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German Pages 541 [544] Year 1948
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E R I C H
R U P R E C H T
DER AUFBRUCH DER ROMANTISCHEN BEWEGUNG
MÜNCHEN L E I B N I Z BISHER
1948 V E R L A G
R. O L D E N B O U R G
VERLAG
DIE
ROMANTISCHE
BEWEGUNG
ERSTER TEIL DER A U F B R U C H DER R O M A N T I S C H E N
ZWEITER
TEIL
DIE W E L T A N S C H A U U N G DER DRITTER
BEWEGUNG
ROMANTIK
TEIL
DIE ÜBERWINDUNG DER
ROMANTIK
Copyright 1948 by Leibniz Verlag (bisher R . Oldenbourg Verlag) München. Veröffentlicht unter der Zulassungs-Nr. U S - E - 1 7 9 der Nadirichtenkontrolle der Militärregierung (Dr. Manfred Schröter und Dr. Rudolf C. Oldenbourg). Auflage 3000. Druck und Buchbinder: R . Oldenbourg, Graph. Betriebe G.m.b.H., Mündien.
RICHARD
BENZ
DEM ENTDECKER
WACKENRODERS
Den besten Begriff einer Sache gibt ihr Ursprung (Herder)
Einleitung D a s Romantische und die Romantik Eine Begriffserklärung in der Auseinandersetzung mit der Romantikforschung
Eine Begriffsldärung kann immer nur die Vorstufe der Wesenserhellung sein, die in der heutigen Literaturwissenschaft, nach einem genugsam geübten Fragen in die Breite und "Weite des Stofflichen und des Biographischen, nur noch im Einstieg in die Tiefendimension der schaffend-tragenden Impulse gewonnen werden kann, handle es sich um ein einzelnes Werk, eine Persönlichkeit, eine Gruppe oder eine ganze Epoche. Als solche allerdings ist sie unerläßlich, zumal bei einem Phänomen, das gerade durch seine Begrifflichkeit einer Wesensbestimmung hemmend im Wege steht. Aber seltsamerweise hat gerade die Romantikforschung von Anfang an geglaubt, von einer solchen Grundlegung absehen zu können. Der Begriff des Romantischen zeigte sich so fraglos im Allgemeinbewußtsein gesichert, daß eine kritische Auseinandersetzung als unnötige, wenn nicht sogar nutzlose Mühe erscheinen mußte. Damit wurde aber auch der unter besonders unglücklichen Umständen gebildete Begriff „Romantik" von vornherein gutgeheißen und, da er einmal da war, kritiklos von einer Darstellung in die andere übernommen, wenn auch bereits im Jahre 18S5 Dilthey in seinem NovalisessaY vorschlug, sich seiner ganz zu entledigen, um dem „Mißbrauch", der mit ihm getrieben werde, „ein gründliches Ende zu machen"1. Statt aber wenigstens zu. einer klareren Bestimmung des Begriffs fortzuschreiten, an welche auch Dilthey als einzige Möglichkeit seiner Rettung gedacht hatte, verfestigte man ihn immer mehr zu einem Schlagwort, mit dem man mehr oder weniger unkritisch umging. Man suchte geradezu seine Labilität der damit gekennzeichneten Bewegung selbst zuzuschreiben. Es ergab sich daher ebenso zwangsläufig, daß man auch in der Wesensfrage ein Entweder-Oder vermied und sich mit einem Sowohl-als-auch begnügte. Aber dies nicht elv/a resignierend, son-
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deru in der Überzeugung, damit dem Wesen der bereits geklärten romantischen Haltung zu entsprechen. Der Begriff „Romantik", entstanden aus dem im Allgemeinbewußtsein im Laufe von zwei Jahrhunderten gebildeten Begriff des „Romantischen", spielte also eine gar nicht unbeträchtliche Rolle bei der Deutung des Romantik-Phänomens selbst. Aber auch eine derart zur Ruhe gekommene Bildung muß wieder in Fluß gebracht werden, wenn es sich, wie im Falle des Romantik-Problems, um ein ernstliches Hindernis handelt, das von vornherein eine unvoreingenommene Sicht unmöglich macht. Stellt der Romantik-Begriff überhaupt die wesenhafte Benennung einer eigenständigen Haltung dar, dann muß diese echte Prägung zu enthüllen sein, sei sie auch noch so entstellt und verborgen. Diese Aufgabe einer klärenden Auseinandersetzung mit der bestehenden Begrifflichkeit kann nicht mehr in direkter Befragung gelöst werden. Sie erfordert den Durchgang durch die bisherige Romantikforschung, das heißt die Stellungnahme zu allen wesentlichen Definitionen derselben. Die Gefahr, dabei in unfruchtbare Antithesen verstrickt zu werden, erscheint größer, als sie ist. Denn weder durch- bloße Negation der bisherigen Wertungen noch durch eine neue Kompilation derselben kann eine Klärung erreicht werden, Wer eine solche anstrebt, muß vielmehr bereits aus der Sicherheit einer in unmittelbarem Erfahren des im Gewesenen der Romantik noch immer Wesenden, ihrer lebendigen Impulse, gewonnenen Position herkommen. Daher ist auch ein gewisses Vorgreifen auf Ergebnisse, die erst in der eigentlichen Wesenserhellüng entwickelt werden können, unvermeidlich. Und doch muß notwendig diese Auseinandersetzung ihren Platz am Eingang in die eigentliche Untersuchung erhalten, da sie nur hier am rcchten Platz sein kann. Die eigene These zunächst vorwegnehmend gegen die gültigsten Definitionen zu stellen und ihnen gegenüber zu rechtfertigen, bedeutet doch nur, die Problemstellung sichtbar zu machen, der die spätere Darstellung unterstellt werden soll. Am aufschlußreichsten ist noch immer eine Betrachtung jener ersten Anwendung des Begriffs .durch den Kreis um Voß. Mit 10
„romantisch" sollte die Hinwendung der Heidelberger zur Vergangenheit als mystisch und katholisch verspottet und abgetan werden2. Das war möglich, weil der Begriff vor allem in dem für die Aufklärer vorbildlichen Frankreich, durch Rousseau und Voltaire, im Sinne von idyllisch und schwärmerisch verwendet worden war. Er stellte also geradezu deii Gegenbegriff aufklärerischer Nüchternheit dar. Die satirische Benennung erfolgte auch durchaus in der rational-irrationalen Geisteshaltung, die als Individualismus und Idealismus das 18. Jahrhundert bestimmte, als Intellektualismus und Materialismus das neunzehnte bestimmen sollte. In der Verspottung der anders gerichteten Bewegung brachte sich diese Front zu Bewußtsein. Mit dem Ausdruck „romantisch" sollten also nicht nur einige Männer von rückständiger Denkungsart verspottet werden, 6s sollte^ vielmehr eine in ihrem Wesen sehr wohl erlebte Revolution, die gegen das Fundament des Aufklärungsbaues gerichtet schien, im Keim erstickt werden. Man wird an jene andere gegnerische Benennung erinnert, die einen ähnlichen Zweck verfolgte, an die Aufstellung des Begriffs „protestantisch". Er war als Losung aufgenommen worden und hatte infolge seines aktivistischen Zuges eine Hilfe in dem entbrannten Kampfe bedeutet. Auch im Falle der Romantik wäre eine solche Hebung ins Positive möglich gewesen. Denn auch mit diesem Begriff wurde mehr gesagt, als die Gegner sagen wollten. Man muß sich nur an die ältesten Bedeutungen halten, die der Begriff etwa im 17. Jahrhundert in England und auch in Frankreich besaß, wo mit „romant" oder „romance" eine spontan aus dem Volk gewachsene Dichtung von der lateinischen Bildungspoesic abgetrennt wurde. Es ist nicht schwer, von hier aus Verbindungslinien zur Neuentdeckung der heimischen Vergangenheit und ihrer naiven Schöpfungen zu ziehen, wie sie durch die Heidelberger geschah. Des ironischen Tones entkleidet hätte also der Begriff Romantik ihre eigentümliche Haltung gut charakterisieren können. Daß sie selbst ihn nicht aufgriffen, hatte einen doppelten Grund. Sich Romantiker zu nennen, oder ihr Schaffen als romantisch zu bezeichnen, wäre für sie eine Pose gewesen, die ihnen nicht nur fremd, sondern auch versagt sein mußte. Sic waren Romantiker nicht ihrem Wollen und Wissen 11
nach, sondern durch ein sie Übermächtigendes Muß. Sie waren eigentlich bestrebt, das Romantische zu überwinden, da ihr Wollen auf eine Entdeckung und Bergung absoluter, aller Relativität, daher auch allem Romantischen überhobener Werte zielte. Ein ihnen zusagender Name hätte also diesen Zielpunkt fixieren müssen, während der Romantik-Begriff nur den Ausgangs- und Ansatzpunkt ihrer schöpferischen Bewegung kennzeichnete, von dem sie selbst wegstrebten. Sie sprachen daher lieber von ihrer geschichtlichen Methode oder auch, wie etwa Ranke, von dem ,,Real-Geistigen", dessen Anschauung als letzte „Erfahrung" erreicht werden sollte. Sie fühlten sich daher auch gar nicht als „Romantiker", wenn sie sich auch scherzhaft einmal so zu nennen pflegten. Die romantische Haltung war ihnen etwas so Selbstverständliches, daß sie es gar nicht mehr zu bemerken vermochten. Aber sie konnten auch deshalb diesen Begriff nicht aufgreifen, weil sie in ihrer kontemplativen Haltung gar nicht imstande waren, ihn ins Positive zu wenden, was nötwendig auch seine Aktivierung und Politisierung hätte bedeuten müssen. Sie konnten schon gar nicht erkennen, welche Waffe ihnen eigentlich mit diesem Begriff von ihren Gegnern angeboten wurde. Sie standen viel zu unmittelbar im Bannkreis einer romantischen Übermächtigung, als daß sie aus dieser ihrer eigensten Haltung eine Devise hätten machen können. Anders verhielt sich dies für den Jenaer Kfeis um die Brüder Schlegel, dem auch der literarhistorische Begriff sogleich zugeschrieben wurde, nachdem er, in den vierziger Jahren bereits als solcher vorbereitet, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Haym geschaffen worden war. Haym sah in ihm die Möglichkeit gegeben, den letzten Abschnitt der Geistesgcschichte des philosophischen und ästhetischen Jahrhunderts schlagwortartig zu charakterisieren 3 . Aus der Allgemcinvorstellung des „Romantischen" hergeleitet, kam ihm auch durchaus eine solche Bedeutung zu. Romantisch in solchem Sinne von schwärmerisch und exaltiert waren allenfalls die Jenaer, keineswegs aber die Heidelberger. Daher konnten auch jene von Anfang an eine positive Haltung diesem Begriff gegenüber einnehmen und ihn in ihren philosopliisch-litcrarischen Programmschriften verwerten. Wenn 12
sie es auch ebengo vermieden, sich direkt Romantiker zu nennen, so taten sie es doch wieder indirekt durch die Kennzeichnung der neuen Dichtung als romantisch. Sie verstanden darunter allerdings zunächst die Dichtung eines Dante, Cervantes und Shakespeare, aber auch jedes in genialer Weise das klassizistische Maß des 18. Jahrhunderts übergreifende Werk ihrer eignen Generation. Entscheidend für ihre „romantische Haltung" ist aber vor allem ihre Aktivierung des Begriffs des Romantischen in ein Romantisieren. Denn damit wurde er zu ihrem ästhetischen Hauptbegriff. Aber obwohl sie ihn der Aufklärungshaltung entgegenstellten, war er doch keineswegs der Ausdruck für eine ganz neue Haltung. Er entsprach vielmehr dem enzyklopädistischen Charakter des Jahrhunderts durchaus. Der es durchherrschende Rationalismus wurde nur ins Irrationale überhöht, nicht aber überwunden und aufgelöst.'Vorwiegend im Künstlerischen wurde so ein idealistischer Wille romantisierend praktiziert. Ein „Poetisieren" der Welt 'war ihnen gleichbedeutend mit einem „Romantisieren". Das verrät aber, daß sie einen romantischen Zustand erstrebten, nicht besaßen. Die Romantik war ihnen das philosophisch-ästhetische Ziel, dem sie durch ein transzendierendes Wollen zustrebten und nicht, wie für die Heidelberger, der selbstverständliche Grund, in dem sie wurzelten und dem daher auch ihr Wollen entstieg, das niemals über diese ihre Daseinssphäre hinausdrang. In Jena war demnach die Romantik nur e i n e Möglichkeit, wenn auch die höchste, die am stärksten ihr idealistisches Streben auf sich zog, nicht aber eine von vornherein jede Neigung nach anderem, auch noch Möglichem, ausschließende Wirklichkeit. Es dürfte daher auch nur von einem romantischen Idealismus gesprochen werden, womit zugleich die Nähe zur Romantik wie auch das aus dem Geiste der Aufklärungsepoche sich entwikkelnde Streben ins°Irrationale zum Ausdruck käme. Daß ein solcher, vor allem dichterisch, aber auch philosophisch ausgeprägter Idealismus noch innerhalb der Tendenzen des 18. Jahrhunderts möglich war, bedarf keiner weiteren Begründung. Ein Neueinsatz wird erst durch die Romantik von Heidelberg vollzogen, da ihre in einem realen Sinne romantische Haltung nichts mehr gemein hat mit einem ästhetisch-philosophischen Wollen, zu dem sie auch 13
in keiner Weise mehr befähigt i8t. Wie Jena ein Ende ist, die höchste Aufgipfelung des Aufklärungswollens, so ist Heidelberg ein Anfang 4 . Man könnte nach dem bisher Gesagten vielleicht aber doch der Ansicht geworden sein, daß der Romantik-Begriff, nachdem er einmal von der Jenaer Schule aufgenommen und in das System ihres Denkens und WJollens eingebaut wurde* als Kennzeichnung dieser, wenn auch dem 18. Jahrhundert zugehörigen und zutiefst idealistischen Bewegung belassen werden sollte. Und es mag nach einem leeren Wortstreit aussehen, wenn diese Lösung hier verneint werden muß. Wenn der Begriff Romantik an sich nichts anderes ausdrücken würde als das, was er in der Allgemeinvorstellung bedeutet, dann könnte er allerdings eine wirkungsvolle Benennung des ästhetisch-poetischen Idealismus darstellen. Aber schon die Notwendigkeit einer Umwendung des Begriffs ins Aktive, seine Einverleibung in den idealistischen Willensbereich, läßt erkennen, daß er seiner Eigenbedeutung nach zunächst von passivem Charakter war. Und es zeigt sich auch, daß dieses wahre Wesen des Romantischen für die Jenaer ein Außerhalb ihres Seins bedeutete, nicht aber die Sphäre, in die sie sich einbezogen fanden, ein fernes, nur in höchstem willenhaften Einsatz vielleicht erreichbares Ziel, die blaue Blume, die sie zu finden verlangten. Der unbestimmte, gleichsam schwebende Begriff des Romantischen in den vielen, zum Teil sich widersprechenden Definitionen, die von den Brüdern Schlegel, Novalis und Tieck gegeben werden, ist dafür aufschlußreich. Das Romantische zeigt sich als ein eigentlich nur geahntes, nicht gewußtes Ideal. Klar ist an diesem Zielpunkte alles denkerischen und dichterischcn Strebens nur, daß er jenseits der eigenen Daseinsgrenzen liegt. Das damit gesetzte Streben kjnn aber am besten gekennzeichnet werden durch die Einbeziehung der Jenaer Schule in den Idealismus. Die idealistische Haltung, das ist die Realität ihrer Existenz, nicht die Ahnung des Romantischen. Das Wesen jeder Namengebung aber besteht in der Fixierung einer Wirklichkeit. Und als solche ist die Romantik nur in Heidelberg gegeben. - Doch dies muß erst die weitere Untersuchung in aller Deutlichkeit erweisen. - Dies aber mag schon gesagt werden: Nur als illusionäre Scheinbrücke ver14
bindet der Begriff des Romantischen Jena und Heidelberg. Dort wird Romantik gewollt, hier ist sie eine Gegebenheit, dort ein Jenseitiges, hier eine Grenzziehung, dort eine Möglichkeit, der man zustrebt, hier eine Wirklichkeit, von der man sich befreien möchte. Was also ist im wahren Sinne „romantisch" und wo muß von- „Romantik" gesprochen werden? Als Haym den Begriff literarhistorisch verwertete, erschien er ihm zweifellos hervorragend geeignet, die schillernd ungewisse und hochgespannte Atmosphäre des Jenaer Kreises zu charakterisieren. Er sah in ihm einen Begriff, ebenso prägnant wie etwa der Begriff der Aufklärung oder des Sturm und Drang. Und doch betont Franz Schultz mit Recht, daß diese Begriffsbildung „keiner inneren und logischen Notwendigkeit" entsprach 5 . D a s macht schon Ilayms eigene Ausführung deutlich. Er nennt romantisch die für das Jahrhundertende so charakteristische Mischung aller vorhandenen „idealen Motive" und erklärt infolgedessen die Romantik als „idealistischen Universalismus und Enzyklopädismus". Aber diese Wertung ist keineswegs mit dem Ausdruck „ R o m a n t i k " unmittelbar gegeben. Dieser dient vielmehr nur als Schlagwort und man hat sich lediglich daran gewöhnt, ihn für zutreffend zu halten. Denn selbst wenn die einzelnen Persönlichkeiten, um die es sich in der „Schule" handelt, romantische Züge besitzen und ihr Wollen als „romantisch" bezeichnet werden kann, ist noch kein Grund für eine Einsetzung des Begriffs „ R o m a n t i k " vorhanden, falls dieser zur Kennzeichnung einer ihm entsprechenden Wirklichkeit eingesetzt werden kann. Romantische Gebärde ist noch keine Romantik, so wenig Wissen und Wollen einer Sache schon deren Besitz bedeutet. Es lag Haym fern, den benutzten Begriff zu untersuchen. Er bot sich ihm als ein der Zeit schon vertrauter Terminus an. Aber die Frage nach seiner wirklichen Bedeutung hätte gestellt werden müssen, sobald die Frage nach der „Weltanschauung der Romant i k " auftauchte. Dilthey, der eigentliche Schöpfer des geistesgeschichtlichen Begriffs, erkannte allerdings seine innere Unbestimmtheit und wollte ihn daher in seinem Novalisaufsatz nur „mit gewissen Modifikationen" auf die Generation zwischen 1790 und 1800 angewandt wissen. Nur eine „zufällige Abgrenzung" schien 15
ihm damit vollzogen®. Er bemühte sich daher in seinen späteren Arbeiten, diesen Begriff möglichst zu vermeiden. So spricht er in seinem „Schleiermacher" nur von der „jüngeren Generation" oder von der „dichterischen Schule", ein Begriff, der bereits von Schleiermacher selbst für den Jenaer Kreis geprägt und von diesem auch aufgenommen worden war, so daß er also ganz besonders geeignet gewesen wäre, an die Stelle des Romantik-Begriffs zu treten. Als „poetische Schule des deutschen Idealismus" hätte man wirklich das Eigengepräge dieser Bewegung begrifflich gefaßt. Und auch*der wachstümliche Zusammenhang Jenas mit den philosophischen und ästhetischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts wäre gewahrt worden. Diese Lösung wurde jedoch nicht ergriffen. Und sobald einmal derselbe Name für Jena und Heidelberg galt, gab es keine Möglichkeit mehr, weitere Verwischungen. des Begriffs zu vermeiden. Das Romantik-Problem war da. Unabweisbar erhob sich die Forderung nach Erschließung der gemeinsamen Weltanschauung ^eider Romantiken, sollte diese auch noch so entscheidende Modifikationen erfahren. Es lag nahe, dem Entwicklungsgedanken folgend, den man in solchen Fragen nie gern aufgibt; im Späteren nur die Realisierung eines bereits Angelegten zu sehen. Aber auch in diesem früheren Ansatz wollte man noch ein Fortspinnen vorhandener Motive sehen. Der Irrationalismus des 18. Jahrhunderts schien diese Ansprüche befriedigen zu können. Er einte die Jenaer Schule mit der Klassik, ließ sie jedoch in Übersteigung der rationalistisch-klassizistischen Grenzen darüber hinausgehen und auch noch den Einsatz für die Wende zu einem geschichtlichen Realismus geben, wie er in Heidelberg angebahnt wurde. Daß damit zur Folgeerscheinung umgewertet worden war, was in der damaligen Zeit selbst als revolutionärer Aufbruch erlebt wurde, wie die satirische Reaktion des Voß-Kreises zeigt, suchte man zunächst zu übersehen. Die Konstruktion einer einheitlichen Weltanschauung, denn um nichts anderes konnte es sich bei dieser willkürlichen Vermischung entgegengesetzter Haltungen, idealistischem Wollen und mußhafter Ergriffenheit handeln, erhob den Anspruch, eine befriedigende Lösung des Romantik-Problems zu sein. In Wirklichkeit bedeutete die nur untergeordnete Scheidung
