behördliche Schreiben zuallererst auf die, durch die Fürsorgeerziehung zustande gekommenen, Erziehungserfolge; unter deren „Schutze und Einwirkung“ (Z.10) hätten die drei Geschwister von H. „sich recht gut entwickelt und hinsichtlich ihrer Führung zu Klagen keinen Anlass gegeben“ (Z.11-12). Da sich aus der beschriebenen Entwicklung der Geschwister allein noch kein Grund ableiten lässt, der ein weiteres Verbleiben in Fürsorgeerziehung erforderlich machte – im Gegenteil –, bringt der Verfasser sich als Anwalt der Kinder ins Spiel, und führt argumentativ ins Feld, und der Mutter vor Augen, dass er die derzeitigen Interessen und Bedürfnisse der Kinder nicht ohne weiteres übergehen könne. Die Kinder befinden sich, den Angaben zufolge, nicht mehr gemeinsam im Landesaufnahmeheim Osterburg, sondern in verschiedenen Pflegestellen. Dort, so erfährt der Leser, fühlten sich „alle 3 Kinder [...] sehr wohl und möchten noch so lange wie möglich dort bleiben“ (Z.16-18). Dieser Aussage Rechnung tragend, bezieht der nachfolgende Satz sich auch nur formal auf die Kinder, ihr persönliches Wohlergeben, sowie die an ihnen vollbrachte Erziehungsarbeit: vor allem richtet er als Appell sich an die Mutter. Zum einen ruft er sie auf, ihre Ansprüche nicht über das Wohl ihrer Kinder zu stellen, zum anderen weist er sie an, ihre Fähigkeiten in erzieherischer Hinsicht als das anzuerkennen, als das sie sich in der Vergangenheit erwiesen hätten: als ungenügend. Entsprechend führt das Schreiben folgendes Szenario als erwartbar vor Augen: „Würden die Kinder jetzt aus ihren Pflegestellen herausgenommen und ihre günstige Entwicklung unterbrochen werden, so besteht die Gefahr, daß die bisher erzielten Erfolge wieder vernichtet würden.“ (Z.18-22)

Ähnlich, wie über diese drei ihrer Kinder, die in den Pflegestellen die beste nur denkbare Unterbringung gefunden zu haben scheinen, äußert sich das von Behördenmitarbeiter TOBIEN unterzeichnete Schreiben auch über H.; auch in seinem Fall habe die vor Ort an ihm „geleistete Erziehungsarbeit beachtliche Erfolge zu verzeichnen“ (Z.23-24), und dennoch könne einer Entlassung aus der Einrichtung nicht zugestimmt

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werden. Der Grund dafür ist bei H. weniger darin zu suchen, dass er das Erziehungsheim „Samariterherberge“ jedem anderen Ort vorziehen zu wollen den Eindruck erwecken würde; als Gründe für die Verneinung seiner Entlassung führt das Schreiben die, vom Heimdirektor HUMMEL eindrucksvoll „belegten“, Entwicklungsstörungen des Zöglings an. Diese beschriebenen Defizite werden dem Einschätzungsschreiben HUMMELS vom Juni 1934 unkommentiert entnommen, von TOBIEN als unhintergehbarer Sachverhalt per Unterschrift fixiert, und solcherart argumentativ gegen eine mögliche Entlassung H.’s gehandhabt. „Da aber in seiner geistigen Entwicklung ein Stillstand festzustellen ist und seine Leistungen eher zurück als voran gehen, bedarf er noch weiterhin der besonderen Pflege und Anleitung in einem Erziehungsheim mit Hilfsschuleinrichtung.“ (Z.25-29)

Der Mitteilung an Frau S., dem Antrag auf Entlassung ihrer vier Kinder aus der Fürsorgeerziehung zu sich nach Hause in keinem einzigen Fall stattgeben zu können, schließt der Hinweis sich an, sie könne „gegen diesen Beschluss [...] binnen 2 Wochen nach Zustellung auf richterliche Entscheidung bei dem Amtsgerichte (Vormundschaftsgerichte) zu Eisleben“ (Z.30-32) wiederum einen Antrag stellen. Die Aussagen der verantwortlichen Stellen, in diesem Fall der Heimleitung in Horburg und der zuständigen Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg, nehmen nicht nur fortwährend aufeinander Bezug (und bestätigen einander); sie beziehen sich vor allem auf die ihrerseits erst hervorgebrachte „Realität“, in diesem Fall die „gestörte Entwicklung der geistigen Fähigkeiten“ bei Zögling H., und bestätigen diese durch wiederholte Bezugnahme sowie die Konsequenzen, die dieses als solches beschriebene Defizit für alle Beteiligten mit sich bringt. Solange, bis es Anlass zur Neubestimmung der Unterbringungssituation gibt, schreiben diese Aussagen sich fort – und den Zögling fest. Ob eine der Beteiligten, die Mutter der vier weiterhin in Fürsorgeerziehung untergebrachten Kinder, Gebrauch von ihrem Recht macht, und gegen den Beschluss der zuständigen Behörde in Widerspruch geht, enthält uns die Akte vor; nach dem Ablehnungsbeschluss zeigt sie sich 2 ½ Wochen lang verschweigen hinsichtlich der Vorgänge und Ereignisse, H. und seine „besondere Pflege und Anleitung“ in der Horburger „Samariterherberge“ betreffend.

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„Neinstedter Anstalten“ Im nächsten Dokument „seiner“ Akte finden wir H. nicht mehr in Horburg, sondern im Erziehungsheim in Neinstedt wieder. Das Dokument ist datiert auf den 17. Oktober 1934, stammt vom Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses in Neinstedt, und richtet sich an die zuständige Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg. Der Verwaltungsrat teilt darin „ergebenst mit, dass der Zögling [H.], bisher im Kinderheim Samariterherberge Horburg, am 16.10. im Knabenheim Lindenhof, Neinstedt am Harz aufgenommen worden ist.“ Zum Vorgang selbst fehlt jede weitere Angabe. Weder finden wir „offizielle“ Verlegungsgründe genannt, noch Informationen darüber, ob diesbezügliche Absichten in Horburg geäußert worden waren oder inwieweit H. und seine Mutter über die bevorstehende Verlegung und ihren Anlass informiert wurden. Ebenso wenig lässt sich auf eine Einflussnahme ihrerseits beim Zustandekommen der anderweitigen Unterbringung ihres Sohnes schließen. Dem Arzt der Neinstedter Anstalten, Dr. WITTENBERG, wird H. am 31. Oktober zur medizinischen Untersuchung „vorgestellt. Betreffs seiner Gesundheitsverhältnisse [hat der Mediziner] nichts [auffälliges] zu bemerken: [...] Seine inneren Organe sind gesund. Geistig erscheint er schwachsinnig.“ Der ärztlichen Einschätzung nach, scheint am 16. Oktober 1934 in Neinstedt derjenige Zögling zur Erziehung angekommen zu sein, dessen Überweisung in Familienpflege bereits in Horburg daran scheiterte, dass er „schwachsinnig und Hilfsschüler“366 sei. Über das Ergebnis der obligatorischen Aufnahmeuntersuchung am neuen Unterbringungsort hinausgehende Angaben hält die Akte bis Ende des Jahres nicht bereit. Auf den letzten Tag des Jahres, den 31. Dezember 1934, ist der erste Halbjahresbericht zu H.’s Verhalten und Entwicklung in Neinstedt datiert.

366 Vgl. Halbjahresbericht vom 6. Juli 1932, „Samariterherberge“ Horburg an die Fürsorgeerziehungs-Behörde der Provinz Sachen in Merseburg.

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Halbjahresbericht In und aus den vorgegebenen Rubriken des Berichts taucht der folgende Zögling auf: im Umgang mit den übrigen Zöglingen „verträglich“, Fleiß und Leistungen im Hause „manchmal ganz gut; aber manchmal auch ungenügend“, in der Schule „genügend“; körperlicher und geistiger Gesundheitszustand „gesundheitlich gut; gelegentlich Bettnässer“; „Manchmal bockt [er], braucht also noch eine feste Hand, die ihn führt, [...] spielt gern Brettspiele“. Ob seine vorzeitige Entlassung aus der FE erwogen werden kann? „Ist abzuwarten“. Das handschriftlich erstellte Dokument trägt die Unterschrift von Hausvater KLEIN, die darin befindliche Darstellung des Zöglings H. trägt zur Festschreibung dieses Zöglingsbildes – und damit des Zöglings selbst – über die gesamte Dauer seiner Unterbringung in Neinstedt bei. Aufzeichnungen, Beobachtungen, Mitteilungen, die geeignet wären oder Anlass gäben, den einmal erkannt geglaubten Zögling einer erneuten Beurteilung, womöglich einer Gesamtschau zu unterziehen, finden wir zwischen den übrigen Dokumenten der Akte nicht. Die von der Heimleitung („Hausvater KLEIN“) autorisierten Berichte und Einschätzungen der folgenden Jahre zu Befinden, Verhalten und Entwicklung von H., sind entsprechend komparierte Versionen der bekannten Darstellung. Scheinbar nahtlos schließt ein neues Jahr sich an. 1935 Das einzige „Nicht-Berichts-Dokument“ des Jahres 1935 stammt vom 10. Mai; es dokumentiert H.’s „erfolgreiche Wiederimpfung“, entsprechend der gesetzlichen Impfpflicht, am nunmehr 12-jährigen Zögling durchgeführt von Anstaltsarzt Dr. WITTENBERG. Am 4. Juli 1935 richtet das, noch immer mit H.’s Vormundschaft betraute Jugendamt Eisleben, eine Anfrage nach der schulischen und sonstigen Entwicklung des Mündels H. an das Erziehungsheim „Samariterherberge“ Horburg, wohl in der Annahme, H. befände sich noch immer in dieser Einrichtung. Die Anfrage wird zum aktuellen Unterbringungsort, nach Neinstedt, weitergeleitet, und am 15. Juli in einem Schreiben vom Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses beantwortet.

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Entwicklungsbericht Die darin erfolgte Beschreibung des Zöglings H. verwendet weitgehend diejenige vom 31. Dezember 1934, den Halbjahresbericht für dieses Jahr, erweitert die beschriebenen Beobachtungen stellenweise, und versieht sie mit den entsprechenden Deutungen. Ähnlich wie ein halbes Jahr zuvor, heißt es in der Darstellung vom 15. Juli über H.: „Sein Betragen ist gut, Fleiss und Leistungen sind manchmal gut, geben jedoch häufig zu Tadel Anlass. Er ist zeitweise sehr trotzig, sodass er ernstlich zurechtgewiesen werden muss.“ (Z.811) So komme es, fährt der Bericht an das Eislebener Jugendamt erläuternd fort, dass H. „noch immer einer festen führenden Hand [bedürfe], ohne die er sehr bald wieder verwahrlosen würde“ (Z.11-13). Obwohl H. während seiner, nunmehr 53 Monate währenden Unterbringung in drei verschiedenen Erziehungsheimen in keinem der zahlreichen Berichte (erstmalig oder wiederholt) von Verwahrlosung bedroht wahrgenommen und beschrieben wurde, und obwohl der ursächliche Unterbringungsgrund im Fehlverhalten seiner Mutter beschrieben wurde, bedient sich der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses völlig selbstverständlich dieses Topos’. Diese unverkrampfte Verwendung der „Drohkulisse“ Verwahrlosung spätestens gibt Anlass, wiederholt danach zu fragen, wieweit die fixierten Informationen zum Zögling – den Gründen seiner angeordneten Unterbringung sowie zu seinem bisherigen Unterbringungsverlauf – zusammen mit den Beobachtungen vor Ort Eingang fanden in die Wahrnehmung vom Zögling, in sein Bild. Oder danach zu fragen, ob dieses tatsächliche Bild – zustande gekommen auf welchem Weg und unter Verwendung welcher Mittel auch immer – und die Behauptung dieses Bildes nach außen gegebenenfalls verschiedenen Zwecken diente und eine Deckungsgleichheit beider Ausdrücke der Eindrücke von daher weder möglich war noch nötig? Womit ließe sich die abschließende Empfehlung des Schreibens an das städtische Jugendamt Eisleben denn wirkungsvoller einleiten und begründen, als mit dem Verweis auf die Erwartbarkeit von Verwahrlosung im Falle einer (vorzeitigen) Entlassung? Entsprechend schließt das Schreiben zu H. und seiner Zukunft folgendermaßen: „Für seine weitere Entwicklung ist dringend weiterhin Anstaltserziehung notwendig. Wir bitten ihn darum weiterhin in unserem Heim zu belassen. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses.“ (Z.14-18)

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Nun könnte man meinen, es sei vermessen und anmaßend, zu behaupten, der im Neinstedter Erziehungsheim vorherrschende Eindruck von H. sei ein weitaus anderer, womöglich „besserer“ gewesen als derjenige, der in den Berichten nach außen von ihm erzeugt worden sei. Einem solchen Einwurf ließe sich kaum widersprechen. Nicht distanzieren möchte ich mich aber von der Denkfigur, die das Vorhandensein zweier Bilder vom Zögling als Möglichkeit zulässt, verschiedene Motiv- und Interessenlagen berücksichtigend.367 Um eine solche Lesart nicht nur anzunehmen, sondern belegen zu können, wäre der Nachweis einer tatsächlichen, intendierten Verwendung differierender Zöglingsbilder unumgänglich; ohne die entsprechenden, diese Hypothese absichernden Materialien, bleibt sie eine Möglichkeit, ein Gedankenspiel. Zurück zum Zögling, seiner Unterbringung und Beurteilung. Welcher Grund schließlich der maßgebliche war für die Empfehlung des Verwaltungsrates, H. auf keinen Fall aus dem Neinstedter Erziehungsheim zu entlassen, kann an dieser Stelle über Vermutungen hinaus nicht geklärt werden; für Einsprüche und Widerstände dieser Einschätzung gegenüber, finden sich in der Akte keine Anhaltspunkte, woraus sich folgern ließe: H. bleibt unwidersprochen weiterhin in Fürsorgeerziehung. 1936 Das Jahr 1935 vergeht, ohne in der Akte weitere Spuren zu hinterlassen, der Halbjahresbericht für zweite Jahreshälfte stammt vom 11. Januar 1936. Dem Bericht an die Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen zufolge, entwickele sich H. kaum: geistig „träge“, schulisch „mittelfleißig“, im Betragen „ohne nennenswerten Tadel“, wenngleich „gelegentlich zänkisch“, „lebhafte Beteiligung“ am Spiel; die weitere Heimerziehung bleibe „angebracht“. Über Ereignisse des Frühjahrs, über H.’s 13. Geburtstag, über Besuche oder Briefverkehr schweigt die Akte. Als nächstes Dokument

367 So könnten für die, in der Außenwirkung despektierliche Darstellung eines Sachverhalts (Verhalten, Entwicklung, Prognosen) oder einer Person, durchaus lautere Motive eine maßgebliche Rolle gespielt haben, oder solche, deren Vorhandensein und Berücksichtigung eher auf betriebswirtschaftliche Maßgaben als auf pädagogische schließen lässt.

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nach dem Halbjahresbericht finden wir, wie bereits im Jahr zuvor, die Anfrage nach der schulischen und sonstigen Entwicklung des Mündels H. durch das Jugendamt Eisleben, gestellt am vom 9. Juni 1936, diesmal direkt an das Knabenheim „Lindenhof“ Neinstedt. Das Antwortschreiben, den vom Jugendamt gewünschten Bericht, finden wir drei Tage später, auf den 12. Juni 1936 datiert. Entwicklungsbericht Der überwiegende Teil des 1 ½-seitigen Schreibens, unterzeichnet von Lehrer STARKE und Hausvater KLEIN, stellt eine ausformulierte Version des letzten Halbjahresberichtes dar. So sei an H. „von besonderem Fleiß [...] nichts zu merken“, weshalb auch „seine Leistungen nur Durchschnitt“ seien (Z.22-23). Lediglich „an Spiel und Sport beteili[ge] er sich lebhaft“ (Z.13-14). Sein Umgang „mit den Kameraden [sei] allgemein verträglich“ (Z.11), jedoch habe es „in letzter Zeit häufig Schlägereien – Prügeleien gegebenen, meist nichtigem Anlass entspringend“ (Z.11-13). Drei Sätze des handschriftlichen Berichts an das Eislebener Jugendamt überschreiten vorsichtig die augenscheinliche Vorlage, den Halbjahresbericht, und kolorieren die Darstellung des Zöglings mit deutendem Pinsel. „In seiner Freizeit – zumindest wenn er des Sonntags einmal freien Ausgang hat – ist er gern allein und streift dann ziemlich planlos im Gelände umher. Es erweckt den Anschein, als wüsste er nichts so recht anzufangen. Er grübelt auch darüber nach, warum er von seiner Mutter gar nicht einmal etwas hört obwohl er ordentlich geschrieben hat.“ (Z.14-19)

Die Ursache für das an H. beobachtete, eingeschränkte Wohlbefinden, bleibt demnach weiterhin dort zu suchen, wo sie auch bislang verortet wurde: bei der Kindsmutter, ihrer Person samt ihrem Verhalten. Der 13-jährige H. selbst zeige sich meist antriebsschwach, und auch im Hinblick auf eine mögliche Ausbildung nur wenig begeisterungsfähig; so habe er sich „zur Erlernung eines Handwerks noch nicht geäußert [...], auch zu irgendeiner besonderen Arbeit keine Lust oder Talent gezeigt“ (Z.23-25). Der Aspekt einer möglichen Entlassung aus der Fürsorgeerziehung wird in der Darstellung mit der bisherigen Haltung zur Frage identisch behandelt, weshalb nach Einschätzung seines Lehrers „ein Wechsel in

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der Erziehung oder Unterbringung in Fam.-Pflege [...] nicht zu vertreten“ ist. (Z.28-29) Da der Hausvater und Heimleiter KLEIN dieser Einschätzung zustimmt, bleiben von Seiten des Neinstedter Erziehungsheims vorerst keine Fragen offen; trotz gelegentlich trüber Stimmungen beim Zögling bleibt der Erziehungsort alternativlos (da die Ursache der Gemütsschwankungen ja nicht im Heim zu suchen ist), das Erziehungsziel für H. wurde abgesteckt: Befähigung zu sinnvoller Tätigkeit, fortan gilt es, dasselbe zu erreichen. Bis zum Ablauf des Kalenderjahres 1936 herrscht Schweigen in der Akte; erst am 31.12.1936 treffen wir auf den Bericht über die letzten 6 Monate, der wiederum zum bisherigen Bild von Zögling H. im Neinstedter Erziehungsheim nichts Neues beisteuert („gibt selten zu Tadel Anlass“, „ist noch nicht ganz zuverlässig, träge ohne Anleitung“, „soll nach seiner Schulentlassung in Lehre oder in Stellung gegeben werden“). 1937 Ebenso wenig erweitert der, ein halbes Jahr später turnusgemäß vom Jugendamt Eisleben angeforderte Bericht zur schulischen und sonstigen Entwicklung des mittlerweile 14-jährigen Mündels H. den Blick auf seine Person als Zögling in FE. Sein Betragen sei „im allgemeinen zufriedenstellend“, im Gegensatz dazu ließe „sein Fleiß bei der Arbeit oft zu wünschen übrig“, weshalb es nicht zu verwundern brauche, dass „seine Leistungen oftmals nur befriedigend“ ausfielen (Z.7-9). Die weitere Heimerziehung sei allein schon deshalb geboten, da H. sich „ohne Aufsicht sehr träge [...] und noch wenig zuverlässig“ zeige (Z.8-11), ohne strenge Führung könne das gesteckte Erziehungsziel nur schwer erreicht werden. „Wir hoffen, daß er bis zu seiner Schulentlassung soweit gefördert ist, dass er in eine Lehrstelle oder landwirtschaftliche Dienststelle gegeben werden kann“ (Z.11-13). Soweit der vom Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses gezeichnete Bericht vom 15. Juni 1937 zum Stand der Zöglingsentwicklung sowie den Gründen seines weiteren Verbleibens im Erziehungsheim. Auf der Rückseite des Dokuments ist die Übersendung des Berichts an die Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg vermerkt, „Herrn Oberpräsidenten (Verw. d. Prov. Verb. F.E.B.) Merseburg zur gepfl. Kenntnisnahme. Heil Hitler!“

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Ebenfalls nach Merseburg geht in der Woche darauf aus Neinstedt der Halbjahresbericht für Januar-Juni 1937; bis auf die Rubrik Verhältnis zu den übrigen Zöglingen eine Blaupause des letzten Berichts an Jugendamt und FE-Behörde. Den Umgang mit Zöglingen betreffend, heißt es im Halbjahresbericht über H.: „gibt den Anschein eines ruhigen Jungen, ist aber im Umgang mit den Kameraden unverträglich, zänkisch, rechthaberisch“, das ,investigative‘ Berichtsdokument trägt die Unterschrift von Hausvater KLEIN. Das folgende Dokument in der Unterbringungsakte von H. versucht, in ähnlich forschender, zielgerichteter und vor allem: schlussfolgender Weise, dem Wesen von H. auf den Grund zu gehen. Es ist datiert auf den 25. August 1937, trägt Unterschrift und Dienststempel von Medizinalrat Dr. NOBBE, (augenscheinlich Nachfolger von Dr. WITTENBERG, und nunmehr „Arzt der Anstalten“), umfasst nicht weniger als 8 Blätter, und widmet sich eingehend der Frage: Was spricht für die Sterilisation des Zöglings H.? Anmerkung zur Unfruchtbarmachung Die Forderungen nach einer Sterilisation aus eugenischen Gründen und einer gesetzlichen Regelung der Sterilisationspraxis sind keine genuin „nationalsozialistischen“; bereits um die Jahrhundertwende begann auch in Deutschland eine von verschiedenen Gruppierungen, z.T. Fachgruppen (Mediziner, Juristen, Theologen), aber auch Parteien des gesamten politischen Spektrums, geführte und unterschiedlich stark dominierte Diskussion um das behauptete Erfordernis, der unentwegten Weitergabe „krankhafter Erbströme“ einiger Zeitgenossen durch aktives Eingreifen begegnen zu müssen – um somit (je nach wissenschaftlicher und politischer „Herkunft“ der Fordernden entweder) die Gesamtheit der Nachkommenschaft, das Volk, die Gesellschaft, oder die Rasse „gesund“ zu erhalten. Dahinter stehen Idee und wissenschaftlicher Glaube einer Vererbbarkeit von körperlichen Eigenschaften ebenso wie von Charaktermerkmalen.368

368 Zur Wissenshervorbringung zwischen 19. Jhd. u. 20. Jhd., vor allem in den sich konstituierenden Sozialwissenschaften und der Rezeption sowie z.T. Integration zeitgenössischer Rassenideologien vertiefend und anregend SCHÜTZ (1994).

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Konsequent, und mit ausreichendem Maß an Verantwortung betrieben, könnte – und sollte – mittels gezielter Unfruchtbarmachung das Risiko „erbkranken Nachwuchses“, allmählich zwar, aber absehbar, soweit minimiert werden, dass zur etwaigen „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ schließlich kein Anlass sich (mehr) böte. Denn auch die „Euthanasie“-Diskussion reicht weit in das 19. Jahrhundert zurück, etwa zum deutschen Zoologen ERNST HAECKEL.369 Bereits im Jahr 1900 hatte der sächsische Anstaltspsychiater PAUL NÄCKE die Unfruchtbarmachung „bei gewissen Klassen von Degenerierten“ befürwortet, die Möglichkeit der Sterilisation als „wirksame[n] sociale[n] Schutz“ bezeichnet. Inspiriert wurde NÄCKE dabei auch von Berichten über den Entwurf eines Kastrationsgesetzes im US-amerikanischen Bundesstaat Michigan, welches 1897 dort allerdings abgelehnt worden war. Das erste europäische Sterilisationsgesetz schließlich wurde 1928 in der Schweiz verabschiedet, und trat 1929 im Kanton Waadt in Kraft. Im gleichen Jahr wurde auch in Dänemark eine gesetzliche Regelung getroffen, nach der die Durchführung einer Unfruchtbarmachung, auf freiwilliger Grundlage, erfolgen durfte. Ebenso wie in Deutschland, waren im ersten Quartal des 20. Jahrhunderts auch in weiteren europäischen Ländern Entwürfe zu einem Sterilisationsgesetz ausgearbeitet worden; bis zum Jahr 1933 erfolgte aber weder in Deutschland noch in Schweden, Norwegen oder England die Verabschiedung eines solchen Gesetzes. Nichtsdestotrotz wurden in den beratenden Ländern bereits während der langen Diskussionszeit vereinzelt Unfruchtbarmachungen vorgenommen, gleichwohl aus verschiedenen Motiven. So wurde die Unfruchtbarmachung von „Sexualstraftätern“ (wie z.B. in Dänemark) anders begründet als beispielsweise die Sterilisation „vor allem schwachsinniger Frauen“ (wie z.B. in der Schweiz). Auch in Deutschland sterilisierten bereits einzelne Mediziner, so etwa der Zwickauer Medizinalrat GERHARD BOETERS. Dessen „Lex Zwickau“, sein Vorschlag zum Entwurf eines Sterilisationsgesetzes mit dem Titel „Die Verhütung unwerten Lebens durch operative Maßnahmen“ aus dem Jahr 1925, legte er, neben der Sächsischen Staatsregierung, auch dem Reichsjustizministerium vor, und obwohl sich nicht nachweisen

369 Weiterführend dazu u.a. HEHL (2005), S. 5-13, in: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“; ROTHMALER (1991), S. 30ff.; BOCK (1986).

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lässt, dass BOETERS’ Vorschläge im Reichstag oder im Reichsrat je beraten wurden, nahmen sie – zumindest hinsichtlich Sterilisationspraxis und „Adressatenkreises“ – Kernstücke des schlussendlich verabschiedeten Gesetz vom 14. Juli 1933 vorweg. Bereits 1925 hatte BOETERS bekannt gegeben, er habe seit 1921 insgesamt 63 Operationen in Zwickau durchgeführt, auf freiwilliger Basis, wohlgemerkt. Sterilisationen aus „eugenischer“ oder sozialer Indikation wurden außerhalb Zwickaus ebenso durchgeführt, wobei es bis 1933 nur ein einziges Mal zu einem Strafverfahren gekommen sein soll; das Offenburger Landgericht verurteilte 1932 den ehemaligen Chefarzt des Kehler Kreiskrankenhauses wegen mehrfacher, gefährlicher bzw. fahrlässiger Körperverletzung und vollendeter und versuchter Abtreibung. Unter seiner Leitung sollen in vier Jahren über 150 Sterilisationen und mehr als 200 Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt worden sein, mehrheitlich aus sozialer oder medizinisch-sozialer Indikation. Beide Indikationen finden sich als Positivliste im GzVeN wieder.370 Antrag auf Unfruchtbarmachung Gemäß dem Reichsgesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, in Kraft getreten am 1.Januar 1934,371 konnte die Unfruchtbarmachung einer jeden Person beantragt werden, die unter Verdacht stand, „erbkrank im Sinne dieses Gesetzes“ zu sein. Neben dem zu Sterilisierenden selbst, nennt das Gesetz als Antragsberechtigten den zuständigen Amtsarzt oder, für „die Insassen einer Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt“, den Anstaltsleiter.řŝŘ In einer Positivliste führt das Gesetz unter §1 Abs.2 die als Erbkrankheit geltenden Merkmale auf, deren Nachweis bei Trägerin oder Träger eine Unfruchtbarmachung in Aussicht stellt. An erster Stelle („Erbkrank im Sinne des Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:“) nennt der Gesetzestext angeborenen Schwachsinn.

370 Vgl. BENZENHÖFER (2006), S. 17-31.; KNAACK (2001), Kap. 5, Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN). 371 Die entsprechenden Zitate und Paraphrasierungen erfolgen unter Bezugnahme auf das GzVeN, GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934). 372 A.a.O., §3.

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Bereits im Oktober 1931 findet sich im Beobachtungsbogen des Landesaufnahmeheims Osterburg zu Zögling H. die Eintragung: angeborener Schwachsinn leichten Grades, „festgestellt“ und im Protokoll „bestätigt“ von Anstaltsarzt Dr. SAGE und Anstaltsleiter ALLIHN. Seitdem, in den darauffolgenden 6 Jahren der H.’schen Heimunterbringung, erfuhr die Schwachsinns-Diagnose kein Dementi, im Gegenteil: der Schwachsinn bei H. wird in seiner Zöglingsbiographie zu einem konstituierendem Element, zu einer verlässlichen Größe. Nicht die Tatsache seines Vorhandenseins galt es seitdem in ärztlichen Untersuchungen und pädagogischen Berichten der Erziehungsheime zu überprüfen, sondern, das Maß seiner Auswirkungen auf Entwicklung und Kenntnisvermögen des Zöglings festzustellen. Die Konsequenzen dieser attestierten Einschränkung ziehen sich durch den gesamten Unterbringungsverlauf; im November 1931, einen Monat nach Kundigwerdung eines angeborenen Schwachsinns, hatte die offizielle Einschätzung der Situation durch die Fürsorgeerziehungsbehörde den Schluss nahe gelegt, H.’s Unterbringung in einer Hilfsschuleinrichtung sei dringend erforderlich („Es ist auch mein Eindruck, dass das Kind so stark minderwertig ist, dass es in eine Hilfsschule kommen muss. Vorschlag: Horburg“),373 gegebenenfalls auch unter Inkaufnahme einer Trennung der vier – bis dahin gemeinsam in Osterburg untergebrachten – Geschwister. Wie wir aus der Akte erfahren konnten, kam es vom November 1931 an zur separaten Unterbringung von H., seitdem wurde ihm auch Hilfsschulunterricht zuteil. Nach drei Jahren im Erziehungsheim Horburg wird H. nach Neinstedt verlegt. In der Zeit seiner Unterbringung im Erziehungsheim „Lindenhof“ in Neinstedt, von November 1934 an, tauchen in den Berichten durchweg befriedigende bis gute Bewertungen seiner schulischen Leistungen auf, spätestens seit Dezember 1936 ist seine anschließende Unterbringung im landwirtschaftlichen Dienst oder eine Lehrausbildung im Gespräch („Wir hoffen, daß er bis zu seiner Schulentlassung soweit

373 Vgl. Schreiben an die Heimleitung Landeaufnahmeheim Osterburg von Landesverwaltungsrat HESSE, Fürsorgeerziehungsbehörde der Provinz Sachsen, vom 10. November, betr. Einschätzung des Zöglings H.

