Der Diasporakomplex: Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation 9783839444146

This transdisciplinary study analyses the "diaspora complex" and the "double semi-historical consciousnes

200 18 3MB

German Pages 336 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
1. Identität(en) in Erzählung(en) – Meine, deine oder unsere Geschichte(n)?
2. Grundlagen und Vorüberlegungen
3. Forschungsstand – Wer kennt Elif?
4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif
5. Wir sind Elif
6. Methodendiskussion
7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration
8. Geschichtsbewusstsein und Integration fördern?
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Transkriptionsregeln
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Der Diasporakomplex: Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation
 9783839444146

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Lale Yildirim Der Diasporakomplex

Histoire  | Band 141

Lale Yildirim (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte des Friedrich-Meinecke-Instituts an der Freien Universität Berlin und forscht empirisch zu den Themen Migrationsgesellschaft, Theorie und Praxis historischen Denkens und Diversität.

Lale Yildirim

Der Diasporakomplex Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Satz: Justine Buri, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4414-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4414-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung | 9 Vorwort | 11 1. Identität(en) in Erzählung(en) – Meine, deine oder unsere Geschichte(n)? | 13 2. Grundlagen und Vorüberlegungen | 21 2.1 Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft – Elifs Geschichte(n) | 22 2.1.1 »Ner[e]den nereye.« | 22 2.1.2 Wie denkt man historisch? | 26 2.1.3 Wie erzählt man historisch? | 30 2.2 Integration – Wie kann Elif dazugehören? | 32 2.2.1 Werden wie die Anderen? | 33 2.2.2 Wie wird man Amerikaner*in? | 34 2.2.3 What the son wishes to forget the grandson wishes to remember | 38 2.2.4 Wie wird man Europäer*in? | 42 2.2.5 Wie gut können sich Gäste benehmen? | 45 2.2.6 Wie wird man Teil der deutschen Gesellschaft? | 48 2.3 Identität – Auf der Suche nach Elif | 56 2.3.1 Bin ich, wer ich werde? | 62 2.3.2 Bin ich, wer ich sein soll? | 65 2.3.3 Bin ich, wer ich war? | 66 2.3.4 Bin ich nicht, wer ich sein werde? | 69 2.4 Wer ist Elif ? – Doppelt semi-historisches Bewusstsein | 71 2.5 Kann Elif teilhaben, wenn sie historisch denken kann? | 78

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif? | 87 3.1 Teilhabe an Gesellschaft | 87 3.2 Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund | 91 3.3 Wer kennt Elif ? | 104

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif | 107 4.1 Forschungsziele | 107 4.2 Forschungsdesign | 111 4.3 Sample und Datenerhebung | 113 4.4 Methodisches Vorgehen der empirischen Erhebung | 116 4.4.1 Pilotierung | 116 4.4.2 Quantitative Erhebung – Q1 | 118 4.4.3 Qualitative Erhebung – Q2 | 119 4.5 Operationalisierung | 122 4.5.1 Fragebogen | 122 4.5.2 System kategorialer Inhaltsanalyse | 129 4.5.3 Reliabilität | 131 4.6 Zentrale Ergebnisse der quantitativen Erhebung | 132 4.6.1 Sozialer, kultureller und religiöser Hintergrund | 133 4.6.2 Bildungshintergrund und Sprache | 136 4.6.3 Selbstverortung | 139 4.6.4 Interaktion | 143 4.6.5 Strukturelle Assimilation | 145 4.6.6 Interesse an Geschichte und Geschichtsunterricht | 145 4.6.7 Identifikation und Identität | 154 4.7 Ergebnisse der qualitativen Erhebung | 155 4.7.1 Gruppendiskussionen (Q2GF) | 156 4.7.2 Schriftliche Einzelbefragungen (Q2EF) | 167 4.7.3 Leitfadengestützte Einzelinterviews (Q2IF) | 172 4.8 Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Erhebung | 219 5. Wir sind Elif | 227 5.1 Geschichtsbewusstsein und Integration | 228 5.2 Typen historischer Identitätskonstruktion | 233 5.2.1 Typ I: (Deutsche*r) Türkin | 238 5.2.2 Typ II: Interkulturelle Almancı | 238 5.2.3 Typ III: Bewusste Paria | 240 5.2.4 Typ IV: Transkulturelle Paria | 242 5.3 Fallbeispiele | 243 5.3.1 Wer ist Berk? | 243 5.3.2 Wer ist Duygu? | 247

5.3.3 Wer ist Savaş? | 252 5.3.4 Wer ist Serkan? | 258 5.3.5 Vergleich der Fallbeispiele | 264

6. Methodendiskussion | 267 7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration | 271 8. Geschichtsbewusstsein und Integration fördern? | 281 8.1 Streitbare Thesen | 284 8.2 Weiterhin bestehende Forschungsdesiderate | 285 Literatur | 287 Abbildungsverzeichnis | 327 Tabellenverzeichnis | 329 Abkürzungsverzeichnis | 331 Transkriptionsregeln | 333

Danksagung Ich möchte an dieser Stelle den nachstehenden Personen meinen Dank entgegenbringen, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht zustande gekommen wäre: Mein Dank gilt zunächst Prof. Dr. Wolfgang Hasberg, ohne dessen Mitwirkung und Zuspruch ich mein Promotionsvorhaben niemals hätte angehen können. Seine freundliche Hilfe und der kritische Diskurs, den wir in zahlreichen Gesprächen führten, haben die Entwicklung meiner Arbeit maßgeblich mitbestimmt. Daneben danke ich ausdrücklich Prof. Dr. Martin Lücke für seine motivierende und konstruktive Unterstützung bei der Fertigstellung meiner Arbeit. Ferner danke ich der Kölner Graduiertenschule Fachdidaktik, die für mich während des gesamten Zeitraums meiner Arbeit eine wichtige materielle und ideelle Unterstützung war. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Bärbel Völkel, die mich in Gesprächen inspirierte und meine eigene kritische Reflexion förderte. Des Weiteren möchte ich der FUER-Gruppe, insbesondere Prof. Dr. Bodo von Borries, Prof. Dr. Andreas Körber, Prof. Dr. Christine Pflüger und Prof. Dr. Waltraud Schreiber für ihre fachliche Unterstützung danken. Danken möchte ich auch Ayfer Avci, Hayat Harrach und Ingmar Schindler sowie meinen Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freie Universität Berlin, die mich auf vielfältige Art und Weise unterstützt haben. Mein besonderer persönlicher Dank gilt meinem Mann, meinen Schwestern und meinen Eltern, die mich auf meinem Weg stets begleitet und gestützt haben. Dieses Buch widme ich meinen Kindern.

Vorwort I dentität durch G eschichte »Inzwischen ist Deutschland nämlich ein Einwanderungsland geworden, inzwischen leben Millionen Menschen hier – zu einem immer größeren Teil auch als deutsche Staatsbürger – deren historische und kulturelle Wurzeln in ganz anderen Ländern und Kulturen liegen. Wir sind uns einig darüber, dass Integration, also das Finden eines »Wir«, das Gebot der Stunde ist. Dafür genügt das Lernen der deutschen Sprache allein nicht – so unverzichtbar es ist. Eine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft – und mag sie in sich noch so differenziert sein – konstituiert sich durch gemeinsame Erzählungen, durch eine Geschichte. An dieser Stelle wird deutlich, dass mit Integration etwas viel Schwierigeres gemeint sein könnte, als nur das Erlernen der deutschen Sprache und der Besitz eines deutschen Passes.«1

Johannes Rau Rede zum Historikertag Halle, 10. September 2002

1 | www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/09/ 20020910_Rede2.html (10.07.2016).

1. Identität(en) in Erzählung(en) – Meine, deine oder unsere Geschichte(n)? Neulich im Geschichtsunterricht: Die Geschichtslehrerin Frau Schmitz hängt eine politische Karte Europas an den Kartenständer und fordert ihre Schüler*innen auf, nach vorne zu kommen und den anderen ihre ›Heimat‹ auf der Karte zu zeigen. Das Thema der vermeintlich interkulturellen Geschichtsstunde lautet: »Migration heute und damals«. Nachdem sich einige autochthone Schüler*innen gemeldet haben, bittet die Lehrerin Elif zur Karte und sagt: »Zeig doch den anderen mal, wo Du wirklich herkommst.« Elif blickt unsicher auf die Karte und deutet schließlich zaghaft auf die Stadt Köln. Die Lehrerin wirkt unzufrieden und weist sie zurecht: »Elif, jeder soll auf der Karte ›seine Heimat‹ zeigen!« Obwohl Elif und die geschilderte Unterrichtssituation fiktiv sind, dürften diese oder ähnliche Szenen Personen, denen ein sogenannter Migrationshintergrund zugewiesen wird, wohl vertraut sein. Sie resultiert aus vielen realen Erfahrungen als Gastarbeiterkind, Schülerin, Studierende, Lehrerin und Mutter aus einer türkeistämmigen Familie sowie aus dem Erfahrungsaustausch mit anderen Personen unterschiedlicher generationeller Zugehörigkeiten mit einem Migrationshintergrund.1 Die fiktive Schülerin Elif diente ursprünglich zur Visualisierung des theoretischen Worst-Case in meiner empirischen Untersuchung. Darüber hinaus steht die Figur Elif für mein Bestreben, die Konsequenzen meiner theoretischen und empirischen Überlegungen zu personalisieren und dadurch zu unterstreichen, welche konkreten Auswirkungen

1 | Zu den Personen der dritten Generation mit Migrationshintergrund zählen im Verständnis der vorliegenden Arbeit alle Personen mit mindestens einem Großelternteil, der im Zuge des Anwerbeabkommens mit der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland migriert ist. Der Begriff türkeibezogen wird als Arbeitsbegriff gewählt, da die Bevölkerung der Türkei aus zahlreichen Gruppen besteht, die sich hinsichtlich ihres religiösen Selbstverständnisses, ihrer kulturelleren Zugehörigkeit, ihrer Sprache oder ihres Migrationshintergrundes unterscheiden.

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diese auf Schüler*innen der dritten Generation mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund haben. Das zugegeben plakative Beispiel aus Elifs Schulalltag soll aufzeigen, dass auch nach über 50 Jahren Arbeitsmigration in der Bundesrepublik Vorstellungen von nationaler, ethnischer und kultureller Zugehörigkeiten beständig (Alltags-)Rassismen (re-)produzieren. Um diese zu bekämpfen, so meine These, muss auch der generationelle Blick geschärft werden. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist nicht homogen, sondern eine äußerst heterogene Bevölkerungsgruppe, zu deren Diversität Merkmale wie Sprache, Geschlecht oder soziale Gruppe, aber insbesondere die generationelle Zugehörigkeit beitragen. Statistisch betrachtet lebt in Deutschland bereits die vierte Generation von Kindern und Jugendlichen mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund. Laut Mikrozensus 2015 haben 35,9 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren in Deutschland einen Migrationshintergrund.2 Elifs Beispiel soll verdeutlichen, wie wenig generationelle Unterschiede im Alltag wahrgenommen und berücksichtigt werden. So wird Elif im Schulunterricht von ihrer autochthonen Lehrerin nach ihrer »wirklichen Heimat« gefragt, obwohl sie in Deutschland geboren wurde. Die Lehrerin weist Elif eine andere Heimat zu und spricht ihr somit die selbstverständliche Zugehörigkeit und Teilhabe zu Deutschland und damit als Deutsche ab. Die Kriterien, nach denen die Zuschreibung eines Migrationshintergrunds erfolgt, dienen zur Unterscheidung zwischen »wir« 3 und »die« bzw. »andere«. Diese Zuschreibungen werden auch im schulischen Alltag wirksam und vollzogen. Die von der Kultusministerkonferenz (KMK) formulierten Kriterien für die Verwendung des Zusatzes »mit Migrationshintergrund« haben bisher nur selten einen positiven Einfluss auf entsprechende Fremdzuweisungen, Fremdzumutungen und Distinktionen. 4 Allzu oft müssen Schüler*innen aus Familien mit einer Zuwanderungsgeschichte eine Reduktion ihrer Person auf die Migrationserfahrung ihrer Eltern oder gar Großeltern erleiden. Zusätzlich werden sie stets mit Assimilationserwartungen konfrontiert. Auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den beschriebenen Fremdzuweisungen wurden generationelle Unterschiede bisher kaum beachtet. Insbesondere die Frage, ob sich die Wahrnehmung der eigenen Identitätskonstruktion sowie der eigenen Zugehörigkeit im generationellen Vergleich unterscheidet, wurde bisher nicht empirisch untersucht. Aufgrund dieses Desiderates bedarf es eines sensibilisierten Blicks auf die dritte und vierte Generation von Menschen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland. Geschichtsdidaktische Untersuchungen von Personengruppen mit Migrationshintergrund wurden bisher nur von Personen ohne Migrationshintergrund durchgeführt. Diese Betrachtung von »außen« birgt die Gefahr einer hierarchisierenden und/oder kolonialen Perspektive. Gleichermaßen ist es auch für mich notwendig, meine eigene soziale, kulturelle und sprachliche

1. Identität(en) in Erzählung(en)

Verflechtung im Forschungsprozess zu reflektieren, wobei ein reflexives und selbstreflexives Vorgehen ohnehin immer Maßstab wissenschaftlicher Forschung sein sollte. Während meiner eigenen schulischen Lehrtätigkeit prägten mich besonders Erfahrungen mit Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Diese stellten mir bei vielen Gelegenheiten auch außerhalb des Geschichtsunterrichts historische Fragen. In Gesprächen gewann ich den Eindruck, dass diese zahlreichen Fragen aus Kontingenzerfahrungen – also aus Erfahrungen des Bruchs mit Normerwartungen heraus formuliert wurden, woraus ich auf ein hohes Orientierungsbedürfnis schloss.2 Autochthone Schüler*innen zeigten ebenfalls großes Interesse an den Fragen ihrer Mitschüler*innen und beteiligten sich interessiert an den Gesprächen und Diskussionen.3 Geschichte(n) und Gesellschaft sind soziale Konstrukte. Erinnerungskultur,4 der gesellschaftliche Umgang mit Geschichte(n) sowie das Selbstverständnis einer Gesellschaft obliegen somit einem kontinuierlichen Wandel. Diese 2 | Ich hatte den Eindruck, dass es vielen Schüler*innen offenbar bis dahin nicht möglich gewesen war, sich mit ihren Fragen an Personen außerhalb ihrer Familien zu wenden. Unter Umständen gab es außerhalb ihres vertrauten und kommunikativen Umfelds keine geeigneten Ansprechpersonen. Eine weitere mögliche Erklärung ist der Mangel an Lehrkräften mit Migrationshintergrund, die derartige Fragen in der Schule beantworten könnten. Hans-Jürgen Pandel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Begriff »Familiengespräch« einen spezifischen Familientyp unterstellt. Nur »komplette Familien« in denen Eltern besonders elaboriert mit ihren Kindern kommunizieren sowie »Mehrgenerationenfamilien« könnten laut Pandel »besonders optimale Bedingungen für die Entwicklung des Konzepts ›Vergangenheit‹« bieten. Wie es sich mit »unvollständigen Familien« verhält, zu denen Alleinerziehende sowie Familien mit Migrationshintergrund gezählt werden, lässt Pandel offen. Pandels Bild »kompletter« und »intakter« Familie bietet bereits Anlass zu Kritik. Spätestens seine Annahme, Familien mit Migrationshintergrund unvollständig und somit defizitär seien. Das muss kritisch gelesen werden. Zu Recht weist Pandel daher darauf hin, dass bezüglich dieser Familien ein Forschungsdesiderat besteht. Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, S. 154; vgl. auch Welzer: »Was wir für böse Menschen sind!«; Seixas: Geschichte und Schule, S. 217. 3 | Geschichte soll nach Klaus Bergmann dazu beitragen, »ethnisch-politische Grundsatzfragen der Gegenwart und der erwartbaren Zukunft vielseitig zu sehen.« Diese »Schlüsselprobleme« (Klafki) betreffen alle Beteiligten, die einen Sinnzusammenhang in ihrer Gegenwart herstellen müssen. Bergmann: Gegenwartsbezug – Zukunftserwartung, S. 39. 4 | »Erinnerungskultur« wird verstanden als formaler Oberbegriff, der alle denkbaren Formen des bewussten Erinnerns an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse beschreibt. Vgl. Cornelißen: Erinnerungskultur Version: 2.0; vgl. Hockerts: Zugän-

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Grundannahme verweist auf ein hohes Konfliktpotenzial des Erinnerns bzw. Vergessens und des Erzählens von Geschichte(n), da neben »divided und shared memories« ebenso »conflicting memories« entstehen.5 Die Variabilität dieser sozialen Konstrukte erfordert einen reflektierten und selbstreflexiven Umgang mit Geschichte(n) und Gesellschaft. Dieser ist die Voraussetzung für die eigene Teilhabe an den dynamischen Veränderungen von Geschichte und Gesellschaft. Karl-Ernst Jeismann unterstrich Ende der 1980er Jahre die Bedeutung des Geschichtsbewusstseins in einer Gesellschaft als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik und betonte deren gesamtgesellschaftliche Relevanz.6 Jeismann warnte davor, Geschichte zu einer Identitätsstiftung durch Abgrenzung zu missbrauchen, um dadurch vermeintliche Sicherheit, Orientierung oder Distinktion zu erzielen. Meine geschilderten Erfahrungen in Schulen sowie meine eigene Geschichte führten mich zu folgender Frage: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration?7 Dabei muss ich selbstkritisch anmerken, dass auch ich bei der Formulierung meiner Forschungsfrage von gesellschaftlich vorherrschenden Topoi oder Verknüpfungen wie Migration – Integration – Herausforderung beeinflusst bin, und aufgrund der aktuellen politischen Debatten um Integration und Anpassung nicht nach dem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Inklusion frage.8 Dennoch sind meine Überlegungen Ausdruck eines ausdrücklich postintegrativen Verständnisses von Integration und eines postmigrantischen Verge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, S. 41. 5 | Siehe dazu Lücke: Erinnerungsarbeit, S. 358; Ders.: Auf der Suche nach einer inklusiven Erinnerungskultur, S. 62; Barricelli: Narrativität, Diversität, Humanität – Vielfalt und Einheit im Prozess des historischen Lernens, S. 283, 285, 289. 6 | Jeismann: Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, S. 58. Zu Karl-Ernst Jeismanns Ausführungen ist kritisch anzumerken, dass er diese in späteren Schriften nicht wieder aufgegriffen oder weiter ausgeführt hat. Daher kann das Zitat auch als Versuch Jeismanns gelesen werden, sich im disziplinären Diskurs gegenüber der maßgeblich von Annette Kuhn (Kuhn: Eine Einführung in die Didaktik der Geschichte) geprägten emanzipatorischen Geschichtsdidaktik zu positionieren. 7 | Hartmut Esser definiert Integration wie folgt: »Im gesellschaftlichen Bereich sind zwei Arten der Integration zu unterscheiden: die Systemintegration und die Sozialintegration. Systemintegration bezeichnet den Zusammenhalt eines sozialen Systems, wie eine Gesellschaft, als Ganzes. Die Sozialintegration bezieht sich auf die individuellen Akteure und bezeichnet deren Einbezug in ein bestehendes soziales System (wie eine Gesellschaft). » Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 1. 8 | Unter Inklusion wird eine uneingeschränkte und gleichberechtigte Teilhabe an Gesellschaft verstanden.

1. Identität(en) in Erzählung(en)

ständnisses von Migrationsgesellschaft,9 welches sich mit einem weit gefassten Inklusionsbegriff verbindet.10 Blickt man auf jüngste politische Debatten um Flucht und Migration, die seit dem Winter 2015 zum alltäglichen Nachrichtenbild gehören, so gilt es festzuhalten, dass im öffentlichen Diskurs vor allem von Integration gesprochen wird – verstanden als Anpassung bzw. Assimilation an die deutsche Zielgesellschaft, jedoch nicht von Inklusion. Einen bedenklichen Höhepunkt dieses Anpassungsdiskurses stellen die »zehn Thesen« des damaligen Innenministers Thomas de Maizières von 2017 dar. Dieser forderte nicht nur die Assimilation an »unsere« (die eine) deutsche Leitkultur, sondern spitzte die Vorstellung nationaler, ethnischer und kultureller bis hin zu völkischen Zugehörigkeiten zu, und sprach von einem deutschen »aufgeklärten Patriotismus«,11 der auf einem christlichen Fundament beruhe, und der im Zentrum der westlichen quasi Welt als Verkörperung der »europäischste[n] Europäer« existiere.12 Dieses Beispiel unterstreicht die Aktualität und Relevanz der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration. In der medialen Öffentlichkeit begegnet man immer häufiger rechtspopulistischen Forderungen nach nationaler Identität. Führende Politiker*innen der Alternative für Deutschland (AfD) fordern eine »erinnerungspolitische Wende« oder gar die »Entsorgung« der damaligen Staatsministerin Aydan Özoguz.13 Im alltäglichen Miteinander bemerken Menschen gesellschaftliche 9 | Der Begriff der Migrationsgesellschaft löste in öffentlichen Debatten der 2000er Jahre allmählich den Begriff der Einwanderungsgesellschaft ab, der sich auf die einmalige Immigration und die rechtliche gestützte Zugehörigkeit fokussiert und somit Migration als additiven Vorgang betrachtet. Vgl. dazu Mecheril: Migrationspädagogik, S. 8. 10 | Mecheril: Was ist das X im Postmigrantischen? 11 | Puschner: Die völkische Bewegung, S. 5ff. 12 | Thomas De Maizière: Wir sind nicht Burka. In: Bild-Zeitung Ausgabe 02.05.2017. Online verfügbar unter: www.bild.de/news/aktuelles/news/wir-sind-nicht-burka-demaizieres-thesen-51560496.bild.html (05.05.2017). 13 | Björn Höcke (AfD-Vorsitzender in Thüringen und ehemaliger Oberstudienrat für Sport und Geschichte) hielt in Dresden am 17. Januar 2017 eine Rede im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Dresdener Gespräche«, in der er das Holocaust Mahnmal in Berlin als »Denkmal der Schande« bezeichnete und »eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« forderte. Das Transkript ist online verfügbar unter: http://pastebin.com/ jQujwe89 (29.12.2017). Martin Sabrow deutet Höckes Rede als Infragestellung des Paradigmas der Aufklärung, vgl. dazu Sabrow: Höcke und wir, 25.01.2017. www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/hoecke-und-wir (02.02.2017); Alexander Gauland Wahlkampfrede am 27.08.2017 in Eichsfeld am https://www.welt.de/politik/deutschland/ar ticle168043343/Gauland-spricht-in-Thueringen-von-Entsorgung-Oezoguz. html (20.12.2017).

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Veränderungen häufig zunächst durch Erfahrungen, die sie als fremd wahrnehmen. Diese Erfahrungen führen oftmals zu Irritationen und scheinen gewohnten Kontinuitäten im Wege zu stehen. Nach demselben Muster wird auch Migration häufig als irritierende Veränderung oder als Problem wahrgenommen. Die Veränderung der vermeintlich homogenen und damit stabilen und sicheren eigenen Gesellschaft und Kultur wird als bedrohliche »Überfremdung« verstanden.14 Diese erwartete oder erlebte Kontingenz wird als Bedrohung wahrgenommen. Da die Auswirkungen dieses Wandels nicht vorhersehbar sind, kann dieser starke Empfindungen von Verunsicherung oder einen Verlust der Orientierung in der Gesellschaft auslösen. Das Bedürfnis nach eindeutigen Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten verstärkt dabei die Empfänglichkeit für ebenso einfache wie absolute Antworten. Diese versprechen schnelle Versicherung, Orientierung und Kontinuität, indem sie auf angebliche (historische) Kontinuitäten, vermeintlich homogene Strukturen und Traditionen rekurrieren. Dies gilt für Deutschland ebenso wie etwa für die Türkei. Blickt man auf die Türkei – den kulturellen Herkunftsraum der ersten Generation von Arbeitsmigrant*innen – so kann man erkennen, in welchem politischen, kulturellen, wirtschaftlichen, religiösen und historischen Wandel sich die vormals nach Werten des Kemalismus und der Aufklärung orientierte Türkei spätestens nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 befindet. Das 2017 abgehaltene Referendum zur Verfassungsänderung wäre schon an sich ein Indikator für Verunsicherung und Irritation. Betrachtet man darüber hinaus das Ergebnis des Referendums, so ist eine tief gespaltene Gesellschaft zu erkennen, die um ein einheitliches Masternarrativ für die eigene Identitätskonstruktion ringt. Aus deutscher Perspektive wird vor allem ein Unverständnis über die Positionierung von in Deutschland lebenden Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund geäußert. Diese, so der (implizite) Vorwurf, zeigten sich nicht nur stark betroffen von den politischen Entwicklungen in der Türkei, sondern feierten ihre Identität als (muslimische) Türk*innen in exponierter, kontroverser sowie fanatischer Art und Weise. Tatsächlich wird das wirkungsmächtige Identitätsangebot, das die türkische Regierung insbesondere unter 14 | Der ursprünglich rein betriebswirtschaftliche Begriff »Überfremdung« entwickelte sich während des Nationalsozialismus zur ideologischen Parole für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Neue Popularität gewann der Begriff als »Unwort des Jahres« 1993 (vgl. www.unwortdesjahres.net/index.php?id=29, (02.01.2018) sowie als Kampfbegriff der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (PEGIDA), der AfD sowie anderer. Siehe hierzu online: www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/pegida-kampfbegriffe-was-verbirgt-sich-hinter-der-rhetorik-a-1011755. html; ht tp://zuer st.de/2017/02/07/fahrplan-zur-ueber fremdung-afd-politikersteffen-kotre-ueber-die-gefahr-der-massenzuwanderung/(23.02.2017).

1. Identität(en) in Erzählung(en)

Recep Tayyip Erdoğan der türkeistämmigen Bevölkerung im Ausland macht, von vielen Teilen der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland euphorisch angenommen und zum Teil wie eine Heilsverkündung verstanden. Wie kann das erklärt werden? Bedeutet das, dass die Integration von Menschen mit türkeibezogenem Hintergrund in Deutschland gescheitert ist? Aus geschichtsdidaktischer Sicht regen die erwähnten Irritationen und Verunsicherungen zu historischen Fragen an. In diesen Verunsicherungen spiegelt sich die Hoffnung wider, durch eine Deutung der Vergangenheit Orientierung in der Gegenwart zu erlangen und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Das Bedürfnis nach der Beständigkeit des Eigenen im Wandel der Zeit kann durch eine Vorstellung gestillt werden, die Geschichte als Kontinuum von Zeitverläufen in eben jenem Wandel der Zeit versteht. Zugleich zeigt dieser Drang, Geschichte allein zum Zwecke der Orientierung und der Herstellung von Kontinuitäten zu nutzen, eben auch die Gefahren eines solch instrumentellen Umgangs mit Geschichte. Die Dichotomisierung zwischen Eigenem und Fremdem sowie zwischen eigenen und fremden Geschichten kann so als Kompensationsreaktion verstanden werden, die das Ziel verfolgt, gesellschaftlichen Wandel zu beschränken oder zu normieren. Die Dichotomie zwischen eigen und fremd birgt die Gefahr, die eigene Identität allein in der Negation beschreiben zu können. Die Abgrenzung vom anderen kann jedoch die Frage »Wer bin ich?« letztlich nicht beantworten. Die Fragen »wer sind die anderen?« und »was unterscheidet uns von ihnen?« können eine positiv-produktive Formulierung der eigenen Identität nicht ersetzen. Hierzu ist vielmehr eine Auflösung der Dichotomie zwischen Eigenem und Fremdem notwendig. Dies könnte mit der Suche nach Schnittmengen, mit der Frage »wer sind wir?« beginnen. Die Antwort würde bedingen, Vielfalt nicht als Bedrohung zu verstehen, sondern als Normalität, und Migration nicht als Problem zu empfinden, sondern als Ansatz für das Verständnis einer produktiven transkulturellen Identität einer sich ständig reflektierenden Gesellschaft und Kultur. Die vorliegende Forschungsarbeit widmet sich der explorativen empirischen Untersuchung des Geschichtsbewusstseins, der historischen Identitätskonstruktion sowie der Integration von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Die leitende Forschungsfrage erkundet den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration. Das Erkenntnisinteresse ist bewusst weit gefasst, um eine Zusammenführung theoretischer Annahmen und empirischer Erkenntnisse zu ermöglichen, diese zu analysieren und produktiv für Theorie und Pragmatik zu machen. Die vorliegende Arbeit bezieht sich daher sowohl auf weite Bereiche der Migrationsforschung und der Sozialwissenschaften als auch auf Methoden der empirischen Sozialforschung. Zentral ist jedoch die Verankerung in der Geschichtsdidaktik und das Forschungsinteresse an der Erkundung und

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Der Diasporakomplex

Darstellung des Geschichtsbewusstseins – nebst dessen Zusammenhang mit Integration. In der pluralistischen Bundesrepublik Deutschland, die sich mittlerweile als Migrationsgesellschaft verstehen muss, stellt sich die Frage, wie der Umgang mit Geschichte, die historische Identität und die Integration im Geschichtsunterricht verhandelt werden und inwieweit dieses jeweilige Verständnis den gesellschaftlichen Anforderungen für eine Teilhabe aller gerecht wird. Die Relevanz der empirischen Erforschung historischer Identitätskonstruktionen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund wurde zwar bereits erkannt, doch weist diese nach wie vor zahlreiche Desiderata auf. Die nachstehend in dieser Arbeit verwendeten Arbeitsbegriffe Gastarbeiter*in, Migrationshintergrund, dritte Generation und Integration beziehen sich ausdrücklich auf die bisherige Forschung. Die Verwendung dieser Begrifflichkeiten beinhaltet keinerlei politische Konnotation meinerseits.15 In den folgenden Kapiteln leite und kontextualisiere ich zunächst die theoretischen und konzeptionellen Grundannahmen zu den zentralen Begrifflichkeiten Geschichtsbewusstsein, Integration, Migration, Generation und Identität her, und bereite sie für den weiteren Untersuchungsverlauf transparent auf. Eine ausführliche Darlegung und Herleitung des zugrunde gelegten begrifflichen und theoretischen Verständnisses ist für die folgende Operationalisierung meiner Forschungsfrage unerlässlich. Dieses Vorgehen ist die Voraussetzung für die Begründung und Kritik des methodischen Vorgehens in der konzeptionellen Ausgestaltung des Designs, des Samples, der Methode, der Erhebung sowie der Auswertung. Der folgenden Datenauswertungen folgen einer Ergebnistriangulation und Typenbildung auf deren Grundlage die Forschungsfrage nach einem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Integration beantwortet und diskutiert wird, um im Anschluss streitbare Thesen für eine Fortführung des fachlichen Diskurses zu formulieren.

15 | Den Begriff Gastarbeiter*in verwende ich ausschließlich, wenn eine Person diesen für sich selbst wählt oder er deren Selbstverständnis wiedergibt. Synonym dazu verwende ich den Begriff Arbeitsmigrant*in. Unter Integration verstehe ich den gesellschaftlichen Einbezug von Personen oder Gruppen, die aus unterschiedlichen Gründen von der Ziel-Gesellschaft exkludiert werden oder sich in Sub-Gesellschaften von dieser trennen. Integration hebt demnach Exklusion und Segregation auf und ist selbst ein interdependenter dynamischer Entwicklungsprozess. Als Inklusion ist ein Prozess zu verstehen, in dem alle Personen und Mitglieder als selbstverständliche Teile einer Gesellschaft verstanden werden und in diese mit einbezogen sind. Exklusion und Segregation sind demnach keine prozessimmanenten Erscheinungen, da sich Gesellschaft sonst als dynamisches konstruktivistisches Kollektiv verstünde/verstehen müsste, welches seine Zugehörigkeiten stetig neu reflektiert und so/in Folge dessen die Dichotomie des Eigenen und des Fremden überwände.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen Kann Geschichtsbewusstsein zu einer Förderung von Integration beitragen? Um diese Frage zu beantworten, muss der Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Integration zunächst allgemein untersucht werden.1 Das ist das Ziel der vorliegenden empirischen Studie. Bevor ich auf den derzeitigen Forschungsstand, das Forschungsdesign, das Sample sowie die methodische Vorgehensweise der Erhebung und der Auswertung eingehe, möchte ich die der Untersuchung zugrundeliegenden Begriffe und theoretische Konzepte herleiten und beschreiben, um so die Transparenz des Untersuchungsansatzes zu garantieren. Die Erforschung des Zusammenhangs von Geschichtsbewusstsein und Integration erfordert eine Analyse der (historischen) Identitätskonstruktion. Sowohl Geschichtsbewusstsein als auch Integration und (historische) Identität sind bereits jeweils für sich genommen komplexe Konstrukte, die für eine empirische Erhebung operationalisiert werden müssen. Daher erläutere ich im Folgenden mein Verständnis folgender Begriffe: Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Integration und Identitätskonstruktion. Anschließend reflektiere und diskutiere ich die Ergebnisse im Kapitel 5 und 7 hinsichtlich ihrer theoretischen Vorannahmen, und formuliere in Kapitel 8 Thesen, die produktiv für fachlichen Diskurs verstanden werden wollen.

1 | Kernlehrplan für die Hauptschule in Nordrhein-Westfalen, Gesellschaftslehre. Erdkunde, Geschichte/Politik, S. 10; Kernlehrplan für die Realschule in Nordrhein-Westfalen, Geschichte, S. 10; Kernlehrplan für das Gymnasium Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen, Geschichte, S. 19.

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2.1 G eschichtsbe wusstsein in der G esellschaf t – E lifs G eschichte (n) 2.1.1 »Ner[e]den nereye.« 2 Das türkische »Ner[e]den nereye.« kann sowohl im zeitlichen wie im räumlichen Sinne als »woher, wohin« übersetzt werden. Obwohl es sich um Fragewörter handelt, haben wir es hier jedoch nicht mit einer Frage, sondern mit einer Aussage zu tun. In ihr artikuliert sich eine gegenwärtige Kontingenzerfahrung: Zukunftsprognosen aus der Vergangenheit treffen nicht ein. Konstruierte Kontinuitäten können einer flexiblen und weder einer sich wandelnden Gegenwart noch einer Zukunft gerecht werden. Für die Untersuchung des Zusammenhangs von Geschichtsbewusstsein und Integration wurden Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund befragt. Da die Denomination türkeibezogener Migrationshintergrund auf die familiäre Zuwanderungsgeschichte sowie auf das Herkunftsland der Großeltern verweist, skizziere ich zunächst die staatlich-institutionellen Leitlinien des Geschichtsunterrichts in der Türkei, um mögliche Aussagen über geschichtskulturelle (Vor-)Prägungen oder (Nach-) Wirkungen bei Personen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund analysieren zu können. Nachfolgend ist die Übersetzung von Tarih Dersi Genel Amaçları [Leitlinien für den Geschichtsunterricht an türkischen Schulen von 2007, eigene Übersetzung] wiedergegeben:3 1. Schüler sollen Atatürks Prinzipien und Reformen kennen und bewahren. Schüler sollen die politische, soziale, kulturelle und ökonomische Entwicklung der türkischen Republik kennen. Schüler sollen den Wert der laizistischen, demokratischen, nationalen und modernen Türkei erkennen und bewahren. 2. Schüler sollen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrnehmen, um geschichtliches Bewusstsein zu erlangen. 3. Schüler sollen die der türkischen Kultur und Geschichte zugrundeliegenden Elemente und Prozesse verstehen. Die Schüler sollen Verantwortung für die Bewahrung und Förderung des kulturellen Erbes übernehmen.

2 | Serkan: »Ner[e]den nereye.«, Zitat aus Einzelinterview mit Serkan, Gymnasiast mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation. 3 | Türkisches Bildungsministerium: T. C. Millî Eğitim Bakanlığı, Talim ve Terbiye Kurulu Başkanlığı: Dersöğretim Programı (9. Sınıf). Tarih Dersi Genel Amaçları, Ankara 2007, S. 4. Eigene Übersetzung der Leitlinien des Geschichtsunterrichts in der Türkei in der Jahrgangsstufe Neun.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen 4. Schüler sollen eine nationale Identität ausbilden. Sie sollen die Elemente, die diese Identität bilden, verstehen und die Notwendigkeit der Bewahrung der nationalen Identität erkennen. 5. Schüler sollen aus der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart die Bedeutung der nationalen Einheit verstehen. 6. Schüler sollen Wissen über vergangene Zivilisationen und lebende Völker aufbauen. 7. Schüler sollen Verständnis/Wissen über die türkische Nation und ihren Platz in der Entwicklung der Weltkultur und ihren Dienst an der Menschheit aufbauen. 8. Die Neugier der Schüler auf die Welt und die Kultur, die sie umgibt, soll gestillt werden. 9. Schüler sollen verstehen, dass Geschichte nicht allein in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereichen realisiert wird, sondern dass die Menschen die Subjekte der Geschichte sind. 10. Schülern sollen geschichtswissenschaftliche Methoden vermittelt werden, um historische Methodenkompetenz zu erlangen. 11. Schüler sollen verschiedene Zeiträume, Orte und Menschen analysieren und politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rückschlüsse auf die eigene Gegenwart bilden können. 12. Schüler sollen ein Verständnis für die Bedeutung von Frieden, Toleranz sowie gegenseitigem Verständnis als Grundwerte der Demokratie und der Menschenrechte entwickeln. Sie sollen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der Bewahrung und Entwicklung dieser entwickeln. 13. Schüler sollen durch ihre Verbundenheit mit den eigenen kulturellen Werten eine Grundlage für die Interaktion mit anderen unterschiedlichen Kulturen erhalten. 14. Schüler sollen historische Forschung zu Kultur und Zivilisation durchführen können, um wissenschaftliche, ästhetische und künstlerische Werte zu generieren. 15. Schüler sollen in der Lage sein, historischen Narrationen effektiv, schriftlich und mündlich Ausdruck zu verleihen, indem sie die türkische Sprache verwenden.

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Die Leitgedanken der zitierten Richtlinien sind formuliert auf der Grundlage der Stiftung einer türkischen Nationalidentität sowie der Wahrung einer türkischen Kultur. Diese Ideen prägen den Geschichtsunterricht seit der Gründung der türkischen Republik. Sie finden sich auch in Mustafa Kemal Atatürks Rede an die Jugend wieder, die starken Einfluss auf die Erziehung der ersten Generation – der Großelterngeneration – hatte.4 Darin wird den nachfolgenden Generationen die Verantwortung für Frieden und Fortschritt der türkischen Republik übertragen. Das Wissen von der nationalen Gründungsgeschichte soll zur Bildung geschichtlichen Bewusstseins beitragen, das wiederum eine türkische Nationalidentität stiften soll. Die Geschichte der Republik wird als gemeinsame fortschrittliche Entwicklung zur Orientierungsbasis einer faktisch pluralistischen Gesellschaft erzählt und verstanden.5 Die Idee einer gemeinsamen und erfolgreichen Geschichte der Türkei, sprich der Sieg im türkischen Befreiungskrieg, bildet die Basis eines nationalen Identitätsangebots für alle auf dem Staatsgebiet der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen sowie 4 | Nach den Richtlinien des türkischen Bildungsministeriums sind die Schulen verpflichtet, in jedem Klassenraum über der Tafel ein Bild Mustafa Kemal Atatürks sowie seine Rede an die Jugend aufzuhängen. Türkische Schulbücher zeigen oft auf der ersten Seite seine Bilder und Zitate sowie die Rede an die Jugend. Ein Auszug aus der Rede an die türkische Jugend lautet: »Türkische Jugend! Deine erste Pflicht ist, die nationale Unabhängigkeit, die türkische Republik immerdar zu wahren und zu verteidigen. Das ist die einzige Basis Deiner Existenz und Deiner Zukunft. Diese Basis enthält Deinen kostbarsten Schatz. Auch in der Zukunft wird es im Lande selbst wie im Ausland Missgunst geben. […] Es ist möglich, dass die Feinde, die Deine Unabhängigkeit und Deine Republik vernichten wollen. […] Selbst unter diesen Umständen und unter diesen Bedingungen, oh türkisches Kind zukünftiger Jahrhunderte, ist es Deine Pflicht, die Unabhängigkeit, die türkische Republik zu retten. Die Kraft, die Du hierzu brauchst, ist mächtig in dem edlen Blut, das in Deinen Adern fließt. […]« 20. Oktober 1927, eigene Übersetzung. Original: Atatürk: Nutuk: 1919-1927, 1927, eigene Hervorhebung. Siehe dazu auch die deutsche Übersetzung, die auf der Übersetzung ins Französische beruht, die unter der Aufsicht des Verfassers Mustafa Kemal Atatürk hergestellt wurde: Die neue Türkei: 1919-1927, Band 2, S. 388. Siehe auch Atatürk: Rede auf dem Kongress der Lehrervereinigung: »Die Lehrer sind die Retter der Nation. Meine Lehrer! Die neue Generation wird Ihr Werk sein. Die Republik braucht charakterfeste Hüter, die geistig, wissenschaftlich und körperlich stark sind.« 25.08.1924, eigene Hervorhebung. Online unter: http://elt. sakarya.edu.tr/tr/icerik/0/8037/misyon-ve-vizyon (28.02.2017). 5 | Die kemalistische Türkei versucht den nationalen Zusammenhalt durch eine Identitätserweiterung zu stärken. Mittels einer Dachidentität und eines Selbstverständnisses als Türkin oder Türke sollen ethnische, regionale und konfessionelle Unterschiede überwunden werden, um so das osmanische oder konfessionelle Selbstverständnis zu erweitern oder sogar faktisch zu ersetzen.

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deren Angehörige und Nachkommen. Eine stabile türkische Nationalidentität sowie historische Kompetenzen, so die zitierten Richtlinien, sollen einen interkulturellen Austausch ermöglichen und fördern. Neben diesem Masternarrativ wird die Bewahrung des historischen Erbes sowie der türkischen Kultur den nachkommenden Generationen als Aufgabe übertragen. Zudem wird sie institutionell, ästhetisch und kognitiv,6 also geschichtskulturell verankert.7 Historiografisch betrachtet, fordert und fördert die kemalistische Kulturrevolution einen historischen Positivismus.8 Eine gemeinsame Erinnerungskultur, begründet auf im Kollektivgedächtnis verankerter Masternarrative, wird somit zur identitätsstiftenden Leit- bzw. Nationalgeschichte.9 Als solche kann der Mythos von der siegreichen türkischen Staatsgründung als Teil des kommunikativen Gedächtnisses (über drei bis vier Generationen) bei in Deutschland lebenden Personen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund fortwirken.10 Ein Blick auf die Leitlinien des Geschichtsunterrichts in der Türkei, in denen das Anliegen der Stiftung einer türkischen Nationalidentität deutlich zu Tage tritt und kemalistische Reformbemühungen noch immer nachwirken, zeigt einen anderen Umgang mit Geschichte als im deutschen Geschichtsunterricht.11

6 | Zum Begriff Masternarrativ bzw. Meistererzählung siehe Düllfer: Zeitgeschichte in Europa – oder europäische Zeitgeschichte?; Jarausch/Sabrow: Die historische Meistererzählung; Thijs: Drei Geschichten, eine Stadt. Die Berliner Stadtjubiläen von 1937 und 1987, S. 20; www.kulturglossar.de/html/m-begriffe.html#meistererzaehlung (12.03.2017). 7 | Rüsen: Was ist Geschichtskultur?, S. 11ff. Siehe dazu auch Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, S. 16ff. Ders.: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, S. 53ff. Kritisch zum Begriff der Geschichtskultur und seiner Nutzung in der Geschichtswissenschaft Pandel: Geschichtskultur. 8 | Alkan: Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei. 9 | Siehe Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 39. 10 | Ebd., S. 48-66, hier S. 50. 11 | Siehe dazu Angvik/von Borries: Youth and History, S. 310-A 315, hier S. 311: »Turkish students oppose the view that ›History is a school subject and no more,‹ to an extent that is unmatched in any of the other countries.« und S. 312: »In spite of the very strong emphasis here on religion as being very important for the respondents. […] History as a source of pride and past glory, in comparison to a less spectacular present […].«

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2.1.2 Wie denkt man historisch? Nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg zerfiel das Osmanische Reich. Die Alliierten kontrollierten große Gebiete der heutigen Türkei und planten eine territoriale Aufteilung. Diese Pläne entfachten den Nationalen Widerstand (Milli Mücadele) und führten zu einem Partisanenkrieg. Die bewaffneten Nationalen Kräfte (Kuvayı Milliye) begannen am 19. Mai 1919 den sogenannten Befreiungskrieg (Kurtuluş Savaşı), der am 29. Oktober 1923 mit der Ausrufung der Türkischen Republik endete.12 Das in der Türkei vorherrschende Bild von der Gründung des Staates lässt sich also als Siegermythos verstehen. Ganz anders ist das Masternarrativ der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Die BRD wurde 1949 vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und des verlorenen Zweiten Weltkriegs gegründet. In der Präambel des Grundgesetzes übernahm die Bundesrepublik historische Verantwortung und formulierte ihr Ziel eines friedlichen Europas.13 Auch das zentrale Anliegen des Geschichtsunterrichts in der Bundesrepublik unterscheidet sich vom oben skizzierten Siegermythos: Dieser basiert nicht (mehr) auf die Stiftung einer deutschen Nationalidentität. Inwieweit sich eine Erzählung des Siegermythos noch in der dritten Generation von Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wiederfinden lassen, wird in der Ergebnisauswertung untersucht werden. Die Ergebnisse der europäischen Studie Youth and History zum Geschichtsbewusstsein von 1997 lassen vermuten, dass sich familiäre Zuwanderungsgeschichte(n) auch auf das Geschichtsbewusstsein der dritten Generation von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund auswirken. Bodo von Borries weist in der Studie auf Korrelationen zwischen sozioökonomischen Kriterien wie dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (BIP) oder dem Grad der Modernität (verstanden als Säkularisierung und Individualisierung) einerseits und dem Geschichtsbewusstsein andererseits hin.14 Beim Vergleich der Ergebnisse aus der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich, 12 | Die Nationalen Kräfte (Kuvayı Milliye) bestanden aus desertierten Offizieren der Osmanischen Armee, ehemaligen Anhängern der Jungtürken und anderen Freiwilligen. Organisiert wurden sie von der Gesellschaft zur Verteidigung der Rechte der Rumelien und Anatolien unter Mustafa Kemal Atatürk. Siehe dazu Alkan: Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei. 13 | In der Präambel heißt es: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.«, Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 23. Mai 1953. 14 | von Borries: Jugend und Geschichte, S. 286-317.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

dass der Grad der Modernität die geschichtskulturelle Verschiedenheit zu prägen scheint.15 Daher sollen in der vorliegenden Arbeit nicht nur die geschichtskulturellen Einflüsse in Deutschland, sondern auch die geschichtskulturellen Vorprägungen, die familiären Geschichten sowie der Umgang mit Geschichte in den jeweiligen Familien untersucht werden. Das kommunikative Gedächtnis der Familie und des engeren sozialen Umfelds der Schüler*innen könnten sich als entscheidend herausstellen. Seit den 1970er Jahren gilt das Konzept des Geschichtsbewusstseins als die zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik. Vor allem die Arbeiten Karl-Ernst Jeismanns, der Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft als »das Insgesamt der unterschiedlichsten Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit« definierte, förderten die Etablierung des Begriffs.16 Jörn Rüsens Beschreibung der Zeitdifferenz des historischen Denkens als »Sinnbildung über Zeiterfahrung« unterstrich die zentrale Bedeutung des Begriffs.17 Dem konzeptionellen Verständnis des Verhältnisses von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur liegt die Annahme zugrunde, dass eine Annäherung an das Geschichtsbewusstsein über dessen »praktisch wirksame Artikulation […] im Leben einer Gesellschaft«, also über die (gelebte) Geschichtskultur erfolgen kann.18 Entsprechend kann individuelles und kollektives Geschichtsbewusstsein nur im wechselseitigen Austausch mit Geschichtskultur entstehen. Nach Maurice Halbwachs entwickelt sich das Gedächtnis erst in der Sozialisation und ist daher immer kollektiv geprägt. Die sozialen Rahmen (cadres sociaux) bestimmen die kollektiven Erinnerungen und das Gedächtnis. Angewandt auf die Konzepte Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur hieße dies, dass sich individuelles Geschichtsbewusstsein nicht aus sich selbst heraus und nicht ohne kollektiven Rahmen entwickeln kann. Geschichtskultur ist die »praktisch wirksame Artikulation des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft« (Jörn Rüsen). Die Geschichtskultur wirkt demnach immer strukturell prägend auf das individuelle Geschichtsbewusstsein. Wenn Erinnerung – vermittelt durch soziale Rahmen – stets kollektiv ist, etwa in Form eines gemeinsamen Gruppengedächtnisses oder einer kollektiven Erinnerungskultur, so kann es kein artikuliertes rein individuelles Geschichtsbewusstsein geben.19 15 | Ebd., S. 317, Grafik 70. 16 | Jeismann: Didaktik der Geschichte, S. 12f. 17 | Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen, S. 508. Siehe dazu auch GüntherArndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb; Schönemann: Geschichtsbewusstsein – Theorie; von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein, S. 9-13. 18 | Rüsen: Was ist Geschichtskultur? S. 5; Ders.: Geschichtskultur, S. 513. 19 | Siehe dazu Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire, S. 125; Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 36f.; Rüsen: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, S. 5.

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Ausgehend von der zentralen Fragestellung nach einem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Integration wird die Hypothese formuliert, dass Integration ein wechselseitiger Prozess zwischen Individuen und Kollektiven ist. Demgemäß muss die Performanz des Geschichtsbewusstseins analysiert werden, die sich in der Geschichtskultur zeigt.20 Jörn Rüsen entwarf dazu in seiner Erörterung des Gegenstands der Historik 1983 eine disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft.21 Diese zeigt in einer kognitiven Erweiterung der historischen Methode Johann Gustav Droysens22 den Prozesscharakter historischen Denkens. Die Funktion des historischen Denkens, die Rüsen als Daseinsorientierung bezeichnet, zeigt die Schnittstelle zu Integration und Identitätskonstruktion. Das Interesse an Geschichte, das auf einem fundamentalen Orientierungsbedürfnis in der Gegenwart beruht, bildet die Grundlage für eine Erweiterung der eigenen Identität oder für die Bewältigung von Identitätskrisen.23 Kritisch muss zu diesem Grundgedanken der Rüsen’schen Theorie folgendes angemerkt werden, dass durchaus kritisch diskutiert werden kann, ob Geschichte tatsächlich immer zur Daseinsorientierung und darüber hinaus stets zur Herstellung von Kontinuitätsvorstellungen erzählt wird. Die Frage ist, ob auf der Grundlage von Geschichte, die allein zum Zwecke der Herstellung von Kontinuitätsvorstellungen erzählt wird, überhaupt ein (selbst-)reflexiver Umgang mit Geschichte möglich ist oder ob »Brüche«, eben aufgrund ihrer Beschaffenheit, das Potenzial für die Herausbildung einer transkulturellen und diversen Gesellschaft erst ermöglichen.24 20 | Schörken weist darauf hin, dass der Gegenstand der Geschichtsdidaktik der Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Objekt ist, der sich gleichsam im gesellschaftlichen Umfeld vollzieht. Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein, S. 88. Schönemann beschreibt das Verhältnis zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als »zwei Seiten einer Medaille« und formuliert somit ein weiteres Zusammenhangsmodell von Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Hierbei unterscheidet Schönemann ebenfalls zwischen individuellem und kollektivem Geschichtsbewusstsein. Das Geschichtsbewusstsein beschreibt er als individuelles Konstrukt auf der einen Seite und Geschichtskultur als kollektives Konstrukt auf der anderen Seite. Siehe Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, S. 17. 21 | Rüsen: Historische Vernunft, S. 21-32. 22 | Droysen: Grundriss der Historik. 23 | »Identitätsbildung ist daher eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Funktion des historischen Denkens in der Lebenspraxis seiner Zeit.«, Rüsen: Historik, S. 267. 24 | Der Bezug auf Gegenwart und Zukunft weist auf Orientierungsschwierigkeiten einer jeweiligen Gegenwart immer neuen, anderen oder weiteren Sinn zu. Die entstehenden Narrative sind plural, kontrovers, perspektivisch und zeitlich verschieden. Kontinuität kann somit nur die Fähigkeit beschreiben, gegenwärtig sinnvolle Narrative zu konstruieren. Vgl. Dazu Bergmann: Gegenwartsbezug – Zukunftsbezug, S. 38ff.; Zum Begriffs-

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Abbildung 1: Disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft, Jörn Rüsen 1983 25 Die erwähnte disziplinäre Matrix basiert auf dem für die Geschichtsdidaktik grundlegenden narrativistischen Paradigma. Dieses besagt, dass historisches Denken stets einer narrativen Struktur folgt.26 Für Rüsen besteht daher eine Strukturgleichheit zwischen Geschichte, historischem Denken und historischem Erzählen – bei allen dreien handelt es sich um Zeitdeutungen, die sich narrativ vollziehen.27 Die disziplinäre Matrix ist grundlegend für ein Verständnis des »dynamischen Modell[s] historischen Denkens« und bildet auch die theoretische Grundlage der vorliegenden Arbeit.28 Auf Basis der disziplinären Matrix der Geschichtswissenschaft entwickelten Wolfgang Hasberg und Andreas Körber das dynamische Modell historischen Denkens (Geschichtsbewusstsein).29 Ein entscheidendes Element des Modells verständnis von Transkulturalität vgl. Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität?, hier S. 1f. und 7f. 25 | Rüsen: Historische Vernunft, S. 29; vgl. Rüsen, Historik, S. 68 (Matrix des historischen Denkens). 26 | Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen, S. 501ff.; Barricelli: Narrativität, Diversität, Humanität, Vielfalt und Einheit im Prozess historischen Lernens. 27 | Rüsen: Historische Sinnbildung durch Erzählen, S. 501, 508 und 517. 28 | Hasberg/Körber: Geschichtsbewusstsein dynamisch. 29 | Ebd., S. 187. Siehe auch Schreiber: Reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik, insbesondere S. 27.

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ist die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte.30 Das statische Modell historischen Lernens ist ein Teil des dynamischen Modells. Aufgrund dessen dynamischen Prozesscharakters können korrespondierende Kompetenzen formuliert werden, die an einzelnen Entwicklungspunkten gefördert werden können. Im Verständnis der vorliegenden Arbeit bedarf es stimulierender Impulse, um den Prozess historischen Denkens zu initiieren. Solche Impulse können kleine in Umfang und Intensität in der alltäglichen Lebenspraxis begrenzte Krisen sein oder individuell bedeutsame Orientierungs- und Handlungsprobleme, und damit verbundene Identitätskrisen in der Gegenwart, die durch Sinnbildung über Zeiterfahrung im Modus des Erzählens Daseinsorientierung und Identitätserweiterung ermöglichen.

2.1.3 Wie erzählt man historisch? Die empirische Erhebung in der vorliegenden Arbeit nutzt sowohl quantitative als auch qualitative Methoden. Hierbei werden Schüler*innen im Klassenverband, in Gruppen und Einzelinterviews befragt. Die Analyse der Erzählungen ermöglicht einen Überblick über die genutzten historischen Erzählformen und somit einen Einblick in historisches Denken (historische Sinnbildungen). Rüsen unterscheidet zwischen vier charakteristischen Grundtypen historischen Erzählens: dem traditionalen, dem exemplarischen, dem kritischen und dem genetischen Erzählen. Diese vier Erzählformen, die als Idealtypen historischer Sinnbildung (Tabelle 1) bezeichnet werden, bilden als deduktive Kategorien die Grundlage der Auswertung der erhobenen Daten und sollen daher an dieser Stelle kurz vorgestellt werden. Unter den vier Idealtypen nimmt die kritische Sinnbildung eine Sonderstellung ein.31 Dieser Typ steht laut Rüsen »nicht für sich selber, sondern realisiert sich durch einen negierenden Bezug auf die drei anderen«.32 Die kritische Sinnbildung tritt demnach in Abgrenzung zu den anderen Sinnbildungstypen auf. Rüsen sieht in der kritischen Sinnbildung ein Movens und weniger eine eigenständige Stufe.

30 | »Jeismann und Rüsen differenzieren nur implizit zwischen Vergangenheit und Geschichte. Für den hier vorzustellenden Ansatz ist die explizite Unterscheidung zentral. ›Vergangenheit‹ steht für die gewesene ›Realität‹ […], ›Geschichte‹ steht für alle denkbaren (Re)-Konstruktionen der Vergangenheit.«, Schreiber: Reflektiertes und (selbst-) reflexives Geschichtsbewusstsein durch Geschichtsunterricht fördern – ein vielschichtiges Forschungsfeld der Geschichtsdidaktik, S. 26. 31 | Ebd., S. 213. 32 | Ebd., S. 215; Ders.: Lebendige Geschichte, S. 56.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

In der Forschung gibt es durchaus Diskussionen über den Status der kritischen Sinnbildung als Sonderform bzw. als eigene Erzählform.33 Wolfgang Hasberg etwa schreibt: »Da alle Typen in einem inneren systematischen Zusammenhang stehen«, entwickle sich ein »hochkomplexe[s] Gewebe möglicher Spielarten des historischen Erzählens«.34 Die folgende Tabelle zeigt die unterschiedlichen Typen der historischen Sinnbildung, die verschiedenen Arten des Geschichtslernens sowie die Möglichkeiten der historischen Identitätskonstruktion im Überblick, auf denen die Auswertung der empirischen Daten basiert. Idealtypen historischer Sinnbildung

Art des Geschichtslernens

über Geschichte lernen aus Geschichte exemplarisch lernen gegen Geschichte kritisch lernen traditional

genetisch

in Geschichte lernen

Historische Identitätskonstruktion durch Nachahmung (Wir-Gefühl, kollektive Zugehörigkeit) Klugheit (Ausformungen einer nationalen Identität) Eigensinn (Ich- und Wir-Stärke) Bildung (Individualisierung)

Tabelle 1: Von historischer Sinnbildung zur historischen Identitätskonstruktion (eigene Hervorhebung)35 33 | Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht, S. 142. Kritisch kommentiert werden Hasbergs Niveaustufen der Kompetenzen historischen Denkens von Körber: Sinnbildungstypen als Graduierungen? 34 | Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht, S. 142; Rüsen: Lebendige Geschichte, S. 56ff., S. 215. Vgl. dazu Körber: Jörn Rüsens anthropologische Begründung des historischen Denkens. Körber differenziert darin zwei Erscheinungsformen der kritischen Sinnbildung: Im einen Fall kann sie als Kritik einer konkreten Sinnbildung formuliert werden, mit dem Ziel, diese durch eine andere zu ersetzen. Im anderen Fall wird das Sinnbildungsmuster aufgrund seines fehlenden Orientierungsangebots abgelehnt. Vgl. auch von Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewusstsein und Meyer-Hamme: Non-formale historische Bildungsgangarbeit, S. 340f.; Rüsen: Historik, S. 260. 35 | Rüsen: Lebendige Geschichte, S. 43f.: »Geschichten, in dieser Form und diesem Topos folgen, erinnern an verpflichtende Ursprünge gegenwärtiger Lebensverhältnisse und an ihre ständige Durchsetzung, Wiederkehr und Resistenz im Wandel der Zeit.«; ebd., S. 44; ebd., S. 46: »Die Geschichte lehrt an der Fülle der von ihr überlieferten Geschehnisse der Vergangenheit allgemeine Handlungsregeln.«; ebd., S. 44, 46, 48, 51; »Kritische Historiographie präsentiert eine historische Erfahrung, die vorgegebene historische Deutungsmuster problematisiert, relativiert, in ihrer Plausibilität grundsätzlich erschüttert […] spricht die Sprache der Gegenbeispiele.«, ebd., S. 50; »Die Erinnerung

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2.2 I ntegr ation – W ie k ann E lif da zugehören ? Der Begriff Integration kann sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Das alltägliche Verständnis des Begriffs unterscheidet sich grundlegend von dessen wissenschaftlichem Gebrauch. Im öffentlichen Diskurs über Migration ist Integration meist politisch konnotiert und beinhaltet neben einer Erwartungshaltung eine (Be-)Wertung.36 Häufig wird Integration schlicht mit Assimilation gleichgesetzt.37 Der Soziologe Hartmut Esser lehnte es noch 2001 ab, den Begriff der Assimilation wie er es formulierte »aus Gründen der politischen Sensibilität gewisser Worte und der Political Correctness den Migranten gegenüber« durch den Begriff Integration zu ersetzen.38 Die dahinter stehende Haltung wird in den folgenden Abschnitten genauer beleuchtet. Doch zunächst soll es um wissenschaftliche Definitionen von Integration gehen. Jutta Aumüller beschrieb 2009 Integration aus politikwissenschaftlicher Perspektive als den Zustand einer Gesellschaft mit einem möglichst geringen Grad an gesellschaftlichen Konflikten, mit gleichen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe für alle Mitglieder der Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der die Gewährleistung der Menschenrechte gesichert ist und in der einzelne soziale oder ethnische Gruppen keine Diskriminierung befürchten müssen. 39

Dieter Oberndörfer bezeichnete Integration als politisches Ideal der demokratisch-rechtstaatlichen Gesellschaft. Es sei die Identifikation mit diesem demokratischen, freiheitlich-rechtstaatlichen Charakter, der die Vorbedingung für

daran, was man war und wie man zu dem geworden ist, was man ist, macht es plausibel, anders werden zu können.«, ebd., S. 55; Martin Lücke schlägt vor, Rüsens Verständnis des historischen Lernens für inklusive Zusammenhänge alternativ als »produktive eigensinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten, als selbst erzählte oder selbst imaginierte Geschichte« zu fassen, um eine Anschlussfähigkeit zu Konzepten wie Diversität oder Intersektionalität im geschichtsdidaktischen »Theoriegebäude« zu ermöglichen. Lücke: Inklusion und Geschichtsdidaktik, S. 200; vgl. dazu auch Ders.: Diversität und Intersektionalität als Konzepte der Geschichtsdidaktik; Siehe Lüdtke: Eigen-sinn, Ders.: Eigensinn, eigene Hervorhebung, S. 65; Bezeichnungen der Art des Geschichtslernens nach Wolfgang Hasberg. 36 | Aumüller: Assimilation, S. 23: »Stets zugleich Bewertung und Erwartung, in welcher Weise und in welche Richtung die Vergesellschaftung von Immigranten zu verlaufen hat.« 37 | Süssmuth: Migration und Integration, S. 8. 38 | Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 863. 39 | Aumüller: Assimilation, S. 25.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

eine rechtliche Gleichstellung und Gleichberechtigung im »Aufnahmeland« darstelle.40 Das Integrationsmodell von Hartmut Esser basiert auf den klassischen transatlantischen Assimilationstheorien.41 Es diente bereits mehrfach als theoretische Grundlage für Befragungen, etwa bei der Mehrthemenbefragung des Zentrums für Türkeistudien und Integration, bei der empirischen Analyse zu Lebenswelten junger Muslime in Deutschland oder bei der Untersuchung zum Einfluss des Migrantenanteils in Schulklassen auf den Kompetenzerwerb.42 Um den Bezug zur deutschen Integrationsforschung zu gewährleisten, werde ich das Konzept auch in meiner empirischen Erhebung zur Grundlage der Variable Integration machen. Im Folgenden werden das Konzept und seine bisherige Operationalisierung in der empirischen Forschung schrittweise skizziert.

2.2.1 Werden wie die Anderen? Im Folgenden soll es um die Entwicklung unterschiedlicher theoretischer Ansätze gehen, mit denen im deutschsprachigen Raum Fragen von Integration, Migration und Generationalität betrachtet werden. In Deutschland werden vor allem die Bereiche der sozialen Integration sowie der sozialen Ungleichheit betrachtet, aus denen sich potenzielle Konflikte zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund ergeben können.43 Das Interesse an migrationspolitischen Fragen und die Sensibilität für gesellschaftliche Entwicklungen wuchs erst seit den 1980er Jahren. In den USA, Kanada und Australien, die sich als Einwanderungsländer verstehen, setzte die Auseinandersetzung mit den soziologischen Dimensionen von Ein- und Zuwanderung bereits früher ein. 40 | Obendörfer: Integration der Ausländer, S. 13f.: »Die Identifikation mit seiner politischen Gemeinschaft, mit den politischen Werten seiner Verfassung, Rechtsordnung und politischen Institutionen.« 41 | Essers Integrationsmodell liegt keine konstruktivistische Sichtweise von Gesellschaft zugrunde. Da gesellschaftliche Analysen von Integration im Allgemeinen Interkulturalität untersuchen und nicht Transkulturalität, werde ich Essers Modell nutzen, um Vorstellungen der Untersuchungsgruppen zu erheben und zu beschreiben. 42 | Das Zentrum für Türkeistudien und Integration (Zf TI) führt jährlich eine Mehrthemenbefragung mit Bürger*innen türkischer Herkunft in Nordrhein-Westfalen unter dem Titel Lebenswelten junger Muslime in Deutschland durch, vgl. Bundesministerium des Inneren: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland; vgl. auch Stanat/Schwippert/ Gröhlich: Einfluss des Migrantenanteils in Schulklassen auf den Kompetenzerwerb. 43 | Dazu Bommes: Migration in der modernen Gesellschaft, S. 41: »Solche Probleme sieht sie [die Migrationsforschung] erwachsen aus den kulturellen und sozialen Ausstattungen von Migranten, aus ihren Teilnahmechancen […] und den daraus resultierenden Lebenslagen und Lebensverhältnissen.«

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In Deutschland ist die Migrationsforschung eine angewandte Wissenschaft, das heißt, sie ist meist mit der Suche nach praktischen Lösungen für aktuelle politische Probleme verbunden. Bereits nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als eine Vielzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme fand, bemühte sich die damalige Regierung um deren reibungslose Integration.44 Die aktuellen Migrationsbewegungen nach Europa und die durch Kriege destabilisierte politische, wirtschaftliche und humanitäre Situation in den Ländern außerhalb Europas stellen die Europäische Union und damit auch Deutschland vor große Herausforderungen, eröffnen aber auch Chancen für die Integration.

2.2.2 Wie wird man Amerikaner*in? Der vergleichende transatlantische Blick ermöglicht einen Zugang zu soziologischen Konzepten von Integration und Assimilation.45 Seit Beginn des 18. Jahrhunderts gelten die Vereinigten Staaten als Einwanderungsland. Dieses Verständnis prägte auch die Entwicklung der Sozialwissenschaften und der Soziologie in den USA.46 Die US-amerikanische Soziologie entwickelte sich aus der Migrationsforschung. Zu ihren Pionieren zählen die Begründer der sogenannten Chicagoer Schule um Robert E. Park und William I. Thomes sowie deren Schüler Ernest Burgess, Florian Zaniecki und Louis Wirth. Die theoretische Basis für die soziologische Erforschung von Migration lieferten vor allem die Arbeiten von Park und Burgess.47 Diese beschreiben ein Modell vier zyklischer Phasen der sozialen Interaktion, die Einwander*innen durchlaufen. Der sogenannte Race-Relation-Cycle beschrieb Assimilation als einen 44 | Bommes: Migration and Migration Research, S. 164f.; Oltmer: Kleine Globalgeschichte der Flucht im 20. Jahrhundert, S. 19; Scholz: Willkommenskultur durch »Schicksalsvergleich«. Die deutsche Vertreibungserinnerung in der Flüchtlingsdebatte, S. 45-46. 45 | Nach Theodor Ikonomu gibt es vierzig Synonyme für den Begriff der Integration oder ähnliche Begriffe. Ikonomu: Fragestellungen zur Integrationsdiskussion, S. 264. Vgl. auch Francis: Grundsätzliche Erwägungen zur Integration von Ausländern, S. 13: »Obwohl immer wieder die Integration der Ausländer als wichtigstes Anliegen der Regierung zitiert wird, bleibt die Wortbedeutung verwaschen und mehrdeutig.« 46 | Kürşat-Ahlers/Waldhoff: Die langsame Wanderung, S. 36: »Bedingt durch das rasante Wachstum und die dramatische konflikthafte Veränderung der Städte […] konstituierten die Untersuchungen über Einwanderer und Stadtentwicklung den wichtigsten Entstehungs- und Etablierungsgrund der Soziologie, so dass die Migrationssoziologie zeitweise mit der amerikanischen Soziologie schlechthin gleichzusetzten war.« Dazu Aumüller: Assimilation, S. 47-82; Ennigkeit: Gelungene Integration, S. 15-28. 47 | Park/Burgess: Introduction to the Science of Sociology.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

progressiven und irreversiblen Prozess,48 der nach Ablauf der fünf Phasen in die vollständige Angleichung zwischen Zugewanderten und der Kultur des Einwanderungslands mündet. Das auf empirischen Beobachtungen fußende Race-Relation-Cycle-Modell erfuhr eine weite Verbreitung und wurde vielfach zur Grundlage für spätere Assimilationstheorien. Die erste Phase des Race-Relation-Cycles beschreibt das erste Aufeinandertreffen von Zugewanderten und Einheimischen als Kontaktphase. Die zweite Phase bezeichnen Park und Burgess als Wettbewerbs- oder Konfliktphase. Diese Phase schließt unmittelbar an die Kontaktphase an und wird als elementare Form der sozialen Interaktion angesehen.49 Es entsteht ein Wettbewerb um Arbeitsplätze, Wohnungen und Hierarchiestufen, wodurch Konflikte in den Bereichen residenzieller Segregation, Diskriminierung und Anpassung entfacht werden. Der Übergang zur nächsten Phase wird durch die Veränderung des Bewusstheitsgrads markiert: Die Mitglieder der Gesellschaft werden sich des Wettbewerbs zunehmend bewusst.50 Die dritte und vorletzte Phase des Race-Relation-Cycles nennen die Chicagoer Soziologen Akkommodation. In diesem zyklischen Abschnitt, so die Theorie, verändern Individuen ihr Verhalten und ihre Gewohnheiten, um sich allmählich an das Verhalten und die Gewohnheiten der Einheimischen anzupassen. Mit dem Abschluss dieser Akkommodationsphase gelangen die Zugewanderten zum letzten und abschließenden Prozessabschnitt, der Assimilation.51 In dieser vierten und letzten Phase geben die Eingewanderten ihre Anpassungsleistungen, also die Veränderungen ihres Habitus, als Vorbild an ihre Kinder weiter.52 Die Verschmelzung mit der Aufnahmegesellschaft zeige sich in heterogenen ethnischen Gruppen der Mehrheitsgesellschaft und in der Auflösung der vormals ethnischen Identifikation mit dem Herkunftsland. Dieser Wandel wird als Resultat des Konfliktes angesehen: Die Einwander*innen werden zur Regulierung ihres Handelns an48 | Pedraza-Bailey: Immigration Research, S. 46: Park and Burgess »Conceived this cycle as stages of interaction through which immigrants or racial groups progressed irreversibly.«; dazu Aumüller: Assimilation, S. 48-58. 49 | Han: Theorie zur internationalen Migration, S. 6: Der Wettbewerb ist die »fundamentale universale und elementare Form der sozialen Interaktion.« 50 | Park/Burgess: Introduction to the Science of Sociology, S. 575: »Both are forms of interaction, but competition is a struggle between individuals, or groups of individuals, who are not necessarily in contact and communication: while conflict is a contest in which contact is an indispensable condition.« 51 | Ebd., S. 735: »Assimilation is a process of interpenetration and fusion in which persons and groups acquire the memories, sentiments, and attitudes of other persons or groups, and, by sharing their experience and history, are incorporated with them in a common cultural life.« 52 | Ebd., S. 663.

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gehalten, um Konflikte zu vermeiden. Diese vier Abschnitte und die dazugehörigen Veränderungsprozesse werden allmählich und langsam beschritten und besitzen eine individuell unterschiedliche Ausprägung. Während die Akkommodation eher bewusst verläuft, vollzieht sich die Assimilation eher unbewusst: Das Subjekt ist incorporated, also eingebunden in die Gesellschaft, noch ehe es ihm bewusst wird.53 Eine zentrale Prämisse des Race-Relation-Cycles lautet, dass ein enger Kontakt zwischen Zugewanderten und autochthoner Bevölkerung eine grundlegende Voraussetzung für die Integration ist. Dieses deterministische Modell eines Assimilationsprozesses hat vielfach Kritik hervorgerufen.54 Die vermeintliche Linearität lässt Integration als einseitigen Prozess erscheinen, bei dem sich Ein- und Zugewanderte vollkommen an die Aufnahmegesellschaft anpassen müssen. Doch weder Park noch Burgess sahen den Race-Relation-Cycle als einseitigen Prozess an. Für sie handelte es sich vielmehr um einen Prozess der gegenseitigen Durchdringung (process of interpenetration), der eben nicht gleichbedeutend ist mit einer vollkommenen Aufgabe der kulturellen Verbindungen zum Herkunftsland der Zugewanderten. Der Gedanke der Verflechtung bzw. der gegenseitigen Durchdringung (interpenetration) beschäftigte auch andere Vertreter der Chicagoer Schule wie Ronald Taft oder Alan Richardson.55 Letzterer beschrieb Assimilation als bilateralen Prozess. Taft betonte die Wechselwirkungen, durch die sich auch die Aufnahmegesellschaft durch den Einfluss der Zu- und Eingewanderten verändere. Zudem unterschied Taft zwischen monistischer und pluralistischer Assimilation.56 Letztere bedeutet, dass Ein- und Zugewanderte ihren individuell jeweils unterschiedlichen Kulturen verbunden bleiben und neue Teile der bestehenden Gesellschaft bilden. Anstatt eine vollständige Assimilation als Ziel auszugeben, die durch Vorurteile und soziale Distanz zu scheitern droht, betont Taft das »agreement of both sides to preserve and tolerate differences«, also einen multikulturellen, pluralistischen Ansatz, der ein friedliches und tolerantes Nebeneinander ermöglicht.57 Toleranz allein reiche nach Taft für eine Verständigung auf verbindliche gemeinsame Werte nicht aus, diese könnten nur durch Kommunikation entstehen, die wiederum eine gemeinsame Sprache voraussetzt. Erst durch Interaktion und Kommunikation 53 | Ebd., S. 736. 54 | Vgl. hierzu Layman: The Black American in Sociological Thought, S. 28, 31, 54. 55 | Richardson: The Assimilation of British Immigrants in Australia. 56 | Taft: The Shared Frame of Reference, S. 46: »The monistic bias usually presupposes an evaluation of cultures in a hierarchical order, and is often accompanied by evidence of prejudice and discrimination. This, in turn, establishes resistance of the part of the minority group to participation in the assimilation process.« 57 | Ebd., S. 50.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

könne eine integrative Gemeinschaft entstehen. Dementsprechend beschreibt Taft Assimilation als: The process by means of which persons originally possessing heterogeneous frames of reference concierge towards common frames of reference as a result of social interaction. 58

Wenig später beschrieb Milton Gordon die Grundlagen des Assimilierungsgedankens in den USA und prägte die Begriffe Anglo-Conforming, MeltingPot und Cultural Pluralism.59 Das Chicagoer Modell des Race-Relation-Cycles erweiterte Gordon durch Subprozesse. Die erste Stufe des Zyklus bezeichnet Gordon als (Ak-)Kulturation,60 als Anpassung an die Aufnahmegesellschaft. Diese Phase der kulturellen Assimilation ist mit der Akkommodationsphase des Race-Relation-Cycles vergleichbar. Die kulturelle Anpassung ermöglicht es den Ein- und Zugewanderten, an wichtigen Prozessen der Gesellschaft zu partizipieren. Gordon erklärt, dass es auch die Möglichkeit eines Abbruchs des Assimilationsprozesses in dieser Phase gebe. Dieser führe zu einem Verharren im Modus der kulturellen Assimilation.61 Die zweite Prozessstufe nennt er strukturelle Assimilation, damit ist die schrittweise voranschreitende Partizipation an gesellschaftlichen Strukturen und damit am sozialen Leben der autochthonen Bevölkerung gemeint. Diese kann sich etwa in Form der Mitgliedschaft in Vereinen oder Organisationen äußern. Bei Park und Burgess ist Assimilation hingegen durch Prä-Kontakte und persönliche Kontakte geprägt, die die Integration in das soziale Leben der Einheimischen ermögliche. Die dritte Prozessphase beschreibt Gordon als Stufe, in der interkulturelle Ehen eingegangen werden. Es handle sich um eine identifikatorische Assimilation. Diese sei durch die Überwindung von Vorurteilen und Diskriminierungen gekennzeichnet. Die strukturelle Assimilation führe laut Gordon unweigerlich zur (Ak-)Kulturation.62 Auch Gordon erhebt primäre Sozialkontakte zum Schlüssel für das Gelingen von Assimilation (keynote of the arche of assimilation). Der Preis, den Ein- und Zugewanderte Gordon zufolge für den Erfolg

58 | Ebd., S. 49. 59 | Gordon: Assimilation in American Life. 60 | Dazu Han: Theorien zur internationalen Migration, S. 41: »Die Einwanderer passen sich zweckorientiert und äußerlich den kulturellen Verhaltensweisen und der Sprache der Aufnahmegesellschaft an, um sich im Alltag zurechtzufinden.« 61 | Gordon: Assimilation in American Life, S. 77. 62 | Ebd., S. 81: »Once structural assimilation has occurred, either simultaneously with or subsequent to acculturation, all of the other types of assimilation will naturally follow.«

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der (strukturellen) Assimilation zahlen müssen,63 ist die Entfremdung von der ursprünglichen ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit. Vielfach wandeln sich Werte und Normen der Herkunftskultur demnach oder werden gar komplett verworfen, um eine Annäherung an die autochthone Kerngesellschaft (core-society) zu erreichen. Bezogen auf die USA komme dies letztendlich einer Anpassung an die middle-class white protestant Americans gleich. Gordons Zyklusmodell unterstreicht die einflussreiche Rolle der Aufnahmegesellschaft beim Integrationsprozess. Persönliche Kontakte, wechselseitige Aufforderungen sowie die Aufnahmebereitschaft des Aufnahmelandes und seiner Einwohner*innen bilden nach Gordon die Basis für das Gelingen von Integration, die ihrerseits einer Assimilation vorangeht.

2.2.3 What the son wishes to forget the grandson wishes to remember 64 Kurz vor seinem Tode 1938 veröffentlichte der amerikanische Historiker Marcus Lee Hansen einen Essay über das Problem der dritten Generation von Einwander*innen. Aus einer Kritik am Konzept des Melting-Pot entwickelte er die Hypothese, dass Assimilation nicht über mehrere Generationen, sondern innerhalb einer Generation untersucht werden müsse. Hansen nahm als Historiker nicht nur soziologische Gesichtspunkte in seine Überlegungen mit auf, sondern verglich auch den unterschiedlichen Umgang mit Geschichte in verschiedenen Generationen. Hansen, der als Kind eines dänischen Vaters und einer norwegischen Mutter selbst Einwanderer der zweiten Generation war, führte Beispiele von Einwander*innengenerationen unterschiedlicher Herkunftsländer in den USA an. Die zweite Generation beschrieb er folgendermaßen: The sons and daughters of the immigrants were really in a most uncomfortable position. They were subjected to the criticism and taunts of the native Americans and to the criticism and taunts of their elders as well. […] The delinquency of the second generation was talked about so incessantly that finally little Fritz and little Hans became convinced that they were not like the children from the other side of the track. They were not slow in comprehending the source of all their woes: it lay in the strange dualism into which they had been born.

63 | Ebd.: »The price of such assimilation, however, is the disappearance of the ethnic group as separate entity and the evaporation of its distinctive values.« 64 | Hansen: The Problem of the Third Generation Immigrant, S. 206.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen Life at home was hardly more pleasant. Whereas in the schoolroom they were too foreign, at home they were too American. 65

Hansens Beschreibung veranschaulicht die von Gegensätzen bestimmte Situation der zweiten Generation Eingewanderter in Amerika. Die familiäre Erwartung, die kulturelle Identität des Herkunftslands und dessen Geschichte zu bewahren, trifft auf die Adaptionserwartungen des Einwanderungslandes. Das Dilemma besteht darin, beiden Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Das Zugehörigkeitsbedürfnis, das Streben nach Normalität anstelle von Stigmatisierung, führt zur Rebellion gegen die erste Generation, deren Beharren auf der Bewahrung der Traditionen, Werte und Geschichten ihres Herkunftslandes ihre Assimilation der zweiten Generation hemmt. Teilweise führen die Anforderungen der ersten Generation zu einer schizophrenen Identität: Die Kinder sollen sich zwar strukturell und vor allem ökonomisch platzieren und (ak-)kulturieren – aber nur zum Schein. Sie sollen »Als-ob-Amerikaner« sein, um der Stigmatisierung zu entgehen, aber in Wirklichkeit die Vorstellungen und Einstellungen der Eltern fortführen. Dazu gehört eine vom Herkunftsland geprägte Erinnerungskultur, die von der ersten Generation gepflegt wird, während die zweite Generation dazu tendiert, die eigene Geschichte vergessen zu wollen, so Hansen: When the son and the daughter refused to conform, their action was considered a rebellion of ungrateful children for whom so many advantages had been provided. The gap between the two generations was widened and the family spirit was embittered by repeated misunderstanding. How to habit two worlds at the same time was the problem of the second generation. […] But who will deny that the second generation wanted to forget, and even when the ties of family affection were strong, wanted to lose as many of the evidences of foreign origin as they could shuffle of?66

Hansen weist darauf hin, dass die Assimilationsbestrebungen der zweiten Generation und der Verzicht auf kulturelle und historische Bezüge zum Herkunftsland der Eltern sie zu Heimatlosen machten. Die dritte Generation wiederum, so Hansen, folge nicht einem linearen Assimilationsmodell, das eine mit jeder Generation fortschreitende Assimilation postuliere. Im Gegensatz zu diesen klassischen Assimilationsmodellen diagnostiziert Hansen gerade bei der dritten Generation einen azyklischen Wandel nach dem Motto: »What the

65 | Ebd., S. 203f. 66 | Ebd., S. 204.

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son wishes to forget the grandson wishes to remember.«67 Der Pulitzerpreisträger beschrieb in seinem Essay eine bei Hunderten von unterschiedlichen Fällen beobachtbare Tendenzen. Als prominentes Beispiel hierfür führte er den Roman Vom Winde verweht an.68 Migration besitzt nach Hansen nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern auch ihre eigene Geschichtsschreibung. Jeder Brief einer/s Migrant*in, jede festgehaltene Erinnerung sei Geschichte: Es gäbe ein kommunikatives Gedächtnis,69 viele Geschichten, die unter Migrant*innen erzählt und tradiert würden, von denen jedoch die zweite Generation häufig nichts hören wolle. Die dritte Generation hingegen wende sich diesen Erinnerungen laut Hansen jedoch wieder zu: As a broad generalization it may be said that the second generation is not interested in and does not write any History. That is just another aspect of their policy of forgetting. Then, however, appears the ›third generation‹. They have no reason to feel any inferiority when they look about them. They are American born.70

Die Zuwendung zur eigenen Migrationsgeschichte und das Bemühen der dritten Generation um den Erhalt der Erinnerungen sowie um eine Festigung der Erinnerungskultur manifestiert sich in der Schaffung von Institutionen und Organisationen, die diesen Prozess nicht nur begleiten, sondern auch fördern. In der dritten Generation zeigt sich Hansen zufolge ein gesteigertes Interes-

67 | Ebd., S. 206. 68 | Margret Mitchell verfasste ihren Roman Vom Winde verweht fast 60 Jahre nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, quasi als dessen Enkelin. Sie wandte sich darin der Geschichte ihrer Großelterngeneration zu. 69 | Als kommunikatives Gedächtnis fasst Jan Assmann »jene Spielarten des kollektiven Gedächtnisses zusammen, die »ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen«. Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 10f. Vgl. auch Maurice Halbwachs, La mémoire collective, S. 14. Vgl. dazu auch Assmanns Ausführungen zu Maurice Halbwachs. Kritik an Halbwachs und steigender Heterogenität in Gesellschaft und Pluralität der kollektiven Gedächtnisse äußert Christian Wulf und fordert »zu retten, was im Rausch des Wandels verloren zu gehen droht«, Dietrich Harth: Gedächtnis und Erinnerung, S. 743; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 34-48 und zum kommunikativen Gedächtnis: »Dieses [kommunikative] Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer mit seinen Trägern.«, Ebd., S. 50f. Vgl. dazu Aleida Assmann: Gedächtnis, Erinnerung, S. 35-37, Welzer: Erinnerungen und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven, S. 8. 70 | Hansen: The Problem of the Third Generation Immigrant, S. 207.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

se an den eigenen Geschichten als Teil der Geschichtskultur.71 Nach Hansen stehe besonders die dritte Generation vor einer großen Herausforderung. Sie müsse ihre Erinnerungskultur bewahren, um sie als Teil der Geschichtskultur etablieren zu können.72 Die geteilten Erinnerungen (shared memories) im kommunikativen Gedächtnis müssten konserviert werden, um sie in der Erinnerungskultur und somit in der Geschichtskultur des Kollektivs erhalten und weitergeben zu können.73 Erst durch diese historische Rückorientierung, so Hansen, könnten Integration und transkulturelle Identität gelingen. Hansens Thesen zur dritten Generation und ihrem Interesse an den Geschichten und kulturellen Bezügen der Großeltern konnten bisher noch nicht empirisch bestätigt werden. Dennoch ist Hansens Aufsatz in seinem Widerspruch zu den linearen und statischen Assimilationstheorien aus meiner Sicht bemerkenswert, insbesondere wenn man sich den Zeitpunkt seines Entstehens vergegenwärtigt: Eine Verbindung zwischen dem Umgang mit Geschichte(n) aus dem eigenen familiären Umfeld und der Konstruktion der eigenen (historischen) Identität sowie der eigenen Verortung in der Gesellschaft herzustellen, ist für die 1930er Jahre ein sehr fortschrittlicher Gedanke. Der von Hansen beschriebene psychologische Druck, unter dem die zweite Generation in den USA stand, verhinderte die Weitergabe von gerichteten Identitätsangeboten. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der ersten und der zweiten Generation entwickelte sich ein Eigensinn (Rüsen). Dieser mündete nicht in Gegengeschichten (kritische historische Sinnbildung), sondern in einer Ablehnung der geerbten Geschichte.74 Folgt man diesem Ansatz, so wird 71 | Ebd., S. 207: »A breeze of historical interest stirred the German-American community. One of the number was moved to offer a prize for the best historical discussion of the contribution of the German element of the American life.« 72 | Vgl. dazu Carlos Kölbl, der in Migration und Globalisierung einen wichtigen Grund für die Vervielfältigungen von Geschichtsbezügen sieht. Kölbl: Historisches Erinnern an Schulen im Zeichen von Migration und Globalisierung, S. 30. 73 | Michele Barricelli beschreibt erzähltheoretische Implikationen historischen Denkens und Lernens mit den Begriffen »shared memories« und »shared histories« in Barricelli: Narrativität, Diversität, Humanität, Vielfalt und Einheit im Prozess historischen Lernens, S. 280-299; Barricelli: Lebendiges Erinnern, S. 44. 74 | Alf Lüdtke spricht vom »denunziatorischen Unterton« des Begriffs Eigensinn und betont das Potenzial eigen-sinniger Aneignungsprozesse. Eine eigen-sinnige Aneignung wäre somit eine Voraussetzung einer individuellen und sinnhaften Auseinandersetzung mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Siehe dazu Lüdtke: Eigen-sinn, S. 65. Dazu auch Musenberg: Veranschaulichung der Vergangenheit – Ansprüche heterogener Lerngruppen an inklusiven Geschichtsunterricht, S. 216f.; Lücke: Auf der Suche nach einer inklusiven Erinnerungskultur, S. 60.

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die politische und gesellschaftliche Sprengkraft deutlich, die in der Frage liegt, wie sich Jugendliche historisch verorten, die ihre Identität in einer diversitären Gesellschaft konstruieren müssen und dabei nur wenig oder gar keine Unterstützung von ihren Familien erhalten.75

2.2.4 Wie wird man Europäer*in? In den 1950er Jahren entwickelte Shmuel N. Eisenstadt ein Sequenzmodell, das den Prozess der Assimilation von Migrant*innen bereits von deren Herkunftsland her denkt.76 Demnach sei die erste Prozessstufe bereits die Entschlussfassung und der Wille, die Heimat zu verlassen. Die Ursachen und Hintergründe für diesen Entschluss seien in den jeweils individuellen Empfindungen der Auswanderer*innen zu finden.77 Die zweite Phase beginne mit der Ankunft im Zielland. Hier träfen die Wanderer*innen auf ein unbekanntes soziales Umfeld, das zunächst Emotionen wie Angst und Unsicherheit auslösen könne. Diese Desozialisation78 sowie die emotionalen Auswirkungen erzeugten nach Eisenstadt eine Bereitschaft, soziale Rollen und Positionen in der Aufnahmegesellschaft einzunehmen – sich also zu re-sozialisieren.79 Diese Einfügungs- bzw. Anpassungsbereitschaft läute die dritte Stufe der Absorption ein. Nach einigen Subprozessen bedinge diese eine Institutionalisierung der Rollenverantwortung von Ein- und Zuwanderer*innen. Wanderer*in eigneten sich in dieser Phase die neue Sprache sowie andere neue Fähigkeiten und Fertigkeiten an, die es ihnen ermöglichen, sich in ihrer neuen sozialen und räumlichen Umgebung zurechtzufinden. Die Eingewanderten sähen sich mit neuen Handlungserwartungen konfrontiert und müssten neuen sozialen Rollen gerecht werden, so Eisenstadt. Diese Umstellungen seien grundlegend für den Re-Sozialisierungsprozess der Migrant*innen.80 Die Einnahme neuer institutionalisierter Rollen ermögliche den Zu- und Einwander*innen dabei eine

75 | Das soziale und familiäre (Nah-)Umfeld, in dem sich Jugendliche emotional gebunden fühlen, ist ein Erinnerungsraum, in dem Eltern und Großeltern ihre Erinnerung(en) und somit Geschichte(n) teilen können, um sie im kommunikativen Gedächtnis weiterzugeben und zu bewahren. 76 | Eisenstadt: The Absorption of Immigrants. 77 | Ebd., S. 1: »Physical transition of an individual or a group from one society to another.« 78 | Ebd., S. 6. 79 | Ebd., S. 6: »Re-forming of his (the immigrants) entire status-image and set of values.« Re-sozialisation bedeutet in diesem Kontext das Wiedererlangen von gesellschaftlicher Teilhabe. 80 | Ebd., S. 7.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

soziale Partizipation über die eigene ursprüngliche Primärgruppe hinaus.81 Eisenstadt unterstreicht, dass regelmäßige und persönliche Kontakte zwischen Eingewanderten und einheimischer Bevölkerung maßgeblich für den Erfolg einer Assimilation seien. Hans-Joachim Hoffmann-Nowotnys führte mit seinem Struktur-KulturParadigma (anomische Spannung) den Anomie-Begriff in die Migrationsforschung ein. Das Motiv und damit der Ursprung der Migration liege in den strukturellen Spannungen, denen die künftigen Migranten*innen aufgrund von Macht- und Prestigeverhältnissen ausgesetzt seien.82 Als Konsequenz erscheine den Akteur*innen die Migration in ein Land mit gesellschaftlich niedrigen Spannungserwartungen als lohnende Alternative. Diese räumliche Lösung von Spannungsproblemen im Herkunftsland führe zu neuen Spannungen im Einwanderungsland. Durch die Migration erfolge eine Unterschichtung der Gesellschaft im Aufnahme- bzw. Einwanderungsland,83 durch die Zuund Einwander*innen marginalisiert blieben. Diese strukturelle Stagnation84 könne aus individueller Perspektive dennoch eine Verbesserung gegenüber der Situation im Herkunftsland darstellen. Der Integrationserfolg werde dabei durch die Bereitschaft des Aufnahmelands bestimmt, zentrale Statuslinien für Einwander*innen zu öffnen.85 Zur Konzeptualisierung der Begriffe Integration und Assimilation verbindet Hoffmann-Nowotny diese mit zwei sozialen

81 | Ebd., S. 7: »By the interweaving of these groups into social structure of the receiving country (is it) that the immigrants behavior becomes institutionalized, i.e. that his exceptions become both compatible with the role defined in the new society and capable of being realized within it.« 82 | Hoffmann-Nowotny: Migration, S. 26: Prestige beschreibt er als den Grad, »zu dem der Anspruch von Akteuren auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten oder ihr Besitz als legitim angesehen wird«. Macht definiert er als Grad, »zu dem ein Anspruch des Akteurs auf Teilhabe an zentralen sozialen Werten durchgesetzt werden kann«. 83 | Ebd., S. 2: »Wir nennen eine Einwanderung unterschichtend […]. Unterschichtung impliziert also, dass an der Basis des Schichtsystems neue Positionen geschaffen werden und/oder bisher von Einheimischen eingenommene Positionen aufgegeben werden und durch Einwanderer besetzt werden.« 84 | Diese strukturelle Stagnation kann sogar durch Umstände wie fehlende politische Rechte, Sprachdefizite, mangelnde berufliche Freizügigkeit und die Trennung von der eigenen Familie verstärkt werden. Vgl. ebd., S. 265. 85 | Kürşat-Ahlers/Waldhoff: Die langsame Wanderung, S. 47. Hoffmann-Nowotny geht es nicht darum, »ob die Aufnahmegesellschaft die kulturellen Unterschiede akzeptiert, sondern ob sie die zentralen Statuslinien für Einwanderer öffnet. Somit fügt er Fragen der Macht, Ungleichheit und gesellschaftlicher Schichtung als primäre Fragen der Theoriebildung ein.«

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Dimensionen, die er Struktur und Kultur nennt.86 Integration sei durch die Position in einer Gesellschaft, durch die Partizipation an ihrem Funktionssystem bestimmt. Die Einnahme bestimmter gesellschaftlicher Positionen ermögliche erst eine strukturelle Integration. Die Assimilation beziehe sich demgegenüber auf das Symbolsystem der Kultur mit seinen Werten, Normen, Gebräuchen und seiner Sprache.87 Hierbei sei die Vorleistung der Aufnahmegesellschaft maßgeblich für die Integration der Zuwanderer*innen.88 Dazu gehöre nach Hoffmann-Nowotny die Bereitschaft, gesellschaftliche Teilhabe nicht nur zuzulassen, sondern auch aktiv zu ermöglichen. Ähnlich wie Gordon sieht auch Hoffmann-Nowotny Integration vornehmlich als Aufgabe des Aufnahmelands an. Eine mangelnde strukturelle Integration seitens der Aufnahmegesellschaft führe unweigerlich zu einer mangelnden sozialen Integration. Die strukturelle Integration bedingt somit Hoffmann-Nowotny zufolge die kulturelle Assimilation. Darüber hinaus bewirke die Integration als wechselseitiger Prozess einen kulturellen Wandel der gesamten Gesellschaft. 1963 erschien die Studie Beyond the Melting Pot,89 die bisherige Theorien über eine »Verschmelzung« unterschiedlicher Kulturen in Frage stellte. Nathan Glazer und Daniel P. Moynihan überdachten darin die Erwartung einer Verschmelzung im Sinne einer vollständigen Absorption durch das Aufnahmeland und postulierten stattdessen den Erhalt der Ethnizität von Migrant*innen.90 Den bisherigen Assimilationsbemühungen auf beiden Seiten bescheinigten die Autoren folglich ein Scheitern.91 86 | Hoffmann-Nowotny: Assimilation und »plurale Gesellschaft«, S. 17, versteht unter Integration das Positionssystem einer Gesellschaft und beschreibt diese. Assimilation hingegen beziehe sich auf die Kultur als Symbolsystem, welches Normen, Werte, Sitten und verschiedene Rollen (bspw. Sprache) hervorbringe. 87 | Ebd., S. 17. 88 | Hoffmann-Nowotny: Gastarbeiterwanderung und soziale Spannungen, S. 61: »Assimilationsbereitschaft und Assimilation der Gastarbeiter [sind] primäre Funktionen der Integrationsbereitschaft des aufnehmenden Landes.« 89 | Glazer/Moynihan: Beyond the Melting Pot. 90 | Ebd., S. V.: »The point about the Melting Pot […] is that it did not happen. At least not in New York and, mutatis mutandis, in those parts of America which resemble New York.« 91 | Ebd., S. 13: »But as the groups were transformed by influences in American society, stripped of their originally attributes, they were recreated as something new, but still as identifiable groups. Concretely, persons think themselves as members of that group, which that name; and most significantly, they are linked to other members of that group by new attributes that the original immigrants would never have recognized as identifying their groups, but which nevertheless serve to mark them off, by more than simply name and association, in the third generation and even beyond.«

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Der kanadische Soziologe Charles W. Hobart benutzte 1964 erstmals den Begriff der multikulturellen Gesellschaft, der in Kanada großen Anklang fand.92 In Deutschland wurde der Begriff erst in den 1980er Jahren aufgegriffen, zunächst vor allem von Vertreter*innen der Kirchen sowie einigen prominenten Politiker*innen und Wissenschaftler*innen wie etwa Claus Leggewie.93 Dabei entstand eine Differenzierung zwischen Multikulturalität und Multikulturalismus.94 Das Konzept des Multikulturalismus spricht sich gegen jede Art der Assimilation von Migrant*innen an die Mehrheitsgesellschaft aus. Analog zum Konzept des Pluralismus wird die Vielfalt betont.95 Die Vorstellung eines gemeinsamen Grundkonsenses, der für pluralistische Demokratien nötig ist, wird hingegen abgelehnt. Selbst ein »Minimum abstrakter regulativer Ideen mit generellem Charakter« fehle.96 Die Bundesrepublik Deutschland formuliert dies durch seine Grundrechte, die unabänderlich im Grundgesetz verankert sind. Das Grundgesetz gibt die Pole der Integration vor.97

2.2.5 Wie gut können sich Gäste benehmen? 98 In der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich erst mit dem Anwerbestopp für ausländische Gastarbeiter 1973 das Interesse für Migrationstheorien und Migrationsforschung. Obwohl das Generationenparadigma nur am Rande wahrgenommen und aufgenommen wurde, zeigte die Vielzahl der Untersu-

92 | Porter: Ethnic Pluralism in Canada, insbesondere S. 277ff. 93 | Dazu Heiner Geißler im Interview 1988, Die Zeit vom 28.10.1988, S. 9. 94 | Mintzel: Multikulturelle Gesellschaft in Europa und Nordamerika, S. 58: »Immer dann, wenn kulturelle Vielfalt, kultureller Pluralismus, cultural diversity als gegebene Wirklichkeit gemeint ist, ist der Begriff Multikulturalität zu verwenden – in Abgrenzung zum Multikulturalismus mit seinen politischen, pädagogischen, ideologischen Konnotationen, die im Bereich der wertenden und appellierenden Funktionen der jeweiligen Begriffsprägung liegen.« 95 | Ersfeld: Pluralismus. 96 | Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 300. 97 | Obendörfer: Nation, Multikulturalismus und Migration, S. 17. 98 | Der Begriff »Gäste« soll auf die Erwartungshaltungen gegenüber Gastarbeiter*innen hinweisen. Die Kategorisierung als Gastarbeiter stellt für sich schon ein stigmatisierendes Moment dar. Gäste stehen außerhalb der Gesellschaft oder Kollektive und dürfen die »Gastfreundschaft« nicht mit Forderungen überstrapazieren. »Man könne sich zuhause fühlen« bedeutet nicht, dass man Zuhause ist. Die Anpassungserwartung sowie die Hierarchisierung in der Gesellschaft zeigen sich bereits am begrifflichen Gebrauch. Ferner bedient der Begriff des Gasts bzw. des Gastarbeiters auch die Kategorien Race, Class und Gender und verweist somit auf Merkmale von Intersektionalität.