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in eine Früh- und Spät- bzw. Hochromantik nichts anderes als eine Stabilisierung der entstandenen Problematik. Dies trat zutage, sobald man zu einer Wertsetzung schritt. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder mußte man die Romantik als eine den Geist des 18. Jahrhunderts überwindende Bewegung fassen, wobei dann notwendig erst in Heidelberg eine Realisierung erblickt werden konnte, oder man mußte die Jenaer Romantik als Vollendung und Verklärung des 18. Jahrhunderts sehen, womit sich Heidelberg als Degenerationserscheinung erwies. Es mußte also der Akzent der Wertung auf eine der beiden Romantiken gelegt und diese zum vollendeten Ausdruck der romantischen Weltanschauung erhoben werden. In beiden Fällen mußte man an dem Gedanken einer Entwicklung, sei sie auf- oder absteigend, festhalten. Selten nur wurden diese extremen Positionen eingenommen, meist wurde zwischen beiden vermittelt und sowohl der Anteil der Jenaer wie der Heidelberger positiv gewertet. Ricarda Huchs Romantik-Buch, das um die Jahrhundertwende erschien und die neuere Romantik-Diskussion eröffnete, stellte jedoch einen Versuch dar, ganz entschieden in Jena schon den Höhepunkt, in Heidelberg nur die Folge und den schließlichen Verfall zu sehen 7 . Auf der Basis einer solchen einseitigen Wertung folgte dann wenige Jahre später die erste Charakterisierung der romantischen Weltanschauung durch Marie Joachimi 8 , die allerdings wesentlich nach Walzels Romantik-Bild orientiert war. Wichtig in diesem Zusammenhang ist nur, daß in dieser Arbeit, selbst bis in die sprachliche Form hinein, der Geist Jenas als allein maßgebend genommen wird. Auch die ausgezeichneten „Studien" des früh verstorbenen A. Poetzsch trennen trotz ihrer bewußten Beschränkung auf den Schlegelkreis die Heidelberger nicht klar genug ab. Zwar wird der widersprechende Charakter derselben erkannt, trotzdem aber eine „Mischung gegensätzlicher Z ü g e " geradezu als charakteristisch für das Wesen der Romantik betrachtet. Wenigstens im Reim müsse in Jena veranlagt sein, was in Heidelberg in Erscheinung trete 9 . - Die Schwierigkeit, in die sich die spätere Forschung versetzt sah, ist offensichtlich. Wenn man nicht die Vorstellung einer einheitlichen Bewegung aufgeben 2 Ruprecht
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wollte, mußte man in irgendeiner Weise eine Entwicklung zu erkennen suchen. Die ganze Bedeutung der damit entstandenen Situation zeigt sich noch deutlicher als in den literarhistorischen Schriften in dem folgereichen, 1908 erschienenen Werk Friedrich Meineckes: „Weltbürgertum und Nationalstaat", in dem der Gedanke eines entwicklungsmäßigen Zusammenhangs zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert auf wesentlich breiterer Basis dargestellt wird. Nicht nur in geistesgeschichtlicher, sondern vor allem in politischstaatlicher Hinsicht sucht ihn Meinecke zu erweisen. Er stellt sich die Aufgabe, durch eine Schilderung der Wege, die „aus der universalen Welt des 18. Jahrhunderts in die nationale und national-politische Welt des 19. Jahrhunderts" hinüberführen, „das wahre Verhältnis universeller und nationaler Ideale" aufzuzeigen10. Er muß daher in der Romantik einen Versuch der Nationalisierung des humanistisch-idealistischen Universalismus auf poetischem und wissenschaftlichem Gebiete sehen. Die Frühromantiker leben als „Söhne der Generation", die das Humanitätsideal geschaffen hat", zunächst ganz in der universalistischen Welt des ausgehenden 18. Jahrhunderts11. Aber sie tragen auch gerade als solche die „Keime" einer neuen Auffassung von Staat und Nation in sich. Diese Anlage befähigt sie dazu, den geistigen Universalismus in einen politischen umzuwandeln. Damit fließen bereits die „universale und nationale Sphäre" ineinander12. Schon die Jenaer Romantik tastete nach dem „Boden des nationalen Staates", aber doch eines „vom christlichen Universalismus umflossenen" Staates13, Denn „das universal-weltbürgerliche Denken" steckte den Romantikern „so tief im Blute, daß es auch da wieder durchschlug, wo die weltbürgerliche Aufklärung durch den Sinn für das Nationale überwunden schien"14. Meinecke kann also im Grunde doch keine Entwicklung in etwas Neues, sondern lediglich ein Hinzutreten neuer Züge zu den fortwirkenden alten nachweisen. Damit ist aber das Neue in seiner eigentlichen Bedeutung entwertet. Die Brücke, die über den Abgrund der Jahrhundertwende gelegt wird, soll diesen selbst unkenntlich machen, ja aufheben. Sie bleibt jedoch immer nur eine Brücke, die über ihn hinweg gespannt wird. Es ist aufschlußreich, daß von Meinecke gerade Fichte als der 18
entscheidende Wegbahner der politischen Ideale der Romantik dargestellt wird. Er sieht „Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn" stets „innigst vereint" und sein Weltbürgertum von 1804 hängt eng zusammen mit seinem Nationalismus von 1807. Die „Wissenschaftslehre" und die „Reden an die deutsche Nation" entstammen derselben geistigen Haltung 19 . Daher betont Fichte auch selbst, daß sich Patriotismus und V/eltbürgersinn durchaus vereinen lassen, also ein Patriot Kosmopolit bleiben könne, da es doch immer nur um eine das ganze menschliche Geschlecht umgreifende Bildung gehe16. Auch der nationale Geist kann zuletzt nur „der wahrhaft menschliche Geist" sein. Diese universalistischhumanistische Haltung überwölbt für Meinecke Aufklärung, Romantik und Idealismus 17 . Eine Kluft ist daher nirgends vorhanden. Sie wird jedenfalls nicht gesehen. Auch das, was in Heidelberg aufbricht und nach Steins Anschauung den Funken legt zu den Befreiungskriegen, ist kein Neueinsatz. „Der junge nationale Gedanke stieg ja nicht als etwas absolut Neues empor, sondern entstand, wie Fichtes Entwicklung beweist, in Bluts- und Lebensgemeinschaft" mit dem Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts 18 . Wenn Meinecke so das Wesen der Romantik ganz aus dem Idealismus des ausgehenden Aufklärungszeitalters entwickelt, oder besser in ihm bedingt und begründet sieht, so muß er folgerichtig die politischen Romantiker von Heidelberg, Görrcs, Arndt und Jahn, mißverstehen und daher beiseiteschieben. Sie passen nicht in dieses Entfaltungsschema. Adam Müller ist daher der Typ eines politischen Romantikers, weil er dem Geist des philosophischen Zeitalters gemäß „die künstlerischen, ästhetischen und philosophischen Interessen mit den politischen" stets verband. Er war spekulativ wie das 18. Jahrhundert und hatte doch auch eine „starke Richtung zum Wirklichen" wie das 19. Jahrhundert 18 . Er war also eine jener Mischnaturen, die allein in einer Entwicklungsgeschichte ihren Platz finden können, die über einen Neueinsatz, wie er eben doch in Wirklichkeit mit der Jahrhundertwende geschah, hinweggeht. Ein in die Fußnoten gedrängtes Urteil W. Grimms erhellt blitzartig diese wahre Situation, wenn dieser auch das Gute bei Adam Müller ablehnt, weil er auch dabei den Eindruck hat, „er habe es auf Borg" 19 . Die fehlende Echtheit, der 3*
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Mangel an unmittelbarem Leben, an der Kraft eines imbedingten Einsatzes neuer Wertungen, das ist es, was man den Ronlantikern im Sinne Meineckes vorwerfen muß. Diese Romantik ist trotz gewisser Ideale, die sie mit dem 19. Jahrhundert gemein hat, eb'en doch eine im Rationalismus und Idealismus des 18. Jahrhunderts wurzelnde Bewegung. Es ist entscheidend, daß die „weltbürgerlichen Ideale", also der Geist des philosophisch-humanistischen Zeitalters, in das hineinragen und es bestimmen, was man als das „Neue" bezeichnen will. Es ist ungemein aufschlußreich, wenn Meinecke die Romantik, orientiert nach Fichte, Müller und Schlegel, als „Kosmopolitismus mit neuem Vorzeichen" kennzeichnet20. Würde diese Charakterisierung ernst genug genommen, dann wäre der Trennungsstrich zwischen Jena und Heidelberg unvermeidlich. Dann müßte von dieser Romantik endgültig abgetrennt werden, was nicht in sie hineinpaßt. Aber ein Verschweigen der unzugehörigen Persönlichkeiten ist keine Lösung des einmal aufgeworfenen Problems. Meinecke stellt allerdings noch fest, daß der von ihm dargestellte romantische Nationalismus seiner universalistischen Züge wegen ohne Schwierigkeit in das System der heiligen Allianz einmündet. Man kann demgegenüber nur fragen, was denn dann das alle Wandlungen überdauernde, also zentrale Ideal dieser ganzen Romantik ist? Meinecke sieht es im Ideal des Nationalstaates. Von Fichte wie auch von Adam Müller wird dieser Staat als ein großes, die Einzelindividuen zusammenfassendes Individuum, als ein abstrakt-neutrales Ich gefaßt. Diese Definition zeigt, daß in dieser Romantik nichts anderes geschieht als eine Ausweitung des theoretischen Individualismus des 18. Jahrhunderts. Eine geschlossene Front wird damit sichtbar, in der sowohl Schiller wie Fichte, die Jenaer Schule wie auch noch Hegel stehen. Denn auch dessen zentraler Begriff ist ja der des Staates und nicht, wie bei den Heidelbergern, der des Volkes. Und auch der Nation-Begriff selbst zeigt sich, als eine Konzeption des Aufklärungszeitalters, durchaus verträglich mit dessen kosmopolitischen Idealen. Nur in einer Fußnote kann Jahns Begriff des „Volkstums" Erwähnung finden, den er, wie Meinecke betont, im Gegensatz zu den Begriffen „Nation" und „Nationalität" „zu Ehren" zu bringen suchte 21 . In Wirklichkeit ging es hier nicht nur 20
um Worte, sondern um eine aus völlig anderem Grunde gewachsene Weltanschauung, die nichts mehr gemeinsam hatte mit den universalistischen Idealen des Rationalismus, denen Fichte wie Adam Müller wie auch die sogenannten Frühromantiker alle verbunden blieben, weil sie von Anfang an und immer im Banne derselben standen. Da Meineqke den Neueinsatz der Heidelberger verkennt, muß er auch die geschichtliche Weltanschauung eines Savigny und Ranke noch im Zusammenhang des weltbürgerlich begründeten Nationalstaatsgedankens sehen. Auch bei ihnen muß er dasselbe „evolutionistische Element" suchen. Daher kann selbst die Lehre vom „Volksgeist" als einer objektiven Macht, der jeder Schaffende dient und aus der alle kulturellen Bildungen wachsen, seinen Entwicklungsgedanken nicht erschüttern. Auch ihn wertet er noch als Ausdruck des spekulativen Denkens und als ein Bild in dem weiten Reiche des „Panpoetismus" der sogenannten Frühromantik. Durch Savigny und Ranke erhält dieses nur „die wissenschaftliche Form"". Auch hier ist der „große universalistische Zug" unverkennbar. Ranke fügt lediglich ergänzend „dem universalistischen Erbe des 18. Jahrhunderts den Sinn für das Nationale in der Geschichte hinzu"23. In solcher Sicht wird der Historiker zum Fortführer der Anschauung des Novalis, daß alles Individuelle „sich universalieren", das heißt aber „romantisieren" lasse23. Und der konservative nationale Gedanke tritt endlich als Ziel einer organischen Entfaltung auf, die allerdings in Wahrheit in sich selbst kreist und endet. Das aufschlußreiche, für das Romantik-Problem noch viel zu wenig beachtete Werk Meineckes enthält damit schon die wesentlichsten Züge des im Laufe unseres Jahrhunderts ausgeprägten Romantik-Bildes. Durch die größeren Zusammenhänge seiner Darstellung könnte besonders deutlich werden, wohin das gehört, was als Romantik bezeichnet wird. Es bedürfte lediglich einer ebenso überzeugenden Herausarbeitung der Elemente, die Meinecke negieren oder wenigstens in -die Anmerkungen verdrängen muß, um der Geschlossenheit dieser ganzen, in sich geschlossenen Welt den Aufbruch eines neuen Lebensgefühls entgegenhalten zu können, der sich mit dem 19. Jahrhundert als „Romantik" ereignete. 21
Die großen Romantik-Darstellungen der letzten Jahrzehnte erfüllen diese Aufgabe, die vom Aufkonimen eines Romantik-Problems an akut war, nicht Indem sie den überlieferten RomantikBegriff kritiklos aufnehmen, ist ein Fortschreiten zu einem schöpferischen Wesensbild von vornherein zum Scheitern verurteilt. So kann man immer wieder das Bemühen feststellen, im Grunde zwei große Thesen durchzusetzen und zu erhärten, erstens die Vorstellung einer sich organisch entfaltenden und dabei verschiedene Wandlungen durchlaufenden einheitlichen romantischen Bewegung und zweitens den damit notwendig verbundenen Gedanken' eines, bei aller Sprengung der klassizistischen Grenzziehungen doch zutiefst bestehen bleibenden wachstümlichen Zusammenhangs mit der idealistisch-humanistischen Kultur des Aufklärungszeitalters. In solchem Bemühen aber mußte sich der Romantik-Begriff in dem verhärten, was er bereits in der Allgemeinvorstellung^ des 18. Jahrhunderts ausgedrückt hatte, und verlieren, was in der satirischen Prägung des Voß-Kreises aufgeblitzt war. Die Romantik wurde zum untergeordneten Glied eines größeren Ganzen, statt als das erkannt zu werden, was sie im Ganzen der neueren deutschen Geistesgeschichte ist, ein Ereignis von größter Bedeutung, wenn auch ohne die Folgen, die ihm gemäß gewesen wären. Am Eingang dieser Bemühungen steht Oskar Walzeis Romantikdarstellung. Schon in seiner „Skizze" von 1908 vertritt er den Standpunkt, daß durch eine Abtrennung entweder der Früh- oder Spätromantik oder gar durch eine endgültige Spaltung beider nur ein „Zerstörungswerk" geleistet würde, wodurch der RomantikBegriff „in nichts zerfalle"14. Er wendet sich zwar auch gegen eine indifferenzierte Zusammenfassung der Romantik mit den anderen Zeitströmungen, wie dies Scherer für die Zeit zwischen 1770 und 1815 tat, betont aber doch wieder die Berechtigung ihrer Ableitung aus den Gegebenheiten des 18. Jahrhunderts. Ein dreifaches Ziel schwebt ihm vor. Er will sich gegen eine Atomisierung der romantischen Bewegung in eine Anzahl nur lose zusammenhängender Persönlichkeiten wenden, jedoch auch auf eine ungeschtahtliche Zusammenfassung verzichten und schließlich eine Abwertung der Heidelberger Romantik im Sinne des Huchschen 22
Werkes vermeiden. Indem er also eine gerechte Beurteilung aller vorromantischen Phänohiene erstrebt, sucht er doch auch die „Zusammenhänge" herauszustellen. Da er außerdem auf eine Entwicklung nicht verzichten will, muß der Akzent wieder auf Jena fallen, wo dann doch keimhaft alles veranlagt sein soll. Die Heidelberger konnten zwar abwandeln, aber nicht neu einsetzen. Aufschlußreich für Watzels Lösung ist besonders die Darstellung des Verhältnisses der Romantik zum Sturm und Drang. Da Walzel die Romantik als eigenständige Bewegung sieht, erscheint ihm eine „sorgfältige Scheidung" wesentlich. Er erkennt, daß sie zwischen Sturm und Drang und Frühromantik unschwer zu vollziehen ist. Hier zeigen sich geradezu „die Stärksten Gegensätze". Jedoch muß er entdecken, daß die Heidelberger Romantik sich dieser „älteren Revolution deutscher Art und Kunst" wieder zu Hähern scheint25. Walzel wertet nun aber diese Erkenntnis nur negativ aus, indem er die Spätromantik für die Gesamtbewegung des romantischen Geistes dadurch zu retten sucht, daß er sie enger mit der Jenaer Schule verbindet. Daß sie gegenüber dem Sturm und Drang „noch etwas Neues, Eigenes und Selbständiges geblieben ist, dankt sie in erster Linie den Führern der Frühromantik"2®. Sie sind also doch die schöpferischen Beweger der ganzen Romantik, und indem die Heidelberger in ihre Nachfolge versetzt werden, erfolgt wieder eine zwar unausgesprochene, aber immerhin unabweisbare Abwertung derselben. Es war jedoch in Walzeis Erkenntnis auch eine andere Ausdeutungsmöglichkeit gegeben. Statt die Gegensätzlichkeit zwischen Sturm und Drang und Frühromantik für die ganze Romantik verbindlich zu machen, hätte auch umgekehrt die Nähe der Spätromantik zu dieser früheren revolutionären Bewegung untersucht und zum Ausgangspunkt der Romantik-Wertung genommen werden können. Es hätte sich dann der ganz andere Schluß ergeben, daß im Sturm und Drang bereits innerhalb des 18. Jahrhunderts in einer noch recht chaotischen Weise empordrängte, was dann im 19. Jahrhundert als Romantik zum Durchbruch kam. Dann hätte jcdoch die Jenaer Schule aus dieser Einheit abgetrennt werden müssen. Eine Aufzeigung ihrer Zusammenhänge mit dem idealistischen Irrationalismus der Aufklärungsepoche hätte deren eigeni-5
liehe Weltanschauung deutlich gemacht. Es wäre ihr enzYklopädistischer Charakter, auf den schon Haym hinwies, unverkennbar geworden, während die Heidelberger Romantik als Neueinsatz in Erscheinung getreten wäre. Da jedoch Walzel die Vorstellung einer einheitlichen, lediglich in sich selbst abgewandelten romantischen Bewegung vor Augen hatte, konnte er in Heidelberg nur Folge, nicht Neubeginn sehen. Es ist daher nur konsequent, daß in den späteren, ausführlicheren Auflagen seines Buches Jena immer ausschließlicher den Geist der Romantik bestimmt. Dies geschieht vor allem dadurch, daß Walzel nun die ganze Romantik in einen größeren, über die Grenzen der deutschen Geistesgeschichte hinausweisenden Zusammenhang stellt. Er sieht in ihr „eine geistige Bewegung und eine seelische Haltung" wieder „die Oberhand" gewinnen, die im „Denken und Fühlen der Menschheit" sejion „mehrfach" bestimmend gewesen war. Die Romantik erscheint ihm als Steigerungsform des Neuplatonismus, als die neue „Verknüpfung des Neuplatonischen und des Germanischen"®8. Nichts ist aber gerade für den Irrationalismus und -den Ästhetizismus des 18. Jahrhunderts so charakteristisch wie die Wiederaufnahme neuplatonischer Elemente vor allem in Shaftesburys ästhetisch-philosophischer Ausprägung. Der deutsche Klassizismus und Idealismus ist zweifellos nicht ohne diese Elemente denkbar. Walzeis Darstellung weist auch den Zusammenhang der Jenaer Romantik mit diesen Tendenzen auf. Jede idealistische Haltung ist platonisch in ihrer dualistischen Grundanlage. Immer erfolgt in irgendeiner Weise eine Abwertung der Sinneswelt, sei sie im Plotinischen Sinne nur das letzte Sichverlieren des Lichts, das dem Einen entströmt, oder sei sie nur scheinhaftes Gegenbild des allein wirklichen, urbildlichen Seins im Sinne des deutschen Idealismus. Was hat aber damit die Erdzugewandthcit eines Arnim noch gemeinsam, was die liebevolle Zuneigung der Grimms und Rankes zur einzelnen geschichtlichen Erscheinung, in der für sie das Ganze anwest, ja, die ihnen an sich selbst ein Ganzes ist? Walzel erkennt zwar der Heidelberger Romantik „ein ganz neues Element" zu, „das sich unversehens und in überraschender Macht entfaltete". Aber dieses ist für ihn doch nur wieder „das politische, nationale und gesellschaftliche 24