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gefördert ist, dass er in eine Lehrstelle oder landwirtschaftliche Dienststelle gegeben werden kann.“).374 Negative Erwähnung findet H.’s „Antriebsschwäche“ bei der Ausführung aufgetragener Tätigkeiten („ist noch nicht ganz zuverlässig, träge ohne Anleitung“),375 worauf das Erfordernis weiter andauernder Heimunterbringung offiziell sich gründet. Nichtsdestotrotz schimmert bei der langanhaltenden, von den Berichten mehrerer Jahre genährten Beschreibung des Zöglings H. unübersehbar, zumindest für manchen Betrachter, die ursprüngliche Grundierung seines Bildes durch. Die „Erbkrankheit“ Schwachsinn ist elementarer Bestandteil dieser Grundierung, soviel lässt sich mit Sicherheit feststellen. Alle weiteren Aussagen begeben sich unweigerlich auf spekulativ dünnes Eis; so ließe sich mit einiger Plausibilität annehmen, dass die „Bild-Wirkung“ derart intensiv, stark ist, dass der Verantwortliche von sich aus aktiv wird – denn anders, als es bei den „Gutachten“ für „T4-Fälle“ später die Regel sein wird, werden die Heime nicht von externer Stelle zu ihren Insassen befragt, müssen sich also einer konkreten Anfrage gegenüber verhalten; die Anzeige zur Unfruchtbarmachung an das zuständige Erbgesundheitsgericht stellten die Ärzte und/oder Einrichtungsleiter von sich aus. Als Grund dafür kommt infrage, dass die Möglichkeit, diese bestimmte Person könnte sich, zu einem späteren Zeitpunkt, geschlechtlich fortpflanzen, ihre anormalen Erbanlagen weitergeben, für eine nicht akzeptable Vorstellung gehalten wird. Über weitere, gegebenenfalls ehrbarere Beweggründe für die Anzeige eines Zöglings beim Erbgesundheitsgericht, ließe sich trefflich spekulieren – Nachweise für solcherlei Motive liegen uns jedoch nicht vor. Zurück zum nachweislichen Sachverhalt, dem vorliegenden „Ärztliche[n] Gutachten (gemäß §4 Satz 2“ des GzVeN,376 maßgeblicher

374 Vgl. Bericht des Verwaltungsrats des Knabenrettungshauses Neinstedt vom 15. Juni 1937 an das Jugendamt Eisleben. 375 Vgl. Halbjahresbericht Juli-Dezember 1936 vom 31. Dezember 1936. 376 §4 „Der Antrag ist schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Erbgesundheitsgerichts zu stellen. Die dem Antrag zugrunde liegenden Tatsachen sind durch ein ärztliches Gutachten oder auf andere Weise glaubhaft zu machen. Die Geschäftsstelle hat dem beamteten Arzt von

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Teil des Antrages auf Unfruchtbarmachung von Zögling H. beim Erbgesundheitsgericht in Halberstadt. Das Gutachten des Neinstedter Anstaltsarztes, Dr. NOBBE, teilt sich in drei Abschnitte; der erste Teil: Angaben über die näheren Familienangehörigen umfasst drei Blätter, der zweite Teil, die Eigene Vorgeschichte des E. erhält Raum auf einem Blatt, während dem dritten Teil, dem Befund zur Ausführung, vier Seiten zur Verfügung stehen. Unter den Angaben über die näheren Familienangehörigen tauchen die Namen des Kindsvaters, „gestorben an Tuberkulose“ sowie der Kindsmutter, „verw. C., geb. D., wohnhaft in Ahlsdorf bei Mansfeld“ auf, über eine etwaige Blutsverwandschaft der Eltern ist dem Verfasser des Gutachtens „nichts bekannt“. Ebenso zur nächsten Frage „Sind bei Vater oder Mutter die im §1 Abs.2,3 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses genannten Krankheiten oder Zustände beobachtet worden oder sind sonstige körperliche oder geistige Leiden oder Abnormitäten erblicher oder nichterblicher Natur vorgekommen?“377 – „nichts bekannt“. Zur darauffolgenden Frage kann der Gutachter sich auf schriftlich vorliegende Informationen stützen, schließlich finden sich in der Akte des Zöglings die wesentlichen Dokumente seiner Unterbringung, so auch der Überweisungsbeschluss in Fürsorgeerziehung inklusive ausführlicher Begründung, oder das Merkblatt für die vorläufige Unterbringung vom Januar 1931. Entsprechend verweist die Antwort zur Frage „Sind in der Familie noch andere geistige oder körperliche Leiden oder Abnormitäten erblicher oder nichterblicher Natur vorgekommen) (z.B. Giftsüchtigkeit, Selbstmorde, Selbstmordversuche, auffallende Charaktere, verbrecherische oder asoziale Veranlagungen, Psychopathien, andere Geistes-

dem Antrag Kenntnis zu geben.“ GzVeN, GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934). 377 §1 (2): „Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Missbildung. (3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“ GzVeN, ebenda.

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krankheiten, Stoffwechselstörungen usw. (Welche und bei wem?)“ auf die Übermitteltheit des Aussage, deckt ihre Herkunft auf: „Mutter soll einen unsittlichen Lebenswandel führen, hat die Kinder verwahrlosen lassen, die deshalb 1930 in Fürsorgeerziehung kamen.“.378 Ob korrekt zitiert, verfälschend paraphrasiert oder nicht, das Verhalten der Mutter wird wiederholt zum Anlass genommen, es seinem Wesen nach auf pathologische Züge oder Elemente hin zu untersuchen. Bislang wurden diese „Wesenszüge“ der Mutter („unsittlicher Lebenswandel“, „Verletzung der Mutterpflichten“, mangelndes Verantwortungsgefühl“) argumentativ ins Feld geführt, um die Aufhebung der Fürsorgeerziehung oder zumindest eine vorzeitige Entlassung ihrer Kinder zu verhindern; nun geht es um nicht weniger, als die Schädigung familiären Erbguts nachzuweisen, eine genetische Anomalie sichtbar zu machen. Gemäß dem naturwissenschaftlich-positivistischen Wissenschaftsparadigma seiner Zeit, wonach der Nachweis eines Zustands, einer Entität (etwa einer Krankheit) über vorab definierte Kriterien erfolgt, benötigt der Akteur zum Nachweis des Nicht-Sichtbaren (krankes Erbgut) als Ursache des Sichtbaren (beobachtbarer und deshalb diagnostizierbarer Schwachsinn) eine entsprechende Technik. Vergleichbar etwa mit den Pionieren der Klinischen Photographie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Ziel und Hoffnung in der Sichtbarmachung eines kompletten Krankheitsbildes zu Lehr- und Erkenntniszwecken lag, versuchte man auch im 20. Jahrhundert, Krankheiten mittels klar definierter Symptome zu erkennen; etwa am Grad der Abweichung vom ermittelten Normwert.379 Fragebögen beispielsweise fanden eben-

378 Im Merkblatt für die vorläufige Unterbringung vom Januar 1931 heißt es: „Die Mutter führt einen unsittlichen Lebenswandel, die Kinder drohen bei ihr zu verwahrlosen“. Die Angabe den Zeitpunkt der Unterbringung in Fürsorgeerziehung betreffend ist falsch, der Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts Merseburg stammt vom 16. Januar 1931. 379 Der Begriff Normwert vereint geradezu paradigmatisch Normalität und Normativität: seine Herstellung, etwa über die Auswertung von Messdaten mit Hilfe statistischer Verfahren, vollzieht sich normalistisch, erfolgt nachträglich; die Ergebnisse einer Auswertung werden nicht normativ vorausgesetzt, die errechnete Norm ist dem Mess- und Errechnungsprozedere nicht vor-gängig. Statistische Verfahren wiederum vermögen,

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so Verwendung bei der Ermittlung kognitiven Leistungsvermögens wie Schulnoten; in Graphen ließ das Maß der Abweichung – und damit das Ausmaß der Erkrankung – sich anschaulich illustrieren. Im „blödsinnigen“ oder „stupenden“ Gesichtsausdruck eines Zöglings ebenfalls. Oder dem unsittlichen, Kindsvernachlässigung in Kauf nehmenden Lebenswandel einer Mutter. 380 Eine solche Visualisierungstechnik zum ,Erkennen‘ erblicher Belastetheit bringt des ärztliche Gutachten zur Sterilisationsanzeige in Anschlag. Über die Sichtbarmachung von Verdachtsmomenten, von Indizien und Spuren, erstellt der kriminalistische Ermittler eine Beweiskette, anhand derer seine These, etwa zum Tathergang, sich überprüfen lässt. Nicht anders verfährt im vorliegenden Fall der ärztliche Gutachter Dr. NOBBE; das Gutachten versucht, Verdachtsmomente zu Beweisen zu verdichten, aus denen die Richtigkeit, die Unabdingbarkeit der beantragten Unfruchtbarmachung, hervorgeht. Über den Antrag schließlich entscheidet in beiden Fällen ein Gericht, rechtskräftig, unter Verwendung der vorgebrachten Beweise. Das Erbgesundheitsgericht von der Plausibilität der Sterilisationsanzeige zu überzeugen, ist demnach vordringliche Aufgabe des ärztlichen Gutachtens; folgerichtig rekurrieren

mittels einer „spezifische[n] Produktivität [...] eine Umordnung von einer Normativität hin zu einer Normalität“, zeigen also an, beispielsweise an der Ausrichtung an einem Normwert, ob jemand „im Bereich des Normalen liegt bzw. lag, also als normal gelten kann.“ HANKE (2007), S. 31f., bezugnehmend u.a. auf LINK (1996). Zur normativen Wirkung hergestellter Normalität u.a. CANGUILHEM (1977), zu deren Verwendung etwa in der Risikoabschätzung WEIDEMANN (2011). 380 Die Suche nach dem „Sitz der Krankheit“ erübrigt sich bei einem solchen Vorgehen, es reicht, ihn in der fraglichen Person zu verorten; die Untersuchung erfolgt nicht primär unter dem Heilungsaspekt, sondern dient eher dem Zweck einer Handhabung des Problems, einer praktikablen Art der Schadensbegrenzung. Von daher führt der Gutachter, selbst wenn er dies in seiner Tätigkeit als Arzt erstellt, keinen „reinen“ medizinischen Blick, vielmehr ließe sich von einem kriminalistischen oder kriminologischen Blick sprechen, einem „Spurenlesen“; weniger angelegt auf die Möglichkeit von Heilung, Behandlung, Erziehung als viel eher um Auffinden von Wahrheit bemüht.

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die Angaben auf das Vorhandensein eines Sterilisationskriteriums beim Zögling. Im zweiten Teil des Gutachtens, der Eigenen Vorgeschichte des E., werden entsprechende „Belege“ aufgeführt. (Die beantworteten Fragen dieses Abschnitts sind im Folgenden samt Antworten aufgeführt.) Frage 1b: Wie war die geistige Entwicklung des (der) E. (Schulleistungen bzw. -erfolge Interesse an der Politik usw.)? Antwort: „Nach den Akten schon 1931 geistig zurückgeblieben. Charakterfehler und psychopathische Eigenschaften beobachtet.“ Frage 1e: Wie war die soziale Entwicklung des (der) E. (Berufsausbildung, Erfolge bzw. Misserfolge im Berufsleben)? Antwort: „Sehr ungünstige häusliche Verhältnisse.“ Frage 2: Entwicklung des Leidens, daß Anlaß zum Antrag auf Unfruchtbarmachung gibt (erstes Auftreten, Verlauf usw.)? Antwort: „Offenbar von Geburt an geistig zurückgeblieben.“ Wie bereits im ersten Teil des Gutachtens (Angaben über die näheren Familienangehörigen), handelt es sich bei den Antworten zur Vorgeschichte des E. um übermittelte, um vermittelte Angaben. Sie entstammen weder eigener Beobachtung noch Gesprächen des Gutachters mit dem Beurteilten, sondern sind selektiv der Akte entnommen und stellenweise „plausibel“ ergänzt worden. So findet sich in der gesamten Akte von H. keine Beschreibung seiner Person mit „psychopathischen Eigenschaften“; die Bezeichnung „Charakterfehler“ geht namentlich zurück auf den Direktor des Landesaufnahmeheims Osterburg, Pfarrer ALLIHN, der im Überweisungsschreiben an das Kinderheim „Samariterherberge“ Horburg vom 14. November 1931 wie folgt zitiert wird: „Bei dem Jungen sind außerdem nicht unerhebliche Charakterfehler zu Tage getreten, dazu gehören sein unkameradschaftliches, rechthaberisches und zänkisches Wesen, seine Verschlossenheit, Haltlosigkeit und Unselbständigkeit im Handeln, eine gewisse Gefühlsstumpfheit, die sich in Rohheit gegen seine Kameraden auswirkt, und eine nicht unerhebliche Neigung zur Unehrlichkeit.“

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Soweit die inhaltliche Fassung der „Charakterfehler“ des zum Zeitpunkt der Beschreibung Achtjährigen. Ohne Angabe des ursprünglich Gemeinten, unter Ausblendung des tatsächlichen Zwecks dieser Charakterisierung des Zöglings (Verlegung in ein anderes Erziehungsheim) sowie in Kombination mit dem Topos: „psychopathische Eigenschaften“, erhalten die „Charakterfehler“ in der Beschreibung von H.’s Vorgeschichte eine durchaus eigene Schlagkraft, eine regelrechte Eigendynamik. Zählt der Charakter doch, ebenso wie bestimmte körperliche Merkmale, zu den unveränderbaren, konstitutiven Dispositionen eines jeden Menschen. In der Beweiskette ein weiteres Indiz, ebenso wie die Vermutung: „Offenbar von Geburt an geistig zurückgeblieben“. Zwar ist diese Aussage bloße Behauptung, findet keinen expliziten Rückhalt in der Akte, gründet auf nichts als eine Vervollständigung des Bildes vom Zögling mit angeborenem Schwachsinn. Doch da in dessen Bildaufbau von Beginn an bereits mögliche Anzeichen für Schwachsinn eingearbeitet wurden, mittlerweile zwar von den deckenden Schichten neuerer Beschreibungen übertüncht, im Bild aber noch immer enthalten sind, spricht („seitens des Bildes“) gleicherweise auch nichts gegen eine solche Vermutung. Der dritte und letzte Abschnitt des Gutachtens widmet sich über vier Seiten schließlich dem Befund, unterteilt nach körperlichem und psychischem. Zum körperlichem Befund fragt der Untersuchungsbogen nach H.’s Allgemeinzustand, seinem Organbefund, Nervensystem, den Augen und den Ohren. Die diesbezüglichen Ergebnisse teilen mit, auf keine Besonderheiten gestoßen zu sein, die Untersuchungen der körperlichen Beschaffenheit von H. bleiben demzufolge mehrheitlich „o.B.“– ohne Befund. „Altersentsprechend entwickelter Knabe in genügendem Ernährungszustande. Keine hervorstechenden Entartungsmerkmale. Schädel: o.B., Kopfnerven: o.B., Hals, Thorax, Wirbelsäule: o.B., Herz und Lunge: o.B., Leib weich[,] nicht druckempfindlich. Geschlechtsteile altersentsprechend entwickelt. Sprache: o.B.“

Eine Ausnahme stellen die „neuropathischen Symptome“ dar, die auf die Frage zum Nervensystem angegeben werden („Ausser neuropathischen Symptomen kein organischer Befund.“) Der medizinischen Nomenklatur der Zeit entsprechend meint der Terminus: psychische Auf-

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fälligkeiten; da diese aber ohnehin zum Befundbild bei Zögling H. zählen, und Teil der Unfruchtbarmachungsbegründung sind, erfahren sie an dieser Stelle keine weitere Ausführung; für diesen Zweck ist der nächste Abschnitt des Gutachten vorgesehen, die explizite Beschreibung der psychischen Befunde. Auch die Fragen zum psychischen Befund nähern sich dem Gegenstand des Interesses konzentrisch an; so wird unter dem ersten Punkt dieses Abschnitts H.’s Allgemeines Verhalten (zugänglich, freundlich, misstrauisch, ablehnend) abgefragt; in der Antwort taucht erneut die vermeintlich gegenstandseigene Dialektik auf: das heikle Verhältnis von Sichtbarkeit und Wesenhaftigkeit. „Der ruhig und nicht entartet erscheinende Knabe wird als träge[,] zum Teil zänkisch und rechthaberisch geschildert.“ In dem klaren Verweis auf die fehlende Glaubhaftigkeit des äußeren Scheins, gelangt erneut die bereits beschriebene Visualisierungstechnik zur Anwendung, wenn auch bei dieser Antwort die Vorzeichen vertauscht sind; galt es, zum Nachweis angeborenen Schwachsinns, die per se nicht beobachtbare „erbliche Belastetheit“ sichtbar werden zu lassen, weist das Gutachten an dieser Stelle vernehmlich darauf hin, dem äußeren Anschein, der Sichtbarkeit, der optischen Zugänglichkeit auf keinen Fall arglos zu begegnen, nicht zu schnell Rückschlüsse vom Erscheinen eines Menschen auf dessen Wesen zu ziehen. Vergleichbar skeptisch fällt auch die Antwort zur nächsten Frage aus. Frage 2: Stimmungs- und Affektlage (Stumpf, gleichgültig, läppisch, traurig, ängstlich, ratlos, entschlusslos, heiter, albern, zornig, sexuell-zudringlich). Antwort: „Grobe Anomalien der Stimmungs- und Bewusstseinslage sowie der Willenssphäre bestehen nicht.“. Die Antwort schließt das prinzipielle Vorhandensein von affektiven und emotionalen Regelwidrigkeiten keineswegs aus, hebt vielmehr hervor, dass die Erkennbarkeit der Anomalie lediglich durch das geringe Maß ihrer Ausprägung erschwert wird. Diese „Erkenntnisstrategie“, nach welcher erkennbare Merkmale als Krankheits-Zeichen Verwendung finden, nicht oder nur schwach ausgeprägte Merkmale ihrem möglichen Verweischarakter auf eine Krankheit entsprechend berücksichtigt werden, während merkmalsuntypische Positivitäten kein ausreichender Beleg für die Nichtanwesenheit von Krankheit sind, setzt sich im Verlauf des Gutachten fort. Nachdem der nächste Punkt, 3. Auffälligkeiten zur Willenssphäre bereits mit dem Hinweis auf das fehlende Vorhandensein „grober

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Anomalien“ abgehandelt wurde, widmet das Gutachten sich nun ausführlich dem Aufführen und Anführen von Schwachsinns-Indizien. In den gemeinsam bearbeiteten Punkten 4. Bewusstseinslage und 5. Gedankenablauf werden die bisherigen Untersuchungsresultate sowohl bestätigt, als dem abschließenden Befund gleichsam vorgegriffen. Der Verweis auf die Verwendung eines Fragebogens als objektives Instrumentarium zum Krankheitsnachweis, versieht das sich abzeichnende Ergebnis mit zusätzlicher Evidenz, schließlich galten zählbare Daten bereits vor 75 Jahren als höchsteffektives Beweismittel, nicht nur auf (natur-)wissenschaftlichem Feld. „Nach dem anliegenden Fragebogen ist er zweifelsohne als schwachsinnig leichten Grades zu bezeichnen.“381 Diese Schlussfolgerung mit den anschließenden Ausführungen treibt nicht nur das Vorhaben des Schwachsinns-Beweises an H. voran, sondern ermöglicht auch den Schluss, der Adressat des Gutachtens, in diesem Fall das Erbgesundheitsgericht Halberstadt, möge sich mit den nachweistechnischen Einzelheiten nicht unnötig aufhalten, die Auswertungsarbeit der Erhebungsinstrumente sei bereits vom Gutachter Dr. NOBBE selbst erledigt worden. Zwar lassen sich die – nachweislich befriedigend bis guten – schulischen Leistungen des Zöglings nicht unterschlagen, können nach Meinung des Arztes NOBBE jedoch nicht als Indiz gegen H.’s vermutlich schadhaften Intellekt verwendet werden, weshalb diesbezügliche Anzeichen nachfolgend aufgeführt werden. „Er verfügt zwar über die nötigsten Schulkenntnisse, hat jedoch kein weiteres Gesichtsfeld, zeigt offenbar wenig Anteilnahme über seine nächste Umgebung hinaus und verfügt nur über primitive und konkrete Begriffe, während auch sein Schluss und Urteil nur grob praktisch genügend ist.“

381 In der Akte von H. findet sich der erwähnte Fragebogen jedoch nicht; es kann davon ausgegangen werden, dass er beim Erbgesundheitsgericht verblieb. Aus der Aktenlektüre anderer Zöglinge, sowie von Akten des Erbgesundheitsgerichts, lässt sich allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einen standardisierten Intelligenztest schließen, welcher auch bei der Begutachtung von H. Verwendung fand. Vgl. Intelligenzprüfungsbogen innerhalb der Ausführungsverordnung zum GzVeN. GzVeN, GÜTT/ RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 76ff.

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Der Nachweis mangelhafter sprachlicher Kompetenz und unzureichend ausgeprägten Abstraktionsvermögens beschließen schließlich auch die Beweisaufnahme zur proklamierten Erfordertheit einer Sterilisationsoperation. „Neben der Begriffsbildung ist auch die Symbolbildung sehr primitiv, wie aus seiner Sprichworterklärung hervorgeht. Das Sprichwort: ‚Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein‘ erklärt er beispielsweise: ‚da darf man sich nicht so nahe heranstellen.‘ Aus allen diesen Beobachtungen geht hervor, dass sein Intellekt als defekt bezeichnet werden muss.“

Nachdem damit das Vorhandensein eingeschränkten geistigen Vermögens als Tatsache belegt ist, fehlt nur noch ein Beweis seiner Ererbtheit. In den beiden letzten Punkten des Gutachtens, abschließende Diagnose und Begründung, fasst der Gutachter seine bisherigen Untersuchungsergebnisse nochmals zusammen und – strauchelt. Der beweistechnische Bogenschlag vom fehlenden Abstraktionsvermögen des Zöglings hin zum angeborenen Schwachsinn bei selbigem, gelingt keineswegs so problemlos wie noch die Anhäufung der Nachweisindizien, sondern erfordert einiges an hermeneutischem Geschick. Dazu bedient der Gutachter sich einer formal transparenten Vorgehensweise, indem er tatsächlich Nachgewiesenes und lediglich Vermutetes sichtbar präsentiert und zueinander in Stellung bringt. „Aus obigem geht zweifelsfrei hervor, dass eine Debilität vorliegt, jedoch nicht ohne weiteres, dass dieser Schwachsinn angeboren sein muss. Über die Ascendenz des Knaben ist fast nichts bekannt. Anzunehmen ist, dass die Mutter eine Psychopathin ist, jedoch steht dieses nicht ganz sicher fest. Jedenfalls lassen sich soziale Schädigungen äusserer Art nicht ganz ausschließen. Äussere Entartungserscheinungen fehlen bei dem wohlgebildeten Knaben fast ganz.“382

Der Schwachsinn bei H. steht als Tatsache im Raum, sein Zustandekommen dagegen noch immer in Frage. Da er aber nur erworben oder

382 Ascendenz: Verwandtschaft in aufsteigender Linie, genealogische Beziehung, meint „Erbgesundheit“ des Kindsvaters. Psychopathin: „geistig Abnorme, wenn auch nicht Geisteskranke, bes. infolge erblicher Anlage“ GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 237. „Wohlgebildeten Knaben“ meint die Ausbildung der äußeren Erscheinung.

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vererbt sein kann, für beide Varianten jedoch eindeutige Beweise fehlen, lediglich Indizien vorliegen, entscheidet sich das Gutachten, schließlich der Ererbtheit den Vorzug zu geben; nicht aufgrund einer erdrückenden Beweislast – vielmehr auch deshalb, weil der gesamte Antrag des Direktors des Neinstedter Erziehungsheims auf Unfruchtbarmachung eines „seiner“ Zöglinge mit einem anderen Ergebnis als angeborenem Schwachsinn hinfällig wäre, und das ärztliche Gutachten Dr. NOBBES ebenfalls. Wozu jemanden wegen Erbkrankheit zur Unfruchtbarmachung anzeigen, wenn nicht einmal die anzeigende Partei selbst von der Richtigkeit dieses Vorgangs sowie der begründeten Aussicht auf Erfolg überzeugt ist? Entsprechend kommt das die Anzeige begründende Gutachten zu dem Schluss, dass es sich der – nach Logik des Ausschlussverfahrens einzig möglichen – ärztlichen Diagnose nicht verschließen könne: der Angeborenheit des Schwachsinns bei Zögling H. „Da jedoch für eine Erwerbung des Schwachsinns keine Anhaltspunkte bestehen, oder wenigstens nicht in den Akten angegeben sind, so muss geschlossen werden, dass der Schwachsinn, der sich offenbar auch schon in frühester Jugend gezeigt hat, als angeboren anzusehen ist.“

Und ganz so, als wäre das schlussendliche Erreichen desjenigen, das gesamte Untersuchungsverfahren lang angestrebten Zieles, weniger das Resultat einer geschickten Verwendung von vorhandenen Aktenaufzeichnungen und eigenen Untersuchungsergebnissen als „Indizien“ und „Beweise“, sondern vielmehr ein autonomes Zutage-Treten der Wahrheit, gleichsam aus eigener Kraft, kommentiert der letzte Satz des Dokuments das persönlich herbeigeführte Resultat eher kleinlaut. „Demzufolge müsste der Knabe als erbkrank im Sinne des Gesetzes angesehen werden.“ Eine wenig geschickte Leseanweisung an die Adresse des Erbgesundheitsgerichts, die im Gutachten aufgeführten Anzeichen ebenfalls als Beweise für das Vorhandensein des benannten Sterilisationsgrundes zu bewerten? Oder Ausdruck fehlender Zustimmung zur Sterilisationsanzeige überhaupt? Die Dokumente der Zöglingsakte bleiben die Antwort darauf schuldig.

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Nachdem die Sterilisationsanzeige am 25. August 1937 samt ärztlichem Gutachten die Neinstedter Anstalten in Richtung Erbgesundheitsgericht Halberstadt verlassen hat, geht am darauffolgenden Tag ein weiteres Schreiben auf den Weg, in welchem die Anstaltsleitung um Klärung der Kostenübernahme im Fall einer Unfruchtbarmachungsoperation bittet. Die Anfrage vom 26. August ist adressiert an die Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg, sowie „an den Herrn Amtsarzt Quedlinburg“. Am 8. September geht, dem Eingangsstempel zufolge, das Antwortschreiben aus Merseburg in Neinstedt ein; Behördenmitarbeiter HESSE teilt darin mit, „dass die Operations- und Krankenhauskosten von [ihm] übernommen werden“, und meint damit sicher „seine“ Behörde. Beschluss des Erbgesundheitsgerichts Das nächste Dokument in der Zöglingsakte ist datiert auf den 3. November 1937, adressiert „an den Herrn Direktor der Neinstedter Anstalten“, und stammt vom Erbgesundheitsgericht Halberstadt. Überschrieben mit „Beschluss“, weist es einen Umfang von 29 Zeilen auf, maschinegeschrieben, auf welchen das Ergebnis des Antrages auf Unfruchtbarmachung des Zöglings H. vom 25. August 1937 mitgeteilt wird. Unterteilt in drei Abschnitte, führt das Beschlussdokument zuerst die Teilnehmer der entscheidenden Sitzung des Erbgesundheitsgerichts auf, teilt anschließend den Beschluss dieses Gremiums mit und führt als Letztes die Gründe für sein Zustandekommen auf und aus. „Das Erbgesundheitsgericht in Halberstadt hat in seiner Sitzung am 16. Oktober 1937 in Neinstedt, an der teilgenommen haben: Amtsgerichtsrat Greim, als Vorsitzender Komm. Amtsarzt Dr. Meyer in Halberstadt, als beamteter Arzt, prakt. Arzt Dr. med. Frese in Quedlinburg, als nicht beamteter Arzt, beschlossen: Der Antrag des Direktors der Neinstedter Anstalten, den Jugendlichen [H.], geb. am 12.2.1923 in Eisleben, wohnhaft in den Neinstedter Anstalten, Sohn der Ehefrau [...], geb. [...] in Ahlsdorf unfruchtbar zu machen, wird abgelehnt. Die gerichtlichen Kosten des Verfahrens trägt die Staatskasse. Gründe:

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Die Mutter des [H.] ist wohl als eine psychopathische Persönlichkeit zu betrachten, doch hat sich sonst in erbbiologischer Hinsicht nichts bemerkenswertes feststellen lassen. Wenn auch bei dem [H.] einige Lücken in intellektueller Hinsicht zu verzeichnen sind, so dürften diese doch mit der weiteren Entwicklung noch ausgeglichen werden. Angeborener Schwachsinn im Sinne des Gesetzes liegt nicht vor. Der Antrag war daher abzulehnen. Die Kostenentscheidung erfolgt aus § 13 a.a.O. gez. Greim

gez. Meyer

gez. Frese

Ausgefertigt: Halberstadt, den 3. November 1937“

Unterschrieben vom Justizsekretär, „Urkundsbeamter der Geschäftsstelle“ des Erbgesundheitsgerichts in Halberstadt, verwirft der Beschluss des Gremiums in zwei Sätzen die Nachweiskonstruktion für H.’s erblichen Schwachsinn, demontiert die Beweisführung des Anstaltsarztes Dr. NOBBE, und stellt den gezogenen Schluss („Demzufolge müsste der Knabe als erbkrank im Sinne des Gesetzes angesehen werden.“)383 schlichtweg als falsch dar. Dass es sich beim angezeigten Schwachsinn von Zögling H. um einen angeborenen Schwachsinn handeln können soll, da sich für eine Erworbenheit desselben außer Vermutungen keine verwendbaren Belege finden lassen, überzeugt die Verantwortlichen nur unzureichend, doch nicht nur das; die Diagnose: Schwachsinn bei H. wird grundsätzlich in Frage gestellt. Die dem Gericht vorgelegte Darstellung des Zöglings, seines Verhaltens und seiner Entwicklung, lässt ebenso den Schluss zu, es handele sich um einen in seiner Entwicklung möglicherweise punktuell retardierten, ansonsten aber durchaus gesunden Jungen. Da weder die Mutter nachweislich „erbkrank im Sinne des Gesetzes“384 ist, noch ihr Sohn überhaupt mit Sicherheit schwachsin-

383 Ärztliches Gutachten zur Begründung der Anzeige zur Unfruchtbarmachung von Zögling H. vom 25. August 1937, Blatt 8, dort Z.25-27. 384 §1 Abs.2 GzVeN. GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 56, sowie Ausführungsverordnung auf S. 82: „Zu §1 Abs.1: 1. Erbkrank ist, wer selbst, persönlich, ein Leiden (eine Krankheit, einen Defekt, einen krankhaften Zustand, eine Mißbildung) im Sinne dieses Gesetzes besitzt oder einmal an einer der im §1 genannten Krankheiten gelitten hat, deren Anlage nachgewiesenermaßen sich nach

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nig zu nennen ist, sieht das prüfende Gremium weder grundsätzlichen Anlass noch rechtliche Handhabe, dem Antrag auf Unfruchtbarmachung seine Zustimmung zu erteilen. Zum anderen lässt sich die Ablehnung des Antrags lesen als Beleg für die tatsächliche Erfüllung einer der Funktionen des Erbgesundheitsgerichts, die Überprüfung „der Vererbungswahrscheinlichkeit von Fall zu Fall“.385 Ohne dem Sterilisationsgesetz auch nur im entferntesten das Wort reden zu wollen, lässt sich die ablehnende Entscheidung darüber hinaus lesen als Faktum, dass es nicht bloß möglich war, sondern auch Anwendung fand, beantragte Unfruchtbarmachungen abzulehnen. Und zwar nicht unter Umgehung oder Verstoß gegen die herrschende Rechtslage, sondern unter strikter Einhaltung des Gesetzes. Die Ausführungsverordnung zu eben diesem Gesetz verweist auf die Herausforderungen an den Diagnostizierenden, „Angeborenheit des Schwachsinns“ gegen „früh erworbenen Schwachsinn“ klar voneinander abzugrenzen, gerade bei nur leichten Ausprägungsgraden, betont dennoch die Notwendigkeit eben jener Differenzierung. „Die Angeborenheit des Schwachsinns hinsichtlich der zeitlichen Konstatierbarkeit ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen. Leichte bis mittlere Grade lassen sich nicht schon bei der Geburt, sondern erst im Laufe der ersten Kindheit feststellen. Gewöhnlich ist der Schwachsinn allerdings schon in einem früheren

irgendeiner dominanten oder rezessiven Form der Mendelschen Erbgesetze vererbt [...], oder deren Anlage nach sonstigen systematischen erbprognostischen Untersuchungen an einer großen Zahl von kranken Familien als zweifellos erblich übertragbar erwiesen ist [...] oder die in einer einzelnen bestimmten Familie schon einmal bei Verwandten sich sichtbar zu einem abnormen Zustande entwickelt hat (s. Schrifttum und beachte die erblichen Belastungsverhältnisse in den Familien der zur Unfruchtbarmachung zu Beantragenden selbst). Einer der Nachweise genügt.“ 385 Ausführungsverordnung des GzVeN: „Zu §5: 1. Die Erbgesundheitsgerichte werden die Vererbungswahrscheinlichkeit von Fall zu Fall nachzuprüfen haben und nur dann die Einwilligung zum Eingriff geben, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß die Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden und die Voraussetzungen des § 1 Abs.2 und 3 wie auch Art. 1 Abs. 1 zutreffen.“ GzVeN. GÜTT/ RÜDIN/ RUTTKE (1934), S. 144.