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chungen ein großes Interesse an der zweiten Generation von Migrant*innen.99 Spätestens nach dem Anwerbestopp wurde deutlich, dass der Aufenthalt vieler sogenannter Gastarbeiter*innen und ihrer Familien in Deutschland dauerhaft sein würde. Antworten darauf, wie die sogenannte Ausländerpädagogik, die eine strukturelle Integration der Arbeitsmigrant*innen in das bundesdeutsche Bildungssystem forderte, blieben unbeachtet.100 Zahlreiche bildungspolitische Debatten und Konzepte analysierten und diskutierten das Phänomen der zweiten Generation. Die Migrant*innen der zweiten Generation wurden als Auszubildende oder Schüler*innen zum Objekt von Bildungs- und Kriminalitätsdiskursen, in denen sie fast ausschließlich als potenzielle Delinquent*innen oder Straftäter*innen vorkamen. Eine Wende bewirkten in den 2000er Jahren die Schulvergleichsstudien, die öffentliche Interesse für die Migrationsforschung schufen. Insbesondere die Ergebnisse der PISA-Studie zeigten den entscheidenden Einfluss des sozialen Hintergrundes von Schüler*innen für deren Schulerfolg. Gleichzeitig verdeutlichten die PISA-Ergebnisse, dass die Unterscheidung zwischen Inländern und Ausländern – also anhand der Staatsangehörigkeit – statistisch unbrauchbar war.101 Als Konsequenz erhebt der Mikrozensus in Deutschland seit 2005 das Kriterium Migrationshintergrund, das aktuell wie folgt definiert wird:

99 | Zur zweiten Generation zählen Kinder der ersten Gastarbeiter, die entweder als Kinder im Sinne der Familienzusammenführung ebenfalls nach Deutschland immigrierten oder aber als Kinder von ausländischen Gastarbeitern in Deutschland geboren wurden. 100 | Migrationspolitische Vorstellungen und Konzepte der Bundesregierung orientierten sich am Rotationsprinzip. Dieses Austauschprinzip formulierte keinen Bedarf an bildungspolitischen Maßnahmen. Anfang der 1970er Jahre vervielfachten sich die Zahlen ausländischer Schüler*innen. Siehe Niekrawitz: Interkulturelle Pädagogik im Überblick: Von Sonderpädagogik für Ausländer zur interkulturellen Pädagogik für Alle, S. 14. Bildungspolitische Überlegungen etablierten den Begriff Ausländerpädagogik. Diese basierten auf einem statischen Kulturkonzept, das Migration und Integration als Problem bewertet und defizitorientiert und kompensatorisch ausgerichtet war. Vgl. hierzu Czock/Radtke: Sprache Kultur Identität, S. 41. Siehe zu Ausländerpädagogik auch Nieke: Multikulturelle Gesellschaft und interkulturelle Erziehung; Auernheimer: Einführung in die interkulturelle Erziehung; Gogolin: »Kultur« als Thema der Pädagogik; Hamburger: Von Gastarbeiter Betreuung zur reflexiven Interkulturalität; Krüger-Potratz: Stichwort: Erziehungswissenschaft und kulturelle Differenz. 101 | Bundesministerium für Bildung und Forschung: Schulerfolg von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im internationalen Vergleich, S. 61f. Vgl. dazu: OECD: PISA 2012 Ergebnisse, Ländernotiz Deutschland (Tabelle II.3.4b in OECD, 2013b).

2. Grundlagen und Vorüberlegungen Bei Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich um Personen, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländerinnen und Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem Elternteil, der zugezogen ist oder der als Ausländerin bzw. Ausländer in Deutschland geboren wurde.102

Während sich ein Großteil der Forschung seit den 1970er Jahren der zweiten Generation widmete, sind Studien, die sich explizit mit der dritten Generation von Migrant*innen beschäftigen, bis heute selten. Ein berechtigter Vorbehalt in diesem Zusammenhang ist die Gefahr einer möglichen Stigmatisierung durch Begriffe wie Migrationshintergrund oder dritte Generation – da diese häufig mit einer negativen Konnotation in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Hinsicht einhergehen. Aus einer post-integrativen Perspektive können sich Personen, die nach oben genannter Definition einen Migrationshintergrund besitzen, durch diese Zuschreibung stigmatisiert fühlen. Obwohl sie deutsche Staatsbürger – also Deutsche – sind, erleben sie häufig, als »nicht richtig deutsch« behandelt zu werden, was Ausdrücke wie »Passdeutsche« verdeutlichen.103 Vor diesem Hintergrund ist die Erhebung des familiären und sozialen Hintergrunds der Befragten für die vorliegende Studie ein zentraler Bestandteil der Analyse. Ich habe mich dafür entschieden, das Kriterium Migrationshintergrund kritisch zu reflektieren und ausschließlich als Arbeitsbegriff zu verwenden. Als statistisches Merkmal dient es der Präzisierung meines Samples und damit der Präzisierung meiner Ergebnisse. Die Formulierung »Person der dritten Generation mit Migrationshintergrund« bezeichnet in diesem Sinne Jugendliche mit mindestens einem Großelternteil, der als Arbeitsmigrant*in nach Deutschland migrierte. Auch in wissenschaftlichen Untersuchungen zum Geschichtsbewusstsein stellt die Darstellung des jeweiligen familiären Hintergrunds bisher ein Forschungsdesiderat dar. Über Personen der dritten Generation mit einem Migrationshintergrund liegen derzeit kaum empirisch belegbare Aussagen vor.104 Lediglich in der Mehrthemenbefragung des Zentrums für Türkeistudien und 102 | Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2015. 103 | 2015 äußerte sich der Weltmeister und deutscher Nationalspieler Mesut Özil kritisch über sein Image als »Deutsch-Türke« in der deutschen Öffentlichkeit: »Nur ich werde so bezeichnet. Bei Sami Khedira sagt keiner der Deutsch-Tunesier oder bei Lukas Podolski und Miroslav Klose der Deutsch-Pole.« Online verfügbar unter: www.spiegel.de/ spor t/fussball/mesut-oezil-will-nicht-deutsch-tuerke-genannt-werden-a-1025443. html (25.03.2015). Die exemplarisch genannten Begriffe und Bezeichnungen zeugen von einer verbalen Ausgrenzung oder gar Ausbürgerung. 104 | Vgl. Geißler: Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn, S. 20.

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Der Diasporakomplex

Integration wird seit 2015 generationell zwischen Personen zweiter und dritter Generation von mit türkeibezogenem Migrationshintergrund differenziert. Eine explizite Betrachtung von Personen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund gibt es nach meinem derzeitigen Kenntnisstand nicht. Bedenkt man, dass die dritte Generation derzeit schulpflichtig ist, so offenbart sich die dringende Notwendigkeit einer eingehenden Betrachtung dieser Gesellschaftsgruppe.

2.2.6 Wie wird man Teil der deutschen Gesellschaft? Die Anwerbeabkommen der BRD von 1955 bis 1968 mit anderen europäischen Ländern beförderten die Entwicklung der Migrationsforschung. Vor allem anhand der sogenannten Gastarbeiter versuchte die Forschung, auf die sozialen Veränderungen mit umfassenden Konzepten und einer gesellschaftlichen Makroanalyse zu antworten. Zu den Pionierarbeiten der Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum gehören die Arbeiten von Hoffmann-Nowotny, Hartmut Esser und Friedrich Heckmann aus den 1970er und 1980er Jahren.105 Sie betrachten Zuwanderung als strukturelles Phänomen und versuchten diese in einem kategorialen Gerüst zu verorten. Die klassischen Assimilationsmodelle wurden zum Ausgangspunkt einer kritischen Rekonstruktion und Weiterentwicklung.106 Insbesondere die Weiterentwicklung dieses Ansatzes von Esser hatte eine weitreichende Wirkung bis hin zu heutigen Forschungsdebatten.107 Essers Vorgehen sowie seine theoretischen Standpunkte riefen jedoch auch Kritik hervor, die unter anderem von Michael Bommes formuliert wurde. 1980 entwarf Esser ein theoretisches Modell kognitiver, identifikativer, sozialer und struktureller Assimilation von Migrant*innen, das er deduktiv erklärte. Auch über 30 Jahre später bildet dieses Modell noch vielfach die theoretische Grundlage für empirische Untersuchungen von Integration.108 Esser unterscheidet in seinem Modell explizit zwischen den beiden zentralen Begriffen Integration und Assimilation. Integration definiert Esser als »Zusam-

105 | Hoffmann-Nowotny: Migration; Esser: Aspekte der Wandersoziologie. 106 | Esser: Aspekte der Wandersoziologie, S. 15. 107 | Aumüller: Assimilation, S. 105: »Einen Schwerpunkt wird die Theorie von Hartmut Esser bilden, der in der deutschsprachigen Migrationsforschung den prägnantesten Beitrag zur Assimilationstheorie formuliert hat.« 108 | Essers Assimilationsmodell dient u.a. als theoretische Grundlage der Studie Lebenswelten junger Muslime in Deutschland; Mehrthemenbefragung des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (Zf TI) sowie in verschiedenen Projekten der Universität zu Köln; vgl. Blume: Der theoretische Rahmen der Untersuchung und ihre Bedeutung im Kontext der Migrationssoziologie.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

menhalt von Teilen in einem systemischen Ganzen«.109 Assimilation versteht er hingegen als spezifische Ausprägung von Integration. Den Gegenpol zur Integration, den Zerfall des Systems, bezeichnet Esser als Segmentation. Darüber hinaus unterscheidet das Modell zwischen System- und Akteursperspektive sowie zwischen Systemintegration und sozialer Integration. Mit Systemintegration ist die Organisation der unterschiedlichen Teile des Systems gemeint, wie beispielsweise Markt, Medien oder politische Organisationen. Unter sozialer Integration versteht Esser die Organisation der Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb eines Systems. Diese wiederum unterteilt er in vier Dimensionen. Die erste Dimension, die (Ak-)Kulturation, umfasst Wissen, Kenntnisse, Kompetenzen und das Humankapital der Akteur*innen. Die zweite Dimension, die strukturelle Platzierung in den Komplexen Recht, Position, Akzeptanz, die sich im ökonomischen, institutionellen und politischen Kapital ausdrückt. Als dritte Dimension nennt Esser die Interaktion mit Netzwerkposition, des kulturellen und sozialen Kapitals. Die vierte Dimension beschreibt er als Identifikation mit bestimmten Werthaltungen, wie etwa dem Bürgersinn. Alle vier Dimensionen gemeinsam bestimmen nach Essers Modell den Grad der Integration.110 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Integration, Assimilation und Segmentation sowie die Ausdifferenzierung der vier Dimensionen ermöglichen eine Operationalisierung ausgewählter Faktoren bei der empirischen Erhebung. Jutta Aumüller führt hierzu aus: Leitend für Esser ist die handlungsorientierte Grundvorstellung: Migration und die daran anknüpfenden sozialen Prozesse sind – zumeist unbeabsichtigt – Folgen eines situationsbedingten rationalen Handelns der beteiligten Akteure, mit dem sie auf gegebene soziale Konstellationen reagieren. Aus diesem Handeln resultieren – wiederum unbeabsichtigt – strukturelle Konsequenzen, die ihrerseits den Ausgangspunkt für eine neue Situationslogik des handelnden Individuums bilden.111

Assimilation betrachtet Esser als einen interpersonalen Prozess, jedoch nicht als einen intergenerationalen wie im Race-Relation-Cycle. In Reaktion auf den öffentlichen Diskurs, in dem höchst unterschiedliche Definitionen und Interpretationen der Begriffe Integration und Assimilation kursieren, präzisierte Esser 2000 seine »Formen der Integration«.112

109 | Esser: Soziologie, S. 261. 110 | Ebd., S. 279. Eigene Hervorhebung. 111 | Aumüller: Assimilation, S. 107; sowie Esser: Does the New Immigration Require a New Theory of Intergenerational Integration?, S. 3. 112 | Esser: Soziologie, S. 287.

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Abbildung 2: Eigene grafische Darstellung der vier Dimensionen sozialer Integration nach Hartmut Esser.113 Die genannten Konzepte lassen eine zentrale Frage offen: Woran orientieren sich Migranten*innen? Richten sie sich am sozialen System ihrer Herkunftsgesellschaft (bzw. ihrer (ethnischen) Community) aus oder am sozialen System ihrer Aufnahmegesellschaft? Nach Essers Modell stellen Personen, die beide Formen der Orientierung mit einander kombinieren, sich also an mehreren sozialen Systemen orientieren, lediglich eine Ausnahme dar. Eine ausgewogene »Mehrfachintegration«, so Esser, sei sehr selten und gelinge höchstens Angehörigen des diplomatischen Dienstes oder sehr gut qualifizierten Akademiker*innen. An dieser Stelle wird ein Diskussionspunkt tangiert, der im Folgenden im Zusammenhang einer transkulturellen Identitätskonstruktion und eines doppelt semi-historischen Bewusstseins (Kapitel 2.4), das als Nullhypothese theoretisch in Anlehnung an einen doppelten Semi-Lingualismus konstruiert wurde, ausführlich im Kapitel 5 und 7 beleuchtet wird.114 Esser postuliert, dass eine erfolgreiche Integration in die Aufnahmegesellschaft vornehmlich in

113 | Das Original wurde verändert, um die Interdependenz der unterschiedlichen Dimensionen zu betonen, vgl. Esser: Soziologie, S. 279. 114 | Es ist möglich, Bilingualismus zu differenzieren. Nach Stölting: Die Zweisprachigkeit jugoslawischer Schüler in der Bundesrepublik, S. 11, können drei verschiedene Typen des Bilingualismus differenziert werden: Äquilingualismus, Semilingualismus und Bilingualismus mit starker Dominanz einer Sprache. Fthenakis: Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes, S. 19, beschreibt doppelten Semi-Lingualismus als »unzugängliche Kenntnis der Muttersprache und Zweitsprache«. Fthenakis behauptet, dass der doppelte Semi-Lingualismus kein Defizit sei, sondern ein soziales Phänomen darstelle, das durch die Erwartungshaltung der Aufnahmegesellschaft hinsichtlich der sprachlichen Fähigkeiten von Migrant*innen entstehe.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Form von Assimilation gelinge.115 Den Prozess der Angleichung an gegebene gesellschaftliche Standards der Aufnahmegesellschaft (der letztlich in die Assimilation münden soll) bezeichnet er als (Ak-)Kulturation: Akkulturation sei daher hier als ein Lernvorgang bei Personen verstanden, so dass die Personen Verhaltensweisen und Orientierungen übernehmen, die mit bestimmten kulturellen Standards des Aufnahmesystems übereinstimmen.116

Esser versteht die (Ak-)Kulturation also als die (notwendige) Vorstufe der individuellen Anpassung, der Assimilation. In seiner Neuformulierung von 2000 definiert er Assimilation vor allem als Prozess der Annäherung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen: Unter Assimilation wird zunächst – ganz allgemein – die ›Angleichung‹ der verschiedenen Gruppen in bestimmten Eigenschaften verstanden, etwa im Sprachgebrauch oder in der Einnahme von beruflichen Positionen. Dabei ist immer von einer Angleichung in gewissen Verteilungen der verschiedenen Gruppen auszugehen, weil ja auch die einheimische Bevölkerung nicht homogen ist.117

Die Modifikation des Verständnisses von Assimilation – vom Zustand der vollständigen Anpassung zum Prozess der Angleichung – in der Theorie führt zu einer Entlastung einzelner Migrant*innen und ihrer Anpassungsbereitschaft bzw. -fähigkeit. Vertreter*innen dieser neueren Assimilations- und Integrationsansätze beschreiben Assimilation vor allem als Makroeigenschaft einer Gruppe.118 Analog dazu unterscheidet Esser vier Dimensionen der Integration: die kulturelle, strukturelle, soziale und emotionale Assimilation. Die kulturelle Integration ist für ihn die Angleichung im Bereich des Wissens und der kognitiven Fähigkeiten. Die strukturelle Integration meint die Besetzung von Positionen in verschiedenen Funktionssystemen. Die soziale Integration beschreibt die gesellschaftliche Akzeptanz und die emotionale Integration die Identifikation der Migrant*innen mit der Aufnahmegesellschaft. 115 | Esser: Wandersoziologie, S. 22: »Assimilation (wird) als ein Zustand der Ähnlichkeit des Wanderers in Handlungsweisen, Orientierungen und interaktiver Verflechtung zum Aufnahmesystem verstanden.«; dazu Ders.: Soziologie, S. 288. 116 | Esser: Wandersoziologie, S. 21. 117 | Ders.: Soziologie, S. 288. 118 | Dazu Kalter/Granato: Sozialer Wandel und strukturelle Assimilation; Alba: Immigration and the American Realities of Assimilation and Multiculturalism; Alba/Nee: Rethinking Assimilation Theory; Alba/Nee: Remaking the American Mainstream, S. 145153; Esser: Kulturelle Pluralisierung und strukturelle Assimilation, S. 145-153; Esser: Integration und ethnische Schichtung.

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Im politischen Diskurs wird der in der Wissenschaft vorwiegend funktionale Integrationsbegriff häufig mit negativen Konnotationen versehen. In der Forschung wird unter Integration »die Entstehung von gleichwertigen Interdependenzen zwischen Personen und Gruppen« verstanden.119 Diese Interdependenzen entstünden Esser zufolge nicht nur unter Bedingungen der Assimilation, sondern auch unter jenen der Segregation. Entsprechend ließen sich integrierte und nicht integrierte Gesellschaften unterscheiden. Diese könnten kulturell homogen oder heterogen sein. Die Basis funktional differenzierter Gesellschaften, wie Esser die (Post-)Moderne beschreibt, sei die strukturelle Gleichheit der Individuen in Form ihres gleichberechtigten Zugriffs auf gesellschaftlich gegebene Möglichkeiten. Mit anderen Worten: Die (post-)moderne Gesellschaft biete in ihrer funktionalen Differenzierung keinen Raum für ethnische Segmentation.120 Soziale Ausgrenzung sowie extreme Grenzziehungen im Alltag würden durch strukturelle Ursachen befördert.121 Die Segmentationen unterschiedlicher ethnischer Gruppen betrachtet Esser allein als Phänomen in Kastengesellschaften; sie stünden im Widerspruch zu modernen Gesellschaften. Esser beschreibt ethnische Segmentation als Unterschichtung der einheimischen Bevölkerung.122 Im Gegensatz zu anderen Forscher*innen spricht Esser der ethnischen Community der Migrant*innen keinerlei positiven Einfluss auf die Orientierung der Migrant*innen an der Aufnahmegesellschaft zu.123 Für ihn ist Assimilation die erfolgreiche Sozialintegration des/der Einzelnen und Folge der individuellen Anpassung an kulturelle Orientierungen der Aufnahmegesellschaft. Dies wird vor allem in Essers 1982 veröffentlichten Modell der hypothetischen Kausalstruktur von Assimilation und personaler Integration deutlich und wirkt in seinen Folgeausführungen nach.124

119 | Esser: Does the New Immigration Require a New Theory, S. 3. 120 | Dazu kritisch Aumüller: Assimilation, S. 109: »Esser vertritt den Standpunkt, dass jede ethnische Differenzierung von Gesellschaften ohne Assimilation ihrer Akteure empirisch mit Positionen der vertikalen sozialen Ungleichheit verbunden ist.« 121 | Dazu Esser: Aspekte der Wandersoziologie, S. 298. 122 | Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 103. 123 | Vgl. dazu Heckmann: Die Bundesrepublik ein Einwanderungsland?, S. 117; Elwert: Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch Binnenintegration; Wiley: The Ethnic Mobility; Binnenintegration hemmt Esser zufolge die Motivation zum sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesellschaft, wodurch die Sozialintegration verzögert würde. Vgl. auch: Portes/Zhou: The New Second Generation. Die Autoren beschreiben in ihrem Konzept der segmentierten Assimilation die HerkunftsCommunity als Ressource im sozialen Aufstieg. 124 | Esser: Sozialräumliche Bedingungen der sprachlichen Assimilation, S. 283; Aumüller: Assimilation, S. 110f.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Dennoch können Essers theoretische Überlegungen erweitert und kritisiert werden. Nach Essers Auffassung bedinge die Dimension der kognitiven Assimilation alle folgenden Schritte. Die Sozialintegration bedinge die Anpassung an die »Eigengesetzlichkeit der Systeme«, beispielsweise an das bestehende Bildungssystem oder an den Arbeitsmarkt. Diese Systeme wiederum formulierten kulturelle Vorgaben an die ihm Zugehörigen, die ihrerseits mit den Vorgaben der Aufnahmegesellschaft korrespondierten. Als Beispiel führt Esser das Bildungssystem an, das er als nationalstaatlich regulierte Institution betrachtet, die sich an den kulturellen Vorgaben einer »regionalen bürgerlichen Mittelschicht« orientiere.125 Möglicherweise ist die Quelle dieser Orientierung auch in der sozialen Herkunft der unterrichtenden Lehrer*innen zu suchen. Esser unterscheidet nicht zwischen Integration in Schule und Beruf und schlussfolgert, dass ein sozialer Aufstieg eine Anpassung an kulturelle Vorgaben erzwinge. Für diese seien eine berufliche (oder schulische) Aufstiegsorientierung sowie eigene Kompetenzen die Basis. Durch dieses theoretische Konzept wird der Begriff Leitkultur mit einer kausalen Evidenz ausgestattet,126 da sich begrifflich auf die Anpassungsbemühungen und die Aufstiegsorientierung von Migrant*innen innerhalb kultureller Vorgaben bezogen wird.127 Für eine personale Integration ist die Balance der intrapsychischen Anforderungen notwendig. Erst durch eine widerspruchsfreie Orientierung in Bezugssystemen kann eine Grundlage für eine identifikative Assimilation als Ziel einer sozialen Integration geschaffen werden. Migrant*innen – selbst wenn sie aus einem Herkunftsland stammen oder derselben kulturellen oder religiösen Gemeinschaft angehören – stellen keine homogene Gruppe dar. Sie unterscheiden sich individuell hinsichtlich ihrer Migrationsmotivationen und -erwartungen. Dies bringt eine individuell unterschiedliche Anpassungsbereitschaft und Assimilationswilligkeit mit sich. Die Frage, wie viel Bereitschaft zur Assimilation Migranten*innen aufgrund ihrer Migration mitbringen, kann nur individuell beantwortet werden. In diesem Sinne betont Michael Bommes, dass Assimilation stets kontextund systemspezifisch sei.128 So hätten beispielsweise sprachliche Kompetenzen und Vorkenntnisse einen hohen Einfluss auf den schulischen und beruflichen Erfolg von Migrant*innen und bedingten so die strukturelle Assimilation so125 | Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 106. 126 | Vgl. Tibi: Europa ohne Identität, S. 154; Der Begriff einer »deutschen Leitkultur« wurde erstmals 1998 vom CDU-Politiker Jörg Schönbohm genutzt und gilt seit 2000 und seiner Nutzung durch den CDU-Politiker Friedrich Merz als Gegenbegriff zu »Parallelgesellschaften« und artikulierte Aufforderung zur Anpassung an Personen mit Migrationshintergrund. 127 | Ebd. 128 | Bommes: Migration in der modernen Gesellschaft, S. 52f.

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Der Diasporakomplex

wie die Eingliederung. Kritiker*innen werfen Esser vor, dass er seine Theorie (unbewusst) an spezifischen sozialen Schichten ausrichte, indem er von ökonomischen Migrationszielen und struktureller Assimilation als Aufstiegschance spreche.129 In der Realität, so die Kritik, existierten sehr viele unterschiedliche Gruppen von Migrant*innen bzw. Menschen mit Migrationshintergrund. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium sei dabei die Generation. So ist zu fragen, inwiefern man bei den Nachfolgegenerationen von Migrant*innen noch von einer bewussten Entscheidung sprechen kann, wenn die Betroffenen selbst gar keine Migrationserfahrung gemacht haben und auch nie eine diesbezügliche Entscheidung getroffen haben. Auch über die Frage der kulturellen Orientierung gibt es in der Migrationsforschung unterschiedliche Auffassungen. Diese spiegeln die Schwierigkeiten eines gesellschaftlich konsensualen Verständnisses von Integrations- und Migrationstheorien, das nicht pejorativ ist, wider. Als diskussionswürdig kann in diesem Zusammenhang vor allem die Annahme einer sogenannten Leitkultur als Motivations- und Zielrichtlinie gelten. Die feinen Unterschiede verweisen auf subtile Exklusionsvorgänge, die einen sozialen Aufstieg von Migrant*innen ebenso erschweren, wie sie eine nachhaltige Segregation im Schulwesen fördern.130 Diese Exklusionsfaktoren führt Esser allesamt auf eine mangelnde kulturelle Anpassung seitens der Exkludierten zurück. Für ihn birgt die ethnische Segmentation die Gefahr der Marginalisierung von Eingewanderten. Dabei ist kritisch anzumerken, dass Integration mehr bedeutet, als die kulturelle Anpassung an traditionale Verhaltensweisen und als eine Eingliederung in ethnische Bezugssysteme. Assimilation und Segmentation stellen nur zwei Pole eines Kontinuums dar. Je nach Kontext können bestimmte Handlungsweisen assimilativ oder segmentativ sein.131 Wie bereits geschildert ist eine solche Mehrfachorientierung bzw. Mehrfachintegration nach Essers Modell nur in Ausnahmefällen möglich. Die Vorstellung einer transkulturellen Identitätskonstruktion erscheint ihm als schwieriger, interaktiver Balanceakt (Krappmann), da Integration durch unterschiedliche Lernaktivitäten und Gelegenheiten bedingt sei, die die meisten Migrant*innen nicht erführen. Daher lautet Essers Fazit, dass eine vollständige Sozialintegration nur in Form der Assimilation möglich sei. In Bezugnahme sowohl auf Esser als auch auf die Kritik an seinem Modell möchte ich für die vorliegende Arbeit folgende hypothetische Überlegung 129 | Esser entgegnete auf die Kritik an seinem Integrationsmodell, dass dieses seine universale Bedeutung mittlerweile verloren hätte und nur noch Anwendung auf die »›old‹ Immigration« finden könne. Vgl. Esser: Ist das Konzept der Assimilation überholt? 130 | Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Im Originaltitel »La distinction«. Pierre Bourdieu sieht in der sozialen Herkunft einen maßgeblichen Bedingungsfaktor für Ausgrenzung (Distinktion) in der Gesellschaft. 131 | Goeke: Transnational assimiliert?, S. 341.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

anstellen: Ein reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein könnte die individuelle Fähigkeit einer transkulturellen Identitätskonstruktion steigern und Integration über strukturelle Assimilation hinaus zur Identifikation ermöglichen. Dies würde für alle Beteiligten des Integrationsprozesses gelten. Trotz der geschilderten Problematiken bleibt Essers theoretisches Modell als Grundlage für die Migrations- und Integrationsforschung wertvoll, da es die amerikanischen Vorlagen in die deutsche Debatte integriert. Die methodologische Individualisierung und der strukturell-handlungsorientierte Blick auf Bedingungen wurden vorher kaum beachtet und wirken sich seither auch auf die Integrationsdebatte in Politik und Öffentlichkeit aus. Als theoretisches Fundament für empirische Erhebungen beeinflussen sie Annahmen und Forschungsergebnisse in der Integrations- und Migrationsforschung. Obwohl Essers Systematisierungen und begriffliche Definitionen recht abstrakt und allgemein gehalten sind und als schwer für die empirische Forschung operationalisierbar gelten,132 eignen sie sich um Fragen für empirische Untersuchungen zu entwickeln. So ermöglicht beispielsweise Essers Differenzierung der unterschiedlichen Dimensionen von Sozial- und Systemintegration (Abbildung 2) die Generierung von Items mit geschlossenen Fragen für eine standardisierte quantitative Befragung.133 Aus diesem Grund dient Essers Modell in vielen quantitativen Studien als Grundlage der Item-Konstruktion. Die Kritik an Essers Integrationsmodell und die zentrale Annahme, dass das Individuum nutzungsorientiert und rational handelt (Rationalitätsannahme) bleibt davon unberührt. Auch für Essers Modell gilt, dass dessen Axiome nicht nachprüfbar sind.134 Vor allem (neo-)assimilatorische Ansätze knüpfen mit ihrer Kritik oft an diesem Punkt an. Der Schwerpunkt von Essers Theorie liegt auf der individuellen Angleichung einzelner Migrant*innen an die Aufnahmegesellschaft. Dieses Modell geht von Grundannahmen aus, die eine Hierarchisierung mit sich bringen: Es liegt demnach an Ein- und Zuwanderer*innen, Integrationsbereitschaft zu zeigen und sich kulturell an der Aufnahmegesellschaft zu orientieren. Seitens der Einwanderungsgesellschaft aufgerichtete Barrieren für die Integration werden in diesem Modell nicht ausreichend berücksichtigt. Essers Assimilationsmodell von 1980 kann als erster Versuch angesehen werden, eine umfassende migrationssoziologische Theorie in deutschen Sprachraum zu formulieren. Es identifiziert Faktoren der Eingliederung und beschreibt kausale Zusammenhänge. Legt man jedoch ein Verständnis von Integration als interdependenten 132 | Blume: Der theoretische Rahmen der Untersuchung, S. 25: »So sei die Theorie nicht falsifizierbar!« 133 | Siehe dazu Bortz/Döhring, S. 213-219, hier S. 214. Vgl. ebd.: Likert-Skala, S. 224. 134 | Ebd., S. 24.

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Der Diasporakomplex

Prozess zugrunde, kann das Modell inhaltlich nicht überzeugen. Jedoch liegt ein vergleichbar umfassendes theoretisches Konzept mit diesem Verständnis von Integration nicht vor. Seit den 1990er Jahren wurde zu einzelnen Axiomen empirisch erforscht. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der Bundesrepublik und der Auffassung, dass es zur gelungenen Integration auch einer Diversifizierung und Differenzierung der Gesellschaft der Zugewanderten bedarf, sind das beschriebene Integrationsmodell und dessen Fortentwicklungen weiterhin grundlegend und anschlussfähig für die Migrations- und Integrationsforschung. Der Bezug auf Essers Modell erleichtert darüber hinaus die Erhebung quantitativer Daten und gewährleistet eine Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen bisheriger Studien sowie eine Triangulation zwischen quantitativer und qualitativer Erhebung.

2.3 I dentität – A uf der S uche nach E lif Ich bin nicht, was ich sein soll, ich bin nicht, was ich sein werde, ich bin auch nicht mehr, was ich war. (E rik H. E rikson)

Das Zitat beschreibt den dynamischen Charakter einer Identitätskonstruktion. Jede Zeile steht für eine andere Verknüpfung verschiedener Zeitebenen, in denen das Individuum seine Identität reflektiert. Zunächst sagt es in der Gegenwart »Ich bin nicht, was ich sein soll« Diese Aussage resultiert nicht nur aus einem Orientierungsbedürfnis in der Gegenwart, sondern deutet auf Zukunftsperspektiven aus der Vergangenheit hin. Mit der nächsten Feststellung, »ich bin nicht, was ich sein werde« wendet sich das Individuum aus der Gegenwart der Zukunft zu und entwickelt eine Zukunftsperspektive, die ihm Orientierung in der Gegenwart ermöglicht. Mit dem letzten Urteil, »ich bin auch nicht mehr, was ich war«, schließt es seine Orientierung ab. Es beantwortet die Frage »wer bin ich« und begegnet seiner Verunsicherung mit der Reflexion der verschiedenen Zeitebenen. Erik H. Eriksons Zitat veranschaulicht die enge Interdependenz zwischen Ich-Identität und dem Umgang mit Geschichte. Folgte man diesem Gedanken, dann wäre das primäre Ziel historischen Denkens die Konstruktion einer Ich-Identität, die in einer von Wandel und Brüchen bestimmten Welt Orientierung bietet und das Bedürfnis nach Kontinuität und Einzigartigkeit stillt. Der Psychoanalytiker Erikson beschäftigte sich seit den 1940er Jahren mit dem Begriff der Identität und diskutierte diesen im Zusammenhang mit Psy-

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

chologie und Soziologie.135 Erikson griff Freuds Begriff des Ich auf. Aus seiner Sicht ist die Ich-Identität ein Prozess, nicht bloß ein Produkt. In Anknüpfung an die Überlegungen von Georg Herbert Mead und Erving Goffman untersuchte Lothar Krappmann 1971 Identität aus soziologischer Perspektive, indem er strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen analysierte. Bevor ich näher auf Krappmanns Verständnis von Identitätskonstruktion(en) eingehe und erläutere, wie ich das Konzept in meiner empirischen Erhebung verwende, möchte ich einen Blick auf die theoretischen Überlegungen der genannten Sozialtheoretiker werfen, um Krappmanns Ansatz zu kontextualisieren. Mead beschrieb und erklärte menschliches Handeln in konkreten Situationen. Identität war für ihn ein Produkt von Interaktion, ermöglicht durch soziale Beziehungen.136 Jede Beziehung diene nach Mead dazu, das Selbst durch die Anderen zu definieren und das Andere durch das Selbst. Demnach erfahre sich das Individuum selbst nicht direkt, sondern nur reflexiv durch seine Spiegelungen in den Reaktionen der Interaktionspartner*innen. Hierbei seien, so Mead, vor allem gemeinsame Gesten sowie Sprache bedeutsam, da diese als signifikante Symbole Antizipation ermöglichten. Nur durch Sprache seien Selbstreflexion und Identitätskonstruktion möglich.137 Goffman betrachtete 1963 als zusätzliche Perspektive die Bewältigung von Identitätsproblemen durch Personen, die aufgrund sozialer Vorurteile entstanden waren. Die Ursache für diese Identitätsprobleme sah er in Stigmatisierungen.138 Krappmann wiederum greift in seinen Überlegungen die interaktionistischen Identitätstheorien von Goffman und Mead auf und entwickelt sie weiter zu einer soziologischen Identitätstheorie.139 Er versteht Identität als einen ständigen Prozess, der vom Gelingen der Interaktion sowie der Reflexion abhänge. Dabei wirft Krappmann zwei zentrale Fragen auf:140

135 | Erikson: Identität und Lebenszyklus; Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 218 zur Struktur der Persönlichkeit. 136 | Mead: Geist, Identität und Gesellschaft; Baumgärtel: Das perspektivierte Ich. 137 | Vgl. dazu Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 85ff., 180. 138 | Goffman: Stigma; Ders.: Interaktionsritual; Ders., Stigma, S. 155: »Die spezielle Situation des Stigmatisierten ist, daß die Gesellschaft ihm sagt, er sei ein Mitglied einer weiteren Gruppe, also ein normales menschliches Wesen, aber gleichzeitig in gewissem Grade »anders«, und daß es töricht sei, diese Andersartigkeit zu leugnen.« 139 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 207: Identität ist die »Leistung, die das Individuum als Bedingung und Möglichkeit seiner Beteiligung an Kommunikationsund Interaktionsprozessen zu bringen hat.« 140 | Ebd., S. 9.

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Der Diasporakomplex Wie soll es [das Individuum] sich den anderen präsentieren, wenn es einerseits auf verschiedene Partner eingehen muss, um mit ihnen kommunizieren und handeln zu können, andererseits sich in seiner Besonderheit darzustellen hat, um als dasselbe auch in verschiedenen Situationen erkennbar zu sein?141

Ist Individualität nur unter Verhältnissen zu wahren, die das Individuum nicht zwischen diskrepanten Erwartungen zu zerreißen drohen?142 Die Fähigkeit, widersprüchliche Erwartungen und Anforderungen von anderen mit den eigenen Bedürfnissen auszugleichen, bezeichnet Krappmann als balancierte Ich-Identität.143 Das Individuum müsse die Fähigkeit besitzen, eine Kontinuität seines persönlichen Daseins herzustellen, gleichzeitig aber im Wandel der Veränderungen eine identische Vorstellung von sich zu behalten und sich Verhaltens-Zumutungen anzueignen. Problematische Situationen, die bei der Behauptung einer Identität entstehen können, beschrieb bereits Goffman anhand von Personen, die nicht den üblichen Erwartungen in bestimmten Gruppen entsprechen. Goffman führte exemplarisch Straftäter, Prostituierte und behinderte Personen an. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie bestimmte Eigenschaften nicht ablegten.144 Aufgrund dieses Verhaltens würden sie von anderen exkludiert, was wiederum zu Identitätsproblemen bei den Ausgeschlossenen führe. Diese könnten sich als Stigmatisierte nicht integrieren. Auslöser für die Reaktionen der Umwelt, so Goffman, sei die Verunsicherung, die die auffälligen Eigenschaften auslösen: Die nicht-stigmatisierten Stigmatisierenden fühlen sich in ihrer eigenen Identitätskonstruktion bedroht. Ihr Streben nach der Bewahrung der Scheinnormalität (phantom normalcy) bewirke die Stigmatisierung der anderen. Goffman führt hierzu das Beispiel körperbehinderter Personen an, denen die Umwelt zu versichern versuche, dass sie trotz ihrer Behinderung normal behandelt würden oder zumindest werden sollten. Gleichzeitig erwarte diese soziale Gruppe, die Anstren141 | Ebd., S. 7. 142 | Ebd., S. 8. Eigene Hervorhebung. 143 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 30: »Sie stehen zueinander im Widerstreit, denn in der biografischen Dimension der ›personal identity‹ wird vom Individuum verlangt, zu sein wie kein anderer. In der horizontalen Dimension der ›social identity‹ dagegen wird das Individuum betrachtet, als ob es mit den vorgegebenen Normen voll zur Deutung zu bringen sei. In dieser Dimension wird ihm folglich zugeschrieben, zu sein wie alle anderen. […] Zwischen ihnen zu balancieren, ist die Leistung des Individuums, die als Ich-Identität bezeichnet werden soll.« 144 | Kritisch anzumerken ist die Gleichbehandlung der genannten Personenkreise. Körperliche oder geistige Behinderungen unterscheiden sich von moralischen Charakterisierungen. Hier spiegelt sich die zeitgenössische gesellschaftliche Sichtweise ihrer Entstehungszeit wider.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

gungen der Normalen nicht zu überfordern. Stigmatisierte könnten sich erst dann integrieren wenn sie sich bewusst machten, dass die ihnen zugestandene Normalität lediglich eine Scheinnormalität sei, die auf einer Scheinakzeptanz (phantom acceptance) der anderen beruhe, so Goffman: »Der Stigmatisierte ist also darauf angewiesen, in Interaktionen auf einer Als-ob-Basis zu operieren.«145 Pathologisch seien Goffman zufolge nicht die Identitätsprobleme des Stigmatisierten, sondern die gegen Ambivalenz abgeschirmte und unsichere Identität der Normalen.146 Die Idealisierung des Normalen als Stereotyp der Erwartungen könne jeden zum Stigmatisierten machen, da es kaum möglich sei, diesem Ideal zu entsprechen. Dadurch, so Goffmans These, sei jegliche Identität diskreditierbar und potenziell stigmatisierbar.147 Der Balanceakt bestehe daher nach Goffman darin, eine Identität zu konstruieren, die scheinbar den sozialen Erwartungen entspricht, aber dennoch in dem Bewusstsein entsteht, dass diese Erwartungen nicht erfüllt werden können. Interaktion könne demnach stets nur auf einer Als-ob-Basis erfolgen und gelingen. Um eine solche »doppelbödige Identität« begrifflich fassbar zu machen,148 greift Goffman auf die Unterscheidung zwischen sozialer Identität (horizontale Dimension) und persönlicher Identität (vertikale Dimension) zurück, die bereits bei Erikson, Anselm L. Strauss und David Joël de Levita zu finden ist.149

145 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 71. Dazu Goffman: Stigma, S. 122f.: »If […] he desires to live as much as possible ›like any other person‹, and be accepted ›for what he really is‹ […].« 146 | Die Anforderungen des Normalseins zu erfüllen, ist unmöglich. Goffman führt in seinen Schilderungen das Beispiel des amerikanischen Stereotypen an, der in den 1960er Jahren folgende Eigenschaften vereinen musste: weiß, verheiratet, protestantisch, Stadtbewohner, aus Nordamerika, mit Collegeausbildung und interessanter beruflicher Beschäftigung. Diese Schilderung erinnert an die Vorstellungen der klassischen Assimilationstheoretiker, die einen ähnlichen gesellschaftlichen Idealtyp als Zielvorstellung für die Assimilationsbemühungen der afro-amerikanischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildern. 147 | Goffman: Stigma, S. 123: »The maintains of phantom acceptance is what many, to some degree, are being asked to accept.« 148 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 73. 149 | Goffman: Stigma; Erikson: Ego Development; Ders., Identität und Lebenszyklus. Erikson spricht von personaler Identität und von Gruppenidentität, die durch das Subjekt erfahren und zur Ich-Identität wird. Strauss: Mirrors and Masks, S. 46f. Strauss verweist darauf, dass man wissen kann, wer jemand ist, ohne seine Identität zu kennen. De Levita: The Concept of Identity, schließt sich den Ausführungen Eriksons an.

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Er stellt dieser Unterscheidung die individuell-subjektiv erfahrbare IchIdentität entgegen.150 Die soziale Identität bezieht sich auf die Erwartungen der anderen, mit denen sich ein Individuum im Interaktionsprozess befinde.151 Die Erwartungen der anderen, die Goffman als Identitätsnormen bezeichnet, würden häufig erst dann wahrgenommen, wenn sie nicht erfüllt werden (können).152 Die persönliche Identität mache die Einzigartigkeit eines Individuums aus, die Goffman soziologisch zu fassen versucht.153 Das Individuum, so Goffman, müsse von einer Als-ob-Basis agieren, die die Scheinnormalität ihm abverlangt. In dieser könne das Individuum mehr ausdrücken, als von ihm verlangt oder erwartet würde. Dies sei eine Chance der eigenen Individualität in variablen Rollen Kontinuität zu verleihen. Anders gesagt setze die Kontinuität des Individuums dessen Individualität voraus. Nur eine reflektierte Ich-Balancierung führe zu einer balancierten Ich-Identitätskonstruktion bzw. zu dessen Erweiterung. Nicht jedem Individuum gelinge es, den geschilderten Balanceakt zu vollziehen. Es gäbe durchaus andere Strategien, um die Anforderungen einer balancierten Identitätskonstruktion zu umgehen, beispielsweise durch Anpassung an die Erwartungen einer sozialen Gruppe oder durch Widersetzung. Krappmann gibt allerdings zu bedenken, dass diese beiden Strategien langfristig zu psychischen Schäden führten.154 Aus der Verweigerungshaltung resultiere eine zu dominante Individualität, die nicht mehr in der Lage sei, den notwendigen Balanceakt zwischen Scheinnormalität und Individuum zuzulassen. Die vollkommene Anpassung führe zu einer Verleugnung der eigenen Individualität, des eigenen Selbst, der eigenen Biografie. Nur eine reflektierte und selbstreflexive, balancierte Ich-Identitätskonstruktion, so Krappmann, ermögliche eine stabile Identitätskonstruktion. Dabei dürfe die Idee einer stabilen Identität nicht mit der Abwesenheit von Konflikten oder Widersprüchen verwechselt werden, so Krappmann: »Die Errichtung einer individuierten Ich-Identität lebt von den Konflikten und Ambiguitäten.«155 Jede mögliche Interaktion verursache und schaffe Diskrepanzen 150 | Goffman: Stigma, S. 5f., 51ff., 105ff. 151 | Ebd., S. 2: »When a stranger comes into our prescience, then, first appearances are likely to enable us to anticipate his category and attributes, his ›social identity‹ – to use a term that is better than ›social status‹ because personal attributes such as ›honesty‹ are not involved, as well as structural ones, like ›occupation‹.« 152 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 73. 153 | Goffman: Stigma, S. 57: »By personal identity, I have in mind only the first two ideas – positive marks or identity pegs, and the unique combination of life History items that comes to be attached to the individual with the help of these pegs for his identity.« 154 | Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, S. 76f. 155 | Ebd., S. 167.

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und Konflikte. Dies könne bereits durch missverständliche sprachliche Kommunikation geschehen. Krappmann bezieht sich hier auf Mead, der die Sprache als das Hauptinstrument der Identitätskonstruktion betrachtet.156 Interaktionen seien niemals vollständig zufriedenstellend. Das Individuum müsse daher lernen, diese Unvollkommenheit sowie Fehler zu ertragen und mit ihnen umzugehen. Eine gelungene Identität zeichne sich demnach durch eine geglückte Balancierung sowie durch die Toleranz gegenüber Inkonsistenzen und Konflikten aus. Eine stabile Identität sei in der Lage, Ambivalenzen und Kontingenzen zuzulassen. Notwendig für die Herstellung einer solchen Identität seien Krappmann zufolge vier identitätsfördernde Eigenschaften: Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz, Empathie und Identitätsdarstellung:157 Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, konkurrierende und widersprüchliche Erfahrungen und Bedürfnisse wahrzunehmen und nebeneinander auszuhalten.158 Rollendistanz bezeichne die Fähigkeit, über die eigene Rolle zu reflektieren, sich gewissermaßen über die Rolle zu erheben und sich in die Lage zu versetzen, diese auszuwählen, zu negieren, zu modifizieren oder zu interpretieren.159 Erst dieser Abstand zur eigenen Rolle verdeutliche Interaktionspartner*innen, dass man sich als Individuum von der aktuell dargebotenen Rolle unterscheide und mit ihr nicht identisch sei. Die Empathie (role taking) ermögliche es dem Individuum, sich in die Rolle des Interaktionspartners zu versetzen, um die eigene Rolle in der Interaktion festzulegen. Sie sei die Grundvoraussetzung, um Interaktionsbeteiligung überhaupt zu erreichen.160 Die Identitätsdarstellung oder kommunikative Kompetenz diene der Darstellung des Individuums unter Berücksichtigung der Erwartungen der Kommunikations- und Interaktionspartner*innen. Dabei gehe es um die Fähigkeit, sich selbst möglichst umfassend und wirksam darzustellen.161 Das von Krappmann beschriebene Ideal der Herausbildung einer stabilen Ich-Identität basiert auf der Annahme einer herrschaftsfreien Interaktion sowie einer prinzipiellen Situationsoffenheit. Beides, so eine geläufige Kritik, 156 | Ebd., S. 12: »Die Identität, die ein Individuum aufrechtzuerhalten versucht, ist in besonderer Weise auf sprachliche Darstellung angewiesen, denn vor allem im Medium verbaler Kommunikation […] finden die Diskussion der Situationsinterpretationen und die Auseinandersetzung über gegenseitige Erwartungen zwischen Interaktionspartnern statt, in der diese Identität sich zu behaupten versucht.« 157 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 132-173. 158 | Ebd., S. 150f. 159 | Ebd., S. 133-141. 160 | Ebd., S. 142-150. 161 | Ebd., S. 168-173.

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könne angesichts gesellschaftlicher Machtverhältnisse in der Realität nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden.162 Krappmann begegnet dieser Kritik mit dem Hinweis, dass eine balancierte Identitätskonstruktion nicht mit Harmonie gleichzusetzen sei. Der strukturelle Assimilationsprozess verlange ein Ausbalancieren divergierender, auch nichtsprachlicher Erwartungen sowie das Aushalten einer unzureichenden Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Krappmanns Ansätze werden für die Analyse historischer Identitätskonstruktionen genutzt.

2.3.1 Bin ich, wer ich werde? Viele Disneyfilme handeln davon, wie ihre Protagonist*innen sich selbst finden und sich in ihrer Einzigartigkeit in Harmonie und Kontinuität mit ihrer Umwelt verorten.163 Dies ist nicht verwunderlich, da für viele Heranwachsende – eine wichtige Zielgruppe dieser Filme – die Identitätskonstruktion eine große Herausforderung darstellt. In den Filmen werden Krisen und Bewährungsproben der Held*innen dargestellt, die diese erfolgreich bewältigen. Häufig sind es die Krisen und deren Bewältigung, die Schwierigkeiten der eigenen Identitätskonstruktion aufzeigen. In Psychoanalyse und Psychotherapie werden zur Bewältigung von Krisen die biografische Entwicklung und das enge soziale Umfeld eines Individuums betrachtet. Ziel dieses Vorgehens ist es unter anderem, Antworten auf die Fragen »wie bin ich zu dem geworden, was ich heute bin« und »warum bin ich so, wie ich bin« zu finden. Aus geschichtsdidaktischer Sicht ist das autobiografische Erzählen Teil der Konstruktion von Identität. Historische Erkenntnisse sollen in der aktuellen Lebenssituation als Grundlage für eine (Re-)Organisation bzw. (Re-)Orientierung dienen. Diese historische Erkenntnis muss jedoch nicht prozessanalog und zwangsläufig zu einer Identitätserweiterung führen oder eine Identitätsdiffusion beheben.164

162 | Hebenstreit: Frauenräume und weibliche Identität, S. 16. 163 | Bespielhaft kann angeführt werden: Dumbo, der fliegende Elefant, erschienen 23. Okt. 1941; Eiskönigin – Völlig unverfroren, erschienen am 28.11.2013. 164 | Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 106ff., S. 215. Nach Erikson stellt sich besonders im Alter von 13 bis 20 Jahren die Frage nach der eigenen Identität. Diese müsse vor dem Hintergrund neuer sozialer Rollen gefunden und entwickelt werden. Dies beinhalte auch die Infragestellung von Bezugspersonen. Die Identitätsbildung gelänge, wenn möglichst viele positive Erfahrungen gesammelt würden, da es sonst zu einer Identitätsdiffusion käme. Als Konsequenz einer Identitätsdiffusion, das heißt eines Unvermögens einer stabilen Ich-Identitätsbildung, könnten Gruppen mit klaren und absoluten Strukturen anziehend wirken.

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Erikson beschrieb acht Phasen psychosozialer Krisen.165 Einen entscheidenden Einschnitt markiere die Phase der Adoleszenz, in der Gefahr einer Identitätsdiffusion bestünde. Den Beginn des Jugendalters überschreibt Erikson mit Identität gegen Identitätsdiffusion.166 Die angehenden Jugendlichen seien nicht nur einer physischen Revolution ausgesetzt,167 sondern hauptsächlich damit beschäftigt, ihre soziale Rolle zu festigen. Der Erfolg der Ich-Synthese 168 in der Interaktion mit unterschiedlichen Bezugspersonen, die Erikson als eigene Gruppen, die Anderen, frühere Vorbilder und das Ich in der Gemeinschaft bezeichnet, bestimme die Antwort auf die Fragen »wer bin ich« bzw. »wer bin ich nicht«.169 Die Adoleszenz ist eine sensible und spannungsgeladene Zeit, in der die eigene Identitätskonstruktion grundlegend hinterfragt wird. Um eine Identitätskonstruktion im Sinne von Krappmanns balancierter Ich-Identität zu ermöglichen, bedarf es neben den von ihm aufgeführten Fähigkeiten zur Konstruktion von Rollenidentitäten auch der narrativen Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu erzählen. Eine hypothetische Überlegung der vorliegenden Arbeit lautet daher, dass die eigene Geschichte und die Kompetenz des historischen Denkens Ressourcen sind, die Jugendliche bei der Identitätskonstruktion insbesondere in Krisenzeiten wie der Adoleszenz stützen könnten. Im Sinne der Selbstverortung in der Gesellschaft und der Ich-Synthese nach Erikson kann die erzählte Geschichte im Prozess der Identitätskonstruktion verschiedene Funktionen einnehmen und gleichzeitig zur Basis der eigenen Rollenidentität werden. Ursula Becher beschrieb 1980 mögliche Narrationsformen, die sowohl den Wunsch nach eigener Verortung als auch die Unsicherheit der Identitätsexploration verdeutlichen:170 Neben den Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? steht die andere: Wozu gehöre ich? Das hat zur Folge, daß ganz bestimmte historische Kenntnisse von Bedeutung werden: die Geschichte der ihn unmittelbar umgebenden Welt, die Geschichte seiner Familie, die Geschichte der Gruppe oder Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt oder zu der er gehören möchte.171

Nach Becher dienen historische Narrationen der eigenen Selbstverortung und (Selbst-)Erklärung. Sie sollen Zugehörigkeiten bestätigen oder ablehnen, um 165 | Ebd., S. 214. 166 | Ebd., S. 106-109. 167 | Ebd., S. 106. 168 | Ebd., S. 107. 169 | Ebd., S. 89. 170 | Becher: Identität durch Geschichte, S. 56. 171 | Ebd., S. 55.

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sich selbst (neu) verorten zu können.172 Die Bestätigung einer Zugehörigkeit bestimme die Rolle, die ein Individuum einnehmen möchte, und die Rollenidentität, die hierfür konstruiert wird. Dies könne auch auf der Grundlage einer »besseren Tradition« erfolgen,173 die historische Kontinuität anbiete. Relevant sind Selbstverortungen allesamt, da sie auf der Grundlage einer historischen Narration erfolgen. Demnach müssten die Kompetenzen historischen Denkens mit den Fähigkeiten zur Konstruktion einer balancierten Ich-Identität korrespondieren. Der Geschichtsunterricht, dessen zentrale Aufgabe die Förderung eines reflektierten und selbstreflexiven historischen Denkens ist, kann einen solchen Umgang mit Geschichte fördern und dadurch die Voraussetzungen für eine balancierte Ich-Identitätskonstruktion stärken. Doch was hat es für Auswirkungen, wenn Jugendliche kein existenzielles Interesse an Geschichte verspüren und sich in geschichtsarme Räume, das bedeutet in Räume, die keiner konfliktreichen Auseinandersetzung mit Geschichte bedürfen, flüchten? Individuelle und gruppenbezogene Unterschiede bestimmen Form und Inhalt der Narration und machen das historische Potenzial von Geschichte aus. Was aber, wenn die erzählte Geschichte bestehende Krisen und Verunsicherungen vor allem auslöst oder verstärkt? So kann beispielsweise die als bedrückend und spannungsgeladen empfindbare Geschichte des Nationalsozialismus diesen Effekt hervorrufen. Die Beschäftigung mit der NS-Zeit kann als Belastung empfunden werden, da sie die eigene Identitätskonstruktion größeren Spannungen aussetzt. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass zur Vermeidung von Konflikten historische Narrationen konstruiert werden, die diese Zeit ausklammern.174 Die Frage ist, wie stabil derartige Identitätskonstruktionen sein können. Versteht man stabile Identität als balancefähige Identität, die sich im Wandel der Ereignisse und der Zeit stets neu konstruieren kann und ihre Einzigartigkeit bei gleichzeitiger Kontinuität nicht verliert, so erscheint eine Identität, die sich darum bemüht, Balance zu vermeiden, als nicht stabil und als anfällig für weitere existenzielle Krisen. Die Förderung des Geschichtsbewusstseins und der Kompetenz historischen Denkens kann das Individuum befähigen, seine eigene biografische Geschichte reflektiert und selbstreflexiv zu erzählen und dadurch eine balancierte Ich-Identität zu konstruieren.

172 | Vgl. Meyer-Hamme: Historische Identität in einer kulturell heterogenen Gesellschaft, S. 89f. 173 | Becher: Identität durch Geschichte, S. 56. 174 | Ebd.

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2.3.2 Bin ich, wer ich sein soll? Eine pluralistische Gesellschaft, die aufgrund von Globalisierung, Medien und Technologie in der Lage ist, große Distanzen zu überbrücken und verschiedenste Menschen miteinander zu vernetzen, kann gleichzeitig dazu beitragen, dass sich gesellschaftliche Unterschiede vergrößern.175 Die Verunsicherung, die mit der Erweiterung des eigenen Horizonts einhergeht, zeigt sich in vielen Facetten und findet teilweise extreme Ausdrucksformen, wie etwa die populistischen Publikationen The Clash of Civilizations, Deutschland schafft sich ab oder Unterwerfung deutlich zeigen.176 Es scheint, dass »in der kleiner werdenden Welt« Fremdheit nicht abnimmt, sondern immer mehr Menschen zu Fremden werden.177 Es gehört zu den Aufgaben des Geschichtsunterrichts, das Fremdverstehen zu fördern. Historisches Lernen ist stets Fremdverstehen und somit immer auch interkulturelles Lernen. Die Beschäftigung mit Vergangenem und Unbekanntem fordert und fördert nicht nur kommunikative Fähigkeiten, sondern auch die Selbstverortung sowie die Fähigkeit zu einer balancierten Rollenidentität der Lernenden. Zugleich werden Fähigkeiten wie Empathie, Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz und Kommunikation sowie Selbstdarstellung ausgebaut. Die Fragen: »Wer sind wir?«, »Wer bin ich?«, »Wer sind die anderen?« werden immer wieder aufs Neue in anderen Bezugsrahmen und Kontexten verhandelt. Die Schnittstellen der Rollenidentitäten vergrößern nicht nur die Einzigartigkeit der lernenden Subjekte, sondern auch die Kontinuität und den Zugehörigkeitsraum. Der Interaktionsraum der Lernenden vergrößert sich, ihre Integrationsfähigkeit in soziale Gruppen und Kollektive wird verstärkt. Die Lernenden erhalten die Möglichkeit, ihre Identität zu erweitern. Die Multiplikation der Schnittstellen und der Wechsel zwischen interkulturellem und transkulturellem Lernen und Denken in allen sozialen Gruppen kann erst die gesellschaftliche Interaktion, das Verständnis von Gesellschaft und den Umgang mit Geschichte dauerhaft verändern, indem die Überwindung des Eigenen und des Fremden vereinfacht wird. Schüler*innen können im nächsten Fremden das nächste Eigene erkennen.178

175 | Schörken: Geschichtsunterricht in einer kleiner werdenden Welt, S. 317. 176 | Huntington: The Clash of Civilizations; Sarazin: Deutschland schafft sich ab; Houellebecq: Unterwerfung. 177 | Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 316f. 178 | Vgl. dazu Uffelmann: Das Mittelalter im historischen Unterricht, S. 43ff.; Hasberg: Historisches Lernen am »nächsten Fremden«.

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2.3.3 Bin ich, wer ich war? Die Bedeutung historischen Denkens sowie des Geschichtsbewusstseins für die Identitätskonstruktion wird grundsätzlich anerkannt.179 So führt Rüsen an, dass »die praktische Bedeutung historischen Denkens bei der Bildung der menschlichen Identität« außer Frage stehe. Ein Minimum an Dauerhaftigkeit im biografischen Zyklus der eigenen Lebensführung führe zu einer »zeitlichen Durchgängigkeit des Selbst«. Diese äußere sich in der eigenen zeitlichen Kontinuität zwischen Geburt und Tod sowie in der durch Kultur vermenschlichten Zeit. Dieser mentale Prozess, der einen dauernden Selbstbezug im Sinne eines emotionalen und geistigen Umgangs mit sich selbst darstelle, sei Identität, die als »die Dauer des menschlichen Subjekts im Wandel der Zeit als Bedingung seiner Lebensfähigkeit« umschrieben werden könne, so Rüsen.180 Entsprechend verstehe ich Identität als wesentliche menschliche Eigenschaft, die das Subjekt in personaler und sozialer Hinsicht befähige, sich in Kontinuität und Wandel zu bewegen. Personale Identität sei laut Rüsen an das Bewusstsein geknüpft, die eigene Biografie zu erzählen, die bis in die Zukunft reicht. Die soziale Identität beschreibe die innere Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die wiederum durch eine Narration, eine Geschichte artikuliert, konfirmiert, verändert oder abgelehnt werde. Daher könne man Rüsen zufolge »die Frage, wer man ist, nicht beantworten, ohne eine Geschichte zu erzählen, die vom eigenen Leben handelt.«181 Soziale und personale Identität seien ohne Geschichtsbewusstsein nicht denkbar, da in dieser Kontinuität in Zugehörigkeiten und Differenzierungen ausgehandelt würden. Die Identitätsbildung sei danach die wichtigste Funktion des historischen Denkens in der Lebenspraxis.182 Daher sei ein reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein auch grundlegend für die Konstruktion einer balancierten Ich-Identität. Erst dies befähige zur Ausbildung der eigenen Individualität über Kontinuitäten und Brüche hinweg. Was ist nun historische Identität und in welchem Verhältnis steht sie zur Identität? Dazu Hasberg: »Als historisch ist Identitätsbildung dann zu bezeichnen, wenn sie sich auf Kontinuitätsvorstellungen bezieht, das heißt, der Identitätssuchende sich auf eine Zeitverlaufsvorstellung bezieht, die er mit dem Kollektiv verbindet, in dem er sich zu verorten sucht.«183 Historische Identität 179 | Rüsen: Historik. 180 | Ebd., S. 266. 181 | Ebd., S. 267. 182 | Ebd. 183 | Hasberg: Von der Genealogie zur Historiografie, S. 171. Vgl. dazu Klaus Bergmanns Definition von historischer Identität: »Identität ist gegenwärtig ein wesentlicher Forschungs- und Reflexionsgegenstand aller Humanwissenschaften, weil durch die

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sei, so wiederum Rüsen, als Teil der Ich-Identität die Bildung der Subjektivität oder »Selbstbezüglichkeit«.184 Die historische Identitätskonstruktion beinhaltet verschiedene Identifikationen unterschiedlicher Intensität und Variabilität, die das Individuum formen und zur Profilierung seines Selbst beitragen. Dies sei jedoch nicht misszuverstehen als Fundus pluraler Identitäten, eines Identitätenrepertoires, so Rüsen: »Es geht darum, dass sich in der Vielfalt, Dynamik, Veränderbarkeit und Widersprüchlichkeit dieser unterschiedlichen Identifikationen und in den damit verbundenen Zugehörigkeiten das eine und das selbe Selbst zuallererst manifestiert und gewinnt.«185 Identität kann demnach als Prozess von Aushandlungen und Balance verstanden werden. Sie bildet sich durch eine Vielzahl an Identifikationen und gewinnt durch diese ihren eigenen Charakter. Historische Identität ist also ein Ergebnis der geschilderten mentalen Vorgänge, in denen eine Vielzahl an Identifikationen, durch die ein Individuum sich selbst mit etwas außerhalb Stehenden in Bezug setzt und dieses in sein selbst integriert. Historische Identität ist also immer auch eine Integrationsleistung sowohl des menschlichen Bewusstseins im Allgemeinen als auch des Geschichtsbewusstseins im Besonderen. Schlägt dieser mentale Vorgang fehl,

realhistorische Entwicklung Individuen und Gruppen in einem bislang wohl unerhörten Maße in ihrer Identität gestört oder beschädigt werden und weil identitätsbildende Normen sozialer Systeme ihren früher selbstverständlichen Geltungsanspruch verloren haben.«, Handbuch für Geschichtsdidaktik, S. 23. Historische Identität ist »die selbstidentifikatorische Zuordnung zum historischen Selbstverständnis sozialer Bezugsgruppen.«; siehe zur geschichtsdidaktischen Diskussion auch Uffelmann: Identität, Psychologie historischen Lernens und Geschichtsunterricht, der mit seinem Beitrag den Ost-West-Diskurs eröffnen möchte; Ders.: Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands; Klose/Ders.: Vergangenheit – Geschichte – Psyche; Ders./Klose/Mütter: Historisches Lernen im Vereinten Deutschland; Süssmuth: Geschichtsunterricht im vereinten Deutschland; Calließ: Lebenslauf und Geschichte. 184 | Rüsen: Zerbrechende Zeit, S. 157f.: »Identität enthält mannigfache Gesichtspunkte und mischt verschiedene Bewusstseinsbereiche, Werte, Normen und Erfahrungen. Begründet ist sie in einer fundamentalen Selbstbezüglichkeit des menschlichen Bewusstseins, aber diese Selbstbezüglichkeit ist zugleich bestimmt durch Beziehungen zu anderen Personen und Gruppen. Identität besteht also aus einer komplexen und oft widersprüchlichen Mixtur von Beziehungen, die auf Emotionen und Imaginationen genauso beruht wie auf kognitiven Vorgängen. […] Identität ist eine Beziehung zwischen diesen verschiedenen ›Identitäten‹, die durch ein bestimmtes Minimum an Kohärenz definiert ist (als Modus der Selbstbezüglichkeit). Diese Kohärenz brauchen Individuen oder Gruppen, um ihr Leben führen zu können.« 185 | Rüsen: Historik, S. 268.

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kann dies zu Verhaltensstörungen führen.186 Unterbleibt eine Förderung des historischen Denkens, kann dies zu Störungen in der Ausbildung der historischen Ich-Identitätskonstruktion führen, da die Voraussetzungen für eine balancierte Konstruktion des Ichs eingeschränkt werden. Dies kann sich besonders in Umbruchsituationen zeigen, in denen das gesteigerte Orientierungsbedürfnis nicht angemessen gestillt werden kann und Brüche nicht verzeitlicht (Rüsen) werden können. Ein Mindestmaß an Integrationsleistungen ist notwendig, um das Subjekt handlungsfähig zu machen oder zu erhalten. Dementsprechend ist auch ein basales historisches Bewusstsein ausreichend für die Ausbildung einer historischen Identität. Für die Entwicklung einer balancierten und handlungsfähigen historischen Identität ist dies jedoch nicht ausreichend, da Identität stets einer minimalen Kohärenz in der Vielfalt der Weltbezüge bedarf, die das menschliche Subjekt bestimmen.187 Historische Identität darf also nicht als starre und lineare Entwicklung verstanden werden. Vielmehr ist sie die Gesamtheit einer kohärent vermittelten Vielzahl von Identifikationen in zeitlicher Perspektive. Das Zeitkonzept – der Maßstab für Kohärenz – ermöglicht die temporale Erstreckung des Selbst. Das Selbst kann im Prozess Selbst bleiben und die drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpfen. Durch die Konstruktion von Geschichten können Grenzen der eigenen Lebenszeit gedanklich überwunden werden. Die historische Narration ermöglicht der historischen Identität so eine zeitliche Horizonterweiterung des menschlichen Selbst.188 Die vier Erzähltypen bzw. deren Modifikation zu Typen historischer Sinnbil186 | Schmidt: Neurose: »Aus psychologischer Sicht ist eine Neurose ein unbewusster Widerstand und die neurotischen Symptome lediglich Äußerungen psychodynamischer Konflikte. […] Eine grundlegende Theorie der Neurose stammt von S. Freud (Psychoanalyse). Nach ihm ist die Neurose das Resultat einer unvollständigen Verdrängung von Impulsen aus dem Es durch das Ich. Der verdrängte Impuls droht trotz der Verdrängung in das Bewusstsein und das Verhalten durchzubrechen. Zur erneuten Abwehr dieses Impulses wird das neurotische Symptom entwickelt, das einerseits eine Ersatzbefriedigung dieses Impulses, andererseits aber einen Versuch seiner endgültigen Beseitigung darstellt. Freud unterschied nach dem Kriterium der Dauer und Stärke des auslösenden Konfliktes sowie nach der Art seiner Verarbeitung. Brauer: Psychose: »Schwere psychische Störung mit zeitweiligem Realitätsverlust.« Vgl. dazu Freud: Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, S. 387: »Am genannten Orte sind die vielfältigen Abhängigkeiten des Ichs geschildert, seine Mittelstellung zwischen Außenwelt und Es und sein Bestreben, all seinen Herren gleichzeitig zu Willen zu sein. […] die Neurose sei der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt.« 187 | Rüsen: Historik, S. 268f. 188 | Ebd., S. 269f.

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dung können nach Rüsen in diesem Sinne als unterschiedliche Entwicklungsniveaus von Geschichtsbewusstsein verstanden werden:189 Vier Möglichkeiten gibt es, die menschliche Vergangenheit im Sinngebilde einer Geschichte als Faktor kultureller Orientierung zu vergegenwärtigen: Sie kann traditional, exemplarisch, genetisch und kritisch erzählt werden.190

Bei den vier Typen handelt es sich um Idealtypen (Tabelle 1), die in der Realität nur selten in idealtypischer Form auftreten. Häufiger sind es Überlappungen und Übergangsformen, wobei die kritische Sinnbildung zwar als Idealtyp historischen Erzählens abstrahiert ist, aber als eine Art Movens im Übergang zwischen den Sinnbildungsniveaus wirkt.191

2.3.4 Bin ich nicht, wer ich sein werde? Das Ich, das Wir und das Andere sind untrennbar. Ohne Distinktion ist Integration nicht möglich. Ohne die Anderen gibt es kein Wir und auch kein Ich. Identitätskonstruktion ist die stete individuelle Selbstvergewisserung und Selbstverortung in den verschiedenen sozialen Rahmen (cadres sociaux), wie Halbwachs es nannte. Identitätskonstruktion ist eine ständige Suche nach dem Selbst. Die Differenzierung von Wir- und Ihr-Gruppen bei gleichzeitiger Inkludierung von Identitätsofferten durch sich überschneidende Kollektive erfordert eine Regulierung der vorgenommenen Disktinktionen und Integrationen sowie ein Mindestmaß an Kohärenz.192 Wenn (historische) Identität eine, wenn nicht gar die zentrale Dimension des Geschichtsbewusstseins ist, ist es erforderlich, die grundlegenden Annahmen hierfür darzulegen.193 Für eine Untersuchung des Geschichtsbewusstseins von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund muss der allgemeine Zusammenhang zwischen historischer Identität und Geschichtsbewusstsein verdeutlicht werden. Dabei ist auf die Situationen von Schüler*innen im Ge189 | Die Typen ließen sich so als Entwicklungsniveaus des Geschichtsbewusstseins verstehen. Vgl. dazu Ebd., S. 259. Dies wird von Andreas Körber kritisiert. Siehe dazu Körber: Sinnbildungstypen als Graduierungen? 190 | Ebd., S. 212. 191 | Ebd., S. 259. 192 | Rüsen: Historik, S. 268f.: »Identität ist also durch eine minimale Kohärenz in der Vielfalt von Weltbezügen des menschlichen Subjekts bestimmt.« 193 | Vgl. dazu Pandel: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins, S. 135f. »Identitätsbewusstsein beruht auf der Erfahrung, dass einzelne Menschen wie auch Menschengruppen sich ändern und doch mit sich selbst identisch bleiben. […] Identität als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist somit eine Orientierung in diachroner Weise.« (sic!)

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schichtsunterricht im Allgemeinen sowie auf Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund im Speziellen einzugehen. Die Vorstellung, die Lehrende sich von der historischen Identitätskonstruktion der Schüler*innen machen, beeinflusst ihre Gestaltung des Geschichtsunterrichts.194 Umso wichtiger ist es, sich diese Vorstellungen bewusstzumachen und sie zu reflektieren. Historische Identität kann zum Selbstverständnis eines Individuums beitragen. Determinanten wie soziale und regionale Zugehörigkeit, die individuelle Lebensgeschichte, die Zuordnung in die Kategorien Class, Race oder Gender geben allein noch nicht hinreichend Aufschluss darüber, wie Schüler*innen mit Geschichte und mit sich selbst umgehen.195 Identität entwickelt sich wie oben dargestellt stets in sozialen Bezügen, durch Interaktion und Kommunikation sowie durch die Fähigkeit, die eigene Geschichte erzählen zu können. Das Medium Sprache, das als Mittel der Kommunikation angewandt wird und nach Krappmann eine notwendige Fähigkeit der eigenen Identitätsdarstellung ist, ist dabei eine grundlegende Bedingung für (gelungene) Interaktion.196 Bodo von Borries bezweifelte 1990, dass historisches Lernen zu einem Identitätsgewinn führe. Empirische Befunde zeigten, dass sich ein »schreiender Gegen194 | Huhn: Historische Identität als Dimension des Geschichtsbewusstseins. J. Huhn verwendet in seinen Überlegungen Krappmanns Identitätskonzept und betont die Bedeutung der Balance. Siehe dazu besonders S. 18-25 und Abbildung 2: Identität als strukturierendes Zentrum von Geschichtsbewußtsein, S. 24. Dazu Uffelmann: Geschichtsdidaktik und Wiedervereinigung, S. 138: »Während die Politik-Didaktiker sich mehr der kollektiven Identität zugewandt haben, hat die Geschichtsdidaktik […] sich zunächst der Innenansicht von Identität gewidmet, um die Prozesse der Identitätsbildung und -revision beim Individuum zu ergründen und den Anteil der Geschichte daran sichtbar zu machen.« 195 | Hierzu auch Goffman: Stigma, S. 16: »Tatsächlich gründet der Stigmatisierte seine Ansprüche […] nicht auf das, was seiner Meinung nach jedermann zusteht, sondern nur jedem seiner ausgewählten sozialen Kategorie, in die er fraglos paßt, zum Beispiel seines Alters, Geschlechts, Berufs usw. Doch kann er […] wahrnehmen, daß die anderen […] ihn nicht wirklich akzeptieren […].« Race, Class und Gender sind Begriffe, die in den Diversity- und Intersectionality Studies analysiert werden. Hierbei geht es nach Winkler/Degele: Intersektionalität. S. 7f., »um Zusammenhänge und Wechselwirkungen sozialer Differenzierungen.«; siehe dazu Lücke: Diversität und Intersektionalität, S. 136ff. und 142ff. 196 | Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 208: »Diese Balance auszuhalten, ist die Bedingung für die Behauptung von Ich-Identität. […] das Individuum die Erwartungen der anderen zugleich akzeptiert und sich von ihnen abstoßend, seine besondere Individualität festhalten und im Medium der gemeinsamen Sprache darstellen kann. Diese Ich-Identität ist […] Bestandteil des Interaktionsprozesses selber […], muß sie in jedem Interaktionsprozeß […] ständig […] neu formuliert werden.«

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satz von Anspruch und Wirklichkeit« auftue.197 Daher ließe sich nicht folgern, dass sich allein durch die Förderung kognitiver Fähigkeiten die Einstellungen zur Geschichte veränderten. Das mag so sein, jedoch können emotionale Bindungen an bestimmte Vorstellungen von Vergangenheit sowie Einstellungen zur Vergangenheit mit der Förderung eines reflektierten und selbstreflexiven Umgangs mit Geschichte bewusstgemacht und erweitert werden. Diese Fähigkeit kann ihrerseits den Prozess der Balancierung der Ich-Identität fördern. Zudem kann sich die (historische) Identitätskonstruktion an unterschiedlichen Bezugskollektiven orientieren. Das Individuum muss zwischen seiner personellen, individuellen Identität und den Identitätsofferten verschiedener Kollektive balancieren können. Hierzu benötigt es nach Krappmann Rollenidentitäten, Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und kommunikative Kompetenz.198 Diese Kompetenzen ermöglichen dem Individuum die Ausbildung einer reflektierten Ich-Identität. Identitätsofferten werden abgewogen, ohne sie vollkommen anzunehmen oder zu verinnerlichen und dadurch das subjektive Geltungsbedürfnis zu verlieren. Das Individuum geht nicht vollkommen in den Identitätsofferten anderer Gruppen oder Personen auf, was einer vollständigen Assimilation gleichkäme, sondern integriert und exkludiert unterschiedliche Teile individuell spezifisch. Der Prozesscharakter historischer Identitätskonstruktion und ihre Verknüpfung mit historischem Denken zeigen sich in der Reaktion des Individuums gegenüber Neuem. Im Geschichtsunterricht sind Jugendliche stets gefordert, sich zu etwas Neuem und Fremdem ins Verhältnis zu setzen. Jede historische Narration fordert und fördert daher die Fähigkeiten des historischen Denkens sowie der Identitätskonstruktion.

2.4 W er ist E lif ? – D oppelt semi - historisches B ewusstsein Im Folgenden möchte ich am fiktiven Beispiel von Elif, einer Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund eine spannungsgeladene Lebenssituation darstellen, die exemplarisch den Zusam197 | Von Borries: Geschichtsbewusstsein als Identitätsgewinn, S. 8. In seinem Beitrag beschreibt von Borries eine hohe Resistenz im Bereich der Einstellungen gegenüber historischem Lernen und merkt das Fehlen der Übertragung von sozial-psychologischen Konzepten von Identität auf das historische Lernen an. 198 | Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 210: »Strukturelle Bedingung für den Fortgang der in einer Gesellschaft notwendigen Interaktionsprozesse ist daher […] Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz, Identitätspräsentation und dass diese Fähigkeiten tragende Sprachvermögen.«

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menhang zwischen Geschichtsbewusstsein, Identitätskonstruktion und Integration aufzeigen soll. Hierzu entwickle ich das Gedankenspiel eines WorstCase-Szenarios. Der ambivalente Begriff doppelt semi-historisches Bewusstsein beschreibt die Spannungslage vor einem drohenden »Super-GAU«. Doppelt semi-historisches Bewusstsein meint nicht ein gespaltenes oder ein tatsächlich doppelt vorhandenes Geschichtsbewusstsein. Vielmehr handelt es sich um ein Wortspiel in Analogie zum doppelten Semi-Lingualismus: Der Begriff soll ein mögliches Spannungsverhältnis erklären und wurde aus einer Beschäftigung mit den Merkmalen Migrationshintergrund (race), Generation, Bildungshintergrund (class) und Geschlecht (gender) entwickelt. Das individuelle Geschichtsbewusstsein wird vom Zusammenspiel mit dem kollektiven, gesellschaftlichen Geschichtsbewusstsein und der Geschichtskultur beeinflusst und äußert sich gleichzeitig in dieser. Es ist also stets mit vielfältigen soziokulturellen Fremdund Selbstverortungsprozessen verbunden.199 Die Konzeption der explorativen Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit bedarf gerade angesichts von Diversität und Intersektionalität einer Fokussierung und Differenzierung des Untersuchungsgegenstandes. Dies ist allein schon erforderlich, um unterschiedliche Gruppen in der heterogenen und pluralistischen Gesellschaft nicht unsachgemäß gleich zu machen oder zu pauschalisieren. Ich gehe davon aus, dass sich Individuen stets durch vielfältige, in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten geprägte Kategorien, selbst konstruieren und verstehen. Hierdurch können sie gleichzeitig an der Geschichtskultur insgesamt, aber auch an verschiedenen Erinnerungsteilkulturen partizipieren. Die Herausforderung besteht in der Konstruktion einer balancierten (historischen) Ich-Identität, die sowohl die individuellen als auch die kollektiven Identifikationszumutungen und -offerten austarieren kann. Der Erfolg der Balancierung ist abhängig von der Fähigkeit des reflektierten und selbstreflexiven historischen Denkens. Ein reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein kann allein nicht die Konstruktion einer balancierten (historischen) Identität fördern, jedoch kann es die Bildung einer balancierten, das heißt reflektierten und selbstreflexiven Ich-Identität ermöglichen, welche die Basis einer transkulturellen Identität darstellt.200 199 | Hier könnte kritisch argumentiert werden, dass sich nicht jedes individuelle Geschichtsbewusstsein in der Geschichtskultur äußern muss. An dieser Stelle muss erörtert werden, ob das »Äußern« an quantitativen Merkmalen gemessen werden sollte, oder ob nicht jede Darstellungsform aufgrund des interdependenten Zusammenhangs sich in der Geschichtskultur äußern muss. Rüsens Formulierung der »praktisch wirksame[n] Artikulation von Geschichtsbewusstsein« lässt hier Raum für Interpretation. 200 | Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? S. 6: »Die innere Transkulturalität der Individuen befähigt diese nun zugleich, mit der äußeren Transkulturalität besser zurechtzukommen. Denn ein Individuum, in dessen Identität eine ganze Reihe kultu-

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Jene Balance zwischen diversen (Teil-)Geschichten und möglicherweise konfligierenden Deutungen herzustellen, die als Verschmelzung oder Konzeption hybrider Zusammenhänge bezeichnet werden könnte, stellt für Jugendliche eine große Herausforderung dar. Mein fiktives Beispiel und die Frage: »Wer ist Elif ?« gehen also nicht von einem defizitären Geschichtsbewusstsein aus, sondern von der Schwierigkeit, die beschriebene Balance herzustellen. Das folgende Worst-Case-Beispiel konzentriert sich auf eine Auswahl von sich überlagernden, sich widersprechenden und auch sich ergänzenden Einflussfaktoren der Fremd- und Selbstverortung, mit denen Jugendliche der dritten Generation mit Migrationshintergrund konfrontiert sind. Die im Folgenden dargestellte Dichotomie darf nicht als Gegenüberstellung von Türk*innen und Deutschen verstanden werden. Vielmehr ist sie ein Versuch, den Einfluss ausgewählter sozialer Kategorien auf die möglicherweise spannungsbeladene Situation der Untersuchungsgruppe zu beziehen. Der begrenzte Umfang der vorliegenden Studie macht die Auswahl bestimmter Einflussfaktoren erforderlich. Das hypothetische Fallbeispiel Elif betrachtet die Bedeutung und den Einfluss vielfältiger Erinnerungskulturen, narrativer Kompetenz, von Sprache, Bildungshintergrund und sozialem Gefüge. Es betont besonders die Gefahren für die individuelle Identitätskonstruktion und die gesellschaftliche Teilhabe, die von einer national basierten Identitätszuweisung ausgehen, welche kulturelle Merkmale unsachgemäß pauschalisiert. Das Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft lässt sich nicht nach sozialwissenschaftlichen Gattungsbegriffen wie Nation oder Staat klassifizieren. Die repräsentative europäische Vergleichsstudie Youth and History zeigte, dass der Umgang mit Geschichte in Europa unterschiedliche Formen haben kann.201 Ob sich der Umgang mit Geschichte durch die dritte Generation von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund eher mit dem Umgang mit Geschichte in der Türkei reller Muster Eingang gefunden hat, besitzt bezüglich der Vielzahl kultureller Praktiken und Manifestationen, die sich in seiner gesellschaftlichen Umwelt finden, größere Anschlusschancen, als wenn die eigene Identität nur durch ein einziges Muster bestimmt wäre.« 201 | Angvik/von Borries: Youth and History, S. A422f.; Ders.: Jugend und Geschichte. S. 353: »Deutschland ist, obwohl viele Bürger und Politiker das nicht wahrhaben wollen, faktisch ein Einwanderungsland. […] Es ist deshalb eine Frage von hohem politischem und wissenschaftlichem Rang, ob die Einwanderer- und Rückwandererjugendlichen die gleichen geschichtlichen Vorstellungen und politischen Einstellungen wie ihre nach Staatsbürgerschaft, Sprache und Herkunft »rein deutschen« Altersgenoss(inn)en und Klassenkamerad(inn)en aufweisen. Wenn wirklich »Geschichtsbewußtsein« eine Schlüsselstellung für Zukunftsorientierung und verantwortliches Handeln einnimmt, dann kann es der deutschen Gesellschaft keineswegs gleichgültig sein, welche historische Identität jene große Minderheit des Nachwuchses entwickelt.«

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oder mit einem deutschen Umgang vergleichen lässt, werde ich in der anschließenden empirischen Erhebung und Auswertung erörtern. Das folgende Worst-Case-Szenario könnte auch in den frühen Jahren der Bundesrepublik angesiedelt sein. In diesem Fall spräche ich vielleicht nicht über Elif, sondern über Angelika, die eine katholische, aus einer ländlichen und sozial schwachen Familie stammende Mutter mit niedrigem Bildungsniveau hat, während ihr Vater, ein protestantischer Akademiker, aus einer gutbürgerlichen Familie einer Großstadt kommt.202 Im hypothetischen Fallbeispiel ist Elif ein junges Mädchen aus Köln. Ihr Großvater ist 1965 als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland migriert. Zwei Jahre später holte er im Rahmen der Familienzusammenführung seine Frau und seine Tochter nach Deutschland. 1970 und 1973 bekam das Paar in Köln noch zwei weitere Kinder. Eins dieser Kinder ist Elifs Mutter. Anfang der 1980er Jahre entschied die Familie sich endgültig gegen eine Rückkehr in die Türkei. Nach der Definition des Statistischen Bundesamts hat Elif einen türkeibezogenen Migrationshintergrund, da ihr Großvater als Arbeitsmigrant nach Deutschland ausgewandert ist. Nach der Definition dieser Arbeit ist Elif eine Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Elif wächst unter den kulturellen Einflüssen ihrer Familie sowie ihres sozialen und schulischen Umfelds auf. Obwohl sie in Deutschland geboren, aufgewachsen und sie deutsche Staatsbürgerin ist, wird sie ständig mit Fremdzuweisungen wie Ausländerin, Migrantin oder ihrem Migrationshintergrund konfrontiert. Die ehemalige Heimat ihrer Großeltern kennt sie, wie schon ihre Mutter, allein aus Besuchen in den Ferien. Beide partizipierten dort nie oder selten am gesellschaftlichen Leben. Auch in der Türkei, dem Herkunftsland ihrer Großeltern, erfährt Elif Fremdzuweisungen. Dort wird sie als nicht richtig türkisch angesehen oder als Almancı beschimpft.203 Die Fremdzuweisungen in beiden Gesellschaften signalisieren Elif bestenfalls bedingt Akzeptanz oder Duldung. Ein offenes und uneingeschränktes Zugehörigkeits- und Identitätsangebot oder ein Orientierungsangebot einer sozialen Gruppe erfährt sie, wenn überhaupt, nur in der Gruppe der Almancı. Aufgrund dieser Erfahrun-

202 | Vgl. dazu Dahrendorf: Arbeiterkinder an deutschen Universitäten. Ders.: Bildung ist Bürgerrecht. Peisert: Soziale Lage und Bildungschancen, S. 99; dazu auch Becker: »Das katholische Mädchen vom Lande«, S. 177; Helbig/Schneider: Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande; Geißler: Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. 203 | Der pejorative Begriff Almancı (Deutschländer) ist im Türkischen eine weit verbreitete Bezeichnung für assimilierte Türkei-Deutsche. Kinder der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund werden in der Türkei oft als verlorene Generation (kaybedilmi ș nesil) bezeichnet.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

gen führen nationalfundierte Identitätszuweisungen in ihrem Fall nicht zu einer Selbstverortung, sondern zu einer doppelten Exklusion. Der Sprache als gemeinsames Symbol- und Wertesystem kommt dabei eine eminente Bedeutung zu. Durch sie wird Kommunikation als Voraussetzung für gegenseitiges Verständnis erst möglich. Elif verfügt nur über mangelhafte Deutschkenntnisse. Sie durchläuft bereits früh verschiedene Selektionsmechanismen des Bildungssystems. Aufgrund mangelnder Sprachförderung im frühkindlichen Alter weist sie bereits bei der Einschulung sprachliche Defizite auf. In der Grundschule können diese nicht ausgeglichen werden, da eine ganzheitliche Sprachförderung scheitert. Da der schulische Erfolg maßgeblich von der sprachlichen Kompetenz abhängt, erlebt Elif beim Übergang von der Primarstufe zur Sekundarstufe I einen weiteren Selektionsmechanismus. Der Zugang zur Realschule, zum Gymnasium oder zur Gesamtschule wird ihr verwehrt. Auf der Hauptschule wird sie mit anderen Schüler*innen unterrichtet, die ihrerseits aus verschiedenen Gründen ähnlichen Selektionsmechanismen unterworfen wurden. Ihre mangelnden Sprachkenntnisse sowie das soziale Umfeld der Hauptschule ermöglichen Elif lediglich eine beschränkte Partizipation an der deutschen Gesellschaft und nur einen begrenzten Zugang zu Bildungsangeboten. Ein möglicher Grund für ihre mangelnden Deutschkenntnisse könnte der Umstand sein, dass es sich bei Deutsch um Elifs Zweitsprache handelt. So wäre zu erwarten, dass sie ihre Erstsprache (Muttersprache) auf einem elaborierten Niveau beherrscht. Aber auch diese Muttersprache spricht Elif nur auf einem sehr basalen Niveau. Ihre Eltern sind selbst in einem sprachlichen und kulturellen Spannungsfeld aufgewachsen und weisen entsprechend auch selbst Defizite in beiden Sprachen auf. Sie konnten Elif sowohl in ihrer Muttersprache als auch auf Deutsch nur das Niveau vermitteln und weitergeben, das sie selbst beherrschen. In der Folge kann Elif auch an der türkischen Gesellschaft nicht voll partizipieren. Aufgrund ihrer sprachlichen Schwierigkeiten wird sie auch dort nicht als vollwertiges Mitglied anerkannt. Das beschriebene Phänomen wird als doppelter Semi-Lingualismus bezeichnet, als »unzulängliche Beherrschung der Erst- und Zweitsprache aufgrund eines Bruchs im Spracherwerb«.204 Elif durchläuft als Schülerin der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund das deutsche Schulsystem und nimmt dabei auch am deutschen Geschichtsunterricht teil. Anders als ihre autochthonen Mitschüler*innen – so das Gedankenspiel – bezieht sie das für ihre Orientierung bedeutsame historische Wissen hauptsächlich aus den oralen historischen Narrationen ihres familiären Umfelds. In diesen Erzählungen wird nur sel-

204 | Vgl. Ünsal/Wendlandt: Doppelte Halbsprachigkeit bei türkischen Migrantenkindern; Hansegård: Tavsprakighet; Skutnabb-Kangas: Bilingualism.