Interesse". Diesem kam allerdings eine große Bedeutung zu. Es rettete die romantische Bewegung vor ihrem Untergang, als mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der „Gedankenstrom" versiegte und „die grundlegende spekulative Epoche" vorbei war. In der Erkenntnis eines „Umschwungs", wie es in der ersten Auflage heißt, ist im Grunde etwas sehr Wesentliches für eine Herausarbeitung der sogenannten spätromantischen Haltung gegeben. Aber dieser wird schließlich doch nur als „Wandlung" gewertet, die bereits in Jena begonnen hat. Wie Meinecke sieht Walzel ihren Beginn darin, daß sich die Jenaer ihrer nationalen Eigenheit nicht mehr bloß in einem ästhetischen, sondern „im politischen Sinne" bewußt werden. Wohl nennt er als die programmatische Schrift dieser neuen Haltung Jahns „Deutsches Volkstum" von 1810. Aber er entwertet das damit gefaßte „Neue" doch wieder, indem er es aus dem Jenaer Kreise zu entwickeln sucht27. Wie aber sollte jemals aus der äußersten Höhe begrifflicher Spekulation eine naive Erd- und Volksbejahung erwachsen können? Nur in ebenso spekulativer Weise wäre eine Wendung ins Vergangene und Volkhafte denkbar. Und damit hat ein Arnim, ein Jahn nichts zu tun. Es kann auch nicht ins Gewicht fallen, daß Görres sich weitgehend der Terminologie des Idealismus bedient. Entscheidend ist doch das völlig andere Lebensgefühl, aus dem er spricht. Es gibt keine „Wandlung" von Jena nach Heidelberg. Zwei Weltanschauungen grenzen aneinander, jede einem eigenen Grunde entwachsen. Infolge seiner spekulativen Gesamtschau muß jedoch Walzel den Versuch unternehmen, die neuen Ideale aus dem Lager der Jenaer Idealisten zu entwickeln. An Meinecke gemahnend weist er darauf hin, wie „merkwürdig rasch" die Brüder Schlegel „vom Weltbürgertum zur nationalen Politik" übergehen28. Enthalten schon die „Ideen" Friedrichs Keime vaterländischen Empfindens, so tritt doch bei ihm in Frankreich erst die entscheidende Wendung ein, wie sie etwa in den Gedichten an die Wartburg und den Rhein zum Ausdruck kommt. Als im Jahre 1806 A. W. Schlegel eine patriotische Poesie fordert, kann er daher auf diese Dichtungen des Bruders hinweisen, der noch einige patriotischen Gesänge nach der Schlacht von Jena dichtet. Aber vor allem ist es 25
Fichte, der in seinten „Reden an die deutsche Nation" dem nationalen Gedanken zum Siege verhilft, indem er die staatliche Einheit der Nation in flammenden Worten fordert. Es bleibt demnach also gar keine Möglichkeit mehr zu einem Neueinsatz. Die Heidelberger können nur im Einzelnen verwirklichen, was in der großen Linie bereits gegeben ist. Es kann natürlich keineswegs behauptet werden, daß aus dem Jenaer Kreis, wie überhaupt aus dem deutschen Idealismus keine wirkliche patriotische Begeisterung emporsteigt. Aber eines kann dem vorurteilslos Prüfenden nicht entgehen, daß mit ihr keineswegs die Gesamthaltung verändert wird. Die nationalen Forderungen werden von derselben Weltanschauung getragen wie zuvor die weltbürgerlichen. Der Akzent wird verschoben, nicht aber taucht wirklich ein neues Wort, ein neuer, alles Bisherige stürzender Wert auf. Eine Wandlung, die sich nur in» der Höhenlage der Ideale vollzieht, kann jedoch jederzeit wieder in ihr Gegenteil umschlagen. Sie ist durchaus spekulativer Natur und ergreift nicht die tragenden tieferen Wesensschichten, die unverändert fortbestehen und spätere Ideale ebenso tragen wie diese. Es ist aufschlußreich, daß Walzel trotz der Brücke, die er mit der Darlegung dieser „Wandlung" konstruiert, zu Arnim nicht übergehen kann, ohne von der Möglichkeit zu sprechen, daß „noch von ganz anderer Seite" das deutsche Volk als eine Einheit konzipiert wird29. Das ist, wie er sagt, Arnims „echtes Gefühl mit der Scholle, auf der er geboren". Aus dieser naiven Verbundenheit mit Erde und Volk beginnt er „als Erster unter den Romantikern . . . für das Volk zu arbeiten", und zwar nicht als plötzlich aufflammender Idealist, sondern im Bewußtsein, der „Träger einer Tradition" zu sein29. An die Stelle idealistischer Spekulation ist da£ verantwortungsvolle Einstehen für eine den ganzen Menschen erfüllende Aufgabe am Volke getreten. Und Walzel muß auch noch die Trennungslinie selbst, die ¿wischen diesen beiden Welten läuft, kennzeichnen, wenn er betont, daß Arnim „nicht allseitige Entfaltung der Kräfte verlangt", wie die Jenaer Romantiker, sondern nur Deutsche erziehen will30. Es wäre ein leichtes gewesen, hier eine Trennung zu vollziehen und den Patriotismus den Ceistern zuzuweisen, die ihn, wie 2b
aus Meineckes Darstellungen am besten zu erkennen ist, mit ihren weltbürgerlichen Idealen vereinbaren konnten, weil es sich doch nur um ein Ideal neben andern handelte, und davon gänzlich jenes Hingegebensein an die Realität des Volkes und an den ihr entstammenden Auftrag zu lösen. Aber die Vorstellung einer einheitlichen Romantik ist stärker als diese Einsicht, und Walzel verbindet daher unmittelbar mit Arnims Volkserziehertum die staatswissenschaftlichen Theorien Adam Müllers, die ganz der frühromantischen Weltanschauung entwachsen30. Infolgedessen kann er dann auch Görres nicht gerecht werden, den er trotz seiner Heidelberger Zeit und des „Rheinischen Merkur" auf der Seite der Jenaer sießt. Die weitere Entwicklung müßte allerdings ein deutlicher Hinweis auf die Geschiedenheit der Welten eines Arnim und Adam Müller, bzw. Friedrich Schlegel geben. Aber der Gedanke einer fortschreitenden Entwicklung ist durchaus zu vereinbaren mit der Tatsache einer weiteren „Wandlung", auch wenn diese eine Rückwandlung ins Vorherige sein sollte. Friedrich Schlegel ist wiederum ihr Wegbereiter, Ein „kirchlich-staatliches Universalsystem" ist das neue Ideal und „ein politischer Universalismus löst die nationalen Begrenzungen wieder auf, die am Anfang des 19. Jahrhunderts an die Stelle des Kosmopolitismus getreten waren". Die frühere Wandlung kann jedoch nicht ganz vergebens gewesen sein. Als „kollektivistische Wandlung" bezeichnet, lebt sie fort in der „Idee einer Repräsentation des Volkes nach Ständen" und wird als solche „erwogen"31. Indem die Romantik sich zu dieser zweiten Wende entschließt, ist sie „mit dem Zeitgeist fortgeschritten". Allerdings wird sie als „alternde Bewegung" schließlich doch vom „jungen Deutschland" überhalt, das aber seinerseits auch keinen Neueinsatz vollzieht, sondern ebenfalls „noch" aus dem „alten romantischen Gedankenschatz" schöpft82. In diesen großen Linien zeigt sich am klarsten, was Walzel als „Romantik" faßt, und was in seinem Romantik-Bilde keine Existenzberechtigung besitzt. Er entwickelt aus dem Geiste des 18. Jahrhunderts eine Bewegung, die das eigentliche Gebiet der Romantik zwar umfließt und, angrenzefid an deren Wirklichkeit, als Ideale wesentliche Elemente derselben aufgreift. Aber damit 27
geschieht keine Wandlung, die das Gesamtgepräge von Grund aus änderte. Der Strom ist derselbe, wenn auch sein Lauf mehrmals die Richtung wechselt, Ideale tauchen auf und Ideale gehen wieder unter. Da jedoch die Grundsubstanz bleibt, kann weder ein Neubeginn noph eine wirkliche Umwendung erfolgen. Wo dies'e tatsächlich geschieht, liegt eine andere Substanz zugrunde. Und sich ihr zuwenden, heißt den Fluß, der noch weit ins 19. Jahrhundert hineinfließt und in ihm alle idealistischen Erscheinungen speist, völlig verlassen. Walzel stößt in seiner Arnimbetrachtung auf die Insel der echten Romantik, aber er betritt sie nicht. Auch sie erscheint ihm noch Erzeugnis des einen Flusses, auf den sein Blick gerichtet ist, der sie aber in Wahrheit nur umgrenzt. Mit dem Begriff der „Deutschen Bewegung" gab Nohl in seinem Logosaufsatz von 1911 dieser Vorstellung einer alle Widersprüche in sich auflösenden Einheit die endgültige Formulierung. Die ganze Romantik wurde nun zum Gliede einer dreistufig sich entfaltenden größeren Bewegung. Diese Lösung lag seit Scherer in der Luft, auch bei Walzel ist sie im Grunde bereits gegeben, Nohl jedoch fand den deutenden Begriff. Noch entscheidender als bisher wird Fichte zum anfänglichen Beweger erklärt, da er es war, der dem „neuen Begriff vom Menschen seine höchste Steigerung gab", indem er den Geist als einziges Wirklichkeitsprinzip verkündete. Es herrscht daher das eine Bestreben, „das Endliche aus dem Unendlichen" zu verstehen. Das Ursprüngliche sind in Natur und Geschichte stets die „Ideen". Als „Deutsche Bewegung" herrscht demnach von 1770 bis ins dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ein idealistisch-pantheistisches System. Sturm und Drang, Klassik und Romantik zeichnen sich als drei organisch auseinander hervorgehende Stufen e i n e r Entwicklung ab. Infolge dieser Gesamtanschauung spricht Nohl, wenn er auf die Heidelberger zu sprechen kommt, nicht mehr von einer „Wende", sondern nur noch von einer „Ergänzung". Das Wissen von Wert und Rechf „jeder individuellen Gestalt", wozu auch der Geist eines Volkes zu rechnen ist, stammt aus der Erkenntnis der notwendigen Bedingtheit des Geistigen durch die natürlichen Faktoren. Sie wird noch weiter „ergänzt durch die Entdeckung einer immanenten Gesetzlichkeit jeder historischen Entwicklung und 28
des Eigenwertes jeder Stufe in ihr" 33 . Man darf nicht übersehen, daß damit etwas Wesentliches über die Weltanschauung der Heidelberger gesagt wird. Aber da diese „Entdeckung" doch nur als Entwicklungsprodukt in die ganze „Deutsche Bewegung" eingereiht wird, verliert sie ihre revolutionäre Bedeutung. Der Einstieg in die Tiefe der geschichtlich-volkhaften Substanz wird als Teil idealistischer Spekulationen gesehen und damit seines Wertes beraubt. Dieses anorganische Element wurde der Genialität der Gesamtkonzeption zuliebe übersehen. Vor allem nach dem Weltkriege erfuhr Nohls Begriff in verschiedenen großen Darstellungen seine Durchführung. Und was bèi ihm noch nebensächlich erschien, trat hier klar zutage, ohne allerdings den Gesamtbau erschüttern zu können, daß mit der Romantik von Heidelberg ein unzugehöriger Stein in das so organisch erscheinende Gebäude eingebaut worden war. In seiner „Ideengeschichte der Goethezeit" („Geist der Goethezeit", 1923/1) stellt sich Korff die Aufgabe, „die klassischromantische Dichtung in einem tieferen Sinne verständlich zu machen"34. Er versucht dies durch eine mehrstufige Abwandlung. Trotzdem wird sie als Einheit konzipiert, die als Ganzes im „Widerspruch zu dem Geiste der Aufklärung" entsprang. Als „Skepsis der höchsten Aufklärungstypen gegen die Verstandeskultur", d. h. als eine antithetische Reaktion innerhalb der Aufklärung selbst beginnt die idealistische Bewegung35. Sie entstammt also einem bereits Vorhandenen, ist, wenn auch antithetisches Entwicklungsresultat, doch nicht ein aus einer eigenen Quelle gespeister Neueinsatz. Allerdings folgt diesem negativen Beginn unmittelbar ein „positiver Durchbruch des neuen Lebensgefühls". Das ist der „Sturm und Drang", der, wie bereits früher angedeutet wurde, tatsächlich schon einen ersten noch chaotischen Durchbruch der echten Romantik bedeutet. Für Korff handelt es sich jedoch um die „stürmische Jugendphase" des deutschen Idealismus, in der die Wendung „zum Kultus des Irrationalen" vollzogen wird, der die ganze Goethezeit bestimmt38. Korff kennzeichnet als das Ideal dieser ersten Phase eine „Rückkehr zur Natur". Aber „die Undifferenziertheit dieser Idee" läßt den Menschen 29
schließlich doch in seiner Fragestellung beharren. Eine zweite Phase schließt sich daher als „ein scheinbarer Rückschlag", wiederum in dialektischer Gesetzmäßigkeit an. An die Stelle des Gefühlsrausches ist damit das „Bedürfnis nach Tat" getreten. Es ist die von Kant bestimmte „Periode des Vernunftidealismus". Eine starke Spannung herrscht in ihr zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das Pflichtideal kann aber wieder keine endgültige Lösung dieses Dualismus sein. Daher setzt die dritte Periode ein als „Versöhnung", als „Synthese" im Sinne- der dialektischen Entwicklung, die im Gefühlsidealismus ihre These, im Ve'rnunftidealismus ihre Antithese besitzt.. Korff spricht auch ganz hegelisch vom „Mannesalter des deutschen Idealismus"87. Mit dieser klassischen Periode, in der die klassischen Dichtungen Goethes und Schillers geschaffen werden, schließt die „erste Epoche", die als „humanistischer Idealismus" bezeichnet wird. Ihr läßt Korff eine zweite, „romantische Epoche" folgen. Auch sie bedeutet, der Grundkonzeption entsprechend, keinen Neubeginn, vielmehr „nur eine Weiterentwicklung der allgemeinen ideengeschichtlichen Grundlage der gesamten Goethezeit". Denn es tritt in ihr „keine Idee zutage, die nicht schon in der humanistischen Epoche vorgebildet wäre"37. Diese Feststellung muß von vornherein ihre .Schatten auf die Romantikdarstellung werfen. Korff stellt zwar einschränkend fest, daß der Übergang als eine „Wendung" erfolgt, von tieferer Bedeutung als -die vorherigen „von der genialischen zur ethischen und ästhetischen Phase", aber auch die dadurch erreichte „metaphysische Phase des deutschen Idealismus" ist ein organischer Teil des gleichen Ganzen3s. Wie ist eine solche Weiterentwicklung über die Synthese hinaus überhaupt möglich? Die Kluft ist zwar durch den klassisch-ästhetischen Idealismus überbrückt worden, aber diese Brücke hat sich den empordrängenden Problemen gegenüber als unzureichend erwiesen. „Die jüngere Generation" zeigt sich auf der „Höhe des Idealismus" als problematisch. Und aus dieser Not wird die „romantische Epoche des deutschen Idealismus" geboren, in der nun „die alten, idealistisch-humanistischen Grundideen von einer romantischen Metaphysik unterbaut, durchdrungen und vollendet werden"ss. Die Überhöhung der Synthese erscheint damit als gerechtfertigt. 30
Auch läßt sich ohnö Schwierigkeit erklären, warum in diesgr romantischen Epoche „die großen Denker der nachkantischen Ära die geistige Führung" besitzen. Es geht um eine neue Metaphysik und ohne Fichtes, Schellings und Hegels Ideensysteme wären daher die Dichtungen der Romantiker (der Jenaer) nicht möglich. Erst im „Gefolge der Transzendentalphilosophie" erhebt sich die neue Dichtung. Jetzt gehen all die vielartigen „Keime" auf, die in der vorherigen Epoche gepflanzt wurden. Daher ai^ch die „geradezu verwirrende Mannigfaltigkeit", die sich hier darbietet. Es erfolgt allerdings auch eine „bedenkliche Romantisierung" des gesamten Lebens und auch der Wissenschaft39. Durch ein solches Verlassen der humanistischen Sphäre ist es bedingt, daß, ebenso wie zur ametaphysischen Weltanschauung der Aufklärung der Individualismus gehörte, jetzt zur metaphysischen Weltanschauung „seine Verneinung" treten muß. Die Frühromantik ist zwar selbst noch individualistisch und direkt als „letzte Aufgipfelung des Individualismus" zu fassen, aber doch schon als dessen Übersteigerung. Es tritt also bereits eine Umwertung ein, die aber auch in der humanistischen „Verpflichtung des Individuums auf die Gattungsidee schon vorgebildet war". Durch diese Entwicklung „verbleicht das Persönlichkeitsideal" und es treten „überpersönliche Ideale" an seine Stelle, wie „Nation, Staat, Recht und Geschichte". Durch deren Aufnahme wird eine „Erlösung aus dem Fluche der Individuation" erreicht. Korff sieht also auch dieses Umschlagen noch als eine Entwicklung zu höheren, aber doch vorgebildeten Idealen. Der Boden bleibt derselbe, die Atmosphäre wechselt nicht. Es erfolgt eigentlich nur ein „Aufschwung" auf eine höhere Stufe, die als „überindividuelle Objektivation des Weltgeistes" erscheint. Die Ruhe, die das Individuum in sich selbst zu finden hoffte, gewinnt es damit schließlich in der „Hingabe an die großen überindividuellen Mächte"39. So wird, wie Korff ausführt, der „rätselhafte Vorgang" verständlich, daß die „große Ideenbewegung" in einem, „reaktionären Idealismus" endet. Denn bei einer solchen „überindividualistischen Weltauffassimg" bedurfte es „nur eines Sprunges", um „in 31
das christliche Ideensystem hinüberzuwechseln"40. Korff muß daher von einer „Entartung des romantischen Idealismus" sprechen, obwohl er die realpolitische Bedeutung nicht verkennt. Als Folge sieht er die „Wiederkehr einer erneuten Aufklärungswelle", die als naturwissenschaftlich-technischer Industrialismus den Geist der Goethezeit verdrängt40. Die sogenannte Spätromantik steht damit wieder, an R. Huchs „Verfall" erinnernd, auf der Abstiegsseite der Gesamtentwicklung, die Korff als „Goethezeit" zusammenfaßt. Sie ist die reaktionäre Umkehr ins vordem Gewesene. Eine solche Deutung entbehrt nicht einer relativen Richtigkeit. Aber das Phänomen ist unklar gesehen. Die Romantik ist nicht selbst reaktionär, sie besitzt lediglich nicht die Macht, ihre Weltanschauung durchzusetzen und mit ihr eine reaktionäre Bewegung zu verhindern. Man kann den späten Görres ebenso wenig wie A. Müller, Gentz und Schlegel dafür ins Feld führen. Als Romantik bricht eine gänzlich aus der Zeit herausfallende Bewegung auf, wenn sie auch nur unvollkommen von ihren Trägern realisiert wird. Wenn sich im Kampf um ihre Durchsetzung ein Görres schließlich ins reaktionäre Lager verliert, um überhaupt Kämpfender bleiben zu können, so sagt das gegen die Weltanschauung der Romantik selbst nichts. Arnim hat bis an sein Ende seinen ursprünglichen Kurs nicht aufgegeben und auch die Brüder Grimm haben in der Welt ihrer Wissenschaft den reinen Charakter der romantischen Weltanschauung gewahrt. Auch sie sind keine Reaktionäre im Sinne Korffs. Und im Ganzen gesehen ist die RückWendung der Romantiker schon gar nicht als eine Reaktion zu erklären, da sie nichts Gewesenes restaurieren wollten, sondern zu den Quellen auch des Zukünftigen vorzustoßen suchten. - Dies klarzustellen bedarf es jedoch einer ausführlicheren Erörterung. In Hinblick auf Korffs Werk kann nur wieder die Frage gestellt werden: wo ist der revolutionäre Aufbruch, der selbst im Zeugnis der Zeitgenossen, eines Stein oder auch des gegnerischen Voß, in Heidelberg erfolgte? Hier „verbleicht" nicht ein Ideal, sondern hier tritt eine völlig andere Haltung in Erscheinung. Von diesem Neubeginn ist aber bei Korff nicht die Rede. Das ist auch gar nicht möglich, solange an der Verstellung einer durchgehenden 32
Entwicklung festgehalten wird. Denn mit ihr wird eine wirkliche Sicht der Phänomene verbaut. Nirgends ist es so unzutreffend wie an der Wende zum 19. Jahrhundert, an eine fortgehende Entwicklung zu denken41. Das Ereignis der Französischen Revolution steht als ein Mahnzeichen am Ende dieses philosophischen Zeitalters und reißt alle idealistischen Verschleierungen hinweg, um zum ersten Male den Blick in den drohenden Nihilismus freizulegen. Die Entwertung aller höheren Werte steht als eine alles beherrschende Gefahr am Tore des neuen Jahrhundert^ Und die Romantik, wenn sie in ihrem wirklichen Wesen erkannt wird, ist nichts anderes als der erste und auch einzige deutsche Versuch, den Nihilismus zu überwinden, ehe er noch voll zum Durchbruch gekommen ist. Demgegenüber erscheint die sogenannte Frühromantik als letzte Aufgipfelung der im Idealismus endenden Aufklärungsbewegung, die sich kühn über deu-drohenderi Abgrund hinüberschwingen möchte. Korffs Einordnung dieser Romantik in den Idealismus entspricht also durchaus der Wirklichkeit. Aber es müßte dann, sei es auch unter anderem Namen, ganz abgetrennt werden, was nicht zugehört, die Romantik von Heidelberg einschließlich der sogenannten Historischen Schule. Die Notwendigkeit einer solchen Abgrenzung wurde in Alfred,Baeumlers Bachofeneinleitung bereits im Jahre 1926 in aller Bestimmtheit dargelegt. Aber noch immer wird selbst in den neuesten Darstellungen an der Vorstellung einer einheitlichen Bewegung festgehalten, die sowohl Jena wie Heidelberg umfaßt. In dem 1940 erschienenen dritten Teil seines Werkes gibt Korff eine umfangreiche Darstellung der Frühromantik. Durch Heraushebung des Generationsbegriffs versucht er den Entwickiungsgedanken zu entlasten. Die erste humanistische Generation kann nur entwickeln, was sie als Fähigkeiten in sich trägt, es bedarf also einer heuen, eigene Entwicklungsmöglichkeiten in sich tragenden Generation, um ein Fortschreiten möglich werden zu lassen. Die Romantik setzt daher als „neue Jugend" ein, aber das ist eine wesentliche Erkenntnis Korffs, die geeignet wäre, das Wesen der „Frühromantik" zu erhellen - diese Jugend vermag nicht spontan aus sich heraus das Neue revolutionär in die Zeit au werfen. Sie steht „in einem Bildungsklima", das von Kant und 33