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Stadium in Entwicklung begriffen oder vorhanden, als er konstatierbar ist. Inwiefern in Einzelfällen ein solcher als früh erworben erscheinender Schwachsinn auch noch zum angeborenen Schwachsinn unseres Gesetzes zu zählen ist oder nicht, hängt lediglich davon ab, ob erbliche Ursachen in der Familie nachzuweisen bzw. äußere auszuschließen oder aber äußere Ursachen allein positiv nachzuweisen sind.“386

Die Überprüfung des ärztlichen Gutachtens und dessen Diagnosebegründung fällt dem Erbgesundheitsgericht zu; im Zweifelsfall sollen weitere Ermittlungen angestellt, etwa der zuständige Amtsarzt (im vorliegenden Fall in Quedlinburg) mit einer eigenen Expertise beauftragt oder zuvor mit dem Angezeigten „befasste“ Behörden und Institutionen um konkrete Informationen angefragt werden. „Das Erbgesundheitsgericht wird zwar die bereits in § 4 des Gesetzes vorliegenden Tatsachen oder beigebrachten Beweismittel benutzen, aber es kann auch noch weitere Vorgänge, Untersuchungsergebnisse, Gutachten oder familienkundliche Ermittlungen anstellen. Dies wird besonders dann notwendig sein, wenn die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Unfruchtbarmachung zweifelhaft sind oder wenn die Umstände des Falles dies erfordern. Dabei wird das Erbgesundheitsgericht sich in erster Linie des Rates und der Hilfe des zuständigen Amtsarztes bedienen und zunächst dessen Gutachten einholen, wenn dasselbe noch nicht vorliegt. Außerdem ist es aber nach dem Wortlaut des § 7 vor allen Dingen auch verpflichtet und berechtigt, von sich aus die notwendigen Ermittlungen anzustellen. Es wird also gegebenenfalls außer der Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen Anfragen an Krankenanstalten jeder Art wie an Gerichts- und Verwaltungsbehörden zu richten haben, wenn dies zur Klärung etwaiger Aussagen, Gutachten oder Befunde erforderlich sein sollte.“387

Erläuterungen wie diese, aus der Ausführungsverordnung zur Anwendung des sogenannten Sterilisationsgesetzes absatzweise zitierten, legen den Schluss nahe, hinsichtlich des Zustandekommens der An-

386 Ausführungsverordnung des GzVeN zu §1 Abs.2, „Angeborener“ und „früh erworbener“ Schwachsinn, GzVeN. GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 95f. 387 Ausführungsverordnung des GzVeN zu §7, GzVeN, GÜTT/RÜDIN/ RUTTKE (1934), S. 149.

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tragsentscheidung über Unfruchtbarmachung habe der Gesetzgeber388 durchaus Wert gelegt auf die sorgfältige Prüfung jedes einzelnen, zur Unfruchtbarmachung angezeigten Falls. Wurde auch die Gruppe derjenigen, auf die das Gesetz ausgerichtet ist, faktisch weniger nach rein wissenschaftlichen Kriterien zusammengestellt – obgleich das „Erfordernis“ des Gesetzes wissenschaftlich begründet wird389 – und das Kriterium „Erbkrankheit“ von daher für das Gesetz eigens neu gefasst (erbkrank im Sinne des Gesetzes ist...), duftet es bei dessen empfohlener Anwendung deutlich nach Rechtsstaatlichkeit; schließlich handelt es sich um ein Gesetz, welches zwar das Bürgerrecht auf körperliche Unversehrtheit außer Kraft setzt, die Anwendung dieser Ausnahme von der Regel mit strengen Kriterien und Sicherungsmechanismen versieht, um beispielsweise einem Anwendungs- oder „Entscheidungs“-Automatismus weitgehend vorzubeugen.390 Die Zahl der bis Ende 1937 in Deutschland vorgenommenen Unfruchtbarmachungen wiederum lässt mehr als nur Zweifel an der Sorgfaltswaltung bei der Prüfung der Sterilisationsanzeigen aufkommen;

388 Zum Zustandekommen des GzVeN: BENZENHÖFER (2006). 389 „So ist es denn auch nicht ohne Bedeutung, daß das vorliegende deutsche Gesetz [GzVeN, Anm.d.V.] im Ausland sowohl in wissenschaftlicher wie in politischer Hinsicht außerordentliche Beachtung und im Allgemeinen sogar Zustimmung gefunden hat; denn die deutschen Maßnahmen der gesetzlich geregelten Unfruchtbarmachung erbkranker Personen sind durch die gewonnenen Erkenntnisse der Erblehre und Auslese begründet, indem sie sich auf die Ergebnisse der Erblichkeitsforschung wie andererseits auch auf das Können der deutschen Chirurgie zur Erreichung des Zieles stützen.“ Einführung zum GzVeN, GzVeN. GÜTT/RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 13 390 Das unbestimmte Verhältnis von rechtsstaatlichen Markierungen im (z.B. nationalsozialistischen) Unrechtssystem, gestaltet den Umgang mit Unrechtsbelegen, wie der gesetzlich erlaubten Körperverletzung angezeigter und für erbkrank befundener Personen, deutlich weniger einfach, als eine verantwortungsethisch ausgerichtete Sichtweise es sich wünschen würde. Diese Hindernisse auf dem Weg zu rascher, wenn nicht Urteilsfindung, dann doch sogenannter Erkenntnis, finden sich nicht nur im Umgang mit der Geschichte (Genese, Verabschiedung, Anwendung, Rezeption) des sogenannten Sterilisationsgesetzes in Deutschland.

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laut ARTHUR GÜTT, „Schöpfer“391 und Mitverfasser des Zwangssterilisationsgesetzes, wurden innerhalb der ersten vier Jahre seit Inkrafttreten des Gesetzes 220.000 Personen auf operativem Weg zeugungsunfähig gemacht.392 Bei der Bearbeitung der Anzeige für Zögling H. durch das Erbgesundheitsgericht in Halberstadt im Oktober desselben Jahres, scheint solch flächendeckend sterilisationsaffirmativer „Entscheidungs“-Automatismus nicht zur Anwendung gekommen zu sein. Zweifeln an der Berechtigtheit der geforderten Unfruchtbarmachung wurde erforderlicher Raum eingeräumt, dergestalt, ihnen nachgehen, zusätzliche Informationen einzuholen zu können – nach der Ausführungsverordnung des Gesetzes zu müssen –, um sich vom angezeigten Fall letztlich ein eigenes Bild zu machen, ein eigenes Urteil zu finden. Dieser Punkt ist ein entscheidender, stand das Urteil über Zustimmung oder Ablehnung der beantragten Unfruchtbarmachung im alleinigen Verantwortungsbereich des Erbgesundheitsgerichts bzw. des verantwortlichen Gremiums. Es bestimmte über das erforderliche Maß an Entscheidungshilfen, über die Zahl an einzuholenden Informationen, über die Schlüssigkeit in der Argumentation der Anzeigenbegründung, über die Zukunft des Angezeigten. Deutlich mehr als beispielsweise noch der Verfasser des ärztlichen Gutachtens zur Begründung der Anzeige, Dr. NOBBE, erwiesen sich die „Entscheider“ des Erbgesundheitsgerichts als Verantwortungsträger. Ihr Votum konnte lediglich – im Beschwerdefall gegen das Urteil nach § 9 GzVeN – noch vom Erbgesundheitsobergericht erneut überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden.393 Doch ebenso wie der zuständige Arzt der „Neinstedter Anstalten“, fällten auch die Mitglieder des Erbgesundheitsgerichts ihre Entscheidung anhand überlieferter Informationen, sprachlicher Darstellungen, mündlicher und schriftlicher Antworten auf konkrete Fragen. Wann zeigte sich sein Schwachsinn zum ersten Mal? Wurden seine Eltern

391 Reichsinnenminister WILHELM FRICK (1877-1946) über GÜTT (18911949), vgl. BENZENHÖFER (2006), S. 62. 392 Vgl. BENZENHÖFER (2006), S. 7. 393 „Das Beschwerdegericht hat die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut zu prüfen; [...]. Mit der Beendigung des Verfahrens vor dem Erbgesundheitsobergericht ist das Verfahren abgeschlossen, denn dieses entscheidet endgültig.“, Ausführungsverordnung des GzVeN zu §7, GzVeN. GÜTT/ RÜDIN/RUTTKE (1934), S. 159.

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oder Großeltern oder Geschwister wegen schwachsinniger Verhaltensweisen auffällig? Lässt sich das, was wir über Erbkrankheiten (im Sinne des Gesetzes...) wissen, in das Bild integrieren, welches wir vom Angezeigten erzeugt bekommen? Passt die Geschichte des angezeigten Zöglings in die (proto-)typischen Erzählungen von vererbtem Schwachsinn? Erweist sich die bisherige Geschichte des Zöglings als nicht oder nur bedingt anschlussfähig an die Erzählungen vom Schwachsinnigen, gilt es für das Erbgesundheitsgericht zu entscheiden, ob es Nachforschungen nach weiteren Indizien für ein (möglicherweise verstecktes) Vorhandensein von Schwachsinn betreiben soll oder die, nach vorgelegten und ausgewerteten Unterlagen, Nicht-Passung von Soll und Haben bereits als Entscheidungsergebnis verwenden soll. Wenngleich auch der Grad der anzustellenden Nachforschungen Praktikabilitätskriterien unterworfen ist, („Es ist aber nicht Aufgabe des Erbgesundheitsgerichts, sämtliche Angehörigen festzustellen, um etwaigen Erfordernissen der wissenschaftlichen Forschung zu genügen, sondern es wird die Feststellung auf das unbedingt notwendige Maß beschränken, wenn die Unterlagen für die Entscheidung des einzelnen Falls ausreichen.“),394 erweisen sich weitergehende Erkundigungen im Fall H. als nicht nötig. Der Antrag wird einstimmig abgelehnt, das Beschlussdokument lässt keinen Zweifel an Berechtigtheit und Richtigkeit der Entscheidung erkennen. Auch von Seiten der antragstellenden Partei, dem Leiter des Knabenrettungsheims „Lindenhof“ in Neinstedt, Hausvater KLEIN, sind in der Akte des Zöglings H. keinerlei Vorgänge vermerkt, die auf einen Widerspruch oder eine Beschwerde gegen den gefällten Beschluss des Erbgesundheitsgerichts hindeuten. Exkurs zur Kontingenz Eine letzte Frage, wenngleich sie hypothetischer Natur ist, soll die Thematik der angezeigten Unfruchtbarmachung von Zögling H. abschließen: Wenn man ihn seitens der Heimleitung tatsächlich für schwachsinnig hielt, wäre er dann, seinen weiteren Heimaufenthalt

394 Ausführungsverordnung des GzVeN zu §7, GzVeN. GÜTT/RÜDIN/ RUTTKE (1934), S. 149.

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vorausgesetzt, nach 1938, zusammen mit Pfleglingen und einigen Zöglingen der „Neinstedter Anstalten“ „verlegt“ worden?ȱ 395 Den Ergeb-

395 Nach „offiziellen“ Angaben der „Neinstedter Anstalten“ (Vorsteher Pfarrer JÜRGEN WIEGGREBE), wurden im September 1938 erstmals Anstaltsbewohner „verlegt“, 73 Männer und Frauen in die „Landesheilanstalt Jerichow“. Diese erste „Verlegung“ markiere „den Beginn der Verlegungen von geistig Behinderten Neinstedter Bewohnern in staatliche Einrichtungen, die zum ‚Einzugsbereich‘ der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg gehörten. Es folgten dann zunächst in größeren und schließlich in kleineren Zeitabständen Abtransporte nach Altscherbitz und Uchtspringe.“ WIEGGREBE in HOFFMANN (2001), S. 64. Auch der Internetauftritt der „Neinstedter Anstalten“ nennt Zahlen von verlegten Insassen: „In der Zeit von 1938 - 1943 erfolgte die Zwangsverlegung von 744 Bewohnern der Neinstedter Anstalten in staatliche Einrichtungen. Diese Einrichtungen gehörten zum Einzugsgebiet der Landesheil- und Pflegeanstalt Bernburg, einer der sechs „Euthanasie“-Anstalten im Deutschen Reich, in denen psychisch kranke, behinderte und pflegedürftige Menschen ermordet wurden“. Quelle: http://www.neinstedter-anstalten.de/geschichte. Dass neben den Pfleglingen (Bewohnern mit Behinderung) auch Zöglinge von den „Verlegungen“ betroffen waren, geht aus den Selbstdarstellungen der Einrichtung nicht hervor. Die von JENNER und KLIEME 1997 herausgegebene Übersicht: Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und Einrichtungen der Inneren Mission weist darüber hinaus darauf hin, dass es neben den „Abtransporte[n] im Rahmen der Aktion ‚T4‘ [...] außerdem [zu] Verlegungen aus dem Erziehungsheim Lindenhof“ gekommen sein muss. Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen und Einrichtungen der Inneren Mission (1997), S. 142. Die zum Zweck der vorliegenden Untersuchung gesichteten und ausgewerteten Zöglingsakten konkretisieren diesen Hinweis dahingehend, dass von 64 Zöglingen, in Neinstedt aufgenommen zwischen 1930 und 1945, allein 18 „verlegt“ worden sind; 15 nach Uchtspringe, zwei nach Altscherbitz, und einer nach Görden (Brandenburg). Einige der Zöglings„Verlegungstermine “ stimmen mit denen überein, die in der Übersicht als ‚T4‘-„Abtransport-Daten“ genannt werden. Der ehemalige Vorsteher der „Neinstedter Anstalten“, Pfarrer ROLF LÖFFLER, macht im Manuskript zu seinem Referat, „wie es [in den 1990er Jahren] in Lobetal gehalten“ wurde, geltend, dass Verlegungen von Neinstedter Zöglingen, beispiels-

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nissen einschlägiger Untersuchungen zur „Verlegung“ von Heiminsassen im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Ermordungsprogrammen zufolge, „verlegten“ oder „entließen“ die Beteiligten in der überwiegenden Zahl der Fälle Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in sogenannte Zwischenanstalten; die untersuchten Neinstedter Zöglingsakten belegen jedoch, dass an den Tagen solcher „Abtransporte“ auch Zöglinge „verlegt“ wurden. Die Angaben zu „verlegten“ Zöglingen des „Evangelischen Mädchenheims“ in Bernburg, wonach „56 Zöglinge des Heimes am 12.1.1942 nach vorheriger Sterilisation nach dem Landeskrankenhause Pfafferode bei Mühlhausen und 10 Zöglinge am 15.1.42 nach der Heilanstalt Uchtspringe in der Altmark verschickt [...]“396 wurden, und mehrheitlich die genannten Anstalten lebend nicht wieder verließen, stützten die

weise nach Uchtspringe, durchaus verschiedene Schlüsse und Interpretationen zuließen; so wären Personalakten „nur wenig aussagefähig. Dort sind zwar ab 1939 öfter Verlegungen nach Uchtspringe erkennbar. Aber der Landes-Heilanstalt Uchtspringe war in jener Zeit offenbar auch eine Fürsorge-Erziehungs-Abteilung angegliedert, die offenbar unter dem Namen der LHA firmierte. [Außerdem] gab es innerhalb der ganzen Fürsorge-Erziehung, durch staatliche Behörden gelenkt, sehr viel Bewegung: [...].“ Diese Dynamik macht den Angaben von Pfarrer LÖFFLER zufolge „eine Übersicht unmöglich, wurde ein Zögling der Fürsorgeerziehung nach Uchtspringe versetzt – und nur diese eine Anstalt ist genannt –, so ist sein Aktenstück mitgeschickt worden. Zurück blieb lediglich der Aktendeckel mit entsprechendem Vermerk. [...]“ Zumindest die letzte Aussage stimmt mit den Untersuchungserfahrungen im ,Keller-Archiv‘ der „Neinstedter Anstalten“ überein. Der folgende Satz des ehemaligen Vorstehers der Einrichtung nährt wiederum Zweifel an dessen eigener Darstellung, die „Verlegungen“ von Zöglingen, zwischen 1938 und 1945, beispielsweise nach Uchtspringe, seien aus den vielfältigsten Gründen und mit vielfältigsten Resultaten erfolgt. „Ob solche Zöglinge dann einzeln oder mehrheitlich dem Euthanasie-Mord zum Opfer fielen, ist nicht erkennbar.“ Alle Zitate: LÖFFLER, Manuskript S. 11. 396 Aus dem Kuratorium Mädchenheim, Bernburg überschriebenen Brief des Stadtrats TREBING vom 22.9.1947 „an die Landesregierung SachsenAnhalt, Minister für Arbeit und Sozialpolitik, Abt. Volksbildung, z.Hd. Frau ORR.Wölk, Halle/Saale“, Akten der „Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis“ Bernburg.

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Annahme, dass durchaus auch Zöglinge aus Erziehungsheimen in den Tod geschickt wurden. Weshalb dann dieser Exkurs, wenn Zögling H. doch weder zeugungsunfähig gemacht noch an einem ‚T4-Tag‘ in eine andere Einrichtung „verlegt“ wurde? Nun, der gedankliche Ausflug dient an dieser Stelle – sowie als grundsätzliches Anliegen für die gesamte Untersuchung – dazu, auf die Dünnhäutigkeit jener Membran hinzuweisen, die Mögliches von Tatsächlichem trennt. Dass das Arrangement von einzelnen, a priori unverbundenen Geschehen in per definitionem „Geschehens“-Darstellungen immer auch Kontingenzen vernachlässigt, lässt sich noch ohne Aufregung als mehrheitlich typische Eigenheit erzählender Darstellungen fassen. Die meisten solcher Darstellungen wären ohne ihren Gebrauch ebenso verloren wie ihre Nutzer, müssten sie auf Geschlossenheit und Folgerichtigkeit innerhalb des Erzählten verzichten. Unlängst erwähnte ein Gesprächspartner den Terminus Suspendierung von Kontingenzen – je länger die Untersuchung der Zöglingsakten andauert, umso mehr verdichtet und verfestigt sich der Verdacht, Kontingenzen hätten einen kaum zu unterschätzenden Stellenwert innerhalb institutioneller Ereignis- und Ermöglichungsgefüge; insbesondere dann, wenn Verlauf und Aufzeichnung behördlicher Maßnahmen derart eng ineinander verwoben sind wie im Fall von Fürsorgeerziehung. Wobei dieser Befund selbst nicht das eigentlich Erwähnenswerte ist in dem Sinne, dass es sich um eine überraschende, unerwartete oder gar ungewöhnliche Erkenntnis handelte. Das Bemerkenswerte am offensichtlichen Wirken von Kontingenz ist vielmehr das Ausmaß ihrer Verleugnung, das Von-sich-Weisen ihrer realen Wirkmächtigkeit – am Zustandekommen von Resultaten institutioneller Interventionen, oder – direkt damit verbunden – behördlicher Lenkung von Unterbringungsverläufen beispielsweise. Womit nicht behauptet werden soll, Kontingenzen würden durchweg ignoriert werden; wie sollte dies auch möglich sein, verhalten wird sich ihnen gegenüber durchaus. In der entsprechenden Situation, im realen Leben, vor Ort. Nur in der „zweiten Realität“, der schriftsprachlichen der Akte, erfolgt ihre rigorose Suspendierung; ganz so, als wäre das Geschehene entweder Resultat gezielter Einflussnahme der verantwortlichen und handelnden Partei, oder das Ergebnis von Umsetzungsverweigerung auf Seiten ihres Gegenübers: gewünscht, gewollt, herbeigeführt – oder, wenn es sich nicht verhindern ließ, Ausdruck von Reni-

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tenz, verwahrlostem Verhalten oder angeborener Abnormität. In jedem Fall aber fassbar innerhalb des Kreises – des Kontrollbereichs. Desjenigen der Tat, und desjenigen von Sprache, also wiederum der Tat. In klugen wie notorisch schönen Worten spricht HERTA MÜLLER vom „deutschen Frosch“, einer Formulierung für etwas Gefühltes: das Gefühl, überwacht zu werden. Der deutsche Frosch legitimiert die Kontrolle des Einzelnen mit durchaus plausiblen Vorwänden, etwa zu behüten, zu beschützen, zu bewahren. „Doch wie immer hat auch dieses Auge des ‚deutschen Frosches‘, da es ein Auge der Macht war, nichts behütet. [...] Der ‚deutsche Frosch‘ verwandelte alles in Eitelkeit und Verbote. Er wusste, daß Einzelne, wenn sie einzigartig sind, keine Gruppe bilden. Er hatte seine ungeschriebenen Gesetze zur Hand. Er urteilte und verurteilte im Sinne einer öffentlichen Meinung. Er hatte das Urteil ‚Schande‘ zur Hand, für das, was beim Einzelnen hinter der Stirn geschieht. Und das Urteil ‚Schuld‘ für das, was der Einzelne nach außen hin tut.“397 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieses Bild MÜLLERS etwas von dem zu fassen vermag, was mit dem Kontrollbereich der Sprache gemeint ist; durch Nennung und Benennung für Klarheit zu sorgen, für Übersichtlichkeit, für Beherrschbarkeit. Durch Domestizierung verliert das Unbenannte an Bedrohlichkeit. Eine solche, von magischem Denken bestimmte Vorstellungsweise, erweist sich dennoch – oder gerade – als wirkungsvolle Verhaltensweise, als erprobte Strategie im Umgang mit komplexen oder unerwarteten Situationen und Vorgängen. Das gilt auch und gerade für kontingente Ereignisse, weshalb aus den Zöglingsakten Froschquaken vernehmbar sein könnte. Zurück… …zu den Spuren der verordneten Erziehungsmaßnahme, den Benennungen von Geschehnissen und Möglichkeiten während der Fürsorgeerziehung des Zöglings H., zurück zu weiteren Dokumenten „seiner“ Akte. Entsprechend der Entscheidung des zuständigen Erbgesundheitsgerichts wird H. nicht zum Zwecke seiner Unfruchtbarmachung operiert; ein erneuter Antrag diesbezüglich befindet sich nicht in der Akte. Die entsprechenden Unterlagen des Verfahrens, die „Akten des Erbge-

397 MÜLLER (1990), S. 9.

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sundheitsgerichts“, werden am 16. November 1937 von Neinstedt nach Quedlinburg, an den zuständigen Amtsarzt, „weitergereicht“. Mit Abgabe der Akten wird der Vorgang für die Leitung der Neinstedter Anstalten abgeschlossen; beantragt, bearbeitet, entschieden, abgelegt, erledigt. Gleichwohl existiert die Episode: Entscheid über Unfruchtbarmachung beharrlich weiter, in der Biographie des Zöglings wie in der Akte seiner Fürsorgeerziehung. Halbjahresbericht Zum mittlerweile vierten Mal erlebt H. Adventszeit und Weihnachten in Neinstedt, ebenso den Jahreswechsel. Kurz davor, auf den 28.12.1937, ist der halbjährliche Erziehungsbericht für den Zeitraum Juli bis Dezember 1937 datiert. Er liest sich, als hätte es den „Zwischenfall“, den Antrag auf Unfruchtbarmachung, und dessen negativen Bescheid, gar nicht gegeben in H.’s Heimbiographie, als wäre angeborener Schwachsinn nie ein Thema gewesen. Der Bericht hinterlässt das bekannte Bild von H: noch immer gibt sein Sozialverhalten Anlass zur Klage, noch immer fehlt es ihm an ausreichender Selbstführung, weshalb die Beendigung der Fürsorgeerziehung beim derzeitigen Stand nicht zur Debatte steht. Dennoch taugt H. zur körperlichen Arbeit, worauf sein körperlicher Entwicklungsstand hinweist, weshalb das bereits mehrfach erwähnte Ansinnen der Einrichtung: Indienstgabe des Zöglings, nunmehr in die Tat umgesetzt werden soll. Nachdem er seinen 15. Geburtstag gefeiert hat, und darauffolgend zu Ostern konfirmiert worden ist, soll H. – wie seine Altersgenossen im Heim, sowie all jene, die ebenso wenig eine höhere oder weiterführende Schule besuchen wie H. – in Lehre oder Dienst gegeben werden. Wenn auch vorerst „versuchsweise.“

„Fürsorgeerziehung der Provinz Sachsen BERICHT 1. Betragen, Leistungen und Fleiß im Hause: ‚gibt oft zu Tadel Anlaß, Leistungen wenig befriedigend‘ in der Schule: ‚Betr. gut, Fl. u. Leist. befriedigend‘ 2. Körperlicher und geistiger Gesundheitszustand ‚a. kräftig genug entwickelt‘ ‚b. debil‘ 3. Verhältnis zu den übrigen Zöglingen

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‚kein guter Kamerad, unverträglich, zänkisch, rechthaberisch, hinterlistig‘ 4. Vorschläge über anderweitige Unterbringung ‚phlegmatisch, bedarf noch der Aufsicht und Anleitung‘ 5. Kann die vorzeitige Entlassung aus der FE erwogen werden ‚Nach der Konfirmation 1938 kann versuchsweise in Dienst gegeben werden‘ Unterschrift KLEIN, Neinstedt 28.12.1937“

1938: Neuausrichtung In den ersten Wochen verhält das neue Jahr sich in der Akte ruhig. Ende Januar taucht das erste Dokument auf, worin der Bäckermeister HERMANN MORITZ aus Darlingerode sich bei der Anstaltsleitung erkundigt, ob er ab dem 1. April des Jahres nicht „einen Zögling als Hausburschen bekommen kann. Bitte um Antwort. Heil Hitler!“ Daraufhin geht am 9. Februar ein Schreiben von Neinstedt an „Herrn Pfarrer Rhone“ nach Darlingerode, worin der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses den „sehr geehrte[n] Herr[n] Amtsbruder“ darum bittet, ihn in der Sache zu unterstützen und eine Einschätzung von H.’s künftiger Arbeitsstelle, der familiären Situation und den örtlichen Gegebenheiten anzufertigen, und diese der Heimleitung mitzuteilen. Keine Woche später liegt dem „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ ein ausgefüllter Fragebogen samt handschriftlichen Ergänzungen zur künftigen Dienstfamilie vor. Neben Angaben zu Person, Wohnsituation und Familienverhältnissen, erkundigt der Fragebogen sich auch nach den hygienischen und sonstigen Verhältnissen („Sind die Eheleute ordentlich und sauber? – ja“), der Religionszugehörigkeit der Familie sowie der „Einstellung zum 3. Reich: positiv“. Da dem Zögling, weiteren Angaben des Fragebogens zufolge, „ein eigenes Bett in einem sauberen Schlafraum, den er nur mit männlichen Personen teilen darf“ offensichtlich zur Verfügung steht, die Eheleute „Gewähr für eine weitere günstige Fortbildung und Entwicklung des Jungen in geistiger und sittlicher Beziehung“ zu geben in der Lage scheinen, und der ausfüllende Amtsbruder, Pastor RHONE sich zur Übernahme „des Amts des Fürsorgers“ vor Ort bereit erklärt, scheint einem baldigen Umzug des Zöglings von Neinstedt nach Darlingerode nichts im Wege zu stehen. Konkret: Im Anschluss an die erfolgte Osterkonfirmation.

