Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Sozialität - Kognition - Netzwerke 9783839432976

How can we think the interaction of humans and things in society? Is it possible to view things as social actors? Gustav

182 19 1MB

German Pages 284 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
KAPITEL 1. KLEINE GALERIE NEUER DINGBEGRIFFE
1.1 Hybriden
1.2 Quasi-Objekte
Soziales Band in Bewegung
Soziales Band, technologisch
Zuhandenheit und konstruierte Benutzer
Quasi-Objekte – zirkulierend, bahnend, hybride, instituiert
1.3 Grenzobjekte
Grenzobjekte, Grenzzonen und Übersetzungen
1.4 Technische Objekte
Konkretisierung
Genese
Vielheit
Transduktion
1.5 Epistemische Dinge
Neu auftauchende …
… Dinge
Materiale Darstellung
Differenz und Dinglichkeit
Eine dualistische Kritik
Außerhalb des Labors
1.6 Dinge neu konzeptualisiert: konkret, plural, unrein, werdend, problematisch, netzig
KAPITEL 2. SOZIALITÄT MIT DINGEN
2.1 Eine Soziologie mit Dingen
Roboter als Handlungsträger
Symmetrieprinzip oder: Die Überwindung des Dualismus durch seine Überspitzung
Dualistische Ontologie – gespaltene Objekte
Ontologischer Pluralismus und plurale soziale Akteure
2.2 Dinge sozial durch Handlung
Facetten des Handelns, Figuren des Agierens
Verteiltes und verantwortetes Handeln
Verwandte Handlungstheorien
2.3 Dinge sozial durch Normativität
Verschiedene Formen dinglicher Normativität
Wer normiert in letzter Instanz?
Objektinstitutionen
2.4 Zwei Versuche, Dinge sozial zu diskreditieren: Sachzwang und Verdinglichung
Sachzwang
Verdinglichung
Gegenständlichkeit und Verflüssigung (aus der Vorgeschichte des Verdinglichungsbegriffs)
Verdinglichung als kritischer Begriff obsolet?
2.5 Dinge sozial durch Assoziation
Dinge in und außer Netzen
Ein- und Entgrenzung der Gesellschaft
Das Ding als Versammlung und zugleich Ding
Dinge als Konturierer und Konstituierer von Gesellschaft
KAPITEL 3. KOGNITION MIT DINGEN
3.1 Von der künstlichen zur verteilten Kognition
Kognition verkörpert, verteilt und situiert
(Symmetrische) Kognitive Anthropologie
Menschheit mit Zubehör
3.2 Darstellen, Erkennen und zirkulierende Referenz
Repräsentationen und ihre Schicksale
Erkenntnisse werden transversal gewonnen
KAPITEL 4. GESELLSCHAFT UND DENKEN MIT DINGEN
4.1 Dinge sozial durch Kognition
Verteilung von Kognition: sich erstreckend, aufgeteilt …
Kognition (und Handeln) in Bewegung
4.2 Institutionen und Koordinationen
Können Institutionen denken?
„Objektiver Geist“
Auch Institutionen brauchen Dinge zum Denken
Entlastung und Verantwortung
Technische Objekte und kognitive Technologien als Koordinatoren
Öffentliche Sachen und instrumentierte Öffentlichkeiten
Schluß
Nachwort und Dank
Literatur
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Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft: Sozialität - Kognition - Netzwerke
 9783839432976

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Gustav Roßler Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft

Band 6

Editorial Moderne Gesellschaften sind nur zu begreifen, wenn Technik und Körper konzeptuell einbezogen werden. Erst in diesen Materialitäten haben Handlungen einen festen Ort, gewinnen soziale Praktiken und Interaktionen an Dauer und Ausdehnung. Techniken und Körper hingegen ohne gesellschaftliche Praktiken zu beschreiben – seien es diejenigen des experimentellen Herstellens, des instrumentellen Handelns oder des spielerischen Umgangs –, bedeutete den Verzicht auf das sozialtheoretische Erbe von Marx bis Plessner und von Mead bis Foucault sowie den Verlust der kritischen Distanz zu Strategien der Kontrolle und Strukturen der Macht. Die biowissenschaftliche Technisierung des Körpers und die Computer-, Nano- und Netzrevolutionen des Technischen führen diese beiden materiellen Dimensionen des Sozialen nunmehr so eng zusammen, dass Körper und Technik als »sozio-organisch-technische« Hybrid-Konstellationen analysierbar werden. Damit gewinnt aber auch die Frage nach der modernen Gesellschaft an Kompliziertheit: die Grenzen des Sozialen ziehen sich quer durch die Trias Mensch – Tier – Maschine und müssen neu vermessen werden. Die Reihe Technik | Körper | Gesellschaft stellt Studien vor, die sich dieser Frage nach den neuen Grenzziehungen und Interaktionsgeflechten des Sozialen annähern. Sie machen dabei den technischen Wandel und die Wirkung hybrider Konstellationen, die Prozesse der Innovation und die Inszenierung der Beziehungen zwischen Technik und Gesellschaft und/oder Körper und Gesellschaft zum Thema und denken soziale Praktiken und die Materialitäten von Techniken und Körpern konsequent zusammen. Die Reihe wird herausgegeben von Gesa Lindemann, Professorin für Soziologie an der Universität Oldenburg, und Werner Rammert, Professor für Soziologie und Sprecher des interdisziplinären Zentrums für Technik und Gesellschaft an der TU Berlin.

Gustav Roßler hat in Berlin und Paris Philosophie, Soziologie und Psychologie studiert. Er ist als freier Übersetzer (u.a. von Paul Virilio, Gilles Deleuze, Andrew Pickering, Bruno Latour) sowie als Publizist tätig. 2014 promovierte er am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin.

Gustav Rossler

Der Anteil der Dinge an der Gesellschaft Sozialität – Kognition – Netzwerke

Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2014 u. d. T. Der Anteil der Dinge an Gesellschaft und Kognition

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Im Vordergrund »Pyramide« von Zora Kreuzer, im Hintergrund eine Arbeit von Melanie Dorfer, Ausstellung Akademiepreis Freiburg 2010. Fotografie von Gustav Roßler. Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3297-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3297-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

K APITEL 1. K LEINE G ALERIE NEUER D INGBEGRIFFE | 19 1.1 Hybriden | 22 1.2 Quasi-Objekte | 25

Soziales Band in Bewegung | 25 Soziales Band, technologisch | 27 Zuhandenheit und konstruierte Benutzer | 29 Quasi-Objekte – zirkulierend, bahnend, hybride, instituiert | 30 1.3 Grenzobjekte | 32

Grenzobjekte, Grenzzonen und Übersetzungen | 34 1.4 Technische Objekte | 38

Konkretisierung | 39 Genese | 40 Vielheit | 41 Transduktion | 42 1.5 Epistemische Dinge | 43

Neu auftauchende … | 44 … Dinge | 45 Materiale Darstellung | 46 Differenz und Dinglichkeit | 48 Eine dualistische Kritik | 50 Außerhalb des Labors | 52 1.6 Dinge neu konzeptualisiert: konkret, plural, unrein, werdend, problematisch, netzig | 53

K APITEL 2. S OZIALITÄT MIT D INGEN | 59 2.1 Eine Soziologie mit Dingen | 60

Roboter als Handlungsträger | 61 Symmetrieprinzip oder: Die Überwindung des Dualismus durch seine Überspitzung | 64

Dualistische Ontologie – gespaltene Objekte | 69 Ontologischer Pluralismus und plurale soziale Akteure | 78 2.2 Dinge sozial durch Handlung | 84

Facetten des Handelns, Figuren des Agierens | 87 Verteiltes und verantwortetes Handeln | 101 Verwandte Handlungstheorien | 118 2.3 Dinge sozial durch Normativität | 124

Verschiedene Formen dinglicher Normativität | 125 Wer normiert in letzter Instanz? | 132 Objektinstitutionen | 134 2.4 Zwei Versuche, Dinge sozial zu diskreditieren: Sachzwang und Verdinglichung | 139

Sachzwang | 139 Verdinglichung | 142 Gegenständlichkeit und Verflüssigung (aus der Vorgeschichte des Verdinglichungsbegriffs) | 147 Verdinglichung als kritischer Begriff obsolet? | 149 2.5 Dinge sozial durch Assoziation | 152

Dinge in und außer Netzen | 154 Ein- und Entgrenzung der Gesellschaft | 159 Das Ding als Versammlung und zugleich Ding | 165 Dinge als Konturierer und Konstituierer von Gesellschaft | 173

K APITEL 3. K OGNITION MIT D INGEN | 177 3.1 Von der künstlichen zur verteilten Kognition | 178

Kognition verkörpert, verteilt und situiert | 180 (Symmetrische) Kognitive Anthropologie | 183 Menschheit mit Zubehör | 185 3.2 Darstellen, Erkennen und zirkulierende Referenz | 191

Repräsentationen und ihre Schicksale | 191 Erkenntnisse werden transversal gewonnen | 196

K APITEL 4. G ESELLSCHAFT UND D ENKEN MIT D INGEN | 209 4.1 Dinge sozial durch Kognition | 209

Verteilung von Kognition: sich erstreckend, aufgeteilt … | 211

Kognition (und Handeln) in Bewegung | 219 4.2 Institutionen und Koordinationen | 221

Können Institutionen denken? | 223 „Objektiver Geist“ | 226 Auch Institutionen brauchen Dinge zum Denken | 233 Entlastung und Verantwortung | 235 Technische Objekte und kognitive Technologien als Koordinatoren | 239 Öffentliche Sachen und instrumentierte Öffentlichkeiten | 243 Schluß | 245 Nachwort und Dank | 251 Literatur | 253

Einleitung

Immer wieder ziehen neue Dinge und Objekte in die Gesellschaft und unseren Alltag ein, machen sich hier mit einer eigenen Beharrlichkeit, Widerspenstigkeit oder gar Aktivität geltend. Um den Computer oder den PC als auffälligste Beispiele zu nehmen: Wie immer wir sie charakterisieren, als nicht-triviale Maschine, als „Typewriter“ oder als neues Interaktionsgegenüber, jedesmal werden geläufige Grenzziehungen verwischt. Oder nehmen wir eine Zellkultur im Reagenzglas: halb Ding, halb Lebewesen oder etwas Drittes? Den neuen Dingen kommt etwas Hybrides zu zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen toter Materie und Lebendigem, zwischen Faktischem und Werthaftem. Schnell tauchen dann dramatische Fragestellungen auf wie: Können Maschinen denken, handeln, sprechen? Was sie jedenfalls können: Zugänge kontrollieren, Daten und Bilder erfassen und analysieren, Autos bauen und Menschen chirurgisch operieren … Es sind vornehmlich technische Objekte wie Maschinen, Automaten und Computer, die zu solchen Erweiterungen der Eigenschaften der Dinge beigetragen haben, daß hier zutreffender von Tätigkeiten oder Fähigkeiten gesprochen werden müßte. Oder handeln sie gar? Womit auch diese Objekte kaum noch als Objekte bezeichnet werden dürften. (Aber vielleicht als QuasiObjekte?) Und nicht nur neue Dinge kommen, auch die alten bleiben. Wohin mit all den Dingen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, wo sie stapeln, vergraben, „zwischenlagern“, „entsorgen“ (wie die Wortschöpfungen für nukleare Abfälle lauten)? Greifbare und materielle Dinge lassen sich nicht so einfach wegerklären, eines ihrer Markenzeichen lautet: Dauer (selbst wenn sie nicht mehr funktionieren). Um über Dinge zu reflektieren, muß man nicht bei raffinierten Geräten und Maschinen ansetzen, sondern kann bereits bei den schlichten alltäglichen Dingen beginnen, mit denen wir umgehen, und den stofflichen, materiellen Umwelten, durch die wir uns bewegen. Vielleicht machen uns die neuen technischen Objekte nur bewußter, daß wir auch mit alltäglichen Gebrauchsdingen immer schon in einer sozialen oder sonstwie komplexen Beziehung stehen, über deren genaueren Charakter man sich Gedanken machen könnte.

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Und vielleicht wird durch das Einbeziehen auch der alten Dinge und ihrer Erfahrung nicht nur deutlicher, was an den neuen Dingen neu ist, sondern auch, daß diese uns nach wie vor als physisch-haptische Dinge begegnen oder auf dingliche Arrangements angewiesen sind. Daß es virtuelle Objekte gibt oder mit digitalen Informationsgütern kommerziell gehandelt wird, bedeutet nicht, daß die Dinge „verschwinden“, wie man manchmal hört (oder liest).1 Auch ein virtuelles Objekt braucht einen Computer, in dem es auftauchen kann, braucht Schnittstellen zum Menschen: Tastaturen, Bildschirme, Datenhandschuhe, Datenbrillen; und auch das Internet ist neben Übertragungsprotokollen und HTML auf Baumaschinen und Baumaterialien angewiesen, wenn Telefon- oder Glasfaserkabel verlegt, repariert oder Antennen aufgestellt werden. In Sozialwissenschaft, Anthropologie, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie kann man seit einiger Zeit eine neue Aufmerksamkeit für Dinge und materielle Kultur beobachten. Hauptsächlich in Form der Medien sind technische Dinge in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskurs eingewandert.2 Computer, Automaten, Roboter haben zu neuen Überlegungen und Begriffsschöpfungen angeregt. Auch in der jüngeren Wissenschafts- und Technikforschung ist ein verstärktes Interesse an Dingen und Artefakten zu bemerken. Allerdings ist strittig, welche Rolle nicht-menschlichen Entitäten zukommt und welche Beziehung sie nun genau zu ihren menschlichen Nutzern, Betrachtern und Interaktionspartnern unterhalten (bzw. unterhalten dürfen, sollen), ja auch schon, wie sie begrifflich zu fassen sind, ob als Artefakte, Objekte, Quasi-Objekte, Medien, Sachen, Dinge …3 Und Dinge spielen auch in der neueren Kognitionsforschung unter dem Stichwort der verteilten Intelligenz eine entscheidende Rolle als kognitive Medien und Stützen kognitiver Prozesse.4 Es geht im folgenden um Dinge, um neue Dingmodelle, Dingbegriffe, um Konstellationen von Menschen und Dingen und von Dingen und Menschen. Gearbeitet werden soll an dem, was Bruno Latour (2000, S. 29) einmal als „eine

1 Wie etwa bei Böhme 2006, S. 137 ff., oder Asendorf 2009. 2 Prototypisch: Kittler 1986. Für die Soziologie: Rammert 1993a, S. 303 ff. 3 Zum Beispiel Joerges 1979, Latour 1987, 1991b, 1992, Rammert 1993b, Thévenot 1994, Latour 1995, Knorr Cetina 1998, Rammert 1998b, Daston 2001a. In der Ethnologie und den Kulturwissenschaften ist von „materieller Kultur“ die Rede; Böhme (2006) versucht diese materielle Kultur dezidiert um den Dingbegriff zu gruppieren. Siehe zur materiellen Kultur unter soziologischer Perspektive Henkel 2014. 4 Siehe vor allem Hutchins 1995, Clark 1997. Unter „kognitiv“ verstehe ich: das Erkennen oder Erfahren (Denken, Erinnern, Wahrnehmen) betreffend, wobei die kognitiven Prozesse in der Psychologie meist als Informationsverarbeitung beschrieben werden, vgl. Fröhlich 2002, S. 258, Wessells 1984, S. 14.

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Sozialgeschichte der Dinge und eine ‚dingliche‘ Geschichte der Menschen“ charakterisiert hat. Das Verhältnis zwischen Menschen und Dingen soll dabei unter zwei Gesichtspunkten untersucht werden: der Sozialität mit Dingen und der Kognition mit (Hilfe von) Dingen. Kann man Dinge als soziale Akteure betrachten, oder wie sonst läßt sich das Miteinander von Menschen und Dingen in Gesellschaft, läßt sich gesellschaftliche Dingerfahrung konzeptualisieren? Die Debatte um Dinge als soziale Akteure5 soll in einem zweiten Schritt erweitert werden durch den Aspekt der Beteiligung von Dingen an der Kognition. Denn bei der Kognition läßt sich eine ähnlich zugespitzte Frage stellen wie die nach dem gesellschaftlichen Handeln von Dingen: Können Dinge (in diesem Falle Computer) denken?6 Aber vielleicht wäre es sinnvoller, die Frage in beiden Zusammenhängen zu modifizieren: Können Dinge mithandeln, mitdenken? Das wäre nicht bloß eine Kompromißformel, wenn man den Gedanken zu Ende denkt: Denn auch wir können vermutlich nur mithandeln, mitdenken. Eine solchermaßen gewendete Fragestellung hat auch das Motiv, die selbstherrliche Emphase des allmächtigen Subjekts zu brechen; ohne freilich in den entgegengesetzten Fehler eines naturalistischen Reduktionismus zu verfallen (der ohnehin nur deren Kehrseite ist). Nicht-menschliche Entitäten vermitteln im Sozialen und im Kognitiven. Man könnte also sagen, daß ich versuchen werde, die Symmetrie zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Aktivität um eine weitere Symmetrie zu ergänzen, oder sagen wir vielleicht besser: um eine Parallele, nämlich die zwischen kognitiver und sozialer Aktivität.7 Es geht mir um den Anteil der Dinge an Gesellschaft und Kognition. Sowohl Sozialität, und mit ihr soziales Handeln, als auch Kognition, und mit ihr kognitives Handeln, wie etwa Denken, sind angewiesen auf dingliche Vermittlungen, für die traditionelle Konzepte der Gesellschaft und des Erkennens blind sind (denn diese gehen in der einen oder anderen Form von einer dualistischen Lesart des Gesellschaftssubjekts oder Erkenntnissubjekts aus). In einem letzten Schritt werde ich dann Kognition und Sozialität mit Dingen sowohl begrifflich als auch sachlich enger in Verbindung bringen. So sind es meist spezifische Dinge, die in der Kognition vermitteln; und diese spielen auch in der Gesellschaft eine Vermittlerrolle.

5 Diese Debatte wurde u.a. ausgetragen in Pickering 1995, Latour 1996b, Rammert/ Schulz-Schaeffer 2002a, Rammert 2006, Thévenot 2006. 6 Beispielsweise Collins 1990, D’Avis 1994, Clark 1997. 7 „Symmetrie“ sei hier nur als Metapher und Schlagwort verwendet. Es steht als Kürzel für eine symmetrische Behandlung menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. Zur Problematik und meinem Verständnis des sogenannten Symmetrieprinzips komme ich in Kap. 2.1.

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Damit habe ich die Grundstruktur dieser Arbeit skizziert. Ihr leitender Gedanke ist, wenn man so will, noch einfacher. Ich plädiere für eine stärkere, begrifflich reflektierte Berücksichtigung der Dinge in der Soziologie und anderen Geistes- und Sozialwissenschaften. Dazu erprobe ich Dinge in verschiedenen theoretischen Szenarien – was heißt soziales Handeln? wie wird Erkenntnis gesellschaftlich vermittelt? –, wo bislang eher Subjekte und ihre Interessen, Intentionen und Einstellungen zählten. Methodologisch orientiere ich mich, soweit man das bei einer theoretischen Arbeit sagen kann, an einer pragmatistisch inspirierten Soziologie, die Dinge und Objekte einbezieht; und unter den Pragmatisten ziehe ich vor allem John Dewey heran, um meine Argumentation zu stützen. Denn daß Dinge nicht zu bloßen Erscheinungen eines (Erkenntnis-)Subjekts degradiert werden, war schon bei ihm Programm.8 Der Pragmatismus ist später über George Herbert Mead und die Chicago School zu einem Bestandteil der soziologischen Tradition geworden. Vor allem die „Handlungstheorie“ dieser Schule ist für mich wichtig, denn sie betont das kreative und experimentelle Handeln und den Prozeßcharakter des Handelns (Schubert 2007). Bei der Rezeption wurde sie oft auf das kommunikative Handeln verkürzt und die instrumentelle, experimentelle, empirische und dingliche Seite von Handlungen und Praktiken ausgeblendet. In den pragmatistischen Varianten der französischen Soziologie und der Techniksoziologie rücken die Dinge (im Griechischen: „pragmata“) wieder ins Blickfeld oder gar ins Zentrum.9 Ein weiteres Motiv für eine pragmatistische Orientierung findet sich im kognitiven Teil meiner Fragestellung, da der Pragmatismus Erkennen aus Erfahrungen herleitet und Denken als Probehandeln definiert (zwar keine erschöpfende, aber brauchbare Definition). Auch Latour verstehe ich als Pragmatisten.10 Ich gebe nun einen detaillierteren Überblick über die einzelnen Kapitel. Kapitel 1: Als erstes gehe ich kurz der Frage nach, was sind Dinge? Das heißt, ich skizziere ansatzweise den klassischen Dingbegriff, wenn es denn einen solchen gibt, sowie den Ding- bzw. Objektbegriff, den ich verwende. Und dann frage ich: Welches sind die neuen Dingbegriffe oder Dingmodelle, mit denen in der neueren Wissenschafts- und Technikforschung gearbeitet wird? Dazu erkunde ich die veränderte Forschungslandschaft in den letzten Jahrzehnten. Von Quasi-Objekten, Hybriden, epistemischen Dingen, Wissensobjek-

8 Vgl. etwa Dewey 2004, S. 386. 9 Siehe dazu Wagner 1993, Thévenot 2002, Latour 2005a, Thévenot 2006, Rammert 2007b. 10 Latour selbst beruft sich auf Dewey und James. Heinz Bude apostrophiert ihn als „europäischen Pragmatisten“ (Bude 2005, S. 206), und Werner Rammert spricht bei ihm von „Technopragmatismus“ (Rammert 2007c, S. 495).

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ten, Aktanten oder nicht-menschlichen Akteuren ist die Rede.11 Bei dieser Vielzahl von Konzepten besteht Klärungsbedarf, was den Ding- oder Objektbegriff angeht, und gibt es begriffliche Neuerungen, die zu dokumentieren sind. Einige dieser neuen Dingbegriffe werde ich genauer mustern und versuchen, ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten: Hybriden, Quasi-Objekte, technische Objekte, Grenzobjekte (boundary objects) und epistemische Dinge.12 Mit den neuen Begriffen wird die Dinglichkeit der Dinge durchaus hervorgehoben. Das heißt, hier werden Dinge nicht aufgelöst, reduziert auf etwas anderes (auf Prozesse, Bewußtsein, subjektive Kategorien), sondern ihr Dingsein wird berücksichtigt oder betont, gleichzeitig aber der Dingbegriff dynamisiert und komplexer angelegt. Es sollte allerdings differenziert werden zwischen den neuen Dingbegriffen wie „Quasi-Objekten“, „Hybriden“ etc. und den neuen Dingen, mit denen wir zunehmend umzugehen lernen (Computer, elektronische Agenturen und elektronische Objekte, digitale Dokumente). Gleichwohl bringen neue Dinge und der Umgang mit ihnen auch neue Begriffe ins Spiel. Womit die Frage auftaucht, ob die neuen Begriffe auch zur Aufhellung unseres Verhältnisses zu den schlichten und alten Dingen beitragen, inwieweit sie diese zu erfassen in der Lage sind oder ob sie gar ermöglichen, neue Seiten an ihnen zu entdecken. Die neuen Dingbegriffe haben die Dingfrage zwar in den Fokus der Sozialwissenschaften gerückt, sie damit aber keineswegs schon beantwortet. Vielleicht könnte man auch folgendermaßen formulieren: Auf die Agenda der Soziologie kam die Dingfrage ja teilweise auch durch die vielen neuen, teils anstößigen, teils interessanten Objekte und dinglichen Arrangements, die in der Gesellschaft kursieren oder Aktivität entfalten und denen in irgendeiner, das heißt neuer und angemessener, Form begrifflich und methodologisch Rechnung zu tragen ist. Und dazu erscheint mir der Weg über die Dingbegriffe (wie QuasiObjekte, epistemische Dinge, Grenzobjekte) ein guter Ausgangspunkt. Es zeigt zum einen, daß mir an (sozialwissenschaftlicher) Begriffsarbeit liegt, zum ande-

11 Einige Schriften seien schon hier zitiert: Joerges 1979, Latour 1991a, Thévenot 1994, Rammert 1998a, 1998b, Daston 2001a, Rheinberger 2001a, Rammert/SchulzSchaeffer 2002a, Böhme 2006. 12 Selbstverständlich könnte man diese Serie erweitern, wie etwa um „evokative Objekte“ (Turkle 2007), „intermediäre Objekte“ (Mélard 2008), „offene Objekte“ (Engell/Siegert 2011). Es geht mir jedoch nicht um eine vollständige Dokumentation solcher neuen Dingbegriffe, sondern um ihre gemeinsamen Züge, um mich sodann den systematischeren Fragen nach den Dingen in Gesellschaft und Kognition zuzuwenden.

14 | D ER A NTEIL DER D INGE AN DER G ESELLSCHAFT

ren, daß diese Arbeit in einer leicht versetzten Perspektive vorgeht, einer „objektorientierten“.13 Jedenfalls sollen die relativ „kleinen“ handlichen Objekte, Dinge (die „Mobilien“ und „Mobile“) nicht aus dem Blick verloren werden, um eine Kompatibilität zu wahren sowohl hinsichtlich des Wahnehmungsobjekts (des philosophischen, kognitiven) als auch der Alltagsgegenstände (die im alltäglichen Sprachgebrauch vornehmlich als Dinge bezeichnet werden). In Kapitel 2 – „Sozialität mit Dingen“ – sollen verschiedene Theorieangebote geprüft werden, um Dinge und nicht-menschliche Entitäten in Gesellschaft einzubringen und zu konzeptualisieren. Bevor ich dazu komme, beschäftige ich mich etwas eingehender mit dem Dualismus Gesellschaft/Natur in den Sozialwissenschaften. Damit liefere ich nicht nur einen begrifflichen und definitorischen Rahmen für die folgenden Untersuchungen, sondern biete auch eine neue Interpretation des sogenannten Symmetrieprinzips, das meiner Ansicht nach nur auf dem Hintergrund eines bestimmten sozialwissenschaftlichen Dualismus verständlich ist (und als dessen Korrektur verstanden werden muß). Dies ist gewissermaßen die Ausgangsthese dieser Arbeit: Dinge werden bzw. wurden in der Soziologie vor allem deshalb ausgeblendet, weil in einer dualistischen Weltsicht für sie kein Platz innerhalb der Sozialwissenschaften, sondern nur in den Naturwissenschaften denkbar war. Gibt man diesen Dualismus und eine davon sich herleitende defensive Fassung mancher soziologischen Grundbegriffe auf, so gewinnt die Soziologie neue begriffliche Möglichkeiten, Dinge einzubeziehen. Damit ist auch schon eine Differenz zu Latour und zu einer bestimmten Rezeption seiner Thesen in der Soziologie, sei es von Befürwortern oder Gegnern, angedeutet. Indem ich das Symmetrieprinzip als Argumentationsfigur betrachte, um eine dualistische Sozialontologie auszuhebeln, entlaste ich die Diskussion über den Handlungsbegriff von der Polemik um das Handeln nicht-menschlicher Akteure. Wenn Symmetrie nicht länger als symmetrische Beteiligung nichtmenschlicher Wesen am Handeln oder gar als deren Handeln im emphatischen Sinne zu verstehen ist, sondern einen methodologischen Vorbehalt meint, verschwindet der Skandal. Der Weg wird frei für einen differenzierten Begriff von Handeln und Handlungsmacht, mit dem sich Aktivität und Akteursstatus von Dingen, Maschinen und elektronischen Agenten nuanciert und neu diskutieren lassen. Ähnlich gehe ich mit der Normativität um, die, wenn sie nicht als Basis einer Sozialontologie verwendet wird, ein wichtiges Moment von Sozialität bleibt, zu

13 Diesen Ausdruck werde ich im Laufe der Arbeit noch genauer erläutern. Vgl. Harman 2002.

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dem sich Dinge mehrfach in Beziehung setzen lassen; ähnlich mit Kognition und Denken. Es geht mir in der Regel darum, Anschlüsse zu finden an bestehende soziologische Theorievorschläge und Grundbegriffe. Dazu probiere ich Begriffe aus der Akteur-Netzwerk-Theorie und das Thema der Dinge in bekannten theoretischen Szenarien aus und bringe notwendige Differenzierungen an. Mehr als die manchmal provokante Programmatik interessiert mich an den von Latour übernommenen Begriffen ihre Brauchbarkeit und Anschlußfähigkeit an die soziologische Tradition.14 Um nach diesem kurzen Exkurs wieder zu meinem Vorblick auf die einzelnen Kapitel zurückzukehren: Als erstes Theorieangebot zur „Resozialisierung“ (Joerges 2001, S. 168) der Dinge diskutiere ich den Handlungsbegriff. Eine heftige Diskussion geht um die Frage: Können Dinge handeln? Genauer zu untersuchen sind hier die Handlungsmacht technischer Objekte sowie die Frage, ob ein eher allgemeiner („schwacher“, „schlanker“, „sparsamer“) Handlungsbegriff wirklich, wie meist unterstellt, keine Differenzierung zwischen verschieden strukturierten Aktionen von Dingen, Apparaten, Geräten und menschlichen Handlungsvollzügen erlaubt (und sei es, indem man ihn ergänzt um eines der anschließend gemusterten begrifflichen Angebote). Ich versuche in diesem Zusammenhang (in Kap. 2.2) einen pluralisierten und differenzierten Handlungsbegriff zu entwickeln, der verschiedene Varianten des sozialen Handelns und Agierens in ihrer Eigenart und Wechselwirkung herausarbeitet. Vielleicht lassen sich Dinge aber auch anders in Gesellschaft einbringen als dadurch, daß man sie handeln läßt oder zum Handeln ins Verhältnis setzt. So kann man versuchen, sie über den Begriff der Normativität soziologisch theoriefähig zu machen. Die mögliche Normativität von Gebrauchsgegenständen erkunde ich zunächst mit der Haltungs- oder Rollenübernahme beim Umgang mit Dingen (Mead), weiterhin mit der Übersetzung von Normativität in ein anderes Material (Latour) sowie mit Sanktionen bei unsachgemäßem Gebrauch von Geräten (Linde). Diese Überlegungen bündele ich im Begriff der „Objektinstitution“, der mir geeignet erscheint, den Handlungs- und Normativitätsaspekt zu verbinden, wobei ich ihn zu einem zentralen Begriff meiner Argumentation mache.15 Ich werde mich dann kurz mit dem Begriff der Verdinglichung und dem des Sachzwangs auseinandersetzen, die ebenfalls normativ angelegt sind: Es ist

14 Dennoch beziehe ich mich auf ihn öfters, als es zur Stützung meiner Argumentation nötig wäre; man möge diese mal kommentierenden, mal abgrenzenden Äußerungen als Dialog mit einem Autor und Werk verstehen, in dem sich jener fortsetzt, den ich als Übersetzer schon länger implizit führe. 15 Während er bei Latour nur beiläufig auftaucht; vgl. Latour 1992, S. 174.

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eine falsche Sozialität, die durch Verdinglichung und Sachzwang hergestellt und in den entsprechenden Sozialtheorien kritisiert wird. Als dritten Theorievorschlag zur Rehabilitierung der Dinge in der Gesellschaft diskutiere ich den Begriff der Assoziation oder Assoziierung, den Michel Callon und Bruno Latour in die Diskussion eingebracht haben, wobei „association“ auch mit „Vergesellschaftung“ übersetzbar ist.16 Wie schon der „schwache“ Handlungsbegriff ist Assoziation ebenfalls ein minimalistisch angelegter Begriff, um Verbindungen und Bindungen zwischen Menschen und Dingen zu denken. Er ist so allgemein und anspruchslos, daß man ihn als Hintergrund verstehen kann, um davon ausgehend immer anspruchsvollere Anforderungen an mögliche soziale Akteure oder Sachverhalte zu formulieren. So kann man Dinge als Institutionen oder deren Bestandteile denken. So kann man sie als Teile, Träger, Beförderer von (Akteur-)Netzwerken verstehen. Es läßt sich eine Abstufung soziologischer Grundbegriffe formulieren, die, was Dinge anbelangt, von Assoziation über Normativität bis zu einem differenzierten und mehr oder weniger anspruchsvollen Handlungsbegriff reicht. In diesem Zusammenhang suche ich eine Kompatibilität der Akteurnetzwerke mit traditionellen soziologischen Begriffen, wie Handlung und Institution, und schlage Brücken zu sozialstrukturellen, interaktiven und normativen Theorieansätzen. Hier thematisiere ich ebenfalls die Frage, ob durch die Einbeziehung der Dinge der Gesellschaftsbegriff nicht entgrenzt wird. Im 3. Kapitel – „Kognition mit Dingen“ – beschäftige ich mich mit Dingen in der Kognition und beim Denken. In der Kognitionsforschung wird, ähnlich wie in der Soziologie, zunehmend angemahnt, Dinge gerechter und symmetrischer zu behandeln: Das „epistemische Verdienst“ soll zwischen Gehirn und Welt, zwischen Ich und anderen, zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren angemessener und gerechter verteilt werden (Clark 1997, S. 69). Denken spielt sich vielleicht nicht nur im Kopf ab (in Gedanken, Denkprozessen, neuronalen Vorgängen), sondern auch im Umgang mit Gegenständen und in sozialen Interaktionen. Die Rede ist von verteilter Intelligenz oder verteilter Kognition. Die vermittelnden Geräte, Vorrichtungen oder Dinge, die als Stüt-

16 „Assoziation“ findet sich als zentraler Begriff in einem der Gründungstexte der Akteur-Netzwerk-Theorie, dem von Callon über die Jakobsmuscheln (Callon 2006 [1986]), den Latour in Science in action aufgreift, wenn er von Assoziationen spricht (Latour 1987, S. 202 ff.). Vgl. Latours „Soziologie der Assoziationen“ (Latour 2007b, S. 23).

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zen oder „Außenhalt“ kognitiver Prozesse dienen,17 sind in der Regel ganz spezifische Dinge: Inskriptionen, immutable mobiles oder kognitive Medien.18 In diesem Zusammenhang versuche ich auch die Gemeinsamkeit und Differenz zwischen kognitiven und epistemischen Prozessen herauszuarbeiten. In Kapitel 4 werden dann die beiden Perspektiven Sozialität und Kognition mit Dingen zusammengeführt. Den dinglich vermittelten Zusammenhang zwischen Sozialität und Kognition erörtere ich anhand zweier Fragestellungen, einer traditionelleren und einer originelleren. Die neuere setzt an der verteilten Kognition an, die traditionellere knüpft an den Begriff des objektiven Geistes (Freyer 1966, Simmel 1992a) und das Denken von Institutionen (Douglas 1991) an. Ich thematisiere zunächst – in Kap. 4.1 – die Verteilung von Kognition als Sonderform sozialen Handelns bzw. die kollektive Lösung kognitiver Probleme als eine Form, wie Sozialität sich bildet, als eine Form von Vergesellschaftung. Dies ist auch eine Interpretation, die Latour (1996a) von der verteilten Kognition gibt. Ich will sie mit anderen Interpretationen kontrastieren, gebündelt in der Frage, was wir unter Verteilung von Kognition verstehen können, und was wir, wenn verstanden, daraus für die Verteilung beim sonstigen sozialen Handeln lernen können. Anschließend wende ich mich in Kapitel 4.2 der Fragestellung Institutionen und Kognitionen zu: Wenn man dingliche Vermittlungen in die Kognition einbezieht, wird eine neue Verbindung zwischen individuellen Denkprozessen und dem Sozialen vorstellbar. Mit ihren „Außenstützen“ reicht die verteilte Kognition übergangslos an gesellschaftliche Institutionen heran. Und umgekehrt beeinflussen und formieren Institutionen, Gruppen und Gruppierungen die Individuen nicht nur mittels sprachlicher Kategorisierungen und kognitiver Stile, sondern auch mittels dinglicher Außenhalte: über Instrumente, Inskriptionen, technische Formatierungen, Formulare und ähnliches. Zuletzt komme ich in Form eines Ausblicks kurz auf ökologische und andere problematische Dinge zu sprechen, auch auf die öffentlichen Sachen, zu welchen solche ja oft werden. Abschließend noch ein Wort zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Ich sehe meine Überlegungen durchaus in dieser Tradition, doch die Perspektive, aus der ich schreibe und denke, ist eine eigene. Auch wenn ich viele Begriffe aus der ANT verwende, entwickle und denke ich diese weiter. Sie haben sich mir – wie

17 Der Begriff des Außenhalts findet sich bei Gehlen (2004, S. 47) und Plessner (2003a, S. 196). 18 Vgl. Latour 1999b und Hutchins 1995.

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auch die sonstigen von mir verwendeten – als hilfreich, brauchbar und fruchtbar erwiesen, und ich hoffe, sie werden dies auch für andere sein.

Kapitel 1. Kleine Galerie neuer Dingbegriffe „Traurig, aber wahr: wir hatten die Welt verloren. Da endet ein halbes Jahrhundert Philosophie ohne einen Baum, ohne ein Stückchen Himmel, ohne einen See, ohne ein Meer. Als Diskurs über den Diskurs war sie schwarz auf weiß zu lesen und vergaß die Welt.“ MICHEL SERRES (1980)1

Wenn im folgenden von Dingen die Rede ist, so sind zunächst physische, körperliche Dinge gemeint, haptisch erfahrbare, feste oder halbfeste greifbare, stoffliche und in der Regel alltägliche Gebrauchsgegenstände wie Bleistifte, Stühle und Fahrscheinautomaten. Auch Rolltreppen, Bahnsteige, U-Bahnen, Automobile oder Straßen lassen sich dementsprechend als Dinge bezeichnen. Wie alltäglich Gebrauchsgegenstände erscheinen, ändert sich freilich mit der Zeit und der Situation, so daß der Ausdruck „alltägliche“ bzw. „Alltags“-Gegenstände nur relativ zu verstehen sein kann. In der Techniksoziologie spricht man eher von „Artefakten“, manchmal auch von „Sachen“, „Sachtechnik“ (Linde 1972; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b). Daß ich den unspezifischeren und schlichteren Dingbegriff gegenüber dem der Artefakte oder spezifischeren Begriffen wie Maschinen oder Computern vorziehe, hat mehrere Gründe. Zum einen will ich Dinge wie Steine, Blumen, Äpfel, Bäume, Flüsse oder Proteinmoleküle nicht aus der Definition ausschließen, was mir auch hinsichtlich ökologischer Sachverhalte wichtig erscheint. Zum anderen ist der scheinbar schwächere Begriff der „Dinge“ in meinen Augen besser geeignet, manche grundsätzlichen Fragen schärfer zu fassen und neue Ergebnisse zu liefern. Das ist zumindest die Wette, die ich mit dieser Arbeit eingehe. Gegenüber „Sachen“ verweisen „Dinge“ und „Dinglichkeit“ auf das Materielle und Sperrige der Angelegenheit. Sache ist gegenüber Ding manchmal der

1 „Commencements“, Le Monde vom 4.1.1980, hier zitiert nach Serres 1991, S. 7.

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umfassendere, manchmal auch dezidiert davon abgesetzte Begriff.2 Im juristischen Sprachgebrauch steht Sache meist für Ding. Die Konnotationen von „Ding“ und „Sache“ sind sehr verschieden, wie an „Verdinglichung“ und „Versachlichung“ gut zu sehen ist, zwei Begriffsschöpfungen, mit denen ich mich später (in Kap. 2.4) noch ausführlicher beschäftigen werde. Unter (physisch-haptischen) Dingen verstehe ich die „mittelgroßen“ Dinge, die „Dinge der Erdoberfläche“, im Unterschied zu Atomen, Elementarteilchen, Lichtwellen oder Planeten.3 Oder das, was Mead das „physische Objekt“ nennt und Alfred North Whitehead ebenfalls als „physisches Objekt“ oder als „Wahrnehmungsobjekt“ bezeichnet, im Unterschied zu sinnlichen Objekten wie etwa Farben und Tönen einerseits und wissenschaftlichen Objekten andererseits. Physisch-haptische Dinge dauern, beharren; sind stofflich, körperlich, haben Masse.4 In seinem Kunstwerkaufsatz geht Heidegger (2003, S. 5 f.) verschiedene Beispiele durch, um seinen Dingbegriff einzukreisen. So bezeichnet er zunächst neben Stein, Erdscholle, Krug, Brunnen auch „die Distel auf dem Feld“ und „das Blatt im Herbstwind“ als Dinge, bis er jegliches, „was nicht schlechthin nichts ist“ als Ding bezeichnet (Heidegger 2003, S. 5),5 woraufhin er dann die Definition wieder einengt, um schließlich zu seiner (vorläufigen) Definition zu kommen: „Das Leblose der Natur und des Gebrauches. Die Natur- und Gebrauchsdinge sind die gewöhnlich so genannten Dinge“ (ebd., S. 6). Wissenschaftliche Objekte oder Dinge, mit denen Wissenschaften befaßt sind, fallen aus dieser, aber nicht unbedingt aus meiner Definition heraus. Den Begriff Objekt bzw. Gegenstand verstehe ich im Unterschied zum Dingbegriff als relationalen Begriff, der als Komplement eine spezifizierte Aktivität oder Operation erfordert (der das Objekt sich entgegen-stellt bzw. deren GegenStand es wird),6 wie in folgenden Beispielen: Wahrnehmungsobjekt, Gegenstand des Denkens, Erkenntnisobjekt, Gebrauchsgegenstand, Erfahrungsgegenstand,

2 Etwa bei Hegel: „… nicht die Dinge, sondern die Sache, der Begriff der Dinge“ (Hegel 1972b, S. 29); vgl. auch Ritter 1972, s.v. „Ding“. 3 Siehe Heiders klassischen Aufsatz über Ding und Medium: Heider 1927, S. 128. 4 Mead 1973, S. 295; Whitehead 1990, S. 113 ff., S. 118; vgl. Stengers 2002b, S. 110. Als zwei Definitionversuche von (Wahrnehmungs-)Dingen aus phänomenologischer Sicht siehe Böhme 2001, S. 167 ff. und Soentgen 1997, S. 45 ff. Zur Masse als von der Philosophie gerne übersehene Dimension siehe Serres 1987b, S. 98. 5 Vgl. auch Heidegger 1967. Daß das Wort „Ding“ auch die Bedeutung eines unspezifizierten Etwas hat, wird von vielen Autoren erwähnt, um dann einen engeren Begriff davon abzuheben, etwa auch von Böhme (1995, S. 157): „so bezeichnet Ding häufig indexikal ein Etwas, das man gerade nicht beim Namen nennen kann oder möchte, oder überhaupt den Gegenstand der Rede oder Betrachtung“. 6 Obiectum bedeutet das Entgegengeworfene, Entgegengestellte.

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Objekt des Begehrens, Objekte mathematischer Operationen. Noch allgemeiner könnte man sagen: Objekte sind Objekte für einen Prozeß, in dem sie erfaßt, erfahren oder verarbeitet werden.7 Von dieser strengen Definition und Regel weiche ich ab, wenn ich von technischen Objekten spreche, hauptsächlich, weil ich von Simondon ausgehe („objet technique“), aber auch, weil diese Redewendung eingebürgert ist (das auch bisweilen in anderen Kontexten). An diesem relativ anspruchslosen Objektbegriff könnte man kritisieren, daß im Begriffspaar Subjekt-Objekt stets eine Erkenntnisbeziehung mitschwingt: erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt. Denn Subjekt/Objekt ist ein neuzeitliches Begriffspaar; es liegt darin eine Verengung des Erfahrungsbegriffs auf eine kognitive oder epistemische Beziehung. Vielleicht entsteht aber gerade dadurch ein Problem, sobald man den Objektbegriff auf Gebrauchsgegenstände und physisch-haptische Dinge anwendet. Man würde ihn dann hier also besser vermeiden; es sei denn, man stellt klar (was ich hiermit tue), daß Dinge und Gegenstände nicht automatisch unter eine Erkenntnisbeziehung fallen: Dinge werden erfahren, bevor sie erkannt werden (Dewey 2001, S. 106 ff.). Doch nun zu den neuen Dingbegriffen, die im Rahmen der neueren Wissenschafts- und Technikforschung oder deren Vorläufern entwickelt worden sind. Erkunden und beschreiben will ich in der folgenden Galerie neuer Dingbegriffe vor allem neue Möglichkeiten, über Dinge nachzudenken. Genauer beschäftigen will ich mich mit dem Begriff der „Quasi-Objekte“ und der „Hybriden“ bei Latour (1995), den „Grenzobjekten“ bei Susan Leigh Star und James R. Griesemer (1989), den technischen Gegenständen bei Gilbert Simondon (1989), den „epistemischen Dingen“ bei Hans-Jörg Rheinberger (2001a). Dabei lautet meine Fragestellung: Haben die verschiedenen neuen Ding- bzw. Objektbegriffe etwas, und wenn was, gemeinsam? Man könnte darin einen neuen Realismus, einen neuen Empirismus sehen, oder auch eine neue Form des Materialismus.8 Mir geht es zunächst vor allem darum, die Dinglichkeit, die Objekthaftigkeit genauer zu fassen, die mit diesen neuen Dingbegriffen einhergeht. Folgende Zusatzfragen knüpfen mit am roten Faden für dieses Kapitel: Kann man sich Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, technische Objekte und epistemische Dinge als Alltagsgegenstände bzw. physisch-haptische Dinge vorstel-

7 Whitehead spricht von einem Erfassensprozeß (prehension), der etwas zum Objekt hat (Whitehead 2000, S. 327); damit will er auch die Subjekt-Objekt-Relation vom Erkennen ablösen, ebd., S. 325 f. 8 Bei dem nicht mehr die Gesellschaftsstruktur den Bezugspunkt bildet, sondern Artefakte und materielle Objekte: Reckwitz 2002. Zum neuen Realismus und Empirismus vgl. Latour 1997a. Ich komme im Schlußteil noch einmal auf diese Frage zurück.

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len? In welchem Verhältnis stehen die Begriffe zu Erkenntnisgegenständen, wissenschaftlichen Objekten? Ist ihr Referent derselbe? Haben sich die Dinge verändert, die uns begegnen und umgeben, oder haben wir es vor allem mit neuen Dingtheorien zu tun?

1.1 H YBRIDEN Bruno Latour beschäftigt sich emphatisch und durchaus auch philosophisch mit Dingen, doch ein präziser Dingbegriff oder eine bündige Definition der Dinge findet sich bei ihm zunächst nicht. Wenn er von Dingen oder nicht-menschlichen Wesen (non-humans) spricht, so wird deutlich, daß er damit auch Computer und andere technische (oder auch biologische) Hybridwesen meint, er aber gleichzeitig so prosaische Dinge wie Türen, Mauern und Schlüssel im Blick hat. Aus seinem komplexen Vokabular und Begriffsinventar, um Dinge und andere nichtmenschliche Entitäten zu benennen, greife ich im folgenden die Hybriden und die Quasi-Objekte heraus. Hybriden sind, allgemein gesagt, Mischwesen, Kreuzungen; spezifischer: Mischwesen aus Natur und Kultur bzw. Natur und Gesellschaft; noch spezifischer: solche Mischwesen, die weder als Naturdinge noch als gesellschaftliche Gegenstände zureichend beschrieben werden können, etwa Vakuumpumpen, Zellkulturen und Cyborgs.9 Daß nach den verschiedenen wissenschaftlich-technischen Revolutionen diese Hybriden zunehmen und sich zunehmend ausbreiten, ist die historische Tendenz, welcher der Begriff nachdenkt. Daß sie aber deswegen so zunehmen, weil man auf der Suche nach reinen Naturobjekten ist, seine politische und kritische Pointe: „Wir weigern uns, diese Hybriden als Hybriden zu bezeichnen (als ‚Monstren‘ oder Quasi-Objekte). Nein, wir nennen sie Objekte, wir klassifizieren sie als Naturobjekte.“ (Lash 2002, S. 52)10

9 Besonders die „Hybriden“ aus Wir sind nie modern gewesen (Latour 1995) haben Furore gemacht und werden gerne zitiert (Böhme 2002, Lorentzen 2002, Degele/Simms 2004). Latour selbst definiert den Begriff dort, wo er zum ersten Mal auftaucht (Latour 1995, S. 19 f.), als Mischwesen zwischen Natur und Kultur, als Ergebnis von Übersetzungen, Hybridisierungen (zwischen Natur und Kultur) und als Netz(werk)e. Zu den Mischwesen als imaginäre Figur und literarisches Motiv siehe Brittnacher 1994. In der phantastischen Literatur erscheint das Monströse als Darstellung „der prekären Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem“, ebd., S. 183 ff. 10 Dieses Zitat, wie auch die anderen aus englischen oder französischen Quellen, wurde von mir übersetzt.

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Angeblich werden nur Naturgesetze entdeckt, in Wirklichkeit Hybriden produziert. „Die Wissenschaften multiplizieren die Formen; es gelingt ihnen weder, sie zu verschieben, noch sie zu reduzieren oder zu vereinheitlichen. Sie fügen Realität hinzu, sie ziehen keine ab.“ (Latour 1991a, S. 187) Zwar sind wir einerseits nie modern gewesen, denn wie die Vormodernen bringen wir Hybridbildungen aller Art hervor und verwenden sie für die Integration unserer Gesellschaften. Darauf angesprochen, spalten wir sie gerne auf in eine Natur- und eine Gesellschafts-Komponente. Die Pointe in Latours Argumentation: Gerade unsere dualistische Ontologie – die „Verstärkung des polaren Gegensatzes zwischen Natur und Gesellschaft“ – hat es uns (Modernen) ermöglicht, Hybriden in einem Maße hervorzubringen, das andere Gesellschaften so nicht kannten.11 Es besteht allerdings die Gefahr, daß der Begriff der Hybriden den Dualismus verfestigt, den er überwinden will. Denn Hybridität besagt keineswegs, technische Geräte und andere Dinge bestünden halb aus Natur, halb aus Gesellschaftlichem, was in der Tat etwas Triviales hätte. Sondern mit „Hybriden“ soll gerade auf die Unangemessenheit einer solchen dualistischen Begrifflichkeit hingewiesen werden; diese hilft uns nicht, das Eigene, Spezifische der jeweiligen Mischentitäten zu fassen.12 Neben dem Dualismus Natur/Gesellschaft gibt es noch weitere traditionelle Dichotomien, die von Hybriden verschiedenster Machart und Schattierung durcheinandergebracht werden, etwa die Dichotomie belebt/unbelebt. Ein Beispiel dafür wären die Myriaden von lebenden Zellen, jene „Biomasse“, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in unserer Mitte nach und nach angesammelt hat und ausbreitet, seit es Harrison 1906 gelungen ist, eine Nervenzelle außerhalb eines Körpers, in vitro, wachsen zu lassen und somit Gewebekulturen herzustellen.13 Unter dem Titel „Cyborg“ wird an Hybridsystemen geforscht, die menschliche und maschinische Intelligenz physisch zusammenkoppeln (Warwick 2004). Latour bezeichnet einmal ein Schrankregal in einem botanischen Institut mit seinen Kästen voller Pflanzenproben, die gewissermaßen in Zeilen und Spalten angeordnet sind, als einen Hybriden zwischen Ding und Klassifikationssystem (Latour 1996b, S. 201). Alle diese Hybridisierungen, Mischungen, Gemenge, von denen manche interessanter als andere sind, haben eines gemeinsam: Für das moderne philoso-

11 Das Argument findet sich in prägnanter Form auf S. 50 von Latour 1995. Das Zitat stammt aus Descola 1996 S. 88 f. 12 Oder wie Schimank (2000, S. 168) es formuliert: Man müßte in den Hybriden „genuine Zwischen- anstatt bloß Mischwesen“ sehen. 13 Landecker 2004. Es ist inzwischen von „Biofakten“ die Rede, vgl. Karafyllis 2005.

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phische Denken stellen sie einen Skandal dar. Wie kann etwas gleichzeitig Klassifikationssystem und Ding sein, Subjekt und Objekt, Naturding und Gesellschaftliches? Doch in unserer Welt und sozialen Erfahrung tauchen zunehmend solche anstößigen Dinge auf. Die in der Gesellschaft kursierenden Objekte fügen sich nicht der so oft supponierten Objektivität. Sie sind in der Regel nicht glatt und „kahl“, sondern „haarig“ und verwickelt (Latour 2001a, S. 37). Man könnte nun eine Klassifikation oder Typologie dieser verschiedenen hybriden, gemischten, heterogenen Entitäten aufstellen. Vielleicht ließen sie sich nach ihrer Komplexität differenzieren, nach ihrer Naturhaltigkeit oder umgekehrt nach ihrer Artifizialität bzw. ihrem gesellschaftlichen Charakter. Man könnte sie auch klassifizieren nach ihren Trajektorien, den Bahnen, auf denen sie in Existenz treten (und wieder aus ihr heraus). In der Techniksoziologie ist es vor allem die unterschiedliche Eigenaktivität von technischen Artefakten wie Automaten und Roboter, anhand derer man sie zu differenzieren und gradualisieren versucht (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002a). In mancher Hinsicht verstehen sich die folgenden Darstellungen neuer Dingbegriffe als Arbeit an einer solchen Differenzierung und Typologie heterogener Entitäten und neuer Objektarten. Unter den von Latour vorgeschlagenen Begriffen scheinen mir die Quasi-Objekte der umfassendste zu sein, die Hybriden könnte man sich als seinen Untertypus vorstellen.14 Denn der Begriff der Hybriden hat eine kritische Note. Ist die Kritik angekommen, sucht man nach einem positiven Begriff, um diese Mischdinge als mehr denn als Misch-Dinge zu kennzeichnen. Latour polemisiert stets gegen die polaren Welten von Natur und Gesellschaft, aber wie die „Hybriden“ dazwischen näher zu bestimmen wären denn als Mitteldinge, wenn nicht gar Vermittlungen zwischen diesen Polen, bleibt zunächst etwas unklar. In dem Buch zu den Modernen werden die Hybriden immerhin auch als Netze, Netzwerke charakterisiert (Latour 1995, S. 19 f.). Weiterhin sind Quasi-Objekte, „Aktanten“ und uns angehende Sachen („matters of concern“) verschiedene Varianten, um diese Zwischenwesen positiv zu bestimmen, ihnen eine Kontur zu geben.15

14 Auch Latour selbst gibt dem Begriff des Quasi-Objekts den Vorzug gegenüber dem der Hybriden: Latour 1996e, 1997a. 15 Daß die Hybriden nur als Vermittlungen zwischen den Polen definiert sind, kritisiert auch Beck (1997). Daß eine Typologie solcher Entitäten ein Desiderat darstellt, gesteht Latour bereitwillig ein (Latour 1996e). Man kann die Überlegungen zu Existenzformen und Existenzmodi als aktuellsten Versuch sehen, diese Lücke auszufüllen: Latour 2007b, S. 79, S. 415 ff., und Latour 2012, wo der Autor übrigens die „Hybriden“ in distanzierende Anführungszeichen setzt und in historische Distanz rückt (S. 20). Ich komme auf diese Fragestellung noch einmal am Ende von Kap. 2.1 zurück.

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1.2 Q UASI -O BJEKTE Der Begriff „Quasi-Objekte“ stammt von Michel Serres, und Bruno Latour hat ihn aufgegriffen und verallgemeinert.16 Quasi-Objekte sind Hybriden, Mischwesen aus Natur und Gesellschaft, aus Sprachlichem und Realem. Sie zirkulieren in Netzen und überqueren die Grenzen zwischen Sprache, Sozialem und Realem. Es sind jene Dinge, durch die das soziale Band geknüpft und stabilisiert wird. Der Begriff verweist auf unser Verflochtensein mit Dingen in Gesellschaft; Dinge zirkulieren zwischen uns, um uns herum; und wenn sie uns wie selbstverständlich zur Hand sind, kann man sie kaum als abgesonderte, abgegrenzte Objekte bezeichnen. Der Begriff der Quasi-Objekte umfaßt allerdings mehr als die schlichten physisch-haptischen Dinge, er bezieht sich ebenfalls auf komplexe technische oder wissenschaftliche Objekte, auf „Mikroben, Elektrizität, Atome, Sterne, Gleichungen zweiten Grades, Automaten und Roboter, Windmühlen und Pumpenkolben, Unbewußtes und Neurotransmitter.“ (Latour 1995, S. 145 f.) Hybriden und Quasi-Objekte dienen der sozialen Integration genauso wie Totems oder Pflanzenklassifikationen in vormodernen Gesellschaften, nur auf erweiterter Stufenleiter. „Die modernen Wissens- und Machtformen sind nicht deshalb anders, weil sie endlich der Tyrannei des Sozialen entgingen, sondern deshalb, weil sie sehr viel mehr Hybriden hinzufügen, um das soziale Band neu zu knüpfen und auszuweiten.“ (Ebd.)

Soziales Band in Bewegung Für Serres konstituiert sich das Kollektiv durch Quasi-Objekte. Als einfaches Beispiel für ein Quasi-Objekt führt er einen Ball in einem Mannschaftspiel wie Rugby oder Fußball an (Serres 1987a, S. 346 ff.). Ohne Ball kein Spiel, doch ohne Spiel, bloß daliegend, wäre der Ball auch kein richtiger Ball. Er muß im Spiel sein und hin- und herlaufen zwischen den Spielern: „Geschickten Umgang mit dem Ball erkennt man an diesem untrüglichen Zeichen: Der Spieler folgt ihm und bedient ihn, weit davon entfernt, ihn folgen zu lassen und sich seiner zu bedienen.“ (Ebd., S. 346) Die sozial konstitutive Rolle der Quasi-Objekte zeigt sich also darin, daß sie ein Geschehen, eine Zirkulation erzeugen, welche die Subjekte mitreißt. Ja, man kann sogar sagen: „Der Ball ist das Subjekt der Zirkulation, die Spieler sind nur

16 Serres 1987a, S. 344 ff. Der Begriff taucht bereits 1972 in Hermes II auf (Serres 1992, S. 203). Latour 1991a, 1996e.

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Stationen und Ruhepunkte“. (ebd., S. 347) Oder anders formuliert: Das QuasiObjekt markiert oder bezeichnet ein (in diesem Falle menschliches) Subjekt, im Moment, wo dieses mit ihm befaßt ist; es weist ihm eine Rolle zu. Ohne QuasiObjekt kein Subjekt (bzw. Quasi-Subjekt). Das Quasi-Objekt ist ein externes, äußeres Objekt, also nicht bloß ein durch gesellschaftliche Konvention definiertes, konstruiertes Objekt (die Spielregeln mögen Konvention sein, der Ball ist es nicht). Das Verhältnis der Spieler zum Ball oder des Subjekts zum Quasi-Objekt ist dezentriert, es besteht in „Teilhabe“, „Weitergabe“ (ebd., S. 350). Der Quasi-Objekt-Begriff ist weiterhin Komplement zum Netzwerkbegriff. Quasi-Objekte zirkulieren in Netzen, ja bahnen sie sogar. In Latours NetzwerkOntologie steht das Quasi-Objekt für die „netzwerkbahnende Aktivität“, wobei allerdings „das Zirkulierende und das die Zirkulation Ermöglichende beide kodeterminiert sind und transformiert werden“. Am Beispiel von Serres’ Ball: Der Ball müßte sich während des Spiels verändern. Bei den „Pässen“ in Netzen bleibt das Quasi-Objekt nicht mit sich identisch und verändert überdies dabei noch die Spieler „dramatisch“ (Latour 1996e, S. 379). Stabilität ist eine erklärungsbedürftige Ausnahme. Eine solche Beweglichkeit steht quer zur Vorstellung vom Beharrenden und Bleibenden der (physisch-haptischen) Dinge. Es ist nicht ganz klar, ob die Quasi-Objekte relational oder Entitäten sind, „ob sie Wesen oder Relationen, ob sie Bruchstücke von Wesen oder Zipfel von Relationen sind“ (Serres 1987a, S. 350). Das läßt sich freilich auch positiv fassen, und gerade in diesem Zwischenstatus, Übergangszustand ihr entscheidendes Kennzeichen sehen. Quasi-Objekte sind also jene Dinge, die das soziale Band knüpfen und stabilisieren, wobei gerade ihr ambivalenter Charakter – halb Bruchstück von Wesen, halb Zipfel von Relationen – zur Bindung beiträgt. Serres differenziert das Quasi-Objekt in anderem Zusammenhang als ein die Gesellschaft bindendes Objekt im dreifachen Sinne von sakralem Gegenstand (Fetisch), ökonomischem Gegenstand (Ware) und kriegerischem Gegenstand (Trophäe oder Waffe).17 Das Quasi-Objekt gilt ihm weniger als Objekt denn als ein Band, ein „Quasi-Wir“. Es gibt dem Sozialen Festigkeit und Kontur: „Das soziale Band wäre nur verschwommen und labil, wenn es nicht objektiviert würde“ (Serres 1982, S. 147). Andernorts konkretisiert Serres, daß es spezifische Objekte sind, die als Quasi-Objekte die Aufgabe haben, die Beziehungen innerhalb der Gruppe vorzuzeichnen und zu bahnen: Statue in einer Prozession, Ball, Jeton, Geld (Serres 2005, S. 189).

17 Im Zusammenhang einer an Dumézil orientierten Einteilung der Gesellschaft in Klassen (Priester, Krieger, Händler), von denen jede ihr eigenes Quasi-Objekt hervorbringt, vgl. Serres 1982, S. 150. Vgl. auch Serres 1988, S. 85 ff.

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Soziales Band, technologisch Die „Objektivierung“ des Sozialen durch Dinge ist ein vertrauter Gedanke in der neueren Wissenschafts- und Technikforschung; hier sind die spezifischen Objekte technische: „Technologie ist Gesellschaft auf Dauer gestellt“ („technology is society made durable“).18 Darin kann man eine Verallgemeinerung und, wenn man so will, Profanierung der sozial bindenden Rolle der Quasi-Objekte sehen. Denn sie scheinen als technische weder im religiösen noch sozialen Sinne normativ zu wirken, sondern sachlich. Während oftmals technische Objekte nur als eingefrorenes soziales Handeln betrachtet werden, lassen sowohl Serres als auch Latour den Objekten ein Eigengewicht, eine Eigendynamik.19 Eine weitere Bestimmung des „Quasi“ dieses Nicht-Ganz-Objekts lautet: instituiertes Objekt. Instituiert im Sinne von gestiftet, ins Leben gerufen; aber auch institutionalisiert, da stabilisiert und gewohnt. „Weder Objekt noch Subjekt. Instituiertes Objekt, Objektinstitution, Quasi-Objekt, Quasi-Subjekt …“ Diese Begriffsreihe entfaltet Latour anläßlich des Projekts einer automatisierten modularen Metro namens „Aramis“, und er erläutert: „Also existiert das Objekt, das wahre, das aktive Ding nur unter der Bedingung, Menschen und NichtMenschen zusammen und andauernd zu halten.“ (Latour 1992, S. 174) Im Begriff der Objektinstitution sind zwei Sichtweisen zusammengeführt, die häufig als inkompatibel gelten: Einerseits kann man von diesem aktiven Ding sagen, „daß es die Menschen zusammenhält, andererseits, daß die Menschen es zusammenhalten“ (ebd.). Daß die Menschen das Ding zusammenhalten, das erinnert an die übliche sozialkonstruktivistische Interpretation der Dinge. Daß das Ding die Menschen zusammenhält, darin liegt dagegen eine Bezugnahme auf dieses, die man, erkenntnistheoretisch gesprochen, nicht anders denn als als realistisch qualifizieren kann. Sogar als Projekt existiert Aramis nicht bloß in den Köpfen von Menschen, sondern auch auf dem Papier von Projektanträgen; außerdem werden Prototypen gebaut, Versuchsstrecken in Betrieb genommen und neue elektronische Kopplungsverfahren entwickelt. Das Verkehrsmittel ist also schon dinglich, doch noch nicht durchgängig, nicht nachhaltig. Dementsprechend existiert kein Graben zwischen Projekten und Sozialem auf der einen, Objekten und Maschinen auf

18 So der Titel von Latour 1991b. 19 Die Betonung des Eigengewichts und der Materialität der Dinge findet sich prononciert in Kap. 1 von Latour 2000, in Latour 2005a, S. 70 ff., S. 109 ff., in Latour 2003b. Serres behandelt die Eigenständigkeit und Stofflichkeit der Dinge und Objekte als Thema mit vielen Variationen in Serres 1987b.