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ten explizit zwischen Sachwissen und Werturteilen unterschieden.205 Zudem thematisiert der Geschichtsunterricht Inhaltsfelder, denen Elif außerhalb der Schule, also in ihrem familiären und engeren Umfeld, nicht begegnet. Folglich bringt sie dem Geschichtsunterricht an der Schule starke Skepsis entgegen, zumal die spezifischen Voraussetzungen ihres Geschichtsbewusstseins dort nur in geringem Ausmaß Berücksichtigung finden. Elif empfindet den Geschichtsunterricht daher als fremd. In ihrer eigenen historischen Identitätskonstruktion fühlt sie sich durch den Unterricht nicht gestützt. Analog zum Konzept des doppelten Semi-Lingualismus ließe sich behaupten, dass wir es bei Elif mit einem doppelt semi-historischen Bewusstsein zu tun haben, das eine Identitätsdiffusion zur Folge hat.206 Ein doppelt semi-historisches Bewusstsein von Jugendlichen der dritten Generation mit Migrationshintergrund wäre, wie jedes Geschichtsbewusstsein, Faktor und Produkt von Identität zugleich. Die Besonderheit bestünde darin, dass es die Herausforderungen einer Identitätskonstruktion bestärkt und einer transkulturellen produktiven Identitätskonstruktion mit und zwischen sozialen Gruppen im Wege stünde. Elif und andere Jugendliche der dritten Generation mit familiärer Migrationsgeschichte befänden (und empfänden) sich in einem Niemandsland, in dem stets alles und alle anders wären und sie selbst sich fast notwendigerweise als anders und fremd empfinden müssten. Elif würde in einem belastenden Weder-Noch-Zustand leben. Solche Hürden und Erschwernisse des Identifikationsprozesses führten vermutlich nicht zu einer kulturellen Navigation, also zur Konstruktion einer reflektierten hybriden bzw. transkulturellen Identität und zum offenen Aushandeln von Zugehörigkeiten,207 sondern zu einem Rückzug und zur Suche nach Fluchträumen.208 205 | Jeismann: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Didaktik des Geschichtsunterrichts, S. 63f.; Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten? Rüsen: Werturteile im Geschichtsunterricht; Becker: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht aus erzähltheoretischer Sicht; Kayser/Hagemann: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht; Weymar: Werturteile im Geschichtsunterricht. 206 | Erikson: Identität und Lebenszyklus, S. 106ff. 207 | Hein: Hybride Identitäten, S. 60-85, hier S. 80: »Ein zentraler Raum der Hybridisierung von Kultur bezieht sich auf die Diaspora. Diaspora bezeichnet ursprünglich die Exilierung und Zerstreuung des jüdischen Volkes. […] Heute […] umfasst (sie) auch andere Migrationserfahrungen. In diesem Sinne meint Diaspora eine ethnische Gemeinschaft, welche den ursprünglichen Herkunftsort verlässt und anderswo eine neue Heimat aufbaut.«; Foroutan/Schäfer: Hybride Identitäten muslimischer Migranten, S. 11: »Hybride Identitäten bedeutet, dass ein Mensch sich zwei oder mehreren kulturellen Räumen gleichermaßen zugehörig fühlt.«; siehe auch Spohn: Zweiheimisch. 208 | Arkoun: Auf den Spuren humanistischer Traditionen, S. 162f.: »In verschiedenen Aufsät zen habe ich dargelegt, dass der heutige Islam ein Fluchtraum ist,

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Eine erfolgreiche Spannungsbewältigung im Umgang mit Differenzerfahrungen wäre wenig wahrscheinlich.209 Das soziale Geschlecht könnte bei einem solchen Worst-Case-Szenario für Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund aufgrund der traditionellen Geschlechterrollen noch eine verstärkende Wirkung entfalten und zu einer Ausweitung der mehrfachen Benachteiligung beitragen.210 Welche Lösungen gibt es für Elif ? In welchem Refugium könnte sie in ihrer Identitätskrise Zuflucht finden? Auch wenn Elif nicht in der Lage ist, ihre historische Identität reflektiert und selbstreflexiv zu konstruieren, so erlebt und erleidet sie doch täglich in ihrer schizophrenen Welt einen Orientierungsverlust. Ihr soziales Umfeld löst bei ihr eine Psychose aus (der absolute Worst-Case), auf die nach einer anfänglichen Flucht eine Phase des radikalen Umbruchs folgen kann.211 Elifs Sehnsucht nach Anerkennung, nach Identitätsangeboten und absoluten Lösungen oder Wahrheiten, die sie aus ihrem Konflikt befreien, macht sie besonders empfänglich für Erklärungsmuster von Gruppierungen, die dieses Bedürfnis vermitteln, um es für ihre eigenen Ziele zu nutzen. Das können religiöse, politische oder auch radikale Gruppen oder Menschen sein. Deren Identitätsangebote versprechen Elif die lang ersehnten Antworten auf ihre hilflose Suche oder bieten zumindest einen Fluchtraum. Aufgrund ihrer emotionalen Bedürftigkeit und ihres Mindervermögens, eine historisch balancierte Ich-Identität zu konstruieren, ist Elif leicht empfänglich für radikale Gemeinschaften. Aus Dankbarkeit über die neu gewonnene Anerkennung und das verlockende Identitätsangebot könnte sie eine starke emotionale Loyalität entwickeln und die ihr angetragenen Werte und Deutungen affirmativ annehmen. Die Gruppe hätte nun ein leichtes Spiel, Elif für ihre Ziele zu instrumentalisieren. angesichts der gestör ten Identität vieler entwurzelter Individuen […] eine geistige Heimat darstellt.« 209 | In diesem Zusammenhang könnte jedoch mit den folgenden Zeilen Franco Biondis: Sprachfelder, S. 115, angedeutet werden, welche emotionalen Auswirkungen Differenzerfahrungen und Migration hervorrufen könnten: »In meinem Kopf – haben sich die Grenzen zweier Sprachen – verwischt – doch – zwischen mir und mir – verläuft ein Trennzaun, der Wunden zurückläßt, jedesmal wenn ich ihn öffne.« 210 | Vgl. auch http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-663-11705-6_12 (12.03.2017); Siehe dazu Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe Theorien und juristische Analyse., S. 4, 13, 23ff. 211 | Freud: Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, S. 365: »Bei der Neurose (wird) ein Stück der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut wird. Oder: Bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine aktive Phase des Umbaus, bei der Neurose auf den anfänglichen Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und versucht sie zu ersetzen.«; dazu Krappmann, S. 174-198.

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Abbildung 3: Wer ist Elif?

2.5 K ann E lif teilhaben , wenn sie historisch denken k ann ? Ausgehend vom Ziel dieser Arbeit – der Darstellung historischen Bewusstseins von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund – sowie meiner grundlegenden Forschungsfrage nach dem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und Integration kann ich auf theoretischer Basis einen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen konstruieren. Die tatsächliche Korrelation zwischen Integration und Geschichtsbewusstsein ist jedoch weder linear, noch kann sie aus der Theorie abgeleitet werden, da die Wechselwirkung von verschiedenen Faktoren abhängig ist. Ich habe mich daher dafür entschieden, den Nexus mittelbar darzustellen, mit der historischen Identitätskonstruktion als intermediärem Element. Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft wird von Jeismann verstanden als »das Insgesamt der unterschiedlichsten Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit«. Rüsen erklärt weiter, dass Geschichtsbewusstsein »Sinnbildung über Zeiterfahrung im Modus einer Erinnerung [ist], die hinter die Grenzen der eigenen Lebenspraxis zurückreicht«.212 Rüsen unterscheidet verschiedene Entwicklungsstufen (Niveaustufen) des Geschichtsbewusstseins. Diese können eine Einsicht in die Fähigkeit zur Ausbildung einer balancier-

212 | Jeismann: Didaktik der Geschichte, S. 12; Rüsen: Lebendige Geschichte, S. 94.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

ten Ich-Identität geben.213 Die von Krappmann genannten Kompetenzen Empathie, Ambiguitätstoleranz, Rollendistanz und kommunikative Kompetenz214 korrespondieren mit den Niveaustufen historischer Sinnbildung. Die Fähigkeit traditional historisch erzählen zu können, genügt zur Bildung einer (historischen) Identität. Für die Konstruktion einer balancierten (historischen) Identität, die ihre individuelle und spezifische Eigenschaft behält und dabei verschiedene Rollenidentitäten oder funktionale Identitäten ausbilden kann, die Einzigartigkeit und Kontinuität im dynamischen Wandel ermöglicht, reicht die ausschließliche Bildung traditionaler historischer Sinnbildung nicht aus. Erst auf der Basis der genetischen Sinnbildung wird die Konstruktion einer balancierten Ich-Identität – also einer stabilen Identität – möglich. Differenziert man nach Esser zwischen Systemintegration und sozialer Integration, so müssen die Dimensionen der sozialen Integration, nämlich (Ak-) Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation berücksichtigt werden.215 Diese interdependenten Dimensionen, die nicht als lineare Bestandteile eines Assimilationsprozesses verstanden werden, verweisen auf unterschiedliche Ebenen. So kann beispielsweise eine strukturelle Assimilation ohne negative Konnotation des Begriffs der Assimilation bereits durch (Ak-) Kulturation, Platzierung und Interaktion verwirklicht werden. Die emotionale Identifikation stellt innerhalb der Dimensionen einen tiefgreifenden Prozessbestandteil dar. An diesem Punkt lohnt es sich, einen Blick auf die Konstruktion einer balancierten Ich-Identität zu werfen. Die Fähigkeit zur Konstruktion von Rollenidentitäten, die es einem Individuum ermöglicht, sich gleichzeitig verschiedenen sozialen Gruppen und Kollektiven zugehörig und an- sowie aufgenommen zu fühlen, erweitert die Identität. Die Pluralität der sich aus vielfältigen Zugehörigkeiten – oder Zugehörigkeitsspielen – ergebenden Schnittmengen fördert eine transkulturelle historische Identitätskonstruktion. Diese wiederum fördert den Aufbau emotionaler Identifikation.216 Erst mit dieser Fähigkeit, so die Annahme, ist der Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration darstellbar. Die emotionale Identifikation wird maßgeblich durch die Förderung eines reflektierten und selbstreflexiven Umgangs mit Geschichte aufgebaut und 213 | Rüsen: Historik, S. 259; Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht, S. 142. 214 | Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 210. 215 | Esser: Soziologie, S. 279. 216 | Foroutan/Schäfer: Hybride Identitäten, S. 11: »Auf jeden Fall gehören sie dazu. Sie sind Teil der deutschen und europäischen Gesellschaften. Sie sind keine Fremden, sondern Menschen mit unterschiedlichen ›Zugehörigkeitsspielen‹«. Vgl. dazu Soares do Bem: Das Spiel der Identitäten.

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(weiter-)entwickelt. Trotz der hier eingenommenen subjektzentrierten Perspektive bleibt der Identitäts- und Integrationsprozess stets ein interdependenter Vorgang zwischen verschiedenen Individuen und Gruppen. Die Betrachtung der Fähigkeit der Ausbildung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins und einer balancierten Ich-Identität ist gekoppelt an die Überlegung, dass Gruppen und Kollektive ihrerseits ebenfalls aus Individuen bestehen. Gelänge es also, auf der individuellen Ebene Geschichtsbewusstsein und somit die Ausbildung balancierter Ich-Identitäten zu fördern, so würde damit auf gesellschaftlicher Ebene auch ein transkultureller Wandel gefördert. Ausgehend von den vier Idealtypen historischen Erzählens217 können die Kompetenzanforderungen für die Ausbildung einer balancierten Ich-Identität in einen kausalen Bedingungszusammenhang gesetzt werden. Eine Erzählung ist traditional, wenn sich die Zeitverlaufsvorstellung durch Dauer ohne Wandel auszeichnet. Das Vergangene und das Gegenwärtige werden in die Stetigkeit einer Sinnkontinuität eingeschlossen. Dazu Rüsen: »Identitätsbildend wirken sie (historische traditionale Sinnbildung) als Aufforderung, eine ursprünglich vorgegebene Weltordnung zu übernehmen. Sie formen menschliche Subjektivität mimetisch.«218 Bezieht man diese Ausführung auf die Grundqualifikationen nach Krappmann,219 so scheint Empathie als Brücke zur Nachahmung geeignet.220 Mead zufolge ist Empathie eine rein kognitive Fähigkeit. Er unterscheidet bezüglich Empathie zwischen Rollenübernahme und Nachahmung.221 Als Fähigkeit, die Erwartungen der Interaktionspartner*innen zu erkennen und zu übernehmen, kann Empathie im Sinne von

217 | Rüsen: Historik, S. 210. 218 | Rüsen: Historik, S. 211. 219 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 132-173 und 210. 220 | Dilthey: Die geistige Welt, S. 74, formuliert die Annahme: »Wir verstehen und bestimmen einen Menschen nur, indem wir mit ihm fühlen und seine Regungen nacherleben.« Obwohl Wilhelm Dilthey eine wesentliche Eigenschaft der Empathie definiert, benennt er diese nicht ausdrücklich so. Diese besondere Form des Nacherlebens, bei der ein seelischer Zustand eines anderen mittels Assoziation mit eigenen erlebten Erfahrungen nacherlebt und somit verstanden werden kann, begründet eine Form des Verstehens. Gefühle seien grundsätzlich an eigene Erfahrungen gebunden und formten sich zu bildhaften Vorstellungen. Durch das Nacherleben würde sich an diese bildhaften Vorstellungen erinnert und empfunden. Da diese Empfindungen an gegenwärtige und neue Emotionen geknüpft seien, werden die bildhaften Vorstellungen neu gebildet. Mit diesen gelingt es, emotionales Verstehen anderer zu entwickeln. Vgl. dazu Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 201 und 205. 221 | Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 90ff.

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role taking 222 jedoch nicht ausschließlich als kognitive Kompetenz verstanden werden. Auch affektiv-motivationale Faktoren sind zu berücksichtigen. Krappmann führt in diesem Zusammenhang aus: Empathie ist Voraussetzung und Korrelat von Ich-Identität. Ohne die Fähigkeit, die Erwartungen der anderen zu antizipieren, ist die Formulierung einer Ich-Identität nicht denkbar. […] Die Ich-Identität, die das Individuum errichtet, legt Grenzen fest, über die hinweg der Person role taking schwerfällt. 223

Wie bereits dargestellt, ist Identität an Bewusstsein gebunden und kann ohne Narration nicht konstruiert werden. Die Form der Narration gibt daher Aufschluss nicht nur über den Umgang mit Geschichte, sondern auch über die Fähigkeiten zur Ausbildung einer balancierten Ich-Identität. Eine traditionale Erzählung übernimmt Deutungen historischer Narrative der Gesellschaft und transportiert somit das Einverständnis des Sinnbildenden. Die angestrebte Sinnkontinuität fordert Nacherleben und ermöglicht eine Selbstverortung in der Zeit und in der Gesellschaft. Die Fähigkeit zur exemplarischen Sinnbildung und Narration »öffnet den Blick auf alles, was in der Vergangenheit der menschlichen Welt geschehen ist«,224 so Rüsen. Das Geschehene der Vergangenheit wird als »Fülle von Ereignissen«225 betrachtet und in »räumlich-zeitlicher Unterschiedenheit« dargestellt.226 Diese Art der Sinnbildung demonstriert Rüsen zufolge allgemeine Handlungsregeln mit überzeitlicher Geltung […]. Hier wird die Zeit durch historischen Sinn nicht inner-zeitlich stillgestellt, sondern erhält eine überzeitliche Qualität. Die Geschichte fungiert als Lehrmeisterin des Lebens (historia vitae magistra). Der kontingente Zeitverlauf des realhistorischen Geschehens gewinnt seinen Sinn darin,

222 | Vgl. zum Begriff des role taking Coutu: Role Playing vs. Role Taking, S. 180. Nach Walter Coutu muss der Begriff des »role taking« durch den des »role playing« ergänzt werden, da »role taking« stets die Rolle eines anderen betreffe, in die sich das Individuum versetze. »Role playing« hingegen zeige den Bezug zur eigenen Rolle. Ziel sei es, die eigene Rolle im Interaktionsspiel zu entwerfen. Die Unterscheidung Coutus verdeutlicht die Relevanz der Rollen der anderen, die das Individuum zur Konstruktion der eigenen Identität heranzieht. Turner: Role-Taking. Beschreibt er »role taking« daher als »role making process«. 223 | Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, S. 143. 224 | Rüsen: Historik, S. 211. 225 | Ebd. 226 | Ebd.

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Der Diasporakomplex dass dieses Geschehen über alle Zeit hinaus handlungsleitende Gesetzmäßigkeiten dokumentiert. 227

Die Konstruktion überzeitlicher historischer Regeln ermögliche Kontinuität und individuelle Verortung im Wandel der Zeit. Die Verräumlichung (Rüsen) der Zeit als Sinn ermögliche einen reflexiven Umgang mit vorgegebenen Deutungen und Ordnungen. Die konstruierten Handlungsregeln machten einen wandelbaren und unsteten zeitlichen Raum zu einem beurteilbaren und handhabbaren Raum, dessen Irritations- und Verunsicherungsmomenten reduziert seien. Dadurch werde eine Antizipation und Bewältigung von Kontingenzerfahrungen erleichtert. Der Unterschied zur traditionalen Narration drückt sich in zeitlos gültige[n] Einsichten228 aus. Aus Nachahmung in der traditionalen Erzählung wird in der exemplarischen Erzählung Klugheit (Rüsen).229 In Interaktionsprozessen können und sollen subjektive Sichtweisen nicht gänzlich aufgehoben werden. Multiple Perspektiven stellen vielmehr eine Bereicherung und zugleich eine Voraussetzung für einen reflexiven Umgang mit dem Gegenüber dar. Die an der Interaktion Beteiligten sind gezwungen, bei der Interaktion nicht nur die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch möglicherweise in der Interaktion auftretende Ambiguitäten auszuhalten. Auch dem Anderen muss die Möglichkeit, die Ich-Identität zu bilden, zugestanden werden. In der Interaktion auftretende Inkongruenzen zwischen Erwartungen und Bedürfnissen müssen sowohl formuliert als auch reflektiert werden. »Das Individuum muss sich mit Divergenz und Inkompatibilität abfinden«,230 so Krappmann. Die Lösung von Rollenkonflikten bedarf der Reflexionsfähigkeit und Argumentations- und Urteilskompetenz, welche durch exemplarische Sinnbildungsfähigkeit gefördert werden. Die kritische Erzählung ist in diesem Sinne eine besondere Sinnbildungsart. Sie kann nach Rüsen als Erzählform beim Übergang (Transformation) zwischen den verschiedenen Sinnbildungsstufen verortet werden.231 Ob sie als eigenständiger Typ historischen Erzählens oder aber als Sonderform zu 227 | Ebd. 228 | Ebd., S. 212. 229 | Ebd., S. 215. Die Bildung der Identität im exemplarischen historischen Erzählen bedarf mehr als die Fähigkeit etwas anzunehmen. Hier zeigt sich eine gesteigerte Reflexionsfähigkeit, da nun aus verschiedenen Ereignissen zur Handlungsorientierung ein Urteil gefällt wird, welches in seiner Argumentation Regelmäßigkeiten oder »Muster« zu erkennen meint, die eine »überzeitliche« Geltung besitzen. Die Zeit erhält ihren Sinn, da Handlungsregeln als »Meta-Regeln« die Verunsicherungen aufheben, wodurch der Raum der Zeit Sinn und Orientierung gibt. 230 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 151. 231 | Rüsen: Historik, S. 259.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

werten ist, ist bisher nicht eindeutig geklärt.232 Eine kritische Sinnbildung ordnet die Erzählformen in einem dynamischen Übergang und tritt bei diesem besonders deutlich zu Tage. Folgt man Rüsens Auffassung, so müssten sich die Idealtypen historischer Sinnbildung hauptsächlich durch den Grad oder den Anteil kritischer Sinnbildung voneinander unterscheiden. Fraglich ist, ob sich die Transformation nicht vielmehr durch einen gestiegenen Grad der Reflexionsfähigkeit erklären lässt. Dann würden die Niveaus zwar aufeinander auf bauen, aber nicht als Taxonomie historischen Denkens verstanden werden können. Sie würden vielmehr Variationen historischen Denkens darstellen. Ausschlaggebend für die kritische Erzählung ist laut Rüsen die »Zeitverlaufsvorstellung von Brüchen, Diskontinuitäten und Gegenläufigkeiten«.233 Es sind Gegengeschichten, die Narrative sowie ihre historischen Orientierungen und Deutungen in Frage stellen. Sie nehmen bewusst alternative Standpunkte als Kontrast zu anderen ein.234 In diesem Vorgehen kommt eine Beurteilbarkeit von Zeit zum Ausdruck. Aus der Klugheit im exemplarischen Erzählen wird Eigensinn (Rüsen). Dieser wird entwickelt, indem »angesonnene Lebensformen« abgelehnt werden.235 Der formierte Eigensinn gestaltet die historische Identitätsbildung. Grundlage der Identitätskonstruktion ist das sich selbst reflektierende und interpretierende Individuum, das sich kritisch zu Normen, Geltungen und Gruppen verhalten kann. Für die Ausbildung einer balancierten Ich-Identität ist es notwendig, dass das Individuum in der Lage ist, sich von Anforderungen zu distanzieren, um diese auswählen, ablehnen, modifizieren, interpretieren und kritisch deuten zu können.236 Krappmann führt hierzu in Rückgriff auf Goffman den Begriff der Rollendistanz an:237 »Rollendistanz in einer Rolle wird […] durch den Rückgriff auf andere Rollen beziehungsweise auf das Gesamt an Rollen möglich.«238 Die Besonderheit der kritischen Sinnbildung besteht darin, dass sie ebenso wie die Rollendistanz nur auftreten kann, 232 | Siehe Hasberg: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht, S. 142. Rüsen: Geschichtsbewußtsein von Schülern und Studenten im internationalen und interkulturellen Vergleich, S. 89, 202f. 233 | Ebd., S. 213. 234 | Vgl. Fröhlich: »Kritische Historische Sinnbildung ist immer dialogisch. Sie antwortet auf zugemutete, historisch aufgedrängte Lebensorientierung deren Geltungsanspruch die Handlungssubjekte destruieren, um diejenigen sein zu müsse, die zu sein ihnen die fremden Deutungen der Zeiterfahrung abverlangen.« Fröhlich: Anmerkungen zum Typus der kritischen Sinnbildung im Geschichtsunterricht, S. 289. 235 | Ebd., S. 215. 236 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 131. 237 | Goffman: Entcounters, S. 107f. 238 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 136; Goffman: Asylums, S. 120: »The liberty he takes in regard to a situated self is taken because of other, equally so-

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Der Diasporakomplex

wenn über die basalen Niveaustufen historischer Sinnbildungskompetenz hinaus historisch gedacht und Ich-Identität konstruiert werden kann. Erst die Distanz ermöglicht eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit Sinnbildungsangeboten – sprich: die Rollendistanz. Die genetische Erzählung erfasst laut Rüsen die »Veränderungen, die von fremden und anderen in eigene Lebensformen führen«.239 In der Zeitverlaufsvorstellung würden Entwicklungen gesehen, »in [denen] sich Lebensformen verändern«, um sich dynamisch auf Dauer zu stellen. In der Kommunikation würden »diskursive Beziehungen differenzierender Standpunkte und Perspektiven« aufeinander bezogen.240 Die Zeit werde als Sinn verzeitlicht. Aus Nachahmung, Klugheit und Eigensinn entstehe Bildung (Rüsen). Diese Art der Erzählung ermögliche eine individualisierte historische Identitätsbildung. Diese Identitätsdarstellung und -aufrechterhaltung stützt sich auf die Kompetenzen der Empathiefähigkeit, der Ambiguitätstoleranz und der Rollendistanz, so wie sich die genetische Sinnbildung auf vorangegangene Sinnbildungsstufen der traditionalen, exemplarischen und kritischen Sinnbildung stützt. Ohne Kommunikation der eigenen Ich-Identität, also ohne deren Einbindung in den Interaktionsprozess, würde sie weder für das eigene Ich noch für die Anderen wirksam oder ersichtlich. Die Fähigkeit, die eigene Ich-Identität auszudrücken ist zugleich Bedingung und Folge einer balancierten Ich-Identität. Durch sie wird das Ich selbst zum Produkt wechselseitiger Interaktion. Um ein in Kontinuität und Wandel von Raum und Zeit stabiles Ich konstruieren zu können, bedarf es der genetischen Sinnbildung. Erst hierdurch ist dem Individuum Weltaneignung – Bildung (des Selbst) möglich. Genetisches Erzählen ermöglicht eine Individualisierung in Raum und Zeit. Die Entwicklungen des Selbst im Bewusstsein eines permanenten dynamischen Wandels bieten die Grundlage der kommunikativen Kompetenz, derer die Identitätsdarstellung bedarf. Die geschilderten Fähigkeiten unterstützen Individuen ebenso wie Kollektive bei der Ausformung eines reflektierten und selbstreflexiven historischen Bewusstseins sowie einer transkulturellen historischen Identität. Die strukturelle Assimilierung gelingt dabei, wenn die sozialen Integrationsdimensionen (Ak-)Kulturation, Platzierung und Interaktion bewältigt werden. Die Fähigkeit zur Bildung einer transkulturellen historischen Identität, die mit einem reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstsein einhergeht, bietet auch die Möglichkeit, die emotionale Integration – eine Identifikation zu bilden. Erst mit diesem Schritt bleibt Integration nicht mehr auf Assimilation beschränkt. Diese Fähigkeit könnte als transkulturelle Kompetenz bezeichnet werden. Sie befähigt cial, constrains.« Nach Goffman nimmt das Individuum die Rollendistanz ein, um im Namen einer anderen sozial geschaffenen Identität zu handeln. 239 | Rüsen: Historik, S. 215. 240 | Ebd.

2. Grundlagen und Vorüberlegungen

Individuen dazu, Teil verschiedener Gruppe(n) zu sein und gleichzeitig ihre Subjektivierung voranzutreiben. Integrationsprozesse sind weder linear noch einseitig. Integration ist nicht allein abhängig vom einzelnen Individuum, sondern von den inter- und transkulturellen Kompetenzen und den Selbstverständnissen verschiedener Individuen sowie einer Gesellschaft, in die sich ein Individuum integrieren möchte. Eine Gesellschaft, die sich als inkludierendes Kollektiv versteht, müsste jedes Mitglied der Gesellschaft dabei unterstützen, ein reflektiertes und selbstreflexives historisches Bewusstsein auszubilden, um die dargestellte balancierte Ich-Identität sowohl des Kollektivs als auch all seiner Mitglieder zu fördern. Dementsprechend formulieren die Kernlehrpläne für den Geschichtsunterricht in Nordrhein-Westfalen, die selbst Teil der institutionellen Dimension der Geschichtskultur sind, das Ziel, reflektiertes Geschichtsbewusstsein zu fördern. Die folgenden Tabelle 2 zeigt die Ansätze theoretischer Überlegungen zur Erfassung der Erhebungsergebnisse zum Geschichtsbewusstsein, der Integration und der Identitätskonstruktion von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund in einer möglichen Typisierung. Idealtypen historischer Sinnbildung

Art des Geschichtslernens

Historische Identitätskonstruktion durch

traditionale

über Geschichte lernen

exemplarische

aus Geschichte lernen

kritische

gegen Geschichte lernen

Nachahmung (Wir- Gefühl, kollektive Zugehörigkeit) Klugheit (Ausformungen einer nationalen Identität) Eigensinn (Ich- und WirStärke)

genetische

in Geschichte lernen

Bildung (Individualisierung)

Typen der historischen Identitätskonstruktion (Ak-)Kulturation Typ I Integrationsdimensionen

Platzierung

Typ II

Interaktion

Typ III

Identifikation

Typ IV

Tabelle 2: Von der historischen Sinnbildung zur Integration. Erweiterung Tabelle 1

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Der Diasporakomplex

Abbildung 4: Theoretische Darstellung der Verflechtung von Geschichtsbewusstsein, sozialer Integration und historischer Identitätskonstruktion

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif? Nach der Erläuterung der theoretischen und begrifflichen Grundlagen folgt in diesem Kapitel ein Überblick über den Stand der Forschung über Integration, Identität und Geschichtsbewusstsein, der auch bestehende Desiderate kenntlich machen soll.

3.1 Teilhabe an G esellschaf t Integration ist ein aktuelles gesellschaftlich, politisch und wissenschaftlich diskutiertes Thema. Vor allem die Soziologie, die Psychologie und die Kulturwissenschaften beschäftigen sich mit Fragen der Integration. Sie untersuchen Integration meist im Zusammenhang mit Fragen von Migration, Bildung und Identität.1 Dabei finden insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund große Beachtung.2 Generationelle Differenzen werden etwa bei der Unter1 | Migrationsbericht 2013; Mehrthemenbefragung Zf TI; Jahresgutachten des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration: Jahresgutachten 2015. Studien wie die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigen, dass das deutsche Bildungssystem einen wesentlichen Einfluss auf die Bildungschancen von Jugendlichen ausübt: »Bildungserfolg und gesellschaftliche Lage beeinflussen sich zunächst im Lebens- und dann im Generationenverlauf gegenseitig zirkulär.« Siehe auch Siegert: Schulische Bildung von Migranten in Deutschland. 2008, S. 55. Die Studien beziehen sich auf die erste Nachfolgegeneration von Arbeitsmigrant*innen in Deutschland (zweite Generation) und weisen auf die Relevanz von Sprachfertigkeiten hin. Siehe dazu Esser: Sprache und Integration, S. 14. 2 | Siehe hierzu Hopf: Die Schulprobleme der Ausländerkinder; Esser: Familienmigration und Schulkarriere ausländischer Kinder und Jugendlicher. Bereits seit den frühen 1980er Jahren zeigen empirische Untersuchungen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem schlechtere Ergebnisse erzielen als autochthone Jugendliche: »Personen ohne Migrationshintergrund verfügen tendenziell über ein höheres Bildungsniveau […]. Zwar lässt sich zeigen, dass sich die Positionierung der jungen Ausländer im Bildungssystem zwischen 2000 und 2006 verbessert hat, […] den-

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Der Diasporakomplex

scheidung zwischen Arbeitsmigrant*innen und ihren Nachkommen explizit berücksichtigt.3 Allerdings wurde die dritte Generation bisher kaum als eigenständige Untersuchungsgruppe betrachtet. Zwar wird in neueren Studien zu Migration und Integration nach Nachfolgegenerationen gefragt, jedoch nicht dezidiert zwischen zweiter und dritter Generation unterschieden.4 Die Gründe für diese fehlende Differenzierung sind offen, da die generationellen Unterschiede zwischen zweiter und dritter Generation, die unterschiedlichen Lebenserfahrungen sowie gesamtgesellschaftliche Veränderungen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Die fälschliche Annahme einer Homogenität von zweiter und dritter Generation verhindert präzise Fragestellungen, Antworten und Ergebnisse. Dennoch muss bedacht werden, dass eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Generationen von Nachkommen der Arbeitsmigrant*innen auch als Diskriminierung verstanden werden könnte, da Menschen der zweiten, dritten und vierten Generation, sich selbst nicht als Migrant*innen oder migrantisch wahrnehmen. Laut Definition des Statistischen Bundesamts tragen Personen den Zusatz Migrationshintergrund bis in die vierte Generation. Als Arbeits- und Analysekategorien sind der Begriff Migrationshintergrund sowie die generationelle Zuordnung dennoch unerlässlich. Hilfreich für differenzierte Aussagen über heterogene Gruppen sowie unterschiedliche gesellschaftliche und politisch-religiöse Lebenswelten ist auch die Sinus-Milieu-Studie.5 Diese fokussiert sich auf Zugehörigkeiten, die anhand von Merkmalen wie Bildungsgrad, Religiosität, Einkommen, Wohnsi-

noch nehmen die Unterschiede […] sogar noch zu.« Siehe Siegert: Schulische Bildung von Migranten in Deutschland, S. 110. Eine ausreichende Differenzierung der Untersuchungsgruppe fehlt. 3 | Finke: Abgehängt, chancenlos, unwillig?; Kristin/Dollmann: Sekundäre Effekte der ethnischen Herkunft; Aicher-Jakob: Identitätskonstruktionen türkischer Jugendlicher; Kolb-Mzalouet: Identitätskonstruktionen von jungen Menschen der zweiten Generation; Keskin: Probleme der Integration türkischer Migranten der zweiten Generation; Sürig/Wilmes: Integration der zweiten Generation in Deutschland. 4 | Mehrthemenbefragung Zf TI 2013; Santel: Die Lebenslage junger Migranten; Reichart: Deutschland gefühlte Heimat; Sen: Die Identitätsfalle; Gestring/Janßen/Polat: Prozesse der Integration und Ausgrenzung; Bade/Oltmer: Normalfall Migration. 5 | »Die Sinus-Milieus verbinden demografische Eigenschaften wie Bildung, Beruf oder Einkommen mit den realen Lebenswelten der Menschen, das heißt mit ihrer Alltagswelt, ihren unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen: Welche grundlegenden Werte sind von Bedeutung? Wie sehen die Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Geld oder Konsum aus?« Sinus Sociovision: Zentrale Ergebnisse der Sinusstudie über Migrant*innen-Milieus in Deutschland 2008.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

tuation und Werte rekonstruiert werden.6 Eine solche Darstellung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche Befindlichkeiten und Prozesse außerhalb homogenisierender nationaler oder ethnischer Zuordnungen zu erfassen und sich spezifischen gesellschaftlichen Milieus gezielt zuzuwenden. Das Forschungsprojekt Große Vielfalt, weniger Chancen untersuchte Bildungserfahrungen und Bildungsziele von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Die Untersuchung basierte nicht auf generationellen Zugehörigkeiten, sondern auf den Bildungsaspirationen in unterschiedlichen Lebenswelten von Migrant*innen. In Abgrenzung zu anderen Forschungsansätzen, die sich vor allem auf Defizite konzentrieren, stellte das Projekt spezifische Chancen und Ressourcen in den Mittelpunkt, wie beispielsweise Mehrsprachigkeit, Aufstiegsambitionen, Leistungsorientierung, Flexibilität oder Frustrationstoleranz.7 Die Beschreibung von Bevölkerungsgruppen in sozialen Milieus unterscheidet üblicherweise zwischen drei Niveaus: »sozial gehobenen Milieus«, »Milieus der Mitte« und »Milieus der unteren Mitte und der Unterschicht«. Diese Milieus, die an gesellschaftliche Schichten oder Klassen erinnern, sind jeweils in sich heterogen. Der Milieubegriff dient dabei der weiteren Ausdifferenzierung. So bezeichnet beispielsweise das »adaptiv-pragmatische Milieu der Mitte« (9 Prozent der Gesamtbevölkerung) die »moderne junge Mitte der Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül«.8 Angehörige dieser Milieus seien »zielstrebig und kompromissbereit, hedonistisch und konventionell, flexibel und sicherheitsorientiert« und zeichneten sich durch »ein starkes Bedürfnis nach Verankerung und Zugehörigkeit« aus.9 Auch Personen mit Migrationshintergrund werden den unterschiedlichen Milieus zugeordnet, die von »bürgerlichen Milieus« über »ambitionierte Migranten-Milieus« und »traditionsverwurzelte Migranten-Milieus« bis hin zu »prekären Migranten-Milieus« reichen.10 Die beiden zahlenmäßig größten Gruppen, die zusammen 16  Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind das

6 | Sinus-Milieus in Deutschland 2015 – Soziale Lage und Grundorientierung, S. 14 und Sinus-Migranten-Milieus in Deutschland 2008. 7 | Stiftung Mercator: Große Vielfalt, weniger Chancen. 8 | Sinus-Milieus in Deutschland 2015 – Soziale Lage und Grundorientierung, S 16. 9 | Ebd. 10 | Sinus Sociovision: Zentrale Ergebnisse der Sinusstudie über Migranten-Milieus in Deutschland 2008, S. 6.

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»adaptive bürgerliche Milieu«11 und das »traditionelle Arbeitermilieu«12 . Allein diese Beispiele zeigen, wie heterogen unsere Migrationsgesellschaft ist. In der Forschung wurde die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bisher hinsichtlich ihrer Sprachkompetenz, ihres Bildungserfolgs, ihrer Kriminalität sowie ihrer Religiosität untersucht.13 Dabei wurde in der Regel nicht nach der Art des Migrationshintergrunds, das heißt weder nach Generation noch nach ursprünglichem Herkunftsland, unterschieden. Vielmehr wurden Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland trotz höchst unterschiedlicher familiärer, ethnischer, kultureller, sprachlicher, religiöser und sozialer Hintergründe sowie sehr verschiedener Migrationserfahrungen als eine vermeintlich homogene Gruppe behandelt. Besonders viele Studien widmeten sich Jugendlichen mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund – als Teil der ethnisch betrachtet größten Gruppe von Migrant*innen in Deutschland.14 Eine Differenzierung der Jugendlichen nach Generationszugehörigkeit, Geschlecht, Schulform oder ursprünglicher familiärer Migrationsherkunft erfolgte auch hier meist nicht. Daher liegen gezielte empirische Untersuchungen der Integration von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bisher kaum vor.15 An dieser Stelle 11 | Ebd. Der Begriff bezeichnet eine Gruppe pragmatischer und moderner Migrant*innen, die nach sozialer Integration und einem harmonischen Leben in gesicherten Verhältnissen streben. 12 | Ebd. Damit ist das traditionelle Blue-Collar-Milieu von Arbeitsmigrant*innen und Spätaussiedler*innen gemeint, deren Angehörige sich nach materieller Sicherheit für sich selbst und ihre Kinder sehnen. 13 | Oberndörfer: Nation, Multikulturalismus und Migration; Kristin: Hauptschule, Realschule oder Gymnasium; Becker/Tremel: Auswirkungen vorschulischer Kinderbetreuung; Diefenbach: Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund; Beck/Jäpel/ Becker: Determinanten des Bildungserfolgs von Migranten; Kilic: Migrationsprozesse im Bildungssystem. Ehlail/Schön/Strittmatter: Die Perspektive des Anderen; AicherJakob: Identitätskonstruktionen türkischer Jugendlicher; Keupp: Identitätskonstruktionen in der spätmodernen Gesellschaft; Robertson – von Trotha: Plurale Identitäten in der globalisierten Stadtgesellschaft; Bundesministerium des Inneren: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland; Fischer/Springer: Handbuch Migration und Familie; Motte/Ohliger: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft; Bertelsmann Stiftung (Hg.): Demokratie und Integration in Deutschland; Mehringer: Weichenstellung in der Grundschule. 14 | Kristin/Dollmann: Sekundäre Effekte der ethnischen Herkunft; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; Ozil/Hoffmann: 50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland. 15 | Schiffauer: Opposition und Identifikation; Ders.: Migration und kulturelle Differenz. Vgl. dazu auch Motte/Ohliger: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

setzt meine Arbeit an. Darüber hinaus erscheint auch die Berücksichtigung unterschiedlicher sozialer und kultureller Milieus erforderlich. Dieses Desiderat wird jedoch auch die vorliegende Arbeit nur partiell beheben können.

3.2 G eschichtsbe wusstsein von J ugendlichen mit und ohne M igr ationshintergrund Das Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wurde bisher nicht dezidiert empirisch untersucht.16 Empirische Forschungen, die sich mit dem Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen, dessen Veränderung sowie dem gesellschaftlichen Kontext in Deutschland befassen, sind selten. Zu erwähnen sind hier vor allem die Arbeiten von Peter Seixas, Bodo von Borries, Viola Georgi, Johannes Meyer-Hamme, Christiane Hintermann, Carlos Kölbl, Manuel Köster sowie von Maria Liakova, Dirk Halm und Meik Zülsdorf-Kersting.17 Diese Untersu16 | In der Bemühung um eine Synopse der Forschung zum Geschichtsbewusstsein lohnt es sich, auf die Übersicht zur Forschungslage und Forschungsliteratur bei Hasberg: Nutzen und Nachteil; Ders.: Im Schatten von Theorie und Pragmatik; S. 40; Ders.: Risks and Perspectives; Beilner: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik; Günther-Arndt/Sauer: Geschichtsdidaktik empirisch; Hodel/Ziegler: Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07, 09 und 13, zu verweisen. 17 | Seixas: Historical Understanding among Adolescents in a Multicultural Setting; von Borries: Jugendliche Türken, Deutsche und Deutsch-Türken; Georgi: Entliehene Erinnerung; Meyer-Hamme: Historische Identitäten und Geschichtsunterricht. Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach; Hintermann: Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft; Kölbl/Straub: Historical Consciousness in Youth; Köster: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft; Liakova: Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Vergleiche auch Georgi: Erinnern – Bildung – Identität; Dies.: Jugendliche aus Einwandererfamilien und die Geschichte des Nationalsozialismus; Dies.: Historisch-Politische Bildung in der deutschen Migrationsgesellschaft; Dies.: Wem gehört die deutsche Geschichte?; Dies.: In-Geschichte(n)-verstrickt; Dies.: Migration und Geschichte; Dies.: Geschichte und Diversität; Dies.: »Ich kann mich auch für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren«; Dies.: Integration und Partizipation durch Historisch-Politische Bildung; Meyer-Hamme: Non-formale historische Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft; von Borries/Ders.: Was heißt »Entwicklung von reflektiertem Geschichtsbewusstsein«?; von Borries/Ders.: Empirische Forschung IV: Analyse quantitativ-qualitativer Befragungen; Ders.: Historische Kompetenzen empirisch; Ders.: Lernorte und historische Identitäten; Körber/Ders.: Interkulturelle historische Kompetenz? Ders.: »Dieses Kostüm deutsche Geschichte«;

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Der Diasporakomplex

chungen zum Geschichtsbewusstsein in der Migrationsgesellschaft verweisen auf die Relevanz inter- und transdisziplinärer Forschung.18 Der Umgang mit Geschichte in der Migrationsgesellschaft wurde bisher ebenfalls kaum untersucht.19 Studien zu Integration und Identitätskonstruktionen existieren zwar, unterscheiden jedoch kaum nach Migrationshintergrund, Generation und Schulform.20 Empirische Untersuchungen des Geschichtsbewusstseins von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund liegen derzeit nicht vor. 1992, kurz nach der Wiedervereinigung, führte Bodo von Borries eine empirische Studie mit 6.500 Schüler*innen in den alten und neuen Bundesländern durch. Diese erste und zugleich letzte repräsentative Studie zum Geschichtsbewusstseins von Schüler*innen ermöglichte einen Vergleich zwischen der Ders.: »Wenn’s halt darum geht, dass die Osmanen vor Wien standen…«; Hintermann/ Johansson: Migration & Memory; Dies.: Migration and Memory in Austria; Dies.: Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft; Kölbl/Straub: Geschichtsbewusstsein als psychologischer Begriff; Ders.: Geschichtsbewußtsein im Jugendalter; Ders./Straub: Geschichtsbewußtsein im Kultur-vergleich; Ders.: Mit und ohne Migrationshintergrund; Ders.: Historisches Erinnern an Schulen; Ders.: Geschichtsbewusstsein – Empirie; Ders./Schrack: Geschichtsbewusstsein intergenerational; Barricelli/Deuble/Kölbl/Konrad/Straub: Vielfalt, Identität, Erzählung; Barricelli/Konrad: Historical Consciousness in Germany; Ders./Fröhlich: Geschichtsbewusstsein intergenerational; Köster: Historisches Textverstehen. Rezeption und Identifikation in der multiethnischen Gesellschaft; Köster/Thünemann/Zülsdorf-Kersting: Researching History Education; Liakova: Kollektive Geschichtskonstruktionen; Dies.: Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit Migrationshintergrund; Dies.: Unsere Geschichte vs. Eure Geschichte; Dies.: Migration und Identifikation; Dies.: Geschichte und Identitätsfindung; Dies.: Migrationstheorien; Kastoryano: Être Turc en France et en Allemagne. 18 | Eine weitere Ausdifferenzierung des Untersuchungsgegenstandes untersucht Talal Asad anhand der Ambivalenz geschichtlicher Narrative zu Integration von Muslimen und Muslima in Europa. Asad: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity. Vgl. auch Spielhaus: Narratives of Belonging and Exclusion; Dies.: Ein Muslim ist ein Muslim, ist ein Muslim… oder? 19 | Motte/Ohliger: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft.; Georgi/Ohliger: Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft. Georgi: Geschichte(n) in Bewegung. Zur Aneignung, Verhandlung und Konstruktion von Geschichtsbildern in der deutschen Migrations-gesellschaft. 20 | Höhne/Kunz/Radtke thematisieren die negative Konnotation von Migration und Migrant*innen. Höhne/Kunz/Radtke: Bilder von Fremden. Formen der Migrationsdarstellung als der ›anderen Kultur‹ in deutschen Schulbüchern von 1981-1997. Vgl. dazu auch Marmer/Sow: Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

alten BRD und der ehemaligen DDR. Zumindest implizit konnten dadurch auch Rückschlusse auf die Wirkung der unterschiedlichen Sozialisation in den beiden deutschen Staaten gezogen werden. Von Borries unterschied in der Studie sechs Hauptdimensionen des Geschichtsbewusstseins: Kognition, Bildungswunsch, Unterhaltungsbedürfnis, Moralentscheidung, Affirmation und Optimismus.21 Seine Ergebnisse zeigen, welche Unterschiede im Umgang mit Geschichte zwischen der Schule und dem außerschulischen Umfeld der Schüler*innen bestehen. Mit Blick auf die Bedeutung des Subjekts fordert von Borries eine Erforschung der Genese historischen Bewusstseins ein. Statistisch signifikante Unterschiede aufgrund von Systemunterschieden ergab der Ost-West-Vergleich nicht. Die Studie berücksichtigte auch Einwander*innen-Jugendliche. Da Jugendliche mit Migrationshintergrund zum Zeitpunkt der Studie wesentlich häufiger in den alten Bundesländern lebten, beziehen sich die entsprechenden Ergebnisse vor allem auf diesen Raum.22 Hervorzuheben ist, dass die Untersuchung nach dem familiären Herkunftshintergrund der Schüler*innen fragte.23 Von Borries zeigte also schon 1992 Sensibilität für diese Thematik und wurde damit gewissermaßen zum Vorreiter für andere. Auch wenn seine Unterscheidung »mit deutschem Pass und ohne« aus heutiger Sicht nicht als ausreichend erscheint, zeigt sie doch ein Bestreben, differenzierbare Ergebnissen zu erzielen.24 Im Resultat wies die Studie jedoch nur graduelle Unterschiede im Geschichtsbewusstsein von deutschen und ausländischen Schüler*innen auf.25 Anfang der 1990er Jahre besaßen deut21 | Von Borries: Das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher, S. 209-211; Ders.: Geschichtsbewusstsein als Identitätsgewinn? Bereits im Jahr der deutsch-deutschen Wiedervereinigung äußert von Borries Zweifel, ob der Geschichtsunterricht überhaupt wirkungsmächtig genug sei, um durch die Förderung des Geschichtsbewusstseins historische Identität zu ermöglichen. 22 | Vgl. dazu Angvik/von Borries: Youth and History, S. A367f.: »The case becomes even more clear if we compare the situation of the biggest group of ›foreigners‹ in Germany, the Muslims (mainly Turks), to the situation of similar groups in France and in Scandinavia. […] Obviously all three groups differ partially from their host societies, but not always in an identical way.« Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den individuellen Zugängen zu Geschichte und dem Interesse an Geschichte im Schulkontext blieb indes unbeantwortet. Dazu Hasberg: Über den möglichen Nutzen des Fliegenbeinzählens empirischer Forschung zum historischen Lernen; Ders.: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, S. 156-159. Auch die Frage, welche Wirkung Interpretationen von Geschichte im Geschichtsunterricht auf die Subjekte haben, wurde nicht beantwortet. 23 | Zum Vergleich: Der Mikrozensus hat erst 2005 begonnen, den Migrationshintergrund zu erheben. 24 | von Borries: Geschichtsbewusstsein Jugendlicher, S. 353. 25 | Ebd., S. 367.

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lich weniger Personen mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsbürgerschaft als heutzutage, weshalb die Staatsbürgerschaft aus damaliger Sicht ein nachvollziehbares Unterscheidungskriterium darstellte. Dieses Kriterium ist jedoch weder geeignet noch ausreichend, um eine heterogene Gesellschaftsgruppe adäquat zu beschreiben. Berücksichtigt man, dass der Mikrozensus neben der Staatsangehörigkeit den Migrationshintergrund als weiteres Merkmal erst seit 2005 erhebt, wird der Stellenwert der frühen Bemühungen von Borries’ deutlich. Youth and History, eine weitere große quantitative Studie zum Geschichtsbewusstsein von 1997 war international vergleichend angelegt.26 Die Untersuchung erlaubte Schlussfolgerungen zum Zusammenhang zwischen nationalgeschichtskulturellem und historischem Denken sowie zu den Identitätskonstruktionen von Jugendlichen in unterschiedlichen Ländern zu treffen. Dabei zeigte sich beispielsweise, dass die in Deutschland untersuchten Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bezüglich ihrer Deutungen des Mittelalters im Vergleich zu den Ergebnissen der deutschen und türkischen Stichprobe eine gemäßigte Mittelposition einnahmen.27 Die Studie legt nahe, dass sich Unterschiede in den Deutungen historischer Ereignisse zwischen den 27 europäischen Ländern durch national variierende Geschichtskulturen erklären lassen.28 Youth and History inspirierte zahlreiche nachfolgende Studien und gilt auch nach 20 Jahren noch immer als Meilenstein der empirischen Forschung zur Geschichtsdidaktik. Christiane Hintermann etwa erhob in einer quantitativen Studie mit 1.300 Schüler*innen in Wien den Zusammenhang zwischen historischer Identität und gesellschaftlicher Heterogenität. Die Konzeption der hypothesenprüfenden Studie orientierte sich an der Vorgehensweise von Youth and History sowie an den Studien Entliehene Erinnerungen von Viola Georgi und an der Untersuchung Meyer-Hammes. Hintermann untersuchte den Zusammenhang zwischen historischen Identitäten und Geschichtsunterricht. Sie fragte nach Geschichtsbildern und Narrativen von Jugendlichen im Allgemeinen und von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Besonderen. Gleichzeitig erörterte sie, welche Bedeutung die im Unterricht tradierten geschichtlichen 26 | Für die Erhebung wurden zwischen 1994 und 1995 ca. 32.000 Schüler*innen der 9. Jahrgangsstufe in 27 europäischen Ländern befragt. Eine Beispielfrage lautete: »Stelle Dir vor, daß das gedachte Gebiet ›Neuland‹ von Deinem Heimatland A von 1500 bis 1900 besetzt gewesen war. Von 1900 bis heute ist ›Neuland‹ von Land B besetzt. Dein Land A will es zurückhaben und bringt einige Argumente dafür vor. Wie viel Gewicht würdest Du diesen Argumenten beimessen?«, von Borries: Jugend und Geschichte, S. 166. 27 | Von Borries: Jugendliche Türken. Deutsche und Deutsch-Türken, S. 20f. 28 | Erdmann/Hasberg: Facing –Mapping – Bridging Diversity.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

Vorstellungen und national-österreichischen Narrative für die Identitätskonstruktion der Schüler*innen mit Migrationshintergrund haben und in welchem Verhältnis diese zu den familiären Herkunftsländern stehen. Mittels eines Fragebogens erhob sie die jeweiligen historischen Identitätskonstruktionen und vorherrschenden Narrative. Dabei stützte sie sich auf ausgewählte Items der Youth and History-Studie. Einige von Hintermanns Prämissen müssen kritisch erörtert werden. So etwa die Annahme, dass im Geschichtsunterricht an österreichischen Schulen stets dieselbe national-österreichische Narration verbreitet wird oder dass Familien mit Migrationshintergrund tatsächlich andere historische Narrationen pflegen, als autochthone Familien. Ebenso ist zu hinterfragen, ob heterogene Narrationen verschiedener Herkunftsländer in einer Kategorie zusammengefasst werden sollten. Als gesellschaftssensibel lässt sich Hintermanns Versuch werten, die familiäre Herkunft und den Migrationshintergrund der Schüler*innen durch eine Differenzierung zwischen dem Geburtsland der Schüler*innen und dem ihrer Eltern zu erfassen – auch wenn dieser nicht zur erhofften Präzisierung führte.29 In der Ergebnisdarstellung behandelt Hintermann den Zusammenhang zwischen Geschichtsunterricht und historischer Orientierung nur peripher: Eine allgemein gültige Antwort auf die Frage ist auch nach Auswertung der Ergebnisse nicht möglich. […] zusammenfassend [kann] formuliert werden, dass die Unterschiede nach Migrationshintergrund relativ gering sind. […] Territoriale Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle und in Bezug auf bestimmte Fragestellungen auch das historische Bewusstsein, sind nicht unabhängig davon, ob Jugendliche in Familien aufwachsen, in denen beide Elternteile zugewandert sind oder ein Elternteil Österreicher/in ist. (sic!) 30

Hintermann fordert in ihrem Fazit weiterführende qualitative Studien zu den Identitätskonstruktionen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund.31 Viola Georgi erforschte 2003 die Geschichtsbilder junger Migrant*innen, indem sie deren Bezugnahme auf die NS-Vergangenheit untersuchte. In der

29 | Hintermann: Dissonante Geschichtsbilder? S. 52: »Ein Migrationshintergrund liegt unserer Definition nach dann vor, wenn die SchülerInnen selbst oder zumindest ein Elternteil der Betroffenen nicht in Österreich geboren wurden.« Hintermann differenziert den Begriff des Migrationshintergrunds nicht. Sowohl Ausländer*innen als auch Personen verschiedener generationeller Zugehörigkeiten mit Migrationshintergrund aus verschiedenen Herkunftsländern werden als Gruppe von Proband*innen mit Migrationshintergrund zusammengefasst und somit unsachgemäß homogenisiert. Siehe dazu auch Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 31. 30 | Hintermann: Dissonante Geschichtsbilder?, S. 139ff. 31 | Hintermann: Dissonante Geschichtsbilder?, S. 138-141.

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Geschichtsdidaktik wurde ihre Arbeit zurecht als Pionier- und Grundlagenarbeit gelobt.32 In ihrer Studie führte Georgi episodisch-biografische Interviews mit Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen an verschiedenen Schulen durch. Aus ihrer Analyse entwickelte sie fünf Typen der Bezugnahme auf die NS-Vergangenheit.33 Georgis Analysegegenstand – Geschichtsbilder und Geschichtsbewusstsein – sei nach Georgi »infolge einer veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung« im »Wandel« begriffen.34 Als Einflussfaktor für diese Veränderung führt sie »Familien- und Kollektivgeschichten« vieler »junger Menschen« an, die sich von jenen der »Deutschen« unterschieden. In dieser Formulierung kommt eine unterstellte Differenz zum Ausdruck: Die Geschichtsbilder von Personen mit Migrationshintergrund können demnach nicht Deutsch sein. Die Frage, ob es ein deutsches Geschichtsbewusstsein überhaupt gibt, lässt die Studie empirisch unbeantwortet. Stattdessen setzt Georgi die Prämisse, dass individuelle Familien- und Kollektiverzählungen sich von einer deutschen Nationalerzählung unterscheiden. In ihrer Studie setzt sie zwei unterschiedliche Ebenen von Geschichtsnarrationen zueinander in Bezug. Eine Verknüpfung dieser beiden Ebenen betrachtet sie jedoch nur bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund, nicht aber bei autochthonen Jugendlichen, wodurch historische Narrationen als eine Art historisches Erbe im kommunikativen Gedächtnis dargestellt werden.35 Kritisch zu diskutieren wäre an Georgis Studie, ob trotz gegenteiliger Intention die auf die Mehrheitsgesellschaft bezogene Kategorie Abstammung eine epistemische Grundlage der Studie ist.36 In der Zusammenführung ihrer Ergebnisse lässt Georgi die Auswertung herkunftsspezifischer Aspekte vermissen.

32 | So bei Zülsdorf-Kersting: 60 Jahre danach, S. 83 und Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 37-40. Jeismann: Geschichtsbilder. Zeitdeutung und Zukunftsperspektiven. 33 | Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 300-308: Typ I, Fokus: Opfer der NS-Verfolgung; Typ II, Fokus: Zuschauer, Mitläufer und Täter im Nationalsozialismus; Typ III, Fokus: eigene ethnische Gemeinschaft; Typ IV, Fokus: Menschheit und Typ V, der indifferente Typus. Der indifferente Typus wurde jedoch aus der Betrachtung ausgeschlossen, da es um eine qualitative Betrachtung der Partizipation ging. Vgl. hierzu S. 106. Mit Blick auf die Ergebnisse von Hintermann sowie meine Überlegungen zum doppelt semi-historischen Bewusstsein hätte gerade der indifferente Typus von großem Interesse sein können. Dazu Fava: Neuausrichtung der Erziehung, S. 85ff., 192f. 34 | Ebd., S. 9. 35 | Ebd. 36 | Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 10f.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ? [Es] erwies sich die Kategorie der Zugehörigkeit als Schlüsselkategorie. Die Geschichtsbezüge junger Migrant*innen sind in hohem Maße abhängig von der Selbst- und Fremdpositionierung im gesellschaftlichen und politisch-historischen Raum der Aufnahmegesellschaft. […] Das Verständnis der NS-Geschichte wird dabei zu einem Instrument der Beobachtung und Analyse der Aufnahmegesellschaft sowie der Deutung der eigenen Situation als in Deutschland lebender Migrant oder deutscher Staatsbürger nicht ethnisch-deutscher Herkunft. Die im Umfeld von Nationalsozialismus und Holocaust sich entfaltenden Geschichtsdiskurse können Anlass ebenso wie Austragungsort von Identitätsverhandlungen im Migrationskontext sein. Als national-kulturelle Prägung fasst sie ausschließlich eine nicht-deutsche kulturelle Prägung. 37

Dagegen ist einzuwenden, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund auch als Minderheit in gleicher Weise an der Geschichtskultur in Deutschland partizipieren wie autochthone Jugendliche.38 Sie unterliegen also in Georgis Worten auch einer deutschen national-kulturellen Prägung. Wenn ein Kriterium von Zugehörigkeit eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist, wäre dies eine inhaltliche Fixierung, die wiederum einen Einfluss auf die Untersuchung der Forschungsfrage nach dem Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit Migrationshintergrund hätte,39 da die moralische Wertung kaum von der historischen Deutung trennbar ist. Der Holocaust als thematischer und inhaltlicher Gegenstand scheint daher eher ungeeignet, um historische Deutungen zu erheben. Ausschlaggebend ist […] die Fremdzuschreibung »Ausländer« und der häufig damit einhergehende Zwang, seine Identität in der Marginalität ausbilden zu müssen. […] Wer »richtig« deutsch sein will, der muss sich auf irgendeine Weise mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust befassen. 40

Georgi wertet die Beschäftigung mit dem Holocaust durch ihre Interviewten als Versuch, »richtig deutsch« zu werden. Dieser Versuch rühre von einer Erfahrung der Exklusion und der Desintegration her. In ihrer Studie beschreibt Georgi Jugendliche mit Migrationshintergrund als in Deutschland lebende deutsche Staatsbürger*innen nicht ethnisch-deutscher Herkunft. Damit erhebt Sie (ungewollt) deutsche Kultur zur Zielkultur. Unklar bleibt, ob sie selbst diese Zuordnung vornimmt oder ihre Befragten. Allerding deutet sich in der Vorstellung von einer Beschäftigung mit Holocaust und Nationalsozialismus 37 | Siehe Georgi: Wem gehört die deutsche Geschichte?, S. 161. 38 | Die Zuschreibung von Prägungen, die eine bestimmte Minderheit erfährt, kann auch als Exklusion oder als Diskriminierung gesehen werden. 39 | Dazu Georgi: Entliehene Erinnerungen S. 299. 40 | Georgi: Wem gehört die deutsche Geschichte?, S. 161.

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als »Eintrittsticket« in die deutsche Zielgesellschaft ein geschlossenes Bild von einer ethnisch-deutschen Gemeinschaft an.41 Georgis Typologie verdeutlicht die Beziehung der Identifikation oder Sozialperspektivübernahme der jeweiligen historischen Bezugsgruppe.42 Die vier Typen repräsentieren demnach die unterschiedlichen Wir-Gruppen der Schüler*innen.43 Die Fokussierung auf Täter, Zuschauer und Mitläufer (Typ II) dient zur Aneignung einer deutschen Perspektive und resultiert aus dem Bedürfnis, am kommunikativen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft teilzuhaben. Ein genauer Blick auf Georgis Studie offenbart allerdings, dass die Befragten die Vermutung, dass ihre Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ihnen einen Zugang zur deutschen Gesellschaft verschafft, nicht selbst artikulieren.44 So schildert beispielsweise der interviewte Bülent (mit Migrationshintergrund) seine Erfahrung während eines Besuchs der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Theresienstadt. Hier sei er aufgrund seiner Beschäftigung mit dem Holocaust im Ausland als Deutscher wahrgenommen worden.45 Ob diese Wahrnehmung jedoch tatsächlich im Zusammenhang mit seiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus steht oder schlicht in der Tatsache, dass er Teil einer Deutsch sprechenden Reisegruppe war, erörtert Georgi nicht. Zudem irritiert der Titel von Georgis Studie, Entliehene Erinnerung. Obwohl semantisch nicht identisch, weckt er Assoziationen mit dem Begriff »geliehene Erinnerungen«. Leser*innen fragen sich fast zwangsläufig, von wem denn diese Erinnerungen »geliehen« wurden und welchen Unterschied zu originär eigenen Erinnerungen es gibt. Das Verb »leihen« suggeriert zudem, 41 | Siehe dazu Alavi: Geschichte des Holocaust im multikulturellen Klassenzimmer, S. 3. Bettina Alavi geht der Frage nach, ob Lehrkräfte »Schüler mit Migrationshintergrund danach einschätzen, dass sie sich angemessen auseinandersetzen, indem sie selbst sozusagen die Form der Angemessenheit als ›Entrebillet‹ für die deutsche Gesellschaft setzen.« Alavi weist auf einen Mechanismus zwischen der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und der Zugehörigkeit hin. 42 | Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 299-308. 43 | Ebd., S. 6: Typ I: »Die waren deutsche Juden und wurden nicht als Deutsche akzeptiert, genau wie bei den Ausländern heute.«; Typ II: »Ich kann mich auch für Dinge interessieren, für die sich deutsche Jugendliche auch interessieren.«; Typ III: »Meine Großeltern waren Partisanen«, »Kann auch mit uns [Kurden] passieren.«; Typ IV: »Weil es in anderen Ländern ja auch möglich ist.« 44 | Dazu Dürsch: Zur Bedeutung des Nationalsozialismus für Jugendliche in Deutschland, S. 12 und 87; Fava: Neuausrichtung der Erziehung, S. 196. Fava sieht keine zielgerichtete Motivation, sondern einen eintretenden Effekt. 45 | Georgi: 2003, S. 164f., 173.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

dass es nicht die eigenen Erinnerungen sind. Andersherum ließe sich fragen: Sind nicht alle »Erinnerungen«, die sich auf nicht selbst Erlebtes beziehen, entliehen – etwa solche aus der vorbiografischen Zeit? Meint der Titel, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund gezwungen sind, sich Erinnerungen zu »leihen«, während ethnisch-deutsche Jugendlichen dies nicht sind?46 Trotz seines kulturtheoretischen Kontextes suggeriert der Titel, dass »entliehene« Erinnerungen ein Merkmal von Migrant*innen seien.47 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch Jugendliche mit Migrationshintergrund Teil des kommunikativen Gedächtnisses sowie der Geschichtskultur einer Gesellschaft sind.48 Meik Zülsdorf-Kersting weist darauf hin, dass die kulturtheoretische Gedächtnistheorie anhand von Gesellschaften der Vorantike entwickelt wurde. Diese wiesen die »Vorstellung eines kanonartigen Sinngehalts« auf, während heutige Gesellschaften sehr viel pluralistischer seien.49 Georgis Untersuchungsgegenstand – die »Geschichtsbilder von jungen Migranten« – verändert sich im Laufe der Untersuchung. Zunächst erhebt sie die Geschichtsbilder junger Migrant*innen von Nationalsozialismus und vom Holocaust. Ihre Typologie bildet Georgi fast ausschließlich auf der Grundlage der Geschichtsbezüge von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.50 Allerdings fehlen in der Studie sowohl eine Definition des Begriffs Migrationshin46 | Vgl. dazu Arpaci: National Memory’s Schlüsselkinder, S. 113; Kux: Deutsche Geschichte und Erinnerung in der multiethnischen und -religiösen Gesellschaft, S. 246 und Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. 47 | Halbwachs: La Mémoire collective. Halbwachs spricht von entliehenem Gedächtnis, wenn sich das Individuum auf Erinnerungen aus seiner vorbiografischen Vergangenheit verlassen muss. Ders.: Les Cadres sociaux de la mémoire. Dazu Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 86. 48 | Wenn Geschichtskultur »die praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewußtsein im Leben einer Gesellschaft ist« (Rüsen: Geschichtskultur, S. 513) oder nach Schönemann als »Außenseite des gesellschaftlichen Bewusstseins« verstanden werden kann (Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, S. 17) und sich alle »Repräsentationsmodi von Geschichte« nach Christoph Cornelißen zwischen kollektivem, kommunikativen und kulturellem Gedächtnis fassen lassen (Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur?), dann folgt daraus, dass sich Mitglieder einer Gesellschaft einer geschichtskulturellen Einflussnahme – sei sie kognitiv, institutionell oder ästhetisch – nicht entziehen können. 49 | Zülsdorf-Kersting: 60 Jahre danach, S. 459. 50 | Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 246-247: »Laila […] definiert sich über die deutsche Staatsbürgerschaft, die sie gerade angenommen hat. […] Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, insbesondere der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, begreift sie als Selbstverständlichkeit, wenn man in Deutschland lebe.«

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tergrund als auch eine Klärung der Frage, ob der Migrationshintergrund wirklich das entscheidende Unterscheidungsmerkmal ist.51 Georgis abschließende These lautet: Relevant für die Strategien der Selbstpositionierung der jungen Migranten im Kontext der Geschichte der deutschen Aufnahmegesellschaft erscheint weniger die jeweils spezifische Herkunft als die Auseinandersetzung mit dem Status als Ausländer beziehungsweise dem Umstand, als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland zu leben.52 Da Georgi keine Vergleichsgruppe untersucht, kann sie keine spezifischen Aussagen über Migrant*innen als Gesamtgruppe treffen. Auch eine Differenzierung nach Geschlecht, Art des Migrationshintergrunds oder generationeller Zugehörigkeit unterbleibt in der Studie.53 Wie zuvor schon von Borries unterstreicht auch Georgi den Zusammenhang zwischen historischer Identität und sozialem Status.54 Trotz der formulierten Kritik müssen die Verdienste von Georgis Arbeit und deren Pioniercharakter betont werden. Ihre Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand und ihre Ergebnisse haben die Diskussion in unterschiedlichen Disziplinen entfacht und so die Grundlage für die weitere Forschungsarbeit gelegt – nicht zuletzt auch für die vorliegende Arbeit. Johannes Meyer-Hamme stellt die theoretische Grundlegung seiner empirischen Forschungsarbeit ausführlich dar.55 Meyer-Hamme formuliert folgende Fragestellungen: »Wie entwerfen Jugendliche in der deutschen Ein51 | Aus dem theoretic sampling werden Typen entwickelt, die keine Idealtypen darstellen. Ebd., S. 299: »Kenntnisse über die NS-Geschichte – das dokumentieren die nachfolgenden vier empirisch begründeten Typen – verfestigen sich für die befragten Jugendlichen zu gesellschaftlich relevantem Orientierungswissen.« Vgl. dazu Glaser/ Strauss: Grounded Theory, S. 199f.; Strauss/Corbin: Grounded Theory. Zülsdorf-Kersting: 60 Jahre danach, S. 111-112, sieht in Typ I und II historische Bezugsgruppen und in Typ II und IV soziale Bezugsgruppen. Georgis Die Typologie eignet sich für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, aber nicht für eine grundsätzliche Verallgemeinerung. Dazu Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 39: »Allerdings ergibt sich ein plausibles Bild, wenn Georgis Unterscheidungskriterien als Dimensionen einer Typologie verstanden werden. Demnach erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust einerseits entlang einer Achse zwischen ethnozentrischer und ethnorelativer Positionen.«; siehe dazu auch Liepach: Nationalsozialismus – ein deutsches Thema? 52 | Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 309. 53 | Unterschiede entlang der Geschlechtergrenze. Siehe dazu Liepach: Nationalsozialismus – ein deutsches Thema?, S. 209. 54 | Von Borries: Jugend und Geschichte, S. 292-295. 55 | Sehr ausführlich auch Zülsdorf-Kersting: 60 Jahre danach.

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wanderungsgesellschaft ihre historischen Identitäten?« und »In welchem Zusammenhang stehen die historischen Identitäten der Jugendlichen und ihr Geschichtsunterricht?«56 Hierfür videografierte Meyer-Hamme in einer ersten Erhebungsphase eine Doppelstunde des Geschichtsunterrichts und spielte diese den Proband*innen wenig später vor, zusammen mit der Aufforderung, das Gesehene nach der Methode des nachträglichen lauten Denkens (NLD) zu kommentieren. In einer zweiten Erhebungsphase führte er biografisch-episodische Interviews mit Oberstufenschüler*innen und formulierte eine Typologie.57 Von Meyer-Hammes fünf Einzelfalluntersuchungen hatten drei Probanden einen Migrationshintergrund. Diese verdeutlichen, wie verschieden Migrationshintergründe und individuelle Erfahrungen sein können. Dennoch geht Meyer-Hamme auf die Art des Migrationshintergrunds genauso wenig ein, wie auf das Geschlecht. Seine Typisierung der einzig autochthonen Schülerin, Stefanie, erlaubt nur wenig Einsicht in die historische Identitätskonstruktion von Schüler*innen ohne Migrationshintergrund. Stefanie ist nach Meyer-Hammes Typologie eine erfahrene distanzierte Schülerin: Sie erkennt die Erwartungen der Lehrkräfte im Geschichtsunterricht und weiß diese zu bedienen.58 Meyer-Hammes interessanten Fallbeispiele ermöglichen keine vergleichende Einsicht in die Konstruktion historischer Identitäten von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Zwar untersucht die Studie Jugendlichen, die das Merkmal Migrationshintergrund aufweisen, diese unterscheiden sich jedoch zusätzlich anhand weiterer Merkmale wie eigene Migrationserfahrung, Sprache oder Herkunft. Da alle Proband*innen Teile der deutschen Gesellschaft sind, sind Schlussfolgerungen bezüglich des Zusammenhangs zwischen historischer Sinnbildung und kultureller Zugehörigkeit nicht möglich.

56 | Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 104. 57 | Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 108f.: »Für die konkrete Auseinandersetzung mit Geschichtsunterricht wurde also im ersten Interview auf die aufwendige Methode des ›Nachträglichen Lauten Denkens‹ gesetzt. Dafür wurde Unterricht videografiert und zeitnah […] den Probanden vorgeführt. […] Als Impuls habe ich die Schüler gebeten, Was ist dir im Laufe der Stunde durch den Kopf gegangen? […] Das zweite Interview wird hier als biografisch-episodisches Interview bezeichnet. […] Die Probanden wurden gebeten, […] die Geschichte nach ihren Erfahrungen mit Geschichte zu erzählen«; Siehe Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung; Ders. et al.: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis; Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 238ff., S. 287-288; siehe dazu auch von Borries: Interkulturalität beim historischpolitischen Lernen – Ja sicher, aber wie?, S. 92-93; Ders.: Warum ist Geschichtslernen so schwierig? 58 | Ebd., S. 160f.

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Zusammenfassend lässt sich zur beschriebenen Studie Meyer-Hammes sagen, dass die Studie zwar die Heterogenität der Migrationsgesellschaft betont, aber dennoch nicht auf die Variationen des jeweiligen Migrationshintergrunds eingeht. So können beispielsweise Schüler*innen, die selbst Gewalt, Krieg und Flucht erlebt haben, gänzlich andere Orientierungsbedürfnisse besitzen als Schüler*innen der zweiten oder dritten Generation mit einem Migrationshintergrund. Abschließend möchte ich noch auf einige ältere Studien zum Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen eingehen, wie die Untersuchungen zum Geschichtsbewußtsein von Abiturienten im Ruhrgebiet von 1991, auf Geschichtsbewußtsein im interkulturellen Vergleich von 1994 sowie Eine Geschichte zum Nachdenken von 1987.59 Trotz ihres Alters sind diese Studien für die vorliegende Arbeit relevant, da sie die theoretische Annahme von Rüsens Erzähltypen (traditionales, exemplarisches, kritisches und genetisches Erzählen) empirisch untersuchen. Jüngere Arbeiten mit diesem theoretischen Bezugspunkt sind mir nicht bekannt. Die Studie zum Geschichtsbewusstsein von Abiturienten betont in ihren Vorbemerkungen den Begriff des Geschichtsbewusstseins als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik und begründet damit die Relevanz einer empirischen Untersuchung des Begriffs.60 Diesen Ansatz möchte ich für meine Arbeit aufnehmen. Ferner führen die Autoren der Studie zum Geschichtsbewusstsein von Abiturienten an, dass sie in ihrer Analyse nicht nur das vorhandene Geschichtsbewusstsein in den Blick nehmen, sondern auch jenes, das die Schule zu fördern versäumt hat.61 Zu diesem Zweck erhob die Studie in einem Mixed-Methods-Verfahren Items zum Geschichtsbewusstsein.62 Quantitative Methoden allein, so die Untersuchung, höben zu einseitig auf fachwissenschaftliches Wissen ab. Die qualitative Analyse basierte aus einer

59 | Rüsen et al.: Untersuchungen zum Geschichtsbewußtsein von Abiturienten im Ruhrgebiet; Ders.: Das Geschichtsbewußtsein von Schülern und Studenten im Interkulturellen Vergleich; Schmidt: Eine Geschichte zum Nachdenken; s. auch Ders.: Exemplarische historisches Erzählen. 60 | Rüsen et al.: Untersuchungen zum Geschichtsbewußtsein von Abiturienten im Ruhrgebiet, S. 224: »Für die Geschichtsdidaktik fallen empirische Untersuchungen von Geschichtsbewußtsein nicht bloß in das übliche und immer wieder beklagt Empiriedefizit dieser Disziplin, – mit ihnen steht und fällt vielmehr auf die Dauer die Fruchtbarkeit (Glaubwürdigkeit) ihrer zentralen Kategorie, und damit steht zugleich ihr disziplinärer Charakter auf dem Spiel.« 61 | Ebd., S. 255. 62 | Prinz/Thünemann: Mixed-Methods-Ansätze in der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung. Möglichkeiten und Grenzen für die Geschichtsdidaktik.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

Kombination deduktiver und induktiver Kategorien.63 In der 13. Jahrgangsstufe einer höheren Schule wurden 118 Schüler*innen befragt. Eines der zentralen Erhebungsergebnisse lautet, dass sich Geschichtsbewusstsein je nach Kontext anders artikuliert. Zwei wesentliche Formen von Geschichtsbewusstsein ließen sich unterscheiden: eine eher »komparativ-rezeptive« und eine eher »politisch-moralisch urteilende«.64 Die Pilotstudie Geschichtsbewußtsein im interkulturellen Vergleich knüpft an die Untersuchung des Geschichtsbewusstseins von Abiturienten an. Sie wurde ebenfalls von Rüsen in Kooperation mit anderen durchgeführt.65 Das Forschungsteam betont zu Beginn seiner Ausführungen, dass es »ohne Geschichtsbewußtsein […] keine Identität« gäbe und »ohne Identität sich Menschen als Subjekte sinnbestimmten Handelns nicht denken« ließen.66 Mit ihrem Kategoriensystem zu »Identifikationen« erhob die Studie subjektive Einstellungen über die Angaben zu thematischen Inhalten und klassifizierte diese. Im Ergebnis zeigten sich über Ländergrenzen hinweg stabile Typen sozialer Identität: »eigene Person, eigene Gruppe, eigene Religion, Nation und Menschheit«.67 Hans Günter Schmidt untersuchte in seiner Studie Geschichte zum Nachdenken die Erzähltypologie und die narrative Kompetenz von Geschichtsbewusstsein anhand von 177 Texten von Schüler*innen aus Unter- und Mittelstufe. Hierbei differenzierte er in sechs »Unterstufen des Geschichtsbewusstseins: traditional, exemplarisch 1 bis 3, kritisch und genetisch.68 Nach Schmidts Ergebnissen dominiere unter den Schüler*innen der Mittelstufe der Typ »exemplarisch 2« sowie in der Unterstufe die Typen »exemplarisch 1« und »exemplarisch 2«. Nur bei drei der 177 untersuchten Texte konnten Tendenzen des Typs »genetisch« gefunden werden.69 Die beschriebene Untersuchung zu den Idealtypen historischer Sinnbildung nach Rüsen wurde in keinem weite63 | Ebd., S. 266.: »Befriedigende empirische Ergebnisse ließen sich daher erst durch ein Konstrukt von Geschichtsbewußtsein erzielen, das als Auswertungssystem nicht nur deduktiv aus der Theorie abgeleitet war, sondern zugleich induktiv aus den Antworten der Befragten selbst gewonnen wurde.« 64 | Ebd., S. 310. 65 | Rüsen et al.: Das Geschichtsbewußtsein von Schülern und Studenten im interkulturellen Vergleich, S. 82. 66 | Ebd., S. 79. 67 | Ebd., S. 102ff. 68 | Schmidt: Eine Geschichte zum Nachdenken. S. 30. Siehe dazu auch Ders.: Exemplarisches historisches Erzählen; siehe dazu Appelt/Lorenzen: Traditionale Sinnbildung im Geschichtsunterricht; Fröhlich: Anmerkungen zum Typus der kritischen Sinnbildung im Unterricht; Vörös-Rademacher: Was heißt: Geschichte genetisch erzählen können. 69 | Ebd., S. 34.

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ren Forschungszusammenhang erweitert. Auch lädt die Geschichte zum Nachdenken als Dilemmageschichte zu Kritik ein, da sie besonders zu einer moralischen Urteilsbildung und nicht zu einer historischen Urteilsbildung einlädt.

3.3 W er kennt E lif ? Die vorangegangene Übersicht über den Forschungsstand hat gezeigt, dass sich nicht nur Geschichtsdidaktiker*innen mit dem Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein, historischen Identitätskonstruktionen, Integration und Gesellschaft beschäftigen. Es handelt sich um ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich nicht ohne Grund der Methoden und Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen bedient. Eine interdisziplinäre Herangehensweise ergibt sich bereits aus der Komplexität der Fragestellung. Fachspezifische Schwerpunktsetzungen verengen dabei das Erkenntnisinteresse nicht, sondern erweitern das Spektrum an Forschungserkenntnissen. Dennoch wurden folgende Desiderate der Forschung deutlich: • Es besteht ein Mangel an systematischer Vernetzung zwischen Forschungen und ihren Ergebnissen in unterschiedlichen Disziplinen. • Der Zusammenhang zwischen Geschichtsunterricht und historischer Orientierung wurde bisher nicht empirisch untersucht. Dies betrifft nicht allein die Fachdidaktiken. Die erwähnten Studien beziehen den Unterricht nicht mit ein. Aufgrund der unterschiedlichen theoretischen Prämissen der Untersuchenden entstehen eine »Inkohärenz des Erkenntnisinteresses« und eine »Disparität der Forschungsmethoden«, die inkompatible Befunde produzieren.70 Die in Kapitel 3.2 vorgestellten Studien verweisen auf einen Zusammenhang zwischen Identität und Geschichtsbewusstsein. Dabei sind die Verwendung von Begrifflichkeiten sowie das jeweilige Verständnis von historischem Denken in den einzelnen Studien sehr unterschiedlich. Selbst im geschichtsdidaktischen Diskurs existieren unterschiedliche Forschungsstandpunkte nebeneinander. Daher müssen die theoretischen Grundlagen und die angewandten Methoden einer Untersuchung stets transparent dargestellt werden. Die vorliegende Arbeit versucht diesen formulierten Desideraten zu begegnen. Erstens ergibt sich das methodische Vorgehen (mehr dazu in Kapitel 4) aus den theoretischen Vorüberlegungen und Definitionen (vgl. Kapitel 2). Zweitens reflektiert diese Arbeit, dass komplexe Untersuchungsgegenstände methodischer und theoretischer benachbarter Disziplinen bedürfen. Eine ausschließ70 | Vgl. Hasberg: Im Schatten von Theorie und Pragmatik, S. 9.

3. Forschungsstand – Wer kennt Elif ?

lich geschichtsdidaktische Herangehensweise würde der Fragestellung dieser Arbeit nicht gerecht werden können. Darüber hinaus hat die Darstellung des Forschungsstandes auch spezifische Desiderate für die Fragestellung dieser Arbeit aufgezeigt: • In Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund sind Teil der pluralistischen deutschen Gesellschaft und nicht etwas dieser Gesellschaft Äußeres. Darüber hinaus sind Menschen mit Migrationshintergrund keine homogene Gruppe. Die fehlende Präzision bei der Benennung des Untersuchungsgegenstands zeigt sich an einer Vielzahl von homogenisierenden Begriffen, wie Zuwanderungsgeschichte, Zuwanderungsgesellschaft, Migrant*innen, Personen mit Migrationshintergrund, junge Migrant*innen, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Migrant*innenkinder, nicht-ethnisch deutsch, nicht herkunftsdeutsche Personen, nicht Biodeutsche, nicht richtig deutsch, Ausländer*innen, Nichtdeutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft etc.71 • In der bestehenden Forschungsliteratur findet kaum eine kritische Auseinandersetzung mit den verwendeten Begrifflichkeiten und deren exkludierenden Charakter statt. Obwohl der soziokulturelle und familiäre Hintergrund häufig als Faktoren angeführt werden, fehlt eine genauere Reflexion, welche Bedeutung diesem zugemessen wird. Häufig bleibt es bei der bloßen Nennung des Hintergrunds ohne weitere Erklärung dessen Bedeutsamkeit für die Reflexion der Ergebnisse. • Trotz einer in vielen Untersuchungen anfänglich artikulierten Sensibilität für die gesellschaftliche Heterogenität, werden untersuchte Personen mit Migrationshintergrund häufig unsachgemäß pauschalisiert. Diese Homogenisierung einer heterogenen Gruppe verhindert exakte Analysen und Schlussfolgerungen. Das erschwert auch eine Bezugnahme auf Ergebnisse durch weiterführende Studien. • Die Nennung des familiären Herkunftshintergrunds ist zur Erfassung der Heterogenität nicht ausreichend. Bei Untersuchungen des Umgangs mit Geschichte müssen der jeweilige familiäre Umgang mit Geschichte, die historischen Narrationen sowie die jeweiligen Erinnerungen konkret erfasst und hinterfragt werden. Auch politisches Engagement oder politische Standpunkte müssen beachtet werden. Andernfalls wird häufig der Anschein erweckt, Personen mit Migrationshintergrund seien politisch weniger interessiert oder aktiv. Viele Studien operieren mit der (impliziten) Vorstellung, dass Personen mit Migrationshintergrund sich primär nur für die Politik »ihres« Herkunftslandes interessierten und ihr Interesse an deut71 | Eigene Zusammenstellung.

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scher Politik geringer ausgeprägt sei. Diese Annahme bedingt eine weitere Exklusion oder Segregation, erst recht, wenn das vermeintliche politische Desinteresse als Verweigerung von Integration ausgelegt wird. • Die Schule und der Geschichtsunterricht müssen stärker in die Untersuchungen von Geschichtsbewusstsein einbezogen werden. • Meyer-Hamme kritisiert zu Recht, dass die Schule und insbesondere der Geschichtsunterricht bisher nur unzureichend in Untersuchungen der historischen Orientierung miteinbezogen wurden. Obwohl Schüler*innen nicht allein in der Schule mit Geschichte konfrontiert werden, sind Schule und Geschichtsunterricht wichtige Faktoren für die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins von Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund. Während sich der Umgang mit Geschichte je nach Familie stark unterscheidet und häufig von der jeweiligen politischen Überzeugung sowie dem Bildungsgrad der Eltern geprägt ist, stellt der Geschichtsunterricht eine Chance für die Förderung des Geschichtsbewusstseins aller Schüler*innen dar. • Untersuchungen müssen stärker die Unterschiede zwischen verschiedenen Schulformen berücksichtigen. Für vergleichende Untersuchungen des Geschichtsbewusstseins eignet sich etwa die Sekundarstufe I.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Auf Basis des Forschungsüberblicks, der genannten Desiderate sowie der formulierten Forschungsempfehlungen werde ich in dieser Arbeit den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration bei Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund betrachten. Nach der Formulierung meiner Forschungsziele und -fragen (Kapitel 4.1) wird auf das Forschungsdesign (Kapitel 4.2) sowie das Sample und die Datenerhebung (Kapitel 4.3) eingegangen um im Anschluss das methodische Vorgehen (Kapitel 4.4) und die Operationalisierung der Forschungsvariablen (Kapitel 4.5) zu erläutern bevor die Erhebungsergebnisse (Kapitel 4.6 und 4.7) dargelegt werden.

4.1 F orschungsziele Die vorliegende Studie will das Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund erheben und darstellen. Bisherige geschichtsdidaktische Forschungen zum Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen mit Migrationshintergrund haben zwar das Geschlecht der Proband*innen erhoben, jedoch nicht explizit nach Generation, Migrationsherkunft, oder Schulform unterschieden. Der Einfluss dieser Merkmale muss berücksichtigt werden, will man die Vielfältigkeit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund aufzeigen und gruppenbezogene Aussagen treffen, die nicht unsachgemäß homogenisieren. Um diese Vielfalt an Einflussfaktoren und Perspektiven stets präsent zu halten, soll die in Kapitel 2.4 vorgestellte fiktive Schülerin Elif meine Untersuchung exemplarisch begleiten. Viele interdisziplinäre Studien, die sich auf die Bevölkerungsgruppe mit türkeibezogenem Migrationshintergrund konzentrieren, unterscheiden zwischen der ersten und zweiten Generation von Migrant*innen einerseits und deren Nachkommen andererseits. Zwischen der zweiten und dritten Genera-

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tion wird hingegen in der Regel nicht explizit differenziert.1 Wie relevant diese Unterscheidung ist, zeigt das Beispiel der Mehrthemenbefragungen des Zentrums für Türkeistudien und Integration (Zf TI). Die jährlich durchgeführte Studie differenziert seit 2013 nach generationeller Zugehörigkeit, Heiratsmigration und Altersstufen.2 Diese Differenzierung ermöglicht einen fokussierten Einblick in die heterogene Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund. Das Statistische Bundesamt führt jährlich eine repräsentative Haushaltsbefragung in Deutschland durch. Seit 1957 gibt dieser Mikrozensus Auskunft über die Bevölkerungsstruktur sowie über die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung in der Bundesrepublik. Seit 2005 erhebt der Mikrozensus das Merkmal Migrationshintergrund. 2005 betrug der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund 18,6 Prozent (2010 waren es 19,3 Prozent und 2013 20,5  Prozent).3 Damit hat statistisch betrachtet jede fünfte in Deutschland lebende Person einen Migrationshintergrund. Das durchschnittliche Alter dieser Personen beträgt 35,0 Jahre. Dieser Wert ist weit niedriger als das Durchschnittsalter der autochthonen Bevölkerung (44,3 Jahre) und als das durchschnittliche Alter der Gesamtbevölkerung (46,7 Jahre).4 Die regionale Verteilung zeigt, dass sich der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund je nach Bundesland stark unterscheidet. So lag er 2013 in Hamburg bei 28,9 Prozent, in Hessen bei 27,8 Prozent und in Baden-Württemberg bei 27,9  Prozent. In den neuen Bundesländern ist der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund deutlich geringer. In Thüringen lag er 2013 bei 4,1 Prozent, in Sachsen-Anhalt bei 4,3 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern bei 4,4 Prozent.5 Auch hinsichtlich des Bildungsgrades gibt es bedeutsame Unterschiede. 2013 betrug bei Menschen mit Migrationshintergrund der Anteil der Personen ohne Schulabschluss 61,4 Prozent. Bei der autochthonen Bevölkerung betrug der Anteil von Personen ohne Schulabschluss lediglich 38,6  Prozent.6 Nur 11,0  Prozent der Personen mit Migrationshintergrund verfügen über ein durchschnittliches Haushaltsnettoeinkommen von über 1 | Vgl. Sauer: Integrationsprozesse türkeistämmiger Migrantinnen und Migrant*innen in Nordrhein-Westfalen, S. 11-16. 2 | Mehrthemenbefragung 2013, S. 11: »Mit der Mehrthemenbefragung türkeistämmiger Migranten in NRW werden der Stand und die Entwicklung der Integration […] untersucht.« 3 | Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit; Statistisches Bundesamt: Ergebnisse des Mikrozensus 2012; Ders.: Mikrozensus 2013. 4 | Statistisches Bundesamt. Online-Tabelle: Bevölkerung 2013 nach Migrationsstatus und Altersgruppen. 5 | Statistisches Bundesamt. Online-Tabelle: Bevölkerung 2013 nach Migrationsstatus und Ländern. 6 | Statistisches Bundesamt. Online-Tabelle: Bevölkerung 2013 nach Migrationsstatus und höchstem allgemeinem Schulabschluss.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

4.500 € monatlich. Bei der autochthonen Bevölkerung ist dieser Anteil mit 89,0 Prozent um ein Vielfaches höher.7 Die vorliegende Studie wurde in Köln durchgeführt. Ich möchte daher kurz auf die Bevölkerungsstatistik der Stadt eingehen. 2013 hatte Köln 1.017.721 Einwohner*innen.8 Die Rheinstadt gliedert sich in neun Stadtbezirke, die ihrerseits in mehrere Stadtteile unterteilt sind. Die Haupterhebung wurde in zwei Stadtbezirken durchgeführt: In Mülheim, das aus neun Stadtteilen besteht und Innenstadt, zu dem fünf Stadtteile gehören, darunter Deutz. Mülheim hatte 2013 144.321 Einwohner*innen, die Innenstadt 126.187.9 Die Einwohner*innen von Innenstadt-Deutz geben zu 56,2 Prozent eine christliche Konfession an, in Mülheim-Mülheim sind es 43,2 Prozent.10 In Innenstadt-Deutz besitzen 11,8  Prozent der Einwohner*innen einen Migrationshintergrund, in Mühlheim 37,2  Prozent.11 Von den unter 18-Jährigen besitzen in Innenstadt 14,7 Prozent einen Migrationshintergrund, in Mülheim 35,7 Prozent.12 Der Anteil von Schüler*innen mit Migrationshintergrund kann durchaus von diesen Zahlen abweichen, da in der Sekundarstufe I und II auch Schulen außerhalb des Wohnbereichs besucht werden können. In dieser Arbeit werden Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund untersucht. Diese machen in der Bundesrepublik die größte Einzelgruppe der Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus. Zugleich bilden sie keine homogene Gruppe. Die Heterogenität dieser Gruppe spiegelt die pluralistische türkische Gesellschaftsstruktur und ihren hohen Grad an kultureller Diversität wider. Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund in Deutschland haben eine Vielzahl an ethnischen und religiösen Bezügen.13 Der Anteil von Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ist in Köln überproportional hoch. In Deutschland hatten laut Mikrozensus 2013 17,6 Prozent der Personen mit Migrationshintergrund einen türkeibezogenen Migrationshintergrund. In Köln betrug dieser Wert 25,4 Prozent. 7 | Statistisches Bundesamt. Online-Tabelle: Bevölkerung 2013 nach Migrationsstatus des Haupteinkommensbeziehers im Haushalt und Haushaltsnettoeinkommen. 8 | Stadt Köln: Kölner Stadtteilinformationen 2013, S. 7. 9 | Ebd., S. 6f. 10 | Ebd., S. 14f. 11 | Ebd., S. 18f. 12 | Ebd. 13 | Zu den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in der Türkei gehören Türk*innen, Kurd*innen, Zaza*innen, Aramäer*innen, Lasen*innen, Armenier*innen, Griechen*innen, Tscherkessen*innen, Albaner*innen, Bosnier*innen, Georgier*innen, Araber*innen, Tschetschenen*innen, Juden und Jüdinnen und Rom und Romnija sowie zahlreiche weitere Ethnien, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung sehr gering ist. Siehe dazu: Demografischer Überblick: Türkisches Amt für Statistiken.

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Das Differenzierungskriterium Generation ermöglicht eine Berücksichtigung der eigenen Migrationserfahrung. Personen, die selbst nach Deutschland migrierten, etwa als Angehörige im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführung, haben zuvor an der türkischen Geschichtskultur partizipiert und mussten sich in Deutschland entsprechend neu orientieren. Die Erhebung des Alters zum Zeitpunkt der Migration gibt Hinweise auf eventuell noch vorhandene bewusste Erinnerungen an ein Leben in der Türkei. In Deutschland Geborene partizipieren hingegen ihr gesamtes Leben an der deutschen Gesellschaft und damit auch an der deutschen Geschichtskultur. Ihr Lebensmittelpunkt lag immer in Deutschland, sie haben die Türkei nur aus der Distanz erlebt, etwa durch Erzählungen oder in Urlauben. Die Kinder dieser (zweiten) Generation sind ebenfalls in Deutschland geboren und aufgewachsen. Die Türkei kann demnach faktisch nicht als ihre Heimat bezeichnet werden, da die Migration bereits zwei Generationen zurückliegt, und somit Deutschland und nicht die Türkei die Heimat der dritten Generation ist.14 Aus geschichtsdidaktischer Perspektive verdient die generationelle Zugehörigkeit eine besondere Beachtung im Zusammenhang mit dem kommunikativen Gedächtnis, wie es Aleida und Jan Assmann beschrieben haben. Ein Einfluss von Geschichten, die im familiären Umfeld mündlich tradiert werden, scheint wesentlich auf den Umgang mit Geschichte. Die Unterscheidung nach Schulform ist bedeutsam vor dem Hintergrund der statistischen Verteilung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund auf die verschiedenen Schulformen. Im Jahr 2015 besaßen 51 Prozent aller Hauptschüler*innen einen Migrationshintergrund, am Gymnasium waren es 27 Prozent.15 Diese Untersuchung kann aus Kapazitätsgründen keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Gruppen innerhalb der Bevölkerung mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vornehmen. Aufgrund der geringen Größe meiner Stichprobe werde ich beispielsweise weder auf die Unterschiede Türk*innen und Kurd* innen noch auf Differenzen zwischen unterschiedlichen Konfessionen eingehen können.

14 | Diese Zuschreibung erfolgt dennoch häufig. Gründe hierfür können eine emotionale Verbundenheit oder eine Vorstellung einer türkischen Diaspora in Deutschland sein. 15 | Statistisches Bundesamt: Fachserie 1 Reihe 2.2 »Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2015«. Auszug online verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2017/ PD17_006_p002pdf.pdf;jsessionid=A28161364353B8A9DB383D90C08409F0.InternetLive1?__blob=publicationFile (15.02.2018).