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Diesbezüglich verlässt am 28. Februar ein Schreiben das Neinstedter Erziehungsheim, worin der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses bei der FE-Behörde in Merseburg anfragt, ob der künftige Konfirmand H. („soll hier am 27.3. konfirmiert werden“) denn überhaupt getauft sei; aus seinen „Personalvorgängen“ ginge diese Information leider nicht hervor. Das Antwortschreiben aus Merseburg trägt den 7. März 1938 als Eingangsstempel im „Knabenheim Lindenhof“ und teilt mit, dass nach aktuellem Kenntnisstand – basierend auf den Angaben der Kindsmutter – H. nicht getauft ist, habe die Mutter doch dem Jugendamt angegeben, einverstanden mit der Erziehung des Jungen im evangelischen Glauben zu sein. Am nächsten Tag geht ein Schreiben aus Neinstedt an die Mutter nach „Ahlsdorf bei Mansfeld“, und bittet sie „um umgehende Mitteilung, wann und wo [H.] getauft ist und um ev. Zusendung des Taufscheins. 8. März 38, Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“. Heim- und Schulbericht Ebenfalls am 7. März erreicht die Anfrage des Eislebener Jugendamts – und „Amtsvormundschaftsgericht“ – den Leiter der Neinstedter Erziehungseinrichtung, und ersucht ihn um „Auskunft über Betragen, Fleiss, Schulbesuch sowie Kenntnisse und Fertigkeiten des oben genannten Mündels“. Bereits am übernächsten Tag, 9. März 1938, geht der entsprechende Bericht an die Eislebener Behörde auf den Weg; „übersenden Ihnen hierunter Abschrift des Heim- und Schulberichts betr. [H.]“ (Z.1-2), erläutert und strukturiert der Einleitungssatz seinem Empfänger das maschinegeschriebene Dokument. Der zweite Satz des sich über 26 Zeilen erstreckenden Berichts kündet vernehmlich vom – in Neinstedt wie in Merseburg und in Eisleben bekannten – Vorhaben, Zögling H. weiter in Fürsorgeerziehung zu belassen, wiewohl außerhalb des Erziehungsheimes unterzubringen, und dessen praktischer Umsetzung. „[H.] wird am 1.4.38 bei dem Bäckermstr. Hermann Moritz in Darlingerode a/H. als haus- und landwirtschaftlicher Bursche in Dienst gestellt.“ (Z.2-5) Aus der vermeintlich bloßen Mitteilung des status quo (Beschluss zur Unterbringung in Dienststelle im Heim gefällt und entsprechende

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Dienststelle gefunden) sprechen ebenso direktive wie deklarierende Anliegen. Zum einen handelt es sich von nun an bei H. nicht mehr um einen, in erster Linie schwachsinnig erscheinenden, Zögling mit unbefriedigendem Sozialverhalten und psychopathischer Mutter, sondern um einen potentiellen Dienstburschen mit Rechenschwierigkeiten und „Lücken in Erdkunde“, gutem Fleiß und Betragen, von dessen „Pflichterfüllung“ in seiner künftigen Dienststelle ausgegangen werden könne. Zum anderen ist dem Schreiben „an das Jugendamt-Vormundschaft Eisleben“ deutlich daran gelegen, die aktuelle Darstellung des Mündels nicht in Kollision mit zuvorigen Darstellungen, sowie dem geplanten Vorhaben der Indienstgabe, zu bringen. Von daher dient der deklarierende Anteil des Satzes ebenso als Leseanweisung für die anschließenden Berichte zu H., wie er selbst Tatsachen schafft – beispielsweise und zuallererst an Zögling H. (aus dem Erziehungsheimzögling und Hilfsschulschüler wird der Dienstbursche, der Erfahrungsraum der geschlossenen Institution Erziehungsheim wird abgelöst vom Dienstverhältnis in einem Unternehmen, Wohn- und Arbeitsort wird eine unbekannten Familie, aus einem mittlerweile erfahrenen „Heimgesellen“ wird an anderem Ort ein Novize), ebenso wie bei den an der Unterbringung in Fürsorgeerziehung beteiligten Institutionen Jugendamt und Fürsorgeerziehungsbehörde. Die Leseanweisung fordert vom Rezipienten, die Darstellung (bereits mehrfach dargestellter und von daher) bekannter Sachverhalte unter veränderten Vorzeichen zu lesen, in ihrer veränderten Funktion für die Erzählung der Fürsorgeunterbringung des Zöglings H. Diese ändert nach dem abgelehnten Sterilisationsantrag ihren Kurs, ihre Erzählrichtung; aus dem Erbkranken mit defektem Intellekt wird der Spätentwickler mit Zukunftschancen, ohne, und dies kann nicht ausreichend genug betont werden, ohne dass es sich um ein und dieselbe Erzählung, etwa im Sinne eines Entwicklungsromans, handelt. Denn zu entwickeln, zu wachsen, zu bewähren war in den bisherigen Erzählungen vom Zögling H. nicht vorgesehen, und wenn doch „festgestellt“, dann allemal als Ergebnisse erzieherischer Einflussnahme. Ihre Erzählrichtung kann sie nur deshalb ändern, da sie den Zielpunkt kennt, auf den die aktuelle Erzählung zulaufen soll. Der Zielpunkt Unfruchtbarmachung aufgrund erblichen Schwachsinns wurde zuvor nicht erreicht, möglicherweise bedingt durch die erzählerisch

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schlechte – sprich inkohärente, kontingenzbetonende – Darstellungsweise. Das neue Erzählziel, der Ort, auf den die Geschichte zulaufen soll, steht spätestens seit dem 9. Februar 1938, seit der positiven Einschätzung durch „Amtsbruder Pastor Rhone“ fest: Bäckermeister HERMANN MORITZ in Darlingerode a/H. Da Erzählungen wie die der Zöglingsbiographie und des Fürsorgeverlaufs in den Akten immer retrospektiv erzählt werden, vom bekannten Tatsächlichen ausgehend, kann – und muss – die aktuelle Erzählung auf dieses (bereits „erreichte“) Ziel hin ausgerichtet werden. Nur im Fall des Gelingens dieser Ausrichtung, und eines guten Erzählens, kann das nötige Maß an Zwangsläufigkeit, Natürlichkeit – und Richtigkeit – des Verlaufs entstehen. An diesen einen, wirkmächtigen zweiten Satz im Berichtdokument an das vormundschaftsführende Eislebener Jugendamt, schließen sich im folgenden nahtlos und ohne weitere Kommentierung Heim- und Schulbericht zu Zögling H. an. Beide Berichte werden analog zu den handschriftlichen Versionen von Hausvater KLEIN und Klassenlehrer und Rektor ECKHARD zitiert: „Heimbericht: „[H.] geb. 12.2.1923 ist einer von den wenigen schwererziehbaren Jungen unseres Heimes. Betragen und Fleiss ist besser geworden, er gibt sich Mühe, ist im allgemeinen verträglich und es ist zu hoffen, dass er nach der Schulentlassung 1938 in der ihm zugedachten Dienststelle seine Pflicht erfüllt. – Unterschrift“ „Schulbericht: ‚[H.], geb. 12.2.1923, ist seit 16. Oktober 1934 Zögling des Wichernheims und besucht seitdem die Heimschule der Neinstedter Anstalten. Er ist jetzt Schüler der 1. Klasse. Betragen und Fleiss sind gut. Seine Kenntnisse zeigen im Rechnen und in Erdkunde auffallende Lücken, sonst entsprechen sie dem Durchschnitt der Klasse. Dagegen sind die Fertigkeiten, besonders im Schreiben und Zeichnen gut. Seine Debilität mag die Ursache von Minderwertigkeitskomplexen sein, die ihn zuweilen verschlossen und finster machen [handschriftlich: machten]. Im Allgemeinen jedoch gehörte er zu den besseren Schülern der Klasse. der Klassenlehrer‘ – Unterschrift. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses.“

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In welchem Maß vom Erzählziel her auf dasselbe Erzählziel hin (zu-)gesteuert wird, verdeutlichen die bereits als beendet, als abgeschlossenen dargestellten Sachverhalte. Obwohl H. noch immer Schüler der Heimschule der „Neinstedter Anstalten“ ist, nehmen die letzten Sätze des Schulberichts bereits eine zeitlich spätere Perspektive ein, aus welcher er bereits „zu den besseren Schülern der Klasse [...] gehörte“. Das Kapitel Schule ist für den Darstellenden, in diesem Fall Lehrer und Rektor ECKHARD, bereits beendet, das nächste Kapitel – Dienststelle – liegt bereits aufgeschlagen in der Akte. Und um dem etwaigen Eindruck, es könnten Brüche zu bisherigen Erzählungen vom Zögling H. bestehen, beispielsweise hinsichtlich des nachhaltig deklarierten Schwachsinns beim Zögling, begibt der Schulbericht sich mit einem eigenen Erklärungsansatz in die Offensive. Dieser Ansatz zielt nicht darauf ab, H.’s eingeschränkten Intellekt in Abrede zu stellen – zu diesem Zweck müsste tatsächlich das Gros der bisherigen Erzählungen zu H. komplett umgeschrieben werden, denn darin bildete „sein“ Schwachsinn ein entscheidendes Erzählmoment – , sondern Reichweite und Bedeutsamkeit des Sachverhalts zu transformieren, den Schwachsinn gleichsam umzuwidmen. Der Weg dieses Ansatzes führt über bekanntes Terrain, stößt auf bekannte Motive, denn Zweifel, Trübsinnigkeit und Verschlossenheit tauchten bereits in früheren Berichten zu H. auf. (In diesen freilich fanden sie Verwendung zur Diskreditierung des mütterlichen Verhaltens.) War es bisher die Einrichtung selbst, die zuförderst Anstoß nahm an H.’s Geisteszustand – mit entsprechenden Konsequenzen –, wird die Angelegenheit nunmehr zu H.’s eigenem Problem erklärt, und siehe da: Der Junge hat tatsächlich ein Problem mit seiner Eingeschränktheit. Er leidet still und düster an seinem Zustand; wie die Berichte in seiner Akte zeigen, bereits seit geraumer Zeit; der Zusammenhang konnte allerdings erst jetzt geklärt werden. Aber – auch für dieses Problem konnte Abhilfe gefunden werden, denn die, aus seinem defizitären Selbstempfinden erwachsenen Zukunftssorgen konnten dem Zögling mittlerweile abgenommen werden; nun kann auch er zeigen, was er vermag, ab 1. April des Jahres in seiner neuen Dienststelle. Aus diesem Grund gehören also auch die „Minderwertigkeitskomplexe“ der Vergangenheit an, „die ihn zuweilen verschlossen und finster machten.“ Das Schreiben mit den beiden Berichten – und der neuen Erzählung – verlässt die „Neinstedter Anstalten“ am 9. März 1938. Am 10.

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März geht vor Ort eine Anfrage der Fürsorgeerziehungsbehörde Merseburg ein, die unfreiwillig davon Kunde gibt, dass nicht alle beteiligten Institutionen auf dem gleichen Erzählstand sind. Mitarbeiter HESSE nämlich erkundigt sich beim Direktor der „Neinstedter Anstalten“, wann denn nun „mit der Unfruchtbarmachung des Jugendlichen [H.] zu rechnen ist.“ Zwei Tage darauf geht das Antwortschreiben nach Merseburg, in welchem der „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses [...] dem Herrn Oberpräsidenten [...] ergebenst mitteilt, daß durch Beschluß des Erbgesundheitsgerichts Halberstadt vom 3.11.1937 die Unfruchtbarmachung des [H.] abgelehnt worden ist. Heil Hitler! 11.3.1938“. Der nächste ‚Störversuch‘ gegenüber der gegenwärtigen Erzählung geht wiederum zwei Tage später in Neinstedt ein; die beabsichtigte Dienststelle für H. in Darlingerode a/H. teilt in zwei kurzen Sätzen mit, dass die geplante Indienstnahme des Zöglings leider nicht realisiert werden könne, und der Bäckermeister HERMANN MORITZ „den zugesagten Hausburschen hiermit abbestellen“ müsse. „Durch mein Kriegsleiden bin ich gezwungen, einen älteren Arbeiter einzustellen. Heil Hitler! Hermann Moritz. 13.3.1938“. Und nun? Muss erneut neu erzählt werden? Oder reicht es aus, für H. eine andere Dienststelle ausfindig zu machen? Letzteres liegt näher an der Wahrheit als gedacht. Dienststellen-Suche Bereits im Februar, kurz nach der Anfrage des Bäckermeisters aus Darlingerode, ging eine weitere Anfrage beim Direktor der „Neinstedter Anstalten“ ein, in welcher der Landmann GUSTAV EUE aus Hasselfelde sich nach einem „jungen Mann“ erkundigt, der ihn bei seiner Tätigkeit als Landwirt sowie seinem Nebenberuf als Hausschlachter unterstützen könne. Entsprechend der Anfrage bat der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses am 16. Februar „Herrn Vikar Köppen-Schomerus“ in Hasselfelde „höflichst“ um amtsbrüderliche Hilfestellung bei der Beschaffung von Angaben zur möglichen Dienststelle für einen der Neinstedter Zöglinge. Am 7. März 1938, dem Tag, an dem die Anfrage des Eislebener Jugendamts bezüglich der Entwicklung des Mündels H. in Neinstedt einging, traf dort ebenfalls der angeforderte, und von Vikar KÖPPENSCHOMERUS ausgefüllte, Fragebogen zu Landwirt EUE und dessen

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Frau ein. Die Angaben gleichen denjenigen zu Bäckermeister MORITZ, bis auf die Tatsache, dass Frage 13 („Einstellung zum 3. Reich?“) unbeantwortet und der Raum für „14. Anmerkungen“ unbeschrieben blieb. Vikar KÖPPEN-SCHOMERUS erklärt sich dem Schreiben nach bereit, im Falle des Zustandekommen eines Dienstverhältnisses, das Amt des Fürsorgers vor Ort zu bekleiden, empfiehlt „das Gesuch um Überweisung eines Jungen“ uneingeschränkt und meint, „die Leute b[ö]ten Gewähr für eine weitere günstige Fortbildung und Entwicklung des Jungen in geistiger und sittlicher Beziehung“. Dem Amtsbruder und Vikar KÖPPEN-SCHOMERUS in Hasselfelde wird 1 ½ Wochen darauf, am 16. März 1938, ein Schreiben aus Neinstedt zugesandt, in welchem die (Neu-)Entscheidung des Verwaltungsrates des Knabenrettungshauses mitgeteilt und um Weiterleitung an Landwirt EUE gebeten wird. „Wir wollen dem Landwirt [...] dortselbst einen unserer Osterkonfirmanden zuweisen. ([H.]) An Wochenlohn werden wir RM 3,50 nebst freier Station vertraglich festlegen. Die Kassen-Beiträge erfolgen nach den gesetzlichen Bestimmungen. Der Tag, an welchem der Jugendliche hier abzuholen ist, wird noch rechtzeitig mitgeteilt. Wir bitten, dem Arbeitgeber hiervon Kenntnis zu geben. Weiter bitten wir Sie, das Fürsorgeramt über den Jugendlichen freundlichst übernehmen zu wollen. Wir bitten um umgehenden Bescheid, ob Herr Eue mit der Zuweisung einverstanden ist. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses.“

Der Mutter von Zögling – und ab 1. April Dienstbursche – H. geht ebenfalls am 16. März ein Schreiben aus Neinstedt zu. Selbiges teilt ihr die anstehende Veränderung im Leben ihres Sohnes mit, womit nicht seine Indienstnahme bei Landwirt und Hausschlachter EUE, sondern die anstehende Taufe gemeint ist. Nach Darstellung des Verwaltungsrats des Knabenrettungshauses wird dieser Vorgang erst notwendig dadurch, dass die Adressatin der Mitteilung bisher kein Interesse an der Taufe ihres Kindes gezeigt habe. „Auf unser Schreiben vom 8. März 1938 betr. Taufe Ihres Sohnes [H.] haben Sie bisher keine Nachricht gegeben. Unsere Annahme, dass Ihr Sohn noch nicht getauft [sic!], scheint somit zurecht zu bestehen. [H.] wird daher am Donnerstag, den 24. März 38 nachmittags 5 Uhr anschließend an die Prüfung

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der Konfirmanden in der Anstaltskirche getauft. Sollten Sie Paten stellen oder benennen wollen, dann bitten wir, dies umgehend zu tun. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses.“

Auf eine explizite Einladung an die Mutter des Täuflings und Konfirmanden, an der Zeremonie teilzunehmen, verzichtet das Schreiben des Verwaltungsrates ebenso, wie auf Funktion und Bedeutung derselben hinzuweisen: eine (einrichtungserforderliche) Voraussetzung für die Unterbringung des Zöglings außerhalb des Erziehungsheimes. Am 22. März wird H.’s künftige Dienststelle, Landwirt GUSTAV EUE in Hasselfelde, darüber informiert, „den [...] zugedachten Jugendlichen, [H.], am 1.4.38 hier abholen [zu] können. Wir bitten Sie, Ihr Eintreffen uns rechtzeitig mitzuteilen. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses.“ Im Antwortschreiben aus Hasselfelde, welches am 31. März in Neinstedt eingeht, bestätigt GUSTAV EUE den Erhalt der Nachricht; weiter teilt seine Postkarte der Anstaltsleitung mit, „dass [er] am Freitag den 1.4. im Laufe des Tages den jugendlichen Mann abholen werde. Heil Hitler! Gustav Eue“. Die beiden folgenden Dokumente der Akte des Zöglings H. lassen darauf schließen, dass es zum Eintritt der angekündigten Ereignisse kam, H. am 24. März in der Neinstedter Anstaltskirche getauft und konfirmiert wurde, am 1. April 1938 von seinem Dienstherrn in Neinstedt abgeholt wurde, und das „Wiechernhaus“ nach 3 Jahren und 6 Monaten Neinstedter Heimerziehung in Richtung Hasselfelde verließ. Am 1. oder 2. April 1938 gibt das „Wichernheim“ in einer Meldung an die Direktion die aktuelle Änderung im Personenstand kund; retrospektiv, unter Verwendung eines einseitigen Formularblatts. „[H.], geb: 12.2.23 in: Eisleben, Kreis: [k.A.], letzter Wohnort: Neinstedt. Ist am: 1.4.38 als: Landarbeiter - ausgetreten. Unterschrift: KLEIN“. Dieses Dokument protokolliert nicht den Vollzug, sondern benennt – und deklariert damit – bereits die Statusveränderung; es konstatiert den an H. vollzogenen Übergang: als Zögling dem Heim überstellt – als nomineller Landarbeiter das Heim verlassen. Dienst- und Erziehungsvertrag Der Dienst- und Erziehungsvertrag, das nach Chronologie wie Aktenordnung auf die Personenstandsänderung folgende Dokument, stammt

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(ebenfalls) vom 1. April 1938, und dient dazu, das Verhältnis aller an der neuen Unterbringungssituation des Zöglings beteiligten Personen und Parteien zu regeln: Über drei Dokumentseiten benennen und organisieren 15 Paragraphen die Aufgaben, Rechte und Pflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Erziehungsheim und Fürsorgebehörde, Jugendamt und bestalltem Fürsorger. „Im Auftrage des Oberpräsidenten (Verwaltung des Provinzialverbandes) zu Merseburg und in Ausführung des Reichsgesetzes für Jugendwohlfahrt (Abschnitt VI. FE)“ schließt das „Knabenheim ‚Lindenhof‘ in Neinstedt a.Harz“ für Zögling H. den Dienst- und Erziehungsvertrag überschriebenen Kontrakt mit „dem Landwirt Gustav Eue“. Unterzeichner des Dokuments sind der Heimleiter KNOLLE, der Arbeitgeber GUSTAV EUE sowie der Minderjährige H., „Neinstedt am Harz, den 1. April 1938“. Während die Änderungsmeldung im Personenstand ihrem formalen Charakter nach als „Übergangsdokument“ amtiert, erfüllt der Dienst- und Erziehungsvertrag eine tatsächliche Passagenfunktion. Bisher, das heißt, seit dem Zeitpunkt seiner Konstituierung als Zögling, und der Unterbringung in entsprechenden Erziehungseinrichtungen, besaß H. den Zöglingsstatus; vordringlich und beinahe ausschließlich. (Dass er neben der, staatlicher Erziehung überantworteten, Stellung: Zögling auch Sohn, Bruder, Enkel, Neffe, Schüler, Junge, Kind – später Jugendlicher – ect. ist, spielt in seiner Aktenexistenz als Zögling nur dann eine Rolle, wenn andere als „reine Erziehungsfragen“ anstehen, wie etwa die Anzeige und Begründung zur Unfruchtbarmachung wegen angeborenen Schwachsinns bei dem Knaben.) Der Dienst- und Erziehungsvertrag vom 1. April 1938 nun erweitert H.’s bisherigen, aktenkundigen Existenzbereich um den des Arbeitnehmers, ohne, wohlgemerkt: ohne Aufhebung seines Zöglingsstatus’. Gleichwohl ist im genannten Dokument nicht mehr die Rede vom Zögling: Die Doppelrolle Arbeitnehmer und Fürsorgezögling wird nunmehr begrifflich im „neutralen“ Begriff Minderjähriger gefasst. Nach §3 des Vertrages ist der Arbeitgeber, Landwirt und Hausschlachter EUE, berechtigt, H. zu solchen Arbeiten heranzuziehen, „die seinen Kräften entsprechen und für Arbeitnehmer seines Alters und seines Geschlechts angemessen und ortsüblich sind. Die Dauer der Arbeitszeit darf für ihn nicht länger sein als für andere in gleichen Betrieben tätige Personen.“

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Gleichzeitig weist der Vertrag im nächsten Paragraphen explizit darauf hin, dass es sich bei H. nicht „nur“ um eine –1938 alles andere als unüblich – jugendliche Arbeitskraft handelt, sondern um einen heranwachsenden, (noch) nicht vollständig erzogenen Menschen. Daraus resultieren, neben der Einhaltung der rechtlichen Bestimmungen, zusätzlich sittliche und moralische Anforderungen an den Arbeitgeber, an das eigene Verhalten ebenso wie an den Umgang mit dem Zögling. „§4.: Der Arbeitgeber, der auch Erzieher im Sinne des Gesetzes [Hervor.i.O.] ist, nimmt den Minderjährigen in seine häusliche Gemeinschaft auf und hat für das leibliche und geistige Wohl [Hervor.i.O.] desselben zu sorgen. [...] Der Arbeitgeber soll den ihm anvertrauten Minderjährigen auch durch eigenes gutes Beispiel zu einem ehrlichen, fleißigen und tüchtigen Menschen erziehen. Für die regelmäßige Teilnahme an den Gottesdiensten hat er ihm die nötige Zeit zu gewähren. Die Fürsorgeerziehung ist keine Strafe [Hervor.i.O.], hat vielmehr nur die Aufgabe, dem Minderjährigen eine geordnete Erziehung zu geben. Der Dienstgeber hat deshalb auch darüber zu wachen, daß dem Minderjährigen das Bestehen der Fürsorgeerziehung nicht in kränkender oder verächtlicher Weise fühlbar gemacht wird.“

Das vertraglich zwischen Fürsorgeerziehungsbehörde (vertreten durch das Neinstedter Erziehungsheim „Lindenhof“), Landwirt EUE und Fürsorgezögling H. vereinbarte Verhältnis, soll über den wirtschaftlichen Aspekt hinaus maßgeblich (mit-)bestimmt sein von pädagogischen Erwägungen. Diese sollen sich im entsprechenden Umgang des Arbeitgebers und Erziehers mit dem jugendlichen Landarbeiter selbst, sowie einer gewissenhaften Kontrolle der dienstlichen wie persönlichen Angelegenheiten des zu Erziehenden niederschlagen. Neben der Förderung von „Reinlichkeit und Ordnung am Leibe, in Kleidung und in Wäsche“ (§4) des Zöglings, sehen die Erzieheraufgaben des Arbeitgebers die Überwachung des Briefverkehrs des Jugendlichen vor. „Falls der Inhalt der Briefe geeignet ist, die Erziehung zu gefährden oder zu erschweren, sind die Briefe usw. dem Minderjährigen vorzuenthalten und dem Fürsorger zur weiteren Veranlassung zu übergeben.“(§6) Besagter Fürsorger, im konkreten Fall „Herr Vikar Köppen-Schomerus, Hasselfelde, übt die unmittelbare Aufsicht über den Minderjährigen aus und überwacht die Einhaltung der Bestimmungen dieses Vertrages.“ (§2) Auf welche Weise die unmittelbare

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Aufsicht über den in Dienst befindlichen H. durch den anderweitig tätigen Kirchenmann tatsächlich gewährleistet werden sollte oder konnte, bleibt offen. Als erster, sprich: direkter Ansprechpartner für Arbeitnehmer wie Arbeitgebergeber, soll der Fürsorger KÖPPEN-SCHOMERUS vor Ort zur Verfügung stehen, zur Klärung situativer Fragen, etwa derjenigen der Zahlung eines „angemessenen Taschengeld [...] zur Bestreitung kleinerer Bedürfnisse “ aus dem Dienstlohn des Zöglings (§9), oder der Frage nach „Beurlaubung des Minderjährigen“(§7). Überhaupt ist der Arbeitgeber dem Dienst- und Erziehungsvertrag nach „verpflichtet, dem Fürsorger [d.h. dem Erziehungsheim] sowie dem Oberpräsidenten [...] jeder Zeit über Führung, Entwicklung und Beschäftigung des Minderjährigen mündlich und schriftlich Auskunft [Hervor.i.O.] zu geben [...]“ (§10) sowie „von allen wichtigen Vorkommnissen (schwerer Erkrankung oder Tod des Minderjährigen, schlechte Führung, Entweichung, Einleitung polizeilicher oder gerichtlicher Untersuchungen gegen ihn, unzulässige Einmischung der Angehörigen in die Erziehung und dergl.) [...] dem Fürsorger unaufgefordert und ohne Verzug [Hervor.i.O.] Mitteilung zu machen.“(§11).

Sowohl in §11 als auch in §6 verweist der Vertrag explizit auf die fehlende Berechtigung von Familienangehörigen des Zöglings, Einfluss zu nehmen auf H. oder seine derzeitige Situation. „Den Eltern oder sonstigen Angehörigen oder Verwandten des Minderjährigen steht eine Einwirkung auf dessen Erziehung und Beschäftigung nicht zu.“ (§6) Schließlich machte die fehlende familiäre Erziehungsgewähr den Minderjährigen ja erst zum Zögling, brachte ihn aus der privaten Sphäre des elterlichen Erziehungsverhältnisses in die öffentliche der Fürsorgeerziehung. Bezüglich Ruf und Ansehen der öffentlichen Erziehung scheinen die Verfasser des Vertragvordrucks398 sich kaum Illusionen hingegeben zu haben, wie der ausdrückliche Verweis in §4 nahe legt, wonach die Anordnung von und Unterbringung in Fürsorgeerziehung nicht unter Strafmaßnahmen zu subsumieren ist. Ein Hinweis, der nicht ohne Grund erfolgt, litt die deutsche Fürsorgeerziehung seit knapp

398 Vordruck F.E. IV. Nr.12 (für Erziehungsheime und -Vereine) 1500. Juli 1936.

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zwei Jahrzehnten; an ihrem Ruf, ihrer Aufgabe, ihrer Funktion, ihren Mitteln. Zu ihren Aufgaben zählt(e) die Kompensation individuell erfahrener Erziehungsmängel. Zu ihren Funktionen zählt(e) die ordnungspolitische Wirkung ihrer Arbeit. Ihr Ruf wird geprägt von der Anwendung der Mittel zur Bewältigung ihrer Aufgaben. Was ihre Mittel angeht (die aufzubringenden materiellen wie finanziellen ebenso wie die vor Ort „zur Erziehung angewendeten“), herrscht seit jeher Uneinigkeit; unter den Akteuren ebenso wie unter der nicht unmittelbar beteiligten Bevölkerungsmehrheit. Ähnlich wie im Strafvollzug, ist die Thematik maßgeblich geprägt vom ambivalenten Verhältnis von Bestrafung und Erziehung, von der Frage nach dem (nötigen?)399 Anteil von Bestrafung im Gefüge erzieherischer Maßnahmen, sowie dem eigentlichen Ziel einer „erfolgreichen Erziehung“ – nicht zu vergessen den Indikator für dessen Erreichung.400

399 Unter §70 führt das RJWG zu „Erziehungsrecht und -pflicht“ aus: „Die Erziehungsgewalt mit dem Züchtigungsrecht (d.h. Anwendung geeigneter Zuchtmittel) hat die FEB. [Fürsorgeerziehungs-Behörde] nach Auswahl der Erziehungsstelle dieser zu übertragen. [...] Das Züchtigungsrecht richtet sich sowohl hinsichtlich der Person des Berechtigten wie des Umfangs (z.B. Begrenzung auf ein gewisses Höchstmaß von Schlägen) nach der [...] Willensäußerung der FEB. beim Übergang der Erziehungsgewalt [...]. Für das Züchtigungsrecht des Lehrers gegenüber Zöglingen als Schülern gelten die allgemeinen landesrechtlichen Bestimmungen. Die Art der Anstalt begründet keinen Unterschied für das von der FEB. abgeleitete Züchtigungsrecht; das Alter der Minderjährigen kommt nur insoweit in Betracht, als die FEB. etwa vertragsmäßig eine unterschiedliche Art der Züchtigung festsetzt oder die der Ausübung der Züchtigung von selbst gezogene Grenze als überschritten gelten kann. Maß und Art der Züchtigung ergeben sich im allgemeinen mangels gesetzlicher Bestimmungen nach der Sachlage aus dem Zweck einer vernünftigen Erziehung (RGSt.40, S.432), für die besondere Anstaltserziehung nach den Grenzen einer maßvollen, vernünftigen und durch die Umstände gebotenen Anstaltszucht (Vgl. RGSt.42, 359).“ Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 272. 400 Ein Merkmal im Übrigen, welches den „modernen“ Strafvollzug und die deutlich spätere Fürsorgeerziehung seit ihrem Bestehen eint. Weiterführend zur Frage nach gesellschaftlich wie individuell für „erforderlich“ oder „notwendig“ erachteten Erziehungs- und Strafmaßnahmen, BERN-

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Zieht man den schwer zu vermeidenden Effekt solcher, unter anderem auf Verhaltensänderung ausgerichteten Institutionen in Betracht, brennglasartig gesellschaftliche Grundmechanismen und Funktionsweisen sichtbar zu machen, nimmt es nicht Wunder, dass der „Aufdeckende“, in unserem Fall die Fürsorgeerziehung, schwer an der Bürde zu tragen hat. Inklusive all jener, die von ihr betroffen sind, zumal als Zöglinge. Von daher ergeht der ausdrückliche Hinweis an den künftigen Arbeitgeber und Erzieher des Jugendlichen, gegebenenfalls auftretenden Stigmatierungstendenzen und -situationen fürsorglich Herr zu werden, persönlich Sorge zu tragen dafür, „daß dem Minderjährigen das Bestehen der Fürsorgeerziehung nicht in kränkender oder verächtlicher Weise fühlbar gemacht wird“ (§4). (Mit nicht weniger Berechtigung richtete sich die Mahnung in gleicher Weise an alle mit der Gestaltung und Durchführung der Fürsorgeerziehung befassten Einrichtungen, richtete sich vordringlich an die mit der Ausführung betrauten Personen: Heimleiter, Hausväter, Erzieher oder die Fürsorgeerziehung flankierende Kräfte: Lehrer, Ärzte, Amtsmitarbeiter. Gleichwohl, ihr nomineller Adressat ist der Vertragspartner der Fürsorgeerziehungsbehörde, H.’s neuer Dienstherr.) Zur Dauer des Arbeitnehmerverhältnisses, und damit der Unterbringung des Fürsorgezöglings außerhalb des Erziehungsheimes, gibt der Dienst- und Erziehungsvertrag folgendes an: „§12: Für die Kündigung des Dienstverhältnisses [Hervor.i.O.] seitens des Arbeitgebers sind – soweit in §1 nicht besondere Abrede getroffen – die gesetzlichen Bestimmungen maßgebend. Der Minderjährige ist zur Kündigung des Dienstverhältnisses nicht berechtigt; er darf sich selbst auch nicht anderweitig vermieten. Das Lohnabrechnungsbuch, das Arbeitsbuch, die Steuerkarte, die Invaliden-Quittungskarte und die anderen Ausweispapiere dürfen ihm nicht ausgehändigt werden. [...]“

FELD: Strafen und Schulgemeinde in der Anstaltserziehung (1929), Die allgemeinste Wirkung der Strafe. Interessant auch die Frage, inwieweit die Annahme von RUSCHE und KIRCHHEIMER zur Dependenz von Haftbedingungen und dem „Lebensstandard der freien unteren Klassen“ ([1974], S. 288) sich übertragen lässt auf die gesellschaftlich zugebilligten Mittel und Aufwendungen für nicht-kriminelle oder nicht strafmündige „Abweichler“.