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der anderen Seite, sondern ein Feld der Verteilung von Realisierung und Konkretisierung, in dem das neue Gefährt auftaucht, entsteht, wirklich wird. Daher macht es im Bereich technischer Innovationen sozial und signifikant Sinn, von der Realität und Realisierung physisch-haptischer Dinge oder technischer Objekte zu sprechen, etwa von realisierten Prototypen, Maschinen im Unterschied zu Plänen oder Ideen für Prototypen und Maschinen.20 Sobald Aramis fertiggestellt, realisiert, wirklich ist, kann es gleichwohl nicht als ein rein technisches Objekt gelten, als bloßes Nahverkehrsmittel, effizient, eine Sache, die gemäß ihrer eigenen Sachlogik funktioniert und an die allenfalls von außen soziale Erwartungen oder kulturelle Bedeutungen herangetragen werden könnten. Sondern das Objekt bleibt mit den Menschen und dem Sozialen verbunden. Würde niemand sich um es kümmern, es benutzen, warten, erneuern, so würde es nach und nach zu existieren aufhören. „Das vollendete, effiziente, komplette, wirkliche Objekt besitzt diese Qualitäten nicht deshalb, weil es sich endlich den Welten des Symbols entwunden hätte. Es besitzt sie, weil es eine Institution geworden ist“.21 Die allerdings, wie Latour hinzufügt, nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was Soziologen sich üblicherweise unter einer solchen vorstellen (gemeint sind wohl die Aussparung der Materialität und die ausschließliche Fokussierung auf normative Verhaltenserwartungen). Auch ein Atomkraftwerk ließe sich als eine Objektinstitution in diesem Sinne verstehen. Gewiß ist es gesellschaftlich konstruiert, doch nicht im Sinne des Sozialkonstruktivismus; es ist keine willkürliche, gesellschaftlich-subjektivistische, kontraktuelle Setzung. Wenn es einmal gebaut und in der Welt ist, läßt es sich nicht einfach revozieren.22 Oder eine automatische Metro, wie die namens „VAL“ in Lille: Hier ist das Projekt VAL „zum Objekt VAL geworden, zur Institution, zu dem so sicheren, geräuschlosen und automatischen Transportmittel, daß es im Bewußtsein der Einwohner Lilles unsichtbar ist“ (Latour 1992, S. 70).

20 Auch Luhmann weist die „Sozialvertragslehren“ zurück, wonach als Objekt nur gilt, was sozial als Objekt definiert wird (Luhmann 1997, S. 29, Anm.). Dennoch bleibt er im konstruktivistischen Diskurs der Systemtheorie Antirealist. Wegen ihres zwar prekären, aber doch notwendigen Verhältnisses zur Realität sind technische Innovationen mit ihrer „anstößigen Materialität“ eine, wenn man so sagen darf, Schwachstelle der Systemtheorie; vgl. dazu Lorentzen 2002. 21 Latour 1996d, S. 35. 22 Das „soziale Band“ kann selbstverständlich auch das sein, was eine Risikogesellschaft eint. Quasi-Objekte erhalten so die zusätzliche Nuance, riskante Objekte zu sein. Vgl. Beck 1998, S. 287; Latour 2001a, S. 316.

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Technische Objekte werden stabilisiert (in ihrer Entwicklung, Entstehung, Konstruktion, Benutzung) und dienen, sind sie fertiggestellt und stabilisiert, als Institutionen der Stabilisierung des Sozialen.23

Zuhandenheit und konstruierte Benutzer Daß Quasi-Objekte die Grenze zwischen Subjekt und Objekt unterlaufen oder problemlos überqueren, heißt auch: Dinge sind nicht dem Subjekt gegenüberstehende Gegenstände, sondern diesem etwa im Handeln zugänglich. „Quasi“ markiert hier eine Differenz zu Objekten als bemeisterten, losgelöst oder kontemplativ betrachteten. Das nicht-objektivierende Verhältnis zu Dingen erinnert an die Zuhandenheit der Gebrauchsgegenstände bei Martin Heidegger.24 Zuhandenheit bringt mit sich, daß die Gebrauchsdinge nicht als bloße Objekte gegeben sind. Das Zuhandene fällt nicht auf, es ist, was es ist, gerade in seiner Unscheinbarkeit, Unaufdringlichkeit und Dienlichkeit. Erst wenn eine Störung auftritt, wenn es fehlt, defekt ist, kommt seine Dinglichkeit zum Vorschein, seine bloße „Vorhandenheit“, welche der Erfahrungsmodus des isoliert wahrgenommenen Dings ist.25 Dennoch ist der Begriff der Quasi-Objekte weiter gefaßt als die handhabbaren Dinge und damit die Heideggersche Zuhandenheit und Vorhandenheit, was sich darin zeigt, daß für Latour auch wissenschaftliche Objekte als Quasi-Objekte gelten können. Man könnte freilich auch sagen, daß hier Heideggers Dingbegriff mitsamt der Zuhandenheit auf wissenschaftliche Objekte und strittige Sachen erweitert wird, womit er sich allerdings um einiges verändert. Vom benutzten Objekt her wird die Subjekt/Objekt-Trennung ebenfalls unterlaufen. Latour veranschaulicht das Quasi-Objekt durch den Berliner Schlüssel, einen Durchsteckschlüssel, der einen nachts dazu zwingt, die Haustür hinter sich zu verschließen; dieses technische Objekt ist etwas, „das uns sozialisiert, wäh-

23 In Kap. 2.3 komme ich noch einmal auf die Objektinstitutionen zurück. 24 Heidegger 1979, S. 68 f., S. 73 ff. 25 Oder des naturwissenschaftlich-cartesianisch gedachten Objekts. Diese Doppeldeutigkeit der Vorhandenheit wird von Heidegger in Sein und Zeit (ebd.) nicht aufgelöst; doch es ergeben sich, je nachdem welcher Interpretation der Vorhandenheit man folgt, verschiedene Dingbegriffe. Entweder ein szientistisch gefaßter Dingbegriff: „das Dinghafte, die Tatsache, das den Sinnen Gegebene, das von der Naturwissenschaft einer objektiven Erkenntnis entgegengeführt wird“ (Gadamer 1960, S. 103); oder ein Dingbegriff mit zwei Seiten: Zuhandenheit/Vorhandenheit, wie ihn Graham Harman (2002) als Gegensatz von „tool“ und „broken tool“ weiterentwickelt hat (s.u. Kap. 2.5).

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rend wir die Tür aufschließen, das uns als Benutzer konstruiert, obwohl es aus Stahl besteht“.26 Die Objekte konstruieren, strukturieren das Subjekt mit. Das erinnert an den kulturwissenschaftlichen Medienbegriff, dessen Klassiker Grammophon, Film, Typewriter von Friedrich Kittler (1986) ist: Das Medium definiert den, der es benutzt. Wahrnehmung, Mentalität und Gefühlswelt werden durch die jeweilige Medienstruktur geformt, manchmal sogar konstituiert, weniger durch die Inhalte: „The medium is the message“ lautet der bekannte Slogan. Medien sind nicht neutrale Übermittler einer Botschaft, sondern haben selbst „eine sinnbildende Potenz“ und führen zu „Umschichtungen innerhalb unserer Sinnlichkeit“ . Ein solcher Medienbegriff betont gerade die Dinglichkeit und Materialität der Medien (was immer sie sonst noch sein mögen).27 Im Unterschied zum Medienbegriff ist der Quasi-Objektbegriff zweigesichtig, er hebt sowohl die dinglichen Aspekte der Medien und wissenschaftlichen Objekte hervor als auch die symbolischen, sozialen, reflexiven, medialen, aktiven Seiten der mehr oder weniger schlichten Dinge.

Quasi-Objekte – zirkulierend, bahnend, hybride, instituiert Um die Eigentümlichkeiten der Quasi-Objekte kurz zusammenzufassen: QuasiObjekte sind zirkulierende, Netze bahnende, das soziale Band knüpfende oder verstärkende Entitäten. (Beispiele sind hier zum einen die verschiedensten Dinge, von der Teetasse bis zur E-Mail, insofern sie zirkulieren; aber auch EObjekte wie Websites; bei Latour auch die strittigen, haarigen und wissenschaftlichen Quasi-Objekte wie Ozonloch, Neurotransmitter, Mikroben.) Sind Objektinstitutionen, womit die wechselseitige Stabilisierung sozialer Zusammenhänge durch Objekte, der Objekte dagegen durch Konstruktion und Benutzung gemeint ist. (Beispiele: Atomkraftwerke, Massenverkehrsmittel, Flugzeuge; bei Serres: Jeton, Geld, Statuen.) Sie sind Hybriden, Mischwesen, worin man einen speziellen Typ von Quasi-Objekten sehen könnte, etwa solche, die sich gerade von ihrer Heterogenität her als interessant, umstritten, sozialisierend, stabilisierend erweisen. Hier wäre zum einen die notwendige Unreinheit und Heterogenität von all dem, was später in irgendeiner Form gereinigt, objektiviert wird, zu erwähnen,

26 Latour 1997a, S. 42 f. Siehe auch Latour 1996b, S. 37 ff. Mehr zum Berliner Schlüssel s.u. Kap. 2.3. 27 Der Slogan in McLuhan 2010, S.7, das Zitat von Koch/Krämer 1997a, S. 19. In der Genealogie von Kittlers Medienbegriff findet sich auch Heideggers Ding und Zuhandenes, vgl. Kittler 2000, S. 229 ff. Latour selbst verwendet den Medienbegriff so gut wie gar nicht. Stattdessen gebraucht er den allgemeineren Begriff médiateur, mediator („Mittler“, „Mediator“).

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zum anderen die Hybridität von technischen Objekten (Beispiele: Gene, Flüsse, Neurotransmitter, Hefechromosomen, MP3-Player, Wassermühlen). Weiterhin könnte man an solche Mischwesen oder Hybriden denken, bei denen über die Natur-/Gesellschaftsgrenze explizit gestritten wird, wie Doping, Genfood, Klimawandel und Lebensbeginn.28 Quasi-Objekte sind Dinge als zuhandene, der neue Begriff soll die Subjekt/Objekt-Trennung unterlaufen. (Beispiele: schlichte Dinge in ihrer Vertrautheit, Berliner Schlüssel, aber auch Türen und Wege, Computer und Automobile, Krüge, Hämmer und Sensen.) Der Aspekt der Zuhandenheit ist vor allem meine Interpretation. Bei Serres wird die Subjekt-/Objekt-Trennung durch Zirkulationsprozesse unterlaufen, und Latour betont bei der Beschreibung des Berliner Schlüssels eher dessen bindende, sozial-normative Funktion. Also sind QuasiObjekte im engeren Sinn vornehmlich bindende, werdende, vermittelnde Objekte, im Unterschied zu den zuhandenen Heideggers. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die aufgezählten Merkmale nicht alle gleichzeitig gegeben sein müssen, damit ein Ding ein Quasi-Objekt ist. Ebenfalls dürfte klar geworden sein, daß die Quasi-Objekt-Begriffe Latours und Serres’ sich zwar nicht unbedingt widersprechen, aber merklich unterscheiden. Beide betonen die Zirkulation und bindende Rolle der Quasi-Objekte. Serres geht es, in vielfacher Hinsicht, um eine Rehabilitierung der Objekte, der Dinge, er arbeitet gegen die Dingvergessenheit in der neueren Philosophie an.29 Bei ihm ist QuasiObjekt in mancher Hinsicht ein vom Objekt unterschiedener, kritischer Begriff, kennzeichnet manchmal gar eine, man könnte fast sagen, „verderbte“ Stufe des Objekts (Fetisch, Waffe, Ware). Im Unterschied dazu ist das Quasi-Objekt ein Kernstück von Latours Sozial- und Netzwerktheorie, und die vier, fünf verschiedenen Kennzeichen, die ich aufgezählt habe, finden sich alle bei ihm; es ist zunächst sein neuer Objektbegriff.30 Den Impetus der Rehabilitierung der Dinge teilt er mit Serres.

28 Die in der Nachfolge Becks als „kosmopolitische Hybride“ bezeichnet werden (Wehling/Viehöver/Keller 2005). Zum Hefechromosom: Latour 2000, S. 248. 29 Die Exteriorität der Dinge betont er vor allem in Serres 1994. 30 Zunächst heißt: in den 1990er Jahren. In Fortschreibung der Geschichte (nach Latour 1991a und Latour 1996e) könnte man sagen, daß er ihn als expliziten Begriff zunehmend aufgegeben hat und zu dem Begriff des Objekts oder vielmehr Dings zurückgekehrt ist (Latour 2005a, Latour 2005b); er wertet sogar um: Dinge versus (modernistische) Objekte. Zu diesem neuen Dingbegriff Latours s.u. Kap. 2.5. Allerdings führt er die Quasi-Objekte weiterhin als eine besondere Art von Entitäten an (Latour 2005a, S. 238) und kommt in Latour 2012 wieder ausführlich auf sie zurück.

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Der Begriff der Quasi-Objekte bringt ein Spannungsverhältnis mit sich, das uns in verschiedener Form noch öfters begegnen wird: einerseits die Härtung des Sozialen durch Dinge, andererseits die Sozialisierung der Dinge durch die Menschen, einerseits Zipfel von Relationen bzw. Netzwerken, andererseits zwar nur Bruchstücke, aber doch von Entitäten, die sich nicht ganz in ihren Relationen auflösen.

1.3 G RENZOBJEKTE Grenzobjekte sind Objekte, denen in verschiedenen sozialen Welten verschiedene Bedeutungen zukommen und die gleichwohl Verbindungen zwischen diesen Welten schaffen und aufrechterhalten. Der Begriff wurde von Star und Griesemer (1989) entwickelt, als sie Gründung und Aufbau des naturgeschichtlichen Museums in Berkeley beschrieben. Grenzobjekte (boundary-objects) sind, wie schon die Quasi-Objekte, als physisch-haptische Gegenstände vorstellbar, auch wenn dies ihren Bedeutungsumfang nicht ausschöpft. Von Grenz-Objekten ist zum einen deshalb die Rede, weil diesen Objekten ein Grenzstatus zukommt, zum anderen weil hier die Sichtweisen verschiedener sozialer Gruppen aneinandergrenzen. „In der naturgeschichtlichen Arbeit werden Grenzobjekte produziert, wenn Sponsoren, Theoretiker und Amateure zusammenarbeiten, um Darstellungen der Natur hervorzubringen. Unter diesen Objekten befinden sich Tierexemplare, Feldnotizen, Museen sowie Landkarten bestimmter Territorien. Ihre Grenznatur schlägt sich darin nieder, daß sie gleichzeitig konkret und abstrakt, spezifisch und allgemein, konventionalisiert und individualisiert sind. Sie sind oft in sich heterogen.“ (Star/Griesemer 1989, S. 408)

Grenzobjekte haben verschiedene Bedeutungen in verschiedenen sozialen Welten, doch nicht ganz verschiedene – sonst könnten sie diese Welten nicht mehr verbinden. Sie müssen plastisch genug sein, um sich an die lokalen Bedürfnisse der verschiedenen sozialen Gruppen anpassen zu können, doch gleichzeitig ausreichend robust, um ihre Identität quer durch verschiedene Situationen zu bewahren (vgl. Star/Griesemer 1989, S. 393). Daher stellt sich die Frage, was diese Robustheit gewährleistet oder was denn bei aller Plastizität gleich bleibt. Es lassen sich verschiedene Vorgehensweisen denken, um eine Kompatibilität oder Verträglichkeit zwischen konfligierenden Sichtweisen herzustellen, von denen einige auf Dinge angewiesen oder anwendbar sind:

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„‚kleinster gemeinsamer Nenner‘; Verwendung vielseitiger, plastischer, rekonfigurierbarer (programmierbarer) Objekte; Schaffung eines Lagerhauses von Objekten, aus dem Dinge physisch herausgenommen und rekonfiguriert werden können; durch Abstraktion oder Vereinfachung; durch parallele und begrenzte Tauschakte und Standardisierung; oder mittels autonomer Zwischenstufen.“31

Robustheit und Plastizität sind in verschiedenen Fällen verschieden wichtig. Mal geht es darum, neue Gruppen zu gewinnen oder Neues am Objekt zu entdecken, dann werden Offenheit und Plastizität des Objekts entscheidend: Nicht unbedingt jeder, aber doch mancher kann darin andere Seiten entdecken. Hierfür sind die konkreten, greifbaren Tierkörper ein gutes Beispiel. Dann wieder geht es darum, eine bestimmte Gruppe anhand eines Grenzobjekts zu disziplinieren, und nun zählt die Stabilität des Objekts; das ist etwa der Fall bei der Standardisierung von Feldnotizen durch Formulare; hier nähern sich die Grenzobjekte den Inskriptionen oder „unveränderlichen Mobilen“ (immutable mobiles) Latours an:32 „[Der Begriff der Inskriptionen] bezeichnet all jene Transformationen, durch die eine Entität in einem Zeichen, einem Archiv, einem Dokument, einem Papier, einer Spur materialisiert wird. In der Regel, wenn auch nicht immer, sind Inskriptionen zweidimensional, überlagerbar und kombinierbar. Immer sind sie mobil, […] während sie gleichzeitig einige Typen von Relationen unverändert lassen.“ (Latour 2000, S. 375)

Grenzobjekte in Form von Inskriptionen sind etwa Feldnotizen, Etiketten, Magazinstrukturen, konfigurierbare Objekte (in Form von Software, Computern). Die typischen Grenzobjekte bei der Kooperation im Wissenschaftsbereich sind unveränderliche mobile Inskriptionen, und sie sind dasjenige Dingliche, welches die wissenschaftlichen Objekte stets begleitet, wie abstrakt diese sonst auch sein mögen. Was abstrakt und konkret bei Grenzobjekten heißt, versucht Star an anderer Stelle folgendermaßen zu erläutern:

31 Ich zitiere hier nach dem (an dieser Stelle gekürzten) Wiederabdruck des Artikels in Biagioli 1999, S. 515; im Zeitschriftenartikel selbst (Star/Griesemer 1989) findet sich die in den einzelnen Punkten mehr ins Detail gehende Liste auf S. 404. 32 Mit diesem Ausdruck will ich im folgenden die „immutable mobiles“ Latours terminologisch übersetzen. Für das „unveränderliche“ entscheide ich mich, weil sie, wie aus dem Zitat hervorgeht, einige Typen von Relationen unverändert lassen. Die „Mobile“ belasse ich, auch der terminologischen Prägnanz wegen. Rheinberger übersetzt „unwandelbare Mobile“, Rheinberger 2001a, S. 114.

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„Für den Amateursammler ist das Tierexemplar selbst die Analyseeinheit – ein toter Vogel oder ein Knochen, der an einem spezifischen Ort gefunden wurde […] Für den Biologen dagegen bilden die von Amateuren gesammelten Exemplare Teil einer abstrakten Verallgemeinerung über Ökologie, Evolution oder die Verteilung von Arten. Das besondere Insekt oder der Käfer ist nicht so wichtig wie das, was er repräsentiert.“ (Star 1989, S. 48)

Der besondere Käfer mag in mancher Hinsicht nicht so wichtig sein wie das, was er repräsentiert, dennoch ist er das zwischen Amateursammler und Biologen vermittelnde Grenzobjekt. Dieses Zitat suggeriert, der Amateursammler verbleibe im Konkreten, der Biologe dagegen schwinge sich zum Allgemeinen, Universellen empor. Das Besondere und das Allgemeine sind jedoch anders verteilt als hier nahegelegt. Auch Amateursammler und Pelztierjäger denken abstrakt, interessieren sich aber vielleicht eher für die Klassifikationen des Pelztiermarkts als für die der biologischen Taxonomie. Doch beide Gruppen verständigen sich anhand eines besonderen, physischhaptischen Tiers; in ihrer Interaktion ist dieses für beide „die Analyseeinheit“ bzw. das (Grenz-)Objekt. Besser würde man also sagen, daß die abstrakte Verallgemeinerung über Ökologie, Evolution etc. beim Wissenschaftler noch hinzutritt und das Tierexemplar mit zusätzlichen Bedeutungen anreichert.33 Das heißt, daß auch physisch-haptische Dinge Grenzobjekte sein können, ja manchmal, wie hier am Beispiel des künftigen Tierpräparats zu sehen ist, sogar in ausgezeichneter Weise.

Grenzobjekte, Grenzzonen und Übersetzungen Dennoch muß das Tierexemplar für beide Gruppen nicht dasselbe bedeuten. Es genügt, daß sie sich darüber verständigen können, und zwar keineswegs aufgrund eines identischen „Bedeutungskerns“,34 sondern eher anhand einer Schnittmenge der unterschiedlichen Bedeutungen, die es für sie jeweils hat. Ob man dann aber noch von demselben Objekt sprechen kann? Diese Frage legt uns Susan Leigh Star nahe, wenn sie in zwei der einschlägigen Texte das Wort „the same“ (bzw. „même“) in Anführungszeichen setzt.35 Aber was soll diese distanzierende Anführung des Wortes „dasselbe“ heißen? Es mag zwar derselbe ausgestopfte Marder für beide Interaktionspartner nicht dieselbe Bedeu-

33 Vgl. Dewey 1995, S. 140 f., Stengers 2002b, S. 118 ff. 34 So Strübing 2005, S. 272, in seiner Darstellung der Grenzobjekte (Hervorhebung von mir). 35 Star/Bowker 1999, S. 297; Star 2010, S. 19: „la ‚même‘ feuille de route“.

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tung haben, aber es bleibt doch derselbe Marder, der für sie nicht dieselbe Bedeutung hat, und nicht etwa für den einen eine lebendige Eule, für den anderen ein totes Pferd. Zumindest bei physisch-haptischen Dingen kann man diese realistische Bezugnahme schwerlich umgehen, erst recht nicht, wo es, wie hier, im Reden (Schreiben, Nachdenken) darüber um die ohnehin nur supponierte Identität und Existenz eines Dings geht.36 Etwas anderes ist es, wenn beide am Aufbau desselben Museums arbeiten, das teilweise noch Projekt ist. Dann mag sich in der Tat herausstellen, daß es nicht dasselbe Museum ist, an dessen Gründung und Realisierung beide arbeiten. Aber das wiederum dürfte bei der Realisierung, bei der zunehmenden Verwirklichung des Projekts vermutlich sehr bald deutlich werden. Gerade durch die dingliche Realisierung, dingliche Vermittlung würde dann hier ein Konflikt, der mehr als ein Interpretationskonflikt ist, sichtbar werden.37 Zwar wurde der Begriff der Grenzobjekte für die Kommunikation zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Subkulturen entwickelt, doch er ist nicht ausschließlich auf die Wissenschaft gemünzt (vgl. Star/Bowker 1999, S. 297). Er scheint also verallgemeinerbar zu sein auf die schlichtesten alltäglichen Gebrauchsgegenstände, die ja auch oft für verschiedene soziale Gruppen verschiedene Bedeutungen haben. Star und Griesemer legen sich hier nicht eindeutig fest; mal können auch konkrete, materielle Dinge als Grenzobjekte fungieren, mal scheint es, als wären mit „Grenzobjekten“ eher symbolische oder kognitive Schemata gemeint, auf die man sich einigt, um kooperieren zu können (bzw. die aus der Kooperation heraus entstehen).38 Vielleicht läßt sich dieses Schillern des Begriffs auch als eine Differenz zwischen Ko-Autor und -Autorin verstehen: Susan Leigh Star denkt in der Tradition des symbolischen Interaktionismus eher an die Schemata (Star 1989, S. 46 f.), während James Griesemer keinerlei Probleme damit hat, die im naturgeschichtlichen Museum aufbewahrten Grenzobjekte, die Tierpräparate, als „konkrete materielle Dinge“ zu bezeichnen (Griesemer 1990, S. 21).

36 Genaugenommen ist das kein „naiver Realismus“, da das äußere Ding nicht als Ursache seiner Bezugnahme postuliert und auch sonst keine erkenntnistheoretische Hypothese formuliert wird. 37 Das heißt es erweist sich nur teilweise als dasselbe Objekt. Auch das naturgeschichtliche Museum, an dem Grinell und Alexander arbeiten, ist selbst ein Grenzobjekt: Star/Griesemer 1989, S. 408. 38 Dann wieder, als seien es die Inskriptionen, die darstellenden Hilfmittel der Schemata (oder die Hilfmittel als Schemata), welche als Grenzobjekte fungieren: Star 1989, S. 50, wo Formulare als Grenzobjekte betrachtet und mit den „immutable mobiles“ von Latour in Beziehung gebracht werden.

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Star scheint einem sozialen Konstruktivismus zuzuneigen, wenn sie betont, daß die Realität uns immer nur über Interpretation, Deutung, vermittelnde symbolische Aktivität zugänglich sei, hinter der auf der anderen Seite die physische Realität liegt (soll man sagen verborgen liegt?) – und damit auch die Dinge, wäre zu ergänzen.39 Darin impliziert ist die Verschiebung der greifbaren und sichtbaren Dinge hinter einen sensualistischen Schirm, der dann subjektseitig völlig arbiträre Bedeutungen ermöglicht,40 welche das einzig Gemeinsame, das einzig wirklich „selbe“ sind, auf das sich die Interaktionspartner beziehen bzw. einigen können. Einen Teil seines Reizes zieht der Begriff der Grenzobjekte aus der damit angedeuteten Spannung zwischen Universalismus und Kulturalismus oder Realismus und Relativismus, ohne sie aber zu lösen. Universalismus tritt allerdings erst dann als Problem auf, wenn Geltungs-, Wahrheitsansprüche geäußert werden, nicht jedoch bereits, wenn wir uns, auch durch sprachliche Äußerungen, auf dasselbe Objekt beziehen; oder anders formuliert: auf ein Objekt beziehen, welches zunächst keinen Grund zur Annahme gibt, daß es für den anderen nicht dasselbe Objekt sei. Die Universalisten würden wohl sagen, es gebe ein objektives Objekt (das tendenziell mit dem wissenschaftlichen Objekt identifiziert wird), die Kulturalisten, es gebe nur Perspektiven oder Objekte so viele wie Perspektiven. Beide aber verabsolutieren jeweils eine Phase eines vielschichtigen und vielgliedrigen Prozesses. Es zeigt natürlich nicht jede Perspektive ein anderes Objekt (sonst könnte man die beiden Begriffe in einem aufgehen lassen), noch ist das wissenschaftlich bestimmte Objekt das einzige wirkliche.41 Betont man Hybridität und Heterogenität, so scheint mir „Grenzobjekte“ eine recht treffende Bezeichnung für Objekte zu sein, in denen sich wissenschaftliche, erkenntnismäßige Anteile mit technischen, alltäglichen oder wahrgenom-

39 So interpretiere ich jedenfalls ihre Überlegungen in Star 1996, S. 304 f. 40 Wobei dann nur noch die Frage bleibt, wo man die Grenzen des Subjekts zieht: an der Haut, an der sozialen und symbolischen Interaktion mitsamt den Individuen und externen Darstellungen oder an der Grenze zwischen „der“ Gesellschaft und „der“ Natur bzw. physischen Realität (s.u. Kap. 2.1 und Kap. 3.2). 41 Vereinfacht (oder in rationalistischer Perspektive) gesagt: Wissenschaftliche Objektivität heißt eine Vermehrung von Perspektiven und heißt Universalisierbarkeit. Jeder des Nachdenkens fähige Mensch, der durch dieses Fernrohr blickt, kommt (mithilfe derselben Berechnungen, die auf einer gewissen mathematischen Kultur beruhen) zu demselben Schluß. Zum Gegensatz Universalismus/Kulturalismus siehe Thompson 1981, S. 132. Zum Begriff der Objektivität siehe Daston 2001b. Vgl. auch Latour/Jullien 2008, S. 64; hier wird „Universalisierendes“ an die Stelle von „Universalien“ gesetzt.

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menen mischen. Dies etwa bei der Popularisierung und Verbreitung wissenschaftlicher Objekte und Erkenntnisse in nicht-wissenschaftlichen Umwelten. Gene sind in diesem Sinne Grenzobjekte.42 Um solche Verbreitungsbewegungen zu beschreiben, bietet sich ebenfalls der Begriff der Übersetzung an.43 Man kann sich überall, wo man von Verbreitung spricht, fragen: Handelt es sich nicht recht eigentlich um Übersetzung von einem Bereich in einen anderen? Im Unterschied zu den Grenzobjekten, die sogleich das Bild der verschiedenen Perspektiven auf denselben (nicht denselben?) Gegenstand heraufbeschwören, ist der Übersetzungsbegriff serieller und vermittelter angelegt. Um die Vermittlung zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Subkulturen in der Elementarteilchenphysik zu beschreiben, hat Peter Galison (2004) den Begriff der trading zone entwickelt, übersetzbar als Handelszone oder „Aushandlungszone“ (Rottenburg 2002, S. 257). In solchen Handelszonen kann man sich auf Objekte beziehen, „obwohl diese Objekte für Geber und Empfänger radikal unterschiedliche Bedeutungen“ mit sich führen (Galison 2004, S. 42). Trotz inkommensurabler, ja manchmal sogar inkompatibler Vorgehensweisen und theoretischer Annahmen können diese Wissenschaftler kooperieren, ohne sich in einem einzigen, übergreifenden, neutralen Idiom oder derselben MetaTheorie verständigen zu müssen.44 Eine operationalistische Bedeutung, mit der man arbeiten kann, wird in Prozessen des Umgangs miteinander und mit den fraglichen Objekten ausgehandelt. Verständigung ist für Galison durch eine eigene Handelssprache möglich, die er analog zu sprachlichen Mischformen wie Kreolisierungen und Pidginisierungen denkt. Zwar sieht er eine „kongeniale“ Nähe zwischen seinen Handelszonen und den Grenzobjekten von Star und Griesemer, doch am Konzept der Grenzobjekte stört ihn, daß es ausschließlich Ob-

42 Auch sonst sind Gene ein gutes Beispiel für Grenzobjekte: Kay (2001, S. 230) bezeichnet genetische Codes als „Grenzobjekte“, Rheinberger (2006, S. 222) verweist auf Star und Griesemers Aufsatz, wenn er von Genen als „unscharf definierten epistemischen Objekten“ spricht, die „Abgrenzungen und Übergänge zu benachbarten Gebieten“ vermitteln. 43 Wie Latour und Callon ihn entwickelt haben. Eine Definition: Der Begriff der Übersetzung „bezieht sich auf all die Verschiebungen durch andere Akteure, ohne deren Vermittlung keine Handlung stattfindet. Übersetzungsketten treten an die Stelle einer starren Opposition zwischen Kontext und Inhalt“ (Latour 2000, S. 381). Auch Star spricht von „translation“ (Star 1989). Und von „Übersetzung zwischen sozialen Welten“ ist in Star/Griesemer 1989, S. 388, die Rede. 44 Vgl. Margolis 2001, S. 178.

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jekte sind, die den Übergang herstellen; für ihn leisten dies eher Sprachen, Verfahren und Interpretationen.45 Grenzobjekte sind also, um es kurz zusammenzufassen, in ihren erkenntnistheoretischen oder kognitiv-kulturalistischen Implikationen eher problematisch, brauchbar dagegen im Anwendungsgebiet heterogener Kooperation oder bei Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen Gruppen, wissenschaftlichen oder nicht wissenschaftlichen.46 In mancher Hinsicht sind Grenzobjekte eine Differenzierung der Hybriden: das Heterogene als das Grenz- oder Streit-Objekt, damit aber auch das Interessante. Insbesondere wenn es um die gemeinsamen Objekte verschiedener Gruppen geht, scheint mir „Grenzobjekte“ eine treffende Bezeichnung zu sein.

1.4 T ECHNISCHE O BJEKTE Obschon bereits 1958 erschienen, erfreut sich Simondons Werk zum technischen Gegenstand – Du mode d’existence des objets techniques (Simondon 1989) – seit einiger Zeit verstärkter Rezeption und Diskussion.47 Insofern kann es durchaus einen Platz in einer Galerie „neuer Dingbegriffe“ beanspruchen. Im folgenden will ich einige Grundzüge dieser Theorie zur „Existenzweise“ technischer Objekte darstellen. Simondons Überlegungen situieren sich von Anfang an im Horizont einer technischen Kultur, worunter auch eine Kultivierung des Umgangs mit Technik zu verstehen ist, einschließlich des theoretischen.48 Simondon schreibt an gegen eine philosophische und gedankliche Abwertung technischer Gegenstände. Diese

45 Galison 1997, S. 47. Er kritisiert den Übersetzungsbegriff, allerdings mit dem Argument, daß nicht die Sprache der einen Subkultur in die der anderen übersetzt wird, sondern eine Zwischensprache kreiert wird. „Heterogene“ Kooperation ist das Etikett, unter dem er von soziologischer Seite rezipiert worden ist. Siehe Galison 2004, Gläser/Meister/Schulz-Schaeffer et al. 2004. 46 Weiterführend sei verwiesen auf Meister 2011, worin eine gründliche Analyse des Begriffs der Grenzobjekte von Star und Griesemer und seiner möglichen und unmöglichen Anwendungen geleistet wird. Etwas allgemeiner wird der Begriff in Hörster/Köngeter/Müller 2013 in verschiedenen Anwendungskontexten behandelt. 47 Siehe Hottois 1993, Combes 1999, Schmidgen 2001, Stengers 2002a, Cuntz 2008, Hörl 2011, Delitz 2012. Ähnliches gilt für die Edition seiner Schriften. 48 Darin durchaus Latour vergleichbar, der sich ja auch im Berliner Schlüssel, in dessen Einleitung er seine Absicht bekundet, der Abwertung der technischen Kultur entgegenzuwirken, kurz auf Simondon bezieht (Latour 1996b, S. 24). Zur technischen Kultur als Horizont bei Simondon: Combes 1999, S. 95.

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Abwertung äußert sich für ihn als Ambivalenz und permanentes Umkippen zwischen zwei Vorstellungen: Technische Objekte sind bloß materielle Agglomerate, Zusammensetzungen von Materie in irgendeiner Form; oder es sind Automaten, Roboter mit eigenen Intentionen, die den Menschen unterjochen wollen, wogegen es dann nur den Ausweg gäbe, sie ihrerseits zu versklaven, zu bloßen Instrumenten zu degradieren (Simondon 1989, S. 9 ff.). Für Simondon dagegen sind technische Objekte komplexe Entitäten, die sich in einer gewissen Eigendynamik entwickeln und zunehmend konkretisieren. Neben der Konkretisierung läßt sich Simondons Konzeption des technischen Objekts anhand dreier weiterer Merkmale umreißen: Genese: Ein technisches Objekt ist nicht ein bestimmtes hic et nunc gegebenes Ding, sondern seine Genese, sein Werden gehört zu ihm dazu. Vielheit: Technische Objekte treten in der Mehrzahl auf, einer Mehrzahl, die sich noch einmal abstufen läßt nach technischen Elementen, technischen Individuen und technischen Ensembles. Die Einflußnahme technischer Objekte aufeinander erfolgt entsprechend einem Prozeß, den er als Transduktion (transduction) bezeichnet.

Konkretisierung Ein technisches Objekt – wie etwa eine Maschine, eine Turbine, ein Transistor – ist eine komplexe Entität, die sich in einer gewissen Eigendynamik zunehmend konkretisiert. Anfangs nur ein System aus einzelnen Teilen bildend, die jeweils eine bestimmte Funktion erfüllen, gewinnt das technische Objekt allmählich Konsistenz und Dichte in einem Prozeß der Konkretisierung, Differenzierung und „funktionellen Überdeterminierung“ (Simondon 1989, S. 15). Am Beispiel des Verbrennungsmotors: „Die Kühlrippen am Zylinder dienen nicht mehr nur der Thermik, sondern auch der Statik: sie kühlen den Zylinder, geben ihm aber auch zusätzliche Stabilität“ (Schmidgen 2001, S. 269). Der technische Gegenstand wird dichter, eigenständiger, oder, mit meinen Worten, dinglicher. Ausgangspunkt des Konkretisierungsprozesses ist der primitive technische Gegenstand, der insofern abstrakt ist, als bei ihm einige wissenschaftliche Prinzipien und Vorstellungen in Materie übersetzt sind. Diese stehen jedoch noch nebeneinander, sind entsprechend der Idee der Erfindung, dem Funktionsschema, bloß gebündelt, mühsam zusammengehalten, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen; also gewissermaßen zusammengestückelt.49

49 „Partes extra partes“ lautet der Terminus technicus dafür: Simondon 1989, S. 21. Vgl. die instruktiven Zeilen, die Latour (2007a, S. 141) Simondon widmet; darin betont er

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Das konkrete, das heißt entwickelte, technische Objekt dagegen „strebt nach interner Kohärenz“ (Simondon 1989, S. 46), das System der zirkulär miteinander verbundenen Ursachen und Wirkungen in seinem Innern wird zunehmend geschlossen. Das technische Objekt nähert sich der Existenzweise von Naturobjekten an;50 es wird nach außen hin opak, zur Black Box. Aus den tendenzhaften Formulierungen (strebt nach, nähert sich) geht hervor, daß das vollständig konkretisierte technische Objekt ein Grenzbegriff ist (ebd., S. 35). Und schließlich bedeutet Konkretisierung, daß das technische Objekt sich einen Teil der natürlichen Welt als Bedingung seines Funktionierens einverleibt oder integriert. „Es verliert seinen Charakter der Artifizialität“ (ebd., S. 46). Artifiziell ist für Simondon am technischen Objekt nicht sein Ursprung, das heißt daß es sich menschlicher Erfindungsgabe verdankt, sondern daß es in seinem Funktionieren auf ein artifizielles Milieu angewiesen ist; dies ist es umso weniger, je mehr es an Konkretisierung gewonnen hat (ebd., S. 47). Hierfür bildet die Eisenbahn mit den durch die Landschaft gezogenen Schienen ein Beispiel, das Simondon des öfteren anführt. Nebenbei gesagt ist dies vielleicht ein Grund, wieso Simondon die technischen Objekte nicht als „Artefakte“ faßt. Die Konkretisierung läßt sich auch umschreiben als zunehmende Differenzierung bei gleichzeitig zunehmender Synergie der Funktionen. Den Grad der Konkretisierung des technischen Objekts bezeichnet Simondon auch als Technizität (technicité). Erst das konkret gewordene technische Objekt bietet sich für industrielle Fertigung an.51

Genese Das technische Objekt ist im Werden begriffen: „Das individuelle technische Objekt ist nicht dieses oder jenes, hic et nunc gegebene, Ding, sondern das, was eine Genese durchläuft. Die Einheit des technischen Objekts, seine Individualität, seine Spezifik sind die Merkmale der Konsistenz und Konvergenz seiner Genese.“ (Ebd., S. 20)

den Übergang von den nebeneinander liegenden Bestandteilen, partes extra partes (die er hier als „techniques-as-objects, drawn in the res extensa mode“ bezeichnet), zum opak gewordenen Objekt, wo die einzelnen Teile einander verbergen. 50 Das bedeutet mehr als Verkoppelung und Indienstnahme kausaler und sonstiger naturwissenschaftlich eruierter Zusammenhänge zum Nutzen des Menschen (Combes, S. 96 f.). 51 Simondon 1989, S. 36. Zur Synergie: ebd., S. 33 f., S. 38. Zunehmende Technizität: ebd., S. 72.

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Werden ist die Seinsweise des technischen Objekts, nicht bloß etwas, das ihm zustößt.52 Dieses Werden möchte Simondon jedoch nicht dialektisch verstanden wissen; denn weder durchläuft es einen notwendigen Fortschritt, noch spielt die Negativität die Rolle des Motors (Simondon 1989, S. 159). Zunächst betrifft die Genese, das Werden des technischen Objekts den individuellen technischen Gegenstand bis zu seiner Fabrikation. Man kann sie auch als seine Ontogenese bezeichnen, die aber, wie etwa die Ontogenese eines Lebewesens, verschiedene Phasen durchläuft, welche auch für mehrere Individuen typisch sein können.

Vielheit Denn das technische Objekt ist kein einsamer Gegenstand, sondern existiert nur in Vielheit. Zum einen ist es eingebettet in ein technisches Ensemble, innerhalb dessen es zum Einsatz kommt und ohne das es nicht voll verständlich wäre; der gelungene technische Gegenstand schafft sich sein eigenes Milieu. Zum anderen läßt sich das technische Objekt nicht nur nach technischen Individuen, sondern auch nach Arten differenzieren. Zum Werden des technischen Objekts gehört dann nicht nur die Trajektorie oder Karriere des individuellen Gegenstands, also der ontogenetische, sondern auch, wenn man ihn denn so nennen will, phylogenetische Aspekt. Dieser besteht etwa in der Entwicklung eines bestimmten Gerätetyps, wie er sich in den verschiedenen Generationen technischer Objekte zeigt, man denke an Computer- oder Automobilgenerationen. Man könnte dann das Automobil oder den Rechner als Gattung bzw. Art betrachten und demnach von der Phylogenese einer Gattung oder Art bestimmter technischer Gegenstände sprechen.53 Neben dem technischen Individuum und dem technischen Ensemble unterscheidet Simondon noch das technische Element, definiert als Bestandteil des technischen Individuums. In Form des Werkzeugs, Instruments oder Utensils

52 Vgl. Ansell-Pearson 1997, S. 184. 53 Neben einer ontogenetischen machen Maschinen auch eine phylogenetische Entwicklung durch, schreibt Félix Guattari (1995, S. 118) ganz im Sinne Simondons; sie seien in mancher Hinsicht sozial: „Die technologischen Maschinen sind in einem Phylum enthalten, in dem ihnen Maschinen vorausgehen und andere ihnen nachfolgen. Sie treten in Generationen auf - wie die Automobilgenerationen...“ Auch Ropohl (1979, S. 270 ff.) spricht im Zusammenhang der technischen Entwicklung von Ontogenese und Phylogenese. Bei der Phylogenese wechselt er allerdings den Bezugspunkt, denn nun ist die technische Entwicklung innerhalb der Phylogenese der menschlichen Gattung gemeint, nicht aber, wie von mir (und Guattari), die Phylogenese einer Gattung technischer Gegenstände oder Maschinen.

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beherrscht das technische Element das traditionelle Denken über den technischen Gegenstand. Gerade die Nützlichkeit scheint Simondon aber ein schlechter Ratgeber, um sich dem technischen Gegenstand zu nähern. Denn hier steht der Mensch, der das Werkzeug handhabt, im Zentrum, das Werkzeug ist ihm gefügig, es ist Verlängerung seiner Organe (Werkzeug) oder Sinne (Instrument).54 Der Mensch als Werkzeugträger oder Werkzeughalter („porteur d’outils“) ist der klassische Bezugspunkt des Nachdenkens über die Technik; „Entfremdung“ das Verdikt, sobald die Maschinen als Werkzeugträger in Erscheinung treten. Für Simondon dagegen ist die Maschine das technische Individuum par excellence (und der Mensch entfremdet, wenn er nur Werkzeughalter ist).55 Er geht also nicht vom Instrument, sondern von der Maschine als Paradigma, als Prototyp des technischen Objekts aus.

Transduktion Der Begriff der Transduktion kennzeichnet zunächst ein Verhältnis zwischen technischen Objekten. Dieses gestaltet sich nicht hauptsächlich durch den seine Zwecke verfolgenden Menschen, sondern „transversal“, also schräg oder querlaufend, von einem technischen Objekt zu einem oder mehreren anderen, und „transduktiv” (ebd., S. 20): „Die Technizität existiert gänzlich in den Elementen und pflanzt sich transduktiv im technischen Individuum und in den Ensembles fort“ (ebd., S. 81). Die technischen Elemente kann man sich als „Techneme“ vorstellen, wie Baudrillard (1991, S. 13) vorschlägt, die in andere technische Objekte, Individuen, verpflanzt werden können – ähnlich wie die Morpheme der Sprache in andere Wörter. Und sie üben dort einen Einfluß aus – das ist die „transduction“ –, der genausowenig deterministisch zu denken ist wie jener im sprachlichen Bereich. Wollte man eine biologische Analogie bemühen, so wäre das technische Element dem Organ vergleichbar, das man einer Spezies entnehmen würde, um es einem Individuum einzuverleiben, das dadurch zum ersten Exemplar einer neuen Art und Abstammunglinie würde.56

54 Simondon (1989, S. 114) unterscheidet zwischen Werkzeugen und Instrumenten nach ihrer aktiven (Werkzeug) oder perzeptiven (Instrument) Rolle. 55 Simondon 1989, S. 103, Anm. 1, wo Simondon das Werkzeugträger-Dasein des arbeitenden Menschen für die Entfremdung verantwortlich macht. Dies ist eine der zahlreichen Passagen aus Simondons Buch, die Herbert Marcuse zitiert: Marcuse 1970, S. 44 f. 56 Simondon 1989, S. 66 f., vgl. Schmidgen 1996, S. 59. Zur Analyse technischer Entwicklungen als soziale Evolutionen siehe Rammert 1982, S. 39 f., Grundmann 1994.

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Man kann die Transduktion (transduction), die nach dem technischen Ausdruck und Objekt „transducteur“ (Wandler, Konverter) gebildet ist, auch als „Übersetzung“ (traduction) im Sinne Latours verstehen. Die technischen Elemente verändern nicht nur das, was sie verbreiten, sondern auch das Milieu, das Terrain, in dem sie sich verbreiten; der Transport verändert das Einflußnehmende und das Beeinflußte.57 Transduktion läßt sich somit auch als historische Tradierung begreifen, demnach spielen die technischen Elemente eine “transduktive Rolle von einer Epoche zu einer anderen” (Simondon 1989, S. 76). Damit sei dieser Überblick über Simondons Überlegungen zum technischen Objekt abgeschlossen.58 Der auffallendste und für unsere Fragestellung fruchtbarste Beitrag Simondons besteht in der Fokussierung auf den technischen Gegenstand (nicht zuletzt in der Nuance, daß er ihn nicht als „Artefakt“ bezeichnet) und dessen Vielheit. Sein zweiter ist die genetische Perspektive, die Betonung des Werdens. Und drittens ist da die a-strukturalistische Herangehensweise vom Detail her, die Betonung des Konkreten.

1.5 E PISTEMISCHE D INGE In Hans-Jörg Rheinbergers Begriff der epistemischen Dinge wird die dingliche Seite auch wissenschaftlicher Gegenstände betont, schon durch die Wortwahl. Der Begriff bezieht sich nahezu ausschließlich auf die epistemischen Dinge, die im Labor auftauchen und in Erscheinung treten. Nach einer gängigen Vorstellung formulieren Wissenschaftler Hypothesen und verifizieren oder falsifizieren diese anschließend in Experimenten. Forschung geht jedoch weniger von Hypothesen aus, wie es die Science studies in verschiedensten Fällen und mit unterschiedlichen Nuancen herausgefunden und herausgestellt haben.59 Sondern etwa von Experimentalsystemen, die zur Erzeugung von neuen „epistemischen Dingen“ dienen, so Rheinbergers Antwort in

57 Delitz (2015, S. 305) versteht Transduktion als Begriff für „eine netzartig sich ausbreitende Struktur, wobei jede Schicht, die bereits gebildet ist, der sich bildenden als strukturierende Grundlage dient“. 58 Es gibt inzwischen einige interessante Versuche, Simondon für die Soziologie fruchtbar zu machen, siehe Delitz 2015, S. 289-330, Herold 2015. 59 Für einen Überblick über die veränderte Landschaft hinsichtlich Experimenten in der Wissenschaftsphilosophie siehe Hacking 1996, als kurzen Abriß über die Science studies siehe zum Beispiel Heintz 1998 oder Kap. 1 von Pickering 1995, als allgemeinere Erörterung nebst Fallstudien Latour 2000, als Textsammlung Biagioli 1999, als Textsammlungen in deutscher Sprache siehe Hagner 2001 sowie Belliger/Krieger 2006.

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seinem Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001a). Er zeichnet darin die Geschichte eines bestimmten Experimentalsystems nach, eines Reagenzglassystems zur Erforschung der Proteinbiosynthese, das in den Jahren 1947-1962 von Paul C. Zamecnik und Mitarbeitern am Huntington Memorial Hospital in Boston entwickelt worden ist.60 Neu auftauchende  Epistemische Dinge sind, um es grob zu übersetzen, „erkenntnismäßige“ Dinge, die im Laboratorium im Kontext von Experimentalsystemen auftauchen. Denn molekularbiologische Erkenntnis arbeitet sich in Experimentalsystemen vor, die von den Forschern über Jahre entwickelt, aufgebaut, stabilisiert und wieder verändert werden. Darin tauchen epistemische Dinge auf, neue, interessante Phänomene, welche die Forscher sich zugänglich und gefügig zu machen versuchen. Oder anders gesagt: Epistemischen Dingen kommt ein Zwischenstatus zu, halb sind sie experimentelle Befunde, halb Begriffe, mit denen diese erfaßt werden. Auch deshalb ist vom epistemischen Ding die Rede: Es ist dieses Halb-nochMateriales, Halb-schon-Begriffenes, aus dem ein faßbarer Gegenstand, sprich Untersuchungs-Gegenstand oder gar ein erkannter, erst noch herausgeschält werden muß. Beim epistemischen Ding ist noch nicht ganz entschieden, was genau dem Objekt zugerechnet werden wird und was der Zugriffsweise. So wird dieses Ding einmal auch als ein „Mischgebilde“ zwischen Objekt und Zeichen charakterisiert (ebd., S. 25). Ein bestimmter Überstand aus der Ultrazentrifuge etwa, zunächst als Verunreinigung wahrgenommen, wird nach und nach als lösliche RNA bestimmt, dann als Transfer-RNA (die für den Prozeß der Übersetzung genetischer Informationen in Proteine wichtig ist). Eine Entdeckung ist gemacht. Insofern sind epistemische Dinge „vorwärts und rückwärts lesbar“ (Rheinberger 2006, S. 356). Sie weisen vor auf das, was kommt, und lassen sich im Nachhinein oft anders interpretieren. Epistemische Dinge befinden sich stets im Fluß, im Werden: „Keiner der Experten dachte offensichtlich daran, dieser neuen Verunreinigung eine Funktion zuzuweisen. Sie wurde als ‚Abfall‘ betrachtet, genauso wie wenige Jahre zuvor die spätere Transfer-RNA als Kontamination des Enzymüberstands angesehen worden war. Solche Zuschreibungen sind charakteristisch für neu auftauchende epistemische Dinge.

60 Das ganze Buch (Rheinberger 2001a) ist kapitelweise abwechselnd Forschungserzählung und theoretische Reflexion.

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Sie gewinnen eher durch dekonstruierendes Herumprobieren Bedeutung als durch geradliniges Konstruieren und gezieltes, präzises Eingreifen.“ (Rheinberger 2001a, S. 215 f.)

Diese Beweglichkeit der epistemischen Dinge scheint dem traditionellen Dingbegriff zu widersprechen. Aber dennoch ist explizit von Dingen die Rede.  Dinge Daß Rheinberger weniger vom Erkenntnisobjekt und mehr von epistemischen „Dingen“ spricht, verdeutlicht meiner Meinung nach gut den neuen Dingbegriff in der Wissenschaftsforschung. Im Unterschied zu „dem“ Erkenntnisobjekt treten epistemische Dinge nicht nur in der Mehrzahl auf, sondern sind auch materialer, dinglicher. Dieser Dingcharakter wird bei Rheinberger selbst erst nach und nach betont; so heißt es manchmal auch „epistemisches Objekt“, oder es werden gar „Forschungsgegenstand, Wissenschaftsobjekt“ als nahezu synonym mit dem epistemischen Ding betrachtet (Rheinberger 1992, S. 70). Erst in dem Buch zu Experimentalsystemen (Rheinberger 2001a) gewinnt der Ding-Begriff eine deutliche Betonung und Selbständigkeit. In einem nachfolgenden Kommentar (Rheinberger 2001b) reflektiert der Autor explizit über die Frage, warum er im Zusammenhang mit den experimentellen Wissenschaften lieber von epistemischen Dingen oder von Wissensdingen als von wissenschaftlichen Objekten spricht. Und seine Antwort lautet, daß ein Erkenntnisobjekt eine ganze cartesische Epistemologie mit einem Erkenntnissubjekt heraufbeschwöre, worin der Gegenstand als Gegenüberstehendes bestimmt werde. „Das epistemische Ding hingegen ist dasjenige, worauf der Experimentator nicht frontal starrt, was er dagegen eher im Augenwinkel behält, worauf er also merkt, womit er im Experiment umgeht“ (Rheinberger 2001b, S. 61). Es ist also beiläufiger, das epistemische Ding, lokaler als ein Erkenntnisobjekt, auch zuhandener, wenn man an den Umgang mit ihm im Experiment denkt. Darin liegt eine Nähe zu den Quasi-Objekten. Im Unterschied zu diesen zirkulieren epistemische Dinge jedoch nicht in Netzwerken, sondern werden innerhalb des relativ stabilen Rahmens der Experimentalsysteme „artikuliert, verbunden, getrennt, zurechtgeschoben und auch wieder verschoben“ (Rheinberger 2001a, S. 34). Doch wie verhalten sich die epistemischen Dinge zu, sagen wir, allgemeineren Objekten des Forschens wie etwa Genen? Je näher man dem Labortisch kommt, desto spezifischer und dinglicher wird das Erforschte und zu Erforschende, während „die“ Gene verblassen und in einem durchaus vieldeutigen

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Hintergrund selbstverständlicher Annahmen verschwimmen; wie beispielsweise der, daß es Gene gibt.61 Zwar kann das am Labortisch Erforschte verallgemeinert werden, dennoch scheint es mir wenig sinnvoll, in einem von jeder konkreten Forschung absehenden Sinn vom Forschungsobjekt oder Referenten eines wissenschaftlichen Begriffs zu sprechen.62 Hier könnte man unterscheiden zwischen der – akzeptablen – äußeren Realität bzw. Exteriorität des Referenten (und allgemeiner der Dinge) und der – erzwungenen – Vereinheitlichung aller Referenten unter dem Oberbegriff der „Natur“ oder sogenannten „Außenwelt“.63 In einem fast schon trivialen Sinn kann man freilich von Untersuchungs-, Forschungs- und Wissensobjekten sprechen (was Rheinberger auch tut), nämlich von Objekten als Gegenständen von Untersuchung, Forschung und Wissen. Oder von Experimentalobjekten, da Gegenstand von Experimenten (Rheinberger 2006, S. 221).

Materiale Darstellung Epistemische Dinge „oszillieren zwischen verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten“ (Rheinberger 2001a, S. 216). Denn ein Experimentalsystem bildet auch einen Darstellungs- und Repräsentationsraum. So wenn die Forscher versuchen, die in der Zelle (in vivo) ablaufenden Prozesse im Reagenzglassystem (in vitro) noch einmal ablaufen zu lassen, zu re-präsentieren. Hier ist Repräsentation als materiale Repräsentation in einem komplexen Darstellungsraum zu verstehen: „Der repräsentationale Kontext ist zunächst einmal nicht die Abbildung auf dem Papier, sondern das experimentelle Arrangement, in dem das betreffende Ding dazu gebracht wird, sich mit einer seiner Eigenschaften an der Veranstaltung zu beteiligen, die man mit ihm auf dem Labortisch anstellt.“ (ebd., S. 55 f.) Unter Repräsentationen oder Darstellungen werden hier reale, materiale Prozesse oder Veranstaltungen verstanden. In der Chemie hat das Wort „darstellen“ durchaus auch die Bedeutung, einen chemischen Bestandteil herauszupräparieren, einen Stoff zu gewinnen, herzustellen, zu „realisieren“, und Rheinberger

61 Der Genbegriff wird auch von den Genetikern gar nicht so klar und deutlich definiert, kann es vielleicht nicht einmal werden. So Rheinberger in der kurzen Geschichte des Genbegriffs, die sich in Rheinberger 2006, S. 221 ff., findet. 62 Zur Einordnung der „lokaleren“ Wissenschaftsgeschichte von Experimentalsystemen in einen größeren historischen Zusammenhang siehe Rheinberger 2006, S. 17 f. Zur Auseinandersetzung um die Frage des „Referenten“ wissenschaftlicher Begriffe siehe unten die Auseinandersetzung mit Bloor („Eine dualistische Kritik“). 63 Vgl. Latour 2001a, 2007b. Ich komme darauf in Kap. 2.1, 3.2 und 4.1 noch einmal zurück.

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greift diese Bedeutungsnuance bewußt auf. Neben der materialen Darstellung unterscheidet er noch zwei weitere Bedeutungen von Repräsentation: zum einen Verkörperung, zum anderen Stellvertretung des Dargestellten. Bei der Verfertigung von Erkenntnis spielen alle drei Repräsentationstypen – Darstellung, Verkörperung und Stellvertretung – in wechselnden Konstellationen eine Rolle. Für Rheinberger ist Wissenschaft in Aktion ein Vorgang, „in dem ständig Repräsentationen erzeugt, verschoben und überlagert werden, und zwar im Sinne der eben erwähnten verschiedenen Bedeutungen von Repräsentation“ (ebd., S. 110 f.). Daraus kann man zwar auch folgern, daß wir in der wissenschaftlichen Erkenntnis das Repräsentierte als solches nicht zu fassen bekommen, sondern nur vertreten, verkörpert oder realisiert von etwas anderem. Doch für wichtiger halte ich, daß die dualistische Problematik hier unterlaufen und in eine Vielzahl von materialen und semiotischen Darstellungsformen und -prozessen ausdifferenziert wird. Das klassische erkenntnistheoretische Drama, in dem Wirklichkeit, Natur, realer Prozeß, Objekt auf der einen Seite steht, Repräsentation, Gesellschaft, Vorstellung, Subjekt auf der anderen, wird dem Forschungsprozeß, der Erkenntnis in Aktion nicht gerecht. Hier finden wir beispielsweise verschiedene Wirklichkeiten, die füreinander (ein)stehen: Die Prozesse in vitro repräsentieren die Prozesse in vivo. Oder: Erst ist das Repräsentierende da, dann wird durch Experimente, experimentelles Herumprobieren herausgefunden, wofür genau es steht. Daß solche Repräsentationen wenig zu tun haben mit kognitivistischen Erkenntnistheorien, ist offensichtlich. Dort geht es um Repräsentationen im Erkenntnissubjekt oder im Gehirn, die Welt oder Objekte repräsentieren sollen. Hier dagegen um Repräsentationen im Forschungsprozeß, in Forschungspraktiken, zu denen auch semiotische Prozesse im weitesten Sinne gehören.64 Repräsentation ist stets Re-Repräsentation, also wiederholte, erneuerte Repräsentation, die sich nicht in einem abgeschotteten subjektseitigen symbolischen Raum, sondern zwischen Forschenden, Mit-Forschenden und Dingen abspielt, von denen manche als Zeichen fungieren.65

64 Zwar sind an diesen auch Menschen, und damit Gehirne und Bewußtseine beteiligt, die aber nur im gesamten Konzert von epistemischen Dingen, Inskriptionen etc. mitspielen. Man kann also – wie Rheinberger – durchaus den Repräsentationsbegriff verwenden, ohne deswegen eine repräsentationalistische, cartesianische Erkenntnistheorie zu vertreten (s.u. Kap. 3.2). 65 Rheinberger 1997, S. 273. Vgl. auch Latour 1996c, Rheinberger 2001a, S. 191 ff.

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Differenz und Dinglichkeit Man könnte die ganze Geschichte auch etwas anders erzählen: Epistemische Dinge sind neu, überraschend, unerwartet, weil sie eine Differenz ins Spiel bringen, sie sind womöglich sogar identisch mit einer neuen signifikanten Differenz; so daß man eher von „epistemischen Ereignissen“ sprechen müßte.66 Vielleicht droht dann aber ein Konflikt zwischen einer Ding- und einer Ereignisontologie.67 Rheinberger versucht das Problem genetisch zu lösen. Zunächst sind die epistemischen Dinge ereignishaft: Sie tauchen auf als Störung oder Rauschen, als Differenz oder Differential, und werden robust, dinghaft, indem und während sie in den reproduktiven Zyklus eines Experimentalsystems hineingezogen und einbezogen werden. Erst ist da die Differenz, dann kommen nach und nach dingliche Robustheit und Rekurrenz desselben Dings. „Ein epistemisches Ding wird dadurch robust, daß es, nachdem es als Differential aufgetaucht ist, in den reproduktiven Zyklus eines Experimentalsystems einbezogen werden kann. Die Bedeutung eines epistemischen Dings leitet sich aus seiner Zukunft her, die zur Zeit seines Auftauchens jedoch nicht vorhersagbar ist. Epistemische Dinge sind somit inhärent historische Dinge; ihre Dingfestigkeit ergibt sich aus solcher Rekurrenz.“ (Rheinberger 2001a, S. 78).

Die epistemischen Dinge haben eine eigentümliche Zeitlichkeit, sind inhärent historische Dinge: Sie weisen vor auf das, was sie einmal sein werden, gewinnen ihre Bedeutung aus der Zukunft und werden sich nachträglich als etwas anderes herausgestellt haben. Dieser zeitliche Looping, diese „konstitutive Nachträglichkeit“ (Rheinberger 1999, S. 276) macht deutlich, daß sie werdende, passagere,

66 Rheinberger 2001a, S. 50, S. 43 f., S. 108. Zu dieser an Derrida orientierten differentiellen Sicht auf die epistemischen Dinge vgl. ebd., S. 76-87. Auch in der Sekundärliteratur zu den epistemischen Dingen werden diese bisweilen dekonstruktivistisch gedeutet, wie von Sarasin 2004, S. 260 f. Und Carqué 2004, S. 59, meint, epistemische Dinge seien Dinge, die in Experimentalsystemen „erst eigentlich konstituiert werden“. Die Rede von der „Konstitution“ der Objekte oder der Dinge erscheint mir als eine sehr subjektivistische bzw. sozialkonstruktivistische Redeweise. 67 Vielleicht nur, wenn man unter Ontologie die Bestimmung von letzten Bestandteilen der Wirklichkeit versteht. Hier geht es um die Seinsweise der im Labor in Erscheinung tretenden Entitäten, und zu diesen gehört sowohl ihr Ereignis- als auch ihr DingCharakter. Die beiden Seiten machen keine Probleme in einer pluralistischen Ontologie (mehr dazu s.u. Kap. 2.1). Latour hat seinerseits versucht, diese Ontologie mit der Stabilisierung von Performanz zu Substanz zu beschreiben (Latour 1996c) und die stabilisierten Substanzen wiederum mit dem Begriffspaar Proposition/Artikulation (Latour 2000, S. 175 ff. sowie Glossar).