Schiller bestimmt wird. Ein alles Eruptive fesselnde? „Drang nach philosophischer Spekulation" läßt die Romantik von vornherein „an geistiger Bildung alt sein" 0 . Diese Erkenntnis erhellt die Frühromantik als das, was sig ist, als die Enderscheinung der idealistisch-klassizistischen Epoche. Und darin beruht auch der Wert der Korffschen Darstellung. Sie will zwar zwei Ansprüchen genügen, nämlich einerseits den Zusammenhang der neuen Generation mit der vorangehenden festhalten, andererseits aber doch auch das Neue aufzeigen, das durch sie erreicht wird. Das Festhalten des Evolutionsgedankens macht jedoch eine wirkliche Abgrenzung unmöglich, denn immer muß auch das Nepe noch als das „Werk des einen Geistes" erscheinen. Immer stqht nur dessen ideelle Entwicklung in Frage. Daher kann Korff gar nicht die Romantik „in ihrer einfachen Tatsächlichkeit" darstellen, sondern muß sie verstehen „als Romantisierung des von der humanistischen Generation geschaffenen Werkes". Die Tat der Romantiker besteht also für Korff in einer Wandlung der bereits vorhandenen Weltanschauung. Dieses Neue ist daher nur „durch die ständige Zurtickbeziehung auf das Alte" zu verstehen43. Das Wesen der Romantisierung erklärt Korff als ein Überschreiten der von der humanistischen Generation gewahrten Grenzen. Sic geschieht als „Schritt in eine neue Metaphysik". Aber diese ist auch nicht völlig neu, sondern erweist sich als Vollendung der Kantschen Transzendentalphilosophie. In ihrer Substanz ist sie jedenfalls „ganz und gar identisch" mit der Welt, deren Grenzen sie niederlegt. Die klassische Philosophie ist innerhalb der klassischen Grenzen auch „noch gar nicht wirksam geworden". Daher führt Fichte die Weltanschauung Kant$f über ihre eigenen Grenzen hinaus und leitet damit die Romantik ein. Ein neues Lebensgefühl wird so erreicht. Alles Natürliche empfängt einen „wunderbaren Charakter", wird romantisiert oder poetisiert". Diesem Vorgang stellt Korff den zweiten einer Veränderung des geschichtlichen Bewußtseins zur Seite. In der „Wunderwelt des christlich-germanischen Mittelalters" wird die gesamtgeschichtliche Welt entdeckt, die einem solchen Bewußtsein gemäß ist. Hier muß jedoch die Frage auftauchen, ob damit nicht, „etwas schlechthin Neues" in Erscheinung tritt. Denn die Klassik kennt 34
dieses Geschichtsgefühl nicht. Da aber Korff den Sturm und Drang ebenfalls der ersten Generation zurechnet, kann er in ihm die Ansätze aufzeigen, die dann lediglich ihre Romantisierung erfahren müssen. Und schließlich wäre, wie Korff betqnt, die Entdeckung des Mittelalters auch „nicht ohne die Transzendentalphilosophie" erfolgt. Damit läßt er erkennen, daß er als Romantik wieder ausschließlich die Jenaer Schule ins Auge faßt. Auch deren dichterische Leistung ist nicht denkbar „ohne die gleichzeitige Gedankenwelt". Denn sie ist „in höchstem Maß" Ideendichtung. Die ganze romantische Welt steht also „im Lichte der Transzendentalphilosophie"45. Durch eine so klare Herausarbeitung der Zusammenhänge vollzieht Korff eine Grenzziehung, ohne es zu wollen. Er läßt die Jenaer Romantik auf eine durchaus überzeugende Weise als Erscheinung innerhalb des humanistisch-idealistischen Weltbildes erkennbar werden. Denn eine Transzendierung gleicher Substanz bedeutet Entwicklung, nicht Neubeginn. Es ist daher mit Recht von einer „Periode" innerhalb einer „Epoche" die Rede. Aber Korff bleibt dabei nicht stehen, sondern versucht auch die Heidelberger Romantik in diesen Zusammenhang zu bringen, indem er die romantische Generation selbst in zwei GenerationsGruppen gliedert. Beide sind an der Schöpfung eines gleichen Werkes nur „auf verschiedene Weise" beteiligt. Auch diese Verschiedenheit ist jedoch letzten Endes bestimmt von der ersten Gruppe, in der bereits „die ganze Welt der Romantik vorhanden ist". Es tritt mit der Hochromantik „kaum etwas Neues in die Erscheinung". Das Mittelalter ist schon bei Tieck beschworen, das Märchenhafte, das Fromme und das Ritterliche bereits bei Novalis und Schlcgel ausgeprägt. Die jüngere Gruppe kann demnach nur noch das Vorhandene ausbauen. „Die eigentliche Schöpfungsgruppe" ist die Jenaer Schule. Es handelt sich also zwar um zwei Generationen „mit verschiedenen Gesinnungen", jedoch um e i n Werk, wie ja die mittelalterlichen Dome auch „romanisch begonnen und gotisch vollendet worden sind"10. Dieser zur Erhellung angezogene Vergleich ist aber gerade besonders dazu geeignet, die in Korffs Darlegung negierte Kluft zu erhellen, die dort wie liier zwischen den beiden einander folgen35
den Epochen klafft. Denn es sind Epochen, die gegeneinander scharf abgegrenzt sind durch eine eigene Weltanschauung, Auch Ubergangsformen können diese Geschiedepheit nicht verwischen. Sie sind jedenfalls nicht geeignet, zu einem Verständnis der Phänomene selbst zu führen. Aus der Perspektive der reinen Erscheinungsformen erst können sie in ihrer Zugehörigkeit oder Fremdheit erfaßt werden. In der Romanik herrscht eine durchaus andere Lebensanschauung als in der Gotik, und.selbst als untergeordnete Teile gotischer Dome bewahren daher romanische Formen ihren eigenen Charakter; denn sie gingen aus einem anderen Verhältnis zur Erde, zum Stofflichen und daher auch zum Übersinnlichen hervor. Von Entwicklung im Sinne eines allmählichen Übergehens des Einen ins Andere kann nur in einem ganz äußerlichen Sinne die Rede sein. Sowie man den Blick auf das weltanschauliche Gefüge lenkt, wird man niemals, weder im Falle von Romanik und Gotik noch von Früh- und Spätromantik, ein langsames Ineinanderfließen feststellen können, sondern immer nur eine Entscheidung, einen Einschnitt, einen Wechsel der tragenden Impulse, unabhängig von den äußeren Formen. Diese mögen gewahrt bleiben, werden jedoch nicht mehr von den Kräften getragen, aus denen sie erwuchsen. Neue Kräfte abef fordern andere Formen. Und diese setzen sich der Macht des Traditionellen gegenüber durch. So sind alle Mischformen zu verstehen, Sie geben Zeugnis von der Ohnmacht abdämmernder Impulse, Zeugnis aber zugleich auch von der wachsenden Kraft der erst empordringenden. So verstummte die erdgebundene Seele, die sich in den schweren Massen der romanischen Gewölbebogen aussprach, während der ins Transzendente schweifende Geist der Gotik alle Festigkeit und Schwere zu überwinden trachtete. - Kann man dabei von einer Vollendung des Einen durch das Andere sprechen? Ist nicht vielmehr jeder Stil vollendet nur in sich selbst? Und ist nicht jeder Stil in seiner Reinheit der Ausdruck einer ganzen, in sich abgerundeten Weltanschauung? Wozu also sollte er sich entwickeln können im Hinausgehen über sich selbst? Entwicklung bedeutet für eine Weltanschauung eigentlich immer nur die Auflösung ihrer selbst. In der schrittweisen Erreichung der vom gotischen Geiste erstrebten Transzendierung stirbt der Geist der
Romanik. Daher kann von einer Entwicklung nicht gesprochen werden. Und die Übergänge sind eigentlich nur Merkmale für den Anbrach einer neuen Epoche, d. h. für den Einsatz neuer Impulse. Man spricht auch in der Geistesgeschichte noch immer von Übergängen, weil man sich selten genugsam bemüht, die Außenformen zu durchdringen und die hinter ihren Vermittlungsversuchen stattfindenden Auseinandersetzungen zu enthüllen. Immer stellt sich in solchen Fällen ein neuer, aus der Tiefe des Ungewordenen aufbrechender Impuls, eine bildende Kraft gegen die Machtstruktur des schon in eine feste Seinsform Verfestigten. Die Aspekte sind dabei ganz verschiedene. Das zeigt der Vergleich des Wechsels von Romanik zu Gotik gegenüber dem von Jena nach Heidelberg besonders deutlich. Dort steht eine diesseits gebundene Weltanschauung einer als junge Kraft gegen sie aufstehenden, nach dem Jenseits aller sinnenhaften Möglichkeiten orientierten Weltschau entgegen. Hier dagegen erhebt sich gegen eine idealistischtranszendente Orientierung eine zur Erde sich hinneigende Seele. Man könnte also geradezu von einer umgekehrten Entsprechung reden. Jedenfalls aber ist dieser Vergleich keineswegs geeignet, einen Übergang von Jena nach Heidelberg zu erläutern, sondern weit mehr dazu, die Kluft aufzureißen, die beide Weltanschauungen unüberbrückbar voneinander scheidet. Auch Korff versucht dann im Sinne Meineckes in der nationalen Idee das Charakteristikum der Heidelberger Romantik zu sehen. Er betont allerdings, daß diese Hochromantik mit dem „Deutschgefühl" beginnt, daß also für sie „das volkhafte Kulturgefühl das ursprüngliche" ist. Aber er wertet diese Erkenntnis nicht in einer positiven Weise aus. Die Heidelberger Romantik hat vielmehr „ n u r etwas ursprünglich gehabt", wozu sich die Frühromantik entwickelte47. Es ist aber entscheidend für die Romantik von Heidelberg, d a ß sie urtümlich etwas hat und darin beruht. So hat sie ein unmittelbares Verhältnis zum Mittelalter, zum Religiösen, zur Erde, und strebt es nicht erst an. Sie wendet sich auch nicht aus' Interesse diesen Gebieten zu. Sie lebt von vornherein in diesen Bereichen, kurz gesagt, sie i s t Romantik, sie strebt nicht willentlich eine romantische Haltung an. Daher liegt ihr auch jedes Romantisieren fern. Was also die Heidel37
berger ursprünglich haben, ist weit mehi als ein „Kulturgefühl". Denn dieses wäre noch durch Entwicklung zu erreichen. Was aber in diesen wahren Romantikern aufbricht, ist von elementarer Mächtigkeit. Tragende Impulse sind nicht zu entwickeln. Sie sind da und wirken, können jedoch nicht auf dem Wege idealistischer oder voluntaristischer Spekulation erreicht werden. Wenn Korff betont, daß die Frühromanti'ker „Söhne unserer Klassiker" sind und „aus derselben seelisch-geistigen Substanz" leben wie sie, daß diese lediglich bei ihnen übersteigert erscheint, dann faßt er zweifellos eine Wahrheit48. Aber von ihr müßte alles Nichtzugehörige abgegrenzt werden, und das ist eben die ganze, als Hochromantik bezeichnete Bewegung um Arnim, Görres, die •Brüder Grimm und Savigny. Wenn der Romantiker „der wertherische Mensch" ist, dann sind die Heidelberger keine Romantiker. Denn sie können nicht als Übersteigerungen des Werther-Typus verstanden werden. Der Heidelberger Romantiker ist kein „Gefühls-, Phantasie- und Reflexionsmensch", wohl aber der Jenaer. Er allein ist „Endprodukt einer sehr langen Bildungskette", in dem auch -„der letzte Funke, von Naivität" erstickt ist48. - Wie kann aber diese Erkenntnis zusammengebracht werden mit der zuvor geäußerten Behauptung, daß in Heidelberg eine Haltung urtümlich da ist? Wie sollte dieses jemals aus einer solchen letzten und äußersten Verfeinerung entwickelt werden? Nie ist aus einem solchen Enden ein neuer Ansatz gewonnen worden. Eine Übersteigerung ist stets nur der Anlaß zu weiterer Zersetzung und Versprühung in einen immer feineren Funkenregen. Mit Recht spricht Korff von der überreifen Kultur am Ausgang des 18. Jahrhunderts48. Warum also zieht er nicht die Konsequenz, sie in sich selbst abzuschließen und demnach den Geist der Goethezeit in der Jenaer Schule ausklingen zu lassen? - In seinem Frühromantik-Teil prägt er selbst den Begriff „absoluter Idealismus", wenn er die Jenaer Romantik als „die Ausweitung des klassischen Horizontes über seine klassische Grenze hinaus" deutet50. Wie im Idealismus ist auch in Jena „das ideell Primäre und das metaphysisch allein Wirkliche . ••. das Ich"51. Dieses muß, um zu sich selbst zu kommen, das Nicht-Ich erst schaffen. In dieser unendlichen Tätigkeit steht der ganze Idealismus. Sie schließt auch die 38
Rückverwandlung des Nicht-Ich in das Ich noch in sich, die durch ein Eindringen in unbewußte Vorgänge des Ich erfolgt. Und so kann Fichtes Begriff der produktiven Einbildungskraft zur Legitimierung der romantischen Phantasie werden. - Aber in Jena wird noch ein Schritt über Fichte hinau's getan, indem die Phantasie zur Ursache aller Wirklichkeit erhoben wird. In der Konsequenz dieser Übersteigerung liegt der „magische Idealismus" des Novalis52. Das Ich wird in ihm zum allmächtigen Magier. Und dieser schöpferischen Freiheit steht die „schöpfungsaufhebende Freiheit der romantischen Ironie" gegenüber als der relativistische Zug neben dem absolutistischen. Korff betont, daß der magische Idealismus die Romantisierung der Welt bedeutet, wenn diese als „der fortschreitende Prozeß philosophischer Weltdurchdringung, als die weitergeführte Vergeistigung alles Daseins aus der Subjektivität" verstanden wird50. Romantik wäre demnach nichts anderes als eine Steigerungsform des Idealismus, ein Versuch, ihn magisch-willenhaft, wenn auch durchaus im Reiche der Spekulation und Phantasie zu realisieren. Denn es ist „dem magischen Idealisten letztlich gleichgültig, ob die Überwindung der Welt praktisch oder theoretisch, faktisch oder fiktiv erfolgt"53. Wenn man sich diese Haltung in aller Endgültigkeit deutlich macht, wozu Korffs'Werk eine große Hilfe bedeutet, dann kann man nicht mehr im Zweifel sein, daß in Jena ein Weg zu Ende gegangen wird. Es ist ungemein aufschlußreich, daß Korff sich gezwungen sieht, die Goethe-Zeit, soweit sie durch Herder und Goethe selbst repräsentiert wird, davon etwas abzugrenzen. Denn die geistige Substanz war hier „ursprünglich ein neues Naturgefühl" 58 . Es ist allerdings bereits wieder mißverständlich, wenn von „Naturidealismus" die Rede ist gegenüber dem „Vernunftidealismus" bei Kant und Schiller. Denn damit werden wieder die Grenzen verwischt.. In Wirklichkeit bricht in Herder und Goethe, soweit sie sich nicht klassizistisch-humanistischen Idealen zuneigen, eine Naturgläubigkeit durch, die ebensowenig in den „Geist der Goethezeit" gehört wie die Heidelberger Romantik. Auch hier sind Abgrenzungen dringend erforderlich. Vor allem ist der Begriff der romantischen Naturphilosophie einer Klärung bedürftig. Denn auch in ihr steht eine idealistische Front einer romantischen 39
gegenüber, um Schölling einerseits, um Goethe, wie auch in anderer Hinsicht pm Görres, andererseits konzentriert. Die eine wächst aus dem Fichteschen Idealismus und faßt die Natur vom Geiste her. Wenn auch gerade Schelling sich vielfach der eigentlich romantischen Haltung nähert, so kann er doch nie seinen idealistischen Ansatzpunkt verleugnen. Der Idealist kann doch nur immer als Denkender erfassen, was dem Romantiker Lebenswirklichkeit ist. Das ist die Grenze und an ihr steht Schelling. Nur in beschränktem Sinne kann er daher als Philosoph der Romantik angesprochen werden, als ihr idealistischer Philosoph, da es eine eigenständige romantische Philosophie nicht gibt. Als solcher bleibt er für die Enthüllung mancher Problemkreise bedeutsam. Allerdings muß man immer den idealistischen Blickpunkt berücksichtigen. Auch bei Goethe ist eine entsprechende Grenzziehung vorzunehmen. Seine große haturwissenschaftliche Entdeckung des Urphänomens ist durchaus von einer romantischenHaltung getragen. Was die Jenaer Schule anbelangt, so könnte für manche ihrer Bestrebungen von einem „romantischen Idealismus" gesprochen werden. Immer jedoch geht „Jena" aktiv auf das zu, was „Heidelberg" müssend erfährt. Carl Schmitt trifft diese frühromantische Aktivität gut, wenn er ihr alle Möglichkeiten auffassendes, spielerisch-schöpferisches Bewußtsein mit dem Begriff „subjektivierter Occasionalismus" faßt 54 . Anlaß für eine Aaswirkung und infolgedessen Ausweitung der Subjektivität ist alles, was hier schöpferischer Belang wird. Niemals aber geht die Ergreifung bis zur völligen Wirklichwerdung. Die Zone der Realität, in der das Wollen gegenüber einem Müssen verstummt, in wcichem der Denkende selbst zu einem Gedanken wird, in dem das ausgelöscht wird, was .er bisher sein Ich nannte, und er einer Realität dient, die ihn selbst ebenso aufhebt wie erfüllt, diese Wirklichkeit potentiellen Seins erreicht der mit Möglichkeiten immer nur Spielende nie. Sein Streben nach Wirklichkeit bleibt stets der „Anfang eines unendlichen Romans" (Novalis). Die Sehnsucht nach Realität läßt ihn zwar alle Möglichkeiten einer Seinsbemächtigung ergreifen, aber er möchte doch stets der Wollende bleiben in der Furcht, sich durch Selbstaufgabe dem Realen gegenüber gänzlich zu verlieren. Der Idealist jeder Form steht 40
immer vor dem Abgrund des Selbstuntergangs, den er meidet, wenn er ihn auch mit seiner Begriffsspekulation beständig überfliegt. Nie jedoch vermag er den Fuß wirklich ans andere Ufer zu setzen, denn dazu müßte er durch das trennende Nichts hindurch. Der Romantiker trägt das Erlebnis dieser Selbstaufgabe in sich. Er ist am andern Ufer. Daher kann er, ja muß er Realist sein. Er strebt weder nach Geist noch nach Wirklichkeit, er' sucht sich lediglich zum immer besseren Organ zu machen, um das Wirkliche in jeder Gestalt als ein Wirkendes zu erfahren. Der romantische Idealist dagegen muß auch' aus dem höchsten Aufschwung, aus der stärksten Magie seines romantischen Träumens" immer wieder in sich zurücksinken, und alle seine Ausfahrten ins weite Reich der Möglichkeiten führen ihn daher niemals in die Wirklichkeit selbst hinein, sondern zeigen sich stets wieder als „Reisen ins Land der Romane" (Novalis). Wenn daher die Frühromantik fragmentarisch ist, so ist sie es stets im Sinne eines Umherirrens in der unendlichen Fülle des „Möglichen". Die Heidelberger Romantik dagegen ist es ganz im Gegenteil deshalb, weil sie nicht zu Ende kommt in der Unabsehbarkeit des Wirklichen. Dort ist immer viel Pose dabei, hier aber ist es Ausdruck von Bescheidung auf das Menschenmögliche. Aufschlußreich für die Geistesart der sogenannten Frühromantik ist auch sowohl ihre optimistische Zukunftsspekulation wie ihre Gegenwartsklage. Sehen diese Idealisten vor sich unzählige Möglichkeiten der Verwirklichung ihrer Willensmagie, so erscheint ihnen das Gegenwärtige stets einengend und ihre Schaffenskreise störend. Aber zuweilen kommt doch auch der künstliche Bau ins Wanken und der fehlende Wirklichkeitsbezug wird als Mangel an Leben erfahren. So ist etwa des Novalis Klage zu verstehen, daß „am Ende nur noch Bücher" sind. Und eine solche Welt ist nur eine zweite, abgeleitete. Der Zweifel steigt auf, der fast schon ein Erkennen mit sich bringt, das die Bereiche idealistischen Höhenfluges verneint, etwa wenn Novalis davon spricht, daß „am Ende . . . alle Poesie Übersetzung sei". Und selbst Friedrich Schlegel verurteilt einmal das „Zeitalter der Bücher", das sein eigenes ist05. Das literarische Spiel mit der Möglichkeit, die nur eine poetisch-philosophische Wirklichkeit ist, bedeutet schließ41