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Forschungsfrage und Forschungsgegenstand Diese Arbeit erforscht den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration. Dazu untersuche ich, welchen Einfluss ein türkeibezogener Migrationshintergrund auf das Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen hat und wie dieser mit anderen Einflussfaktoren, wie Geschlecht oder Migrationshintergrund korrespondiert. Mit dieser bewusst breit gestellten Forschungsfrage verfolge ich mehrere Anliegen: Ich will erforschen, ob sich zwischen der Untersuchungsgruppe (mit Migrationshintergrund) und der Kontrollgruppe (ohne Migrationshintergrund) Divergenzen bezüglich des Umgangs mit Geschichte feststellen lassen. Hierzu habe ich nach den historischen Identitätskonstruktionen der Jugendlichen gefragt, die ich anschließend analysiert und typisiert habe. Die hypothetische Annahme eines Spannungsverhältnis in Form des geschilderten doppelt semi-historischen Bewusstseins, das die Ausbildung einer balancierten Ich-Identität zu hemmen scheint, möchte ich in zweifacher Hinsicht überprüfen: Erstens frage ich, ob das hypothetische Modell empirisch bestätigt wird und zweitens, sollte dem so sein, ob es sich dabei um eine Lebenssituation handelt, die allen Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bekannt ist oder ob dies nur für bestimmte Schüler*innen zutrifft. Ziel meiner Untersuchung ist es zu klären, wie einflussreich das Kriterium Migrationshintergrund bei der Entwicklung und Förderung von Geschichtsbewusstsein ist. Das bei der Veranschaulichung des Problems in Kapitel 2.4 entwickelte Modell eines doppelt semi-historischen Bewusstseins wird daraufhin überprüft, ob es sich um eine gruppentypische Spannungsform handelt. Weiter wird erörtert, ob es als Symptom für eine spezifische Geschichts- oder Erinnerungskultur anzusehen ist. Hierzu habe ich Schüler*innen an jeweils einer Hauptschule, einer Realschule und einem Gymnasium in Köln befragt.

4.2 F orschungsdesign Nachdem in Kapitel 2.5 unter Einbeziehung der Ausbildung einer historischen Identitätskonstruktion, der Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration erörtert wurde, soll es nun um die Verknüpfung von Theorie und Empirie gehen. In der Haupterhebung (HE) wurden mittels eines MixedMethods-Verfahrens die Variablen Geschichtsbewusstsein, Integration und historische Identitätskonstruktion erhoben und ausgewertet. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung wurden abschließend mit Blick auf die theoretischen Grundlagen reflektiert.16 16 | Kelle: Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung; Flick: Qualitative Sozialforschung; Bortz/Döhring: Forschungsme-

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Die Komplexität der Untersuchungsgegenstände erfordert adäquate Erhebungsmethoden. Daher habe ich nacheinander eine quantitative und eine qualitative Erhebung durchgeführt. An die erste Phase einer quantitativen Erhebung mit einem Fragebogen (Q1) schloss sich die qualitative Erhebungsphase (Q2) an. Diese bestand aus drei unterschiedlichen Untersuchungsmethoden: Zunächst führte ich eine Gruppenbefragung in Form einer Gruppendiskussion (Q2GF) durch. Darauf folgten schriftliche Einzelbefragungen (Q2EF). Abschließend führte ich noch Einzelinterviews (Q2IF). Q1 diente der Erhebung von sozio-demografischen Daten, von Integrationsindikatoren und beinhaltete einen allgemeinen Wissenstest. Zusätzlich wurden in Q1 bereits Indikatoren für den Umgang mit Geschichte erhoben. In Q2 erhob ich verschiedene Indikatoren für Kompetenzen historischen Denkens, für den außerschulischen Umgang mit Geschichte, für den Umgang mit Integration sowie für die historische Identität der Befragten. Die Ergebnisse von Q1 dienten als Vorlage für Q2, insbesondere für die Identifikation potenzieller Proband*innen, sprich Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Hintergrund (im Folgenden auch kurz »3. Gen. tr. MH«). Zur Vorbereitung von Q2 legte ich für die angefragten Jugendlichen vorläufige Profile auf der Grundlage der ausgewerteten Fragebögen aus Q1 an. Diese Profile enthielten neben sozio-demografischen Daten vorläufige Aussagen zum Umgang mit Geschichte und Integration sowie zur eigenen Selbstverortung, und zum jeweiligen Interesse an Geschichte, Geschichtsunterricht und Politik. Diese Profile nutze ich in Q2IF als Gesprächsgrundlage für die Einzelinterviews. Die Angaben boten Ansätze für weiterführende und vertiefende Fragen. Die qualitative Erhebung (Q2) erfolgte mit einem Abstand von einer Woche absichtlich zeitnah auf die quantitative Erhebung. Dadurch konnten sich die befragten Jugendlichen an die erste Erhebungsphase erinnern, was ein Anknüpfen an bereits gestellte Fragen erleichterte. Auch das Interesse der Schüler*innen an der Befragung war aufgrund der zeitlichen Nähe noch hoch. In Anwendung eines Mixed-Methods-Verfahrens habe ich die erhobenen Daten mithilfe geeigneter Software (SPSS für die Daten aus Q1 sowie MAXQDA für die Daten aus Q2) ausgewertet und Teilergebnisse in einer Triangulation zusammengeführt (Abbildung 5).17 Dieses Verfahren ermöglicht den thoden und Evaluation; Baur: Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung; Kuckartz: Mixed Methods, siehe auch Prinz/Thünemann: Mixed-Methods-Ansätze in der empirischen Schul- und Unterrichtsforschung. Möglichkeiten und Grenzen für die Geschichtsdidaktik. 17 | Flick: Triangulation, S. 76-88; Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 48-62; Kuckartz: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 77f.; Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 143ff., 308ff., 315ff., 326ff. und 313ff.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Einbezug ergänzender Perspektiven sowie die Betrachtung unterschiedlicher Indikatoren, wodurch ein präziseres und mehrdimensionales Ergebnis erzielt wird.

Abbildung 5: Triangulation

4.3 S ample und D atenerhebun g Das nicht-repräsentative Sample umfasst Schüler*innen (SuS) der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (SuS 3. Gen. tr. MH) sowie Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (SuS o. MH). Der Haupterhebung (HE) an einer Hauptschule, einer Realschule und einem Gymnasium in Köln gingen zwei Pilotphasen (Pilot 1 und Pilot 2) an zwei verschiedenen Realschulen voraus.18 In den beiden Pilotphasen wurden insgesamt 92 Jugendliche per Fragebogen im Klassenverband befragt. An der HE nahmen insgesamt 124 Jugendliche per Fragebogen im Klassenverband (Q1, s. Abbildung 6) teil. Sämtliche in die Untersuchung aufgenommene Schüler*innen waren 15 oder 16 Jahre alt und besuchten die zehnte Jahrgangsstufe ihrer Schule. In diesem Alter kann Jugendlichen eine Einsichtsfähigkeit unterstellt werden,

18 | Die Auswahl der Schulen erfolgte nach zwei Kriterien: Erstens sollte die Schule im rechtsrheinischen Kölner Stadtgebiet liegen. Zweitens musste die Schule bereit sein, an der Studie teilzunehmen. Da es sehr schwierig war, Schulen zur Teilnahme zu bewegen und dabei eine ähnliche Zahl von autochthonen wie nicht-autochthonen Schüler*innen zu akquirieren, ist die Anzahl der Proband*innen in den Pilotstudien nicht gleichmäßig verteilt.

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aufgrund derer sie ihre Einwilligung zur Befragung selbst geben können.19 Da sich sämtliche Proband*innen in der Sekundarstufe I befanden, war ein Vergleich aller Schulformen möglich. Die Kernlehrpläne für Nordrhein-Westfalen geben an, welches historische Wissen sich Schüler*innen der einzelnen Schulformen zum Erhebungszeitpunkt angeeignet haben sollten.20 Das konkrete historische Wissen der Schüler*innen – das durchaus von den Vorgaben der Lehrpläne abweichen kann – wurde in der zweiten Erhebungsphase (Q2) erfasst. Insgesamt wurden im Zuge der quantitativen Befragung (Q1) 216 Schüler*innen (nPilot= 92 und nHE= 124) befragt. Die qualitative Befragung der (Q2) umfasste in der Pilotphase zwölf Proband*innen.21 In der Haupterhebung (Q2) wurden 15 Jugendliche qualitativ befragt. Hierbei ist die Anzahl der Schüler*innen in der Vergleichsgruppe (nSuS o. MH= 49) deutlich höher als die in der Untersuchungsgruppe (nSuS 3. Gen. tr. MH= 28). Eine gezieltere Auswahl autochthoner Schüler*innen zum Zwecke einer gleichmäßigeren Verteilung der Proband*innen hätte eine unsachgemäße Beeinflussung der Ergebnisse bedeutet, da es keine ergebnisneutralen Kriterien zur Begrenzung der Anzahl der Schüler*innen gab.

19 | Die Einsichtsfähigkeit von Jugendlichen ist nicht mit einer Geschäftsfähigkeit von Jugendlichen gleichzusetzen, die an eine Altersgrenze gebunden ist. Maßgeblich für die Einsichtsfähigkeit ist, ob Minderjährige in der Lage sind, die Konsequenzen der Verwendung ihrer Daten zu übersehen und entsprechend dazu Stellung zu nehmen. Dies wurde wiederholt sichergestellt. Dennoch wurde zusätzlich das Einverständnis der Erziehungsberechtigten eingeholt, indem diese zunächst über das Studienprojekt und die Befragung informiert wurden und anschließend um ihre schriftliche Zustimmung gebeten wurden. Schulleitung und Fachlehrer*innen wurden ebenfalls über die Studie und das Ziel sowie die Verwendung der Daten aufgeklärt. Sämtliche Schüler*innen wurden darauf hingewiesen, dass ihre Daten anonymisiert und die Videografien lediglich zu Auswertungszwecken verwendet werden. Zudem wurden die Jugendlichen darauf hingewiesen, dass die Teilnahme freiwillig ist. 20 | Im Einzelnen handelt es sich um die Kernlehrpläne für Gymnasien (Geschichte) für Realschulen (Geschichte) sowie für Hauptschulen (Gesellschaftslehre) in NordrheinWestfalen. Siehe dazu Anm. 1, Kapitel 2. 21 | Die Daten der qualitativen Befragung liegen leider nicht vor. Aufgrund eines technischen Defekts wurde das Gespräch nicht aufgezeichnet und konnte daher nicht transkribiert werden.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Abbildung 6: Quantitative Verteilung, Schüler*innen Der Anteil nicht-autochthoner Schüler*innen beträgt an der untersuchten Hauptschule 93,8  Prozent, an der Realschule 78,3  Prozent und am Gymnasium 38,7 Prozent (Abbildung 6). Diese Zahlen weisen auf einen starken Unterschied zwischen den verschiedenen Schulformen hin. Es handelt sich um Spitzenwerte, die weit über dem bundesdeutschen sowie dem Kölner Durchschnitt liegen.22 An der Realschule gehören drei Viertel der Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation an, an der Hauptschule ist es gut die Hälfte. Diese Zahlen deuten an, dass Schüler*innen der dritten Generation über einen besseren Bildungszugang verfügen und entsprechend stärker integriert sind. Aufgrund der geringen Stichprobengröße sind diese Werte jedoch nicht generalisierbar.23

22 | Vgl. dazu: Bundeszentrale für politische Bildung: Datenreport, Tabelle 4c, S. 56; Daten des Mikrozensus und Jugend-Migrationsreport: Schulische und Außerschulische Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, S. 21. 23 | Mehrthemenbefragung Zf TI, 2015, S. 23; »Als Erklärung für das geringe Bildungsniveau von Zuwanderern auch in der Nachfolgegeneration wird häufig die Bildungsferne und der geringe soziale Status der Eltern genannt, die ihr insgesamt geringes […] Bildungsniveau an ihre Kinder ›vererben‹, […] Allerdings erreichen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund häufiger als Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund ein höheres Bildungsniveau als die Eltern.« Vgl. dazu Diefenbach Bildungschancen und Bildungs(-miss-)erfolg von ausländischen Schülern aus Migrantenfamilien im System schulischer Bildung; OECD 2005; Bundesministerium für Bildung und Forschung 2005; Konsortium Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland; Stanat: Heranwachsende mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungswesen.

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Insgesamt besitzen 60,5  Prozent aller Befragten einen Migrationshintergrund. Bei 31,5  Prozent aller Befragten ist dieser türkeibezogenen, bei 29,0 Prozent ein anderer. 22,6 Prozent aller Befragten sind Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Diese Werte liegen weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt (s.o.). Zum Vergleich: Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung unter 18 Jahren liegt in Köln bei durchschnittlich 49,7 Prozent, in den Stadtteilen Mülheim und Deutz sind es 71,1 Prozent bzw. 44,4 Prozent. Die meisten unter 18-Jährigen mit Migrationshintergrund gehören der dritten Generation an. Allerdings wird diese Generation weder im Mikrozensus noch in den Stadtteilinformationen der Stadt Köln explizit erhoben.24 Sie sind keine marginale Gruppe, sondern eine gesellschaftliche relevante Größe. Bedenkt man, dass Schüler*innen mit dem mittleren Schulabschluss nach der zehnten Jahrgangsstufe zukünftige Arbeitnehmer*innen und Steuerzahler*innen sind, gewinnt die Forderung nach einer expliziten Analyse der generationellen Zugehörigkeit auch ökonomische Bedeutung.

4.4 M e thodisches V orgehen der empirischen E rhebun g Die empirische Untersuchung besteht aus einem quantitativen und einem qualitativen Teil (Mixed-Methods-Verfahren) und wurde in mehreren Erhebungsphasen durchgeführt. Der Haupterhebung gingen zwei Pilotphasen (Pilot 1 und Pilot 2) voraus, die einem Test sowie einer Modifikation des methodischen Vorgehens sowie der Testinstrumente dienten. Im Folgenden skizziere ich die Pilotphasen, bevor ich die quantitative Erhebung (Q1) sowie die qualitative Erhebung (Q2) darstelle.

4.4.1 Pilotierung In der ersten Pilotphase (Pilot 1) wurden an einer Realschule 21 Schüler*innen quantitativ sowie vier Proband*innen qualitativ befragt. Dabei handelte es sich um zwei Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (SuS 3. Gen. tr. MH), einer Schülerin mit einem anderen 24 | »Mikrozensus 2013, S. 6-7: »Wird darauf verzichtet, die Bevölkerung mit Migrationshintergrund vollständig nach der Generationenfolge gegliedert nachzuweisen. Stattdessen wird lediglich zwischen Zuwanderern (1. Generation) und in Deutschland Geborenen (2. Generation und mehr) unterschieden. Dies geschieht, weil von den insgesamt 5,4 Mio. in Deutschland Geborenen mehr als 10 Prozent nicht eindeutig entweder der zweiten oder der dritten Generation zugeordnet werden können.«

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Migrationshintergrund (S a. MH w.) sowie einem Schüler ohne Migrationshintergrund (S o. MH). Alle vier Jugendlichen nahmen an einer gemeinsamen Gruppendiskussion sowie an Einzelinterviews teil. Drei der vier Schüler*innen waren bereit, an einer zusätzlichen schriftlichen Einzelbefragung teilzunehmen.25 Die Ergebnisse der Pilotphase 1 zeigten, dass der Fragebogen sowie der Wissenstest der quantitativen Befragung zu umfangreich waren. Die Jugendlichen benötigten zur Beantwortung durchschnittlich 45 Minuten, verloren aber bereits nach 25 Minuten das Interesse an der Mitarbeit. Zudem traten bei einzelnen Fragen sprachliche Verständnisschwierigkeiten auf. Als Konsequenz habe ich den Fragenkatalog auf eine Bearbeitungszeit von etwa 20 Minuten gekürzt sowie missverständliche Formulierungen überarbeitet. Bei der Gruppendiskussion, in denen den Schüler*innen sieben Bilder und Darstellungen zum Kommentieren vorgelegt wurden, stellte sich heraus, dass diese den Befragten teilweise nicht bekannt waren.26 In der Folge habe ich in der zweiten Pilotphase mehrheitlich neues Material verwendet.27 Ein weiteres Problem war der psychologische Effekt der schriftlichen Einzelbefragung. Die Probanden*innen fühlten sich einer Testsituation ausgesetzt und wurden dadurch verunsichert. Sie zeigten deutliche Bemühungen, sozial erwünschte Antworten zu liefern, was sich u.a. an Nachfragen zeigte, ob ihre jeweiligen Antworten »gut« oder »richtig« seien. In den Einzelinterviews zeigten sich vergleichbare Reaktionen. Daher habe ich mich in den folgenden Erhebungsphasen verstärkt um die Schaffung einer vertrauensvollen und wertfreien Atmosphäre bemüht. Einige der befragten Schüler*innen hatten deutliche Probleme, längere oder komplexere Aussagen zu formulieren.28 Für die zweite Pilotphase habe ich die Erhebungsinstrumente für die quantitative und qualitative Befragung aufgrund der Erfahrungen aus Pilot 1 überarbeitet: Der Fragebogen wurde gekürzt und einige Frageformulierungen geändert. Der allgemeine Wissenstest wurde auf insgesamt 20 Fragen gekürzt und überarbeitet. In der schriftlichen 25 | Zu dieser schriftlichen Einzelbefragung gehörte das Verfassen eines Kurzessays. Eine Probandin sah sich hierzu nicht in der Lage. 26 | Bild 1: Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal von Versailles; Bild 2: NS-Boykott jüdischer Geschäfte; Bild 3: Ankunft von Gastarbeitern; Bild 4: Der millionste VW-Käfer rollt; Bild 5: Fatih Mehmet II erobert Konstantinopel; Bild 6: Büste Friedrich I Barbarossa; Bild 7: Portrait Mustafa Kemal Atatürk. 27 | Bild 1: Romulus und Remus werden von einer Wölfin gestillt; Bild 2: Büste Friedrich I Barbarossa; Bild 3: Fes (osmanische Kopfbedeckung); Bild 3a: Fatih Mehmet II; Bild 4: La Liberté; Bild 5: Ankunft von Gastarbeitern; Bild 6: NS-Boykott jüdischer Geschäfte; Bild 7: Kriegsende in Berlin: Bild 8: Portrait Mustafa Kemal Atatürk; Bild 9: Konrad Adenauer; Bild 10: Mauer am Brandenburger Tor, Silvester 1989. 28 | Bortz/Döring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 316f.

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Einzelbefragung wurden die Befragten gebeten, dem subjektiv als relevant erachtetem Bild eine Überschrift zu geben und ihre Auswahl persönlich und historisch zu begründen. Dieses Vorgehen war ein Ergebnis aus den Beobachtungen der Pilotierungsphasen, um gruppendynamische Prozesse gezielt aufzubrechen. Sowohl in der Pilotierung 1 und 2 als auch in der Haupterhebung (HE) zeigte sich, dass dominante Diskussionsteilnehmer*innen aufgrund ihres Auftretens die Gruppendynamik und damit das Argumentationsverhalten erheblich beeinflussten. Auffällig war, dass sich Schülerinnen im Vergleich zu Schülern zumeist zurückhaltend verhielten. Anstelle von offenen narrativen Einzelinterviews wurden nun leitfadengestützte Interviews geführt, die sich sanft leiten ließen und eine Systematisierung der Interviewverläufe ermöglichten. In der ersten Pilotphase zeigte sich, dass diese Variante die Proband*innen häufig verunsicherte oder gar überforderte. Neben sprachlichen Schwierigkeiten hatten einige Schüler*innen Probleme, ohne leitende Zwischenfragen frei zu referieren. Zudem war häufig das Bedürfnis zu spüren sozial erwünschte Antworten zu geben. Mit der Veränderung der Interviewmethode nach der ersten Pilotphase konnten die genannten Probleme überwunden werden.29 Zusätzlich wurde vorab von allen Schüler*innen jeweils ein Profil erstellt, das als Grundlage für das Interview genutzt wurde. In der zweiten Pilotphase wurden 71 Realschüler*innen quantitativ und acht Schüler*innen qualitativ befragt. Indem ich mein Interesse an der Sichtweise der Schüler*innen bekundete, gelang es mir, eine vertrauensvolle und ungezwungene Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Dies förderte die Bereitschaft der Befragten, offen zu antworten, auch wenn ihre Positionen nicht dem Common Sense entsprachen. Insgesamt hat sich die Überarbeitung der Erhebungsinstrumente in der zweiten Pilotphase bewährt, so dass diese unverändert in der Haupterhebung verwendet wurden.

4.4.2 Quantitative Erhebung – Q1 An der quantitativen Erhebungsphase der Haupterhebung (Q1) nahmen Schüler*innen jeweils einer Klasse oder Kursgruppe von drei verschiedenen Schulen freiwillig teil. Das waren insgesamt 124 Schüler*innen.30 Die quan29 | Hopf: Norm und Interpretation. 30 | Ebd., S. 253-262; Kromrey: Empirische Sozialforschung; Porst: Fragebogen, S. 16; Herfter/Brock: Der Fragebogen, S. 263. An Realschule und Gymnasium wurde der Fragebogen von sämtlichen Schüler*innen ausgefüllt. An der Hauptschule nahmen nur 16 von 25 Jugendlichen teil. Die Bereitschaft zur Teilnahme an der qualitativen Befragung war geringer. An der Hauptschule waren nur drei Jugendliche bereit, an der Realschule zehn und am Gymnasium ebenfalls zehn.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

titative Befragung bestand aus einem Fragebogen und einem Wissenstest. Der anonymisierte Fragebogen erhob zunächst sozio-demografische Daten der Proband*innen sowie ihre familiären und biografischen Hintergründe. Anschließend fragte er theoretisch fundierte Integrationsindikatoren – (Ak-) Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation – ab. Der Test zum allgemeinen historischen Wissen31 beinhaltete Fragen vom Zeitraum der Antike bis in die Zeitgeschichte Europas, Deutschlands und der Türkei. Neun Fragen wurden dem Einbürgerungstest entnommen.32 Der abschließende Teil der schriftlichen Befragung beinhaltete Fragen zum Geschichtsunterricht, zum individuellen Interesse der Schüler*innen an Geschichte sowie zu den politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen der Schüler*innen. Nach Ausfüllen des Fragebogens erhielten sämtliche Proband*innen die Gelegenheit, diesen zu kommentieren.33

4.4.3 Qualitative Erhebung – Q2 Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund und Jugendliche ohne Migrationshintergrund wurden gefragt, ob sie zusätzlich an einer qualitativen Erhebung teilnehmen möchten. Insgesamt wurden an den drei Schulformen vier Gruppendiskussionen (nGF=4), 15 schriftliche Einzelbefragungen (nEF=15) sowie 15 Einzelinterviews (nIF=15) durchgeführt.

4.4.3.1 Gruppenbefragung/Gruppendiskussion – Q2GF Die Gruppendiskussion ist eine Form der qualitativen Gruppenbefragung.34 Sie zeichnet sich durch eine strukturierte und moderierte Diskussion innerhalb einer Gruppe von Diskutant*innen aus, die sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen.35 Die in einer Gruppendiskussion gewonnenen Ergebnisse können zur Theoriebildung sowie zur Bildung oder Überprüfung von 31 | Siehe dazu Kühberger: Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage für das historische Lernen; von Borries: Historische Kenntnisse – historische Kategorien – historische Kompetenzen? 32 | Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Einbürgerungstest. 33 | Dazu Scholl: Die Befragung, S. 162. 34 | Bortz/Döring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 319: »Varianten qualitativer Gruppenbefragungen: Brainstorming, Feldbefragung, ethnografische Befragung, Gruppendiskussionen, Gruppeninterview und Moderationsmethode.«; siehe auch Mangold: Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens; Ders.: Gruppendiskussion; Bohnsack: Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung; Lamnek: Gruppendiskussion. 35 | Bortz/Döring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 320; Lamnek: Qualitative Sozialforschung, S. 131, 320, 146.

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Hypothesen dienen. Die aktive Teilnahme der Proband*innen ist eine Grundvoraussetzung des Gruppendiskussionsverfahrens. Dabei gilt es die Überzeugungsstärke sowie das dominante Auftreten einzelner Teilnehmer*innen zu antizipieren und diesen entsprechend zu begegnen. Sowohl die Inhalte als auch die Gruppendynamik müssen in die Analyse von Gruppendiskussionen miteinbezogen werden. Eine Unterlassung kann zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Ergänzende Einzelbefragungen bieten hier eine gewinnbringende Möglichkeit, gruppendynamische Prozesse gezielt aufzubrechen und zu hinterfragen. Die Diskussionsgruppen setzten sich aus jeweils zwei Mädchen und zwei Jungen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (dritte Generation) oder autochthonem familiären Hintergrund zusammen.36 Auf diese Weise konnten vier gleich strukturierte Gruppen befragt werden. Nach einer Vorstellungsrunde und einer kurzen Erläuterung des Forschungsvorhabens wurden den Befragten zehn Abbildungen vorgelegt. Diese zeigten unterschiedliche historische Ereignisse und Personen, ähnlich wie im Wissenstest in Q1 von der Antike bis zur Zeitgeschichte Europas, Deutschlands oder der Türkei. Der Diskussionsgruppe wurde die Aufgabe gestellt, aus den zehn Abbildungen diejenige auszuwählen,37 der sie persönlich die höchste historische Relevanz beimessen. Wichen die persönlichen Präferenzen innerhalb der Gruppe voneinander ab, sollten die Teilnehmer*innen sich mithilfe von Argumenten sowie einer konstruktiven Diskussion auf ein Bild einigen. Die Gruppendiskussion wurde mit dem Einverständnis der Teilnehmer*innen für spätere Analysen videografiert.38

4.4.3.2 Schriftliche Einzelbefragung — Q2EF Mit ausgewählten Teilnehmer*innen der Gruppendiskussionen wurden zusätzlich schriftliche Einzelbefragungen (Q2EF) zum selben Thema durchgeführt. Dabei wurden die Schüler*innen gebeten, der von ihnen priorisierten Abbildung einen Titel zu geben. Diese Einzelbefragung sollte es allen Schü36 | Gruppenzusammensetzung: 1 S o. MH w., 1 S o. MH m., 1 S 3. Gen. tr. MH w., 1 S 3. Gen. tr. MH m. 37 | Siehe Anm. 98. 38 | Sämtliche Schüler*innen beteiligten sich an der Studie nur unter der Bedingung, dass die Videoaufzeichnung keiner anderen Person außer mir zugänglich sein dürfe. Einige Schülerinnen stellten zusätzlich die Bedingung, dass sie nicht im Bild zu sehen seien und im Video nur ihre Stimmen zu hören seien. Zudem musste ich den Proband*innen zusichern, dass die Videoaufzeichnungen ausschließlich zur Transkription genutzt werden. Auffällig ist aus meiner Sicht, dass die Sensibilität im Umgang mit den Videodaten bei sämtlichen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund an allen Schulformen zum Ausdruck kam.

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ler*innen, unabhängig von der Gruppendynamik ermöglichen, ihre persönliche Sichtweise darzulegen und sich gegebenenfalls abweichend von der Gruppenmeinung für eine andere Abbildung zu entscheiden. Neben einem Titel sollten die Schüler*innen auch die historische Relevanz des ausgewählten Bildes (EF) aus ihrer Sicht in einem Kurzessay schriftlich begründen. Ein erheblicher Teil der Jugendlichen wählte dabei jenes Bild aus, das sie jeweils in der Gruppendiskussion präferiert hatten, welches sich aber in der Diskussion nicht hatte durchsetzen können.

4.4.3.3 Leitfadengestütztes narratives Inter view — Q2IF Leitfadeninterviews bieten als eine der geläufigsten Varianten der qualitativen Einzelbefragung die Möglichkeit einer strukturierten aber zugleich nicht standardisierten Erhebung an.39 Zur Offenheit der ausgewählten Interviewmethode gehört die Einbeziehung von Eindrücken und Beobachtungen während der Befragung. Diese Darstellung versucht den häufig spontanen Charakter leitfadengestützter Befragungen wiederzugeben.40 Maßgeblich für die Konzeption der leitfadengestützten narrativen Interviews waren die Erfahrungen aus den beiden Pilotphasen (siehe Abschnitt 4.4.1). Die Einzelinterviews gliederten sich in zwei Abschnitte. Im ersten Teil habe ich mich vor allem um eine vertrauensvolle Gesprächssituation bemüht. Ich habe den Schüler*innen erneut die Anonymität der erhobenen Daten zugesichert und ihnen erläutert, dass es sich nicht um einen (notenrelevanten) Test handelt und dass keine Lehrkraft jemals Einblick in die Interviewskripte oder Fragebögen erhalten werde. Um die Proband*innen zur Äußerung ihrer persönlichen Meinung anzuregen, habe ich mein Interesse an diesen bekundet und mich dabei auf die jeweiligen Antworten der Schüler*innen in der quantitativen Erhebung bezogen. Dieses wirkte sich hochgradig motivierend aus. Die Schüler*innen zeigten großes Interesse an der Studie sowie ihren Fragestellungen und reagierten offen. Der vorherige Eindruck einer Prüfungssituation löste sich weitgehend auf. Bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wirkte deren Annahme, dass ich aufgrund meines Familiennamens selbst einen türkeibezogenen Migrationshintergrund und da39 | So können einerseits unterschiedliche Erhebungen miteinander verglichen werden und andererseits individuelle Interessen und Schwerpunktsetzungen der Befragten berücksichtigt werden. Sogenannte halb-offene leitfadengestützte Interviews bieten darüber hinaus die Möglichkeit, in der Interviewsituation neue Fragen zu stellen, Unbeantwortetes herauszufiltern oder gegebenenfalls Lücken zu füllen. Während halb-offene Interviews den flexiblen Einsatz eines Fragenkatalogs gestatten, versucht ein offenes narratives Interview, durch einen Erzählanstoß einen Impuls für Stehgreiferzählungen zu geben diese anzuregen. Vgl. Schütze: Biographieforschung und narratives Interview. 40 | Vgl. dazu Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 315.

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durch ein quasi natürliches Verständnis für sie habe, für die Gesprächsatmosphäre zusätzlich positiv. Es gelang mir, die Einstellungen der Schüler*innen zu Geschichte und Integration, ihren Umgang mit Geschichte und Integration sowie eine Darlegung ihrer eigenen Identitätskonzepte zu erheben. Die Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wirkten dabei vergleichsweise interessierter als ihre autochthonen Mitschüler*innen. Ich hatte den Eindruck, dass sie das Interview als Chance betrachteten, ihre individuelle Sichtweise zu artikulieren und gehört zu werden. Dieser subjektive Eindruck verstärkte meine Annahme, mit meinen Fragen ein grundlegendes und bislang unbefriedigtes Orientierungsbedürfnis angesprochen zu haben.

4.5 O per ationalisierun g 4.5.1 Fragebogen Wie bereits im Kapitel 2 dargelegt, stehen Personen mit Migrationshintergrund im öffentlichen Diskurs um Integration, Identität und Einwanderungsgesellschaft häufig im Zentrum des Interesses. Vielfach werden hier vornehmlich emotionale Aspekte von Integration diskutiert. Studien zur Integration beschäftigen sich hingegen auch mit den kognitiven, strukturellen und gesellschaftlichen Dimensionen der Integration. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise kann mitunter zu kommunikativen Dissonanzen führen. Während die wissenschaftliche Forschung an einem facettenreichen Gesamteindruck des Phänomens Integration interessiert ist, nehmen Akteur*innen in gesellschaftlich-politischen Debatten meist eine normativ-kulturalistische Perspektive ein. So wird in Korrespondenz mit den klassischen Assimilationstheorien der Chicagoer Schule vor allem eine Anpassung der Zugewanderten an die vermeintliche Normgesellschaft erwartet.41 Dieses einseitige Verständnis von Integration und damit verbundene Assimilationserwartungen suggerieren mitunter, dass die Werte, Denk- und Lebensweisen von Eingewanderten, insbesondere jener mit türkeibezogenem Hintergrund, sich konträr zu den Werten einer imaginierten deutschen Normgesellschaft verhielten.42 Die 41 | Gordon: Assimilation in American Life; Park/Burgess: Introduction to the Science of Sociology; Park: The Nature of Race Relations. |  Hierzu Karakalı: Paranoic Integrationism; Ronnenberger/Tsianos: Panische 42  Räume. Das Ghetto und die »Parallelgesellschaft«, S. 142. Zur Diskussion um den Integrationsbegriff siehe auch: Schiffauer: Parallelgesellschaften, S. 10f. Bereits in der klassischen Assimilationstheorie wurde erwähnt, dass es auch zu einer Stärkung herkunftskultureller Werte kommen kann, so Bogardus: A Race-Relations-Cycle, oder im Besonderen Hansen: The Problems of the Third Generation of Immigrants.

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Ursache für ein solch einseitiges Integrationsverständnis ist eine Vorstellung von Gesellschaft als einer ethnischen Entität, die eindeutig definierbar und für alle Mitglieder in gleicher Weise maßgeblich sei.43 Folglich wird die Verantwortung für eine gelungene Integration einseitig den Migrant*innen zugeschrieben. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Integration verschwinden dadurch aus dem Blick. Im wissenschaftlich-theoretischen Diskurs wird Integration als Prozess der Aushandlung von Teilhabebedingungen in der Aufnahmegesellschaft angesehen.44 Eine kulturelle Assimilation ist demnach nur möglich, wenn sich die Aufnahmegesellschaft entsprechend sozial öffnet und die ethnische Zugehörigkeit nicht per se den sozialen Status bestimmt. Hierfür ist erforderlich, dass die Aufnahmegesellschaft bereit ist, die Teilhabe von Migrant*innen zu fördern oder zumindest zu gewähren. Dazu gehört die Bereitschaft, ein Verständnis von Integration als wechselseitigem Prozess zu entwickeln. Während die strukturelle Assimilation primär durch eine Übernahme der Werte der Aufnahmegesellschaft seitens der Eingewanderten bestimmt zu sein scheint, sehen klassische Assimilationstheorien hier einen linearen und generationellen Entwicklungsprozess der Einwanderungsgesellschaft. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass es verschiedene gesellschaftliche Bereiche gibt, die für die Integration relevant sind (Abbildung 2).45 Nach Esser gehören dazu vier Dimensionen: Erstens die (Ak-)Kulturation, also die kognitive Integration, mit den Indikatoren Sprache, Wissen und Bildung sowie mit der Kenntnis von Werten und der Beherrschung von Fertigkeiten sowie der Ausbildung von (Human-)Kapital46. Zweitens die Platzierung als strukturelle Integration mit den Indikatoren berufliche Stellung, Einkommen und soziale 43 | Diese Annahme baut auf gleich zwei Fehlschlüssen auf: Zum einen auf der Annahme, dass die Aufnahmegesellschaft kulturell homogen sei und sich national definieren ließe und zum anderen auf der Annahme, dass Personen, die sich integrieren wollen bzw. integriert werden sollen, aus einer gewissermaßen unterlegenen homogenen Gesellschaft stammten. Dazu Alba/Nee: Remaking the American Mainstream. Die Verbreitung dieser Sichtweise zeigt sich unter anderem an den immer wieder auflebenden Diskussionen über eine deutsche oder europäische Leitkultur. Dazu Schiffauer: Parallelgesellschaften, S. 11; Hess/Moser: Jenseits der Integration. Siehe auch Nieden: »… und Deutsch ist wichtig für die Sicherheit!«, S. 126. 44 | Berry: Immigration, Acculturation, and Adaption; Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 8; Ders.: Soziologie, S. 287; Bade/Bommes: Einleitung. IMIS-Beiträge 23 (2004). 45 | Filsinger: Bedingungen erfolgreicher Integration, S. 8; Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, S. 27. 46 | Humankapital wird als Arbeitsbegriff im Verständnis des Integrationsmodells von Esser genutzt und nicht im Sinne der Humankapitaltheorie der Volkswirtschaftslehre.

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Akzeptanz. Hier geht es um die Besetzung von Schlüsselpositionen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen sowie um die Akkumulation ökonomischen Kapitals. Drittens geht es um die Interaktion als gesellschaftliche Integration mit den Indikatoren interethnische Kontakte und Beziehungen, Netzwerke, gesellschaftliche Einbindung sowie um die Bildung sozialen Kapitals. Viertens ist die Identifikation als emotionale Integration von Bedeutung. Hier sind die Indikatoren das Zugehörigkeitsgefühl und die Verinnerlichung von gesellschaftlichen Werten.47 Die Operationalisierung der vier Dimensionen der sozialen Integration wird beispielsweise im Rahmen der bereits vorgestellten, jährlichen Mehrthemenbefragung des Zf TI durchgeführt. Seit 2001 beinhaltet die Studie einen Standardteil mit telefonischen Befragungen von etwa 1.000 Personen über 18 Jahren mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Bei der Mehrthemenbefragung handelt es sich um ein erprobtes Instrument der quantitativen Erhebung von Integrationsindikatoren. Die Fragebögen der Zf TI-Studie dienten mir daher als Ausgangspunkt für die Operationalisierung meiner Fragestellung.48 Für meine Befragung von Schüler*innen musste ich die Fragen sprachlich anpassen. Die Differenzierung der Bevölkerung mit türkeibezogenem Migrationshintergrund kann einerseits nach generationeller Zugehörigkeit und andererseits aber auch nach der Konstellation unterschiedlicher Generationen innerhalb von Familien erfolgen. So können beide Elternteile in Deutschland geboren sein und der zweiten Generation angehören. Oder ein Elternteil ist in Deutschland geboren und gehört der zweiten Generation an, der andere Elternteil ist jedoch selbst zugewandert oder hat keinen Migrationshintergrund. Meine Überlegung, die generationelle Zugehörigkeit der Befragten zu erfassen, ist ein Versuch, die hier angedeutete Komplexität von Familienkonstellationen zu operationalisieren. Da bisher nur wenige Studien über die dritte Generation von Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vorliegen, war mein Ziel, meine Befragung so zu konzipieren, dass ein Vergleich der von mir erhobenen Daten mit jenen der Mehrthemenbefragung möglich ist. Im Folgenden stelle ich dar, wie die unterschiedlichen Dimensionen von Integration operationalisiert wurden und wie der Fragebogen strukturiert ist. 47 | Esser: Soziologie, S. 271-275. 48 | Partizipation und Engagement türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der elften Mehrthemenbefragung 2010; Integrationsprozesse türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der zwölften Mehrthemenbefragung 2011; Einbürgerungsverhalten türkeistämmiger Migranten in Nordrhein-Westfalen. Ergebnisse der dreizehnten Mehrthemenbefragung 2012; Mehrthemenbefragung 2013. Eine Differenzierung nach generationeller Zugehörigkeit erfolgte erstmals in der Mehrthemenbefragung 2013, S. 18.

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Im ersten Abschnitt des Fragebogens werden demografische Merkmale erhoben (Items a1 bis a8). Dazu gehört die Frage nach dem Geschlecht der Befragten, da in der Auswertung explizit ein Vergleich zwischen Schülern und Schülerinnen angestrebt war. Die Altersangabe diente zur Kontrolle. So hätten Befragte, die nicht den Kriterien des Samples entsprechen, ausgeschlossen werden können. Diesen Fall gab es jedoch nicht.49 Die Erhebung des Geburtslandes liefert einen ersten Anhaltspunkt für den Migrationshintergrund sowie die Generationszugehörigkeit. Die Frage nach der Anzahl der Geschwister sollte einen Einblick in die innerfamiliäre Struktur geben und war zugleich ein Anknüpfungspunkt für die Interviewphase. Aus den Angaben zum Geburtsland der Eltern konnte ein möglicher Migrationshintergrund erkannt werden. Der anschließende Itemblock (a9 und a10) zielte auf die Erhebung religiöser Merkmale und erfragte das religiöse Zugehörigkeitsempfinden sowie die alltägliche Bedeutung von Religion für die Befragten. Die Idee für diese Fragen rührt zum einen aus öffentlichen medialen Debatten und zum anderen aus Studien wie Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, die die Integration junger religiöser Muslime untersuchen.50 Bereits die Studie Youth and History untersuchte die Relation zwischen Religiosität und Geschichtsbewusstsein.51 Von Borries schrieb darin der Religionsbindung eine Schlüsselbedeutung zu.52 Die Religionsbindung bildete seiner Meinung nach auf aussagekräftige Weise gesellschaftliche Zustände ab.53 Von Borries sah einen Zusammenhang zwischen der »allgemeine[n] Motivation für Geschichte« und der Religionsbindung.54 Des Weiteren korreliere die Religiosität mit »Politikinteresse« und

49 | Ob eine Probandin oder ein Proband eine Klassenstufe wiederholen musste, konnte erhoben werden. Die Altersangaben lassen jedoch darauf schließen, dass vor allem die in der zweiten Erhebungsphase (Q2) befragten Jugendlichen keine Klassenstufe wiederholt haben. 50 | Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. 51 | Lebenswelten junger Muslime in Deutschland; Angvik/von Borries: Youth and History; siehe dazu Hasberg: Über den möglichen Nutzen des Fliegenbeinzählens; Ders.: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, Bd. 2, S. 142ff. 52 | Von Borries: Jugend und Geschichte, S. 290. 53 | Ebd.: »Nur die ›Religionsbindung‹ der Lernenden dürfte für eine ganze Reihe von Konstrukten eine vergleichbare Erklärungskraft wie das Bruttosozialprodukt entfalten. Sie ist als Sozialdatum selbstständig erhoben worden, sodaß sie mit keinem anderen Konstrukt analytisch abhängig ist, und geht sehr eng mit der Religionsbindung der Lernenden einher (r Länderebene = .62), sodaß sie als verlässliche Anbindung gesellschaftlicher Zustände genommen werden kann.« 54 | Ebd.

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der Geschichtsnote.55 Die Items a9 und a10 geben daher auch einen Einblick in den Umgang mit Geschichte und Geschichtswissen innerhalb der Familien. Im nächsten Abschnitt (a11 bis a24) wurden Indikatoren der kognitiven Integration erhoben. Diese beleuchten sowohl den familiären Bildungshintergrund als auch den sprachlichen, familiären Hintergrund. Die Items a12 und a13 ermittelten den schulischen Bildungshintergrund der Eltern, so dass eine Unterscheidung zwischen Bildungsinländern und ausländern möglich war. Folgende Bildungsabschlüsse aus der Türkei wurden als Antwortoptionen aufgeführt: İlkokul (entspricht der Elementary School oder École Élémentaire), Ortaokul (entspricht der Junior Highschool oder dem Collège) und Lise (entspricht der Senior Highschool oder dem Lycée). Diese Ausdifferenzierung sollte einen dezidierten Einblick in den familiären Bildungshintergrund liefern. In den 1950er und 1960er Jahren bestand lediglich eine allgemeine Schulpflicht von vier Jahren (İlkokul). Bei vielen türkischen Arbeitsmigrant*innen (Gastarbeiter*innen) kann grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden, dass diese die Minimalanforderungen der Grundschulbildung erfüllt haben. Die Items a13 und a14 erhoben daher zusätzlich die Schulbildung der Großeltern. Die Erfassung der Berufsausbildung der Eltern (a15 und a16) ist aufschlussreich hinsichtlich des beschriebenen Bildungshintergrunds, des Migrationshintergrunds sowie mit Blick auf einen Vergleich der Schüler*innen unterschiedlicher Schulformen. Die Frage nach den deutschen Sprachkenntnissen der Eltern zielte auf einen Vergleich des Migrationshintergrunds und der Schulbildung. Die Items a20 bis a22 erfragten die jüngsten Zeugnisnoten in den Fächern Deutsch, Geschichte und Mathematik. Für das Fach Geschichte gaben die Proband*innen überwiegend die Note »gut« an. Zu vermuten ist daher, dass die Geschichtsnote (Nebenfach) in der Regel positiv ausfällt.56 Die Items a23 und a24 erkundeten die Anzahl von Büchern im Haushalt der Befragten sowie die Anzahl der aus eigener Motivation gelesenen Bücher. An dieser Stelle hätte differenziert nach türkischen und deutschen Büchern gefragt werden können.57 Die Jugendlichen haben sie jedoch ausnahmslos auf deutsche Bücher bezogen. Kein einziger Jugendlicher erkundigte sich, welche Bücher gemeint seien. Die Abfrage vorhandener und gelesener türkischsprachiger Bücher hätte weitere Einblicke in die Lesekultur der Schüler*innen ermöglicht. Der folgende Abschnitt erhob Indikatoren der strukturellen Integration (a25 bis a30), speziell des sozio-geografischen und ökonomischen Hintergrunds. Die Frage nach den Erwerbstätigkeiten der Eltern sollte zudem Ein55 | Ebd. 56 | Um dieses Problem zu lösen, hätten Geschichtslehrer*innen hinsichtlich ihrer Notengebung dezidiert befragt werden müssen. 57 | Ebenso wenig wurde nach Buchgattungen gefragt.

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sichten in familiäre Strukturen und Rollenmodelle ermöglichen. Den Angaben zufolge sind überwiegend beide Elternteile berufstätig. Ein Abgleich mit der aktuellen Arbeitslosenstatistik lässt allerdings Zweifel an den Angaben der Befragten aufkommen. Es ist zu vermuten, dass das Antwortverhalten von sozialer Scham beeinflusst war. Im Vergleich zur Mehrthemenbefragung 2013 erscheinen die Angaben der Jugendlichen noch fragwürdiger. Aufgrund der beschriebenen Diskrepanz wurden diese Daten bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Im nächsten Itemblock wurden Indikatoren (a31 bis a33) der emotionalen Integration, genauer der Selbstverortung in der deutschen Gesellschaft erhoben. Dazu gehören Zugehörigkeit, Selbstbezeichnung und empfundene Heimat. Im folgenden Abschnitt wurden Indikatoren (a34 bis a39) der gesellschaftlichen Integration erhoben. Die Items a34 bis a36 sollen einen Hinweis auf die soziale Interaktion geben. Die Erkundigung nach Freund*innen bzw. dem besten Freund oder der besten Freundin soll das soziale Nahumfeld der Proband*innen offenlegen. Item a37 dient als Ergänzung, um sozialgeografische Einflüsse auf die Interaktionsmöglichkeiten zu erkunden. Die Frage, ob die Schüler*innen Mitglieder eines Vereins sind, soll zeigen, ob sich die Proband*innen auch außerhalb der Schule in einer institutionellen Gruppe oder einem institutionellen Gefüge befinden, die ihre sozialen Kontakte vermehren und weitere Interaktion ermöglichen. Der nächste Teilabschnitt (a40 bis a42) erhob die politische Partizipation sowie politische Einstellungen. Zu Beginn wurde das Interesse an deutscher und türkischer Politik erfragt. Hierdurch sollte erhoben werden, ob ein generelles Interesse an Politik besteht und wie stark dieses geäußert wird. Damit sollte festgestellt werden, ob sich das politische Interesse von dem der autochthonen Schüler*innen unterscheidet. Ein intensiveres Interesse an türkischer Politik trotz eines Lebensmittelpunktes in Deutschland könnte Einblicke in die emotionale Integration ermöglichen. Das Interesse an deutscher Politik könnte Auskunft über die emotionale Identifikation geben. Zugleich ist es als Ausdruck von Partizipationswillen und Interaktion zu verstehen. Die Frage nach Parteipräferenzen dient ausschließlich dem Vergleich innerhalb der Proband*innengruppe. Im letzten Block (a42 bis a47) wurde die mediale Integration erfragt. Hierfür wurde die Nutzung von Medien wie Fernsehen oder Zeitungen abgefragt. Die Unterscheidung zwischen deutschen und türkischen Informationsmedien dient der weiteren Erforschung der Interaktion, des politischen und gesellschaftlichen Interesses sowie des Einflusses von Medien auf den jeweiligen Umgang mit Geschichte und Integration. Die Frage nach einem Engagement in einer Organisation soll mögliche politische und gesellschaftliche Partizipationsräume erfragen oder politisches Interesse aufdecken.

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Der historische Wissenstest besteht aus zwei Teilen. Im ersten Abschnitt wurden zehn Fragen (b1 bis b10) zur deutschen Geschichte gestellt. Diese wurden ausnahmslos dem Einbürgerungstest entnommen. Dabei wurde angenommen, dass die Items die staatlich-institutionelle Auffassung von historischem Basiswissen widerspiegelt, das als Voraussetzung von Integration gilt. Die Auswahl der einzelnen Items erfolgte nach den inhaltlichen Vorgaben der Kernlehrpläne für Geschichte. Diese lieferten auch den Rahmen für den zweiten Teil des Geschichtstests, der aus weiteren Fragen zum historischen Allgemeinwissen besteht. Thematisch reichen diese von der Antike bis zur neueren Geschichte. Die Fragen des Wissenstests rekurrieren damit allesamt auf das Wissen, das die Schüler*innen der jeweiligen Altersstufe laut Lehrplan haben sollten. In einem weiteren Abschnitt (b21 bis b25) wurden Einstellungen zur Geschichte erhoben. Den Anfang machen Fragen nach dem persönlichen Interesse an Geschichte. Diesen folgen Items zur Erhebung der Einstellungen zum Geschichtsunterricht. Die Schüler*innen wurden gebeten, die Relevanz bzw. Irrelevanz des Geschichtsunterrichts aus ihrer Sicht zu erläutern. Daneben wurden die Jugendlichen auch nach ihrer Bewertung des Geschichtsunterrichts gefragt. Hier wurde ein Vergleich nach Geschlecht, Migrationshintergrund, Generationszugehörigkeit und Schulform angestrebt. Im nächsten Itemblock (b26 bis b29) wurden Indikatoren erhoben, die einen Einblick in den Umgang der Schüler*innen mit Geschichte geben sollen. In diesen Items wurde bereits ein Einblick in den familiären Umgang mit Geschichte ermittelt. Offene Fragen deckten hierbei Identifikationspunkte auf. Ebenfalls mittels einer offenen Frage wurde das jeweilige Wissen über die türkische Geschichte erhoben. Die genannten Begriffe und Schlagworte zeigen die im kommunikativen Gedächtnis der Schüler*innen präsenten Erinnerungsorte. Die Fragen b28 und b29 zielen auf die Erforschung der Quellen historischen Wissens ab. Der letzte Teilabschnitt (b30 bis b34) umfasst Items, die Einstellungen zur Integration in der Gesellschaft erfragen sollen. Die Items b30 und b31 sollen möglicherweise unterschiedliche Rollensysteme innerhalb der Familien transparent machen. Dieser Frage begegneten die Befragten jedoch mit erheblicher Ablehnung, vielfach wurde die Fragen nicht beantwortetet. Die Fragen b33 und b34 zielen auf Einschätzungen zur gesellschaftlichen Akzeptanz sowie zum Integrationsgrad der Befragten. Diese Fragen dienen dem Vergleich zwischen autochthonen und nicht-autochthonen Schüler*innen sowie innerhalb der Gruppe von Jugendlichen mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund.

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4.5.2 System kategorialer Inhaltsanalyse Zur Auswertung der qualitativen Daten wird die Methode der kategorialen Inhaltsanalyse angewandt. Hierbei wurden mittels einer systematischen methodischen Interpretation aus qualitativ erhobenen Daten (aus Gruppendiskussion, schriftlicher Einzelerhebung und Interview) Kategorien, Codes und Subcodes entwickelt. Dabei wurde das Datenmaterial stets im Kommunikationszusammenhang der gesamten Erhebung interpretiert. Eine voneinander losgelöste Analyse der verschiedenen Erhebungsschritte und -daten widerspräche dem ergänzenden Charakter der einzelnen Erhebungen. Deshalb wurde der Inhalt der Interviewtranskripte stets im Kontext des Gesamtinterviews interpretiert. Dies geschieht, um auf die spezifische Fragestellung der Studie hin zu konstruieren. Hierzu bedarf es einer Definition inhaltsanalytischer Einheiten wie Codiereinheit, Kontexteinheit und Auswertungseinheit.58 Bereits im Vorfeld muss entschieden werden, welches Material verwendet, welche Teile in die Auswertung einbezogen, welche Systematik und Reihenfolge eingehalten werden und welche Bedingungen für die Codierung gelten sollen. Bei einer induktiven Kategorienbildung werden die Analyseeinheiten möglichst offengehalten. Dafür ist es erforderlich, dass sie theoretisch begründet werden, wodurch die inhaltsanalytischen Einheiten ihre Definition erhalten. Mayring merkt hierzu an: »Das Kategoriensystem stellt ein zentrales Element der Analyse dar, […] dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die Kategorienkonstruktion und -begründung« gelegt.59 Es gibt hierzu verschiedene Ansätze. Im Sinne einer synthetischen Kategorienkonstruktion nach Mayring entstehen die Kategorien erst aus der Analyse heraus (Bottom-Up). Diese Vorgehensweise erschwert zwar die Nachvollziehbarkeit und Wiederholbarkeit des Vorgehens und kann einen negativen Einfluss auf die Reliabilität ausüben, dennoch ist dieses Vorgehen für einen explorativen Ansatz notwendig. Um die Anbindung an den Analysegegenstand zu sichern, müssen die Analyseverfahren an der konkreten Untersuchung modifiziert werden.60 Hierfür muss das Verfahren an einer Pilotstudie erprobt werden, um ein spezifisches Kategoriensystem für die Haupterhebung erstellen zu können. In der vorliegenden Studie wurde das Kategoriengerüst (Code-Baum) mithilfe der Analysesoftware MAXQDA entwickelt. Als Datengrundlage diente ein Interviewtranskript aus der Pilotphase 2. Um konzeptionelle Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, wurden zunächst deduktive, also auf den theoretischen Konzepten basierende Kategorien (Codes) definiert (z.B. Vorstellungen von Geschichte, Einstellungen zur Geschichte, Umgang mit 58 | Siehe dazu Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 49, 59. 59 | Ebd., S. 49. 60 | Ebd., S. 50.

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Geschichte und Umgang mit Integration). Dieses Ausgangsgerüst wurde später durch induktive, also aus dem Material abgeleitete Kategorien erweitert und der Code-Baum so nach und nach erweitert. Die entwickelten Kategorien wurden später in der Haupterhebung eingesetzt. Zur Erweiterung des Code-Baums wurden die Strukturierungsinstrumente Zusammenfassung, Explikation und eine enge wie auch eine weite Analyseeinheit (Codiereinheit, Kontexteinheit und Auswertungseinheit) angewandt. Dadurch konnten auch deduktive Kategorien genutzt werden. Insgesamt entstand das Kategoriensystem durch die gemeinsame Verwendung dreier Grundverfahren: Zusammenfassung, Explikation und Strukturierung.61 Als Codiereinheit wurde, mit einer Ausnahme, ein Haupt- oder Nebensatz festgelegt.62 Als Kontexteinheit wurden Dialoge definiert, die sich inhaltlich auf eine Fragestellung beziehen.63 Die Auswertung erfolgte sequenziell entsprechend dem Gesprächsverlauf. In die qualitative Inhaltsanalyse wurden die Transkripte der vier Gruppendiskussionen und der 15 leitfadengestützten Einzelinterviews sowie die 15 schriftlichen Einzelbefragungen einbezogen. Da die Analyse sich auf inhaltliche Aussagen, jedoch nicht auf Sprachformen, Pausen, Mimik oder Gestik fokussierte, wurden die geführten Interviews wortgetreu transkribiert. Einzig nonverbale Aussagen wie Nicken, Kopfschütteln oder Schulterzucken wurden in schriftlicher Form als »Ja«, »Nein« oder »Ich weiß nicht« transkribiert. Es wurden jeweils die gesamten Interviews in die Analyse einbezogen und nicht nur ausgewählte Sequenzen. Die Nachvollziehbarkeit der Analyse ist gerade vom Kontext der einzelnen Aussage abhängig. Der (Transkriptions-) Text ist als Teil der Kommunikation im Gesamtkontext zu betrachten, um eine Analyse eng am Material zu ermöglichen. Daher ist es wichtig, diesen in ein inhaltsanalytisches Kommunikationsmodell einzuordnen.64 61 | Ebd.; Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 332. 62 | Obwohl als kleinste Codiereinheit einzelne Schlagwörter oder Einwort-Aussagen nicht ausreichen, wurde in der Analyse der Selbst- und Fremdbezeichnung dessen ungeachtet nach Einwort-Aussagen codiert. Diese Ausnahme wurde vorgenommen, da es in diesen Codes Begriffe und Denominationen markiert werden, die stets im Kontext des gesamten Interviews verstanden werden. Eine Codiereinheit umfasst maximal die gesamte Unterhaltungssequenz, die sich als Dialog anschließen kann, oder mindestens sowohl die Fragestellung als auch die abschließende Antwort in mindestens einem Neben- oder Hauptsatz. 63 | Eine Kontexteinheit kann maximal einen thematischen Dialog umfassen, der zum Verständnis der Aussage nötig ist. 64 | Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 57 und S. 60. Mayring bezeichnet den ersten Schritt als Festlegung des Materials. Dies müsste jedoch Erhebung des Mate-

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4.5.3 Reliabilität Das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse weist viele Stärken auf, hat aber auch seine Grenzen. Um diese Grenzen zu erweitern, werden weitere Auswertungsmethoden integriert. Ein systematisches und regelhaftes Vorgehen ermöglicht es, große Datenmengen zu bearbeiten. Um eine möglichst große Reliabilität sowie ein möglichst systematisches und regelgeleitetes Vorgehen zu gewährleisten, habe ich bereits beim Entwurf des Analyseinstruments, aber auch bei der Ergebnissicherung durchgehend den Austausch mit Fachkolleg*innen gesucht. Die Resultate dieses Austauschs bestimmten den Prozess der qualitativen Inhaltsanalyse mit. Noch vor Beginn der Datenerhebung wurden die gewählten Erhebungsmethoden des MixedMethods-Verfahrens intersubjektiv reflektiert. Erst nach zwei Pilotphasen und einer grundlegenden Überarbeitung wurden die Erhebungsinstrumente in der Haupterhebung eingesetzt. In einem Workshop mit Expert*innen wurde das Kategoriengerüst der qualitativen Inhaltsanalyse auf ein Interviewtranskript aus der Pilotphase 2 angewandt und im Sinne der Intercoderreliabilität kritisch erörtert.65 Zu den wesentlichen Anmerkungen gehörte die Überkomplexität des ursprünglichen (deduktiven) Code-Baums sowie die Fülle an deduktiven Subcodes. Die Kritik setzte ich konstruktiv um, indem ich den größten Teil der Subcodes entfernte. In einem Doktorand*innen-kolloquium am Historischen Institut der Universität zu Köln wurde die überarbeitete Fassung des Kategoriensystems auf ein Interviewtranskript aus der Haupterhebung angewandt. Hierbei wurden vor allem die Subcodes des Codes historisches Erzählen als zu kleinteilig empfunden. Anschließend habe ich die Sub-Codes entsprechend angepasst. Zur weiteren Steigerung der Reliabilität codierte eine Kollegin ein Interviewtranskript der Haupterhebung, nachdem ich mit ihr ein Codemanual (Code-Handbuch) besprochen hatte. Ich habe dasselbe Transkript später codiert. Ein Vergleich der beiden Codierungen zeigte eine große Übereinstimmung. Allerdings ermöglichten die Rahmenbedingungen des Forschungsprozesses mir leider nicht, das Material durchgängig mit mehreren Personen zu codieren. Eine rechnerische Prüfung der Intercoderreliabilität liegt daher nicht vor.

rials lauten, da erst nach der Erhebung das Material ausgewählt oder festgelegt werden kann. 65 | Intercoderreliabiltät ist eine Form der Reliabilität, in der die Übereinstimmungen voneinander unabhängiger Codierer gekennzeichnet werden. Zu den unabhängigen Experten zählten Mitglieder der Forschungsgruppe FUER Geschichtsbewusstsein wie Waltraud Schreiber, Andreas Körber und Bodo von Borries.

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4.6 Z entr ale E rgebnisse der quantitativen E rhebung Das Untersuchungsdesign (Kapitel 4.2) besteht aus einem mehrstufigen Erhebungsverfahren, in dem in verschiedenen methodischen Ansätzen Daten erhoben werden, um sie auszuwerten und abschließend zu triangulieren. Aufgrund der Menge an gewonnen Daten und der grundlegenden Bedeutung der quantitativen Datenauswertung für die qualitative Erhebung und Analyse werden im Folgenden zunächst die Ergebnisse der Fragebogenbefragung dargelegt. Die stufenweise Präsentation der gewonnen Ergebnisse des MixedMethods-Verfahrens und die anschließende Triangulation sollen transparent und nachvollziehbar dargelegt werden. Zudem bieten die quantitativen Erhebungsdaten einen erstmalig vergleichenden Blick hinsichtlich Migrationshintergrund, Geschlecht und Schulform sowie Generation. Die Auswertung der Fragebögen aus Q1 lieferte wichtige Hinweise für die Konzeption der qualitativen Erhebung der zentralen Forschungsvariablen Geschichtsbewusstsein, Integration und Identität. Im Folgenden möchte ich zentrale Ergebnisse der Erhebung der Integrationsindikatoren für (Ak-)Kulturation, Platzierung, Interaktion und Identifikation (Abbildung 2) sowie des Geschichtstests vorstellen. In den anschließenden Kapiteln folgen die Ergebnisse der qualitativen Erhebung (Kapitel 4.7), die Triangulation der quantitativen und qualitativen Daten (Kapitel 4.9) sowie die Typenbildung (Kapitel 5.2). Mit einer Samplegröße von n=124 kann ich mit meinen Daten keinen Anspruch auf statistische Repräsentativität erheben. Dennoch lässt die Differenzierung der Befragten nach Schulform, Geschlecht, Migrationshintergrund sowie generationeller Zugehörigkeit verallgemeinerbare Aussagen über das Geschichtswissen, das Interesse an Geschichte und Geschichtsunterricht sowie über Integration (nach Essers in Kapitel 2.2 beschriebenem Modell) zu. Mit der Erhebung des demografischen Hintergrunds konnten Merkmale zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen verglichen und differenzierte Aussagen über das Geschichtsbewusstsein der Schüler*innen formuliert werden. Die Mehrheit der Schüler*innen (mehr als 60 Prozent) besitzt einen Migrationshintergrund, womit das Sample weit über dem statistischen bundesdeutschen oder Kölner Anteil liegt, wenn nicht nach Altersgruppe (unter 18 Jahren) unterschieden wird. Fast ein Viertel der Befragten sind Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Trotz der ungleichmäßigen quantitativen Verteilung der Befragten nach Schulformen (Abbildung 6) konnte im Sample eine paritätische Geschlechterverteilung im Gesamtsample erzielt werden.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

4.6.1 Sozialer, kultureller und religiöser Hintergrund Die Proband*innen wurden nach ihrer religiösen Zugehörigkeit sowie einer Selbsteinschätzung ihrer Religiosität gefragt (Tabelle 3). Die Ergebnisse zeigen auffällige Unterschiede zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund, sowohl was die genannten Religionsgemeinschaften als auch, was die empfundene Intensität der eigenen Religiosität betrifft. Religionsgemeinschaft

Religiosität

keine Angaben

sehr religiös

eher religiös

eher nicht religiös

gar nicht religiös

gesamt

keine Angaben

Islam

Christentum

andere

Σ

tr. MH

1

2

0

0

3

a. MH

4

2

1

0

7

Σ

5

4

1

0

10

o. MH

0

0

3

1

4

tr. MH

0

10

0

0

10

a. MH

0

2

2

0

4

Σ

0

12

5

1

18

o. MH

0

0

7

0

7

tr. MH

0

19

0

0

19

a. MH

0

4

2

1

7

Σ

0

23

9

1

33

o. MH

2

1

18

0

21

tr. MH

0

3

0

0

3

a. MH

0

3

7

1

11

Σ

2

7

25

1

35

o. MH

4

1

12

0

17

tr. MH

1

3

0

0

4

a. MH

4

1

2

0

7

Σ

9

5

14

0

28

o. MH

6

2

40

1

49

tr. MH

2

37

0

0

39

a. MH

8

12

14

2

36

Σ

16

51

54

3

124

Tabelle 3: Verhältnis Religionsgemeinschaft und Religiosität bei Schüler*innen Die Darstellung zeigt, dass sich die meisten Schüler*innen dem Christentum oder dem Islam zugehörig fühlen. Muslimische Schüler*innen empfinden dabei eine stärkere Religiosität als christliche Schüler*innen. Die Angaben zur empfundenen Religiosität ergeben, dass die Muslime sich häufiger

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Der Diasporakomplex

als »eher religiös« oder »sehr religiös« empfinden als die Christen. Tabelle 3 zeigt zudem, dass Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sich mehrheitlich als »eher religiös« oder »sehr religiös« wahrnehmen. Da alle Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund angaben, Muslime zu sein, kann geschlossen werden, dass sich bei muslimischen Jugendlichen eine stärker empfundene Religiosität manifestiert als bei ihren christlichen Mitschüler*innen. Bodo von Borries misst in Jugend und Geschichte der Religionsbindung eine Schlüsselrolle beim Vergleich des Geschichtsbewusstseins Jugendlicher bei.66 Diese habe eine »vergleichbare Erklärungskraft« wie das Bruttosozialprodukt: Die »allgemeine Motivation für Geschichte« (rLänderebene = .74) und auch die »Bevorzugung lebensweltlich-naher vor sekundär-ferner Geschichte« (rLän= .64) hängt mit »Religionsbindung« geradezu verdächtig zusammen, derebene obwohl es sich doch um völlig verschiedene Felder handelt. Die größere Zuwendung strahlt zudem auf den »allgemeinen Spaß an Geschichtsmedien« (rLänderebene = .53) und wohl auch auf »Politikinteresse« (rLänderebene = .50), »Geschichtsnote« (rLänderebene = .40) und »Lehrerakzeptanz« (rLänderebene = .40) aus. Insgesamt bedeutet das für die streng religiösen Länder eine wesentliche Erhöhung des Niveaus an »konventionell-affirmativer Identifikation« (rLändere= .38), »fundamentalem Altruismus« (rLänderebene = .48) und »Wunsch nach bene gesellschaftlich-politischer Beteiligung statt privatem Glück« (rLänderebene = .51), mehr aber noch an »autoritärem Traditionalismus« (rLänderebene = .78). Dieser letzte Punkt macht geradezu den Kern des Unterschieds aus.67 Die Zusammensetzung der Gruppe muslimischer Jugendlicher in der vorliegenden Studie zeigt, dass kein autochthoner Jugendlicher angibt, dem Islam zugehörig zu sein. Umgekehrt gab auch kein Jugendlicher mit türkeibezogenem Migrationshintergrund an, christlich zu sein. Im Umkehrschluss sind alle Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Muslime. Die Merkmale Migrationshintergrund und Religionsbindung fallen hier zusammen. Dies entspricht auch dem im politischen und gesellschaftlichen Diskurs konstruierten Stereotyp der Migrant*innen als muslimische Migrant*innen – oder nur muslimische Personen werden im öffentlichen Raum als Personen mit Migrationshintergrund oder Migrant*innen wahrgenommen. Die empfundene Religiosität muss daher bei einer Analyse des Geschichtsbewusstseins muslimischer Jugendlicher mit türkeibezogenem Migrations66 | Von Borries: Jugend und Geschichte, S. 290. In der Studie Youth and History wird die Situation von Muslimen in Frankreich, Deutschland und Skandinavien miteinander verglichen. Das Ergebnis ist, dass die muslimischen Gruppen in den Ländern ähnlich situiert sind. Vgl. dazu Angvik/von Borries: Youth and History, S. A226–A227, eigene Hervorhebung. 67 | Ebd.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

hintergrund berücksichtigt werden (Abbildung 7). Die religiöse Bindung wurde erhoben und später auch in Gesprächen thematisiert. Inwieweit die religiöse Bindung und die empfundene Religiosität wichtige Faktoren für die historische Identität und die Integration sind, werde ich bei der Zusammenführung der Daten interpretieren. Der Vergleich zwischen muslimischen Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund und solchen mit einem anderen Migrationshintergrund zeigt keine Unterschiede. Diese treten allerdings bei einem Vergleich von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation auf.68

46,40% 28,60% 10,70% keine Angaben

sehr religiös

eher religiös

7,20%

7,20%

eher nicht religiös

gar nicht religiös

Abbildung 7: Religiosität, Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund in Prozent. Unter den Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund geben Angehörige der dritten Generation häufiger als andere an, religiös zu sein (Abbildung 7). Was die Gründe hierfür sind, ob es das Aufwachsen in einer vorherrschend nicht-muslimischen Gesellschaft oder in einer mehrheitlich christlichen Gesellschaft ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Ebenso ungeklärt muss hier die Frage bleiben, ob die Eltern der Jugendlichen Religion als eine Art Identitätsanker nutzen (bzw. als Möglichkeit der Flucht vor Ausgrenzung). Auch der Einfluss des politisch-religiösen Wandels in der Türkei innerhalb der letzten zehn Jahre, also der Einfluss der AKP-Regierung unter Erdoğan auf die in Deutschland lebenden Menschen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, kann im Rahmen dieser Studie leider nicht geklärt werden. Diesbezügliche Vermutungen werde ich in der Zusammenführung der Teilergebnisse diskutieren. Festzuhalten bleibt, dass die religiöse Präferenz ein wichtiger Faktor für die Identität der Jugendlichen und vermutlich auch für ihre Integration ist.

68 | SuS tr. MH: 75 Prozent religiös; 14,3 Prozent weniger religiös. SuS 3. Gen. tr. MH: 28,6 Prozent »sehr«; 46,4 Prozent »eher«; 7,2 Prozent »eher nicht« und 7,3 Prozent »gar nicht« religiös. Drei Schüler*innen machten keine Angaben.

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Der Diasporakomplex

Damit hat dieses Merkmal auch einen Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein, Identitätskonstruktion und Integration.

4.6.2 Bildungshintergrund und Sprache Die Betrachtung des familiären Bildungshintergrunds des Untersuchungssamples zeigte große Unterschiede zwischen den Befragten. Kein*e befragte*r Jugendliche*r mit türkeibezogenem Migrationshintergrund stammt aus einem akademischen Elternhaus. Dagegen besuchen fast alle Jugendlichen, die aus einem akademischen Elternhaus stammen, das Gymnasium. Diese Daten verweisen deutlich auf den Einfluss des familiären Umfeldes auf die Bildungschancen der Schüler*innen.69 Auch wenn bisherige Studien (etwa die ZfTI-Studie) unterstreichen, dass es einen innerfamiliären Bildungsaufstieg in den Familien mit Migrationshintergrund gibt, so zeigen die Ergebnisse, dass sich dieser eher auf das Niveau der Mittleren Schulreife bezieht. Sämtliche befragten Gymnasiast*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, selbst wenn sie der dritten Generation angehören, sind die erste Generation am Gymnasium und werden wohl (in ihrem familiären Umfeld) die ersten sein, die einen Hochschulabschluss und damit gesellschaftliche Schlüsselpositionen anstreben können. Auch für türkeistämmige Migranten gilt, dass Kinder aus bildungsnahen Familien wahrscheinlicher ein höheres Bildungsniveau erreichen als Kinder aus bildungsfernen Familien. Doch gelingt es auch fast der Hälfte der in Deutschland sozialisierten Zuwanderer, höhere Schulabschlüsse als die eigenen Eltern zu erreichen.70 Der Vergleich des familiären Bildungshintergrunds autochthoner und nicht-autochthoner Befragungsteilnehmer*innen zeigt einen markanten Unterschied. Den Angaben im Fragebogen zufolge haben 87,8  Prozent (43 SuS) der befragten Schüler*innen ohne Migrationshintergrund einen Vater und 91,8 Prozent (45 SuS) eine Mutter mit abgeschlossener Berufsausbildung. Bei 28,6  Prozent (14 SuS) der Schüler*innen ohne Migrationshintergrund 69 | Vgl. hierzu Mehrthemenbefragung 2013, S. 127: »Doch zeigt sich auch, dass ein erheblicher Teil von Nachfolgegenerationsangehörigen mit qualifizierenden Schulabschluss keine entsprechende Ausbildung absolviert. Trotz der Fortschritte bei der kognitiven Teilhabe sind hier weiterhin Anstrengungen und Maßnahmen notwendig, um ein dauerhaftes Defizit im Ausbildungsbereich zu verhindern und noch häufiger schulische Bildung auch in Ausbildung umzusetzen.« Ebd., S. 21: »In der jüngsten Gruppe, zu 91 Prozent Bildungsinländer, haben 21 Prozent einen Hauptschulabschluss, 23 Prozent einen Realschulabschluss, 24 Prozent schlossen eine Fachoberschule ab und 22 Prozent erreichten das Abitur. 70 | Ebd., S. 136.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

ist der Vater und bei 26,5  Prozent (13 SuS) die Mutter Akademiker*in. Bei 20,4 Prozent der autochthonen Schüler*innen (10 SuS) sind beide Elternteile Akademiker. Von den Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund hat kein einziger zwei Elternteile, die Akademiker sind. Nur zwei Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund haben eine Mutter, die Akademikerin ist.71 Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund können daher wahrscheinlich weniger vom (Human)-Kapital ihrer Eltern profitieren als ihre autochthonen Altersgenoss*innen. Außerdem scheint nach diesen Ergebnissen eine (Ak-)Kulturation, also die kognitive Integration, für die dritte Generation nur bedingt leichter zu sein als in der zweiten Generation. Das lässt vermuten, dass der schwächere Bildungshintergrund der Eltern dazu führt, dass nicht-autochthone Jugendliche der dritten Generation sich sozial und ökonomisch schlechter platzieren können, was wiederum Auswirkungen auf ihren sozialen Hintergrund hat (etwa durch das Aufwachsen in Stadtteilen mit sozial schwacher Umgebung).72 Andere Studien wie etwa die Mehrthemenbefragung unterstützen diese Deutung und beschreiben einen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Eltern und dem angestrebten Bildungsabschluss der Kinder.73 71 | In beiden Fällen wurde der Hochschulabschluss in der Türkei erworben. Die Differenzierung des Schulabschlusses nach Altersgruppen und Generationen zeigt deutliche Unterschiede, die in der gleichen Tendenz bereits in den vorangegangenen Untersuchungen festgestellt worden waren: Je älter die Befragten sind, desto höher ist der Anteil derjenigen, die keinen Abschluss haben oder nur die Grundschule bzw. ilkokul besuchten. Der Anteil der Personen mit einem inländischen Abschluss sinkt naturgemäß mit zunehmendem Alter deutlich. In der jüngsten Gruppe, zu 91 Prozent Bildungsinländer, haben 21 Prozent einen Hauptschulabschluss, 23 Prozent einen Realschulabschluss, 24 Prozent schlossen eine Fachoberschule ab und 22 Prozent erreichten das Abitur. 72 | Esser: Integration und ethnische Schichtung, S. 9: »Unter Platzierung wird, ganz allgemein, die Besetzung einer bestimmten gesellschaftlichen Position durch einen Akteur verstanden. Auch das ist eine Form des ›Einbezugs‹ der Akteure in eine Gesellschaft, die wichtigste wahrscheinlich sogar. Die Akteure werden über den Vorgang der Platzierung in ein bereits bestehendes und mit Positionen versehenes soziales System eingegliedert. Die wichtigsten Formen der sozialen Integration durch die Platzierung sind die Verleihung bestimmter Rechte, wie etwa das Staatsbürgerschaftsrecht oder, meist damit zusammenhängend, das Wahlrecht, die Übernahme beruflicher und anderer Positionen, meist in Abhängigkeit vom Durchlaufen einer gewissen Bildungskarriere, und die Eröffnung von sozialen Gelegenheiten zur Anknüpfung und zum Unterhalt sozialer Beziehungen zu den anderen Mitgliedern des sozialen Systems.« 73 | Mehrthemenbefragung 2013, S. 20. Siehe auch Tabelle 4, S. 22.

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Der Diasporakomplex Die Bildungsabschlüsse von Nachfolgegenerationsangehörigen weisen einen signifikanten Zusammenhang (Gamma: .290***) zum Bildungsniveau der Eltern auf (unabhängig vom Land, in dem der Abschluss erworben wurde). Je höher der Bildungsabschluss der Nachfolgegenerationsangehörigen ist, desto höher der Anteil der Eltern mit mittlerer oder höherer Bildung. […] Auch für türkeistämmige Migranten gilt, dass Kinder aus bildungsnahen Familien wahrscheinlicher ein höheres Bildungsniveau erreichen als Kinder aus bildungsfernen Familien.74

Dies unterstreicht die Relevanz des engen sozialen Umfelds für den Schulund Bildungserfolg. Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund fehlt es dabei im Vergleich zu anderen Jugendlichen an Humankapital. Sie können nicht im selben Maße von den Bildungserfahrungen und strukturellen Kenntnissen von Eltern profitieren, was ihnen den Hochschulzugang erleichtern könnte. Dies unterstreicht die allgemeine Annahme, dass der familiäre Sprach- und Bildungshintergrund sowie der soziale Hintergrund im engen Zusammenhang mit dem Schulerfolg der Kinder stehen. Die Items zu den Sprachkenntnissen der Eltern sowie nach der Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkompetenz wurden von den Schüler*innen nur unzureichend beantwortet. Zudem zeigte sich, dass die Selbsteinschätzungen deutlich von der Fremdwahrnehmung (etwa in Schulnoten) abwichen.75 Kritisch anzumerken ist, dass eine Sprachstandsfeststellung der Proband*innen im Rahmen der vorliegenden Arbeit leider nicht möglich war.76 Auch die sprachliche Kompetenz der Eltern konnte nicht getestet werden. Auf die Effekte von Bilingualität konnte daher nicht eingegangen werden. Ein geschichtsdidaktisches Desiderat bleibt die Erforschung des Zusammenhangs von Geschichtsbewusstsein und Sprache. Als Ersatz für die fehlende Sprachstandsfeststellung sollte die Frage, in welcher Sprache die Schüler*innen jeweils träumen, einen Einblick in das Empfinden von Sprache ermöglichen. Nur ein Viertel der befragten Jugend74 | Ebd. S. 24. 75 | Vgl. Mehrthemenbefragung 2013, S. 29: »Die eigenen Deutschkenntnisse werden bezogen auf das Verstehen von deutlich mehr als der Hälfte (57 Prozent) der Befragten als mindestens gut eingeschätzt, von 34 Prozent als sehr gut und von 23 Prozent als gut. Gut ein Drittel (35 Prozent) meinten, ihre Deutschkenntnisse beim Verstehen seien mittelmäßig und 9 Prozent halten sie für schlecht oder sehr schlecht.« 76 | »Die Erhebung des Sprachstands ist bereits bei monolingual aufwachsenden Kindern ein schwieriges Unterfangen; bei mehrsprachigen Kindern […] ist die Feststellung des Sprachstands noch komplexer als bei einsprachigen Kindern, da hier die Betrachtung des Deutschen als Zweitsprache vor dem Hintergrund der Migrationssituation und Herkunfts- bzw. Familiensprache erfolgen muss.« Siehe dazu Lengyel: Sprachstandsfeststellung bei mehrsprachigen Kindern im Elementarbereich, S. 8.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

lichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund gab an, auf Deutsch zu träumen (Abbildung 8). Dasselbe gilt für Angehörige der dritten Generation. Die Hälfte der Befragten gab an, sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch zu träumen. Daher kann angenommen werden, dass Türkisch auch in der dritten Generation gesprochen wird. Ob im familiären Kontext jeweils mehrheitlich Türkisch oder Deutsch gesprochen wird, konnte leider nicht festgestellt werden. Die Vermutung liegt aber nahe, dass Türkisch im familiären Umfeld zumindest erlernt und genutzt wird.77 95,9

100 90 80

69,4

Prozent

70 60 50 40

28,2

30 20 10

4,1

0 keine Angaben Deutsch Türkisch andere Deutsch/Türkisch

7,7 0 o. MH 4,1 95,9 0 0 0

19,4

12,8

0

11,1 0

tr. MH 7,7 28,2 12,8 0 51,3

0 a. MH 19,4 69,4 0 11,1 0

Abbildung 8: Traumsprache(n), Schüler*innen in Prozent

4.6.3 Selbstverortung Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Bei den Jugendlichen mit einem anderen als türkeibezogenem Migrationshintergrund ist der Anteil höher (77,7 Prozent). Auch in der dritten Generation haben nur 42,9 Prozent der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die deutsche Staatsbürgerschaft. Von diesen bezeichnen sich im Fragebogen zwei Schüler*innen als Deutsche, revidieren dies jedoch im Einzelinterview. Nur ein Viertel der befragten Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund begreift sich als Deutsch-Türk*in. Die Mehrheit bezeichnet sich (trotz Besitz der deut-

77 | Ebd., S. 126: »Die zunehmenden Bildungsressourcen – einschließlich der Sprachkenntnisse – setzen sich nur gebremst in entsprechende Arbeitsmarktteilhabe um.«

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schen Staatbürgerschaft) nicht als Deutsche*r. Dagegen empfinden 90 Prozent aller Proband*innen Deutschland als ihre Heimat.78 Die Ergebnisse der quantitativen Befragung konnten keinen Aufschluss darüber geben, wodurch diese ambivalente Selbstwahrnehmung bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund entstanden ist. Führt man sich vor Augen, dass diese Schüler*innen rechtlich gleichgestellt sind, selbst keine Migrationserfahrung gemacht haben und sich mehrheitlich in Deutschland zu Hause fühlen, verwundert die geringe Selbstverortung als Deutsche*r im Vergleich zu Jugendlichen mit einem anderen als türkeibezogenem Migrationshintergrund zunächst. In der Vergleichsgruppe der Schüler*innen mit einem anderen als türkeibezogenen Migrationshintergrund bezeichnen sich 36,1 Prozent als Deutsche*r. Zu vermuten ist, dass die Identitätskonstruktion von den Wahrnehmungen sowie der Erinnerungskultur der ersten Generation geprägt ist. Dieser These, insbesondere der Relevanz der Herkunftsnation in den Erzählungen der Großeltern, bin ich in den Einzelinterviews nachgegangen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Staatsbürgerschaft allein trotz aller gesellschaftlichen Diversität nichts über die nationale (Selbst-)Verortung, über die nationale Zugehörigkeit aussagt. Vielmehr wird bei Selbst- und Fremdzuschreibungen vielfach auf Konzepte der Abstammungsgemeinschaft oder der Blutlinie zurückgegriffen, die einen (bitteren) Beigeschmack tragen.79 Dies wird besonders durch den Zusatz »mit Migrationshintergrund« betont. In konsequenter Anwendung dieser Konzepte kann nur deutsch sein, wer seine deutsche Abstammungsgemeinschaft über vier Generationen in Deutschland nachweisen kann. Erst in der fünften Generation fällt das Kriterium des Migrationshintergrunds nach der Definition des Statistischen Bundesamtes weg. 78 | Ebd., S. 126: »Die Ergebnisse der Mehrthemenbefragung 2013 zeigen für die türkeistämmigen Zuwanderer in Nordrhein-Westfalen erhebliche intergenerationale Fortschritte der Teilhabe in den zentralen Lebensbereichen, auch wenn im Zeitvergleich nur langsame Teilhabezunahmen zu erkennen sind und nach wie vor Defizite im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft bestehen. […] Problematisch im Integrationsprozess erscheint weniger die Orientierung der Zuwanderer an der Mehrheitsgesellschaft – Kontakte und Identifikationen – als vielmehr die ökonomische Teilhabe.« 79 | Diese gezielt provokante Formulierung soll, in Anbetracht der aktuellen politischen Situation in Deutschland und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit, als Warnsignal verstanden werden. Ein Blick in die deutsche (Rechts-)Geschichte unterstreicht dies. Erste Verordnung zur Durchführung zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. April 1933, § 3, Abs. 1: »Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat.«

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Diese Anschauung widerspricht jedem Konzept von gesellschaftlicher Integration und Inklusion sowie einem Kulturverständnis als Migrationsgesellschaft. Die Verunsicherung, die diese Haltung bei Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund auslöst, ist deutlich zu erkennen. Allerdings geht diese nicht allein auf die deutsche Aufnahmegesellschaft, sondern auch auf die national geprägten Identitätsvorstellungen der ersten Generation zurück.80 Was das Kriterium der Staatsangehörigkeit angeht, gibt es nur minimale Unterschiede zwischen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Neben der Staatsangehörigkeit muss daher die individuelle Verortung der Proband*innen erhoben und analysiert werden, was in den Einzelinterviews erfolgte. Auffällig ist, dass Jugendliche mit einem anderen Migrationshintergrund sich selbst häufiger als Deutsche bezeichnen als Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Eine doppelte Verortung hingegen empfinden 25,6 Prozent der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, aber nur 13,8 Prozent der Jugendlichen mit anderem Migrationshintergrund. Die Mehrheit der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bezeichnet sich jedoch nicht als deutsch. Die beiden im Fragebogen markierten Ausnahmen stammen von Schüler*innen der dritten Generation, die in den qualitativen Interviews erneut nach ihrer Verortung gefragt wurden. Aslı äußerte, dass sie sich nicht traue, zu sagen, dass sie deutsch sei, obwohl sie sich so empfinde.81 Aslıs eigene Selbstverortung resultiert, wie sie es beschreibt, aus dem Umstand, dass sie keinen primär türkischen Freundeskreis hat. Die einzig enge soziale Beziehung zu türkeibezogenen Personen scheint sie in ihrer Familie zu pflegen. Im Interviewverlauf erweckt Aslı jedoch den Eindruck, als wolle 80 | Werner Schiffauer beschreibt die generationellen Unterschiede von der ersten bis in die dritte Generation in: Die Bauern von Subay; Ders.: Die Migranten von Subay. Eine kurze zusammenfassende Beschreibung von Identifikationsentwicklungen der türkeibezogenen Migranten gelingt ihm in: Opposition und Identifikation – Zur Dynamik des Fußfassens, S. 98: »Die erste Generation sah sich als Türken in Deutschland – sie wurden Einwanderer wider Willen. […] Die zweite Generation lebte in dem Gefühl, sich gegen die Zuschreibungen und Festlegungen der türkischen Gemeinden und der deutschen Gesellschaft wehren zu müssen. […] Die dritte Generation beginnt jetzt, sich primär als Ausländer zu definieren.« 81 | Interviewauszug, Gymnasium, Aslı, Schülerin mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation: »Das ist immer so eine komplizierte Frage. Ich könnte bei meinen Eltern niemals sagen, dass ich mich in Deutschland zuhause fühle, weil – das geht einfach nicht. Ich würde eher sagen, ich traue mich das nicht.«

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Der Diasporakomplex

sie sich aus der Enge einer behüteten Familie befreien. Sie erzählt, dass sie gerne nach Amerika gehen würde, ihre Familie dies aber nicht erlaube. Sie erweckt den Eindruck, als wolle sie sich von ihrem familiären Hintergrund distanzieren. Als Teil einer altersgerechten Emanzipationsbestrebung einer Jugendlichen wäre dies nicht unüblich. Im Gespräch mit Aslı fällt auf, dass sie im Vergleich zu vielen anderen Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund keine äußerlichen Merkmale hat, die sie im Alltag für eine Stigmatisierung prädestinieren. Für Außenstehende wäre es schwer, Aslı eine bestimmte Nationalität zuzuschreiben. Zudem weist Aslı auch keine sprachlichen Defizite oder Merkmale wie einen Akzent oder einen bestimmten Ausdruck auf, die darauf hinweisen würden, dass Deutsch ihre Zweitsprache sein könnte. Eine Ambivalenz zwischen Heimat und Zuhause zeigt sich hingegen, wenn 85,7  Prozent der Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund erklären, sich in Deutschland zuhause zu fühlen.82 Deutschland ist das Zuhause, die Gesellschaft, in der sie geboren und aufgewachsen sind, aber die Heimat wird als Herkunftsland der ersten Generation verstanden. Somit wird der Begriff »Heimat« mit einer Vorstellung von Abstammung verknüpft. Ein Blick auf die Ergebnisse der Mehrthemenbefragung 2013 zeigt, dass diese in einem Vergleich von Identifikationen ebenfalls generationelle Unterschiede aufdeckte. Der Studie zufolge unterscheidet sich die zweite Generation gering von der ersten. Dennoch identifiziere sich die dritte Generation noch weniger mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft als die erste Generation. In der ZfTIStudie wird gefolgert, dass sich ein geringer Integrationsfortschritt zwischen der ersten und der zweiten Generation zeigen lässt, die dritte Generation aber noch hinter die erste zurückfalle.83 In dieser deutlichen Ausprägung konnte diese Beobachtung in der vorliegenden Untersuchung nicht bestätigt werden. Werner Schiffauer hingegen beschreibt, dass es zu einer »Umwertung« in der dritten Generation komme, durch die diese sich »positiv und selbstbewusst«

82 | Vgl. Mehrthemenbefragung 2013, S. 88: »In zahlreichen Studien zur kulturellen Identität wurde nachgewiesen, dass die Identifikation mit der Herkunftskultur, die bei den nachfolgenden Generationen insbesondere über das Elternhaus vermittelt wird, aber auch durch Fremdzuschreibung gefestigt werden kann, nicht automatisch mit dem Wunsch nach Abgrenzung von der Aufnahmegesellschaft, deren Werte in erster Linie durch die außerfamiliären Sozialisationsinstanzen vermittelt werden, verbunden sein muss.«; dazu auch Öztoprak: Identitäts- und Akkulturationsstile türkischer Jugendlicher; Badawia/Hamburger/Hummerich: Wider die Ethnisierung einer Generation – Überlegungen zur Konzeptionsidee. 83 | Ebd., S. 88.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

gegen die Autochthonen positioniere.84 Die eigene Verortung kann also auch als Reaktion auf die Mehrheitsgesellschaft – als Kompensationsstrategie – verstanden werden. Neben der (Ak-)Kulturation und der Platzierung ist die Interaktion eine weitere entscheidende Dimension sozialer Integration. Auch wenn die Schüler*innen in heterogenen Klassenverbänden unterrichtet werden, muss daraus nicht zwingend eine enge Interaktion zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund resultieren. Schulpflicht und die Klassenzusammensetzungen befördern die Interaktion zwar, häufig fehlt aber eine willentlich getroffene Entscheidung der Akteur*innen, die Interaktion bleibt dadurch allein strukturell vorbedingt. Streng genommen muss innerhalb der Klassengemeinschaft auch gar keine aktive Interaktion stattfinden, wenn sich stark divergierende Gruppen ausbilden.

4.6.4 Interaktion Gesellschaftliche Teilhabe ist ein Indikator für Interaktion und somit für soziale Integration. Hierüber sollten die Freundschaften der Schüler*innen Auskunft geben. Die Ergebnisse der ZfTI-Studie zeigen intensive soziale Beziehungen von Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zur Mehrheitsgesellschaft. Die ZfTI-Studie bemerkt ferner einen deutlichen Integrationsfortschritt zwischen erster und zweiter Generation sowie einen weiteren, aber geringeren zwischen zweiter und dritter Generation.85 Im Generationenvergleich stellt die Mehrthemenbefragung 2013 fest, dass die ökonomische und kognitive Teilhabe der Bevölkerung mit türkeibezogenem Migrationshintergrund hoch sei, in der dritten Generation sogar noch höher als in anderen Generationen. Ein Indiz für soziale Nicht-Anerkennung (nicht nur soziale Desintegration) sind wahrgenommene Diskriminierungen, die Anhaltspunkte subjektiver Wahrnehmung gesellschaftlicher Teilhabe bieten. Nach ihren Diskriminierungserfahrungen befragt, machten 64,5 Prozent der autochthonen Schüler*innen keine Angaben. Das lässt vermuten, dass entweder eine große Unsicherheit bei der Beantwortung der Frage herrschte oder dass der Begriff der Diskriminierung nicht verständlich genug formuliert war. Ein weiterer Grund für die sehr geringe Zahl an Antworten könnte sein, dass sie sich nicht als Adressat*innen der Frage verstanden. Demgegenüber berichtete ein Drittel der Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund von erlebter Diskriminierung.

84 | Schiffauer: Opposition und Identifikation, S. 97. 85 | Ebd., S. 86f.

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Der Diasporakomplex

Von den Jugendlichen mit einem anderen Migrationshintergrund gaben 40  Prozent an, Diskriminierungserfahrungen gemacht zu haben, bei den Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund waren es insgesamt 28 Prozent, bei den autochthonen Jugendlichen 20,4 Prozent. Phänotypische Variationen (im Vergleich zur weißen Mehrheitsgesellschaft) und Sprache (Akzent) können zum Anlass für eine Stigmatisierung werden.86 Stereotype markieren dabei die Abweichung von einer imaginierten Norm und steigern sich in Vorurteile. Bedeutsam ist die Frage, warum die Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nach eigenen Angaben besonders häufig Diskriminierung erlebt haben.87 Der steigende Integrationsgrad, den bisherige Studien nahelegen, müsste sich eher in einem geringeren Maß an Diskriminierungserfahrungen ausdrücken. Dies ist jedoch nicht zu beobachten, was Kritik an den Annahmen linearer Integrationsmodelle aufkommen lässt. Allerdings kann eine erhöhte Aufmerksamkeit für Diskriminierungserfahrungen und (unerwünschte) Fremdzuschreibungen auch ein Indiz für eine gestiegene Integration sein: Erst wenn man sich der Selbstwahrnehmung nach einer Gesellschaft zugehörig fühlt (Identifikation), empfindet man eine gesteigerte Sensibilität für Fälle von Nicht-Anerkennung oder exkludierender Fremdzuweisung als diskriminierend. Aufgrund dieser Überlegungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund per se mehr oder weniger integriert sind als andere Gruppen. Erst in der Zusammenführung mit den Ergebnissen der qualitativen Erhebung ist hier eine Interpretation möglich.

86 | Äußerliche Merkmale wie Augen-, Haut- oder Haarfarbe, Körpergröße etc. können als Eigenschaften bestimmter Bevölkerungsgruppen, Nationalitäten oder Religionsgemeinschaften, als deren inhärente und unveränderliche Kennzeichen in Topoi und Stereotype gefasst werden, die eine Ausgrenzung oder zumindest eine Unterscheidung zwischen die und wir ermöglichen. Das abwertende und diskriminierende Element liegt hierbei in der Verbindung bestimmter Kennzeichen mit negativen Zuschreibungen, die unsachgemäß pauschalisiert auf alle angewandt werden, um sich selbst (Ich) und das Wir zu überhöhen. 87 | Vgl. dazu Mehrthemenbefragung 2013: S. 81-85, hier S. 82: »Erstgenerationsangehörige fühlen sich seltener benachteiligt als Zweitgenerationsangehörige und diese wiederum etwas seltener als Angehörige der dritten Generation. Vermutlich schlagen sich der Generationeneffekt und die unterschiedlichen Erwartungen an Gleichbehandlung auch bei der Wahrnehmung von Diskriminierung nach Deutschkenntnissen und Bildungsniveau nieder, denn bei guten Deutschkenntnissen und hoher kognitiver Teilhabe ebenso wie beim Vorhandensein interkultureller Freizeitkontakte wird häufiger Diskriminierung wahrgenommen.«

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

4.6.5 Strukturelle Assimilation Insgesamt lässt sich sagen, dass alle befragten Schüler*innen mit Migrationshintergrund bis auf eine Ausnahme strukturell assimiliert sind, das heißt sie sind kognitiv, gesellschaftlich und strukturell integriert. Die emotionale Identifikation mit Deutschland als Zuhause ist auf einer peripheren Ebene sehr hoch, dennoch bezeichnen sich nur zwei Jugendliche als Deutsche. Die Begriffe Zuhause und Heimat scheinen ambivalent genutzt zu werden. Letzterer scheint divergent besetzt zu sein. Bei der Befragung fragten viele Schüler*innen nach, was denn mit Heimat gemeint sei: »Da, wo ich mich Zuhause fühle, oder wo meine Heimat ist?« Diese Irritation zeigt ein vorherrschendes Gefühl der dritten Generation, zwar in Deutschland zu leben, sich aber hier fremd bzw. nicht als gleichwertiger Teil der Gesellschaft zu fühlen. Wie kann dieser Widerspruch zwischen der kognitiven, strukturellen und gesellschaftlichen Integration einerseits und der fehlenden emotionalen Integration andererseits erklärt werden? Diese Fragen können mit einem quantitativen Verfahren nicht beantwortet werden. Erst durch eine qualitative Forschungsannäherung und ergänzenden Triangulation (Kapitel 4.7 und 5.1) können Antwortansätze entwickelt werden. Mit dem Verständnis von Integration als einem interdependenten Prozess sowie von Identifikation als ebenfalls wechselseitigem Aushandlungsprozess wurde in den Interviews besonders auf Formen der eigenen Identitätskonstruktion sowie nach Selbst- und Fremdzuschreibungen eingegangen. Um auf einer quantitativen Basis Hinweise zum Geschichtsbewusstsein der Befragten zu erhalten, wurden die Einstellungen der Schüler*innen zu Geschichte und Geschichtsunterricht erhoben.