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transitorische Dinge sind – irgendwo zwischen Ereignissen und „dingfest“ gemachten Objekten. Die Frage stellt sich, ob das letztlich Erkannte etwas Dingliches ist oder nicht. Einerseits nicht, denn das epistemische Ding im Moment der Erkenntnis ist Ereignis, signifikante Differenz, die sich aber nach und nach stabilisiert, alltäglicher wird und damit ihren Signifikanz- und Ereignischarakter verliert.68 Andererseits ist es etwas Dingliches, wofür die folgenden Zitate sprechen: die Ribonukleinsäure als „handfestes epistemisches Objekt in ihren Reagenzgläsern“ (Rheinberger 2001a, S. 98) oder „das Leben eines einzigen Moleküls in seinen verschiedenen Stufen und Stadien als ein epistemisches Ding“ (ebd., S. 14), oder auch: mikroskopische Präparate „als eine neue Form dauerhaft gemachter epistemischer Dinge“ (Rheinberger 2006, S. 319). Ich denke, daß man diesen Konflikt nicht zuspitzen muß. Es lassen sich die konstitutive Nachträglichkeit und die werdende, passagere Seinsweise der epistemischen Dinge mit den verschiedenen Phasen des Objekts im Prozeß der Erkenntnis oder Forschung zusammenbringen.69 Erkenntnis ist ohnehin als Ereignis, als Differenz nicht zureichend bestimmt. Erkenntnis ist zwar auch stets Ereignis und nicht bloßes Konstatieren eines trivialen Wahrheitsgehalts, aber eben auch ein Erkenntnisereignis, ein Erkenntnisgewinn.70 Wenn die epistemischen Dinge schließlich erkannt sind, oder anders gesagt: kaum noch Überraschendes bieten, wenn ihre Bedeutung feststeht, sie vorhersehbar und beherrschbar geworden sind, können sie als „technische Dinge“ Bestandteil eines Experimentalsystem werden, auf der Suche nach neuen, anderen epistemischen Dingen.71 Der Begriff der epistemischen Dinge ist demnach differentiell: Neuheit, Überraschung gehören konstitutiv zu einem epistemischen Ding dazu; epistemische Dinge sind solche nur, solange sie neu, überraschend und signifikant sind.

68 „Letztlich“ löst Rheinberger den Konflikt zwischen Ereignis- und Dinghaftem zugunsten des Graphematischen auf: „Epistemische Dinge sind Artikulationen von Graphemen“ (Rheinberger 1999, S. 273). Letztlich, das heißt wenn man diese Frage zuspitzt und die Texte daraufhin ausfragt. Aber ich glaube nicht, daß sich die komplexe Argumentation Rheinbergers auf diese „Ebene“ reduzieren läßt. 69 Wie sie vor allem Dewey entwickelt, s.u. „Eine dualistische Kritik“. 70 Mehr dazu s.u. Kap. 3.2. 71 Zu den technischen Dingen genauer: Rheinberger 2001a, S. 24 ff, besonders S. 27, sowie S. 70, S. 108.

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Eine dualistische Kritik Gerade die Pointe am Begriff der epistemischen Dinge, also das Veränderliche daran, ihr passageres, transitorisches Dasein, hat David Bloor (2005) kritisch kommentiert. Was an den epistemischen Dingen als veränderlich erscheint, so seine Argumentation, ist in Wahrheit unser Blick auf sie. Sie sind gewissermaßen immer schon da, sie werden entdeckt, und in dieser Entdeckung changieren unsere Zugriffsweise, unsere Vorstellungen, Darstellungen von ihnen. Das epistemische Ding als solches kann nur zur unveränderlichen äußeren Wirklichkeit gehören, auf die man sich „ostensiv“, zeigend bezieht.72 Zwei Seiten des epistemischen Dings hält Bloor also streng auseinander: seine schwankende, prozeßhafte Seite und seine materielle, dinghafte. Erstere schlägt er dem Sozialen und dem erkennenden Subjekt zu, letztere der zu erkennenden bzw. erkannten „Natur“.73 Solange die Forschung noch im Gang ist, erscheinen demnach die epistemischen Dinge als veränderlich, in Wirklichkeit aber verändern sich bloß die Vorstellungen der Forscher von ihnen. „Zu sagen, daß epistemische Objekte eine fragile und fluktuierende Existenz haben, heißt (in Wahrheit), daß unser Verständnis ein fluktuierendes und veränderliches Ding ist: Der flüchtige Status der einen ist nur eine Ausdrucksweise, um die Instabilität des anderen zu beschreiben.“ (Bloor 2005, S. 311) Letztlich vertritt Bloor die bekannte erkenntnistheoretische Position, die von einer vorgängig und unabhängig von der Erkenntnis bestehenden Wirklichkeit als Dreh- und Angelpunkt ausgeht. Damit einher geht eine dualistische Klassifizierung der Entitäten dieser Welt: Einerseits gibt es soziale Realitäten, die gleichsam per sozialem Dekret selbstreferentiell für wirklich erklärt, konstruiert werden (ein Vertrag, die Mitgliedschaft in einer Gruppe), andererseits gibt es natürliche Realitäten wie Bäume und Felsen, auf die man sich referentiell, zeigend beziehen kann.74 Selbstreferenz definiert gesellschaftliche Sachverhalte; Referenz tout court verweist auf Natur. Was originell am Begriff der epistemischen Dinge ist, wird damit als „sozial“ dekonstruiert: Epistemische Dinge sind im Grunde gesellschaftliche Kompo-

72 „Ostension“ ist Bloors Begriff für dieses Zeigen: Bloor 2005, S. 300 ff. Rheinberger weist in seiner Replik darauf hin, daß epistemische Dinge gerade oft solche Dinge sind, auf die man „noch nicht“ zeigen kann: Rheinberger 2005, S. 407. 73 Auf S. 309 in Bloor 2005 findet sich der klassische Begriffsgegensatz „culture and nature“. 74 „Membership“ im Unterschied zu „trees and rocks“: Bloor 2005, S. 291 f. Bloor identifiziert unabhängige Realität mit Natur, und die Objekte, Dinge oder Quasi-Objekte, von denen Latour spricht, entweder mit Naturobjekten oder aber mit gesellschaftlichen Vorstellungen, vgl. Bloor 1999, S. 86.

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nenten des Forschungsprozesses (ebd., S. 293). Der Rest wird auf wissenschaftliche Objekte reduziert, und diese wiederum auf Lehrbuchobjekte (etwa Sauerstoff vs. Phlogiston) (ebd., S. 310 f.). Auch die eigentümliche Verschränkung von epistemischen Dingen und Begriffen wird von Bloor zurückgewiesen. Wie kann, fragt er, ein (epistemisches) Ding einen Begriff „verkörpern“? Und postuliert das Entweder-Oder einer dualistischen Ontologie, diesmal zwischen Sprache und Welt: Entweder ist etwas ein Begriff, damit sprachlich, menschengebunden und gesellschaftlich-normativ, oder es gehört zur „materiellen Realität in unserer Umgebung“ (ebd., S. 291).75 Worauf Rheinberger erwidert, daß „der Begriff in die Erkundung des epistemischen Dings verschränkt [nested into]“ sei (Rheinberger 2005, S. 408); was er am Beispiel eines Virus illustriert, den man als ein Molekül oder als ein Genom begreifen könne. Diese zwei verschiedenen Begriffsweisen sind aber gleichzeitig auch verschiedene experimentelle Zugriffsweisen. Schon vor langer Zeit hat Dewey die in Bloors Argumentation zum Ausdruck kommende dualistische Haltung kritisiert, nach der nur das Unveränderliche wahr sein könne, je unveränderlicher, desto wahrer.76 Das, was erkenntnistheoretisch so einfach als Erkenntnisobjekt bezeichnet wird, ist keineswegs so einfach und keineswegs so einfach konstatierbar oder zeigbar. Was erkannt werden soll, erkannt werden wird, erkannt worden ist, ist nicht zwangsläufig dasselbe.77 Man kann demnach unterscheiden zwischen Objekten wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlich erkannten Objekten. Die epistemischen Dinge ließen sich als eine Phase in diesem Prozeß begreifen. Die Mißverständnisse rühren daher, daß man von einer konstativen Erkenntnisvorstellung aus verschiedene Aspekte oder Phasen des Erkenntnisprozesses (oder Erkenntnisobjekts im weiteren Sinne) zusammenzieht oder eine ein-

75 Das ist ein klassisches Mißverständnis bzw. irreführendes Argument ausgehend von einer dualistischen Ontologie. Zur materiellen Realität in unserer Umgebung gehören natürlich nicht nur Bäume und Steine, sondern auch Zeitungen, Bücher und Computer, aber irgendwie scheint die materielle Realität Naturalität zu suggerieren bzw. etwas Analoges zu bedeuten. 76 Zum Beispiel Dewey 1995, S. 62 und S. 67. 77 Im Hinblick auf eine problematische Situation führt Dewey die Begriffstrias (a) (Erkenntnis-)Substrat, das heißt die problematische Situation, (b) (Erkenntnis-) Gegenstand und (c) (Erkenntnis-)Inhalt ein, wodurch sich der allzu pauschale Begriff eines Erkenntnisobjekts differenzierter fassen läßt. Differenziert wird damit zwischen (a) der Ausgangssituation, in der das Problem auftaucht, (b) dem in dieser Situation Realen und (c) „allem, was an der realen Welt in instrumentellen und zur Lösung des ursprünglichen Problems geeigneten Begriffen erkannt wird.“ (Margolis 2004, S 162)

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zelne daraus isoliert betrachtet. Auf das erkenntnistheoretische Dilemma, etwas entweder im (Gesellschafts)Subjekt oder in der objektiven Außenwelt zu verorten, werde ich des öfteren zurückkommen.78

Außerhalb des Labors Anders als Quasi-Objekte und Grenzobjekte lassen sich epistemische Dinge kaum als alltägliche Gebrauchsgegenstände oder technische Objekte vorstellen. Erst stabilisiert und handhabbar gemacht, das heißt keine Überraschungen mehr bietend, können sie auch außerhalb des Labors Verwendung finden. Damit haben sie aber per definitionem aufgehört, epistemische Dinge zu sein. Epistemische Dinge verlassen das Labor nicht, es sei denn als technische Dinge.79 Gleichwohl wird bisweilen versucht, den Begriff der epistemischen Dinge auch für Dinge außerhalb des Labors zu entlehnen. Karin Knorr Cetina greift darauf zurück, um die Offenheit und Entfaltbarkeit von „Wissensobjekten“ zu charakterisieren (Knorr Cetina 1998, S. 95, S. 99 f.). Diese bezeichnen zunächst die Wissensobjekte von Experten, dann aber auch diesen vergleichbare epistemische Alltagsgegenstände wie etwa Computer (ebd., S. 114). Auch Helga Nowotny sieht die epistemischen Dinge außerhalb des Labors zirkulieren und vermutet, daß an die Stelle der Experimentalsysteme hier Institutionen treten, um die epistemischen Dinge „auf ihrem langen und niemals geradlinigen Weg“ zu begleiten, bis sie zur technologischen „Innovation“ werden (Nowotny 2005, S. 85, S. 89). Dieser, wenn man so sagen darf, Marsch der epistemischen bzw. technischen Dinge durch die Institutionen ließe sich sehr gut mit Hilfe des Übersetzungsbegriffs beschreiben und analysieren, wie Latour ihn entwickelt hat. Oder auch mit der Netzwerkbegrifflichkeit, um die Verbreitung oder Zirkulation wissenschaftlicher Objekte außerhalb des Labors oder des eng umschriebenen Bereichs der Wissenschaft zu fassen.80 Gleichwohl lassen sich epistemische Dinge schwerlich als Zirkulate in einem solchen Netzwerk vorstellen, allenfalls als Ausgangspunkte von Übersetzungsprozessen. Denn sie sind auf den passageren, ereignishaften Erkenntnisprozeß und den experimentellen Rahmen (das „Experimentalsystem“) angewiesen und

78 Vor allem in Kap. 2.1; kursorisch auch in 3.2 („Cartesianischer Realismus“). 79 Die epistemischen Dinge betreffen RNA-Fraktionen, aber beispielsweise keine Ultraschall- oder Tomographie-Bilder, sofern diese nicht in der Forschung eingesetzt werden. 80 Denn Netzwerke verändern das Verbreitete, sie übersetzen es (vgl. Latour 2000, S. 381).

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untrennbar von der Veränderung, die das Erkennen hervorruft bzw. die Erkennen ist.81

1.6 D INGE

NEU KONZEPTUALISIERT : KONKRET , PLURAL , UNREIN , WERDEND , PROBLEMATISCH , NETZIG

Nachdem ich einige neue Begriffe für Dinge und Objekte vorgestellt habe – Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, technische Gegenstände und epistemische Dinge –, will ich zum Abschluß dieses Kapitels einige gemeinsame Züge der von ihnen erfaßten, mit ihnen konzipierten Dinge kurz hervorheben: 1. Sie sind konkret: Viele Untersuchungen im Bereich der Wissenschafts- sowie der Technikforschung beschäftigen sich mit spezifischen, konkreten Gegenständen, die Herangehensweise ist oft historisch, empirisch.82 Nicht „der“ wissenschaftliche oder Erkenntnis-Gegenstand in der Einzahl und im allgemeinen wird thematisiert. Darin liegt mehr als Empirismus oder historisches Interesse in der gewöhnlichen Bedeutung der beiden Begriffe. Es zeichnet sich vielmehr ein Kontrastprogramm zur klassischen Wissenschaftstheorie ab, aber auch zur strukturalistischen Denkweise, wonach das Einzelne seine Bedeutung von der Struktur, vom System, vom Ganzen, das Besondere vom Universalen, Allgemeinen zugewiesen bekommt. Hier erhält sogar umgekehrt manchmal das Ganze seine Bedeutung vom Teil, von der konkreten Verwirklichung im Einzelnen her.83 2. Sie sind viele: Die neuen Dinge, Objekte sind multipel, plural; nicht von dem Erkenntnisobjekt, sondern von epistemischen Dingen ist hier die Rede, nicht von

81 Vgl. Dewey 2004, S. 181. 82 Beispiele: Latour 1992, Kittler 1986, Rheinberger 2001a, die Fallstudien in Pickering 1995, Latour 2000, Rammert/Schubert 2006. 83 Dem dürften in dieser pointierten Form gewiß nur manche der zitierten Autoren zustimmen, etwa Latour 2005a oder Simondon 1989. Letzterer vor allem durch die zentrale Stellung der Konkretisierung. Auch daß die technischen Elemente Träger von Technizität sind, paßt in dieses Bild. Hier besteht auch eine Verbindung zu Gabriel Tarde, der die Vorstellung von einerseits assoziierten Elementen, andererseits sie steuernden Gesetzen bzw. Stukturen thematisiert und sich auf die Seite der Elemente stellt. Vgl. dazu Latour/Lépinay 2010, S. 46, sowie Latour 2009b.

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dem Ding an sich, sondern von Quasi- und Grenzobjekten; von Anfang an treten die neuen Dinge oder Objekte zu mehreren auf. Damit ändern sich manche Fragestellungen: Wenn man von der Vielheit der in Gesellschaft kursierenden technischen (Quasi-)Objekte ausgeht, lassen sich die Frage des Technikdeterminismus und seine Gegenposition nicht einmal mehr zureichend formulieren. „Die“ Technik als einwirkend auf „die“ Gesellschaft oder umgekehrt – schon allein mit dieser Fragestellung werden viele Pseudoprobleme geschaffen. Vielheit bedeutet hier zunächst: Anstelle mit „der“ Technik sich mit den technischen Gegenständen beschäftigen. Das können großtechnische Anlagen sein, aber man sollte auch die vielen relativ kleinen handlichen Geräte, Dinge, Artefakte nicht aus dem Blick verlieren, die außerdem meist eine Vielzahl von Verwendungsweisen zulassen. Die Vielheit der Objekte im epistemischen und kognitiven Bereich, also die Zurückweisung „des“ Erkenntnisobjekts oder Dings-an-sich als zu groben Abstraktionen führt zum anderen zu einer differenzierteren Beschreibung und Analyse des wissenschaftlichen Forschungsprozesses, wie im Falle der Grenzobjekte und epistemischen Dinge ansatzweise dargestellt. 3. Die neu konzipierten Dinge sind unrein, heterogen, hybride, Mischwesen; um rein oder objektiv im Sinne einer Objektivität zu werden, müssen sie in komplizierten Prozeduren gereinigt, purifiziert, zugerichtet werden. Oder sie sind unrein im buchstäblichen Sinne: Müll, Abfall, sperriges Zeug. 84 Quasi-Objekte, Grenzobjekte, technische Objekte und epistemische Dinge lassen sich nicht dualistisch der Welt oder dem Geist (Subjekt, Gesellschaft …) zuschlagen, sondern ein epistemisches Ding ist etwa die Verkörperung eines Begriffs; es ist changierend, passager, werdend, möglicherweise von einem Existenzmodus zum anderen unterwegs. Dies gilt erst recht für technische Objekte (oder Projekte), die differente Materialien und Akteure einbinden. 4. Sie sind im Werden begriffen, entwickeln eine gewisse Eigendynamik, haben eine Geschichte. Zwar stehen Eigendynamik, Werden und Geschichte der Dinge zum Statischen und zur starren Identität in Kontrast, sind aber zu unterscheiden. Die vielbeschworene Eigendynamik der Dinge hat eher mit der Zeitlichkeit des Dauerns, des Beharrens, des Bleibens zu tun, die für viele (physischhaptische) Dinge so typisch ist. Sie wird etwa daran deutlich, daß Steine und Bäume, daß Gebrauchsgegenstände, Gebäude, Kunstwerke die Lebensspanne ei-

84 Mit Müll und Abfall beschäftigt sich vor allem Thompson 1981, ich mich nur am Rande.

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nes Menschen weit überragen können. Damit kommt ihre Geschichtlichkeit ins Spiel, ihr Anteil an Tradition und Tradierung und die Möglichkeit, daß sie Jahrhunderte später als Boten aus einer anderen Zeit auftauchen können. 85 Weiterhin gibt es die Zeitlichkeit der technischen Gegenstände im Sinne eines Werdens, das zu ihnen dazugehört. Für Simondon besteht es in der Entwicklung der technischen Objekte als Individuen und Ensembles, in denen die technischen Elemente ihr transduktives Spiel treiben (und insofern überschneidet es sich teilweise mit ihrer Geschichtlichkeit). 5. Sie sind netzig:86 Die neuen Dinge sind netzwerkartig, netzförmig, vernetzt oder vernetzend; sie bahnen Netzwerke, zirkulieren darin oder stellen deren lokale Knoten dar. Allerdings ist etwa das Verhältnis zwischen den filigranen Verästelungen der Netze und stabilisierten, stabilen Objekten eine interessante offene Frage, besonders, wenn man an physisch-haptische Dinge denkt (dazu genauer Kap. 2.5). Die Netzwerke unterhalten ein eigentümliches Verhältnis zur Zeit, denn sie können in die Vergangenheit hineinragen.87 Aber natürlich auch in die Zukunft, denn auf die Frage, wie Neues auftauchen (oder emergieren) kann, ist ebenfalls das Netzwerk, genauer das AkteurNetzwerk der Versuch einer Antwort, da es durch neue Kombinationen, Assoziationen sich vorwärtsbewegt. 6. Die thematisierten neuen Dinge sind problematisch: nicht zwangsläufig sicher, nicht mit festen Umrissen versehen, aber auch gesellschaftlich problematisch, wie etwa Gene, Genome, Ozonloch, Prionen. Sie sind umstritten, in Zukunft und in Diskussion geworfen. Dies gilt offensichtlicher für wissenschaftliche und technische Objekte. Vielleicht aber läßt es sich auch erweitern auf physisch-haptische Dinge. Daß diese scharf umrissene Grenzen haben müssen, mag ja nur eine bestimmte Dingvorstellung sein, die man zwar gemeinhin dem „All-

85 Mit der eigenen Zeitlichkeit und Geschichte von Dingen hat sich George Kubler (1982) beschäftigt. Dieser interessante kunsthistorische Ansatz, der neben Kunstwerken auch Gebrauchsgegenstände einbezieht, scheint meine Argumentation vor allem hinsichtlich der beharrenden Eigendynamik von Dingen zu stützen. 86 Wenn man mir denn diese scheinbar saloppe Wortschöpfung verzeiht, die aber eine alte Wortbedeutung aufgreift; sie findet sich im Grimmschen Wörterbuch s.v. netzig, netzicht, was als „netzartig“ definiert wird. (Grimm/Grimm 2004, Bd. 13, Sp. 642.) 87 Vgl. Cuntz 2009, S. 37, wo der Autor hervorhebt, daß durch Netzwerke die „landläufige Vorstellung der ‚Zeitgenossenschaft‘ in Frage gestellt“ wird.

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tagsverstand“ zuschreibt, die sich aber viel eher an einem Muster logischer Identität oder einem philosophischen Substanzbegriff orientiert.88 Und: Vielleicht waren Dinge, auch die alten, schon immer so – konkret, unrein, multipel, werdend, netzig, problematisch. Wir können also nicht so einfach von ihrem Mit-sich-Identisch-Sein ausgehen, zumindest nicht im Sinne einer starren Substanz oder logischen Identität. Die aufgezählten Züge finden sich bei den dargestellten Dingbegriffen in unterschiedlicher Form und Ausprägung. So scheinen die epistemischen Dinge wenig mit Netzwerken zu tun zu haben, doch übernehmen hier die Experimentalsysteme eine vergleichbare Funktion.89 Gemeinsam ist allen besprochenen Ansätzen, daß sie die Dinglichkeit betonen. Das heißt, sie lösen Dinge nicht auf (in Prozesse, Bewußtsein, subjektive Kategorien), sondern berücksichtigen oder betonen ihr Dingsein. Doch sie dynamisieren oder verzeitlichen auch den Dingbegriff, denn die neuen Dinge erweisen sich als werdend, historisch und vernetzend, vernetzt oder netzig. Damit endet die Führung durch die Galerie neuer Dingbegriffe. Aus ihren aufgezeigten Gemeinsamkeiten geht hervor, daß sie nicht bloß Worte, Begriffe der erkennenden Subjekte (oder gar nur Repräsentationen in deren Hirnen) sind, sondern daß sie die Aufmerksamkeit auf die oder auf bestimmte Dinge lenken. Von der für mein Thema etwas zu engen Frage der Begrifflichkeit löse ich mich im folgenden. Ab jetzt soll es um Dinge in Sozialität und in Kognition gehen. Mit welchen Begriffen wir ihre Verwicklung oder Beteiligung jeweils erfassen, ist eine andere Frage, die zwar nicht ad acta gelegt wird (von Aktanten, Inskriptionen und kognitiven Medien wird noch die Rede sein), aber ein wenig in den Hintergrund treten soll.

88 Daston (2004, S. 20) thematisiert die festen Umrisse, die sie der „Common-sense thing-ontology“ zuschreibt. Knorr Cetina (2001, S. 184) hebt die „non-identity with themselves“ von epistemischen Dingen (sie spricht von „epistemic objects“) hervor, die sie mit den Alltagsvorstellungen von materiellen Dingen kontrastiert. Aber die Frage ist, ob die Alltagsvorstellungen nicht eher divers sind und keineswegs alle auf die strenge Identität eines materiellen Substrats verpflichtet werden können. Hier steht vermutlich der philosophische Substanzbegriff Pate, der nach dem Muster von Dingen mit wesentlichen vs. akzidentiellen Eigenschaften gedacht ist. Auf den Substanzbegriff komme ich in Kap. 2.5 zu sprechen („Kurzer Exkurs zum Substanzbegriff“). 89 Experimentalsysteme können sich zudem zu größeren Experimentalkulturen „vernetzen“ (Rheinberger 2001a, S. 244); auch von einem „experimentellen Netzwerk von Objekten und Praktiken“ ist in diesem Zusammenhang die Rede (ebd., S. 148). Vgl. dazu Hoffmann 2009, S. 129 ff.

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Hier könnte man noch einmal daran erinnern, daß wir differenzieren müssen zwischen den neuen Begriffen für die (neuen und die alten) Dinge und manchen neuen Dingen. Eine Differenzierung, auf die etwa Rammert und SchulzSchaeffer (2002, S. 28 ff.) hinweisen, wenn sie fragen, ob Theorien, die Dingen Handlungsträgerschaft unterstellen, sich auf jede Technik (wie bei Latour) oder nur auf avancierte Technologien beziehen. Ein Merkmal der neuen Dingbegriffe, das in meiner Aufzählung fehlt, faßt in gewissem Sinn alle bereits erwähnten zusammen. Dinge sind in irgendeiner Weise aktiv und nicht bloß passive Klumpen von Materie,90 denen gesellschaftlich, psychologisch oder sprachlich Leben eingehaucht wird. Dinge agieren und/oder sind aktiv: im Werden, in ihrer Geschichtlichkeit, in ihrer problematischen, nicht per se fest umrissenen Existenz, sowie in ihrer Netzwerkhaftigkeit. Auch Konkretheit, Heterogenität und Vielheit verweisen zumindest auf eine gewisse Unruhe seitens der Dinge, durch die sie dem allzu festen Zugriff womöglich entgehen. Mit dieser Aktivität der Dinge will ich nun zum nächsten Kapitel überleiten. Denn daß Dinge, oder bestimmte neue Dinge, aktiv sind, wurde vor allem in einer Hinsicht diskutiert: daß sie gesellschaftlich aktiv, gar gesellschaftliche Akteure sind, um nicht zu sagen, daß sie sozial handeln können.

90 Harman (2002, S. 146) spricht von „chunks of matter“ (Brocken von Materie) als einer falschen Vorstellung der Vorhandenheit, die Heidegger zurückweise. Aber auch Whitehead kommt immer wieder auf die von ihm zurückgewiesene Vorstellung einer lokalisierbaren passiven Materie als ontologischem Baustein zu sprechen, etwa in Whitehead 1990, S. 226, wo die Rede ist von der „kartesianischen wissenschaftlichen Lehre von den Materiestücken, die keinerlei inneren Wert haben“.

Kapitel 2. Sozialität mit Dingen „Könige fassen Türen nicht an. Sie kennen dies Glück nicht: sanft oder heftig eine dieser vertrauten Füllungen vor sich her zu schieben, dann sich umzudrehen nach ihr, um sie wieder zurechtzurücken, – eine Tür in den Armen zu halten.“ FRANCIS PONGE

Wie läßt sich das Miteinander von Menschen und Dingen in Gesellschaft, wie läßt sich gesellschaftliche Dingerfahrung genauer fassen? Selbst wenn Dinge und andere nicht-menschliche Entitäten aktiv oder tätig sind, wie etwa Maschinen, Vulkane, Roboter, Mikroben, genetisch veränderte Organismen – sind sie darum auch schon soziale Akteure? Vielleicht kann man zumindest manche unter ihnen als gesellschaftliche Akteure betrachten, dann aber verlangen sie eine Erneuerung der Soziologie. Jedenfalls bringen sie neues Handlungspotential mit sich, entfalten Akteurhaftigkeit, Aktionsfähigkeit und Inter-Aktivität oder, wie der nicht so einfach zu übersetzende englische Begriff lautet, agency. Zumindest müssen gern gehegte Vorstellungen von dem, was eine Gesellschaft ist, aufgegeben werden, wenn man Dinge gesellschaftsfähig macht.

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2.1 E INE S OZIOLOGIE

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Will man Dinge in die Gesellschaft einbeziehen, so braucht man „eine etwas andere Sozialtheorie“, wie Latour es einmal mit gewolltem Understatement formuliert hat.1 Die Vorstellung einer um Dinge ergänzten oder von ihnen durchsetzten Gesellschaft hat eine bisweilen heftige Debatte darüber entfacht, ob man Dinge als soziale Akteure betrachten kann und wieviel Eigendynamik, Eigenaktivität oder gar Intentionalität man ihnen zugestehen darf.2 Doch auch Zwischenstufen an Handlungsvermögen oder Handlungsmacht sind denkbar: Zweckmäßiges Handeln, teleologisches Handeln, optionales, sinnhaftes Handeln kann man unter Umständen Apparaten, Geräten, Automaten zusprechen; es sei denn wir reservierten das Wort „Handeln“ ausschließlich für freies, bewußtes, verantwortliches Handeln von Menschen. Andererseits ist die Frage „Können Computer denken?“ (haben sie Intelligenz?) allgegenwärtig, seit diese neuen Mitbewohner der sozialen Welt unter uns weilen. Ein verallgemeinerter Akteursbegriff ist zweideutig, solange man Handeln nicht näher bestimmt hat: Einerseits bedeutet er den Versuch, Dinge und Maschinen ins Gespräch, ins soziologische Gespräch, in die soziologische Debatte zu bringen; und so gesehen ist diese Verallgemeinerung des Akteursstatus ein voller Erfolg gewesen, vermutlich gerade aufgrund der provokanten Formulierung. Doch den Handlungsbegriff auf nicht-menschliche Entitäten auszuweiten, perpetuiert möglicherweise jene soziologistische Schieflage, die gerade behoben werden soll. Geht es doch zunächst darum, Dinge überhaupt in nennenswerter Form in Gesellschaft einzuführen oder anders formuliert: in die Soziologie einzubeziehen. Dazu muß man sie nicht zwangsläufig als soziale Akteure verstehen oder ihnen Handlungsfähigkeit zusprechen. Man sollte hier also differenzieren. Gegen eine kulturalistische und subjektivistische Soziologie wird erstens die Losung vorgebracht: Dinge zählen, auch sozial. Dazu genügt vermutlich, wenn Dinge – in Gesellschaft – im bescheidensten Sinn agieren können oder ihr Dasein in ir-

1 Latour 2000, S. 241. Mit den Begriffen „Kollektiv“ oder „Assoziation“ bezeichnet er eine Sozialität, die sowohl Menschen als auch nicht-menschliche Entitäten und Wesen umfaßt. Ich will mich dieser Terminologie im folgenden nicht anschließen, sondern spreche weiterhin von „Gesellschaft“ (anstelle von „Kollektiv“) und meine damit eine um Dinge und andere non-humans angereicherte, zunächst unbekümmert darum, was dies an Grenzüberschreitungen hinsichtlich eines rigiden Gesellschaftsbegriffs bedeuten mag. Ich komme darauf zurück (unter 2.5). 2 Latour 1996b, Rammert/Schulz-Schaeffer 2002a, Berger/Getzinger 2009.

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gendeinem Sinne zählt, ohne daß dies allein einer auf sie projizierten psychologischen oder ihnen zugeschriebenen sozialen Bedeutung geschuldet wird. Allerdings impliziert dies die Entwicklung neuer Begriffe, so daß man auch sagen könnte: Es geht darum, Dinge in begrifflich anspruchsvoller Form in die Soziologie einzubeziehen.3 Und zweitens geht es manchen darum, Dinge zu sozialen Akteuren aufzuwerten. Man kann also der ersten Losung zustimmen und die zweite ablehnen. Mit beiden werde ich mich in diesem Kapitel beschäftigen. Zunächst werde ich ganz allgemein die Frage der Dinge in der Soziologie und den Dualismus Natur/Gesellschaft behandeln (2.1) und anschließend spezieller die Eingemeindung der Dinge in die Soziologie durch den Handlungsbegriff erörtern (2.2). Als weitere Alternative, Dinge in Gesellschaft zu denken, diskutiere ich sodann den Begriff der Normativität (2.3), unter den sich auch zwei ältere Debatten in der Sozialtheorie der Dinge bringen lassen: Verdinglichung und Sachzwang; mit diesen Begriffen wird eine fälschliche Normativität der Dinge angeprangert (2.4). Eine weitere Begriffsalternative, um Dinge in die Gesellschaft einzubeziehen, nämlich Assoziation, erörterte ich anschließend (2.5) und beschließe das Kapitel, indem ich das Verhältnis zwischen Dingen und Gesellschaft in einer ersten Zusammenfassung kurz resümiere.

Roboter als Handlungsträger Daß das Handeln der Dinge als Skandal erscheint, ist einer dualistischen Zwangslage geschuldet, in die sich die Soziologie oder genereller die Sozialwissenschaften in ihren kulturalistischen Varianten gebracht haben – so lautet meine These, die ich in diesem Unterkapitel (2.1) genauer entfalten will. Auch wenn sie in dieser Form vielleicht nicht jeden überzeugen wird, so wird dennoch auf ihrem Hintergrund der sogenannte Symmetriebegriff (Latour 1995; Callon 2006) verständlicher und akzeptabler. Zumindest wird dabei das, was ich unter Dualismus verstehe (ein Begriff, den ich öfters verwende), klar definiert. Weiterhin werde ich einige Kritiken am Symmetrieprinzip zurückweisen (wie die von Collins/Yearley 1992a), insofern sie dessen Zusammenhang mit dem Dualismus nicht begreifen, ja selbst eine dualistische Position einnehmen. Anschließend

3 Von diversen unzureichenden Versuchen, Dinge in die Sozialwissenschaften zu integrieren, grenzt Latour den seinen ab (Latour 2007b, S. 143). Vgl. auch Knorr Cetina 2007, S. 294. Über die Einbeziehung der Dinge herrscht inzwischen eine gewisse Einigkeit; vgl. neben Latour etwa Thévenot 1994, Knorr Cetina 1998.

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werde ich einen ontologischen Pluralismus oder pluralistischen Realismus als Alternative zum Dualismus skizzieren. Bevor ich zu Dualismus und Symmetrieprinzip komme, will ich kurz anhand eines Beispiels die Problematik der Akteurhaftigkeit von Dingen etwas anschaulicher machen. Für neue soziale Akteure in dinglicher Form sprechen nicht wenige empirische Befunde, vor allem wenn man an Computer, PCs, Roboter, Software, Computertomogramme denkt; oder an nicht-menschliche Entitäten wie genmanipulierte Organismen. Dagegen spricht nahezu die gesamte Soziologie, erst recht in ihren kulturalistischen Varianten, denn sie ist auf einem grundsätzlichen Dualismus aufgebaut. Den Begriff des sozialen Akteurs nicht auf Menschen zu beschränken, sondern auf Unternehmen, Institutionen auszudehnen, gilt im allgemeinen in der Soziologie nicht als anstößig. Warum dann aber, sobald man Dinge und technische Geräte, Maschinen und Roboter einbezieht?4 Denn vieles von dem Handeln, das menschlichen Individuen zugeschrieben wird, erweist sich als verteilt auf mehrere menschliche Akteure sowie auf Dinge, Maschinen, Computer. Am Beispiel eines chirurgischen Roboters entwickelt Timothy Lenoir folgenden Gedankengang: „[…] es ist schwer zu bestimmen, wer die Kontrolle hat: Mensch oder Robotersystem. Ganz eindeutig programmiert ein Team aus Menschen den Roboter, doch der Roboter steigert die Wahrnehmungsfähigkeit und führt tatsächlich die Hand des Chirurgen, denn er korrigiert Fehler, die auf (von Menschen erzeugte) Zitterbewegungen zurückgehen.“ (Lenoir 2003, S. 273)

Am Beispiel des Operationsroboters wird nicht nur deutlich, daß Handlungsmacht auf den Roboter übertragen wird,5 sondern auch, daß wir nicht zwei isolierte Akteure haben: hier den Chirurgen, dort den Roboter, und nun Handlungsfähigkeit vom ersten auf den zweiten überginge. Vielmehr verschiebt sich das Handeln im gesamten Netzwerk der beteiligten Akteure und verteilt sich neu. Daß ein Bildschirm zwischengeschaltet wird, auf dem der Chirurg seinen Operationsbereich sieht, eröffnet auch anderen Teammitgliedern neue Handlungs-

4 Oder Organismen und Tiere. Vgl. zum Beispiel Griesemer/Yamashita 2005; die beiden Autoren zählen die Versuchsorganismen bei biologischen Experimenten mit zu den sozialen Akteuren, die am Aushandeln von Experimentalsystemen bzw. „Modellsystemen“ beteiligt sind. Klassisch ist der Text Callons über Muscheln und Forscher: Callon 2006. Siehe aber schon Schmalenbach 1927. 5 Als ausführliche technikhistorische Studie über Roboter in der Medizin siehe Caetano da Rosa 2013.

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möglichkeiten: Diese können den Vorgang am Bildschirm verfolgen – und kontrollieren. Außerdem treten neue menschliche Teammitglieder hinzu, etwa Computertechniker. Ob der Roboter ein „richtiger“ sozialer Akteur sei, ist somit nicht die entscheidende Frage. Er fungiert in vielen Situationen als ein solcher. Den meisten Sozialwissenschaftlern erscheint diese Antwort unzureichend, denn die Unterscheidung zwischen intentionalem bzw. normativem Handeln einerseits und Verhalten oder Aktivität andererseits bildet für sie eine Gründungsdifferenz der Soziologie als Wissenschaft. Interessanter erscheint mir die nuanciertere Formulierung: Können Dinge mithandeln, und wie sähe dies genauer aus? Es sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen menschliche Akteure kaum handeln und dingliche Anteile in Akteurs-Assoziationen umso mehr. Allerdings läßt sich fragen, was Mithandeln bei Dingen heißt. Ein Großteil der Literatur müht sich hier um Abgrenzung von den als zu radikal apostrophierten Ansichten Latours.6 Sei es, daß man Handeln als regelgeleitetes Handeln definiert und dann natürlich, oh Wunder, feststellen muß, daß Dinge keine Regeln befolgen können (Preda 2000, S. 300). Sei es daß man Handeln als intentionales oder normatives Handeln in emphatischen Sinne definiert (inklusive Freiheit, Bewußtsein) und dann, oh Wunder, zur Schlußfolgerung kommt, daß Maschinen, Mikroben und Steine nicht handeln können. Der Dualismus zwischen sozialem Handeln und kausalen Prozessen (bzw. Verhalten) sollte jedoch, wenn schon nicht überwunden, so zumindest als erklärungsbedürftig thematisiert werden. Ein Versuch dazu könnte darin bestehen, Dinge aufzuwerten und den Handlungsbegriff ein wenig bescheidener anzulegen. Man könnte natürlich auch fragen, ob die Relevanz der Dinge, ihre Eigenmächtigkeit und Widerständigkeit sich nicht anders fassen ließen denn auf dem Umweg über soziologische Grundbegriffe wie Handlung, Normativität, Verdinglichung und Assoziation. Neben der Einbeziehung neuer Dingeigenschaften (wie sie gegen Ende von Kapitel 1 skizziert wurden) bestünde eine weitere Möglichkeit darin, von einer pluralistischen Ontologie vielfältig existierender und agierender Entitäten auszugehen. Auf diese komme ich (am Ende dieses Unterkapitels 2.1) kurz zu sprechen, nachdem ich mich der Aufwertung der Dinge mittels des sogenannten Symmetrieprinzips (mitsamt dem Dualismus) gewidmet habe. Die Frage der Handlungsfähigkeit verwandelt sich, wie gesagt, in die nach einer neuen Handlungsverteilung im gesamten Akteurs-Kollektiv. Verteilung ist denn auch ein Schlüsselwort in der Debatte um das Symmetrieprinzip, bei dem es letztlich darum geht, die festgelegten Rollen des menschlichen Akteurs als

6 Siehe etwa Heintz 1998, S 86 f., oder Weyer 2009, S. 67 ff.

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Nutzer und des Dings als Werkzeug aufzubrechen und Eigenschaften zwischen den beiden Termen umzuverteilen. Ich komme nun zu dieser Debatte, in der es für mich im wesentlichen um die Kritik an einer dualistischen Soziologie geht – sowie um die Suche nach einem anderen Dingbegriff, einem, der Dinge und ihre Erfahrung ernster nimmt.

Symmetrieprinzip oder: Die Überwindung des Dualismus durch seine Überspitzung Ein „Symmetrieprinzip“ für die Wissenschaftssoziologie hat David Bloor formuliert.7 Es besagt, daß Gewinner und Verlierer wissenschaftlicher Dispute soziologisch gleichwertig zu behandeln seien. Man solle nicht, wie es oft in der Wissenschaftshistorik geschieht, zur Erklärung von Irrtümern und Sackgassen der Forscher soziale Gesetzmäßigkeiten heranziehen, zur Erklärung von gelungenen Entdeckungen dagegen die Natur. Dieses Symmetrieprinzip wird von Latour und Callon aufgegriffen, erweitert und radikalisiert hin zu einem „allgemeinen Symmetrieprinzip“ (Latour 1995, S. 127 ff., Callon 2006) Sie formulieren es beispielsweise als methodologischen Ratschlag an den Anthropologen (oder Soziologen) der modernen Welt: Dieser solle sich „in eine mittlere Position versetzen, wo er gleichzeitig die Zuschreibung der nicht-menschlichen und der menschlichen Eigenschaften verfolgen kann“. Weder soll er sich „der äußeren Realität“ bedienen, „um die Gesellschaft zu erklären“, noch umgekehrt gesellschaftliche „Machtmechanismen“ heranziehen, „um zu erklären, was die äußere Realität formt.“ (Latour 1995, S. 129) Üblicherweise wird das Symmetrieprinzip verkürzt zur Symmetrie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen sozialen Akteuren und besagt dann soviel wie: Sowohl Menschen als auch nicht-menschliche Wesen werden als soziale Akteure akzeptiert oder gar als gleichrangige Entitäten aufgefaßt.8 Weniger als um die Einebnung einer Differenz geht es jedoch um die unterschwellige Grammatik der Verteilung verschiedener Entitäten in der modernen dualistischen Weltsicht, um die Einteilung sämtlicher Entitäten nach Natur(wissenschaft) und Gesellschaft(s- bzw. Geisteswissenschaft) oder nach Naturgegenständen und sozial (oder psychisch oder semiotisch) bedeutsamen Dingen. Damit bereitet die Symmetrieperspektive den Boden für ein Aufbrechen des Dualismus, sie mündet in ein Plädoyer für eine nicht-dualistische Ontologie.

7 Bloor 1991. Im folgenden referiert nach Latour 1995, S. 124 ff. 8 Vgl. Pickering 1999, S. 11 ff., Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b, Weyer 2009.

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Sind gradweise Abstufungen anstelle einer dichotomen Ontologie vorstellbar, so sollte man methodologisch über eine Art neutrales Koordinatensystem verfügen, um darin nun Dimensionen und Abstufungen oder Längen- und Breitengrade einer pluralen und variablen Ontologie einzutragen.9 Als Abstufungen denkbar sind prinzipiell nicht nur solche der Handlungsfähigkeit, Wirkungsmacht oder Aktivität, so meine Sicht, sondern auch solche der Intentionalität, der Verantwortlichkeit, der Stabilität, der Globalität/Lokalität sowie, um das Spektrum in den kognitiv-epistemischen Bereich zu erweitern, der Wissenshaltigkeit, der Universalität, der Intelligenz, des „Geistes“, der kognitiven Kompetenz. Die etwas plakative Bezeichnung für ein solches Koordinatensystem lautet: „Symmetrie zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren“. Das Symmetrieprinzip beantwortet also nicht die Frage nach dem Unterschied zwischen Menschen und Dingen (es behauptet demnach auch nicht ihre prinzipielle Identität), sondern fragt nach der Gemeinsamkeit verschiedener sozial relevanter Akteure, um auf dieser relativ anspruchslosen Folie (eine Art kleinstem gemeinsamen Nenner) zu einer (neuen) Beschreibung sozialer Situationen und Sachverhalte zu finden. Der Sinn dieses methodologischen Korrektivs ist folgender: Es sollen keine relevanten neuen sozialen Akteure übersehen und übergangen werden, wenn sie möglicherweise nicht dem gängigen Bild entsprechen, das man sich von sozialen Akteuren macht. Nicht um Wesensaussagen geht es also, sondern um die Vermeidung frühzeitiger Wesensaussagen (wenn man denn schon glaubt, nicht ohne sie auskommen zu können): Eine Begrifflichkeit soll entwickelt werden, die es ermöglicht, Dinge und andere nicht-menschliche Entitäten in sozialwissenschaftlichen Theorien und Beschreibungen einzufangen, sofern diese Entitäten sozial relevant werden.10 Die Symmetrie ist nur ein Zwischenschritt und dient dazu, eine „Kommensurabilität“ zwischen verschiedenen sozial relevanten Akteuren, Entitäten herzustellen (Latour 1995, S. 151 f.); in dieses neue Koordinatensystem können

9 Vgl. Latour 1996e, S. 374 f. Latour spricht zum einen von der „variablen Geometrie“ der „Ontologie der Mittler“, worunter verschiedene Grade von Stabilisierung, verschiedene Formen ihrer Existenz zu verstehen sind (Latour 1995, S. 115 ff.); zum anderen geht es bei der variablen Ontologie um Gradualisierungen und Übergänge zwischen ansonsten scharf abgegrenzten ontologischen Bereichen (Latour 1996c). Latour und Callon sprechen weiterhin (in ihrer Polemik mit Collins und Yearley, s.u.) von einem „indefinite gradient of agencies“ (Latour/Callon 1992, S. 350). 10 Man kann natürlich die zirkuläre Begründung monieren; in diesem Punkt hat es Kritik an Latour gegeben; etwa in Bloor 1999 oder Breslau 2000. Nichtsdestoweniger bleibt das Problem, dem Latour sich stellt, wie neue soziale Akteure oder Kräfte auszumachen sind, wenn diese der gängigen Vorstellung von solchen nicht entsprechen (s.u. 2.5).

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dann selbstverständlich Unterschiede, Differenzen, Abstände, Abstufungen neu eingetragen werden. Eine solche Begriffsstrategie findet sich nicht nur bei Latour, sondern auch bei Annemarie Mol (2002), wenn sie versucht, die verschiedenen, in einer ambulanten Klinik für Gefäßkrankheiten zum Tragen kommenden Ontologien zu eruieren, ohne von vorneherein einem naturwissenschaftlichen Realismus (Krankheit als naturwissenschaftlich konstatierbare Gegebenheit) oder sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus (Krankheit wird in unterschiedlichen sozialen Kontexten unterschiedlich definiert und konstruiert) anzuhängen. Symmetrie zwischen menschlichen und dinglichen Akteuren wird unverständlich, wenn man nicht berücksichtigt, daß der Begriff auf dem Hintergrund des Dualismus entwickelt worden ist. Das Symmetrieprinzip ist, bei Bruno Latour zumindest, keine ontologische Aussage („Dinge können handeln“), sondern gewissermaßen die Zuspitzung des Dualismus, um ihn zu überwinden.11 Latour selbst hat das Symmetrieprinzip schließlich modifiziert, wenn nicht gar aufgegeben (Latour 1999a, S. 128), da es ihm allzu mißverständlich erschien. Symmetrie meint letztlich die Formulierung eines Vorbehalts, damit nicht vorzeitig die Ontologien für neue soziale Akteure und Entitäten reduziert werden.12 Somit ist es ein Nicht-Asymmetrie-Prinzip, ist es das Prinzip, nicht von vorneherein asymmetrisch zu sein und nur nach menschlichen sozialen Akteuren Ausschau zu halten. Wie Latour inzwischen betont: „ANT [also die Akteur-Netzwerk-Theorie] ist nicht, ich wiederhole: ist nicht, die Behauptung irgendeiner absurden ‚Symmetrie zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen‘. Symmetrisch zu sein bedeutet für uns einfach, nicht a priori irgendeine falsche Asymmetrie zwischen menschlichem intentionalen Handeln und einer materiellen Welt kausaler Beziehungen anzunehmen.“ (Latour 2007b, S. 131)13

11 Zuspitzung, insofern Latour von der symmetrischen Behandlung von humans und non-humans spricht, Überwindung, insofern diese Begriffe Subjekte und Objekte ersetzen, auch keine ontologischen Regionen oder Substanzen mehr bezeichnen, was sich unter anderem darin äußert, daß manche der traditionellen Attribute des Menschen nicht als dessen exklusive Eigenschaften betrachtet werden, hier vor allem Aktion (bzw. agency) oder Existenz. 12 Unter Ontologien verstehe ich hier: Seinsweisen, Existenzweisen. Reduziert werden sie in der Regel dann, wenn sie nur entweder natürlich oder gesellschaftlich/symbolisch/kulturell sein dürfen. 13 Vgl. auch Latour 2005a, S. 76. Es geht um Beschreibung, ohne systematisch verzerrende Vorentscheidungen über den Status der beteiligten Entitäten zu treffen. Wagner (1993, S. 465) spricht von einer Maxime der „Voraussetzungsarmut“, die er nicht nur

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Symmetrieprinzip, anthropologisch Als methodologisches Korrektiv läßt sich das Symmetrieprinzip noch in einem zweiten Sinne verstehen, wobei nun die Betonung auf symmetrischer Anthropologie liegt.14 Damit gemeint ist, daß die Untersuchungsmethode kompatibel ist mit der Erforschung von Gesellschaften (oder auch Gesellschaftsbereichen), die „nicht modern“ sind (in denen beispielsweise Dinge als soziale Akteure oder Gesellschaftsmitglieder akzeptiert werden). Alle Soziologie war bislang asymmetrisch, nicht nur insofern sie die Nicht-Menschen, die non-humans, sondern auch die nicht-modernen Gesellschaften ausschloß. Der Gründungsakt der Soziologie als Wissenschaft fällt historisch zusammen mit der Entstehung der modernen Gesellschaft. Soziologie als Wissenschaft war Wissenschaft von der modernen Gesellschaft. Dementsprechend wurden die soziologischen Begriffe gebildet: Arbeitsteilung, funktionale Differenzierung etc. sind erstens soziologische Begriffe, zweitens Kennzeichen der modernen Gesellschaft (heißt hier vor allem westliche Industriegesellschaft), deren Fehlen bei nicht-modernen Gesellschaften von den Klassikern der Soziologie unermüdlich konstatiert wird; jene erscheinen zwangsläufig und systematisch als defizitär.15 Der Gründungsakt der Soziologie wiederholt den (imaginären) Gründungsakt der modernen Gesellschaft. Im Zusammenhang der Anthropologie ließe sich noch auf die Beteiligung der Dinge an der Kognition (und nicht nur an der Gesellschaft) hinweisen: Sobald anerkannt ist, daß Dinge an der Kognition beteiligt sind, stellt sich auch die „Symmetrie“ mit den anderen, den nicht-modernen Kulturen ein; denn primitive Kulturen implizieren kein primitives Denken, sondern allenfalls primitive intellektuelle Technologien.16 Eher sogar umgekehrt: Primitive intellektuelle Technologien fordern manchmal intelligentere Leistungen von den Beteiligten. Aus der kognitiven Anthropologie gibt es interessante Beispiele dafür, wie etwa ein mikronesisches Navigationssystem ohne nautische Instrumente, das unter anderem

im sogenannten Symmetrieprinzip Latours und Callons findet, sondern auch in der gleichfalls pragmatistisch inspirierten Soziologie von Boltanski und Thévenot. 14 Ich verwende das Wort „Anthropologie“ hier mehr mit seinen Konnotationen im Englischen und Französischen, wo Ethnologie und Soziologie ebenfalls zur Anthropologie gehören, ja „Anthropologie“ teilweise synonym mit „Ethnologie“ verwendet wird. Im Deutschen denkt man dagegen bei Anthropologie hauptsächlich an Humanbiologie und philosophische Anthropologie. 15 Vgl. dazu Latour 1995 sowie Wallenstein/Juma/Keller et al. 1996, zum Beispiel S. 46. 16 Den Ausdruck „intellektuelle Technologien“ entlehne ich Latour, im Original „intellectual technologies“ (etwa Latour 2005a, S. 76). Der Gedankengang stammt von Hutchins 1995. Dazu genauer s. u. Kap. 3.

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mit einem komplizierten Sternenkompaß arbeitet und dem Navigator komplexe kognitive Operationen abverlangt.17 Auch in dieser anthropologisch-ethnologischen Perspektive wird deutlich, daß es vielleicht nicht unbedingt angezeigt ist, Dinge zu vollgültigen sozialen Akteuren zu machen, sondern darum geht, sie aus der dualistischen Klammer sozialer, kultureller Bedeutungen einerseits und naturgesetzlicher Kausalitäten andererseits zu befreien. Viele Sozialwissenschaftler brauchen „die“ Natur oder die Naturobjekte als Folie, um auf der sozialen Seite einem (relativ) unbeschränkten sozialen Konstruktivismus, einer rein gesellschaftlichen Determination frönen zu können. Während die Ethnologie fremder Kulturen diesen kulturalistischen Dualismus zeitweise genährt hat, gibt es mittlerweile gerade hier Versuche, einen Weg zwischen Universalismus und Relativismus zu finden oder gar diesen unvereinbaren Gegensatz nicht zum Ausgangspunkt zu nehmen.18 Eine der Argumentationen (Descola 1996) verläuft folgendermaßen: Der klassische Kulturalismus hat einen soliden Naturalismus als Hintergrund. Nur weil die Natur einen relativ neutralen Hintergrund bildet, können die verschiedenen Kulturen in einer Weise gedacht werden, daß sie die Natur arbiträr mit ihren jeweiligen symbolischen Bedeutungen codieren. Doch es findet sich nur eine einzige Kultur, in der die Natur als ein relativ neutraler Hintergrund gilt und behandelt wird, nämlich die unsrige. Wenn man jedoch die Idee einer neutralen Natur aufgibt (und mit ihr den Natur/Kultur-Dualismus), was tritt dann an ihre Stelle? Für Descola ein „hybrides Universum“, eine „multidimensionale anthropologische Landschaft“. In dieser lassen sich „Steinbeile und Quarks, Kulturpflanzen und Genomkartierung, Jagdrituale und Ölproduktion“ alle als Variationen innerhalb eines einzigen, Menschen und nicht-menschliche Wesen umfassenden, „Beziehungsgefüges“ begreifen.19

17 Die Hutchins nachgezeichnet hat (Hutchins 1995, S. 65 ff.). Auf eine historische Interpretation des „Symmetrieprinzip“ hinsichtlich vorwissenschaftlicher Meinungen oder früherer wissenschaftlicher Resultate geht Isabelle Stengers näher ein: Stengers 1997b, S. 102, S. 183 f. 18 Siehe dazu Thompson 1981, Descola 1996, Ingold 2000b. Vgl. auch Latour 2007b, S. 204 ff. 19 Descola spricht von „set of relations“: Descola 1996, S. 98 f. Er versteht dieses Beziehungsgefüge nicht als ein Netzwerk oder Akteurnetzwerk (und geht in diesem Punkt explizit auf Distanz zu Latour und Callon). Seine eigene Position bezeichnet er als strukturale Phänomenologie („structural phenomenology“), in der lokale Beziehungssysteme („local systems of relations“) beschrieben und verglichen werden: Descola 1996, S. 99.

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Der Symmetriebegriff in seiner anthropologischen Variante verdammt uns also nicht zu einem Kulturrelativismus, sondern verweist uns auf eine andere Art, Naturen und Kulturen in Beziehung zu setzen.

Dualistische Ontologie – gespaltene Objekte In der Soziologie begegnet man häufig einem Dualismus, der folgendermaßen strukturiert ist: Gesellschaft wird als eine Art Subjekt (oder Intersubjekt) verstanden, dem auf der anderen Seite Naturobjekte und die Objektivität der Naturgesetze gegenüberstehen.20 Als Opfer dieses Dualismus führen die Dinge in der Soziologie ein gespenstisches Schattendasein. Zwar sind sie soziologisch nur relevant als sozial bestimmte, symbolisch gefaßte, intentional angepeilte; dennoch würde kein Soziologe sagen, sie gingen in ihrer sozialen, symbolischen, intentionalen Existenzform auf. Diese wird vielmehr getragen von einer materiellen oder naturalen Grundlage, einer Art neutralem Stoff, der sich vielfacher sozialer Formgebung darbietet; oder auf den relativ willkürlich symbolische und soziale Deutungen projiziert werden können. Daß der Stoff nicht beliebig plastisch und die Deutungen nicht vollkommen willkürlich sind, dafür sorgt die Naturalität (oder Naturgesetzlichkeit) des Stoffes bzw. der Projektionswand.21 Natur wird hier als Residualkategorie oder Rahmenbedingung behandelt und ihre genauere Analyse den Naturwissenschaften überlassen. Über Dinglichkeit oder die Existenzweise der Dinge läßt sich in einer solchen dualistischen Perspektive nichts oder wenig sagen, da alles relevante, ihre Dinglichkeit betreffende, wissenschaftlich vertretbare von den Naturwissenschaften bereits gesagt wäre.

Gespaltene Objekte (die Debatte mit Collins und Yearley) In diese Richtung zielt auch das Hauptargument von Collins und Yearley in ihrer Kritik an Latour (Collins/Yearley 1992a; 1992b). Sie weisen darauf hin, daß Latours Objekte und Quasi-Objekte auf eine gewisse Instandhaltung angewiesen

20 Zu diesem „konstitutiven Dualismus“ (Lemke 2007, S. 248) der Soziologie bzw. mancher Soziologen vgl. Breslau 2000, der von einem zur Gesellschaft „aufgeblähten“ (inflated) Subjekt in der Soziologie Durkheims spricht. 21 Das Bild der Projektionsfläche entlehne ich Latour 1995, S. 72 f.

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sind. Diese Objekte müssen sozial am Leben gehalten werden. Sie sind, mit einem früheren Ausdruck Latours bezeichnet, „Black Boxes“.22 Man könne nun, meinen Collins und Yearley, sich ein „faktartiges Ding“ auch „als einen dichten Knoten in einem Netzwerk menschlicher Übereinkunft“23 vorstellen. „Hier sieht man ‚Schwerkraft‘, dort ‚Elektron‘ , dort einen spurenhaften Knoten mit dem Etikett ‚magnetischer Nordpol‘“ (Collins/Yearley 1992b, S. 374). „Wenn dem aber so ist“, setzen sie zu ihrer Kritik an, „so besteht keine Notwendigkeit, die menschlichen Übereinkünfte, welche die Black Boxes aufrechterhalten (und die Möglichkeit haben, sie nicht aufrechtzuerhalten), durch Etiketten oder Dinge zu ersetzen. […] Nur dann, wenn man den Etiketten gestattet, Realität zu haben, besitzen sie eine Macht, die über die ihnen von Menschen verliehene hinausgeht.“ (Collins/Yearley 1992b, S. 375).

Das scheint fast zu heißen: Nur weil Menschen die Dinge als Dinge definieren, sind diese wirklich. Doch Dinge sind keine kontraktuellen oder konsensuell konturierten Entitäten. Warum nicht? Um in der Terminologie von Collins und Yearley, die eine Art Konsensustheorie vertreten, zu argumentieren: Nicht die menschliche Übereinkunft hält die Black Boxes aufrecht. Es gehört sehr viel mehr als Übereinkunft, Konvention, konzertierte Aktion von Menschen dazu, damit ein Ding existiert und in Existenz bleibt. Bezeichnend ist außerdem, daß Collins und Yearley wissenschaftliche Objekte wie „Schwerkraft“ und „Elektron“ anführen. Diese unterscheiden sich subtil, aber doch entscheidend von den Dingen, über die Callon und Latour sprechen; etwa die berühmten Jakobsmuscheln der Fischer in der Bretagne, denen einer der Gründungstexte der Akteur-Netzwerk-Theorie gewidmet ist (Callon 2006).24 Denn Jakobsmuscheln sind auch wahrnehmbare, physisch-haptische Entitäten und gehen nicht darin auf, die wissenschaftlichen Objekte von Biologen und Meeresforschern zu sein. Zudem bemühen und streiten sich hier mehrere soziale Gruppen um die Definition der Muscheln (oder einigen sich auf sie als Grenzobjekte): Biologen,

22 In Latours Begrifflichkeit heißen sowohl stabilisierte Praktiken als auch stabilisierte Objekte „Black Box“. Siehe Callon/Latour 1981. Harman versucht Latours Dingbegriff – oder vielleicht sollte man sagen Begriff von Entitäten, Aktanten – ausgehend von der Black Box zu fassen (vgl. Harman 2009, S. 45 f.). 23 Die menschliche Übereinkunft wird noch einmal spezifiziert als „concerted action within a form of life“ (S. 374). 24 Genauer Pecten maximus, Große Pilgermuschel, zur Familie der Kammuscheln gehörig.

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Ozeanographen, Fischer, Feinschmecker, Muschelhändler und schließlich Soziologen.25 Bei Collins und Yearley dagegen stehen sich nur zwei relevante Gruppen gegenüber, entsprechend ihrer dualistischen Ontologie: zum einen Naturwissenschaftler, die wissenschaftliche Objekte realistisch interpretieren, zum anderen Sozialwissenschaftler, die ebendiese Objekte sozial erklären (was hier eher heißt: dekonstruieren, auf soziale Übereinkünfte der Naturwissenschaftler anläßlich dieser Objekte reduzieren).26 Die Dinge, die Latour und Callon zu Akteuren machen, werden von ihren Kritikern aufgrund von deren dualistischer Einstellung gar nicht zu den Dingen gerechnet. In dualistischer Perspektive sind Dinge entweder gesellschaftlich konstruiert („social things“) – mit einer Bedeutung versehene Sinneseindruckskomplexe oder Materieklumpen, vermute ich –, oder es sind „natural things“ (Collins/Yearley 1992b, S. 382), ein Ausdruck, der den schillernden Bedeutungsumfang von naturalen Dingen über Naturobjekte bis hin zu Gegenständen der Naturwissenschaften aufweist. Dieses Mißverständnis, wonach Dinge und Objekte stets Naturobjekte oder natürliche Objekte sind, mit all der Mehrdeutigkeit des Prädikats „natürlich“, ist notorisch. Dinge in Gesellschaft einzubeziehen wird mißverstanden als Einbeziehung naturaler Dinge oder naturwissenschaftlicher Gegenstände in die soziologische Erklärung. Auch Peter Weingart (2003, S. 75) sieht bei Latour eine „Unterstellung sinnhaften Handelns“ gegenüber „natürlichen Objekten“ am Werk. Er bezweifelt außerdem, daß es einer solchen Erweiterung des Gesellschaftsbegriffs gelingen werde, „die sehr mächtig institutionalisierte Grenzziehung zwischen sinnhaft handelnden Subjekten und widerständigen natürlichen Objekten zu verschieben“ (Weingart 2003, S. 76). Es handelt sich zunächst einmal nicht zwangsläufig um eine Unterstellung sinnhaften Handelns, wenn man Dinge und Objekte in Gesellschaft einbezieht (sondern dies läßt sich auch mittels Aktion, Wirkungsmacht und Assoziation bewerkstelligen, s.u. 2.2 und 2.5); außerdem sind Objekte nicht zwangsläufig natürliche Objekte. Auch was „mächtig institutionalisiert“ hier besagen mag, ist nicht ganz klar. Unter Soziologen ist die Grenzziehung zwischen sinnhaft handelnden Subjekten und natürlichen Objekten zweifellos sehr stark institutionalisiert. Aber daß die meisten Gesellschaftsmitglieder eine solche Grenzziehung ständig vollziehen

25 Das ist meine Interpretation. Callon hat als relevante Akteure: a) die biologischen Forscher, b) die Fischer, c) die Muscheln, d) die zu überzeugenden Kollegen der Forscher. 26 Vgl. genauer dazu Collins/Yearley 1992a, S. 316, Collins/Yearley 1992b, S. 371, S. 382.