lieh doch nur eine Chiffernwelt, fern der Wirklichkeit in ihrer Lehensfülle. Die friihromantische Sehnsucht ist nur immer auf dem Wege dazu und der Weg seihst, als ein Weg der Sehnsucht, der Phantasie, im Sinne eines spekulativen Träumens, nicht jener exakten Anschauung, wie sie Goethe kennzeichnete, dieser Weg kann gar nicht über das Bereich des Möglichen hinausführen. In ihm muß sich notwendig der poetische und magische Idealismus erschöpfen, den der Schlegelkreis darlebt. Mit solchen Feststellungen soll keineswegs Jena gegenüber Heidelberg abgewertet werden. Es kann sich, wenn eine wirkliche Klärung des Romantikbegriffs erreicht werden soll, nur darum handeln, jede der beiden Bewegungen in ihrer Eigenheit zu fassen und Verwischungen der Grenzen zwischen ihnen zu vermeiden. Man muß daher endlich einmal damit aufhören, als Forschender und Wertender in die Möglichkeitssphäre der Frührcmantik odef besser gesagt des poetischen Idealismus einzutauchen, um aus diesem Erlebnis heraus die Romantik als ein „Sowohl-als-auch" zu definieren. Was aber Knittermeyer den auf die Heidelberger Romantik konzentrierten Darstellungen vorwirft, darf auch keineswegs für den Versuch einer Klärung verbindlich sein, nämlich „mit herabwertender Gebärde" Jena „als Ende" zu kennzeichnen56. Dieser Erscheinung muß vielmehr der Platz zugewiesen werden, der ihr ihrem Eigensein gemäß zukommt. Und dazu bedarf es allerdings auch des Mutes, eine Entwicklung da zu verneinen, wo an ein Ende ein neuer Anfang angrenzt. Es ist nur die Folge des auch im Denken stets wirkenden Trägheitsgesetzes, das ein Fortrollen in dem in der Natur sich erweisenden Entwicklungsgedanken bewirkt, auch da, wo es sich um geistesgeschichtliche Epochen handelt, die nicht ineinander übergehen, sondern sich gegeneinander absetzen. Aber die Geschichte, der Freiheit des Menschen unterstellt, vollzieht sich nicht in Ubergängen, sondern in epoeüalen Stufen, wobei das Auf oder Ab von zweitrangiger Bedeutung ist. Sie sind geschieden nicht durch Formunterschiede, wo sogar oft Ähnlichkeiten auftreten können, ja selbst Übergänge, sondern durch Unterschiede, die ihr tiefstes Sein ausmachen. Aus dem Ungewordenen steigt jeweils ein neuer Impuls empor und prägt die neue Epoche, während der bis dahin tragfähige entweder zur 42
Formerstarrang oder zu deren Auflösung hinführt. Es wird eine der wesentlichsten Aufgaben gerade der Literaturwissenschaft werden, die Epochen nicht mehr aus naturwissenschaftlich richtigen, jedoch geistesgeschichtlich unzulänglichen Vorstellungen, wie eine solche gerade der Entwicklungsgedanke darstellt, sondern aus Erspürung und Erkenntnis der jeweils schaffend-tragenden Impulse heraus zu verstehen und zu deuten. Dann wird auch endgültig erkannt werden können, daß zwar zwischen Jena und Heidelberg Zusammenhänge bestehen, jedoch keine Einheit in dem Sinne, daß die spätere Bewegung eine Fortführung der früheren bedeutet. Erst aus der Ergreifung des entscheidenden Wesensgeheimnisses, daß jeweils ein anderer Impuls herrscht, wird auch der Roman,tik-Begriff erhellt werden können und seine Zugehörigkeit zum Heidelberger Kreis endgültig deutlich werden. Auch in andern neueren Untersuchungen wird aber noch immer die Romantik als Ganzes in den Zusammenhang des deutschen Idealismus gestellt, wohin Jena, aber nur dieses gehört. Und doch würde erst durch eine klare Abgrenzung gegen Heidelberg die „Höhenentwicklung der irrationalen Deutschen Bewegung" überzeugend „als blutvoller Organismus" erscheinen57. Eine Fülle von Romantik-Definitionen würde erst dann ihren vollen Wert erhalten, wenn die Einbeziehung des Heidelberger Kreises unterbliebe, wodurch sie allerdings aufhören würde die „Romantik" zu bestimmen. Wenn etwa diese eine „Vitalisierung der Kantschen-Begriffswelt" genannt wird, dann kann damit nur Jena, nicht aber Heidelberg gemeint sein58. Auch als „Panpoetismus" charakterisiert, ist aus der Romantik der Heidelberger Kreis auszuschließen5®. Es genügt dann auch nicht, diesen als „etwas ganz anderes" in irgendeiner losen Verbindung noch anzuhängen60. Und man wird diesem auch dann nicht gerecht, wenn man von einer inneren Krisis spricht, die zu einem Umschlag der Romantik „in ihr Gegenteil" führt, so daß es also zu „einer Berichtigung oder geradezu Umkehrung kommt61; denn als Folgeerscheinung gesehen wird die Heidelberger Romantik immer entstellt, weil dies der Spontaneität ihres Strebens zuwiderläuft. Sie kann daher auch nicht als die wissenschaftliche Auswerterin der philosophischdichterischen Ideen und Ideale in einer „Einzel- und Roalfor43
schling" gelten®0. Es kann gerade nicht darum gehen, den „Begriff der Romantik weit genug" zu fassen, um „der vielgestaltigen Bewegung der Romantik" gerecht zu werden62,^ sondern vielmehr nur darum, diese durch Kompilation erreichte Vielgestalt wieder aufzulösen, um die eingestaltigen Elemente, die reinen Phänomene selbst und für sich allein zu betrachten. Dann erst wird auch der wahre Zusammenhang gesichtet werden können, in dem beide gerade in ihrer Getrenntheit stehen. Die anscheinende Nähe ist eine große Gefahr, aber auch außerordentlich aufschlußreich; Denn immer liegen die entscheidenden Erkenntnisse an den Grenzen. Und hier zwischen Jena und Heidelberg ist zweifellos mehr zu holen als nur eine literarische Begriffsklärung. Aber zunächst bedarf es der abgrenzenden Kenntnisnahme der reinen Erscheinungen. Dann erst kann eine „neue Zusammenschau" unternommen werden, die nicht mehr auf Kosten der Entstellung der einen Erscheinung durchgeführt werden muß. Solange noch von „Evolution" und „Stufung" die Rede ist, kann es dafür nicht an der Zeit sein63. Denn es genügt nicht, „Sonderrechte in höheren Gemeinsamkeiten" einzuräumen und dabei doch eine „Uberwölbung" anzustreben, wie dies Franz Schultz tut 64 . Auch durch eine „Verschiebung oder Verlagerung des Schwerpunktes", oder eine „Überrundung auf einem höheren Gewinde" kann die Eigenständigkeit der Romantik nicht gefaßt werden65. Von einem „gemeinsamen Nährboden" kann auch nur die Rede sein, wenn man in der Welt des 18. Jahrhunderts verbleibt, also die Heidelberger ausschließt. Denn es werden durch sie nicht „gewisse geistige Haltungen" bewahrt, sondern lediglich bestimmte Wertsetzungen, wie etwa das Polaritätsgesetz aufgenommen, jedoch einer völlig anderen Gesamthaltung unterstellt 06 . Von der Peripherie der bereits gesetzten Begriffe her wird aber niemals eine Erkenntnis der wirkenden Impulse gewonnen werden können, die eine Weltanschauung schaffen und tragen. Wie oft wird doch eine annähernd entsprechende Form, die in einer Zeit sozusagen in der Luft liegt, aufgegriffen, wenn ein neuer Gehalt noch nicht klar genug ins Bewußtsein getreten ist, um seine eigene Form hervorzubringen. Viele der romantischen Wertsetzungen müssen als solche Behelfsverdichtungen verstanden werden, da man sonst 44
allzuleicht identifiziert, was dem Wesen nach geschieden ist. Das ganze Romantikproblem wäre offensichtlicher und daher leichter lösbar, wenn nicht die meisten Werte einer solchen Ähnlichkeitszone zugehörten, wo Form und Gehalt nicht zur Deckung kommen, jedoch eine solche Identität gleichwohl auf der Hand zu liegen scheint. Jedes Wörtlichnehmen führt daher zu Fehlschlüssen. Es gibt nur, den einen Weg einer Wahrheitserschließung, die Erfahrung der schöpferischen Impulse selbst. Man muß also stets ins Anfängliche, ins Vorbegriffliche und Bildlose, oder, mit Goethes Begriff (in den Faust-Paralipomena), in den „formlosen Gehalt" vordringen, um die entscheidenden begrifflich oder bildhaft gegebenen Werte verstehen zu können. Dann zeigt sich, daß auch gemeinsame Werte des Idealismus und der Romantik geschiedene Setzungen darstellen. Es erweist sich dann auch die tiefe Geschiedenheit des frühromantischen und des spätromantischen Geistes bei aller Angrenzung in einigen wesentlichen Wertgruppen. Es sind in den letzten Jahren auch eine Reihe von Versuchen unternommen wordep, eine „Umwertung der Romantik" so zu vollziehen, daß die Wertsetzungen der Heidelberger und der sogenannten Historischen Schule als wesentlicher gegenüber denjenigen der Jenaer Schule herausgestellt wurden. Damit hoffte man, die bisherige „liberalistisch-individualistische Romantikforschung ins Wanken gebracht" zu haben67. Aber wenn auch eine solche Umakzentuierung schon einen wesentlichen Schritt zu einem neuen Romantikbilde bedeuten kann, so ist sie doch noch keine wirkliche Lösung des Problems. Und da auch hier an der Vorstellung einer Entwicklung festgehalten wird, in der lediglich das Ziel höher bewertet ist als der Ausgang, kann schließlich doch nur von einer Revidierung des bereits vorhandenen Bildes gesprochen werden. Daher bleibt auch die ganze Romantik noch „Endstufe" einer umfassenderen Bewegung und ihre Bedeutung wird in der endgültigen Durchführung der bereits gegebenen „Uridee des Idealismus" gesehen08. Eine Dreiteilung der Romantik in Früh-, Hoch- und Spätromantik stabilisiert eigentlich nur noch den Gedanken eines wachstümlichen Zusammenhangs, da damit eine ausgesprochene Übergangsstufe, ein „Ausgleich" geschaffen ist®4. Durch diesen erfolgt die „Wendung ins Volkhafte", die sonst 45
immer als anorganischer Einschlag störend in die Entwicklungslinie einbricht 70 . Es ist also nur folgerichtig, daß Görres wieder neben Adam Müller steht und beide als Führer dieser Hochromantik charakterisiert werden. Wieder wird wörtlich genommen, was aus einer völlig anderen Haltung erwächst und nur im Bereich des Begriffs zu einer Angrenzungs-Ähnlichkeit gelangt. Die Umwertung verliert damit aber ihren eigentlichen Wert. Es genügt auch nicht, von einer „eigengesetzlichen Prägung" der Heidelberger Romantik zu sprechen, wenn dabei, an der Vorstellung festgehalten wird, die Romantik sei „nur eine Phase im Ablauf und in der Entwicklung des deutschen Idealismus" 71 . Wenn dann auch als das Eigne „der völlige Durchbruch zur Volkheit, zum volkhaften Selbst" gekennzeichnet wird, so erscheint doch diese Tat wieder im Zusammenhang einer größeren Bewegung, Denn wie kann sich die Romantik „schließlich deutlich als Romantik von der Klassik abheben", wenn sie „in ihren Anfängen von der Klassik kaum zu unterscheiden ist" 72 ! Bei aller Zuwendung zu neuen und eigenen Idealen bleibt also doch eine substantielle Verbundenheit gewahrt. Daher stellt auch Franz Koch folgerichtig fest, daß die Romantik nicht etwa eine „völlig neue Epoche entdeckt", sondern daß ein „wachstümlicher Zusammenhang" mit der vorigen bestehen bleibt 73 . Die Umwertung lenkt also schließlich wieder in die Grundlinie der bisherigen Forschung ein, wenn auch durch sie der Blick auf das zuvor vernachlässigte Heidelberg gelenkt wird. Aber dies kann keineswegs schon das Ziel der Romantikforschung sein, das bisher zu wenig Beachtete nun besser herauszustellen. Damit würde ja nur eine Ergänzungsarbeit vollführt werden. Auch die neueste Romantikforschung vollzieht keine scharfe Trennung zwischen Jena und Heidelberg. Schon im Titel seiner 1941 erschienenen Untersuchung: „Die Romantik in der Zeit der Umkehr", zeigt Rudolf Haller, daß er einen entwicklungsmäßigen Zusammenhang zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation festhalten will, auch wenn er sich in seiner Darstellung auf das erste Jahrzehnt des 19, Jahrhunderts beschränkt. Dem {'riihromantischen „Aufbruch" folgt „die jüngerromantische Umkehr", die als „ein Heimfinden zu alledem, das als Rest einer früheren großen Lebenseinheit die Jahre der Aufklärung über46
dauert hatte", charakterisiert wird71. Zweifellos vollziehen die Heidelberger eine Heimkehr, aber diese ist keineswegs als Wendung von der „absoluten Geistigkeit des Jenenser Kreises" zu „überpersönlichen Ordnungen" zu verstehen. Was in Heidelberg geschieht, ist etwas ganz anderes als nur ein „Realisierungsvorgang" des ideell bereits Vorhandenen. Es gibt keine Entwicklung vom „Ofterdingen" zu den „Kronenwächtern", sondern es wechselt die ganze Lebensatmosphäre und eine neue Welt tritt in Erscheinung. Denn eine andere Kraftstruktur wirkt sich aus74. Nicht eine Umkehr erfolgt also, sondern ein neuer Aufbruch. Haller bezieht sich trotzdem auf Baeumlers Bachofeneinleitung, in der ein klarer Schnitt zwischen Jena und Heidelberg geführt wird. Aber er mißversteht die eigentliche Bedeutung einer solchen Trennung, wenn er bei Görres, der für Baeumler maßgeblichen Persönlichkeit des Heidelberger Kreises, „das Heraufkommen einer tieferen Wesensschicht" dargelegt sehen will75. Denn es wird durch Baeumler nicht nur der späteren Romantik „ein neues Positives" zuerkannt, sondern diese wird allein als Romantik anerkannt, während der Jenaer Kreis in Verbindung mit den verschiedenen geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts gebracht und als deren Zusammenfassung dargestellt wird. Diese grundsätzliche Scheidung verkennt Haller und muß daher den üblichen Grenzverwischungen verfallen. Die erste Aufgabe muß aber gerade hier sein, die reine Erscheinungsform zu sichten, erfordere dies auch zunächst eine hart empfundene Abtrennung von Erscheinungen, die in gewissem Zusammenhang stehen. Denn dann erst werden sie richtig erkannt werden können. Auch die tiefere Zusammengehörigkeit von Idealismus und Romantik wird, wie bereits betont wurde, erst dann richtig gesehen werden können, wenn das „Ereignis" Romantik in seiner ganzen Unwillkürlichkeit enthüllt ist. Denn dann erst kann es an der Zeit sein, die Bedeutung einer idealistischen Bewegung an den Grenzen dieses Aufbruchs untergründiger Impulse in den Blick zu nehmen. Und nur von einer solchen „Zugehörigkeit der Aufgabe" kann die Rede sein. Zunächst bedarf es jcdoch der endgültigen Abtrennung der echten Romantik von jeder Gestalt des Idealismus. Schon in der 4-7
Einleitung seines 1941 erschienenen Werkes: „Das Ideengut der deutschen Romantik", betont Kluckhohn, daß er eine solche Grenzziehung nicht vorzunehmen gewillt ist, da er den „Ideen" nachgehen möchte, die in den drei Phasen der Romantik in einer gewissen Entwicklung zum Ausdruck kamen76. Dabei faßt er im Sinne Korffs die ganze Romantik als „Teil der sogenannten Deutschen Bewegung" und muß folgerichtig in der Jenaer Schule die „eigentliche Romantik" erkennen. Er stellt fest, daß „die wissenschaftliche Romantikforschung" noch keineswegs „zu einer einheitlichen Beurteilung geführt" hat. Verschiedenste Wertungen stehen sich gegenüber. Eine Hinwendung zur Heidelberger Gruppe muß als „ein an sich berechtigter Gegenschlag" gegen die einseitige Konzentration auf die Jenaer Schule anerkannt werden, jedoch darf es dabei nicht dazu kommen, die Bestrebungen der ersten Phase „gering zu achten und ganz zu verkennen, daß das, was für die zweite Phase der Romantik wesentlich, war, schon in der ersten begonnen hat" 77 . Daß es sich bei der erforderlichen Abgrenzung darum nicht handeln kann, wurde bereits mehrfach betont. Es ?oll vielmehr die Jenaer Schule gerade dadurch in ihrer Eigentlichkeit erst recht sichtbar gemacht werden, daß sie von der eigentlichen Romantik gelöst wird. Kluckhohn betont ferner, daß er keine „Gesamtdarstellung" zu geben beabsichtigt. Jedoch möchte er „keine wesentlichen Ideen außer acht" lassen und in der Anordnung des Stoffes bemüht sein, das romantische Denken als „ein Denken in Gegensätzen und zyklisches Denken" durch eine gewisse Systematik zum Ausdruck zu bringen78. Für die „Idee des Lebens" sind es vor allem Friedrich Schlegel und Schleiermacher79, für die Naturanschauung Novalis, Schölling und die sogenannten romantischen Naturphilosophen Oken, Carus und Troxler80, für das Menschenbild Steffens, Fichte und Novalis, aber auch Schlegel und Schleiermacher, die für die Darstellung entscheidend sind81. Auch für die Themengruppen: Freundschaft, Liebe, Ehe, Religion und endlich Kunst und Dichtung sind die Jenaer ausschlaggebend8®. Aber selbst in der Darstellung der romantischen Ideen über Staat und Vaterland stützt sich Kluckhohn „vorwiegend auf Novalis und Adam Müller", da ihm die Übereinstimmung der anderen, auch eines Görres, „mit 48
diesen Ideen" sicher scheint 83 . N u r das Kapitel „Volk und Geschichte" wendet sich nach anfänglichem Eingehen auf Adam Müller und Friedrich Schlegel den Heidelbergern zu und zeigt ihre Verbindung mit der Historischen Schule auf. Auch Herders Bedeutung für die Weckung eines historischen Bewußtseins wird gedacht 84 . Aber ist es wirklich nur so, daß sich „die jüngeren Romantiker stärker der Vergangenheit des eigenen Volkes" zuwenden, was, wenn auch schwächer, die Jenaer bereits taten? Und gibt Görres diesem Gefühl für die Vergangenheit lediglich „den stärksten, feurigsten Ausdruck" 85 ? Ist es nicht vielmehr so, wie Savigny in einem ohne Kommentar zitierten Wort seiner Streitschrift von 1814 sagt, daß die Geschichte „der einzige Weg zur wahren Erkenntnis" geworden ißt?88 Und sind diese Erfahrungen überhaupt noch unter die „Ideen" einzureihen, die von den ästhetischen Idealisten Jenas versprüht wurden? In einem zusammenfassenden Schlußwort betont Kluckhohn, daß „trotz mancher Unterschiede und Wandlungen zwischen ihren einzelnen Phasen und Gruppen" die Romantik sich als eine Einheit erwies, nämlich „in den Hauptzügen und wesentlichen Ideen". Eine „gewisse Entwicklung und Wandlung" kann nur darin gesehen werden, daß anfangs „die Persönlichkeit", später „die Gemeinschaft" den „stärkeren Akzent trägt", aber sie ist auch schon „innerhalb der Frühromantik bei Novalis" festzustellen 87 . Daraus erhellt deutlich genug, daß es bei einem Versufch, das „Ideengut" herauszustellen, eigentlich nur-auf die Jenaer Schule anzukommen braucht. Sie hat auch zweifellos einen großen Reichtum an Ideen, während die Heidelberger geradezu ideenarm sind, denn ihr Reichtum beruht in der einfachen, aber unmittelbaren Erfahrung des Wirkend-Wirklichen. Sie hören daher auf, geistreich zu philosophieren oder, richtiger gesagt, beginnen es schon gar nicht. Ein stärkeres Muß zwingt sie zur Kündung eines schlichten aber wirklichkeitsgemäßen Inhalts. Und gerade eine solche klare und einprägsame Herausstellung des „Ideengutes" der Jenaer Schule zeigt, wie völlig anders die Welt der echten Romantiker ist. Die steten Beziehungen zum deutschen Idealismus und zur Goethezeit im engeren Sinije lassen auch deutlich genug erl Ruprecht