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Sollte es der FE-Behörde ratsam erscheinen, das Dienstverhältnis eines ihrer Zöglinge vor Erreichen der Volljährigkeit desselben zu beenden, so ist sie jederzeit dazu berechtigt. „§13: Wenn der Arbeitgeber seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommt, oder es aus erzieherischen Gründen notwendig erscheint, ist der Oberpräsident (Verwaltung des Provinzialverbandes) befugt, diesen Vertrag jederzeit ohne vorherige Kündigung [Hervor.i.O.] aufzulösen. Wenn die Entlassung des Minderjährigen aus der Fürsorgeerziehung vor Eintritt der Großjährigkeit beschlossen werden sollte, kann der Vertrag, sofern der Arbeitgeber nicht mit dem alsbaldigen Austritt des Dienstverpflichteten aus dem Dienstverhältnis einverstanden ist, unter Einhaltung einer 4 (vier-) wöchentlichen Kündigungsfrist aufgehoben werden.“

Wie in seiner bisherigen Zeit in Fürsorgeerziehung, geben auch in der geänderten Unterbringungssituation andere Faktoren als der Zögling selbst maßgeblich Verlauf und Dauer seiner Unterbringung vor. Er ist nicht berechtigt, den von ihm unterschriebenen Beschäftigungsvertrag zu kündigen, sondern bleibt voraussichtlich bis zum Erreichen der Volljährigkeit in Dienst, es sei denn, die Fürsorgeerziehungsbehörde entlässt ihn zuvor aus der Fürsorgeerziehung. In diesem Fall müsste der Zweck der Erziehungsmaßnahme als erfüllt angesehen werden, sprich: die „Ursachen, die zur Anordnung der Fürsorgeerziehung“ geführt hatten, müssten nachweislich beseitigt worden sein.401 Als

401 „[...] – sei es, daß die nach den häuslichen Verhältnissen drohende Gefahr der Verwahrlosung beseitigt ist, oder daß in der Person des Minderjährigen der ursprüngliche Verwahrlosungszustand dauernd als beseitigt gelten kann; bei dieser Prüfung ist sowohl die Persönlichkeit des Minderjährigen wie seiner Umwelt, insbesondere seiner Angehörigen, zu denen er zurückkehrt, zu berücksichtigen. Bei dem Minderjährigen ist seine gesamte Veranlagung und sein gesamtes Verhalten maßgebend, mithin neben seinen sittlichen und geistigen Eigenschaften bei den älteren Schulpflichtigen und den Schulentlassenen auch seine Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit [...], da hiervon in der Regel wesentlich mit abhängt, ob der Minderjährige als ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu betrachten ist. [...]“ RJWG §72, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 276f.

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Nachweis dafür müsste Zögling H. sich arbeitsfähig und -willig zeigen, um sich bis zu seiner Entlassung gleichsam Immunität gegenüber künftigen Verwahrlosungsanfechtungen zu erwerben. Fürsorger Eine Woche nach Abschluss des Dienst- und Erziehungsvertrages, und dem damit verbundenen Wohnortwechsels des Fürsorgezöglings H., informiert der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses die Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg über den erfolgreichen Vollzug der Indienstgabe des Zöglings. Ebenfalls erteilt das Schreiben vom 6. April 1938 Auskunft darüber, dass, wie sich im Vorfeld bereits andeutete, „das Fürsorgeramt [von] Vikar Köppen-Schomerus in Hasselfelde übernommen [...] wird, wir bitten um Ausfertigung und Zusendung des Bestallung. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“.

Am darauffolgenden Tag geht in Neinstedt Nachricht von besagtem Vikar KÖPPEN-SCHOMERUS ein, worin er mitteilt, das Fürsorgeramt für Zögling H. entgegen seiner Zusage nicht übernehmen zu können, „da [er] mit Wirkung vom 15.März von Hasselfelde nach Hahausen versetzt“ worden sei. „Herr Pfarrer Radkau hat die Verwaltung der Pfarrstelle Hasselfelde übernommen. Ich bitte, sich in Zukunft an ihn wenden zu wollen. [...] Heil Hitler. Hahausen, den 6.April 1938“.

Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses in Neinstedt, über die Situation scheinbar weder überrascht noch erfreut, bringt in einem Antwortschreiben nach Hahausen seinen Unmut zum Ausdruck. In der Mitteilung vom 9. April heißt es: „Da nun in Hasselfelde bereits dreimal in kurzer Zeit ein Fürsorgerwechsel stattgefunden hat, bitten wir Sie um freundliche Mitteilung, ob Herr Pfarrer Radkau die Pfarrstelle dauerhaft versehen wird. Wo wohnt Herr Pastor Radkau? Falls es sich hier auch nur um eine vorübergehende Vertretung handelt, halten wir es, um stabilere Verhältnisse zu schaffen, für richtiger, einem in Hasselfelde ansässigen Herrn das Fürsorgeramt zu übertragen. In letzterem Falle bitten wir um Vorschläge. [...]“.

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Nach mehrfachem Briefwechsel zwischen der Fürsorgeerziehungsbehörde in Merseburg, dem Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses in Neinstedt, dem versetzten Vikar KÖPPEN-SCHOMERUS in Hahausen, und seinem Nachfolger in Hasselfelde, Pfarrer RADKAU, übersendet die Heimleitung der „Neinstedter Anstalten“ am 5. Mai 1938, fünf Wochen nach Indienstgabe „ihres“ Zöglings H., dem „geehrten Herrn Amtsbruder Pfarrer Radkau in Hasselfelde [...] beiliegend die Fürsorgerbestallung betr. [H.]“.

In Dienst Seit 1. April 1938 befindet sich Zögling H. nicht mehr im „Wiechernheim“ in Neinstedt, sondern in Dienst bei Landwirt und Hausschlachter GUSTAV EUE in Hasselfelde. Der „Kleiderzettel für die erstmalige Unterbringung in Dienst“ gibt Auskunft über die „Ausstattung des Zöglings“ beim Verlassen des Erziehungsheims. Nach 11 ½ Wochen geht ein Schreiben aus Hasselfelde beim Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses in Neinstedt ein. In seinem Schreiben vom 26. Juni 1938 berichtet H.’s Dienstherr, dass H. „ganz kurz erkrankt ist und nach dem Blankenburger Krankenhause überwiesen ist. Habe mich nach dem Befinden erkundigt. Ist am selben Abend am Blinddarm operiert. Da wir jetzt in der Heuernte sind, frage ich höflichst an, ob sie einen Ersatz Jungen für mich haben. Der [H.] kann ja in der Landwirtschaft vorläufig die Arbeit nicht verrichten. Geben Sie bitte umgehend Nachricht. [...] Heil Hitler! Landwirt Gustav Eue“.

Einen Tag nach Eintreffen des Schreibens von Landwirt GUSTAV EUE geht die Antwort aus Neinstedt auf den Weg. Darin teilt der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses mit, die Blinddarmentzündung des Zöglings H. zu bedauern, jedoch zur Zeit leider keinen weiteren Jugendlichen als Ersatz nach Hasselfelde schicken zu können. „Nach Wiederherstellung wird [H.] sicherlich seine Arbeit wieder aufnehmen können. Wir raten Ihnen dazu. [H.] zu behalten, da wir auch in ansehbarer Zeit keinen Ersatz zuweisen können. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses, Neinstedt, 28. Juni 38“.

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Das nächste Schreiben an Landwirt EUE ist auch das nächste Dokument in H.’s Akte; es stammt ebenfalls vom Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses, ist datiert auf den 4. Juli 1938, und gibt Kunde von einer beschlossenen Tariferhöhung der Wochenlöhne in der Landwirtschaft. „[...] diese schreibt für [H.] zur Zeit einen Wochenlohn von RM 5,50 nebst freier Station vor. Wir bitten Sie, uns umgehend mitzuteilen, ob Sie mit diesen neuen Bestimmungen einverstanden sind. Sollten Sie damit nicht einverstanden sein, dann bitten wir um umgehende Mitteilung Ihrer Gründe. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“.

Der Landwirt ist alles andere als einverstanden mit der verlangten Lohnerhöhung für seine Hilfskraft – und mit deren Arbeit ebenfalls. In einem einseitigen, gleichwohl dicht beschriebenen Brief an den Neinstedter Verwaltungsrat trägt er am 9. Juli 1938 die Gründe seiner ablehnenden Haltung vor: „[...] möchte Ihnen hierauf kurz mitteilen, das ich diesen Lohn für [H.] nicht zahlen kann, da [H.] es nicht verdient. Ich bin schon von Anfang an mit ihn nicht zufrieden, da er erstens viel zu langweilig ist. Habe wohl immer noch gedacht, das er sich noch bessert, aber im Gegenteil. Ich habe versucht im Guten, habe zu ihm gesagt: „Wenn er sich nicht ändert, kommst Du zur Anstalt zurück.“ Auch daraufhin hat er sich nicht gebessert. Ich habe mich nun kurz entschlossen, daß ich [H.] nicht mehr behalten kann. Sie werden sich wohl noch des Telephongespräch erinnern, wo ich ihnen schon alles klar gelegt habe. Ich bitte Sie nun, mir zu benachrichtigen, ob ich [H.] wegen der Schonung nach dort schicken soll oder ob Sie ihn von hier abholen. [...] Heil Hitler! Landwirt Gustav Eue“.

Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses macht ihm daraufhin, in einem Schreiben am 21. Juli 1938, folgendes Angebot: „Wir wollen [H.] unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse ins Heim zurücknehmen. Wir sind bereit, Ihnen als Ersatz den Jugendlichen [V.] zuzuweisen. [V.] ist 16 Jahre alt und bereits bis Juni 1938 in landwirtschaftlicher Stelle gewesen. Er hat sich in dieser Stelle immer einwandfrei geführt. Für [V.] müsste selbstverständlich auch Tariflohn gezahlt werden und zwar nach dem dort geltenden Tarif RM. 6,10 wöchentlich nebst freier Station. Falls Sie

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mit diesen Bedingungen einverstanden sind, können Sie [V.] am 26.Juli 38 hier abholen. [H.] wollen Sie gleichzeitig mit all seinen Sachen, Arbeitspapieren, Lohnrechnungen und Sparlohn hier her bringen. Sollten Sie aber mit den Bedingungen nicht einverstanden sein, dann erbitten wir umgehenden Bescheid. Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“.

Die rekonvaleszente landwirtschaftliche Hilfskraft H. wird von ihrem Dienstherren, Landwirt GUSTAV EUE, nicht am 26. Juli 1938 nach Neinstedt zurück gebracht; ebenso wenig holt EUE den vorgeschlagenen Zögling V. in Neinstedt ab. Stattdessen geht am 1. August 1938, fünf Tage nach besagtem Termin, erneut ein Schreiben des Landwirts in Neinstedt ein, worin er Mitteilung macht, „das [H.] sich nach der Krankheit ganz gut wieder erholt hat.“ Zwar habe er „bis jetzt nicht viel Hilfe nach der Schonung gehabt“, möchte aber dennoch „nicht wechseln, da [er] aus [H.] einen tüchtigen Jungen machen möchte und machen werde. Es handelt sich nur darum, betreffs der Löhnung, 5,50 RM. ist zu hoch, im Winterhalbjahr hat [H.] doch fast gar nicht zu tun, nur das Vieh mit zu besorgen.“

Aus diesem Grund sei er bereit, für das Sommerhalbjahr die tariflich geforderten 5,50 Reichsmark pro Woche zu zahlen, und im Winter, wie bisher, wöchentlich 3,50 Reichsmark. Sollte der Verwaltungsrat mit diesen Bedingungen nicht einverstanden sein, müsse er „wieder [s]eine Arbeit allein machen, da dieser [der Tariflohn] für [s]einen Betrieb zu hoch ist. [...] Mit deutschem Gruß. Landwirt Gustav Eue“. Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses sieht keine Veranlassung, den Vorschlag von H.’s Arbeitgeber grundsätzlich abzulehnen; am 25. August geht deshalb ein Schreiben aus Neinstedt an die Fürsorgeerziehungsbehörde nach Merseburg, in welchem der Sachverhalt geschildert, und für die von GUSTAV EUE vorgeschlagene „Lösung“ plädiert wird, wobei die schlussendliche Entscheidung selbstverständlich der Fürsorgeerziehungsbehörde vorbehalten bleibt. Der Verfasser des Dokuments stellt sich ausdrücklich hinter die Argumentation des Dienstherrn, wonach dieser „im Winterhalbjahr nur RM. 3,50 zu geben vermag. [H.] ist uns bekannt als sehr phlegmatischer Junge, dessen Leistungen nur wenig befriedigen. Wir bitten um Entscheidung, ob [H.] unter obigen Bedingungen in seiner Stelle verbleiben soll? Heil Hitler! Der Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“.

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Die Verwaltung des Provinzialverbandes, die Fürsorgeerziehungsbehörde Merseburg, erklärt sich einverstanden, dass Zögling H. für seine Tätigkeit unter Tarif bezahlt wird. Am 31. August 1938 geht von Merseburg ein entsprechendes Schreiben an die Direktion der „Neinstedter Anstalten“, in welchem Mitarbeiter WODTKE seine Zustimmung erteilt; es geht am 3. September in Neinstedt ein, zwei Tage später wird Landwirt EUE über den Sachstand informiert, sowie um eine „Bescheinigung der dortigen Kreisbauernschaft“ ersucht, „daß [H.] nicht als vollwertiger Arbeiter gelten kann und daß für das Winterhalbjahr die Entlohnung von RM: 3,50 wöchentlich daher gerechtfertigt ist“. Bis zum November des Jahres 1938 scheint der angeforderte Nachweis über die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Zöglings erbracht worden zu sein, denn am 9. November sendet die Direktion der „Neinstedter Anstalten“ an H.’s. Arbeitgeber einen Zusatzvertrag, sowie ihre Zustimmung zur verringerten Lohnzahlung im Winter. „Mit dem April tritt jedoch der Tariflohn wieder in Kraft. Das Taschengeld bleibt wie bisher. Heil Hitler! Direktor“. Informationen, die über H.’s Funktion als Arbeitskraft hinausgehen, bleibt die Akte – und damit die Erzählung – während dieses Zeitraums seiner Zöglingsschaft schuldig; über ihn selbst, mittlerweile den 7. Monat in landwirtschaftlichem Dienst, seinen Zustand, sein Befinden, über Kontakt zu seiner Familie, seine Meinung zu den Verhandlungen über seine Arbeitsleistung etc., finden wir keine Angaben. Erst ein Schreiben des Fürsorgeerziehungsbehörde an die Direktion der „Neinstedter Anstalten“ vom 17. November 1938 teilt uns mit, dass H.’s Schwester K., die mit ihm und den beiden anderen Geschwistern am 7. Februar 1931 in das Landesaufnahmeheim Osterburg überwiesen worden war, offenbar nicht mehr am Leben ist. Außerdem scheinen die beiden Brüder H.’s sich ebenfalls in den „Neinstedter Anstalten“ zu befinden, von welchem Zeitpunkt an, und in welchem Heim, bleibt unklar. Ebenso wenig geht das Merseburger Dokument auf die Umstände des Todes des weiblichen Fürsorgeerziehungs-Zöglings ein; sein Anliegen ist, wie es nachfolgend ausführt, ein völlig anderes: Die Mutter „hat die Entlassung ihrer Söhne [H.] und [W.] aus der Fürsorgeerziehung beantragt und zur Begründung des Antrags angegeben, daß die Kinder, nachdem sie jetzt anläßlich der Beerdigung der ältesten Tochter [K.] in der Heimat mit den

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Angehörigen vereint waren, sich nach der Heimat sehnen. [W.] soll zu seinem Onkel., [...] gehen. Den [G.] will die Mutter selbst zu sich nehmen. [H.] soll zu seinem Onkel [J.] in Ahlsdorf, Hüttendorf gehen. Über die häuslichen Verhältnisse der Mutter stelle ich gleichzeitig Ermittlungen an. Ich bitte, sich inzwischen baldgefälligst [Hervor.i.O.] darüber zu äußern, wie die Jugendlichen sich seither geführt haben. Wird die Entlassung der Jugendlichen aus der Fürsorgeerziehung dortseits befürwortet? gez. Hesse beglaubigt: Landesinspektor Merseburg, den 17. November 1938“

Wie die Heimleitung in Neinstedt dem Ansinnen der Mutter gegenübersteht, bleibt vorerst unklar; zumindest weist die Akte für die, auf das Schreiben der Fürsorgeerziehungsbehörde folgenden drei Wochen, bis auf einen Antrag der Mutter auf Weihnachtsurlaub für ihren Sohn H., keine weiteren Dokumente auf. So geht am 9. Dezember 1938 ein „Erinnerungsschreiben“ aus Merseburg in Neinstedt ein, in welchem „um tunlichste Beschleunigung“ in der Bearbeitung der Angelegenheit ersucht wird. Bereits am 10. Dezember geht der Bericht des für H. in Hasselfelde zuständigen Fürsorgers, Pfarrer RADKAU, in Neinstedt ein. Die Darstellung des Zöglings wird wortwörtlich am 14. Dezember an die Fürsorgeerziehungsbehörde nach Merseburg weitergeleitet. Darin heißt es über H.: „ [...] hat sich bisher in seiner Dienststelle einwandfrei geführt. Er ist ehrlich, aber noch unsauber an Kleidung und Körper, unselbständig und sehr langsam. Körperlich ist er mittelkräftig, geistig zurückgeblieben.“

Hinsichtlich der beantragten Beendigung der Fürsorgeerziehung stellt das Schreiben der Neinstedter Direktion seine Zustimmung in Aussicht. „Falls das Jugendamt die Verhältnisse des Onkels [J.] in Ahlsdorf für günstig hält, könnten wir uns mit der versuchsweisen Entlassung des [H.] einverstanden erklären. Heil Hitler! Direktion.“ Das für den Wohnort der Familie zuständige Jugendamt Mansfelder Seekreis, teilt am 17. Dezember in einem Schreiben an den „Verwaltungsrat des Knabenrettungshauses“ mit, dass zumindest „gegen die Beurlaubung des Zöglings [H.] in den Haushalt der in Benndorf (Mansf. Seekreis) wohnenden Mutter [...] keine Bedenken bestehen“.

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Somit kann zumindest dem Gesuch um Gewährung des für H. ersten Weihnachtsurlaubs nach acht Jahren nachgekommen werden; entsprechend wendet sich die Neinstedter Heimleitung nach Hasselfelde an „Amtsbruder Herr[n] Pfarrer Radkau“, und bittet um Klärung der Einzelheiten vor Ort. „Wir sind mit einer Beurlaubung des [H.] zu Weihnachten zu seiner Mutter [...] bis zur Dauer von 8 Tagen einverstanden. [H.] schreibt am besten seiner Mutter selbst, wann er dort eintrifft. Wir bitten, im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber, die Zeit der Beurlaubung festzulegen. [...] Mit bestem Dank für ihre Bemühungen und herzl. Weihnachtsgruß, amtsbrüderl. Gruß, Heil Hitler!“

Ebenfalls auf den 17. Dezember datiert ist ein Schreiben der Fürsorgeerziehungsbehörde an die Direktion der „Neinstedter Anstalten“; daraus geht hervor, dass „gegen eine Erteilung eines Arbeitsurlaubes von zunächst 3 Monaten [für H.] zu seinem Onkel [J.] in Ahlsdorf nicht einzuwenden [...] [sei], falls das Jugendamt zustimmt. Das Ergebnis der dortigen Feststellung bitte ich [...] mitzuteilen. gez.Hesse“

(Zumindest für den Weihnachtsurlaub lag die Zustimmung des zuständigen Jugendamts seit 17. Dezember in Neinstedt vor.) Weihnachtsurlaub Aus der Akte ist nicht ersichtlich, dass der Weihnachtsurlaub von H. bei seiner Familie nicht zustande gekommen sein soll. Auf den vierten Tag nach Heiligabend ist ein Brief datiert, in welchem H.’s Mutter sich an Heimleiter Pastor KNOLLE wendet, und ihm mitteilt, dass ihr Sohn H. „an beiden Händen einige Finger erfroren hat und [vor Ort] in ärztliche Behandlung musste.“ Sie bittet von daher für H. um weitere Tage Urlaub, „bis ihn der Arzt wieder arbeitsfähig schreibt. Auch das Ärztliche Attest wird Ihnen zugesandt, geben Sie mir bitte Bescheid, da der Urlaub am Sonntag, 1.1. abgelaufen ist. Es bittet: Frau [S.]., Helbra, 28.12.38“. Das Antwortschreiben geht umgehend nach Helbra; die Direktion unterrichtet darin die Mutter, dass von ihrer Seite davon auszugehen ist, H. solle widerrechtlich der Fürsorgeerziehung, sprich: seinem Arbeitgeber entzogen werden. Aus diesem Grund wäre die umgehende

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Übersendung des ärztlichen Attests dringend erforderlich, um die Rechtmäßigkeit der geschilderten Angelegenheit nachzuweisen, bis dahin könne die Direktion ihrer Darstellung keinen Glauben schenken; entsprechend ist der Ton des vom 2. Anstaltspfarrer, HANS SOMMERERŚŖŘ unterschriebenen Antwortschreibens an H.’s Mutter. Ohne Anrede oder Gruß unterstellt es ihr Unehrlichkeit und unrechtes Handeln: „Bezg: Schreiben v. 28.12.38. Falls Ihr Sohn [H.] sich dort tatsächlich in ärztlicher Behandlung befindet und nicht reisefähig ist [Hervor.i.O.], dies müßte durch sofortige Hersendung eines ärztlichen Attests belegt werden, kann er bis zum Eintritt der Reisefähigkeit dort verbleiben. Sollte er jedoch reisefähig sein und das muß hier angenommen werden, dann wollen Sie ihn sofort wieder zu seinem Arbeitgeber zurückschicken, die ärztliche Behandlung wird dann in Hasselfelde fortgesetzt werden. Wir müssen Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie sich strafbar machen, wenn Sie Ihren Sohn widerrechtlich der Fürsorgeerziehung entziehen. Heil Hitler! Direktion, Sommerer“

Vor dem Jahreswechsel verlässt, der Akte zufolge, noch ein weiteres Schreiben, H. betreffend, die „Neinstedter Anstalten“; Heimleiter KNOLLE informiert darin H.’s Fürsorger, „Amtsbruder Pfarrer Radkau“ in Hasselfelde zu den Vorgängen um H.’s. verzögerte Rückkehr in die Dienststelle, und bittet ihn, „von der Rückkehr des [H.] uns sofort in Kenntnis setzen zu wollen. [..] Mit besten Wünschen für das neue Jahr, amtsbrdrl. Gruß und Heil Hitler! Pfarrer Knolle“. 1939 Das ärztliche Gutachten zu H.’s. Verletzungen erreicht die „Neinstedter Anstalten“ am 4. Januar 1939; es trägt Stempel und Unterschrift von „Dr. med. K. Lier. prakt. Arzt, Helbra, Mansfelder Seekreis“ und enthält folgenden Text:

402 Nach der Entlassung von Pastor MARTIN KNOLLE als Anstaltsvorsteher im Mai 1939, übernahm der 2. Anstaltspfarrer, HANS SOMMERER, wie KNOLLE „ebenfalls Deutscher Christ und Parteigenosse“, dessen Position. HÄUSLER (1995), S. 312.

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„Wegen Erfrierung der Fingerspitzen an beiden Händen (z.Zt. blutig-eitrige Absonderung) ist [H.] nicht arbeitsfähig u. nicht reisefähig. Ich hoffe, bis Ende d. Woche Reisefähigkeit wieder herstellen zu können, Lier.“ŚŖř

Der Inhalt des Gutachtens wird zwei Tage darauf, am 6. Januar 1938, durch ein Schreiben aus Neinstedt an H.’s Fürsorger, Pfarrer RADKAU in Hasselfelde übermittelt; die bislang (nur) behauptete Tatsache der Reise- und Arbeitsunfähigkeit des Zöglings infolge seiner Erfrierungen erhält spätestens jetzt, durch die unkommentierte Weitergabe den Status eines tatsächlichen Sachverhalts. Diese Verwendung erhebt es zum Wissen, dessen Herkunft nicht (mehr weiter) von Belang ist. Das Attest bürgt auf erforderliche Weise für die Verletzung, und, dadurch verursacht, die Rechtmäßigkeit der verspäteten Rückkehr des Zöglings nach Hasselfelde. „Wir bitten, den Arbeitgeber hiervon freundlichst in Kenntnis setzen zu wollen. [...] Mit bestem Dank im Voraus, amtsbrdrl. Gruß, Heil Hitler! Pfarrer Knolle.“

Eine Woche später, am 12. Januar 1939, geht erneut eine Mitteilung aus Neinstedt an Pfarrer RADKAU, welche den Übergangscharakter der derzeitigen Situation betont, und um Verständnis dafür beim Fürsorger wie beim Arbeitgeber zu werben versucht. Dessen Arbeitnehmer, Zögling H., soll dem Schreiben zufolge in den nächsten Tagen in Hasselfelde eintreffen, und, bis zur endgültigen Klärung der Frage über die Fortdauer der Fürsorgeerziehung, vorerst weiter bei Landwirt und Hausschlachter EUE in Dienst bleiben.

403 Ließe man sich auf die Wahrheitskonstruktion der Neinstedter Anstaltsdirektion ein, hätte das Attest des Arztes LIER H.’s Mutter rehabilitieren müssen, indem ihre Aussage und ihr Vorgehen, entgegen der Unterstellung von Pastor SOMMERER, als wahr und richtig sich herausgestellte. Ein Einlassen auf solcherart „Beweisführung“ bedeutete jedoch, die Tatsache der Erzähltheit dieser und anderer „Wahrheiten“ außer acht zu lassen, und so zum Objekt der immanenten Erzähllogik mitsamt ihrer Gesetzmäßigkeiten zu werden. Ein Geschehen, das jeden anderen als den „wissenschaftlichen“ Lektürevorgang (erst) zum Gelingen bringt...

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„Mit Rücksicht darauf, daß eine Entscheidung über die Zukunft des [H.] in allernächster Zeit fallen wird, bitten wir, Herrn Eue zu veranlassen, [H.] noch dort zu behalten, bis endgültiger Bescheid von hieraus kommt. Dies kann sich, wie schon gesagt, nur noch um ganz kurze Zeit handeln. Mit bestem Dank für Ihre Bemühungen, amtsbrdrl. Gruß, Heil Hitler!“

Am 12. Februar 1939 vollendet H., Zögling seit dem 16. Januar 1931, und in landwirtschaftlichem Dienst seit 1. April 1938, sein 16. Lebensjahr. Die angekündigte „Entscheidung über die Zukunft des [H.]“ ist bislang noch nicht gefallen, so dass er wie gehabt seinen Dienst bei GUSTAV EUE versieht. Überweisungsbeschluss Drei Wochen später geht schließlich eine Ausfertigung des „entscheidenden“ Dokuments der Fürsorgeerziehungsbehörde Merseburg in Neinstedt ein, Eingangsstempel: 10.3.1939. Es handelt sich um eine Abschrift des gleichlautenden Schreibens an Frau S. in Helbra, ist, wie dieses, datiert auf den 7. März 1939, umfasst eine Seite mit 22 Zeilen, maschinegeschrieben. Ohne persönliche Anrede teilt das vom Behördenmitarbeiter HESSE unterschriebene Schriftstück der Kindsmutter, Frau S., mit, dass der Verfasser entscheiden habe, ihr „Ihre Söhne [W.] und [H.] gemäß §69 Abs. 4 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes [zu] überweisen. [W.] und [H.] scheiden durch diese Maßnahme noch nicht aus der Fürsorgeerziehung aus, sondern unterstehen nach wie vor meiner Aufsicht. Den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend wird das Kreisjugendamt in Eisleben diese Aufsicht in meinem Namen ausüben. Ich ersuche Sie, sich in allen vorkommenden Fällen dorthin zu wenden. (Z.02-11) [...] Sollten sich Ihre Söhne wider Erwarten nicht bewähren und sollten sich der Beaufsichtigung Schwierigkeiten entgegenstellen oder sonstige Umstände eine anderweitige Unterbringung erforderlich machen, würde ich die Überweisung widerrufen müssen.“ (Z.15-19)

Die beiden Jugendlichen, W. und H., werden, dem Schreiben HESSES zufolge, welches wiederum Bezug nimmt auf das geltende RJWG, der elterlichen Erziehungsgewalt wieder unterstellt, jedoch nicht uneingeschränkt und nicht ohne Auflagen; eher zu Bewährungszwecken.