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würden oder ihre Handlungen eine klare Zweiteilung in dieser Hinsicht erkennen ließen, kann man nicht sagen. Doch vielleicht ist gemeint, daß die Institutionen der modernen Gesellschaft eine solche Zweiteilung erkennen lassen oder sie entsprechend agieren. Dies ist allerdings eine kniffligere Frage, aber sie betrifft den Umgang mit physisch-haptischen Dingen nicht unmittelbar. Daß die Wissenschaften sich entlang der Grenze Natur/Kulturwissenschaften aufteilen ließen, erscheint mir jedenfalls nicht einsichtig.27 Die sozialkonstruktivistische Sicht funktioniert schon bei einem technischen Objekt nicht. Nehmen wir ein Atomkraftwerk. Ist es einmal gebaut, so ist seine soziale Realität eben auch seine physisch-haptische und radioaktive Realität. Es läßt sich nicht einfach revozieren, dekonstruieren. Es ist mehr als eine kontraktuelle Entität, mehr als ein leerer Knotenpunkt. Zwar auch „widerständig“, aber deshalb noch lange kein „natürliches Objekt“ (in den Worten Weingarts). Und auch nicht per se ein naturwissenschaftliches Objekt. Man könnte das verallgemeinern: Mit neuen technischen Gegenständen werden stets auch neue Asymmetrien, Irreversibilitäten in die Welt gebracht.28

Dualistische Ontologie Gesellschaft und Natur bilden eine klassische Begriffsdifferenz, deren eine Seite, Gesellschaft, kaum ohne die andere, Natur, zu denken ist, zumindest wenn man soziologisch denkt. Votiert man nun für die Einbeziehung der Dinge in die Soziologie, in welcher aber Dinge anscheinend nur als widerständige natürliche Objekte vorstellbar sind, so scheint man den Gesellschaftsbegriff zu entgrenzen oder an einem begrifflichen Grundpfeiler der Soziologie zu rütteln. Freilich geht es bei der Einbeziehung der Dinge keineswegs darum, jegliche begriffliche Differenz zwischen Natur und Gesellschaft aufzugeben, sondern nur darum, Dinge nicht vorab in eine dualistische Ontologie einzuordnen, die das gesamte Sein nach Natur und Gesellschaft (bzw. Kultur) zweiteilt. Bezogen auf Dinge, Quasi-Objekte und Hybriden bedeutet eine dualistische Herangehensweise: Alles Heterogene läßt sich herunterbrechen, herunteranalysieren in seine Natur- und Gesellschaftskomponenten. Um einen Klassiker der Techniksoziologie, Hans Freyer, zu zitieren: „Den Stein als materielles Gefüge erforschen Physik und Chemie. Aber daß dieser Stein vor Zeiten durch ein paar grobe Schläge zum Hammer zurechtgehauen wurde, oder daß

27 Ich komme darauf weiter unten auf S. 74 noch einmal zurück. 28 Callon/Latour 1981, S. 285.

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krause Zeichen auf ihn geritzt sind, das macht ihn zum Dokument eines Menschentums [einer Gesellschaft]. Nun scheint ein seelischer [sozialer bzw. subjektiver] Sinn durch seine Materie hindurch, und so apperzipiert ist er mit einem Male aus einem Gegenstand der Mineralogie zu einem Gegenstand der Geisteswissenschaften [Sozialwissenschaften] geworden.“ (Freyer 1966, S. 1)

Besser kann man kaum die dualistische Standardeinstellung einer kulturalistischen Soziologie in wenigen Sätzen zum Ausdruck bringen, sofern man die Terminologie ein wenig aktualisiert (wie in Klammern geschehen). Die Zweiteilung ist dieselbe, hier Materialität, da Zeichenwelt, hier Objektivität (der physikalischen Wissenschaften), da Subjektivität (subjektiver oder intersubjektiver Sinn); es ist die alte Dichotomie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, die Diltheysche Trennung zwischen Erklären und Verstehen, hier materielles Gebilde, dort „Ausdruck menschlichen Lebens“ (ebd.) Aber von den Naturwissenschaften wird ja gerade kaum etwas über die Dinge als Dinge gesagt. Weder dieser Kieselstein noch jenes Van-Gogh-Gemälde sind ihr Erkenntnis-Gegenstand, und für Gemälde, Werke und Ölfarben haben sie auch keine Begriffe.29 Zwar läßt sich über diesen Stein und jenes Gemälde mit Hilfe der exakten Wissenschaften einiges sagen und herausfinden. Doch Physik und Chemie interessieren sich in den seltensten Fällen für solche Dinge wie Kunstwerke oder einzelne Kieselsteine, noch für die Dinglichkeit der Dinge. Zum einen weil sie sich vornehmlich mit Relationen (zwischen Dingen oder Ereignissen) oder gar mit Relationen von Relationen (in der Mathematik etwa) befassen. Und wenn sie sich doch für physisch-haptische Dinge interessieren, sind es purifizierte; durch Instrumente in einer artifiziellen Umgebung, einem Experimentalsystem etwa, isolierte oder hervorgebrachte (epistemische Dinge); oder zusehends transformierte (wie Boden- oder Pflanzenproben). Auch sind die Objekte der Wissenschaften nicht per se wirklicher als andere Objekte.30 Wobei es gar nicht so einfach ist, zu bestimmen, was denn die Objek-

29 Was den Kieselstein anbelangt, liegt hier die Betonung auf dieser. Aber gewiß läßt sich unsere Erfahrung durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse bereichern. Ebenso die eines mit Röntgenstrahlen analysierten Gemäldes. 30 Daß sich die modernen Wissenschaften für Relationen und Variationen dieser Relationen interessieren, ist ein häufiges Motiv bei Dewey. Siehe etwa Dewey 2001, S. 107. Daraus folgt für ihn, daß „der wissenschaftlich definierte physikalische Gegenstand […] kein verdoppelter wirklicher Gegenstand“ ist (ebd., S. 133). Das heißt wissenschaftliche Objekte konkurrieren nicht mit den physisch-haptischen Dingen um ihren Realitätsstatus. Dewey: „die traditionelle Ansicht, daß das Objekt der Erkenntnis die

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te einer Wissenschaft oder die wissenschaftlichen Erkenntnisgegenstände sind.31 Und technische Objekte sind nicht einfach Illustrationen, Instantiierungen oder Verkörperungen von Naturgesetzen oder direkte Umsetzungen naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.32 Entlang mehrerer Fronten wird hier gestritten. Zum einen ist da die dualistische Zweiteilung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bzw. Erklären und Verstehen, wie sie bezogen auf physisch-haptische Dinge ganz gut in dem oben wiedergegebenen Freyer-Zitat zum Ausdruck kommt. Diese zweigeteilte Typologie mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen, aber wie sich sämtliche Wissenschaften in sie einordnen lassen, ist schon nicht mehr so einfach zu sagen. Denn es gibt Grenzfälle, und es existiert keine scharf geschnittene, klare und allseits respektierte Grenze zwischen den Naturwissenschaften und den Geistesbzw. Sozial- bzw. Kulturwissenschaften.33 Da wäre zum anderen ein Empirismus, der auf einer Zweiteilung zwischen Sinnesdaten und subjektiven Verstandeskategorien aufbaut und eine weitverbreitete Erkenntnistheorie unter Sozialwissenschaftlern, insbesondere den Sozialkonstruktivisten, darstellt: Aus einem Chaos an Mannigfaltigkeit, an Sinnesdaten, an Informationen rechnet oder denkt „das Subjekt“ sich seine Objekte zurecht.34 Die Frage ist, ob wir mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel begin-

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Wirklichkeit par excellence sei, führte zu der Schlußfolgerung daß das eigentliche Objekt der Wissenschaft metaphysisch real par excellence sei.“ Dewey 1995, S. 254. Zum Gegenstand der Wissenschaften siehe Rheinberger 2007, S. 101 ff., Canguilhem 1979, S. 28 ff. Mehr dazu in Kap. 3.2. Sondern Hybriden, in diesem Zusammenhang ist der Ausdruck, trotz der von mir in Kap. 1 vorsichtig geäußerten Kritik daran, recht nützlich. Vgl. Latour 1996d, Lemonnier 1996. Bereits die Verschiebung des Gegenbilds zu den Naturwissenschaften, das mal die Geistes-, dann die Sozial-, dann die Kulturwissenschaften darstellen, läßt jedesmal andere – und seien es nur leicht versetzte – Grenzverläufe erkennen, in die sich manche Wissenschaften dann wieder nur als Grenzdisziplinen einordnen lassen (jedesmal andere). Üblicherweise ist diese dogmatische Zweiteilung dennoch die letzte Verteidigungslinie, auf die sich die Vertreter eines Dualismus zurückziehen. Schmitt (2001) geht ihr historisch nach und weist u.a. darauf hin, daß sie eine Abwertung der geisteswissenschaftlichen Seite beinhaltet. Stengers (1993) argumentiert für eine Pluralität der Wissenschaften, die sich keiner Dichotomie oder Hierarchie fügt. Und Mol (2002, S. 33 f.) bringt einige Beispiele für Wissenschaften, denen die Zweiteilung Sozial/Naturwissenschaften nicht gerecht wird, wie Medizin, Geographie und Architektur; hinzuzufügen wären noch Ingenieurwissenschaften, Informatik etc. Siehe auch Rheinberger 2015. Die Ableger einer solchen subjektivistischen Erkenntnistheorie in der Soziologie sind zahlreich: Luhmanns Systemtheorie etwa. Sodann der klassische Sozialkonstruktivis-

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nen müssen, sobald wir Dinge in die Gesellschaft einbeziehen wollen. Der Zweifel führt rasch zu einer subjektivistischen (und subtraktiven) Erkenntnistheorie (subtraktiv heißt: Was immer subjektiv ist, wird vom Objekt abgezogen, was immer objektiv, vom Subjekt). Diese subjektivistische Erkenntnistheorie führt dann zur Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten, von denen die primären als irgendwie basal und als naturaler Sockel gelten, auf dem die anderen aufsitzen: Primäre Qualitäten kommen dem Ding physisch („objektiv“) zu, sekundäre (Sinnes)Qualitäten, kommen ihm nur im Kontakt mit Menschensinnen („subjektiv“, „psychisch“) zu.35 Diese Unterscheidung ist, wenn man so sagen darf, der Ableger der dualistischen Ontologie in der Dingwelt. Entweder ergeben sich aus ihr zwei Eigenschaftsschichten der Dinge (substantielle und akzidentielle Eigenschaften), oder aber ein Klassifikationsschema für einerseits natürliche Objekte, die sozusagen nur aus primären Eigenschaften bestehen, und andererseits gesellschaftliche Objekte, die in ihrer Reinform nur aus sekundären Eigenschaften bestehen. Vielleicht sind die Begriffe Subjekt und Objekt nur als relationale, funktionale Begriffe sinnvoll, oder als Begriffe der denkenden Erfahrung, und nur wenn es um Erkenntnis geht. Doch gerne wird diese dualistische Erkenntniskonstellation „verweltlicht“, d.h. wieder in die Welt hineinprojiziert, so als bestünde die Welt zum einen Teil aus Subjekt (=Gesellschaftssubjekt oder Subjektivität oder Intersubjektivität), zum anderen Teil aus Objekt (=objektive Naturgesetzlichkeiten oder wissenschaftlich erkennbare Objektivität). Hier kann man fragen: Warum soll die Welt ausschließlich in diese zwei Seinsbereiche, nur nach diesen beiden Erklärungsprinzipien aufgeteilt werden? Warum nicht noch ein drittes (oder viertes...), wo doch einiges darauf hinzudeuten scheint, daß sehr viele Entitäten nicht in diese Zweiteilung hineinpassen. Also: warum ausschließlich diese zwei? Und: warum diese zwei als einander ausschließende?

mus in der Art von Berger/Luckmann (2004). Auch die oben (unter 1.3) wiedergegebene Argumentation von Star gehört in diese Rubrik. Als Kritik an einem sensualistischen Empirismus bzw. einer subjektorientierten Erkenntnistheorie anhand von Durkheim und Douglas siehe Ingold 2000a. Zur Kritik am Empirismus siehe auch Latour 2007b, S. 192 ff. Latour spricht von einem „ersten“ Empirismus bezogen auf den historischen Empirismus, der auf der Zweiteilung Sinnesleistungen/-daten vs. Intellekt aufbaut: ebd., S. 194. Er unterscheidet davon einen „zweiten“ Empirismus, den von ihm vertretenen, charakterisiert u.a. als „pluralistischer“ (ebd., S. 200). 35 Das Begriffspaar geht auf Locke (und Galilei) zurück und wird von Whitehead als Bifurkation der Natur kritisiert: Whitehead 1990, S. 23 ff. Vgl. auch Latour 2001a, S. 297.

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Ob das Hauptproblem in einer Verweltlichung der erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Spaltung liegt, oder in einer starren, dualistischen Erkenntnistheorie (was zum Subjekt gehört, kann nicht zum Objekt gehören), will ich hier nicht entscheiden. Jedenfalls lassen sich mit der dualistischen Ontologie gemischte Dinge, hybride Entitäten nicht mehr erklären, noch die wechselseitige Einwirkung der Subjekte (res cogitans) auf die Objekte (res extensa). In jedem Ding wären angeblich zwei inkompatible Substanzen am wirken, nennen wir sie gesellschaftliche Kräfte (Macht, Projektionen, Bedeutungen) und natürliche/naturgesetzliche Kräfte (Atome und ihre Bindungen, Oberflächenspannungen, Gravitationskraft); wie diese aufeinander einwirken können, wird nicht gesagt; der Dualismus „macht ein begriffliches Mysterium aus der kausalen Interaktion zwischen den Bestandteilen einer jeden solchen Komposition“ (Margolis 1995, S. 203).36 Diese Wechselwirkungen zu erkennen, wäre wichtig, um Bewegungen vom Dinglichen zum Gesellschaftlichen (Vergesellschaftung durch Dinge) und vom Gesellschaftlichen zum Dinglichen (dingliche Härtung von Gesellschaftlichem) zu verfolgen, erst recht zu erklären oder anspruchsvoll zu beschreiben, wie etwa bei technischen Innovationen, neuen wissenschaftlichen Entdeckungen oder künstlerischen Werken. Die skizzierte dualistische Ontologie scheint mir in der Soziologie eine oft implizit bleibende Argumentationsstruktur zu sein,37 die bisweilen grell hervortritt, sei es in den Polemiken zum sozialen Handeln von Dingen, sei es in den Science studies, wenn es um die sozialen Verwicklungen bei der Erkenntnis natürlicher Gegenstände geht. Historisch habe ich mich mit einigen Andeutungen begnügt. Explizit formuliert wird eine historische Hypothese zum einen von Bruno Latour, der in einer genuin sozialen Ontologie (insbesondere bei Durkheim) eine Defensivkonstruktion der Soziologie gegen die im 19. Jahrhundert immer erfolgreicher werdenden Naturwissenschaften sieht.38 Wolfgang Eßbach sucht eben-

36 Margolis spricht hier zwar von psycho-physischer Interaktion, also dem Leib/SeeleProblem, die Argumentation läßt sich aber meiner Ansicht nach genausogut auf die Interaktion zwischen Kausalem und Intentionalem oder Symbolischem in einem technischen Gerät oder Kunstwerk übertragen. 37 Zu einer dualistischen Sozialontologie ausgearbeitet wurde sie von Searle (1997). Vgl. zur expliziten Übernahme von dessen Argumenten in der Soziologie: Falk/Steinert 1973, S. 28 ff. 38 Latour thematisiert in diversen Zusammenhängen, sehr prägnant in Latour 2007b, S. 143 f., diese Defensivkonstruktion angesichts einer aufstrebenden Naturwissenschaft. Von einer Defensivkonstruktion spricht auch Gill (2008, S. 52), der gleichwohl glaubt, sie beibehalten zu müssen. Er betrachtet den Dualismus als zwar falsch, aber

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falls in der Anfangszeit der Soziologie nach Gründen für ihre „antitechnischen und antiästhetischen“ Affekte (Eßbach 2001, S. 123), die ihn sogar von einer „soziologischen Sperrklausel gegen die Einbeziehung der technischen und ästhetischen Artefakte“ sprechen lassen (ebd., S. 131). Er formuliert die historische Hypothese, daß die frühe Soziologie „aus dem Horizont der Religion“ hervortrat und dadurch teilweise erklärbar sei, daß man die Dinge übersah oder überging (ebd., S. 126). Mit scheint jedoch für die soziologische Ignoranz gegenüber den Dingen der Dualismus von Natur und Gesellschaft eine bessere Erklärung. 39 Aber nicht nur die Artefakte im Bereich der Technik und der Kunst hat die Soziologie vernachlässigt, sondern sie hat auch Probleme damit, auf die „ökologische Problematik angemessen zu reagieren“ (ebd., S. 123), was ebenfalls auf eine dualistische Verzerrung hinweist. Diese geht zurück auf eine kantianisierende Bewußtseinsfundierung der Soziologie oder auf die klassische Entgegensetzung Verstehen vs. Erklären, die sehr oft eine Ontologie des Sozialen begründet.40 Der Sozialkonstruktivismus als radikalste Form dieses Dualismus gibt mehr oder weniger die Leitlinie für den üblichen Umgang mit Dingen in der Soziologie vor, nämlich darin nichts weiter zu sehen als „Sammelbecken von konvergenten, aber imaginären Erwartungen“ (Thévenot 1994, S. 73). Ich will im folgenden kurz versuchen, eine Alternative zum Dualismus zu skizzieren, um im weiteren verschiedene Vorschläge zu sichten und zu prüfen, wie wir die Dinge in der Gesellschaft (und dann in der Kognition) gerechter behandeln können, anstatt sie als reine Naturgegenstände aus der ernstzunehmenden soziologischen Betrachung auszuschließen.

unhintergehbar und im Alltagsverstand als natürliche Einstellung wirksam. Zum Dualismus in den Sozialwissenschaften siehe auch Breslau 2000, zum Gegensatz Natur/Kultur Rölli 2009. 39 Die religionskritische Denkfigur erhält vor allem im Zusammenhang mit Fetischismus und Verdinglichung Eingang in die Soziologie (s.u. Kap. 2.4). 40 Durkheims Kollektivbewußtsein und auch Simmels entsprechende Beantwortung der kantianisierenden Fragestellung „Wie ist Gesellschaft möglich?“, Simmel 1992b, S. 42 ff. Die verschiedenen Fundierungen der Soziologie in einem genuin Sozialen, das späterhin als Intentionalität oder Normativität gedacht wird, sind so fast immer auf dem Hintergrund von Materialität oder Naturalität zu verstehen. In Schlottmann/ Graefe/Korf 2010 findet sich – ganz auf der Linie meiner Begrifflichkeit – die Kennzeichnung „Post-Dualismus“ für die Gegenposition zu einem sozialen Konstruktivismus.

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Ontologischer Pluralismus und plurale soziale Akteure Wenn man das dualistische Schema verabschiedet – was könnte an seine Stelle treten? Sofern wir die beiden monistischen Alternativen einmal beiseitelassen (Naturalismus und radikaler Sozialkonstruktivismus), bewegen wir uns in Richtung auf eine pluralistische Auffassung von Dingen, Objekten und Entitäten in Gesellschaft oder gar auf eine pluralistische Ontologie hin. Das „Reich der Mitte“, das die beiden dualen Welten Natur und Gesellschaft beerben soll, wie Latour (1995, S. 105 ff.) es formuliert, als Reich der Hybriden zu kennzeichnen, suspendiert das dualistische Erbe für einen Moment, ist aber noch keine tragfähige alternative Ontologie. Denn wenn man versucht, ein ganzes Spektrum von Zwischenwesen zwischen dem Naturpol auf der einen Seite und dem Gesellschaftspol auf der anderen zu entfalten, erhält man einen (womöglich ständig wachsenden) Bereich von Hybriden in der Mitte, gleichwohl einerseits Naturdinge, andererseits Gesellschaftsdinge oder gesellschaftliche Subjekte. Doch eine solche Lösung scheint mir die Mängel des Dualismus bestenfalls zu kompensieren. Ausgehend von den Mischwesen in der Mitte sähe man dann nämlich zur einen Seite des Spektrums hin immer reinere Naturdinge, zur anderen immer reinere gesellschaftliche Subjekte (oder gesellschaftlich konstruierte Objekte). Doch was soll „rein“ in den beiden Fällen besagen? Bei den Naturdingen könnte es purifiziert heißen (wie Atome, wie H2O), könnte es aber auch unabänderlich bedeuten (wie Naturgesetze, wie natürliche Gegebenheiten oder Vorkommnisse in der Art von Vulkanen, Erdbeben oder Galaxien). Zwischen purifiziert und unabänderlich besteht aber ein Unterschied. Hin zum sozialen Pol des Spektrums könnte es immer reineres soziales Handeln bedeuten, immer reinere Subjekte. Darunter läßt sich eher etwas vorstellen, erst recht wenn man soziologisch denkt und einen eigenen Gegenstandsbereich der Soziologie, ein Soziales sui generis im Sinn hat. Aber die Rede von den Zwischenwesen würde dann keinen rechten Sinn mehr machen, es sei denn, man verallgemeinert: Abgesehen von Grenzfällen gäbe es nun nämlich nur noch Hybriden. Dementsprechend könnte man Naturdinge einfach als Grenzfälle betrachten. Auch unberührte Natur wird durch Teleskope, Spektralanalysen etc. vermittelt. Alle Objekte wären letztlich Quasi-Objekte. Daraufhin aber könnte man diese nach neuen Merkmalen unterscheiden oder nach weiteren Dimensionen einteilen. Um nicht in den Dualismus zurückzufallen, sollte man sich neben den beiden das gesamte Sein strukturierenden Dimensionen (oder Polen) „Natur“ und „Gesellschaft“ noch weitere vorstellen. Daß sich alle möglichen Entitäten als Hybriden erweisen, wäre dann nur der erste Schritt in einem umfassenderen Pro-

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gramm: Ihre Spezifität müßte jeweils noch genauer geklärt werden. Wobei die Klärung hauptsächlich eine ontologisch regionale,41 eine pluralistische und empirische wäre. Pluralistisch hieße hier: Etwas drittes (viertes, fünftes …) neben Natur- und Gesellschaftsdingen wäre das zunächst und zumeist Gegebene. Damit hätten wir ein weites Feld vielgestaltiger und vielverfaßter Entitäten, nicht nur zwei, nicht nur drei, sondern vier oder vierzig oder vierzigtausend, über deren Typologie und Einteilung man sich neu Gedanken machen könnte. Auch Natur und Gesellschaft wären dann noch als hin und wieder relevante Extrempunkte, fokussierte Seinsregionen oder als signifikante Begriffsdifferenz in manchen Situationen denkbar, oder, wie das schöne alternative Bild Latours lautet, als Satelliten, die das Reich der Mitte umkreisen: „Die Natur dreht sich, aber nicht um das Subjekt/die Gesellschaft. Sie dreht sich um das Dinge und Menschen produzierende Kollektiv. Das Subjekt dreht sich, aber nicht um die Natur. Es dreht sich um das Kollektiv, aus dem heraus Menschen und Dinge erzeugt werden.“ (Latour 1995, S. 111 f.) Die Einteilung der in Gesellschaft kursierenden und die Gesellschaft konstituierenden, vermittelnden und konturierenden Dinge ließe sich aber nicht mehr sinnvoll anhand der Dichotomie einerseits natürlicher, andererseits nichtnatürlicher, gesellschaftlicher Objekte durchführen, noch lassen sich sinnvollerweise alle Dinge als entweder gesellschaftlich konstruiert oder als natürlich bzw. natural bezeichnen. Bezogen auf physisch-haptische Dinge, gesellschaftlich relevante Sachverhalte und wissenschaftliche Objekte sollte man einen Pluralismus vertreten.42 Latour hat die Dimension der Ereignishaftigkeit einmal als eine weitere Dimension quer zur Achse Natur/Gesellschaft angeführt.43 Diese neue Dimension von Dingen und Entitäten scheint mir aus dem Dualismus hinauszuführen. Latour selbst bringt die Luftpumpe Boyles als Beispiel. Weiterhin könnte man an die Seinsweise der im Labor in Erscheinung tretenden Entitäten, an die epistemischen Dinge erinnern, die sich durch ihre Ereignishaftigkeit auszeichnen.

41 Das Thema der „regionalen Ontologien“ findet sich bereits bei Husserl (2009, S. 23), allerdings in einem speziellen Sinn, den ich nicht unbedingt teile. Latour setzt sich im Rahmen seiner Philosophie der „Existenzweisen“ dezidiert von räumlich gedachten ontologischen Regionen ab (Latour 2012, S. 41). 42 Und sei es einen situativen Pluralismus. Dewey betont den „pluralistischen und individualisierten Charakter von Situationen“: Dewey 2004, S. 393. Im Pluralismus und der Verknüpfung sich überschneidender Situationen kann man eine „via media zwischen Monismus und Monadismus“ sehen (ebd.) 43 Latour 1995, S. 116 ff. Er selbst sieht sie dort als Gegenpol zu Dauerhaftigkeit, Stabilisierung, Wesen.

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Dinge, Objekte ließen sich demnach als Ereignisse denken. Hierher paßt die begriffliche Unterscheidung zwischen ereignishaften Mittlern (médiateurs)44 und selbstverständlich gewordenen und stabilisierten Mitteln, den sogenannten „Zwischengliedern“ (intermédiaires). Mittler sind (nicht nur, aber auch) die Dinge, als Ereignis betrachtet, Zwischenglieder die Dinge (möglicherweise dieselben), als Black Boxes betrachtet, die sich wie selbstverständlich für Handlungen, als Glieder in Handlungsketten darbieten. Die Ereignis-Dimension verweist auf unendlich viele denkbare Entitäten. Jedenfalls lassen sich mehr als die zwei Bereiche Gesellschaft und Natur oder die drei Bereiche Sprache, Natur, Gesellschaft denken, welche die Quasi-Objekte in Wir sind nie modern gewesen so mühelos durchqueren (Latour 1995).45 Noch bevor wir soziologisch auch Dinge und Objekte zu sozialen Akteuren oder anderswie bestimmten sozial relevanten Entitäten machen, können wir philosophisch Pluralisten sein und von der Manngfaltigkeit der Dinge, Objekte, Entitäten ausgehen, aus denen die Welt besteht, die es in der Welt gibt. Dabei muß man betonen, „daß Vielfalt eine Eigenschaft der Dinge ist, nicht der Menschen, die sie interpretieren“.46 Das ist kein kultureller Pluralismus, der sich nur auf Vorstellungen oder Repräsentationen von der Welt bezieht, sondern ein realistischer Pluralismus oder pluralistischer Realismus. Man könnte also die pluralen „Aktanten“ und Akteure nicht nur soziologisch, sondern auch philosophisch interpretieren und von pluralen Agentien ausgehen, von denen die Welt bevölkert ist.47 Die Vielfalt der Entitäten beschränkt sich nicht nur auf die (physischhaptischen) Dinge, wie etwa technische Gebrauchsgegenstände, Kunstwerke, Hochgeschwindigkeitszüge, sondern läßt sich auf weitere Entitäten ausdehnen. Graham Harman unterstreicht diesen ontologischen Pluralismus der Aktanten und radikalisiert ihn (vermutlich über Latours Intentionen hinaus): „Atome und Moleküle sind Aktanten, aber auch Kinder sind es, Regentropfen, Hochge-

44 Oder „Mediatoren“ (wie man médiateurs natürlich auch, begriffssprachlicher, übersetzen kann). Zu den Mittlern und Zwischengliedern siehe Latour 1995, S. 108 ff. Für eine positive und verallgemeinerte Bestimmung der Mittler siehe Latour 2007b, S. 66 ff. 45 Genaugenommen sind es auch dort mehr als drei Bereiche, denn auch vom „Sein“ ist noch die Rede. „Wirklich wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft, existentiell wie das Sein, so sind die Quasi-Objekte“ (Latour 1995, S. 122). 46 Latour 2007b, S. 203, Anm. 203. Latour spricht auch von der „Mannigfaltigkeit der Wesen, aus denen die Welt besteht“ (ebd., S. 435). 47 „Aktanten“ demnach als Element einer pluralistischen Ontologie verstehen, so wie Harman (2009). Latour hat den aus der Linguistik bzw. Semiotik von Greimas stammenden Terminus in die Soziologie eingeführt. Siehe Latour 2007b, S. 95 ff.

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schwindigkeitszüge, Politiker und Ziffern. Alle Entitäten stehen auf genau derselben ontologischen Ausgangsbasis. Ein Atom ist nicht realer als die Deutsche Bank oder die Winterolympiade 1976, auch wenn das eine wahrscheinlich sehr viel länger dauert als die anderen.“ (Harman 2009, S. 14) Mit einem Pluralismus der Entitäten, Akteure oder Ontologien würde man allerdings eine philosophisch heutzutage nicht gerade häufig vertretene Position beanspruchen.48 Denn nahezu alle Debatten hinsichtlich der Logik der Sozialwissenschaften (oder in der sogenannten Philosophie des Geistes) spielen sich zwischen Dualisten und Naturalisten ab. Beide Positionen erscheinen mir unzureichend. Mir geht es hier allerdings nicht darum, eine genau spezifizierte und dimensionierte pluralistische Ontologie zu entwickeln, sondern nur zu verdeutlichen, daß sich eine Alternative zum Dualismus denken läßt, bzw. zum modernistischen Repertoire mit seinen beiden großen Behältern oder ontologischen Zonen „Natur“ und „Gesellschaft“, das unpraktikabel und gegenüber nicht-menschlichen Entitäten reduktionistisch ist. Für mich läuft das auf eine nicht-dualistische oder pluralistische Weltsicht hinaus,49 was im Rahmen dieser Arbeit zunächst einmal besagt, daß es nicht hilfreich ist, die vielen Entitäten nach subjektiv und objektiv oder nach Gesellschaft und Natur einzuteilen (in Latours Terminologie heißt das: nicht-modern oder a-modern sein). Ich will mich hier nicht ausführlicher mit dem Monismus auseinandersetzen, doch auch ein eng gefaßter Monismus, ob Physikalismus, Biologismus, Naturalismus oder Materialismus, impliziert vermutlich einen Dualismus (enthält ein spurenhaftes, zumindest supponiertes Erkenntnissubjekt; oder ist ein cartesianischer Realismus; dazu s.u. Kap. 3.2) oder aber führt, wenn er nicht eng reduktionistisch angelegt ist, zu einer pluralistischen Differenzierung verschieden strukturierter Entitäten innerhalb der naturalistisch oder materialistisch gedachten Welt. Problematisch sind in meinen Augen vor allem eng verstandene Naturalismen, die Kognition bzw. Erkennen in neurologischen Prozessen naturalisieren,

48 Siehe aber als Argumentation für einen pluralistischen Realismus: Gabriel 2013. Historisch gibt es in der Philosophie einige Pluralisten: Leibniz (für den die Welt aus unzählig vielen Substanzen, genannt Monaden, zusammengesetzt ist), in jüngerer Zeit James (Erfahrungspluralismus), Dewey (situativer Pluralismus), Whitehead (der versucht hat, die Pluralismen von James und Dewey in seiner eigenen pluralistischen Kosmologie zusammenzuführen). Wollte man den Begriff des Pluralismus philosophisch weiter verfolgen, müßte man sich mit Goodman genauer auseinandersetzen, der aber von einer Pluralität von Welten spricht und so einen anderen Akzent setzt; vgl. Latour 2007b, S. 47 und 204 ff. 49 Die Problematik Dualismus/Monismus diskutiert auch Gill (2008, S. 52 ff.), der allerdings den Pluralismus nicht als Option anführt (und Whitehead zu den Monisten rechnet).

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Bewußtsein reduzieren oder Gesellschaft biologisieren.50 Daß der sozialkonstruktivistische Monismus (alles ist gesellschaftlich konstruiert) einen Dualismus impliziert, müßte auf den vorangegangenen Seiten zur dualistischen Ontologie mehr als deutlich geworden sein (denn er supponiert die neutrale Natur oder Materie als Hintergrund). Eine pluralisierte Ontologie bedeutet unter anderem: Im Unterschied zur analytischen und bewußtseinsphilosophischen Tradition ist die Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt nicht die primordiale und alles weitere entscheidende Beziehung. Auch Dinge, Maschinen und Entitäten verschiedenster Art stehen in Beziehung zueinander, ohne daß wir sie zunächst entweder als Phänomene für ein Erkenntnissubjekt oder nach dem Muster des kausalen Naturmechanismus verstehen müssen. Was die Rede von den Dingen betrifft, so ist zu präzisieren, daß es mir nicht um eine dingförmige Ontologie geht, sondern um eine, die Dinge mit in Rechnung stellt, die Dinge nicht reduziert auf etwas anderes (Dinge sind real, wenn auch nicht das einzig Reale). Soviel zu einem philosophisch verstandenen Pluralismus.51 Soziologisch läßt sich die Rede von einer pluralistischen Ontologie zweifach verstehen und fruchtbar machen: zum einen als Erweiterung des Spektrums der sozialen Akteure,52 zum anderen als Berücksichtigung der in Gesellschaft vertretenen Ontologien, also der von pluralen Akteuren und Praktiken in der Gesellschaft bekundeten oder durchgesetzten Ontologien. Das heißt, neben den vielfältigen Akteuren, die sich gesellschaftlich geltend machen, sind noch jene Entitäten einzubeziehen, die von ihnen geltend gemacht werden. Das geht ein wenig über das hinaus, was man traditionell als Weltanschauungen bezeichnet oder unter dem Wissensbegriff abzuhandeln versucht hat. Gemeint ist, daß in einer Gesellschaft verschiedene Menschen, Gruppen, Professionen, Institutionen mit unterschiedlichen Wirklichkeiten rechnen und umgehen; das erfordert eine Aufwertung der üblicherweise ganz ins Subjektive abgedräng-

50 Auch Dewey versteht sich als Naturalist, aber er naturalisiert Erkenntnis nicht in diesem Sinne, reduziert Bewußtsein (oder individuellen Geist) nicht auf Gehirnprozesse und ist weit von einem biologistischen Gesellschaftsbegriff entfernt. 51 Den ich, wie gesagt, nur am Rande behandle und der zum einen von Graham Harman thematisiert und vertreten wird (Harman 2009), zum anderen am konsequentesten von Whitehead; dieser beschränkt den Subjektbegriff nicht auf menschliche Subjekte. Auf ihn beruft sich Latour des öfteren, vermittelt über Stengers (Latour 1996c, Stengers 2002b). Von „Multirealismus“ spricht Latour ebenfalls (Latour 2003a, S. 202, Latour 2011, S. 312); auch sein „Irreduktionismus“ meint etwas ähnliches (Latour 1984, S. 169 ff.). 52 Genauer dazu die Aktanten- und agency-Debatte, der ich mich im nächsten Kapitelabschnitt (2.2) widmen werde.

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ten Welt-„Anschauungen“. Denn viele soziale Akteure bringen Welten zur Geltung, Dinge in Existenz, Dinge in Gesellschaft. Auch die verschiedenen Wissenschaften als „Forschende plus Instrumente plus epistemische Dinge plus Gemeinschaft der Mitforschenden“ bilden einen Teil, um nicht zu sagen Teile der Gesellschaft, ihre spezifische Ontologie wirkt sich aus, erweitert sich, indem sie andere Bereiche umwandelt, transformiert, assimiliert, kolonisiert. Ob wissenschaftliche Objekte, Diskurse oder Praktiken dabei ihren wissenschaftlichen Charakter verlieren oder nicht, ist eine schwierige Frage.53 Das läßt sich auch und vielleicht besser mit dem Begriff der Akteurnetzwerke formulieren: Es werden nicht einfach Viren entdeckt, sondern die Viren mitsamt ihren Virologen verändern die Gesellschaft. Dasselbe gilt für Atome, Kernkraftwerke und Atombomben mitsamt ihren Atomwissenschaftlern, für Songs und Symphonien mitsamt ihren Komponisten und Interpreten. 54 Hier ist noch darauf hinzuweisen daß „Fürsprecher“ der maschinellen oder rechnenden Mit-Aktanten, -Akteure oder -Agenten das Wort ergreifen. So gibt es Computerwissenschaftler, die Vorträge halten mit dem Titel „Emotionen bei autonomen Robotern“ oder Kongresse veranstalten über „Nachahmung bei Tieren und Artefakten“.55 Hinsichtlich dieser geltend gemachten und strittigen Dinge läßt sich noch einmal darauf hinweisen, daß die Frage nach bislang bloß Menschen zugeschriebenen Fähigkeiten auch außerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften im engeren Sinne diskutiert wird. Es existieren also nicht nur hybride Übergangsbereiche, die wir nicht konzeptualisieren, beschreiben können, wenn wir nur den Anfangs- und Endpunkt benennen; sondern es treten auch Fürsprecher auf, die im Namen der Hybriden oder Nicht-Menschen sprechen und diese inmitten der Gesellschaft geltend machen, manche hypothetisch, manche programmatisch, manche politisch, manche philosophisch, manche alarmistisch. Und es melden sich natürlich auch Gegner dieser Fürsprecher zu Wort. Von der Zurückweisung der dualistischen Bipolarität Natur/Gesellschaft sind wir zur Pluralität der Wesen, Entitäten, aus denen die Welt bzw. die Gesellschaft besteht, gekommen. Ich wende mich nun detaillierter der soziologischen Lesart eines solchen Pluralismus zu und hier zunächst der Vielheit der sozialen Akteure.

53 Die ich hier nicht weiter verfolgen will; daß sie kontrovers verstanden werden kann, wurde oben in Kap. 1.5 anhand der Frage nach den epistemischen Dingen außerhalb des Labors deutlich. Siehe dazu Stengers 1997b und Stengers 1997a, S. 59 ff. 54 Zu den Viren bzw. Mikroben Latour 1984, Sarasin/Berger/Hänseler 2007. 55 Vortrag von Andrew Ortony im Einsteinforum in Potsdam am 25.5.2005: „Affect and Emotion in Autonomous Robots: Why and How?“, sowie Nehaniv/Dautenhahn 2002.

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2.2 D INGE

SOZIAL DURCH

H ANDLUNG

Dinge handeln mit. Soviel scheint Konsens zu sein,56 nachdem Bruno Latour mit seinem Slogan von Dingen und Objekten als sozialen Akteuren einigen Staub in der soziologischen Disziplin aufgewirbelt hat. Oder war das ein Mißverständnis? Ob Dinge handeln können, ist vielleicht nicht die wichtigste Frage, sondern ob sie überhaupt wahrgenommen werden von einer (kulturalistisch argumentierenden) Soziologie, die auf die Natur als Kontrastfolie zur Gesellschaft angewiesen ist und dementsprechend dualistisch denkt. Hier sei noch einmal an das oben Gesagte erinnert: Um die soziologische Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, verfügen wir vielleicht noch über andere Optionen, als sie zu sozialen Handlungsträgern, Akteuren zu machen. Es geht weniger um die Frage: Können Dinge handeln? Sondern vorrangig um die nach ihrem Status in der Gesellschaft. Welche Rollen spielen sie darin, welche Funktionen haben sie, welche Konstellationen bilden sie und wie werden wir ihnen im Beschreiben, Berichten, Erklären gerecht? Bevor ich mich anderen Möglichkeiten zuwende, um Dinge in den sozialwissenschaftlichen Diskurs einzubringen bzw. zu integrieren,57 will ich als erstes die zugespitzte Frage erörtern, ob Dinge als soziale Akteure taugen. Oder etwas differenzierter die Frage stellen nach dem Handeln oder Mithandeln von Dingen, Geräten und Automaten in Gesellschaft. Zunächst muß man daran erinnern, daß der englische Begriff „agency“ für einen Teil der hier immer wieder aufgeworfenen Probleme verantwortlich ist. Dinge oder Objekt hätten „agency“, heißt es manchmal.58 Agency aber bedeutet nicht einfach „Handeln“, auch wenn es oft so übersetzt wird, sei es im Rahmen von philosophischen Handlungstheorien, sei es in der Soziologie.59 Agency ist

56 Das „Mithandeln“ als soziologisch akzeptierte Form der Handlungsmacht von Dingen ist gewissermaßen ein tragfähiger Kompromiß für verschiedene Positionen in dieser Debatte, auch bei Kritikern des Aktantenbegriffs, siehe Rammert 1998a, S. 305, Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b, S. 13, Joerges 2002, Strübing 2005, S. 310 f. Joerges spricht schon in Joerges 1989, S. 61, davon, daß gegenständliche Artefakte „mithandeln“ (wobei er diesen Begriff allerdings in distanzierende Anführungszeichen setzt). 57 Wie Normativität und Assoziierungen von Menschen mit Dingen (s.u. 2.3 und 2.5). 58 Böhme 2006, S. 14, Latour 2005a, S. 63. 59 Giddens 1988, S. 55 ff. In der jüngeren philosophischen Diskussion ist bei agency vor allem human agency gemeint. Auf diese stillschweigende Implikation weisen Balibar/Laugier (2004) hin. Der Titel des Textes „Handeln“ von Davidson lautet im Englischen „Agency“, vgl. Davidson 1990.

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zuerst einmal ein Synonym für Handeln, zweitens bezeichnet es jedoch so etwas wie eine spezifische Handlungsursache und charakterisiert drittens Handeln (action) als solches (seine aktive versus passive Natur). Historisch gesehen bezeichnet agency zunächst eine Kraft, eine Wirkungsmacht, die noch nicht genauer als menschliche oder nicht-menschliche bestimmt ist.60 Im Laufe seiner Begriffsgeschichte hat im 20. Jahrhundert ein Bedeutungswandel stattgefunden: weg von einer agency, die als Handlungsursprung, Wirkungsmacht, als aktive Kraft61 (vs. passives Erleiden) oder als Handlungsprinzip zu verstehen ist, und hin zu einem dezentrierten und dispositionalen Handlungsbegriff, der die Trennung aktiv-passiv unterläuft und verschiedene Handlungsund Aktionsmodi denkbar macht. Ein solcher Handlungs- bzw. agency-Begriff ist in der Philosophie zu konstatieren,62 ferner in der (englischen) Alltagssprache mit einer ökonomischen, juristischen (Agentur) und politischen Bedeutungsnuance von agency zu finden. Im Bereich der Soziologie, insbesondere in der Techniksoziologie und den Science studies, schließt man an diesen dispositionalen Handlungsbegriff an bzw. arbeitet ihn weiter aus. Hier wird inzwischen zu neuen Übersetzungsmöglichkeiten gegriffen: „Handlungsträgerschaft“, „Agentur“, „Handlungspotential“, „Handlungsmacht“, „Wirksamkeit“,63 oder gar „agency“ unübersetzt stehen gelassen.

60 In diesem Sinne verwendet es zum Beispiel Andrew Pickering: Pickering 1995, 2007. Dieser führt auch einen Beleg aus dem Jahre 1841 an, wo davon die Rede ist, daß Arbeit „by various agencies; by men, by horses, by water, by wind, by steam“ geleistet wird, also von verschiedenen „agencies“, wie Menschen, Pferden, Wasserkraft etc. Pickering 1993, S. 566. Hier ist eher von Entitäten die Rede, die agency sind als agency haben. 61 Vgl. Balibar/Laugier 2004, S. 28. Auch heute noch wird es manchmal als „Kraft“ übersetzt. Vgl. Dewey 1995, S. 114. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß „agency“ in ein Wörterbuch „unübersetzbarer“ philosophischer Begriffe aufgenommen worden ist (Cassin 2004), in dem sich auch der angeführte Text von Balibar/Laugier findet. Die „Unübersetzbarkeit“ von agency ins Französische konstatiert auch Latour in einer Anmerkung zur französischen Übersetzung seines Buchs Reassembling the Social (Latour 2006, S. 65). In neuerer Zeit hat Latour einen neuen Begriff, von Souriau entlehnt, eingeführt, Existenzform bzw. Existenzmodus, so daß in gewissem Sinne Aktanten (bzw. agencies), Entitäten und Existenzformen etwas ähnliches bezeichnen. (Vgl. meine Anmerkung zur Übersetzung von agency in Latour 2007b, S. 79.) 62 Bei Austin und Davidson. In mancher Hinsicht vorher schon bei Dewey, der aber andere Begriffsoptionen wählt, u.a. „intelligent action“, siehe Eldridge 1998, S. 5 und S. 204, Anm. 14. 63 „Handlungsträgerschaft“ findet man in Rammert/Schulz-Schaeffer 2002a, Rammert spricht 2002 in einem Vortrag von „Agentur“ und „Agentenschaft“ (abgedruckt in

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Denn überträgt man agency ins Deutsche, so gerät man in eine dualistische Zwickmühle: entweder „Wirkungsmacht“ oder „Handlungsmacht“, entweder „Aktionspotential“ oder „Handlungspotential“, entweder „Agieren“ oder „Handeln“. Je nach der Übersetzung fokussiert man auf das menschliche oder nichtmenschliche Ende des Handlungsspektrums, das entgegengesetzte Ende verblaßt oder wird zu einer bloß noch abgeleiteten Form seines Gegenpols. So kann man provozieren: „Auch Dinge können handeln“; oder herunterspielen: Die „Aktivität“ von Robotern oder die „Tätigkeit“ von Vulkanen sind derart unschuldige Übersetzungen von agency, daß man nicht mehr versteht, wieso hier irgendeine Debatte Staub aufwirbeln konnte. Doch es wurde und wird, und zwar heftig, debattiert. Diese Debatte zur Handlungsmacht der Dinge will ich im folgenden aufgreifen. An einem Ende des Spektrums steht ein „schwacher“ Handlungsbegriff, wie er oft bezeichnet wird (Meister 2002), oder ein nicht so voraussetzungsreicher oder dispositionaler, am anderen Ende ein emphatischer, meist als intentional qualifizierter (ob „intentional“ eine ausreichende oder halbwegs klare Bestimmung ist, will ich weiter unten noch einmal thematisieren). Den Begriff der Praktiken werde ich nicht gesondert behandeln, das meiste, was ich zum Handeln sage, läßt sich auf ihn übertragen. In manchem scheint er besser geeignet als der Handlungsbegriff, um nicht mit Bewußtsein gekoppelte Tätigkeiten in das Soziale einzubeziehen, da er nicht so sehr auf Intentionalität und subjektivem Sinn insistiert und Materialität einbezieht. Bei Schatzki (2001) wird man freilich darüber belehrt, daß auch in der sogenannten Praxistheorie ein „minimalistischer“, „schlanker“ Praxis- bzw. Praktikenbegriff von einem emphatischen unterschieden wird und hier ebenfalls darüber gestritten wird, ob Artefakte und andere Dinge nur bloße „Zwischenglieder“ (intermediaries) (ebd., S. 2) zwischen Menschen sind oder eine soziale Eigendynamik entfalten, die weiteres Nachforschen lohnt.64 Ich werde nun verschiedene Versionen, Figuren, Facetten, Aspekte des Agierens durchgehen, die man auch als solche des Handelns (oder als Übersetzungs-

Rammert 2007b, S. 79 ff.), „Agentur“ findet sich ebenfalls in Böhme 2006 und Schulz-Schaeffer 2008b, „Handlungspotential“ in Degele/Simms 2004, S. 265, von „verändernder Wirksamkeit“ spricht Schulz-Schaeffer (2008b). Zu „Handlungsmacht“ siehe Becker/Cuntz/Kusser 2008 und Roßler 2007. Auch Schüttpelz spricht in seinen Überlegungen zur „Kategorisierung der ‚agency‘“ von „Handlungsmacht“ und „Handlungspotential“ (Schüttpelz 2008, S. 242 ff.) 64 Schatzki 2001, S. 2 ff. Daß Praktiken sich durch Materialität auszeichnen und daß sie Artefakte und Objekte einschließen, heben Hillebrandt (2002) und Reckwitz (2002) hervor.

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varianten von agency) verstehen könnte, und fragen, ob und wie sie sich mit dem Handeln oder Agieren von Dingen vertragen.

Facetten des Handelns, Figuren des Agierens Wirkungsmacht (agency 1) Bevor Dinge und andere nicht-menschliche Entitäten sich als soziale Akteure fassen lassen, finden wir so etwas wie eine Nullstufe ihres Agierens, die Andrew Pickering als „material agency“,65 also „materielle Wirkungsmacht“ charakterisiert. Es gibt eine Gemeinsamkeit von Menschen und materiellen Entitäten, die darüber hinausgeht, daß sie von materieller Körperlichkeit sind: Sie agieren. Zum eigenmächtigen Agieren nicht-menschlicher Entitäten rechnet Pickering sowohl das Agieren von Elementarteilchen in Nebelkammern und Teilchenbeschleunigern als auch das Agieren der Teilchenbeschleuniger selbst sowie anderer Maschinen, die in der Wissenschaft zum Einsatz kommen. Weitere materielle Agenten in seinem Sinne sind Wirbelstürme, Flüsse und kybernetische Maschinen. Allerdings gesteht Pickering Maschinen und anderen nicht-menschlichen Entitäten deutlich mehr Eigenaktivität zu, als dies traditionellerweise geschieht. Und es taucht neue materielle Wirkungsmacht im Wechselspiel mit menschlicher auf.66 Vergleichbare Positionen werden in der Techniksoziologie häufiger vertreten, wenn es um neue Technologien geht, bei denen technische Geräte, Maschinen sich als zunehmend aktiv erweisen. Dimensionen von Aktivität und Niveaus der Aktionsfähigkeit (Rammert 2006, S. 171) gehören für mich ebenfalls zu dieser Figur des Agierens (bzw., wenn man auf Interaktivität und Autonomie abhebt, auch zur nächsten). Eine so verstandene agency läßt sich übersetzen als Agenz, (verändernde) Wirksamkeit, Wirkungsmacht. Diese erste Figur des Agierens nicht-menschlicher Entitäten ist nicht sehr trennscharf. Es besteht außerdem die Gefahr, daß sie naturalistisch mißverstanden wird, sofern sie nicht ohnehin so gemeint ist. Jedenfalls könnte eine solcher65 Siehe etwa Pickering 1993, S. 562; Pickering 2007, S. 22. 66 In manchem ist eine so verstandene materielle agency das Pendant des „Widerstandes“ als Realitätsindex, wie man ihn in pragmatistischer Tradition häufiger findet. Pickering entwickelt diesen Realitätsindex begrifflich weiter hin zu einer „Dialektik von Widerstand und Anpassung“, die er als „Mangel der Praxis“ bezeichnet (Pickering 1995, 2007, S. 17 ff.). Er versucht das Problem des Agierens von Dingen durch zeitlich verteilte Rollen zu lösen und spricht von einem „Tanz der Wirkungsmacht“ (dance of agency).

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art verallgemeinerte agency als Wirkungsmacht an ein von Druck und Stoß beherrschtes kausal geschlossenes Universum denken lassen.67 Von einer solchen Vorstellung abheben läßt sich der Begriff, indem man die Wirkungsmacht nicht agierender Objekte in diese erste Bedeutungsnuance von agency einbezieht, wie etwa die Wirkungsmacht von Kultur-, Kult- und Kunstobjekten. Ein Kunstwerk besitzt Wirkungsmacht, auch wenn es keine zappelige Maschine ist (wie die Kunstwerke Tinguelys beispielsweise). Sein Sinn oder seine Bedeutung oder seine Schönheit wirken fort, könnte man sagen. Wie, ist noch einmal eine andere Frage. Zunächst einmal übersteigen sie die Intentionen von Autor und Rezipienten. Sodann lassen sie sich nicht von der Verkörperung, Materialität des Kunstwerks trennen; in dieser Hinsicht ließe sich diese erste Form von agency (agency 1) besser als „Aktion“ oder „Akt“ übersetzen.68 Eine solches Aktionsvermögen der Dinge ließe sich mit unseren Eigenschaften der neu konzeptualisierten Dinge aus Kapitel 1 in Verbindung bringen. Dinge sind aktiv, wenn man sie geschichtlich denkt, sie sind auch aktiv in ihren problematischen, nicht festumrissenen Existenzformen (wo fängt ein Kunstwerk an, wo hört es auf?) Mit dieser Form der Aktionshaftigkeit, diesen Akten oder Aktionen (ob von Dingen oder anderen Akteuren) nähern wir uns einem performativen Verständnis von agency und der nächsten Figur des Agierens, der Akteurhaftigkeit.

Akteurhaftigkeit (agency 2) Viele der neuen sozialen Agenten, ob halbwegs intelligente Computer oder eher schlicht agierende Anrufbeantworter, gehen nicht in Wirkungsmacht auf. Sie sind vielmehr Akteure in der Interaktion mit menschlichen Akteuren. Ihre Aktivität geht über in „Akteurhaftigkeit“, wie man diese zweite Figur des Agierens nennen könnte – die Maschine als Gegenpart oder Partner des Menschen, der Dialog mit dem Computer als neue Interaktionsform. Wenn man soziale Situationen als ein Geflecht sozialer Handlungen, Interaktionen, Rollenerwartungen und Rollenerfüllungen beschreibt, wie Goffman (1997) etwa, ist es nur ein kleiner Schritt, die Dinge als Mitspieler auf der gesellschaftlichen Bühne zu begrüßen. Sie mögen meist nicht die Hauptdarsteller sein, doch sie sind (Mit-)Akteure, und sei es in der Funktion von Komparsen, Souff-

67 Ein eng verstandener Naturalismus und Monismus sind die damit verbundenen Weltbilder. 68 Zur agency von Kunstwerken vgl. auch Becker/Cuntz/Kusser 2008, S. 17 f. „Bildakt“ ist ein Leitbegriff in Bredekamp 2010. Heidegger spricht vom „Ereignishaften“ des Kunstwerks, Heidegger 2003, S. 53.

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leuren, Beleuchtern. Diese Theater-Begrifflichkeit kann man sich beispielhaft erweitert denken um die vielen Rollen, die manche Dinge wie Autos, Flugzeuge, Waffen in Action-Filmen spielen. Oder subtiler: die Dinge überhaupt, dann auch Agenturen wie Licht und Schatten in Filmen spielen (Engell 2008). Und man kann sie erweitern um die vielen Rollen, die alltägliche Dinge spielen. Uns als Gegenpart nötigen sie damit andere Rollen zu spielen auf oder ermöglichen sie uns. Wie etwa das Rednerpult, das seine Rolle spielt, dem Redner seine und den Zuhörern ihre Rolle zuweist, andeutet, erleichtert.69 Mit Akteurhaftigkeit der Dinge haben wir es ebenfalls zu tun, wenn avancierte technische Objekte als nicht-menschliche Interaktionspartner fungieren. Etwa Computer: Wir personalisieren diese Geräte ganz anders,70 als wir es beispielsweise mit einem Bleistift oder Kugelschreiber tun. Solche Schreibgeräte sind zuhanden oder nicht, während der Rechner uns mit Bildschirmbotschaften konfrontiert, in einen Dialog verstrickt, zu Tätigkeiten auffordert oder sanft unser Handeln lenkt. Dergleichen läßt sich leicht als Interaktion mit einem Partner erleben oder beschreiben (Geser 1989; Braun-Thürmann 2002). Auch die „Autonomie“ bestimmter technischer Artefakte, die für manche Autoren bedeutsam ist (Rammert 2006), gehört für mich in diese Kategorie der Akteurhaftigkeit. Denn betont wird das sichtbare und erfahrbare Agieren von Maschinen und Robotern als relativ autonomen Akteuren in der sozialen Welt. Und die Frage nach der künstlichen Intelligenz läßt sich in die Vorstellung von künstlichen sozialen Agenten und Akteuren überführen.71 Aber: Es ist nicht alles Handlung, was agiert. Hier sollte man sich Max Webers Erweiterung seiner Handlungsdefinition in Erinnerung rufen, worin er jedem sinnbehafteten Tun und Lassen72 (welches er freilich den Menschen vorbehielt), das auf ebensolches Tun und Lassen anderer Akteure bezogen ist, den Status von sozialem Handeln verlieh, während heutzutage oft eine eher aktionistische Sicht auf das Handeln vorherrscht. So als wäre eine Tür, die ein Konferenz-

69 Pinch (2010) ist systematischer der Frage nachgegangen, inwieweit sich schon bei Goffman technische und materiale Akteure oder Agenzien finden, wie etwa die Schwingtür, die in einem Restaurant die Küche vom Gastraum, die Hinterbühne von der Bühne, trennt. 70 Personalisieren weniger im Sinne von menschlicher Person, sondern mehr von Maske, Part und Rolle. 71 Diesen interessanten Gedanken hat Harry M. Collins leider dann doch wieder auf die bekannte Demarkationslinie „Handeln vs. Verhalten“ zwischen Menschen und Rechenmaschinen zurückgebogen (Collins 1990). 72 Genauer: „Tun, Unterlassen oder Dulden“ (Weber 1985, S. 1). Ich komme darauf weiter unten noch einmal zurück.

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zimmer oder einen Seminarraum verschließt, kein Akteur in diesem Sinne.73 Prototypische Beispiele für die Akteurhaftigkeit sind für mich gleichwohl Roboter, Computer und interagierende E-Objekte (wie Websites).

Akteurhaftigkeit vertieft zur „Substanz“ hinter der Performanz oder zur Autorschaft Die Akteurhaftigkeit deckt manche Facetten der agency ab, die von meiner ersten Figur des Agierens, der Wirkungsmacht, nicht getroffen wurden. Dinge als Akteure zu betrachten, zu beschreiben enthebt uns außerdem, ähnlich wie die Rollentheorie bei Menschen, dessen zu sagen, was Dinge wirklich, in ihrem tiefsten Inneren sozusagen, sind, oder was ihr Agieren wirklich ist (ob ein Handeln oder nur ein Verhalten oder eine Aktion …), obwohl wir damit gleichzeitig recht gut beschreiben können, wie sie agieren und/oder handeln. Von der Rollentheorie, der Theaterbegrifflichkeit und der darstellerischen Leistung läßt sich so übergehen zu Performance, Performanz und Performativität und damit unsere Terminologie ein wenig aktualisieren.74 Agieren wird dann zu einem performativen Akt oder Handeln zu einer Kette von Akten, die erst nachträglich die Frage beantworten lassen, wer oder was da gehandelt hat. Man könnte hier von der konstitutiven Nachträglichkeit von Kompetenz, Substanz, Subjekt, Entität, Essenz und Urheberschaft sprechen. In dieser Sicht ist jede Handlung zunächst (nicht: grundsätzlich) eine Verknüpfung von Akten (Cuntz 2009, S. 28 f.), von Verhaltenssequenzen, die möglicherweise erst nachträglich zur Handlung werden.75 Man könnte aber auch der Akteurhaftigkeit in einer anderen Richtung nachgehen, nicht hin zur Kompetenz oder Substanz hinter der Performanz, sondern hin zur Autorschaft des Theaterstücks, das hier gegeben wird: Ist nicht vielleicht der Sozialwissenschaftler so etwas wie ein Autor, der in seiner „semiotischen“ Darstellung auf dem Papier die Dinge „nur metaphorisch“ handeln läßt? So lautet eine häufige Kritik, wenn Dinge als Akteure betrachtet werden, bzw. an der Akteur-Netzwerk-Theorie. Man interpretiert die Akteurhaftigkeit der Dinge als

73 Zur Frage, ab welchem Punkt oder anhand welchen Kriteriums man denn ein Ding als sozialen Akteur bezeichnen kann, s.u. „Zuschnitt der Akteure“. 74 Zum Begriff des Performativen siehe etwa Fischer-Lichte 2004, S. 31 ff., sowie Wirth 2002. 75 Wobei es nicht notwendigerweise um die Performanz von Handlungen, sondern auch von Aktionen geht, wie Latour (1996c) anhand des Zusammentreffens eines Milchsäureferments mit Pasteur darlegt; und Gomart (2002) anhand der Aktion bzw. Wirkung von Methadon.

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„bloße“ Metapher, oder man stößt sich an der aus der Semiotik stammenden Begrifflichkeit der ANT.76 Um kurz auf diese Kritik einzugehen: Die Rollentheorie schließt nicht zwangsläufig aus, daß es ein wahres Selbst hinter den Rollen gibt, das mit dem Rollenmanagement befaßt ist, auch wenn dieses nicht substantialistisch verstanden werden muß. Ebenso kann es bei Dingen, die wir zu sozialen Akteuren oder Aktivisten erklären, offen bleiben, ob wir damit notwendigerweise ihre wahre Natur treffen, sofern wir sie, ihr Agieren oder ihre stumme Dienlichkeit mit diesen Begriffen gut fassen können, seien sie nun aus der Semiotik oder sonstwoher entlehnt.

Zuschnitt der Akteure Die Frage nach dem Selbst (oder dem eigentlichen Ding) hinter den Rollen läßt sich auch „herunterbrechen“ auf die einzelnen physisch-haptischen Dinge. Warum können wir einen hydraulischen Türschließer als sozialen Akteur ansehen (oder als sozial relevante Entität)? Weil dieses Gerät den menschlichen Türöffner (und -schließer) ersetzt. Den Fahrkartenautomat, weil er einen Fahrkartenverkäufer samt seinem Schalter ersetzt. Ähnliches gilt für die Automatenstimme, die mir bei der Telefonauskunft eine Telefonnummer ansagt. Damit taucht freilich das Problem der Gliederung und Artikulation der Welt auf, des „Zuschnitts“ der relevanten Akteure bzw. Entitäten, um mir einen Ausdruck von Mead auszuleihen, wonach die Dinge durch unser Handeln und unsere Verhaltenserwartungen ihnen gegenüber aus der Umwelt „herausgeschnitten“ werden.77 Denn die soeben erwähnten Übersetzungen, Ersetzungen von menschlichen durch nicht-menschliche Akteure bleiben nur eine Zeit lang in (gesellschaftlicher) Erinnerung. Das Telefongespräche vermittelnde „Fräulein vom Amt“ wird durch ein Relais ersetzt; aber dieses Relais und dessen Ersetzungen in elektronischen Schaltkreisen bemerkt man nach einer Weile gar nicht mehr. Latour löst dieses Problem durch das Blackboxing und die Unterscheidung zwischen ereignishaften Mittlern und gewohnten Zwischengliedern, darüber hinaus thematisiert er es als Austausch von Eigenschaften zwischen Menschen und Nicht-Menschen,78 andere Autoren durch die Eigenaktivität und Autonomie neu-

76 Zum Beispiel Greif 2005, S. 70 ff. Auch Pickering hebt immer wieder darauf ab, daß die ANT bloß eine semiotische Interpretation der Wirklichkeit sei (etwa Pickering 1995, S. 12 f.). 77 Mead 1980a, S. 308. Aber ohne die möglichen sensualistischen und konstruktivistischen Konnotationen dieses Zitats zu teilen. 78 S.u. S. 151 f.

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er technischer Objekte79 (ich komme auf Frage nach dem Zuschnitt sozialer Akteure noch einmal zurück).

Handlungsmacht (agency 3) Im Englischen führt das Wort agency eine juristische Bedeutungsnuance mit sich: Handlungsvollmacht.80 Man kann Handlungsvollmacht an einen Handlungsbevollmächtigten (Agenten, Agentur) übertragen. Schon in menschlicher Form stellt ein solcher Agent ein durchaus doppeldeutiges Muster von Aktivität und Passivität dar; zwar ist er nur der passive Erfüllungsgehilfe von jemand anderem (dem Prinzipal, wie es juristisch heißt), und doch ist er es, der aktiv ist, tätig ist und agiert. Der Gedanke liegt nahe, nach dem gleichen Muster das Delegieren von Handeln an Dinge zu konzipieren: Dinge als soziale Agenten, Handlungsbevollmächtige, Handlungsträger.81 Es sind Geldautomaten, Autopiloten und schon Anrufbeantworter, die im buchstäblichen Sinne eine Handlung tragen, die Menschen an sie delegiert haben. Und es sind elektronische Agenten, die inzwischen für uns ein Hotel heraussuchen und buchen. Gegen eine solche Interpretation der Dinge als Handlungträger wird gerne eingewandt, daß wir an Dinge und Automaten nicht wirklich Handeln übertragen, sondern automatisierte Teilstücke von Handlungen, also eher Verhaltenssequenzen.82 Es sei kein Handeln, heißt es, denn die Automaten und Maschinen hätten keine Intentionen, würden keinen subjektiven Sinn mit ihrem Tun verbinden.

79 Rammert unterscheidet verschiedene Stufen von agency anhand verschiedener technischer Operationsmodi, die folgende Reihe ergeben: passiv (Werkzeuge und Instrumente), semiaktiv (Geräte, Maschinen mit irgendwelchen operativen Eigenschaften wie Kassettenrecorder), reaktiv (Geräte mit Rückkopplungsschleifen), proaktiv und kooperativ; Rammert 2012, S. 97. Siehe auch Rammert 2006, S. 171 f. 80 Vgl. Balibar/Laugier 2004, S. 31. 81 Soziale Agenten: Collins 1990; Handlungsträger bzw. -bevollmächtige: Latour 1996b, Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b. Das Wort „Handlungsträger“ hat eine Doppeldeutigkeit, die ich nicht ganz auflösen kann, nämlich einerseits Handlungsträgerschaft in dem Sinn, wie man auch vom Träger einer Einrichtung spricht; das bedeutet dann die Handlungsmacht des Handlungsvollmachtgebers, des Prinzipals. Andererseits im Sinne des Tragens und Weitertragens einer Handlung, des Trägers als Vollziehers einer Handlung, was dem Handlungsbevollmächtigten entspricht. 82 Vgl. etwa Collins 1990; als Kritik an der zu einfachen Trennung zwischen Verhalten und Handeln: Joerges 2002.