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kennen, wo die Jenaer Schule beheimatet ist und was im Gegensatz zu ihr in Heidelberg als Romantik zum Durchbrüch kommt. Vielleicht wäre es also doch an der Zeit, sich zuerst dem Erlebnis dieser „Romantik" hinzugeben und dann nach dem zu fragen, was als „romantisch" bezeichnet werden kann, statt immer wieder aus einer Allgemeinvorstellung des „Romantischen" auf das Phänomen „Romantik" loszugehen. Man sollte sich einmal in allem Ernste fragen, ob man schon etwas von „der Romantik" weiß, wenn man sich auf den Begriff des „Romantischen" stützt. Die Bedeutung einer solchen grundsätzlichen Abtrennung und Klärung kann besonders deutlich werden, wenn man sich der Romantikkritik der Nachkriegszeit zuwendet. Denn in ihr zeigt sich besonders deutlich, wie wesentlich ein klarer, eindeutiger Begriff sein könnte. Der Anstoß zu einer „Absage an die Romantik" geschah aus dem erschütternden Erleben einer Wirklichkeit heraus, demgegenüber alle Vorstellungen und Ideen einer romantischen Weltbetrachtung als nichtig erscheinen mußten. Das Romantische hatte sich in jeder Hinsicht als falsch und ohnmächtig erwiesen. Die Realität war als das absolut Unromantische erfahren worden. Alle Spekulationen romantischer Visionäre hatten versagt vor der Spannweite der Wirklichkeit lind ihrer furchtbaren Tiefe. Das Romantische erschien) daher geradezu als die große Täuschung, die man endlich von sich abgestreift hatte. Und so erhob sich mit zwingender Notwendigkeit der Kampf gegen die noch immer gespensterhaft fortwirkenden romantischen Weltanschauungsbilder als „Selbstabhebung der neuen Zeit" 87 . Fast immer richtet er sich gegen eine Front der Gemeinsamkeit von Idealismus und Romantik. Sie werden als „ e i n Gegenstand" erfaßt und bekrmpft 88 . Es ist also recht eigentlich die „Deutsche Bewegung", die sich im Kritikfeuer der Nachkriegsgeneration rechtfertigen soll. Die verschiedensten Positionen werden ihr gegenüber eingenommen. Die entscheidenden Vorwürfe aber sind: Substanzlosigkeit, Wirklichkeitsmangel, Tatenferne, Individualismus und Ästhetizisinus. Gefordert werden: Bejahung des Wirklichen, tathafte Auseinandersetzung mit jeder Gegebenheit und Gemeinschaft 88 . Der erste Angriff erfolgte von seiten des George-Kreises noch
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von einer ästhetischen Basis ans, traf jedoch auch schon das Wirklichkeitsproblem. Unter der Losung der Gestalt wurde die romantische Gestaltlosigkeit verdammt 80 . Entschiedener wurde dann von seiten der Jugendbewegung die Forderung nach Wahrheit und Wesentlichkeit erheben, im Gegensatz zur Pose der romantischen Haltung 91 . Aus einer immer stärker sich durchsetzenden Willenshaltung wurde sodann ein neues Kleist-Bild aufgestellt und der Romantik entgegengehalten. Auch Hölderlin und Nietzsche erfuhren in Antithese zur Romantik eine Neuentdeckung 92 . In seiner ausführlichen Darstellung dieser „Absage an die Romantik" betont A. v. Klugen, dkß in dieser ganzen Negierung immer eine gewisse Unklarheit über das Verhältnis von Romantik und Idealismus bestehen blieb. Angegriffen wurde eine Allgemeinvorstellung des Romantischen überhaupt, manifestiere sich diese in Idealismus oder Romantik oder Mystik, die gleichfalls einbezogen wird 93 . Im ganzen erfolgte diese Abgrenzung aus einer lebensdialektischen Haltung, Vor der Forderung eines ganzheitlichen Menschseins verblaßte das romantisch-idealistische Menschenbild. Aus der immer entschiedener vollzogenen Wendung zum Elementaren, zu einer absoluten Bejahung des ungebrochenen Lebens, zu einem willen- und tathaften Dasein innerhalb der Wirklichkeitsgrenzen wurde das romantisch genannte Lebensideal als wertherisch oder klopstockisch, endlich sogar als künstlich abgelehnt,. Von seiten des Klages-Kreises wurde allerdings insofern eine Rettung der Romantik versucht, als sie durch ihn zur Vorbereitung einer Lebensphilosophie umgewertet wurde, die den tiefer liegenden Realitäten Rechnung zu tragen suchte 94 . Unter besonderer Hervorhebung der Naturphilosophen um Carus, aber auch der eigentlichen Spätromantiker wurde vor allem die romantische Stellung zum Problem des Unbewußten positiv gewertet. Eine Wendung vom Geiet zum Leben, der Klagesschen Geist-SoeleLehre entsprechend, wurde als Romantik dargestellt und diese in ihrer Bedeutung für die Gegenwartsproblematik charakterisiert. D a es sich jedoch schließlich nur um Bewußtseinsfragen handelte (die Entdeckung des Volkes als einer tragenden Realität blieb unberücksichtigt), so konnte sich demgegenüber wieder der Vorwurf mangelnden Ernstes durchsetzen, wie dies vor allem von der 4*
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Basis der Existenzphilosophie aus geschah. Aber selbst von seiten der Germanistik, etwa durch Heusler und Neckel, erfolgte eine Abwertung der Romantik, indem vor allem deren Mittelalterauffassung, wie auch ihr Bild der germanischen Vorzeit als orientalisiert gekennzeichnet wurde 95 . Dem neuen Lebensideal aber entsprachen weit mehr antikisierte, klassifizierte Vorstellungen. Entscheidend für eine Absetzung gegenüber der Romantik war endlich ein neues Verhältnis zur Geschichte98. Vom Standpunkt eines politischen Aktivismus aus wurde die organische Geschichtsauffassung, die gerade der Spätromantik eigen ist, die Vorstellung einer aus sich selbst wachsenden Geschichte abgelehnt. Allerdings blieb auch hier die romantische Entdeckung des Volkes verkannt. Denn das Bild der Jenaer Schule stand wieder störend vor einer wirklichen Sicht Heidelbergs. Carl Schmitts Darstellung der politischen Romantik, in der Adam Müller an der Stelle von Görres und Arnim steht, spielte dabei eine wesentliche Rolle97. Schließlich wurde noch von seiten der dialektischen Theologie der Vorwurf gegen die Romantik erhoben, sie setze in ihrem absoluten Subjektivismus an die Stelle Gottes das selbstschöpferische Ich. Und durch sie wurde dann auch am schärfsten die Wirklichkeitslosigkeit, der Illusionismus und die Schemenhaftigkeit der romantischen Welt gegeißelt98. Aber auch ohne direkte literarische Darstellung erfolgte eine immer radikaler werdende Ablehnung des Romantischen als eines Bekenntnisses zu Individualismus und Phantasie, je stärker neben die Wirklichkeitserfahrung das Gemeinschaftserlebnis trat. Im Besitz einer neuen, durch Realitäten bestimmten Welt konnte man mit den romantischen Idealismen nichts mehr anfangen. Aber hier setzte auch der Versuch ein zu einer wirklichen Umwertung der Romantik mit dem Bestreben, gerade diese Elemente schon in dem Heidelberger Kreis und der ih'm zugehörigen Historischen Schule nachzuweisen. Es war vor allem die Entdeckung des Volkes als einer das gesamte Leben bestimmenden Realität, wie auch die aus einer tief religiösen Haltung erfolgende Hinwendung zur deutschen Vergangenheit im Gegensatz zur stolzen Gegenwartsklugheit der Aufklärungsepoche*(Baeumler, Rothacker und in gewisser Hinsicht auch Linden und Nadler) 99 . Jedoch konnte 52
sich, wie bereits früher betont wurde, diese Umwertung nicht durchsetzen gegenüber der in alten Bahnen weiterlaufenden geistesgeschichtlichen Forschung. Sie blieb eine Position neben den anderen, obwohl in ihr die einzige Möglichkeit bestand, sowohl der Darstellung wie der Kritik gegenüber eine Klärung des zweifellos als bedeutsam sich bekundenden Romantikproblems durchzusetzen. So mußte notwendig mit dem Wirklichkeitsethos der dreißiger Jahre eine neue Welle der Romantikablehnung erfolgen. Der romantische Mensch erschien nun als der unpolitische und daher unwirkliche überhaupt. Eine gewisse Sympathie mit den Gemeinschaftsideen der sogenannten Spätromantik konnte demgegenüber wenig bedeuten- Denn eine kontemplative Grundhaltung konnte auch in ihren realsten Begriffen nicht verkannt werden. Und so mußte die Welt der Romantik als bürgerlich-philisterhaft erscheinen. Aus der Zukunftsstrebigkeit realen Tätertums wurde auch die Vergangenheitswendung der Heidelberger verurteilt. Sie erschienen als „weiblich-passiv" gegenüber der Männlichkeit eines „neuen Klassizismus der Aktion und der Herrschaft" 1 0 0 . Als Stufe eines Menschentums,,dem ein aktiver Wirklichkeitsbezug mangelt, zeigt sich dieser Haltung gegenüber die Romantik. Nur das klassisch'e Griechentum mit seiner Einheit von Geist und Natur kann noch vorbildlich sein. Es macht geradezu den Stolz der tatorientierten Generation aus, „keine Romantiker mehr" zu sein 101 . Illusionslos steht sie auch im Angesicht des Nichts, darin Schüler Kierkegaards und Nietzsches. Auch die Heidelberger Romantiker müssen daher als passive Träumer erscheinen, wenn auch ihre Träume gewisse Beziehungen zur Wirklichkeit aufweisen. Was sollen schließlich einem tathaften Leben noch Wertsetzungen bedeuten, die in kontemplativer Passivität empfangen wurden? Es wäre zweifellos ein fruchtloses Unterfangen, diesem Realismus gegenüber die Romantik in ihrer Gewesenheit rechtfertigen zu wollen. Nur zu klar erscheinen ihre Grenzen in diesem Lichte, Dieses Gewesene kann nur noch Wesentlich sein, soweit es heute noch lebendig ist. Mit Recht stellt daher Klugen der ganzen Romantikabwertung die Forderung entgegen, „das Nietzscheschc in der Romantik fruchtbar zu machen" 102 . Damit weist er auf den 53
entscheidenden Ansatzpunkt einer neuen Romantikforschung hin. Denn das Nietzschesche zu suchen, kann für sie nichts anderes heißen, als die über ihre eigenen Grenzen hinaus lebendig wirkenden Impulse zu erkennen, die selbst in dem größten Kämpfer gegen die Romantik noch als tieferer Antrieb wirken konnten. Dazu bedarf es einer den Gang ins Einzelne nicht scheuenden Untersuchung, die aber keineswegs bei einer Feststellung der Erscheinungsformen stehen bleiben darf, sondern in mutigem Eindrang „in die Schachten", wie Herder sagt, die tragend-bewirkenden Impulse selbst^zu fassen sucht-. Denn nur in dieser wesenden Gewesenheit kann das Lebendige des romantischen Aufbruchs noch immer gefunden werden, das heute allein noch wesentlich sein kann. Die Romantik verlangt eine solche Tiefenschau. Sie ist nicht zu umgehen. Denn im Bereich der äußeren Formen wird man auch weiterhin nicht der Täuschung durch Ähnlichkeiten entgehen können. Wenig weiß man noch, wenn lediglich festgestellt ist, was damals geschah. Um eine „Bewegung" zu erkennen, bedarf es eines Wissens von ihrem Ursprung ebenso wie von ihrem Ziel. Das romantische Ereignis zeigt auch an sich selbst, daß es mehr v.ersprach, als es zu halten vermochte. Und doch muß es als der bedeutsamste Gegenschlag deutschen Geistes gegen die in der Französischen Revolution mächtig einsetzende materialistischnihilistische Strömung anerkannt werden, gerade in seiner romantischen Prägung. Diese ist deutsch, auch wenn wir heute nicht mehr „romantisch" sein können. Es kaiin auch keineswegs um eine Wiederbelebung des romantischen Geistes gehen, wohl aber um eine endgültige Verwirklichung der „romantisch" nicht zu voller Auswirkung gelangten Triebkräfte, Die Romantik ist eine Problemstellung und eine Forderung. Sie stellt auch uns noch eine Aufgabe. Und diese muß als die eigentümlich „deutsche Aufgabe" erkannt werden. Dann erst erhält eine Auseinandersetzung gerade in einer Zeit, die offensichtlich allem „Romantischen" abgesagt hat, ihren eigentlichen Sinn, Es sei noch einmal abschließend die Frage erhoben, ob nicht der durch eine kaum zu überwindende Allgemeinvorstellung des Romantischen allzusehr belastete Begriff der Romantik besser ganz aufgegeben oder aber jener idealistischen Schule überlassen würde. 54
für welche diese charakteristisch ist. - Damit wäre zweifellos die Begr,iffsfrage am leichtesten zu klären. Wer aber einmal durch Versenkung in den Geist jener Heidelbeärger Gruppe erlebt hat, daß gerade sie und nichts anderes als „romantisch" charakterisiert werden muß, weil sie „romantischen Charakters" ist, wird dieser Lösung nicht zustimmen können. Der Begriff Romantik zeigt nicht nur unmittelbar die charakteristische Rückgewandtheit dieser späten Müssenden auf, sondern macht auch die Grenze sichtbar, die einer Verwirklichung des durch sie mehr ahnend als bewußt Erfahrenen von vornherein gezogen ist. Er kann daher nicht voh den Heidelbergern abgetrennt werden. Dagegen erhält der Jenaer Kreis dann erst den ihm gemäßen Platz, wenn er „als poetische Schule" dem deutschen Idealismus zugeordnet wird. Daß diese als solche der Romantik zugewandt ist und dabei selbst romantische Züge erhält, entspricht nur dem Wesen ihrer Grenzposition. Welche Bedeutung sie für den romantischen Aufbruch besitzt, und was sie gerade einer heutigen Auseinandersetzung mit diesem „deutschen Phänomen" 103 zu bedeuten vermag, dies zu klären kann nicht mehr di,e Aufgabe einer zuletzt doch nur vorbereitenden Begriffserfragüng sein. Es muß einer Wesenserhellung vorbehalten bleiben, in der auch erst endgültig verdeutlicht werden kann, daß der Begriff „Romantik" jener Weltanschauung untrennbar zugehört, die an der Wende zum 19. Jahrhundert aus untergründigen Tiefen ans Licht brach.
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I.
Der Aufbruch in der Krisis des Jahrhundertendes
1. K r i s i s u n d W u n d e r „Verborgen lief der Strom unter der Erde, bis er unversehens hervorbrach"1. In diesem einfachen und einprägsamen Bilde Herders, das er in der Adrastea von 1801 ohne weitere Absicht wie beiläufig zur Charakterisierung romantischer Charaktere aufgreift, kommt in einer selten endgültigen Weise das „Ereignis" zum Ausdruck, dessen Folge jene Bewegung darstellt, die man als „Romantik" zu bezeichn-n pflegt. Denn nicht anders trat in ihr eine lang vergessene, jedoch niemals im Bewußtsein deutschen Menschentums ganz ausgelöschte Weltanschauung aus verborgenen Tiefen wieder in Erscheinung, inmitten einer völlig anders gerichteten Zeit. Ein Jahrhundert Romantik-Forschung hat uns daran gewöhnt, in diesem Ereignis des unversehenen Durchbruchs einer ins Geschichtsuntergründige zurückgestauten Denkart etwas Selbstverständliches zu sehen, als habe es unter den vielfältigen Strebungen des aufgeklärten Jahrhunderts notwendig auch eine „Romantik" geben müssen. Und indem sie diese zum Endglied einer größeren, dreifach gestuften Bewegung setzte, die als „Goethezeit" die „Aufklärung" überwand, schien das „Rätsel" ihres Erscheinens endgültig gelöst. Die Frage nach dem Ursprung, die sich als erstes Erfordernis für die Wesenserhellung einer „Bewegung" erheben mußte, konnte damit beiseitegeschoben werden. Es lag ja dann überhaupt kein eigenständiger Anfang vor, sondern handelte sich um die Weiterführung eines bereits Begonnenen. Auch die reine-, einfache Erscheinung eines Wackenroder konnte die einmal gefaßte Überzeugung nicht beirren, daß es „ein Geist" war, der sich romantisch fortentwickelte und eine weitere Stufe „eines organischen Gesamtgeschehens" konstituierte®. Aber auch da, wo dieser Erstling in seiner rätselvollen Reinheit erlebt wurde, unterblieb eine Erhellung der verborgenen Tiefen, denen diese anonyme 59
Stimme entstieg, Denn in einer Darstellung des geschichtlichen Ablaufs der romantischen Bewegung bestand keine Möglichkeit, die Frage nach der vorgeschichtlichen Anfänglichkeit zu stellen, die, als eine notwendig phänomenologisch bestimmte, die Reichweite einer geschichtlich umzirkten Schau übergreifen muß*. Aber ein „Wunde?" kann nicht durch die Betrachtung seiner geschichtlichen Offensichtlichkeit als das erkannt werden, was es eigentlich ist - und die Romantik ist ein Wunder. Unerklärbar aus den Tendenzen der Aufklärungsepoche, in der sie aufbricht, ist diese „Bewegung" gar nicht zu fassen in ihrem sichtbaren Verlauf, der nur Teil, sogar den geringsten Teil des ganzen Verlaufs des in ihr empordrängenden „Stromes" darstellt. Zweifellos muß er als „romantisch" charakterisiert werden. Aber es macht gerade das Wesen der romantischen Versichtbarung aus, daß sie die zur Erscheinung drängenden Impulse nur zur Dichtigkeit einer Ahnung, nicht aber zu ihrer endgültigen Verwirklichung klärt. Nirgends wird es dem Forschenden so nahe gelegt wie angesichts dieses Phänomens, daß die geschichtliche Existenz nichts ist für sich selbst, daß sie vielmehr immer nur die Oberfläche des eigentlichen Geschehens bedeutet. Dieses aber verläuft in einem untergründigen, man könnte auch sagen metahistorischen Bereich, obwohl es seiner wesenhaften Impulsivität nach jeweils zur Geschichte hin orientiert ist. In dieses fragend vorzudringen, muß die vordringliche Aufgabe einer Wissenschaft sein, die sich um die Wesenserhellung einer „Bewegung" bemüht, die als „Romantik", trotz aller „Erklärungen", noch immer in Frage steht. Ein solches Vorhaben übersteigt zwar die Kompetenzen einer Wissenschaft vom Vergangenen, die sich auf ein Feststellen des v/irklich Geschehenen und Gewesenen beschränken möchte, nicht aber der wissenschaftlichen Forschung überhaupt. Es kann für sie vielmehr gar keine schönere Aufgabe geben, als aus der Offensichtlichkeit des Gewordenen ins Verborgene des Wirkend-Wirklichen vorzudringen, das in jenem doch immer nur teilweise und unvollkommen zum Ereignis werden konnte. Denn damit durchdringt sie nicht nur die Erstarrungsformen des Gewesenen und erlöst das darin gefangene Wesende zu neuer Anwesung im Bewußtseinsfelde, sondern ent60
bindet auch zugleich die damals ungestaltet gebliebenen Impulse zu neuem Aufbruch, greift also weckend ein in Prozesse, die ihr eigentliches Ende noch nicht gefunden haben, wenn ihnen auch geschichtlich bereits ein solches gesetzt worden ist. Daß eine solche fortwirkende Bewegung „romantisch" in Erscheinung trat, beweist die Aktualität des Romantik-Problems, seihst in einer vom „Romantischen" gänzlich abgewandten Zeit. Das eine allerdings muß dem Forschenden heute bewußt werden: es kann sich in einer neuen Auseinandersetzung mit der Romantik nicht um eine Restauration des „Romantischen" handeln. Dieses muß vielmehr endgültig überwunden werden. Aber wie anders sollte dies möglich sein als durch eine Befreiung der die romantische Bewegung schaffend-tragenden Impulse aus ihrer romantischen Hülle, durch ihre Entbindung also zu einer vollen, nicht mehr „romantisch" beengten Verwirklichung? Und könnte nicht dann erst das Wesen des romantischen Verlaufs seine eigentliche Erhellung finden, wenn das Ganze der „Bewegung" durch einen solchen Einstieg in das verborgene, untergründige Reich der wirkenden Kräfte für eine anschauende Erkenntnis freigelegt würde? Denn dann könnte überhaupt erst einmal das Ereignis dieses „romantischen" Aufbruchs einer lange geschichtsuntergründigen Strömung als das „Wunder" gesehen werden, das es eigentlich ist. Dieser Aufgabe kann sich die heutige Geisteswissenschaft nicht länger entziehen. Die Romantik, als Ganzes gesehen, stellt ihr selbst schon lange diese Forderung einer endgültigen „Aufklärung" der in ihr nur „romantisch" aufbrechenden Impulse. Denn diese sind nichts anderes als das Eigenste des deutschen Geistes, das in der Auseinandersetzung mit den Mächtekonstellationen des Südens und Westens, die dieser bei seinem Eintritt in seine geschichtliche Existenz vorfand, ins Geschichtsuntergründige gedrängt wurde und so lange dort ein verborgenes Dasein führte, bis der Augenblick einer nicht nur das Schicksal des deutschen, sondern des europäischen Menschen und damit der Menschheit überhaupt entscheidenden „Krisis" einen Durchbruch herausforderte und auch bewirkte. Daß er nur „romantisch" geschehen konnte und nicht zu einer wahren „Aufklärung" führte (von der die geschichtliche Aufklärungsbewegung nur Zerrbild war), muß