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Die Merseburger Fürsorgeerziehungsbehörde positioniert sich als Interessenvertreter der beiden, 16- und 19-jährigen Knaben; als deren Anwalt, zum Schutz ihrer Rechte und ihres Wohls, im Zweifelsfall (auch) gegenüber dem Verhalten der Mutter. Da dieses, nach Auffassung der Behörde, in der Vergangenheit, sprich: vor acht bis neun Jahren, zur Kritik, und schließlich einem Sorgerechtsentzug mitsamt Fremdunterbringung ihrer Kinder Anlass geboten hatte, gilt es für sie nun, den verantwortungsvollen Umgang mit der Erziehungsgewalt unter Beweis zu stellen. Nicht weniger vermittelt der Überweisungsbeschluss vom 7. März 1939 der Kindsmutter Frau S. Bis bestehende Zweifel hinsichtlich ihrer Bereitschaft und ihren erzieherischen Fähigkeiten ausgeräumt sind, bedarf es, dem Überweisungsbeschluss wie dem RJWG nach, flankierender Maßnahmen. „Durch die Maßnahme des §69 Abs. 4 erhält der Erziehungsberechtigte seine uneingeschränkte Erziehungsgewalt noch nicht wieder; [...] [nichtsdestotrotz] steht der Erziehungsberechtigte, wenn ihm sein Kind nach Abs.4 überwiesen ist, tatsächlich freier, als Rücksichten auf den Willen anderer Erzieher wegfallen, deren Bestimmung bei der Anstaltserziehung und bei der Erziehung in einer fremden Familie den Wünschen des Erziehungsberechtigten vorgehen.“404

Das RJWG sieht die Möglichkeit einer Überweisung auf Widerruf vor, solange „durch eine Überweisung in die eigene Familie der Zweck der FE. nicht gefährdet wird.“405 Wie von HESSE aufgeführt, „bedeutet [...] diese Überweisung [...] keine vorzeitige Aufhebung der Fürsorgeerziehung“. Der Gesetzgeber erachtet „die Bestellung eines Fürsorgers nach Landesrecht [...] [für] nötig und eine Aufhebung dieser Maßregel [für] erforderlich, wenn die eigene Erziehung nicht genügt und mit einer Beseitigung der Verwahrlosung nicht zu rechnen ist oder eine neue Verwahrlosung zu befürchten ist.“406 Sollten also die Söhne W. und H. sich unter der Obhut ihrer Mutter und Aufsicht eines Fürsorgers nicht wie gewünscht entwickeln, ihr Verhalten etwa Anlass geben zu Beschwerden, Klagen, gar Anzeigen, könnte die vorläufige Entlassung in den elterlichen Haushalt aufgeho-

404 RJWG §69, in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 259. 405 A.a.O., S. 258. 406 Ebenda.

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ben und die beiden zurück in FE überwiesen werden; solange, bis deren Ziel, oder die Volljährigkeit der Brüder erreicht wäre. Über den Verbleib des jüngsten ihrer drei Söhne informiert das Schreiben im letzten Satz. Das Sorgerecht außer für W. und H. auch für G. zu übernehmen, hält die Fürsorgeerziehungsbehörde nach „amtlichen Ermittlungen“ für eine Überforderung der Mutter, und setzt sie über diesen Sachverhalt unmittelbar in Kenntnis: „[G.] habe ich nicht auch überweisen können, da Sie ihn nach dem Ergebnis der amtlichen Ermittlungen nicht bei sich aufnehmen können“ (Z.20-22). Am selben Tag, an dem die beiden Ausfertigungen des Überweisungsbeschluss in Helbra wie in Neinstedt eingehen, verfasst Frau S. ein Schreiben „an die Anstalt in: Neinstedt/Harz.“ Darin teilt Sie dem Direktor ihre Freude über das Überweisungsschreiben der Fürsorgeerziehungsbehörde („Dass mein Sohn [H.] freih ist.“) mit, und bittet um schnellstmögliche Benachrichtigung über den Termin der anstehenden Heimreise ihres Sohnes H. von Hasselfelde nach Helbra. („Sollten noch unnötige Geldkosten entstehen, dann werde ich die Geldauslagen sofort erledigen. 10. März 38.“) Bis zur tatsächlichen Heimreise ihres Sohnes sollen allerdings noch neun Wochen ins Land gehen. Aus welchem Grund? Der Arbeitsvertrag zwischen Landwirt EUE und den „Neinstedter Anstalten“ wird durch die Direktion der „Neinstedter Anstalten“ am 11. März fristgerecht zum 26. März gekündigt. Im entsprechenden Schreiben an GUSTAV EUE in Hasselfelde bittet die Direktion darum, „den Jugendlichen an diesem Tage dort abreisen zu lassen“. Über den Inhalt des Kündigungsschreibens wird in einem weiteren Schreiben vom 11. März H.’s. Fürsorger in Hasselfelde, Pfarrer RADKAU in Kenntnis gesetzt. In dieser Mitteilung heißt es weiter: „[...] wir bitten freundlichst, Obacht geben zu wollen, dass die Abreise des [H.], sowie die Übergabe der Papiere ordnungsgemäss erfolgt. [H.] muss am 26.d.Mts. morgens abreisen. [...] Wir bitten, uns kurz die erfolgte Abreise mitzuteilen. Mit amtsbrdrl. Gruß, Heil Hitler! Direktion“.

Ein Schreiben ähnlichen Inhalts geht am selben Tag von Neinstedt aus nach Helbra; inklusive persönlicher Anrede, teilt es Frau S. mit, dass ihr „Sohn [...] am 26.d.Mts. [...] bei [ihr] eintreffen wird.“

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Erzieher, Landwirt und Hausschlachter GUSTAV EUE hält nichts von einer raschen Beendigung des Dienstverhältnisses seiner Hilfskraft H. So verstreicht die 14-tägige Kündigungsfrist ebenso wie der 26. März, ohne dass Zögling H. seine Dienststelle in Hasselfelde verlässt. Drei Tage nach dem anberaumten Entlassungstermin des Zöglings verfasst die Direktion der „Neinstedter Anstalten“ ein Schreiben an den vertragsbrüchigen Arbeitgeber; darin schildert der Verfasser den bisherigen Verlauf, betont die Rechtmäßigkeit des bisherigen Vorgehens, und dringt energisch auf die sofortige Entlassung des Zöglings. „Sie würden uns durch eine Nichtentlassung des Jugendlichen nur zwingen, die Angelegenheit der Behörde weiterzureichen. Wir hoffen auf Ihre Einsicht und bitten Sie, den [H.] unverzüglich zu seiner Mutter zu entlassen. Von der erfolgten Entlassung erbitten wir umgehenden Bescheid. Heil Hitler! Direktion.“

Mittlerweile hat Pfarrer RADKAU die Heimleitung in Neinstedt wissen lassen, dass er beabsichtige, die Fürsorgerschaft in Hasselfelde abzugeben, worüber sich die Direktion in Neinstedt bestürzt zeigt, und ihn freundlich wissen lässt, dass sie hoffe, der angekündigte Schritt sei „nur betr. [H.] beabsichtigt und [darum bittet] [...], für weitere Unterbringungen in Hasselfelde ihre freundliche Hilfe bereithalten zu wollen.“ Am 4. April, einen knappen Monat nach dem Entlassungsbeschluss, geht ein Brief von Landwirt GUSTAV EUE in Neinstedt ein. In diesem äußert er sein Unverständnis über die Vorgänge und Forderungen seitens der Heimleitung sowie der Fürsorgeerziehungsbehörde Merseburg. Zum einen, so schreibt EUE, wolle H. „noch ein Jahr bei mir bleiben. Dasselbe hat auch [H.] nach seiner Mutter geschrieben.“ Zum anderen, so EUE weiter, habe er sich „an die Kreisbauernschaft gewandt und Rücksprache erhalten. Dass [H.] vorläufig in der Landwirtschaft bleiben muß, und mir gesagt wurde, daß die Anstalt [H.] entlassen könnte, aber nicht aus dem Arbeitsverhältnis kündigen könnte in der Landwirtschaft. Sollte[...] [die Direktion] gegen dieses Schreiben Einspruch erheben“, möge sie sich „mit dem Gewerkschaftsrat Dreier in Verbindung setzen. Mit deutschem Gruß. Gustav Eue.“

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Die Direktion in Neinstedt wendet sich an die Fürsorgeerziehungsbehörde nach Merseburg. In einem Schreiben vom 11. April 1938 schildert sie die Vorgänge um H.’s fehlgeschlagene Entlassung und schließt mit dem Satz: „Wir bitten um Entscheidung, was nun in der Sache geschehen soll.“ Die Fürsorgeerziehungsbehörde legt der Neinstedter Direktion nahe, den Fall verträglich zu handhaben. In ihrem Antwortschreiben vom 17. April 1939 empfiehlt sie von daher, „die Angelegenheit auf gütlichem Wege in der Weise zu regeln, daß dem Landwirt Eue in Hasselfelde, dem es offenbar darauf ankommt, die Arbeitskraft zu behalten, von dort eine Ersatzkraft für [H.] überwiesen wird. Ich bitte, in dieser Richtung sich zu bemühen. Weiteren Mitteilungen sehe ich zu gegebener Zeit entgegen. gez. Tobien, beglaubigt: Landesinspektor“.

Gemäß der Empfehlung aus Merseburg, unterbreitet die Direktion in Neinstedt Landwirt EUE am 21. April 1939 ein entsprechendes Angebot. „Um Ihnen entgegen zu kommen, sind wir [...] bereit, Ihnen für [H.] sofort einen Ersatz zuzuweisen und zwar den Zögling [...] Wir bitten um umgehende Mitteilung, ob Sie mit dieser Zuweisung und den genannten Bedingungen einverstanden sind. Heil Hitler! Direktion.“

Inwieweit Landwirt GUSTAV EUE den Vorschlag für akzeptabel erachtet, bleibt vorerst ungewiss, Zögling H. bis dahin weiter in seinem Dienst. Am 2. Mai geht ein „Erinnerungsschreiben“ aus Neinstedt nach Hasselfelde, worin „um umgehende Antwort [...] betr. Austausch des [H.] gegen einen anderen Jugendlichen“ ersucht wird. Die Antwort aus Hasselfelde trifft am 4. Mai in Neinstedt ein. Landwirt EUE erklärt sich in dem Schreiben bereit, H. in zwei Wochen, am 14. Mai 1939, nach Hause zu entlassen, sowie mit der Zuweisung eines anderen Zöglings „als Ersatz“ ab diesem Zeitpunkt einverstanden. Wie aus einem Schreiben der „Neinstedter Anstalten“ an das „Stadt-Jugendamt-Amtsvormundschaftsgericht Eisleben“ vom 13. Juni 1939 hervorgeht, ist H.

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„am 15. 5.1939 zu seiner Mutter nach Benndorf Krs. Eisleben entlassen worden. Er befand sich bis zuletzt beim Landwirt Gustav Eue in Hasselfelde/Harz in Dienststelle. Er ist körperlich kräftig entwickelt, geistig etwas zurückgeblieben. Zeitweilig war er bei der Arbeit langsam und unlustig, in letzter Zeit hat er sich jedoch mehr zusammengenommen, sodaß der Arbeitgeber zufrieden war.“

Zwei Jahre nach seiner vorläufigen Entlassung aus Fürsorgeerziehung und landwirtschaftlichem Dienst, bescheidet die FE-Behörde in Merseburg am 8. Mai 1941 H.’s endgültige Entlassung aus der Fürsorgeerziehung. Die Direktion der „Neinstedter Anstalten“ sendet die Entlassungsmitteilung wenige Tage darauf, am 13.Mai 1941, dem Kreisjugendamt Eisleben zu, und bittet darum, „dieses Schreiben dem Jugendlichen [H.], beschäftigt bei dem Landwirt Kurt Kögel, Mittelhausen b/Allstedt, aushändigen zu wollen. Heil Hitler! Direktor“.

4.4 AUSWERTUNG DER U NTERSUCHUNGSERGEBNISSE Drei Zöglingsakten, drei Artefakte, aus denen die Biographien ihrer Protagonisten sich ebenso lesen lassen wie das Zusammenwirken von Kräften ahnbar wird, denen sie ausgesetzt waren. Wie lässt sich nun, nach Analyse des Materials, die zu Untersuchungsbeginn verfochtene These vom ‚Eigenleben des Zöglings‘ in der Akte mit den Untersuchungsergebnissen zusammenführen? Es galt zu untersuchen, ob die für den Unterbringungsverlauf der Zöglinge als maßgeblich erachteten Dokumente (der Textsorte: Bericht und Gutachten) tatsächlich den ‚Tatbestand‘ von Erzählungen weit mehr erfüllten, als sie es ihrem nominellen Verwendungszweck nach ‚gedurft‘ hätten. Unter diesem Aspekt fällt die Auswertung der drei Zöglingsakten eindeutig aus: In den untersuchten Akten der Fürsorgezöglinge A., D. und H. dominieren ‚Wissens‘- Organisationsformen, die nicht nur in abendländisch-europäischen Denktraditionen wurzeln, sondern überdies nach konventionellen literarischen Mustern Realität produzieren. Am deutlichsten wird die literarische Realitätshervorbringung an denjenigen Schriftstücken, die zur Beschreibung eines Standes verfasst wurden.

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In welcher Form? ‚Erzählen‘ die Berichtsdokumente mehr als sie ‚dürften‘? Verbinden sie darzustellende Ereignisse nach erzählerischen Prinzipien? Nicht nur, dass sie mit ihrer Darstellung bereits Kausalbeziehungen innerhalb des Darzustellenden herstellen, und damit bereits ‚Ursachen‘ und ‚Gründe‘ für die zu lösenden Probleme und Konflikte benennen (also abschließbare Binnenerzählung präsentieren), die ‚Sachtext-Dokumente‘ enthalten darüber hinaus ebenso einen Ausgangsund Anknüpfpunkt für die weitere ‚Entwicklung‘, sowie ein Konzept der gesamten Unterbringungsgeschichte. Der individuelle Unterbringungsverlauf jedes Zöglings konnte sich von vornherein nur innerhalb dieses konzeptionellen Korridors entwickeln. Deshalb kann etwa Zögling A. sich auch nur zu einem solchen Minderjährigen ‚entwickeln‘, den sein mehrfach ‚nachgewiesener Zustand‘ vorsieht (prognostischer Gehalt einer Diagnose) und zulässt: „Enkel eines Trinkers“, „triebhaft“ und „antriebslos“ zugleich, „hochgradig schwachsinnig“, „unehrlich“ und „unsauber an sich selbst“. Doch sind nicht nur der ‚Entwicklung‘ des Zöglings innerhalb der Darstellungen enge Grenzen gesteckt; auch die Verfasser der zur Einschätzung maßgeblichen Dokumente können die vorhandenen Ordnungsprinzipien nicht ohne weiteres außer Kraft setzen; so wird Zögling A., trotz mehrfachen Dafürhaltens der Heimleitung, nicht aus dem Nordhausener Erziehungsheim verlegt, obwohl die Heimleitung in ihren Berichten an die FE-Behörde den Zögling aufgrund seiner „geistigen und moralischen völligen Minderwertigkeit [...]“ umgehend aus ihrem Heim entfernt haben möchte; „dringend in eine Anstalt mit Hilfsschulleinrichtung.“ Erst der Eintritt eines unvorhergesehenen, nichtnotwendigen Ereignisses lässt die Erzählung ihren konzeptionellen Verlaufskorridor durchbrechen: „Das hiesige Heim ist seit einigen Tagen einem anderen Zwecke zugeführt worden. Auf Anordnung seiner vorgesetzten Behörde musste es umgehend von den Zöglingen geräumt werden. Daher habe ich am 28./29.d.Mts. ........ geb. am ....... 19 ....... zu den Angehörigen nach Hause beurlaubt“.407

407 Auf den 30. August 1939 datiertes, vom Direktor HERRMANN unterzeichnetes Dokument (Vgl. 4.1).

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Außerhalb des Erzählkonzepts besteht für keinen der Beteiligten auch nur die Möglichkeit, sich zu verhalten, weder angemessen noch unangemessen; es gibt schlichtweg kein solches ‚Außen‘. Bricht ‚Es‘ dennoch in die Realität der Darstellung ein, wird die Tatsache seines Vorhandenseins und seines Wirkens, ebenso wie die Tatsache seiner Unvorhersehbarkeit und Unvermeidbarkeit, erzählerisch auf ein Minimum reduziert. Denn eben die Kontrolle über den Eintritt kontingenter Ereignisse ist ein Merkmal institutionellen Erzählens. Lässt sich der Eintritt eines solches Ereignisses dennoch nicht vermeiden, etwa die Entlassung des „geistig und moralisch völlig minderwertigen“ Zöglings A. nach Hause, und der bisherige Verlauf der Zöglingsunterbringung schlägt eine unerwartete Richtung ein, folgt die Darstellung dieser, als wäre sie von Beginn an, wenn schon nicht vorgesehen, so doch zumindest für möglich gehalten worden. Die Erzählung passt sich dem ‚unvermeidlichen‘ Faktischen dahingehend an, dass sie das bislang nachweislich Vorhandene (schriftlich fixierte Aussagen über Zustände, Prognosen über Entwicklungen, medizinische Gutachten) soweit umorganisiert, dass sich die Erziehungsmaßnahme, von Beginn an bis zum aktuellen Stand, als ein kontinuierlicher, zu allen Zeitpunkten benenn- und erklärbarer Entwicklungsverlauf darstellen lässt. Störende Elementen bleiben im Folgenden schlichtweg ungenannt, existieren für den weiteren Verlauf demnach nicht (mehr). Entsprechend verfügen die jeweiligen Dokumente innerhalb der personenbezogenen Akte der untergebrachten Person über jeweils verschieden hohe Bedeutung für deren weitere Unterbringung in Fürsorgeerziehung – und zwar nicht nur bezüglich des primären Informationsgehalts ihrer sprachlichen Aussage zu einer spezifischen Problematik: in ihnen sind erzählerische Konzepte enthalten, welche einfordern, sich ihnen gegenüber zu verhalten. In keinem der untersuchten Dokumente der Zöglingsakten wurde denn auch tatsächlich ‚außerhalb‘ des Erzählkonzepts gehandelt, wobei es keine Rolle spielt, welche Richtung der Unterbringungsverlauf nahm.ŚŖŞ

408 Ob der Zögling in der Darstellung sich zu ‚seinen Gunsten‘ oder ‚Ungunsten‘ entwickelt, ist dabei zweitrangig, da die Funktionsprinzipien der jeweiligen Entwicklung angelegt sind von Beginn der Darstellung an. Sowenig, wie die von J.P. REEMTSMA beschriebene Figur im Keller am vierten Tag ihrer Gefangenschaft plötzlich ein, bis dato (ihren Entführern unbekanntes und dem Leser gegenüber) unerwähntes Mobiltelefon aus

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Im Fall der Zöglingsbiographie von Zögling A. nahm der Biographieverlauf schon bald nach der unbeabsichtigten Entlassung des

einer Tasche ziehen und nach draußen telefonieren kann, sowenig kann der halbjährliche Entwicklungsbericht des Erziehungsheims einen Zögling nachdrücklich zur Entlassung nach Hause empfehlen, wenn bis vor kurzem an ihm noch ‚anlagebedingte Schwererziehbarkeit mit Verwahrlosungstendenz‘ festgestellt worden war. Die Erzählung eines (realen oder fiktiven) Sachverhaltes muss über ein Mindestmaß an Kohärenz verfügen, muss in sich soweit glaubhaft, stimmig sein, dass die geschilderten Abläufe in der Möglichkeit ihres Ablaufs nicht den kollektiven Erfahrungen unserer alltäglichen Weltwahrnehmung spürbar widersprechen. (Das rettende Raumschiff, welches verhältnismäßig unvermittelt auftaucht, und dem Sturz des flüchtenden Brian von Nazareth vom Turm ein glimpfliches Ende bereitet, widerspricht hingegen unseren Denk- und Erlebenserfahrungen nachdrücklich. (Vgl. Monty Python: Das Leben des Brian [1979]) Ein Protokoll etwa braucht (ebenso wie die Weltzugänge von Monty Python auch) dieses Kriterium nicht zu erfüllen; ähnlich einer Collage, lassen im Protokoll sich Sachverhalte scheinbar wahllos (oder erzählerisch regellos) aneinander fügen, ohne den Verdacht der Unglaubhaftigkeit auf sich zu ziehen. Allerdings suchen wir in der Strukturierung unserer Weltwahrnehmung auch nach keiner Entsprechung zum Protokoll. Während des Erzählvorgangs ein bisher Unerwähntes, also NichtExistentes ins Geschehen einzufügen, ist in der Literatur gleichwohl gängige Praxis, nur bedarf ein solches Spätimplementieren nicht nur guter Gründe, sondern auch eines geschickten Erzählers. Als bekanntestes Beispiel für solches Vorgehen mögen wohl die Sherlock-Holmes-Erzählungen des schottischen Arztes ARTHUR CONAN DOYLE gelten, in welchen die Hauptfigur nicht nur kraft ihres analytischen Schlussfolgerungsvermögens (ob nun abduktiv oder deduktiv zu nennen, ist an dieser Stelle zweitrangig), sondern auch mithilfe (dem Kenntnisstand des Leser nach) unerwarteter, keinesfalls jedoch zufällig zu nennender Wendungen schließlich zur angestrebten Falllösung kommt. Man könnte einer solchen Erzählweise möglicherweise vorwerfen, dass sie undemokratisch sei; zur Realisierung ihres Ziels: Spannung bis zur vorletzten Seite, unerwartete Auflösung des Rätsels infolge unkonventioneller Lösung des Problems, taugt sie vorzüglich. Für einen Sachtext hingegen, einen Entwicklungsbericht beispielsweise, verbietet sich solcherlei Vorgehen selbstredend.

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Jungen zu seinen Eltern eine erneute Wendung, diesmal führte sie zurück in die Fürsorgeerziehung, wenn auch in ein anderes Erziehungsheim; und kurz darauf in wieder ein anders Heim. Auf Nordhausen folgte Wabern folgte Neinstedt. Bei jeder dieser Unterbringungen gaben schriftlich belegte ‚Tatsachen‘ den Ausschlag, hervorgebracht mittels behördlicher/institutioneller Sprachverwendung, mit Bedeutung versehen durch In-Verhältnissetzung zu anderen ‚Tatsachen‘, aus denen sich weitere ‚Tatsachen‘ ableiteten. Die Konstituiertheit der sozialen Wirklichkeit in allen untersuchten Zöglingsakten stellt sich dar als regelgeleitet und kontingent zugleich, wenngleich der Umgang mit Kontingenz Teil des angewandten erzählerischen Konzepts ist. Wollte man die im Verlauf einer Unterbringung in Fürsorgeerziehung angefertigten, und in Beziehung zueinander gesetzten Dokumente nach Prioritäten für eben diesen Verlauf anordnen, gelänge dies nur wenig zufriedenstellend; ein Merkmal (auch) institutionellen Erzählens besteht in der Möglichkeit der unterschiedlichen Verwendung des jeweils gleichen Dokuments, des jeweils gleichen Textes, um ihn funktional zu verschiedenen Zwecken zu gebrauchen. Trotz der Variabilität der einzelnen Dokumente, Textbausteinen nicht unähnlich, kann die herausgehobene und gleichbleibend hohe Bedeutung des Unterbringungsbeschlusses uneingeschränkt bestätigt werden. Nicht nur seines eröffnenden Status’ im Prozess der Unterbringung in Heimerziehung wegen, sondern hinsichtlich seiner Funktion im narrativen Geschehen der Unterbringungsgeschichte ist die Relevanz des Unterbringungsbeschlusses schwerlich zu überschätzen. Im Beschlussdokument ist etwa die ‚Figur des Zöglings‘ nicht nur angelegt; sie findet sich bereits fertig vor: mit der Figur kann im Folgenden gewissermaßen ‚gearbeitet‘ werden, sie kann im Weiteren sich nun bewähren, entwickeln, versagen, scheitern etc., solange sie sich nur innerhalb des angelegten Möglichkeitsspektrums aufhält. Die ‚Figur des Zöglings‘ entspricht dem, was im ersten Drittel der Untersuchung als Aktenzögling zu fassen versucht wurde. Der Aktionskorridor der Figur etwa schließt generell die Möglichkeit aus, unerwünschtes Verhalten anders zu erklären als durch das Vorliegen, das Vorhandensein unerwünschter Lebensumstände oder Eigenschaften des Betreffenden. (So wird sich als Ursache, als Erklärung für das auffällige Benehmen eines Minderjährigen sein, Schul-

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schwänzen etc. vor Anordnung seiner Fürsorgeerziehung, wohl kaum dessen intellektuelle Unterforderung aufgrund ‚geistiger Frühreife‘ oder unentdeckte musikalische Talente herausstellen (können) – fehlt es zur Erhebung eines solchen Befundes doch am erforderlichen Wahrnehmungsinstrumentarium.)ŚŖş So bleibt eine grundsätzlich andere Wahrnehmung – und damit grundsätzlich andere Lösungsmöglichkeiten – des zu verhandelnden Problems selbst als Möglichkeit prinzipiell unsichtbar, und ist damit nicht existent. Dies gilt im Wesentlichen über die gesamte Dauer der Maßnahme, wenngleich in ihrem Verlauf durchaus Situationen die Durchsetzung einer veränderten Wahrnehmung begünstigen; im Konzept der sprachlichen Darstellung der Unterbringung ‚vorgesehen‘ ist ein solcher Perspektivwechsel jedoch keineswegs. Entsprechend gering ist demzufolge auch der Variationsrahmen der Gegenstandskonstituierung im Verlauf der Erziehungsmaßnahme; „unerlaubtes Verlassen des Heimgeländes“ oder „Unsauberkeit des Zöglings an sich selbst“ etwa sind

409 Man mag berechtigterweise einwenden, dass die ‚Unsichtbarkeit‘ von Nicht-für-möglich-Gehaltenem keine Besonderheit lediglich sprachlicher Wissensordnungen ist; LUDWIK FLECK wies bereits 1935 darauf hin, in welchem Maß die „Denkgewohnheiten“ von Personen das Ergebnis ihrer Untersuchung, Anschauung, Beobachtung, kurz: ihre Erkenntnis vorstrukturiert. „Der so gefasste Denkstil ist das Ergebnis theoretischer und praktischer Ausbildung der gegebenen Person, und indem er vom Lehrer auf den Schüler übergeht, stellt er einen gewissen traditionellen Wert dar, der einer spezifischen geschichtlichen Entwicklung und spezifischen soziologischen Gesetzen unterliegt. [...] Man kann also sagen, daß zwei Beobachter, deren Denkstile weit genug voneinander entfernt sind, keine gemeinsamen Beobachtungsgegenstände haben, sondern jeder von ihnen einen anderen Gegenstand beobachtet.“ FLECK (1983), S. 68. Im Fall der Unterbringungsverläufe von Minderjährigen in Fürsorgeerziehung strukturiert sich die Blickführung auf den Gegenstand durch die narrative Verfasstheit, die erzählerische Struktur, in welcher das Wissen vom Gegenstand (vor-)geordnet ist. Maßgeblich sind also bereits (und vor allem) die ‚Beginn-Dokumente‘, also der Unterbringungsbeschluss, seine Begründungen und Bezugnahmen. Als Aufhänger und Auslöser der gesamten weiteren Unterbringungsgeschichte bindet der Beschluss zur Unterbringung einer Person in Fürsorgeerziehung bereits von Beginn an dasjenige, was FLECK als „aktuellen Denkstil“ bezeichnet.