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Das mag so sein. Dennoch verändert sich dadurch, daß automatisierte Teilsequenzen an nicht-menschliche soziale Akteure übertragen, delegiert werden, die Handlung erheblich, sowohl der verbleibende menschliche Handlungsbeitrag als auch die neue hybride Handlung. Und nicht nur der Vollzug der jeweiligen Handlung ändert sich, sondern auch die mit ihr verbundene, nennen wir es: Handlungskultur. Man kann dabei an das Kultivieren von Gewohnheiten denken, wozu auch der Umgang mit diesen verselbständigten Handlungsmustern, Handlungsketten, ihre Einhegung, Kommentierung, Rechtfertigung gehört. Ob Dinge selbst Handlungsmacht haben, oder ob sie unsere Handlungsmacht durch ihr Handlungspotential „bloß“ verändern, ist eine Frage, die hier auftaucht. Von einer flexiblen Verteilung der Handlungsmacht aus gesehen, sollten menschliche und nicht-menschliche Handlungsträger prinzipiell gleichgestellt sein, um dann in einem konkreten Fall jeweils zu erkunden, wer handelt und/oder als Handlungsträger Macht gewinnt und/oder wem „Handlungspotential übertragen“ wird (Degele/Simms 2004, S. 265). Denn die Handlung kann sich verselbständigen und vom menschlichen Handlungs(auf)träger nicht mehr so ohne weiteres eingeholt, kontrolliert oder nachvollzogen werden. Die Handlungsketten verlängern sich. Man könnte hier eine Variante von technischer Vermittlung heranziehen, die Latour als „Zusammensetzung“, auch „Bildung, Komposition der Handlung“ bezeichnet; sie ist gekennzeichnet durch die zunehmend längeren Handlungsketten und die vielen an der Handlung beteiligten Akteure bzw. Entitäten. „Handeln ist eine Eigenschaft von Verbindungen, von assoziierten Entitäten.“ (Latour 2000, S. 220 f.) Die Verlängerung der Handlungsketten wird gerne als Entfremdung und Verdinglichung gegeißelt. Freilich lassen sich auch positive Formen der Verselbständigung anführen, zu denken wäre hier etwa an ein entstehendes Kunstwerk, wo das bereits realisierte Werk, das angefangene Bild, die begonnene Skulptur als Stütze, Ansporn, Widerpart beim weiteren Entstehungsprozeß wirken.83 Auch kann der menschliche Handlungsträger neue Kreativität entfalten, weil er von ermüdenden Routinehandlungen befreit ist. Die neu entstehenden

83 Die Rede von „Stütze“ und „Entlastung“ findet sich prononciert bei Gehlen, etwa in Gehlen 2004; vgl. auch Habermas 1991, S. 103. Den Gedankengang mit dem Kunstwerk entlehne ich Souriau 1956. Der kreative Überschuß des Handelns wird von Joas und Beckert (2001, S. 282 f.) anhand des Designprozesses erläutert, wo Zwecke und Mittel im Prozeß definiert werden und eine „Konversation“ mit dem physischen Objekt stattfindet.

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Handlungskulturen lassen sich mit den drei Varianten Entlastung, Ansporn und Entfremdung charakterisieren.84 Handlungen oder Handlungsteilglieder verselbständigen sich bisweilen, weil kaum eine Handlung aus einem Guß ist. Weitere Handlungsglieder und Akte treten hinzu, neue Akteure mischen sich ein. Dieser prozessuale, performative Aspekt weist vor auf unsere nächste agency-Figur, nämlich Vermittlung, die, wenn man so will, passive Variante von Handlungsmacht.

Vermittlung (agency 4) Der Gedanke, daß Handeln übertragen, weitergetragen werden kann, führt rasch zur Überlegung, daß auch wir Menschen vielleicht „nur“ Handlungsträger sind. Es könnte sein, daß Handeln uns (als Handelnde) übersteigt, daß Handeln von außen an uns übertragen, von uns aufgenommen („aufgehoben“), weitergetragen wird, nicht nur in die Welt hinein erfolgt, sondern oft auch aus der Welt heraus motiviert ist. Wir sind nicht automatisch Handlungsquelle,85 sondern oft nur Vermittlungsinstanz. Aber was heißt „nur“, wenn Vermittlung aufgewertet worden ist. Oder, anders formuliert: Von einer klaren, prinzipiellen und notwendigen Verortung der Handlung in einem einzigen Handlungssubjekt kann, muß jedenfalls nicht die Rede sein.86 Handeln übersteigt jeden einzelnen Handlungsträger, „Handeln hat nicht eine einzige Quelle: Handeln wird delegiert oder weitergegeben“ (Gomart 2002, S. 98). Anders formuliert: Viel eher als Handlungsursprung sind wir Handlungs-Vermittlung, Agentur, Handlungsrelais, Vermittlungsinstanz. Vielleicht klingt andererseits auch der Begriff „Handlungsträger“ für Dinge zu passiv: Dinge sind mehr als Handlungsträger, manche Dinge sind Handlungsvektoren, Handlungsbeförderer. „Agentur, Vermittlung“ wäre eine angemessene Übersetzung von agency für ein solcherart verstandenes Handeln, das je schon ein Aufnehmen und Weitertragen von Handeln ist und das nicht nur „wir“ vermögen (oder das vielleicht wir

84 Handlungskulturen ließen sich – da sie ja stets Dinge enthalten – in Latours Terminologie auch als Akteurnetzwerke bezeichnen. 85 Latour 2007b. Hierher paßt Latours Begriff des „faire faire“, vgl. Latour 2006, S. 316, Latour 2007b, S. 374. Kein Handeln geht vom Nullpunkt aus, soziales Handeln besteht in der Regel im handeln machen, zum handeln gebracht werden, sich weigern zu handeln etc. 86 Das wird bekanntlich auch in der Systemtheorie Luhmanns so gesehen. Vgl. etwa Luhmann 1997, S. 335 ff.

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vermögen, aber nicht nur „ich“ allein). Auch Dinge sind Agenturen.87 Für mich typische Beispiele von Dingen als Agenturen, als Vermittlungsinstanzen in diesem Sinne wären Verkehrsampeln, Schaltkreise (Chips), Websites, Architektur. Auch Häuser und Straßen sind Vermittlungen, Schaltstellen, Agenturen. Von den unterschiedlichen Wirklichkeiten verschiedener Menschen, Gruppen, Professionen, Institutionen war weiter oben (gegen Ende von Kap. 2.1) die Rede, und von der notwendigen Aufwertung der gewöhnlich ganz ins Subjektive abgedrängten Welt-„Anschauungen“. Denn viele soziale Akteure bringen Welten zur Geltung, Dinge in Existenz, Dinge in Gesellschaft, sie sind Akteurnetzwerke. Wenn man dieses Geltendmachen von Entitäten und Ontologien weit genug verfolgt, sieht man bald, daß es einen gleitenden Übergang zwischen der Pluralität der Akteure (oder agencies) und den pluralen Ontologien gibt. Wenn zum Handeln gebracht werden, in Aktion gerufen werden die prototypischen Handlungssituationen sind, macht es keinen großen Unterschied, ob Entitäten sich selbst geltend machen oder von anderen geltend gemacht werden. Dinge als Vermittler helfen, die Grenzen der Situation zu überschreiten. Mit dem Begriff „dislokal“ bezeichnet Latour die Fähigkeit nicht-menschlicher Entitäten, uns aus der aktuellen Situation hinauszukatapultieren bzw. andere Situationen in diese hineinzubugsieren.88 Der dislokale Charakter der Dinge als „Einsprengsel“ aus anderen Situationen in die jeweils aktuelle macht daher deutlich, daß Dinge als Vermittler, Agenturen nicht nur in, sondern zwischen Situationen fungieren (Schalter, Schranken, Kommunikationsmedien).

87 Schulz-Schaeffer (2008b) schlägt ebenfalls „Agentur“ als Übersetzung für agency vor, doch nicht wie ich im Sinne einer Vermittlungsstelle, Vermittlungsinstanz, sondern im Sinne der Agenz, Wirkungsmacht, agency 1: als Handlungsquelle, Zentrum von Wirksamkeit, „Agentur verändernder Wirksamkeit“, wirkmächtiges „Letztelement“. Mir scheint damit der Begriff weg von der Vermittlung und hin zu einem kausalistischen Universum voller Wirkkräfte im Sinne von agency 1 verschoben zu werden, oder einem substantialistischen im Sinne von Gomart 2002. 88 Das ist meines Ermessens auch mit „interobjectivity“ gemeint. Latour kritisiert Goffman entsprechend, daß dieser sich auf die jeweils aktuelle Interaktions-Situation beschränkt. Vgl. Latour 2001b. Wenn ich am Postschalter stehe, interagiere ich nicht nur mit der Person dahinter, sondern auch mit dem Schalter, dem Architekturbüro, das ihn entworfen hat. In manchen Fällen ist die „Interaktion“ mit dem (oder Beeinflussung durch das) Architekturbüro bzw. dem anderen Ort minimal und trivial, in anderen, vor allem bei Dingen, die zur verteilten Kognition beitragen, kann sie deutlich sichtbar und bedeutsam sein.

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Zuschnitt der Akteure 2: Kollektive Akteure Das Handeln von Gruppen (Staaten, Körperschaften, Unternehmen etc.), die oft auch als juristische Personen verfaßt sind, läßt uns diese als kollektive Akteure betrachten, und insofern gehört es zur Figur des Agierens Nr. 2, zur Akteurhaftigkeit. Aber auch zur Handlungsmacht (Nr. 3), die diese Gruppen nun haben bzw. die ihnen zugeschrieben wird. Demnach sind kollektive Akteure solche, die kollektive Handlungsmacht besitzen. Andererseits machen sie sich durch Vertreter, Sprecher, Agenten geltend, die in ihrem Namen agieren, also mittels agency 4. So daß kollektive Akteure im Spannungsfeld zwischen Akteurhaftigkeit, Handlungsmacht und vermitteltem Handeln (agency 2, 3 und 4) liegen. Auch die Frage des Zuschnitts kollektiver Akteure drängt sich hier auf. Latour spricht statt von Zuschnitt von „Figuration“, die nicht nur kollektive, sondern vielgestaltige Akteure umfaßt; für das, was unterschiedlich figuriert werden kann, wird der Terminus technicus „Aktant“ verwendet.89 Die variable Größe solcher kollektiver Akteure übersteigt die klassischen Face-to-face-Interaktionen. „Wir sind niemals die Anzahl, die wir zu sein glauben“, darin liegt für Latour (1992, S. 66) „die ganze Schwierigkeit“ technischer Projekte, und, wie ich meine, ihre Interessantheit. „Nicht nur sind die Akteure von variabler Größe und können daher weniger Alliierte repräsentieren, als sie vorgeben, sondern sie können auch viel mehr Akteure intervenieren lassen als vorgesehen.“ Das zur Anzahl und Größe der Akteure Gesagte läßt sich auf kollektive Akteure generell übertragen. Am Beispiel des chirurgischen Roboters wurde deutlich, wie Anzahl und Beziehungen der menschlichen Akteure sich durch Verteilung von Handlungsbestandteilen an nicht-menschliche Beteiligte ändern. (Man könnte diese auch als „Handlungspotential“ des Akteurs bezeichnen, der die Handlungsmacht besitzt.)90 Andererseits sind kollektive Akteure in der Soziologie umstritten bzw. es wird, etwa von Weber (1985, S. 6 f.), die prononcierte Position vertreten, daß al-

89 Vgl. Latour 2007b, S. 93 ff. Es gibt „verschiedene Figurationen derselben Aktionen“ (ebd., S. 95). 90 Werle (2002, S. 126) spricht, ganz in meinem Sinne, von „komplexen Akteuren“, zu deren Ressourcen, wie er anhand korporativer Akteure erläutert, auch technische Artefakte gehören, und kommt zu dem Schluß: „In einem weiten Verständnis des Begriffs des komplexen Akteurs könnte man solche Artefakte als konstitutive Bestandteile des Akteurs betrachten“. An der vorsichtigen Formulierung läßt sich freilich schon erahnen, daß es für ihn „letztlich“ doch „immer Individuen“ sind, die „für kollektive und korporative Akteure“ tätig sind (er spricht von „handeln“), und alles andere Zuschreibung und „Fiktion“ (ebd., S. 134) sei.

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lein einzelne Menschen handeln können, kollektive Akteure dagegen nur insoweit, als ihnen von Individuen kollektive Wirkungsmacht zugeschrieben wird. Daß der soziale Akteursstatus bei Dingen umstritten ist, erscheint von hier aus gesehen nur als eine Variante des Akteursstatus von kollektiven Akteuren.91 Wir behandeln (manche) Dinge bzw. Assoziationen von Menschen und Dingen als Akteure, wie wir auch Gruppen, Körperschaften, Unternehmen, Staaten als Akteure bezeichnen. Und solche korporativen Akteure sind ja auch teilweise als juristische Personen anerkannt. Daß sie diese „in Wirklichkeit“ nicht seien, erscheint mir als Einwand allenfalls von einem physikalistischen Reduktionismus aus denkbar. Sondern was? – könnte man darauf nur fragen. Letztlich ist die Frage, ob nur einzelne Menschen als Handlungssubjekte und soziale Akteure taugen – und nicht auch Gruppen, Institutionen und Organisationen –, fast so alt wie die Soziologie oder die Sozialwissenschaften. Boltanski/Thévenot (2007, S. 48 ff.) haben darauf hingewiesen, daß die Alternative eines methodologischen Individualismus (nur Individuen können handeln bzw. agieren) im Unterschied zu einem soziologischen Kollektivismus (die Gesellschaft ist eine handelnde Einheit oder verschiedene Untergruppierungen von dieser können handeln bzw. agieren) nicht nur eine sachliche oder methodologische Frage formuliert, sondern auch einen Bezug für die Legitimation von Handeln darstellt. Dinglich realisierte, an Dinge delegierte, dinglich vermittelte Handlungen konterkarieren die allzu glatte Vorstellung vom instrumentellen Handeln; so als trüge das Instrument nur den menschlichen Zugriff auf Welt, Material und Dinge weiter und verblaßte in der Hand des eigentlich handelnden menschlichen Subjekts. Damit würde die Handlungsmacht des menschlichen Handlungsträgers absolut gesetzt. Betont man stattdessen die Vermittlung des Handelns und wertet das Vermittelnde auf, macht man Dinge „zu Beteiligten an der Handlung“ (Latour 2007b, S. 121), so wird deutlich, daß Handelnde angewiesen sind auf etwas, das nicht gänzlich ihrer Kontrolle untersteht. Die Delegation von Handlung, das Übertragen von Handlungsmacht kann scheitern. Vermittlung durch Dinge erfolgt nicht ohne Reibungen, Friktionen, Überraschungen.

91 Steve Fuller (1994, S. 750 f.) parallelisiert sehr schön korporative Akteure und Aggregate aus Mensch und Maschine; letztere lassen sich für ihn als ein „new corporate agent“ (ebd., S. 751) fassen.

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Handlungsmacht und vermittelnde Agenten (bzw. Agenturen) sind wechselseitig voneinander abhängig.92 Während Handlungsmacht mehr die auftraggebende, Agentur mehr die ausführende Seite benennt, sind beide in etwas verbunden, das man, wenn nicht agency, dann Handeln nennen muß.

Handeln (agency 5) Damit sind wir bei der letzten Figur des Agierens angelangt, der Königsfigur in diesem Drama: dem Handeln im engeren oder emphatischen Sinn. Während man sich vorstellen kann, daß Dinge wirkmächtig sind, daß sie in unseren Interaktionen mit ihnen als Akteure fungieren, daß sie sogar Handlungspotential entfalten, Handlungen tragen können oder als Vermittlungsinstanzen für unser Tun und Treiben dienen, scheint „das Handeln“ den Menschen vorbehalten zu sein. Dinge können nicht handeln, Punkt. Und diesem Machtwort kann man schwerlich widersprechen, wenn man denn Handeln als spezifisches Charakteristikum des Menschen definiert. Wenn (intentionales) Handeln das ist, was Menschen im Unterschied zu Dingen (und Tieren) vermögen und was sie auszeichnet, dann ist es offenkundig ein Widersinn zu sagen: Dinge handeln; denn Dinge sind keine Menschen. Auch Max Webers Handlungsbegriff wirkt hier wie ein Stopschild. Seit seiner berühmten Definition bildet das Handeln einen der soziologischen Grundbegriffe: „‚Handeln‘ soll […] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“93 Versucht man, neue Begriffsoptionen einzuführen (wie „Aktanten“) oder den Handlungsbegriff abzuschwächen, so steht man schnell unter dem Verdacht, man wolle den Gegenstand der Soziologie auflösen, den Gesellschaftsbegriff entgrenzen.

92 Vielleicht könnte man hier darauf hinweisen, daß agency 3 (Handlungsmacht) und agency 4 (Vermittlung, Agentur, Agentenschaft) sich mit den beiden Akteurskomponenten von Coleman parallelisieren lassen, mit „Objektselbst“ und „Handlungsselbst“ (siehe Schulz-Schaeffer 2007, S. 177 ff. und S. 485 ff.). Das Objektselbst empfindet Befriedigung (oder nicht) durch die Resultate einer Handlung, das Handlungsselbst, das „acting self“, das heißt das agierende Selbst, führt die Handlung aus. Diese Aufspaltung des Akteurs sieht Coleman parallel zu Meads Me (entspricht Objektselbst) und I (entspricht „acting self“): Coleman 1990, S. 507 f. 93 Weber präzisiert im Anschluß an die im Haupttext zitierte Bestimmung: „‚Soziales Handeln‘ aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ Weber 1985, S. 1.

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Dieser grundsätzliche Vorbehalt entfernt agency in der Soziologie von seiner Bedeutung als Wirkungsmacht, Akteurhaftigkeit, Handlungsmacht und Vermittlung und verschiebt es hin zu einem emphatischen Handlungsbegriff, der dann aber auf Dinge nicht mehr so ohne weiteres anwendbar ist. Eine andere Bedeutungsnuance treibt es ebenfalls in diese Richtung, nämlich das Gegensatzpaar agency/structure, übersetzbar als Handlung und Struktur. Auf dem Hintergrund systemtheoretischer und strukturalistischer Gesellschaftstheorien wird agency gerne als Impulsgeber für die trägen Strukturen verstanden. Hier bildet der Agency-Pol den Gegensatz zu festen, starren, dinghaft gedachten Strukturen.94 Insofern ist der Skandal fast schon programmiert, wenn man Dingen agency zuspricht. Aber hier befindet sich auch der strategische Punkt, an dem Latour und Pickering die Dinge in die Soziologie einschleusen. Auf die aus strukturalistischer oder struktureller Perspektive gestellte Frage: „Wie ist frisches Handeln möglich?“,95 antworten sie mit der eher schlichten, auch empirischen Auskunft: nicht nur durch menschliche, sondern auch durch nicht-menschliche Akteure. Bewegung in die trägen Strukturen bringen nicht nur handelnde oder agierende Menschen, sondern auch effiziente Maschinen, heranflutende Wassermassen, gezähmte Mikroben, berstende Atomkraftwerke, leistungsstarke Computer, faszinierende Kunstwerke und andere problematische oder interessante Dinge. Und hier liegt, das sei im Vorbeigehen angemerkt, auch der Dissens zwischen Latour und Durkheim, nämlich ob Dinge agency in diesem Sinne entfalten können oder ob man sie ihnen prinzipiell abspricht. Wenn Durkheim explizit das Verhältnis von Menschen zu Dingen in der soziologischen Erklärung thematisiert, erklärt er, „aktiver Faktor“ und „bewegende Kraft“ könnten nur die Menschen, nicht die Dinge sein. Für ihn besitzen die Dinge „nichts, was erforderlich ist, um die Entwicklung in Gang zu setzen“ (Durkheim 1984, S. 195). Eine Ursache für diese Exkommunikation der Dinge wurde bereits erwähnt: Wenn menschliches Handeln per definitionem von tierischem Verhalten, objektiven Mechanismen und dinglichen Vermittlungen abgehoben wird, so kann sich der begriffliche Skandal, Dingen Handeln zuzusprechen, auf einen eklatanten Widerspruch berufen. Sieht man sich daraufhin an, wodurch menschliches Handeln positiv bestimmt wird, ist allerdings nicht nur ein breites Angebot an Begriffen zu konstatieren – Subjektivität, Intentionalität, Rationalität oder Frei-

94 Fuchs (2001, S. 25) listet eine ganze Reihe weiterer Gegensatzpaare auf, wie etwa Lebenswelten – Systeme, Mikro – Makro, Subjektivität – Objektivität, Intentionen – Mechanismen, die ähnliche Konnotationen heraufbeschwören. 95 Vgl. White 1992, S. 4.

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heit –, sondern bei jedem der Begriffe auch noch ein extrem breites Bedeutungsspektrum. Ich gehe kurz auf drei von ihnen ein: Freiheit, Subjektivität und Intentionalität. Wenn man Handeln, zumindest in seiner emphatischen Variante, nicht zu einem Grundbegriff der Soziologie macht, bietet sich eine interessante Option. Während man im allgemeinen die Freiheit des Individuums in Form von Subjektivität oder Intentionalität dem Gegenstand der Soziologie zuschlägt, den man kategorial als subjektiv, des subjektiven Sinns mächtig charakterisiert (in der Tradition von Weber), gibt es eine Minderheitenposition, wie sie etwa von Dahrendorf (2006, S. 90 ff.) vertreten wird; demnach läßt sich das freie Handeln des Individuums metaphysisch (in Anlehnung an Kant) und politisch (in der Tradition des Liberalismus) aus dem gesellschaftlichen Bestimmungsgefüge, dem Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften, herausnehmen. In dieser Perspektive würden sich die diversen sozialen Bestimmungen (wie etwa durch Rollenzwänge oder gesellschaftliche Position) als genauso starrsinnig erweisen wie Naturvorgänge, ohne daß sie aber das Handeln (und die Freiheit) des Individuums letztlich determinierten. Als weiterer Kandidat für einen emphatischen Handlungsbegriff bietet sich „das Subjekt“ an. Das Problem, das heißt eine dualistische Sozialontologie entsteht dann, wenn aus Subjekt oder Subjektivität ein vollwertiger Seinsbereich gemacht wird (in der kollektiven und verweltlichten Form, in der etwa das Gesellschaftssubjekt auftritt). Wird die Sache aber besser, wenn wir jeden einzelnen menschlichen Akteur als Subjekt betrachten? Das kommt darauf an, was man darunter versteht. Wenn er denn Akteur ist und handelt, kann man ihn quasi tautologisch als Handlungssubjekt bezeichnen. Will man darüber hinaus noch von „dem“ Subjekt sprechen, so schwingt darin die ganze bewußtseins- und subjektphilosophische Tradition mit, die man nicht jedem, der irgendwie in gesellschaftliches Handeln verstrickt ist, aufbürden kann. Auch existieren Alternativbegriffe wie Mensch, Individuum, Selbst, Person.96 Es liegt außerdem die Vermutung nahe, daß in der Soziologie das Subjekt nur in paradoxer, gedoppelter Form zu haben ist: einmal als Gesellschafts-, einmal als Individualsubjekt, und jedes konkrete Handeln von Individuen und Gruppen dann in die Klammer eines einerseits determinierten, andererseits mit subjektivem Sinn versehenen bzw. freien Handelns hineingezwungen wird.

96 In einer Subjektstaffelung, die vom Individuum über Gruppe, Gesellschaft, Weltgesellschaft bis zur menschlichen Gattung als Subjekt reicht; die Erfahrungs-, Erkenntnis-, Bewußtseins-, Handlungssubjekt und transzendentales Subjekt umfaßt, ist die Bezeichnung „Subjekt“ etwas unscharf.

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Der Subjektbegriff in der Soziologie promoviert vielleicht eine bürgerliche Idee von (der bürgerlichen) Gesellschaft: als Unterstellung von Handlungsmotiven, die aber gleichzeitig nicht mehr ausschließlich dem einzelnen als seine unterstellt werden können, sondern gesellschaftlich erklärt werden sollen – ein konstitutives Paradox der Soziologie (vgl. Nassehi 2006, S. 74). Den subjektiven Sinn, den Handeln laut Weber hat, müßte man sich demnach als eine reflexive Konstruktion des Soziologen vorstellen, um Ordnung ins mannigfaltige Material der soziologischen Analyse zu bringen. Er wäre demnach „ein Beobachtungsschema – und zwar sowohl ein soziales als auch ein soziologisches“ (ebd.). Ein anderes definitorisches Kriterium für Handeln im Unterschied zu sonstigem Tun und Bewirken lautet, daß es absichtlich geschieht, was im soziologischen Diskurs meist soviel bedeutet wie Intentionalität.97 Doch vielleicht steckt hinter dieser Definition eine substantialistische Vorstellung vom sozialen Handeln, so als müßte dieses stets von hochpräsenten und -bewußten Subjekten getragen werden bzw. sich auf solche zurückführen lassen. Wenn man keinen der drei emphatischen Handlungsbestimmungen – Subjekt, Freiheit, Intentionalität – als notwendige Grundlage für soziales Handeln nimmt, kann man versuchen, einen minimalistischen oder schwachen Handlungsbegriff positiv zu skizzieren, was ich im folgenden tun will.98

Verteiltes und verantwortetes Handeln Handeln läßt sich begrifflich in mehrere Richtungen entfalten: entweder, wie ansatzweise gezeigt, hin zu einer grundlegenden Intentionalität, Subjektivität oder Freiheit, die stets oder per definitionem im Handeln zum Tragen oder Ausdruck kommen; also hin zu einem emphatischen Handlungssubjekt. Oder aber hin zu einem Feld verteilten Handelns. Bei einem Handlungsfeld haben wir es mit Ak-

97 Das entnehme ich etwa Giddens 1984, S. 89, Luhmann 1997, S. 228. Allerdings verstehen phänomenologisch orientierte Soziologen Intentionalität ebenfalls als Bewußtseinsstruktur, siehe Knoblauch 2010, S. 147. Ich komme weiter unten ausführlicher auf den Intentionalitätsbegriff, auch auf seine Implikationen für die Frage nach dem möglichen Handeln der Dinge zurück. 98 Sofern man nicht schon diese drei minimalistisch umdefinieren möchte: Daß sie so mehrdeutig sind, könnte einen ja auch dazu bringen, sie zu vereindeutigen, in Richtung eines Minimal-Subjekts bzw. einer Minimal-Intentionalität – aber Freiheit? Diese ist wohl nicht minimal zu haben. Ohnehin sollte in der Soziologie, sofern Freiheit als positive Bestimmung menschlichen Verhaltens oder Handelns berücksichtigt wird, diese vielleicht eher in Respekt für den Gegenstand umgemünzt – „follow the actors“; „den Akteuren folgen“ –, anstatt zu einer Sozialontologie gemacht werden. (Dieser Slogan der ANT findet sich u.a. in Latour 2005a, S. 12, und 2007b, S. 28.)

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ten, Aktionen, Handlungen, Handlungsträgern, Handlungsinstanzen, Agenzien und Sprechakten zu tun, ohne daß von vorneherein bereits klar wäre, wer denn die, der, das Handelnde genauer ist.99 In einem dispositional gedachten Handlungs- und Aktionsgeflecht kann man sich durchaus Dinge als Beteiligte vorstellen, wenn auch nicht unbedingt als zu guter Letzt den Titel „Handelnde“ beanspruchende. Sie sind gesellschaftlich Mithandelnde, in Assoziationen aktiv Beteiligte, die das menschliche Handeln stützen, verändern, treiben oder binden.

Bezeichnung

Alternativbezeichnungen

Beschreibung, Charakteristika, Beispiele

agency 1

Wirkungsmacht

Agenz, Aktion, Akt, Wirksamkeit

Agieren, Kraft

agency 2

Akteurhaftigkeit

Performanz

Rollen, Interaktivität

agency 3

Handlungsmacht

Handlungspotential, Handlungsträgerschaft

faire faire; durch Vermittler tätig sein oder handeln

agency 4

Vermittlung

Agentur, Agentenschaft

faire faire, Vermittler sein, als Vermittler tätig sein oder handeln

agency 5

Handeln

(human) agency

Freiheit?, Intentionalität?, Subjekt/ivität?, Verantwortlichkeit, accountability

Abbildung 1: Schematische Übersicht zu den 5 Formen von agency

Wie besonders anläßlich Handlungsmacht und Vermittlung (agency 3 und 4) festgestellt, läßt ein verteiltes, vermitteltes Handeln ohne weiteres Dinge als Mitspieler, Akteure, Agenten, Delegierte zu. Es bleibt dann die Frage, wie die Formen dinglichen sozialen Handelns oder Agierens mit den menschlichen artikuliert, ins Verhältnis gesetzt werden und mit Hilfe welcher Begriffe sie beschrieben werden können oder dürfen. Anders gefragt: Wie werden wir den Dingen und der Verteilung von Handlungsmacht von uns an sie und von ihnen an uns

99 Von „handelnden Feldern“ und dem „Feld als Ganzen“ als „einzig beobachtbarer handlungstragender Größe“ sprechen die Herausgeber in einem Band zu „Agenten und Agenturen“ (Engell/Vogl/Siegert 2008, S. 6).

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gerecht? Dabei können wir unterscheiden zwischen menschlichem bzw. dinglichem Handlungsanteil als kontrollierende oder ausführende bzw. vermittelnde Instanz (agency 3-4), als Akteur (agency 2), Subjekt (agency 5) bzw. Wirkungsmacht (agency 1). Man sollte hier auch bedenken, daß Handeln oder Agieren eines Akteurs stets eine Relation (des Handelnden), sei es von innen nach außen (bzw. möglicherweise umgekehrt, faire faire), sei es von der Gegenwart in die Zukunft, bezeichnet und keinen Zustand noch eine Wesenheit. Bewußt habe ich meinen dritten Aspekt des Handelns (agency 3) daher Handlungsmacht und nicht -fähigkeit genannt; denn Handlungsfähigkeit heizt die dualistische Debatte nur an, da sie eine Fähigkeit, eine Eigenschaft auf eine Substanz oder ein Substrat zurechnet, das in diesem Falle ein „Subjekt“ ist. Also ist die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Dinge schief, weil substantialistisch gestellt. Und es scheint mir auch evident, daß, wer sie so stellt, auf eine negative Antwort aus ist.100 Hier kann man weiterhin unterscheiden zwischen der Verteilung von Handeln auf die Glieder oder Instanzen einer Handlungskette versus der Verteilung auf die Bestandteile oder Instanzen eines Handlungssubjekts – zwei recht unterschiedliche Betonungen verteilten Handelns, die im Bereich der Techniksoziologie vertreten werden.101 Die einen, wie Martin Meister (2002), legen das Gewicht auf die heterogenen Handlungsglieder, auf einen sie umspannenden Handlungsbogen („pragmatics of the stretch“), die anderen, wie Schulz-Schaeffer (2008b), auf einen integralen hybriden Akteur. In letzterer Variante wird die Handlung als Ganzes gefaßt und einem eindeutigen Gesamtakteur zugerechnet, in der Regel einem menschlichen, erstere denkt eher in Assoziationen von Akten oder flachen Hierarchien, vielleicht ließe sich der damit verbundene Handlungsbegriff als aktantieller bezeichnen,102 ohne aber einen „intentionalen Bogen“103 oder die Einheit der Handlungskette bzw. des Netzwerks auszuschließen. Damit aber auch nicht auszuschließen, daß ein mehr oder weniger integraler Akteur, das heißt ein Mensch mit Handlungsmacht,

100 Wie etwa Greif (2005). 101 Diesen Gegensatz habe ich in einem Gespräch mit Martin Meister entwickelt, dem ich dafür danke. 102 Oder als sequentieller, serieller, prozessualer. Mit ähnlicher Zielrichtung spricht Laux (2011, S. 288) von einem „konsequentialistischen Modell“ der Handlung bei Latour, und Wieser (2012, S. 179) von einer „Verlaufsperspektive“, unter der soziologische Kategorien (von Latour) als „Ergebnis oder Effekt eines Prozesses“ verstanden würden. Beide betonen in diesem Zusammenhang die Performanz, verabsolutieren sie aber in meinen Augen. Auch Latour lehnt Kompetenz oder Substanz als Explanans zwar ab, löst sie aber keineswegs vollständig in Performanz auf; vgl. Latour 1996c. 103 Eine Formulierung von Merleau-Ponty, s.u.

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schließlich die Handlung beansprucht bzw. sie ihm zugeschrieben wird. Der Vorteil der aktantiellen Sichtweise liegt vor allem darin, daß sie prozeßhafter, um nicht zu sagen historischer ist, sowie in der Offenheit, die sie für die unterschiedliche Integration der Handlung oder allgemeiner des sozialen Handelns impliziert.104 Wenn man (wie ich) eher von einer prozessualen, performativen Folge, Verknüpfung von Akten zu einer Handlung ausgeht bzw. wenn man von einem Handlungsfeld spricht, sollte man aber dennoch die Gretchenfrage zu beantworten versuchen: Warum nennen wir ein solcherart verteiltes, vermitteltes und dezentralisiertes Handeln überhaupt noch Handeln? Oder warum sprechen wir von einem Handlungsfeld, und nicht etwa einem Wirkungsfeld, Aktionszusammenhang oder Gewimmel von Agenten?105 Weil zumindest Teile daraus, so meine Antwort, durch (einzelne) Menschen beanspruchbar sind als ihr Handeln, nicht im Sinne von Urheberschaft, sondern von Verantwortlichkeit. „Urheberschaft und Verantwortung schauen in zwei verschiedene Richtungen, die eine in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft“ (Dewey 1995, S. 227). Hier ist der betreffende Mensch nicht als Handlungssubjekt gefragt, sondern als Handlungsträger, als verantwortliches, Stellung nehmen könnendes Individuum, Selbst oder Person. Daß wir in einem Handlungsfeld und -geflecht bloß interagieren, mitagieren, könnte man oft sagen. Auch könnten wir unser Denken oft als ein „es denkt“ beschreiben. Dennoch aber können wir (und wenn auch womöglich nur bisweilen) sagen „Ich denke, daß …“ oder „Ich denke“. Wer dies allerdings ganz betont tut, so Dewey, „akzeptiert und behauptet eine Verantwortung und meldet einen Anspruch an. […] Ein Akt der Adoption wird verkündet, aufgrund dessen man den

104 Es sind die einzelnen Glieder oder Akte das zunächst Gegebene, ein sie umspannender Handlungsbogen oder ein integraler (personaler, heterogener, kollektiver) Akteur sind weitere Analyse-Schritte. Das Adjektiv „aktantiell“ verweist sowohl auf die Zusammensetzung aus Akten als auch auf „Aktanten“ als Bezeichnung für das noch nicht (zum Beispiel als Akteur, Agieren, Handlung) figurierte Handlungs-„Substrat“ oder Handlungs-Subjekt. Diese Interpretation liegt auf einer Linie mit der methodischen Regel der ANT in Latour 2007b, wonach die Verknüpfungen und Vermittlungen als relativ flache Netze expliziert, ausgebreitet werden sollen. 105 Rammert (2006, S. 183) spricht von einem „personalen und sozialen Aktionszusammenhang“, aber ebenfalls von „menschlichen Handlungen“, die „von Anfang an Handlungen in einem Strom von Handlungen“ sind, „die erst im Laufe der Geschichte und in bestimmten sozialen Situationen als besondere Handlungen herausgefiltert, bezeichnet, institutionalisiert und bestimmten Instanzen zugerechnet werden“ (ebd.).

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Nutzen zukünftiger Güter beansprucht und die Verantwortung für zukünftige Übel übernimmt“ (ebd.).106 Gerade weil es Vermittlung, Verteilung und andere Formen hybriden sozialen Handelns gibt, taucht die Frage nach Handlungsmacht, Verantwortlichkeit auf.107 Wir haben es hier also nicht mit einer ausschließenden Alternative zu tun (Handlungsfeld vs. Handlungssubjekt), sondern mit einem Spannungsverhältnis (Verteilung – Verantwortung), das nach Lösung verlangt. Eine Lösung, die aber immer nur prekär, provisorisch sein kann. Wir können nur mit anderen zusammen, nur sozial, plural handeln, übernehmen aber als einzelne Verantwortung, wenn wir sie denn übernehmen.108 Eine solche Pluralität im Handeln ließe sich selbstverständlich auf die beteiligten nicht-menschlichen Entitäten erweitern (im Sinne eines Akteurnetzwerks). Die soeben skizzierte Inanspruchnahme von Verantwortlichkeit ist nicht vom Subjekt als Handlungsursprung her gedacht, sondern kann auch vom Selbst als Vermittler, Akteur, Agent ausgehen. Soziologisch läßt sich die Möglichkeit bewußter Stellungnahme bzw. Übernahme von Verantwortung in ethnomethodologischer Perspektive als accountability, Erklärbarkeit, Rechenschaftsfähigkeit ausführen.109 Dann läßt sich vielleicht sogar der subjektive Sinn, von dem Weber spricht, mit meiner Vorstellung von Verantwortlichkeit bzw. von Akteurhaftigkeit und dem aktantiellen Modell des Handelns (vs. dem integralen Akteur) verbinden: Wenn ein menschlicher Akteur auftritt und sich die Handlungskette zu eigen macht, bekommt sie subjektiven Sinn (den sie nicht notwendigerweise im sub-

106 Dewey wird bisweilen als Vertreter eines dispositionalen oder „dispositionellen“ Handlungsbegriffs porträtiert (vgl. Roughley 2007), was mit diesen Zitaten nicht ganz zusammenpaßt. Vgl. auch Ryan 1995, S. 97 f. Die Fragestellung nach dem Ich oder Es, das denkt, findet sich ebenfalls mehrfach bei Nietzsche, vgl. etwa Nietzsche 2003, S. 22 f. 107 Auch die nach Handeln in der, sagen wir einmal, spätmodernen Form: „Können Maschinen handeln?“ (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002a) 108 Sofern die Struktur menschlichen Handelns nicht ohnehin aporetisch ist (Arendt 2010, S. 236, S. 279 ff.). 109 Die Möglichkeit bewußter Stellungnahme streicht Roughley (2007) heraus, auch wenn Handeln oft (bei eingeübten Handlungsfolgen) gewohnheitsmäßig oder automatisiert erfolgt. Garfinkel (1984, S. 1 f.) erläutert, was er unter „accountable“ versteht, woraus für den jetzigen Zusammenhang mir wichtig ist festzuhalten: „observable-and-reportable, i.e. available to members as situated practices of looking-andtelling“. Es geht um Praktiken, die als Ereignisse auftreten „in the same ordinary affairs that in organizing they describe“ (ebd., S. 1); das heißt nicht als eine Handlungstiefenstruktur, die allein dem Soziologen bei seiner Analyse zu Gesicht käme. Vgl. zur accountability als Berichtbarkeit auch Latour 2007b, S. 92, S. 213, S. 219.

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jektiven Erleben der Beteiligten hatte). Diese Rekuperation im nachhinein leuchtet besonders ein, wenn man an das Erleiden und Erdulden von Situationen denkt, die ja für Weber ebenfalls als Handeln gelten können, sofern sie für den Akteur mit Sinn versehen sind.110

Performanz und Kompetenz Verteiltes Handeln und verteilte Kognition sind performativ und flach konzipiert.111 Die performative Perspektive bedeutet, daß vorgängige Kompetenzen und Substanzen der Akteure nicht so einfach vorausgesetzt werden, daß man also nicht automatisch ausgehen kann von einem mit Intentionalität, Normativität und Rationalität ausgerüsteten hoch-bewußten Handlungssubjekt.112 Ich sehe im Begriffspaar Performanz/Kompetenz eine methodologische Lösung für das Spannungsverhältnis zwischen Verteilung und Verantwortung: Beobachten läßt sich jeweils nur Performanz, während auf Kompetenz rückgeschlossen werden muß. Man könnte aus dem methodologischen auch einen inhaltlichen Vorbehalt machen: Nur Performanz existiert, alle Kompetenz wäre zugeschrieben, sozial konstruiert. Das hieße, an der Oberfläche der Phänomene stehenbleiben. Die Betonung von Performanz heißt nicht, daß es dergleichen wie Kompetenz, feste Entitäten etc. nicht gibt, sondern weist hin auf die Nachträglichkeit der Zuschreibung oder Feststellung von Kompetenz, Substantialität. Erst nachträglich können wir die genaue Kontur, Kompetenz der sozialen Akteure feststellen.113 Andererseits verschärft sich das Spannungsverhältnis zwischen Verteilung und Verantwortung, sobald man mit dem Begriffspaar Performanz/Kompetenz (bzw. Substanz) arbeitet; denn wenn wir als Handelnde Verantwortung übernehmen, (Rechts-)Ansprüche anmelden, uns für eine Tätigkeit, eine (soziale) Position bewerben, machen wir Kompetenz geltend. Die Akteure selbst berufen sich auf ihre Kompetenz, ihren substantiellen Beitrag zu einer Sache, und beurteilen andere in bestimmten Situationen (Bewerbungen, Prüfungen, Verantwortung) auf ähnliche Weise.

110 Man kann bei Weber an ein Kontinuum denken hin zu bloßem Verhalten: „Das reale Handeln verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ‚gemeinten Sinns‘“ (Weber 1985, S. 10). Vgl. Turner/Factor 1994. 111 Zur verteilten Kognition siehe Latour 1996a und s.u. Kap. 4.1. 112 Aber auch nicht von einer unveränderlichen Essenz, Substanz als Wirkursache: Latour 1996c, Gomart 2002. 113 Vgl. Cuntz 2009, S. 28 f.

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Agieren/soziales Handeln/emphatisches Handeln Die fünf Figuren des Agierens oder Aspekte des Handelns könnte man systematischer zu sortieren und beschreiben versuchen. Als naheliegende Option bietet sich ein abgestufter, gradueller … – aber was nun? – Agency-, Akteurs-, Aktions-, Vermittlungs- oder Handlungsbegriff an. Eine systematische Gradualisierung114 funktioniert meiner Meinung nach nicht. Das liegt zunächst daran, daß die fünf verschiedenen Formen des Agierens nicht alle in einer Dimension liegen, sondern, zumindest manche unter ihnen, selbst eine bestimmte Dimension eröffnen. So hat etwa die Akteursebene den Vorteil – in anderer Hinsicht auch wieder den Nachteil –, auf der Ebene der Erscheinung, Zuschreibung und erfolgreichen Rollenperformanz zu bleiben. Die Handlungsmacht wiederum ließe sich womöglich gradualisieren hin zu Vermittlung, Agentenschaft auf der einen, zu einem emphatischen Handlungsbegriff auf der anderen Seite.

Abbildung 2: Soziales Handeln als Oberbegriff von agency 2, 3, 4 Ohnehin sollte man nicht vom Handeln eines einzelnen isolierten Akteurs, Artefakts, Apparats ausgehen, sondern vom sozialen Handeln (vgl. Abbildung 2). Wirkungsmacht (agency 1) und Handeln (agency 5) im emphatischen Sinne kann man sich zwar à la limite als von isolierten Akteuren ausgehend vorstellen,

114 Es gibt den grundsätzlicheren Versuch von Rammert und Schulz-Schaeffer (2002b), eine Gradualisierung des Handlungsbegriffs durchzuführen, und damit einhergehend der möglichen Handlungseigenschaften von Artefakten. Dabei unterscheiden sie zwischen drei Handlungsebenen: veränderndes Einwirken (agency 1 und 2), Wahlfreiheit (vielleicht agency 3) und Intentionalität (agency 5), nach denen sich dann sowohl menschliche Akteure als auch technische Artefakte mit ihren jeweiligen Handlungsbeiträgen ordnen ließen.

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für Akteurhaftigkeit, Handlungsmacht und Vermittlung (für die agency-Formen 2-4) dagegen sind mehrere Handelnde, Agierende erforderlich. Und diese Vielzahl umfaßt sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen. Ich plädiere also dafür, zur Bestimmung und Differenzierung des Handlungsbegriffs nicht mit einer isolierten Aktivität zu beginnen, sondern von sozialem Handeln auszugehen, also von einem sich auf ein Handeln oder Verhalten oder Agieren beziehenden Handeln (bzw. Agieren). Statt von „beziehendem“ Handeln (die Wortwahl Webers) könnte man auch von einem anderes Handeln vermittelnden Handeln sprechen. In der Debatte um das Handeln von Maschinen und anderen nichtmenschlichen Entitäten scheint mir – neben der verzerrten Interpretation des Symmetrieprinzips – vor allem die Nichtberücksichtigung der Differenz zwischen Handeln und sozialem Handeln für viele Mißverständnisse zu sorgen. Oft spricht man von Handeln, als sei es die isolierte Aktivität eines einzelnen Akteurs, dabei läßt sich „Handeln“ aber meist als „soziales Handeln“ verstehen. Wenn Weber von individuellem Handeln ausgehend soziales Handeln definiert, so muß dies keineswegs als Konstitutionsbeziehung, sondern kann als definitorische Differenz verstanden werden. (Konstitutionsbeziehung würde heißen: Individuelles, nicht-soziales Handeln bildet die Basis, auf der das komplexere soziale Handeln aufruht.)

Abbildung 3: Bloßes Verhalten und emphatisches Handeln als Grenzfälle Denn wir sind je schon, wenn wir soziologisch analysieren und reflektieren, im sozialen Handeln und abstrahieren in und aus diesem nun intentionales Handeln (agency 5) einerseits, bloßes Agieren (agency 1) andererseits (vgl. Abbildung 3). Wenn die Fragestellung erst einmal auf diese Punkte zugespitzt ist, ergibt sich

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nahezu zwangsläufig eine dualistische Problematik. Der interessante Bereich ist aber der mittlere; dies ist der Bereich des sozialen Handelns, des schwachen Handlungsbegriffs, der schlanken Praktiken, aus dem heraus dann die beiden Extreme reinen Verhaltens und emphatischen Handelns erst sei es sich entwickeln können, sei es stilisiert, purifiziert, abstrahiert werden. Steve Fuller (1994) konzeptualisiert explizit eine „agency in medias res“, die von noch unfertigen Agenten ausgeht.115 In der ANT bzw. bei Latour lautet der Begriff für einen solchen Ausgangspunkt in der Mitte Assoziation, Assoziierung oder Vergesellschaftung, bei Rammert „hybride soziotechnische Konstellationen“ (Rammert 2007b, S. 168).116 Soziales Handeln ist schon da, man kann es umlenken, ersticken, verstärken, entwickeln, kultivieren, routinisieren, sich bewußt darauf einlassen, es intentionalisieren, individuell oder kollektiv zurechnen. Auch in den Debatten um nicht-menschliche Entitäten als soziale Akteure geht es um ihr Verhältnis zum sozialen Handeln, ihren Anteil und ihre Rangordnung innerhalb des sozialen Handelns oder um den relativen Anteil von Agieren und Handeln. Das kann in der Frage bestehen, eine wie große Verselbständigung technischer Apparate praktisch oder grundsätzlich in der Gesellschaft (innerhalb von sozialem Handeln, agency 2-4) in Kauf genommen werden kann oder soll.117 Oder in der Frage, wer oder was in technischen Konstellationen einen Unfall, ei-

115 Er hebt sie von einer „agency ex nihilo“ ab, die von sozial Handelnden mit klar definierten Interessen oder Intentionen ausgeht. Das wäre, in meinen Worten, eine substantialistische (und normative) Vorstellung von agency, wie sie etwa in dem Ausdruck Handlungsfähigkeit deutlich wird: Wenn Menschen Handlungsfähigkeit haben, dann als unveräußerliche menschliche Eigenschaft, welche Dingen zuzusprechen sogleich eine moralische Übertretung bedeuten würde. Eine solche Fähigkeit wäre folglich weder (ver)teilbar noch delegierbar. Zur agency (ex nihilo) als substantialistische „quality“ siehe Fuller 1994, S. 741 f. Die „agency in medias res“ eröffnet im Unterschied dazu „einen empirischen Untersuchungsraum“, in dem „über das Entstehen und die Verteilung von ‚Agency‘ in Assoziationen von menschlichen und nichtmenschlichen Agenten verhandelt werden kann“ (Rammert 2000, S. 150). 116 Wenn man von der Mitte einer Pluralität sozialen Handelns ausgehend verschiedene Handlungs-/Aktionsformen differenziert, ist die zweite, unter „Kontingenz“ rubrizierte, Stufe des möglichen Handelns nicht-menschlicher Agenten bei Rammert und Schulz-Schaeffer die interessanteste. So wird etwa der „formal geregelte bürokratische Verwaltungsablauf“, aber auch die „If-else-Struktur von Software-Programmen“ der zweiten Stufe zugeordnet (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b, S. 50), beides Formen des sozialen Handelns in meinem Sinne. 117 Etwa: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten“ (Anders 2002, S. 298).

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ne Störung verursacht hat.118 Daß Verselbständigungen, Eigendynamiken, Entlastungen, Delegationen etc. vorkommen, bestreitet ja niemand, in Frage steht eher, wie sie zu rechtfertigen oder zu erklären sind; und nicht ob, sondern wo sie zu akzeptieren, tolerieren oder zu kritisieren sind. Letztlich gelangen wir zu einer pluralistischen Auffächerung von agency: Als Abstufungen denkbar sind nicht nur solche der Wirkungsmacht, der Aktivität bzw. Akteurhaftigkeit, sondern auch solche der Handlungsmacht und Agentenschaft, die allerdings beide aufeinander angewiesen sind, vielleicht sogar in einer umgekehrt proportionalen Beziehung zueinander stehen. Auch kann man, erst recht wenn man von Vermittlung ausgeht (zusammen mit Agentenschaft bildet sie agency 4), hier längere Vermittlungsketten von kürzeren unterscheiden, sodann die unterschiedlichen Mittler differenzieren, wozu auch ihr diverses Material, ihre unterschiedliche Dinglichkeit gehören.119 Was Intentionalität, Verantwortung, Verbindlichkeit etc. angeht, also Eigenschaften, Vermögen, Fähigkeiten, Kompetenzen, die eher Menschen zugesprochen werden, so verweise ich auf das oben zu Verteilung und Verantwortung (und Performanz und Kompetenz) Gesagte (und auf das weiter unten zu Intentionalität noch Folgende). Das heißt: Wir haben es mit einem Spannungsfeld zwischen Verteilung und Verantwortung zu tun. Wenn wir spezieller an schlichte Dinge denken, sind solche Eigenschaften oder Fähigkeiten wie Stabilität, Zulassen, Ermöglichen, Erleichtern etc. einer duldenden, passiven Handlungsmacht oder einer ebensolchen Wirkmächtigkeit zuzuordnen, für die schlichte Dinge sehr geeignet sind, da sie kaum etwas zu tun, sondern nur dazusein brauchen. Die Diskussion über Verdinglichung, Verselbständigung und Entfremdung von Handeln findet ohnehin im sozialen Handeln statt. Nicht nur in der Soziologie, auch in der Gesellschaft wird darüber gestritten, ob etwas ein Handeln, ein emphatisches Handeln im Sinne bewußten (oder sonstwie qualifizierten, etwa politischen) Handelns ist, ein zurechenbares Handeln oder aber ein gedankenlo-

118 Anhand von Pannen bei der Gepäckabfertigung an Flughäfen hat Jörg Potthast grundsätzlicher und empirisch zwei Typen des Umgangs mit Pannen herausgearbeitet, die einmal in Richtung Ursachenforschung (Wirkungsmacht, agency 1), einmal in Richtung Schuldzuweisung (menschliches Handeln, agency 5) orientiert sind. Er versteht darunter auch ein empirisch einlösbares und nicht so einfach nach einer der beiden Seiten hin auflösbares Symmetrieprinzip (Potthast 2007, S. 53, S. 103 ff.). 119 Man könnte fast sagen (und Latour tut dies manchmal): Alles Handeln ist vermitteltes Handeln. Andererseits kann man, auch wenn man die Vermittlung sehr hoch ansetzt, so etwas wie Unmittelbarkeit, und sei es als Grenzfall, schlecht ausschließen (das private Handeln bei Dewey, das affektuelle bei Weber).

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ses Agieren. Dieses „in der Gesellschaft“ läßt sich konkretisieren: im Recht und vor Gericht, in öffentlichen Diskussionen, bei der Einführung und Durchsetzung neuer Technologien sowie bei jeder Erklärung, um die man für sein Handeln oder dessen technische oder sonstige Vermittlungen gebeten wird.120 Juristische Regelungen und Überlegungen sind hier ebenfalls instruktiv. Hinsichtlich nicht-menschlicher Akteure oder Wesen gibt es ein Spektrum von Rechten und Rechtsfähigkeit, variiert der Akteursstatus, der ihnen zugestanden bzw. verliehen wird. „Tiere und elektronische Agenten sind heute schon soziale Akteure, aber sie sind nicht an allen gesellschaftlichen Orten präsent. Sie führen sozusagen ein hochfragmentiertes Dasein in der Gesellschaft. Entsprechend den unterschiedlichen Bedingungen des Akteursstatus treten sie in manchen gesellschaftlichen Kontexten auf, in anderen sind sie personae non gratae. Und selbst wenn sie personifiziert sind, dann divergieren dennoch in Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Moral oder anderen sozialen Kontexten ihre Handlungskompetenzen drastisch.“ (Teubner 2007, S. 21)121

Tierrechte und die rechtliche Personifikation elektronischer Agenten schließen diese Nicht-Menschen in die Gesellschaft ein, wenn auch mit unterschiedlichem Rechtsstatus. Tiere erhalten Grundrechte und subjektive Rechte, um sie vor den Menschen oder der Gesellschaft zu schützen; es sind allerdings Menschen (in der Gesellschaft), die als „Repräsentanten von Tierinteressen und Treuhänder von Tierrechten“ auftreten (ebd., S. 24). Dagegen können elektronische Agenten für Menschen rechtsverbindliche Erklärungen abgeben, „ohne dass menschliche Akteure konkret involviert sind. Ihnen wird damit die Stellvertretungsfähigkeit eingeräumt, aber ohne eigene Rechtsfähigkeit und ohne eigene Geschäftsfähigkeit, von eigener Grundrechtsfähigkeit […] ganz zu schweigen.“ (ebd.) Hier schützt

120 Wo man also einen „account“, das heißt eine Erklärung oder einen Bericht liefert. S.o. Anm. 109. Munro (2012) entwickelt eine „alternative Sozialtheorie“ ausgehend von dem Garfinkelschen Begriff des account. Es sind accounts konstitutiv dafür, wie wir handeln oder agieren. Wir werden dauernd aufgefordert, Rechenschaft abzulegen, accounts zu geben, von außen, von anderen. Nicht der einsame, Entscheidungen treffende Akteur dient als Modell des Handelns. Eine gründlichere Auseinandersetzung mit Munros Argumentation, die in diesem Punkt nahe an meiner ist, würde hier zu weit führen. Immerhin erwähnt er auch (ebd., S. 77) die „Inskriptionen“ Latours als externalisierte und empirisch faßbare Spuren solcher accounts. Hier läßt sich weiterhin die Soziologie Boltanskis und Thévenots anschließen (Boltanski/Thévenot 2007). Siehe auch Steiner 2011. 121 Den Hinweis auf diesen für meine Argumentation wichtigen Text verdanke ich Anna Henkel.

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sich die (menschliche) Gesellschaft vor den elektronischen Agenten, während Tierrechte die Tiere vor jener schützen. Man sieht, daß im Recht eher differenziert als gradualisiert wird. Während es bei Tieren vor allem um Grundrechte und subjektive Rechte geht, die von Menschen vor Gericht vertreten werden, dienen elektronische Agenten als Repräsentanten von Menschen in Geschäftsbeziehungen. Dabei relevant ist allein deren Stellvertretungsfähigkeit. Haben sie ihre Aufgabe erfüllt, kann man sie de-installieren oder löschen. Noch einmal ein anderer Fall sind Automaten und Roboter, bei denen vor allem die Haftung bei Unfällen ein rechtliches und soziales Problem darstellt, das ihrem Einsatz im öffentlichen Leben (man denke an automatisierte Kraftfahrzeuge) bisher oft im Wege steht. Über die agency der Dinge kann nicht diskutiert werden, wenn man vorab ihre Unmöglichkeit glaubt beweisen zu müssen, weil Dinge ja nicht handeln könnten. Oder ihre Inakzeptabilität, weil sie nicht permanenter menschlicher Kontrolle unterliegen. (Die Kritiker zielen auf das Moralische, Normative – „Verdinglichung!“ –, bringen aber erkenntnistheoretische und anthropologische Einwände vor.122) Auf der Ebene der wissenschaftlichen oder akademischen Disziplinen bestehen die Mißverständnisse meist darin, daß man in irgendeiner Form einen philosophischen oder moralischen Handlungsbegriff (emphatisches Handeln) in die Soziologie einschleust (soziales Handeln). Sobald Handeln aber einen Grundbegriff der Soziologie bildet, für manche gar koextensiv mit dem Gegenstand der Soziologie ist, wirft dieser importierte philosophische Handlungsbegriff offensichtlich Probleme auf. An ihm gemessen muß man einen Großteil des Handelns, mit dem sich die Soziologie beschäftigt, als minderes, zweitrangiges Handeln betrachten. Die häufigste Reduktion zwischen den fünf Handlungsaspekten besteht dann darin, das soziale Handeln (agency 2-4) als Emanation menschlichen Handelns (agency 5) im emphatischen oder engeren Sinne aufzufassen oder auf eine naturalistisch konzipierte Wirkungsmacht (agency 1) zu reduzieren. Alles soziale Handeln ließe sich in letzter Instanz wieder auf das bewußte, intentionale Handeln von Individuen, Personen, Subjekten zurückführen. In einer solchen Perspektive könnte man die drei Ebenen Agieren/Soziales Handeln/Emphatisches Handeln hinsichtlich ihrer Komplexität ordnen und als aufeinander aufbauend verschachteln: Menschliches Handeln (agency 5) wäre komplexer als menschliches Verhalten (agency 1), da es den subjektiven Sinn zumindest von Ego mit einschließt. Soziales Handeln (agency 2-4) wiederum

122 S.o. Anm. 115.

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wäre komplexer als Handeln eines Einzelnen (agency 5), da es zusätzlich zum gemeinten subjektiven Sinn von Ego noch den gemeinten subjektiven Sinn von Alter umfaßt bzw. in Rechnung stellen muß. 123 Wenn wir aber von der Mitte, dem sozialen Handeln bzw. Agieren ausgehen, erweisen sich weder agency 1 noch agency 5 als Grundlagen, sondern als purifizierte Pole einer dualistischen Ontologie, oder aber, wenn wir auf eine solche verzichten, als zwei weitere Facetten oder Aspekte des Handelns oder Agierens in Gesellschaft (vgl. Abb. 3, S. 108). Mit dem Schema Agieren/soziales Handeln/(emphatisches) Handeln lassen sich weiterhin verschiedene Positionen zum sozialen Handeln veranschaulichen. Für Tarde etwa ist soziales Handeln (agency 2-4) einfacher strukturiert als das Handeln von Individuen (agency 5), es ist eine routinisierte, standardisiertere Form von individuellem Handeln (Latour 2009b); ähnlich auf anderer Grundlage auch für Hannah Arendt (2010), die einen ganz anders gelagerten emphatischen Handlungsbegriff entwickelt. Für sie ist Handeln (und Sprechen) nur Individuen (nicht etwa Gruppen) möglich, es ist – im emphatischen Sinne – politisches Handeln, das sich dementsprechend auch nicht an Maschinen oder Dinge delegieren läßt, im Unterschied zu Arbeiten und Herstellen, die in unserem Schema zu sozialem Handeln gehören würden.

Warum überhaupt „Akteurnetzwerke“? Was bringt der Begriff der Akteurnetzwerke, was „Handlung“ nicht leistet? Erstens vermag er besser das zu fassen, was manche Autoren als Handlungsstrom bezeichnen;124 Handeln hebt sich ja heraus aus einem Strom von Aktivität, Tätigkeit (oder zweckgerichtetes, intentionales aus einem Strom gewohnten Handelns). Besser als das Begriffsbild eines Stroms scheint mir aber das eines Geflechts oder Netzwerks zu sein. Denn darin angelegt ist die Möglichkeit der Verselbständigung oder auch schon Verlängerung von Handlungsketten, ihre Verzweigung, ihr Verknüpftsein mit dem Handeln (oder den Tätigkeiten) anderer. Es sei denn, man versteht „Handlungsstrom“ als gleichzeitiges Strömen

123 Das entspricht in etwa der Denkweise Webers. Webers Handlungsbegriff ist allerdings als methodologischer Default gedacht, der dann später (bei Schütz etwa) mit Bewußtseinsinhalten und subjektiven Sinnsetzungen und -deutungen ausgefüllt wurde. Aber selbst als methodologischer Default ist er dualistisch konstruiert. Ich plädiere dagegen für das soziale (oder vermittelte) Handeln als Default. 124 Ich denke hier vor allem an Giddens 1984, S. 99, Rammert 2006, S. 183.

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mehrerer Handlungen.125 Ein solcher wäre dann aber kaum noch von einem Geflecht oder Netz zu unterscheiden (ein Brief an x ist unterwegs, eine Haftpflichtversicherung läuft, die Sammel-E-Mail ist erst von 2 Empfängern gelesen worden etc.). Zweitens bezieht ein Akteurnetzwerk Dinge ein, ohne diese ausschließlich anthropozentrisch (auf naturaler Grundlage) zu denken, sei es als Mittel zu menschengesetzten Zwecken, sei es als Produkt einer menschlichen Tätigkeit, sei es als Gegenstand eines menschlichen Bewußtseins. Und schließlich könnten Akteurnetzwerke an die Stelle des Paars Handlung-Struktur (oder agency-structure) treten; oder anders gesagt: Netzwerke unterscheiden sich nicht nur in ihrem Verknüpfungstyp, sondern auch in der Größenordnung, sie führen vom Kleinen zum Großen und vom Lokalen zum Universelleren (und umgekehrt). Aber, wie eingangs bereits gesagt, Handeln ist nur eine Möglichkeit, um Dinge zu sozialisieren. Die Relevanz der Dinge, ihre Eigenmächtigkeit, Beharrlichkeit und Aktion bzw. ihr stilles Dasein können vielleicht anders gefaßt werden als auf dem Weg über den Handlungsbegriff (und die entsprechenden Polemiken um die Handlungsmacht von Dingen).

Dinge verändern Intentionalität Auch die verschiedenen Bedeutungen von Intentionalität lassen sich mit Hilfe des Schemas Agieren/soziales Handeln/(emphatisches) Handeln deutlicher differenzieren. In der Philosophie wird Intentionalität als Merkmal des menschlichen Bewußtseins oder Seelenlebens angesehen. Seit Husserl steht sie für die Definition von Bewußtsein, für eine Art apriorische minimale Bewußtseinsstruktur: Bewußtsein ist stets Bewußtsein von etwas.126 Entsprechend wäre intentionales Handeln als emphatisches Handeln zu betrachten. Andere aber sehen Intentionalität als kulturelles, soziales Phänomen; etwa als Fähigkeit, Rechenschaft über das eigene Tun abzulegen und Verantwortung zu übernehmen (Cursio 2006), als sprachabhängig, d.h. als um Intensionalität erweiterte Intentionalität (Margolis 1984), als Zuschreibung (Rammert/Schulz-

125 So wie Giddens, zumindest andeutungsweise: „die Menschen können ihr Handeln wie verschiedene gleichzeitig fließende Ströme steuern“ (Giddens 1984, S. 99). 126 Und dieses Etwas „ist der in ihm jeweils ‚intentionale Gegenstand als solcher‘“, Husserl 1977, S. 48. Oder Intentionalität steht für Psyche vs. Physis bei Brentano (Brentano 1973). Vgl. Hampe 2008, S. 453. In der Psychologie wird Intentionalität als synonym mit einer dezidierten Subjekt-Objekt-Relation verwendet: Intentionalität als objektiver Weltbezug auf von uns unabhängige Gegenstände (Huppertz 2000; Tomasello 2002).