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als die eigentliche Ursache für das Heraufkommen jenes abstrakten Intellektualismus und geistfeindlichen Materialismus des 19. Jahrhunderts in seiner zweiten Hälfte erkannt werden, in dem wieder die Erstarrangskräfte des Westens ihre Herrschaft ausübten und das Eigene der Deutschen zu neuer Verbergung und Untergründigkeit zwangen. Nicht um das- „Romantische" darf es einer heutigen Romantikforschung gehen, das schon genugsam erhellt und erklärt wurde, sondern um die bewußte Erfassung der in einer Romantik „unversehens" ins Dasein brechenden Impulse. Nicht: was ist die Romantik, sondern: was sollte sie werden? muß die Ausgangsfrage einer neiien Untersuchung sein. Nicht das, was war, verdient eine notwendig phänomenologisch bestimmte Befragung, sondern das, was in seine Geschichtlichkeit drängte, jedoch n u r romantisch Geschichte wurde. Lebendige Impulse gilt es zu gewinnen, die das Eigenste unseres Menschseins bedeuten und die eigentümliche Weltaufgabe des Deutschen in sich bergen und zur Verwirklichung führen wollen. Dazu nur bedarf es nach der reichen Fülle gründlicher Romantikdarstellungen und eingehender Romantikuntersuchungen noch einer weiteren Romantikforschung. Die erste Aufgabe, die sich darstellt, muß die Erhellung des Aufbruchsgeschehens selbst sein. Was „unversehens" da'ist und in der Erscheinung des ersten Romantikers als ein „Rätsel" in eine andersgerichtete- Entwicklung einbricht, muß sich doch zuvor schon durch Vorwehen kundgegeben haben. Denn auch in ihrer reinsten Erscheinung zeigt sich die romantische Anwesung schon bestimmt durch die geistige Situation, in der sie sich ereignet und durch die sie nur „romantisch" möglich ist. Der aufbrechende Strom erfährt da, wo er zutage tritt, eine in-dieser bestimmten Weltstunde bedingte Eingrenzung, die er jedoch da noch nicht aufweisen kann, wo er, aus seiner Untergründigkeit empordrängend, seine zurückgestauten Kräfte sammelt und zum Durchbruch anspannt. An diesen noch „untergründigen, jedoch schon dem Aufbruch nahen, ihm unmittelbar zugewandten Verlauf muß sich forschend wenden, wer das Ganze dieser „Bewegung", die? man mit Berechtigung als „die deutsche" kennzeichnen könnte, in den Blick bekommen will. Er muß aus dem Erscheinen in das 62
Erscheinende, aus dem Bewirkten in das Wirkende zurückdringen, um des Ursprünglichen in seiner Reinheit habhaft zu werden, in dem, wie Herder einmal sagt, „aller Schatz von Erläuterung" liegt4. Nur weil man ihn nicht gehoben hatte, als man sich anschickte, über das Phänomen „Romantik" zu befinden, entspann sich „ein Gewebe der Verwirrung", aus dem man sich nicht mehr zu retten wußte, „weil man den ersten Punkt nicht hatte" und es daher auch nicht mehr „aufrollen" konnte®. Als die eigentliche Aufgabe eines solchen Eindrangs in die Ursprünglichkeit der schaffend-tragenden Impulse zeigt sich die Findung solcher Geister, die ihrer Wesenshaltung' nach offen genug waren, dieses dem Untergründigen entsteigende Wehen zu verspüren und sich davon erfüllen zu lassen. Zweifellos muß bei ihnen weit ursprünglicher, reiner npch zu fassen sein, was in geschichtlicher Offensichtlichkeit nur noch „romantisch" in Erscheinung zu treten vermochte. Diese verborgeneren, aber auch reineren Weisen der Anwesung gilt es zu ermitteln, uifi vielleicht durch sie etwas von der Quelle des Stromes erfahren zu können, der diese ganze „Deutsche Bewegung" speist und auch über die romantische Offenbarung hinaus allem auf das „Eigene" gerichteten und ihm entwachsenden Denken und Wirken zugrunde liegen muß. Dazu bedarf es zu allererst einer klaren Erkenntnis jgner „Krisis", die zu einem solchen „Aufbruch" die eigentliche Veranlassung gab und schließlich auch durch ihre zurückstehenden Kräftestrebungen nur eine romantische Verwirklichung möglich werden ließ. Als entscheidend dafür muß die geistige Situation, wie sie, vor allem in Deutschland, um die Mitte des 18. Jahrhunderts gegeben war, angesehen werden. Denn in diesen Jahren gelangte einerseits die sogenannte Aufklärungsbewegung zu ihrem Höhepunkt, 'trennte sich aber zugleich äuch andererseits bereits jene irrationale Strömung ab, die in „Goethezeit" und „Idealismus" kulminieren sollte. Sieht man zunächst einmal von diesen bestimmten Bewegungen ab, so zeigt sich in der Jahrhundertmitte vor allem das Bild einer starken Erregtheit alles geistigen Lebens. Einer drohenden Endesstimmung entgegen erhebt sich ein gewaltiges Suchen in verschiedenen Richtungen nach Werten, die, der 63
Relativität des Nnr-Persönlichen überhoben, zum Aufbau einer neuen, wirklichkeitsgetragenen und wirklichkeitsschaffenden Weltanschauung befähigen konnten. Diese Unruhe ist bis in die breitesten Schichten spürbar und prägt sich nicht allein in den- Zirkeln der Stillen vom Lande, sondern auch in dem raschen Aufschwung des Journalismus, vor allem- in der plötzlich so überreichen Produktion moralischer Wochenschriften aus. Gegenüber einer solchen Vibration des Geisteslebens, wie sie sich vor allem in dieser Jahrhundertmitte zeigt, bietet das 17. Jahrhundert ein Bild großer Verhaltenheit. Man möchte daher von einem Fortschritt in der Richtung einer freieren Menschlichkeit sprechen. Denn der Enge eines dogmatischen Positivismus gegenüber, wie er dort das geistige Leben beherrschte, so daß nur wenige zu schöpferischen Leistungen gelangen konnten, zeigt sich ein von vielen Einzelnen, fast könnte man sagen von allen getragenes Streben nach persönlich bestimmter Wahrheitserkundung. Der zu seinem Selbstsein erwachte Mensch will sich aller hemmenden Vorurteile entledigen und ohne Abzug und Einschränkung das sein, was er seinem eigensten Wesen nach ist. Aus den Kräften des individuellen Bewußtseins soll eine neue, freie Welt aufgebaut werden. Es ist aufschlußreich, gerade im Hinblick auf die romantische Umwendung, daß die abgestreiften Bindungen vorwiegend als „mittelalterlich" gebrandmarkt werden. Der mittelalterliche Mensch gilt geradezu als der Prototyp des unfreien und unwissenden, des völlig unaufgeklärten Menschen. Während der freie Mensch sich selbst zur Weltautorität setzt, blickt jener zu Autoritäten über ihm und auch über der Welt empor. Er verhält sich eigentlich wie ein träumendes Kind zu dem seiner Erwachsenheit bewußt werdenden Menschen' des 18. Jahrhunderts. In der ersten Hochstimmung dieses Befreiungsprozesses wird zunächst übersehen, daß mit dem Wissen über das Frei-wovon keineswegs schon eine Erkenntnis des Frei-wozu gewonnen Ist. Aber allmählich dämmert in den Erwachten das Bewußtsein auf, daß der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit"" nur den Eingang in den eigentlichen Befreiungsund Aufklärungsprozeß bedeuten kann. Wie aber soll er vollzogen 64
werden, da mit den Bindungen auch die Führühg aufgegeben worden ist und daher die Richtungsangabe durch ein übergeordnetes absolutes Ziel fehlt? Der zum Bewußtsein seiner individuellen Existenz Erwachte sieht sich gänzlich auf seine subjektive Wahrheitsvermittlung verwiesen und, da jeder Einzelne den gleichen Anspruch auf die Gültigkeit seiner „Meinung" erheben kann, ja sogar muß, in ein unübersehbares Gewirr von Relativitäten gestoßen. Und wie sollte überhaupt jemals wieder ein Durchbruch zu einer wesenhaften Erfahrung des Wirkend-Wirklichen aus dieser Welt der Irrealitäten erfolgen, in die der Freigewordene gerade in seinem Freiwerden gelangt ist? Diese Wirklichkeitsnot ist der tiefere Aspekt des Aufklärungszeitalters. In ihr treffen sich zuletzt auch die gegensätzlichen Strebungen. Denn immer ist es ein Suchen nach der verlorenen Wirklichkeit, was sie zutiefst alle bestimmt, die Pietisten wie die Rationalisten wie die Idealisten. Aber immer bleibt zuletzt die Grenze der Subjektivität unüberwindbar. Man möchte von einem absoluten Freiheitspunkt sprechen, der den Augenblick der höchsten Gefahr für den Freiwerdenden bedeuten muß. Aller Bindungen ledig, ist er doch keineswegs schon sicher in seinem Freisein. Dieses ist vielmehr zunächst nichts als Indifferenz. Aber eine solche Leere ist immer zugleich Bereitschaft, Leicht ergreift der in seiner absoluten Offenheit Ungesicherte die nächste sich darbietende Realität als neuen Grund, um nur dem unerträglichen Schwebezustand im Irrealen zu entgehen. Eine neue Abhängigkeit'muß die Folge sein. Daß die so hoffnungsvoll aufbrechende Aufklärungsbewegung einem Solchen Absturz nicht entging, zeigt ihre weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert zu Nihilismus und Anarchie. Fragt man nach der Ursache, so zeigt sich jenes immer noch nicht in seiner vollen Bedeutung erkannte Ereignis der Französischen Revolution. Denn durch sie wurde eine neue Wirklichkeit, die Materie, aufgestellt und in revolutionärem Pathos vertreten, die allerdings nur um den Preis der eben erworbenen Selbständigkeit ergriffen werden konnte. Scheinbar bedeuten ihre Wertsetzungen nichts anderes als eine konsequente Zuendeführung des Aufklärungsweges. Jedenfalls erscheinen sie als die auf ihm angestrebten Lösungen. 5 Ruprecht
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Man muß aber die entscheidenden Reden nur aufmerksam genug lesen, um das Echo zu vernehmen, das als unheimlicher paterton dieser neuen Setzung anhaftet."- Die angeblichen Freiheitswerte erfahren dann eine fast unmerkliche Umwertung in ihr Gegenteil. Nur eine neue Abhängigkeit löst die alte ab. A^ die Stelle der göttlichen Weltordnung ist aber die ¡Cvidergeistige Stofflichkeit getreten, die den zur Selbstbestimmung sich erhebenden Geist des Menschen im gleichen Augenblick in Bann schlägt und seiner Bewußtheit beraubt, da er sich zu ihrer Gewinnung anschickt. Worum es sich handelt, zeigt vielleicht am besten ein schon vier Jahrzehnte früher erscheinendes Werk, das bereits in einer sehr endgültigen Weise das Programm des westlichen Materialismus verkündet, de la Mettries „L'homme machine" 7 . In ihm wird die Materie als absolutes Sein gesetzt. Alles Leben ist daher nichts als eine von. vornherein den kleinsten Materieteilchen eigene Bewegung. Auch der Mensch kann nur ein Ergebnis dieser in der Materie veranlagten Entwicklungsmöglichkeit sein. - Damit wird schon Mitte des 18. Jahrhunderts die letzte Konsequenz der Bewegung gezogen, die im Matefialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihre eigentliche Entfaltung erreicht. Man könnte sie auch noch weiter zurückverfolgen, etwa bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, zu Bacon, der als ihr erster Initiator angesehen werden muß, da er schon die materielle Welt als die einzig wirkliche lehrt. Daher war auch bei ihm bereits der Blick der Forschung auf das Einzelne und Kleine gelenkt, weil im Prozeß einer isolierten Selbstwerdung notwendig das Ganze aus dem Bewußtsein schwinden muß. Die moderne Naturwissenschaft in ihrem Bemühen um die atomare Welt ist das Ergebnis, In ihr gibt der Westen seine Lösung des Wirldichfteitsproblems, in das der freigewordene Mensch unserer Bewußtseins- und Freiheitsepoche zwangsläufig gestellt ist. Wo bleibt ihr gegenüber die deutsche Lösung? Diese Frage stellt sich wie von selbst ein, wenn man sich in jene „Krisis" versenkt, in die mit dem Ereignis der Französischen Revolution die europäische Menschheit geraten war. Denn zunächst gewinnt man den Eindruck, als sollte auch in Deutschland widerstandslos an Stelle einer göttlich-geistig bestimmten Welt-
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Ordnung die dämonisierte Materie treten?. Keiner der damals führenden Geister sah klar genug, was sich in dieser „Revolution" ins Bewußtseinsfeld drängte. Selbst ein Goethe, obwohl er sich nicht täuschen ließ, war nicht imstande, dieser großen Gefahr eines völligen Verlustes der menschlichen Selbständigkeit, des freiheitlichen Bewußtseins, in aktiver Weisung entgegenzutreten. Ks fehlte im Deutschland des endenden 18. Jahrhunderts das Gegenprogramm, das notwendig ein reformatorisches hätte sein müssen. Der deutsche Geist schwieg, sofern seine repräsentativen Träger nicht sogar begeistert den Idealen der Revolution zustimmten und in ihnen den „neuen Realismus" begründet glaubten, den man auf allen idealistischen Wegen zu begründen suchte. Aber man würde doch das Wesen der deutschen „Aufklärung" verkennen, wenn man dieser zunächst allerdings sehr bedeutsamen Züge wegen ihr Eigenstes übersehen wollte. Aus solcher anfänglichen Vernebelung erhob sich doch bald ein heroischer Wille zur Gewinnung einer eigenen Wirklichkeitserfahrung. Die rationalen Ideale beiseiteschiebend, ermannte sich der deutsche Geist zum Höhenfluge eines Idealismus, der eine eigene Lösung versprach. Die „Goethezeit" stellt eigentlich den großen Versuch dar, der intellektualistisch-materialistischen Lösung des Problems eine idealistische entgegenzusetzen, die, der gewonnenen Freiheit gemäß, eine bewußte Erkenntnis der wesend-wirkenden Geist-Wirklichkeit sein sollte. Aber so nahe ein Goethe, ein Fichte, ein Hegel und Schefling eitler solchen kamen, nirgends gelang der ganze Durchbruch, wenn auch vor allem Hegel zu Grenzerkenntnissen vorstieß, die ihn dazu ermächtigten, als Sprechender des „Weltgeistes" aufzutreten. Da der letzte, aber entscheidende Schritt auf den Boden der erstrebten und schon gewußten Geist-Wirklichkeit selbst nicht getan werden konnte, blieb die „Goethezeit" ein Ereignis ohne Folgen, über das hinweg die mit der Französischen Revolution angebrochene Entwicklung ihren Siegeslauf schließlich auch im deutschen Wesensbereich vollzog. Inmitten dieser Auseinandersetzung geschieht, unbeachtet von den Trägern der revolutionären Bewegung des Westens, unverstanden aber auch von den Repräsentanten des deutschen Idealis67 5*
mus, das Ereignis des romantischen Aufbruchs. Es geschieht, weil es geschehen muß. Nur als eine Selbstbewegung des deutschen Geistes im Augenblick einer höchsten Gefahr kann es als das verstanden werden, was es eigentlich ist, das deutsche Gegenereignis zu dem westlichen der Französischen Revolution. Dieses „Ereignis" ist ein Wunder, das durch keine Erörterung über eine individuellen Programmsetzungen entwachsende „Schule" zu entschleiern ist. Wenn ein Freiherr vom Stein in den Bemühungen der „Heidelberger" den inneren Ansfoß zur äußeren Erhebung Deutschlands in den Freiheitskriegen sah, so ahnte er zweifellos etwas von dieser Eigentlichkeit der romantischen Bewegung. In ihr erhob sich, nur jenen früheren Aufbrüchen in Mystik und Reformation vergleichbar, der lange zurückgestaute deutsche Geist, um der Gefähr entgegenzutreten, der wesenseigenen Aufgabe verlustig zti gehen durch eine das freie Selbstsein und damit die Kraft zur wahren „Aufklärung" raubende „Lösung". Diese Gefahr konnte nicht durch individuelle Kräfte gebannt werden, auch nicht in einem so gigantischen Wollen, wie es im deutschen Idealismus aufbrach. Dazu bedurfte es eines stärkeren Einschlags, wie er nur durch ein solches „Wunder", durch einen „unversehens" erfolgenden Aufbruch der deutschen Wesenstiefe selbst gegeben werden konnte. Und das geschah als „Romantik". Nicht daß durch sie das idealistische Streben relativiert und aufgehoben werden sollte. Denn als „Romantik" tritt keineswegs eine andere „Lösung" jener westlich-revolutionären entgegen. Eine solche hätte ebenfalls ein revolutionäres Gepräge besitzen müssen. Aber nur eine Rückwendung reformatorischen Charakters wird von dieser schlagwortbaren Bewegung vollzogen, und in ihr wird auch nicht mehr und nichts anderes gehoben und aufgestellt als eine Problemstellung. Der „Weg" in die neue, bewußte Erfahrung der Geist-Wirklichkeit mußte, trotz der Romantik, noch „idealistisch" begangen werden. Er selbst konnte nur ein idealistischer sein. Aber diesem willensbestimmten Streben wurde „romantisch" sein eigenstes „Objekt" gegeben. Dieses mußte auch der Zielpunkt sein, den es sich selbst nicht schaffen konnte. Aber da es nur Problem, wenn auch „das deutsche Problem" war, das 68
im Ereignis der Romantik in Erscheinung trat, wurde damit zugleich die Forderung einer „Aufklärung" im Sinne des idealistischen Prozesses erhoben. Daraus erhellt, daß durch die „Romantik" cHe eigentliche „Bewegung" erst entfesselt werden sollte, die jener westlichen entgegentreten konnte, Diese Bewegung aber unterblieb, da der Idealismus das „romantisch" dargebotene „Objekt" für seine „Aufklärung" nicht ergriff. Wie nahe er indessen doch einer solchen Aneignung kam, beweist die Erscheinung der Jenaer Schule wie auch diejenige des späten Schelling. Ermittelt man den eigentlichen Berührungspunkt dieser zur Romantik hin orientierten idealistischen Strebungen mit dem Wesensbereich der Romantik selbst, so findet man stets dieselben Auseinandersetzungen mit dem Grundwert der romantischen Weltanschauung, dem Mythos. Was jedoch im rückwärts gewandten Blick des Romantikers als eine ihn übermächtigende Weltanschauung auftaucht, kann für den Idealisten nur Inbegriff seines Strebens sein. Daher stellt er die Forderung nach einem „neuen Mythos", der, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet", auf bewußte Weise gestaltet und daher durch die Individualität geprägt, als das „künstlichste alier Kunstwerke" in Erscheinung treten soll8. Ein solches Fordern ist charakteristisch, nicht allein für den romantischen Idealismus der Jenaer Schule, sondern für alle Annäherungen an die eigentliche Romantik, weshalb es auch bereits bei Hamann, Herder und dann wieder innerhalb des deutschen Idealismus bei Schelling auftritt. Damit wird der Gegenstand der erforderlichen „Aufklärung" gesichtet, aber doch nur zu einem idealistischen „Motiv" gemacht, wenn auch (vor allem durch Friedrich Schlegel) zum entscheidenden Moment für einen „neuen Realismus", zu welchem der Idealismus in seiner Selbstüberwindung fortschreiten soll. Was die Romantik als „Problem" darbietet, wird also nur wieder als idealistischer 'Zielpunkt aufgestellt, nicht aber zur „Lösung" gebracht Diese, sei es auch die höchste Problemstellung der idealistischen Bewegung, konnte aber den Siegeslauf des Lösungen bietenden Materialismus nicht verhindern. Die Konzeption dieses Mythosproblems bedeutet eine Grenze, die nicht mehr überschritten wird. Dadurch 69
aber bleibt das Ereignis Romantik als jenes „Rätsel" inmitten der „Krisis" stehen, als das es auch noch heute zu immer neuer Auseinandersetzung aufruft. Eine endgültige Lösung vorzubereiten, muß daher die eigentliche Aufgabe der heutigen Romantikforschung sein. 2. D a s
Sokrate-s-Problem