4.6.6 Interesse an Geschichte und Geschichtsunterricht 35,5  Prozent der Schüler*innen gaben an, sich für Geschichte zu interessieren. 25  Prozent gaben sogar an, sich sehr für Geschichte zu interessieren. 60,5  Prozent der Schüler*innen haben demnach ein Interesse an Geschichte.88 42,7 Prozent hingegen bekundeten, wenig oder gar kein Interesse an Geschichte zu haben. 88 | Eine umfassende und detaillierte Darstellung der empirischen Erforschung des Interesses an Geschichte und Geschichtsunterricht findet sich bei Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, Bd.1, S. 363-402 und Bd. 2, S. 164-185, hier S. 173f. sowie S. 206-209. Bei der Untersuchung des Geschichtsinteresses verweist Hasberg u.a. auf die Arbeiten von Angvik/von Borries: Youth and History, S. A220f. und von Borries: Jugend und Geschichte, S. 336f. Lohse: Geschichtsinteresse von Jugendlichen, hier S. 202-209, untersuchte das objektive und subjektive Interesse von Gymnasiasten in Bayern in den Jahrgangsstufen 8, 10 und 12. Hierbei zeigten sich keine

145

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Der Diasporakomplex

Im Vergleich der Schulformen zeigt sich, dass 31,3 Prozent der Hauptschüler*innen sowie 30,4 Prozent der Realschüler*innen, aber nur 19,4 Prozent der Gymnasiast*innen ein hohes Interesse an Geschichte hatten. Umgekehrt fand die Hälfte der Hauptschüler*innen Geschichte »wenig interessant« oder »gar nicht interessant«. Bei den Realschüler*innen waren es 30,4 Prozent und bei den Gymnasiast*innen sogar 41,9 Prozent. Es lässt sich also kein linearer Zusammenhang zwischen der Schulform und dem jeweiligen Interesse an Geschichte erkennen. Dieses Ergebnis kann durch die Zusammensetzung des Samples entstanden sein. Ein höherer Bildungsstandard an Schulen scheint jedoch das Geschichtsinteresse zumindest nicht zu fördern. Die Studie Youth and History ergab, dass ein hoher Bildungsstandard zusammen mit einem finanziell gefestigten Elternhaus eine Steigerung der historischen Kenntnisse sowie die Ausbildung einer »materiell-privatistischen« Haltung positiv beeinflusst.89 Der Vergleich nach Geschlecht ergibt ein unterschiedlich starkes Interesse an Geschichte bei Jungen und Mädchen. 77,4 Prozent der Jungen äußern großes Interesse, bei den Mädchen sind es nur 11,3 Prozent. Über 53,2 Prozent der Schülerinnen empfinden Geschichte hingegen als »wenig interessant« oder »gar nicht interessant« (Abbildung 9). Die Berechnung des Korrelationskoeffizienten nach Pearson zeigt eine einseitig signifikante mittlere Korrelation (r= .301) zwischen Geschlechtszugehörigkeit und dem Interesse an Geschichte.90 Die Ergebnisse stützen die im Alltag häufig anzutreffende Vorannahme, dass sich Mädchen weniger für Geschichte interessieren als Jungen.91 Worin diese Ergebnisse begründet sind, kann leider aufgrund der Erhebungsdaten nicht erklärt werden. Mit einem Verständnis von Geschlecht als sozialem Konstrukt kann die nicht belegbare Vermutung geäußert werden, dass Jungen und Mädchen in ihrer engen sozialen Umgebung unterschiedlich an Geschichte und markanten Effekte im Schulzweigvergleich. Im Geschlechtervergleich zeigte sich, dass Mädchen Geschichte eine höhere Bedeutung beimaßen, Geschichte mehr schätzten, obwohl in der Grundhaltung im Geschlechtervergleich keine signifikanten Unterschiede zu erkennen waren. Mädchen wiesen einen verstärkt emotionalen Zugang zu Geschichte auf, ihr Interesse an Geschichte verloren sie im Altersvergleich. 89 | Angvik/von Borries: Youth and History, S. A222f. 90 | Die Signifikanz einer Korrelation wird mit einer Kennzahl [r] ausgedrückt, die die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs zwischen zwei Untersuchungsvariablen anzeigt. Die Signifikanz drückt aus, ob der Zusammenhang (sehr) wahrscheinlich zufällig ist. Bei einem Signifikanzniveau von r= .10 liegt eine geringe, bei r = .30 eine mittlere und ab r= .50 eine hohe Korrelation vor. 91 | Siehe von Borries: Geschlechterspezifisches Geschichtsbewußtsein und koedukativer Geschichtsunterricht, S. 266f. Im europäischen Vergleich stellt von Borries sogar einen überdurchschnittlichen Geschlechtereffekt fest. Ders., S. 93.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Politik herangeführt werden, so dass Stereotypen von Jungen und Mädchen und Rollenvorbilder nachwirken. 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

9,7

11,3 12,9

43,5 35,5

35,5

38,7

11,3 männlich keine Angaben

sehr interessant

weiblich interessant

wenig interessant

gar nicht interessant

Abbildung 9: Interesse an Geschichte, Schüler*innen nach Geschlecht in Prozent Ein Vergleich nach Migrationshintergrund (Abbildung 10) zeigt, dass Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ein größeres Interesse an Geschichte haben (66,6 Prozent) als autochthone Jugendliche (51 Prozent). 25,6 Prozent der Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund geben an, Geschichte sehr interessant zu finden. Bei den autochthonen Schüler*innen sind es 16,3 Prozent. Bei den Schüler*innen mit einem anderen als türkeibezogenem Migrationshintergrund ist das Interesse an Geschichte mit insgesamt 69,4 Prozent (»interessant« und »sehr interessant«) am höchsten. Von den Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund äußern 32,1 Prozent ein sehr hohes Interesse und 42,9 Prozent ein Interesse an Geschichte (Abbildung 11). Diese Ergebnisse beschreiben nach der geschichtsdidaktischen Theorie günstige Voraussetzungen für den Geschichtsunterricht, nämlich Bereitschaft für historisches Denken oder sogar ein starkes Begehren nach Geschichte.

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Der Diasporakomplex

100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%

Prozent

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gar nicht interessant wenig interessant interessant sehr interessant keine Angaben

8,2 38,8

12,8

9,7

20,5

22,2 30,6

41 34,7 16,3

25,6

o. MH 8,2 38,8 34,7 16,3 2

tr. MH 12,8 20,5 41 25,6 0

36,1 a. MH 9,7 22,2 30,6 36,1 0

Abbildung 10: Interesse an Geschichte, Schüler*innen nach Migrationshintergrund in Prozent 100%

7,1 17,9

80% 60%

42,9

40% 20%

32,1

0%

SuS tr. MH 3. Gen keine Angaben

sehr interessant

wenig interessant

gar nicht interessant

interessant

Abbildung 11: Interesse an Geschichte, Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationsintergrund der dritten Generation in Prozent Das generelle Interesse an Geschichte kann sich vom Interesse am Schulfach Geschichte bzw. am Geschichtsunterricht unterscheiden. Deshalb wurde gesondert nach dem Geschichtsunterricht gefragt.92 92 | Siehe dazu Hasberg: Empirische Forschung in der Geschichtsdidaktik, S. 265: »Umstritten bleibt nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Erhebungsverfahren – der familiäre Einfluss.« Siehe weiter dazu ebd., Fußnote 24: Schröter: Außerschulische Geschichtsquellen von Mittelstufenschülern.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

45,2  Prozent der Befragten gaben an, ihren Geschichtsunterricht wenig oder gar nicht interessant zu finden, 46,7  Prozent fanden ihren Geschichtsunterricht hingegen interessant. Diese Zahlen machen neben zusätzlichen qualitativen Erhebungen eine vergleichende Betrachtung nach Schulform, Geschlecht und Migrationshintergrund erforderlich. Bezogen auf die Schulform erachteten vor allem Gymnasiast*innen ihren Geschichtsunterricht (zu 58 Prozent) als wenig oder gar nicht interessant. Vergleiche nach Geschlecht zeigen, dass nur 8,1 Prozent Schülerinnen ihren Geschichtsunterricht interessant finden. Über 53 Prozent von ihnen geben an, ihn wenig oder gar nicht interessant zu finden. Werden Interesse an Geschichtsunterricht und Geschlecht korreliert, ergibt sich ein Korrelationskoeffizient von r  =  .125. Dies ist nur eine gering signifikante Korrelation, wodurch nur eine sehr kleine Zusammenhangswahrscheinlichkeit abgebildet wird. Anders als bei der Analyse des Zusammenhangs von Interesse an Geschichte und Geschlecht kann man keine Aussagen darüber treffen, ob Geschlecht ein Einflussfaktor für Interesse an Geschichtsunterricht sein könnte. Der Vergleich nach Migrationshintergrund zeigt, dass über 60  Prozent der Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ihren Geschichtsunterricht sehr interessant oder interessant finden. Bei den Jugendlichen mit einem anderen Migrationshintergrund sind es fast 42  Prozent, bei den autochthonen Jugendlichen hingegen nur 28,6  Prozent. Den höchsten Wert erreichen Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (68 Prozent). Insgesamt ist also das Interesse am Geschichtsunterricht bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund höher als bei autochthonen Jugendlichen. Wie lässt sich das besonders hohe Interesse von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund für Geschichte und Geschichtsunterricht erklären? Nach Meinung der geschichtsdidaktischen Theorie bringen diese Schüler*innen ein besonders hohes Potenzial für die Förderung historischen Denkens und Lernens mit.93 Der Theorie nach motiviert ein ausgeprägtes Interesse den historischen Denkprozess, da die Schüler*innen historische Fragen stellen, die ihnen für ihre historische Orientierung und Handlungsleitung wichtig erscheinen.94 Bezogen auf den Geschichtsunterricht könnte dies heißen, dass die Lernenden mit einem besonderen Interesse oder Bedürfnis in den Geschichts93 | Hasberg/Körber: Dynamisches Modell historischen Denkens. 94 | Schreiber et al.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, S. 158. Dies.: Kompetenzbereich historische Fragekompetenzen. S. 155-193, Thünemann: Geschichtsunterricht ohne Geschichte?; Ders. Fragen im Geschichtsunterricht, S. 50f.; Logtenberg/van Boxtel/van Hout-Wolters: Stimulating Interest and Student Questioning Through Three Types of Historical Introductory Texts; Logtenberg: Questioning the Past.

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unterricht gehen. Dieses können die Lehrenden aufgreifen und produktiv nutzen, um das historische Lernen und Denken der Schüler*innen zu fördern. Das Interesse am Geschichtsunterricht kann also einen entscheidenden Beitrag zur Förderung des Geschichtsbewusstseins leisten. Die Korrelation zwischen dem Interesse an Geschichte und dem Interesse am Geschichtsunterricht weist mit einem Korrelationskoeffizienten von r= .661 eine mittlere bis hohe Signifikanz auf. Das bedeutet, dass Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ein hohes Interesse sowohl an Geschichte im Allgemeinen als auch am Geschichtsunterricht im Besonderen zeigen müssten. Die Interviews gehen daher gezielt auf diese beiden Fragen ein. Um bereits während der quantitativen Erhebung einen ersten Einblick in den Umgang der Jugendlichen mit Geschichte zu erhalten, wurde nach persönlich relevanten historischen Ereignissen gefragt. Dieses Item wurde im Fragebogen als offene Frage formuliert, damit die Schüler*innen Gelegenheit haben, sich ohne vorformulierte Antwortmöglichkeit frei zu äußern. Die Resonanz war allerdings sehr gering: 63,7 Prozent der Befragten machten zu dieser Frage keinerlei Angaben. Von den Hauptschüler*innen antwortete nur ein einziger. An der Realschule wurden der Zweite Weltkrieg bzw. der Nationalsozialismus (5 Nennungen) sowie besonders die Person Atatürk (7 Nennungen) angeführt. Letzteres geht vermutlich auf den hohen Anteil von Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zurück. Am Gymnasium wurde mehrheitlich auf den Mauerfall (9 Nennungen, 14,5 Prozent) und den Nationalsozialismus (16 Nennungen 25,8 Prozent) verwiesen. 54,8 Prozent aller Gymnasiast*innen machten keine Angaben. In der qualitativen Befragung wurden die Schüler*innen erneut gebeten, über für sie relevante historische Ereignisse zu sprechen. Um eine höhere Antwortquote zu erzielen, wurden hierbei verschiedene Auswahlmöglichkeiten vorgegeben. Der oben erwähnte Einfluss des Samples wird deutlicher beim Vergleich nach Migrationshintergrund: Jugendliche ohne Migrationshintergrund nennen deutlich häufiger die Ereignisse Nationalsozialismus bzw. Zweiter Weltkrieg (15 Nennungen) und Mauerfall (7 Nennungen). Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nennen mehrheitlich Atatürk (7 Nennungen). Für die Proband*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund hieße dies, dass ihr geschichtliches Interesse nicht beachtet wurde, obwohl sie hohes Geschichtsinteresse mitbrachten. Auf die Frage nach der hauptsächlichen Quelle ihres Geschichtswissens nannten über 75  Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund die Schule.95 Ein Drittel der Schüler*innen mit Migrationshintergrund antworte95 | Vgl. Kühberger: Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage für das historische Lernen; Gautschi: Wissen – Voraussetzung und Ergebnis von historischem Ler-

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

te, dass sie ihr Wissen hauptsächlich aus der Familie generierten (66,6 Prozent aus der Schule). Der prozentuale Unterschied zwischen beiden Gruppen kann verschiedene Gründe haben. Eine Vermutung ist, dass der Geschichtsunterricht und die mehrheitlich nationalgeschichtlich ausgerichteten Lehrpläne eher auf die Interessen autochthoner Jugendlicher abzielen, weshalb deren Bedarf an historischer Orientierung eher gedeckt und ihre Familien sowie ihr außerschulisches soziales Umfeld weniger gefordert sind. Eine andere Vermutung ist, dass sich der Umgang mit Geschichte in autochthonen Familien unterscheidet und historische Themen hier weniger in den Familienalltag integriert sind. Diese vorläufigen Vermutungen werden in den qualitativen Befragungen weiter untersucht werden. Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund geben ebenfalls an, einen Teil ihres historischen Wissens aus dem Elternhaus zu erhalten. Ihr Wissen über türkische Geschichte generieren Jugendliche mit Migrationshintergrund jedoch allein aus ihren Familien. Was mag der Grund hierfür sein? Auf Grundlage der Daten kann davon ausgegangen werden, dass historische Themen im Allgemeinen und türkische Geschichte im Speziellen in Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ausführlich behandelt werden. Dass insbesondere Eltern der zweiten Generation ihren Kindern (also der dritten Generation) auch türkische Geschichte vermitteln, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Eltern der zweiten Generation sind entweder im jungen Kindesalter nach Deutschland migriert oder wurden in Deutschland geboren. Sie partizipieren und rezipieren seither die deutsche(n) Geschichtskultur. Dennoch versuchen sie, ihr Wissen über türkische Geschichte an ihre Kinder weiterzugeben. Dies erstaunt angesichts der Leitlinien für den Geschichtsunterricht in der Türkei, da sie, obwohl sie keinen türkischen staatlich-institutionellen Geschichtsunterricht erfahren haben, den Maximen der Weitergabe und Bewahrung der türkischen Geschichte zu folgen scheinen. Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass Jugendliche der dritten Generation ihr Interesse an türkischer Geschichte eher im Elternhaus als im Geschichtsunterricht formulieren. An diese vorläufigen Überlegungen werden die Interviews später anknüpfen. Zusammenfassend scheint das hohe Interesse der Schüler *innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund an Geschichte im Geschichtsunterricht nicht gestillt zu werden. Zudem scheinen ihre thematischen Interessen (z.B. türkische National-Geschichte) dort nicht berücksichtigt zu werden, weshalb sie zusätzliches Wissen in ihren Familien erwerben. Eine weitergehende Studie könnte erfassen, über welche historischen Kenntnisse und welches Geschichtsbewusstsein die Eltern (und Großeltern) nen, S. 77; Bernhardt/Mayer/Gautschi: Historisches Wissen – was ist das eigentlich?, S. 105f.; Günther-Arndt: Historisches Lernen und Wissenserwerb, S. 29.

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Der Diasporakomplex

verfügen und wo diese Kenntnisse erworben wurden. In den Interviews wurden daher versucht die Intentionen und Deutungsangebote im familiären Umfeld der Jugendlichen zu erheben. Es wurde jedoch ein allgemeiner Wissentest durchgeführt, der das historische Wissen der Proband*innen erheben sollte. Der (allgemeine) Wissenstest wurde an allen Schulen in gleicher Form durchgeführt (Kapitel 4.1). Der Teil (T1) umfasst zehn Fragen, bei denen insgesamt zehn Punkte erreicht werden konnten.96 Neun der zehn Fragen stammen aus dem Einbürgerungstest.97 Der zweite Teil (T2) umfasst ebenfalls zehn Fragen. Sie reichen thematisch von der Epoche der Antike bis zur Gegenwart. Das Gesamtergebnis zeigt, dass 75,8 Prozent aller Teilnehmer 50 Prozent oder weniger der möglichen Punkte erreichten (unter zehn Punkten). Der Mittelwert in allen Schulformen lag unter zehn Punkten. Zwar erreichten Hauptschüler*innen durchschnittlich die geringste Punktzahl, jedoch lagen sie nahe an den Ergebnissen der Realschüler*innen. Die Gymnasiast*innen erzielten zwar die höchste durchschnittliche Punktzahl, lagen aber dennoch ebenfalls unter zehn Punkten und damit in Schulnoten ausgedrückt bei mangelhaft. Die maximal erreichte Punktzahl lag an der Hauptschule bei 10,6 Punkten (von möglichen 20 Punkten), an der Realschule bei 11 Punkten und am Gymnasium bei 17 Punkten. Zwei Schüler der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund erzielten mehr als 15 von 20 möglichen Punkten. Im Geschlechtervergleich erreichten Mädchen im Durchschnitt weniger Punkte als Jungen. Nur 11 Prozent der Mädchen, aber mehr als ein Drittel der Jungen erreichten mehr als 10 Punkte. Der Vergleich zwischen den Testteilen T1 und T2 zeigt, dass die Fragen aus dem Einbürgerungstest in T1 insgesamt erfolgreicher beantwortet wurden.98 Vergleicht man nach Migrationshintergrund, so zeigt sich, dass der erreichte Mittelwert bei den autochthonen Jugendlichen mit 6,0 Punkten (von 20 Punkten) gering über dem der Schüler*innen mit Migrationshintergrund (4,8 Punkte) liegt. Obwohl alle Teilnehmer*innen Bildungsinländer waren, wurde beim Test T1 (aus dem Einbürgerungstest) im Mittelwert nur die Note ausreichend erreicht. Der zweite Testteil (T2) stellte für die Befragten eine noch größere Herausforderung dar. Hier lag der Mittelwert bei 2,7 von zehn möglichen Punkten bei 96 | Da es sich im Test um das Erheben reproduzierten Wissens handelt, also Faktenwissen, werden alle Fragen mit einem Punkt bewertet. 97 | Einbürgerungstest: Fragenkatalog: Nr. 156, 163, 169, 172, 185, 188, 190, 196, 215. 98 | Bei T1 liegt er bei 5,6 Punkten (von 10 Punkten) im Vergleich zu 2,6 Punkten (von 10 Punkten) bei T2.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

den autochthonen Schüler*innen und bei 2,3 von zehn möglichen Punkten bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Durchschnitt erreichten die Teilnehmer*innen nur die Note mangelhaft. Probanden n=

124

Fehlend n=

0

Mittelwert

8,1258

Median (Zentralwert)

8,0000

Standardabweichung

3,21455

Maximum erzielter Punktzahl

17,00

Minimum erzielter Punktzahl

0,00

Bereich erzielter Punkte

17,00

Tabelle 4: Testergebnisse insgesamt (T1+T2) Aufgrund der Ergebnisse der quantitativen Befragung ist nicht davon auszugehen, dass Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund besser in die deutsche Gesellschaft integriert sind als Schüler*innen der zweiten Generation oder solche mit einem anderen Migrationshintergrund. Sie begreifen sich nicht als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft. Vielmehr scheinen sie in einem hohen Maß irritiert zu sein und ein hohes Orientierungsbedürfnis zu besitzen. Dieses manifestiert sich am starken Interesse der Schüler*innen an der ehemaligen Herkunftskultur ihrer Großeltern, welches wiederum auf den Versuch verweist, die eigene historische Identitätskonstruktion aus historischen Kontinuitäten zu bilden. Die Ergebnisse der quantitativen Erhebung bekräftigen, dass Integration keine lineare Fortschrittsentwicklung ist, sondern sich in verschiedenen Phasen als Prozess von Aushandlungen vollzieht. Von einer emotionalen Integration der Befragten im Sinne einer Identifikation mit der deutschen Gesellschaft kann nur bedingt gesprochen werden. Zwar sind die Jugendlichen strukturell assimiliert, das heißt, sie zeigen Indikatoren der (Ak-)Kulturation, Platzierung und Interaktion, jedoch zeigen sie gleichzeitig eine nur unvollständige Identifikation. Trotz ihrer strukturellen Teilhabe scheinen der Integrationsprozess und die gesellschaftliche Teilhabe auch in der dritten Generation (noch) nicht vollzogen zu sein. Dessen scheint sich die Migrationsgesellschaft nicht bewusst zu sein. In Anlehnung an die Ergebnisse der Mehrthemenbefragung 2013 gibt es auf individueller Ebene unterschiedliche Grade an Integration. Von einem generellen Integrationsfortschritt kann jedoch nur bedingt ausgegangen werden. Für diese Studie ist dieser zudem nicht feststellbar, da keine Vergleichsgruppe mit Proband*innen der ersten oder zweiten Generation erhoben wurde. Ein differenzierter Gruppenvergleich lässt sich jedoch mit dem

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Der Diasporakomplex

vorliegenden Sample nicht realisieren, da die Schüler*innen mit anderen Migrationshintergründen eine sehr heterogene Gruppe darstellen.

4.6.7 Identifikation und Identität 38,7  Prozent aller Befragten gaben an, dass die (kulturelle) Herkunft ihrer Meinung nach in Deutschland eine wichtige Rolle spielt. Diese Ansicht teilten 40 Prozent der Realschüler*innen und 44 Prozent der Gymnasiast*innen. Mit 39 Prozent waren gleich viele Mädchen und Jungen dieser Auffassung. Unterschiede zeigt jedoch der Vergleich nach Migrationshintergrund: 28,6 Prozent der autochthonen Jugendlichen hielten die Herkunft in Deutschland für relevant, 36  Prozent der Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, aber 55  Prozent der Jugendlichen mit einem anderen Migrationshintergrund. Bei Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund waren es 43 Prozent. Mit Rückblick auf die Ergebnisse zur empfundenen Diskriminierung legt dieses Ergebnis die Annahme nahe, dass entweder die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen Selbstzuschreibung und Fremdzuschreibung verfeinert wird, oder auch, dass die alltäglichen Stigmatisierungserfahrungen (aufgrund unsachgemäßer Pauschalisierung und Zuschreibung, wie in den Interviews von bspw. Duygu oder Fatih gesehen werden kann) vor-angenommene Gruppencharakteristika (Vorurteile) in der dritten Generation nicht abnehmen. Da – wie im Sample dieser Studie – kulturelle Herkunft und religiöse Zugehörigkeit häufig zusammenfallen99 bzw. von der ethnischen Herkunft häufig auf eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit (und ein bestimmtes Maß an Religiosität) geschlossen wird, kann die Frage, wie wichtig Religion in Deutschland ist, als weiteres Merkmal der Integration betrachtet werden. Über 35 Prozent der Schüler*innen messen Religion eine gesellschaftliche Relevanz zu (Realschüler*innen fast 44  Prozent, Gymnasiast*innen verneinen mit fast 39 Prozent). Im Geschlechtervergleich zeigt sich, dass besonders Mädchen der Religion eine Bedeutung zusprechen (44 Prozent, Jungen 27,4 Prozent). Von den Befragten mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sind 54 Prozent dieser Meinung, bei den Angehörigen der dritten Generation sind es mit 57 Prozent etwa gleich viele. Autochthone Jugendlich messen der Religionszugehörigkeit seltener (24,9 Prozent) Bedeutung bei. Religion scheint besonders in der Wahrnehmung von Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund eine hohe gesellschaftliche Relevanz zu besitzen. Ob dies

99 | Alle Befragten mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sind Muslime, sodass von einem muslimisch-türkeibezogenen Migrationshintergrund auch in der dritten Generation gesprochen werden kann.

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mit der eigenen empfundenen Religiosität zu tun hat oder auf erlebte (Fremd-) Zuschreibungen zurückgeht, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Was sich sagen lässt, ist, dass die Jugendlichen die Fragen nach der empfundenen gesellschaftlichen Relevanz von (kultureller) Herkunft und Religion vor ihrem eigenen Erfahrungshintergrund beantworteten. Dies bedeutet, dass die Jugendlichen mit Migrationshintergrund darin Differenzierungsmerkmale sehen, denen sie einen hohen Einfluss für die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe beimessen. Diese Interpretation beruht allerdings auf der Zusammenführung der weiteren qualitativen Daten (Q2GF und Q2IF) mit den Ergebnissen der Interviewauswertung. Zugespitzt bedeutet es, dass der religiöse und damit verbundene kulturelle Hintergrund von den Befragten als Stigmatisierungsmerkmal empfunden wird, der einer Integration oder – wie die Mehrheit der Schüler*innen es versteht – eine Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft erschwert. Wenn die Religionszugehörigkeit (konkret der Islam) als Ausgrenzungsmerkmal erachtet wird, dann geschieht dies vor dem Hintergrund einer christlichen Mehrheitsgesellschaft, deren Wertvorstellungen als Referenzrahmen gelten. Noch zugespitzter stellt sich die Frage, ob die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit faktisch überhaupt besteht oder ob diese nicht durch eine tatsächlich bestehende (Gefahr der) gesellschaftlichen Ausgrenzung überlagert wird. Um sich der Wahrnehmung der Schüler*innen von (potenzieller) Integration und Exklusion besser annähern zu können, wurde nach der empfundenen gesellschaftlichen Relevanz von Religion und Herkunft gefragt. Dabei schätzen Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die Relevanz von Herkunft und Religion in Deutschland vergleichsweise höher ein.

4.7 E rgebnisse der qualitativen E rhebun g In einer kategorialen Inhaltsanalyse wurden durch hermeneutische Interpretationen und regelgeleitetes Codieren Ergebnisse generiert. Die durch unterschiedliche Methoden erhobenen Ergebnisse werden zunächst getrennt voneinander dargestellt und anschließend zusammengeführt. Im Anschluss daran werden sie mit den Ergebnissen der quantitativen Erhebung trianguliert und bilden mit diesen die Grundlage für die Typisierung (vgl. Kapitel 5.2). Diese verfolgt das Ziel, das theoretische Modell vom Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration zu erweitern.

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Der Diasporakomplex

4.7.1 Gruppendiskussionen (Q2GF) An den Gruppendiskussionen nahmen insgesamt 15 Schüler*innen aller drei Schulformen teil (Tabelle 5). Insgesamt wurden vier Gruppenbefragungen durchgeführt. Leider konnten keine autochthonen Hauptschüler*innen für die Teilnahme an der Gruppenbefragung gewonnen werden. An der Realschule gab es keine Schwierigkeiten. Am Gymnasium konnten aufgrund der hohen Beteiligung von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zwei Gruppendiskussionen geführt werden. Mädchen äußerten zudem ein starkes Unbehagen über die Videografie der Interviews. In Reaktion darauf wurde die Kameraeinstellung verändert, sodass diese Schülerinnen nicht visuell erfasst wurden. Gruppenbefragung (Q2GF) SuS

HS

RS

GYM I

GYM II

3. Gen. tr. MH m.

2

1

1

2

3. Gen. tr. MH w.

1

1

1

1

o. MH m.

0

1

1

1

o. MH w.

0

1

1

0

Tabelle 5: Zusammensetzung der Gruppenbefragungen Die Gruppenbefragungen wurden an allen Standorten mit der gleichen Vorgehensweise durchgeführt.100 An der Hauptschule zeigten sich die Schüler*in100 | Zunächst wurden potenzielle Proband*innen angesprochen und gefragt, ob sie teilnehmen möchten. Anschließend wurden die zusammengesetzten Gruppen in einen Klassenraum geführt, in dem bereits eine Videokamera sowie ein Gruppentisch aufgestellt waren. Nachdem die Schüler*innen saßen, wurde versichert, dass es sich bei der Untersuchung nicht um einen Test handle und dass weder Lehr*innen noch Schulleitung die Aufnahmen zu sehen bekommen würden. Die Schüler*innen wurden gebeten, ehrlich und angstfrei zu antworten. Ihnen wurde versichert, dass ihre Sichtweisen interessant und relevant sind. Nach der Gruppendiskussion wurde den Gesprächsteilnehmer*innen eine zweite Aufgabe gestellt. Auch hierbei wurde ihnen die vollständige Anonymität zugesichert und erneut betont, dass weder Lehrer*innen noch Schulleitung Einblick in die Ergebnisse erhalten würden. Die Aufgabe wurde vorgelesen und Verständnisfragen wurden geklärt. Im Anschluss an die schriftliche Einzelbefragung wurde gefragt, wer als erstes interviewt werden möchte. Die anderen Schüler*innen gingen wieder in die Klassen und wurden im Anschluss von Mitschüler*innen einzeln zum Interview geholt. Vor dem jeweiligen Einzelinterview wurde den Schüler*innen kurz die Struktur des Interviews erläutert: Im ersten Teil wurde auf die interessanten Antworten Bezug genommen,

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

nen durch die Methode verunsichert. Die Aufforderung, sich in der Gruppe (Fatih, Savaş, Eda) im Gespräch sachlich zu einigen, schien besonders die teilnehmende Schülerin zu verunsichern. Die beiden Schüler (Fatih, Savaş) führten das Gespräch überwiegend alleine und konnten sich nicht auf ein gemeinsames Ergebnis einigen. Im Gruppengespräch traten Verhaltensweisen sowie Antipathie zutage, die den gesamten Gesprächsverlauf beeinflussten. Die bereits erwähnte methodische Verunsicherung machte ein stärkeres Eingreifen meinerseits in das Gespräch erforderlich, um die methodische Unsicherheit der Proband*innen aufzufangen und eine Debatte zwischen ihnen zu initiieren. Bei den Realschüler*innen traten keine derartigen Verunsicherungen auf (Duygu, Lisa, Tobias, Berk). Zwar waren zwei Schüler*innen sehr dominant, ihre Bemühungen, ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen überwog jedoch. Die beiden Teilnehmerinnen unterschieden sich stark von den anderen befragten Mädchen. Sie wirkten weder eingeschüchtert, noch übten sie Zurückhaltung gegenüber ihren Mitschülern aus. Sowohl Duygu als auch Lisa begründeten ihre Auswahl eines historischen Ereignisses und versuchten ihre Mitschüler argumentativ von dieser zu überzeugen. Die Befragten schienen geübt im Diskutieren und Argumentieren zu sein. Ein diskursives Miteinander zur Klärung von Fragen und Aufgaben schien den Schüler*innen methodisch bekannt zu sein. Am Gymnasium fanden zwei Gruppendiskussionen statt. In der Ersten (Gruppe I, bestehend aus Cihan, Julius, Nele und Aslı) konnte sich die Gruppe auf ein Ereignis einigen. Besonders auffällig war, dass Aslı und Cihan sich im Vergleich zu den anderen reservierter verhielten. Cihan verteidigte seine persönliche Sichtweise in der Diskussion nur sehr verhalten, obwohl er zuvor eine abweichende Wahl bevorzugt hatte. Neles Beharrlichkeit überstimmte letztendlich die anderen Gruppenmitglieder. Im Vergleich zu den Befragungen an der Haupt- sowie der Realschule wirkten die Gymnasiast*innen in der Diskussion auf eine fast einstudierte Weise professionell. Die zweite Gruppe am Gymnasium (Serkan, Kaan, Jan, Burcu) erwies sich ebenfalls als geübt im Verfahren. Sie beachtete strikt die Gesprächs- und Diskussionsregeln. Bei dieser Gruppe zeigte sich, dass die Gruppenzusammensetzung entscheidende Auswirkungen auf den Gesprächsverlauf haben kann. Sehr interessiert und rege beteiligten sich vor allem Serkan und Jan, die jeweils gegensätzliche Ansichten verteidigten. Kaan war hingegen sehr zurückhaltend und erweckte den Eindruck, trotz seines Interesses bereits von vornherein eine distanzierte Rolle einzunehmen. Er äußerte seine eigene Ansicht nur kurz, um die/den Schüler*in besser kennenzulernen und im zweiten Teil wurden Fragen zu Geschichte und Integration gestellt. Bevor das Interview begann, wurde nochmals das Einverständnis der Schüler*innen zur Teilnahme eingeholt.

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Der Diasporakomplex

verteidigte sie jedoch später nicht. Burcu orientierte sich deutlich an Jan und pflichtete dessen Argumenten bei und argumentierte selbst nur wenig. Serkan zeigte in seiner Argumentation großes Interesse und Hintergrundwissen. Obwohl Jan den Argumenten Serkans nur bedingt etwas entgegensetzen konnte, ließ er sich nicht von ihnen überzeugen. Die Diskussion wurde letztlich durch Kaan beendet, der abschließend einen unauflösbaren Dissens feststellte. Kaan schien das aus seiner Sicht aussichtslose Unterfangen einer Einigung beenden zu wollen. Seine distanzierende Haltung unterschied ihn stark von seinen Mitschüler*innen. Jan: Ich denke, der Mauerfall ist am wichtigsten, weil wir alle in Deutschland leben. Und ohne den Mauerfall würden wir hier nicht so leben. Uns würde es nicht so gut gehen. Serkan: Eigentlich ging es ja Deutschland vor dem Mauerfall viel besser. Die Wirtschaft war stärker. Jan: Ja im Westen, nicht im Osten. Serkan: Ja klar. Jan: Ja, hier auf der westlichen Seite, aber generell für uns und Europa, ist es besser, wenn die Menschen frei sind. [Interview Q2GF, Gymnasium II] Das jeweilige Gruppenergebnis wurde insbesondere von den dominanten Diskussionsteilnehmern bestimmt. Dies führte in zwei Fällen zum Scheitern des Aushandlungsprozesses. In allen Gruppen scheiterten Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund daran, ihre autochthonen Mitschüler*innen von der Relevanz von Ereignissen der türkischen Geschichte zu überzeugen. Da die türkische Geschichte für sie relevant sei, müsse sie auch relevant für die deutsche Geschichte sein, so das Argument. Keiner der autochthonen Schüler*innen ließ sich von diesem Argument überzeugen. Die Vorstellung, dass deutsche oder europäische Geschichte für alle relevant sei, türkische Geschichte jedoch nur für nicht-autochthone Schüler*innen, konnte trotz des argumentativen Austauschs nicht überwunden werden. Das einzige konsensfähige Thema schien die Wiedervereinigung zu sein, da sich alle Beteiligten durch ihr Leben in Deutschland davon berührt fühlten. Die mehrheitliche Argumentation bewertete die Wiedervereinigung positiv als Abschluss der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Diese positive Konnotation, die die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf sämtliche in Deutschland lebenden Personen sowie der implizite moralische Appell, Mauerfall und die Wiedervereinigung als demokratische Wende anzuerkennen, ließen die Gegenargumente verstummen.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Historische Sinnbildungsformen

Gruppenbefragung (Q2GF) HS

RS

GYM I

GYM II

traditional

1

3

3

2

exemplarisch

1

3

0

2

kritisch

0

0

0

1

genetisch

0

0

0

1

Diskussionsergebnis

keine Einigung

Wiedervereinigung

keine Einigung

Wiedervereinigung

Tabelle 6: Sinnbildungsformen in Gruppenbefragungen Wie Tabelle 6 zeigt, konnten sich nur zwei Gruppen auf ein gemeinsames historisches Ereignis einigen. In beiden Fällen war dies die Wiedervereinigung. An der Realschule gelang die Einigung erst durch das entschiedene Beharren einer Teilnehmerin auf die weltgeschichtliche und gesellschaftliche Bedeutung des Mauerfalls sowie durch die Betonung des existenziellen Einflusses dieses Ereignisses auf die Lebenswelt aller Anwesenden.

Gruppendiskussion Realschule Lisa: Weil Deutschland war ja, sozusagen gefangen für die eine, eine Seite zum Beispiel, die Freunde war auf der anderen Seite vom Mann und die konnten sich ja nicht so, so, die konnten halt nichts machen und wo die Mauer gefallen ist, konnten die sich. Deswegen leben wir jetzt auch so und nicht anders. [Interview Q2GF RS] Lisa: Und wäre die Mauer nicht gefallen, die würden jetzt alle leben hier. Duygu: Ja, genau. Lisa: Hätten wir das, was wir jetzt alles haben oder nicht? Berk: Auf jeden Fall wäre die Mauer so oder so gefallen. Frage: Wir sind ja im Westen. Tim: Ja, ist gut, das hat nichts, aber da konnten wir auch nicht … Frage: Macht das einen Unterschied, ob wir im Westen oder Osten sind? Berk: Nein, eigentlich nicht. Lisa: Ja doch, eigentlich schon. Früher war das, früher gab es doch, auf der einen Seite war alles, zum Beispiel meine Oma, die hat mir gesagt, hier waren die Strumpf hosen billig, aber da haben die, waren die voll teuer. Oder die hat auch meiner Tante immer Sachen geschickt, weil die da viel teurer waren als hier. Auch Schokolode, sowas kannten die da gar nicht. Und deswegen. Tim: Ich glaube, die DDR war auch strenger mit solchen.

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Der Diasporakomplex Lisa: Wir haben Verwandte in Berlin und meine Oma, wenn wir die besuchen wollten, mussten die erst mal eine Genehmigung [haben], damit die [meine Oma] überhaupt besuchen konnten. Lisa: Dann hätten wir doch jetzt hier nicht so ein, wie so ein leichtes Leben, könnten nicht überall hin. [Interview Q2GF, Realschule]

Die Argumente der Teilnehmer*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, die für Atatürk oder die Ankunft der Gastarbeiter*innen als wichtigstes historisches Ereignis argumentiert hatten, wurden so entkräftet. Duygus Versuch, die Gründung der Türkei, die sie mit der Person Atatürk gleichsetzte, als entscheidendes historisches Ereignis mit wichtigen Auswirkungen auf die deutsche Geschichte und Gesellschaft zu deuten, scheiterte an der Beharrlichkeit der anderen Schüler*innen sowie an Berks ambivalenter Haltung zu Atatürk. Berk wies kritisch auf den Umgang mit Religion hin.

Gruppendiskussion Realschule Tim: Ja, erzählt mal was. Duygu: Mustafa Kemal Atatürk, das war der erste, also das war der Mann, der die Demokratie in die Türkei gebracht hat. Berk: Der kam aus Griechenland. Duygu: Ja, der, aber Griechenland war früher Türkei. Berk: Ja, aber der ist Grieche. Duygu: Nein, der ist Türke. Berk: Doch. Duygu: Nein. Der wurde in Griechenland geboren, aber Griechenland war doch früher Türkei und der war ein Soldat der Osmanen, also das war, bevor Türkei Türkei war, war das erst mal das Osmanische Reich, dann Osmanen […], Osmanen haben die Türkei regiert und dann, und damals war das ja so, dass die Frauen alle ganz bedeckt waren, ne, und die, also das – die, also die haben, damals haben, zu der Zeit haben die auf Arabisch gelesen und auf Alttürkisch geredet. Und also das ist eine arabische Schrift und der hat zum Beispiel das ABC in die Türkei gebracht, der hat den Kindern das ABC beigebracht. Berk: Der hat auch, glaube ich, die Religion und die Politik auseinandergehalten, also nicht zusammen. Duygu: Ja genau, der hat also, zum Beispiel hat er das Kopftuch also nicht abgeschaffen, aber dieses, diese Ganzbedeckung, wo man nur die Augen sieht, das hat er zum Beispiel abgeschaffen, aber zum Beispiel seine Mutter, die hat weiterhin noch Kopftuch getragen, also die hat das, die hat dann zwar ihr Gesicht und so aufgemacht, aber die hatte noch ihr Kopftuch an und da wollte er halt, dass die Türkei sich ein bisschen modernisiert und nicht mit diesen Hüten rumläuft und nicht, kennt ihr diese Hosen, wo so unten.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Tim: Ja, ja. Duygu: Ne, diese, so wie Jogginghosen und er wollte halt, dass das sich modernisiert und dass Türkei ein bisschen sich noch mehr entwickelt. Ja, und dann haben wir aber mit … Tim: Ja, ja, stimmt. Duygu: Ja. Lisa: Also für mich wäre das hier wichtig. (Mauerfall) Duygu: Ja, für die Türkei ist der sehr wichtig. [Interview Q2GF, Realschule]

Das Gespräch zwischen Duygu und Berk ließ den Umgang mit Geschichte sowie die Bedeutung der türkischen Geschichte bzw. einer Migrationsgeschichte erkennen. Berks kritische Äußerungen zum Laizismus und zur Person Atatürks verwiesen bereits auf eine politische, aber vor allem auf eine religiöse Prägung seines Umgangs mit Geschichte.101

Gruppendiskussion Realschule Berk: Das kenne ich irgendwoher. Duygu: Auf jeden Fall Gastarbeiter, ja. Duygu: Das sind unsere Opas. (kichert) [Interview Q2GF, Realschule]

Berk formulierte bereits (s.o.) seine türkisch-religiöse Verortung, der Duygu ihre türkisch-säkulare Positionierung gegenüberstellte. Während Berk sich distanziert über Einwander*innen als Gastarbeiter*innen äußerte, stellte Duygu einen persönlichen (und emotionalen) Bezug her, indem sie von der ersten Generation als »unsere[n] Opas« sprach. Das Bemühen und Unterliegen der Nicht-Autochthonen in den Gruppendiskussionen markiert nicht nur ihr Streben nach Anerkennung und Partizipation, sondern auch die Hürden, die ihnen bei ihren Integrationsbemühungen von der Mehrheitsgesellschaft (hier in Gestalt ihrer autochthonen Mitschüler*innen) gestellt werden. Ihre Teilhabe als auch das Selbstverständnis als Zugehörige wird ihnen durch Distinktionen erschwert. Die Diskussion der zweiten Gruppe am Gymnasium endete ergebnislos. Allerdings reflektierten die Schüler*innen bereits im Gespräch, dass sie sich aufgrund unterschiedlicher Perspektiven nicht einigen könnten. 101 | Für den Prozess der Laizisierung (laikle ş me) nach dem Ende des Osmanischen Reichs und Gründung der Republik Türkei wird im Deutschen der Begriff Säkularisierung verwendet. Der Laizismus gehört seit Beginn der Staatswerdung der Türkei zu den Grundelementen der Republik. Seit 1937 ist er in der Verfassung verankert. Siehe dazu Wedel: Der türkische Weg zwischen Laizismus und Islam, S. 9ff.

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Der Diasporakomplex

Gruppendiskussion Gymnasium II Burcu: Dann die Französische Revolution. Jan: Der Mauerfall. Kaan: Ich finde am wichtigsten Atatürk. Serkan: Auch Atatürk. [Interview Q2GF, Gymnasium II] Serkan: Ich finde, ohne Atatürk würde ich hier nicht sitzen. Sonst gäbe es keine Türkei. Vielleicht wäre mein Vater Grieche, vielleicht auch unbekannt. Deswegen ist Atatürk für mich eine sehr wichtige Person. Vielleicht wäre die Türkei bis in die 80er Jahre besetzt, unter fremder Herrschaft. Burcu: Die Französische Revolution hat ja auch andere Länder dazu, nicht aufgefordert direkt, aber dadurch haben ja auch andere Länder so Revolution gemacht und äh, den Leuten ging es ja danach auch viel besser. Da wurde ein bisschen mehr Demokratie eingeführt. Ich finde das auch viel wichtiger als die anderen. Das mit Atatürk trifft ja jetzt nicht so Deutschland. Und der Mauerfall der ist auch wichtig aber. Jan: Französische Revolution finde ich auch wichtig. Dadurch leben wir hier in einer Demokratie und nicht anders. Serkan: Ja das ist ja auch wichtig. Die deutsche Wiedervereinigung war ja auch sozusagen die Abschaffung von dem Eisernen Vorhang zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato. Deswegen verdanken wir auch eigentlich dem Mauerfall das Ende des Kalten Krieges. Jan und Burcu: Franz[ösische] Revolution und Mauerfall. [Interview Q2GF Gymnasium, II]

Nachdem Serkan und Kaan Atatürk als wichtigste historische Person wählten, führte Jan ähnlich wie Lisa das Argument an, dass der Mauerfall das wichtigste Ereignis sei. Auf Serkans kritischen Einwurf reagierte Jan, indem er nicht mehr Deutschland als Referenzrahmen anführte, sondern Europa. Um seine Argumentation zu verstärken, führte er schließlich das universelle Menschenrecht auf Freiheit an.102 Ohne dem Relationswechsel Jans zu folgen, betonte Serkan den Zusammenhang zwischen Atatürk und seiner eigenen Anwesenheit in Deutschland. Burcus Intervention, die Französische Revolution als wesentlichen Einflussfaktor auf eine demokratische Staatsentwicklung in Deutschland zu werten und gleichzeitig Atatürk sowie den Mauerfall als ebenwertige Ereignisse darzustellen, zeigt das Bestreben der Schüler*innen, sich an Deutschland und Europa zu orientieren. Gleichzeitig offenbart die Argumentation ihren Mangel an historischem Wissen, da gerade die Werte der Französischen Revolution sowie die Aufklärung bei der Gründung der Türkei nach dem Zusammenfall des Osmanischen Reichs als Vor- und Leitbild dienten, dies jedoch 102 | Art. 3 UN-Menschenrechtscharta.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

den Teilnehmer*innen nicht bekannt war.103 Auch Serkan griff nicht auf diese Argumentation zurück. Er artikulierte zwar sein Verständnis für die Bedeutung des Mauerfalls, plädierte aber weiter für Atatürk als relevantes Ereignis. Kaan, der zu Beginn einmal seine Auswahl verkündet hatte, beteiligte sich im späteren Gesprächsverlauf nicht weiter. Seine Körperhaltung und Mimik zeigten, dass er der Diskussion zwar folgte, deren Inhalt aber missbilligte. Er schien die Relevanz der verhandelten historischen Ereignisse grundsätzlich infrage zu stellen. Im späteren Einzelinterview nannte er Mohammed und das Osmanische Reich als besonders historisch relevant. In der Rückschau verwundert es daher auch nicht, dass gerade Kaan die Diskussion in der Gruppe durch den Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Einigung beendete. In der Gruppe I des Gymnasiums zeigten sich vergleichbare Schwierigkeiten. Hier lösten die Teilnehmer*innen ihren Dissens jedoch auf, indem sie eine Rangliste erstellten und die Ereignisse der Relevanz nach sortierten. Auf den ersten Platz setzten sie den Mauerfall, auf den zweiten Atatürk, auf den dritten die Französische Revolution und auf den vierten das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Gruppendiskussion Gymnasium I Cihan: Französische Revolution. Julius: Romulus und Remus. Nele: Hatten wir in Latein. Aslı: Ich finde, das wichtigste ist Deutschland und der Mauerfall. Cihan: Und der hier (Atatürk) ganz oben. Cihan: Danach Frankreich und das Kriegsende. Nele: Ich denke der Mauerbau ist das wichtigste. Julius: Kriegsende und Mauerfall. Generell die Befreiung von den Nazis und der folgende Aufschwung. Cihan: Und die Gastarbeiter. Die gehören auch zum Aufschwung. Nele: Ich würde den Mauerfall nehmen. Cihan: Ich würde den Zweiten Weltkrieg nehmen. Cihan: Wir nehmen den Mauerfall und den Zweiten Weltkrieg, der Anfang und das Ende. [Interview Q2GF, Gymnasium I]

Aslıs Wahl fiel auf den Mauerfall, den sie als »das Wichtigste für Deutschland« deklarierte, während Cihan zunächst Atatürk als erste Präferenz und dann Gastarbeiter*innen als für Deutschland entscheidend nannte. Obwohl hier die Relevanz oder der Einfluss einer Migrationsgeschichte (Diasporageschichten) und der türkischen Geschichte (Tradition) durchscheinen, bemühte sich Cihan in keiner Weise, den anderen seine Sichtweise zu vermitteln oder zu erläutern. Er entzog 103 | Kramer: Vom Reich zur Republik: Die Kemalistische Revolution.

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Der Diasporakomplex

sich einem möglichen Konflikt, indem er sich der Auffassung seiner Mitschüler*innen anschloss. Der Diskussionsverlauf wirkte sehr schematisch und wurde durch die Dominanz der Deutungen der autochthonen Teilnehmer*innen bestimmt, die nicht einmal auf Cihans Einwurf reagierten. Die Schüler mit türkeibezogenem Migrationshintergrund beharrten auf der Relevanz der türkischen Geschichte auch für Deutschland – so konnte kein Kompromiss erreicht werden. In der Gruppendiskussion an der Hauptschule scheiterte eine Einigung an der geringen Diskussionsbereitschaft. Einem Teilnehmer gelang es trotz seiner argumentativen Anstrengungen nicht, seine Mitschüler zum Austausch zu animieren. Die einzige Teilnehmerin enthielt sich der Diskussion fast vollständig und fühlte sich auch nicht imstande, die anschließende schriftliche Befragung zu bearbeiten.

Gruppendiskussion Hauptschule Frage: Und was hat das Osmanische Reich mit Euch zu tun? Savaş: Das sind unsere Vorfahren. Fatih: Ich kann darüber jetzt nicht viel sprechen, also nehme ich das da. Ganz ehrlich. Ich nehme die Wiedervereinigung. [Interview Q2GF, Hauptschule] Fatih: Weil ich das Thema auch für richtig halte, einfach so. Wir hatten das vor kurzem im Geschichtsunterricht, also nehme ich das auch. Frage: Hm. Weißt Du etwas über das Osmanische Reich? Eda: Ja, aber jetzt nicht so. Fatih: Ahm. Musst Du noch mal lesen ’ne (lacht). Frage: Was wisst Ihr denn? [Interview Q2GF, Hauptschule]

Die historischen Argumentationsmuster in den Gruppendiskussionen wurden in der Codierung den unterschiedlichen historischen Sinnbildungsformen zugeordnet. Beim Vergleich dieser Argumentationsmuster nach Schulform fallen einige Besonderheiten auf (vgl. Tabelle 6). Die Methode der Gruppendiskussion stellte die Hauptschüler*innen wie bereits erwähnt vor besondere Schwierigkeiten. Diese konnten keinen tatsächlichen Bezug zu den Äußerungen der jeweils anderen auf bauen. Daher konnte hier nur eine einzige Äußerung als exemplarische Argumentationsform im Sinne einer Sinnbildungsform codiert werden. Savaş’s Erzählung von Osman Bey als seinem Vorfahren und zugleich als Begründer der Geschichte des Osmanischen Reichs, der Türkei sowie seiner eigenen Geschichte kann als traditionale Sinnbildung verstanden werden. Savaş definiert (s)einen Ursprung sowie die Dauer seiner Zeitvorstellung. In seiner Verortung als Nachfahre Osman Beys kommen sein Einverständnis in die Narration

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

vom Begründer der Osmanen*innen und sowie seiner eigenen Identität zum Ausdruck.104 Savaş vollzieht den Übergang zu einer exemplarischen Erzählung nicht und entscheidet sich (scheinbar bewusst) für eine traditionale Erzählung. Daher habe ich seine Darstellung als traditionale Sinnbildung kategorisiert. In der vergleichsweise regen Diskussion der Realschulgruppe konnte ich mehrheitlich traditionale Erzählformen sowie in einem Fall eine exemplarische Sinnbildungsform identifizieren.

Gruppendiskussion Realschule Duygu: Ja genau, der hat also, zum Beispiel hat er das Kopftuch also nicht abgeschaffen, aber dieses, diese Ganzbedeckung, wo man nur die Augen sieht, das hat er zum Beispiel abgeschaffen, aber zum Beispiel seine Mutter, die hat weiterhin noch Kopftuch getragen, also die hat das, die hat dann zwar ihr Gesicht und so aufgemacht, aber die hatte noch ihr Kopftuch an und da wollte er halt, dass die Türkei sich ein bisschen modernisiert und nicht mit diesen Hüten rumläuft und nicht, kennt ihr diese Hosen, wo so unten. [Interview Q2GF, Realschule]105

Duygus Erzählung diente dazu, die von ihr genannten Ereignisse in einen allgemeinen Handlungsstrang einzuordnen und zu zeigen, dass die Abschaffung osmanischer Symbole wie des Fes bei Männern und andere religiöse Symbole wie das Kopftuch einem Wandel unterlagen, der exemplarisch für eine verordnete Säkularisierung der muslimischen Gesellschaft und eine Orientierung nach Westen steht. Dieses Bild führte Duygu als Regel für ein beständiges Merkmal des türkischen Islams, der laizistisch-kemalistischen Gesellschaft an. Im Sinne der Sinnbildungsformen bildet sie ihre Identität durch Regelkompetenz (Klugheit) und »verräumlicht Zeit als Sinn«.106 Im Gegensatz dazu konnten in Gruppe I am Gymnasium nur in zwei Fällen traditionale Sinnbildungsformen identifiziert werden. Die größte Varianz an Sinnbildungsformen zeigte sich in der Gruppe II am Gymnasium. Hier gab es auch einen Fall einer kritischen Sinnbildung.

Gruppendiskussion Gymnasium II Jan: Ich denke, der Mauerfall ist am wichtigsten, weil wir alle in Deutschland leben. Und ohne den Mauerfall würden wir hier nicht so leben. Uns würde es nicht so gut gehen.

104 | Die Bezeichnung Osman*in oder Türk’* sind nicht synonym. Zwar sind alle Türk*innen Osman*innen, aber nicht umgekehrt alle Osman*innen Türk*innen. 105 | Fehler beruhen auf Transkription der Originalaussage. 106 | Rüsen: Historik, S. 215 und Abbildung 49.

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Der Diasporakomplex Serkan: Eigentlich ging es ja Deutschland vor dem Mauerfall viel besser. Die Wirtschaft war stärker. [Interview Q2GF, Gymnasium II]

Serkan stellte Jans Erzählung infrage. Er verwies auf Brüche und vertrat bewusst den Standpunkt einer Gegengeschichte. Durch seine Zurückweisung der angebotenen Deutung demonstrierte er Eigensinn und beurteilte »Zeit als Sinn«.107 Serkans Argumentation wurde daher als kritische Sinnbildung codiert.108 Im Vergleich war die Diskussion der Realschüler*innen zwar facettenreicher, beruhte jedoch überwiegend auf traditionalen Erzählformen. Die Gruppe I am Gymnasium war im Gruppengespräch sehr fokussiert. Mit Ausnahme eines Falls einer kritischen Sinnbildungsform folgten die Aussagen auch hier dem Muster einer traditionalen Erzählform. In der Gruppe II am Gymnasium waren ausschließlich traditionale Sinnbildungsformen erkennbar. An der Hauptschule waren die einzigen Äußerungen, die überhaupt als historische Sinnbildungsformen gedeutet werden konnten, traditional. Insgesamt betrachtet ist die Mehrheit der Aussagen in allen vier Gruppen der traditionalen Sinnbildung zuzuordnen (Abbildung 12). Q2GF genesch

krisch

exemplarisch

tradional 0 Q2GF

1 tradional 9

2

3

4

exemplarisch 6

5

6

7

8

krisch 1

9

10

genesch 1

Abbildung 12: Sinnbildungsformen in den Gruppendiskussionen

107 | Ebd. 108 | Im Rahmen des Interviews konnte nicht überprüft werden, ob Serkan hier eine eigene Gegengeschichte entwirft oder lediglich eine andere übernommene Geschichte erzählt. In diesem Fall wäre die Erzählform traditional und nicht kritisch.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Bezogen auf die unterschiedlichen Sinnbildungsformen kann also kaum von einer Steigerung von der Hauptschule zum Gymnasium gesprochen werden. Vielmehr sind die Ergebnisse stark durch die methodische Kompetenz der einzelnen Teilnehmer*innen bedingt. Eine genetische Sinnbildungsform konnte in einem Fall codiert werden. Die kritisch und exemplarisch interpretierten Aussagen stammen jeweils von Teilnehmer*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Unerwartet ist das zurückhaltende Diskussionsverhalten am Gymnasium. Betrachtet man die Ergebnisse am Gymnasium hinsichtlich des Interesses an Geschichte und Geschichtsunterricht, so stützt die Analyse der Gruppenbefragung die Ergebnisse des Fragebogens: Demnach scheinen sich (autochthone) Gymnasiast*innen weniger für Geschichte zu interessieren als ihre nicht-autochthonen Mitschüler*innen. Um die bereits geschilderten methodischen Effekte der Gruppendiskussion abzumildern, erfolgte im Anschluss eine schriftliche Einzelbefragung, um deren Ergebnisse es im Folgenden gehen soll.

4.7.2 Schriftliche Einzelbefragungen (Q2EF) An den schriftlichen Einzelbefragungen nahmen alle 15 Proband*innen der Gruppendiskussionen teil. Eda (Hauptschule) brach die Befragung jedoch an diesem Punkt ab, da sie sich vollkommen überfordert fühlte. Sie äußerte, dass sie nicht wisse, was sie schreiben solle.

Eda (Hauptschule) Gewählte Überschrift: Osmanisches Reich Mir ist nicht eingefallen und ich weiß auch nicht vieles darüber.109

Wie bereits beschrieben, hielt Eda sich bereits in der Gruppendiskussion sehr zurück. Mein Eindruck, dass sie sich sehr unsicher fühlte und mit der Diskussion überfordert war, bestärkte sich. Am Interview nahm sie unter der Bedingung teil, nicht videografiert, sondern nur audiografiert zu werden. Insgesamt wiesen die Ergebnisse der schriftlichen Einzelbefragungen ein vielfältiges Themenspektrum auf (Abbildung 13, Tabellen 7-10). Sechs Jugendliche wählten als wichtigstes historisches Ereignis die Wiedervereinigung aus. Vier Teilnehmer*innen erachteten Atatürk sowie die Geschichte der Türkei als besonders wichtig. Zwei Schüler*innen benannten den Nationalsozialismus und das Osmanische Reich als besonders relevantes Ereignis und eine Teilnehmerin entschied sich für die Französische Revolution. Somit wählten neun Teilnehmer*innen ein deutsch-europäisches und sechs Schüler*innen ein türkisches historisches Ereignis aus. Kein*e autochthone*r Teilnehmer*in 109 | Alle Fehler im Original.

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Der Diasporakomplex

plädierte für ein nicht-deutsches historisches Ereignis. Drei Teilnehmer*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wählten ein deutsches historisches Ereignis (Wiedervereinigung/Mauerfall) und sechs ein Türkisches. 4,5

4

4 3,5 3 2,5 2

3

3 2

2

1,5

1

1 0,5 0 Wiedervereinigung Nationalsozialismus Französische Revolution Osmanisches Reich Atatürk

0 o. MH 3 2 0 0 0

0

0

0 tr. MH 3. Gen. 3 0 1 2 4

Abbildung 13: Themenwahl in der schriftlichen Einzelbefragung Bezogen auf die Formen historischer Sinnbildung können die schriftlichen Einzelerhebungsdaten aus dieser Erhebungsphase mehrheitlich als traditionale Erzählform kategorisiert werden. Die schriftlichen Darlegungen von Tobias und Burcu wurden als exemplarische Sinnbildung codiert. Hinsichtlich der analysierten Sinnbildungsformen unterscheiden sich die schriftliche Einzelbefragung sowie die Gruppendiskussionen also kaum voneinander. Auch ein signifikanter Unterschied zwischen den verschiedenen Schulformen konnte nicht beobachtet werden. Allein die Themenwahl ist sehr unterschiedlich, was vor allem die Bedeutung der Gruppendynamik in den Gruppendiskussionen unterstreicht.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Historische Sinnbildungsformen

Fatih

Savaş

Eda

traditional

X

X

0

exemplarisch

0

0

0

kritisch

0

0

0

genetisch

0

0

0

Thema

Wiedervereinigung

Osmanisches Reich

Osmanisches Reich

Tabelle 7: Gruppe Hauptschule, codierte Sinnbildungsformen Historische Sinnbildungsformen

Berk

Duygu

Tobias

Lisa

traditional

X

X

0

X

exemplarisch

0

0

X

0

kritisch

0

0

0

0

genetisch

0

0

0

0

Thema

Atatürk

Atatürk

Wiedervereinigung

Nationalsozialismus

Tabelle 8: Gruppe Realschule, codierte Sinnbildungsformen Historische Sinnbildungsformen

Cihan

Aslı

Julius

Nele

traditional

X

X

0

X

exemplarisch

0

0

X

0

kritisch

0

0

0

0

genetisch

0

0

0

0

Thema

Wiedervereinigung

Wiedervereinigung

Nationalsozialismus

Wiedervereinigung

Tabelle 9: Gruppe Gymnasium I, codierte Sinnbildungsformen

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Der Diasporakomplex Historische Sinnbildungsformen

Serkan

Kaan

Burcu

Jan

traditional

X

X

0

X

exemplarisch

0

0

X

0

kritisch

0

0

0

0

genetisch

0

0

0

0

Thema

Atatürk

Atatürk

Französische Revolution

Wiedervereinigung

Tabelle 10: Gruppe Gymnasium II, codierte Sinnbildungsformen Bei den Gruppendiskussionen einigten sich zwei Gruppen auf den Mauerfall als wichtigstes historisches Ereignis. Der Nationalsozialismus und die Französischen Revolution sind in diesem Rahmen nur weniger relevante Ereignisse. Nele schrieb dem Nationalsozialismus (»Judenverfolgung«) und dem Mauerfall eine gleichwertige Bedeutung für die deutsche Geschichte und »für die ganze Welt« zu. In ihrer Darstellung stellte der Mauerfall einen Schluss bzw. einen Neubeginn in Deutschland dar.

Nele (Gymnasium) Gewählte Überschrift: Wiedervereinigung Die Zeiten des Nationalsozialismus waren nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Welt bedeutend und haben Spuren hinterlassen. Die Judenverfolgung und der Mauerbau haben eine wichtige Bedeutung. Als diese Mauer, die Deutschland getrennt hat, gefallen ist, entstand ein ganz neues Lebensgefühl.110

Für Nele scheint der Mauerfall das letzte Ereignis des Nationalsozialismus bzw. dessen (Nach-)Folgen für Deutschland zu sein. Überspitzt könnten diese Aussagen dahingehend gedeutet werden, dass der Mauerfall und die Wiedervereinigung von ihr als endgültiges Ende des Zweiten Weltkrieges sowie des Nationalsozialismus wahrgenommen werden. Dieser Ansatz lässt sich auch bei Fatih und Cihan erkennen.

110 | Alle Fehler im Original.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Fatih (Hauptschule) Gewählte Überschrift: 1989 Jahr der Wiedervereinigung Die DDR wurde kurz nach dem 2 Weltkrieg errichtet, es gab immer wieder Konflikte mit den anderen Besatzungmächten wie Frankreich, Großbritanien und USA beispiel die Berliner Luftbrücke (Rosinen-Bomber). Später wurde auch eine Mauer errichtet damit die Menschen aus der DDR nicht nach westdeutschland fliehen konnten. In Wirklichkeit war in der DDR keine richtige Demokratie den es gab nur eine Partei. Viele Menschen flüchteten aus der Ddr aber viele kamen auch durch die Fluchtversuche um. Durch den Druck der Bevölkerung wurde das einreise recht nach westdeutschland Gestattet und später am 1 September 1989 fiel dann die Mauer.111

Cihan (Gymnasium) Gewählte Überschrift: Mauerfall, die Rettung Nach dem 2. ten Weltkrieg wurde Deutschland aufgeteilt. Da Berlin die Hauptstadt war, wurde Berlin auch aufgeteilt, und mit einer Mauer versehen, die Mauer teilte Berlin in die Teile der DDR und…112

Die türkisch-osmanische Geschichte hingegen wird von der Mehrheit der Proband*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund als wichtiges und für sie persönlich relevantes historisches Ereignis wahrgenommen.

Duygu (Realschule) Gewählte Überschrift: Atatürk Atatürk war ein sehr großer Mann in meinen Augen weil wenn er nicht gewesen wär will ich gar nicht wissen wie die Türkei jetzt wär. Für die Geschichte hat er eine sehr große bedeutung denke ich. Atatürk hat in die Türkei die Demokratie gebracht und es sehr modernisiert, hat das ABC jeden beigebracht und hat sehr viel für den Aufstieg der Türkei getan. (sic!)

Kaan (Gymnasium) Gewählte Überschrift: Porträt von Mustafa Kemal Atatürck Atatürck war eine wichtige Persönlichkeit für die Türkei, da es dank ihm die heutige Türkei gibt. Ohne ihn wäre die Türkei heute ganz anders.113

Schüler*innen ohne Migrationshintergrund bringen nicht einmal ansatzweise Verständnis für die Relevanz türkischer Geschichte für die deutsche Mehrheitsgesellschaft auf. Stattdessen ist bei ihnen eine Dichotomie zwischen unse111 | Alle Fehler im Original. 112 | Alle Fehler im Original. 113 | Alle Fehler im Original.

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Der Diasporakomplex

rer und eurer Geschichte vorherrschend. Damit geht die Erwartungshaltung einher, deutsche Geschichte bilde, da man in Deutschland lebe, den Referenzrahmen für andere Geschichten. Dieser Vorstellung ist inhärent, dass Geschichte nicht als perspektivisches Konstrukt verstanden wird, sondern einem eher ethnozentrischen und monoperspektivischen Kulturverständnis folgt. Dies korrespondiert mit dem Ergebnis, dass sowohl in den Gruppendiskussionen als auch in den schriftlichen Einzelbefragungen mehrheitlich traditionale Erzählformen codiert wurden. An dieser Stelle zeigt sich der enge Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration. Ein mehrheitlich traditionales Geschichtsbewusstsein ist nicht in der Lage, eine wechselseitige gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. Stattdessen scheint es die Auffassung der Beteiligten zu bestärken, dass Integration eine einseitige Anpassung von Migrant*innen an die Zielgesellschaft bedeute. Gäste und ihre Nachkommen haben demnach die Erwartungshaltung der Autochthonen zu erfüllen und die Geschichte des Ziellandes relevanter zu erachten, als die Geschichte(n) anderer Länder.

4.7.3 Leitfadengestützte Einzelinter views (Q2IF) Um die qualitative Erhebung zu vervollständigen, wurden in einer dritten Phase leitfadengestützte Interviews mit sämtlichen Beteiligten geführt (nges=15; nHS = 3; nRS = 4, nGYM= 8). Zehn der befragten Schüler*innen waren Angehörige der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Fünf befragte Schüler*innen hatten keinen Migrationshintergrund. Die Befragungsgruppe setzte sich zusammen aus fünf Schülerinnen und zehn Schülern (Tabelle 11). Die ungleiche Verteilung nach Schulform, Geschlecht und Migrationshintergrund ergibt sich aus der grundlegend freiwilligen Teilnahme an der Befragung. Trotz umfangreicher Bemühungen überwog an Hauptschule und Gymnasium bei vielen potenziellen Proband*innen die Skepsis. Teilnehmer*innen

HS

RS

GYM

3. Gen. tr. MH m.

2

1

3

3. Gen. tr. MH w.

1

1

2

o. MH m.

0

1

2

o. MH w.

0

1

1

Tabelle 11: Teilnehmer*innen leitfadengestützte Interviews

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Bevor ich die Ergebnisse darstelle, möchte ich eine Beobachtung schildern, die ich während der Interviews machte. Die Mehrheit der Proband*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zeigte starkes Interesse an den Interviews. Nur zwei Schüler*innen aus dieser Gruppe wirkten defensiv, skeptisch oder gar resigniert und unberührt. Berk (Realschule) zeigte nicht dieselbe Art von Verhalten, aber über Strecken auch ein unberührtes Verhalten und ein Bedürfnis nach klaren und absoluten Erklärungen. Eda (Hauptschule) schien sich von den Fragen und der Erhebung insgesamt überfordert zu fühlen und erweckte den Eindruck, sich der Thematik entziehen zu wollen. Die restlichen Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (Fatih, Savaş, Duygu, Serkan) hatten einen großen Gesprächsbedarf und Freude sowie Interesse am Gesprächsthema. Im gesamten Interviewverlauf bestärkten sie meine Wahrnehmung, dass sie bereits des Öfteren intensiv über ihre Identität, ihre Geschichte, über Integration und vor allem über ihre gesellschaftliche Verortung nachgedacht hatten. Das Interview schien sich im Verlauf des Gesprächs zunehmend zu einem Ventil zu entwickeln, das die Jugendlichen nutzten, um ihre Sichtweisen darzulegen. Sie schienen sich darüber hinaus zu freuen, einmal gehört zu werden. Die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund waren im Vergleich weniger enthusiastisch. Meine eindrücklichste Beobachtung war, dass sie sehr um sozial erwünschte Antworten bemüht waren. Dabei handelt es sich selbstverständlich um meine subjektiven Beobachtungen während der Interviews, die ich nur schwer belegen kann, da sie auf meinem intersubjektiven Empfinden beruhen. Bei Tobias (Realschule), Julius (Gymnasium Gruppe I) und Lisa (Realschule) konnte in meiner Wahrnehmung das Bemühen überwunden werden. Bei Nele (Gymnasium) gelang dies nur bedingt. Nele zeigte, obwohl sie eine Gymnasiastin mit sehr guten schulischen Leistungen war, im Gespräch die größte Verunsicherung aller Beteiligten. Im Verlauf des Interviews musste ich sie stets bestärken. Sie errötete sogar, sodass ich das Interview nur in komprimierter Weise durchführte, um sie nicht noch weiter zu drängen.

Inter view Nele Frage: Okay. Dann die Frage, warum gibt es deiner Meinung nach das Fach Geschichte in der Schule? Nele: Um die heutigen Bedingungen und Regelungen erklären zu können. Ja, dass alle geschichtlichen Ereignisse, die passiert sind, Auswirkungen auf die heutige Zeit haben und Folgen hinterlassen haben, und dass man ja jetzt mit der Zeit dafür Lösungen gefunden hat – und dass sie halt auch für die Gegenwart wichtig sind. Frage: Meinst Du auch damit, dass es jetzt besser geworden ist, dass wir so den Fortschritt erlebt haben?

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Der Diasporakomplex Nele: Vielleicht, also ich denke, in den meisten Situationen hat man daraus gelernt und einen Fortschritt gemacht, ja. [Interview Nele, Q2GF, Gymnasium I]

Jan (Gymnasium Gruppe II) hingegen wirkte sehr von sich selbst und seinen Positionen überzeugt, weshalb ich davon ausgehe, dass er sich nicht um sozial erwünschte Antworten bemühte.

Inter view Jan Jan: Zum Beispiel, wenn (eine Sek.) wenn hier halt solche komplett Verhüllten rumlaufen, ist das halt sehr, sieht dann sehr komisch aus, und so werden die halt nicht wirklich (eine Sek.) akzeptiert schon, aber nicht wirklich, so hundertprozentig akzeptiert so in der Gemeinschaft. Die sind halt, man merkt halt immer noch, dass sie halt nicht wirklich (eine Sek.) dazu gehören. […] Frage: Glaubst Du, dass Ereignisse aus der Vergangenheit Einfluss auf Deine Identität haben oder haben können? Jan: Was sich jetzt eventuell komisch anhört, aber (eine Sek.) man sagt ja, die arische Rasse ist, hat ja (eine Sek.) blonde Haare, blaue Augen, (zwei Sek.) Typ und (eine Sek.) die kurzen Haare. Vielleicht sehen Sie es ja, das ist jetzt, ist ein bisschen davon entspricht und ist halt, ist halt (eine Sek.) ist halt dann (eine Sek.) manche denken so, uh, der ist Deutscher. Damals. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II]

Im Folgenden möchte ich aus den Ergebnissen der kategorialen Inhaltsanalyse die Kategorien Geschichtsbewusstsein, Identität und Integration mit den jeweils dazugehörigen Sub-Codes präsentieren. Die nachstehenden Tabellen 12 bis 14 zeigen den mithilfe der Software MAXQDA induktiv erweiterten Kategorienbaum mit der Anzahl der Codings in den unterschiedlichen Kategorien.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Σ Codings

Kategorie Geschichtsbewusstsein  →

Doppelt semi-historisches Bewusstsein

21

 

 →

Fluchträume

2

 

 →

Diasporabeschreibungen

8

 →

Hat noch nie Geschichtslehrer*in gefragt

5

 →

Interesse an Geschichte

2

 →

Einstellungen zur Geschichte

 

 →

Bedeutung von Geschichte

 

 

 →

wichtig

5

 

 

 →

keine

3

 

 →

Bedeutung von Geschichtsunterricht

 

 

 →

wichtig

3

 

 

 →

keine

14

 →

Vorstellungen von Geschichte

 

 →

Zweiter Weltkrieg

1

 

 →

PKK

2

 

 →

Nationalsozialismus

5

 

 →

Wiedervereinigung/Mauerfall

4

 

 →

türkische Geschichte

0

 

 →

Ereigniswissen

0

 

 

 →

Osmanisches Reich

7

 

 

 →

Atatürk

8

 

 

 →

türkische Geschichte

0

 

 

 

 →

viel

1

 

 

 

 →

kaum

7

 

 

 

Lehrplanwissen

0

 

 

 

 →

viel

0

 

 

 

 →

kaum

0

 

 →

Begriffswissen

0

 

 

 →

wenig

2

 

 

 →

Lehrplanwissen

0

 →

Umgang mit Geschichte

 

 →

traditionale Sinnbildung

31

 

 →

exemplarische Sinnbildung

18

 

 →

kritische Sinnbildung

21

 

 →

genetische Sinnbildung

9

 →

Geschichtswissen aus der Familie

Tabelle 12: Kategorie Geschichtsbewusstsein mit Sub-Codes

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Der Diasporakomplex Kategorie Σ Codings Identität  → Selbstbezeichnung Schüler*innen mit Migrationshintergrund (dritte Generation)    → Moslem 2    → Türk*in 20    → Ausländer*in 9    → dritte 1 Generation    → Gläubige*r 2    → Ausländische*r 2  → Bezeichnung Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund    → Deutsche*r 7    → Christen 1    → Ungläubige 2  → Identität durch Reli0 gion    → Atheist[isch] 1    → Religion 31  → Bezeichnung Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund    → Muslime 1    → Türkeistämmi4 ge/Türkische/ Türk*innen    → Schüler*innen 3 mit Migrationshintergrund    → Ausländer*innen 2    → Bezeichnung 0 Eltern und Großeltern      → Gastarbei- 4 ter*innen  → Identitätstypen    → deutsche(r) 15 Türk*in    → fremd 11 0    → transkulturell    → interkulturell 1    → zweiheimisch 9    → heimatlos 5    → Almancı 9

Tabelle 13: Kategorie Identität mit Sub-Codes

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Kategorie

Σ Codings

Integration  →

Umgang mit Integration

 

 →

Unterschiede bestehen (immer)

10

 

 →

Man ist nie richtig Deutsch

8

 →

Einstellungen zu Integration

 

 →

Stigmatisierung 27

 

 →

Relevanz von Sprachfähigkeiten

9

 

 

Anpassung

8

 →

Vorstellungen von Integration

 

 →

 →

Politikinteresse

 

 →

nein

6

 

 →

ja

12

 →

Heimat

 

 →

Deutschland

3

 

 →

beide [Deutschland und Türkei]

4

 

 →

keine

5

Anpassung an Zielgesellschaft

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Tabelle 14: Kategorie Integration mit Sub-Codes

4.7.3.1 Geschichtsbewusstsein 4.7.3.1.1 Vorstellungen von Geschichte Im Interview wiesen viele Proband*innen ein im Vergleich zu den Anforderungen des Lehrplans lückenhaftes historisches Wissen und Begriffswissen sowie geringe Kenntnisse der türkischen Geschichte auf. Dies korrespondiert mit den überwiegend mangelhaften Resultaten des Wissenstests. Viele Proband*innen konnten lediglich Begriffe nennen, diese jedoch nicht mit entsprechenden historischen Inhalten füllen. So wurde beispielsweise Atatürk in den schriftlichen Einzelinterviews vier Mal als wichtigste Person ausgewählt, aber das tatsächliche historische Wissen über ihn beschränkte sich meist auf Aussagen wie, dass er »ein großer Mann war« oder es die Türkei nur »dank ihm« gäbe. Über die historische Person Atatürk selbst wissen viele Befragte mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nur wenig. Dennoch scheint es, als sei die Deutung Atatürks

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Der Diasporakomplex

als Gründer der Türkei oder als griechischer Gegner des Islams stark emotionalisiert und politisch konnotiert tradiert.114 Ein weiteres Beispiel sind die Ereignisse Wiedervereinigung und Mauerfall. Die durchgängig positive Darstellung und Idealisierung des Mauerfalls als Sieg der Demokratie weist keinerlei differenzierende oder multiperspektivische Betrachtung und nur ein geringes Maß an historischem Wissen über das Ereignis auf. Das mit der Wiedervereinigung verbundene Fortschrittsnarrativ wird in der Regel von den Jugendlichen nicht infrage gestellt. In Bezug auf den Nationalsozialismus vertreten viele autochthone Befragte eine Kausalkonstruktion, nach der die Wiedervereinigung sozusagen den endgültigen Abschluss des Zweiten Weltkriegs bildet.115 Die folgende Ergebnispräsentation erfolgt in Form von Einzelbetrachtungen. Diese sollen Einblicke in die Antworten der Schüler*innen ohne die Gefahr unsachgemäßer Pauschalisierungen bieten.

Gruppendiskussion Realschule Berk: Keine Ahnung. Ah, das ist der Kaiser von Dings, glaube ich, Kölner Dom, kann das sein? Duygu: (kichert). [Interview Q2GF, Realschule] Berk: Die haben doch immer Bürgerkrieg unter sich gemacht, oder nicht? Duygu: Wer findet das von euch jetzt sehr wichtig? Ja, ich jetzt nicht so. [Interview Q2GF, Realschule] Duygu: Aber weiß jemand was über die Französische Revolution? Tim: Ja, das war das wegen den Sklaven, den Gefangenen, die, dass die befreit wurden. [Interview Q2GF, Realschule]

Schüler*innen besitzen unabhängig von der jeweiligen Schulform ein intrinsisches Interesse an Geschichte und Politik. Viele eignen sich historische Kenntnisse vor allem im außerschulischen Bereich an. So schildert etwa Fatih im Interview, dass er sich Dokumentationen im Fernsehen anschaut. Savaş erzählt von Geschichtsseminaren bei den Grauen Wölfen und Serkan beschreibt Diskussionen in seiner Familie über historische und politische Themen.116 Der Ge114 | Ebd. 115 | Ebd. 116 | Interview Fatih: »Mein Vater versucht mir immer was einzutrichtern, aber ich weiß trotzdem nichts. Ich guck’ immer Dokumentationen, weil Galipoli und so, das hab’ ich mir jetzt angeguckt.«; Interview Savaş: »Wenn man Interesse an Geschichte hat, kann man sich selber bilden. Es muss nicht in der Schule sein. Ich hab’ mein Wissen nicht aus der Schule. […] Ich lese viel. Ich informiere mich über die Sachen. ich bin in einer Jugendgemeine. […] Ül-

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

schichtsunterricht scheint insgesamt nur einen geringen Einfluss auf den Aufbau des historischen Allgemeinwissens oder auf die historische Orientierung der Jugendlichen zu haben. Einen stärkeren Einfluss üben das engere soziale Umfeld sowie die Familie aus. Auch beim Blick auf den familiären Bildungshintergrund sowie den Einfluss des sozialen Bildungshintergrunds auf Heranwachsende scheint der Geschichtsunterricht nur eine marginale Rolle zu spielen. Auf die Frage, welches Thema im Geschichtsunterricht für sie besonders interessant sei, antwortete ein Teil der Befragten:

Auszüge Einzelinter views Frage: Ach so. Okay. Und wäre das spannendste Thema Nationalsozialismus? Kaan: Das ist nur was, was man halt wissen sollte, nicht das Spannendste. Das Spannendste wäre (zwei Sek.) wäre für mich jetzt das Osmanenreich. [Interview Kaan, Q2IF, Gymnasium II] Frage: Welches Thema war bisher im Geschichtsunterricht am spannendsten? Serkan: Bisher gar nichts. Türkische Geschichte kommt nicht vor. Das ist schade. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] Frage: Okay. – Wie war Dein Geschichtsunterricht? Jan: Langweilig. Frage: Warum? Jan: Weil das halt alles sehr trocken war, und es wurde alles von vorgegebenen Sachen, hier das Buch, da hat man ein Buch und da wurde dann (eine Sek.) die Aufgaben alle, die genauso im Buch standen, sind auch nicht drauf eingegangen oder das diskutiert oder so (eine Sek.) sich gesprochen, sondern es wurde halt so gemacht einfach. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II] Frage: Du findest Geschichte wenig interessant, hast aber dafür eine super Note. Nele: Ja, also wir hatten jetzt verschiedene Lehrer, also letztes Jahr in der 9. war das eigentlich noch ganz interessant, dann haben wir auch ein Projekt gemacht. Das war eigentlich schon relativ interessant und davor waren halt Lehrer, wo wir, ja, wenig selbst erarbeiten durften, also das war viel, dass sie erzählt haben und so, also wenig anschaulich dann gestaltet. [Interview Nele, Q2IF, Gymnasium I] kücü Ocağ ı – die Grauen Wölfe. Dort haben wir auch Seminare über Geschichte. Daher kannte ich das auch mit den Wolfskindern. Ich habe da mein Wissen her.«; Interview Serkan: »Aus der Familie. Also, das linksgerichtete Wissen habe ich hauptsächlich von meiner Mutter. Und über das Osmanische Reich, das eher patriotische Wissen, habe ich von meinem Vater.« Die Grauen Wölfe sind eine Vereinigung der türkischen Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), die in Deutschland entsprechende Vereine betreibt.

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Der Diasporakomplex

Kein einziger Jugendlicher berichtet, jemals seinem Geschichtslehrer bzw. seiner Geschichtslehrerin aus Interesse oder Neugier eine historische Frage gestellt zu haben. Fünf Jugendliche formulieren dies sogar explizit. Eventuelle Fragen werden stattdessen den Eltern oder Großeltern gestellt. Sämtliche Jugendliche mit Migrationshintergrund geben an, ihr Geschichtswissen auch aus der Familie zu generieren, anders als die autochthonen Jugendlichen. Vierzehn Mal erklärten Schüler*innen, dass Geschichtsunterricht für sie nicht wichtig sei.

Auszüge Einzelinter views Aslı: Weil ich eben hier lebe und dann so Sachen wie Hitler, das – wie gesagt, ist ja was ziemlich Krasses und ähm, ich will da schon wissen, was damals passiert ist, warum, wann es entstanden ist und sowas und dann google ich auch sozusagen. [Interview Aslı, Q2IF, Gymnasium I] Julius:Überwiegend war es halt, dass wir Quellen gelesen haben oder auch teilweise Mal Filme geguckt haben und generell auch, ähm, halt Aufgaben bearbeitet und so. Und da kann man immer viel noch draus Wissen ziehen. Ich gucke auch viel n-tv und all sowas, um mich drüber zu informieren, aber im Geschichtsunterricht hat man halt dann andere Quellen, und das ist ganz gut. [Interview Julius, Q2IF, Gymnasium I]

Nur vier Schüler sprechen dem Geschichtsunterricht allgemein Bedeutung zu. Von diesen hat nur ein einziger keinen Migrationshintergrund. Autochthone Schüler*innen verfügen nicht über Wissen der türkischen Geschichte. Ihre Mitschüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund verfügen wie erwähnt häufig über ein Repertoire an leeren Begriffshülsen (Schlagworten) sowie damit verbundenen Deutungen und Wertungen. Substanzielle Kenntnisse der türkischen Geschichte oder damit verbundener Begriffe besitzen jedoch nur wenige. Auffällig ist die Verwendung der Begriffe Atatürk, Religion und Islam. Die Schüler*innen versehen sie mit unterschiedlichen Konnotationen und Bewertungen und wenden sie auf die Geschichte des Osmanischen Reichs sowie der Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti) an. Atatürk steht häufig als Synonym für die Gründung der westlich orientierten türkischen Republik und deren Entwicklung. Dabei ist anzumerken, dass jede Verwendung von Begriffen auf eine bestimmte Bewertung und damit auf ein spezifisches soziales und politisches Umfeld der Schüler*innen verweist, da nach Angaben der Befragten ausgeschlossen werden kann, dass das historische Wissen und die damit einhergehenden Bewertungen aus der Schule bzw. aus anderen staatlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland stammen.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Gruppendiskussion Realschule Duygu: Mustafa Kemal Atatürk, das war der erste, also das war der Mann, der die Demokratie in die Türkei gebracht hat. Berk: Der kam aus Griechenland. Duygu: Ja, der, aber Griechenland war früher Türkei. Berk: Ja, aber der ist Grieche. Duygu: Nein, der ist Türke. [Interview Q2GF, Realschule]

Bis auf drei Ausnahmen (Savaş, Fatih, Serkan) übernahmen sämtliche Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die historisch-politischen Narrationen und die damit verbundenen Deutungen von ihren Eltern bzw. Großeltern.117 Diese artikulierten sich entweder in kemalistisch-patriotischen Erzählungen (Duygu), in anti-kemalistischen Äußerungen und religionsgeschichtlichen Ausführungen (Berk) oder in einer nationalistisch-islamischen Heroisierung des Osmanischen Reichs (Savaş).118 Fünf 117 | »Ja, meine Familie hat mich so erzogen. Ich denke zwar ganz anders als sie. Sei es Politik, sei es Meinungen. Ich denke ganz anders.« Interview Savaş. »Ich hab’ mir dann selber einen Kopf darüber gemacht. Warum das mit dem Cemevi so ist, warum das im Koran nicht so steht und die sagen, dass sie an Koran glauben und dann sagen die Ali hat auch auf dem (zwei Sek.) gebetet. Sie wissen so (zeigt Verbeugung). Warum beten wir nicht so?« Interview Fatih. »Ich finde es angenehm. Ich kriege dadurch die Möglichkeit, alles beidseitig zu betrachten, und dass kann ich dann bei einem Konflikt anwenden. Ich kann dann die Gegenseite verstehen, mich hineinversetzen.« Interview Serkan. 118 | Auf die Nachfrage, wie er die Verehrung Atatürks in der Türkei empfindet, sagte Berk im Interview: »Nicht toll. […] Sozusagen, die – verehren Atatürk, obwohl der, manchmal hat er auch schlimme Dinge gemacht.« Duygu erzählt von ihrer Bewunderung für Atatürk: »Auf jeden Fall, in der Grundschule hatte ich dann Türkischunterricht und da hat ich ’ne Lehrerin Frau Ta ş, die war auch sehr begeistert von Atatürk und die hat uns auch immer sehr viel von ihm erzählt. Aber hauptsächlich kommt es von der Familie.« Savaş schildert im Interview seine Anerkennung und Bewunderung für die Taten Atatürks für die Türkei ohne dabei mit seiner Bindung zur Osmanischen Geschichte zu brechen: »Gründung der Türkei durch Atatürk. Wir kommen aus Samsun. Der Unabhängigkeitskrieg hat da angefangen. Die Türkei war besetzt. Wenn es Atatürk nicht gäbe, gäbe es die Türkei nicht. Für mich ist es sehr wichtig. Das wirkt sich auf mich aus. Türkische Geschichte ist wichtig für meine Identität. Und es heißt im Sprichwort: »Wer seine Vorfahren nicht kennt, der läuft ins Verderben.« Er setzt sich persönlich in Kontinuität und Bezug zu den Ereignissen des Befreiungskrieges und Atatürk. Siehe dazu: Özcan: Der Kemalismus als Konzept des laizistischen Staates, S. 61: »Das zentrale Ziel des Kemalismus ist die Errichtung eines laizistischen, nationalen und zeitgenössischen Staates nach der Vorstellung Mustaf Kemal Atatürk.«

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der zehn Jugendlichen mit Migrationshintergrund verfügen über eine Art historisches Schlagwortwissen. Drei Jugendliche (Kaan, Berk, Cihan) verweisen auf religionsgeschichtliche Ereignisse, woraus sich auf ihr historisch-religiöses Wissen schließen lässt.

4.7.3.1.2 Einstellungen zur Geschichte In der Auswertung wurden der Kategorie Einstellungen zur Geschichte Äußerungen zugeordnet, in denen die Schüler*innen wertegebundenes Wissen artikulieren, das auch aus dem engeren familiären und sozialen Umfeld stammt.119 Wie in den theoretischen Grundlegungen (Kapitel 2) bereits ausgeführt, kann der Geschichtsunterricht als Institution der politischen Dimension von Geschichtskultur verstanden werden. Hinzu kommen die unterschiedlich ausgeprägten kommunikativen Gedächtnisse (Assmann) der Teilnehmer*innen, die unterschiedlichen sozialen Gruppen zugehörig sind. Dabei muss bedacht werden, dass die Schüler*innen jeweils gleichzeitig unterschiedlichen Erinnerungskulturen angehören können, die alle in das kulturelle Gedächtnis (Assmann) einfließen. So bewerteten autochthone Jugendliche die Wiedervereinigung (emotional) positiv. Dies formulierten Jugendliche wie Lisa, die durch die Teilung Deutschlands familiär tangiert waren. Die Erinnerungen und Geschichten werden im kommunikativen Gedächtnis der Familie weitergetragen und vermittelt.

Auszüge Einzelinter views Lisa: Es gibt viele. Der Mauerfall zum Beispiel ist sehr wichtig, weil, also, ich weiß, dass meine Oma zum Beispiel früher nicht so ein schweres Leben hatte wie meine Tante. [Interview Lisa, Q2IF, Realschule] Nele: Ja, wie ich jetzt eben auch von den Bildern gesagt hatte, also ich finde den Mauerfall, das ist sehr bedeutend und ist ja auch heute immer noch ein Thema und hat auch noch Auswirkungen auf das heutige Zusammenleben in Deutschland. [Interview Nele, Q2IF, Gymnasium I] Jan: Also ich fand, ich war im Herbst in Berlin und das hat mich dann auch schon sehr interessiert, vieles, was mit dem Mauerfall war zum Beispiel, wie es da aussah, wie die Leute da gelebt haben. Das sehe ich auch ein bisschen als – also nicht wie wir, aber wie. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II]

Ein Beispiel für tradierte Nationalgeschichte liefert Duygu, die aufgrund der kemalistisch-patriotischen Prägung, die sie durch entsprechende Erzählungen 119 | Nach Jeismann drückt ein historisches Werturteil im Vergleich zum historischen Sachurteil eine an gegenwärtigen Maßstäben ausgerichtete Bewertung aus. Vgl. dazu Schönemann/Thünemann/Zülsdorf-Kersting: Was können Abiturienten, S. 66.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

und Geschichten in ihrer Familie erhalten hat, die Person Atatürk als pater patriae und »Retter« der Türkei deutet, ohne jemals türkischen Geschichtsunterricht besucht zu haben.

Inter view Duygu Frage: Gut, dann: Warum es das Fach Geschichte an der Schule gibt. Deine Antwort (im Fragebogen) lautet: Weil Geschichte Allgemeinbildung ist und wahrscheinlich deswegen. Ist Geschichte Bildung? Duygu: Ja, auf jeden Fall. Finde ich schon, wir sollten schon wissen, woher wir herkommen, weil das hat ja was mit unserer Geschichte was zu tun, ähm, was in der Vergangenheit passiert ist. Frage: Was habe ich davon, wenn ich weiß, was in der Vergangenheit passiert ist? Duygu: Hm, also ich, hm ich hab’ was von der Vergangenheit, weil, hm, zum Beispiel wenn das nicht passiert wär’, dann wär’ das nicht heute so. Frage: Hm. Duygu: Denke ich. Frage: Das heißt die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart? Duygu: Ja, ähm, zum Beispiel Atatürk, weil wenn der zum Beispiel nicht da wär’, die Türkei nicht modernisiert. Vielleicht hätten wir dann noch alle, wären wir dann alle in der Türkei geblieben und hätten Kopftuch und (es) wäre alles ein bisschen strenger. (Türkei) Wäre ein sehr muslimisches Land. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]

Ähnliches gilt für Savaş, der von Geschichtsseminaren im Ülkücü Ocağı (Herd der Idealisten)120 berichtet, die seine Einstellungen zur Geschichte beeinflusst haben.

Inter view Savaş Savaş: Wenn man Interesse an Geschichte hat, kann man sich selber bilden. Es muss nicht in der Schule sein. Ich hab’ mein Wissen nicht aus der Schule. Frage: Woher hast Du Dein Wissen über türkische Geschichte? Savaş: Ich lese viel. Ich informiere mich über die Sachen. Ich bin in einer Jugendgemeinde. Frage: Was für eine Jugendgemeinde ist das? Savaş: Ülkücü Ocağı (Herd der Idealisten) – die Grauen Wölfe. Dort haben wir auch Seminare über Geschichte. Daher kannte ich das auch mit den Wolfskindern. Ich habe da mein Wissen her. Ich bin ein objektiver Mensch. Ich höre mir das an und dann lese ich noch aus verschiedenen Quellen. Dann informiere ich mich nochmal, dann höre 120 | Ülkücü Oca ğ ı (Herd der Idealisten) ist eine Vereinigung der Grauen Wölfe (Bozkurt). Es ist ein Versammlungsort im Sinne einer politischen Vereinigung, die als nationalistisch und rechts-konservativ bezeichnet werden kann.