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Schaeffer 2002b) oder gar als institutionelles Dispositiv: „Zweckgerichtetes Handeln und Intentionalität mögen keine Eigenschaften von Objekten sein, aber sie sind auch keine Eigenschaften von Menschen. Sie sind Eigenschaften von Institutionen, von Apparaten, von Dispositiven, wie Foucault es genannt hat.“ (Latour 2000, S. 235). In all diesen Fällen wäre Intentionalität im Bereich sozialen Handelns zu verorten (also unter agency 2-4). In der Soziologie gilt „Intentionalität“ als Kürzel für eine bestimmte Sozialontologie, die im intentionalen Handeln, der Intentionalität des Handelns ein Charakteristikum sieht, welches dieses zu einem eigenen Gegenstand der Soziologie oder einem analytischen „Letztelement des Sozialen“127 macht. Ausbuchstabiert hat es zwei leicht verschiedene Bedeutungen, zum einen absichtliches Handeln, zum anderen mit subjektivem Sinn versehenes Handeln. Unter dieser Zweideutigkeit leidet der soziologische Intentionalitätsbegriff. Zwar sind die beiden Definitionen miteinander kompatibel, weisen aber dennoch allzu gewichtige Bedeutungsnuancen auf,128 als daß man „die Intentionalität“ ohne weitere Qualifizierung als Standardbegriff für menschliches soziales Handeln verwenden oder gar für eine evidente Gegebenheit halten könnte, die keiner weiteren Präzisierung bedürfte. Daß es dergleichen wie intentionales Handeln gibt, steht nicht in Frage, sondern ob man es zum Grundbaustein einer Soziologie, in diesem Falle des soziologischen Umgangs mit der sozialen Aktivität oder Rolle von Dingen, technischen Objekten und (halbwegs) intelligenten Maschinen machen soll. Meine Position dazu lautet, daß man intentionales, das heißt absichtliches, zweckgerichtetes, geplantes Handeln nicht zur Default-Einstellung bei der Analyse, Untersuchung, Beschreibung sozialer Situationen machen sollte (vor allem nicht auf der Kontrastfolie von Verhalten oder Kausalität, womit man zwangsläufig einen Dualismus instituiert). Zumal noch nicht einmal klar ist, ob es Vorausetzung von sozialem Handeln ist oder aber durch dieses konstituiert wird. Ich nehme also einen eher weiten Handlungsbegriff – einen Begriff vermittelten und verteilten Handelns (agency 2-4) – als Ausgangspunkt, ohne (vergleichsweise hochkomplexes) intentionales Handeln (agency 5) aus dem Spektrum der Möglichkeiten auszuschließen noch zu bestreiten, daß verhaltens- oder

127 Diese Formulierung stammt von Schulz-Schaeffer (2007, S. 26) und lehnt sich an Luhmann an, der in Luhmann 1987, S. 228, abwägt, in welcher Hinsicht Handlung oder Kommunikation „als Letztelement“ dient. Schulz-Schaeffer hat sich für Handlung entschieden und ist an der Frage nach dem subjektiven oder sozial generierten Sinn als weiterer Differenzierung interessiert. 128 So läßt sich etwa der Sinn (u.U. sogar der subjektive) des Handelns nachträglich definieren, die Absicht nicht.

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neurowissenschaftliche Aspekte (agency 1) menschlichen Handelns dessen Erklärungen und Beschreibungen bereichern können bzw. kausale Wirksamkeit zu vielen Handlungsakten gehört (ebenfalls agency 1). Hinsichtlich der Intentionalität des Handelns lautet mein Argument nicht „auch Dinge haben Intentionalität“, so als versuchte man sie mit aller Gewalt in einem emphatischen Handlungsbegriff (agency 5) unterzubringen, als Handlungssubjekte, sondern: Intentionalität (oder Handeln im emphatischen Sinne) wird durch Dazwischentreten der Mittel, Verfügbarkeit der vielen (oder durch Fehlen der notwendigen) Dinge verändert. Zum anderen weisen manche Dinge intentionale Züge auf. Das will ich im folgenden kurz erläutern. Ausgehend von der Pluralität, Vielfalt der Dinge sollte eine produktive Thematisierung Dinge und Intentionalität in etwa folgendermaßen miteinander verbinden: 1. Dinge als dazwischentretende Mittel verändern intentionales Handeln subtil oder drastisch; sie erleichtern es, ja setzen uns dazu oft erst in den Stand, wie etwa Computer, Fahrzeuge oder Fotoapparate (agency 4, Vermittlung). Das heißt zum einen, daß man im Verbund mit bestimmten Dingen anders intentional ist: die Intention wird zum Beispiel durch den Fotoapparat gelenkt (etwas als Foto, als zu fotografierendes Objekt wahrnehmen). Weitergedacht führt das dann aber zur Relativierung der Intentionalität und der zentralen Rolle des Bewußtseins. Mit der zunehmenden Produktion und Proliferation industrieller, medialer und informationeller Dinge und Maschinen hat sich einiges geändert. Was Subjekt ist, hat nun auch damit zu tun, mit welchen Dingen ich umgehe, mit welchem technischen Objekt ich mich verkopple, in welchen Objekten ich mich bewege, durch welche ich wahrnehme (ob Fotoapparat, Vergrößerungsgerät oder Fahrzeug). 2. Manche Dinge, wie Computer oder Roboter, beschwören die Frage nach der Intelligenz oder Sozialität ihres Agierens herauf, ihrer „Akteurhaftigkeit“, wie sie oben unter agency 2 charakterisiert wurde; und damit auch in einem zweiten Schritt, da für manche Intentionalität und Kognition bzw. Sozialität zusammenhängen,129 die Frage nach ihrer eigenen Intentionalität. Genauso interessant finde ich die Frage nach ihren menschliche Intentionalität fördernden, ermöglichenden, herausfordernden, blockierenden, verhindernden, unterdrückenden Anteilen (agency 1-2, Wirkungsmacht und Akteurhaftigkeit). Als Dingen supponierte, zugeschriebene Intentionalitätsanteile sind sie oft auch von jenen Dingen beim menschlichen Interaktionsteilnehmer hervorge-

129 Etwa für Cursio (2006).

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lockte, entfaltete. Ähnliches gilt natürlich ebenfalls bei der Kommunikation mit Menschen. „Alle Intentionalität ist zugeschrieben“ wird dem nicht gerecht; ich verweise auf die sich verselbständigenden Handlungskulturen (s.o. S. 93 f.). Hier könnte man vielleicht noch einmal daran erinnern, daß Computer, Roboter, Moboter, algorithmische Bots, neuronale Netze keine Dinge oder Objekte im klassischen Sinne sind (sondern zumindest Quasi-Objekte); in ihnen ist Subjektives oder Intentionales oder Kognitives deponiert, kopiert, inkorporiert bzw. an sie delegiert. Und sie locken es hervor, indem man es ihnen unterstellt. Man könnte hier von technischer oder technologischer Intentionalität, von QuasiIntentionalität oder Proto-Intentionalität sprechen.130 Zu erwähnen wäre noch ein weiterer Zwischentyp von Intentionalität. Wenn man das Intentionale nicht als bloßen Bewußtseinsakt versteht, sondern als Strukturierung, Gerichtetheit des Verhaltens, als „intentionalen Bogen“, wie Merleau-Ponty es nennt,131 läßt sich auch die eigene Körperlichkeit des Handelnden, ja seine ihm nicht mehr verfügbare, aber doch ins Spiel kommende Geschichte als Vermittlung begreifen. Man könnte auch sagen: Jedes Handeln ist situiert, verkörpert; kein Handeln fängt bei Null an. 3. Ähnliches wie die Intentionalität fördernde Quasi-Intentionalität (2b) gilt auch für Dinge wie Kunstwerke, Bücher, mathematische Formeln. Sie sind noch am ehesten Dinge, die Intentionalität enthalten oder tragen,132 wenn auch nicht im Sinne der Intentionen des Autors, Urhebers. In Literatur- und Kunstwissenschaft heißt das Textintentionalität, Werkintentionalität.133 4. Letztlich ist es nur die zugespitzte These „Dinge haben Intentionalität“, welche die Gemüter erregt. Dazu existieren einige markante Positionen:

130 Von technologischer Intentionalität („technological intentionality“), spricht auch Verbeek (2000, S. 291 ff.). Hauptsächlich scheint er darunter technologisch vermittelte Intentionalität zu verstehen. Die hervorgelockte oder unterstellte Intentionalität, von der ich spreche, oder gar die in Artefakten implementierte oder sedimentierte Intentionalität wären davon zu unterscheiden, möglicherweise als Sonderfälle. Von „Proto-Sinn“ und „basalen Intentionen“ bei Nicht-Menschen spricht Lorentzen (2002, S. 107). 131 Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 164 und S. 188, sowie Dreyfus 2002. 132 Sie sind auch Bewohner von Poppers Welt 3: siehe Popper 1993, S. 123, Popper 1981, S. 272. Siehe auch Stengers 1997b, S. 68 ff. Siehe weiterhin unten in Kap. 4.2 „Objektiver Geist“. 133 Vgl. die Beiträge von William K. Wimsatt/Manoroe C. Beardsley und Michel Foucault in Jannidis/Lauer/Martinez et al. 2000. Siehe auch Baxandall 1990.

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Man kann den Subjektstatus auf Dinge und andere nicht-menschliche Wesen oder Entitäten ausdehnen. Es ist dies die Argumentation Whiteheads (wobei Subjekt weder Seele noch Bewußtsein oder subjektiven Geist impliziert, also auch keine Intentionalität), auf die Latour und Stengers des öfteren zurückgreifen.134 Ich werde sie nicht ausführlich darstellen und diskutieren, allerdings berührt sie meine Argumentation zu pluralen Ontologien (s.o. Kap. 2.1). Man kann ansetzen an sich verselbständigenden technologischen Prozessen, Eigendynamiken von Dingen, die man entweder begrifflich differenziert erfaßt, etwa gradualisiert (Rammert/Schulz-Schaeffer 2002b), oder, ähnlich wie Latour, anhand ihrer Substitutions- und Assoziationsbeziehungen verfolgt (s.u. Kap. 2.3 zum Berliner Schlüssel, Kap. 2.5 zur Assoziation) Oder man kann diese Eigendynamik pauschal als Verdinglichung brandmarken. Darauf komme ich (unter 2.4) zurück. Bevor ich die anderen „Resozialisierungs-Programme“ für Dinge erörtere (Normativität, Verdinglichung und Assoziation), will ich kurz zwei Ansätze vorstellen, die Dingen gegenüber nicht den üblichen erkenntniskritischen Vorbehalt hegen, der sie dann wieder nur als natürliche Objekte akzeptierbar macht, sondern sie relativ selbstverständlich in ihre Handlungstheorien mit einbeziehen.

Verwandte Handlungstheorien Außerhalb der Diskussionen um technische Objekte und Geräte werden andere Handlungstheorien formuliert, die von einem weiten oder voraussetzungsarmen Handlungsbegriff ausgehen und die Dinge (und sei es „nur“ als Mittel) ohne weiteres einbeziehen.

In mehreren Welten handeln (Boltanski, Thévenot) Viele Handlungstheorien gehen davon aus, daß so etwas wie Intentionalität in jedem Handeln steckt, als eine Art Tiefenstruktur. Nun ist aber nicht jedes Handeln so ohne weiteres anhand von intrinsischen Merkmalen identifizierbar (gähnen, ostentativ gähnen, eine Zigarette rauchen, mit dem Rauchen aufhören). Laurent Thévenot unterstreicht, daß man eine gegebene Regung, Körperbewegung, Verhaltenssequenz, Aktivität oder auch deren Ausbleiben erst mittels

134 Etwa Latour 1996c, Stengers 2002b.

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eines bestimmten Handlungsformats als Handeln identifizieren kann.135 Und solche Handlungsformate gibt es mehrere. Wozu jenes sinnbegabte oder intentionale Handeln, das den Handlungstheoretikern so sehr am Herzen liegt, zwar auch gehört, aber nicht als einziges oder grundlegendes. Thévenot bezeichnet dieses Standard-Handlungsregime zudem anspruchsloser als „geplantes Handeln“136 . Es ist ein Modell und ein Format unter anderen, aber keine in jedem Handeln liegende Tiefenstruktur. Für jedes der Handlungsformate bzw. Handlungsregimes, die Thévenot unterscheidet, gelten andere Anforderungen an den Handelnden, an die Mit-Handelnden sowie schließlich an die Dinge, mit denen das Handeln befaßt ist oder die es verwendet.137 Thévenot lädt also dazu ein, zu einer Pluralität von Handlungsregimen überzugehen. Seine Lösung besteht in einer Differenzierung von Handlungsformaten, nicht von (mehr oder weniger komplexen) Aktivitätsniveaus. Hinsichtlich der Dinge am interesssantesten ist das Proximitätsregime,138 das Regime vertrauten, gewohnten Handelns. Darunter fällt jenes Handeln, das mit der Zuhandenheit der Dinge, sei es am Arbeitsplatz, sei es in der vertrauten Umgebung, etwa der Wohnung, rechnet. Solches Handeln kann zur Routine werden; eher trägt es das Handlungssubjekt, als dieses es. Im Nahbereich des Handelns verschwimmen die Grenzen zwischen Ich und zuhandenen Dingen. „Dieses Regime der Vertrautheit kann sich verfestigen zu einer Routine, von der das Subjekt eher getragen wird, als daß sie seinem Willen Folge leistet. […] Die Dinge reißen eher mit, als daß sie sich als Mittel anbieten.“ (Thévenot 1994, S. 96) Im Regime geplanten Handelns werden per definitionem absichtsvolle menschliche Handlungsträger und funktionale Objekte (als Mittel zu einem Zweck) unterschieden; es ist das Standardformat soziologischer und vieler anderer Handlungstheorien (Thévenot 2002, S. 73). Will man es mit unseren fünf Formen von agency in Beziehung bringen, so könnte man sagen, daß es Hand-

135 Ich stütze mich im folgenden vor allem auf Thévenot 1994, 2002, 2006. Den Titel dieses Abschnitts entlehne ich aus Dodier 1991, S. 427: „Agir dans plusieurs mondes“. 136 Er bezieht sich hierbei auf die Handlungstheorie von Bratman, siehe Thévenot 2006, S. 96 f. 137 Handlungsregime sind von der sozialen Situation und vom Analytiker her gedacht, sie können selbstverständlich auch vom Analysanden bewußt verwendet oder thematisiert werden, sind aber etwas anderes als subjektive Typisierungen. 138 „Proximitätsregime“ ist mein Begriff, Thévenot spricht von „regime of familiarity“ (Thévenot 2001, S. 67), „régime de familiarité“ (Thévenot 2006, S. 14). Er kennzeichnet das Handlungsregime der Familiarität des öfteren durch Proximität, Nähe, Lokalität: „personalized and localized things are involved in the kind of plausibility that is anchored in proximity“ (Thévenot 2002, S. 57).

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lungsmacht (agency 3) und Akteurhaftigkeit (agency 2) vereint, wobei eine strikte Rollenverteilung zwischen Menschen und Dingen herrscht: Dinge können in diesem Format nur passive Mittel und Objekte sein. Geplantes Handeln ist einerseits als Unterstellung, andererseits als Formatierung Grundlage der verschiedensten gesellschaftlichen Berechnungen und Rechenschaftsberichte. Das Regime legitimierbaren Handelns wiederum ist eines, das in Streitfällen relevant wird. Zu diesem Rechtfertigungsregime gehören verschiedene Werteordnungen, anhand derer menschliche Akteure ihr Tun legitimieren und anhand derer Objekte, Dinge, Sachverhalte als wertvoll eingeschätzt bzw. überhaupt erst mit bestimmten Eigenschaften qualifiziert werden.139 Das läßt sich anschaulich anhand einer zu bauenden Straße illustrieren, wo mit Hilfe verschiedener Rechtfertigungen Interessen geltend gemacht werden und diese Straße als eine kommerzielle, ökonomische, industrielle, lokale oder ökologische Straße qualifizieren: Die einen wollen eine nach Marktgesichtspunkten gebaute gebührenpflichtige Autobahn, die anderen eine industriell ausgelegte für den Güterverkehr, wieder andere eine an lokalen Interessen und Gegebenheiten ausgerichtete, eine nach ökologischen Gesichtspunkten verlaufende und gebaute … (vgl. Thévenot 2002) Unthematisiert kann das legitimierbare Handeln in proximem oder geplantem Handeln bestehen. Es stützt sich als öffentliches Regime auf die beiden anderen lokaleren Regime (ebd., S. 69). Hier ist noch ein Begriff zu erwähnen, der die Soziologie Boltanskis und Thévenots kennzeichnet und mit der Latours verbindet (Potthast 2015), nämlich der der Prüfung (oder Kraftprobe, Versuch: trial, épreuve). So wie im Labor neue Entitäten Prüfungen oder Kraftproben unterzogen werden, durch die sie sich definieren, ringen auch in sozialen Konfliktsituationen Menschen mittels sie legitimierender „Größen“, das heißt Legitimationsordnungen, miteinander, die in dieser Auseinandersetzung auf die Probe gestellt, geprüft werden. Für unsere Diskussion interessant ist, wie Dinge in die drei Handlungsregime Thévenots eingehen. So spielen sich die moralischen und politischen Auseinandersetzungen, die ja vornehmlich die Kritik an Dingen als sozialen Akteuren motivieren, nahezu sämtlich im Regime legitimierbaren Handelns ab (hier gilt, wenn auch nicht unbestritten: Dinge bzw. nicht-menschliche Wesen sind keine rechenschaftsfähigen Akteure und anerkannten Rechtssubjekte140). Nur hier stellt

139 Und das Thévenot zusammen mit Boltanski in dem Buch Über die Rechtferigung (Boltanski/Thévenot 2007) ausführlich dargestellt hat. 140 Die verschiedenen Regime der Rechtfertigung von Boltanski und Thévenot, die als sechs unterschiedliche Formen von Gemeinwesen oder Polis (cité) ausgearbeitet wurden, lassen sich womöglich um eine ökologische, das heißt über die Menschen

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sich die Frage der Zurechnung explizit (Thévenot 1994); beim geplanten Handeln nicht: denn dort wird die Handlung definitionsgemäß dem menschlichen Handlungsträger zugerechnet. Dinge und Objekte kommen nur insoweit in den Blick, als sie für das jeweilige Handeln funktional sind im Hinblick auf die Realisierung eines Plans (das heißt, hier haben wir die festgelegte Rolle des menschlichen Akteurs als Nutzer und des Dings als Werkzeug oder sonstwie funktionales Objekt). Und das Handeln im Regime der Proximität liegt noch vor der eindeutigen Zuordnung, was auf mich, den Handelnden, und was auf das Objekt zurückgeht. Hier kommt die Frage der Zurechnung zu früh: Alle Handlungselemente sind ohnehin verteilt auf den handelnden und andere beteiligte Menschen und Dinge.141 Aber auch in die von Boltanski und Thévenot (1991) analysierten Rechtfertigungsregime, die das dritte Handlungsformat ausbuchstabieren, sind Dinge realistisch einbezogen.142 Die damit einhergehende Handlungstheorie verfällt nicht dem üblichen soziologischen Dualismus, wonach die menschlichen Akteure es nicht mit Dingen, sondern mit Vorstellungen und Bedeutungen von Dingen zu tun hätten, als deren Projektionsfläche naturwissenschaftlich eruierbare Entitäten und Gesetzmäßigkeiten dienen würden. Vielmehr geht das Handeln der Akteure auch auf Dinge bzw. verwendet sie als Vermittler. Den untersuchten Handlungsrechtfertigungen entsprechen verschiedene Repertoires von Objekten und Erwartungen gegenüber diesen Objekten.143 Im Unterschied zu vielen dualistischen Handlungstheorien diskutieren die beiden Autoren den „Einbezug von Objekten in Handlungen“ (Boltanski/Thévenot 2007, S. 206). Das bedeutet einen Pluralismus, der sich vom kulturellen Pluralismus abhebt, wie er in den Sozialwissenschaften allenfalls vertreten wird; dieser beschränkt sich nämlich auf die Ebene der „Vorstellungen“ oder „Repräsentatio-

hinausreichende, Polis erweitern (Latour 2010b). In dieser läßt sich dann auch über Fragen streiten wie die, ob nicht-menschlichen Wesen Rechte zustehen, und wenn, welche. 141 Die Dynamiken des vertrauten Umgangs mit Dingen haben, wie Thévenot (2002, S. 71) betont, „nothing to do with conventional forms of judgment or the subjetc/object divisions implied by normal planned action. They have instead to do with perceptual and kinesthetic clues about familiar and customized ‚paths‘ through local environments that involve modifying the surroundings as well as the habits of the human body.“ 142 Zu Thévenots Verständnis von Realismus siehe Thévenot 2001, S. 58 f., zu den Dingen siehe etwa Boltanski/Thévenot 2007, S. 59 f., S. 65, S. 295 f. 143 Ich folge hier der Darstellung von Dodier 1991, S. 441 ff. Zur Beziehung zwischen Latour und Boltanski/Thévenot siehe Boltanski/Thévenot 2007, S. 39, Latour 2009a, Bogusz 2010, S. 71 ff., Guggenheim/Potthast 2011.

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nen“, die man von der Welt hat, oder auf die Ebene von Wahrnehmungsschemata. Dagegen erfolgt der andere Zugang zu Objekten auch „über die Handhabung anderer Objekte“, nicht nur über Wahrnehmungsschemata, die dem Handelnden innerlich sind. Die verschiedenen Rechtfertigungsmodi mobilisieren verschiedene Dinge. Die Vermehrung unterschiedlicher, verschieden „instrumentierter Vermittlungen“ macht es schwierig, die These aufrechtzuerhalten, „es gäbe nur ein einziges korrektes Regime des Zugangs zu Objekten“ (Dodier 1991, S. 442). Klassisch ist die Orientierung an Webers Unterscheidung zwischen Werturteilen und Tatsachenurteilen. Demnach gäbe es einen – und nur einen – privilegierten Zugang zu Objekten, nämlich den wissenschaftlichen. Die „These von einer Pluralität der Handlungswelten“ bestreitet diesen Dualismus zwischen „Tatsachenurteilen, die nach und nach zum Konsens tendierten, und Werturteilen, die von einer unhintergehbaren Perspektivität zeugten. Urteile über Objekte können in diversen Regimen erzeugt werden“ (ebd., S. 444). Die Vermittlungen, die vermittelnden Dinge müssen und können in ihrer Heterogenität gedacht werden.

Situatives und situiertes Handeln (Pragmatismus, Dewey) Warum hat der Pragmatismus, der ja das Handeln nicht geringschätzt, kaum Handlungstheorien im engeren und emphatischen Sinne entwickelt? Der Grund dafür ist ganz einfach: Er geht nicht von der Subjekt/Objekt-Spaltung aus, sieht also als Kern des Handelns nicht ein autonomes, absichtsvoll handelndes Subjekt. Diese Vorstellung liegt aber den meisten Handlungstheorien zugrunde, seien sie nun utilitaristisch, normativ oder rational ausgerichtet.144 Nach den traditionellen Handlungstheorien kommt das Handlungssubjekt fix und fertig in die (als kontingent gedachte) Situation und handelt nun. Handeln aber ist – wesensmäßig – situativ und situiert. Es arbeitet mit den Ressourcen der Situation. Dazu gehört auch, daß Ziele (und Werte) teilweise erst in der Situation erzeugt, entwickelt werden. Ziele werden nicht zwangsläufig vom Handlungssubjekt außerhalb der Situation gesetzt, sondern entstehen „in einer reziproken Interaktion zwischen Mitteln und Zielen“ im Handlungsprozeß. „Sogar neue Ziele können auf der Basis verfügbarer Mittel auftauchen“ (Joas/Beckert 2001, S. 273).145

144 Wie Joas und Beckert (2001) überzeugend nachzeichnen. Die Autoren betonen die Kreativität des Handelns gegenüber Rationalität, Normativität und Nützlichkeit als traditionellen Bezugspunkten von Handlungstheorien. 145 So ist etwa das von einer Ingenieurin entworfene Artefakt eine Weiterführung und Abweichung von ihrem Plan. „Der Handlungsüberschuß [excess of action] ist ent-

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Ziele bzw. Zwecke werden oft als von ontologisch anderem, höherem, etwa geistigem Status angesehen als Mittel. Für Dewey zeigt sich in dieser Ansicht die Abwertung des Mittels gegenüber dem Zweck in der traditionellen Philosophie.146 Denn wenn man von einer praktischen Situation ausgeht, haben Ziele und Mittel genau denselben ontologischen Status: Das Mittel liegt bloß näher am Handelnden, das Ziel ist weiter entfernt und eventuell nur über das Mittel erreichbar (welches seinerseits wiederum durchaus geistig sein kann). Die Lösung der Frage nach dem (Mit-) Handeln der Dinge besteht für mich also in einer Differenzierung, Pluralisierung und Situierung des Handelns, in die Dinge ernstlich – sei es als Mittel – einbezogen sind.147 Es ist nicht entscheidend, wenn auch möglich, Dinge als graduell oder kooperativ Handelnde oder Agierende einzubeziehen. Damit sie sozial relevant sind, müssen Dinge keine Handelnden sein. Es ging mir im Vorstehenden also nicht vordringlich um eine Handlungstheorie, noch darum, Dinge als Handelnde, Agierende einzuführen, sondern um eine Antwort auf die Frage nach Dingen in Gesellschaft bzw. nach dem Verhältnis zwischen Dingen und Menschen in Gesellschaft. Dazu mußte der Handlungsbegriff als mögliche Variante einer Resozialisierung der Dinge diskutiert werden. Nebenbei habe ich einige weiterführende Überlegungen zu einem Handlungsbegriff entwickelt, der nicht dualistisch, sondern pluralistisch, differenziert und situationsorientiert ist und sich mit einer ernsthaften Einbeziehung von Dingen verträgt.

scheidend, denn er erklärt, daß Handeln eine Innovation sein kann, und daß diese Innovation sich nicht durch ihren Ursprung erklären läßt.“ (Gomart 2002, S. 98 f.) Vgl. auch Joas/Beckert 2001, S. 282 f. Zur Interpretation der ends-in-view als „schrittweise Verfertigung von möglichen Zwecken“ siehe auch Rammert 2007c, S. 495, spezieller zu Dewey: Rammert 2007d. 146 Beispielsweise Dewey 1995, S. 347 f., S. 351, S. 359 f. 147 Hier hätte man natürlich noch außergewöhnlichere Handlungstheorien darstellen können, wie etwa die auf „Wirksamkeit“ (efficacité) abhebende von Jullien (1999). Dieser entfaltet eine alternative, am chinesischen (versus abendländischen) Denken orientierte Handlungstheorie, wenn man diese denn noch als eine solche bezeichnen will. Er setzt sie ab von dem europäischen Mythos eines demiurgischen und heroischen Handelns, der an die „reine Macht des Anfangs“ glaubt (Jullien 1999, S. 219). Von diesem Mythos hebt sich der amerikanische Pragmatismus eines Dewey ebenfalls ab.

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Ich komme nun zu weiteren Varianten der Vergesellschaftung148 von Dingen, zunächst Normativität, sodann Assoziation.

2.3 D INGE

SOZIAL DURCH

N ORMATIVITÄT

Die Grundfrage lautet: Wie werden Dinge in Gesellschaft gebracht, wie werden Dinge und Gesellschaft in Beziehung gesetzt? Ein anderer soziologischer Grundbegriff, der sich neben Handeln zur Vergesellschaftung der Dinge anbietet, lautet „Normativität“. Er bringt eine weitere Sozialontologie mit sich; für diese gilt das Normative als das Soziale.149 Wenn Dinge soziale Relevanz haben, gewinnen sollen, müssen sie demnach etwas Normatives an sich haben, in sich tragen. An derselben Front, an der der Intentionalitätsbegriff eingesetzt wird – der Abgrenzung gegenüber Reduktionismus und Naturalismus –, wird auch der Normativitätsbegriff in Stellung gebracht, und er kommt, wie schon jener, mit schwerem philosophischen Geschütz daher. Und er wird ebenfalls meist im Sinne eines Dualismus (diesmal von Normativem und Naturalem) eingeführt oder gar gedacht.150 Normativität ist andererseits ein gesellschaftsnäherer Begriff („Sittlichkeit“, wie es früher hieß,151 und Moral betreffend), der außerdem nicht zwangsläufig, wie Intentionalität, mit einer mentalistischen Vorannahme belastet ist. Auch befinden wir uns hier schon von vorneherein im Sozialen, im Relationalen, nicht bei Aktivitätsniveaus oder Eigenschaften von sozial zu relationierenden Entitäten. Ich will im folgenden einige Beziehungen zwischen Dingen und Normativität durchgehen, beginnend bei der Normativität einfacher Gebrauchsgegenstände bis hin zu Dingen, die expliziter und komplexer normativ wirksam sind. Der Normativität einfacher Gebrauchsgegenstände nähere ich mich sukzessive an-

148 Ich verwende diesen Ausdruck bisweilen auch als Synonym für Eingemeindung, Resozialisierung der Dinge, also um ihre soziologische Einbeziehung in Gesellschaft zu bezeichnen. 149 Beispielsweise Popitz 1980. Die Definition des Normativen bei Popitz: „Soziale Normen nennen wir soziale Verhaltensregelmäßigkeiten [von Menschen], die in Fällen abweichenden Verhaltens durch negative Sanktionen bekräftigt werden“ (ebd., S. 21). Dahrendorf (2006, S. 39) bestimmt Normativität nicht durch Regelmäßigkeiten des Verhaltens, sondern durch „in Rollen gebündelten Verhaltenserwartungen“. 150 Während Intentionalität auch in der sogenannten Philosophie des Geistes ein wichtiges Argument darstellt, charakterisiert Normativität eine andere philosophische Debatte (vgl. Pippin 2005a, S. 19). 151 Paradigmatisch Hegel 1972a, S. 327 ff.

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hand der Stichworte Rollenübernahme, Sanktionen bei unsachgemäßem Gebrauch und der Übersetzung (von Vorschriften, Autorisierungen) in ein anderes Material oder andere Entitäten.152

Verschiedene Formen dinglicher Normativität Normative Gebrauchsgegenstände Rollenübernahme Für George Herbert Mead erfolgen Sozialisation und soziale Kontrolle über die Einnahme der Haltung des Anderen. Dieses Konzept hat er übertragen auf die Einnahme der Rolle des Dings beim Umgang mit diesem. Der Umgang mit einem Ding erfolgt nach dem Muster der Interaktion zwischen Menschen. Analog dem Umgang mit einem menschlichen Interaktionspartner wird normative, soziale Kontrolle dadurch ausgeübt, daß man „die Haltung des Dings einnimmt“.153 Dinge bringen eine Einstellung oder Haltung mit sich, die unseren Umgang mit ihnen vorwegnimmt, strukturiert. Der Einbau von Verhaltenserwartungen in Dinge ist deutlich bei einem Geldautomaten, einer Telefonzelle oder einem mobilen Telefon. Allerdings scheint die Einnahme einer sozialen Haltung von den Dingen her gegenüber den Menschen zunächst ausgeschlossen zu sein. Die Dinge können sich ja nicht in die Menschen einfühlen. Doch an einfühlsame Empathie ist bei Haltungs- oder Rollenübernahme nicht zwangsläufig zu denken, diese kann durchaus in kühler Kalkulation oder in schlichter Antizipation bestehen.

152 Ich orientiere mich dabei sukzessive an den Autoren Mead, Linde und Latour. 153 Mead 1983, S. 228. Das Zitat stammt zwar von Mead, die soziale und normative Kontrolle, die durch die Einnahme der Haltung eines Dings erfolgen könnte, ist dagegen meine weitergehende Interpretation. Auch im folgenden interpretiere ich Mead etwas freier, als Brückenschlag zur Diskussion in der neueren Wissenschafts- und Technikforschung. Wenn Mead den Widerstand der Dinge als Handlung begreift, so kann man darin eine Nähe zur Akteurhaftigkeit sehen („Widerstand ist Handlung. […] Physische Dinge leisten unseren Handlungen Widerstand. Dieses Handeln von Dingen geht in unsere Erfahrung als die Innenseite der Wahrnehmungsdinge ein“; Mead 1969, S. 135). Es gibt sogar eine Passage Meads, wo dieser explizit vom „Me“ eines Stuhls, als einer Haltung, die der Nutzer einnimmt, spricht: Mead 1973, S. 326 f. Ich danke Valentin Janda, der mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat. Miklautz 1996, S. 62 f., spricht ebenfalls von einer „normativen Funktion“ der Dinge, die sie anhand von Mead exemplifiziert. Zu Mead und Dingen siehe auch Knorr Cetina 1998, S. 106, Heintz 2000, S. 132 f., Joas 1980, S. 143 ff.

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Die Haltung des Nutzers eines Dings wird vom Ding antizipiert; es antizipiert dessen mögliche Reaktionen ihm gegenüber. Die Antiziptation ist ihm, wie es heißt, „eingeschrieben“.154 Eine solche Einschreibung der Haltung in das Ding geschieht meist nicht in einem einzelnen dezisionistischen oder planerischen Akt, sondern erfolgt im Laufe der Geschichte – hierin ebenfalls vergleichbar mit sozialen Normen, Haltungen, die sich mit der Zeit entwickelt haben. Die gemeinsame Sozialität von Menschen und Dingen, die in der „Kooperation oder Konversation von Haltungen“ besteht,155 geht also über die aktuelle Gesellschaft hinaus und erstreckt sich in Vergangenheit und Zukunft hinein. Auch in einfachere Geräte, in eine Türe etwa, ist Verhaltenserwartung und Einnahme der Haltung des Benutzers eingebaut (mit Türrahmen, Angeln, Türklinke, um eine klassische Türe als Beispiel zu nehmen, und keine mit Lichtschranke oder gar Kameraüberwachung). Die Klinke erwartet geradezu eine Hand, und in der Türhöhe und -breite, dem Schwingen um die Angeln ist der ganze Körper des Eintretenden, die Tür Öffnenden antizipiert. Das beschreibt mit anderen Begriffen noch einmal die Akteurhaftigkeit der Dinge (s.o. 2.2). Die Eigenaktivität von Computern, Robotern und anderen artifiziellen Agenten bringt weitere Verhaltenserwartungen für die mit ihnen Interagierenden mit sich. Haltung ist allerdings noch etwas anderes als Handlung. Dementsprechend ist die Haltung des Dings nicht nur von Menschen eingebaut, eingeschrieben; auch dessen Material leistet seinen Beitrag; man denke an den Unterschied von Glasund Holztüren (Norman 1989, S. 19 f.).

Sanktionen bei unsachgemäßem Gebrauch In der deutschen Techniksoziologie folgenreich ist die Position von Hans Linde.156 Er sieht ganz allgemein Dinge, bzw. „Sachen“ in seiner Terminologie, als „artikulierende Grundelemente der Vergesellschaftung“ (Linde 1972, S. 8). Vergesellschaftung erfolgt für ihn über Normativität, die sich im Reich der Dinge als Sachlogik geltend macht, mittels der „jedem Gerät notwendig eingeschriebenen spezifischen Anforderungen seiner Verwendung“ (Linde 1982, S. 20).157

154 So wurde die Interaktion des Postkunden mit der Postangestellten von Ergonomen antizipiert und „in die Einrichtung des Postbüros eingeschrieben“ (Latour 2001b, S. 248). 155 Mead, Philosophy of the Act, zitiert nach Joas 1980, S. 153. 156 Schulz-Schaeffer 2000, S. 56 f., Schulz-Schaeffer 2008b, S. 112, Joerges 1979. 157 Linde baut auf dem Begriff des technischen Geräts als einer Objektivation im Sinne des objektiven Geistes nach Freyer 1966 auf.

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Funktioniert das Gerät, wird es angemessen verwendet. Falscher Umgang mit ihm führt dagegen zu Nichtfunktionieren, dem Äquivalent einer negativen Sanktion, welche hier bedeutet: „Verminderung der Effizienz der Sache, Nichterreichung des Handlungszieles, Beschädigung oder gar Zerstörung der Sache, Gefährdung des Handelnden und/oder anderer“. Unser Ungeschick oder unsere Inkompetenz werden also mit einer negativen Sanktion bestraft – wenn wir zum Beispiel ein scharfes Messer an der Schneide anfassen. Dementsprechend besteht (für Linde) generell eine „funktionale Äquivalenz von technischen Artefakten und sozialen Normen“. Technische Objekte oder „Sachen“ sind für ihn „zweckhaft vergegenständlichte Teilglieder von […] gesellschaftlich legitimierten, das heißt normierten Handlungsentwürfen“.158 Er hebt derlei Sachen von den „Dingen“ der natürlichen Umwelt ab, die menschliches Handeln und Verhalten zwar „provozieren und auslösen können“, aber keine zweckhaft vergegenständlichten Handlungsteilglieder sind. Diese grundsätzliche Trennung zwischen gesellschaftlichen Sachen und naturalen Dingen erscheint mir künstlich. In der pauschalen soziologischen Dequalifizierung natürlicher Dinge klingt ein Dualismus an, für den sich normatives und zweckrationales Handeln bzw. dessen vergegenständlichte Teilglieder vom Hintergrund der Natur, hier den Dingen und Gegenständen der natürlichen Umwelt, kategorisch abheben müssen (ökologische Probleme und Umweltschäden ließen sich mit einer solchen Begrifflichkeit dann nicht mehr thematisieren, obwohl gerade hier normative Überlegungen denkbar wären, etwa in Richtung eines unsachgemäßen Umgangs mit natürlichen Ressourcen). Wir fallen hier gewissermaßen wieder auf das Handeln als vergesellschaftendes Moment zurück: Nur als zweckhafte vergegenständlichte Handlungsteilglieder vergesellschaften Dinge. Und aus diesem Grund sind sie auch normativ. Dabei wollte Linde eigentlich den Handlungsbegriff aus dem Zentrum der Soziologie herausdrängen, zugunsten der „Sachverhältnisse“ als Grundelement „menschlicher Vergesellschaftung“ (Linde 1972, S. 81).159

158 Linde 1982, S. 23, S. 28, S. 6. 159 Die von einer „interpersonalen Soziologie“ ignoriert und psychologisiert würden. Als positive Gegenentwürfe führt er Durkheim, Marx und Weber (den der „Kategorienschrift“) an. Diese Argumentationsfigur findet sich in Linde 1972. In Linde 1982 dagegen orientiert sich der Autor mehr an der Normativität des Handelns. (Ich komme darauf zurück, s.u. „Objektinstitution“.)

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Übersetzung in anderes Material und andere Entitäten Zur normativen Mittlerrolle technischer Objekte hat auch Bruno Latour einige Überlegungen anhand des doppelbärtigen „Berliner Schlüssels“ angestellt, dem Prototyp eines Quasi-Objekts im Reich der Gebrauchsgegenstände. Bei diesem doppelbärtigen Schlüssel sind soziale Verhaltenserwartungen und Normativität ganz deutlich in das Ding eingebaut, eingeschrieben, denn er „autorisiert“ mich, nach Hause zu kommen, „verpflichtet“ mich, nachts hinter mir abzuschließen, und „verbietet“ mir, das tagsüber zu tun. „Habe ich es dann nicht mit sozialen Beziehungen, mit Moral, mit Gesetzen zu tun? Gewiß, aber mit stählernen.“ (Latour 1996b, S. 49) Man kann in dieser „stählernen“ Variante sozialer Beziehungen und moralischer Gebote „die Fortsetzung sozialer Beziehungen mit anderen Mitteln“ sehen.160 Ein ähnliches normatives Reglement wie durch den Berliner Schlüssel läßt sich allerdings ebenso durch einen elektronisch kontrollierten Türöffner mit einem Zahlencode oder durch einen Concierge aus Fleisch und Blut verwirklichen. In solchen Substitutionen funktionale Äquivalente zu sehen, ist nur die halbe Geschichte, denn Äquivalenz der Funktion bedeutet hier Differenz des Materials, einen anderen Handlungsträger, eine andere Handlungsvermittlung. Das Eigentümliche der jeweiligen Vermittlung, die unterschiedliche Form der Verkörperung, Realisierung oder Implementierung ginge verloren, wenn wir uns mit dem Verweis auf die funktionale Äquivalenz begnügten. Auf die unterschiedliche Verkörperung wird durch den Begriff der „Übersetzung“ aufmerksam gemacht. Jede Realisierung – durch ein Ding, durch einen Concierge, durch einen Zahlencode – mobilisiert andere Mittler, Dinge, Menschen, Zeichen, eine andere Einnahme der Haltung des Anderen, eine andere Form von Normativität, Sanktionen und letztlich auch: Subjektivität. Die unterschiedlichen Delegationen von Handlungsmacht ließen sich etwa bezeichnen als Verdinglichung (beim Berliner Schlüssel),161 als Personalisierung (beim Concierge) und schließlich als … vielleicht Verinnerlichung, Internalisierung, Mentalisierung (beim Zahlencode). So kann manches in das individuelle menschliche Gedächtnis inkorporiert werden, was vordem extern realisiert war. Der „solide“ Stahlschlüssel wird er-

160 Latour hat manchmal eine fast schon soziologistische Sicht auf die Dinge, wenn es um die Gebrauchsgegenstände im Berliner Schlüssel (Latour 1996b) geht; zumindest, wenn man an das Hineinschreiben von Handlungen, Präskriptionen, Vor-Schriften in Dinge denkt (vgl. Verbeek 2000, S. 298). Erst wenn man sich anschaut, was Dinge tun (wie oben unter 2.2 geschehen), wird die originelle Sicht Latours deutlich. 161 Indem man dem Ausdruck „Verdinglichung“ deskriptiv verwendet, sofern man ihn sich ohne seine kritische, denunziatorische Dimension vorstellen kann. S.u. Kap. 2.4.

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setzt durch den „in meinen Gehirnzellen gespeicherten mnemotechnischen Merkspruch“ für das elektronische Türschloß (Latour 1996b, S. 50). Bei technologischen Neuerungen finden Bewegungen in beiden Richtungen statt: Verinnerlichungen und Veräußerlichungen, Internalisierungen und Externalisierungen, Inkorporierungen und Exkorporierungen. Die Kompetenz des (menschlichen) Akteurs als jemand, der berechtigt ist, die Türe zu öffnen, kann im Schlüssel exkorporiert oder im Kopf inkorporiert sein (vgl. Akrich/Latour 1992, S. 262). Nur weil man dem Subjekt oder dem subjektiven Geist einen ontologisch differenten und sehr hohen Status zuschreibt, sieht man nicht, daß die Verinnerlichung, wenn sie in Gewohnheiten übergeht, auch entlastende Automatismen zur Folge haben kann. Die Frage der Personalisierung und Re-Personalisierung scheint mir im Zusammenhang mit der Automatisierung zum Beispiel öffentlicher Verkehrsmittel interessant zu sein: Die Fahrkartenschalter werden durch nicht-menschliche Automaten ersetzt, an irgendeinem Punkt erfolgt dann wieder eine Re-Personalisierung, meist in Form von Sicherheits- und Kontrollpersonal.162 Jede Realisierung, jede Übersetzung – durch ein metallenes Ding, durch ein Plastikding, durch eine Software, durch einen Zahlencode, durch einen Menschen mobilisiert, evoziert einen anderen Stil des Umgangs und der Normativität. Dementsprechend lassen sich unsere drei Autoren – Linde, Mead und Latour – unter die drei Losungen bringen: Normativität durch Einnahme der Haltung des Anderen, durch Sachlogik, durch Übersetzung in ein anderes Material bzw. eine andere Entität.

Explizit normative Dinge Zunehmend werden soziale Kontroll- und Steuerungsfunktionen von Geräten übernommen, wird Handlungskontrolle von Kontrollpersonen oder institutionellen Arrangements auf Dinge, Geräte verteilt. Vielleicht läßt sich hier von einer expliziten Normativität mancher Dinge sprechen: Sozial verläßlich machen uns allmählich weniger die internalisierten Normen oder eingefleischten Gewohnheiten als die vielen Schranken und Zugangskontrollen, die wir autorisiert durch Chipkarten, RFID-Tags, Identifikationsnummern, Paßwörter und andere Codes

162 Allerdings in einem anderen Sinne, als Bienfait 2006 von „Repersonalisierung“ spricht.

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durchschreiten dürfen – oder auch nicht. Der Gedanke liegt nahe, von einer „Kontrollgesellschaft“ zu sprechen.163 Die unzähligen Kameraaugen, Lichtschranken und Ausweis-Lesegeräte illustrieren den normativen Einsatz von Dingen. Im Unterschied zu der von Linde generell behaupteten Normativität von Gebrauchsgegenständen sind es hier allerdings ganz bestimmte, nämlich Kontroll-Geräte, die normativ wirksam, um nicht zu sagen normativ tätig sind. (Und dementsprechend würde hier das Nichtfunktionieren der Geräte keine negative Sanktion darstellen, sondern umgekehrt eine Sanktion aufheben.) Eine weitere Variante explizit normierender Dinge entspricht dem Slogan: „Technische Normen sind soziale Normen“.164 Gewiß sind explizite technische Normen wie etwa DIN-Normen soziale Festlegungen und lassen sich damit ebenfalls als soziale Normen betrachten. Etwas voraussetzungsreicher ist die Behauptung, technische Strukturen seien als externalisierte, auf Dauer gestellte soziale Strukturen zu verstehen.165 Die Verweisungszusammenhänge technischer Normen sind komplex, manche sind innertechnisch, manche trivial, andere sind normativ für das Verhalten der Nutzer bzw. regulieren den Zugang von Nutzern, wie etwa die fehlende/vorhandene Barrierefreiheit bei Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln. Viele sind subliminal – Wahrnehmungsschwellen unterlaufend –, aber dennoch fordernd (im Sinne der affordance von Gibson).166

Materielle Kultur, normativ Dinge entfalten Normativität auch durch ihr allseitiges In-Gebrauch-sein, wobei sie das, was als Norm gilt, verändern. Beispiele hierfür wären Handys, Computer, Autos und Feuerwaffen. Das Dasein der Dinge und die Ausweitung der Netze wirken normierend: Autogesellschaft, Mediengesellschaft, Computergesellschaft.167

163 Für Deleuze (1993, S. 254 ff.) verwandeln sich die Disziplinargesellschaften (im Sinne Foucaults) in Kontrollgesellschaften. Die Analogie mit dem innen- und außengeleiteten Menschen bei Riesman in diesem Zusammenhang weiterzuverfolgen wäre vermutlich eine lohnende Aufgabe. 164 Joerges 1996, S. 119 ff. 165 Technik als „Körper der Gesellschaft“ (Joerges 1996). 166 Kittler dramatisiert: „Die ungeschriebene Geschichte technischer Normen ist […] eine Kriegsgeschichte“ (Kittler 1998, S. 256). Zu den „affordances“ oder „Angeboten“ der Dinge in der Umwelt siehe Gibson 1982. 167 „Mediengesellschaft“: Jarren 2001; „Computergesellschaft“: Baecker 2007; Autogesellschaft: Der Spiegel 2/1983, S. 34 („Ausstieg aus der Autogesellschaft“).

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Dinge, die in Gebrauch sind, wirken normativ, indem sie Standards setzen. Man könnte einwenden, nicht sie setzten die Standards, sondern die sie nutzenden Menschen setzten diese durch ihre Nutzung. Aber dennoch ist es mehr als das Beispiel der anderen Menschen, wodurch sie für uns zur Norm werden. Sie setzen uns zu vielfachen Tätigkeiten instand. Sie stabilisieren und subjektivieren uns (wir nehmen bestimmte Subjektpositionen ein, machen bestimmte Erfahrungen, die uns ohne sie entgangen wären). Um überhaupt auf einer bestimmten Ebene sozial handeln zu können, muß ich mich auf Autos (bzw. Telefone, Computer, elektronischen oder anderen Briefverkehr) einlassen, zumindest muß ich, wenn ich sie denn nicht benutze, auf sie achten, etwa als Fußgänger auf die Fahrzeuge, und Straßen vorsichtig überqueren. Jedenfalls verschiebt sich dadurch die normative Frage. Wenn Objekte als Institutionen der Stabilisierung des Sozialen dienen,168 dann lautet die normative Frage nun: Wollen wir uns von diesem oder jenem Objekt stabilisieren, unsere Erfahrungen von diesem oder jenem strukturieren lassen? Uhren und geografische Karten169 sind weitere Beispiele für die Polyvalenz vernetzender Dinge, auf die einige der Bestimmungen der Quasi-Objekte, die wir in Kap. 1.2 kennengelernt haben, ganz gut zu passen scheinen: Sie sind Gebrauchsgegenstände, doch auch normativ bzw. normierend, Wissensrepräsentationen, doch auch Instrumente, und schließlich noch Zipfel von Netzen, wobei gerade ihr ambivalenter Charakter – halb Bruchstück von Wesen, halb Zipfel von Relationen – zur Bindung beiträgt. Solche Gegenstände sind Quasi-Objekte im Sinne der Zirkulation dieser Dinge und des Webens der Gesellschaft durch dieses ihr Zirkulieren. Sie wirken gerade als Dinge oder sachlich und unterlaufen damit einen Dualismus normativer und kognitiver Verhaltenserwartungen. Man könnte auch von dimensionierenden Dingen sprechen, von maßstabserzeugenden, maßnehmenden und -gebenden, Örtlichkeiten schaffenden, Zeitlichkeit definierenden und verbreitenden Dingen („eine Autostunde entfernt“). Weitere Beispiele: Telefone, Bahnen, Schienen- und Wegenetze, Kalender, nicht zu sprechen von Computern mit ihren Netzen, Routern, Handyantennen und Satelliten (oder von Gentests, Medikamenten und Drogen). Und, eine Generation früher: Grammophon, Film, Typewriter. Und, weitere früher: Bücher, Buchhaltung.170 Von Kleidern und Behausungen ganz zu schweigen. In den Kulturwissenschaften und in der Anthropologie hat sich der Begriff der „materiellen Kul-

168 Wie in der eben erwähnten technischen Standardisierung sozialer Struktur oder allgemeiner entsprechend dem Slogan „Technik ist Gesellschaft auf Dauer gestellt“. 169 Galison 2003; Bartky 2005. 170 Sie alle lassen sich auch als Agenturen und Vermittlungsinstanzen im Sinne der agency 4 verstehen.

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tur“ durchgesetzt, um die dinglichen Agenturen, Infrastrukturen und Hüllen zu bezeichnen, in, mit und durch die wir Menschen in Gesellschaft leben.171 Er gibt ganz gut, wenn auch etwas pauschal, die Normativität wieder, die durch Dinge und Stoffe vorgegeben oder aktualisiert wird.

Wer normiert in letzter Instanz? Von einem normierenden oder gar normativen Dasein der (oder mancher) Dinge zu sprechen, löst in der sozialtheoretischen Debatte rasch Empörung aus: Es seien die Menschen, die normieren und Normen setzen, nicht die Dinge. Das bringt uns auf die dualistische Sozialontologie zurück, diesmal in Form von normativen versus naturalen Zwängen. Besonders profiliert sind hier zwei Positionen, die sich bezeichnen ließen als Vergegenständlichungs- und Inkraftsetzungsperspektive:172 Die Dinge haben ihr (normatives) Wesen von den sie herstellenden Menschen (Vergegenständlichung) oder den sie benutzenden, mit Sinn oder Normen beleihenden, in Szene setzenden Menschen (Inkraftsetzung). Die Existenz oder Eigendynamik der Dinge wird so reduziert; sei es zum Produzenten hin: nur weil irgendwann Menschen menschliche Normen in Dingen vergegenständlicht haben, haben diese Dinge soziale Relevanz; sei es zum Nutzer hin: nur was wir den Dingen im Gebrauch an (normativem) Leben einhauchen, haben sie auch an (sozialem) Dasein. Zwar lassen sich manche soziologische Autoren eher der Vergegenständlichung, andere eher der Inkraftsetzung zuordnen, dennoch bilden die beiden Per-

171 Siehe etwa als kulturwissenschaftliche Überlegungen zu einer „Dingtheorie“: Miller 2010, S. 42 ff. Siehe auch die kultursoziologischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen zu Exklusion und Dingbeziehungen in Bosch 2010. 172 Ingo Schulz-Schaeffer hat diese beiden Perspektiven als zwei gegensätzliche Herangehensweisen an „Sachtechnik“ dargestellt. Die eine bezeichnet er als „Vergegenständlichungs“- die andere als „Enactment“-Perspektive (Schulz-Schaeffer 2000, S. 54 ff.) Ich ersetze im folgenden enactment durch „Inkraftsetzung“ und löse mich damit von seiner Terminologie, um die subjektivistische Verzerrung hervorzuheben, die darin liegt, daß Dinge nur durch soziale Inkraftsetzung etwas gelten. „To enact“ heißt nämlich zum einen: Gesetzeskraft geben, verfügen, erlassen (ein Gesetz zum Beispiel). Aber es heißt außerdem aufführen, inszenieren, in Szene setzen. Daher wäre (in anderen Zusammenhängen) In-Szene-Setzung oder Inszenierung eine weitere mögliche Übersetzung von enactment.

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spektiven keinen prinzipiellen Gegensatz.173 Nicht nur sind sie komplementär, sondern sie werden auch immer wieder herangezogen, um sich gegenseitig zu stützen und Dinge anthropozentrisch zu verkürzen: auf nichts als das Werk von Menschen oder als Gegenstand für Menschen (wenn die eine Argumentation ins Leere läuft, wechselt man zur anderen über). In der Perspektive der Vergegenständlichung bedeutet Anthropozentrik, daß alles, was in einem Ding an Interessantem, Komplexem, Sozialem steckt, von Menschen hineingesteckt worden ist. Allerdings läßt sich das hineingesteckte Menschliche nicht mehr so ohne weiteres rekonstruieren. Im Ding ist vieles aufgehoben, das in seine Einzelhandlungen (wenn wir einmal unterstellen, daß es Handlungen sind, die „hineingesteckt“ wurden) nicht mehr zerlegbar ist. Außerdem enthält ein Ding Sedimentierungen, die sich etwa dem Material verdanken und die oft kumulativ über Ding- und Menschen-Generationen weiterentwickelt wurden. Sieht man Dinge als Vergegenständlichung menschlichen Handelns, so wird über diese Details großzügig hinweggegangen, der nicht-menschliche Rest wird als dinglicher Träger naturalisiert: Alles, was nicht vom Menschen im Ding stammt, ist Naturgesetzlichkeit, naturale Kausalität oder Materialität. Diese dient dann in der komplementären Perspektive wieder als plastisches Material der Inkraftsetzung oder als neutraler Hintergrund, an den sich die menschliche Intentionalität heften, auf den sie ihre symbolischen Deutungen projizieren kann. Für die Inkraftsetzung als Modell der Vergesellschaftung von Dingen lautet die letzte Verteidigungslinie: Wenn kein Mensch, keine Gesellschaft je es gebraucht, anschaut, denkt, ist ein Ding kein Ding. Sofern man darunter versteht, daß es diese Entität nicht gibt, so hat man eine sozialkonstruktivistische Sichtweise, vermutlich auch sensualistische Erkenntnistheorie. Sofern man meint, gäbe es diese Entität nicht als in irgendeiner Weise sprachlich, gesellschaftlich identifizierbares, beschreibbares, zeigbares „Ding“, sagen wir eine „Luftpumpe“ – so ist dies zwar richtig, aber daß der Zugang zu etwas vermittelt ist, heißt

173 Linde oder Marx etwa der Vergegenständlichung, Luhmann und der symbolische Interaktionismus etwa der Inkraftsetzung. Bloor, Collins und Yearley gehören ebenfalls zur Linie der Inkraftsetzung. Was ich hier als Vergegenständlichungs- und Inkraftsetzungsperspektive bezeichne, behandelt Hörning (2001, S. 206 ff.) als Alternative zwischen einem sozialkonstruktivistischen Technikansatz (Dinge als Härtung sozialer Normen) und einem medialen (Dinge als plastische Medien im sozialen Handeln).

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nicht, daß es dieses Etwas nicht gibt oder daß es gänzlich in seinen Vermittlungen aufgeht.174 In der Vergegenständlichungs- wie in der Inkraftsetzungsperspektive werden die Dinge letztlich wieder aufgelöst, sei es in Produkte menschlicher Praxis, sei es in Gelegenheiten für menschliche Gebrauchsweisen, Praktiken, Interpretationen. Das Subjekt, nicht das Objekt, steht wieder im Zentrum.

Objektinstitutionen Den Begriff der Objektinstitution habe ich bereits in Kap. 1.2 eingeführt anläßlich der Beschreibung eines automatischen Nahverkehrssystems, das näher bestimmt wurde als Quasi-Objekt, als instituiertes Objekt und Objektinstitution. Charakterisiert wird damit die Instituierung eines Objekts, das zunächst noch nicht existiert, das noch Pro-jekt ist, als realisiertes Projekt aber Quasi-Objekt, in Existenz gebracht und allmählich zur Institution wird.175 Hat es sich durchgesetzt, kann man es als Objektinstitution bezeichnen. Für mich fängt der Begriff der Objektinstitution ganz gut das ein, was man als normative Wirksamkeit von Dingen bzw. technischen Objekten bezeichnen könnte. Objektinstitutionen sind sowohl relativ schlichte Dinge als auch komplexere Geräte, Automaten, Maschinen. Ich komme damit wieder auf die technischen Gegenstände zurück, wobei im Begriff der Objektinstitution das Normative im Sinne des Sich-durchsetzens, Zur-Norm-Werdens bzw. Zur-Norm-Gewordenseins deutlich herausgestellt wird.176 Ein technisches Objekt als Institution betrachten heißt zunächst, daß es, indem es existiert und da steht (Exteriorität), gewisse Verhaltenserwartungen jedem gegenüber birgt, der sich ihm nähert. Als simples Beispiel: Man muß um es herumgehen, wenn es eine gewisse Größe und Schwere hat. Weitere Verhaltenserwartungen kommen bei der Nutzung ins Spiel. Interessanterweise sieht auch Max Weber in einem elektrischen Trambahnwagen, einem hydraulischen Lift

174 Auch „den Menschen“ gibt es in diesem Sinne nur vermittelt; er wird hier aber als unvermittelte Begründung angeführt. Vgl. Breslau 2000, S. 300. Zur Dingwahrnehmung siehe Westphal (1998, S. 54 ff., 80 ff.), der einen Realismus Hegels im Hinblick auf das „wahrnehmende Bewußtsein“ feststellt: Dieses braucht zwar einen Ding-Begriff, um Dinge wahrzunehmen, das heißt aber nicht, daß es diese nur als Begriff gibt. 175 Technische Objekte sind im Grunde Projekte: Latour 2010a, S 602. In einer etwas anderen Bedeutung sieht auch Rammert (1983, S. 37) Technik als Projekt. 176 Was nicht heißt, daß Normen und Normatives darin aufgingen, verbreitet zu werden und sich durchzusetzen; aber es ist ein wesentlicher Aspekt von ihnen.

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oder einer Flinte soziale Institutionen wie andere auch. Dafür relevant sind nur „die praktisch wichtigen Erwartungen des Verhaltens dieser Artefakte“.177 Dinge bieten „Angebote“ für das Verhalten, sie dienen als „Außenstützen“ für das Handeln.178 Es stützen sich Gewohnheiten, Habitualisierungen, Institutionalisierungen nicht nur auf verinnerlichte Normen und drohende Sanktionen. Das Gerät stützt die Gewohnheit, aber die Gewohnheit stützt auch das Gerät. Würde niemand es benutzen, so würde es nach und nach zwar nicht zu existieren aufhören, aber als Gerät unbrauchbar werden: verstauben, verrosten, korrodieren, explodieren. Weil es benutzt wird, wird es auch mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit umgeben. Der Begriff der Objektinstitution weist hin auf die doppelte Deplaziertheit, die Mittlerposition des Objekts. Es bildet so etwas wie einen „Verkehrsknoten“, in dem sich menschliche und dingliche Eigenschaften, Angebote, Haltungen kreuzen und austauschen können: „einen Verkehrsknoten zwischen dem, was die Menschen in es einschreiben, und dem, was es den Menschen vorschreibt. Es übersetzt das eine in das andere. Dieses Ding ist die nicht-menschliche Version der Menschen, ist die menschliche Version der Dinge, doppelt deplaziert“.179

Eine Objektinstitution läßt sich analog denken zu einer auch in dinglichen Bestandteilen realisierten Institution, was oft heißt: in einem Gebäude untergebracht, wie eine Bankfiliale, Arbeitsvermittlung oder Bibliothek, deren Nutzer oder Kunde man ist (und weniger wie eine Gruppe, zu der man gehört). Vielleicht könnte man Objektinstitutionen auch Ex-stitutionen180 nennen: keine gesellschaftlichen Ein-richtungen, sondern Vor-richtungen, Aus-lagerungen, Außenhalte.

177 Und zwar in der sogenannten „Kategorienschrift“ (Weber 1973, S. 148), worauf Linde (1972, S. 49 f.) hinweist. Dieser Blick auf die Dinge unterscheidet sich erheblich von den einschlägigen Passagen aus den „Soziologischen Grundbegriffen“, wonach ein Artefakt wie etwa eine Maschine „lediglich aus dem Sinn deutbar und verständlich [ist], den menschliches Handeln […] der Herstellung und Verwendung dieses Artefakts verlieh“ (Weber 1985, S. 3). 178 „Affordances“, „Angebote“: Gibson 1982; „Außenstütze“: Gehlen 2004, S. 24. 179 Latour 1992, S. 174; Hervorhebung von mir. 180 In Anlehnung an Michel Serres, der damit eher die (virtuellen, Quasi-) Institutionen im Netz meint (Serres 1994, S. 195), die ich aber in meine Umdefinition durchaus einschließe.

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Zwar existiert eine Norm vermutlich nicht, die niemand befolgt und auf die niemand sich bezieht;181 ein Getränkekiosk existiert jedoch auch dann, wenn niemand dort einkauft. Er wird in diesem Falle zwar nach einer Weile vermutlich eingehen und somit zu existieren aufhören. Ähnlich der Getränkeautomat, in dem man die automatisierte Version eines Getränkekiosks sehen kann. Aber es wäre absurd zu sagen, daß ein Automat, der nicht benutzt wird, damit aufhört zu existieren (Perspektive der Inkraftsetzung). Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Objektinstitutionen und klassischen Institutionen (eine Gruppe, zu der sich niemand mehr als zugehörig betrachtet, hat damit aufgehört zu existieren). An diesem Beispiel ist die Relevanz der Dinge, ihre Eigenmächtigkeit und Beharrlichkeit gut zu sehen; ähnlich bei einem Atomkraftwerk. Oder einem Kunstwerk. Der Gedanke der Objektinstitution läßt sich dahingehend erweitern, daß zu nahezu jeder Institution objektinstitutionelle Anteile, sprich physisch-haptische Dinge gehören. Hier gewinnen wir ein Kontinuum und eine Gradualisierung. Am Begriff der Objektinstitution könnte man soziologisch problematisieren, es sei nicht der Getränkeautomat eine Institution, sondern er gehöre zur Institution Getränkegroßvertrieb, so wie ein Bankautomat zur Bank. Scheinbar kommuniziere ich mit dem Bankautomaten, in Wirklichkeit vollziehe ich aber eine Transaktion mit der Bank, die in diesem Falle nur nicht durch einen Kassierer an seinem Schalter vermittelt wird. Es ist natürlich immer die Frage, wo man den Schnitt macht: Ist die Bankfiliale eine soziale Institution oder ist es die Bank oder ist es das Bankensystem eines Landes, eines Kontinents, der Welt, ist es „der Kapitalismus“ …? Oder wer den Schnitt macht, die Bank, der Nutzer (Kunde), der Kapitalismuskritiker, die Forschenden? Für letztere geht es hauptsächlich darum, was eine interessante Fragestellung ist. Wenn die Bankkassierer durch Bankautomaten ersetzt werden, dann wurde bloß ein funktionales Äquivalent durch ein anderes ersetzt, sagen manche. Aber

181 Dies zur Abgrenzung; denn Schulz-Schaeffer (2000, S. 60) kritisiert den Versuch, „Sachtechnik bereits für sich genommen institutionellen Rang zuzusprechen“. Er sieht ihn „vergleichbar mit der Behauptung, eine Rechtsnorm stelle unabhängig von ihrer Geltung und Durchsetzbarkeit eine gesellschaftliche Institution dar“. Außer den angeführten Passagen in Schulz-Schaeffer 2000 verdanken diese Überlegungen einiges der Lektüre von Schulz-Schaeffer 2006, 2008b sowie persönlicher Korrespondenz mit dem Autor.