Die deutsche Aufklärungsbewegung strebte aber auch selbst nach einer Mythisierung der in ihr freigewordenen, selbstherrlichem Subjektivität. Da ihr dies in reiner Selbstgestaltung nicht gelang, griff sie nach dem Bilde jener Persönlichkeit, die, gleichfalls in einer „Krisis," erscheinend, zum Inbegriff des absoluten Aufklärungswillens werden konnte, der sie selbst trug. Sie bemächtigte sich der Gestalt des Sokrates, da sie in ihm das Vorbild eines ungetragenen, ganz auf sich selbst verwiesenen Menschentums sah. Nicht daß sie damit ihr Bemühen um die Objektivierung der eignen Haltung aufgegeben hätte. Diese fand vielmehr nur ihren Zielpunkt. Denn Sokrates stand .zwar am Anfang, aber der von ihm begonnene Aufklärungsprozeß erreichte in ihm keineswegs schon sein Ende. Was er verkündete, wofür er lebte und starb, bedurfte noch der endgültigen Verwirklichung. - Man griff also nach Sokrates nur, um einen realen Ansatzpunkt für die erstrebte Selbstmythisierung zu gewinnen. Der geschichtliche Sokrates war den um ihn bemühten Aufklärern meist gar nicht aus den wesentlichen Quellen bekannt. Zeitgenössische Schilderungen genügten, um das zu vermitteln, was man für den Objektivierungsprozeß benötigte. Man war auch gar nicht in der Lage, in der Sokrates-Erscheinung eine absolute Gestalt mythischer Prägung zu ergreifen. Dazu stand man sich selbst im Wege. Zu sehr war man überzeugt von der Höhe und, Einzigkeit der eigenen Epoche, als daß man sie einem Früheren hätte unterordnen können. Und dies wäre auch dann erforderlich gewesen, wenn man die Gestalt des Sokrates nicht historisch, sondern absolut genommen hätte. Denn gerade dann wäre ein ganzes Zurücktreten vor einer endgültigeren Wirk70
lichkeit Notwendig geworden. - Es gibt auch gar keine andere Haltung dem Mythos gegfenüber als die solcher Ehrfurcht und solchen Zurückstellens des eigenen Wollens und Wähnens. Man muß zum Empfangenden werden, wo man das Bereich mythischer Realität betritt. Das gerade vermochte jedoch der Mensch der Aufklärung nicht. Er verlangte zwar nach der mythischen Objektivität, war aber gar nicht imstande, ihr gegenüber seine Subjektivität aufzugeben. Auch das Mythische wollte er noch aus seiner individuellen Rationalität bestimmen. Daher konnte er auch in Sokrates kein überpersönliches und überzeitliches Ziel mythisch erfahren, sondern nur symbolisieren, was er selbst sich zum Ziele gesetzt hatte, wozu er bereits auf dem Wege war. Sokrates hatte die neue, in persönlicher Freiheit gründende Wertsetzung zu repräsentieren und bedeutete daher nichts anderes als eine symbolische Zusammenfassung der Zeitstrebungen, Man gab in dieses Bild hinein, was man sich schon erarbeitet hatte oder noch erstrebte. Die Unbestimmtheit seiner geistigen Physiognomie, der Mangel eines eigenen Systems legte eine solche Einwertung nahe. Man erspürte dabei zweifellos etwas Richtiges, daß nämlich in Sokrates ein ungelöstes Problem vorlag, zu dessen Lösung es endlich an der Zeit sein mußte. Aber da sie ihn gar nicht in seinem Eigensein faßte?" war die Aufklärung auch nicht imstande, dieses in seiner Realität zu fassen. Sokrates selbst war für sie eigentlich doch immer nur der erste Aufklärer, der noch nicht in ihrer eigenen Weise zum Aufgeklärten geworden war. Er stand noch im Prozeß des Aufklärens, den man selbst zu Ende zu führen im Begriffe stand. Als dessen Erstling konnte er symbolischer Träger des Aufklärertums überhaupt sein, aber doch nur, wenn man ihm aus der eigenen Existenz gab, was ihm noch mangelte, mangeln mußte. Dies geschah auf verschiedene Weise, jedoch stets mit der gleichen Tendenz, das Individuelle zu verallgemeinern und dabei ins Ubcrindividuelle zu steigern. Es wurden dieser Gestalt gegenüber, in der jeweils eigentümlichen Weise des Umwerters, immer nur die von einem Friedrich Schlegel zum schöpferischen Prinzip einer neuen Mythologie erhobenen „Rechte der Individualität" praktiziert1. 71
Und doch röhrte die Aufklärung an die entscheidende Problemstellung des Jahrhundertendes, indem sie gerade das Bild des Sokrates zu ihrem Leitbild erhob. Denn sie ergriff damit als Symbol die Aufgabe, die als „Ereignis" durch die Romantik „unversehens" in die Krisis gestellt wurde. In der Besinnung auf den sokratischen Einsatz setzte sie sich selbst auf ihre Weise die Romantik zum Problem, denn sie objektivierte eigentlich nichts anderes als jene eigentümlich deutsche Aufklärungsforderung, die in objektiver Weise durch die Romantik gestellt werden sollte. Daher lohnt es sich, diesen Versuchen nachzugehen. Sie erhellen, wie notwendig ein romantischer Aufbruch war. Sie führen aber auch an die Stelle heran, wo er geschehen mußte, weil er da geschahen konnte. Denn sie selbst bereiten, ohne es zu wollen oder gar zu wissen, der den Tiefen entsteigenden Bewegung den Ort ihres Durchbruchs. Zwei Grundformen der Bildung heben sich aus der bunten Fülle der Sokratesumwertungen heraus, der „christliche Sokrates" uiid der „moderne Sokrates". Das Hereinnehmen in das christliche Weltverhältnis, als erste Forderung auftretend, geschah in der „mystischen Strömung" der Aufklärung, vor allem im Pietismus. Sokrates war für das so gerichtete Wollen ein Ringender um die Erkenntnis des wahren Gottes, zu einer Zeit, da er sich noch nicht unmittelbar i m menschlichen Dasein bezeugt hatte, jedoch auch schon das Wissen um sein Weltschöpfertum verblaßt war. Seiner Haltung nach könnte er daher als ein vorchristlicher Christ bezeichnet werden. Was jedoch für ihn notwendig noch ein unlösbares Problem sein mußte, konnte in der eigenen Existenz seine Lösung und Verwirklichung finden. Der sokratische Weg erschien nun als der einzige zu einer neuen Verbindung mit der Gottheit. In sokratischer Unbedingtheit denkenden Strebens gelangte man zur Erkenntnis der menschlichen Nichtigkeit und aus ihr zum Bewußtsein der Sündhaftigkeit. In dieser Leere und Not konnte der Mensch die Erfahrung der göttlichen Gnade machen, die einem Sokrates noch verwehrt bleiben mußte. Denn sie kam dem Menschen damals noch nicht entgegen wie seit dem Erscheinen Christi auf Erden, Durdh dieses Ereignis erst gab es die Möglichkeit einer „Wiedergeburt" in der „Bekehrung". 72
Der „christliche Sokrates" zeigt sich demnach als das Idealbild, dem der mystische Aufklärer unaufhörlich zustrebte. Die somatische Haltung ist zwar der Anfang des Weges, aber dieser wäre ziellos, würde man ihn nicht auf die christliche Zielsetzung orientieren. Das Entscheidende ist also doch aus der eigenen Existenz hinzugegeben. Das ist auch der Fall bei der Aufnahme und Gestaltung de* Sokratesbildes durch die rationale Richtung der Aufklärung. Auch für sie ist Sokrates kein Urtypus, sondern vielmehr nur Ansatz zu einem erst im eigenen Dasein verwirklichten Menschsein. Der Einchristlichung bedarf er für sie allerdings nicht. Denn er gilt ihr selbst als der Gründer einer überzeitlichen Weltanschauung und kann als solcher neben, ja sogar über den Gründer des Christentums gestellt werden. "Die von ihm verkündeten Grundwerte sind diejenigen der Aufklärung selbst: Freiheit und Vernunft* Und in dieser letzteren wiederum ist alle Tugend begründet. Was Sokrates lehrte, lebte er dar, und sein Tod, mit dem er Lehre und Existenz besiegelte, kann daher (nach Aussage Fr. H. Jacobis in seinen „Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Religion") als „ebenso ehrwürdig und erbaulich" angesprochen werden „als der Tod Jesu"*. Wenn in den moralischen Wochenschriften, in denen die rationale Religiosität in breitere Kreise getragen wurde, von „Wundern" des Sokrates die Rede war, so geschah dies nur als Folge einer solchen Verabsolutierung'; Damit ist jedoch nichts anderes geschehen, als auch mit der Einchristlichung vollzogen wurde. Sokrates ist der jeweilig eigenen Haltung entsprechend umgewandelt und zu deren absolutem Symbol erhoben worden. Nicht er ist dafür entscheidend, sondern das eigene Dasein, sei dies nun christlich, achristlich oder antichristlich bestimmt. Man greift nach dem antiken Weisen als dem Schöpfer der eigenen Weltanschauung, um ihn sogleich zu deren Geschöpf umzumodeln. Der „moderne Sokrates" hat also so wenig wie der „christliche" etwas mit einer mythischen Erfahrung zu tun. Es ist daher eine geradezu selbstverständliche Folge, daß immer wieder einzelne Persönlichkeiten sich als neue Verkörperungen; dieses Ideals erlebten. So sah Zinzendorf, der Gründer der Brü73
dergemeinde, sich, dem Vorfahr Sokrates gleich, im Kampfe mit einer ebenso oberflächlich-sophistischen Umwelt und daher mit derselben Aufgabe beladen, sie zur Umkehr zu bewegen4. - Dem Subjektivismus war nun keine Schranke mehr gesetzt. Sokrates machte alle Wandlungen durch, die das Aufklärungszeitalter durchlief. Er galt als die entscheidende Autorität, die man überall anrief, wo man nach Festigung der persönlichen Meinung strebte. Was bei Zinzendorf noch einer wirklichen Ergriffenheit entstammte, wurde immer mehr zu einem Spiel, in dem man das eigene Ungenügen zu verbergen oder auszugleichen, schließlich aber auch zu glorifizieren suchte. Denn nichts anderes geschah, indem man das im engsten Sinng Persönliche von Sokrates aussprechen ließ, als daß man dieses zum Anschein eines absoluten Wertes erhob. Damit war aber gerade das Gegenteil von dem erreicht, was man zunächst gewollt hatte. Sokrates war nun kein absolutes Vorbild mehr, dem man sich nur annähern konnte, ohne es je erreichen zu können. Er war vielmehr zum Mittel geworden, das eigene Selbst ins Objektive zu erheben. So sah sich ein Mendelssohn auf der Höhe seiner Aufgeklärtheit als „ein Sokrates in uns'eren Tagen" dazu berufen, nach vielen, „barbarischen Jahrhunderten", die auf jenen „Morgen" des Griechentums gefolgt waren, die besseren Tage der Weltweisheit heraufzuführen. Denn diese kennt nur „ein allgemeines Vaterland" und bleibt stets dieselbe. Es bedarf nur immer wieder einer neuen Verkündung5. Damit ist aber Sokrates geradezu zum Gegenteil dessen geworden, was er den 'revolutionären Aufklärern war. Sokratisch ist nunmehr die Haltung derjenigen, die den Prozeß der Aufklärung bereits vollzogen haben. Das Ideal der Kampfzeit, wie es vor allem durch Gottsched aufgerichtet war, erscheint damit hinfällig. Die Vorbildlichkeit des Sokrates ist eingeholt, wenn nicht sogar übertroffen. Um überhaupt noch etwas bedeuten zu können, muß er daher der neuen Lage gemäß umgewertet werden. Das konnte auf zweifache Weise vollzogen werden, einmal, und das war das Nächstliegende, durch eine Rückführung auf die verlorengegangene Ursprünglichkeit, oder auch durch eine Erhöhung des erreichten Ideals, d. h. aber durch eine weitere Idealisierung. Für den ersten Weg ist der mutvollste Repräsentant aufkläreri74
scher Existenz beispielhaft, der nicht nur den alten Dogmen, sondern auch ihren Neubildungen stets sein revolutionäres Nein entgegensetzte. Es gab für Lessing keine Aufgeklärtheit, denn er kannte kein Ende der Aufklärungsbewegung. Echt sokratisch, im Sinne des ursprünglichen revolutionären Aufbruchs, ist seine freie Entscheidung für den ewigen Trieb nach Wahrheit bei einer Wahl zwischen diesem und dem unmittelbaren Empfang der Wahrheit selbst aus göttlicher Hand. Denn dieses Besitzen war für ihn keine Möglichkeit des Menschen mehr, der nur als ein ewig Strebender das sein kann, was er seinem freien Wesen nach Sein muß9. Aus dieser Entscheidung wird vollends deutlich, daß die Aufklärungshaltüng, wenn sie nicht über ihr Bereich hinausgreift und dabei ihr eigentliches Wesen einbüßt, ein stetes In-Bereitschaftsein bedeutet. Der reine Aufklärer strebt beständig auf eine Schwelle zu, die er nicht mehr zu überschreiten vermag. Und gerade in dieser Aktivität erscheint der neue Sokratismus in seiner reinsten Form. Er bekundet sich als revolutionär ohne Befähigung zu einem reformatorischen Bauen. Die zweite Möglichkeit einer Umwertung des eingeholten Sokratesbildes durch dessen Überhöhung scheint diesem Rückschwingen in die revolutionäre Anfänglichkeit gegenüber den Vorzug einer positiven, nahezu schon als reformatorisch zu bestimmenden Haltung zu haben. Man möchte ihre Verwirklichung vor allem in jener der Aufklärung entwachsenden, über sie hinausgehenden humanistisch-idealistischen Bewegung sehen. Jedoch vollzog sich ihr Einsatz gerade nicht als eine Weiterführung der ungelöst gebliebenen Problematik, sondern durch ein Verlassen der bisherigen Richtung zugunsten einer Position des Außerhalb. Zwar tritt der Humanitätsgedanke selbst zum ersten Male gerade da auf, wo die Aufklärungshaltung ihren kritischen Punkt erreicht hat und in sich selbst?' zurückzuschwingen beginnt. Er kann als die positive Lösung der damit aufgebrochenen Problematik betrachtet werden, während der Pietismus die negative Konsequenz zieht. Verneint e r den Menschen überhaupt, um ihn auf die göttliche Gnade zu verweisen, so glaubt jener an die Fähigkeit des Menschen, durch Einsatz aller seiner Kräfte die Krisis selbst über' 75
•winden zu können. Aber indem so der Humanismus den Aufklärungsstandort aufgibt, drängt er auch zugleich die im Sokratismus gegebene Problemstellung zurück. Zwar sieht noch Wieland in Sokrates den ersten Vertreter des Humanitätsgedankens und anerkennt daher seine Vorbildlichkeit7, und selbst Humboldt und Schiller gehen zunächst von einer ähnlichen Wertung aus8. Abersowie sie einmal auf ihren eigenen Weg gelangt sind, verliert dieses Bild seine Bedeutung. Goethe nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, jedoch nur, soweit er nicht Repräsentant des deutschen Klassizismus ist. Denn dieser muß sich von Sokrates abwenden, da ein neues schöpferisches Ideal über ihm steht, die in jenem aufbrechende Problematik ausschließend, Apollon. Um der Bedeutung dieser Wendung gerecht werden zu können, bedarf es eines kurzen Eingehens auf das Wesen der deutschen Auseinandersetzung mit dem Griechentum überhaupt. Sie begann früh und ist auch durch Nietzsche noch nicht endgültig abgeschlossen worden. Schon das erste eigendeutsche Philosophieren der Mystiker vollzog sich angesichts der griechischen Welt. Dagegen war dann der Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts weit mehr auf Rom orientiert und daher auch in seiner germanisch-deutschen Ausprägung eine romanisch bestimmte Bewegung, wie überhaupt diese Entscheidung für Rom für den Westen ebenso charakteristisch ist wie die Hinwendung zu Hellas für Deutschland. In ihr entscheidendes Stadium tritt diese Auseinandersetzung allerdings erst mit Winckelmann ein, um in Goethe, Hölderlin und Nietzsche ihre Höhepunkte .zu erreichen. Was war es denn, das gerade den Blick dieser für die deutsche Selbstgestaltung so bedeutsamen Persönlichkeiten suchend nach der Antike richten ließ? Nietzsche nennt es geradezu die „eigentliche Würde" des deutschen Philosophierens, „ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens zu sein" bis zur eigenen Erreichung jenes „bisher höchst gearteten Typus ,Mensch'"®. Und Goethe sieht im Griechentum den Menschen „als ein Ganzes" wirken, wodurch nicht nur der Mensch, sondern mit ihm das Weltall „an sein Ziel gelangt" scheint10. Der Grieche war aus Natur der volle und ganze Mensch, der in sich die widerstrebenden Kräfte, das Oben und das Unten, Sinnlichkeit Und Geist in 76
Harmonie darzuleben vermochte. Daher konnte er für alle Zeiten das Bild reinen Menschentums repräsentieren. In diesem mußte also auch die dumpfe Unfreiheit der mittelalterlichen Welt im voraus schon überwunden sein. Aber es war in ihm auch zugleich ein objektiver Zielpunkt über allem Suchen und Irren des philosophischen Zeitalters gegeben. Und über beides, die Gebundenheit und die Relativität, mußte der deutsche Geist hinauskommen, wenn er zur Selbstgestaltung gelangen wollte. Wie später Nietzsche in aller Bewußtheit in einer „Wiedergeburt des hellenischen Altertums" die einzige Hoffnung für „eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes" weiß11, so fühlte schon die Goethezeit, daß nur in der Hinorientierung auf das in der Antike dargelebte Ziel ein Hinaus aus der „Verödung und Ermattung" möglich war. Daher blickte -man auf die vollkommenste' Objektivierung antiken Menschentums, auf die Gestalt des Apollon. In ihrer mythischen Endgültigkeit schien nicht nur die Ewigkeitsgestalt des griechischen Menschen gegeben, sondern das ewige Zielbild alles Menschseins überhaupt. Nach Jahrhunderten der Verbergung sollte es im Bereich deutschen Menschentums neu aufstrahlen. Und in seiner Gewinnung sollte dieses zur rechten Selbstgestaltung erwachen. Das war der Glaube und die Zuversicht des deutschen Klassizismus und Hellenismus. Es bedurfte daher für ihn keines neuen Menschenbildes mehr. Die Aufgabe war eine ganz andere. Was mit naturhafter Seibscverständlichkeit dem Lebensgrunde des griechischen Volkes entwachsen war, mußte auf bewußte Weise wiedergewonnen werden, nachdem es mit der Hinwendung zu einer rein materiellen Welt verlorenging. Das Griechentum hatte das reine Menschentum verwirklicht im unmittelbaren Anblick der Götter, der wirkenden Mächte. Die Griechen waren Begnadete ihrer Weltstunde und lebten die Harmonie zwischen Geist und Materie dar, weil sie in der doppelten Gegenwärtigkeit von Gott und Welt standen. Inzwischen war aber mit dem Römertum und mit der Ausbreitung einer südlich-westlichen Kultur und Zivilisation die Schau, des Wirkenden als eiqes Übersinnlichen erstorben. Der Deutsche, allzufrüh ihren rational-materiellen Machtgebilden konfrontiert, hatte die ihm urveranlagte Eigengestalt nicht zur Erscheinung 77
bringen können. Nun endlich konnte sie, so schien es, aus zwangvollem Schlafe erwachen und sich angesichts der. griechischen Welt erheben, zwar nicht in unbewußt-naturhafter Weise, jedoch auf einem bewußten Wege. Diese Situation wird nirgends so deutlich sichtbar wie in Schillers berühmtem Geburtstagsbrief an Goethe, in dem er davon spricht, daß dieser, wäre er „als ein Grieche" geboren, den ganzen Weg nicht nötig gehabt hätte, den er nun als Deutscher durchlaufen müsse. Denn schon „in die erste Anschauung" hätte er dann „die Form des Notwendigen aufgenommen", also unmittelbar das Wesenhafte in der Natur und als Natur geschaut. Nun aber, „in diese nordische Schöpfung geworfen", blieb ihm nichts übrig, als das, was „die Wirklichkeit vorenthielt, durch die Nachhilfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf dem rationalen Wege ein Griechentum zu gebären" 12 . Was der deutsche Klassizismus im Angesicht der griechischen Welt ergreift, ist also nichts anderes als das Bewußtseinsproblem der eigenen Weltwerdung. Es geht darum, das einst aus Natur Vorhandene, die Ganzheit eines eigentümlichen Menschentums, zu einer nun bewußt zu bewirkenden Verwirklichung zu führen. Diese Aufgabe ist zwar, vor allem im deutschen Idealismus, in ungewöhnlicher Klarheit gesichtet und herausgestellt worden, eine endgültige Erfüllung blieb jedoch dieser Epoche versagt, obwohl sie zu einer „Lösung" der gestellten Problematik gelangte. In dem genannten Brief führt Schiller aus, daß Goethe, nachdem er „schon eine wilde und nordische Natur in sich aufgenommen" hatte, „von außen her dur