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Der Diasporakomplex ich mir verschiedene Meinungen an und äh, ich will mal sagen, eigentlich habe ich mein Wissen von mir selbst. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

Sechs der 15 interviewten Proband*innen gaben an, keinerlei lebensweltlichen Bezug zu Geschichte zu besitzen. Bei einer Schülerin mit Migrationshintergrund und drei Proband*innen ohne Migrationshintergrund ist diese Haltung durchgängig zu beobachten.121 Alle übrigen Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund empfanden und betonten hingegen die lebensweltliche Relevanz von Geschichte – ganz im Gegensatz zu ihren autochthonen Mitschüler*innen. Das historisch-politische Interesse ist also bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund besonders ausgeprägt. Die lebensweltliche Relevanz des Geschichtsunterrichts wird ebenfalls unterschiedlich wahrgenommen. Für die Mehrheit der Schüler*innen mit Migrationshintergrund besitzt der Geschichtsunterricht keine lebensweltliche Relevanz, obwohl sie mehrheitlich Geschichte als Teil ihres Lebens beschrieben. Vor allem hinsichtlich seiner thematischen Konzeption beschreiben viele Befragte den Geschichtsunterricht als »uninteressant« und nicht lebensrelevant, dennoch sind viele Jugendliche durchaus der Meinung, dass historische Kenntnisse notwendig sind, um sich strukturell in einer Gesellschaft zurechtzufinden. Die Schüler*innen scheinen den Geschichtsunterricht als eine Art Grundrepertoire zu verstehen, der dazu dient, kulturelles Faktenwissen zu vermitteln, das die Orientierung in einer fremden Kultur erleichtern kann. Für Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bietet der Geschichtsunterricht jedoch offenbar keinerlei derartige Orientierung, da sie sich nicht als Teil der darin behandelten Geschichte fühlen.

4.7.3.1.3 Umgang mit Geschichte Um die Aussagen der Schüler*innen in der Kategorie Umgang mit Geschichte einordnen zu können, wurden in Sub-Codes die Performanz der Rüsen’schen Erzähltypen erfasst. Die größte Herausforderung bei der Analyse stellten der sprachliche Ausdruck der Schüler*innen sowie ihre Schwierigkeit, zusammenhängende historische Erzählungen zu bilden, dar. Viele Aussagen der Schüler*innen sind schon für sich genommen (in den Fragesequenzen) schwer verständlich und dementsprechend schwer klassifizierbar. Häufig konnten sie nur durch den Bezug auf den Gesamtkontext des Gespräches sowie unter Zuhilfenahme der Beobachtungen und Ergebnisse aus anderen Erhebungspha121 | Aslı erzählt im Interview, dass sie mit Geschichte nichts lebensweltlich Relevantes verbinden kann: »Ich finde halt dadurch, dass es eben Geschichte ist, dass es nichts Neues ist, was man noch erleben kann«.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

sen interpretiert und codiert werden. Dass es sich bei den Forschungsvariablen Geschichtsbewusstsein, Identität und Integration um individuell spezifische Konstrukte handelt, erschwerte die Auswertung zusätzlich. Die Auswertung zeigte, dass letztlich der individuelle Umgang entscheidend ist. Um diesen zu erfassen, muss die subjektive Perspektive der einzelnen Proband*innen berücksichtigt werden. Auf der individuellen Ebene war jedoch die eindeutige Zuordnung zu einem Typ historischer Sinnbildung häufig nicht möglich. Nach Rüsen zeigen sich diese Idealtypen historischen Erzählens zumeist »als logische Formen der Sinnbildung«. Sie »manifestieren sich in ihrer eindeutigen Unterschiedenheit selten oder nie in konkreten Phänomenbeständen«.122 Um dennoch konkrete Äußerungen diesen Idealtypen zuordnen zu können, wurde jeweils die stärkere Ausprägung einer Erzählform innerhalb einer Aussage zur Grundlage der Kategorisierung gemacht. Das bedeutet, dass die codierten Äußerungen keine Idealtypen darstellen und Aussagen auch doppelt codiert werden können. Bei einer Samplegröße von 15 Schüler*innen würde eine Doppelcodierung jedoch nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen. Daher wurden jeweils die dominante Erzählform einer Aussage nach einer der vier Rüsen’schen Sinnbildungstypen codiert. Wie bereits besprochen räumt Rüsen der kritischen Sinnbildung eine Sonderstellung gegenüber den anderen Erzählformen bei. Dies begründet er wie folgt: »(Kritisches Erzählen) steht nicht für sich selber, sondern realisiert sich durch einen negierenden Bezug auf die drei (traditionale, exemplarische und genetische Sinnbildung) anderen.«123 Dieser Bewertung der kritischen Sinnbildung kann ich aufgrund der Ergebnisse der kategorialen Inhaltsanalyse nicht uneingeschränkt zustimmten. Es gab durchaus Aussagen der Befragten, die sich als kritische Sinnbildung kategorisieren ließen. Die kritische Sinnbildung tritt also nicht nur als die von Rüsen beschriebene Sonderform auf, sondern auch als eigenständige Sinnbildungsform.

122 | Rüsen: Historik, S. 210. 123 | Ebd., S. 213.

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Der Diasporakomplex

Abbildung 14: Die vier Typen der historischen Sinnbildung, Jörn Rüsen 2013124 Die nachfolgenden Beispiele sollen die Codierung der unterschiedlichen Sinnbildungsformen als Sub-Codes illustrieren. Die gewählten Beispiele wurden jeweils im Gesamtkontext der Interviews analysiert und nach Rüsens Definitionen einem Typ der historischen Sinnbildung zugeordnet.125

Über Geschichte lernen – traditionale Sinnbildung Inter view Berk Berk: Also unsere Erde halt, die Geschichte unserer Erde. Frage: Also als Vergangene? Berk: Wie entstand alles, was ist passiert, wie ist es passiert, was ist heute noch? Das ist wichtig. [Interview Berk, Q2IF, Realschule ]

Berks Äußerungen müssen im Kontext des Interviews, seiner Beteiligung an der Gruppendiskussion sowie an der schriftlichen Einzelbefragung interpretiert werden. Berk bemühte sich im gesamten Erhebungsverfahren um positivistische Aussagen über Geschichte, die für ihn einen Wahrheitscharakter besitzen. Einzig in der kritischen Haltung gegenüber Atatürk, den Berk als Gegner des Islams betrachtete, lässt sich eine Abgrenzung zu anderen Standpunkten oder Deutungen erkennen. Auf die Frage, was Geschichte sei, antwortete er etwas enerviert. Er war der Meinung, auf die Frage, warum es das Fach Geschichte gebe, bereits geantwortet zu haben: (»Um die Lage der Vergangenheit kennenzulernen. Was früher geschehen ist.«). 124 | Ebd., S. 215. 125 | Ebd., S. 210-215.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Berk wandte sich der Vergangenheit zu, indem er sich auf »Ursprünge« seiner »Weltordnung« bezog.126 Er äußerte keinerlei Kritik an Verläufen und übernahm stattdessen eine vorgegebene (muslimisch-türkische) Weltordnung und stellte Wandel im zeitlichen Geschehen in der Dauer als Norm still. Seinen mehrfachen Einwänden gegen Duygus Darstellung Atatürks in der Gruppendiskussion konnte Berk keine sachlichen Argumente oder faktisches Wissen entgegensetzen. Es waren Wiederholungen oder die Nacherzählung (Nachahmung) von traditionellen muslimischen Einwänden gegen eine säkulare Türkei. Berk zeigte nicht nur geringe historische Kenntnisse, sondern auch eine Erfahrungsarmut, die sich sowohl in der Diskussion als auch in seiner Argumentationsarmut ausdrückte. In seiner ausgewählten Antwort legte er sein Verständnis seines Umgangs mit Geschichte aus. Er benannte die Vorstellung eines Ursprungs (Wie entstand alles?), was sich in der Vergangenheit alles ereignet hat (Was ist passiert?), welchen Verlauf die Ereignisse in der Vergangenheit hatten (Wie ist es passiert?) und was wurde tradiert (Was ist heute noch?). Das ist relevant für seine Gegenwart, in der er seine Orientierung durch Bewahrung (Nachahmung) von Traditionen gewinnt, indem er den Wandel der »Zeit als Sinn verewigt«.127

Aus Geschichte Lernen – exemplarische Sinnbildung Inter view Duygu Duygu: Zum Beispiel in der Türkei. Äh, es gab’s ja Gesetze, die Atatürk gemacht hat, die wollten die ja ändern, und dann gab es ja dieses Evet [Ja] und Hayır [Nein]. Wissen Sie das noch? Und da zum Beispiel, Atatürk ist ja so richtig Vergangenheit und das kommt wieder auf die Zukunft. Frage: Es hat Auswirkungen auf die Zukunft? Duygu: Ja, sehr sogar. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] Duygu: Ja, weil wir haben in Geschichte über Hitler gesprochen, dann haben wir über die NPD gesprochen, dies es jetzt gibt und da haben wir die mit der NSDAP vergleicht. Und da haben wir, auch wenn die NPD nicht so viele Stimmen hat, aber was könnte passieren, wenn? Wenn die mal im Reichstag sind. Das hat ja dann auch was mit meiner Zukunft zu tun. Ob ich hierbleiben darf, obwohl ich einen deutschen Pass habe, obwohl ich hier geboren bin, aber trotzdem meine Wurzeln türkisch sind. Ja, ich find schon, das hat was mit meiner Zukunft zu tun. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]

126 | Rüsen: Historik, S. 215 und Abbildung 49. 127 | Ebd.

187

188

Der Diasporakomplex

Duygu äußerte sich sowohl in der Gruppendiskussion als auch im Interview sehr offen und wortreich. Ihre Äußerungen waren nicht immer stringent und entwickelten sich, so wirkte es, häufig erst im Gespräch. Dennoch wirkte Duygu während der verschiedenen Erhebungsphasen sehr motiviert, freundlich und interessiert. Sie vermittelte den Eindruck, stets um die Einnahme anderer Perspektiven und Empathie bemüht zu sein. Sie neigte zudem dazu, nicht allein bei historischen Erzählungen exemplarische Erklärungsformen zu nutzen. Dies zeigte sich besonders in der Gruppendiskussion. Ob ihre Strategie vornehmlich dazu diente, ihren persönlichen Standpunkt zu verdeutlichen oder ob es ihr um eine Kritik an den Standpunkten anderer Teilnehmer*innen ging, konnte nicht immer klar gedeutet werden. Die zitierte Interviewsequenz zeigt Duygus Bemühen, allgemeine Handlungsregeln zu formulieren, die die Gegenwartsrelevanz historischer Ereignisse beschreiben. Diese Regeln beanspruchen eine überzeitliche Geltung, umfassen aber dennoch verschiedene zeitliche Ereignisse. Sie erklären zugleich diese Ereignisse und ermöglichen dadurch eine Zukunftsperspektive, die der Orientierung dient. Duygus Argumentation beinhaltetet zugleich Wertungen und Deutungen. Die von ihr entwickelten Handlungsregeln resultieren aus einer Reflexion von Gemeinsamkeiten und Verlaufsvorstellungen und ermöglichten so, »Zeit als Sinn zu verräumlichen«.128 Duygus Deutungen der Vergangenheit stellen Urteile über die Relevanz und Regelhaftigkeit für eine Gegenwarts- und Zukunftsorientierung (»In der Türkei gab es ja Gesetze, die Atatürk gemacht hat.«) her. Gemeint sind die Verfassung der Republik Türkei sowie die strikte Trennung zwischen Staat und Religion. Ihr Urteil über die damalige Verfassung, also die Vergangenheit (»Atatürk ist ja so richtig Vergangenheit.«), entstand aus der Konstruktion von überzeitlichen Geltungen und Handlungsregeln, die in ihrer Gegenwart oder ihrer Zukunft angewendet wurden (»Das kommt wieder. Es hat Auswirkungen auf die Zukunft.«). Duygu stellt Regeln für wiederkehrende historische Phänomene auf, um Handlungsorientierung zu gewinnen. Sie folgt dem Credo, dass man aus der Geschichte lernen muss – historia magistra vitae est.129 Hinzu kommt, dass sie implizit Kritik an anderen Sinnbildungen übt und kritischexemplarisch argumentiert.

128 | Rüsen: Historik, S. 215 und Abbildung 49. 129 | Vgl. dazu Sandkühler: The Didactics of the History of Time und Andreas Körbers Kommentar im Online Blog journal Public History Weekly. 19.01.2017. Zeitschichten, S. 9-16; Sabrow: Historia vitae magistra?, S. 10-20.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Gegen Geschichte lernen – kritische Sinnbildung Inter view Savaş Frage: Was weißt Du über den Völkermord an den Armeniern? Savaş: Das ist eine internationale Lüge. Es ist nie geschehen. Ich habe ein Dokument gesehen, dass bezeugt, dass 1915 tausende Armenier die Türkei verlassen haben und jetzt heißt es, die Türken hätten die umgebracht. Es hat etwas mit dem Sturz des Osmanischen Reiches zu tun. Die Türken wurden im Osmanischen Reich mit dem Reichtum und der Religion reingelegt. Unser damaliger Paşa Sultan Abdul war ein Spitzel der Engländer, deswegen bin ich froh, dass es Atatürk gegeben hat und die Jungtürken mit ihm gegründet wurden und der Sultan gestürzt wurde. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

Savaş ist Hauptschüler und trat sehr dominant und selbstsicher auf. Im gesamten Gesprächsverlauf präsentierte er sich als bewusst anders und betont individuell. Er beteiligte sich aktiv am Gespräch und vermittelte den Eindruck, dieses als Forum für seine Sichtweise und historischen Deutungen nutzen zu wollen, vor allem in Abgrenzung zu den anderen Teilnehmer*innen. Ähnlich wie Duygu erweckte auch Savaş den Eindruck, dass er die Befragung als Gelegenheit zum Austausch, aber auch zur Selbstdarstellung betrachtete. Im Vergleich zu Berk und Duygu verfügte Savaş über umfangreichere Kenntnisse der türkischen Geschichte. Im Wissenstest erzielte er die höchste Punktzahl aller Hauptschüler*innen und lag auch im Gesamtvergleich im oberen Punktebereich. Er war der einzige der Schüler*innen, der auf die Frage nach dem Völkermord an den Armenier*innen eine alternative historische ReKonstruktion anbot.130 Savaş nahm bewusst einen sehr dezidierten Standpunkt ein (»Das ist eine Lüge.«) und stellte nicht nur die angebotene historische (nicht-türkische) Orientierung infrage (»Es ist nie geschehen.«), sondern grenzte sich mit seinem Standpunkt klar von dieser ab. Er entwarf eine alternative Re-Konstruktion der Vergangenheit (»Ich habe ein Dokument gesehen…«) und erzählte eine Gegengeschichte (»Dass 1915 tausende Armenier die Türkei verlassen haben.«). Diese Abweisung (Eigensinn) ermöglichte es ihm, Zeitverlaufsvorstellungen zu beurteilen. Das angeführte Beispiel demonstriert die formulierte Beobachtung, dass kritische Sinnbildung auch als eigenständige Sinnbildungsform bestehen kann. Kritische Sinnbildung ist hier nicht allein als Movens im Übergang zwischen Erzählformen sichtbar. Savaş’s Narration einer Gegengeschichte diente 130 | Savaş’s Antwort könnte auch als traditionelle Sinnbildung interpretiert werden, wenn man sie als übernommene Erzählung auslegt. In der Betrachtung des Gesamtkontextes seiner Aussagen und Performanz habe ich seine Antwort jedoch als alternative Erzählform kategorisiert.

189

190

Der Diasporakomplex

ihm in seiner Selbstdarstellung als bewusst andersdenkendes Subjekt, das im vollen Bewusstsein der angebotenen Geschichtsnarrative seine eigene (andere) Geschichte erzählt.131

In Geschichte lernen – (kritisch-)genetische Sinnbildung Inter view Fatih Frage: Und türkische Geschichte ist für Dich auch interessant? Fatih: Ja, aber ich hab’ mich damit noch nicht auseinandergesetzt. Frage: Ist die denn auch wichtig für Dich? Fatih: Ich kann aus Vielem was lernen, ’ne. Nicht nur deutsche Geschichte, ich gucke auch bei Amerika ab und zu was, guck’ ich mir ’ne Dokumentation und les’ dann darüber, und ja, mir ist’s eigentlich egal, im Endeffekt, ich bin hier in Deutschland aufgewachsen, also bin ich auch mit deutscher Geschichte aufgewachsen. [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]

Fatih ist ein Hauptschüler, der sich in seinen sprachlichen Äußerungen sehr verwickelte und auch wiederholte. Zu Beginn der qualitativen Erhebung zeigte Fatih starkes Misstrauen und Desinteresse. Vor Beginn der Interviewaufzeichnung saß er an seinem Platz, legte seinen Kopf auf den Tisch und schlief. Als er jedoch angesprochen und begrüßt wurde, setzte er sich auf und konnte kaum stillsitzen. Seine Verhaltensauffälligkeit ließ mich zunächst befürchten, dass er sich nicht auf ein Gespräch würde einlassen können. Zu meiner positiven Überraschung entwickelte sich das Gespräch jedoch sehr schnell, und Fatihs Mitteilungsbedürfnis wurde, ähnlich wie bei Savaş, immer stärker. Die Herausforderung bei der Analyse seiner Aussagen bestand vor allem in der Fülle von Erzählungen, die über den im Leitfaden angelegten inhaltlichen Interessensbereich hinausgingen. Auch Fatih versuchte, sich im Gespräch als individuell und bewusst anders zu präsentieren. Gleich zu Beginn des Gesprächs betonte er, »konvertierter (sunnitischer) Moslem« zu sein, da seine Eltern Aleviten seien. Er unterstrich außerdem die Bedeutung des Glaubens und des Islams als übergeordnete Ebene bzw. als alternative Ebene sowie sein persönliches Bedürfnis, einfach nur »Moslem« zu sein.132 Beim Themenbereich Religion, religiöse Identität und Integration nahm Fatih eine kritische 131 | Das Interview wurde vor der Armenien-Resolution des Deutschen Bundestags vom 2. Juni 2016 geführt. Bereits im Interview äußerte Savaş türkisch-nationalistische Gedanken, die im Zusammenhang mit seinem Kontakt zu den Grauen Wölfen stehen können. Seine Haltung zur Frage nach dem Völkermord zeigt ein aktuelles politisches Dilemma, mit dem sich viele Türk*innen konfrontiert sehen. Die Frage des Völkermords im Osmanischen Reich 1915 ist in der Türkei politisch überformt. 132 | Interview, Hauptschule: Fatih: »Ich will einfach nur Moslem sein. Darum geht’s mir!«

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Position ein. Insgesamt wurden seine Aussagen als kritische Erzählform interpretiert (Tabelle 15). In der oben zitierten Aussage Fatihs wird ein Anteil kritischen Erzählens erkennbar. Allerdings finden sich auch Anteile, die als genetische Sinnbildung interpretiert wurden. Obwohl er zunächst anführte, sich mit türkischer Geschichte noch nicht beschäftigt zu haben und dass diese deshalb für ihn noch fremd sei (»Ja, aber ich hab’ mich damit noch nicht auseinandergesetzt.«), relativierte er diesen Eindruck später. Er formulierte seine Fähigkeiten, Bekanntes zu noch Unbekanntem in Beziehung zu setzen (»Ich kann aus Vielem was lernen, ’ne. Nicht nur deutsche Geschichte.«). Fatih beschrieb die Möglichkeit einer Entwicklung und eines Wandels, der »dynamisch auf Dauer gestellt« wird,133 da es in die eigene Lebensform führt (»Ich hab’ dadurch im Geschichtsunterricht was gelernt, und das Wissen ändert natürlich meine Meinung und je nachdem, auch meine Persönlichkeit, ja und das ändert auch meine Identität«) und Individualisierung ermöglicht. Durch diese Darstellung wird Veränderung als solche zum Sinn. Auffallend war bei der Analyse des Interviews, dass Fatih vorbiografische und biografische Ereignisse stets aus einer religionsgebundenen Perspektive reflektierte. So beantwortete er im Wissenstest die Frage nach den griechischen Hauptgöttern nicht, da er befürchtete, eine Antwort könne blasphemisch sein: »Ich hab’ über diese drei Götter nichts gesagt. Es gibt nur einen Gott.« Die Intensität seiner Religionsbindung scheint einen beachtenswerten Einfluss auf Fatihs Umgang mit Geschichte zu haben.

Erzählformen der befragten Schüler*innen (Q2IF) Die nachfolgenden vier beispielhaften Erläuterungen der Codierung in die deduktiven Subkategorien des Umgangs mit Geschichte sollen das Vorgehen bei der Codierung sowie die Kriterien der Kategorisierung aufzeigen. Die Zuordnung ist wie bereits erläutert an den formulierten Rüsen’schen Sinnbildungstypen orientiert. Im Unterschied zu Rüsen wurde auch die kritische Sinnbildung als eigenständige Erzählform codiert. Der Gesamtvergleich (Abbildung 15 und Tabelle 15) der kategorisierten Sinnbildungstypen zeigt am häufigsten traditionale, dann exemplarische, danach kritische und zuletzt sogar genetische historische Erzählformen. Hervorzuheben ist, dass sämtliche Schüler*innen traditional historisch Sinn bilden können. Beachtenswert ist auch die Häufigkeit der Erzählformen.

133 | Rüsen: Historik, S. 215 und Abbildung 49.

191

192

Der Diasporakomplex

genetisch kritisch exemplarisch traditional 0

10 traditional 9 11 32

Q2GF Q2EF Q2IF

20

30

40

exemplarisch 6 3 20

50

kritisch 1 0 20

60

genetisch 1 0 10

Abbildung 15: Codierte Sinnbildungsformen Der Vergleich nach Schulformen zeigt, dass es keinen deutlich erkennbaren Zusammenhang zwischen Schulform und Erzählformen gibt. So konnten Aussagen der teilnehmenden Hauptschüler*innen allen vier Sinnbildungsformen zugeordnet werden. Der Vergleich nach Migrationshintergrund zeigt, dass die Aussagen von autochthonen Schüler*innen ebenso wie die von nicht-autochthonen Befragten mehrheitlich traditional sinnbildend waren. Da insgesamt nur ein Drittel der Jugendlichen keinen Migrationshintergrund besaß, besitzen die absoluten Zahlen der codierten Erzählformen nur eine bedingte Aussagekraft. genetisch kritisch exemplarisch traditional 0 o. MH tr. MH 3. Gen.

10 traditional 13 39

20 exemplarisch 11 18

30

40 kritisch 1 20

50 genetisch 1 10

Abbildung 16: Codierte Sinnbildungsformen nach Migrationshintergrund

60

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Historische Sinnbildungen treten häufig nicht alleine auf. Beispielsweise ist ein*e Schüler*in, die kritisch erzählen kann, auch in der Lage, traditional oder exemplarisch zu erzählen.134 Obwohl Rüsen neben den vier Erzähltypen die kritische Sinnbildung als Sonderform historischer Sinnbildung beschreibt, wurden in den Interviews auch Formen kritischer Sinnbildung gefunden, die nicht allein als Movens zwischen den Stufen wirken, sondern eine eigenständige Form der kritischen Sinnbildung darstellen. Die Analyse ergibt also, dass sich die kritische Sinnbildung auch als eigenständige historische Sinnbildungsstufe beschreiben lässt. Der Vergleich nach Geschlecht zeigt, dass die Aussagen der Schülerinnen ausschließlich der traditionalen oder exemplarischen Erzählform zugeordnet wurden. Dies ist ein beachtenswerter Unterschied zu den männlichen Jugendlichen, bei deren Aussagen alle vier Sinnbildungstypen codiert wurden. Eine gendertheoretisch fundierte Interpretation dieses Befundes kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Allerdings verweist dieses Ergebnis nicht auf die mangelnde Kompetenz der Probandinnen, sondern auf vielschichtige geschlechtsspezifische soziale und familiäre Einflüsse, wie Erziehungsmuster und Rollenvorbilder, die in der geschichtsdidaktischen Forschung bisher nur unzureichend erforscht wurden. Zwar zeigte von Borries deutlich, dass Erhebungseffekte die Ergebnisse im Geschlechtervergleich stark beeinflussen und dass sich die Interessengebiete von Schülerinnen von denen der Schüler unterscheiden können, aber eine Untersuchung der zu diesen Befunden führenden Einflüsse, stellt ein Desiderat dar.135 Der Vergleich nach Schulformen weist zwar Unterschiede, jedoch auch in der qualitativen Betrachtung keinen signifikanten Zusammenhang auf. Auffallend ist, dass Aussagen von Hauptschüler*innen öfter als kritische Erzählform codiert wurden als die Aussagen von Schüler*innen anderer Schulformen. Am Gymnasium konnten zwar alle Formen historischer Sinnbildung klassifiziert werden, am häufigsten wurde jedoch traditional erzählt. Die Realschüler*innen zeigten eine Vielzahl traditionaler und exemplarischer Sinnbildungen aber keine kritische oder genetische Erzählformen. Aus diesen Ergebnissen kann geschlossen werden, dass die Schulform sich nicht zwingend auf das Niveau der historischen Erzählform auswirkt. Vielmehr scheint der jeweilige individuelle Hintergrund der Schüler*innen hierbei einen wesentlichen Einfluss auszuüben.

134 | Vgl. dazu Rüsen: Untersuchungen des Geschichtsbewußtseins von Abiturienten im Ruhrgebiet, S. 587-589; Hasberg: Vom Nutzen und Nachteil empirischer Forschung, S. 587-589. 135 | Vgl. dazu von Borries: Jugend und Geschichte, S. 342-346.

193

194

Der Diasporakomplex

Im Vergleich nach Migrationshintergrund zeigt sich, dass Mädchen mit und ohne familiäre Zuwanderungsgeschichte mehrheitlich traditionale Sinnbildungsmuster nutzen (Tabelle 15). Ob Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund reflektierter und selbstreflexiver mit Geschichte umgehen als ihre autochthonen Mitschüler*innen, kann nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr zeigen die Ergebnisse, dass sich die Schüler *innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund häufiger kritischer und genetischer Erzählformen bedienen als andere Befragte. Bei allen Jugendlichen konnten hingegen mehrheitlich traditionale und exemplarische Erzählformen festgestellt werden.

195

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif SuS

traditional

Schule GYM RS

Ergebnis GYM

Historische Sinnbildungstypen, Q2 exemplarisch

HS

mehrheitlich

IF

GF

EF

IF

GF

EF

IF

GF

EF

IF

Aslı

0

1

1

0

0

1

0

0

0

0

0

0

traditional

Nele

0

1

1

0

0

1

0

0

0

0

0

0

traditional

Julius

1

0

1

0

1

3

0

0

1

0

0

1

exemplarisch

Cihan

2

1

2

0

0

1

0

0

0

0

0

0

traditional

Jan

2

1

2

1

0

0

0

0

0

0

0

0

traditional

Kaan

0

1

1

0

0

1

0

0

0

0

0

0

traditional

Burcu

0

0

2

1

1

0

0

0

0

0

0

0

traditional

exemplarisch

Serkan

0

1

4

0

0

1

1

0

6

1

0

6

kritisch

genetisch

5

6

14

2

2

8

1

0

7

1

0

7

Gymnasium mehrheitlich traditional

25

12

8

8

Berk

1

1

4

0

0

0

0

0

0

0

0

0

traditional

Duygu

1

1

5

1

0

8

0

0

0

0

0

0

exemplarisch

Lisa

1

1

1

1

0

1

0

0

0

0

0

0

traditional

Tobias

0

0

1

1

1

1

0

0

0

0

0

0

exemplarisch

3

3

11

3

1

10

0

0

0

0

0

0

Realschule mehrheitlich traditional

17

14

0

0

Savaş

0

1

4

1

0

1

0

0

4

0

0

1

traditional

Eda

0

-

2

0

0

0

0

0

0

0

0

0

traditional

Fatih

1

1

3

0

0

1

0

0

9

0

0

2

kritisch

1

2

7

1

0

2

0

0

13

0

0

3

Hauptschule mehrheitlich kritisch

32

6

3

20

1

0

20

1

0

10

Insgesamt mehrheitlich traditional

10 insgesamt

genetisch

EF

Ergebnis RS

Ergebnis HS

kritisch

GF

9

11

52

2

29

13

kritisch

3

21

11

Tabelle 15: Auswertung historische Sinnbildungstypen in Q2

4.7.3.2 Identität 4.7.3.2.1 Fremd- und Selbstdenominationen Selbst- und Fremdbezeichnungen zeigen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Teilhabe. Gleichzeitig können sie auf bewusste oder unbewusste Einstellungen und Vorurteile verweisen. Daher ist für eine Rekonstruktion von Identität und Integration aufschlussreich, sowohl die Selbstbezeichnungen als auch die Fremdbeschreibungen zu analysieren.

196

Der Diasporakomplex

Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist vor allem von Interesse, wie die Zugehörigkeit von Schüler*innen zu verschiedenen Gesellschaftsgruppen beschrieben wird. Zunächst soll es darum gehen, wie die Eltern oder Großeltern der Schüler*innen mit Migrationshintergrund verortet werden. Autochthone Schüler*innen bezeichneten diese als »Ausländer*innen«, »Gastarbeiter*innen«, »Migrant*innen«, »Türk*innen« oder »die Ausländischen« bzw. »die Türkischen«. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund bezeichneten ihre Vorfahren hingegen vornehmlich als »Gastarbeiter*innen«.

Ausgewählte Beispiele für die Bezeichnung der ersten Generation Also mein Opa ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und hat bei Bayer gearbeitet. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] Ja, also mein Opa ist als Gastarbeiter, also der ist bei Ford, der ist dort angestellt worden. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Also, die ersten Türken kamen als Gastarbeiter hier nach Deutschland. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II]

Kein*e einzige*r der autochthonen Schüler*innen bezeichnete seine Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund ohne jegliche erklärende oder differenzierende Zusätze als deutsch. Um es deutlich zu sagen: Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund werden, selbst wenn sie Angehörige der dritten Generation sind, von ihren Altersgenoss*innen nicht als Deutsche und insofern nicht als gleichberechtigte Teile der »deutschen« Gesellschaft angesehen. In der Wahrnehmung der autochthonen Mitschüler*innen ist der Migrationshintergrund der Großeltern auch in der dritten Generation das entscheidende Merkmal für die Zugehörigkeit. Obwohl die Jugendlichen die Enkel von Menschen sind, die als Arbeitnehmer*innen nach Deutschland migrierten, obwohl sie in der dritten Generation in Deutschland leben, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen sind, obwohl sie allein in Deutschland die Schule besuchten, obwohl viele von ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und obwohl die meisten von ihnen wahrscheinlich immer in Deutschland leben werden, erkennen die autochthonen Mitschüler*innen sie nicht als Teil einer vermeintlich deutschen Mehrheitsgesellschaft an. Die Bezeichnung der eigenen Großeltern als »Gastarbeiter*innen« durch die Jugendlichen mit Migrationshintergrund verweist auf die Selbstverortung der Angehörigen der dritten Generation sowie auf ihr Bewusstsein über die familiäre Migrationsgeschichte. Gleichzeitig beinhaltet die Formulierung eine

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Distanzierung der Nachfolgegeneration von den »Gastarbeiter*innen«, obwohl diese als eine Form der Hintergrundidentität stets mitgedacht zu werden scheint. Da die Großeltern zumeist noch leben und ihre Migrationsgeschichten im kommunikativen Gedächtnis der Familie tradieren, erheben viele Jugendliche mit Migrationshintergrund die Arbeitsmigration ihrer Großeltern zum Ursprung ihrer eigenen Geschichte und Biografie sowie zur Grundlage ihrer eigenen Identität. Dies drückt sich auch in den Selbstbezeichnungen der befragten Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund deutlich aus.

Selbstbezeichnungen von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Selbstbezeichnung »Moslem« Ich bin zum Islam konvertiert! Ich bin einfach nur Moslem. [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]  Ich will einfach nur Moslem sein. [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule] 

Selbstbezeichnung »Türk*in« Frage: Und Du würdest Dich als Türkin bezeichnen? Eda: Hm. [Interview Eda, Q2IF, Hauptschule]  Also, wenn äh, wenn man sich mit den Deutschen und mit den Ausländern gut verstehen kann, also, wenn man nicht sagt: »Nee, nur mit den Türken. [Interview Eda, Q2IF, Hauptschule]  Also, wenn die was gegen Türken, Ausländer haben. [Interview Eda, Q2IF, Hauptschule]  Ich meine, wenn ein Ausländer etwas macht, was sich nicht gehört, dann sagen die nicht »der Junge«, dann sagen die »die Türken«.  [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]  Die denken anders als die Türken. [Interview Savaş, Q2IF, Realschule] 

Selbstbezeichnung »Ausländer*in« Ich als Türke kann sagen, es scheitert am meisten bei den Türken. Vielleicht liegt es daran, dass wir hier so viele sind. Alle Ausländer werden immer als Türken bezeichnet. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

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Der Diasporakomplex Ja, zum Beispiel in der Schule bin ich Ausländerin. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Ja, weil (eine Sek.) Integration, das bezieht sich ja eigentlich hauptsächlich auf Ausländer und (eine Sek.) man ist ja nur Ausländer, wenn man von woanders herkommt. [Interview Aslı, Q2IF, Gymnasium I] 

Selbstbezeichnung »dritte Generation« Ja, nee, das geht darum, äh (eine Sek.) bei mir, also ich bin die dritte Generation. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Selbstbezeichnung »Gläubige*r« Also (eine Sek.) für uns Ausländer, Türken, Gläubigen, wenn die hier leben, ist das, finde ich, wichtig, um sich dann von den Deutschen oder den Ungläubigen zu unterscheiden. [Interview Kaan, Q2IF, Gymnasium II]  Ich würde das jetzt mit den Gläubigen und den Ungläubigen unterscheiden. [Interview Kaan, Q2IF, Gymnasium II] 

Selbstbezeichnung »Ausländische« Dass (eine Sek.) Ausländische sich in dem Land, in dem sie sich befinden, anpassen. [Interview Aslı, Q2IF, Gymnasium I] 

Die Codierung der Selbstbezeichnungen zeigt deutlich, dass kein einziger Schüler und keine einzige Schülerin mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sich selbst als Deutscher bzw. Deutsche bezeichnet. Die Mehrheit dieser Befragten bezeichnete sich als »Ausländer*in« oder »Ausländische«. Auch für die Jugendlichen selbst bedeuten ihre deutsche Staatsbürgerschaft, ihre Geburt in Deutschland, ihr Leben und Aufwachsen in Deutschland oder ihre Beherrschung der deutschen Sprache nicht automatisch, dass sie sich als Deutsche verstehen. Deutsch scheint nach der impliziten Definition auch dieser Befragten nur zu sein, wessen Eltern und Großeltern deutsch sind, also nur Personen ohne familiäre Migrationsgeschichte. Diese Auffassung scheinen auch ihre autochthonen Mitschüler*innen zu teilen. Die folgenden Beispiele zeigen die Brandbreite der Fremdbezeichnungen durch autochthone Befragte:

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Fremdbezeichnungen durch autochthone Mitschüler*innen Fremdbezeichnung »Muslime« Eventuell noch, wenn die, wenn es sehr viele Probleme mit der Religion gibt, aber ich glaube, da gibt es in Deutschland nicht so die großen Probleme, da halt zum Beispiel Muslime einfach sehr akzeptiert werden. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II] 

Fremdbezeichnung »Türkischstämmige«/»Türken« Die meisten aus unserer Klasse sind ja Türken. [Interview Lisa, Q2IF, Realschule]  Wenn jetzt viele Menschen aus einem, zum Beispiel Türkischstämmige viel aufeinanderhängen und dann immer mehr sich ihren alten (eine Sek.) Traditionen festkrallen und das nicht loslassen wollen, weil es ja auch ein Stück Heimat ist, und dann bildet sich so ein, so ein Klüngel, würde ich jetzt mal sagen, und das verhindert, glaube ich, diese Integration. [Interview Julius, Q2IF, Gymnasium II] 

Fremdbezeichnung »mit Migrationshintergrund« Integration ist für mich, dass, dass Schüler mit Migrationshintergrund oder zum Beispiel aus dem Ausland, die sich nicht gut auskennen hier, die vielleicht sogar nicht so gut die Sprache sprechen, mit den anderen Menschen (eine Sek.) mit den anderen Menschen nicht nur kommunizieren, sondern auch was unternehmen, sich Freunde bilden oder ähm (eine Sek.) halt (eine Sek.) zum Beispiel zusammen Unterricht machen […]. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II]  Auch austauschen natürlich. Dass sie halt so zusammen sind, dass halt keinen Unterschied macht, ob man jetzt einen Migrationshintergrund macht, hat oder nicht. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II]  Auch so ein bisschen, dass halt, vielleicht haben mal die (eine Sek.) Leute mit (eine Sek.) zum Beispiel türkischem Migrationshintergrund ein bisschen andere (eine Sek.) Sinn von Integrität oder wie das halt hier in Deutschland ist. Vielleicht sehen die das ganz anders. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II] 

Fremdbezeichnung »Ausländer*innen« Wenn, wenn der Ausländer nicht die Sprache spricht. Nicht unsere Sprache sprechen oder halt sehr schlecht und nicht kommunizieren können. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II] 

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Der Diasporakomplex

Auch Bilingualität scheint ein Kriterium für den Ausschluss aus der imaginären Gemeinschaft der Deutschen zu sein. Folgt man diesem Verständnis, ist der Unterschied zwischen den Definitionen Gastarbeiter*innen und Ausländer*innen nur graduell. Die Betonung der Anpassung an eine »deutsche Zielkultur« erinnert an die Tugenden, die von einem guten Gast(arbeiter) erwartet werden. Diese Haltung entspricht einer Gastfreundschaft, die solange gilt, wie der Gast sich anzupassen und zu benehmen weiß, das heißt solange er sich an die Regeln hält. Anders, mit Goffman gesagt: Die Stigmatisierten mit ihrem Handicap des Migrationshintergrunds, das sie als offensichtliches Merkmal nicht verstecken können, dürfen die Normal-Behandlung nicht überfordern und ihre Gastrolle sowie die Bemühungen des Gastgebers oder der Gastgeberin mit etwa mangelnder Dankbarkeit überstrapazieren.136 Dazu Goffman: »Von dem stigmatisierten Individuum [also hier von Personen mit Migrationshintergrund] wird verlangt, so zu agieren, daß [ihre] Last weder schwer ist, noch daß sie zu tragen (sie) anders gemacht hat als« die Autochthonen.137 Das Beschriebene ist eine Art unausgesprochenes Gesetz, über das Konsens zu bestehen scheint, so Goffman weiter: »So lässt man eine Schein-Akzeptanz die Basis für eine Schein-Normalität bilden.«138 Diese überspitzte Darstellung zeigt, dass es trotz einer vorgeblichen Gleichheit Nachrangige gibt, die trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung im gesellschaftlichen Miteinander nicht gleich behandelt werden, sondern faktisch immer Andere und somit Fremde bleiben.139

136 | Setzt man voraus, dass der Zusatz »mit Migrationshintergrund« als Synonym der Bezeichnung »Ausländer*in« verstanden wird, so kann man diesen als Stigmatisierungsmerkmal begreifen. Ähnlich wie das Stigma der Behinderung bei Goffman könnte die Bezeichnung als Facette von race verstanden werden. Vgl. Goffman: Stigma, S. 150f.: »Von dem Stigmatisierten wird taktvoll verlangt, […] sie sollten die Grenzen der ihnen gezeigten Akzeptanz nicht auf die Probe stellen. […] Die Natur einer guten ›Anpassung‹ ist nun offensichtlich. Sie fordert, daß das stigmatisierte Individuum […] als den Normalen wesentlich gleich akzeptiert, während es zur gleichen Zeit jene Situation vermeidet, in denen es Normale schwierig finden würden, das Lippenbekenntnis abzulegen, sie akzeptierten ihn gleichermaßen. Da die Linie der guten Anpassung von jenen präsentiert wird, die den Standpunkt der weiteren Gesellschaft einnehmen, sollte man fragen, was es für die Normalen bedeutet«. 137 | Goffman: Stigma, S. 151f. 138 | Ebd., S. 152. 139 | Den Begriff der Nachrangigen führte Bärbel Völkel in einem Vortrag auf einer Konferenz für Geschichtsdidaktik unter dem Titel »Volk – Geschichte – Identität. Menschen ›mit‹ und ›ohne‹ Geschichte in Einwanderungsgesellschaften« ein. Völkel erörterte darin die Funktion von Geschichte in Einwanderungsgesellschaften und beschrieb dabei den Unterschied zwischen Gleichen in einer Dominanzkultur.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

4.7.3.2.2 Selbst-Narrationen »Man kann die Frage wer man ist, nicht beantworten, ohne eine Geschichte zu erzählen, die vom eigenem Leben handelt.«140 Welche Geschichte(n) können nun diese Nachrangigen erzählen, um ihre historische Identität zu bilden? Die erzählten Geschichten verweisen immer auch auf die Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt oder der man angehören möchte. Konkreter formuliert: Welche Masternarrative konstruieren Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund? Diese Narrationen haben das Ziel, eine Antwort auf die eingangs formulierte Frage zu finden, wer man ist. Da diese Antworten nicht erfolgen können, »ohne eine Geschichte zu erzählen, die vom eigenen Leben handelt«, werden die Aussagen als historische Selbst-Narrationen verstanden.141 In der qualitativen Befragung zeigten sich verschiedene Formen von SelbstNarrationen. Inwieweit diese auch immer historische Narrationen sind, muss diskutiert werden. Bei der Analyse der Selbst-Narrationen fiel auf, dass Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zur eigenen historischen Verortung sowie zur historischen Identitätskonstruktion häufig die Migration ihrer Großeltern nach Deutschland als historischen Bezugspunkt wählten. Selbst wenn die osmanische Geschichte oder die türkische Geschichte in die Erzählungen mit einbezogen wurde, diente diese nur als Vorgeschichte für den »Auszug« der ersten Generation nach Deutschland. Die Auszugsgeschichten erinnern an Diasporabeschreibungen, die über einen religiösen Kontext hinaus auch in der Migrationsliteratur verbreitet sind und die Wahrnehmungen der Fremde als Diaspora beschreiben.142 Im Folgenden werde ich daher von Diasporageschichten oder Diasporabeschreibungen sprechen.143 Proband*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wählen zur Selbst-Narration häufig die familiäre Migrationsgeschichte sowie islamisch-religiöse Geschichten.144 140 | Rüsen: Historik, S. 267. 141 | Ebd. 142 | Kuhlmann: Exil, Diaspora, Transmigration, S. 9; Kron: Afrikanische Diaspora und Literatur Schwarzer Frauen in Deutschland, S. 86. 143 | Zum Gebrauch des Begriffs Diaspora siehe auch die ex-negativo-Definition von Saint-Blacat: »Quand il y a ruptur avec l’origine ou assimilation aux contextes d’installation, on ne peut plus parler de diaspora.«; Saint-Blancat: Une Diaspora Musulmane en Europe, S. 10. 144 | Die Begriffe Diasporageschichte und Disaporabeschreibung verdeutlichen die Vorstellungen, die in der Erinnerung an die Migration der ersten Generation nach Deutschland entstehen. Die Arbeitsmigration wird als Aufbruch ins Fremde und Unbekannte, ins Exil tradiert. Die Bedeutung des Wortes Diaspora ist dabei nicht auf dessen ursprünglichen jüdisch-religiösem Kontext bezogen. Der Begriff leitet sich vielmehr aus dem Erklärungskontext der Proband*innen ab. Diese beziehen sich auf die Narration

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Der Diasporakomplex

Befragte mit Migrationshintergrund erzählen diese Geschichten, um ihre Anwesenheit in Deutschland zu begründen. Gleichzeitig zeigen die Geschichten, dass die Migration der Großeltern ein wesentlicher Bezugspunkt für die Selbst-Narration ist. Die Erzählungen über die Migration der ersten Generation werden erinnert, erzählt und weitergegeben. Die historische Erzählung der Migration der Großeltern dient dabei als Hintergrund der eigenen historischen Identitätskonstruktion.

Diasporabeschreibung Ganz ehrlich, alles ist wichtig. Ah, vielleicht der Zweite Weltkrieg und danach das Wirtschaftswunder ’ne, das ist das Einzige, warum wir überhaupt hierhergekommen sind ’ne, das ist das Einzigste. Das verbinde ich damit. [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]  Ja, ich lebe hier. Aber nur, weil meine Großeltern hier hingekommen sind! Ich habe das nicht entschieden. Wir gehören hier gar nicht hin! [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]  Weil mein Vater will, dass wir halt nicht nur wissen, was den Deutschen passiert ist, sondern auch (eine Sek.) unsere Vergangenheit kennen. Also, dass sozusagen (eine Sek.) dann in Schule ja auch, die finden das ja auch wichtig, dass man sagt, was früher geschah und (zwei Sek.), aber halt mit dem türkischen Hintergrund und warum wir hier sind. [Interview Fatih, Q2IF, Gymnasium I] 

Interessanterweise beziehen sich die zitierten Schüler*innen einerseits auf die Migration ihrer Vorfahren, betonen aber gleichzeitig, sich selbst niemals für eine Migration entschieden zu haben. Einige unterstreichen, dass sie selbst niemals die Entscheidung getroffen hätten, die Türkei zu verlassen. Dennoch müssten sie die Konsequenzen der Entscheidung ihrer Vorfahren mittragen. Savaş formuliert dies sehr prägnant:

der ersten Generation, die sich in Deutschland zunächst ökonomische Sicherheit und ein besseres Leben erhoffte und deshalb nicht in die Türkei zurückkehrte. Sowohl die Arbeitsmigrant*innen als auch die Deutschen gingen ursprünglich davon aus, dass der Aufenthalt der »Gastarbeiter« zeitlich begrenzt sei. Dass die Realität spätestens seit Ende der 1970er Jahre eine andere war und daher seitdem von einer Einwanderung gesprochen werden muss, zeigt sich auch daran, dass in Deutschland inzwischen bereits die dritte und vierte Generation dieser Familien lebt.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Ja, ich lebe hier. Aber nur, weil meine Großeltern hier hingekommen sind! Ich habe das nicht entschieden. Wir gehören hier gar nicht hin!145

Savaş drückt in dieser Sequenz sein Nicht-Einverständnis mit der Entscheidung seiner Großeltern aus, dessen Konsequenzen er meint, quasi geerbt zu haben. Aufgrund der Migrationsgeschichte seiner Vorfahren lebt er als Teil einer Minderheit in der Fremde, in einer Diaspora, die von der Mehrheitsgesellschaft unerwünscht ist. Andere Befragte liefern zwar weniger drastische Beschreibungen, beschreiben aber ebenfalls die Migration ihrer Großeltern als Diasporageschichte und nutzen diese als Hintergrund für ihre Selbst-Narration, innerhalb derer sie sich selbst nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft betrachten, sondern als Mitglieder einer türkischen Minderheit mit einer gemeinsamen Diasporageschichte. Schüler*innen der dritten Generation unterscheiden sich sowohl von der ersten Generation, den Gastarbeiter*innen, als auch von der zweiten Generation, ihren Eltern. Weder erwarten sie, dass sie in einer absehbaren Zeit Deutschland verlassen und in die Heimat ihrer Großeltern zurückwandern werden, noch empfinden sie die Unsicherheit, der ihre Eltern in deren Jugend ausgesetzt waren, als sie als Kinder migrierten und nicht wussten, ob sie ihr Leben in Deutschland verbringen würden. Für die Angehörigen der dritten Generation ist die Vorstellung einer türkischen Diaspora in Deutschland die einzige ihnen bekannte Heimat, ihr Zuhause. Jugendliche der dritten Generation nehmen Bezug auf die Identität ihrer Großeltern als Gastarbeiter*innen. Diese Identität, die auch als Selbstbezeichnung vorkommt, scheint ihre eigene Identitätskonstruktion zu beeinflussen, und zwar als Empfindung, das historische und gesellschaftliche Erbe der Arbeitsmigration der Großeltern anzutreten. Diese Haltung kann historische Orientierung bieten und das Interesse an der Geschichte der Großeltern sowie an deren Heimatland fördern. Das Interesse an der Migrationsgeschichte der eigenen Familie, die vielfach im kommunikativen Gedächtnis der Familie präsent ist, ermöglicht es den Jugendlichen der dritten Generation, ihre vorbiografische Vergangenheit zu rekonstruieren und ihre Geschichte als Teil der deutschen Geschichte zu erzählen. Diesen Versuch unternahm in der Gruppendiskussion beispielsweise Serkan, indem er die türkische Geschichte sowie das Thema Migration als wichtige historische Ereignisse vorschlug. Man könnte dies als Integrationsbemühungen verstehen, also als Versuch Serkans, seine eigene Geschichte in die Geschichtskultur der Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Durch derartige Bemühungen, die Diaspora in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, können die Schüler*innen mit Migrationshintergrund historische Orientierung gewinnen. Allerdings bleibt festzuhalten, dass 145 | Interviewauszug Q2IF, Savaş, eigene Hervorhebung.

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Der Diasporakomplex

weder die Selbstbezeichnungen, noch die Selbst-Narrationen dieser Befragten auf eine selbstverständliche Verortung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft hinweisen. Vielmehr scheinen diese ein Selbstverständnis als Mitglied einer türkischen Diaspora auszudrücken. Wie schon Hansens 1938 in The Problems of the Third Generation of Immigrants schrieb, zeigen die Angehörigen der dritten Generation ein gesteigertes Interesse an der Geschichte sowie der Heimat der ersten Generation. Der Grund hierfür ist nicht ein Unwille, an der Mehrheitsgesellschaft zu partizipieren, sondern eine Art Kompensationsreaktion auf den Ausschluss aus derselben. Hansens Beschreibungen wirken zunächst wie eine der Integration zuwiderlaufende Orientierung.146 Erst die Verweigerung der gesellschaftlichen Teilhabe und der daraus entstehende Orientierungskonflikt bedingen die Hinwendung zur Migrationsgeschichte der Vorfahren. Folgt man Hansens und betrachtet die artikulierten Selbst-Narrationen mit ihrem religiösen Hintergrund, so zeigt sich nicht nur ein verstärktes Interesse an der Geschichte der ersten Generation, sondern auch an der Religion. Einige Befragte der dritten Generation mit Migrationshintergrund erzählen dementsprechend religiöse Geschichten oder verbinden die Diasporageschichten mit religiösen Erzählungen. Die Wahrnehmung, in einer türkischen Diaspora zu leben geht dabei häufig mit dem Bild einer muslimischen Diaspora einher.

Religionsbindung von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Identität durch Religion/Religionsbindung Ja! Aber meine Eltern sind alevitisch (sic!). Ich bin zum Islam konvertiert! Ich bin einfach nur Moslem. Ich glaub’ nicht, also Mohamed ist der letzte Prophet und fertig! Also ich glaub’ nicht. Die Aleviten machen so und so. Ich glaub’ nur an Allah und fertig. Ich will mich nur an den Koran halten. Ich halt’ mich da raus. Die Aleviten sagen zwar, die glauben daran, aber ich glaube das nicht. Ich halt’ mich da raus. Ist die letzte Botschaft, weißt Du. Also steht im Koran, dass es die letzte Botschaft ist, also sag’ ich mir: Komm, bevor ich, weißt Du, ich bin dann kein Moslem, bevor ich. Ich halt’ mich aus den Spaltungen da raus, weißt Du. [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]  Also Religion ist doch wichtig für einen Menschen, ein Glauben. [Interview Fatih, Q2IF, Realschule]  Ich mag das halt. Also wenn ich in die Moschee gehe, da [dort]ist ja so, da wird, haben wir auch so, und das gefällt mir halt. [Interview Fatih, Q2IF, Realschule]  146 | Hansen: The Problems of the Third Generation of Immigrants.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Also, dass ich (eine Sek.) am Glauben festhalte und auch das mache, was von mir verlangt wird. Also fünfmal am Tag beten, in die Moschee gehen jedes Wochenende. [Interview Cihan, Q2IF, Gymnasium I]  Frage: Dann schreibst Du, Du bist islamisch oder Islam und Du bist sehr religiös. Du hast nichts Weiteres angekreuzt. Ist das für Dich nicht wichtig? Kaan: Nee, die Unterscheidung kenne ich nicht. Frage: Okay, und was bedeutet sehr religiös für Dich? Kaan: Dass ich das sehr ernst nehme, bete fünfmal am Tag und auch die meisten Sachen befolgen muss. Frage: Gehst Du auch regelmäßig in die Moschee? Kaan: Ja. [Interview Kaan, Q2IF, Gymnasium II] 

Woher kommen die religiösen Selbst-Narrationen? Kehren wir hierzu zur hypothetischen Figur Elif zurück, die sich bedingt durch ihr doppelt semi-historisches Bewusstsein in einem Weder-Noch-Zustand befindet und aufgrund dessen keine balancierte Ich-Identität ausbilden kann. Für Elif scheint eine Dichotomie zu bestehen zwischen der Narration einer Diasporageschichte, die sich auf die Heimat der ersten Generation bezieht, während die türkische Diaspora den Lebensalltag in Deutschland beschreibt. Was geschieht mit einem Individuum, wenn seine Konstruktion einer balancierten Identität misslingt? Krappmann spricht in diesem Fall von einer gestörten Identität, die er als Schizophrenie den endogenen Psychosen zuordnet. Diese Psychosen, so Krappmann, »stellen die Interaktion eines Individuums mit seiner sozialen Umwelt grundsätzlich in Frage.«147 Das Individuum ist demnach nicht fähig, einen Ausgleich zwischen seinem Ich und der Außenwelt zu bilden.148 Bezieht man dies auf die Selbst-Narrationen der befragten Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, so wird deutlich, dass deren Beziehung zwischen Ich und Außenwelt von der Vorstellung bestimmt zu sein scheint, einer türkischen (und muslimischen) Diaspora 147 | Krappmann: Soziologische Dimensionen, S. 174f. 148 | Freud: Realitätsverlust bei Neurose und Psychose, S. 365: »Der anfängliche Unterschied kommt dann im Endergebnis in der Art zum Ausdruck, daß bei der Neurose ein Stück der Realität fluchtartig vermieden, bei der Psychose aber umgebaut wird. Oder: Bei der Psychose folgt auf die anfängliche Flucht eine aktive Phase des Umbaues, bei der Neurose auf den anfänglichen Gehorsam ein nachträglicher Fluchtversuch. Oder noch anders ausgedrückt: Die Neurose verleugnet die Realität nicht, sie will nur nichts von ihr wissen; die Psychose verleugnet sie und sucht sie zu ersetzen.«, eigene Hervorhebung.

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Der Diasporakomplex

anzugehören – mit dem dazugehörigen Bezug auf die familiäre Migrationsgeschichte. Diese Vorstellungen von Migration, die ja nie selbst vollzogen wurde, und Diaspora, die alltägliche lebensweltliche Wahrnehmung in der bundesdeutschen Gesellschaft, möchte ich als dichotomes Verhältnis, als Diasporakomplex bezeichnen. Die Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund beziehen sich in ihren Selbst-Narrationen, wie bereits erwähnt, neben der familiären Migrationsgeschichte auch auf religiöse Erzählungen. Die Schüler Kaan, Berk und Fatih nutzen religiöse Erzählungen, um sich der Notwendigkeit einer Balance des Ichs mit der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft (Kollektiv) zu entziehen. Indem sie sich mit der Gemeinschaft von Muslimen identifizieren, verringern die Jugendlichen die Bedeutung nationalstaatlicher oder generationeller Zugehörigkeiten. Das übergeordnete und universelle Kollektiv der Muslime stellt somit ein konkretes Orientierungs- und Identitätsangebot dar. Diese heterogene Meta-Gemeinschaft der Muslime verspricht zudem eine Zugehörigkeit ohne Stigmatisierung. Durch die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft verlieren die Ausgrenzungsmechanismen und Stigmatisierungen der säkularen deutschen Mehrheitsgesellschaft an Einfluss, auch bei der individuellen Identitätskonstruktion.

Inter view Fatih Ja! Aber meine Eltern sind alevitisch. Ich bin zum Islam konvertiert! Ich bin einfach nur Moslem. Ich glaub’ nicht, also Muhamed ist der letzte Prophet und fertig! [Interview Fatih, Q2IF, Hauptschule]

Blicken wir noch einmal auf Elif, die ohne reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein keine balancierte Ich-Identität ausbilden kann und daher nach Fluchträumen sucht. Für sie stellt die religiöse Identität zugleich Anziehungspotenzial und Identitätsofferte dar. Folgt man Freuds Definition einer Psychose, als anfängliche Flucht, auf die ein aktiver Umbau der Realität folgt, so wird die Gefahr solcher identitärer Fluchträume deutlich. Der Worst-Case ist in diesem Beispiel demnach nicht mehr der Weder-Noch-Zustand, indem sich Elif befindet, sondern eine religiöse Identität, die zu einem Realitätsverlust und einer Radikalisierung führen kann. Ein anderer Fluchtraum bzw. eine andere Exitstrategie für Elif, die hier stellvertretend für die Konflikte von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund steht, könnte die Flucht in eine politische Identität sein, etwa die Orientierung an einer Organisation wie den Grauen Wölfen. Diese politische Organisation bietet ihren Mitgliedern in Deutschland anstelle einer Degradierung zu »Deutschtürken« oder Almancı eine Identität als »vollwertige Türken« an. Auch durch dieses Identitätsangebot lassen sich die genannten Spannungen der Lebensumwelt scheinbar lösen.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Dieses Identitätsangebot ermöglicht eine klare Verortung in einer Diasporageschichte sowie eine positive Konnotation der türkischen Diaspora. Gefordert wird hierfür eine Entscheidung, eine bewusste Verortungswahl.

Inter view Savaş Savaş: Wir reden halt unter uns Freunden türkisch. Wir leben halt mit dieser Mentalität. Und wenn man unter Deutschen ist, dann geht das nicht. Frage: Wie ist es in der Türkei? Wirst Du als Almancı bezeichnet? Savaş: Nein, mich hat noch nie jemand als Almancı bezeichnet. Weil ich auch nicht diese Eigenschaften habe. Ich als in Deutschland lebender Türke kann sagen, wer ein Almancı ist. Ein Almancı ist jemand, der assimiliert ist. Ich steh letztes Jahr, eigentlich ist es immer so, wenn ich in der Türkei, nee Entschuldigung, am Flughafen zum Beispiel, da warte ich, da höre ich die kleinen türkischen Kinder, die unterhalten sich auf Deutsch. Es heißt nicht ›Anne, Baba‹, sondern ›Mama, Papa‹. Dann, was ich schade finde, das machen die in der Türkei auch, dann bezeichnet man generell in Deutschland lebende Türken als Almancı. Frage: Meinst Du die können kein Türkisch? Savaş: Ja, genau. Die leben in einer Parallelgesellschaft. Die reden weder richtig Türkisch noch richtig Deutsch. Die kennen weder die richtige deutsche Kultur noch die richtige türkische Kultur. Die sind einfach Zwiegestalten. Und das macht sie zu einem Almancı. Frage: Warum glaubst Du, sind sie so? Savaş: Das ist Erziehung. Aber ab einem bestimmten Alter kann man die Entscheidung treffen. Was bin ich. Frage: Hm. Man entscheidet sich doch nur dafür, wer man ist. Was man ist, kann man doch nicht beeinflussen. Savaş: Ja, natürlich. Das meine ich. Man entscheidet wo man hingehört. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

Savaş versucht dem Dilemma des Niemandslands zu entkommen und Zugehörigkeit zu erfahren. Die Identifikation mit einer heroischen osmanischen und türkischen Geschichte ermöglicht es, das Narrativ von Einheit in Vielfalt in der Türkei zu pflegen (vgl. Leitlinien des Geschichtsunterrichts in der Türkei) und der Vorstellung einer nicht-nachrangigen Meta-Identität als Türk*in zu folgen. Dies ist für alle Personen mit einer türkeibezogenen Zuwanderungsgeschichte ein attraktives Identitätsangebot. Die Grauen Wölfe setzen Savaş zufolge in ihrer Jugendarbeit gezielt Geschichte als Instrument ein. Er berichtet, dass er im Ülkücü Ocağı (Herd der Ideallisten) Geschichtsseminare besuchte, die z.B. den Völkermord an den Armenier*innen erörtern und diesen als Erfin-

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dung bzw. Behauptung abtun.149 Auf die Frage, ob er sich durch seine gewollte Desintegration nicht noch stärker fremd fühle, antwortete Savaş, dass es zwar nicht angenehm sei, er aber ja wenigstens unter »Artgenossen« sei, was das Gefühl der permanenten Fremdheit erträglich mache. Diese Exitstrategie ist der einer religiösen Verortung nicht unähnlich und weist sogar Überschneidungen mit Formen der konservativen Glaubensausrichtung auf. Die Identitätsofferte besteht in diesem Fall darin, sich einfach und selbstverständlich nur als Türk*in und (sunnitische*r) Muslim*in zu fühlen und damit einem ebenso großen wie augenscheinlich homogenen Kollektiv anzugehören. Diese Zugehörigkeit kehrt die Ausgrenzungsmechanismen quasi um und verspricht so Partizipation und Anerkennung in einem inkludierenden Kollektiv.

149 | Die Grauen Wölfe sind Mitglieder der Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), die in Deutschland in Vereinen wie der Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu, ADÜTDF) oder kurz Türkische Föderation organisiert sind. Die Grauen Wölfe sowie die MHP sind am äußersten rechten Rand des türkischen Parteienspektrums anzusiedeln und werden in Deutschland daher vom Verfassungsschutz kritisch beobachtet. Vgl. dazu Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg: »Am Beginn einer solchen Veranstaltung stehen regelmäßig diejenigen Elemente, die den wichtigsten parteiprogrammatischen Punkt, nämlich den Nationalismus, herausheben. In den ›Idealistenvereinen‹ werden dabei nationalistische Komponenten auch mit religiösen (Koranlesung) vermischt. An Darbietungen patriotischer Hymnen durch Volkssänger (halk ozanı) fehlt es ebenfalls nicht. Kulminationspunkt einer Veranstaltung von ›Idealisten‹ dürfte jedoch der ›Schwur der Idealisten‹ sein, eine Art Fahneneid oder Treuegelöbnis, bei dem die psychologische Wirkung des Textes durch die gleichzeitige Präsentation der Nationalflagge noch verstärkt wird.« Der Schwur lautet: »Bei Allah, dem Koran, dem Vaterland, der Fahne wird geschworen: Meine Märtyrer, meine Frontkämpfer sollen sicher sein: Wir, die idealistische türkische Jugend, werden unseren Kampf gegen Kommunismus, Kapitalismus, Faschismus und jegliche Art von Imperialismus fortführen. Unser Kampf geht bis zum letzten Mann, bis zum letzten Atemzug, bis zum letzten Tropfen Blut. Unser Kampf geht weiter, bis die nationalistische Türkei, bis Turan [In dem Streben nach ›Turan‹, der zentralasiatischen Urheimat der Türken, konkretisieren sich die pantürkischen Ziele der ›Idealisten‹, die sämtliche türkischstämmigen Völker Asiens in einem großtürkischen Reich vereinigt sehen möchten] erreicht ist. Wir, die idealistische türkische Jugend, werden nicht zurückschrecken, nicht wanken, sondern wir werden [unsere Ziele] erreichen, erreichen, erreichen. Möge Allah die Türken schützen und erhören. Amen.« Gaertner/Saad: Kampfzone Straße; vgl. Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, Ausländerextremismus; Landesamt für Verfassungsschutz Hessen Bericht 2013: Allgemeiner Ausländerextremismus, Beobachtungsobjekte, Ülkücü -Bewegung, Ideale/Ziele.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Die Schüler*innen ohne Migrationshintergrund zeigen keine der beschriebenen Selbst-Narrationen. Zwar kann auch bei ihnen Religion bzw. Religiosität zu einem wichtigen Identitätskriterium werden, sie stellt aber bis auf eine Ausnahme keine besonders wichtige Grundlage der historischen Identitätskonstruktion dar. Demgegenüber unterstreichen einige autochthone Schüler*innen explizit ihre religionskritische Haltung. So Julius, der bereits in der quantitativen Erhebung sein Selbstverständnis als Atheist betont. Julius ist der einzige Schüler ohne Migrationshintergrund, der sowohl eine kritische als auch Ansätze einer genetischen historischen Sinnbildung zeigt. Integration beschreibt er zunächst als wechselseitigen Prozess, vertritt aber in der weiteren Erklärung zunehmend die Sichtweise einer einseitigen Anpassung an die Zielgesellschaft. Ansatzweise nutzen autochthone Schüler*innen sowohl in den Gruppendiskussionen als auch in den weiteren qualitativen Befragungen die deutsche Wiedervereinigung für ihre Selbst-Narration. Die Wiedervereinigung als positives Ereignis und endgültiger Abschluss der Nachkriegsgeschichte erlaubt eine unkritische Identifikation mit Deutschland und hilft so, eine kritische und mitunter problematische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu vermeiden. Die Wiedervereinigung als Erfolgsgeschichte, in der Deutschland als Gewinner des Kalten Kriegs gedeutet wird, kann also eine Flucht vor der negativ konnotierten Geschichte des Nationalsozialismus ermöglichen. Die autochthonen Schüler*innen können sich eventuellen moralischen Konflikten, die sich aus einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ergeben könnten, entziehen und auf ein durchweg positives Masternarrativ rekurrieren. Bei den Selbst-Narrationen der Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund können Diasporageschichten oder religiöse Geschichten im Hintergrund wirken und eine Art gruppenspezifische problemorientierte Wahrnehmung bilden. Die familiäre Migrationsgeschichte sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer türkisch-muslimischen Diaspora werden zur Basis der eigenen Existenz. Beide Aspekte gemeinsam ermöglichen es, die eigene Verantwortung für die mangelnde oder gar fehlende Integration abzumildern. Dazu trägt die Aussage bei, selbst nie eine Migrationsentscheidung getroffen zu haben, sondern quasi zur Diaspora-Existenz gezwungen worden zu sein. Darin kommt Unrechtsempfinden zum Ausdruck, vergleichbar mit dem Gefühl, zu Unrecht für etwas angeklagt oder verurteilt worden zu sein.

Inter view Burcu Nein, eigentlich nicht, aber wenn so Leute halt fragen: »Ja, woher kommst Du?«, kann man ja nicht sagen, so, muss man ja sagen: »aus der Türkei«. [Interview Burcu, Q2IF, Gymnasium II]

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Der Diasporakomplex

Sechs der zehn Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzählen eine Diasporageschichte (im Interview und in den Gruppendiskussionen, Tabelle 16). Vier dieser Schüler*innen nutzen (auch) einen Bezug zur Religionsgeschichte, um ihre historische Identität zu konstruieren. SuS

Diasporageschichte

religiöse Erzählung

Aslı

ja

nein

Kaan

nein

ja

Cihan

in Ansätzen

ja

Burcu

ja

nein

Serkan

ja

nein

Berk

ja

ja

Duygu

ja

nein

Savaş

ja

nein

Eda

nein

nein

Fatih

in Ansätzen

ja

Tabelle 16: Diasporageschichte und religiöse Erzählung

4.7.3.2.3 Selbstverortung Der Identitätstyp gehört zu den induktiv entwickelten Kategorien der Auswertung. Unterschieden wurde zwischen sieben verschiedenen Typen (als SubCodes), die die jeweilige identitäre Verortung der Proband*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund erfassen:

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

transkulturell

0

Sub-Codes

interkulturell

1

fremd

7

heimatlos

6

Almanci

10

zweiheimisch

9

Türke/Türkin

9 0

2

4

6

8

10

12

Anzahl der Codings

Abbildung 17: Häufigkeiten der Sub-Codes Identitätskonstruktion Die sieben Sub-Codes wurden aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten zu vier Identitätstypen zusammengefasst: Interkulturell und transkulturell, fremd und heimatlos, zweiheimisch und Almancı sowie (deutsche*r) Türk*in. Als interkulturell wurden Aussagen kategorisiert, die Konzepte von kulturellen Überschneidungen und hybriden Identitäten, also Zugehörigkeiten zu mehreren kulturellen Räumen zeigen. Als transkulturell sollten Vorstellungen von Identität codiert werden, die eine Verschmelzung kulturellen Zugehörigkeiten aufwiesen (wurden jedoch nicht vorgefunden). Als fremd und heimatlos wurden Erzählungen kategorisiert, die keine Zugehörigkeiten oder Schnittmengen zur Mehrheitsgesellschaft herstellen konnten. Als zweiheimisch wurden Aussagen eingeordnet, die eine doppelte Selbstverortung in positiver Konnotation vornahmen und als Almancı Doppelverortungen, die mehrseitige Ausgrenzungserfahrungen thematisierten. Als Türk*in wurden Aussagen kategorisiert, die eine Verortung als in Deutschland lebende*r (deutsche*r) Türk*in und als Türk*in ohne Unterscheidung zu in der Türkei lebenden Türk*innen vornahmen.

I: (deutsche*r) Türk*in Frage: Und sind Leute, die keinen türkischen Pass haben, auch Türken oder wären schon Deutsche? Berk: Auch Türken. Also das ist ja nur ein Papier. [Interview Berk, Q2IF, Realschule]

II: Almancı (Almancı & zweiheimisch) Ja, weil die ja auch anders denken als wir, uns, wir kennen beide Kulturen, also ich kenne jetzt das Deutsche und das Türkische und die kennen halt nur das Deutsche, deshalb würden die auf jeden Fall anders antworten. [Interview Kaan, Q2IF, Gymnasium II]

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Der Diasporakomplex

III: Fremde (heimatlos & fremd) Ja man fühlt sich fremd, aber einerseits nicht, man ist ja unter seinen Artgenossen. Man ist ja kein Einzelfall. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

IV: Interkulturelle und Transkulturelle Genau, wie sehr ich mich auch anstrenge, mich zu integrieren, werde ich immer nur abgestempelt als Ausländer. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II]

Insgesamt konnten sämtliche Aussagen der Schüler*innen einem dieser vier Typen zugeordnet werden. Darüber hinaus konnte eine Korrespondenz zwischen den jeweiligen Identitätstypen und der mehrheitlich kategorisierten Sinnbildungsform festgestellt werden (Tabelle 17). Demnach wurden Jugendliche, die mehrheitlich traditionale Sinnbildung nutzten, zu Typ I (deutsche*r Türk*in) und die mehrheitlich exemplarische Sinnbildung zeigten Typ II (zweiheimisch/Almancı) zugeordnet. Bis auf eine Ausnahme konnte keine Teilnehmer*in dem Typ IV (interkulturell/transkulturell) zugeordnet werden. Ein Schüler, der mehrheitlich kritisch Sinn bildete, wurde dem Typ III (heimatlos/fremd) zugeordnet. Am häufigsten wurden befragte Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund den Typen I (deutsche*r Türk*in) und II (Almancı) zugeordnet. Der theoretisch konstruierte Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration (Abbildung 4) wurde also durch die Auswertungsergebnisse unterstützt.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

SuS

Historische Identitätskonstruktion Typen

Mehrheitlich gezeigte historische Sinnbildung

I

II

III

IV

mehrheitlich

Aslı

1

1

0

0

I

II

traditional

Kaan

2

2

0

0

I

II

traditional

Cihan

2

0

0

0

I

traditional

Burcu

2

1

0

0

I

traditional

exemplarisch

Serkan

1

2

7

1

III

kritisch

genetisch

Berk

5

1

0

0

I

traditional

Duygu

0

10

2

0

II

exemplarisch

Savaş

1

0

5

0

III

traditional

Eda

1

0

0

0

I

traditional

Fatih

0

1

2

0

III

kritisch

kritisch

Tabelle 17: Historische Identitätskonstruktionen und historische Sinnbildungsformen150

4.7.3.3 Integrationsvorstellungen Sämtliche Teilnehmer*innen wurden im Interview gebeten, den Begriff Integration zu definieren und zu erklären. Fast alle Befragten beschrieben dabei Integration als Anpassung.151

150 | Siehe Anm. 35, Kapitel 2.2. 151 | Nele ist die einzige Befragte, die über Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft spricht, fordert aber im darauffolgenden Nebensatz eine Anpassung an Kultur und Sprache: »Und von allen akzeptiert werden – und halt auch eine gewisse Anpassung dann von Sprache und Kultur.«

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Der Diasporakomplex

Ausgewählte Inter viewauszüge Aber ich glaube, die Deutschen verstehen unter Integration, dass man eben doch zum Beispiel Weihnachten feiert (eine Sek.) und doch so die ganzen Sachen macht, die Deutsche auch machen, also im Endeffekt, dass die genauso sind wie sie, wie die Deutschen dann. [Interview Aslı, Q2IF, Gymnasium I] Aber ich mein, was wir unter Assimilation verstehen, verstehen die Deutschen unter Integration. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

Viele Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund verstanden unter Integration in erster Linie einen einseitigen Anpassungsprozess. Zum Beispiel, wenn (eine Sek.), wenn hier halt solche komplett Verhüllten rumlaufen, ist das halt sehr, sieht dann sehr komisch aus, und so werden die halt nicht wirklich, akzeptiert schon, aber nicht wirklich, so hundertprozentig akzeptiert so in der Gemeinschaft. Die sind halt, man merkt halt immer noch, dass sie halt nicht wirklich dazugehören. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II] Ich meine, wenn ich jetzt in ein anderes Land ziehe, was sehr islamistisch ist, dann kann ich da auch nicht halbnackt rumlaufen und meinen, ich müsste jetzt ein Kreuz aufstellen oder so. [Interview Jan, Q2IF, Gymnasium II]

Ein Hauptschüler äußerte eine besonders kritische und differenzierte Antwort. Er stellte fest, dass zwar häufig von Integration gesprochen werde, von der Mehrheitsgesellschaft aber tatsächlich meist Assimilation erwartet werde: Ich unterscheide zwischen Assimilation und Integration. Das sind zwei ganz unterschiedliche Sachen. Assimilation ist seine Herkunft, die Mentalität, das innere Bewusstsein total zu vernachlässigen. Sich in die deutsche Kultur total einzuschweißen. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]

Sämtliche befragten Schüler*innen bestimmten Integration als Anpassung (außer Nele). Insgesamt gab es 18 Aussagen, die die Forderung einer Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft beschrieben.152

152 | Sub-Codes/Integration: Vorstellung von Integration und Einstellungen zur Integration.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Die Einstellungen zu Integration wurden mit drei induktiven Sub-Codes erfasst. Die Reflexionen der Schüler*innen über die Praxis der Integration sowie ihre Beschreibungen der Interaktion konnten den Kategorien Stigmatisierung, Relevanz von Sprachfähigkeiten oder Anpassung zugeordnet werden. Am häufigsten erfolgten Aussagen, die eine Form der Stigmatisierung beschreiben, die erlebte Stigmatisierung erzählten oder Stigmatisierungsmerkmale benannten. Entsprechende Äußerungen kamen fast ausschließlich von Jugendlichen der dritten Generation mit türkischem Migrationshintergrund. Sowohl Jugendliche mit als auch ohne Migrationshintergrund maßen der Beherrschung der deutschen Sprache einen großen Einfluss auf die Integration zu. Der Sub-Code Anpassung wurde ausschließlich aufgrund der Aussagen von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund gebildet. Die Ergebnisse der Codierung zeigen, dass die Befragten Integration als einseitigen Anpassungsprozess verstanden. Die hohe Zahl an Codings in der Kategorie Stigmatisierung, lässt die Vermutung zu, dass die nicht-autochthonen Befragten bereits mehrfach entsprechende Erfahrungen gemacht oder bei anderen beobachtet haben. Bei der Analyse des Umgangs mit Integration bestätigten sich die bisher gemachten Beobachtungen eines einseitigen Integrationsverständnisses. Alle Befragten erklärten, dass Unterschiede zwischen ihnen selbst und Autochthonen im speziellen oder im Allgemeinen zwischen Autochthonen und nichtAutochthonen bestünden und weiterbestehen würden. Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bezweifelten zudem, dass sie jemals als Deutsche anerkannt werden würden. Exemplarisch formulierte Serkan seine skeptische Haltung, die sich als Resultat seiner enttäuschenden Erfahrungen erfolgloser Integrationsbemühungen verstehen lässt. Savaş artikulierte seine grundsätzlich ablehnende Haltung zu Integration, da diese in der Mehrheitsgesellschaft synonym für Assimilation stehe. Doch selbst Savaş erklärte die Notwendigkeit sowie seine eigene Bereitschaft zu einer strukturellen Assimilation, die er als Anpassung bezeichnete. Die befragten autochthonen Jugendlichen betrachteten Integration fast ausschließlich als Handlungsauftrag an nichtdeutsche Personen. Sich selbst fühlten sie weder involviert, noch tangiert oder aufgefordert. Das beschriebene Verständnis von Integration als einseitige Anpassung an eine angenommene deutsche Normgesellschaft, das dem eigentlichen Wortsinn folgend als Missverständnis beschrieben werden muss, kann zu Spannungen und Konflikten führen. Es kann zu einem erhöhten Druck auf Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie zu Exklusion anstelle von Integration führen. Die Teilnehmer*innen beschrieben eine ethnozentrische Vorstellung einer angenommenen Normkultur und Nationalkultur, die sie als Leitkultur und Zielkultur erklärten. Diese Vorstellungen von Integration gehen einher

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mit den Vorstellungen der Schüler*innen zu Geschichte und Kultur, die durch Abstammung und nationale Zugehörigkeit aber auch religiöse Zugehörigkeit vorbestimmt ist. Die Analyse der Einstellungen zur Integration sowie des Umgangs mit Integration förderten eine bemerkenswerte Beobachtung zutage: Das allgemeingesellschaftliche Verständnis von Integration, das auch die Schüler*innen artikulierten, scheint der Vorstellung klassischer Integrationsmodelle (z.B. des Race-Relation-Cycles, vgl. Kapitel 2.2.2) zu entsprechen, die Integration als linearen Assimilations- und Fortschrittsverlauf über Generationen definieren. Ein Verständnis von Integration als beiderseitigem Angleichungsprozess, wie es auch in der neueren Forschung vorherrschend ist, scheint hier nicht vorzukommen.

4.7.3.4 Doppelt semi-historisches Bewusstsein Das doppelt semi-historische Bewusstsein wurde im Rahmen der theoretischen Vorüberlegungen als Nullhypothese konzipiert.153 In diesem Worst-CaseSzenario wurde die fiktive Schülerin Elif beschrieben, die mit der Herausforderung konfrontiert ist, eine balancierte Ich-Identität auszubilden und ihr grundlegendes Gefühl der Heimatlosigkeit zu überwinden. In den Interviews beschrieben mehrere Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund eine solche Problematik. Sie beschrieben die Herausforderungen, denen sie sich ausgesetzt fühlen oder ihre Heimatlosigkeit. Im Folgenden sollen einige Beschreibungen dieses doppelt semi-historischen Bewusstseins von befragten Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund diskutiert werden.

Geschichtsbewusstsein, doppelt semi-historisches Bewusstsein Frage: Aber Du lebst doch in Deutschland? Savaş: Ja, ich lebe hier. Aber nur, weil meine Großeltern hier hingekommen sind! Ich habe das nicht entschieden. Wir gehören hier gar nicht hin!  Frage: Hm? Aber Du bist ja nun schon in der dritten Generation hier? Savaş: Ja, aber das ist unwichtig! Frage: Hm, hast Du schon in der Türkei gelebt? Savaş: Nein, nur in den Ferien.  [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 153 | Statistische Hypothesenprüfungen arbeiten stets mit einem Hypothesenpaar, das einerseits aus der Forschungshypothese bzw. Alternativhypothese und andererseits aus der Nullhypothese besteht. Die Nullhypothese widerspricht dabei der Alternativhypothese. Sie wird bei quantitativen Auswertungen zur Berechnung und Darstellung von Unterschieden, Zusammenhängen oder Veränderungen genutzt. In dieser Studie steht der Begriff Nullhypothese für einen hypothetischen Fall, der in der Realität niemals eintritt. Vgl. dazu Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 24f.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif Frage: Meinst Du, die können kein türkisch? Savaş: Ja, genau. Die leben in einer Parallelgesellschaft. Die reden weder richtig Türkisch noch richtig Deutsch. Die kennen weder die richtige deutsche Kultur, noch die richtige türkische Kultur. Die sind einfach Zwiegestalten. Und das macht sie zu einem Almanc ı.  [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule]  Zum Beispiel, wenn ich in die Türkei komme, auch wenn ich, wenn Du also, wenn ich versuche zu zeigen, dass ich so ähm, noch meinen ähm (eine Sek.), meine Herkunft behalten habe, trotzdem so ja: Almancı! Man sieht, zum Beispiel ich hatte auf Türkisch da geredet, da hatten die so gesagt, man sieht du hast einen richtigen Akzent, man sieht, dass du aus Deutschland kommst, dann hat man auch nicht so was wie ’ne Heimat. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] Hm, ich weiß nicht, also irgendwie bin ich, äh, auch wenn ich hier gewachsen (eine Sek.), aufgewachsen bin, bin ich irgendwie trotzdem Türkin. Aber ich lebe auch hier. Deswegen konnte ich das nicht so recht äh, hm. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Weil die in der Türkei geboren sind. Aber bei mir wär’ das ja nicht zurück, weil ich ja hier geboren bin. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Die zitierten Schüler*innen beschrieben ihre persönlichen Exitstrategien. Cihan beispielsweise schloss nicht aus, in die Türkei auszuwandern, und Serkan stellte dies sogar als mögliche Option dar. Die Schilderungen umfassen zwar nicht sämtliche Bestandteile eines doppelt semi-historischen Bewusstseins, beschreiben aber zentrale Aspekte dieses Modells und erklären sowie kritisieren es zugleich: Die Jugendlichen generieren ihr Wissen über türkische Geschichte aus der Familie oder aus ihrem engeren sozialen Umfeld. Sie kennen die Erfahrung, in der Türkei als Almancı bezeichnet zu werden und in Deutschland als Nicht-Dazugehörige stigmatisiert zu werden. Sie kennen die Türkei lediglich aus Urlauben und haben oftmals das Gefühl, zwischen den Kulturen zu stehen und dadurch zu Balanceakten genötigt zu werden. Daneben sind sie in der Regel zweisprachig. Sämtliche befragten Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund beschreiben, erklären, kritisieren oder reflektieren auf die ein oder andere Weise, was in dieser Studie als doppelt semi-historisches Bewusstsein beschrieben wurde. Diese Analyseergebnisse ergeben, dass die als Nullhypothese konzipierten Überlegungen eines doppelt semi-historischen Bewusstseins (Abbildung 3) nicht der Worst-Case, sondern der Normalfall

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ist! Zwar artikulieren viele Schüler*innen in den Interviews Elemente dieses Modells, allerdings reflektieren sie diese häufig auch nicht. Der Unterschied liegt also im Reflexionsgrad und der Fähigkeit, anders historisch Sinn zu bilden. Es kann daher angenommen werden, dass die Art und Weise des Umgangs mit Geschichte den Umgang mit dem genannten Spannungsverhältnis beeinflusst und sich so auch auf die Fähigkeit zur Ausbildung einer balancierten Ich-Identität auswirkt. Doch grundsätzlich scheinen alle Proband*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund dem skizzierten Spannungsfeld eines doppelt semi-historischen Bewusstseins ausgesetzt zu sein. Das Gefühl von Zerrissenheit bzw. eine Spannungsproblematik (Race-Relation-Cycle) ist demnach nicht nur – wie aus der Literatur hervorgeht – in der zweiten Generation vorhanden, sondern besteht wie die Ergebnisse zeigen, auch in der dritten Generation. Die Herausforderungen, denen Elif gegenübersteht, werden besonders deutlich an der Vielzahl von Beschreibungen von stigmatisierenden Fremdzuweisungen. Auch den Geschichtsunterricht bewerten viele Jugendliche mit Migrationshintergrund als nicht bedeutsam. Gleichzeitig betonen sie jedoch ihr Interesse an Geschichte sowie deren Relevanz. In den Schilderungen der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund wird die Bedeutung der außerschulischen Geschichtsvermittlung deutlich. Es kann vermutet werden, dass Eltern versuchen, die entstehenden Defizite des Geschichtsunterrichts (fehlende Vermittlung von Kenntnissen der türkischen Geschichte) auszugleichen. Eventuell bemerken die Eltern auch das Orientierungsbedürfnis ihrer Kinder und reagieren auf diesem Wege mit einem Identitätsangebot. Fraglich ist allerdings, welche Art von historischer Erzählung sie den Schüler*innen vermitteln möchten und können. Anhand der Erzählungen der Jugendlichen über türkische Geschichte lässt sich nicht erkennen, dass ein über politisch konnotierte Deutungen oder Werthaltungen hinausgehendes historisches Wissen weitergegeben wird. Mit Ausnahme von Serkan, der die unterschiedlichen geschichtlichen Zugänge seiner Eltern sowie die innerfamiliäre Diskussion hierüber beschrieb, berichtete kein Jugendlicher der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund über einen derart kritischen und diskursiven Umgang mit Geschichte. Die schwierige Situation von Elif, sich anders, fremd und nirgendwo zugehörig zu fühlen, spiegelt sich bei den interviewten Jugendlichen mit Migrationshintergrund in unterschiedlicher Intensität wider. Sowohl die Beschreibungen von Heimatlosigkeit als auch die Diasporageschichten und/oder die religiösen Erzählungen verweisen auf das existenzielle Bedürfnis der Schüler*innen nach historischer Orientierung hin. Das Ergebnis der quantitativen Erhebung, dass Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund strukturell assimiliert sind, bestätigt sich in den Interviews. Jedoch zeigt sich auch, dass die emotionale Integration, die in der ersten Erhebungsphase noch angenommen werden konnte, nach Auswertung der zweiten Erhebungsphase

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

nicht mehr plausibel erscheint. Trotz einer gelungenen strukturellen Integration vermögen die Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund den Übergang zur emotionalen Integration nicht zu vollziehen. Aus dem Verständnis von Integration als interdependentem Prozess, das dieser Arbeit zugrunde liegt und den geschilderten Befunden ergeben sich gesamtgesellschaftliche Fragen: Ist die Mehrheitsgesellschaft bereit, den befragten Jugendlichen eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen? Die Auswertung der Fremdbezeichnungen für Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund lässt daran zweifeln. Die Jugendlichen werden als türkisch, als muslimisch, als Ausländer*innen wahrgenommen, die zwar in Deutschland leben, aber aufgrund ihrer türkischen Abstammung eben keine Deutschen seien. Eine Teilhabe kann demzufolge nur durch Assimilation ermöglicht werden. Von Migrant*innen und ihren Nachkommen wird dementsprechend gefordert, sich an eine deutsche Zielkultur anzupassen. Diese gesellschaftliche Aufforderung übernehmen die befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Ausgehend von diesem formulierten Verständnis von Integration als Anpassung, dass von allen Beteiligten geteilt wird, ist es schwer, ein interkulturelles, transkulturelles oder gar inklusives kulturelles Verständnis als Grundhaltung zu interpretieren. Einzig Konzepte von Pluralismus und Multikulturalität scheinen als ein friedliches Nebeneinander von allen verfolgt zu werden.

4.8 Z usammenfassung der E rgebnisse der qualitativen E rhebung Die Analyse der vier Gruppendiskussionen zeigt, dass verschiedene Gruppen von Schüler*innen unterschiedliche historische Ereignisse priorisieren. Während sich autochthone Schüler*innen mehrheitlich auf Mauerfall und Wiedervereinigung als positive Wende und als das endgültige Ende der Folgen des Zweiten Weltkrieges konzentrierten, betonten Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die Relevanz der Person Atatürks als Gründungsvater der Türkei (Türkiye Cumhuriyeti). Vielfach dominierten einzelne Diskussionsteilnehmer*innen sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund das Gespräch. Den Schüler*innen mit Migrationshintergrund gelang es in keinem Fall, ihre autochthonen Mitschüler*innen davon zu überzeugen, die von ihnen präferierten Ereignisse oder Personen (z.B. Atatürk) ebenfalls für relevant zu erachten. Die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund argumentierten fast durchweg, dass sie in Deutschland lebten und die türkische Geschichte daher für sie weniger relevant sei. Die Analyse der schriftlichen Einzelbefragungen zeigte darüber hinaus, dass längst nicht alle Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezo-

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genem Migrationshintergrund die türkische Geschichte als relevant betrachteten. Sechs der neun Jugendlichen mit diesem spezifischen Migrationshintergrund plädierten für entsprechende Ereignisse oder Personen (Atatürk, Osmanisches Reich, Gastarbeiterankunft). Die tendenziell defensive Haltung der Befragten mit Migrationshintergrund und die vergleichsweise offensive Haltung der autochthonen Teilnehmer*innen deuten bestehende Exklusionsmechanismen sowie das ihnen zugrundeliegende Verständnis von Integration an. Die Geschichte der Schüler*innen mit Migrationshintergrund findet keinen Einlass in die Geschichte der Mehrheitsgesellschaft, die nach wie vor ausschließlich als deutsche Geschichte verstanden wird. Obwohl alle Befragten gleichberechtigt die Erinnerungskultur mitprägen sollten, finden die Geschichten und Erinnerungen einer bestimmten Gruppe keine Aufnahme in das kollektive Gedächtnis. Insgesamt scheint bei den autochthonen Befragten die Vorstellung einer nationalen bzw. westeuropäischen (z.B. Französische Revolution) Geschichte als einzig relevante Geschichte tief verankert zu sein. Damit einher geht eine Anpassungs- und Assimilierungserwartung der autochthonen Schüler*innen an die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bezogen auf die Erinnerungskultur. Den Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund gelingt es nicht, sich dieser Erwartung zu entziehen und dieser ihre Sichtweise selbstbewusst entgegenzustellen um so eine offene Aushandlung zu erreichen. Da sie sich selbst nicht selbstverständlich als Teil der deutschen Mehrheitsgesellschaft oder gar als deutsche Jugendliche verstehen (können), verharren sie in einer Defensivposition. Darüber hinaus teilen sie das Verständnis von Integration als einseitiger Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft und übernehmen – bewusst oder unbewusst – die Assimilierungserwartungen der autochthonen Schüler*innen. Als gut integriert gilt ebenfalls in ihren Augen die Person, die die deutsche Sprache beherrscht und sich den kulturellen und nationalen Gepflogenheiten der Mehrheitsgesellschaft anpasst. Diasporageschichten dienen hingegen der (Selbst-)Erklärung von Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund und helfen ihnen, ihre eigenen Identitätsvorstellungen zu artikulieren. Die Vorstellung, einer türkischen Diaspora in Deutschland anzugehören, bietet eine lebensweltliche Alternative zur Identifikation mit der als ausschließlich deutsch wahrgenommenen Mehrheitsgesellschaft. Diese exkludiert ihre Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund und steht so deren gleichberechtigter Teilhabe als Mitglieder*innen und Gestalter*innen der Gesellschaft im Wege. Eine religionsgeschichtlich basierte Identitätskonstruktion scheint einen Ausweg aus dem Konflikt nationaler Zugehörigkeiten anzubieten, wirkt aber letztlich ähnlich exkludierend. Die Selbstidentifikation von Muslim*innen deckt sich häufig mit der Selbstidentifikation als Türk*innen. Allein durch ein Glaubensbekenntnis ermöglicht diese Identifikation die Zugehörigkeit zu einem transnationalen Kollektiv, der islamischen Weltgemeinschaft (Ummah) und stiftet

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

die damit verbundene Anerkennung.154 Die Zugehörigkeit zur Ummah löst scheinbar sämtliche Identitätskonflikte, die mit Zuschreibungen von Nationalität, Kultur oder race verbunden sind. Die religiöse Identität kann also Fluchtraum und Orientierung bieten.155 Aus den qualitativen Befragungsergebnissen sowie aus den Fragebogendaten lässt sich kein umfangreiches oder detailliertes historisches Wissen der Befragten nachweisen. Die meisten Jugendlichen konnten zwar oftmals Begriffe nennen, diese jedoch nur selten mit Fakten oder Wissen über die entsprechenden historischen Ereignisse verbinden konnten. Dies zeigte sich besonders in den Gruppendiskussionen, bei denen sich die Schüler*innen meist auf normative Deutungen beschränkten und sichtliche Argumentationsschwierigkeiten hatten. Diese Beobachtung gilt schulformunabhängig. Zwar zeigten die befragten Gymnasiast*innen eine höhere sprachliche Ausdrucksfähigkeit, doch besaßen sie nicht immer ein fundiertes historisches Wissen. Auffällig ist, dass viele geschichtsinteressierte Schüler*innen, insbesondere mit Migrationshintergrund, ihr Wissen nicht aus dem Geschichtsunterricht generierten, sondern vornehmlich aus ihrem familiären und engeren sozialen Umfeld. Bereits Johannes Meyer-Hamme und Viola Georgi verwiesen in ihren Arbeiten auf den Zusammenhang von Sinnkonstruktion und kultureller Zugehörigkeit.156 Der spezifische Hintergrund, zu dem auch der familiäre Hintergrund zählt, ist demnach zentral für den jeweiligen Umgang mit Geschichte. 154 | Das muslimische Glaubensbekenntnis (Schahada) wird auf Arabisch gesprochen und lautet: »aschhadu an la-ilaha-ill-allah wa aschhadu anna muhammadan rasulullah«, zu Deutsch: »Ich bezeuge: Es gibt keinen Gott außer Allah und ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Allahs ist.« Das öffentliche Bekenntnis in aufrichtiger Absicht (niyya) ist ausreichend, um als Muslim anerkannt zu werden. Das Bekenntnis ist die erste Säule des Islams. Vgl. dazu DiTiB, Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. 155 | Siehe dazu Lücke: Diversity und Ungleichheiten, Race, class und gender als geschichtsdidaktische Analysekategorien. Nach Lücke können mit class, race und gender gesellschaftlich bedeutende Differenzierungshintergründe beschrieben werden, die vor allem für die Betrachtung von Stigmatisierungsprozessen und sozialen Ungleichheiten hilfreich seien. Dieser intersektionale Ansatz kann für eine Neudimensionierung oder Erweiterung des Geschichtsbewusstseins genutzt werden. Siehe auch Kühberger: »Race« – a necessary category? 156 | Georgis These für den Geschichtsbezug von jungen Migranten (Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 309: »Relevant für die Strategie der Selbstpositionierung der jungen Migranten im Kontext der Geschichte der deutschen Aufnahmegesellschaft erscheint weniger die jeweils spezifische Herkunft als die Auseinandersetzung mit dem Status als Ausländer beziehungsweise dem Umstand, als Angehöriger einer Minderheit in Deutschland zu leben.«) wird von Meyer-Hamme treffend eingegrenzt, der sagt,

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Die Untersuchung der Selbst- und Fremddenominationen sowie der SelbstNarrationen der befragten Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ergaben, dass sich kein*e einzige*r selbst als Deutsche bzw. Deutscher bezeichnete. Die verwendeten Selbstbezeichnungen (Ausländer*in, Migrant*in, mit Migrationshintergrund) implizieren alle die Zugehörigkeit zu einer Minderheit, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Weiterhin zeigen die Auswertungen, dass vor allem in Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die Diskussion historischer und politischer Themen zum Familienalltag zu gehören scheint. Geschichte wird in diesem Zusammenhang eine lebensweltliche Relevanz zugeschrieben. Anders ist der Umgang mit Geschichte in autochthonen Familien, hier gehört das Erzählen und Diskutieren von Geschichte(n) in den meisten Familien nicht zum Alltag. Zumindest berichten autochthone Schüler*innen nicht von derartigen Thematisierungen historischer Ereignisse im familiären Umfeld. dass dies »nur die Frage (betrifft), inwieweit sich Jugendliche überhaupt als ›Ausländer‹ verstehen. So lange sich die Jugendlichen als Migranten verstehen bzw. von ihrer Umgebung als solche charakterisiert werden, so lange wird auch der spezifische Hintergrund zentral sein.« (Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 293). Georgis Fallbeispiel Turgut (Georgi: Entliehene Erinnerungen, S. 264-279), ein Jugendlicher der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, der sich als »Neudeutscher« bezeichnet, beschreibt dessen veränderte Einstellung und Wahrnehmung seit seiner Einbürgerung. Ähnlich wie in dieser Studie (vgl. das Interview mit Berk) beschreibt dieser seine Staatsangehörigkeit als nicht relevantes Identitätskriterium. Turguts Wahrnehmung ändert sich nach der Einbürgerung (ebd., S. 266). Er »beansprucht für sich, deutsch werden zu können, ohne die nationalkulturell geprägten Traditionen seiner Familie gänzlich aufgeben zu müssen.« (ebd., S. 267). Georgi beschreibt weiter, dass sich Turgut selbst einen hohen Assimilationsdruck auferlegt, um an der deutschen Gesellschaft teilhaben zu können (ebd., S. 279). Entsprechendes gilt für Meyer-Hammes Fallbeispiel Süleyman (Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 208ff.), einen Teilnehmer der zweiten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Bei der in dieser Studie vorgenommen Codierung wäre Süleyman der Kategorie »zweiheimisch/Almancı« zugeordnet worden. Er beschrieb sich als »Wanderer zwischen den Welten«, der »irgendwie dazwischen steht«. Er verwies auf die Schwierigkeit des Balanceakts, der ihm eine Identitätsverortung erschwere. Meyer-Hamme beschrieb weiter die Differenz zwischen Süleymans Geschichtsunterricht und seiner Lebenswelt, da die Unterrichtsgegenstände keine lebensweltlichen Bezüge oder Bedeutung für ihn besäßen (ebd., S. 211). Vgl. dazu auch Alavi: Von der Theorie zur Praxis interkulturellen Geschichtslernens, S. 330f. Meyer-Hamme führt zudem noch in seiner Fallanalyse aus, dass Süleyman sich bei seiner historischen Identitätskonstruktion vor seinem Hintergrund als »kultureller« Muslim und Angehöriger einer Minderheit in Deutschland zumeist traditional oder exemplarisch orientiert, Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 236.