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der andere Mittler verändert die Bank (weniger Mitarbeiter, mehr technische Mitarbeiter etc.) und die Transaktion des Kunden mit ihr.182 Nur dann, wenn man die physisch-haptischen Dinge aus erkenntnistheoretischen Gründen ignorieren zu können glaubt oder für weniger wirklich hält als wissenschaftlich sanktionierte Entitäten (wie Atome, Institutionen, Neuronen oder Brutto-Inlandsprodukte), entsteht hier ein großes (Schein-)Problem. Was letztlich den „Zuschnitt“ der Entität verbürgt, wird ausgehandelt zwischen dieser selbst, den aktuellen Konfliktkonstellationen um sie, der Abstraktionsebene der Untersuchung – ganz gleich ob empirisch oder theoretisch –, der Fruchtbarkeit des Rahmens für die jeweilige Fragestellung, sowie schließlich dem Interesse, das die Forschenden für ihren Gegenstand zu entwickeln und zu vermitteln vermögen.183

Die Objektinstitution im Unterschied zur „instrumentellen Institution“ (Linde) Damit nähern wir uns zusehends einer Assoziation von Menschen und Dingen, die sich auch als Akteurnetzwerk verstehen läßt. Und entfernen uns von der „instrumentellen Institution“ Lindes. Zwar besteht zwischen dieser und der Objektinstitution schon durch die Wortwahl eine gewisse Nähe.184 Linde versteht „die Sache Gerät als total vergegenständlichte, instrumentelle Institution, als den Typ des perfekt institutionalisierten Handlungsmusters“ (Linde 1982, S. 23). Während Latour dem letzten Halbsatz noch halbwegs zustimmen würde (den Dingen eingeschriebene Handlungsprogramme), stecken im ersten die Differenzen. Zunächst einmal in der Wortwahl „instrumentelle“ Institution. Damit bindet Linde das Gerät sehr eng an menschliches Handeln. Verwiesen wird auf die dem Instrument eigene dienende, passive Rolle in einem anthropozentrischen Hand-

182 Daß sich die Anzahl und Gruppierung der menschlichen Akteure durch das Hinzutreten eines nicht-menschlichen ändert, habe ich oben, in der Einleitung zu diesem Kapitel (2.1), am Beispiel eines Operationsroboters deutlich gemacht. 183 Zu den Konfliktkonstellationen im Sinne von Situationen, in denen Handeln durch Bezug auf Legitimationsordnungen verteidigt oder kritisiert, das heißt geprüft wird, siehe Boltanski/Thévenot 2007. Latour behandelt die Frage des Zuschnitts der relevanten Entitäten zum einen unter dem Label „Black Box“ oder Stabilisierung von Entitäten, zum anderen im Rahmen der agonistischen Auseinandersetzung zwischen Akteuren und Entitäten um Vorherrschaft oder Wirkungsmacht, was ebenfalls mit dem Begriff der „Prüfung“ oder des „Versuchs“ gekennzeichnet wird (épreuve, trial). Vgl. Latour 1996c, Guggenheim/Potthast 2011, Potthast 2015. 184 Schulz-Schaeffer (2000, S. 296) sieht die Nähe zwischen Linde und Latour im Argument der Härtung des Sozialen durch Technik.

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lungszusammenhang. Das Instrument gibt gewissermaßen die Intentionen des Menschen unverändert nach außen weiter.185 Auch in der „vergegenständlichten Institution“ ist Anthropozentrik spürbar, diesmal eine von der Perspektive der Vergegenständlichung herrührende. Weiterhin stützt sich Linde auf Freyer mitsamt dessen dualistischem Soziologieverständnis hinsichtlich der Dinge. Auch betont er den Sanktionscharakter unsachgemäßer Benutzung übermäßig stark. Latour würde Lindes Aussage, daß auf die unsachgemäße Verwendung eines Geräts eine negative Sanktion folge, so nicht unterschreiben.186 Es ereignen sich ja kreative Zweckentfremdungen und Umwidmungen. Die gelingende Nutzung eines Dings geht nicht in seinen sozialen, normativen Seiten im landläufigen Sinne auf: Messer sind zum Schneiden, Stühle zum Sitzen da etc. Linde argumentiert mehr in Richtung Sachzwänge (s.u. 2.4), insbesondere wenn er die „aus der Festlegung auf eine Sache fließenden Zwänge“ betont, weswegen ihm die „Zweck/Mittel-Kombination“, auch als „Zweck/Mittel/SanktionKombination“ gilt (Linde 1982, S. 23). Diese funktionale Äquivalenz (manchmal sogar Identität) von technischem Gerät und sozialer Norm droht die Gegenständlichkeit, Eigenständigkeit der Dinge vergessen zu lassen. Die Delegation menschlicher Handlungen oder deren Teilglieder an ein Ding oder Gerät ist etwas anderes als menschliches Handeln, aber dennoch soziales Handeln. Übersetzungen und Mittler verschwinden bei Linde. Wir finden hier eine technizistische neue Sachlichkeit, die nahtlos in ein naturalistisches Weltbild übergeht.187 Wer sein Augenmerk nur darauf richtet, daß zusehends normative Funktionen auf Geräte übergehen oder persönliche Machtbeziehungen durch funktionale Sachbeziehungen ersetzt werden, übersieht die Andersheit der spezifischen Mittler.

185 Einem Instrument kommt nur ein passiver Operationsmodus zu (Rammert 2012, S. 97); für Simondon besteht der Prototyp des technischen Objekts im technischen Individuum (wie einer Maschine), nicht im Werkzeug oder Instrument (s.o. Kap. 1.4). 186 Ein Indiz dafür ist Latours Orientierung am Gelingen von Handlungen, von Übersetzungsketten (an deren Gelingensbedingungen, „felicity conditions“, Latour 2010a, S. 601 f.), während für die an der Normativität orientierten Soziologen wie Linde und Popitz die Sanktionen so wichtig sind. 187 Linde konzipiert das Normative im Gebrauch der Dinge als naturalistische Tatsache, als quasi notwendig bestehenden Zusammenhang (=Sachzwang), nicht als historische Tendenz (wie bei Simmel und teilweise auch bei Schelsky). Er vermutet, daß „sich beides, soziale Normen und technische Artefakte, in anthropologischer Hinsicht als funktional äquivalent, nämlich als gattungsspezifische Regelungen des Zusammenund Überlebens erweisen ließen“, Linde 1982, S. 19. Zu Argumenten gegen eine naturalistische oder quasi-naturalistische Erklärung gelingender und gelungener Technologie siehe Latour 1996d.

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Auch ist die Verbreitung einer neuen Erfindung nicht trivial. Latours Konzept der „Übersetzung“ hebt sich hier ab von der Vorstellung der bloßen „Diffusion“ einer neuen Erfindung (Linde 1982, S. 7 f.). Computer und Internet sind hier schlagende Beispiele. Für die Objektinstitution ist das Projekt eines neuen Verkehrsmittels (Aramis) ein Prototyp, im Unterschied zu einem Gebrauchsgerät, mit dem Linde die instrumentelle Institution verdeutlicht.

2.4 Z WEI V ERSUCHE , D INGE SOZIAL ZU DISKREDITIEREN : S ACHZWANG UND V ERDINGLICHUNG Die verschiedenen Konnotationen von „Ding“ und „Sache“ sind gut sichtbar an den gegensätzlichen Bedeutungen der Worte „Verdinglichung“ und „Versachlichung“. Vielleicht tragen diese Nebenbedeutungen auch dazu bei, daß in der Soziologie eher von Sachen als von Dingen die Rede ist. Jedenfalls hat Versachlichung eine positive Konnotation, Verdinglichung meist eine negative. Versachlichung meint eine Modifikation der Rede, des Denkens, weg von Vorurteilen und subjektiven Einschätzungen, ganz im Geist der „Neuen Sachlichkeit“, wie die Kunstrichtung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hieß.188 Verdinglichung dagegen ist ein kritischer, denunziatorischer Begriff, auch er aus dem Geist jener Jahre geboren (Lukács 1971 [1923]). Zwei Denkfiguren haben sich in der Soziologie entlang dieser unterschiedlichen Konnotationen gebildet. Da ist zum einen die Rede von „Sachzwängen“ bzw. „Sachgesetzlichkeiten“ als Form vergegenständlichter Sozialität, etwa bei Schelsky (1965), andererseits von „Verdinglichung“ als Kritik solcher Vergegenständlichung (als Versuch einer Zusammenfassung und Aktualisierung Honneth 2005). Wir sind immer noch bei der These „Dinge sozial durch Normativität“, nun aber in der Negation, als Kritik an der falschen Normativität, wenn anprangernd von Verdinglichung die Rede ist, oder gleichfalls mit kritischen Untertönen, allerdings eher unterkühlt und resigniert, von Sachzwängen.

Sachzwang Daß Kunst, Sittlichkeit, staatliche Institutionen, Religion, Philosophie als traditionelle Formen der gesellschaftlichen Integration oder des objektiven Geistes in großem Maßstab an den Rand gedrängt oder herausgefordert werden durch die

188 Zum Zusammenhang von Neuer Sachlichkeit und Technikdiskurs vgl. Wege 2000, S. 42 ff.

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Wissenschaften und deren technische Abkömmlinge, ist einer der Ansatzpunkte von Schelskys Überlegungen zur „wissenschaftlichen Zivilisation“ (Schelsky 1965). Und daß die so vergegenständlichten menschlichen Ingenien auf die Menschen zurückwirken. „Wir produzieren die wissenschaftliche Zivilisation nicht nur als Technik, sondern notwendigerweise in viel umfassenderem Maße dauernd auch als ‚Gesellschaft‘ und als ‚Seele‘“ (Schelsky 1965, S. 449). Bestimmte Wissenschaftsund Technikformen bringen bestimmte Formen der Gesellschaftlichkeit, bestimmte Seelenformen hervor. „Wenn wir mit der Produktion immer neuer technischer Apparaturen und damit technischer Umwelten zugleich immer neue ‚Gesellschaft‘ und neue menschliche ‚Psyche‘ produzieren, wird damit auch zugleich immer die soziale, seelische und geistige Natur des Menschen umgeschaffen und neu konstruiert“ (ebd.). Schelsky spitzt sein Argument folgendermaßen zu: Das Verhältnis des Menschen zur von ihm technisch erzeugten Gegenständlichkeit läßt diese als sein künstliches Werk erscheinen. Der Mensch tritt sich selbst in technisch veräußerlichter Form gegenüber. „Diese technische Welt ist in ihrem Wesen Konstruktion, und zwar die des Menschen selbst. Man denkt in rückwärts gewandten Bildern, wenn man von ihr als ‚künstliche Natur‘ spricht, sie ist in viel exakterem Sinne der ‚künstliche Mensch‘, die Form, in der der menschliche Geist sich als Weltgegenständlichkeit verkörpert und schafft.“ (ebd., S. 446). Daß wir begrifflich zu wählen hätten zwischen „künstlicher Natur“ und „künstlichem Menschen“, leuchtet indes nicht so recht ein. Gerade heute bedeutet die Rede von „künstlicher Natur“ einen Differenzierungsgewinn – man denke an künstlichen Rasen, Genfood, Onkomaus und Ozonloch – gegenüber dem „künstlichen Menschen“189 , an den andere Technologien denken lassen, wie etwa Computer, Herzschrittmacher und Massenverkehrsmittel.190 Weiterhin konstatiert Schelsky in diesem Zusammenhang die drohende Delegitimierung der Demokratie durch Wissenschaft und Technik. An die Stelle politischer Normen und Gesetze, an die Stelle personaler Herrschaftsverhältnisse treten für ihn zunehmend die „Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“; diese seien nicht mehr „als politische Entscheidungen setz-

189 Anders Schulz-Schaeffer (2008a), der ebenfalls auf der Figur des „künstlichen Menschen“ insistiert; aber gerade deshalb, weil er auf der Dichotomie natürlich/sozial beharrt und die Technik auf der Seite der Gesellschaft im Gegensatz zur Natur verorten will. 190 Das soll kein Plädoyer für Schelskys Terminologie sein, sondern besagt nur, daß wenn wir schon vom künstlichen Menschen reden, wir auch von der künstlichen Natur sprechen sollten oder dürfen.

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bar“. Damit verlöre aber die Idee der Demokratie sozusagen ihre Substanz: „an die Stelle eines politischen Volkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit“ (Schelsky 1965, S. 453). Der Staat wird zu einem „technischen Staat“ (ebd.). In diesem Zusammenhang ist dann auch die Rede vom „Sachzwang“ (ebd., S. 455). Allerdings wird Schelsky vom Trugschluß einer optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit geleitet. Nicht nur glaubt er, diese ließe sich so ohne weiteres herstellen und über längere Zeit aufrechterhalten, sondern auch, daß es einen, und nur einen, besten Weg gebe: „Bei optimal entwickelten wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen müßten über die gleiche Sachlage auch verschiedene Fachleute oder Fachgremien zu der gleichen Lösung, dem ‚best one way‘, gelangen, und das hieße: Je besser die Technik und Wissenschaft, um so geringer der Spielraum politischer Entscheidung.“ (ebd., S. 458) Hier befinden wir uns noch mitten in den rosigen Zukunftsaussichten der (ersten) Moderne.191 Die Welt von „Watte, Nickel und Glas“ (ebd., S. 470), die hier beschworen wird, ist für uns inzwischen auch die Welt von Asbest, CO2, Plutonium 239 und von nicht intendierten Nebenfolgen. Wie viele Technikkritiker hängt Schelsky insgeheim einem szientistischen Aberglauben an wissenschaftliche und technologische Allmacht an, der schnell ins kulturkritische Ressentiment umkippt. Zum anderen klingt hier die klassische rationalistische Vorstellung von Politik an, wonach der objektiv richtige Weg sich aus rationaler Diskussion der Beteiligten ergibt. Die Welt wird en bloc als unter Sachgesetzlichkeit fallend betrachtet – und politische Entscheidung als nach dem Beispiel der Geometrie oder eben nach „Sachgesetzlichkeiten“ deduzierbare Sache und nicht als strittige res publica.192 Sachzwang und Sachgesetzlichkeit entfernen uns eher von den Dingen, da sie die Eigenständigkeit und Verselbständigung der Mittel mit der Vorstellung des einen besten Weges, mit (optimaler) Funktionalität vermengen. Auf diese Weise – one best way, szientistisches Technikverständnis, deduktiv-rationalistisches Politikverständnis – entsteht das Bild einer sich verselbständigenden und in Sachgesetzlichkeiten verflochtenen Objektwelt. Es ist die Einebnung der Dinge und Objekte zu einer glatten Schicht von Objektivität, Sachgesetzlichkeit, von

191 Auch Halfmann (1998, S. 105) sieht eine viel zu große „Perfektion der Technik“ unterstellt, wenn man – wie Schelsky – „Technologisierung“ und „technische Zivilisation“ versteht als „gesellschaftsweite Durchsetzung des Effizienz-Prinzips von Technik, der (angeblich) inhärenten Logik des ‚one best way‘“ (ebd., S. 116). 192 Vgl. Latour 2000, S. 265 ff.

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der sich dann letztlich doch dualistisch die menschlichen Setzungen und Satzungen abheben.193 Die Frage nach dem Verlust traditioneller politischer Legitimation und somit nach den Risiken, aber auch Potentialen einer „technischen Demokratie“ bleibt allerdings aktuell und akut.194 Schelskys Überlegungen wurden zwar in der Soziologie bisweilen heftig kritisiert,195 das Wort „Sachzwang“ dient aber immer noch als, meist negativer, Bezugspunkt.196

Verdinglichung Auf seinen abstraktesten Nenner gebracht, meint der Begriff der Verdinglichung: etwas als Ding ansehen oder behandeln, das in Wirklichkeit keines ist, meint also „die Verdinglichung des Undinglichen“ (Adorno 2000, S. 91). Damit wird schon deutlich, daß Verdinglichung ein kritischer Begriff ist, der ein falsches Bewußtsein entlarven, oder ein moralischer, der ein falsches Handeln denunzieren soll. Welches Undingliche fälschlicherweise als Ding betrachtet oder behandelt wird, variiert. Das kann ein Werden oder etwas Historisches sein, etwas Menschliches, Lebendiges, eine Aktivität, Tätigkeit, ein Verhältnis oder ein Prozeß. Verdinglichung ist die Warnung vor schädlichen Tendenzen, die aus einer wirklichen oder vermeintlichen Übermächtigkeit der Dinge oder des Dingschemas als Erkenntnis- oder Deutungsform erwachsen.197 Sobald man Dingen nicht mehr so ablehnend gegenübersteht, erscheint einem Verdinglichung als der Versuch, Dinge sozial zu diskreditieren. „Verdinglichung“ heißt, es ist schlecht, wenn Dinge Gesellschaftliches vermitteln.

193 Auch die Kritik von Habermas an der „Technokratie-These“ Schelskys und anderer (Habermas 1968, S. 81 ff.) mündet letztlich wieder in einen Dualismus zwischen Arbeit (mit der und gegen die Natur) und Interaktion (Intersubjektivität). Und ähnlich stark wie Schelsky an die Sachgesetzlichkeiten, glaubt Habermas an die Wirkmächtigkeit zweckrationalen Handelns, auch wenn er ihm einen anderen Handlungstypus, das kommunikative Handeln, zur Seite stellt. 194 Ich verweise hier nur auf die Aktualisierung des Ausdrucks „technische Demokratie“ durch Callon/Barthe/Lascoumes 2001 im Zusammenhang der Akteur-NetzwerkTheorie, allerdings, soweit ich sehe, ohne Bezug zu Schelsky oder den damaligen Debatten im Anschluß an seinen Aufsatz (vgl. Bardt 1961, Kogon 1961, Schelsky 1961). 195 Neben Habermas 1968 siehe Ropohl 1979, S. 303. 196 Vgl. zum Beispiel Haar 2004, Hacke 2011. 197 Letztere Variante findet sich bei Luhmann, der auch eine ganz eigene Deutung von „Verdinglichung“ hat: Luhmann 1987, S. 109.

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„Verdinglichung“ ist Lukács’ Begriff für den Fetischcharakter der Ware.198 Dieser besteht in den Worten von Marx darin, daß die Warenform „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“199 Für Lukács ist Verdinglichung eine auf alle Lebensäußerungen in der kapitalistischen Gesellschaft durchschlagende Erfahrungsstruktur oder „Gegenständlichkeitsform“.200 Bei ihm, wie schon bei Marx, lauten die wichtigen Gegensatzpaare Mensch/Ding, Menschenverhältnisse/Dingverhältnisse. Dementsprechend meint Verdinglichung: Die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Menschen kommen als solche zwischen Dingen zur Erscheinung; in den Verhältnissen der Dinge oder gar in den Dingen selbst steckten eigentlich Verhältnisse zwischen Menschen.201 Letztlich ist das Verhältnis zwischen verändernder Praxis und (dazu notwendigem) Erkennen – und korrelativ: zwischen Beharren und (notwendigem) falschem Bewußtsein – ein Punkt, auf den Lukács’ Argumentation immer wieder zusteuert. Die verändernde Praxis wartet im Hintergrund als positive Alternative

198 Auch wenn Lukács, der den Begriff mit seinem Buch Geschichte und Klassenbewußtsein in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingebracht hat (Lukács 1971, S. 170 ff.), sich auf den Fetischcharakter der Ware bei Marx bezieht, hat letzterer den Begriff der Verdinglichung nicht als zentralen Begriff entwickelt. Von der „Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist zwar im 3. Band des Kapitals die Rede, aber auch von der „Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse“ (Marx 1971, S. 838). Auch bei Simmel ist, wenngleich nicht terminologisch, von „Verdinglichung“ die Rede (Simmel 1989, S. 366), und Lukács zitiert ihn mit dem „nicht zu verdinglichenden Rest [des Lebens]“ (Lukács 1971, S. 278). Zum Zusammenhang zwischen Lukács und Simmel s.u. S. 147 f. 199 Marx 1972, S. 86; bei Lukács 1971 zitiert S. 174 f. 200 Es geht ihm darum, „in der Struktur des Warenverhältnisses das Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft“ aufzufinden, Lukács 1971, S. 170. 201 Es gibt eine umfangreiche Literatur zur Kritik des Fetischbegriffs und damit zusammenhängend der Verdinglichung. Neben Latours „Faitiche“-Konzept (Latour 1996f, 2000, S. 327 ff.) wären hier zu erwähnen: Heubach 1987, Pietz 1993, Böhme 2006. Ein Argumentationsmuster (von Pietz, auf das Böhme und Latour verweisen) lautet: Durch die Verschränkung von Religionskritik und Kritik der politischen Ökonomie landet ein Stück Religion in der Ökonomie; der Fetischcharakter der Ware muß als mystischer Charakter von Marx erst in diese hineingesteckt werden, um sodann wieder kritisch herausgezaubert und entlarvt werden zu können.

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zur herrschenden Erkenntnisbeziehung, die im passiv-kontemplativen Betrachten erstarrter Verhältnisse und Verdinglichungen besteht. Verdinglichung ist also auch erkenntniskritisch zu verstehen: Es verdinglichen bürgerliche Ökonomie und Sozialwissenschaft das von ihnen Untersuchte. Das „Dingliche“ hat dabei eine Konnotation von Rationalismus, Rationalisierung, Mathematisierung, also scheint es sich eher um Objektivierung, Verobjektivierung als um Verdinglichung zu handeln.202 Dafür steht, soweit ich sehe, das „verdinglichte Bewußtsein“, ebenfalls ein Begriff von Lukács (1971, S. 185).203 Mit verobjektivierenden bzw. verdinglichenden Gegenstands- und Erkenntnisformen werden dann auch Menschen, menschliches Tun, menschliche Eigenschaften als Dinge verstanden – bzw. objektiviert, nicht nur die Produkte ihres Tuns. Die Alternative dazu, eine prozessuale, interessengeleitete, praktische Erkenntnisbeziehung wird freilich schnell als Klassenstandpunkt in einer Klasse verortet, im Proletariat, welches sich an der Schnittstelle des wesentlichen Widerspruchs befindet.204 Der Fall par excellence der Verdinglichung von Menschlichem ist die Arbeitskraft des Arbeiters, die als Ware, quasi als Ding verstanden bzw. behandelt wird. Ein weiteres Gegensatzpaar – neben Mensch(enschöpfung)/Ding und gesellschaftliche Verhältnisse/Dingverhältnisse – in Lukács’ Text lautet: Ding versus Prozeß. Es geht darum, „die verdinglichten Formen als Prozesse zwischen Menschen zu begreifen.“ (ebd., S. 338) Oder, noch allgemeiner formuliert, diesmal in den Worten von Friedrich Engels, den Lukács hier zustimmend zitiert: Es gelte festzuhalten, „daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen“ (S. 342).

202 Einmal stellt Lukács sogar die „rationelle Objektivierung“ einem „qualitativen und materiellen“, einem „unmittelbaren Dingcharakter aller Dinge“ entgegen. „Indem die Gebrauchswerte ausnahmslos als Waren erscheinen, erhalten sie eine neue Objektivität, eine neue Dinghaftigkeit, die sie zur Zeit des bloßen gelegentlichen Tausches nicht gehabt haben, in der ihre ursprüngliche, eigentliche Dinghaftigkeit vernichtet wird“ (Lukács 1971, S. 183). 203 Den Heidegger auf den letzten Seiten von Sein und Zeit (Heidegger 1979, S. 437), ohne Quellenangabe, aufgreifen wird: „und daß die Gefahr besteht, das ‚Bewußtsein zu verdinglichen‘, weiß man längst. Allein was bedeutet Verdinglichung? Woraus entspringt sie? Warum wird das Sein gerade ‚zunächst‘ aus dem Vorhandenen ‚begriffen‘ und nicht aus dem Zuhandenen, das doch noch näher liegt?“ Zum Verhältnis von Lukács und Heidegger siehe Goldmann 1975, S. 85 ff., zur Verdinglichung in diesem Zusammenhang ebd., S. 113 ff. 204 „[…] daß das Proletariat das identische Subjekt-Objekt des Geschichtsprozesses ist, das heißt das erste Subjekt im Laufe der Geschichte, das eines adäquaten gesellschaftlichen Bewußtseins (objektiv) fähig ist“ (Lukács 1971, S. 341).

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Man kann darin die metaphysische Variante eines in der Wissenschafts- und Technologieforschung vieldiskutierten Gegensatzes sehen, nämlich dem zwischen Handeln und Härtung.205 Bezogen auf Dinge wird die metaphysische Bevorzugung des Prozessualen allerdings schnell dogmatisch. Im Grunde, so läßt sich in Weiterführung der Engelsschen Maxime behaupten, wären doch alle scheinbar festen und starren Dinge „eigentlich“ Prozesse. Seien es atomare, subatomare Prozesse, sei es das Ding als transitorisches Objekt in einem Produktions-, Zirkulations-, Konsumtionsprozeß, sei es erkenntistheoretisch, als Produkt von Wahrnehmungs- und Kognitionsprozessen. Zwar ist die Welt kein Komplex von fertigen Dingen, aber darum wird die Alternative – „von Prozessen“ – auch nicht richtiger. Es gibt mehr oder weniger fertige Dinge in der Welt oder, wenn man so will, Prozesse mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit. Ja, vielleicht ist sogar das, was wir Welt nennen, wesentlich auf Dinge angewiesen.206 Die drei Gegensatzpaare Mensch/Ding, Relation/Ding, Prozess/Ding dienen häufig als Reduktionismen, um die sinnlichen und greifbaren Dinge als etwas Unwirkliches, als Produkt falschen Bewußtseins, als ein Gespinst des Alltagsbewußtseins, als bloße „Phänomene“ in der Perspektive eines Erkenntnissubjekts zu entlarven. Vor einiger Zeit hat Axel Honneth versucht, den Verdinglichungsbegriff zu aktualisieren (Honneth 2005).207 Nachdem er Lukács’ ökonomischen Determinismus verabschiedet hat (ebd., S. 28), fragt er, ob uns der Begriff der Verdinglichung gleichwohl noch etwas zu sagen habe.208 Es könne sich ja wohl nicht um einen bloßen Kategorienfehler handeln, der als Verdinglichung gebrandmarkt werde (Menschen, Verhältnisse oder Prozesse als Dinge betrachten). Honneths Antwort auf die rhetorische Frage lautet: Es wird eine Stufe der Betrachtung von gesellschaftlichen Verhältnissen oder menschlichen Verhaltensweisen ausgelassen, wenn man den Gegenstand der Betrachtung verdinglicht. Und diese über-

205 Etwa Schulz-Schaeffer 2008b, S. 124 ff. 206 Das ist in etwa die Position von Hannah Arendt (2010). 207 Die Kritische Theorie ist nicht die einzige soziologische Erbin der Verdinglichungsthese. Eine andere Argumentation, mehr auf der Linie einer Aufklärungsanthropologie, findet sich in Berger/Luckmann 2004, S. 94 ff.: Das Menschengemachte wird von den Gesellschaftsmitgliedern als etwas Dingliches, Naturgegebenes verkannt. Habermas hat die zugrundeliegende Sozialtheorie als „Produktionsparadigma“ des Sozialen kritisiert (Habermas 1985, S. 95 ff.). 208 „Verabschiedet“ ist eigentlich zu viel gesagt, knüpft er damit ja nur an eine in der Kritischen Theorie ohnehin geübte Praxis etwa bei Adorno und Habermas an. Mit Kritikern am Verdinglichungs- oder Fetischbegriff (wie etwa Heubach 1987 und Latour 1996f) setzt er sich nicht auseinander.

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sprungene Stufe kennzeichnet er als Anerkennung. Verdinglichung ist „Anerkennungsvergessenheit“ (Honneth 2005, S. 97). Honneth schließt insofern an Lukács an, als er das mit dem „Ding“ in der Verdinglichung nicht so wörtlich verstanden wissen will; eher gemeint ist Ver-Objektivierung und Distanzierung. Auch bei den Gegensatzpaaren ist er nur noch an dem einen interessiert: Menschen wie Dinge zu betrachten oder behandeln (und nicht am Verdinglichten als Menschengemachtem oder Prozessualem). Seine Kritik an einer objektivierenden Zugangsweise begründet er damit, daß Anerkennungsvergessenheit bedeute, andere Menschen als bloße „empfindungslose Objekte“ wahrzunehmen oder zu beschreiben. Wir verlören die Fähigkeit, „die Verhaltensäußerungen anderer Personen direkt als Aufforderungen zu einer eigenen Reaktion zu verstehen; […] uns fehlt gewissermaßen das Verbundenheitsgefühl, das erforderlich wäre, um von dem Wahrgenommenen auch affiziert zu werden.“ (ebd., S. 69 f.) Eine solche kalte, objektivierte, versachlichte Wahrnehmung von Menschen als „Verdinglichung“ zu bezeichnen, leuchtet indes nicht so recht ein. Das wird deutlich, wenn man versucht, sich vorzustellen, was es heißen könnte, nicht nur Menschen, sondern sogar Dinge in diesem Sinne als bloße Objekte wahrzunehmen. Die Aufforderung zu einer eigenen Reaktion, dazu, vom Wahrgenommenen affiziert zu werden, ist auch im Falle eines Dings nicht deplaziert. Was Honneth mit einem „bloßen empfindungslosen Objekt“ meint, ist auch im Bereich der nicht-menschlichen Entitäten kein Ding.209 Wie könnte man, ohne affiziert zu werden, einem Kunstwerk begegnen oder völlig gefühllos ein Werkzeug bemerken, das man braucht? Die passive Kontemplation eines losgelösten Objekts hat wenig oder vielmehr nichts mit dem zu tun, was sich abspielt, wenn wir ein Ding wahrnehmen, ein Ding bemerken, ein Ding beachten, mit einem Ding umgehen.210 Verdinglichung – von Dingen? Diese Engführung drängt sich auf, wenn Dinge gar nicht so statisch, kalt, starr sind, wie oft unterstellt,211 sondern vielfältig, aktiv, dynamisch, werdend, netzig. Dann aber stellt die Tatsache, etwas als Ding zu betrachten, nicht länger eine kleingeistige Verengung oder kleinkrämerische Verzerrung dar.

209 Allenfalls ein passiver Materieklumpen nach Art der Dualisten. Oder es gehört zu jenen „im klaren Licht des modernistischen Blickes badenden reinen Objekten“, wie Latour sie einmal charakterisiert hat (Latour 2005b, S. 33). 210 Zur Wahrnehmung von Dingen: Merleau-Ponty 1966, Schmitz 1978. 211 S.o. Kap. 1.6 und s.u. 2.5.

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Damit entgleitet Honneth aber das Rüstzeug, ein angemessenes oder alternatives, nicht verdinglichtes Verhalten gegenüber Dingen auf den Begriff zu bringen. Er deutet die Möglichkeit an, Anerkennung auch auf Dinge, er denkt hier vor allem an Naturdinge, auszudehnen, verfolgt diesen Gedanken aber nicht weiter (er meint, das wäre ausgehend von Heideggers und Deweys Überlegungen ein Leichtes), sondern ersetzt ihn durch einen von Adorno entlehnten Gedanken (ebd., S. 74 ff.), wonach bei unserem Umgang mit, ja schon der Wahrnehmung von unbelebten Dingen intersubjektive Erfahrungen aus unserer Lebensgeschichte mitschwingen, affektive Objektbezüge. Demnach werden Dinge nur dann gesellschaftsfähig, wenn sie durch eine menschliche Mittelsperson affektiv aufgeladen worden sind.

Gegenständlichkeit und Verflüssigung (aus der Vorgeschichte des Verdinglichungsbegriffs) In einem historischen Überblick über die Gegenständlichkeit in der Philosophie konstatiert Günter Figal (2006, S. 126 ff.), daß Dinge und Gegenstände, kaum wurden sie in der Philosophie gedacht, sogleich auch schon prozessualisiert, verflüssigt, subjektiviert wurden. Er sieht verschiedene „Dynamisierungs- und Verflüssigungsvorstellungen“ am Werk, „die nichts Festes, für sich Stehendes gelten lassen wollen und alles in Bewegung versetzen“ (ebd., S. 126 f.) Vor allem in zwei Traditionslinien sind sie zu finden, von denen die eine auf Hegel (und Marx), die andere auf Husserl (und Heidegger) zurückgeht. Für die erste „gilt das Entgegenstehen der Dinge als Anzeichen scheiternder Selbstverwirklichung“ (ebd., S. 127). Zwar kann der menschliche Geist in der Welt nicht ohne Vergegenständlichung sein, doch das Gegenständliche muß überwunden und wieder integriert, wieder angeeignet werden. Für die zweite, die phänomenologische Traditionslinie macht sich „am Entgegenstehen der Dinge die Vergegenständlichung des eigenen Lebens“ bemerkbar (ebd.). Dafür verantwortlich sind theoretische und wissenschaftliche Herangehensweisen, die alles Leben objektivieren, vergegenständlichen, auch das eigene Bewußtseinsleben, indem sie es in einen objektivierenden Weltzusammenhang einordnen. Die erste, die hegelianische Traditionslinie einer Verflüssigung der Dinge findet sich laut Figal besonders prägnant bei Simmel. In seinem Aufsatz „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ konstatiert dieser eine Zerrissenheit, einen Dualismus zwischen dem Leben, das sich objektivieren muß, aber dennoch sich immer wieder mit der „Eigenentwicklung“ jenes von ihm hervorgebrachten „selbständig Objektiven“ (Simmel 1987, S. 142 f.) konfrontiert sieht (vgl. Figal 2006, S. 128). In Simmels Worten: „Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in

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einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt“ (Simmel 1987, S. 116). Diesen „gegenständlich gewordenen Geist“ findet Simmel nicht nur in Kulturprodukten wie „politischer Verfassung und Religionslehren“ (Simmel 1992a, S. 563), sondern auch in „Geräthen, Verkehrsmitteln“ (ebd., S. 561). Zwar löst Simmel sich insofern von Hegel, als er nicht mehr an eine definitive Wiederaneignung glaubt.212 Dennoch zehrt Simmels Gedanke noch von Hegels Dialektik, ansonsten würde er nicht von einer „Tragödie“ in diesem Zusammenhang sprechen (Figal 2006, S. 129). Daran wird deutlich, wie sehr die Kritik an der Verdinglichung auf dem Boden der „Lebensphilosophie“ gewachsen ist. Das Thema einer Spannung zwischen dem individuellen Leben und den objektiven kulturellen Gebilden, zwischen der persönlichen und der sachlichen Kultur, ist weniger von Lukács und Marx, als vielmehr von Dilthey und Simmel ausgearbeitet worden.213 Cassirer versucht den Gedankengang Simmels zu entschärfen: „Die Kultur ist ‚dialektisch‘, so wahr sie dramatisch ist“ (Cassirer 1961, S. 109). Kulturobjekte und kulturelle Gebilde können gegenüber dem bildenden Leben nicht fremd werden, weil sie keine endgültigen Resultate sind. „Denn am Ende dieses Weges steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ‚Du‘, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt“ (ebd., S. 110). Das Werk ist nur „Durchgangspunkt“, „Brücke“ (ebd.). Cassirers Revision läßt aber in den Augen Figals etwas Entscheidendes außer acht: Selbst wenn die Kulturwerke „immer wieder ins Leben eingebunden werden können, lösen sie sich doch vom Leben ihres Herstellers ab, ohne sogleich ins Leben derer, die sie aufnehmen, zu gehören. Die – und sei es nur momentane – Verselbständigung hat Cassirer nicht bedacht, obwohl er sie voraussetzen muß“ (Figal 2006, S. 129): Als „Vermittler zwischen Ich und Du“, wie Cassirer (1961, S. 111) sie charakterisiert, können die kulturellen Produkte nur fungieren, wenn sie nicht vollständig in den Handlungsvollzügen beider aufgehen. Diese Selbstständigkeit, dieses Fürsichstehen der Dinge ist jener Rest, der weder in der Perspektive der Vergegenständlichung noch in der der Inkraftsetzung eingefangen werden kann. Die zweite Traditionslinie einer Verflüssigung und Prozessualisierung der Dinge geht aus von einem „Unbehagen gegenüber der naturwissenschaftlich ori-

212 Diesen Glauben wiederbeleben wird Lukács mit einer politisierten Interpretation der Verdinglichung. 213 Die allerdings alle in der Tradition Hegels stehen. Und Simmel erwähnt auch den Fetischcharakter bei Marx (Simmel 1987, S. 140).

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entierten Selbstbeschreibung des Menschen“ (Figal 2006, S. 129). Husserl und Heidegger wollen „auf das originäre Erleben und den in ihm eröffneten Sinn zurückgehen“ (ebd., S. 130). Obwohl sie einen anderen Zugang zu den Dingen suchen, verstellen sie ihn sich mit ihrer bewußtseinsimmanenten Begrifflichkeit. Beide haben versucht, aus der Immanenz des Bewußtseins herauszufinden bzw. die Exteriorität als solche anzuerkennen. Husserl vor allem durch die Einklammerung der Exteriorität, was ihn in einige Antinomien geführt hat.214 Heidegger mit seiner Analyse der Gebrauchsdinge, des „Zeugs“ in Sein und Zeit (Heidegger 1979). Mit der Zuhandenheit der Dinge und dem praktischen Umgang, in dem ihnen begegnet wird, hat Heidegger aber den Vollzugsgedanken intensiviert, auch wenn nun nicht mehr das Bewußtstein, sondern das Dasein die vollziehende Instanz ist.215 In beiden Traditionslinien, der dialektischen wie der lebensweltlichen, findet sich für Figal der problematische Versuch, „die Selbständigkeit des Dinglichen zu überwinden“ (Figal 2006, S. 132), und beide Male führt er in eine Immanenz des Bewußtseins, des Daseins, der Lebens- oder Handlungsvollzüge. Im einen Fall finden wir die Perspektive der Vergegenständlichung wieder, denn der Mensch oder das Leben vergegenständlicht sich in den Dingen, die „zu einem Zwischenstadium im kulturellen Geschehen“ werden. Im anderen können wir die Perspektive der Inkraftsetzung wiedererkennen: Denn das Ding wird hier „zu einem Moment seiner Gegebenheit im ‚Leben‘, ‚Dasein‘ oder ‚Bewußtsein‘“ (ebd.)

Verdinglichung als kritischer Begriff obsolet? Verdinglichung als kritisches Verdikt impliziert: Verdinglichtes muß wieder in die Verfügungsgewalt der Subjekte, der menschlichen Akteure zurückgeholt werden (bzw. in den Begriffsapparat der analysierenden kritischen Soziologen). Die Verdinglichungskritiker glauben, daß wir in den Status quo ante zurückkehren, das Verdinglichte wieder verflüssigen und in die Reflexion einholen könnten (bzw. daß darin das primäre Ziel bestehen müsse). Dagegen spricht, daß dies oft nicht möglich ist. Dem kritischen Geist bietet sich dann noch die Möglichkeit der retrospektiven Reflexion, wonach dieses oder jenes „eigentlich“ menschengemacht sei, von den Menschen aber als natürlich, selbstverständlich, gegeben

214 Etwa die Intention auf einen Bewußtseinsinhalt, der selbst noch einmal einen Gegenstandsbezug nach außen hat (Figal 2006, S. 131). 215 Mehr dazu s.u. Kap. 2.5.

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etc. betrachtet werde.216 Doch vieles (soziale) Handeln läßt sich nicht in die Reflexion einholen, blinde Flecken und Gewohnheiten gehören dazu.217 Ja man muß sie oft geradezu begrüßen, es gibt Bereiche, wo Verdinglichung gut, nicht schlecht ist. Verdinglichung besagt im Kern: Etwas von Menschen Gemachtes, etwas Verhältnishaftes oder Prozeßhaftes wird irrtümlich für Dingliches gehalten. Aber warum sollte etwas Menschengemachtes nicht auch etwas Dingliches sein, dingliche Anteile enthalten oder Eigenschaften besitzen können? Und warum sollten Relationen sich nicht manchmal in Dingen, in dinglichen Komprimierungen, Ver-Sammlungen, Bündelungen verdichten, konkretisieren, in dinglicher Form darstellen können, als Dinge? Oder zwischen diesen bestehen und sich entwickeln? Warum sollten Prozesse nicht durchbrochen sein und gebrochen werden von beharrenden Dingen, oder wenn man so will: von wesentlich langsameren, Zeit anders bindenden Prozessen?218 Vielleicht ist genau diese Zeitbindung ein Spezifikum von materiellen Dingen bzw. von unserem Umgang mit ihnen. Und: Warum sollten den Menschen ihre Verhältnisse, Merkmale, Fähigkeiten nicht auch in Dingform gegenübertreten dürfen? Oder auch: Was ist so schlimm daran? Man könnte daran doch auch wachsen, sich korrigieren: „Nichts gibt uns mehr Aufschluß über uns selbst, als wenn wir das, was vor einigen Jahren von uns ausgegangen ist, wieder vor uns sehen, so daß wir uns selbst nunmehr als Gegenstand betrachten können.“219 Mit dem denunziatorischen Begriff der Verdinglichung wird aus dem, was ein starkes Argument für den Anteil der Dinge in gesellschaftlichen Prozessen und Verhältnissen sein könnte, ein Nachteil gemacht. Aber auf der Verdinglichung, dem Dinglichwerden von Prozessen, menschlichen Eigenschaften etc. beruht die kulturelle Tradierung von Werkzeugen, Wissen und Gewohnheiten. Man sollte das Wort „verdinglichen“ also deskriptiv verwenden, so wie realisieren, verwirklichen. Etwas (auch) zu einem Ding machen, etwas dinglich her-

216 Diese Argumentationslinie findet sich in Berger/Luckmann 2004. 217 Letztlich geht es hier um die Stellung zur entlastenden Wirkung gesellschaftlicher Institutionen; ob diese grundsätzlich positiv (wie von Dewey, Gehlen) oder negativ gesehen wird (wie von Adorno). Zur Entlastung bei Gehlen und Adorno siehe Thies 1997, S. 150 ff. 218 Luhmann sieht Handeln als „zeitbindendes Ereignis“ (Luhmann 1979, S. 78). Vgl. Bergmann 1981. In gewisser Hinsicht könnte man Dinge auch so beschreiben, als zeitbindende Ereignisse. Ich verwende das Wort dabei nicht unbedingt in Luhmanns Sinne. 219 Goethe 1974, S. 345. Dieses Goethe-Zitat kommt wie aus einer anderen Epoche (vgl. Löwith 1995), wenn der Verdinglichungsdiskurs denn die Gegenwart definiert.

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stellen, darstellen.220 Man denke weiterhin an Denkprozesse, die man zu Papier, auf einen Bildschirm, Speicher-Chip oder in ein Netzwerk bringt. Man könnte darin anstelle einer Subjekt-Objekt-Dramatik eine intellektuelle Technologie sehen, eine komplexe Kulturtechnik. Eine Pointe der ANT liegt darin, diesen Prozeß der Verdinglichung von Gesellschaftlichem positiv auszufüllen (Latour 2007b, S. 132). Aber was heißt schon „positiv ausfüllen“? Wenn der Begriff der „Verdinglichung“ als kritischer obsolet wird, entfällt er vermutlich überhaupt. (Außer als Diskurseffekt und bloßer Kategorienfehler, den man aber als solchen oder als „Hypostasierung“ bezeichnen kann.) Oder man kehrt wieder zu seiner deskriptiven Bedeutung zurück.221 Denn als kritischer Begriff verkompliziert er Sachverhalte: Es muß das Feld der Vergegenständlichungen, ist es einmal als solches konzeptualisiert, nun wieder differenziert werden nach falschen und richtigen Vergegenständlichungen, nach guten Objektivierungen („Gegenständlichkeitsformen“, wie Lukács sie nennt, „Objektivationen“, wie Berger/Luckmann) und schlechten (also „Verdinglichungen“). Diese ganze Denkweise kommt aus einer subjekt- und wissenslastigen Bewußtseinsphilosophie und soll zur Erklärung und Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit herhalten. Was immer ihre sonstigen Verdienste sein mögen, dazu taugt sie nicht. An die Stelle von Objektivierung und Verdinglichung treten Vermittlung und Übersetzung. Sie führen hinaus aus dem Spiegelkabinett von Vergegenständlichungen, Objektivierungen, Objektivationen und Verdinglichungen. An die Stelle der dualistischen Denkfigur tritt eine pluralistische Welt voller unterschiedlicher Wesen, Entitäten und Gruppierungen, wie physisch-haptische Dinge, epistemische Dinge, wissenschaftliche Objekte, wissenschaftliche Instrumente, technische Artefakte, kognitive Medien, Kunstwerke etc. Warum findet der „Austausch von Eigenschaften“ zwischen Menschen und Dingen bei Latour222 so wenig Beifall bzw. begegnet sogar, wie etwa bei Lynch (1996, S. 250), derart heftiger Kritik? Er besteht doch in nichts anderem als in einer entdramatisierten Version der beiden Bewegungen: etwas Menschliches

220 Sowohl Arendt (2010, S. 93) als auch Rheinberger (2001a, S. 114) verwenden „verdinglichen“ undramatisch deskriptiv. 221 Und versteht darunter einen empirisch faßbaren Prozeß – Verdinglichung, Entdinglichung –, der auch ein technologischer sein kann. So gibt es in der Musikindustrie Verdinglichungen (CDs) und Entdinglichungen (MP3-Dateien) und dann wieder Verdinglichungen (MP3-Player). 222 Neben dem Kommentar weiter oben zum Berliner Schlüssel (in Kap. 2.3) finden sich Überlegungen dazu in Latour 1996b, S. 62 ff., und in Latour 2000, S. 217 ff.

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vergegenständlichen oder verdinglichen, etwas Dingliches rezipieren, verinnerlichen, sozialisieren, wenn man so will: vermenschlichen. Die These lautet nicht wie in der idealistischen und materialistischen Dialektik: „Der“ Mensch vergegenständlicht sich. Noch „der“ Mensch entfremdet sich durch seine dinglichen Anteile oder seinen Umgang mit Dingen, sondern es gibt Dingliches (das heißt dingliche Eigenschaften), das die Menschen übernehmen, an dem sie partizipieren, und Menschliches (das heißt menschliche Eigenschaften), das von Dingen absorbiert, verkörpert, vertreten etc. wird – also findet ein Austausch von menschlichen und nicht-menschlichen Eigenschaften statt. Das heißt, hier schließt sich kein Kreis der Selbstverwirklichung des zu sich selbst zurückfindenden entfremdeten Subjekts (noch scheitert diese Schließung notorisch), sondern öffnet sich ein Raum für (empirische) Untersuchungen. Wir sollten anerkennen, daß wir Vermittlungen nicht umgehen können, daß wir nicht alle Gegenstandsformen transparent machen können, daß die Frage der Maschinen-, Automaten-, Ding-Anteile an sozialem Handeln sich immer mal wieder sinnvoll stellen läßt, und daß eine Gefahr der Verselbständigung dinglicher Vermittlungen bestehen kann, daß aber auch eine Verselbständigung von Handlungsverläufen durch ein Übermaß der subjektiven Seite denkbar ist, durch Gewohnheit, Dummheit, Schlauheit, Intellektualisierung, Idealisierung, Rationalisierung etc., von Überheblichkeit ganz zu schweigen. Erst wenn man auf die eine Seite das gesellschaftliche Gesamtsubjekt (bzw. ein Klassensubjekt) oder das menschliche Gattungssubjekt stellt, auf die andere die wissenschaftlich-technischen Objekte (womöglich gar mitsamt „der“ Natur), oder auf die eine „das“ Erkenntnissubjekt, auf die andere das Erkenntnisobjekt, die Objektivität oder die Wirklichkeit, wird daraus ein riesiges Problem oder eine lange Geschichte, je nachdem eine Erfolgsgeschichte (technischer Fortschritt, zunehmende Erkenntnis, wachsende Rationalität, Sachgesetzlichkeit) oder eine Mißerfolgsgeschichte (etwa durch Entfremdung und Verdinglichung).

2.5 D INGE

SOZIAL DURCH

A SSOZIATION „Aber der Streit ist oft nur die Photographie eines Dings“ LUDWIG HOHL

Nachdem wir den Gedanken „Dinge sozial durch Handeln“, dann „durch Normativität“ (einschließlich „falscher“ Normativität, nämlich Verdinglichung) durch-

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gespielt haben, sind wir nun beim dritten Resozialisierungsprogramm für Dinge angelangt: Dinge sozial durch Assoziation. Bei diesen „Programmen“ handelt es sich um abgestufte Anforderungen, die Dinge und andere nicht-menschliche Entitäten erfüllen müssen, um als sozial oder als potentieller Gegenstand der Soziologie anerkannt zu werden. Handeln, Normativität, Assoziation – diese Reihe bringt einen immer „schwächeren“, weniger emphatischen oder anspruchsloseren Handlungsbegriff mit sich. Man könnte auch sagen: Sie bildet eine Abstufung von immer voraussetzungsärmeren Grundbegriffen des Sozialen, die sich zudem mit einigen soziologischen Klassikern parallelisieren ließen. Weber stünde für das soziale Handeln als Grundbegriff, Durkheim (und Marx) für die Normativität, und Latour – mit Tarde und Dewey als Klassikern im Rücken – für die Assoziation.223 In anderer Hinsicht freilich ist Latour in allen drei Definitionen des Sozialen vertreten. Es sind nur immer weniger anstößige Behauptungen, die man ihm im jeweiligen Rahmen zuschreiben kann. Daß Dinge handeln könnten, ist eine allgemein angefochtene Behauptung, daß sie normativ wirksam sind, eine schon eher akzeptable, und daß sie durch Assoziation mit Menschen gesellschaftlich (anerkannt) werden, mag man als triviale oder zu dürftige Bestimmung ihrer Sozialität ansehen. Daher ist zu den Assoziationen von Dingen und Menschen nicht so viel zu sagen. Da jegliches Assoziiertsein von Menschen und Dingen als Assoziation und damit als irgendwie gesellschaftlich gilt, kann man allenfalls diskutieren, ob diese Bedingung nicht genauer zu spezifizieren wäre. Das habe ich in gewissem Sinn auch in den vorangegangenen Abschnitten getan, die man ausgehend von der Assoziation rückwärts als zunehmend komplexere Sozialbeziehungen lesen mag. Gleichwohl werde ich unter dem Punkt „Ein- und Entgrenzung der Gesellschaft“ noch einmal etwas ausführlicher auf die Spezifizierung der Assoziationen zu sprechen kommen. Daneben werde ich im folgenden in loser Form einige Probleme im Zusammenhang mit Assoziationen diskutieren. Schließlich werde ich die „Versammlung“ von Menschen und Dingen erörtern, die ja ebenso als ein Konzept für Assoziationen von Menschen und Dingen verstanden werden kann. Dabei komme ich noch einmal auf die Definition des Dings zurück (das manchmal ebenfalls als „Versammlung“ definiert wird). Zu guter Letzt werde ich dieses 2. Kapitel mit einem Resümee zum Verhältnis von Dingen und Gesellschaft abschließen.

223 Tarde spricht von atomaren und stellaren Gesellschaften (Tarde 2009, S. 51), und auch Dewey kultiviert einen recht voraussetzunglosen Gesellschaftsbegriff, wenn er „Assoziationen“ und „assoziierte Tätigkeit“ menschlicher Wesen als zunächst theoretisch unproblematisch darstellt, sie bräuchten „keine Erklärung“; Menschen verbinden sich „miteinander wie Atome, Sternenhaufen und Zellen“ (Dewey 1996, S. 131).

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Dinge in und außer Netzen Da ich Assoziationen als eine allgemeinere Fassung von Akteurnetzwerken ansehe (Assoziationen zwischen Menschen und Dingen im Akteursgewand), werde ich nun die Frage diskutieren, in welchem Verhältnis Dinge zu Netzwerken stehen. Zunächst einmal scheinen schlichte physisch-haptische Dinge – ein Apfel, ein Stuhl, ein Krug – nicht zu Netzwerken zu gehören. Befinden sie sich aber nicht vielleicht doch innerhalb von Netzen, in denen sie zirkulieren oder deren Knoten sie bilden? (1) Oder sind sie als Grenzobjekte an den Übergängen zwischen verschiedenen Netzwerken anzutreffen? (2) Oder befinden sie sich schließlich doch außerhalb der Netze und können allenfalls momentan oder passager mit ihnen verbunden, in sie integriert werden? (3) 1. Wenn die Rede ganz allgemein auf die schlichten Dinge kommt, kann man zunächst darauf verweisen, daß diese derart gewohnt und vertraut sind, daß wir oft nicht mehr rekonstruieren können, zu welchen Netzwerken sie überhaupt gehören. Der Umgang mit schlichten alltäglichen Dingen ist teilweise seit Jahrtausenden stabilisiert. Die Netzwerke der Herstellung, des Gebrauchs und der Tradierung, die mit ihnen verknüpft sind, können wir gewissermaßen nicht mehr sehen. Auch könnte man hier an die Netzwerke ihrer Zirkulation denken (sei es in Form von Kommunikationsmedien, sei es als Waren, Gaben, Anschauungsstücke, Museumsstücke etc.), wenn sie denn zirkulieren, also an Quasi-Objekte. 2. Eine zweite Interpretation würde Dinge als Grenzobjekte an den Übergängen zwischen Netzwerken verorten. Das Straßenschild, das die Passantin auf der Suche nach einer Adresse mit dem Stadtplan in der Hand endlich gefunden hat, und die Straße, in der sie sich befindet (das Außen, der Rahmen dieses suchenden Menschenwesens), verleiten zu der Vorstellung, dort (das Straßenschild plus Mauer, Gehsteig, Straße) hätten wir die Dinge, hier dagegen Netze, Passagen und Akteur (Latour/Hermant 1998, S. 34). Diese Vorstellung ist irreführend. Denn daß das Straßenschild sich dort befindet, verdankt sich einem anderen Netzwerk, der Straßenverwaltung, die neue Straßen aktenkundig macht, Straßennamen vergibt, Straßenschilder anbringt und wartet etc. Wir haben hier also die Kreuzung zweier Netze. Das Straßenschild „markiert nicht den Übergang vom Individuum zu seinem Rahmen, sondern eher die Schnittstelle zwischen zwei Formen von Zirkulation“ (ebd.) In dieser Perspektive sind Dinge also Berührungspunkte, Schnittstellen zwischen (verschiedenen) Netzen; was Bestandteil des einen Netzes (Straßenamt)

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ist, erscheint aus einem anderen (Touristenbus, Kinobesucherin) als Objekt, Außenwelt. 3. Weder in Handlungsvollzügen noch Bewußtseinsvollzügen, aber auch nicht zwangsläufig in Netzwerken lassen sich Dinge auflösen, sie stehen für sich. Damit wären wir bei unserer dritten Interpretation. Physisch-haptische Dinge stehen außerhalb von Netzen.224 Oder sind zumindest außerhalb ihrer vorstellbar. Die zweite und dritte Interpretation lassen sich auch weniger radikal als Frage formulieren: Wie sehr gehen die Dinge in ihren Relationen oder Netzen auf? Oder verändern Dinge sich in verschiedenen Assoziationen, Beziehungen, Relationen nur? „Du bist ein anderes Subjekt, weil du die Waffe hälst; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu dir unterhält.“ (Latour 2000, S. 218) Das heißt aber auch: Du bist noch Mensch, die Waffe noch Waffe. Aber das nun folgende Handeln läßt sich am besten beschreiben durch den WaffenBürger, zu dem du nun geworden bist, oder ausgehend von der abzugsbereiten Schußwaffe in deiner Hand, also als Akteurnetzwerk. Hier könnte man ganz allgemein einen Konflikt sehen zwischen Relationalität und Dinglichkeit: Entweder ist das Ding eine Entität, dann darf es aber nicht ganz in seinen Beziehungen aufgehen. Oder aber es bestimmt sich durch seine Beziehungen – aber läßt es sich dann noch als dingliche Entität ansehen? Doch die Frage lautet: Müssen wir wählen? Nur in einer dualistischen Perspektive müssen wir uns zwischen Ding und Relationen entscheiden. Denn in dieser gilt Ding als Kategorie des Alltagsverstandes oder sonstwie historisch datierte Vorstellung, die Relationen gelten dagegen als die wirkliche Wirklichkeit.225 Wobei der Sozialkonstruktivismus umwertet: Die naturale oder materielle Wirklichkeit gilt ihm als die Folie, auf welcher die menschlichen oder Gesellschafts-Subjekte ihre Konstruktionen konstruieren.226 Aber die Quasi-Objekte

224 Noch allgemeiner gefragt: Was ist dort, wo Netzwerke aufhören? Für Mol und Law (1994) gibt es andere topologische Bezüge als die von Netzwerken gebahnten oder aufrechterhaltenen. Zum einen die traditionellen regionalen Räume, zum anderen einen Raumtyp, den sie als „fluid“ charakterisieren. Auch Latour gesteht zu, daß es neben den Netzwerken etwas gibt, das er als „Plasma“ bezeichnet, ein Gewimmel multipler Existenzformen (Latour 2007b, S. 415 ff.). 225 Wie etwa bei Rorty 2005. 226 Außer von Rorty wird dieses Dilemma Ding vs. Relationen auch in der soziologischen Diskussion der ANT bisweilen unter dem Etikett „Relationierung“ diskutiert, so daß es sinnvoll scheint, kurz darauf einzugehen. So schreibt etwa Weyer (1997, S. 56) über die Akteur-Netzwerk-Theorie: „Auch die Komponenten der Netzwerke werden – gemäß dem Postulat des Konstruktivismus –

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von Serres mit ihrem Zwischenstatus sind nicht nur Zipfel von Netzen, sondern auch Bruchstücke von Wesen. Diese Ambivalenz der Dinge findet man bereits in Hegels Analyse der wahrgenommenen Dinge (Hegel 1972a, S. 91 ff.); in jedem von ihnen läuft einerseits eine Vielzahl von Eigenschaften zusammen, welche aber andererseits ein einzelnes Ding bilden. Hegel löst den Widerspruch zwischen dem einen (Ding) und den vielen (Eigenschaften) auf, indem er als dritten Term das Ding als Medium der Eigenschaften in die Überlegung (und in die Erfahrung des wahrnehmenden Bewußtseins) einbezieht. Was die verschiedenen Eigenschaften trägt, bündelt, vermittelt, ist das Ding als Medium seiner Eigenschaften, das Ding in seiner Ding-Identität.227 Wenn wir uns die Überlegungen aus Kap. 1.6 zu einem dynamisierten Dingbegriff vor Augen führen, so läßt sich die Ding-Identität als die Frage formulieren, wie das Veränderliche mit dem Beharrenden, Stabilen zusammengebracht und -gedacht werden kann. Im Unterschied zu den Versuchen etwa der Sensualisten, die Vielheit der Eigenschaften dort draußen durch die Einheit der Idee (im Kopf, der Bedeutung in der Sprache) zu lösen, besteht die Lösung ja vielleicht darin, daß wir uns Dinge in irgendeiner Weise als beharrend und damit aktiv vorzustellen haben, nicht als passiv und statisch. Von Whitehead etwa werden Dinge als aktiv (als actual entities) gedacht: „Der Burgfels von Edinburgh besteht von Moment zu Moment und von Jahrhundert zu Jahrhundert aufgrund der Entscheidung seines eigenen historischen Weges, die durch frühere Ereignisse bewirkt wurde.“ (Whitehead 1984, S. 98)228

erst durch ihre Relationierung erzeugt“. Damit unterstellt er Latour einen Relationismus oder Konstruktivismus, der das Ding auf seine Relationierung reduziert. Die Aktanten werden aber nicht durch Relationierung „erzeugt“, sondern definieren sich durch ihre Relationen. Das war schon im Verhältnis der Spieler zum Quasi-Objekt Ball zu sehen, wo sich beide in den Pässen verändern (s.o. Kap. 1.2). Allerdings gehen die Akteure nicht in ihren Relationen auf; sondern sie sind andere, als sie es wären, wenn sie diesen Paß nicht gespielt hätten. Schulz-Schaeffer (2011) spricht ebenfalls von einer „Relationierung von Akteuren und durch Akteure im Prozess des Netzwerkbildens“, die er als nahezu synonym mit „Übersetzung“ ansieht. (ebd., S. 279). Zwar verweist die Übersetzungsperspektive auf den Ereignischarakter der Dinge (oder „Mittler“), aber damit ist nicht notwendigerweise gemeint, daß Dinge in ihren Relationen aufgehen, sondern daß sie darin immer wieder neue Eigenschaften entfalten (oder entwickeln). Siehe auch unten den nächsten Abschnitt „Netzwerke als Sozialontologie?“ sowie weiter unten „Kurzer Exkurs zum Substanzbegriff“. 227 Dazu genauer Westphal 1998, S. 77 f., S 109. 228 „[…] by reason of the decision effected by its own historic route of antecedent occasions“, Whitehead 1978, S. S. 43.

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Netzwerke als Sozialontologie? Gegen die Verallgemeinerung einer spröden, externalisierten, ohne Bewußtsein der Akteure auskommenden (wenn auch nicht es leugnenden) Netzwerk-Analyse wurde Kritik laut.229 Wenn man sagt (wie Latour es manchmal zu tun scheint): Es sind nur die dauerhaften Dinge, welche die Dauer der Gesellschaft gewährleisten, so wird womöglich aus einem fruchtbaren methodologischen Argument ein dogmatisches ontologisches. Die Frage lautet, ob die Methode der ANT im Verfolgen flacher Verkettungen oder ob das Soziale aus flachen Verkettungen besteht.230 Eines ist es, zu sagen: schaut nach, ob es nicht die dauerhaften Dinge sind, die Dauer gewährleisten, bevor ihr soziale Kräfte sui generis als Ursache hypostasiert,231 etwas anderes: nur die dauerhaften Dinge gewährleisten Dauer. Diese Kritik ist ernst zu nehmen.232 Denn es entsteht eine Schieflage, wenn die Dinge und technischen Artefakte das einzige sind, was die Dauer gesellschaftlicher Verbindungen und Verknüpfungen gewährleistet (entsprechend der bereits zitierten Devise: „technology is society made durable“). Die Schieflage verschwindet, wenn man sagt, daß die Dinge das Soziale mitkonstituieren. Das Soziale besteht nicht allein aus intentionalem Handeln, aus normativem Handeln, sondern aus Assoziationen von Menschen und (Menschen und) Dingen, wozu auch Intentionalität und Normativität gehören, aber nicht immer, überall und notwendigerweise. Allerdings verschiebt sich dann die Frage: Wenn es nicht immer die Dinge sind, die Dauer gewährleisten, was sonst? Hier hört man immer wieder zwei typische Antworten:233 1. die sie aktualisierenden, re-aktualisierenden Menschen, welche sie immer wieder als Momente ihres Tuns nehmen;

229 Es ist sogar der Kritikpunkt, der bei ansonsten mit der ANT oder Latour sympathisierenden Autoren öfters wiederkehrt. Daß Latour aus einer strengen, engen Methodologie eine Ontologie bzw. Soziologie mache (Breslau 2000). 230 Wobei flach hier zunächst nur meint: explizierbar, auseinanderlegbar in verschiedene Kettenglieder oder Aktanten. 231 Dieser Gedankengang Latours wendet sich gegen Durkheim, der im Sozialen einen „mehr oder minder systematischen Zusammenhang von Phänomenen sui generis“ sieht, Durkheim 1984, S. 88; siehe auch ebd., S. 94, woraus ersichtlich wird, daß das „Substrat“, der „Stoff des sozialen Lebens“ zwar nicht die Gesellschaft, aber das Kollektivbewußtsein oder die Kollektivvorstellungen der Gruppe sind. Vgl. auch die Einleitung von König zu Durkheim 1984, S. 33. 232 Wird es auch von Latour, vgl. Latour 2007b, S. 135. 233 Die erste kennen wir als Inkraftsetzungsperspektive, für die zweite folgt gleich ein Beleg.