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deshalb klare ‚Indizien‘ für die von Beginn an ‚festgestellten‘ „krankhaften Neigungen“ des Betreffenden, Bestätigung und gewissermaßen Insignium des ‚erstdiagnostischen‘ Dokuments seiner Akte, des Unterbringungsbeschlusses. Zunehmend entsteht in der anwachsenden Akte eine Form von Realität, an welche der vermeintliche Protagonist, der Zögling, ebenso gebunden ist wie die Aktenproduzenten. Diese verhalten sich dem miterzeugten, unentwegt fortgeschriebenen und verfestigten Möglichkeitsspektrum sinnhaften Ordnens wie einer einzigen, wie der einzigen Wirklichkeit gegenüber, auf Kosten weiterer ‚Wirklichkeiten‘, für welche in ein und derselben Erzählung kein Platz ist. Neben dem ‚Verlaufskorridor‘, den Entwicklungsmöglichkeiten und grenzen der Zöglingsfigur, sind die entsprechenden Ursachen für deren Entwicklungsrichtung ebenfalls bereits im Unterbringungsbeschluss enthalten. Mit den ‚erzähllogischen‘ Gründen für den jeweiligen Verlauf, enthält der Beschluss ein Verlaufskonzept, welches nur ein Gelingen oder ein Misslingen der Erziehungsmaßnahme vorsieht. Je nach Anwendung eines der beiden Verlaufsmodelle liegen die, den jeweiligen Verlauf ermöglichenden und befördernden Gründe und Motive entweder innerhalb oder außerhalb der Figur des Zöglings. (Ausbleibender Lern- und Erziehungserfolg etwa findet sich ursächlich begründet im „triebhaften und minderwerten Wesen“ des Zöglings, wohingegen die erfolreiche Vermittlung eines Zöglings in eine Dienststelle in erster Linie dem positiven Einfluss regelgerechter Erziehung sich verdankt.) Als Handlungselemente (Aktanten) sorgen opponierende in gleicher Weise wie unterstützende Kräfte dafür, dass der Unterbringungsverlauf logisch und konsistent erzählbar bleibt. Ein in jedem der untersuchten Unterbringungsverläufe gleichermaßen oft und stark angewandtes Aktantenbeispiel etwa sind Verwahrlosungsermöglicher oder -beförderer. Dies können konkrete Personen (als Inhaber funktionaler Rollen) – wie etwa die Mutter der Geschwister von H. (vgl. Kap. 4.3) – oder beschreibbare Umstände (fehlende Erziehungsgewalt der Eltern von A., vgl. Kap. 4.1) sein: gemein ist den Situationen, dass sie sich nur innerhalb des narrativen Rahmens lösen lassen, unter Anwendung der Möglichkeiten und Aufrechterhaltung der erforderlichen Kohärenz innerhalb des dargestellten Geschehens. Dazu zählt die Darstellung von Ereignissen (Vorkommnissen, Entwicklungen) gemäß den Erfor-

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dernissen von Kausalbeziehungen innerhalb solchen Beziehungsgefüges ebenso wie der teleologische Grundcharakter erzählten Handelns. So läuft eine jede Unterbringung unweigerlich darauf zu, die Richtigkeit, die Begründetheit, die Unumgänglichkeit von Anordnung und Durchführung der Maßnahme aufzuzeigen. Dementsprechend bergen alle zuvörderst von den beteiligten Verantwortlichen, im Hinblick auf die positive Entwicklung des Zöglings getroffenen Entscheidungen und beschlossenen Maßnahmen, ein nicht geringes Maß an Selbstreferentialität. Es verstärkt sich der Eindruck, dass innerhalb der Aufzeichnungen zum Unterbringungsverlauf eines Fürsorgezöglings es nicht dieser ist, der als ‚Hauptdarsteller‘, als Fluchtpunkt des Geschehens amtiert, sondern dass das vordringliche Anliegen der Aufschreibpraxen in der Wahrnehmung und Wahrung von Möglichkeiten besteht, die Unterbringung selbst zum Zögling in Beziehung zu setzen; Protagonist ist weniger der Zögling als vielmehr die Maßnahme und deren Arrangement. Ließe sich zusammenfassend also ebenso behaupten, dasjenige, was sich im Verlauf der Heimerziehung ‚ereignete‘, sei in gewisser Weise bereits vorherbestimmt? Die Antwort darauf fällt negativ aus. Nein, die Geschehnisse innerhalb der Fürsorgeerziehung waren auf keinen Fall im Prädestinationsverständnis vorherbestimmt – dennoch sind sie auch nicht als ‚offen‘ zu bezeichnen, weder was ihren Eintritt noch ihren Ausgang betrifft. Die in den Aufzeichnungen zum Unterbringungsverlauf dargestellten Vorkommnisse sind nach Auswertung der Akten am ehesten ‚angelegt‘ zu nennen, in dem Sinne, dass der Eintritt des Eingetretenen gewissermaßen begünstigt wurde gegenüber einem anderen Ereignisverlauf. Diese Auswirkungen des Arrangements ließen sich als latente Potentialität bezeichnen, als Erhöhung der Verlaufswahrscheinlichkeit gegenüber anderen möglichen Verläufen, jedoch ohne, dass für den Eintritt überhaupt eines solchen Verlaufs eine Sicherheit bestände. Exemplarisch dafür ist der Umgang mit nicht Erwartetem, mit nicht Vorher-‚Gesehenem‘, mit kontingent zu nennenden Geschehensverläufen. An den Halbjahresberichten, den regelmäßigen Darstellungen der Einrichtungen zum Entwicklungsstand eines Zöglings, und den Prognosen und empfohlenen Maßnahmen für den weiteren Verlauf, lässt

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sich der Umgang mit alternativen Verlaufsmöglichkeiten beispielhaft besichtigen. Auch diese Berichte sind Teil der vom Unterbringungsbeschluss in Gang gesetzten Erzählung; wenngleich sie auch weitaus weniger vorgeschrieben sind, müssen sie dennoch retrospektiv alle mitzuteilenden Ereignisse, Veränderungen, Vorkommnisse etc. derart integrieren, dass sie im Sinne der Darstellung erzählbar werden, sinnhaft und glaubhaft. Tatsächlich stellt der Halbjahresbericht in allen drei Akten eine Art Weggabelung dar, an welcher, unter Berücksichtigung der angelegten Verlaufsmöglichkeiten, darüber entschieden werden kann, welche Richtung die Unterbringungsgeschichte im Weiteren einschlagen wird. Die Entscheidung über die Richtung wiederum meint nicht die Vorherbestimmung des weiteren Verlaufs (Ereignisse linear vorherbestimmende Funktionen werden keinem Dokument der untersuchten Akten attestiert); zur Disposition gestellt wird an dieser Stelle die grundsätzliche Frage danach, ob die Erziehungsmaßnahme weiter angeraten und unumgänglich sich darstellt, oder ob sich für eine Fortsetzung der Unterbringung in einem Erziehungsheim keine Notwendigkeit (mehr) feststellen lässt. Unter diesem Aspekt nehmen die Halbjahresberichte eine regelrechte Scharnierfunktion innerhalb des erziehungsfürsorgerischen Unterbringungsverlaufs ein. Es handelt sich hierbei nicht um einen narrativen Ort des Neu- oder Anderserzählens, noch um die eine Gelegenheit zur Entscheidungswillkür: die Möglichkeit zur Wahl zwischen zwei möglichen Verlaufsrichtungen ist im institutionellen Unterbringungsverlauf, wie der narrativen Darstellung desselben, ‚ordnungsgemäß‘ installiert. An der regulären Scharnierfunktion der Halbjahresberichte lässt sich auch ablesen, wie mit den bereits erwähnten Kontingenzen verfahren wird; entweder gelingt die narrative Integration, d.h., das Vorkommnis wird benennbar und kann, etwa als Aktant, als nichtfigürlicher Handlungsträger, Verwendung finden, oder das entsprechende Geschehnis bleibt eine Randnotiz in einer, dem Halbjahresbericht zuarbeitenden, internen Mitteilung. Am häufigsten ist jedoch der völlige Ausschluss kontingenter Ereignisse aus der Verlaufsdarstellung zu beobachten; der entsprechende Tatbestand wird, wenn er denn bereits vermerkt ist, im Weiteren weder kommentiert, noch findet er Verwendung als Motiv oder Verlaufsopponent. Die überraschende Beurlaubung von Zögling A. (vgl. Kapitel 4.1) aus dem Nordhausener Erziehungsheim nach Hause ist ein solches Beispiel. Diese Entlassung

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zu seinen Eltern erfolgte weder aufgrund feststellbarer (dokumentierter) Erziehungsfortschritte im Heim, noch ging eine Neubewertung der häuslichen Situation bei seinen Eltern in Querfurt voraus – die Räumung des Erziehungsheimes wegen andersweitiger Nutzung bot den profanen Grund für den unerhörten, bis vor kurzem ‚undenkbaren‘ Schritt. Nichtsdestotrotz verfuhren die verantwortlichen Behörden wie gehabt, nämlich dergestalt, als gehöre die unvorhergesehene Beurlaubung zum Erziehungskonzept der Fürsorgemaßnahme, als handele es sich um eine vorgesehene, von der Erziehungsbehörde beschlossene ‚Bewährungsmaßnahme‘. Entsprechend wird dann auch die Wiedereinweisung in ein neues Erziehungsheim in den Akten dargestellt: der Zögling eigne sich aufgrund seines Zustands und in Anbetracht der elterlichen Beschaffenheit (noch) nicht zum Leben außerhalb eines Erziehungsheimes. Es handelt sich hierbei um nur ein Beispiel, anhand dessen sich die (in diesem Fall) unhinterfragte, wirklichkeitsschaffende Erzählmacht demonstriert; sowohl der Austritt aus dem einen, als auch der Wiedereintritt in ein anderes Erziehungsheim scheinen sich, ihrer retrospektiven Darstellung nach, unter der vollständigen Kontrolle der Heimleitung vollzogen zu haben. Ebensowenig löst die überraschende Ablehnung des Antrages auf Unfruchtbarmachung des Neinstedter Zöglings H. durch das Erbgesundheitsgericht in Halberstadt (vgl. Kapitel 4.3) aufgrund bestehender Zweifel am angezeigten „angeborenen Schwachsinn“ beim Zögling nachweislich Erstaunen oder Zweifel an der bisherigen Wahrnehmung und Darstellung des eben noch zur Sterilisation empfohlenen Minderjährigen aus. Die örtlichen Verfasser der Aktendokumente, Heimleiter, Heimarzt, Lehrer und Erzieher, fahren in der Darstellung des weiteren Erziehungsverlaufs fort wie bisher, nur, dass der „angeborene Schwachsinn“ nicht mehr so deutlich als ‚Tatsache‘ betont und zur kausalen Ableitung weiterer ‚Tatsachen‘ entsprechend weniger Verwendung findet. Wiederum finden andere dokumentierte Ereignisse, die ebenso ungeplant auf den Unterbringungsverlauf Einfluss nehmen, wie etwa die andauernden Bemühungen um die Entlassung ihres Sohnes D. (vgl. Kapitel 4.2), durchaus Anknüpfungspunkte im Unterbringungsgeschehen. Ihnen gegenüber können die Betreffenden sich verhalten, sie sind benennbar, sprachlich und erzähllogisch integrierbar, etwa als Opponenten.

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An dieser Stelle erwähnenswert ist auch die oftmals narrativ überhöhte Darstellung von dokumentierten Ereignissen und deren Funktionszuweisung als Unterbringungs-Verlaufsbeschleuniger, als Maßnahme-Bestätiger, als Legitimationsellipse. Beispielhaft dafür soll erneut der sogenannte „Fluchtversuch [von Zögling A.] aus der Anstalt“ (vgl. Kapitel 4.1) genannt werden. Die Stilisierung dieses Vorkommnisses zum, und die wiederholte Anwendung desselben in den Unterbringungsberichten als ‚Beweismoment‘ erster Güte, erscheint ebenso willkürlich wie erzähltechnisch legitim. So erweisen sich innerhalb der Verlaufsgeschichte oftmals ungeplante, unvorhergesehene Vorkommnisse als primär erzählerisches Motiv, um das Geschehen: die Unterbringung eines Minderjährigen zu Erziehungszwecken außerhalb seines Elternhauses, unverhältnismäßig stark in eine bestimmte Richtung zu lenken – oder zur Beibehaltung selbiger. Der Einsatz dieser ureigenen literarischen Technik, Informationen zu Tatbeständen und Geschehnissen fernab ihrer Herkunft, ihres Ursprungs und ihres ursprünglichen Kontextes zu verwenden, und mit anderen Dokumenten zusammen in einem neuen Bedeutungszusammenhang zu einer homogenisierten Verlaufsdarstellung zu montieren, lässt sich für jede der untersuchten Verlaufsdarstellung wiederholt bestätigen. Warum aber kommt es bei der Gestaltung der Unterbringungsdarstellung so auffällig häufig zu einer Festschreibung des Zöglingsstatus’ als „minderwertig“ und „verkommen“? Lassen sich die in der Akte bereits vorhandenen Informationen als ‚vorgegebene Tatsachen‘ nicht ebenso sinnvoll in eine Unterbringungsgeschichte integrieren, die den Heranwachsenden ‚hinter‘ dem Zögling stärker als Person in den Blick nimmt, die die Figur Zögling im Erziehungsvorgang von Beginn an ‚anders‘, grundsätzlich ‚offener‘ anlegt und gestaltet? Wenn wir in der Untersuchung den Einsatz literarisch fassbarer, etablierter Erzähltechniken bei der Gestaltung der Zöglingsbiographie nachweisen konnten, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass diese Techniken zur Verkettung von Handlungen zu erzählter Kausalität prinzipiell jeden Zögling auch ‚anders‘ hätten hervorbringen können, ebenso glaubhaft, überzeugend und ‚echt‘.ŚŗŖ

410 Erzählte Kausalität unterscheidet sich grundsätzlich nicht von ‚natürlicher‘ Kausalität (gegenseitige Anziehung von Körpern verschiedener

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Die Frage übersieht einen wesentlichen Grundbestandteil narrativer Sinnkonstruktionen, ohne welchen Geschehensmomente (vorgefundene, komplexe, vor-sprachliche und (noch) sinndifferente Zustandsänderungen) nicht zu Erzähleinheiten (Handlungen, Beschreibungen) organisiert werden könnten, und ohne dessen Wirksamkeit schließlich kein sprachlich fixierter Text der Geschichte Zugang zu dieser ermöglicht, nämlich die Konzepte. Sie bereiten als Instanzen zur Herstellung eines Zusammenhangs der Geschichte die semantische Organisation einer Erzählung vor, indem sie einen, dem Anschein nach, ‚natürlich‘ gegebenen Bedeutungshorizont bereitstellen, innerhalb dessen sich ein Geschehenszusammenhang in besonderer Sinnhaftigkeit entfalten kann. Gemäß ihrer Funktion sind solche Leitgedanken Bestandteil jedweden konventionellen Erzählens. Für die untersuchten Zöglingsbiographien lässt sich eines der Grundkonzepte institutionellen Erzählens im „Sozialen Rassismus“ verorten. Von dort her bezieht die Organisation der Erzähleinheiten zu ‚sinnvollen‘ Einzelbestandteilen des letztlich erzählbaren Verlaufs, etwa der Unterbringungsgeschichte eines Zöglings, ihr ‚Weltbild‘, daraus schöpft sie ihr ‚moralisches Grundverständnis‘, daran richtet sie die prinzipiellen Möglichkeiten dessen aus, was weshalb geschehen kann. „Sozialer Rassismus“ als ein Grundkonzept jenseits des Textes von Unterbringungsdarstellungen bietet eine Erklärung, weshalb im (seiner Überweisung in Fürsorgeerziehung nach) ‚per se‘ „minderwerten“ Zögling nicht nach ‚vorhandenem Potential‘ gesucht und an dessen ‚Entfaltung‘ gearbeitet wurde, sondern zuerst (und damit für den Fortgang seiner Geschichte bestimmend) der „Verwahrloste“, der „Schwachsinnige“, der „Erbkranke“, die „Ballastexistenz“, der mögliche ‚Gefährder‘ des „Rassenwohls“ ‚entdeckt‘ wurde. Als Indiz zur Bestätigung der Richtigkeit dieses konzeptuell geprägten Blicks auf den Zögling konnte wahlweise dessen richterlich bescheinigter, dro-

Schwere  Apfel fällt zu Boden), da die in der Narration wahrgenommene, vermeintlich zwingende Kausalbeziehung zwischen den Ereignissen nicht den Ereignissen selbst oder ihrer Abfolge ‚entspringt‘, sondern eine Hervorbringung, ein Effekt narrativer Texte ist. (Beispielsweise erscheint im geschlossenen Zusammenhang einer Erzählung die zeitliche Aufeinanderfolge von Ereignissen als eine vermeintlich stringente Kette von Ursache und Wirkung.) Vgl. Kap.2.3, Ebene der Textsemantik.

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hender oder bereits eingetretener Verwahrlosungszustand gelten, als auch die Tatsache seiner Unterbringung in einer konfessionellen Einrichtung, einer Erziehungseinrichtung für „erbminderwertige[...], schwererziehbare[...]“Śŗŗ Minderjährige – verblieben doch jene, verhaltensabweichenden Minderjährigen, von deren Entwicklung man sich noch etwas ‚erhoffte‘, beim Staat. „[K]leine, familienanalog strukturierte offene Heime mit Verbindung zur HJ“412 standen, dem jugendfürsorgerischen Selektionsprinzip entsprechend, zur Erziehung ausschließlich „erbgesunde[r], erziehbare[r], förderungsfähige[r] und -willige[r] und gemeinschaftsfähige[r] Minderjährige[r]“413 zur Verfügung. Unter Zuständigkeit der NSVolkswohlfahrt (NSV) sollte diese Arbeit nach dem Grundsatz erfolgen können, wonach „kein Mittel zu teuer und kein menschlichpersönlicher Einsatz zu wertvoll sein dürfe, um diese Jugend der Volksgemeinschaft als wertvolle Glieder zuzuführen“414. Die Beschreibung der ‚Wertvollen‘, und der ihrer Erziehung zugebilligte Aufwand, hinterlässt eine präzise Negativschablone für den Entwurf der ‚Übrigen‘. Die Praxis selbstreferentieller Beweisführung, die nicht nur der Form nach das Grundparadoxon des hermeneutischen Zirkels (be-)trifft, führt zu einem Höchstmaß an semantischer Störungs-Unanfälligkeit; Deklaration und Repräsentation fallen in diesem ‚Fall‘ in eins, durch seine Benennung wird das Vorgefundene zur Tatsache gemacht. Ohne Minderwertigkeit keine Notwendigkeit einer Unterbringung in Fürsorgeerziehung, ohne FE-Zögling keinen Beleg für das Vorhandensein von Minderwertigkeit. Dieser Zirkel bezieht seine Schließungskraft aus dem „Sozialrassismus“, einem der (wenn nicht gar dem), an dieser Stelle maßgeblichen, semantischen Organisationskonzepte. Dieses kommt ebenso unreflektiert, und scheinbar zwangsläufig zur Anwendung wie andere zugrundeliegende Konzepte auch, mit dem maßgeblichen Unterschied, dass es sich beim „Sozialen Rassismus“ um den uneingeschränkt dominanten Deutungshorizont handelt.

411 JORDAN (1987), S. 27. 412 Ebenda. 413 NDV (1949), S. 175, zit. in: JORDAN (1987), S. 27. 414 VAGT (1935), S. 297, zit. in: ebenda.

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Wenn also bereits die Tatsache seiner Unterbringung in einer konfessionellen Erziehungseinrichtung einen Zögling von Beginn der Fürsorgeerziehungsmaßnahme an im konzeptionellen Oppositionsgefüge verortete, schrieb ihn jeder weitere Akteneintrag dort ein und zunehmend dort fest. Ganz gleich, welche Beobachtung seines Verhaltens zu den bisherigen hinzukam, ob Aktivität oder Passivität, ob „Fluchtversuch“ oder „In-sich-Gekehrtheit“, das stete Vorhandensein und die Wirksamkeit der unsichtbaren Deutungsfolie ermöglichte, auf beinahe mechanisch anmutende Weise, die sinnerzeugende Integrierbarkeit aller neuen Wissens- und Tatbestände in das Bild, in die Figur vom Zögling. Von dieser lässt sich von daher uneingeschränkt behaupten, den Regeln und Wirkweisen ihrer Konstituierung schutzlos ausgeliefert gewesen zu sein. An der Figur des Zöglings nahmen die über den Verlauf der Erziehungsmaßnahme sich entfaltenden, vom konzeptionellen Oppositionsprinzip hervorgebrachten Kräfte gleichsam Maß, konnte der „Sozialrassismus“ als Konzept konkret werden in der Praxis. Doch nicht nur der Zögling als Resultat der Organisation überlieferter und aktueller Informationen nach gegenstandsunabhängigen Ordnungsprinzipien, auch die verantwortlichen Erziehungseinrichtungen waren in ihrer Funktion als narrative, sowie darüber hinausgehende, Komplemente im Unterbringungsgeschehen von der Gültigkeit der konzeptionellen Konventionen nicht entbunden. Von daher existierte nicht nur ein konzeptioneller Aktionskorridor, innerhalb dessen die ‚Entwicklung‘ eines jeden Zöglings nur verlaufen konnte, auch derjenige der mit der Zöglingserziehung betrauten Einrichtung ist als begrenzt anzusehen, unabhängig vom, ja, sogar noch bevor ein konkreter Zögling Teil des Geschehens wurde. Infolge des politisch intendierten Gebrauchs der konfessionellen Wohlfahrtsträger als einzig und allein zuständig für die erbbiologisch und rassenhygienisch „Minderwertigen“, für die Alten und Gebrechlichen sowie die psychisch Kranken und Behinderten, prägten nicht nur Unwillen und Unzufriedenheit mit und über das zugewiesene Klientel die Arbeit bis in die einzelnen kirchlichen Einrichtungen hinein, sondern erfolgten, in verschiedener Heftigkeit, zwischen konfessionellen Trägern und Gauleitern, Landes- und Provinzialverwaltungen Auseinandersetzungen um Kompetenzen, Privilegien und Zuständigkeiten. Letztlich spielten bei den Streitigkeiten, etwa der Pflege- und Erziehungsheime um Mittelzuweisungen und deren Höhe, immer auch

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die grundsätzliche Frage nach den Bedingungen der zu leistenden Erziehungsarbeit eine maßgebliche Rolle, erhielten die örtlichen Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung ihre materielle Voraussetzung – und die konzeptionellen Bedeutungshorizonte innerhalb der Zöglingsarbeit konkrete Anknüpfungspunkte. So ist nicht auszuschließen, dass die Unzufriedenheit der kirchlichen Erziehungsheime angesichts ihrer offensichtlichen systematischen Marginalisierung (Klientel: minderwert; Erziehungs-/Besserungsaussichten: prinzipiell vorhanden, einen anlagebedingten Rahmen jedoch nicht überschreitend; gesellschaftliche Relevanz: erforderlich, bis andere Maßnahmen (Sozial/Rassenhygiene) ausnahmslos Anwendung finden und Wirkung zeigen; gesellschaftliche Anerkennung: entsprechend; Mittelzuweisung: entsprechend) auch Einfluss hatte auf Sichtweise und Umgang mit eben diesem Personenkreis. Zumal die Frage nach Auslöser, Grund und Ursache der beklagten und zu behebenden Umstände, sowie die entsprechenden praktischen Ableitungen infolge der theologischen Verfassung der Arbeit in den Einrichtungen eine nochmals eigene Dynamik erhalten haben dürften; erinnert sei aus diesem Grund an die Hausregeln eines Bernburger Erziehungsheims der Inneren Mission für „gefallene Mädchen und Frauen“: „Wer in dieses Haus eingetreten, bedenke, daß er an eine Stätte gekommen ist, an der der Heiland der Sünde auch der schwer verirrten Seelen in Gnade und Geduld nachgeht, um sie von dem Wege des Verderbens auf den Weg des Heils, des Friedens und der Ehre zurückzuführen.“415

Reichweite und Beharrungsvermögen konzeptionell bedingter Sinnstiftungsmuster werden, wie die Untersuchung der Zöglingsakten belegt, nicht nur deutlich in der Anlage und Konsistent(er)haltung eines Zöglings über die Unterbringungsdauer hinweg ‚in seiner‘ Akte, sondern auch im ‚historischen Umgang‘ der Einrichtungen mit ihrer Geschichte. Als sichtbares Resultat des Umgangs der „Neinstedter Anstalten“, etwa mit den Ereignissen in ihren Heimen zur Zeit des Nationalsozialismus, wurde 1993 ein steinernes Denkmal „für die Opfer der

415 In: „Denkschrift über die in Anhalt bestehenden Fürsorgeerziehungshäuser im Rahmen der evangelischen Inneren Mission.“ nach 1945, Verf. unbek, Archiv der „Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis“ Bernburg., vgl. auch Kap. 3.4 unserer Untersuchung.

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‚Euthanasie‘“ eingeweiht, welches vom heutigen Vorsteher der Evangelischen Stiftung „Neinstedter Anstalten“, Pfarrer JÜRGEN WIEGGREBE, wird folgt beschrieben wird: „Es zeigt zwei aus weißem Marmor gestaltete Menschen, gesichtslos, in einer Haltung der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, des Verletztseins. Auf dem Boden zu ihren Füßen ist eine Tafel eingelassen. Darauf ist zu lesen: ‚Was zu schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt.‘“416

Folgte die Untersuchung einer solchen Lesart der Ereignisse, dann hieße dies für die in Neinstedt oder anderswo untergebrachten Zöglinge, dass ihre „Minderwertigkeit“ und „Verwahrlosung“ (als Unterbringungsursache wie -kriterium in einer kirchlichen Einrichtung) vom Zeitpunkt ihrer Unterbringung an nicht nur jeden Blick auf sie prägte, sich jedes Vorkommnis daran maß, und jede Entscheidung daran ausrichtete, sondern dass die, den Dokumenten nach, pädagogisch begründeten Richtungsnahmen ihrer Biographie, immer auch Teil eines göttlichen Heilsgeschehens waren. Einem derart verantwortungsdelegierendem Schreiben der ‚eigenen‘ Geschichte soll nicht nur die Zustimmung strikt verweigert werden, sondern stattdessen auf die einem solchen Erzählvorgang zugrundeliegende, konzeptionelle Verankerung von Schuld und Gnade, Schwäche und Sinn hingewiesen werden, einer vorbewussten und vorsprachlichen Konzeption, von welcher aus sich ein Bedeutungshorizont aufspannen lässt, vor dem von den Ereignissen und Geschehnissen der letzten 80 Jahre ‚sinnhaft‘ erzählt werden kann. Und dies, ohne in ihrer Darstellung ‚falsch‘ oder unplausibel zu sein, da, wie wir anhand der Aktenuntersuchung herausarbeiten konnten, jede Geschichte ihre eigenen Sinnstiftungsmomente ‚mitbringt‘, immer schon bei sich trägt wie in einem Taubenloch. Ohne diese wäre sie eine andere Geschichte, so wie die Unterbringungsbiographie eines Zöglings nur in der erzählten Form überhaupt erst ‚funktionieren‘, d.h. realisiert werden konnte.

416 WIEGGREBE (2001), S. 68.

Kapitel 5: Resümee des erzählten Zöglings

ANMERKUNG

ZUM

S CHLUSS

Eine Untersuchung wie die vorliegende führt vor Augen, wie schwer abschließbar ‚ein‘ Denken als Prozess reflexiver Auseinandersetzung mit einer Fragestellung, ‚einem‘ Sachverhalt, ‚einem‘ Problem ist. Dieser Gedanke zielt zum einen auf die stete Unfertigkeit beim Schreiben (auch wissenschaftlicher Arbeiten), auf die lediglich mögliche: bloße Vorläufigkeit sprachlicher Konzepte zur Beantwortung drängender Fragen. Denn obgleich die oftmals (auch) erzählerische Sprache den Anschein von Sicherheit erweckt, handelt es sich bei solcherlei Hervorbringung nicht um abgeschlossene Narrationen, nicht um derart kohärente Wissensformationen, dass sie von sich aus zu einem ‚natürlichen Ende‘ kämen: Wissenschaftliche Darstellungen bedürfen ebenso eines Verfassers, der mehr oder minder geschickt dem Gemenge von Ausführungen, Einbettungen, Argumenten und Gegenargumenten ein Ende setzt. Dies hat er mit dem Geschichtenerzähler gemein, nur dass dessen Erzählung dann, wenn sie denn ‚gut‘, d.h. zuende erzählt wurde, abgeschlossen ist.417 Die Beantwortung einer aktuellen Frage, die Überprüfung eines zeitgenössischen theoretischen Konstrukts an und in einer ausgewählten historischen Situation, unterliegt in ihrer Darstellung als wissenschaftliche Abhandlung keinen grundsätzlich anderen Gesetzmäßig-

417 Wann ist eine Geschichte zuende erzählt? Dies kann immer dann der Fall sein, wenn beispielsweise ein sinnhafter Ausgleich zwischen den Figuren und ihren Anliegen hergestellt wurde.

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keiten als andere zweckhaft erzählte Geschichten auch, ganz gleich, ob es sich dabei um ‚die‘ Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin oder um eine ‚lediglich‘ zu Lehr- und Unterhaltungszwecken erzählte Geschichte handelt. Zum anderen kann auch einer wissenschaftlichen Arbeit innerhalb eines historischen Kontextes ein zufriedenstellender Abschluss nur gelingen, wenn die Darstellung erzählerisch-narrativ ebenso zu Ende kommt, dass sie sich mit Antworten zufrieden gibt, ‚Erzählfäden‘ derart zusammenführt, dass möglichst wenige, (noch) unerzählte Enden zurückbleiben. Was wiederum nicht meint, dass keine offenen Fragen zurückbleiben dürften, im Gegenteil; wenn eine Untersuchung und deren Darstellung wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, muss sie auch dem Kriterium der Anknüpfbarkeit ‚von außen‘ nachkommen – nur so kann überprüft, und gegebenenfalls widerlegt werden.418 Eine erforderlicherweise kritische Musterung ‚von außen‘ versucht der Verfasser gleichwohl permanent vorwegzunehmen; Resultat solcher Antizipationsaktivität sind nicht nur die vorfindbaren Denk- und Sprachellipsen, sondern eben auch der erwähnte Widerstand gegen einen Schluss. Auch in diesem Sinne ist die Rede von einer steten Unabschließbarkeit einer Untersuchung und deren Darstellung.

5.1 ANLIEGEN

DER

U NTERSUCHUNG

Damit der erforderliche Schluss der Arbeit nunmehr nicht länger auf sich warten lassen muss, sollen im Folgenden die ‚Erzählfäden‘ zusammengebracht werden, dergestalt, dass die Fragen nach der Entstehung des ‚Wissens vom Zögling‘, nach der Konstituierungsweise des Aktenzöglings und den ‚Mechanismen‘ seiner Fortschreibung über die Dauer der Erziehungsmaßnahme mit den Untersuchungsergebnissen der Neinstedter Zöglingsakten zusammengeführt und beantwortet werden.

418 Der Mikrobiologe und Mediziner LUDWIK FLECK bemerkte diesbezüglich: „Meiner Meinung nach besitzt nur die Theorie einen Wert, die neue Forschungsfelder, neue Denkmöglichkeiten schafft, und nicht die, die zukünftigen Forschungen den Weg versperrt.“ FLECK (1983), S. 64.