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

Zudem geben sie mehrheitlich an, ihr Geschichtswissen in der Schule zu generieren. Auch Hinweise auf die Thematisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit im familiären Umfeld ergaben die Befragungen nicht. Als einziges Ereignis wurde im Familienkontext auf die Wiedervereinigung bzw. auf das Leben im geteilten Deutschland eingegangen. Familien, die von der deutschen Teilung betroffen gewesen waren oder persönliche Erinnerungen damit verbinden, gaben ihre Erinnerungen und Deutungen an ihre Kinder weiter. Vornehmlich betrifft dies Familien mit einer innerdeutschen Migrationsgeschichte. Geschichte hat also eine hohe lebensweltliche Relevanz für Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, das gilt jedoch nicht für den schulischen Geschichtsunterricht. Das Interesse an Geschichte lässt auf ein hohes Bedürfnis an historischer Orientierung und einer historischen Identitätskonstruktion schließen. Die von diesen Jugendlichen konstruierten Narrationen, Diasporageschichten und religiösen Erzählungen werden im Geschichtsunterricht allerdings nicht behandelt.157 Der Geschichtsunterricht vermag daher nicht, die genannten Bedürfnisse dieser Gruppe von Schüler*innen zu erkennen und zu befriedigen. Die Erzählungen der Teilnehmer*innen lassen darauf schließen, dass dieses Defizit des Geschichtsunterrichts in den Familien bemerkt wird, und die Eltern oder Großeltern versuchen, darauf zu reagieren, indem sie die türkische Geschichte thematisieren. Da der Geschichtsunterricht vor allem mit dem Ziel der Vermittlung deutscher Geschichte betrachtet wird, wird ihm von vielen Schüler*innen mit Migrationshintergrund die lebensweltliche Relevanz abgesprochen. Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund formulieren ein größeres Interesse an Geschichte als ihre autochthonen Mitschüler*innen (Abbildungen 9-11). Die Analyse des jeweiligen Umgangs mit Geschichte zeigt, dass Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund traditionale, exemplarische, kritische und genetische Formen der Sinnbildung wählen. Die autochthonen Schüler*innen weisen fast ausschließlich traditionale und exemplarische Erzählformen auf (Abbildung 16, Tabelle 15). Die weiblichen Jugendlichen äußern ein geringeres Interesse an Geschichte als die männlichen. Ihre Aussagen konnten mehrheitlich als traditionale und nur in einem Fall als exemplarische Sinnbildung klassifiziert werden. Die Schüler verfügen über ein breiteres Spektrum an Sinnbildungsformen. Entscheidend, so das Ergebnis der Untersuchung, ist jedoch nicht das Repertoire möglicher Sinnbildungstypen, sondern deren tatsächlicher Einsatz. Das be157 | Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 298, zum Geschichtsunterricht: »Es sollte also gesellschaftlich relevante Fragestellungen behandelt werden und zugleich sollten die Schüler die Möglichkeit erhalten, sich selbst dazu zu verhalten und eigene Positionen zu entwickeln.«

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deutet, dass nicht-autochthone Schüler*innen Geschichte bewusst und gezielt für ihre eigene Identitätskonstruktion nutzen, während autochthone Jugendliche eher versuchen, sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und möglicherweise daraus entstehenden Identitätskonflikten zu entziehen. Dafür steht beispielhaft die Präferenz für die Wiedervereinigung als wichtigstem historischem Ereignis, die als eine Art Gegenerinnerung zur problembehafteten nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands gelesen wird. Der Vergleich nach Schulformen ergibt, dass die verschiedenen Sinnbildungsformen unabhängig von der Schulform individuell stark ausgeprägt sind. Während die befragten Hauptschüler*innen mehrheitlich eine kritische Erzählform wählten, waren es bei den Realschüler*innen vermehrt traditionale und exemplarische Sinnbildungstypen. Am Gymnasium wurden alle Formen der Sinnbildung klassifiziert, wobei traditionale Sinnbildungen überwogen. Im Geschlechtervergleich konnten bei Mädchen nur traditionale oder exemplarische Erzähltypen kategorisiert werden. Zwischen dem schulischen Erfolg und dem Niveau der historischen Sinnbildung konnte kein eindeutiger Zusammenhang ermittelt werden. Die sprachlichen und sozialen Kompetenzen der Schüler*innen steigerten sich jedoch (so meine subjektive Beobachtung während der Interviews) von der Hauptschule zum Gymnasium. Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund konnten aufgrund ihrer Äußerungen allen Formen der historischen Sinnbildung zugeordnet werden. Bezogen auf das Verständnis von Integration ist es bezeichnend, dass sämtliche Schüler*innen Integration als einseitigen Prozess der Assimilation verstehen. Das Ziel von Integration liegt für sie in einer Anpassung an die Zielgesellschaft. Eine notwendige Bedingung seien dabei entsprechende sprachliche Fähigkeiten. Die Schüler*innen ohne Migrationshintergrund bezeichneten ihre Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund als Ausländer*innen. In keinem Fall wurden Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund als Deutsche bezeichnet. Die befragten Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bezeichneten sich selbst ebenfalls nicht als Deutsche, dies gilt auch für Angehörige der dritten Generation. Vielmehr begriffen sich auch diese Jugendlichen selbst als Ausländer*innen. Ihre Großeltern bezeichneten die Angehörigen der dritten Generation mehrheitlich als Gastarbeiter*innen. Damit wird der ersten Generation auch nach teilweise 50 Jahren Aufenthalt in Deutschland immer noch die Rolle eines Gastes zugeschrieben. Diese Bezeichnung zeigt eine dezidierte Wahrnehmung von Nachrangigkeit. Die Diasporageschichte sowie die religiösen Erzählungen wirken als Hintergrundsnarration für die Jugendlichen der dritten Generation mit Migrationshintergrund. Dieser Bezug rührt, so die Annahme, aus einem Diasporakomplex. Er fördert Identitätsnarrationen als nachrangige Mitglieder der deutschen

4. Von der Theorie zur Empirie – Annäherungen an Elif

oder türkischen Gesellschaft. Die Vorstellung, einer türkischen Diaspora anzugehören, reift dabei zum Identifikationskonzept und kann als Produkt sowie ebenfalls als Ursprung der Spannung des doppelt semi-historischen Bewusstseins angesehen werden. Die türkische Diaspora bietet für Angehörige einer Minderheit eine Möglichkeit zur Identifikation und Verortung. In diesem Sinne konkurriert sie mit der Diasporageschichte. Die unterschiedlichen Bestände an historischem Wissen sowie die verschiedenen Kompetenzen historischen Denkens formen sich bei den Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zu vier Typen der historischen Identitätskonstruktion: Schüler*innen mit überwiegend traditionaler historischer Sinnbildung konstruieren eine historische Identität als (deutsche) Türk*innen. Sie sind (ak-) kulturiert und vermutlich in der Lage, sich in ihrem beruflichen Werdegang zu platzieren. Schüler*innen mit vorrangig exemplarischer historischer Sinnbildung bilden eine historische Identität als Almancı. Sie sitzen sowohl auf zwei Stühlen als auch zwischen den Stühlen. Auch sie sind in Deutschland (ak-)kulturiert und gewiss in der Lage, sich in ihrem weiteren beruflichen Werdegang zu platzieren. Schüler*innen mit mehrheitlich kritischer Sinnbildung entwickeln eine historische Identität als Fremde. Sie empfinden sich in Deutschland stets als fremd. Einzig der Umstand, dass es noch andere Fremde gibt, ermöglicht ihnen ein Zugehörigkeitsgefühl. Sie pflegen ihre Individualität und sind trotz ihrer (Ak-)Kulturation und ihrer wahrscheinlichen Platzierung sowie ihrer Fähigkeiten zur Interaktion bemüht, sich über eine bewusste Segregation zu definieren. Schüler*innen mit der Fähigkeit einer genetischen Sinnbildung weisen meist auch ein hohes Maß an kritischer Sinnbildung auf. Sie können sich (ak-) kulturieren und sicherlich auch platzieren und interagieren. Daneben haben sie den Wunsch, sich zu identifizieren. Sie bilden ihre historische Identität als transkulturelle oder zumindest als interkulturelle Außenseiter*innen aus. Dennoch scheitert ihre Identifikation meist, da ihnen die (deutsche und türkische) Gemeinschaft die gewünschte Zugehörigkeit verwehrt. Diese kurze Überblicksdarstellung der Ergebnisse der qualitativen Befragung untermauert die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktion. Die vorherrschende Form der historischen Sinnbildung korrespondiert eng mit der dominierenden Art der Identitätskonstruktion (Tabelle 17). Genauer gesagt bestimmt ein spezifischer Typ der historischen Sinnbildung den jeweiligen Typ der Identitätskonstruktion und somit die Fähigkeit zur Ausbildung einer balancierten Identitätskonstruktion.

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5. Wir sind Elif Nach Darstellung der Ergebnisse der einzelnen Erhebungsphasen möchte ich diese im Folgenden zusammenführen, um die Forschungsfrage nach dem Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration zu beantworten. Hierzu werde ich in der nachfolgenden Triangulation (Abbildung 5) aus den Ergebnissen verschiedene Typen historischer Identitätskonstruktion bilden. Ziel einer solchen Typenbildung ist es, ermittelte Ähnlichkeiten und Unterschiede zu strukturieren. Die aus Merkmalskonfigurationen gebildeten strukturellen Typen vereinen nicht nur Einzelmerkmale, sondern ähneln sich in ihrer gesamten Merkmalskonfiguration.1 Die Typologie umfasst Typen, die sich anhand bestimmter Merkmale ähneln (innere Homogenität) und sich von anderen Typen unterscheiden (externe Heterogenität).2 Mit den im letzten Kapitel ausführlich beschriebenen Auswertungskategorien habe ich bereits die Basis für diese Typenbildung gelegt. Der Typenbildungsprozess bestand aus vier Phasen: Zunächst wurden relevante Vergleichsdimensionen erarbeitet, in diesem Fall die Kategorien Geschichtsbewusstsein, Identität und Integration. In der zweiten Phase erfolgte eine Gruppierung der Fälle sowie eine Analyse empirischer Regelmäßigkeiten. Anhand der Sub-Codes der Kategorie Umgang mit Geschichte ermittelte ich die überwiegende historische Erzählform der Proband*innen und codierte dementsprechend vier Formen der historischen Sinnbildung. »Überwiegend« bedeutet dabei, dass sämtliche codierten Erzählformen quantitativ erfasst und miteinander verglichen wurden (Tabelle 15). In der dritten Phase wurden die inhaltlichen Sinnzusammenhänge analysiert. Dazu wurden die Sub-Codes der Kategorie Umgang mit Geschichte mit jenen der Kategorie Identitätskonstruktion verglichen, um inhaltliche Korrespondenzen festzustellen. In der vierten und letzten Phase der Typenbildung wurden die gebildeten Typen charakterisiert. Dazu habe ich die Merkmals-

1 | Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 383f. 2 | S. dazu Kelle/Kluge: Vom Einzelfall zum Typus, S. 83-107, hier S. 85.

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Der Diasporakomplex

kombinationen der Typen sowie die inhaltlichen Zusammenhänge beschrieben (Tabelle 18).3 Das in dieser Studie angewandte Mixed-Methods-Verfahren beinhaltet eine Datentriangulation.4 Dabei ist zu beachten, dass eine komplementäre Zusammenführung von Daten nicht nur zwischen den qualitativen und quantitativen Auswertungsmethoden, sondern auch innerhalb der einzelnen Methoden selbst erforderlich ist. Dies liegt in der Korrespondenz der Methoden mit den theoretischen Grundlegungen der Erhebung und Auswertung begründet. Die Datentriangulation kann dazu beitragen methodisch bedingte Verzerrungen, die aufgrund von Methodeneffekten, Eigenheiten der Proband*innen oder durch äußere Umstände auftreten, abzumildern oder auszugleichen.

5.1 G eschichtsbe wusstsein und I ntegr ation Bevor ich auf die primäre Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration eingehe, möchte ich das Geschichtsbewusstsein der untersuchten Schüler*innen im Vergleich nach den Kategorien Geschlecht, Schulform und Migrationshintergrund darstellen. Anschließend werde ich die Auswertungsergebnisse der Kategorien Umgang mit Geschichte und Integration sowie die Auswertungen zu den historischen Identitätskonstruktionen der Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zusammenführen, um die einzelnen Schritte der Typenbildung nachvollziehbar zu machen. Was den Vergleich zwischen den Geschlechtern angeht, so zeigt eine Gegenüberstellung des Interesses an Geschichte, Geschichtsunterricht und Politik, dass die untersuchten Schülerinnen weniger Interesse zeigten als ihre Mitschüler. Im allgemeinen Wissenstest erzielten die Schülerinnen weniger Punkte als ihre Mitschüler. Bei Schülerinnen traten die traditionale und die exemplarische Sinnbildung sowie eine Kombination aus beiden auf.5 Bei Schülern konnten hingegen alle vier Typen historischer Sinnbildung identifiziert werden. Obwohl auch die männlichen Schüler häufig traditionale oder exemplarische Erzählformen wählten, gab es dennoch vier Fälle kritischer oder genetischer Sinnbildung.6 Dies waren Schüler mit türkeibezogenem 3 | Ebd., S. 91f. 4 | S. Bortz/Döhring: Forschungsmethoden und Evaluation, S. 365. 5 | Insgesamt konnten bei vier Mädchen traditionale Sinnbildung, bei einem traditional-exemplarische und bei einem anderen Mädchen exemplarischen Sinnbildung interpretiert werden. 6 | Es waren jeweils zwei Hauptschüler (Fatih und Savaş) und zwei Gymnasiasten (Julius und Serkan), die kritisches und genetisches Erzählen nutzten.

5. Wir sind Elif

Migrationshintergrund, von denen zwei die Hauptschule besuchten. Bei den 15 untersuchten Schüler*innen wurde insgesamt 52-mal eine traditionale, 29mal eine exemplarische, 21-mal kritische und 11-mal eine genetische Sinnbildung festgestellt (Tabelle 15). Der Vergleich nach Schulform zeigt Unterschiede. An der Hauptschule war sowohl die kritische als auch die traditionale Sinnbildung vorzufinden. An der Realschule fanden sich gleichermaßen Formen der traditionalen und der exemplarischen Sinnbildung. Am Gymnasium zeigen sich mehrheitlich traditionale oder traditional-exemplarische Sinnbildungsformen, vereinzelt auch exemplarische und kritisch-genetische Sinnbildungen. An der Hauptschule waren vergleichsweise viele kritische Sinnbildungen festzustellen. Der Vergleich nach Migrationshintergrund zeigt, dass Schüler*innen ohne Migrationshintergrund traditionale und exemplarische Erzählformen nutzten. Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nutzten ebenfalls traditionale und exemplarische Formen der Sinnbildung, darüber hinaus aber auch kritische und genetische. Insgesamt bedienten sich Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund einer größeren Bandbreite historischer Sinnbildungsformen als ihre autochthonen Mitschüler*innen. Dies gilt besonders für die Schüler*innen des Gymnasiums. Die Realschüler*innen unterscheiden sich diesbezüglich nicht von ihren autochthonen Mitschüler*innen. Ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchung lautet daher, dass Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund über vielfältigere historische Sinnbildungsmuster verfügen und eben gerade nicht über ein weniger elaboriertes historisches Bewusstsein als ihre autochthonen Mitschüler*innen. Bezogen auf die Auswertungskategorie Integration verdeutlichen die Daten, dass sämtliche Befragte mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (ak-)kulturiert, platziert und interaktiv, also strukturell assimiliert waren. Bis auf eine Ausnahme traten diese Befragten auch außerhalb der Schule in Interaktion mit der autochthonen Bevölkerung. Alle Befragten verstanden Integration als Anpassung an die Zielkultur. Ein Verständnis von Integration als wechselseitigem Prozess war hingegen nur oberflächlich vorhanden und wurde im Gespräch schnell inhaltlich revidiert. Die quantitative Erhebung zeigte eine flüchtige und nicht tatsächliche emotionale Identifikation der Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund mit der deutschen Gesellschaft. Obwohl die befragten Schüler*innen in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, obwohl sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und damit rechtlich gleichgestellt sind, obwohl sie der dritten Generation von Personen mit Migrationshintergrund angehören, konnten sie sich selbst nur bedingt als Deutsch-Türk*innen und kaum als Deutsche bezeichnen. Auch von ihren autochthonen Mitschüler*innen wurde keiner der befrag-

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Der Diasporakomplex

ten Schüler*innen mit Migrationshintergrund als Deutsche*r bezeichnet oder wahrgenommen. Eine Identifikation ließ sich allein bezogen auf das gewohnte soziale und geografische Umfeld in Deutschland feststellen. Von einer emotionalen Identifikation mit Deutschland oder als Deutsche kann hingegen nicht ausgegangen werden. Die Ergebnisse der qualitativen Erhebung zeigen fast keine emotionale Identifikation der Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund mit der deutschen Gesellschaft.7 Die autochthonen Mitschüler*innen stützten diese Nicht-Identifikation und nahmen ihre Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund als Nicht-Deutsche wahr, was sich auch in ihrem Sprachgebrauch ausdrückte. Die Integrationsdimension Identifikation konnte somit nicht nachgewiesen werden. Insgesamt betrachtet wurden also nicht alle vier Dimensionen der Sozialintegration nach Esser festgestellt. Das scheint Essers These zu bestätigen, dass dies nur in Ausnahmefällen (wie etwa bei Kindern von Diplomat*innen) gelänge. Stattdessen zeigte sich bei den untersuchten Schüler*innen mit Migrationshintergrund ein großes Bedürfnis nach Orientierung, nach konfliktfreien Flucht- und Identifikationsräumen sowie nach Identifikationsangeboten. Fast alle Befragten mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nahmen sich selbst als Ausländer*innen wahr und wurden auch von ihren Mitschüler*innen als solche angesehen und bezeichnet. Darüber hinaus verursacht und bestärkt die Vorstellung, qua Geburt (unfreiwillig) einer türkischen Diaspora anzugehören, einen Diasporakomplex der nicht-autochthonen Schüler*innen. Um ihre eigene historische Identität zu konstruieren und in Einklang mit dem Gefühl einer Zugehörigkeit zur türkischen Diaspora zu bringen, nutzen sie Diasporaerzählungen. Dies führt zwangsläufig zu Konflikten, da (rückwärtsgewandte) Diasporaerzählungen den Schüler*innen der dritten Generation keine orientierende Erklärung oder Deutung für ihre Gegenwart oder Zukunft bieten können. Eine religiöse Erzählung eröffnet den (muslimischem) Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund hingegen Fluchträume. Sie erlaubt es, sich den Konflikten in ihrer Lebensumwelt zu entziehen und die Auseinandersetzung mit ihrem spezifischen Hintergrund durch die Zugehörigkeit zu einem universellen, supranationalen Kollektiv, der Ummah, zu ersetzen. Am häufigsten ist bei den türkeistämmigen Proband*innen allerdings das türkische Masternarrativ zur Stiftung nationaler Identität zu erkennen.8 Obwohl nur ein Schüler sich mit extremem türkischen

7 | Blickt man erneut auf die Fallbeispiele Süleyman (Meyer-Hamme, Historische Identitäten) oder Turgut (Georgi, Entliehene Erinnerungen) bestätigen diese Ergebnisse die Relevanz der spezifischen Wahrnehmung als Angehöriger einer Minderheit. 8 | Angvik/von Borries: Youth and History.

5. Wir sind Elif

Nationalismus zu identifizieren scheint, erkennt man an dessen Erzählungen das Anreizpotenzial des muslimisch-nationalistischen Masternarrativs. Die türkische Regierung unter der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und Recep Tayyip Erdoğan unterbreitet den im Ausland lebenden Menschen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund, die sie als Expatriates (gurbetçiler) bezeichnet, ein Identitätsangebot. Als muslimische Nachfahren des Osmanischen Reichs spricht die Türkei ihnen eine uneingeschränkte türkische Identität zu. Diese stellt wiederum einen Ausweg dar, den Diasporakomplex zu überwinden. Die Offerte ist also ein Fluchtraum, der sowohl die Diasporageschichte als auch die religiöse Erzählung verbindet und somit an vorhandene Narrationen anknüpft. Aus dieser Perspektive lautet die Antwort auf die Frage »Wer ist Elif ?«: Elif ist eine sunnitische Türkin, die ex patria lebt. Ihre Sprache, Kultur und Geschichte sind türkisch, ihre Religion ist der sunnitische Islam. Elifs Heimat ist die Türkei, weshalb sie sich in Deutschland zwar anpassen aber weder integrieren muss noch dort integriert werden soll. Eine strukturelle Assimilation ist für ein Leben als gurbetçi auch in der dritten Generation notwendig und ausreichend. Die hier geförderte und geforderte kulturelle Selbstbehauptung Elifs fußt auf dem vorhandenen kulturellen Pluralismus der Türkei und ihrer Vielzahl an Migrationsgeschichten. Nach dem Zerfall des osmanischen Reiches wurden osmanische Türk*innen zu Migrant*innen und mussten beispielsweise im Rahmen des Bevölkerungsaustausches aus ehemals osmanischen Gebieten in die Gebiete der heutigen Türkei migrieren (Vertrag von Lausanne 1923). Auch bei autochthonen Schüler*innen mit konfliktbeladenen historischen Identitätskonstruktionen ist ein ähnliches Fluchtverhalten feststellbar. Bezogen auf die Erinnerungskultur und das kommunikative Gedächtnis scheinen Schüler*innen ohne Migrationshintergrund eine Orientierung an der Wiedervereinigung einer Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus vorzuziehen. Dies könnte aus einer politisch-institutionell geförderten Geschichts- und Erinnerungskultur resultieren. Die Ergebnisse zeigen eine Tendenz zur positiv konnotierten Tradierung der Wiedervereinigung im familiären kommunikativen Gedächtnis. Ausgehend von der Annahme, dass Familienerinnerungen aufgrund der emotionalen Nähe zu den Erzähler*innen nachhaltig die Erinnerungen von Jugendlichen prägen können, stellte diese positive Erfolgserzählung eine Alternative zur konfliktreichen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit dar. In den Gruppengesprächen und Einzelbefragungen gingen die autochthonen Schüler*innen kaum auf den Nationalsozialismus und dessen Bedeutung in der Gegenwart ein, obwohl dieser im Fragebogen besonders oft als relevantes historische Ereignis genannt wurde. Die in Kapitel 2.5 angestellten theoretischen Vorüberlegungen zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration unterstrichen

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Der Diasporakomplex

die Rolle der historischen Ich-Identitätskonstruktion, die zu einer Balance zwischen individueller und kollektiver Identität beiträgt und ein flexibles und reflexives role-taking ermöglicht. Diese Rolle der historischen Identitätskonstruktion konnte empirisch in vielen Bereichen belegt werden. Der enge Zusammenhang von Geschichtsbewusstsein und historischer Identitätskonstruktion (Abbildung 4, Tabellen 15 und 18) zeigt, dass sowohl das Geschichtsbewusstsein als auch die soziale Integration der Schüler*innen erst über die historischen Identitätskonstruktionen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Aus den Ergebnissen kann gefolgert werden, dass ein reflektierter und selbstreflektierter Umgang mit Geschichte sowie die Fähigkeit, vielfältige Erzählformen zu nutzen, nicht nur die historische Identitätskonstruktion beeinflussen, sondern auch die Möglichkeit einer emotionalen Integration fördern. Das zu Beginn der Untersuchung erstellte theoretische Modell des Zusammenhangs von Geschichtsbewusstsein und Integration (Abbildung 4) ist normativ und fokussiert das zu integrierende Subjekt. Der gesellschaftliche Umgang mit Geschichte und Integration wird außer Acht gelassen. Obwohl Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund fähig sind, reflektiert und selbstreflektiert historischen Sinn zu bilden sowie ihre Identität balanciert und transkulturell zu konstruieren, und obwohl sie sich emotional integrieren wollen, scheitern sie an der Mehrheitsgesellschaft, die Integration als Anpassung versteht. Das Geschichtsbewusstsein in der (deutschen) Gesellschaft als das »Insgesamt aller Vorstellungen von und Einstellungen zur Geschichte« scheint nicht reflektiert genug, um emotionale Identifikation zu erkennen, anzuerkennen und zuzulassen.9 Die quantitative Erhebung bestätigte die Integrationsindikatoren von (Ak-) Kulturation, Platzierung und Interaktion. Eine emotionale Integration konnte hingegen nur bedingt ermittelt werden. Die qualitative Erhebung bestätigte, dass Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vorwiegend strukturell assimiliert sind. Die Korrespondenz zwischen dem Umgang mit Geschichte und der Fähigkeit, eine balancierte historische Identität zu konstruieren, konnte durch die Typenbildung dargelegt und strukturiert werden. Die Ergebnisse zur Untersuchungsdimension Integration offenbaren, dass bei Autochthonen wie Nicht-Autochthonen ein assimilatorisches Verständnis von Integration als Anpassung vorherrscht. Die Auswertung des Geschichtsbewusstseins, der Integration und der historischen Identitätskonstruktion von Jugendlichen mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund der dritten Generation hat gezeigt, dass nicht allein die Fähigkeiten eines Einzelnen, reflektiert und reflexiv historisch zu denken und seine Identität transkulturell zu bilden, zu Integration führen. Es ist das »Geschichtsbewusstsein in der

9 | Jeismann: Didaktik der Geschichte, S. 12f.

5. Wir sind Elif

(Mehrheits-)Gesellschaft« und ihre »praktisch wirksam(e)« Artikulation als Gecshichtskultur.10 Diese Artikulation wurde größtenteils als traditional interpretiert und führt zur Auffassung, dass in der Gesellschaft überwiegend traditional historisch erzählt wird. Auf der Basis von mehrheitlich traditionaler Sinnbildung erscheinen transkulturelle Identitätskonstruktionen in der Gesellschaft selten möglich. Um Integration zu begünstigen, muss nicht allein das »Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft« mit Migrationshintergrund, sondern das der Gesamtgesellschaft gefördert werden. Der Geschichtsunterricht, dessen erklärtes Ziel die Förderung des Geschichtsbewusstseins ist, nutzt seine Chancen noch nicht ausreichend und erreicht sein eigenes Ziel nicht. Geschichtsbewusstsein muss als ein Faktor der Integration und Migrationshintergrund als ein Faktor des Geschichtsbewusstseins erkannt werden. Erst wenn das im Kernlehrplan klar formulierte Ziel der Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins in den Geschichtsunterricht inkludiert wird, was bedeutet, dass reflektiertes und selbstreflexives historisches Denken gefördert werden, können auch Integration und Inklusion gefördert werden.

5.2 T ypen historischer I dentitätskonstruk tion Die aus den Merkmalen Geschichtsbewusstsein, Identitätskonstruktion und Integration entwickelten Typen verweisen auf eine Korrespondenz zwischen den Formen historischen Erzählens einerseits und den verschiedenen Konstruktionen historischer Identität andererseits hin. Die Auswertung ergab insgesamt vier Typen historischer Identitätskonstruktion. Diese sind aus der empirisch nachgewiesenen engen Verflechtung mit den Idealtypen historischer Sinnbildung entstanden. Da die kritische Sinnbildung auch als Erzählform (nicht nur als Movens) erhoben wurde, entwickelten sich vier und nicht drei Typen in der Triangulation (Tabelle 17, 18 und 19).

10 | Rüsen: Was ist Geschichtskultur?, S. 5; Ders.: Geschichtskultur, S. 513.

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Der Diasporakomplex

Die entwickelten Typen habe ich (deutsche) Türk*in (Typ I),11 interkulturelle Almancı (Typ II),12 bewusste Paria (Typ III) und transkulturelle Paria (Typ IV)13 genannt. Alle vier Typen werden in den Kapitelabschnitten 5.2.1 bis 5.2.4 gesondert vorgestellt und in Kapitel 5.3 an Fallbeispielen erläutert. Bevor dies geschieht sollen jedoch die Ergebnistabellen erläutert werden, da diese zum einen die zentralen Erhebungsergebnisse zusammenfassen und zum anderen die Typisierung veranschaulichen. Zunächst wurde in Tabelle 18 versucht die Forschungsvariablen (Geschichtsbewusstsein, Integration und historische Identitätskonstruktion) in einen Zusammenhang zu bringen, indem bisherige theoretische Grundannahmen mit den Ergebnissen der Studie verknüpft wurden. Diese tabellarische Darstellung fungiert als ein Diskussionsangebot zur Erweiterung der geschichtsdidaktischen Theorie durch eine Einbindung transdisziplinärer Ansätze.

11 | Typ I wird (deutsche*r) Türk*in genannt, da sich dieser Typ von autochthonen Türk*innen unterscheidet. Der Zusatz deutsche*r soll darauf hinweisen, dass es sich um türkeistämmige Migrant*innen handelt. 12 | Zur Bezeichnung des Typs II wurde der Begriff interkulturelle Almancı gewählt, da dem Begriff das ambivalente Empfinden von »zweiheimisch« und »heimatlos« inhärent ist, welches auf der Grundlage eines konzentrischen Kulturkonzeptes entsteht. 13 | Die Bezeichnung des Typ III basiert auf der Identitätskonstruktion als fremder Türk*in in Deutschland. Die Schärfung als bewusste Paria soll vor allem die Eigenständigkeit und die willentliche Entscheidung dazu betonen. In diesem Zusammenhang wird Hannah Arendts Begriff des Parias auf die Situation türkeistämmiger Jugendlicher in einer türkischen Diaspora übertragen. Arendt: Die verborgene Tradition, S. 60-64. Der Typ IV folgt ebenfalls der Idee der Begrifflichkeit Hannah Arendts. Der Begriff transkulturelle Paria soll eine weitere Möglichkeit anzeigen. Dieser Typ bildet seine Identität auf der Grundlage eines konstruktivistischen Kulturverständnisses. Dies und seine Fähigkeit historischen Denkens bieten die Grundlage für eine transkulturelle Identitätskonstruktion. Da die Gesellschaft sich selbst nicht transkulturell definiert und in konzentrischen oder nationalen Kulturvorstellungen verhaftet bleibt, wird der Transkulturelle dennoch zum Paria. Vgl. auch Rüsen: Historik, S. 91f.

5. Wir sind Elif

Idealtypen historischer Sinnbildung

Art des Geschichtslernens

Historische Identitätskonstruktion durch

Integrationsdimensionen

Typen historischer Identitätskonstruktion

traditionale

über Geschichte lernen

Nachahmung

(Ak-)Kulturation

(deutsche*r) Türk*in

exemplarische

aus Geschichte lernen

Klugheit

Platzierung

interkulturelle Almancı

kritische

gegen Geschichte lernen

Eigensinn

Interaktion

bewusste Paria

genetische

in Geschichte lernen

Bildung

Identifikation

transkulturelle Paria

Tabelle 18: Von historischer Sinnbildung zur historischen Identitätskonstruktion. Fortschreibung Tabelle 1 und 2 14 Die Typisierungstabelle gruppiert zentrale Forschungsergebnisse entsprechend der vier entwickelten Typen. Hier sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Geschichtsbewusstsein, der Identität und Integration visualisiert und Interdependenzen der Forschungsvariablen herausgestellt werden. Zentrales Anliegen sind hierbei die Demonstration der gruppenübergreifenden Ergebnisse zum doppelt semi-historischen Bewusstsein, der Diasporanarration und des Diasporakomplexes sowie die dennoch unterschiedlichen gesellschaftlichen Selbstverortungen, die auf den Fähigkeiten historischer Sinnbildung beruhen. Obwohl alle Jugendlichen mit einem türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation wie Elif die Spannungen eines doppelt semi-historischen Bewusstseins erleben und alle Hinweise auf einen Diasporakomplex aufweisen, entwickeln sie verschiedene Strategien und Teilhabeansprüche an die Gesellschaft.

14 | Siehe Anm. 35, Kapitel 2.2.

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Der Diasporakomplex TYPISIERUNG I (deutsche*r) Türk*in

II interkulturelle Almancı

III bewusste Paria

IV transkulturelle Paria

Geschichtswissen

geringes Geschichtswissen

Grundlagenkenntnisse

bemüht um viel Geschichtswissen

fundiertes Geschichtswissen

Interesse an Geschichtsunterricht (GU) und Geschichte

GU hat nachrangige Bedeutung

GU hat Bedeutung als Begegnungsort

Interesse an GU, trotz Skepsis

großem Interesse an GU

etwas Interesse an Geschichte

Interesse an Geschichte

größeres Interesse an Geschichte

großes Interesse an Geschichte

Geschichte nutzen

um Kontinuität zu bilden

um Wandel zu ordnen

um Kritik zu üben

um Wandel zu reflektieren

Erzählformen

traditionale Sinnbildung

exemplarische Sinnbildung

kritische Sinnbildung

(kritisch-) genetische Sinnbildung

überwiegend unkritisch

ansatzweise kritisch

kritisch

kritisch, diskursiv

Übernahme von Deutungen/Wertungen

Ansätze perspektivischer Deutung

Infragestellung angetragener Deutungen

perspektivische und problemorientierte Deutung

wenig reflexiv

teilweise reflexiv

reflektiert

reflektiert und selbstreflexiv

Umgang mit Geschichte

Geschichtsbewusstsein

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Spannungssymptome

Hintergrundsnarration

Doppelt semi-historisches Bewusstsein zeigt Merkmale

beschreibt

erklärt kritisch

Diasporanarration

analysiert und reflektiert

5. Wir sind Elif

Identität

Einfluss

Diasporakomplex

Identitätskonstruktion

durch Vermeidung

über Konflikt

im Konflikt

in Balance

Strategien der Identitätskonstruktion

sucht Fluchträume

versucht, Brücken zu bauen

hat einen Fluchtraum

erkennt die Möglichkeit der Fluchträume

passt sich äußerlich an

versucht, sich anzupassen

kritisiert Anpassungserwartungen

ist strukturell assimiliert

ist strukturell assimiliert, lehnt Identifikation ab

widersetzt sich einseitigen Anpassungserwartungen ist bereit für Identifikation

Verhalten

Dimension

ist bemüht um strukturelle Anpassung

Integration

Verortung

sitzt auf Erbstuhl der ersten Generation



sitzt auf drittem Stuhl sitzt auf keinem (BrückenStuhl, will bauer) stehen

kann überall sitzen

Tabelle 19: Typisierung Die Merkmale der Typisierung (Tabelle 19) resultieren aus den gewonnenen Daten (insbesondere in der Kategorie Geschichtsbewusstsein) bzw. aus meinen Beobachtungen (Kategorien Identität und Integration). Die Stuhl-Metaphern (Tabelle 19, letzte Zeile) habe ich zur Veranschaulichung gewählt, um den Anschluss an bereits etablierte Metaphern wie »zwischen den Stühlen sitzen« in andere Untersuchungen zur Integration von Personen mit Migrationshintergrund zu ermöglichen.15 Im Folgenden möchte ich die vier Typen der Reihe nach vorstellen und dabei besonders auf Gemeinsamkeiten und Unterscheide eingehen.

15 | Badawia: Der dritte Stuhl; Sackmann: Zuwanderung und Integration, S. 32; Bundeszentrale für Politische Bildung: Inländisch, ausländisch, deutschländisch; Öztürk: Wege zur Integration; Kunz: Vom Sitzen zwischen den Stühlen, S. 196-224; Uslucan: Dabei und doch nicht mittendrin; Gorelik: Sie können aber gut Deutsch.

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Der Diasporakomplex

5.2.1 Typ I: (Deutsche*r) Türk*in Die Schüler*innen des ersten Typs – (deutsche) Türk*in – verfügen nur über ein wenig elaboriertes Geschichtsbewusstsein. Ihr Geschichtswissen ist ebenso gering wie ihr Interesse an Geschichte und am Geschichtsunterricht. Sie nutzen Geschichte, um eine Kontinuität zu konstruieren, in die sie sich einordnen können. Die historische Sinnbildung bei Schüler*innen dieses Typus ist hauptsächlich traditional. Sie reflektieren die von ihnen übernommenen historischen Vorstellungen und Deutungen selten kritisch. Die Jugendlichen erzählen Diasporageschichten, die immer weiter durch religiöse Narrative abgelöst werden. Die Diasporageschichte, die ihn in die Traditions- oder Abstammungsfolge der Gastarbeiter*innen stellt, führt aufgrund seiner mangelnden historisch kritischen Sinnbildung dazu, dass er (s)einen Platz in der Mehrheitsgesellschaft als Nachfahre von Migrant*innen (Gastarbeiter*innen) nachahmt. Die gesellschaftliche Verortung ist somit durch die Abstammung vorbestimmt. Der eingenommene Platz, ist ererbt und nicht im Wandel neu konstruiert, er sitzt auf einem Erbstuhl. Schüler*innen des Typs weisen Merkmale eines doppelt semi-historischen Bewusstseins auf, ohne diese jedoch selbst zu erkennen oder zu reflektieren. Die Form der Identitätsbildung in diesem Typus zeigt starke Formen von Vermeidungsstrategien. Die Schüler*innen streben keine balancierte Ich-Identität an, sondern suchen stattdessen Fluchträume, die es ihnen ermöglichen, sich den entstehenden Identitätskrisen (vermeintlich) zu entziehen. Die bei diesem Typus häufig verwendete Selbstbezeichnungen Ausländer*in transportiert die Vorstellung, zu einer speziellen Minderheit zu gehören, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet und fern ihrer kulturellen Herkunft existieren muss. Dies deutet auf einen Diasporakomplex hin. Integration betrachten die Jugendlichen dieses Typus als einseitige formale Anpassung und bemühen sich dementsprechend vor allem um strukturelle Assimilation.

5.2.2 Typ II: Interkulturelle Almancı Schüler*innen des zweiten Typs – interkulturelle Almancı – verfügen über mehr historisches Faktenwissen als bei Typ I. Sie nutzen dieses, um ihre Deutungen und Wertungen exemplarisch zu veranschaulichen. Sie interessieren sich für den Geschichtsunterricht als Begegnungsort, an dem sie ihre historischen Kenntnisse erweitern können. Geschichte nutzen sie, um den Wandel und die Brüche ihrer Zeit und ihrer Umwelt regelhaften Sinn zu verleihen. Die von den Jugendlichen angeführten Beispiele dienen ihnen dazu, überzeitlich gültige Handlungsregeln zu konstruieren und zeitlich differente Lebensformen zu beschreiben. Diese Regeln nutzen Schüler*innen für ihre Handlungsorientierung. Im Vergleich zu Typ I weisen sie häufiger kritische Betrachtungs- und Deutungsweisen auf. Bei Deutungen zeigen sie Empathie und perspektivische Herangehensweisen sowie

5. Wir sind Elif

Deutungsansätze. Obwohl auch Jugendliche des Typ II Diasporaerzählungen als Identitätshintergrund nutzen, ist der Grad der kritischen Reflexion und SelbstReflexion dabei höher als bei Typ I und überschreitet damit die bloße Nachahmung. Die Schüler*innen fügen den übernommenen Deutungen und Argumente eigene hinzu und reflektieren diese teilweise. Die Eigenwahrnehmung, sich in einem Konflikt zu befinden, der gelöst werden muss, drückt sich im Streben nach einer bikulturellen Verortung aus. Schüler*innen des Typs interkulturelle Almancı beschreiben die Spannungen eines doppelt semi-historischen Bewusstseins vor allem anhand der Fremdzuweisungen, denen sie sich ausgesetzt fühlen. Sie berichtet von ihren Schwierigkeiten, sich ausschließlich der einen oder anderen Seite zugehörig zu fühlen. Sie empfinden sich als anders, als mehr, weil sie sich über ihren bikulturellen und damit bi-historischen Hintergrund bewusst sind. Dennoch gelingt es ihnen nicht, diesen produktiv zu nutzen. Sie verharren in einem Weder-Noch-Zustand (Abbildung 3). Der fast selbstverständliche Bezug auf die erste Generation von Gastarbeiter*innen sowie die übernommenen (geerbten) Konflikte und gesellschaftlichen Herausforderungen begründen ihren Diasporakomplex. Die Diasporageschichte stellt für diese Jugendlichen die kulturelle Verbindung zum Heimatland ihrer Großeltern dar. Sie scheinen intensiv darum bemüht zu sein, als Nachkommen türkischer Gastarbeiter*innen deren Geschichte bewahren und interkulturell agieren zu wollen. Die Schüler*innen dieses Typs verfolgen das Ziel, eine interkulturelle Persönlichkeit auszubilden. Diese wird als Ideal der Bewahrung und Pflege divergierender und sich ergänzender Kulturen angesehen. Das dies auch ein verbreitetes Ideal in der deutschen Migrationsgesellschaft ist, lässt sich in der Werbung finden. Ein Beispiel für eine solche interkulturelle Identitätskonstruktion findet sich im Marketing des Mobilfunkanbieters AY YILDIZ, der genau diese Zielgruppe von Deutschtürk*innen anspricht. Die Marketingkampagnen nutzen das interkulturelle Integrationsideal, um Menschen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund anzusprechen. Sadece (Nur) für dich Wir können in der Heimat in den Flieger steigen – ve 3000 km sonra evimize kavuşuruz (und kommen 3000 km später Zuhause an). Wir sprechen in der Schule schon zwei Sprachen ve istediğmiz gibi karıştırıyoruz.« (und mischen sie, wie wir wollen). Wir sprechen Deutsch ve türkçe rüyalarımız. (und träumen türkisch). Und wenn Du das verstanden hast – sende bizdensin! (dann gehörst du zu uns!) Hoşgeldin (Willkommen) in unserer Welt.16 16 | AY YILDIZ-Werbung: »Sende bizdensin«. Dazu auch AY YILDIZ »Sende bizdensin« mit Eko Fresh u.a. Vgl. dazu auch Spohn: Zweiheimisch, zeigt Perspektiven im Umgang

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Der Diasporakomplex

Jugendliche des Typs interkulturelle Almancı sind strukturell assimiliert. Sie versuchen sowohl ihre Position als Nachfahr*innen der ersten Generation einzunehmen als auch sich auf den Erbstuhl wie auf den deutschen Stuhl zu setzen. Als verbindende Subjekte können sie sich jedoch auch einen dritten Stuhl konstruieren, um ihrem Selbstverständnis als kulturelle Brückenbauer mit einer interkultureller Identität Ausdruck zu verleihen. Integration verstehen sie als notwendige strukturelle Assimilation, die vornehmlich einseitig verläuft und von Menschen mit Migrationshintergrund erwartet wird. Jugendliche dieses Typs haben sich bereits in einen Prozess der Balance begeben. Sie bemühen sich wechselseitige Perspektiven und Rollen einzunehmen. Eine Förderung ihres historischen Bewusstseins sowie der Fähigkeit zur Ausbildung einer balancierten historischen Ich-Identität könnte sie in ihrem Selbstverständnis fördern, Teil einer heterogenen Gemeinschaft zu sein. Erklärungsdruck und Stigmatisierungen könnten überwunden und durch das selbstbewusste Gefühl, anders zu sein und zu einer Nischengruppe zu gehören, ersetzt werden.

5.2.3 Typ III: Bewusste Paria Die Figur des bewussten Parias ist eine Zuspitzung. Er beschreibt einen Außenseiter-Typ, der besonders durch seinen Eigensinn (Rüsen) auffällt. Dieser äußert sich in seinem sozialen Auftreten sowie in der Erzählung von Gegengeschichte. Schüler*innen des Typs III sind bemüht, ihr historisches Wissen zu erweitern, für sie hat Geschichte eine große Bedeutung. Dem Geschichtsunterricht folgen sie interessiert aber skeptisch. Jugendliche dieses Typs sind auf der Suche nach Gegenerzählungen, die sie jedoch ebenso kritisch hinterfragen, bis sie in der Lage sind, ihre eigene Gegengeschichte zu konstruieren. Angebotene Deutungen und Wertungen stellen sie grundsätzlich in Frage. Damit sind die Schüler*innen des Typs III sehr viel reflektierter als die der Typen I und II. Dennoch vermögen sie die eigene Selbstreflexion nicht konsequent diskursiv durchzuführen. Sie nutzen Geschichte, um Brüche und Konflikte zu identifizieren und diese zu kritisieren. Trotz der Versuche, diese zu »verzeitlichen« verharren sie auf ihrer konsequent kritischen Gegenposition.17 Ihre Identität bilden Schüler*innen des Typs III vor dem Hintergrund einer Diasporanarration. Sie stellen Geschichte (politisch) infrage. Sie sind in der Lage, doppelt semi-historisches Bewusstsein zu beschreiben, zu erklären und zu kritisieren, wobei sie auch auf die erste Generation der Gastarbeiter*innen rekurrieren. Als Angehörige einer Nachfolgegeneration ahmen sie auch deren mit Bikulturalität, die als Chance stilisiert wird. Tarek Badawia betont im Nachwort die Bedeutung der gesellschaftlichen Fremdzuweisungen. 17 | Rüsen: Historik, S. 215.

5. Wir sind Elif

Fremdheitsverständnis (als Migrant*innen) nach. Sie befinden sich erklärtermaßen in dem Dilemma, sich fremd zu fühlen, sich von der Mehrheitsgesellschaft zu unterscheiden und gleichzeitig Anpassungserwartungen zu erfahren. Die Jugendlichen beschreiben ihren Diasporakomplex, indem sie die Unmöglichkeit einer Identifikation betonen. Sie verknüpfen die Ablehnung der ihnen zugewiesenen Fremdzuschreibungen sowie der Konsequenzen eines doppelt semi-historischen Bewusstseins mit der Erzählung über die türkische Diaspora in Deutschland, der sie sich zwar faktisch zuordnen, von der sie sich aber zugleich kulturell distanzieren möchten. Die Schüler*innen des Typs III haben ihren Fluchtraum bereits gefunden: Er besteht in der kulturellen Selbstbehauptung, die die eigene Selbstverortung als willentliche Entscheidung begreift, aber einer Art freiwilliger Segregation gleichkommt. Die Erfahrungen von Fremdheit und Desintegration nehmen die Jugendlichen des Typs III billigend in Kauf, da die damit korrespondierende (historische) Identität als Fremde es ihnen ermöglicht, ihren Eigensinn auszuleben. Die historische Orientierung dieser Schüler*innen wird nicht von der Schule oder von ihrem engeren sozialen Umfeld bestimmt. Die starke Suche nach Gegennarrativen und -positionen macht alternative Deutungsangebote, auch radikaler Art, besonders attraktiv, da diese eine Abgrenzung vom alltäglichen Umfeld ermöglichen. Die beschriebenen Merkmale des Typs III lassen sich mit der Figur eines bewussten Parias beschreiben. Ohne das Merkmal eines Migrationshintergrunds mit einer jüdischen Identität gleichsetzen zu wollen, beziehe ich mich dabei auf Hannah Arendts Begriff des bewussten Parias.18 Damit bezeichnete Arendt Personen, die aufgrund ihres Anders-Seins außerhalb der Gesellschaft stehen, aber auch gar nicht danach streben, in diese aufgenommen zu werden.19 Der Status des bewussten Paria beschreibt eine bewusste Entscheidung, einen bewusst eingeschlagenen Weg des individuellen (eigen-sinnigen) Denkens, Urteilens und Handelns. Hierzu gehört die Entscheidung über die eigene Partizipation an Geschichte. Bewusste Parias treffen individuell für sich die Entscheidung, inwieweit sie sich assimilieren oder sich der Gesellschaft und sich selbst gegenüber bewusst kritisch verhalten.20 Durch ihre bewusste Verortung außerhalb der Gesellschaft hoffen Paria, das auf ihnen lastende Erbe 18 | Arendt: Die verborgene Tradition, S. 60-64. Auch Charlie Chaplin (obwohl nicht jüdisch) oder Franz Kafka zählt Arendt zu bewussten Paria, ebd., S. 88-107. 19 | Ebd., S. 46-73, hier S. 50; Piper: Hannah Arendts Kategorie des Parias, S. 331332. Siehe auch Lazar: L’Antisémitisme. Son histoire et ses causes. Bernard Lazar ist selbst Jude, der zu Zeiten des Dreyfus-Prozesses in Paris war, und für Dreyfus Partei ergriff. Nach Lazar sind Juden Paria und somit Rebellen gesellschaftlicher Ordnung. Sie sind Vertreter der Unterdrückten und Benachteiligten des Volkes. 20 | Vgl. Savaş im Interview: »Man entscheidet, wo man hingehört.«, S. 640.

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Der Diasporakomplex

der Fremdheit zu verändern und so mehr Selbstbestimmtheit zu erreichen. Die permanente Annahme von Gegenpositionen zu den vorherrschenden historischen Identitätskonstruktionen ermöglicht den Parias eine Erlangung von Individualität allein durch Abgrenzung.

5.2.4 Typ IV: Transkulturelle Paria Schüler*innen des Typs IV besitzen fundierte historische Kenntnisse und haben großes Interesse an Geschichtsunterricht und Geschichte. Schüler*innen des Typs IV können traditional, exemplarisch, kritisch sowie genetisch erzählen. Sie zeigen ein reflektiertes und selbstreflexives Geschichtsbewusstsein und entscheiden sich je nach Situation und Anlass für die Erzählform, die ihnen passend und zielführend erscheint. Auf dieser Grundlage können sie auch ihre Identität balanciert ausbilden und entsprechend kommunizieren. Sie verfügen über eine hybride Identität, mit der sie in der Lage sind, mehr als nur Brücken zwischen Deutschen und Türk*innen zu bauen. Sie verwirklichen das, was bei Jugendlichen des Typs II als Ideal einer bikulturellen Identität formuliert wird. Jugendliche des Typs IV können Veränderungen ihrer Lebensumwelt sowie ihrer eigenen Person in einen diskursiven Zusammenhang zu- und miteinander bringen. Ihre Fähigkeit, gegensätzliche Perspektiven und Standpunkte zu erkennen und diese aufeinander zu beziehen, ermöglicht es ihnen, eine individualisierte und ausbalancierte (historische) Identität auszubilden. Schüler*innen des Typs IV bilden ihre Identität vor dem Hintergrund einer Diasporanarration. Ein doppelt semi-historisches Bewusstsein beschreiben und erklären sie nicht nur, sondern sie reflektieren dieses auch kritisch. Dabei bewerten die Jugendlichen die ihnen zugewiesenen Fremdzuschreibungen als erschwerenden Faktor bei der Ausbildung einer historischen Identität sowie der emotionalen Integration (Identifikation). Auch Schüler*innen dieses Typus rekurrieren in ihrer Selbstdarstellung auf die erste Generation von Gastarbeiter*innen und fühlt sich mit deren Erbe verbunden. Sie artikulieren ihre Enttäuschung über ihre einseitigen Integrationsbemühungen ebenso wie über ihr Scheitern. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen scheinen auch ihre Identitätsbemühungen und ihre Integrationsbestrebungen von einem Diasporakomplex begleitet zu sein. Als Konsequenz ihrer Auseinandersetzungen und ihrer Reflexionen lehnen diese Jugendlichen Identitätszuweisungen Anderer ab. Schüler*innen dieses Typs sind nicht nur strukturell assimiliert, sondern auch bereit, sich emotional zu identifizieren. Sie können dennoch als Parias bezeichnet werden, da diese Bemühungen eine wechselseitige Bereitschaft voraussetzen. Die Integration setzt also auch eine entsprechende Bereitschaft der Gesellschaft voraus. Für Jugendliche des Typs IV bedeutet dies, dass die Schwelle der strukturellen Assimilation nur mit der Gesellschaft überwunden

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werden kann. Da diese Bedingung nicht erfüllt ist, bleiben die Jugendlichen trotz ihrer transkulturellen Identitätskonstruktion und ihres reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins Außenseiter. Sie werden zu transkulturellen Parias, da sie sich im vollem Bewusstsein dieser Problematik selbst segregieren.

5.3 F allbeispiele Nach der Vorstellung der einzelnen Typen möchte ich nun Fallbeispiele für die jeweiligen Typen aus der Erhebungsgruppe vorstellen. Alle Proband*innen können im Spektrum der vier verschiedenen Typen eingeordnet werden. Wie auch die Typen historischer Sinnbildung nach Rüsen können Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vor allem im Übergang oder wie hier in der Schnittmenge von zwei Typen verortet werden. Die große Mehrheit (7) der Jugendlichen kann im Spektrum von Typ I und II kategorisiert werden. An den ausgewählten Beispielen Berk, Duygu, Savaş und Serkan kann die Typisierung besonders anschaulich nachgezeichnet werden.

5.3.1 Wer ist Berk? Berk ist ein Realschüler, der sechsten Jahrgangsstufe von einer Hauptschule auf die Realschule gewechselt ist. Seine Großeltern sind als Gastarbeiter*innen nach Deutschland migriert. Seine Mutter wurde in Deutschland, sein Vater in der Türkei geboren. Also mein Opa ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und hat bei Bayer gearbeitet. Der hat ein Labor geleitet mit 16 anderen, also der war der Leiter und der hatte sozusagen Schüler. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

Berk bezeichnet sich selbst als religiös (sunnitischer Moslem) und schildert seine regelmäßigen Moscheebesuche, die er als angenehm empfindet. Frage: Was bedeutet sehr religiös für dich? Berk: Ja, also ich bete fünfmal am Tag, gehe zur Moschee am Wochenende, Freitagsgebet und wenn so, so feste Tage wie zum Beispiel, gestern war, ja. Frage: Ja. Berk: Und ich lese ab und zu, Zuhause das Koran. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

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Der Diasporakomplex Berk: Also Religion ist doch wichtig für einen Menschen, ein Glauben. Frage: Also, ob es in Deutschland wichtig ist, allgemein. Berk: Ja schon. Für jeden ist Religion wichtig meiner Meinung nach. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] Ich mag das halt. Also wenn ich in die Moschee gehe, da ist ja so, da wird, haben wir auch so, und das gefällt mir halt. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

Berk spricht deutsch und türkisch. Er schätzt seine deutschen Sprachkenntnisse als gut ein, besser als seine türkischen. Während des Interviews fallen jedoch seine grammatikalischen Schwächen und seine Defizite im Wortschatzumfang sowie im Ausdruck auf. Berk erklärt, dass er sich in Deutschland und in der Türkei zu Hause fühlt, aber besonders in Köln beheimatet ist. Berk hat nur ein gemäßigtes Interesse an Politik. Auch für türkische Politik interessiert er sich nur oberflächlich. Integration umschreibt er als Adaption an die Gepflogenheiten des Aufnahmelands sowie als Anpassung an eine Zielkultur. Auf die Nachfrage, mit welchen Themen er sich im Geschichtsunterricht oder generell im Umgang mit Geschichte befassen möchte, führt er die Lebensgeschichte des Propheten Mohammed und den Islam an. Berk erklärt dieses Interesse mit den positiven Erfahrungen, die er bei seinen Moscheebesuchen und bei seiner Beschäftigung mit Religion macht. Berks Geschichtswissen ist sowohl im Vergleich zum Lehrplan als auch im Bereich der türkischen Geschichte nicht besonders umfangreich (im allgemeinen Wissenstest erreichte er 9,5 von 20 möglichen Punkten). Dennoch ist er insbesondere von seinen Kenntnissen der türkischen Geschichte überzeugt und betont, dass diese für ihn als Türke (so seine Selbstbezeichnung) gerade gegenüber anderen türkischen Mitschüler*innen wichtig seien. Ja ist, gehört, ich bin ja türkischer Staatsbürger, also ich bin, ich interessiere mich für türkische Geschichte mehr als für deutsche. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] Berk: Zum Beispiel, was unser Prophet gemacht hat. Frage: Religionsgeschichte. Berk: Ja genau. Frage: Mhm, und das? Berk: Das würde mich interessieren. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

Der Geschichtsunterricht erscheint Berk hingegen weniger wichtig zu sein. Bei diesem scheint es lediglich um die Vermittlung von Ereigniswissen aus

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einer Vergangenheit zu gehen, die nichts mit ihm zu tun hat. Berk betont, dass seine Mutter und seine Schwester versuchen, ihm türkische Geschichte zu vermitteln. Für Berk ist Religion eine wichtige Grundlage seiner Identität und daher aus seiner Perspektive bedeutsam für jeden Menschen. Die Themen des Geschichtsunterrichts beschreibt Berk hingegen als langweilig – diese weckten sein Interesse nicht. Als spannendes Thema nennt er die römische Antike. Mit seinen mangelnden Geschichtskenntnissen versucht Berk, eine Kausalkette von Ereignissen zu konstruieren, die erklärt, warum er in Deutschland lebt. So behauptet er, der Mauerfall habe dazu geführt, dass seine Familie nach Deutschland migrierte. Frage: Aha, okay. Wie ist dein Geschichtsunterricht? Berk: Ja, so lala. Frage: Was gefällt dir daran nicht? Berk: Ist manchmal langweilig, da manchmal schwer ein bisschen. Weil das ist so ein bisschen schnell. Frage: Okay, und was ist, wenn es langweilig ist? Wie muss ich mir einen langweiligen Geschichtsunterricht vorstellen? Berk: Ja, dass, zum Beispiel Themen, die mich nicht interessieren. [Interview Berk, Q2IF, Realschule]  Frage: Gibt es irgendwas aus der Vergangenheit, was für dich heute wichtig ist, für dich ganz persönlich? Vorhin habe ich ja nach der Familie gefragt, jetzt frage ich nach dir. Berk: Ich weiß nicht, ob Mauerfall dazu gehört, weil wäre die Mauer, wäre das jetzt nicht da, dann könnte ich ja nicht zum Beispiel, also wäre ich zum Beispiel in der Türkei anstatt Deutschland oder so oder hätten meine Eltern sich kennengelernt sowieso. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

Auf die Frage nach seinen Kenntnissen der türkischen Geschichte rekurriert Berk auf Atatürk und die Gründung der Türkei. In der Gruppenbefragung sowie im Einzelinterview merkt er kritisch an, dass Atatürk die Religion abgeschafft habe. Sozusagen die – verehren Atatürk, obwohl der, manchmal hat er auch schlimme Dinge gemacht. [Interview Berk, Q2IF, Realschule] 

Die Ausführungen und Antworten von Berk zeigen eine welterklärende Kontinuitätsvorstellung. Mit seinen Ausführungen versucht er an Vergangenes anzuknüpfen. Seine Identität bildet er vornehmlich durch die Nachahmung und Übernahme von Wertvorstellungen und Deutungen. Dabei greift Berk nicht allein auf eine Diasporageschichte zurück, sondern versucht, seine Identität

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auch auf der Grundlage einer religiös fundierten Geschichte zu bilden – beides in der Form von Einverständnis und Nachahmung (Rüsen). Beispiele einer exemplarischen oder kritischen historischen Sinnbildung konnte ich bei Berk nicht erheben. Berk artikuliert vor allem traditionale Erzählmuster. Seine Identitätskonstruktion und seine unkritische Übernahme traditional-religiöser Erzählungen und Sichtweisen zeigen einen Mangel an diskursivem Umgang mit Geschichte. Berk verfügt nicht über ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein. Mit seinen geringen Geschichtskenntnissen ist er zudem nicht in der Lage, kritisch sinnbildend zu erzählen. Berk sieht sich selbst als Türke in Deutschland, als jemand, dessen deutsche Lebensumwelt ihn von türkischen Türken unterscheidet. Obwohl er sich in beiden Ländern gleich beheimatet fühlt, stellt die Stadt Köln für ihn sein eigentliches Zuhause dar, genauer gesagt die türkische Diaspora in Köln. In seinem sozialen Umfeld sowie an seiner Schule ist Berk kein stigmatisierter Außenseiter. In seiner Schulklasse und an seiner Realschule ist der Anteil von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sehr hoch. Dasselbe gilt für Berks soziales Wohnumfeld. Berks religiöse Bindung an seine Gemeinde und die Ausübung seines Glaubens geben ihm Orientierung. Zwar verspürt er ein Bedürfnis nach historischer Orientierung, dieses wird jedoch durch das Identitätsangebot der religiösen Gemeinschaft kompensiert. Die historischen Orientierungsangebote des Geschichtsunterrichts erreichen ihn hingegen nicht. Eine Reflexion seiner eigenen gesellschaftlichen Verortung scheint für Berk nicht wichtig zu sein, da er in seinem engsten Umfeld auf viele andere Jugendliche trifft, die sich in einer sehr ähnlichen Lebenssituation befinden und seine Perspektive teilen. Berks Mitschüler*innen sind ebenfalls eher religiös und begegnen der deutschen Gesellschaft und ihrer Schule mit starker Skepsis. Obwohl bei Berk Merkmale eines doppelt semi-historischen Bewusstseins zu beobachten ist, bemerkt er selbst diese nicht. Sein Rückzug in eine traditional religiös-historische Identitätskonstruktion bietet ihm einen Ausweg aus seinem Identitätskonflikt. So kann er vor dem Zwang fliehen, sein Orientierungsbedürfnis an anderer Stelle zu stillen. In Identitätsentwürfen gesprochen, flüchtet er aus der deutschen Einwanderungsgesellschaft sowie aus der türkischen Diaspora in Deutschland und identifiziert sich mit der supranationalen Ummah. Eine emotionale Integration, das heißt eine Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft, wird nicht ersichtlich.

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5.3.2 Wer ist Duygu? Duygu ist ein Mädchen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Ihre Großeltern sind als Gastarbeiter*innen nach Deutschland migriert. Duygus Eltern wurden in der Türkei geboren und als Kinder von ihren Eltern im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland geholt. Frage: Weißt Du, als was sie nach Deutschland gekommen sind? Duygu: Ja, also mein Opa ist als Gastarbeiter, also der ist bei Ford, der ist dort angestellt worden. Er hat dann meine Oma nachher hergebracht. Und die haben dann im Heim gelebt, also da gab es früher da so ein Heim, hat mein Opa gesagt. Und dann hm, und dann hat meine Oma das aller erste Mal im Brauhaus gearbeitet, in der Küche. Ja, aber erst im Nachhinein, als mein Papa dann etwas älter wurde. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Duygu wächst bei ihrer Mutter und bei ihren Großeltern auf, ihre Eltern leben getrennt. Duygu gibt an, eher religiös zu sein, und hebt gleichzeitig hervor, dass sie säkular (das heißt kemalistisch) ausgerichtet sei. Für sie ist beispielsweise das Tragen eines Kopftuchs kein Indiz für einen tiefen Glauben. Die religiöse Gemeinschaft in der Türkei, die sie dort in den Ferien erlebt, beschreibt Duygu als angenehmer als in Deutschland. Duygu: Also, ich versuche zu fasten. Solange ich das aushalten kann. Ähm, z.B. ich bete immer vor dem schlafen gehen und in der Türkei, also z.B., wenn wir in die Türkei kommen, dann, hm, gehen meine Cousine immer in die Moschee morgens, weil die kommen auch von einer anderen Stadt in der Türkei. Dann gehen wir alle zusammen in Sivas – ich komme ja aus Sivas – dann gehen wir alle zusammen in die Moschee. Frage: Hm. Duygu: So zum Lernen, weil hier in Deutschland gehe ich nicht so gerne in die Moschee! Aber in der Türkei ist das eine andere Atmosphäre. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]

Obwohl sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, bezeichnet sich Duygu selbst als Almancı. Sie beschreibt ihre intensiven Bemühungen, sich in den Ferien in der Türkei an die dortige Umgebung anzupassen, nicht deutsch zu sprechen, um nicht als Almancı aufzufallen. Trotz dieser Bemühungen habe sie aber im Türkischen einen deutschen Akzent, der sie als Almancı entlarve und zu Distinktionen führe. Diese Erfahrungen verdeutlichen Duygu, dass die Türkei nicht ihre Heimat ist – was für sie bedeutet, nirgendwo richtig heimisch zu sein.

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Der Diasporakomplex Duygu: Zum Beispiel wenn ich in die Türkei komme, auch wenn ich, wenn du also, wenn ich versuche zu zeigen, dass ich so ähm, noch meinen ähm – meine Herkunft behalten habe, trotzdem so ja: Almancı! Man sieht, z.B. ich hatte auf Türkisch da geredet, da hatten die so gesagt, man sieht du hast einen richtigen Akzent, man sieht, dass du aus Deutschland kommst, dann hat man auch nicht so was wie ’ne Heimat. Frage: Ist das nicht etwas, was dann andere über dich sagen? Duygu: Ja, hm? Frage: Ich hatte dich ja gefragt, was du über dich sagst. Duygu: Hm, ich weiß nicht, also irgendwie bin ich äh, auch wenn ich hier gewachsen – aufgewachsen bin, bin ich irgendwie trotzdem Türkin. Aber ich lebe auch hier. Deswegen konnte ich das nicht so recht äh, hm. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Duygu erklärt, zwar in Deutschland aufgewachsen zu sein, sich aber nicht als Deutsche zu fühlen. Die Erfahrung der beidseitigen Nichtanerkennung (in Deutschland und in der Türkei) vermitteln ihr ein Gefühl des Weder-noch bzw. des Dazwischen-Seins. Duygu beschreibt also ein zentrales Element des als Worst-Case-Szenario beschriebenen doppelt semi-historischen Bewusstseins. Im Vergleich zu anderen Mitschüler*innen kann Duygu sich gut artikulieren, sie spricht ohne türkischen Akzent. Nach der Grundschule besuchte sie zunächst ein Gymnasium und musste dann in der siebten Jahrgangsstufe auf die Realschule wechseln. Sie hat ein mittleres Interesse an Politik und sympathisiert, wie sie sagt, mit der SPD, da diese Ausländer*innen mehr Rechte zugestehe als andere Parteien. Die CDU empfindet Duygu aufgrund ihrer christlich-konservativen Ausrichtung nicht als Unterstützerin für die politischen Interessen von nicht-christlichen Nicht-Deutschen. Ähm, hm, also, so wie ich, also vom Hören auch, von den Nachrichten, wenn man guckt, dann sieht man mehr, dass die SPD mehr Rechte für die Ausländer hat. Also CDU ist ja eher so, äh, so ’ne eher christliche, also nicht Nazi oder so, aber eher christliche so Partei und ich bin ja keine Christin und deswegen finde ich, so die SPD ist da so richtig neutral. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Auf die Frage, ob sie sich selbst als Ausländerin empfinde, antwortet Duygu, dass dies von der jeweiligen Situation abhinge. In der Schule würde sie als Ausländerin, in der Türkei hingegen als Deutsche angesehen. Allein auf der Straße würde sie nicht als Ausländerin stigmatisiert, da sie an ihrem Aussehen nicht als solche zu erkennen sei. Duygu: Ja, z.B. in der Schule bin ich Ausländerin. Frage: Hm.

5. Wir sind Elif Duygu: Aber auf der Straße denkt jeder ich wär’ Deutsche. Frage: Hm. Duygu: Also, da wissen die ja nicht meinen Namen, vom Aussehen her denken die ich wär’ Deutsche. In der Türkei wissen die, dass ich Deutsche bin! (lacht) von meiner Redensart. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Duygu erklärt ihr historisch-politisches Interesse anhand der zentralen Rolle, die Nachrichtensendungen und Zeitungen in ihrem Haushalt spielen. Obwohl sie selbst kein aktives Interesse pflege, könne sie sich dem historisch-politischen Einfluss ihrer Familie nicht entziehen. Frage: Das heißt du schaltest Nachricht bewusst an? Duygu: Nein, bei uns laufen Zuhause immer Nachrichten! Frage: Ach so, du kannst gar nicht anders? Duygu: Also, nee. Also auch wenn wir abends essen, dann ist unser Fernseher an und da laufen auch immer die Abendnachrichten. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Frage: Ist Geschichte Bildung? Duygu: Ja, auf jeden Fall. Finde ich schon, wir sollten schon wissen, woher wir herkommen, weil das hat ja was mit unserer Geschichte was zu tun. Ähm, was in der Vergangenheit passiert ist. Frage: Was habe ich davon, wenn ich weiß, was in der Vergangenheit passiert ist? Duygu: Hm, also ich, hm ich hab’ was von der Vergangenheit, weil, hm, z.B. wenn das nicht passiert wär’, dann wär’ das nicht heute so. Frage: Hm. Duygu: Denke ich. Frage: Das heißt die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart? Duygu: Ja, ähm, z.B. Atatürk, weil wenn der z.B. nicht da wär’, die Türkei nicht modernisiert. Vielleicht hätten wir dann noch alle, wären wir dann alle in der Türkei geblieben und hätten Kopftuch und (es) wäre alles ein bisschen strenger. (Türkei) Wäre ein sehr muslimisches Land. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Geschichte bezeichnet Duygu als (Allgemein-)Bildung. Die Herkunftsgeschichte erlaubt ihr Verständnis für Entwicklungen und damit Orientierung in der Gegenwart. Beim historischen Wissenstest erreichte sie allerdings nur 3 von 20 möglichen Punkten. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ermöglicht es Duygu, exemplarische allgemeingültige Regeln zu entwickeln, die ihr ihre Gegenwart erklären. Duygu sagt selbst, sie könne aus der Vergangenheit lernen. Beispielhaft hierfür ist, wie sie in der Gruppendiskussion erzählt, dass

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Atatürk den Weg der Türkei vom rückständigen, muslimischen Osmanischen Reich zur modernen, westlich orientierten Türkei bereitet und bestimmt habe. Duygus kemalistisch-laizistischen Deutungen und ausnahmslos positiven Wertungen gehen auf den politischen Hintergrund ihrer Familie zurück. Als besonders positiv bewertet sie ihren Türkischunterricht an der Grundschule, wo sie auch türkische Geschichte gelernt habe. Außerdem berichtet sie, dass in ihrer Familie grundsätzlich viel über Geschichte gesprochen werde. Mit dem Blick auf ihren baldigen Schulabschluss bemerkt Duygu skeptisch, dass sie allein aufgrund ihres türkischen Namens sicherlich nur schwer einen Ausbildungsplatz bekommen werde, da die Deutschen ihre »Landsmänner« bevorzugten. Äh, hm, z.B. bei uns in der Schule ist das nicht so extrem, aber ich denke in anderen Schulen. Zum Beispiel wenn man ausländische Nachnamen hat oder hm oder ausländisches Aussehen, dass das dann doch was ausmacht. Weil in vielen Bewerbungsgesprächen werden, also denke ich, werden doch Deutsche mehr bevorzugt als Ausländer. Also ich, also wenn ich in der Türkei eine Firma hätte, dann denke ich, würde ich auch eher einen Türkischen nehmen als einen Deutschen. Also, wenn ich jetzt in der Türkei aufgewachsen wär’. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Diese pauschalisierende Diskriminierung, die Duygu bereits selbst erfahren hat, verhindert ihre emotionale Integration. Sie betont, dass sie sich zwar in Deutschland zu Hause fühle, aber dass derartige Erfahrungen sie ausbremsten. Auffällig ist, dass Duygu sich auch nicht mit anderen türkeistämmigen Schüler*innen solidarisieren kann. Stattdessen distanziert sie sich mehrfach von deren Verhalten. Sie erklärt, dass viele ihrer türkeistämmigen Mitschüler*innen keinerlei Interesse an Integration oder an einer Interaktion mit Deutschen hätten. Sie wirft ihnen vor, durch ihre konservativ-religiösen Einstellungen die bestehenden Vorbehalte gegen Migrant*innen zu befeuern, unter denen auch sie leidet. Duygu: Zum Beispiel seinen Freundeskreis erweitert und nicht immer denkt: Ja, nee, nur Türken! Das man auch mit Deutschen Kontakt hat. Weil äh, ich kenne, z.B. bei uns in der Klasse, manche türkische Jungs haben nur türkische Freunde. Ich finde, da sollte man ein bisschen seinen Freundeskreis erweitern. Man guckt vielleicht wie die so sind. Oder, wenn z.B. Deutschland und Türkei spielt, dann halte ich immer zu beiden. Ich kann mich nicht entscheiden. Ich halte dann nicht nur für Türkei oder Deutschland. Frage: Was Du unter Integration verstehst, hast du mir ja gerade erklärt. Sag mir nur, wann gibt es Integrationsprobleme? Duygu: Wenn man sagt z.B.: Iih, der isst Schwein, bah, äh. Oder, guck mal wie du dich anziehst! Also zu den Deutsche. Guck mal, die deutschen Mädchen, wie die sich

5. Wir sind Elif anziehen. Oder, letztes Mal hatte ein Junge in Facebook gepostet: äh hm, Happy Bayram. Scheiß auf Weihnachtsbaum und Kekse! Wir haben unser Kurban. So was. Das ist, ich finde, das ist richtig ein großes Problem! [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Duygu: Ich merke das so. Zum Beispiel letztes Jahr in der Klasse haben wir in Politik oder Erdkunde über dieses äh hm? Frage: Gezi-Park? Duygu: Ja, genau. Darüber gesprochen und dann hatte ich z.B. gesagt: Was ist jetzt so dran so schlimm, wenn man Alkohol trinkt, wenn man seine Grenzen kennt. Und dann so: Hey, wie kannst du so etwas sagen! Du bist Moslem! Haram, D.! Da war ich richtig schockiert so! Oder äh hm, irgendwas war dann da, dann hab’ ich über Atatürk: Ja, wär’ der nicht da, dann wär’ Türkei nicht modern. Ja, ist das denn besser, dass die Türkei nicht die Scharia hat! Und so. Und dann konnte ich nichts mehr sagen. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Ihr Gefühl der doppelten Nicht-Zugehörigkeit gipfelt in einer Aussage über ihre Bestattung, die in der Türkei vorgesehen ist: Sie müsse nach ihrem Tod »zurück«, obwohl sie nie emigriert sei. Ja, dafür find ich keine Antwort. Wissen Sie, was auch richtig komisch ist? Zum Beispiel wenn ich sterbe, dann wird ja meine Leiche zurück in die Türkei geschickt. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule]  Duygu: Hm, z.B. bei Mama und Papa wär’ das zurück. Frage: Hm. Duygu: Weil die in der Türkei geboren sind. Aber bei mir wär’ das ja nicht zurück, weil ich ja hier geboren bin. [Interview Duygu, Q2IF, Realschule] 

Hier reflektiert Duygu ihre Identität vor dem Hintergrund einer Diasporanarration. Gleichzeitig deutet sie die möglichen Konsequenzen einer ihr auferlegten Zugehörigkeit zur türkischen Diaspora aus. Sie hegt nicht den Wunsch, in die vermeintliche Heimat zurückzukehren. Der Diasporakomplex äußert sich bei ihr in ihrem Versuch, diesen abzulegen ohne ihre historisch-kulturelle Verortung aufzugeben. Duygu versucht, durch ihre Rezeption der kemalistischen Geschichte ihren eigenen kulturellen und religiösen Hintergrund zu definieren, den sie in Deutschland nicht aufgeben will. Sie sieht die Chance einer Verbindung ihrer kulturellen Zugänge in der westlichen, säkularen und kemalistischen Türkei, die es ihr ermöglichen könnte, sich zweiheimisch – sowohl in Deutschland als auch in der Türkei – zu verorten. Sie strebt eine hybride Identitätskonstruk-

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tion an und versucht, ihre bikulturellen Kompetenzen und ihr Geschichtsbewusstsein entsprechend zu nutzen. Mit dem Rückgriff auf historisches Wissen versucht sie exemplarisch ihre historische Identität zu konstruieren. Sie zeigt Ansätze kritischer Sinnbildung, die jedoch in ihrem sozialen und schulischen Umfeld nicht gefördert werden. Duygus existenzielles Orientierungsbedürfnis wird im Geschichtsunterricht nicht gestillt. Die familiären Versuche, historische Identität zu stiften, reichen für ihre Bedürfnisse nicht aus. Die geforderte Nachahmung von Deutungen und Wertungen sind für Duygus Verortung in der Einwanderungsgesellschaft ebenfalls unzureichend. Duygus Bestrebungen, eine interkulturell hybride historische Identität zu konstruieren, werden von ihrem Umfeld nicht immer erkannt oder gar kritisiert. Ihr existenzielles Bedürfnis nach historischer Orientierung, das durch die eine Förderung ihres Geschichtsbewusstseins gestillt werden könnte, bleibt unerfüllt.

5.3.3 Wer ist Savaş? Auch Savaş ist ein Schüler der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Seine Großeltern kamen als Gastarbeiter*innen nach Deutschland, seine Mutter wurde wie er in Deutschland geboren. Nach der Trennung seiner Eltern ging sein Vater zurück in die Türkei, weshalb er bei seiner Mutter und seinen Großeltern aufwuchs. Savaş ist ein Einzelkind und gibt an, sehr religiös zu sein. Er versucht, fünfmal am Tag zu beten und regelmäßig in die Moschee zu gehen. Als er jünger war, besuchte er auch eine Koranschule. Savaş bezeichnet sich selbst als Türke und betont sein großes Interesse an türkischer Politik. Auf die Frage nach den Gründen hierfür erklärt er, dass er mit der deutschen Politik nichts zu tun habe. Er lebe nur in Deutschland, weil seine Großeltern migriert seien. Er selbst hätte diese Entscheidung niemals getroffen. Seinen Ausführungen verleiht er Nachdruck, indem er behauptet, dass »wir« (er meint Türk*innen) hier nicht hergehörten. Savaş ist auch nicht der Meinung, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse für die dritte Generation ändern würden. Savaş: Ja, aber eigentlich eher die türkische Politik, weil mit der deutschen habe ich nichts zu tun. Frage: Aber du lebst doch in Deutschland. Savaş: Ja, ich lebe hier. Aber nur, weil meine Großeltern hier hingekommen sind! Ich habe das nicht entschieden. Wir gehören hier gar nicht hin! [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Obwohl Savaş nie in der Türkei gelebt hat, ist er überzeugt davon, dort ein besseres Leben führen zu können. Er behauptet, sich in der Türkei wohl zu fühlen, seine Mentalität passe besser in die Türkei, so Savaş. Auf die Frage, ob er

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besser Türkisch als Deutsch spreche, antwortet er, dass er seit seinem Wechsel von der Realschule auf die Hauptschule bemerkt habe, dass seine deutschen Sprachkenntnisse abnehmen. Zuhause spreche er jedoch nur Türkisch, das sei schon immer so gewesen. Wenn man dieses Nationalbewusstsein hat, wenn man sich denkt, ich bin Türke, Türkisch ist meine Sprache, ich gehöre halt zu dieser Kultur, dann ist es egal unter welchen Bedingungen man lebt, dann lernt man die türkische Sprache. Dann passt man sich der türkischen Kultur an. Dann wird man in der Türkei nicht diskriminiert. In Deutschland ist mir das dann egal, wenn die sagen: »Scheiß Kanake, der Ausländer.« Wenn ich mit reinem Gewissen hier arbeite, meine Steuern zahle, mich hier anpasse. Wenn ich kein Verbrecher bin, dann ist mein Gewissen rein. Dann ist mir es egal, was die hinter meinem Rücken sagen. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Die Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist für Savaş Aufklärung über Kausalzusammenhänge, eine Erklärung, warum er jetzt in Deutschland lebe. Im historischen Wissenstest erreichte Savaş 10,6 von 20 möglichen Punkten. Dennoch misst er dem Geschichtsunterricht keine große Bedeutung bei. Er ist überzeugt, sein historisches Interesse auch sehr gut außerhalb der Schule stillen zu können. Sein Wissen über türkische Geschichte habe er aus seiner »Jugendgemeinde«. Damit ist ein Jugendverein der nationalistischen Grauen Wölfe gemeint. Dort besuche er sogenannte Geschichtsseminare, von denen er wisse, dass die Wolfskinder Romulus und Remus auch in der türkischen Mythologie vorkämen.21 Nach eigenen Aussagen hört sich Savaş die dort verbrei21 | In der türkischen Mythologie ist die graue Wölfin ein wichtiges Element der Ergenekon-Legende. Die Legende ist eine chinesische Überlieferung aus dem Zhou Shu. Ihr zufolge sind die Türken ein anderer Zweig der Hunnen. Sie tragen den Namen A-shi-na und gründeten einen eigenen Stamm, der allerdings von seinen Nachbarn vernichtet worden sei. Einzig mit einem Zehnjährigen hätten die Angreifer der Legende nach Mitleid gehabt. Sie schlugen ihm nur beide Füße ab und warfen ihn ins Schilf. Eine Wölfin fand den Jungen daraufhin und zog ihn auf. Die Wölfin paarte sich mit dem Jungen und wurde trächtig. Als der feindliche Herrscher dies erfuhr, versuchte er, den Jungen und die Wölfin zu töten. Die Wölfin flüchtete zu einem Berg nördlich des Gauchang-Reichs. Sie versteckte sich in einem großen Tal, das von vier Seiten mit Bergen umschlossen war und gebar zehn Jungen. Diese wuchsen auf und heirateten zehn fremde Frauen und gründeten ihre eigenen Stämme (Xing). A-shi-na war einer dieser Stämme. Der Stamm wuchs von Generation zu Generation an und verließ das Tal. Diese fühlen sich mit dem Stamm der Jou-Jan verbunden, die am Nordhang der goldenen Berge lebten und Eisenerz förderten. A-shi-na sahen vor den goldenen Bergen aus, als trugen sie Helme, wodurch man sie fortan Tu-jue (Türk) nannte. Siehe dazu Kara: Zhou Tarihi’nin Türkler Bölümü

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teten Deutungen zunächst nur an und bildet sich anschließend sein eigenes Urteil. Er verlasse sich nur auf seine eigenen Deutungen. Savaş: Wenn man Interesse an Geschichte hat, kann man sich selber bilden. Es muss nicht in der Schule sein. Ich hab’ mein Wissen nicht aus der Schule. Frage: Woher hast du dein Wissen über türkische Geschichte? Savaş: Ich lese viel. Ich informiere mich über die Sachen. ich bin in einer Jugendgemeinde. Frage: Was für eine Jugendgemeinde ist das? Savaş: Ülkücü Ocağı– die Grauen Wölfe. Dort haben wir auch Seminare über Geschichte. Daher kannte ich das auch mit den Wolfskindern. Ich habe da mein Wissen her. Ich bin ein objektiver Mensch. Ich höre mir das an und dann lese ich noch aus verschiedenen Quellen. Dann informiere ich mich nochmal, dann höre ich mir verschiedene Meinungen an und äh, ich will mal sagen, eigentlich habe ich mein Wissen von mir selbst. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Savaş betont seine konservativ-nationalistische und konservativ-religiöse Haltung, indem er anderen Jugendlichen seines Alters und seiner Generation vorwirft, sich nicht benehmen zu können (Gäste, siehe Kap. 2.2.5). Damit bestärkten sie die Vorurteile gegen alle Türk*innen, da immer von einzelnen Personen auf eine gesamte Gruppe geschlossen würde. Exemplarisch zieht er das Beispiel fundamentalistisch islamischer Gruppierungen heran, die zur Festigung von Stereotypen über Muslim*innen beitrügen. Die Frage nach einer Definition des Begriffs Integration beantwortet Savaş mit einer Unterscheidung zwischen Assimilation und Integration. Assimilation bedeute nicht Anpassung, sondern die Aufgabe der ursprünglichen Kultur und Identität. Dieses lehne er grundsätzlich ab. Assimiliert sei seiner Ansicht nach ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund, der von sich behaupte, Deutscher zu sein. Unter Integration versteht Savaş hingegen die strukturelle Anpassung an rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, ohne eine darüberhinausgehende Interaktion mit der deutschen Gesellschaft. Savaş kritisiert, dass im öffentlichen Diskurs häufig von Integration die Rede sei, aber eigentlich Üzerinde Metin Çalı ş ması, S. 543ff. Die mythische Erzählung wurde auch von den Kemalisten für den Nationalbildungsprozess genutzt. Ankara (während der Befreiungskriege) wurde hierbei als neues Ergenekon betrachtet. Vor allem extrem nationalistische Strömungen wie die Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) nutzen diese Legende für ihre Ideologie. Die Grauen Wölfe (Bozkurtlar), deren Zeichen eine Wölfin (Bozkurt) auf blauem Hintergrund ist, nutzen diese Symbolik. Der Halbmond symbolisiert die Verbundenheit mit dem islamischen Osmanischen Reich. Siehe dazu Arslan: Der Mythos der Nation im transnationalen Raum, S. 104ff.

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Assimilation gefordert werde. Er selbst sei weder integriert noch assimiliert, da er noch nicht in die Arbeitswelt eingetreten sei. Savaş: Ich unterscheide zwischen Assimilation und Integration. Das sind zwei ganz unterschiedliche Sachen. Assimilation ist seine Herkunft, die Mentalität, das innere Bewusstsein total zu vernachlässigen. Sich in die deutsche Kultur total einzuschweißen. Frage: Meinst du Anpassen? Savaş: Nein! Anpassen ist so eine Sache. Es geht darum sich aufzugeben und zu sagen. Assimilation wäre z.B., wenn ich sagen würde, meine Großeltern sind vor 40 Jahren hierhergezogen. Ich bin hier geboren, ich bin Deutscher. Das wäre Assimilation. Frage: Hm. Und Integration? Savaş: Integration ist: Ich bin hier geboren, ich lebe hier, ich bin Türke. Aber ich werde später arbeiten und dem deutschen Staat dienen, indem ich Steuern zahle. Aber ich mein, was wir unter Assimilation verstehen, verstehen die Deutschen unter Integration. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Dennoch behauptet Savaş, keine deutschen Freunde zu wollen oder zu brauchen. Wegen seiner türkischen Mentalität sei er lieber mit anderen türkischen Jugendlichen zusammen. Gleichzeitig distanziert er sich jedoch von den Almancı. Savaş benutzt diese Bezeichnung bewusst abwertend und erklärt, dass er selbst noch nie so bezeichnet worden sei. Almancı sind seiner Ansicht nach assimilierte Türken, die in einer Parallelgesellschaft leben und weder Deutsch noch Türkisch sprechen. Almancı würden die deutsche Kultur ebenso wenig kennen wie die türkische. Sie seien »Zwiegestalten«, die falsch erzogen worden seien und sich nie entschieden hätten. Die Identität sei eine Entscheidung, die man als Heranwachsender zu treffen habe. Wenn man sich entscheide, Türk*in zu sein, so Savaş, dann sei auch Ausländerfeindlichkeit unwichtig. Solange man sich gewissenhaft und rechtschaffend verhalte, sei es egal, was andere über einen sagten. Die Frage, ob Diskriminierung nicht zu Einsamkeit und Fremdheit führen könne, bejaht Savaş allerdings. Er fügt aber hinzu, dass es ja auch andere (»Artgenossen«) in derselben Situation gäbe und man kein Einzelfall sei. Vielmehr gehöre er zu einer Gruppe von fremden Türken, die Teil einer türkischen Diaspora in Deutschland seien. Savaş: Nein, mich hat noch nie jemand als Almancı bezeichnet. Weil ich auch nicht diese Eigenschaften habe. Ich als in Deutschland lebender Türke kann sagen, wer ein Almancı ist. Ein Almancı ist jemand, der assimiliert ist. Ich steh letztes Jahr, eigentlich ist es immer so. Wenn ich in der Türkei, nee Entschuldigung. Am Flughafen z.B., da warte ich, da höre ich die kleinen türkischen Kinder, die unterhalten sich auf Deutsch. Es heißt nicht Anne, Baba, sondern Mama, Papa. Dann was ich schade finde, das

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Der Diasporakomplex machen die in der Türkei auch, dann bezeichnet man generell in Deutschland lebende Türken als Almancı. Frage: Meinst du die können kein Türkisch? Savaş: Ja, genau. Die leben in einer Parallelgesellschaft. Die reden weder richtig Türkisch noch richtig Deutsch. Die kennen weder die richtige deutsche Kultur noch die richtige türkische Kultur. Die sind einfach Zwiegestalten. Und das macht sie zu einem Almancı. Frage: Warum glaubst du, sind sie so? Savaş: Das ist Erziehung. Aber ab einem bestimmten Alter kann man die Entscheidung treffen. Was bin ich. Frage: Hm. Man entscheidet sich doch nur dafür wer man ist. Was man ist, kann man doch nicht beeinflussen. Savaş: Ja, natürlich. Das meine ich. Man entscheidet wo man hingehört. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Geschichte definiert Savaş als »Beschilderung« der Vergangenheit, die aufgrund von Quellen erhalten geblieben sei. In seiner Familie werde viel über Geschichte gesprochen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Savaş nicht explizit zwischen Geschichte und Politik unterscheidet. Er erklärt, dass er eine andere Meinung und eigene Ansichten habe, die seine Familie nicht teile. Für ihn, so Savaş, sei die türkische Geschichte wichtig für seine Identität, da er sich in einem Entwicklungs- und Kausalzusammenhang mit seinen türkischen und osmanischen Vorfahren sehe und sich mit diesen identifiziere. Savaş: Ja, meine Familie hat mich so erzogen. Ich denke zwar ganz anders als sie. Sei es Politik, sei es Meinungen. Ich denke ganz anders. Aber ich wurde von meinen Großeltern erzogen, weil meine Eltern getrennt sind und meine Mutter gearbeitet hat. Deswegen bin ich so. Frage: Was ist wichtig aus der Vergangenheit für dich? Savaş: Gründung der Türkei durch Atatürk. Wir kommen aus Samsun. Der Unabhängigkeitskrieg hat da angefangen. Die Türkei war besetzt. Wenn es Atatürk nicht gäbe, gäbe es die Türkei nicht. Für mich ist es sehr wichtig. Das wirkt sich auf mich aus. Türkische Geschichte ist wichtig für meine Identität. Und es heißt im Sprichwort: »Wer seine Vorfahren nicht kennt, der läuft ins Verderben.« [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Savaş’s Deutschkenntnisse sind im Vergleich zu Duygu besser. Er ist in der Lage, seine Überlegungen gut zu artikulieren. Seine Identität bildet er vor dem Hintergrund einer Diasporageschichte, diese knüpft er jedoch an weitere historische Kausalzusammenhänge. So berichtet er von der Debatte um die Gezi-Park-Demonstrationen in Istanbul und über ein Klassengespräch mit der Geschichtslehrerin.

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In diesem hätten sich unterschiedliche Auffassungen und Denkweisen gezeigt, die Savaş als Beleg für unüberwindbare kulturelle Unterschiede betrachtet.22 Ja, weil die anders denken. Ich habe mich letztens über die Gezi-Park-Ereignisse unterhalten. Auch mit meinen Lehrern. Ich hab’ gesagt, es geht nicht um einige Bäume. Türkische Nationalisten sind mit PKK-Leuten Hand in Hand gelaufen. Sie demonstrieren gemeinsam. Da meinte meine Lehrerin, warum sollte das nicht gehen. Sie haben nur unterschiedliche Meinungen zu einer Sache. Da hab’ ich gesagt, es geht nicht um zweiverschiedene Meinungen. Es sind zwei Feindbilder. Die Sache für die sind, ist größer als ihr Feindbild. [Interview Savaş, Q2IF, Hauptschule] 

Auf die Frage, was er über den Genozid an den Armenier*innen wisse, antwortet Savaş mit der Re-Konstruktion einer Gegengeschichte. Savaş positioniert sich bewusst gegen bestehende Geschichten und Deutungen. Savaş fühlt sich nur seinen eigenen Deutungen verpflichtet. Als Preis für seinen Eigensinn nimmt er ein Gefühl der Fremdheit in Kauf. Seine Haltung des individuellen Denkens, Urteilens und Handelns erinnert in Ansätzen an Hannah Arendts Figur des bewussten Parias. Dazu gehört Savaş’ Erkenntnis über seine eigene Partizipation an Geschichte. Er trifft eine bewusste Wahl (»Man entscheidet, wo man hingehört.«). Dazu gehört auch die Entscheidung, sich zu assimilieren oder sich selbst und der Gesellschaft gegenüber bewusst kritisch zu verhalten. Savaş’s Bild einer Parallelgesellschaft der Almancı zeigt sein Bestreben, nicht einer aus seiner Sicht assimilierten türkischen Diaspora angehören zu wollen. Für ihn bedeutet dies, selbst in der Fremde unter scheinbar Gleichen noch anders zu sein, allein und heimatlos. Sein Ausweg aus dieser Einsamkeit und Fremdheit ist die Flucht in eine politische Radikalisierung, die mit der im Hintergrund bestehenden Diasporageschichte und seiner religiösen Erzählung in Einklang gebracht werden kann. Das Angebot eines türkischen Nationalismus, der ihn trotz seiner ererbten Zugehörigkeit in der türkischen Diaspora zum vollwertigen (also nationalbewussten, muslimischen) Türken erklärt, wirkt auf Savaş sehr anziehend.

22 | 2013 löste die geplante Abholzung des zentralen, aber kleinen Gezi-Parks am Taksim-Platz in Istanbul eine Welle von Protesten und Demonstrationen aus, die sich zunehmend gegen die Regierung richteten. Der Konflikt eskalierte am 31. Mai 2013 aufgrund eines gewaltsamen Polizeieinsatzes. Die Protestbewegung löste eine breite Solidarisierung im In- und Ausland aus.

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5.3.4 Wer ist Serkan? Serkan ist ein Gymnasialschüler der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund. Als einziger Schüler hatte er von sich aus darum gebeten, an der Studie teilnehmen zu dürfen. Er zeigte von Beginn an starkes Interesse an der Thematik und einen großen Drang, etwas dazu beizutragen und gehört zu werden. Serkans Großeltern kamen ebenfalls als Gastarbeiter*innen nach Deutschland. Sein Vater ist als Kind nach Deutschland migriert. Serkan erklärt, dass er gläubiger Alevit sei und regelmäßig bete sowie in die Moschee gehe. Dies kann einen Widerspruch ergeben, da Aleviten anders als Sunniten nicht in eine Moschee gehen, sondern sich in ein alevitisches Gebets- und Gemeindehaus, das sogenannte Cemevi (Cemhaus) treffen. Serkan war im Interview irritiert, dass ich nicht auf diesen möglichen Widerspruch eingehe und fragte von sich aus nach, ob mir dies nicht seltsam erscheine. Als einziger der untersuchten Schüler*innen stellte Serkan persönliche Gegenfragen. Überhaupt schien ihm die Möglichkeit, wechselseitig Fragen stellen zu können, besonders wichtig zu sein. Serkan beschreibt seine Bilingualität, die sich darin äußere, dass er sowohl deutsche als auch türkische Bücher lese, während seine Schwestern und seine Eltern mehrheitlich türkische Bücher läsen. Das Interesse am Lesen komme von der Lesekultur in seiner Familie, die ihn geprägt habe. Auf die Frage, wo er sich beheimatet fühle, erwidert Serkan, dass er sich in Deutschland und in der Türkei gleichermaßen beheimatet fühle. Beide Länder hätten sowohl negative als auch positive Seiten. In der Türkei werde er trotz seiner Bemühungen als Almancı bezeichnet und in Deutschland als »Ausländer abgestempelt«. Serkan: Gleichgewichtig, denn beide Länder haben sowohl negative als auch positive Seiten: Dort werde ich immer als ›Almancı‹ bezeichnet und, und bin dann was Besonderes und hier wird‹ ich immer als Ausländer abgestempelt. Frage: Und wo gehörst du dann hin? Serkan: In der Mitte. Frage: In der Mitte? Und fühlt sich das fremd an? Serkan: Ja, schon, aber man fühlt sich zuerst als, wenn man in der Türkei ist, als Türke, dann kommt halt dieses Wort und dann denkt man schon: »Hm, du bist doch noch Deutscher.« Und man kommt nach Deutschland, denkt gut, »Ich bin mal halt Deutscher und dann wird man als Ausländer abgestempelt.« Und dann kommt man zu sich. Also, das ist immer so ein hin und her eigentlich. Man wird immer hin und her geworfen. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Dennoch oder gerade deshalb empfindet Serkan sich als zwischen beiden Ländern stehend. Er schildert ein »Hin und Her« zwischen Fremdzuweisungen und Anforderungen, die er zu vereinen versuche. Nach einer kurzen Rede-

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pause beschreibt Serkan sein Gefühl weiter und artikuliert sein Interesse an türkischer Geschichte: Er sehe sich doch mehr als Türke denn als Deutscher. Aber mein Schwerpunkt ist doch noch die Türkei, dann mich interessiert auch nur die türkische Politik usw. Also an der deutschen Politik habe ich jetzt kein großes Interesse. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Auch Serkan bekundet, an der deutschen Politik weniger Interesse zu haben als an der türkischen. Er spüre eine Zerrissenheit, die er versuche durch eine Balance zu überwinden. Bei diesem Versuch komme es auch zu Konflikten mit deutschen Freund*innen. Viele Deutsche sagen ja auch – ich werde jeden Tag damit konfrontiert, wenn ich Türkisch mit einem Freund rede, wird gesagt: »Wir sind in Deutschland, rede Deutsch!« Dann sage ich: »Wir leben aber nicht mehr in Nazi-Deutschland, wo alles verboten war.« Dann werden die wütend. Ich provoziere sie extra, damit sie dieses Gefühl haben. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll? Damit sie auch meine Gefühle verstehen! Und viele denken unter Integration Assimilation. Daher sage ich: Integration ist nicht Assimilation. Man kann sich seine eigene Kultur bewahren, wir müssen sie auch ausleben und wir müssen sie aber auch anpassen an die andere Kultur. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkan beschreibt hier eine alltägliche stigmatisierende Erfahrung in der Schule. In solchen Situationen reagiere er mittlerweile offensiv und provokant, um den anderen (autochthonen Freund*innen) einen Einblick in seine Gefühlswelt zu geben und sie zum Nachdenken anzuregen. Auf die Frage, ob er die Balance in der Türkei leichter herstellen könne, reagiert Serkan bedächtig. Dies komme auf den Ort und die Umgebung an. Auch in der Türkei sei es nicht überall einfach. Izmir sei zum Beispiel eine weltoffene westlich orientierte Stadt und biete daher diese Möglichkeit. Serkan sucht nach einem Ort in der Türkei, der seiner Ansicht nach Deutschland am nächsten komme. Dennoch bezeichnet er sich selbst als Türke, da er sich in Deutschland als Ausländer fühle. Genau, wie sehr ich mich auch anstrenge, mich zu integrieren, werde ich immer nur abgestempelter als Ausländer. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkan ist geprägt von dem Bewusstsein, dass egal wie sehr er sich auch um Integration bemühe, seine Anstrengungen stets einseitig blieben und ihm eine vollständige Akzeptanz verwehrt bleibe. Als einziger Befragter erzählt Serkan von der Diskriminierung durch Lehrer*innen. Bei seinen Versuchen, diese

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Diskriminierung offensiv anzugehen, sei er gescheitert. In seiner Erzählung tritt Serkans Frustration deutlich zu Tage. Thematisch erneut auf deutsche Politik bezogen formuliert Serkan seine Sympathie für die SPD, aber auch die Möglichkeit, dass er sich im Wandel der Ereignisse anders orientieren könnte. Ich finde das sozialdemokratische Konzept gut. Wenn die Partei eine schlechte Führung oder ein schlechtes Konzept hätte, würde ich sie nicht wählen. Aber ich halte es mir offen, meine Meinung noch zu ändern, je nachdem. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkans Ausführungen lassen vermuten, dass er über umfangreiches Wissen verfügt. Der Blick auf die Ergebnisse des Wissenstests zeigen, dass er mit 17 von 20 möglichen Punkten eine der höchsten Punktzahlen erreicht hat. Der Gymnasiast war zudem der einzige der befragten Schüler, der den Begriff Geschichtsbewusstsein kannte. Auf Nachfrage erklärt er, er habe den Begriff »aufgeschnappt«. Serkans Verständnis nach liegt der Sinn von Geschichte in der Orientierung, die man aus ihr für die Zukunft erlangen könne, sowie in der Kenntnis der eigenen »Wurzeln«. Da ihm diese Beschreibung nicht auszureichen scheint, fügt er auf Türkisch hinzu: »Ner(e)den nereye« (woher – wohin). Damit spielt er nicht nur auf die Konstruktion kausaler Zusammenhänge an, sondern auch auf Vorstellungen komplexer Strukturen von Geschichte, die oft erst retrospektiv erkannt werden können. Für Serkan ist Geschichte nicht nur wichtig, um die Vergangenheit verstehen zu können, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft. Geschichte, so Serkan, sei wichtig für die Bildung: Ohne sie könne man nicht denken. Auf die Frage nach den Quellen seines historischen Wissens verweist Serkan auf seine Eltern, die unterschiedlichen politischen Ausrichtungen folgten und daher unterschiedliche Geschichten erzählten. Aus der Familie. Also, das linksgerichtet Wissen habe hauptsächlich von meiner Mutter. Und über das Osmanische Reich, das eher patriotische Wissen, habe ich von meinem Vater. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkan gibt an, in politischen Diskussionen mehrheitlich mit den linken Positionen seiner Mutter zu sympathisieren. Serkan: Ich stehe dazwischen, aber ich habe mich für die linke Seite entschieden. Ganz freiwillig. Wir diskutieren das aber oft mit meinem Vater. Frage: Musstest du dich entscheiden? Serkan: Das entsteht durch die Diskussionen. Da dachte ich, dass passt. Ich sympathisiere damit mehr. Das kam auch durch eine Serie im Fernsehen im türkischen Fernsehen um Ereignisse der 60er Jahre in der Türkei. Es begann bei Menderes und endete

5. Wir sind Elif bei Deniz Gezmiș. Das hat mir sowohl die linke als auch die rechte Seite gezeigt. Dann hab’ ich mich da sozusagen entschieden.23 [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Die Diskussionen über historisch politische Ereignisse in der Türkei sowie deren unterschiedliche Deutungen, so Serkan, hätten ihm beigebracht, Empathie für gegensätzliche Ansichten zu entwickeln. Die elterlichen Vorbilder hätten ihn befähigt, über historisch-politische Ereignisse und Geschichte zu diskutieren und somit Deutungen auszuhandeln. Serkan formuliert hier nachdrücklich, dass sein Geschichtsbewusstsein und sein diskursiver Umgang mit Geschichte durch sein enges soziales Umfeld gefördert wurden. Trotz seiner dargestellten Frustration durch einseitige Anpassungserwartungen in seinen vorherigen Äußerungen beschreibt auch Serkan Integration als Anpassung an eine »fremde Kultur«. Er kritisiert gleichzeitig die Versäumnisse des deutschen Staates bei der Integration und bemängelt den immer noch vergleichsweise geringeren Bildungszugang von Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Integration bedeutet für mich. Also allgemein bedeutet es die Anpassung an eine fremde Kultur. So sehe ich das auch. Also, die ersten Türken kamen als Gastarbeiter hier nach Deutschland. Der deutsche Staat hat gemeint, die bleiben nicht und brauchen keine Bildung. Dann blieben die fünf Jahre und die deutsche Regierung meinte immer noch, die brauchen keine Bildung und Kinder auch nicht, die gehen wieder zurück. Aber das war nicht so. Deshalb hat die zweite und erste Generation keine richtige Bildung – also Schulbildung. Und das hat Auswirkungen auf uns (dritte Generation). Viele von meiner Generation sind auf einer schlechteren Schulform. Nur wenige haben Zugang zu einer guten Schulbildung und allgemein zur Integration. Viele Deutsche sagen ja auch – ich werde jeden Tag damit konfrontiert, wenn ich Türkisch mit einem Freund rede, wird gesagt: »Wir sind in Deutschland, rede Deutsch!« Dann sage ich: 23 | Zwischen 1962 und 1980 war die politische Lage sehr instabil. Hervorgerufen wurde dies durch den Militärputsch von 1960. Die stark wechselnden Mehrheiten und Neuwahlen sowie der Einfluss des Militärs stellten einen Nährboden für die Ausbildung extrem linker und rechter Parteien und Gruppierungen dar. Ende der 1960er Jahre nahmen sowohl der linke als auch der rechte Terror zu und die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zunehmend. Zu dieser Zeit wurde auch die nationalistische MHP (siehe Anm. 188, Kapitel 4.7.3.1) gegründet, aus der die Grauen Wölfe hervorgingen. Am 12. März 1971 griff das Militär ein, ohne zu putschen. Es erzwang Reformen und kurz vor der Zypernkrise 1974 wurde die erste islamistische Partei gegründet. Bis Ende der 1970er Jahre nahmen Straßenkämpfe zwischen politischen Gruppierungen teilweise bürgerkriegsähnliche Züge an. Die Unruhen wurden erst durch einen weiteren Militärputsch 1980 beendet.

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Der Diasporakomplex »Wir leben aber nicht mehr in Nazi-Deutschland, wo alles verboten war.« Dann werden die wütend. Ich provoziere sie extra, damit sie dieses Gefühl haben. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Damit sie auch meine Gefühle verstehen! Und viele denken unter Integration Assimilation. Daher sage ich: Integration ist nicht Assimilation. Man kann sich seine eigene Kultur bewahren, wir müssen sie auch ausleben und wir müssen sie aber auch anpassen an die andere Kultur. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkan ist der Meinung, dass Integration nicht notwendigerweise Assimilation bedeute. Man könne und solle seine eigenen kulturellen Traditionen bewahren, sich aber gleichzeitig anpassen. Da diese Anpassungserwartung jedoch nur einseitig von der Mehrheitsgesellschaft an Personen mit Migrationshintergrund gerichtet sei, gelinge die Integration nicht, was ihn persönlich sehr frustriere. Zu einer mangelnden Integration trügen aber auch religiöser Fundamentalismus sowie christliche Feindbilder bei. Seine eigene Identität zu finden, sei für Serkan ein Prozess des »Hin und Her«. Die eigene Identitätsfindung sei »ein Weg«, auf dem er sich noch befinde und der Irritationen und Herausforderungen bereithielte. Zum ersten Mal habe er diese in der Grundschule beim Beten vor einem Kruzifix wahrgenommen. Zu seiner eigenen historischen Identitätskonstruktion könne der Geschichtsunterricht in der Schule nichts beitragen, da er kaum Themen behandle, die ihn interessierten. Für ihn als Aleviten seien hingegen religionsgeschichtliche Entwicklungen wichtig. Der Konflikt zwischen Sunniten und Aleviten bringe ihn in die Bedrängnis, seine alevitische Identität je nach Gruppenkonstellation bewahren, verstecken und zeigen zu müssen. Atatürk sei es jedoch gelungen, verschiedene ethnische Gruppen in der Türkei zu vereinen, indem er eine türkische Identität gestiftet habe, unter der sich alle hätten zusammenfinden und entfalten können. Dadurch habe er der heterogenen Bevölkerung eine Heimat gegeben, auf die alle stolz sein könnten. Serkans Einblick in die identitätsstiftenden Ziele einer türkischen Geschichte stellen in der Untersuchung eine Ausnahme dar. Andere Schüler*innen waren weder in der Lage, so detailliert Ziele von Geschichte zu beschreiben noch ihre (auch nur annähernd so eloquente) Ansicht zu artikulieren, dass sie ihre im Hintergrund wirkende Diasporageschichte als Fortführung der türkischen Geschichte begreifen. Frage: Wie findest du die Verehrung Atatürks in der Türkei? Serkan: Eigentlich gut, weil er stiftet türkische Identität und vereint die verschiedenen Ethnien in der Türkei. Wir haben dann etwas, auf das wir stolz sein können und wir verdanken ihm unser Heimatland. Mit unser meine ich nicht nur die Türken! [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

5. Wir sind Elif

»Die Deutschen« kommentiert Serkan, hätten in ihrer Geschichte viele Fehler begangen und könnten daher nicht mehr patriotisch sein. Auf die abschließende Frage nach seinen Kenntnissen über den Genozid an den Armenier*innen fordert er eine wissenschaftliche Aufklärung der historischen Ereignisse. Serkan ist ein Schüler, bei dem sich sowohl kritische als auch genetische Erzählformen feststellen lassen. Seine Entscheidung, sich letztendlich als Fremder in Deutschland zu verorten, ist nicht so eindeutig, wie Savaş sie formuliert. Vielmehr werden in seinen Ausführungen Ansätze und Denkformen deutlich, die eher eine interkulturelle und im Ausblick sogar die Fähigkeit zu einer transkulturellen Identitätskonstruktion anklingen lassen. Serkan befindet sich im Übergang zwischen kritischer und genetischer Sinnbildung. Dies korrespondiert mit dem Übergang zwischen der Fremdheit in der Diaspora und einer interkulturellen Identitätskonstruktion, in dem er sich ebenfalls befindet. Serkans historisches Orientierungsbedürfnis wird in seiner Familie gefördert. Diese ermöglicht ihm einen diskursiven Umgang mit Geschichte, unterschiedlichen Deutungen und Orientierungsangeboten. Seine Reflexion des doppelt semi-historischen Bewusstseins verstärkt seine kritische gesellschaftliche Wahrnehmung. Ja, schon. Die ersten Gastarbeiter kamen ja nach Deutschland und ihre Identität – sie haben sich angegriffen gefühlt, denn die Sprache und die Kultur war völlig fremd. Sie haben sich bestimmt in ihrer Identität angegriffen gefühlt. Im Nachhinein, also die Folgegeneration, hat sich bestimmt auch angegriffen gefühlt, weil die Gegenseite wieder, auch diese andere Seite nicht akzeptiert. Es entstand keine Akzeptanz, keine Akzeptanz der Identität. Deswegen ist es zu Identitätskonflikten gekommen. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Er kann nicht auf ähnliche Strategien zurückgreifen, wie etwa Berk, der sich auf eine Abstammungsgemeinschaft bezieht und sich in Nachahmung in dieser verortet. Gleichzeitig positioniert sich Serkan sehr kritisch gegenüber extremen oder fundamentalistischen religiösen Ansichten. Extrem religiöse Personen bewertet Serkan als nicht integriert, obwohl er sich zu Beginn des Interviews selbst als sehr religiös definiert. Serkan: Ja, z.B. die strengen Religiösen. In unsere Familie haben wir auch eine. Sie provoziert mich gerne. Ich habe beispielsweise Atatürk als Profilbild bei WhatsApp. Sie, ich werde zwar nicht wütende, aber sie schickt mir immer Bilder von Gebetsräumen oder religiösen Persönlichkeiten etc. Sie will mich vielleicht bekehren, aber sie spamt mich damit zu. Frage: Ist dies ein Zeichen von Desintegration?

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Der Diasporakomplex Serkan: Sie ist nicht integriert. Sie akzeptiert nicht die Christen, nicht den Papst. Sie macht das nicht. Sie schickt mir verfremdete Bilder vom Papst, dass er sehr unglücklich sei über die Unruhen in der Türkei usw. [Interview Serkan, Q2IF, Gymnasium II] 

Serkans Diasporakomplex und seine Diasporageschichte werden durch seine Einsicht in die Komplexität historischer Verflechtungen zwar relativiert und fallen im Vergleich zu anderen Befragten geringer aus, aber auch Serkan kann sich nicht von ihnen befreien. Obwohl er von ähnlich diskriminierenden Erfahrungen berichtet wie Duygu, etwa von den Zuschreibungen, Almancı zu sein, ist Serkan bemüht, auf diese Zuweisungen reflektiert und offensiv zu reagieren. Sein reflektierter und selbstreflexiver Umgang mit Geschichte steht im engen Zusammenhang mit seiner reflektierten und selbstreflexiven historischen Identitätskonstruktion und einer entsprechenden Kommunikation. Demgemäß differenziert fallen Serkans Ansichten über Integration aus. Eine emotionale Identifikation mit Deutschland gelingt ihm dennoch nicht, er bleibt strukturell assimiliert. Trotz seiner Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration bleibt ihm diese durch die Mehrheitsgesellschaft verwehrt. Wie die Mehrzahl der untersuchten Schüler*innen macht Serkan Stigmatisierungserfahrungen und erfährt Fremdzuweisungen, die ihn exkludieren. Trotz seiner ansatzweise transkulturellen Kompetenz bleibt Serkan ein Außenseiter: er passt weder in die Vorstellungen einer türkischen Diasporagemeinschaft, noch kann er einen religiösen Fluchtraum wählen (der für ihn als »besonderer« Alevit auch stets mit Konflikten behaftet wäre) oder einen politischen Zufluchtsraum finden, der ihn von den Balanceanforderungen verschont. Die einzige Möglichkeit besteht für ihn darin, sich als bewusster und transkultureller Paria außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Möglichkeiten für Jugendliche mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zu verorten und seine Identität allein durch seine eigene kritische-genetische historische Reflexion zu konstruieren.

5.3.5 Vergleich der Fallbeispiele Die vorgestellten Fallbeispiele stehen beispielhaft für die vier gebildeten Typen der historischen Identitätskonstruktion. Sie unterscheiden sich hinsichtlich des Umgangs mit Geschichte (Geschichtsbewusstsein), der Identitätsbildung sowie des Umgangs mit Integration. Die vier portraitierten Schüler*innen dürfen allerdings nicht als Beispiele für eine Art Rangordnung verstanden werden. Vielmehr sollen sie verdeutlichen, wie stark die Identitätskonstruktion und der Umgang mit Integration vom Geschichtsbewusstsein abhängig sind. Alle Fallbeispiele bewegen sich im Spannungsfeld des doppelt semi-historischen Bewusstseins. Dieses scheint also nicht – wie in den theoretischen Vorüberlegungen (Abbildung 3) vermutet – eine Nullhypothese, sondern der Normallfall

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zu sein! Die befragten Jugendlichen erfahren in ihrem Leben die Krise, die eingangs für Elif beschrieben wurde. Sie fühlen sich gesellschaftlich ausgeschlossen und suchen nach Identitätsangeboten, die ihnen eine konfliktlose Zugehörigkeit ermöglichen. Sie versuchen dennoch auf ihre je spezifische Weise, sich im Niemandsland zu verorten. Hierbei spielen zwei wesentliche Elemente eine Rolle. Zum einen erzählen alle vier Jugendlichen eine Diasporageschichte, die teilweise bis in das Osmanische Reich zurückreicht und aufgrund derer die eigenen Großeltern als Gastarbeiter*innen nach Deutschland kamen. Dazu gehört die Vorstellung, dass das Niemandsland (in dem sich Elif befindet, Abbildung 3) eine Art türkische Diaspora ist. Zum anderen dient die traditionale Diasporanarration der Legitimation und Weitererzählung einer Ursprungsgeschichte, die die Schüler*innen übernehmen können und in die sie sich einfügen könnten. Diese traditionale Erzählung ermöglicht es ihnen aber gerade nicht, sich mit der Mehrheitsgesellschaft zu identifizieren, da ihre spezifische, ihre eigene Geschichte eine andere ist als die deutsche Geschichte. Ihre eigene Geschichte ist jedoch auch nicht die eines/einer Migrant*in (erste Generation), der nach seiner Wanderung sich in einer Diaspora wiederfindet. Denn festzuhalten bleibt: Jugendliche der dritten Generation sind keine Migrant*innen. Sie sind weder migriert, noch haben sie eine Migrationsentscheidung getroffen. Sie sind Nachgeborene von Migrant*innen und tragen als solche die Folgen der Migrations- und Auszugsentscheidung als Erben. Diaspora kann im diesem Sinne auch für Angehörige der dritten Generation als Sehnsucht nach einer Heimat verstanden werden. Allerdings ist es nicht die eigene Heimat, sondern die der migrierten Vorfahren. Die Jugendlichen der dritten Generation besitzen in diesem Sinne keine Heimat! Dennoch teilen sie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Die einzige Zugehörigkeit, die sie ohne Ausgrenzung erfahren können, ist die einer Minderheit, die dasselbe Schicksal teilt. Hier kommt der entscheidende Unterschied zwischen den Typen (5.1) und den Fallbeispielen (5.2) zum Vorschein: die individuell unterschiedlichen Fähigkeiten der historischen Sinnbildung stehen im engen Zusammenhang mit der Konstruktion der individuellen (historischen) Identität. Schüler*innen, die vorwiegend traditional oder traditional-exemplarisch Sinn bilden, verorten sich als in Deutschland lebende muslimische Türk*innen, die sich strukturell anzupassen versuchen, sich aber vor allem auf traditionell-kulturelle und traditionell-religiöse türkischen Werte beziehen. Jugendliche, die hauptsächlich exemplarisch bzw. exemplarisch-kritisch Sinn bilden, versuchen hingegen durch die Suche nach Gemeinsamkeiten sowie durch Verständigung zwischen deutscher und türkischer Geschichte eine bikulturelle oder interkulturelle Identität zu bilden, die es ihnen ermöglicht, beide kulturellen und historischen Bereiche ihrer Umwelt miteinander zu verbinden. Sie sind bemüht um strukturelle Anpassung sowie um eine Identifikation mit ausgewählten Werten, die nicht im Widerspruch zur säkularen türkischen Kultur stehen. Schüler*innen de-

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ren historische Sinnbildung mehrheitlich kritisch ist, können und wollen sich wiederum keiner Zuschreibung fügen. Sie sind bemüht, ihre Individualität vor allem durch den eigenen Widerspruch und die Konstruktion individueller Identifikationen auszubilden. Schließlich entwickeln Jugendliche, die vor allem kritisch-genetisch oder genetisch Sinn bilden, ihre Identität in erster Linie durch ihre Diskursfähigkeit. Das ernüchternde Fazit des Vergleichs der Fallbeispiele ist, dass keiner der vier Typen als integriert angesehen werden kann. Alle vier Typen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zur Identifikation. Letztlich kann aber keiner der vier Typen diesen Zustand erreichen, da die Aufnahmegesellschaft ihren Beitrag zum Integrationsprozess nicht leistet, ihnen Teilhabe und Anerkennung verweigert.

6. Methodendiskussion Die Beschreibung und Reflexion meines methodischen Vorgehens und meiner theoretischen Konzeption habe ich in meinen Darstellungen bereits dargelegt. Dennoch bedarf es einer abschließenden Gesamtreflexion aus der Ergebnisperspektive, die auch einen Ausblick miteinschließt, um grundsätzliche Vorgehensweisen und Forschungsentscheidungen transparent zu hinterfragen. Die Erkundung des Zusammenhangs zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration bei Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund erforderte ein komplexes, mehrphasiges Erhebungsdesign. Das Mixed-Methods-Verfahren sollte die Vielzahl und Komplexität der Erhebungsvariablen mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden erfassen, die dann in der Triangulation zusammengeführt wurden. Die Pilotphasen dienten wie in Kapitel 4.4 beschrieben dazu, die Erhebungsinstrumente zu testen und für das Feld und das Sample anzupassen. Rückblickend betrachtet hätten die Erhebungsinstrumente auch nach den zwei Pilotphasen noch weiter verbessert werden können. Der eingesetzte Fragebogen beispielsweise hätte sprachlich prägnanter formuliert werden können. Inhaltlich hätte er stärker auf das Interesse der Schüler*innen an Geschichte und Geschichtsunterricht und auf ihren familiären Umgang mit Geschichte sowie auf Ansätze der individuellen Identitätskonstruktion eingehen können. Hierfür hätte der Fragebogen um eine kurze schriftliche Aufgabenstellung erweitert werden können, die mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse hätte ausgewertet werden können. Die wiederum hätte den zeitlichen Aufwand bei der Bearbeitung erhöht und wieder zum eingangs geschilderten Problem der Überlänge führen können. Insgesamt erwiesen sich die Fragebogenitems als geeignet, um die gewünschten Integrationsindikatoren zu erheben und erste Einsichten in die Kompetenzen historischen Denkens der Jugendlichen zu erhalten. Der Wissenstest ist zwar nicht repräsentativ, lieferte aber trotz seiner Fokussierung auf die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert Ansätze für einen Vergleich nach Schulformen. Eine zusätzliche Sprachstandsfeststellung – etwa über eine in den Fragebogen integrierte Aufgabenstellung – hätte die empirische Grundlage für eine

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Der Diasporakomplex

Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Sprache, Geschichtsbewusstsein und Integration liefern können. Eine Untersuchung dieses Zusammenhangs hätte klären können, welchen (negativen) Einfluss sprachliche Defizite auf das historische Denken und die Integration besitzen. Darüber hinaus wären fruchtbare Ansätze für die Entwicklung eines sprachsensiblen Geschichtsunterrichts vorstellbar gewesen. Leider waren diese Erkundungen im Rahmen der Studie, die als Dissertationsstudie durchgeführt wurde, nicht möglich. Die Methode der Gruppendiskussion konnte nicht immer gleich erfolgreich umgesetzt werden. Nicht immer gelang es, ein selbstläufiges Gespräch zu generieren. An der Hauptschule begann die Diskussion sehr zögerlich, ebenso in einer Gruppe am Gymnasium. Zu den Faktoren, die eine Gruppenbefragung stark beeinflussen können, gehören eine geringe Diskursfähigkeit der Teilnehmer*innen, zu wenig methodische Übung in Diskussionen, das Beachten von Rederegeln sowie persönliche Animositäten zwischen den Befragten. Das dominante Auftreten einiger Teilnehmer*innen kann andere Teilnehmer*innen einschüchtern. Die zusätzlichen Einzelbefragungen ergänzten die Gruppenbefragung insofern, als sich hier alle freier äußern konnten. Die in der schriftlichen Einzelbefragung formulierte Aufgabenstellung hatte im Rückblick keinen eindeutigen Erwartungshorizont. Eine detaillierte Aufgabenstellung, die explizit zur Begründung und Herleitung der Bildauswahl anhält, hätte vermutlich substanziellere und umfangreichere Aussagen hervorrufen können. Die Interviewdurchführung hätte durch eine unbeteiligte, aber fachlich und methodisch erfahrene, Person erfolgen können, um mein persönliches Einwirken in die Erhebung zu minimieren. Leider war dies im Rahmen der Studie nicht möglich. Die Leitfäden für die Einzelinterviews basierten auf den Fragen des Fragebogens. Dieses Vorgehen erwies sich als erfolgreich: Spontane Antworten der Schüler*innen in den Fragebögen konnten so reflektiert werden, was zum Auf bau eines Vertrauensverhältnisses beitrug. Zugleich zeigen die Interviews, dass mit einer quantitativen Erhebung stets nur eine Momentaufnahme möglich ist. Viele Jugendliche veränderten oder differenzierten ihre Aussagen von der quantitativen zur qualitativen Befragung. Das kann am dialogischen Prozess liegen, auch eine Beeinflussung durch meine gezielten Nachfragen kann nicht ausgeschlossen werden. Die Vorteile der gegenseitigen Ergänzung von quantitativen und qualitativen Erhebungsmethoden, also die Stärke des Mixed-Methods-Verfahrens, zeigte sich offensichtlich. So konnte beispielsweise im Fragebogen nach der eigenen Selbstbezeichnung und staatsbürgerlichen Zugehörigkeit gefragt werden, aber erst im Interview das Antwortverhalten hinterfragt und erklärt werden. Ein weiteres Beispiel betrifft die im Fragebogen erhobene außerschulische Interaktion zwischen Autochthonen und Nicht-Autochthonen. Auch hier konnten Schüler*innen im Interview ihr enges soziales Umfeld beschrei-

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ben, wodurch weitere Einblicke in die Ebene der gesellschaftlichen Integration möglich wurden. Die Interviews ermöglichten einen dezidierten Einblick in die historische Identitätskonstruktion der Schüler*innen. Die Jugendlichen konnten ihre Einstellungen sowie Vorstellungen von Geschichte und Integration formulieren. Das Eingehen auf den familiären Hintergrund ermöglichte Einblicke in die familiären Strukturen sowie den familiären Umgang mit Geschichte. Einen besonders positiven Effekt hatte die Mehrsprachigkeit der Interviews. Die Möglichkeit, Antworten auch auf Türkisch zu geben, führte bei Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zu einem besonders offenen Umgang, da diese sich vermutlich sprachlich und kulturell verstanden fühlten. Ich hatte den Eindruck, dass sie annahmen, mit mir eine Gesprächspartnerin zu haben, die ihr kulturelles Grundverständnis sowie gewisse Erfahrungen teilt und ihnen Empathie entgegenbringt. Zugleich trat bei autochthonen Schüler*innen ein fast gegensätzlicher Effekt auf: Diese waren sichtlich um sozial erwünschte Antworten sowie eine »politisch korrekte« Sprache bemüht. In einigen Gesprächen mit autochthonen Befragten zeigten sich diese anfangs unsicher gegenüber mir als Gesprächspartnerin. Es ist anzunehmen, dass diese Unsicherheit aus der Vorannahme der autochthonen Befragten resultierte, ich hätte eine Erwartungshaltung an die Antworten im Sinne einer political correctness zu dem Thema Integration und gesellschaftlicher Umgang mit Migration. Die kategoriale Inhaltsanalyse erwies sich als gut geeignet für die Auswertung qualitativ erhobener Daten. Die Setzung deduktiver, theoriebasierter Codes und Sub-Codes sowie deren induktive Erweiterung ergänzte auch die Analyse der theoretischen Grundannahmen über das formulierte Vorverständnis hinaus. Dieser Schnittpunkt zwischen Theorie und Empirie erlaubte mir einen anschließenden Rückbezug der Empirie auf die Theorie und einen Ausblick für die Praxis. Der Codierungsprozess wurde teilweise dadurch erschwert, dass Aussagen der Schüler*innen wenig zusammenhängend waren. So sprang der Hauptschüler Fatih in seiner Erzähl- und Gedankenfolge häufig ohne einen zunächst erkennbaren Sinnzusammenhang. Eine Deutung und Kategorisierung der historischen Sinnbildungsformen war nur mit Blick auf den Gesamtkontext des Gesprächs, auf die vorangegangene Gruppenbefragung sowie auf die Ergebnisse der Befragung mittels des Fragebogens möglich. Schüler*innenaussagen, die die Gesamtheit der theoretisch vorformulierten Merkmale einer historischen Sinnbildung (Rüsen) erfüllten, waren schwer zu lokalisieren. In mehreren Fällen waren nur Anteile für eine Klassifizierung gegeben, die eine Tendenz der Erzählform markierten. Da die narrativen Fähigkeiten der befragten Schüler*innen sich mitunter stark unterschieden, konnte die inhaltsanalytische Codiereinheit nicht

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Der Diasporakomplex

minimal als Proposition gefasst werden, sondern wurde als maximale Kontexteinheit gesetzt. Aussagen konnten also nicht sequenziell interpretiert, sondern mussten stets im Gesamtzusammenhang der Erhebung kategorisiert werden. Eine minimale Proposition oder eine sequenzielle Analyse des Materials, die allein die Fundstellen des Materials berücksichtigt, wäre wenig erkenntnisbringend gewesen. Dies schließt die quantitative Erhebung mit ein. Mithilfe der Triangulation der methodisch unterschiedlich erhobenen Einzelergebnisse wird eine adäquate Beantwortung der Forschungsfragen und eine Generierung von Antworten sowie eine Theorierückbindung erst möglich. Das angestrebte paritätische und nominal gleichverteilte Sample nach Schulform und Migrationshintergrund konnte nicht gebildet werden. Der Feldzugang wurde durch die große Skepsis gegenüber empirischen Studien vor allem an den angefragten Hauptschulen und Gymnasien enorm erschwert. Auch das Misstrauen vieler autochthoner Hauptschüler*innen konnte trotz des hohen Engagements der Lehrer*innen sowie von meiner Seite teilweise nicht überwunden werden. So konnte ich leider keine autochthonen Hauptschüler*innen für eine qualitative Befragung gewinnen. Trotz der hohen Beteiligung an der quantitativen und qualitativen Erhebung bleibt dieses Defizit bestehen.

7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden unterschiedliche Methoden der empirischen Sozialforschung angewandt. Die gewonnenen Daten wurden sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet und anschließend trianguliert. Dieses Fazit soll prägnante Befunde zum Geschichtsbewusstsein, zur Identitätskonstruktion sowie zur Integration von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund darlegen, die eine Beantwortung der primären Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration erlauben.

Integration von Schüler*innen der dritten Generation mit Migrationshintergrund Die Auswertung der quantitativen Daten zeigt, dass Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die theoretischen Bedingungen für eine soziale Integration wie (Ak-)Kulturation, Platzierung und Interaktion erfüllen. Bis auf Savaş, der die Interaktion mit Autochthonen außerhalb der Schule bewusst ablehnt, kann bei allen befragten Schüler*innen von einer strukturellen Assimilation ausgegangen werden. Diese umfasst die kognitive, strukturelle und gesellschaftliche Integration (Abbildung 2). Von einer kulturellen oder emotionalen Integration – also einer Identifikation – kann jedoch auf Grundlage der ausgewerteten Daten nur bedingt die Rede sein. Auffallend ist zunächst, dass sich die Jugendlichen mit Migrationshintergrund trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit selbst nicht als Deutsche bezeichnen. Des Weiteren fällt die Ambivalenz im Gebrauch der Begriffe Heimat und Zuhause auf. Beides zeigt, dass aus der rechtlichen Gleichstellung keine gesellschaftliche Anerkennung oder Teilhabe folgt.1 Vielmehr ist das Kriterium Staatsangehörigkeit für die Selbst- und Fremdzuschreibungen der 1 | Nach Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, S. 12, 27, befinden sich klassische Formen des Nationalstaats in der Auflösung. Habermas führt in diesem Zusammenhang den Begriff des Verfassungspatriotismus ein, der besagt, dass die

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Der Diasporakomplex

Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nur bedingt wirksam. Der Integrationsprozess dieser Gruppe ist auch in der dritten Generation noch nicht abgeschlossen. Um es kurz zu sagen: Ein deutscher Pass macht eine Person in der gesellschaftlichen Realität noch nicht zu einer deutschen Person. Die Selbst- und Fremdzuschreibungen von Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sind stark durch die Zuwanderungsgeschichte ihrer Großeltern, also die Migrationserfahrungen der ersten Generation, bestimmt. In diesem Zusammenhang werden die Begriffe mit Migrationshintergrund, Ausländer*in und Nicht-Deutsche meist synonym verwandt. Nach Michel Foucault bildet ein Diskurs »Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«, ab.2 Folgt man dieser Sichtweise, so ist die Sprachanalyse ein Teil der Gesellschaftsanalyse. Sprache macht im Sinne eines Symbolsystems kollektiv produzierte Sinnkonstrukte und Wissen zugänglich.3 Obwohl Deutschland de facto eine Migrationsgesellschaft ist, erkennt die hegemoniale Mehrheitsgesellschaft Personen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund auch in der dritten Generation nicht als selbstverständliche Mitglieder, Teilhaber*innen und Mitgestalter*innen einer als deutsch verstandenen Gesellschaft an. Eine Distinktion und Ethnisierung des Anderen, die Unterscheidung zwischen eingewanderten Fremden und dem wir der autochthonen Deutschen scheint nach wie vor Handlungs-, Denk- und Sprachmuster zu bestimmen. Auch den Diskursen über Deutschland als Einwanderungsland ist ein Bild immanent, in dem Fremde oder Andere in ein bestehendes Kollektiv eindringen – und nicht eine Vorstellung von weiteren Mitgliedern einer transkulturellen Migrationsgesellschaft, die selbstverständlich Teil dieser werden (können). Das Sprechen über Mitschüler*innen mit Migrationshintergrund oder über Migrant*innen im Allgemeinen folgt den Strukturen des Sprechens über Ausländer. Es handelt sich um Stereotype des Sprechens, also um bewusst oder unbewusste Zuordnungen.4 Hinzu kommt eine Markierung durch Fremdzuweisungen und Betonungen wie türkische*r Schüler*in. Die Funktion des Zusatzes türkisch liegt in der Differenzierung von Deutschen und damit in der Staatsangehörigkeit nicht mehr eine Sache der nationalen Identität sei, sondern der Sozialisation in eine gemeinsame politische Kultur. 2 | Foucault: Archäologie des Wissens, S. 74. 3 | Siehe dazu Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver: Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, S. 7. 4 | Vgl. Jung/Wengler/Böke: Die Sprache des Migrationsdiskurses. Vgl. dazu Höhne: Pädagogik der Wissensgesellschaft, S. 169: »Dies kann so weit gehen, dass sich das eigen und fremd als epistemische Figuren behaupten, das heißt die Dichotomie und ihre inhaltliche Besetzung konstituieren das Weltwissen und die Wahrnehmung der Wirklichkeit.«

7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration

Distinktion. Durch diesen Prozess des Otherings werden In- und Out-Groups produziert.5 Die Forderung an die Anderen, sich anzupassen, wird so zu einem Mittel der Ethnisierung.6 Es ist anzunehmen, dass der religiöse (muslimische) Hintergrund dabei stets mitgedacht wird. Im Rahmen dieser Studie konnte dies jedoch nicht explizit untersucht werden. Bereits die verwendeten Begriffe und Bezeichnungen verweisen jedoch auf eine entsprechend mit gesellschaftlicher Distinktion konnotierte Bedeutung.7 Bei den genutzten Topoi (Sprachbilder) handelt es sich mit Rosa Favas Worten um »präsupponierte, implikative oder präzidierte Inhalte« eines »kollektiven Wissens«,8 das sich in der Selbstverständlichkeit der verwendeten Argumentations- und Denkmuster niederschlägt. Ein Topos unterliegt einer historischen Wandlung und veranschaulicht Deutungsmuster der jeweiligen Diskurse zu unterschiedlichen Zeiten.9 Topoi sind »Blöcke erworbener Meinungen«, die sich als sozialer Gedächtnisraum mit stereotypen Charak5 | Vgl. Spivak: Subaltern studies. Deconstructing historiography, S. 203-236; Dies.: The Rani of Simur. 6 | Vgl. Breuer-Al-Shomali: Vom »ausländischen Mitbürger« zur »schwarzen Sau«, S. 321. 7 | Die sprachkritische Sozialwissenschaft betont, dass viele sprachliche Figuren negative Konnotationen erzeugen oder transportieren, die in ihrer Konsequenz entindividualisierend wirken und das Bild einer bedrohlichen Masse produzieren. Eine derartige unsachgemäße Stereotypisierung, wie sie auch im sogenannten Migrant*innendiskurs gebräuchlich ist, konstruiert aus einer exemplarischen Darstellung Einzelner problematische Strukturen und Begebenheiten sowie abstrakte Zusammenhänge, die aufgrund ihrer exemplarischen Fundierung und Konkretheit stark persuasiv wirken. »In der Alltagslogik werden Beispiele als Beweis oder als Gegenargument akzeptiert und bilden einen festen Bestandteil des Sprechens über Migranten« und prägen sowohl Vorstellungen von als auch Einstellungen zu Migrant*innen. Siehe dazu Fava: Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, S. 26; Rettig: »Wenn zum Beispiel ein Ausländer…«. 8 | Fava: Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, S. 27ff. 9 | Dies lässt sich exemplarisch am Topos Integration zeigen. Seit den 1960er Jahren konstituierte die Rede von Migrant*innen diese als Subjekte und Objekte von Integration. Der ursprüngliche Sinngehalt des Wortes, Eingliederung, wandelte sich in den 1970er Jahren zu einem Diskurs über Zugehörigkeiten, die über Kultur und Identität bestimmt werden. In den 1980er Jahren wurde Einwanderung in parteipolitischen Machtkämpfen instrumentalisiert. Beispiele für die 1980er Jahre: Humanitäts-Topos (Wohlergehen der Einwanderer), Realitäts-Topos der politischen Linken (Deutschland ist ein Einwanderungsland.) Hierzu Wengeler: Topos und Diskurs, S. 519.

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terisierungen heterogener Themen (z.B. Türk*innen, Wohnung, Problem) zu einem abruf baren »Wissenskomplex« von Vorstellungen und Einstellungen vereinen.10 Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nehmen sich selbst mehrheitlich als »sehr religiös« oder »eher religiös« wahr. Bei autochthonen Jugendlichen ist die religiöse Identität geringer ausgeprägt. Auch bei der Bildungsnähe der Familien bestehen Unterschiede zwischen autochthonen und nicht-autochthonen Schüler*innen: Kein einziger der befragten Jugendlichen mit Migrationshintergrund stammt aus einem akademischen Elternhaus. Die Auswertung der qualitativen Erhebung (Gruppendiskussion, schriftliche Einzelbefragung und Einzelinterviews) bestätigt die geschilderten Ergebnisse. Im familiären und engeren sozialen Umfeld verwenden die Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund neben der deutschen Sprache auch die türkische. Sie sind deswegen nicht zwingend bilingual, doch zumindest beherrschen sie eine weitere Sprache, die sie nicht in der Schule erlernt haben. Inwieweit tatsächlich eine Bilingualität im Sinne eines doppelten Erstspracherwerbs vorliegt, konnte aufgrund fehlender Sprachstandstests nicht beantwortet werden. Mein subjektiver Eindruck der sprachlichen Fähigkeiten lässt hier aber zumindest Zweifel aufkommen. Jugendliche der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund haben ein großes Interesse an Geschichte. Dies gilt für Jungen stärker als für Mädchen. Auf die Frage nach wichtigen Ereignissen oder Personen nannten diese Schüler*innen besonders häufig Atatürk, den sie mit der Geschichte bzw. der Gründung der türkischen Republik gleichsetzen.11 Die nicht-autochthonen Jugendlichen gaben an, ihr Geschichtswissen auch aus dem familiären und engeren sozialen Umfeld zu beziehen. Dies gilt besonders für ihr Wissen über türkische Geschichte. Hier war das Interesse, vor allem an der Geschichte des Herkunftslands der eigenen Großeltern, besonders groß. Dieser Befund steht im Einklang mit den Ausführungen Hansens zur dritten Generation deutscher Einwander*innen in die USA im 20. Jahrhundert. Auch dieser beschrieb bei der dritten Generation ein gesteigertes Interesse an der Geschichte des Herkunftslands der ersten Generation.12 10 | Fava: Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft, S. 27ff.; Höhne: Die Thematische Diskursanalyse, S. 429f., 438. 11 | Die Erwähnung Atatürks kann durch die präsentierten Fotos ausgelöst worden sein. Ob Atatürk auch ohne diese genannt worden wäre, kann nicht beantwortet werden. Sagen lässt sich, dass bewusst Bilder ausgewählt wurden, die für die türkische bzw. osmanische Geschichte stehen, um das Interesse an beiden miteinander vergleichen zu können. 12 | Vgl. Kapitel 2.2.3.

7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration

Geschichte besitzt im sozialen Umfeld der Schüler*innen eine hohe persönliche und soziale Relevanz. Die Auswertung legt nahe, dass Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund historisch und politisch interessiert sind. Zumindest berichteten die befragten Schüler*innen von der Präsenz entsprechender Themen im familiären Alltag. Die Weitergabe von historischen Werthaltungen sowie von Identifikations- und Orientierungsangeboten scheint ein wesentlicher Teil der Erziehung zu sein. Ein Grund hierfür kann sein, dass Eltern zum einen aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und zum anderen aus Empathie und Fürsorge das Bedürfnis ihrer Kinder nach historischer Orientierung erkennen und befriedigen wollen. Im schulischen Geschichtsunterricht scheint dieses Bedürfnis zumindest bei den befragten Jugendlichen nicht ausreichend erkannt bzw. bedient worden zu sein. Dieser Befund gilt für alle Schulformen gleichermaßen. Der Vergleich nach Geschlecht zeigt jedoch Unterschiede: Schülerinnen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund artikulieren ihr Interesse an Geschichte weniger deutlich (46,8 Prozent) und seltener als ihre männlichen Mitschüler (74,2 Prozent). Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund besitzen ein geringeres historisches Interesse als Jungen. Da jedoch nicht gezielt nach unterschiedlichen Bereichen von Geschichte (z.B. Sozialgeschichte, Personengeschichte) gefragt wurde, kann dieses Ergebnis nicht genauer analysiert werden. Da bei der Befragung das angegebene Geschlecht lediglich zur Zuordnung verwendet wurde, Geschlecht als soziale Kategorie jedoch nicht gezielt erhoben und untersucht wurde, besitzen diese Befunde nur eine vergleichsweise geringe Aussagekraft. Zusammenfassend betrachtet zeigen Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Merkmale kognitiver, struktureller und gesellschaftlicher Integration. Der Theorie Hartmut Essers zufolge können sie damit als strukturell assimiliert gelten. Allerdings lassen sich kaum Indikatoren emotionaler und kultureller Integration nachweisen. Hinsichtlich der Integration lässt sich kein Einfluss der Schulform, des Geschlechts oder der generationellen Zugehörigkeit feststellen.

Geschichtswissen von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Die Ergebnisse des allgemeinen Wissenstests zeigen Unterschiede nach Schulform. Die Hauptschüler*innen erreichen im Schnitt weniger Punkte als die Realschüler*innen oder Gymnasiast*innen. Allerdings waren die Unterschiede vergleichsweise gering. Unerwartet war hingegen, dass die durchschnittlich erzielte Punktzahl (8,1) bei allen Schulformen der Note mangelhaft entsprach. Schülerinnen erreichten im Mittel eine geringere Punktzahl als Schüler. Die Mehrheit der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund er-

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reichte weniger als zehn von möglichen 20 Punkten. Zwei dieser Jugendlichen erreichten allerdings über 15 Punkte. Auch einer der im Test erfolgreichsten Schüler ist ein Jugendlicher der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (Serkan).

Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund Aussagen von Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund bedienten sich traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen Formen der historischen Sinnbildung. Bei autochthonen Schüler*innen ließen sich vor allem traditionale und exemplarische sowie vereinzelt ebenfalls kritische und genetische historische Sinnbildungen feststellen. In beiden Vergleichsgruppen waren traditionale Erzählformen am häufigsten. Als zweithäufigste Form folgte die exemplarische Sinnbildung. Kritisches und genetisches Erzählen treten weitaus seltener auf. Nur ein autochthoner Gymnasiast (Julius) erzählte punktuell kritisch. Bei Hauptschülern der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ließen sich kritische Sinnbildungsformen hingegen vielfach klassifizieren. Das kritisch-genetische Erzählen gelang im Rahmen der Befragung nur einem Gymnasiasten mit türkeibezogenem Migrationshintergrund (Serkan). Im Vergleich nach Schulformen war das traditionale Erzählen am Gymnasium besonders ausgeprägt. Der Vergleich nach Geschlecht zeigt, dass die befragten Schülerinnen sich nur traditionaler und exemplarischer Sinnbildungen bedienten. Insgesamt lässt sich aus den Analysen der Sinnbildungsformen schließen, dass Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund über eine größere Vielfalt an Erzählformen verfügen. Die Reflexions- und Selbstreflexionsfähigkeit einiger Proband*innen (z.B. Serkan, Duygu, Fatih) zeigte sich auch in der Beschreibung ihrer eigenen historischen Identitätskonstruktion sowie ihres Verständnisses von Integration. Die Analyse der Gruppendiskussionen ergab zwei Auffälligkeiten: Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund empfanden türkische Geschichte als Teil der deutschen Geschichtskultur, während autochthone Schüler*innen auf einer national-deutschen Geschichtskultur beharrten, an die sich Nichtautochthone anzupassen hätten. Die Schüler*innen ohne Migrationshintergrund besitzen im Vergleich zu den Schüler*innen mit Migrationshintergrund ein weniger kritisches historisches Bewusstsein. Dennoch begegnen auch sie dem Geschichtsunterricht mit großer Skepsis, da er nicht auf ihre lebensweltlichen Bedürfnisse eingeht. Obwohl sie kein existenzielles Bedürfnis an Geschichte erkennen lassen, deutet sich auch bei ihnen eine Suche nach Fluchträumen an.

7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration

Die problembehaftete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die ihnen eine unkomplizierte historische Identifikation mit der Nation verwehrt, wird umgangen und vermieden, indem sie sich auf die jüngste deutsche Geschichte beziehen. Mauerfall und Wiedervereinigung werden als deutsche Fortschrittsgeschichte attraktiv. Ein reflektierter und selbstreflexiver Umgang mit Geschichte ist bei der Ausbildung einer historischen Identitätskonstruktion nicht unbedingt erforderlich. Hierfür reichen traditionale und exemplarische Formen der historischen Sinnbildung aus. Da die autochthonen Jugendlichen – im Gegensatz zu den Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund – weniger bis keinen offensichtlichen Spannungen oder Krisen ausgesetzt sind, die eine kritische und selbstreflexive Auseinandersetzung erfordern würden, scheint die Entwicklung ihres Geschichtsbewusstseins von außen weniger forciert. Dies äußert sich auch in der geringeren Bedeutung historischer und politischer Themen im familiären Umfeld, von denen die autochthonen Schüler*innen berichten. Sämtliche befragten Jugendlichen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund zeigen, beschreiben, erklären, kritisieren oder reflektieren Merkmale eines doppelt semi-historischen Bewusstseins. Sie berichten von der Nicht-Akzeptanz sowohl durch die deutsche als auch durch die türkische Gesellschaft. Sie beschreiben Fremdzuweisungen, Diskriminierungen und Verortungsschwierigkeiten. Sie erachten historische Kenntnisse aus dem Geschichtsunterricht als nicht relevant für sich und ihr Leben und übernehmen stattdessen Deutungen und Wertungen der (türkischen) Geschichte aus ihrem familiären Umfeld. Darüber hinaus stellen sie Überlegungen über mögliche Auswege aus dieser Situation an oder kritisieren den Konflikt grundsätzlich. Dies geschieht vor allem in der Beschreibung ihrer eigenen Identitätskonstruktion sowie in ihren Reflexionen über ihr Verständnis von Integration. Hierbei fällt auf, dass die Schüler*innen nur selten ihre eigene sprachliche Kompetenz kritisch reflektieren, obwohl sie gleichzeitig die Relevanz von Sprachfähigkeiten als einer grundlegenden Bedingung für eine gelungene Integration betonen. Ein*e Schüler*in der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vertritt beispielsweise die Haltung, dass sie sich selbst erst zu einem Teil der Gesellschaft machen müsse und nicht davon ausgehen dürfe, könne oder solle, per se als Teil der Gesellschaft angesehen und anerkannt zu werden. In diesem Sinne verstehen alle am Integrationsprozess Beteiligten Integration als einseitige Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft.13 13 | Durch die Assoziation von Ethnizität und Konflikthaftigkeit, genauer aufgrund des weit verbreiteten Topos, dass aus ethnischer Heterogenität Konflikte entstehen, fokussiert sich die Betrachtung ethnisch heterogener Schulklassen häufig auf deren Konfliktpotenzial. Hinzu kommt, dass positive und alltägliche Ereignisse selten the-

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Der Diasporakomplex

Die Zusammenführung der Ergebnisse zeigt, dass sich unabhängig von der Fähigkeit zur historischen Sinnbildung, der historischen Identitätskonstruktion und des Umgangs mit Geschichte alle befragten Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund – ebenso wie die fiktive Schülerin Elif – in einer Art Niemandsland befinden und nicht in der Lage sind, eine balancierte Ich-Identität oder eine transkulturelle Identität auszubilden.

Historische Identitätskonstruktion von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund In den Interviews wurden alle Schüler*innen gebeten zu erzählen, wer sie sind. Fast alle Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund antworteten darauf mit der Migrationsgeschichte der Gastarbeiter*innen oder mit der Entstehungsgeschichte der Türkei, von der aus sie eine Kausalkette zur Migration ihrer Großeltern spannen. Sie erzählen die Geschichte eines Auszugs, eine Diasporageschichte. Lediglich einige besonders religiöse Schüler*innen, die sich vordergründig über ihren Glauben und ihre Zugehörigkeit zur Ummah identifizieren, griffen auch auf religiöse Narrative zurück. Diese Erzählungen wiesen besonders häufig Merkmale traditionaler oder exemplarischer Erzählformen auf. Sowohl die Diasporageschichte als auch die religiöse Geschichte dienen als Hintergrund der eigenen Identitätskonstruktion. Bei Schüler*innen, die Anteile beider Hintergrundnarrationen aufweisen, ist ein fortschreitender Prozess der religiösen Identifikation erkennbar. Eine Diasporageschichte ermöglicht es den Schüler*innen, ihre Wahrnehmungen gesellschaftlicher Distinktion zu schildern und zu erklären. Sie vermitteln die Vorstellung einer türkischen Diaspora in Deutschland, der sie sich zugehörig fühlen und als deren (ungewollte) Erb*innen oder gar Opfer sie sich empfinden. Zugleich soll dieses (ungewollte) Erbe Orientierung und Erklärung bieten. Durch die Betonung der Nachfolge der ersten Generation von Gastarbeiter*innen sowie die damit verbundene Exklusion wirkt die Vorstellung als Diasporakomplex. Sowohl die erzählte Diasporageschichte als auch die

matisiert und in der Berichterstattung über Einwanderung kaum erwähnt werden. Die negative Grundhaltung vieler Medienberichte verstärkt die wahrgenommene Problematik und bestätigt die bereits bekannten Zuweisungen. Die öffentliche Diskussion um die vermeintliche Integrationsunfähigkeit von Migrant*innen spiegelt die Skepsis und die vorherrschenden Topoi der Mehrheitsgesellschaft wider. Besonders Türk*innen bzw. Personen mit einem türkeibezogenen Migrationshintergrund erfahren als größte Gruppe mit Migrationshintergrund in Deutschland eine eindeutige Abwertung. Siehe dazu Ruhrmann: Fremde im Mediendiskurs; Ataman: Kritische Analyse einer sinnfreien Diskursverschränkung.

7. Zum Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration

religiöse Narration und das doppelt semi-historische Bewusstsein sind Symptome und Produkte einer Desintegration. Religion und Religiosität scheinen im Alltag der befragten Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund einen besonderen Stellenwert zu besitzen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass Jugendliche ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit in der heterogenen religiösen großen Gemeinschaft, der Ummah, suchen. Religiöse Gemeinschaften stellen einen Fluchtraum dar, in dem die Schüler*innen sich ihren Identitätskonflikten entziehen können, ohne dass sie zuvor ein reflektiertes und selbstreflektiertes historisches Bewusstsein ausbilden müssen. Diese im sonstigen sozialen Umfeld der Jugendlichen sehr seltenen Identitätsangebote ermöglichen einerseits den Erhalt der Diasporageschichte sowie der Vorstellung einer türkischen Diaspora in Deutschland und bieten andererseits einen scheinbaren Ausweg aus den Spannungen des doppelt semi-historischen Bewusstseins. Der Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration wurde in den theoretischen Vorüberlegungen in seiner Vermittlung über die Konstruktion einer historischen Identität postuliert. Diese Annahme hat sich in den empirischen Ergebnissen bestätigt. Wie in der Darstellung der Ergebnisse ausgeführt wurde, besteht eine enge Relation zwischen der Entwicklung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins einerseits und der Konstruktion einer balancierten (historischen) Ich-Identität andererseits. Eine solche Ich-Identität ist Grundlage für eine emotionale und kulturelle Integration. Eines der hervorstechenden Ergebnisse dieser Studie ist jedoch, dass keine einzige Schülerin und kein einziger Schüler mit türkeibezogenem Migrationshintergrund diese Bedingungen der sozialen Integration vollständig erfüllt. Nach dem theoretischen Integrationsmodell von Esser gelten diese Befragten also nicht als integriert, sondern allenfalls als strukturell assimiliert. Geht man von Integration als einem wechselseitigen Prozess der Angleichung aus, der alle an diesem Prozess Beteiligten in den Blick nimmt, so kann die fehlende Integration der befragten Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund auf Grundlage der erhobenen Daten nicht auf deren Unvermögen oder Unwillen zurückgeführt werden. Diese Jugendlichen sind nicht weniger reflektiert und selbstreflexiv als ihre autochthonen Mitschüler*innen. Sie zeigen sogar eine größere Bandbreite historischer Sinnbildungsformen und setzen diese reflektierter ein. In den Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund ist der Umgang mit Geschichte trotz der größeren Bildungsferne (keine Akademiker*innen-Haushalte) ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Dazu gehören Diskussionen über politische Ereignisse aus der Gegenwart ebenso wie aus der Vergangenheit. In autochthonen Familien spielt Geschichte im Familienalltag hingegen eine geringere Rolle. Eine Ausnahme bilden hier einzig Narrationen der Wiederver-

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einigung, die jedoch vor allem im kommunikativen Gedächtnis von Familien tradiert werden, die selbst von der deutschen Teilung betroffen waren. Ähnlich präsent sind im kommunikativen Gedächtnis der Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund die Erzählungen über die Migrationsgeschichte. Darüber hinaus werden in diesen Familien jedoch auch Deutungen der türkischen Geschichte tradiert, die sich häufig mit den offiziellen nationalen Geschichtsdeutungen in der Türkei decken. Überspitzt formuliert versuchen Familien mit türkeibezogenem Migrationshintergrund dem Orientierungsbedürfnis ihrer Kinder und Enkel zu entsprechen, indem sie ihnen mittels der türkischen Geschichte ein Identitätsangebot anbieten. Doch warum gelingt die Integration der Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nicht in vollem Umfang? Als Erklärung könnte hier ein Perspektivwechsel dienlich sein. Folgt man der Vorstellung, dass Geschichtskultur »die praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«14 ist, so folgt daraus, dass das »Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft«: nicht reflektiert und selbstreflexiv ist.15 Wenn also eine Gesellschaft in ihrem Umgang mit Geschichte nicht reflektiert und selbstreflexiv ist, kann sie ihr Potenzial als Migrationsgesellschaft, die Deutschland faktisch ist, nicht entfalten und produktiv nutzen. Um die vorherrschende Geschichtskultur in Deutschland zu einer transkulturellen zu machen, müsste das Geschichtsbewusstsein aller Mitglieder der Gesellschaft gefördert werden, also auch das Geschichtsbewusstsein der autochthonen Bevölkerungsteile. Um Integration oder gar Inklusion Realität werden zu lassen, müsste die Geschichtskultur transkulturell werden. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn ethnozentrische Kulturvorstellungen durch ein konstruktivistisches Verständnis von Kultur abgelöst werden, das Diversität nicht mehr als Problem, sondern als Chance begreift und Personen, die zur emotionalen und kulturellen Integration offen und fähig sind, tatsächlich ermöglicht, gleichberechtigter Teil der bundesdeutschen Gesellschaft zu werden.

14 | Rüsen: Was ist Geschichtskultur?, S. 5; Ders.: Geschichtskultur, S. 513. 15 | Jeismann: Didaktik der Geschichte, S. 12f.

8. Geschichtsbewusstsein und Integration fördern? These I Zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration besteht ein Zusammenhang, der sich über die Form der historischen Identitätskonstruktion vermittelt. Die Kompetenzen historischer Sinnbildung beeinflussen die Möglichkeiten der historischen Identitätskonstruktion und könnten dadurch Vorstellungen von Integration und Inklusion mitgestalten und etwa zur Infragestellung ethnozentrischer Kulturmodelle beitragen.

These II Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sind strukturell assimiliert, aber nicht emotional integriert.

These III Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach historischer Orientierung und daher ein starkes Interesse an Geschichte im Allgemeinen und an türkischer Geschichte im Besonderen. Dieses besondere Interesse wird im schulischen Geschichtsunterricht in der Regel nicht berücksichtigt.

These IV Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund haben einen Diasporakomplex, der sich in der Tradierung von Diasporageschichten sowie in der Vorstellung ausdrückt, einer spezifischen Minderheit, der türkischen Diaspora, anzugehören. Beides ist als Produkt eines doppelt semi-historischen Bewusstseins zu verstehen und dient als Legitimation und Basis der eigenen historischen Identitätskonstruktion.

These V Eine hegemonial eurozentristisch und nationalgeschichtlich geprägte Geschichts- und Erinnerungskultur fördert die Distinktion und Desintegration von abweichenden Erinnerungskulturen, die faktisch jedoch bereits Teil des

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Der Diasporakomplex

kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses sind. Ein Verständnis von Geschichte, mit dem der Geschichte allein die Aufgabe einer Konstruktion von Kontinuität sowie die Beseitigung von Kontingenzen und Ambivalenzen zuschreibt, verkennt das Orientierungspotenzial, das in der Thematisierung von Brüchen liegt.

These VI An die Stelle des Anpassungsparadigmas, also der Erwartung einer einseitigen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft, muss ein Inklusionsparadigma treten, in dem nicht ausschließlich die Anderen aufgefordert sind, sich zu integrieren, sondern auch die Mehrheitsgesellschaft aufgefordert ist, sich entsprechend zu öffnen und zu entwickeln. Identität sollte nicht allein aus einer Distinktion zwischen ich/wir und du/ihr bestehen, sondern sich über kulturelle, nationale oder religiöse Zuschreibungen hinaus erweiternd dynamisch entwickeln.

These VII Die Zuschreibung mit Migrationshintergrund muss als Teil der Diversitätskategorie race betrachtet werden und sollte dementsprechend auch bei intersektionalen Ansätzen etwa in der geschichtsdidaktischen Forschung berücksichtigt werden.

Zur Studie Die vorliegende Studie ermittelte den unterschiedlichen Umgang mit Geschichte bei autochthonen Schüler*innen, bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund sowie bei Teenagern mit einem anderen Migrationshintergrund. Viele Lehrer*innen betrachten heterogene Klassen noch immer in erster Linie als Problem und nicht als Chance. Dabei wäre der Geschichtsunterricht prädestiniert dafür, die Vielfalt der Erinnerungskulturen im Klassenzimmer zu nutzen, um sein primäres Ziel, die Förderung eines reflektierten und reflexiven Geschichtsbewusstseins, zu erreichen. Bei der aktuellen bildungspolitischen Offensive zur Förderung bzw. faktischen Herstellung von Inklusion stellt der Geschichtsunterricht eine Chance dar. Vor dem Hintergrund rechts-populistischer und völkischer Organisationen und Bewegungen fällt einem inklusiven, rassismuskritischen historisch-politischen Unterrichts dabei eine tragende Rolle zu. Die vorliegende Arbeit hat den Zusammenhang zwischen Identitätskonstruktion, Geschichtsbewusstsein und Teilhabe an der Gesellschaft aufgezeigt. Die entwickelten Typen historischer Identitätskonstruktion können als Ansätze zur Förderung von Geschichtsbewusstsein genutzt werden. Zudem haben die Ergebnisse ein starkes Bedürfnis nach historischer Orientierung gezeigt, das

8. Geschichtsbewusstsein und Integration fördern?

durch einen diversitätssensiblen Geschichtsunterricht genutzt werden kann. Insbesondere die Einbeziehung von Diasporageschichten sowie des doppelt semihistorischen Bewusstseins in die Förderung des Geschichtsbewusstseins kann effektiv genutzt werden, um den vorhandenen Diasporakomplex aufzulösen und Angebote für gesellschaftliche Teilhabe zu formulieren. Perspektivisch könnte die Einbeziehung spezifischer Erinnerungskulturen – etwa von Familien mit Migrationsgeschichte – in den Geschichtsunterricht eine grundsätzliche Veränderung der Vorstellung von deutscher Geschichtskultur anbahnen und zu einem inklusiven kulturellen Gedächtnis führen, an dem alle Mitglieder der Gesellschaft selbstverständlich teilhaben können. Die vier herausgearbeiteten Typen historischer Identitätskonstruktion von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund machten vor allem einen Mangel an Vorbildern für eine gelungene Integration und Anerkennung deutlich. Schüler*innen mit Migrationshintergrund entwickeln daher häufig eine skeptische oder gar misstrauische Haltung gegenüber Lehrer*innen und der Schule. Diese hat ihren Grund auch darin, dass es kaum Lehrer*innen gibt, mit denen diese Schüler*innen sich identifizieren können. Dass soll keinesfalls bedeuten, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund nur von Lehrer*innen unterrichtet werden sollten, die selbst einen Migrationshintergrund besitzen. Vielmehr sollten Schüler*innen mit Migrationshintergrund erleben können, dass Integration und Bildungserfolg möglich sind, was langfristig einen Wahrnehmungswandel bewirken könnte. Die durchgeführte Studie konnte die aufgeworfenen Fragen zum Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft nur in Ansätzen beantworten und musste sich vielfach damit begnügen, weiterhin offene Forschungsfragen zu formulieren (vgl. Kapitel 8.2). Erst durch weitere migrationssensible Studien wird es möglich sein, umfassendere Aussagen über das Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund zu treffen. Der Fokus auf das Geschichtsbewusstsein von Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund in dieser Studie hat gezeigt, dass sich der Umgang mit Geschichte generationell, schulformabhängig und geschlechtsspezifisch, aber auch individuell unterscheiden kann. Es ist anzunehmen, dass diese Erkenntnisse auch auf andere gesellschaftliche Gruppen zutreffen. Menschen mit Migrationshintergrund stellen eine hochgradig diverse Gruppe dar, die einer detaillierteren Forschung bedarf, um einer sachlich unangemessenen Homogenisierung und der damit häufig einhergehenden Exklusion entgegenzuwirken. Eine intensivere und differenziertere Erforschung dieser Personengruppen kann dazu beitragen, Diversität kenntlich zu machen, zu fördern und als Chance zu begreifen. Eine Erforschung des Geschichtsbewusstseins spezifischer Gruppen unter Einbezug der Einflussfaktoren Migrationshintergrund, Generation, Bildungs-

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hintergrund, Geschlecht und Religion kann angesichts des demografischen Wandels wertvolle Hilfestellungen für aktuelle gesellschaftliche und politische Herausforderungen geben. Neben der unstrittigen Bedeutung des Erwerbs eines für die Interaktion und Kommunikation ausreichenden Maßes an Sprachkenntnissen ist die Kompetenz historischen Denkens ein weiterer wichtiger Faktor für eine gelungene Integration. Die theoretischen Überlegungen dieser Arbeit können dabei als Ansatzpunkte für eine gezielte Förderung genutzt werden. Der schulische Geschichtsunterricht bietet die Chance, Integration zu fördern. Dazu muss das Bedürfnis der Schüler*innen nach historischer Orientierung (an-)erkannt werden. Nur durch die Förderung von Geschichtsbewusstsein kann sich Geschichtskultur verändern und eine transkulturelle Gesellschaft entstehen. Bedingung dafür ist die Abkehr von einem Integrationsverständnis im Sinne eines Prozesses einseitiger Anpassung sowie ein Ende der Exklusion angeblich fremder Geschichten und Kulturen.

8.1 S treitbare Thesen These I Die von Jörn Rüsen formulierten Idealtypen historischer Sinnbildung müssen erweitert werden. Die kritische historische Sinnbildung ist nicht nur eine Sonderform, sondern tritt auch als eigenständiger Idealtyp historischer Sinnbildung auf.

These II Die Idealtypen historischer Sinnbildung dürfen nicht als Taxonomie verstanden werden. Sie beschreiben vielmehr die Bandbreite historischer Erzählformen.

These III Der Übergang zwischen den Idealtypen historischer Sinnbildung wird nicht durch die kritische Sinnbildung markiert, sondern durch den Grad an (Selbst-) Reflexivität im Umgang mit Geschichte.

These IV Krisen bei der Ausbildung einer individuellen Identitätskonstruktion sowie die sich daraus ergebende Suche nach Fluchträumen sind bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der Regelfall. Diese Suche nach Fluchträumen kann extremistische politische und religiöse Gruppen mit scheinbar einfachen Identitätsangeboten für diese Jugendlichen besonders attraktiv.

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These V Bei autochthonen Jugendlichen führen Krisen bei der Ausbildung einer individuellen Identitätskonstruktion eher zur Vermeidung einer kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Einen attraktiven Fluchtraum scheinen hier die Identitätsangebote rechts-populistischer und völkischer Organisationen zu bieten.

These VI Deutschland ist zwar eine Migrationsgesellschaft, dieser Umstand wird aber im gesellschaftlich vorherrschenden Kulturkonzept nicht reflektiert. Schulen und insbesondere der Geschichtsunterricht sollten darauf reagieren, indem sie ein konstruktivistisches Verständnis von Kultur und Gesellschaft sowie ein inklusives Lernen von Geschichte fördern, um gesellschaftliche Diversität anzuerkennen und zu fördern.

These VII Diasporakomplex, Diasporageschichten und doppelt semi-historisches Bewusstsein sind keine Ursachen mangelnder Integration, sondern deren Folge. Es handelt sich um Produkte einer desintegrativen und exkludierenden Gesellschaft.

8.2 W eiterhin bestehende F orschungsdesider ate In diesem Kapitel wurden bereits Forschungsdesiderate benannt, dennoch existieren noch weitere »weiße Flecken«, die im Rahmen der Arbeit nicht ausgefüllt werden konnten. • Da die vorliegende Studie keine statistische Repräsentativität beanspruchen kann, wäre es wünschenswert, die Erhebung mit einem größeren Sample zu wiederholen. Dabei könnte geprüft werden, ob die induktiv entwickelten Typen historischer Identitätskonstruktion auch bei anderen in Deutschland lebenden Personen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund vorzufinden sind. • In Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund stellen eine sehr heterogene Gruppe dar, die eine fokussierte und differenzierte Erforschung verdient. Erst die Untersuchung weiterer Gruppen (unterschieden nach Generation bzw. Migrationszeitpunkt, Migrationserfahrung, Migrationsgeneration, Religion, Sprache, Bildungshintergrund, Geschlecht, Herkunftsland u.a.) wird Einblicke in das historische Denken der Gesellschaft und ihrer Mitglieder ermöglichen. • Besonderes Augenmerk bei der Untersuchung des Geschichtsbewusstseins verdienen geschlechtsspezifische Unterschiede. Neben Geschichts-

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interesse, Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein sollten dabei auch die geschlechtsspezifische familiäre Erziehung sowie die jeweils vermittelten sozialen Geschlechterrollen analysiert werden. • Die Untersuchung von Geschichtsunterricht und Geschichtsbewusstsein sollte vermehrt auch an Haupt-, Real- und Gesamtschulen erfolgen. Hierbei sollte der Einfluss des selektiven Schulsystems auf den Geschichtsunterricht sowie das historische Denken der Schüler*innen berücksichtigt werden. • Der Einfluss des schulischen Geschichtsunterrichts auf die Förderung des Geschichtsbewusstseins von Schüler*innen muss untersucht und in Relation zum Einfluss außerschulischer Bildung auf das Geschichtsbewusstsein gesetzt werden.

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Literatur

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Der Diasporakomplex

Friedrich Heckmann: Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland? Stuttgart 1981. Fröhlich/Klaus: Anmerkungen zum Typus der kritischen Sinnbildung im Geschichtsunterricht. In: Geschichtsdidaktik 10, Heft 2, 1985, S. 289-295. Fthenakis, Wassilios/Adelheid Sonner/Rosemarie Thrul (Hg.): Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes. Ein Handbuch für Psychologen, Pädagogen und Linguisten, München 1985. Gaertner, Karlheinz/Saad, Fadi: Kampfzone Straße, Breisgau 2012. Gans, Herbert J.: Symbolic Ethnicity: The Future of Ethnic Groups and Cultures in America. In: Werner Sollors (Hg.): Theories of Ethnicity: A Classical Reader, New York 1 (1976), S. 425-459. Gautschi, Peter: Lernen an Stationen. In: Mayer, Ulrich u.a. (Hg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2004, S. 515-531. Gautschi, Peter/Moser, Daniel V./Reusser, Kurt/Wiher, Pit (Hg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte,  Bern 2007.  Gautschi, Peter: Wissen – Voraussetzung und Ergebnis von historischem Lernen. In: Zeitschrift für Didaktik der Geschichtswissenschaft 1 (2010), Heft 1, S. 67-90. Geißler, Rainer: Die Metamorphose der Arbeitertochter zum Migrantensohn. Zum Wandel der Chancenstruktur im Bildungssystem nach Schicht, Geschlecht, Ethnie und deren Verknüpfung. In: Peter A. Berger/Heike Kahlert (Hg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim, München 2005, S. 71-100. Georgi, Viola: »Ich kann mich auch für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren«. Zur Bedeutung der NS-Geschichte und des Holocaust für Jugendliche aus Einwandererfamilien. In: Viola Georgi/ Rainer Ohliger (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009, S. 90-109. Georgi, Viola: Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland, Hamburg 2003. Georgi, Viola/Ohliger, Rainer (Hg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2009. Georgi, Viola: Geschichte(n) in Bewegung. Zur Aneignung, Verhandlung und Konstruktion von Geschichtsbildern in der deutschen Migrationsgesellschaft. In: Jahrbuch für Kulturpolitik 2009 (Band 9: Kulturpolitik und Gedächtnis), S. 117-125. Georgi, Viola: Historisch-Politische Bildung in der deutschen Migrationsgesellschaft. Zeitschrift Internationale Schulbuchforschung 28, 4 (2006), S. 355-367.

Literatur

Georgi, Viola: In-Geschichte(n)-verstrickt: Biographische Geschichten als Gegenstand interkulturellen Lernens in der Migrationsgesellschaft. In: Dirk Lange (Hg.): Migration und Bürgerbewusstsein. Perspektiven Politischer Bildung in Europa, Wiesbaden 2008, S. 131-147. Georgi, Viola/Ohliger, Rainer: Integration und Partizipation durch HistorischPolitische Bildung. Stand – Herausforderungen – Entwicklungsperspektiven. Studie im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, Berlin 2006. Georgi, Viola: Jugendliche aus Einwandererfamilien und die Geschichte des Nationalsozialismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 40/41, 2003, S. 40-46. Georgi, Viola: Migration und Geschichte. Geschichtsaneignung und interkulturelles Lernen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. In: Thomas Schaarschmidt (Hg.): Historisches Erinnern und Gedenken im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008, S. 109-131. Georgi, Viola: Pädagogik und Erinnerung. Herausforderungen historischer Bildung im Zeitalter der Globalisierung. In: Claudia Fröhlich/Horst A. Heinrich/Harald Schmidt (Hg.): Jahrbuch für Politik und Geschichte, Stuttgart 2012, S. 131-147. Georgi, Viola: Wem gehört die deutsche Geschichte? Bi-kulturelle Jugendliche und die Geschichte des Nationalsozialismus. In: Bernd Fechler/Gottfried Kößler/Till Lieberez-Groß(Hg.): Erziehung nach Auschwitz in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, Weinheim/München 2000. S. 141-163. Georgi, Viola: Zwischen Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Jugendliche aus Einwandererfamilien und die Geschichte des Nationalsozialismus. In: Hans-Jochen Gamm/Wolfgang Keim (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik, Frankfurt a.M. 2003. Georgi, Viola: Erinnern – Bildung – Identität, Frankfurt a.M. 2003, S. 185-207. Gesemann, Frank (Hg.): Migration und Integration in Berlin. Wissenschaftliche Analysen und politische Perspektiven, Opladen 2001, S. 31-62. Gestring, Norbert/Andrea, Janßen/Ayca Polat: Prozesse der Integration und Ausgrenzung. Türkische Migranten der zweiten Generation, Berlin 2006. Glazer, Nathan/Moynihan, Daniel Patrick: Beyond the Melting Pot. The Negroes, Puerto Ricans, Jews, Italians, and Irish of New York City, Cambridge 1963. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L.: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, 1. Nachdruck der 2., korrigierten Auflage 2005, Bern 2008. Goeke, Pascal: Transnational assimiliert? Transmigranten der zweiten Generation zwischen Kroatien und Deutschland, Göttingen 2006. Göpfert, Hans: Ausländerfeindlichkeit durch Unterricht. Konzeptionen und Alternativen für Geschichte, Sozialkunde und Religion, Düsseldorf 1985.

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Der Diasporakomplex

Goffman, Erving: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates, Anchor Books 1961. Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, Engelwood Cliffs (London 1963) 1974. Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. 1975. Goffman, Erving: Interaktionsritual. Über Verhalten in der direkten Kommunikation. In: Angela Schmidt-Koddenberg (Hg.): Akkulturation von Migrantinnen: Eine Studie zur Bedeutsamkeit sozialer Vergleichsprozesse von Türkinnen und deutschen Frauen, Opladen 1999, S. 35-36. Goffman, Erving: Encounters, Indianapolis 1961. Gogolin, Ingrid: »Kultur« als Thema der Pädagogik: Das Beispiel interkulturelle Pädagogik. In: Annete M./Felicitas Thiel (Hg.): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplinen und Öffentlichkeit. Themenfelder und Themenrezeption der allgemeinen Pädagogik in den achtziger und neunziger Jahren, Weinheim1998, S. 125-150. Gorbahn, Katja: Soziale Identität als geschichtsdidaktisches Konzept – 11 Thesen zum Verständnis gruppenbezogener Identifikationen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 148-162. Gordon, Milton: Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and National Origins, New York 1964. Gorelik, Lena: »Sie können aber gut Deutsch!«. Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft, München 2012. Günther-Arndt, Hilke/Sauer, Michael (Hg.): Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen, Münster 2006. Günther-Arndt, Hilke: Historisches  Lernen und  Wissenserwerb. In:  Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, 23-47. Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. Überlegungen zur europäischen Zukunft, Erker 1991. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1994 (1925). Halbwachs, Maurice: La mémoire collective, Paris 1997. Halm, Dirk/Liakova, Marina: Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. In: IMIS-Beiträge 2006, S. 95-122. Hamburger, Franz: Von der Gastarbeiterbetreuung zur reflexiven Interkulturalität. In: Migration und Soziale Arbeit, Heft 3/4 (1999), S. 33-38. Han, Petrus: Theorie zur internationalen Migration, Stuttgart 2006. Handro, Saskia: Geschichtsbewusstsein und Generation. Theoretische Überlegungen, empirische Befunde und pragmatische Konsequenzen. In: Dies./ Bernd Schönemann (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung, Münster 2002, S. 171-186.

Literatur

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Der Diasporakomplex

Hasberg, Wolfgang: Im Schatten von Theorie und Pragmatik – Methodologische Aspekte empirischer Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 9-40. Hasberg, Wolfgang: Risks and Perspectives Regarding Empirical Research for Historical Learning. In: Yearbook. International Society for History Didactics, 2010, S. 195-214. Hasberg, Wolfgang: Rezension zu Andreas Heuer: Geschichtsbewusstsein. Entstehung und Auflösung zentraler Annahmen westlichen Geschichtsdenkens. Schwalbach/Ts. In: Das Historisch-Politische Buch 59 (2011), S. 236-238. Hasberg, Wolfgang: Analytische Wege zu besserem Geschichtsunterricht. Historisches Denken im Handlungszusammenhang Geschichtsunterricht. In: Johannes Meyer-Hamme u.a. (Hg.): Was heißt guter Geschichtsunterricht? Perspektiven im Vergleich, Schwalbach/Ts. 2012, (Geschichtsunterricht erforschen, Band 2), S. 137-160. Hasberg, Wolfgang: Warum wir den Geschichtsunterricht abschaffen müssen… In: Katja Lehmann/Michael Werner/Stefanie Zabold (Hg.): Historisches Denken jetzt und in Zukunft. Wege zu einem theoretisch fundierten und evidenzbasierten Umgang mit Geschichte. Festschrift für Waltraud Schreiber zum 60. Geburtstag, Berlin, Münster 2016, S. 83-105. Hasberg, Wolfgang: Geschichtsbewusstsein – Geschichtskultur – Kulturwissenschaft. Geschichtsdidaktik in der Lehrerausbildung. In: Tobias Arand/ Klaus Scherberich (Hg.): Schule – Europa -Technik. Der neue Lehramtsstudiengang Geschichte an der RWTH Aachen: Ziele – Formen – Inhalte, Aachen 2003, S. 19-38. Hebenstreit, Sabine: Frauenräume und weibliche Identität. Ein Beitrag zu einem ökologisch orientierten Perspektivwechsel in der sozialpädagogischen Arbeit mit Migrantinnen, Berlin 1986, S. 16-18. Heckmann, Friedrich: Die Bundesrepublik ein Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwanderungsminorität, Stuttgart 1981. Heil, Werner: Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht, 2. Auflage Stuttgart 2011. Hein, Kerstin: Hybride Identitäten. Bastelbiografien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa, Bielefeld 2006. Helbig, Marcel/Schneider, Thorsten: Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande Religion und Bildungserfolg im regionalen und historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2014. Herfter, Christian/Brock, Michael: Der Fragebogen. In: Barbara Drinck: Forschen in der Schule. Ein Lehrbuch für (angehende) Lehrerinnen und Lehrer, Opladen, Toronto 2013, S. 251-300.

Literatur

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Der Diasporakomplex

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Literatur

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Der Diasporakomplex

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Literatur

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Der Diasporakomplex

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Literatur

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Der Diasporakomplex

Kristin, Cornelia/Dollmann, Jörg: Sekundäre Effekte der ethnischen Herkunft: Kinder aus türkischen Familien am ersten Bildungsübergang. In: Jürgen Baumert/Kai Maaz/Ulrich Trautwein (Hg.): Bildungsentscheidungen in differenzierten Schulsystemen. Sonderband 12 (2009), S. 117-139. Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, 12. Auflage, Stuttgart 2009, S. 358-364. Kron, Stefanie: Afrikanische Diaspora und Literatur Schwarzer Frauen in Deutschland. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Dossier Migrationsliteratur. Eine neue deutsche Literatur?, Berlin 2009, S. 86-93. Krüger-Potratz, Marianne: Stichwort: Erziehungswissenschaft und kulturelle Differenz. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Heft 2 (1999), S. 149-165. Kuckartz, Udo: Mixed Methods: Methodologie, Forschungsdesign und Analyseverfahren, Wiesbaden 2014. Kuckartz, Udo: Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, 2. Auflage, Weinheim und Basel 2014. Kühberger, Christoph: Konzeptionelles Wissen als besondere Grundlage für das historische Lernen. In: Ders. (Hg.): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen, Schwalbach/Ts. 2012, S. 33-74. Kühberger, Christoph: »Race« – a necessary category?, In: Public History Weekly 25.09.2014. Online verfügbar unter: http://public-history-weekly. oldenbourg-verlag.de/2-2014-32/race-necessary-category/(16.03.2017). Kürsat-Ahlers, Elcin/Hans-Peter Waldhoff: Die langsame Wanderung. Wie Migrationstheoretiker der Vielfalt gelebter Migration nachwandern. In: Frank Gesemann (Hg.): Migration in Berlin, Opladen 2001, S. 31-62. Kuhlmann, Jenny: Exil, Diaspora, Transmigration. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64, Heft 42, (2014), S. 9-15. Kuhn, Annette: Einführung in die Didaktik der Geschichte, 3. Auflage, München 1980. Kultusministerkonferenz (KMK): Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland. Kommission für Statistik. Definitionenkatalog 2015 (2). Kulturglossar. Online verfügbar unter: www.kulturglossar.de Kunz, Thomas: Zwischen den Stühlen. Zur Karriere einer Metapher. In: Siegfried Jäger/Alfred Schobert (Hg.): Weiter auf unsicherem Grund. Faschismus, Rechtsextremismus, Rassismus, Kontinuitäten und Brüche, Duisburg 2000, S. 229-252. Kux, Ulla: Deutsche Geschichte und Erinnerung in der multiethnischen und -religiösen Gesellschaft. Perspektiven auf interkulturelle historisch-politi-

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Literatur

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Der Diasporakomplex

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Der Diasporakomplex

Politische Bildung und Geschlechterverhältnis, Wiesbaden 2000, S. 265288. von Trotha, Caroline Y. Robertson-: Plurale Identitäten in der globalisierten Stadtgesellschaft. In: Fadja Ehlail/Henrike Schön/Veronika Strittmatter (Hg.): Die Perspektive des Anderen. Kulturräume anthropologisch, philosophisch, ethnologisch und pädagogisch beleuchtet. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Band 53, Heidelberg 2010, S. 100-111. Wedel, Heidi: Der türkische Weg zwischen Laizismus und Islam. Zur Entwicklung des Laizismusverständnisses in der türkischen Republik, Opladen 1991. Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Lucyna Darowska/ Thomas Lüttenberg/Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010, S. 39-66. Welzer, Harald/Montau, Robert/Plaß, Christine: »Was wir für böse Menschen sind!« Der Nationalsozialismus zwischen den Generationen, Tübingen 1997. Welzer, Harald: Erinnerungen und Gedächtnis. Desiderate und Perspektiven. In: Christian Gudehus/Arianne Eichenberg/Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2010, S. 1-10. Wengeler, Martin: Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrantendiskurs, Münster 2003. Wengeler, Martin: »Ausländer dürfen nicht Sündenböcke sein«. Diskurslinguistische Analyseebenen, präsentiert am Beispiel zweier Zeitungstexte. In: Ingo H. Warnke/Jürgen Spitzmüller (Hg.): Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin, New York 2008, S. 207-236. Weymar, Ernst: Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsunterricht ohne Zukunft?, Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1972, S. 326-350 (zuerst in: GWU 21 (1970), S. 198-215). Wiedemann, Peter M.: Entscheidungskriterien für die Auswahl qualitativer Interviewstrategien. Forschungsbericht 1/1987, Technische Universität Berlin 1987. Winkler, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten,2., unveränderte Auflage, Bielefeld 2010. Wiley, Norbert F.: The Ethnic Mobility Trap and Stratification Theory. In: Peter I. Rose (Hg.): The Study of Society: An Integrated Anthology, New York 1970, S. 397-408.

Literatur

Wineburg, Samuel S.: Die psychologische Untersuchung des Geschichtsbewußtseins. In: Jürgen Straub (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1, Frankfurt a.M. 1998, S. 298-337. Winkgens, Meinhard: Hybride Identitäten. In: Fadja Ehlail/Henrike Schöne/ Veronika Strittmatte-Haubold (Hg.): Die Perspektive des Anderen. Kulturräume und anthropologisch, philosophisch, ethnologisch und pädagogisch beleuchtet, Heidelberg 2010, S. 45-64. Wobring, Michael/Popp, Susanne (Hg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder, Schwalbach/Ts. 2013. Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (Zf TI), Mehrthemenbefragung 2013. Zülsdorf-Kersting, Meik: Sechzig Jahre danach. Jugendliche und Holocaust: Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, Berlin 2007. Zülsdorf-Kersting, Meik: Historische Identität und geschichtskulturelle Prägung: empirische Annäherung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (GWU) 59 (2008), S. 631-646. zur Nieden, Birgit: »…und Deutsch ist wichtig für die Sicherheit! eine kleine Genealogie des Spracherwerbs Deutsch in der BRD«. In: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.): No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009, S. 123-136.

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:

Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11:

Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17:

Disziplinäre Matrix der Geschichtswissenschaft, Jörn Rüsen. Eigene grafische Darstellung der vier Dimensionen sozialer Integration nach Hartmut Esser. Wer ist Elif ? Theoretische Darstellung der Verflechtung von Geschichtsbewusstsein, sozialer Integration und historischer Identitätskonstruktion. Triangulation Quantitative Verteilung, Schüler*innen. Religiosität, Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund in Prozent. Traumsprache(n), Schüler*innen in Prozent. Interesse an Geschichte, Schüler*innen nach Geschlecht in Prozent. Interesse an Geschichte, Schüler*innen nach Migrationshintergrund in Prozent. Interesse an Geschichte, Schüler*innen mit türkeibezogenem Migrationsintergrund der dritten Generation in Prozent. Sinnbildungsformen in den Gruppendiskussionen. Themenwahl in der schriftlichen Einzelbefragung. Die vier Typen der historischen Sinnbildung, Jörn Rüsen. Codierte Sinnbildungsformen. Codierte Sinnbildungsformen nach Migrationshintergrund. Häufigkeiten der Sub-Codes Identitätskonstruktion.

Tabellenverzeichnis Tabelle 1:

Von historischer Sinnbildung zur historischen Identitätskonstruktion Tabelle 2: Von historischer Sinnbildung zur Integration. Erweiterung Tabelle 1. Tabelle 3: Verhältnis Religionsgemeinschaft und Religiosität Schüler*innen Tabelle 4: Testergebnis insgesamt (T1+T2) Tabelle 5: Zusammensetzung der Gruppenbefragungen Tabelle 6: Sinnbildungsformen in Gruppenbefragungen Tabelle 7: Gruppe Hauptschule, codierte Sinnbildungsformen Tabelle 8: Gruppe Realschule, codierte Sinnbildungsformen Tabelle 9: Gruppe Gymnasium I, codierte Sinnbildungsformen Tabelle 10: Gruppe Gymnasium II, codierte Sinnbildungsformen Tabelle 11: Teilnehmer*innen des leitfadengestützten Interviews Tabelle 12: Kategorie Geschichtsbewusstsein mit Sub-Codes Tabelle 13: Kategorie Identität mit Sub-Codes Tabelle 14: Kategorie Integration mit Sub-Codes Tabelle 15: Auswertung historische Sinnbildungstypen in Q2 Tabelle 16: Diasporageschichte und religiöse Erzählung Tabelle 17: Historische Identitätskonstruktionen und historische Sinnbildungsformen. Tabelle 18: Von historischer Sinnbildung zur Integration. Fortschreibung Tabelle 1 und 2 Tabelle 19: Typisierung

Abkürzungsverzeichnis 3. Gen. dritte Generation Abb. Abbildung Anm. Anmerkung a. MH anderer als türkeibezogener Migrationshintergrund Ders. Derselbe Dies. Dieselbe dt. deutsch EF schriftliche Einzelbefragung et al. und andere FUER Förderung und Entwicklung reflektierten Geschichtsbewusst seins GB Geschichtsbewusstsein GF Gruppenbefragung (Gruppendiskussion) GYM Gymnasium GU Geschichtsunterricht HE Haupterhebung hist. historisch(e) Hg. Herausgeber HS Hauptschule IF Leitfaden gestütztes Interview m. männlich m. MH mit Migrationshintergrund MH Migrationshintergrund o. MH ohne Migrationshintergrund Pilot 1 erste Pilotierungsphase Pilot 2 zweite Pilotierungsphase Q1 quantitative Erhebung Q2 qualitative Erhebung RS Realschule S Schüler S. Seite s. siehe

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Der Diasporakomplex

s.o. siehe oben Sek. Sekunde SuS Schülerinnen und Schüler Tab. Tabelle tr. MH türkeibezogener Migrationshintergrund u.a. unter anderem vgl. vergleiche w. weiblich

Transkriptionsregeln Es wurde wortgetreu transkribiert. Gestiken und Eindrücke wurden in Klammer ergänzt. kursiv [ ] () (eine Sek.) (zwei Sek.) (3 Sek.) -

türkische Wörter eigen Setzung Beschreibung zum Gesagten oder zur Gestik eine Sekunde Pause zwei Sekunden Pause drei Sekunden Pause kurzes Stoppen

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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