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Die Untersuchung setzte bei den Erziehungsobjekten der Fürsorgeerziehung der Weimarer Republik und ihres Nachfolgestaates an, bei den Zöglingen und ihren institutionellen Biographien. Fürsorgeerziehung stellt(e) eine gesetzlich verankerte Form staatlicher „Ersatzerziehung“ dar, um Erziehungsdefizite seitens der Herkunftsfamilie auszugleichen; Indikator bei der Frage nach der Anordnung von Fürsorgeerziehung war die drohende oder bereits eingetretene Verwahrlosung des Minderjährigen. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) führt hierzu aus: „Der Begriff der Verwahrlosung ist tatsächlicher und rechtlicher Natur [...]. Es kommt [...] weniger die körperliche als die geistige und vor allem die sittliche Verwahrlosung in Betracht. Sittliche V. liegt vor, wenn der Minderjährige sich in sittlicher Beziehung nicht normal entwickelt, sein Verhalten Anstoß erregt und Zweifel daran begründet, ob er zu einem brauchbaren Gliede der Gesellschaft sich entwickeln werde [...] ‚Sittliche Verwahrlosung‘ umfasst alle Fälle der sogenannten objektiven Verwahrlosung, die wie das sittliche Verderben des bisherigen Rechts keineswegs eine allgemeine zu sein braucht, derart, daß sie in zahlreichen Charaktereigenschaften sich äußert; es genügt, die Verwahrlosung auf einem bestimmten Gebiete […].“419

Konnte ein Verwahrlosungsverdacht durch den Nachweis eines drohenden oder bereits eingetreten Verwahrlosungszustands bestätigt werden, erfolgte die amtsrichterliche Anordnung der Unterbringung in Fürsorgeerziehung. Diese Maßnahme wurde vorwiegend von konfessionellen Einrichtungen ausgeführt, weshalb der verwahrloste oder von Verwahrlosung bedrohte Minderjährige vorübergehend ein neues Zuhause in einem kirchlichen Erziehungsheim fand, wo er unter Anwendung erzieherischer Maßnahmen zu einem „tüchtigen Glied der Gesellschaft“ erzogen wurde. Solange zumindest blieb der, nunmehr Zögling genannte, Minderjährige ein fremduntergebrachtes Objekt der Erziehungsbemühungen, bis sich das Erreichen dieses Erziehungsziels feststellen und bestätigen ließ. Dazu bedurfte es entsprechender Aufzeichnungen, zu finden in der Zöglingsakte. Von jedem Zögling existierte eine solche Dokumentensammlung, sie wurde mit ins Heim gebracht bzw. folgte sie demjenigen dorthin. In der Akte wurde alles

419 RJWG §63, Abs. 7b), in: Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (1923), S. 230.

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festgehalten, gesammelt und fixiert, was für den Fürsorgeerziehungs‚Fall‘ relevant schien. In den bislang erschienenen Untersuchungen zu Zöglingsbiographien wurden die Akten der Fürsorgeerziehung selten anders gelesen und untersucht, als in anderen Institutionen entstandene, schriftliche Quellensammlungen zu Personen und Vorgängen auch: als objektive Datensammlungen, mit deren Hilfe – unter fachkundigem und quellenkritischem Gebrauch – Abläufe rekonstruiert und nach bestimmten Kriterien einer Bewertung unterzogen wurden; vielfach jedoch, ohne die Bedingungen solcher Wirklichkeitskonstruktionen methodenkritisch zu thematisieren. In der vorangegangen Untersuchung der narrativen Strukturen in Zöglingsakten wurde demgegenüber aufgezeigt, dass die Zöglingsakte zwar ein im Verlauf der Fürsorgeerziehung anwachsender Korpus von Dokumenten heterogenen Typs ist, der Gebrauch dieser Dokumentensammlung jedoch von durchaus ambivalenter Natur ist, da die Verwendung der gesammelten Aufzeichnungen zum Zweck, Aussagen zum bisherigen Verlauf der Erziehungsmaßnahme zu treffen (Retrodiktion) nämlich ebenso nach einer Anordnung des Materials zu einem ‚aussagekräftigen Muster‘ verlangt, wie es auch bei entwicklungsprognostischen Aussagen (Prädiktion) der Fall ist. Ausgehend davon, dass die gesammelten Aufzeichnungen einer Zöglingsakte deutlich weniger Darstellungen der ‚Entwicklung‘, oder ‚Abbild‘ des ‚Erziehungsverlaufs‘ eines Zöglings sind, sondern vielmehr den Eigenheiten (Strukturen, Gesetzen, ‚Mechanismen‘) des Mediums ihrer Verfasstheit unterliegen: der Sprache (konkret: des zur Wissens-Organisation, -Vermittlung und -Darstellung gewählten Narrativs), arbeitete die Untersuchung die konstituierenden Bedingungen und Elemente eines solchen und deren Handhabung sowie die Konsequenzen dieser Form(en) von Wissensbildung für die Betreffenden heraus. Zu diesem Zweck erfolgte die Analyse der Texte ausgewählter Dokumente hinsichtlich Aufbau und Struktur des Textes, eine Analyse und Verwendung der lexikalischen Mittel (hinsichtlich Bedeutungshervorbringung und -zuweisung), eine Analyse der Geschehensebenen, die Ermittlung von Erzählmodus und Erzählhaltung sowie eine Isolierung der Geschehensmomente. Sollte nämlich der Zögling in den Dokumenten ‚seiner‘ Akte nicht nur ‚erschriebenes‘ Resultat einer fortwährenden Narration gewesen sein, sondern immer auch selbst als Skript für den Umgang mit dem

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Anstaltszögling Verwendung gefunden haben, musste dieses Skript in den Texten zu finden sein, was wiederum erforderte, die Texte als literarische zu lesen und zu untersuchen. Als Untersuchungsmaterial dienten Zöglingsakten aus verschiedenen Erziehungseinrichtungen, ‚deren‘ Zöglinge zwischen 1931 und 1945 zum Zweck der Fürsorgeerziehung auch im Knabenheim „Lindenhof“ der „Neinstedter Anstalten“ untergebracht worden waren, einer Einrichtung der Inneren Mission im damaligen Freistaat Anhalt (heutiges Sachsen-Anhalt).

5.2 Z USAMMENFÜHRUNG DER U NTERSUCHUNGSERGEBNISSE Alle Zöglinge, deren Akten in der vorliegenden Arbeit untersucht worden sind, waren nach der sozialrassistischen Kategorisierung der Fürsorgeerziehung, sowie der Organisationskonzeption ihrer Unterbringungsgeschichte, „Minderwertige“, aber potentiell noch „Erziehbare“, weshalb man sie in konfessionellen Einrichtungen unterbrachte, wo sie im Zusammenspiel mit dem vorgängigen ‚behördlichen Wissen‘ zum Objekt innerhalb ihrer eigenen, ihrer institutionellen Biographie wurden. Als Bestandteil der Darstellung der Erziehungsmaßnahme, ihres Verlaufs und der entsprechenden Ursachen, kommt der Zöglingsfigur in den Aufschrieben maßgebliche Bedeutung hinsichtlich der Wahrnehmung, des Umgangs und der Beurteilung der Zöglingsperson außerhalb der Akten zu; die Akte ‚ging‘ ihrer eigenen Realität ‚auf den Leim‘, gemeinsam mit ihren Produzenten und allen Konsequenzen für den zu erziehenden Zögling. Und dennoch lässt sich nicht davon sprechen, dass der AktenZögling ein ‚Eigenleben‘ als literarische Figur in der Unterbringungsgeschichte führe; viel eher führt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass innerhalb der Aufzeichnungen zum Unterbringungsverlauf eines Fürsorgezöglings es nicht dieser ist, der die ‚Hauptrolle‘ inne hat, der als Fluchtpunkt des Geschehens amtiert, sondern, dass das vordringliche Anliegen der Aufschreibpraxen in der Wahrnehmung und Wahrung von Möglichkeiten besteht, die Unterbringung selbst zu ihm, dem Zögling, in Beziehung zu setzen; Protagonist ist weniger der Zögling als vielmehr die Maßnahme und deren Arrangement. Ein solches erfolgte mittels narrativer Verfahren, die den Zögling an die vorgängigen Wissensbestände über ihn und an die Vorgänge in der Einrichtung

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banden. Deshalb fasst die Untersuchung den einzig ihr zugänglichen Zögling, den Akten-Zögling, als eine auch literarische Figur, obgleich es sich bei ihr ebenso um das Resultat administrativer und pädagogischer Vorgänge handelt. Im Fall der Zöglingsbiographie, des momentüberdauernden Anbindens der Zöglingsfigur in ‚seiner‘ Darstellung an vorhandenes sowie aktuelles ‚Wissen‘ also, liegt die narrative Leistung dabei deutlich über einer solchen, welche nötig ist, um eine Figur hervorzubringen und schlüssig in eine erzählte Abfolge von Ereignissen zu integrieren. Das Verfassen einer Zöglingsakte besteht in der Kunst, ‚Nicht-Zusammenhängendes‘ in eine ‚natürliche‘ Beziehung zu stellen, Flüchtiges zu kondensieren, ‚Zufälliges‘ als beabsichtigt Herbeigeführtes zu charakterisieren, denn innerhalb einer administrativpädagogischen Maßnahme, deren integrativer Bestandteil die Akte ist, gibt es für Kontingenzen keinen Raum. Was nicht weniger heißt, als dass ‚der Zufall‘ schlichtweg nicht vorkommt, er ist ‚negativ‘ i.S. von: es gibt ihn nicht, er ist nicht vorhanden. Die Anwendung solcherart Kunstfertigkeit zur Hervorbringung einer Zöglingsfigur in einem ‚Dokumentations‘-Medium mittels sprachlich-narrativer Verfahren bleibt solange unentdeckt, solange man sich der Akte und den Vorgängen um ihre Produktion von der ‚herkömmlichen‘ Seite aus annähert, d.h., ausgehend vom Ziel und Zweck der (Erziehungs-)Maßnahme und deren Dokumentation. Aus dieser Richtung kommend, können als analytische Annäherung nur solche Fragen gestellt werden, die auf den abgebildeten Inhalt, seine ‚Richtigkeit/Unrichtigkeit‘ abzielen, kann der untersuchende Blick nur erfassen, was die überlieferten Aufzeichnungen tatsächlich selbst erst hervorgebracht haben. Für die Tatsache, selbst für die Möglichkeit der Hervorbringung als poietisches Verfahren, ist er bedingtermaßen blind. Hinsichtlich der zur Überprüfung aufgestellten These vom Hervorbringen des vermeintlich abgebildeten Gegenstands (Zögling) im Prozess seiner Beschreibung (der Unterbringungsdarstellung) drängt sich die Analogie zur akademischen Historiographie und deren sprachlicher Wende auf.420

420 Auf die Diskussionen und Debatten zur Frage der Poetologie historischen Wissens, zuletzt von HAYDEN WHITES Metahistory im Jahr 1973 neu angefacht, soll an dieser Stelle nicht explizit eingegangen werden, weiterführend WHITE (1994); WHITE (1987) in: ROSSI (Hg.) (1987), S. 57ff.;

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Hier wie dort stehen Gegenstand und Darstellung in einem radikalen Abhängigkeitsverhältnis und gleichzeitig in einer durchweg ungleichen Beziehung zueinander. Gleich, ob die Ursachen für die Verhaltensauffälligkeit eines Minderjährigen oder die Gründe für die behördliche Zusammenarbeit konfessioneller Wohlfahrtsträger bei nationalsozialistischen Tötungsaktionen „Minderwerter“ zur Untersuchung stehen: bereits in dem Versuch, den Gegenstand der Aufmerksamkeit medial zu fassen, nimmt dessen Hervorbringung ihren Lauf; in seiner medialen Fassung wird das Objekt durch die Darstellung in seiner Form und ‚seinem Wesen‘ erstellt. Die Art und Weise des Schreibens bringt den Gegenstand ebenso erst hervor wie der Kohlestift das Konterfei einer Person; die Anordnung der Geschehensmomente in Sprache stellt Ordnungen ebenso erst her wie die Verteilung vom Stift berührter und bloßer Stellen auf der Staffelei: Ordnungen, die den Gegenständen und Ereignissen selbst nicht immanent sind, und dennoch für solche gehalten werden, wie im Fall von Zöglingsakten die Untersuchung derselben zeigt. Gleich, ob sprachliche oder bildliche Darstellung, der Prozess der Poesis eines Gegenstandes ist untrennbar verknüpft mit der Poiesis des Wissens vom Gegenstand. So fördert auch Schreiben (als poietischer Vorgang) nicht allein zutage (etwa vorhandenes Wissen), sondern bringt hervor. Auch und immer in Kombination mit bereits ‚Gewusstem‘. Das zuerst vom Zögling ‚Gewusste‘ versammelt der amtsrichterliche Unterbringungsbeschluss in Fürsorgeerziehung, das Dokument eröffnet die Maßnahme und strukturiert die Unterbringungsgeschichte, es bringt den Zögling zuerst hervor. Obwohl es sich auch bei diesem hervorbringendem Dokument allem Anschein nach um den Anfangstext der Unterbringungsgeschichte handelt, setzt auch dieser nicht gänzlich neu ein, sondern integriert bereits vorhandenes ‚Vor-Wissen‘ und ‚Vor-Gänge‘ in einen teleologischen, und allein schon deshalb, sinnstiftenden Zusammenhang. Zu den Kriterien, die das Hervorgebrachte mindestens zu erfüllen hat, zählen vordringlich solche konventioneller Natur; so muss es verständlich sein und anknüpfbar. Darüber hinaus muss es erklären, Un-

zu Aufnahme und Umsetzung des WHITSCHEN Impulses vgl. u.a. FULDA (2008). Die Folgen des WHITSCHEN Vorstoßes auf die Festen der akademischen Geschichtswissenschaften sind fortdauernd virulent; eine solche zeitigt die vorliegende Untersuchung.

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sicherheit beseitigen, das Vermögen besitzen, Kontingenz zu suspendieren. Literarische Verfahren stellen derlei leistungsfähige Ordnungssysteme bereit, etwa über die Konstituierung eines ‚Bildes vom Zögling‘ mittels institutioneller Aufzeichnungen. Nun lassen Bilder sich zu derlei Wissensordnungen zählen, die für die Dauer ihrer aktuellen Nutzung auf Benennbarkeit, auf Konsistenz abzielen, die nach Eindeutigkeit streben. Diesen Gesetzmäßigkeiten des Mediums, ihrer Aneignung und Hervorbringung gleichsam unterworfen, ist das ‚Wissen vom Gegenstand‘. Nicht die Ergründung dessen ‚wahrer Natur‘, sondern seine strukturelle Domestizierung ist Anliegen solcher Vorgänge. Verstärkt (im Fall der Zöglingsakten sogar rück-verstärkt) wird dieser Effekt durch die Erfordernisse institutioneller Verwaltungsformen – der Ruf nach Anknüpfbarkeit und Vergleichbarkeit schließt individualisierte Beobachtungs- und Erklärungsweisen von vornherein aus, müssten diese doch in einer, der Umgebung exotisch erscheinenden „Sprache“ erfolgen. Auch derart profane, behördlicher Ordnungs- und Verwaltungstechnik geschuldete Gründe begünstigen fortgesetzt Anwendung und Beharrungsvermögen erprobter Ordnungsmodelle, etwa narrativ durchfärbter Darstellungsweisen. Durch sie (hindurch) strukturiert sich das Denken, Wahrnehmen und Darstellen vermeintlich höchst individueller Objekte – wie Zöglinge – nach einheitlichen Schemata. Nun könnte das fortgesetzte Insistieren auf eine Trennung von Dokumenttexten nach in erster Linie literarischen Texten und nach Sachtexten, für ein ästhetisch motiviertes Anliegen gehalten werden, womöglich nicht zu Unrecht, doch liegen die Ursachen meines andauernden Beharrens auf eine solche Unterscheidung in der Weise ihrer Wirkung, mehr noch, ihrer Wirkmächtigkeit begründet, und diese ist folgenreich. Während wir in einem ‚klassisch‘ erzählten Text meist einen Erzähler präsentiert bekommen, oder den Autoren der Erzählung in Erfahrung bringen können, verbergen diejenigen Aktendokumente, welche am Entscheidungsprozess über die weitere Verlaufsrichtung einer Zöglingsbiographie maßgeblich beteiligt waren (Berichte, Einschätzungen, Prognosen), fortwährend den einen oder anderen. Diese Dokumente geben weder ihre Bezüge preis, noch enthalten sie ein Erzählsubjekt, welches die dargestellten Eindrücke (um nichts anderes nämlich handelt es sich bei der Wiedergabe von Beobachtungen und Schlussfolgerungen) als Tatsachen präsentiert und autorisiert. Resultat

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solcher Praxis: es wird der Eindruck erzeugt und vermittelt, zumindest aber in Kauf genommen, der Text habe sich ‚von selbst‘ geschrieben, er sei Abbild der Realität. Man mag an dieser Stelle einwerfen, dass auch von anderen Dokumenten vom Texttyp Bericht nicht fortwährend eine Erzählerposition erwartet und vorausgesetzt werde, durchaus zu recht; mit dem Unterschied, dass in diesen Fällen aber die ‚Wissensbezüge‘, die Herkunftsorte der präsentierten Fakten offengelegt werden, beim Jahresabschlussbericht eines Unternehmens nicht anders als beim Untersuchungsbericht zur Arbeit eines Politikers, handelt es sich erkennbar um einen Sachtext. Bei den Zöglings-‚Berichten‘, d.h. denjenigen Dokumenten, die einen Stand, eine Entwicklung, ein Vorkommnis zu schildern in die Akte aufgenommen wurden, liegt die Sachlage nur vermeintlich ähnlich, denn sie geben nur vor, es würde sich bei ihnen um ‚faktengetreue‘, ‚reine‘ Sachtexte handeln. Der Eindruck der Faktizität des Dargestellten wird aber v.a. mittels Verzicht auf eine erkennbare Erzählerposition erzielt, (ein Indiz für einen Bericht vom Typ Sachtext), ganz i.S. von: ‚Seht her, auch ich schreibe mich von selbst, komme ohne Erzählsubjekt aus, bin also in erster Linie ein Sachtext.‘, obwohl es sich beim Zöglings-‚Bericht‘ um eine Erzählung handelt, die auch deshalb ihre Bezugnahmen nicht offen legen kann, weil diese Bezüge (narrativ bedingt) von implizitem Charakter sind. Und auf die wirksamen Grundkonzepte einer (jeden) Erzählung kann erst recht nicht eingegangen werden, entziehen sie sich aufgrund ihrer vor-textuellen Stellung im narrativen Vorgang einem sprachlich-reflexiven Zugriff. In der Wirkung führt die Nichtnennung der Bezugsquellen beim Leser zur Annahme einer Nichtexistenz solcher Orte außerhalb der aktuellen Situation, suggeriert der Nichtverweis eine Geschlossenheit, die gleichsam ‚von sich aus‘ für Wahrhaftigkeit bürgt. Dass es sich bei den als Berichte deklarierten Texten v.a. um Erzählungen handelt, soll wiederum nicht Anlass geben zur Schlussfolgerung, die Verfasser der, auf die Zöglingskonstituierung und den Verlauf der Zöglingsbiographien einflussnehmenden Texte hätten nicht ‚gewusst‘ oder wissen können, was sie dort schrieben, oder sie hätten nicht ‚gesehen‘, welches Bild vom betreffenden Zögling sie dort, in seiner Akte und vor Ort, in der Einrichtung, produzierten und weitergaben.

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Diesem Vorwurf müssen die Verantwortlichen sich aussetzen (trotz zeitlichem Abstand und möglicherweise methodischer Ungenauigkeiten beim Blick auf ihr Werk), den Wert des ihnen anvertrauten Lebens zum verhandelbaren Element einer Erziehungsmaßnahme gemacht zu haben, die vor allem – und vielleicht überhaupt – erst erzählerisch zu einer zielgerichtet ‚sinnhaften‘ und pädagogisch ‚sinnvollen‘ Maßnahme wurde. Ob die Eigenheiten des Erzählnarrativs hierfür den Ausschlag gaben, mag dahingestellt bleiben, unzweifelhaft aber boten sie den möglichen ‚Raum‘, um Handlungs- und Entscheidungs-Verantwortung zu dividieren und zu delegieren, ermöglichten ein weitgehendes Verschwinden zwischen und hinter den Texten, deren Existenz es ebenso wenig anzuzweifeln galt wie deren Richtigkeit oder Autorität. Der Vorwurf gegenüber den Verfassern der vermeintlichen Sachtexte innerhalb der Zöglingsakten beruht auch auf dem unzweifelhaften Umstand, dass einem Literaturschaffenden die Tatsache seiner Autorenschaft reflexiv zugänglich ist; er kann sich die Hervorgebrachtheit seiner Darstellung bewusst machen, seine Erzeugnisse sind von vornherein als erzeugte angelegt und gedacht – und können auch entsprechend ‚behandelt‘ werden – woraus wiederum nicht zu schließen ist, Literatur sei unwahr. Aus dieser Differenz im Reflexionsvermögen auf die Tatsache der Autorenschaft sprachlich erzeugter Realität erwächst die Brisanz der Akten-Zöglinge und ‚ihrer‘ Zöglingsakten. In den untersuchten Dokumenten findet sich an keiner Stelle auch nur ein Hinweis auf den Kompositionscharakter der für die intendierte Zöglingsbiographie entscheidenden Texte (Einschätzungen, Empfehlungen, Gutachten, Berichte). Keiner der Texte legt Zeugnis ab davon, dass sein Verfasser nicht nur schrieb, sondern auch ausließ, nicht nur ignorierte, übersah, sondern negierte, leugnete, dass er ‚Wissen‘ so lange anordnete, bis sich ein ‚brauchbares‘ Bild ‚ergab‘, welches er dann, dem Anschein nach, einfach ‚vorfand‘. Dazu zählt das Verhältnis zwischen Ursachen, Gründen und zu erklärendem ‚Verhalten‘ als ‚ihrer Natur nach‘ kausale Beziehung ebenso, wie die zur ‚Problemlösung‘ erforderlichen Maßnahmen; die ‚Sachtext-Dokumente‘ enthalten darüber hinaus ebenso einen Ausgangs- und Anknüpfpunkt für die weitere ‚Entwicklung‘ sowie das Konzept der gesamten Unterbringungsgeschichte. Der individuelle Unterbringungsverlauf eines Zöglings konnte sich von vornherein nur innerhalb dieses konzeptionellen Korridors entwickeln,

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aus der Diagnose des Jetzt erfolgte eine sichere Prognose des Später: deshalb ‚musste‘ einer der in den untersuchten Akten geführten Zöglinge zu einem solchen Minderjährigen ‚werden‘, den sein mehrfach ‚nachgewiesener Zustand‘ vorsah und zuließ: „Enkel eines Trinkers“, „triebhaft“ und „antriebslos“ zugleich, „hochgradig schwachsinnig“, „unehrlich“ und „unsauber an sich selbst“. Diese offenkundigen ‚Kausalzusammenhänge‘ zu durchbrechen, und dem Zögling eine andere Entwicklungsrichtung zu eröffnen, bedeutet nicht nur einen technischen, sondern einen gleichsam epistemologischen Schritt; aus der Erzählung mit ihren Ordnungs- und Erklärprinzipien heraus treten zu können, erfordert eine Reflexion auf die Entstehungsbedingungen des ‚berichteten‘ Zöglings. Ständen Texte wie diese ‚Berichte‘ von Mitarbeitern kirchlicher Erziehungseinrichtungen juristisch zur Debatte, könnte man ihnen nicht nur Fahrlässigkeit vorwerfen, sondern müsste Anklage erheben wegen vorsätzlicher Falschaussage. Wenn jedoch anhand der Untersuchungsergebnisse der Standpunkt vertreten werden kann, dass die Aussagen in den ‚Berichten‘ belegbar waren, nicht ‚unrichtig‘, erlogen oder phantasiert waren, dann muss diese Einsicht in das sprachlich bedingte Zustandekommen von ‚Tatsachen‘ auch über das Dokumentations- und Kompositionssystem der Erziehungsfürsorge hinaus auf weitere, gesellschaftlich relevante Bereiche Anwendung finden. Das Problem hierbei ist trivial, es lautet: Jeder Bericht, jede Feststellung, jede Äußerung enthält zwangsläufig ungleich mehr an Nicht-Bericht, Nicht-Feststellung, Nicht-Äußerung. Mein Vorwurf zielt von daher auch weniger auf dergleichen kommunikative Dialektik, sondern richtet sich gegen das (mutwillige oder fahrlässige) Unterlassen, Bedingungen und Zweck der Entstehung von Mitgeteiltem mitzudenken und mitzuteilen. Kein sprachlich fassbares ‚Wissen‘ (von und über etwas) wird ‚vorgefunden‘ oder vom Baum der Erkenntnis gepflückt wie eine Frucht. Hängt von Art und Verwendung solch sprachlich gefassten Wissens gar das Wohlergehen eines ‚Dritten‘ ab, wird davon und darüber sein ‚In der Welt-Sein‘ gar maßgeblich mitbestimmt, gilt die Pflicht zur Verantwortungsübernahme für das als ‚Tatsache‘ Hervorgebrachte ausnahmslos. Für die Tätigkeitsfelder Sozialer Arbeit ebenso wie für die theoretischen Voraussetzungen von Pädagogik bedeutet dies nicht weniger als die unablässige Überprüfung ihrer Vorstellung vom Gegenstand ihrer

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Arbeit. Ohne fortgesetzten Abgleich zwischen Gegenstand und Bild vom Gegenstand, ohne wachen Blick auf das jeweils zu verhandelnde Objekt und das Zustandekommen der anzuwendenden Maßnahmen, läuft auch – und gerade – eine in erster Linie auf die Lösung persönlicher und biographischer Konflikte ausgerichtete Profession Gefahr, dass sich die Bedürfnisse des tatsächlichen Objekts und der Umgang mit dem aus den Vorgängen sichtbaren, institutionell erzeugten, z.B. sprachlich generierten Objekt, kaum die Waage halten. Wenn Arbeit mit Menschen auf dem Wissen von diesen Menschen und ihrer individuellen Situation beruht, muss jedes Wissen zwangsläufig immer wieder von vorn beginnen. Dies mag gerade zur Praxis kollektiver Sozialer Arbeit widersprüchlich erscheinen, sich dagegen sperren, an vorangegangenen Maßnahmen ansetzen, darauf aufbauen und sie gegebenenfalls fortführen zu können; allein die Frage, worauf Prioritäten ruhen, welche Zielsetzung Soziale Arbeit verfolgen möchte – vereinheitlichende Abläufe, routinisierbare Vorgänge und schematisch ‚überprüfbare‘ Maßnahmen zu installieren, oder einen jeden Menschen hinter jedem einzelnen ‚Fall‘ zu sehen, d.h. kasuistisch, jedes Mal neu zu sehen – zwingt zu einer solchen Empfehlung. Es spielt hierbei eine untergeordnete Rolle, ob die unmittelbare Arbeit mit Menschen nach Konzepten von Heilung, Erziehung oder Rehabilitation organisiert ist, und welches dieser Prinzipien in welcher Gewichtung zum Einsatz kommt; der Erzeugung von handlungsleitendem ‚Wissen‘ – und damit von Tatsachen – ist im Vorgang der täglichen Anwendung desselben ein deutlich höherer Stellenwert einzuräumen, als es auch 70 Jahre nach den Heimaufenthalten von Fürsorgezöglingen wie A., D. und H. vielerorts durchaus noch der Fall ist. Diese Forderung soll keine grundsätzliche moralische Bewertung Sozialer Arbeit implizieren, sondern zur Hilfe und Entlastung auch der verantwortlichen Kräfte beitragen; nicht in Form monatlicher Supervisionssitzungen oder schnellen Interventionen in ‚Krisensituationen‘, sondern mittels kontinuierlicher Beteiligung ‚außenstehender‘ Fachkräfte an der Entstehung und Wartung von ‚Wissensbeständen‘. Zum Zweck der Reflexion, der Überprüfung auf die Weise des Zustandekommens von ‚Tatsachen‘ (etwa infolge unwissentlicher Anwendung narrativ-erzählerischer ‚Materialanordnung‘), zuallererst aber zum Schutz der Anvertrauten vor dem Ausgeliefertsein an einen Verbund aus institutionellen Erfordernissen und realitätsstiftender und –verteidigender Wirkmächtigkeit von Sprache.

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Der Hinweis auf die Tücken des Wissenserzeugungssystems, dessen die in diesem Bereich (auch Sozialer Arbeit) Tätigen sich bedienen, stellt freilich in keiner Weise die grundsätzliche Fragwürdigkeit politisch geförderter Segregation und ‚wissenschaftlich begründeter‘ Selektion gesellschaftlicher Gruppen oder einzelner Mitglieder zur Debatte. Die Untersuchung wurde in Achtung und Respekt vor den Erlebnissen und Erfahrungen derjenigen Menschen verfasst, deren Darstellungen sie zum Untersuchungsgegenstand gewählt hat. Die Unterbringung in öffentlichen Erziehungseinrichtungen zählte zu den realen Risiken, mit denen das Aufwachsen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden war. Der Verlauf einer solchen Unterbringung war weder absehbar – schon gar nicht nach 1933 –, noch waren die Folgen der ‚Erziehungsmaßnahmen zum Gemeinwohl‘ bei den Betroffenen abschätzbar. Das Gros der Fürsorgezöglinge erlebte weder in der Zeit der Heimerziehung noch nach ihrer Entlassung Verständnis oder Entgegenkommen seitens der unauffällig gebliebenen Bevölkerung; wenn doch, dann bestand Interesse an der Tatsache der sanktionierten Abweichung. Die Tatsache des Untergebrachtseins in Fürsorgeerziehung allein war zumeist ausreichendes Indiz für deren ‚Berechtigtheit‘, vielfach i.S. von ‚Erfordertheit‘ der Maßnahme. Aussagen zum tatsächlichen Verlauf der Erziehungsmaßnahmen, zu den tatsächlichen Vorkommnissen in den Heimen der Fürsorgeerziehung, wollte und konnte die Untersuchung nicht bereitstellen. So wissen wir nach deren Abschluss kaum mehr darüber, wie es als Zögling in einem Heim der Fürsorgeerziehung unter der Fahne des Nationalsozialismus tatsächlich war – wohl aber, was und wie davon berichtet wird. Wir können in diesen Darstellungen Muster ausmachen, die unzweifelhaft an literarische Muster erinnern, ohne jedoch in ihrer Verwendung als narrativ erzeugt und geprägt begriffen worden zu sein. Zwar bezieht die Untersuchung sich bezüglich ihres Gegenstandes wie ihres Aussagenradius’ auf den Zeitraum der Entstehung der untersuchten Materialien, der Zöglingsakten - die Wirkweise, Funktionsweise der Aufschreibeordnungen, die Darstellung zu Handhabungsund Verwaltungszwecken ist jedoch nicht auf diese Zeit beschränkt.

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Nicht anders als 80 Jahre zuvor geht es auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts darum, ein Bild vom Gegenstand, eine Vorstellung vom Objekt des Interesses zu erhalten, oder besser: sich zu verschaffen. Und da Bilder auf Konsistenz hin angelegt sind, scheinen Korrekturen und Retuschen nicht ohne weiteres möglich zu sein. Oder für nötig erachtet zu werden. Ziel der Arbeit ist es gewesen, aufzuzeigen und nachzuweisen, wie unbegründet das Vertrauen in vermeintliche Abbildungsverfahren von Sachverhalten, etwa schrift-sprachliche Darstellungen menschlicher Verfassungen und Zustände letztlich ist. Das mag womöglich lediglich akademisch motiviert erscheinen; wäre es auch, wenn die realen Folgen, die tatsächlichen Konsequenzen nicht über das darstellende Dokument hinaus reichten. Derselbe Effekt, den sich etwa Literatur begründetermaßen und berechtigterweise zunutze macht, erweist sich (gerade in Zusammenhängen institutioneller Hilfe und Verwaltung) in seiner Rückwirkung auf ‚die Welt‘, den leibhaftigen Gegenstand als zu wirkmächtig, um keiner Kontrolle, und sei es in Form kritischer Reflexion, zu bedürfen. Sprache, oder besser, Sprachverwendung ist weit weniger trivial als ihr alltäglicher Gebrauch suggerieren mag; zudem trägt, wie KERTÉSZ in seiner Selbstbefragung FRANZ KAFKA paraphrasiert, der Prozess seinen Ausgang nicht selten bereits im Verfahren mit sich.

Literatur und Quellen

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L ITERATUR

VOR

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1945

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Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7

Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0

Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart September 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2

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Histoire Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0

Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert Juli 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8

Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman 2009, 542 Seiten, kart., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1108-3

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Histoire Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert Januar 2012, ca. 380 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1834-1

Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West September 2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1897-6

Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen Februar 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3

Timo Luks Der Betrieb als Ort der Moderne Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1428-2

Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika

Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen 2009, 266 Seiten, kart., 2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3

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Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne Social Engineering im 20. Jahrhundert

Thomas Müller Imaginierter Westen Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus

2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1153-3

Petra Hoffmann Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945

2009, 434 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1112-0

Mai 2011, 408 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1306-3

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