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2. die soziale Struktur ist das, was Dauer gewährleistet. Die erste Antwort läßt sich, wird sie pauschal formuliert, genauso zurückweisen wie die These von der ausschließlichen Verfestigung, Verstetigung der sozialen Beziehungen durch die harten und dauernden Dinge, denn in beiden Fällen gibt es offensichtliche Ausnahmen: Dinge bleiben, auch wenn Menschen sie nicht aktualisieren; aber die bleibenden Dinge allein garantieren nicht die Dauer gesellschaftlicher Einrichtungen. Die zweite Antwort sieht in der sozialen Struktur das, was Dauer gewährleistet. Woraus aber besteht die soziale Struktur? Zunächst einmal: aus Netzwerken oder Assoziationen von Menschen und Dingen. Vielleicht läßt sich aber zusätzlich zu Akteurnetzwerken ein weiteres Beziehungsgefüge denken, das Positionen und Klassifizierungen in einem sozialen Raum markiert, wobei diese Positionen allerdings mithilfe von Akteurnetzwerken und hybriden Entitäten errungen, behauptet, bewahrt und manchmal sogar von diesen eingenommen werden. 234 Aus der ANT-Perspektive könnte man allerdings fragen: Ist der „soziale Raum“ nicht eine zu grobe Verallgemeinerung? Damit gemeint sind ja die Positionen der einzelnen Menschen, Akteure, Gruppen, Schichten, Klassen in einem Gesamt von Gesellschaft, das als solches nicht zu fassen ist, und außerdem ist es ein, wenn man denn so sagen kann, homogenisierter Raum. Eine andere Frage lautet: Wie werden diese Positionen ermittelt? (s.u. Kap. 4.2) Als Beispiel für durch Dinge vermittelte soziale Beziehungen ließe sich zum einen, traditionell soziologisch, etwa der Kapitalist mit seiner Maschine, seinem Kapital, anführen, welches das Verhältnis zu den Arbeitern strukturiert.235 Ein anderes Beispiel, in der Tradition der ANT, wäre der Sprecher, sei es einer Gruppe von Menschen, sei es einer Gruppe nicht-menschlicher Entitäten. In letzterem Fall wird das meist ein Wissenschaftler sein. Das Prestige, die Macht, die der Wissenschaftler erlangt oder genießt, speist sich nicht aus einem geschickten Jonglieren mit Symbolen oder sozialen Bedeutungen, sondern aus der Verbin-

234 So Breslau 2000, der außerdem (S. 300) das Beispiel zweier weiterer in seinen Augen relationistischer Denker (neben Latour) bringt, nämlich Whitehead und MerleauPonty, die (anders als dieser) zusätzlich zu den aktualen Entitäten oder empirisch erfaßbaren Objekten ein Differenzgefüge denken. Ob aber die Gesellschaft oder das soziale Feld (im Sinne von Bourdieu) in analoger Weise als Ergänzung zur ANT taugt, wie der Autor vorschlägt, ist eine andere Frage. Vgl. ebd., S. 303 f. 235 Ich folge hier Breslau 2000, S. 303 f. Marx (1972, S. 793) spricht vom Kapital als einem „durch Sachen vermittelten gesellschaftlichen Verhältnis von Personen“; ein Zitat, das neben Breslau auch Linde in seinem Plädoyer für die „Sachdominanz in Sozialstrukturen“ an prinzipieller Stelle anführt (Linde 1972, S. 14).

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dung, die er mit nicht-menschlichen Entitäten eingegangen ist, bis zu dem Punkt, als ihr Sprecher auftreten zu können (das prototypische Beispiel bei Latour ist Pasteur). „Die kulturelle Autorität, die darin besteht, ein Sprecher zu sein, ist eine durch Dinge vermittelte soziale Beziehung, nicht eine reine soziale Beziehung, die auf die materielle Welt projiziert wird […]. Die soziale Beziehung ist abhängig von der Wirkungsmacht einer nicht-menschlichen dritten Partei, die unerwartet agieren und damit möglicherweise diese Beziehung gefährden kann“ (Breslau 2000, S. 304). Allgemeiner formuliert: Jegliche Assoziation, also auch eine mit nicht-menschlichen Entitäten, kann als gesellschaftlich, vergesellschaftend, eben assoziierend gelten, es gibt hier keine Grenze, die a priori ein NichtGesellschaftliches, etwa ein naturhaft Gegebenes (oder naturgesetzlich Notwendiges) vom Sozialen abtrennt; denn unter Umständen könnte dieses als sozialer Integrationsfaktor verwendet werden. Man kann hierin das sogenannte „Assoziationsprinzip“ wiedererkennen, das Callon bereits in seinem frühen Text über die Jakobsmuscheln aufgestellt hat. Er spricht dort von einem Prinzip der „freien Assoziation“, das darin besteht, keine Vorentscheidung darüber zu treffen, was mit was oder wem zusammengehen kann, um Gesellschaft oder Welt zu bilden.236

Ein- und Entgrenzung der Gesellschaft Anhand der Assoziationen zwischen Menschen und Dingen oder gar von Dingen und Dingen läßt sich die Frage nach den Grenzen der Gesellschaft bzw. des Sozialen thematisieren.237 Unterstützt von den Klassikern Tarde und Dewey sowie mit Latour und Callon als neueren Autoren läßt sich für die Assoziation als soziologischer Grundbegriff (im Unterschied zu Handeln oder Normativität) votieren. Man könnte hier auch noch Simmel als Gewährsmann anführen und Assoziation mit „Vergesellschaftung“ übersetzen (eine Begriffsnuance, die auch Latour

236 Er selbst definiert es aber in einer Weise, die es dem Symmetrieprinzip annähert, nämlich daß der Beobachter „alle a-priori-Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Ereignissen verwerfen“ muß: Callon 2006, S. 143. Das erscheint mir zumindest mißverständlich. 237 Daß der Netzwerkbegriff, da er auf Verknüpfungen, Verbindungen abhebt, mit der Grenze so seine Schwierigkeiten hat, und damit auch mit der Abgrenzung der Gesellschaft oder des Sozialen von dem, was nicht gesellschaftlich ist, konstatiert etwa Bude (2001). Das Thema der Entgrenzung bildet auch ein Leitmotiv des Sammelbandes, der sich mit „Bruno Latours Kollektiven“ auseinandersetzt (Kneer/Schroer/Schüttpelz 2008) und der dementsprechend den Untertitel trägt: „Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen“.

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nicht fremd ist).238 Zum einen weil man sich durchaus vorstellen kann, daß Dinge Menschen vergesellschaften, sozialisieren, zum anderen weil Menschen Dinge als artikulierende Elemente der Vergesellschaftung verwenden oder wahrnehmen können (Vgl. Linde 1972, S. 8), ohne diese damit sogleich zu Handelnden oder Gesellschaftsmitgliedern zu machen. Wenn wir eine großzügige Definition von Assoziierung oder Gesellschaft nicht akzeptieren wollen, dann müssen wir uns fragen, ab wann wir Assoziationen zwischen Menschen und Dingen als gesellschaftliche betrachten wollen. Wenn Wissenschaftler Dinge entdecken? Wenn ein Mensch ein Ding wahrnimmt, aufmerksam betrachtet? Sich mit einem anderen über es streitet? Die Frage andersherum aufgerollt: Ab wann droht eine Entgrenzung des Gesellschaftsbegriffs? Die klassische Antwort würde von gesellschaftlichem Handeln erst dann sprechen, wenn die Menschen ihre Handlungen im Umgang mit dem Ding (wie vermittelt auch immer) aufeinander abstimmen. Latour aber schlägt (in Latour 2007b) eine Definition des Sozialen vor, die als Kriterium die Assoziationsbewegung, das Zusammenkommen, Zusammenbringen, Versammeln nimmt und nicht das bereits bestehende Assoziiertsein. Nicht jegliche Assoziation zwischen Dingen und Menschen ist sozial bzw. vergesellschaftend. Aber jede sich neu ereignende, jede versammelnde. Ein Beispiel sind neue wissenschaftliche Entdeckungen: Ein neuer Zusammenhang wird fest- bzw. hergestellt. Das Soziale besteht in der Bewegung der Vergesellschaftung; es ist das passagere Produkt von Vergesellschaftungen, Assoziationen, Versammlungen.239 Was die Dinge in diesen Assoziationen anbelangt, so sollte man vielleicht unterscheiden zwischen der anthropologisch konstitutiven Rolle der Dinge und Nicht-Menschen für das Menschsein einerseits (der Mensch als Dinge und Werkzeuge herstellendes, gebrauchendes und auf sie angewiesenes Wesen240) und ihrer assoziativen Rolle im gesellschaftlichen Miteinander andererseits. Man könnte die Problematik auch folgendermaßen formulieren:241 Es lassen sich in der Techniksoziologie zwei Erklärungsstrategien beim Umgang mit tech-

238 Zu dieser Nähe und einigen interessanten Querverbindungen siehe Groß 2006, S. 173, Anm. 30. 239 Was prinzipiell ja keine Erweiterung oder Vergrößerung der Gesellschaft bedeuten muß; dieses Soziale könnte man sich als ein ähnlich pulsierendes Etwas wie die aus Kommunikationen bestehende Gesellschaft bei Luhmann vorstellen. 240 Vgl. Schulz-Schaeffer 2008b, S. 130 ff. 241 Sie ist auf verschiedene Weise formuliert worden. Ich stütze mich hier auf Lorenz (2008, S. 581, Anm. 2), wobei ich seinen Gedankengang in meinen Worten wiedergebe.

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nischen Objekten bzw. Netzwerken unterscheiden. Die eine, klassische, hält an der voraussetzungsreichen Definition sozialer Akteure – Menschen mit gewissen Eigenschaften wie Intentionalität etc. – fest und hat dann das Problem, wie die technischen Objekte oder Netzwerke, da nicht mit diesen Eigenschaften versehen, mit ersteren in Beziehung, in Wechselwirkung gebracht werden können. Eine gängige Lösung besteht darin, materielle oder physikalisch definierte Dinge mit sozialen Bedeutungen aufzuladen. Die andere begriffliche Strategie besteht darin, den Akteurs- oder Subjektbegriff auszuweiten und von einem anspruchsloseren Begriff sozialer Akteure auszugehen. Dann handelt man sich zwar das Problem ein, wie man anspruchsvollere Akteure bzw. Subjekte von den anderen abhebt bzw. ab wann man sie in die Erklärung einbezieht. Aber das Problem läßt sich dadurch lösen, daß die Sozialfähigkeiten der menschlichen oder nichtmenschlichen Akteure – die „Qualifizierungskriterien für unterschiedliche Akteure“ (Lorenz 2008, S. 581) – unterschiedlich verteilt werden, juristisch anders als moralisch, Geschäftsfähigkeit anders als Stellvertretungsfähigkeit.242 Auch kann man immer anspruchsvollere Kompetenzen von Akteuren definieren und differenzieren nach kausaler, aktantieller, auktorialer, politischer, juristischer und moralischer Verantwortlichkeit. Weiterhin spricht ein logisches Argument dafür, Assoziation einerseits weit, andererseits als aktualisierte Beziehung zu verstehen. Sobald ich als Soziologe die Assoziation eines Menschen mit einem Ding beobachte, wahrnehme, betrachte,243 wird die Frage der Abrenzung, ab wann ich die Beziehung als Assoziation (und nicht als bloße Wechselwirkung, Wechselbeziehung) bezeichne, müßig, da wir ja nun schon zwei Menschen sind, die zu einem Ding in Relation stehen (der Soziologe und der mit einem Ding assoziierte Mit-Mensch). Zum anderen kann dies erforschende Beobachten zu einer neuen Definition des Sozialen führen: Denn ich, als beobachtender Forscher, stelle eine solche Assoziation her (durch die Konstatierung). Wie fruchtbar, interessant, sinnvoll das jeweils ist, hängt vom konkreten Fall ab (vgl. oben unter 2.2 „Zuschnitt der Akteure“ und S. 136 f.). Demnach läßt sich also die Frage, ob man die Interaktion, die Gruppierung irgendwelcher Dinge (in der Welt, im Universum) als Gesellschaft bezeichnen darf oder soll, unterscheiden von einer Einbeziehung der Dinge in die Gesellschaft, die über Assoziierungen von Menschen und Dingen verläuft. Dabei müs-

242 S.o. in Kap. 2.2 die Argumentation zu elektronischen Agenten und Tierrechten. 243 Latour gibt eine geradezu auf der Differenz beruhende Erklärung in Latour 2007b, S. 129: Eine kollektive Handlung bzw. Aktion ist eine solche, „die verschiedene Typen von Kräften versammelt, die zusammengewoben werden, weil sie verschieden sind“.

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sen die Menschen nicht notwendigerweise die Subjekte der Vergesellschaftung sein. Hier gibt es, grob gesagt, zwei Forschungsperspektiven: Die eine hält die Frage für fruchtbar, wie sich der „Kernbereich“ des Sozialen gegen das, was keine Gesellschaft ist, abgrenzen läßt bzw. wie es in verschiedenen Gesellschaften abgegrenzt wird; die andere fragt, wie Soziales und Nicht-Soziales Verbindungen eingehen, wodurch sich das Soziale erweitert oder gar neu konstituiert.244 Vermutlich läßt sich in diesem Zusammenhang der Zirkel, daß man einen Begriff von Gesellschaft haben muß, um gesellschaftlich relevante Dinge berücksichtigen zu können, als hermeneutischer Zirkel auflösen. Auch in der klassischen Soziologie hat man einen Vorbegriff von Gesellschaft, bevor man mit der Soziologie und den soziologischen Definitionen von Gesellschaft beginnt. Ja, man kann sogar Soziologie betreiben, ohne einen elaborierten Begriff von Gesellschaft zu haben. Auch Max Webers Soziologie ist in mehrfacher Hinsicht „eine Soziologie ohne ‚Gesellschaft‘“ (Tyrell 1994).

Netzwerk als Methode In ihrer vorläufig letzten Version245 präsentiert sich die ANT vornehmlich als Methode: weniger eine Theorie über die soziale Welt, als vielmehr eine Methode, um mit der sozialen Welt in wohldefinierten Untersuchungen klar zu kommen.246 Gewiß, die Grenzen zwischen dem, was Latour Methode, und dem, was er eine „netzwerkige“ Ontologie nennt,247 verschwimmen. Und auch Methode heißt zunächst: den sozialen Akteuren auf der Spur bleiben – wie machen wir das, wie zeichnen wir ihre Bahnen, Handlungen, Aktionen auf bzw. nach? Dennoch ist jedes Nachzeichnen auch ein Registrieren, Aufweisen, Begleiten und schließlich auch: Vorzeichnen,248 ein Bahnen neuer Wege, und sei es nur

244 Vgl. zur ersten Perspektive Lindemann 2002, S. 56 ff., zur zweiten Schillmeier/Heinlein 2009, Schillmeier 2009. 245 Latour 2005a, dt.: Latour 2007b. 246 In Latour 1996e wird die methodologische Seite der (Akteur-)Netzwerke unterschieden von einer semiotischen und einer ontologischen. Trotz der zunehmenden Betonung des Methodologischen bleibt zumindest die ontologische weiterhin aktuell. Vgl. Latour 2007b, S. 225 f. 247 ANT ist unter anderem „an ontological claim on the ‚networky‘ character of actants themselves“, Latour 1996e, S. 373. 248 To trace (frz.: tracer) bewahrt natürlich einen Verweis auf das Substantiv trace (Spur) auf. Ich habe es (in Latour 2007b) in der Regel mit „aufzeichnen“, manchmal auch mit „nachzeichnen“ und „vorzeichnen“ übersetzt. Selbstverständlich haben die beiden letzteren Komposita unterschiedliche Bedeutungen, aber Latour spielt mit diesem

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neuer Beschreibungs- und Darstellungswege. Die Leserin, der Adressat des soziologischen Berichts folgt einer Bewegung, die dem Autor, der Forscherin lohnenswert, aufschlußreich, fruchtbar erschien. (Das hat neben der methodischen eine inhaltliche Seite: Was sind die relevanten, die interessanten Netzwerke?) 249 Dies Verfolgen einer Bewegung ist natürlich nicht identisch mit den Übersetzungen, Vermittlungen, die es beschreibt, sondern ist deren Übersetzung, Vermittlung (durch das forschende Akteurnetzwerk) für die den Bericht Verfolgenden, das Fachpublikum, die Öffentlichkeit. Dennoch weckt es zumindest Interesse für das, dessen Vermittlung, Übersetzung es ist.

Wandel durch Übersetzung Hier läßt sich ein kurzer Exkurs zum Übersetzungsbegriff einfügen, sofern er die Assoziierung neuer Entitäten an bereits bestehende Assoziationen (bzw. Akteurnetzwerke) betrifft.250 Wenn Handlungen oder Normen an Dinge delegiert werden, wandelt sich damit die an Dinge delegierte Tätigkeit, die in Dingen inkorporierte Norm. Die Delegation an Dinge verändert das Delegierte. Am Beispiel des Berliner Schlüssels wurde deutlich, daß die jeweilige Vermittlung, die unterschiedliche Verkörperung, die Übersetzung der Norm (des Gebots etc.) in das spezifische Material oder Medium zählen. Die Vermittlungen übersetzen das, was sie vermitteln, und jede Übersetzung ist eine Interpretation, ja eine partielle Neuschöpfung. Wir haben es zu tun mit einem, wenn man so sagen darf, strukturellen Merkmal der Assoziationen zwischen Menschen und Dingen, bzw. von Akteurnetzwerken. Der Begriff der Übersetzung scheint mir andere Implikationen als die „Interaktion“ zu haben. Der Interaktionsbegriff stammt aus der intersubjektiven Interaktion, das heißt dem Hin und Her der Aktion zwischen den Beteiligten; entsprechend richtet sich im Falle von Dingen und technischen Objekten die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen zwischen Ding und Mensch. Aber bei ding-

mehrfachen Sinn, so etwa, wenn es um die erst noch in Arbeit befindliche Versammlung des Kollektivs geht. 249 Das weist auch auf das bekannte Problem hin, daß die Gesellschaft nicht ein bloßes Objekt sein kann für Sozialwissenschaftler, sondern ein „unmögliches Objekt“ ist (Marchart 2014). 250 Übersetzung kann in mancher Hinsicht auch den zu vagen Begriff des Einflusses ersetzen. Vieles von dem, was bislang als Einfluß, Prägung etc. gedacht wurde, wird so präziser benannt und empirisch verfolgbar. Ressourcen sind „Gelegenheiten. Sie werden in dem Prozeß geformt, in dem sie zu Ressourcen werden – im Unterschied zu kausalen Einflüssen.“ (Wise 2001, S. 75 f.).

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lich-menschlichen Handlungsketten, Assoziationen, Akteurnetzwerken haben wir in der Regel mehr als eine Schnittstelle. Interagiere ich mit dem Stift beim Schreiben? Kaum, es sei denn, er bereitet mir Probleme. Eher interagiere ich mit dem Papier (mittels des Stifts), oder mit dem Text (mittels Stift und Papier), oder mit dem Adressaten oder Publikum, an den mein (mittels Stift und Papier bzw. Tastatur, Textverarbeitung und Bildschirm geschriebener) Text gerichtet ist. Hier von Interaktion zu sprechen, erscheint mir zu unspezifisch. Zwar spricht man typischerweise von Interaktion, wenn man die jeweils neuesten Technologien meint, mit denen in der Tat ein wechselweises Abstimmen, Interagieren häufig vorkommt. Aber sobald die Geräte, Maschinen vertraut sind, verschmilzt man mit ihnen in einer Aktion, die mit etwas anderem interagiert, also ich, der ich schreibe, mit den Lesenden bzw. dem Publikum. Zwischen den einzelnen Schritten, Akten, Aktanten, an den verschiedenen Schnittstellen erfolgen Übersetzungen. Die Interaktions-Terminologie thematisiert nahezu ausschließlich die Schnittstelle Mensch/Maschine oder Mensch/Ding. Bleibt man dabei stehen, dann geht beispielsweise verloren, daß ich mir beim Schreiben das Interface zum Computer zurechne (ich bin mit dem Text auf dem Bildschirm befaßt, nicht mit der Tastatur251 ). Ein ähnliches Phänomen thematisiert Ihde (1998, S. 85) als erweiterte Verkörperung („extended embodiment“), wie sie beispielsweise bei Kontaktlinsen oder zuhandenen Werkzeugen gegeben ist, während bei anderen Dingen, insbesondere bild- und texttragenden Medien, von einer distanzierteren „hermeneutischen Beziehung“ auszugehen sei. Zwar diskutiert Ihde die verschwimmenden Grenzen, glaubt aber, es gäbe ein objektives Kriterium in den Technologien selbst, das sie uns der einen oder anderen Beziehungsklasse zuordnen ließe, entweder der erweiterten Verkörperung: ich mitsamt dem technischen Artefakt stehe der Welt gegenüber – „(I-technology) ----> World“ –; oder der hermeneutischen Beziehung: ich stehe dem technischen Artefakt mitsamt der Welt gegenüber – „I ----> (technology-world)“.252 In meinen Augen gibt es aber kein intrinsisches Kriterium, sondern die Handlungskette wird nach Übung, Gewohnheit, Zuhandenenheit und Problemen an der ein oder anderen Schnittstelle unterschiedlich gegliedert. Mit der soeben skizzierten Begrifflichkeit artikulieren wir gewissermaßen von innen gesehene Akteurnetzwerke. Diese Handlungs- oder Aktionsketten sind das Interessante, mitsamt allen ihren Akten, mitsamt den Übersetzungen von einem Akt zum anderen, und auf sie

251 Das vermerkt auch Verbeek (2000, S. 292) als Illustration zur Heideggerschen Zuhandenheit, ohne aber die Verkettung mehrerer Vermittler zu berücksichtigen. 252 Ihde 1998, S. 85; ausführlicher Ihde 1990, S. 72 ff.

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hebt die Rede von Akteurnetzwerken, die Assoziationsperspektive bzw. der aktantielle Handlungsbegriff ab. In anderer Hinsicht geht es um soziale Zurechnung und Verantwortlichkeit; und hier wiederum ist eher die Akteursbegrifflichkeit und damit auch die Perspektive der Interaktion angemessen.

Das Ding als Versammlung und zugleich Ding Man könnte sich nun noch der Frage zuwenden: Was aber ist mit „Dingen“ in diesen Assoziationen und Akteurnetzwerken gemeint? (Und unsere Überlegungen aus Kap. 1 zur Definition der Dinge erweitern.) Wenn Latour sich zu einer Definition des Dings genötigt sieht, schlägt er vor, es als thing, als Versammlung zu begreifen. Damit greift er auf den späten Heidegger zurück. Dieser revidiert seine am Handlungsvollzug orientierten Analysen der Gebrauchsdinge aus Sein und Zeit. Dinge begegnen nun253 nicht mehr in der Zuhandenheit, nicht mehr von den Daseinsvollzügen her, sondern es wird deutlich, „daß es eine Angewiesenheit auf die Dinge gibt, die nicht im Gebrauch aufgeht.“ (Figal 2006, S. 134). Ein solches Ding wird näher als thing, Versammlung bestimmt (Heidegger 1967, S. 46). Oder poetischer formuliert: Das Ding, genauer der Krug als beispielhaftes Ding, versammelt im „Geschenk des Gusses“ ein „Geviert“: „Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen“. Nicht alle Dinge versammeln allerdings dieses Geviert; Hammer und Sense beispielsweise nicht, wie Heidegger betont (ebd.). Das Ding läßt den Menschen in „Bezügen“ sein, „die sich weder der Sorge um sich noch dem eigenen Verhalten verdanken“ (Figal 2006, S. 134). Auf dieses Ding-Geviert Heideggers spielt Latour an, wenn er sagt, Dinge seien in der Lage, „Sterbliche und Unsterbliche, menschliche und nichtmenschliche Wesen zu versammeln“ (Latour 2005b, S. 33). Aber warum nur vier Bezüge? „Jedes technische Imbroglio zwingt uns, weit über vier Bestandteile hinaus zu zählen“ (Latour 2007a, S. 140). Dennoch lenke Heidegger die Untersuchung in die richtige Richtung, denn jedes Artefakt sei eine Form des Zusammensetzens, Versammelns, „Dingens“ von Entitäten, und es sei absurd, die Sterblichen, also die Menschen, sowie die Götter zu vergessen, wenn man ein Stück Hardware beschreibe, selbst ein hypermodernes.254

253 Ich denke hier vor allem an den Ding- (Heidegger 1967) und den Kunstwerkaufsatz (Heidegger 2003). 254 Vielleicht sollte man hinsichtlich der Götter oder „Göttlichen“ hier daran erinnern, daß Latour damit eine ethnologische, anthropologische Position einnimmt (s.o. 2.1), die sich stets für die gesamte Kosmologie einer Gesellschaft interessiert.

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Mit dem Geviert, Gefünft … des Dings läßt sich dann etwa der Bezug des Dings zu dem oder den Menschen von anderen Bezügen unterscheiden, in denen es steht. Auch läßt sich auf der Subjekt- oder Menschenseite differenzieren zwischen Erkennendem, Betrachter, Nutzer, Produzenten, Bewußtsein, „Sterblichen“, „Göttlichen“, Autoren, Patenteinhabern, Rechteinhabern. Das impliziert nicht immer denselben Bezug zum Ding noch dasselbe Subjekt. Seine Vorstellung vom Ding als Versammlung illustriert Latour mit Dingen aus „Wissenschaft, Technik, Handel, Industrie und Populärkultur“, mit „Supermarktgängen, Finanzinstitutionen, medizinischen Einrichtungen, Computernetzwerken“ und dem „Laufsteg von Modeschauen“ (Latour 2005b, S. 33). 255 Die versammelnde Natur solcher Dingarrangements, Dingassemblagen ist natürlich keineswegs konsensuell zu verstehen. Denn Dinge oder Sachen sind in mancher Hinsicht auch „Streitsachen“ (ebd., S. 32) und können so zu öffentlichen Sachen werden. Auch Heidegger erläutert seine Bestimmung vom Ding als thing und Versammlung durch die „Verhandlung einer in Rede stehenden Angelegenheit, eines Streitfalls.“256 Neue Technologien implizieren in der Regel neue technische Objekte, deren Dinghaftigkeit und Eignung, als Streitsache zu dienen, an Beispielen wie Kohlenstoffnanoröhren, genmanipulierten Pflanzen, RFID-Transpondern deutlich wird. Diese Dinge leisten einen Beitrag zur Definition und Ordnung des Sozialen (und so auch zu dessen Stabilisierung). Man könnte weiterhin an die versammelnde Natur von gleichfalls oft strittigen Kunstwerken – ob Bildern, Skulpturen, Filmen, Aufführungen – erinnern. Der Versammlungsbegriff könnte den soziologischen Situationsbegriff ergänzen, denn dieser ist allzu oft dualistisch gedacht: Auf dem Hintergrund naturgegebener Zwänge (constraints) definieren die Sozialakteure kontingent die soziale Situation. Versammlung ist demgegenüber, könnte man sagen, ein nichtdualistischer, ein pluralistischer Situationsbegriff, denn hier gehen dingliche, stoffliche, menschliche, ökonomische und andere Situationsbestandteile zu einem neuen Aggregat zusammen.

255 Man kann Latour kaum als Heideggerianer bezeichnen, viele von dessen Gedanken macht er nicht mit: nicht die Seinsvergessenheit noch den emphatischen Seinsbezug, nicht die Analyse der Technik auf dem Weg über das Gestell oder die Uneigentlichkeit des Man. Seine Beispiele können Heideggerianer nur schockieren (das sollen sie wohl auch); andererseits besteht, wie hier skizziert, durchaus eine Verbindung. Vgl. Kochan 2010, der das Verhältnis zwischen Latour und Heidegger kritisch zu beleuchten versucht, aber die explizit bestehende Verbindung über den Dingbegriff nicht einmal erwähnt. 256 Heidegger 1967, S. 47.

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Andere Dinge wiederum dienen (möglicherweise) dazu, um Tote (wieder) zu versammeln bzw. um Tote herum ihre überlebenden Mitmenschen, wie Grabund Denkmäler, wie Ton- und Bilddokumente, wie Texte, eine Funktion, der laut Kittler auch technische Medien wie das Grammophon nachkamen – neben ihren neuen nützlichen wie „Diktat aufzunehmen, Zeugnis vor Gericht abzulegen“.257 Aber Dinge können auch als Zeugen und „Materialakte“ an vergangene Konflikte und Gewalttaten erinnern (Rauer 2014). Bestimmt man Dinge mitsamt ihren Bezügen als Versammlungen, so droht allerdings ein Mißverständnis: das Dingliche an ihnen zu vergessen und sie auf bloße Knotenpunkte zu reduzieren, in denen Relationen zusammenlaufen. Dinge stehen da, stehen entgegen, stehen über, stören, wenn wir glauben, mit ihnen fertig zu sein. Sie bleiben. Hier sei noch einmal daran erinnert, daß die eigene agency von Dingen, etwa die von Gebrauchsdingen wie Stühlen, Stiften und Straßen, auch darin besteht, daß sie beharren.258 Dinge sind zeitbindend. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, versperren sie Wege, Bewegungen, Wohnungen (zuletzt als Sperr-Müll). Dieses ihr Dauern, Beharren wird nicht dadurch abgewertet, daß man ihnen von einem Augenblick auf den anderen die menschliche Zuwendung, soziale Aktualisierung entziehen kann. Oder daß man sie zerstören, vernichten kann (aber selbst das braucht Zeit). Gesellschaftlich in Existenz gebrachte Dinge können nicht benutzt, können gelagert, vergessen und irgendwann wieder in Gebrauch und Erinnerung kommen. Oder eben im Gegenteil nur teilweise verwirklicht worden sein. Wenn man an das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Dingen, also etwa realisierten Kunstwerken, verwirklichten Bauprojekten denkt, gibt es selten, wenn überhaupt, ein Alles oder Nichts. Der Schweizer Brückenbauer Robert Maillart (1872-1940) war zu Lebzeiten verkannt. Das heißt aber nicht, daß keine von ihm entworfene Brücke existiert; vielmehr konnte er seine Entwürfe am reinsten nur in abgelegenen Tälern verwirklichen, während in der Hauptstadt Bern „seine schwebende Konstruktion aus ‚ästhetischen Gründen‘ mit Granitsteinen eingesargt“ wurde (Giedion 1960, S. 47). Man kann hier auf das nicht Verflüssigbare an Dingen verweisen: auf ihr beharrendes Bleiben, ihre Konturiertheit, ihre Gegenständlichkeit (Figal), ihr Versammlungsvermögen (Latour, Heidegger), ihre Ding-Identität (Hegel), ihre Ei-

257 So Edison 1887, zit. nach Kittler 1986, S. 122. 258 Das ist keine emphatische Aktivität. Wenn überhaupt eine, ist sie benachbart dem Dulden im „Tun, Unterlassen oder Dulden“, von dem Weber beim menschlichen Handeln spricht (Weber 1985, S. 1).

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gensinnigkeit (Whitehead)259; sie heben sich ab, stehen als Gegenstand, Eigenständiges hervor gegenüber den Lebensvollzügen und den Bewußtseins- und Handlungsvollzügen der Menschen. Heißt das aber schon, Dinge nach dem Substanzmodell zu verstehen? Manchem erscheint der traditionelle Dingbegriff substantialistisch, das heißt nach der Substanz gemodelt.

Kurzer Exkurs zum Substanzbegriff Üblicherweise definiert sich eine Substanz „im Kontrast zu Qualitäten, Akzidentien und Relationen“ (Harman 2009, S. 16). Als Substanz einer Entität gilt dasjenige, was gleich bleibt, auch wenn diese sich hinsichtlich mancher Eigenschaften, zufälliger Begleitumstände oder Beziehungen, in denen sie steht, ändert. Insofern verwundert es nicht, daß manchmal Dinge herangezogen wurden, um zu erläutern, was man unter Substanz bzw. unter wesentlichen im Unterschied zu akzidentiellen Eigenschaften versteht: Die Farbe eines Stuhls kann abblättern, kann geändert werden, er kann mit einer neuen Rückenlehne versehen werden, ohne daß er aufhört, ein Stuhl zu sein. Andererseits wird bisweilen dem Substanzbegriff eine zu starke Orientierung an greifbaren Dingen vorgeworfen oder seine Beschränkung „auf den Bereich toter Materie“ in Frage gestellt (Stegmaier 1977, S. 27).260 Umgekehrt hat man am üblichen Dingbegriff kritisiert, daß er an einem metaphysischen Substanzmodell sich orientiert, wenn das Ding vornehmlich als feststehende Entität mit teils wesentlichen, teils unwesentlichen Eigenschaften oder als Träger von Eigenschaften verstanden wird (Schmitz 1990, S. 36 f.).261 Aber sowohl der Ding- als auch der Substanzbegriff erweisen sich als komplexer, als es die wechselseitigen Anleihen oder Kritiken jeweils vermuten lassen. Zum Dingbegriff habe ich im Laufe dieser Arbeit einige Erweiterungen bei-

259 In Whitehead 1988, S. 13, ist die Rede von „widerspenstigen, eigenwilligen Tatsachen“. 260 Luhmann kritisiert mit dem „Dingschema“ oder „Dingbegriff“ einen am Ding abgeschauten Substanzbegriff, der dann etwa auf die Seele oder res cogitans übertragen wird (Luhmann 1987, S. 348 f.). 261 Eine Kritik, der ich mich anschließe. Hermann Schmitz kritisiert die üblichen Wahrnehmungstheorien als sensualistischen Reduktionismus, insbesondere die Vorstellung vom Ding als einer Substanz mit ihren Eigenschaften. „Das in Europa seit Demokrit dominante, aber erst seit der Aufklärung und dem Ende der romantischen Naturphilosophie endgültig siegreiche Leitbild ist das des festen Körpers im zentralen Gesichtsfeld, aber auch nicht so, wie er sich als Ding in der Wahrnehmung voll präsentiert, sondern degeneriert zum Gerüst der von der sensualistischen Reduktion zugelassenen Merkmale, oder auch zu deren etwas mysteriösem ‚Träger‘.“ (Schmitz 1990, S. 36)

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getragen. Aus der Geschichte des Substanzbegriffs262 wiederum geht hervor, daß das Pendant der Substanz im Griechischen ousia lautet, also Seiendes; erst als Aristoteles dieses genauer zu bestimmen versucht, taucht das Wort „hypokeimenon“, das Zugrundeliegende, auf, was mehr oder weniger als Entsprechung von Substanz gilt.263 Mit dem Substanzbegriff stellt sich sogleich die Überlegung ein, daß manches Seiende seiender als anderes ist, so daß Substanz schon von Anfang an Gradunterschiede aufweist, hin zum reineren Seienden, meist dem Denken oder der Seele, und hin zum höchsten Seienden, meist Gott (bzw. die Natur). Daß dem Ding in der Ontologie ein übermäßiger Vorrang eingeräumt würde, wie es manchmal heißt,264 erweist sich bei näherem Hinsehen also als gar nicht so zutreffend. Aristoteles orientiert sich vornehmlich nicht an Dingen, sondern an Lebewesen bzw. dem Menschen, um seinen Substanzbegriff zu entwickeln, sowie schließlich am Denken (nous); auch für Descartes ist das Denken eine Substanz bzw. die denkende Substanz (res cogitans) ist für ihn das Modell einer Substanz, die laut seiner berühmten Definition „keines andern zum Bestehen bedarf“ .265 Whitehead kritisiert am herkömmlichen Substanzbegriff, daß die Substanz als vollkommen selbständige Entität definiert wird. Für ihn gibt es dagegen nichts, was nicht eines anderen zu seinem Bestehen bedarf. Daraus folgt aber nicht, daß es keine Dinge oder Entitäten gibt, sich alles in Relationen auflöst, sondern daß die Relationen wichtig, um nicht zu sagen wesentlich sind, damit etwas ist, was auch immer es sei. Ähnlich kann man auch bei Latour nicht sagen, er löse alle Entitäten oder Akteure in ihre Relationen auf, sondern daß diese jene mit-definieren.266 Ohnehin faßt der Substanzbegriff des Descartes das Subjekt (bzw. die res cogitans) als eine seiner grundlegenden Substanzen; und in dieser Form ist er ja nach wie vor in vielen Diskursen in Geltung. Daß nur das menschliche Subjekt als Substanz gilt, dem Selbständigkeit im emphatischen Sinne zukommt, allem übrigen dagegen nur die Eigenschaft, ausgedehnt, materiell, natural, Gegenstand

262 Ich orientiere mich hier an Stegmaier 1977. Vgl. auch Ritter/Gründer 1998, s.v. „Substanz; Substanz/Akzidenz“. 263 Aber auch von Substrat und Subjekt, siehe Ritter/Gründer 1998, Sp. 373 und 557. Dabei ist hypokeimenon vs. symbebekota (Akzidentien) nur eines der Begriffspaare, um die Substanz oder das Sein des Seienden zu fassen, ein weiteres lautet hyle und morphe (Stoff und Wesensform). 264 Böhme 1995, S. 158. 265 Zitiert nach Stegmaier 1977, S. 120. 266 S.o. Anm. 226.

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(Objekt) für dieses Subjekt zu sein, charakterisiert ja gerade den von mir (in Kap. 2.1) kritisierten Dualismus. Ob man nun den Substanzbegriff in irgendeiner Form aktualisieren, pluralisieren oder dynamisieren sollte oder könnte, will ich hier nicht ausführlich erörtern. Balke (2008, S. 273 ff.) verweist darauf, daß die neuere Wissenschaftsforschung eine „Funktionsstelle“ für den Begriff der Substanz vorsieht, wie etwa Latour (1996c), für den im Labor „neu auftauchende Entitäten“ nach und nach „‚substantialisiert‘ und dauerhaft und nachhaltig gemacht werden“. Latour votiert für die prozeßhafter gedachte „Subsistenz“ anstelle der Substanz,267 und Whitehead pluralisiert den modernen Substanzbegriff, nämlich das Subjekt, indem er ihn auf alle möglichen Entitäten ausdehnt. Eine ausführlichere Erörterung würde, wie gesagt, zu weit führen. Ohnehin geht es mir hier darum, den Dingbegriff, und nicht den Substanzbegriff zu rehabilitieren. Man könnte natürlich einwenden, der Dingbegriff sei im Grunde ein Substanzbegriff und umgekehrt. Ich hoffe, daß aus dem Vorstehenden sowie aus dieser Arbeit die Differenz beider hervorgeht, auch wenn beide manchmal identifiziert werden.268

Dinge als wahrnehmbar oder agierend Gesucht ist also ein nicht-substantialistischer Dingbegriff, der aber dennoch so etwas wie Dinglichkeit trifft. Wahrnehmung ist der Kanal (oder die Bewußtseinsform), über den physisch-haptische Dinge prototypisch erfahren werden. Das heißt aber nicht, daß man sich nicht auch durch Denken oder Sprechen auf Dinge beziehen, diese im Denken oder Sprechen darstellen oder beschreiben könnte. So wie Dinge in der Wahrnehmung multimodal erfahren werden, werden sie es darüber hinausgehend erst recht. Auch wenn wir denken müssen, kognitive Schemata oder Begriffe einsetzen müssen, um Dinge zu erfassen, sind sie deswegen nicht auf kognitive Schemata oder Begriffe reduzierbar. Manches wird empirisch erfaßt, anderes gedanklich erschlossen. Weder ein wahrgenommenes Ding noch ein wissenschaftliches Objekt sind „im Grunde“ ein bloßes Phänomen für ein Erkenntnissubjekt oder ein bloßes Konstrukt unseres Hirns. Vielleicht ließe sich hier noch die (in pragmatistischer Perspektive etwas ketzerische) Anmerkung anbringen, daß man die Dinge, wenn man sie aus-

267 Grundsätzlicher zum Thema Subsistenz und Persistenz vs. Substanz und Substrat siehe Latour 2008c, S. 16 f. 268 Wie es mir in Cassirers berühmtem Text zu Substanz- und Funktionsbegriff der Fall zu sein scheint (Cassirer 2000).

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schließlich vom Handeln her angeht, verfehlt; genauer, wenn sie sich auflösen in ihre Funktionalität in Handlungen oder in Momente von Handlungsvollzügen.269 Die Zuhandenheit Heideggers enthält, wie gesagt, ebenfalls diese nutzerzentrierte Verzerrung, auch wenn der Nutzer hier als „Dasein“ gefaßt wird (Straße ist das, was zum Gehen, Hammer das, was zum Hämmern da ist). Doch womöglich muß man einen Schritt zurücktreten; vielleicht braucht es Abstand vom Handeln, braucht es eine betrachtende, wahrnehmende oder theoretische Haltung (theoria = Schau, Betrachtung), um Dinge, ich meine jetzt auch physisch-haptische, als Dinge überhaupt in den Blick zu bekommen. „Als das, was einfach nur da ist, kommen die Dinge meist nicht zur Geltung, sondern werden von den Vollzügen in denen sie stehen, verdeckt“ (Figal 2006, S. 132). Dinge kommen oft erst durch Darstellungen zum Vorschein und ins Bewußtsein, wobei vornehmlich an künstlerische Darstellungen zu denken ist (man könnte überlegen, ob sich diese Argumentation auch auf wissenschaftliche Darstellungen ausweiten läßt).270 Vom Kontrast zwischen Handlungsvollzug und Ding her gesehen, erscheint der theoretische Schachzug Latours, Dinge als Aktanten bzw. Akteure zu bestimmen, noch einmal in einem anderen Licht. Damit Dinge nicht reduziert werden auf bloße Momente in menschlichen Aktionen oder Praktiken, auf das von Menschen Angezielte, Aktualisierte, Produzierte, das vom menschlichen Bewußtsein Wahrgenommene oder Vorgestellte, macht man sie selbst zu Aktionszentren. Auch Menschen werden von Dingen angezielt, menschliches Bewußtsein und Handeln von ihnen hervorgebracht, hervorgelockt oder aktualisiert. So ließe sich die pragmatistische Perspektive retten, ohne Dinge zu erniedrigen zu bloßen Anhängseln von menschlichem Tun. Vom Ding als passivem Handlungsobjekt oder funktionalem Werkzeug zum Ding in Aktion. Ausgehend vom Gegensatz des Dings als aktiver versus wahrnehmbarer Entität läßt sich ein erneuter und erneuerter Blick auf das Gegensatzpaar Zuhandenheit/Vorhandenheit bei Heidegger werfen. Denn wenn man die Zuhandenheit daraufhin befragt, was uns dieser Begriff über die Dinge, mit denen wir umgehen, sagt (und nicht im Hinblick auf eine Hermeneutik des Daseins), dann geht das Zuhandene nicht notwendigerweise in den Handlungsvollzügen des es benutzenden Menschen auf. Gerade das, was ein Werkzeug dienlich und zuhanden macht, macht sein Sein (oder Dasein) aus. Und genau dieses macht es

269 Wie im Handlungsregime des geplanten Handelns bei Thévenot zu Ende gedacht (vgl. oben Kap. 2.2). 270 Zur Darstellung des Gegenständlichen s. Figal 2006, S. 135 ff.

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auch unauffällig, unscheinbar.271 Das läßt sich verallgemeinern: Nur wenn das Werkzeug defekt, fehl am Platz ist, springt die Zuhandenheit in Vorhandenheit um. Das zuhandene Zeug entzieht sich beim Versuch, es wahrnehmend oder vergegenwärtigend festzuhalten, wahrnehmbar ist es nur in seiner Vorhandenheit. Je mehr ich ein Werkzeug wahrnehme, analysiere, erkenne, auseinandernehme, desto weniger erfasse ich es in seiner Zuhandenheit, in seinem Werkzeug-Sein, welches nur im Gebrauch zu erfahren ist, und je mehr ich es gebrauchen kann, desto weniger nehme ich es wahr. Dieser Umsprung, dieses Vexierbild im Herzen der Dinge ist ein Gedanke, den Harman (2002) in vielen Variationen herausarbeitet. Dabei unterzieht er das Heideggersche Begriffspaar einer radikalen Neuinterpretation, indem er es auf alle Entitäten ausweitet, wie Pipelines, Bäume, Hitze (ebd., S. 46 f.), und dabei die Verschränkung der Zuhandenheit mit Praxis, Handlungsvollzug und der Vorhandenheit mit Theorie, Kontemplation löst. Das Spannungsverhältnis zwischen Zu- und Vorhandenheit spitzt sich im Kunstwerk zu, da dieses uns gewissermaßen dazu zwingt, es wahrzunehmen. Insofern ist es kein Zufall, wenn Heidegger anhand des Kunstwerks seinen Dingbegriff aus Sein und Zeit korrigiert. Denn nun, im Kunstwerkaufsatz (Heidegger 2003), setzt er nicht mehr an Werk-, Schreib- oder Fahrzeugen an, sondern bestimmt vom Kunstwerk her nicht nur, was Ding, sondern auch, was Zeug ist, er geht also vom ontologisch komplexesten der drei aus. Ein Kunstwerk ist auch ein Ding und in gewisser Hinsicht auch ein Zeug, da handwerklich hergestellt. Aber das Kunstwerk ist mehr: ereignishaft und wahrheitsmächtig.272 Gleichwohl findet sich im Kunstwerk ein Rudiment der Zu/Vorhandenheit, und zwar im „Streit“ zwischen „Welt und Erde“ (ebd., S. 35), zwischen Entbergung und Verbergung.273 Auch finden wir hier die Wahrnehmung als Modus, in dem die Dinge gegeben sind, wieder, allerdings in einer mehr ontologisch gefaßten Formulierung (sich zeigen, sich verbergen). Das vom Kunstwerk Gesagte kann dann auch wieder für das Ding gelten, zumindest für

271 Heidegger bestimmt die Zuhandenheit geradezu als Normalform, als „An-sich-sein“ der Gebrauchsgegenstände: Heidegger 1979, S. 69. Das zuhandene Zeug hat in seiner Verwendung die Eigentümlichkeit, „sich gleichsam zurückzuziehen“ (ebd.). 272 Ereignis: Heidegger 2003, S. 53. Wahrheit: ebd., S 49. Das kann ich hier nicht weiter verfolgen, ohnehin verläßt diese, wenn auch nur kurze, Abschweifung zum Kunstwerk meinen Gedankengang; damit werden zumindest an einem Punkt Kunstwerke ein wenig weiter erörtert, die ich sonst zwar im Prinzip mitgedacht (und manchmal aufgezählt), aber nicht explizit behandelt habe. 273 Vgl. dazu auch Harman 2002, S. 189 ff.

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manche Dinge wie den Krug. Denn der Streit zwischen Welt und Erde im Kunstwerk ist eine erste Fassung dessen, was später zum „Geviert“ von Himmel und Erde, von Göttlichen und Sterblichen wird (Jähnig 1989, S. 233). Wenn Dinge nicht nur Versammlungen (von vielfachen Bezügen) sind, sondern auch das, was zum Versammeln bringt, „das, was zwingt, sich um es zu versammeln“ (Latour 2008a, S. 185), dann fallen Kunstwerke, die man nur betrachtet, auch bzw. erst recht unter diese Definition.

Dinge als Konturierer und Konstituierer von Gesellschaft Ich will nun abschließend ein kurzes Resümee dieses Kapitels ziehen. Von den drei Resozialisierungsprogrammen für Dinge – durch Handeln, Normativität und Assoziation – ist, wie bereits gesagt, letzteres das allgemeinste und anspruchsloseste. Aber der weite Gesellschaftsbegriff oder Begriff des Sozialen, den es formuliert, hat auch seine Vorteile; er hebt keinen ontologischen Graben aus zwischen verschieden komplexen sozialen Akteuren (einerseits menschliche Individuen, andererseits Automaten, Krankheitsviren, heterogene oder kollektive Akteure, staatliche Behörden, Institutionen, Organisationen, soziale Bewegungen, kollektives Verhalten). Die Nachteile des weiten Gesellschaftsbegriffs lassen sich ausgleichen durch weitere Differenzierungen, indem man zusätzliche Anforderungen an soziale Beziehungen formuliert, die eher methodologisch gedacht sind denn als Wesensmerkmale des Sozialen oder der Gesellschaft. Ausgehend von Assoziation über Normativität bis zu sozialem Handeln kann man (quasi rückwärtsgehend in diesem 2. Kapitel) von zunehmend komplexeren oder voraussetzungsreicheren Sozialbeziehungen sprechen, und man kann, wenn man will, die Reihe mit noch anspruchsvolleren Voraussetzungen für soziale Akteure fortsetzen, zum Beispiel Reflexivität, wechselseitige Anerkennung, anspruchsvolle Kognition, Rationalität, Subjektivität etc. Ich plädiere damit für eine, sagen wir: abgestufte Sozialontologie, oder vielmehr für abgestufte Anforderungen an soziale Akteure und Sachverhalte, die sich durch verschiedene soziologische Grundbegriffe ergeben, ohne diese sogleich zum Kern oder Ausgangspunkt einer Sozialontologie zu machen. Als generelle Erkenntnis dieses 2. Kapitels ist festzuhalten, daß auch über das Zwischenreich der Quasi-Objekte und maßstabgebenden Dinge gesellschaftliche Veränderungen und Gesellschaftsneudefinitionen erfolgen, also über Entitäten, die nicht sozial, intentional, normativ im engeren Sinne sind bzw. die Sozialität

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einer Gesellschaft sui generis unterlaufen. Das steht quer zu einem vertrauteren Gedankengang. Klassisch ist das Argument von der gesellschaftlichen Vermitteltheit, Konstituiertheit und Konturiertheit der Dinge. Daß man Dinge auch ihrerseits als Vermittler, Konstituierer und Konturierer von Gesellschaft betrachten kann, ist ein zunächst gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Keinesfalls sollte er dualistisch verstanden werden, nach einer subtraktiven Logik. Die Dinge sind nicht Gewinner in einem Nullsummenspiel, sind nicht die einzigen Vermittler, Konturierer und Konstituierer von Gesellschaft. Daß Dinge Vermittler von Gesellschaft sind, würden viele unterschreiben, wenn man sofort hinzusetzte: Natürlich sind die Dinge ihrerseits wieder gesellschaftlich vermittelt … Das wäre zwar nicht ganz falsch, dennoch führt dieses scheinbar dialektische Hin und Her meist nur dazu, letztlich den Primat der Gesellschaft, das heißt des Subjekts oder der Subjekte, über die Dinge zu sichern. Hier eine begriffliche Irreversibilität einzuziehen, ist Zweck der objektorientierten Begrifflichkeit,274 wie ich sie mit Quasi-Objekten, Grenzobjekten, Objektinstitutionen, Akteurnetzwerken, Assoziationen von Menschen und Dingen dargelegt habe. Daß jenes Schaukelspiel so insistiert und in jeder Diskussion über die soziale Handlungsmacht, Aktionsfähigkeit oder Relevanz der Dinge von neuem beginnt, hat mehrere Gründe. Ein erster ließe sich als sozialontologisch bezeichnen. Denn warum scheint die Einbeziehung der Dinge ein ganzes, über anderhalb Jahrhunderte mühsam errichtetes Gebäude, die Gesellschaft der Soziologie, zum Einsturz bringen zu können bzw. deren Grenzen aufzulösen? Weil das soziologische Gesellschaftsbild auf einer dualistischen Ontologie oder Metaphysik beruht, auf der „großen Trennung“ zwischen Gesellschaft und Natur, in der für die Dinge nur ein Platz vorgesehen ist: in der Natur. Ein zweiter Grund läßt sich als normativ charakterisieren: menschliche Normativität, den Primat der Ethik, der Moral nicht aufzugeben angesichts von Robotern, Gentechnik, „Sachzwängen“ etc. Hierher paßt das Schlagwort von der Verdinglichung (was soviel heißt wie die Zuspitzung des Primats der Normativität ins Grundsätzliche, Gesellschaftskritische). Dinge als Vermittler, Konturierer und Konstituierer von Gesellschaft zu betrachten erscheint deshalb als unge-

274 Mit diesem aus dem Bereich der Programmierung entlehnten Begriff bezeichnet Graham Harman ein Interesse an Dingen, Objekten, Entitäten, das nicht unbedingt identisch, aber doch verwandt mit einer realistischen Einstellung ist (Harman 2002). Ähnlich, aber nicht genauso, hebt auch Whitehead vom Unterschied zwischen Realismus und Idealismus einen zweiten, den zwischen Subjektivismus und Objektivismus, ab: Whitehead 1988, S. 111.

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wöhnlicher Gedanke, weil die kritische Soziologie gerade darin etwas Negatives, Ungebührliches, nämlich Verdinglichung sieht. Für sie ist es die Umkehrung des eigentlichen Verlaufs: Die Bewegung muß stets vom Menschen zu den Dingen verlaufen, und nicht umgekehrt. Sobald die Dinge nicht mehr dem Herrschaftsmodell des Homo faber oder Ego cogito unterstehen, wird Alarm geschlagen. Ding/Mensch, Ding/Relation, Ding/Prozeß sind die drei Gegensatzpaare, in denen dem nicht-dinglichen Pol die Wahrheit bzw. das eigentliche Sein zugesprochen wird. Daß über Ding- und Menschenanteile im Handeln, über Fragen der Verselbständigung gesellschaftlicher Prozesse per dingliche Realisierung gleichwohl diskutiert werden kann, ist nicht die Frage, aber eine solche Debatte verträgt keinen Generalverdacht gegen die Dinge (noch eine Generalamnestie). Ob er nun normativ-moralisch oder sozialontologisch-defensiv daherkommt: Es gibt keinen Primat des von sozialen (oder kommunikativen) Menschensubjekten gebildeten Sozialen. Eher sollte man den Begriff des Sozialen erweitern, lassen sich Dinge und Objekte zu wichtigen und aktiven sozialen Mitspielern oder Normträgern oder Assoziierten machen (und nicht bloß als Kausalagenten und Widerstände verstehen). Der hier vertretene Vorschlag lautet, den Gesellschaftsbegriff beizubehalten, aber zu erweitern, mit differenziert beschriebenen, zu analysierenden Akteuren, Dingen, Objektinstitutionen etc. Daß damit der Streit nicht aus der Welt geschafft ist, versteht sich von selbst. Aber er läßt sich vielleicht in soziologisch verbindlicherer Form austragen. Gemäß dem in der Einleitung skizzierten Plan wende ich mich nun einem anderen Bereich zu, wo die Dinge lange Zeit übersehen wurden: der Kognition und dem Denken mit (Hilfe von) Dingen. In gewisser Hinsicht geht es dabei auch um die Konstituierung von Sozialität durch Kognition. Als explizite Fragestellung komme ich darauf in Kap. 4.1 zu sprechen. In anderer Hinsicht haben wir es nun mit einer besonderen Sorte oder Klasse von (physisch-haptischen) Dingen zu tun, mit kognitiven Medien. Während ich mich in diesem zweiten Kapitel vor allem mit physisch-haptischen Dingen und technischen Objekten (und gelegentlich Kunstwerken) beschäftigt habe, sind die Dinge, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden, kognitive Mittler, Inskriptionen, unveränderliche Mobile und andere Vermittler intellektueller Technologien, sowie (am Rande) wissenschaftliche Objekte bzw. Tatsachen.

Kapitel 3. Kognition mit Dingen „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ LICHTENBERG

Nicht nur in der Soziologie, auch in der Kognitionsforschung wurde und wird zunehmend angemahnt, Dinge symmetrischer zu behandeln. Das „epistemische Verdienst“ soll angemessener und gerechter verteilt werden zwischen Gehirn und Welt, zwischen Ich und anderen Menschen, zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren.1 Wie beim verteilten sozialen Handeln geht es auch in der Kognition um die Verteilung, Delegation von originär als menschlich geltenden Eigenschaften oder Aktivitäten an Dinge, Körper, materielle Strukturen und Netzwerke. Kognition läßt sich grob definieren als Erkennen, wobei die Betonung auf Erkenntnisleistungen wie Wahrnehmen, Erinnern, Nachdenken liegt. Denken spielt sich vielleicht nicht (nur) im Kopf ab (in Gedanken, Denkprozessen, neuronalen Vorgängen), sondern zum Beispiel im Umgang mit Gegenständen und in sozialen Interaktionen: Der Fluß der Gedanken macht einen Umweg über Dinge und Außenwelt.2 Dinge sind in Kognition einbezogen, Denkprozesse teilweise an Dinge und andere Menschen delegiert: Die Grenze zwischen innen (Subjekt, Psyche, Ich) und außen (Dingen, anderen Menschen, Gesellschaft) wird bei Kognitionen verschoben oder relativiert.3 Eine solche mit externen Instrumenten und Artefakten geteilte Kognition ist letztlich auch „künstliche“ Intelligenz. Die provokante Frage „Können Dinge

1 Clark (1997, S. 69) spricht von „a commensurate spreading of epistemic credit“ zwischen „individual brains“ und „world“. 2 „Individual brains should not take all the credit for the flow of thougths or the generation of reasoned responses.“ ebd., S. 69. Ein Gedanke, der wenngleich in einer etwas anderen Nuancierung auch Merleau-Ponty nicht fremd ist, wie Da Silva-Charrak 2005, S. 109, kommentiert: „Penser, c’est passer par ‚le monde‘ pour retourner en ‚soi‘“. 3 Hutchins 1995, Norman 1989. Das erinnert an das Verhältnis zu Dingen im proximen, vertrauten Handeln bei Thévenot. S.o. Kap. 2.2.

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(Maschinen, Computer etc.) denken?“ ist weniger interessant als die: Wie denken Dinge mit, und wie können sie es? Oder: Wie denken wir mit Dingen? (Auch darin wieder eine Analogie zum sozialen Handeln) Auf diesem Hintergrund stellt sich dann auch die Frage nach der „künstlichen Intelligenz“ differenzierter, sie wird zu einer nach „verteilter“ oder „hybrider“ Intelligenz, nach verkörperter und situierter Kognition.

3.1 V ON

DER KÜNSTLICHEN ZUR VERTEILTEN

K OGNITION

Die jüngere Geschichte von Künstlicher Intelligenz und Kognitionsforschung läßt sich schematisch anhand eines 3-Phasenmodells beschreiben:4 1. In der ersten Phase herrschte das klassische Kognitionsmodell der Künstlichen Intelligenz vor (manchmal auch als „Kognitivismus“ bezeichnet); ihm entsprechend wurde der Geist oder das Bewußtsein als eine zentrale logische Maschine betrachtet: Das Gedächtnis wurde vorgestellt als ein Abrufen gespeicherter symbolischer Repräsentanzen aus einer Art Datenbank, Problemlösen als logisches Schlußfolgern, Kognition als zentralisiert, die Umwelt (nur) als Bereich, in dem die zu lösenden Probleme auftreten, nicht jedoch als mögliche Ressource für Problemlösungen, der Körper als „Eingabegerät“ mit peripheren „sensorischen“ Modulen. 2. Mit dem konnektionistischen Ansatz – Emergenz neuronaler Netze auf verschiedenen Ebenen: im Gehirn, in der Sensorik – wurden die ersten drei Merkmale uminterpretiert: Das Gedächtnis wurde als Neu-Schöpfung, Um-Schaffen von Mustern (patterns) verstanden, Problemlösen als Vervollständigen und Verändern von Mustern, Kognition als zunehmend dezentralisiert. 3. Dennoch wurden auch in diesem Ansatz Welt und Körper immer noch marginalisiert. Erst im Rahmen von Robotik und Kognitionsanthropologie5 wurden

4 Ich lehne mich hier eng an Clark 1997, S. 83 f., an. 5 Siehe für die Robotik etwa Brooks 1999 und für die Kognitionsanthropologie Hutchins 1995. Den Ausdruck „Kognitionsanthropologie“ entlehne ich D’Andrade 1995. Auch

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schließlich auch die beiden zuletzt genannten Merkmale des klassischen kognitivistischen Ansatzes neu gefaßt: Die Umwelt wird nun als aktive Ressource verstanden, deren Struktur oder Dynamik eine wichtige Rolle bei Problemlösungen spielen kann, sich zum Beispiel als Speicher, Gedächtnis oder Erinnerungsstütze nutzen läßt. Dinge, Instrumente, andere Menschen und selbst der Körper bilden einen Teil der kognitiven Schleife, des „computational loop“ (Clark 1997, S. 84); damit kommen auch gesellschaftliche Beziehungen ins Spiel.6 Die Grenze zwischen innen und außen bei Berechnungen und Denken wird durchbrochen, porös. Mit dem Übergang von Phase 1 zu Phase 2, und dann noch einmal von Phase 2 zu 3, ändert sich aber die Vorstellung von Denken und Kognition.7 Und wir finden eine alte philosophische Fragestellung wieder: Gibt es so etwas wie „objektiven Geist“? Der objektive Geist ist ein Hegelscher Begriff und meint den in Sittlichkeit, Moral und gesellschaftlichen Institutionen verkörperten Geist. Erst in der Folge (u.a. bei Dilthey und Simmel) wurden auch Werkzeuge, Kulturerzeugnisse, Techniken in den Begriff einbezogen. (Ich verwende ihn hier in dem erweiterten Sinn.8) Sogar Mead ist nahe an diesem Begriff, auch in seiner erneuerten Form, da für ihn die Grenzen des Geistes „nicht die des Individuums sind und schon gar nicht ist er im Gehirn lokalisiert“. Bedeutsamkeit liegt für ihn „nicht in geistigen Prozessen vor, die in Individuen beschlossen liegen“, sondern sie ist „den Dingen in ihrer Beziehung zu den Individuen eigen“ (Mead 1980b, S. 298). Diesen verstreuten, vergegenständlichten und verteilten Geist gilt es nun genauer zu beschreiben.

von soziologischer Seite aus wird der klassische KI-Ansatz kritisch gesehen: Rammert 1995, Rammert 2007a. 6 Rammert 2000, Winograd/Flores 1992, Gardner 1989, S. 405. 7 Auch Varela, Rosch und Thompson konstatieren drei Phasen in der neueren Kognitionsforschung, sie bezeichnen diese Phasen als Kognitivismus, Konnektionismus und verkörperte Kognition (letztere auch als „cognition as enaction“ bzw. „Kognition als Inszenierung“, Varela/Rosch/Thompson 1995, S. 42), und gewichten etwas anders: Der Kognitivismus hat einen starken Repräsentationsbegriff, sieht Denken als „Rechnen“ und Manipulieren von Symbolen; der Konnektionismus betont die Emergenz, nicht nur neuronaler und sensorischer Netze, sondern auch von Handlungsmustern, die dann in der verkörperten Kognition zentral werden; diese soll die traditionelle Subjekt/ObjektDichotomie überwinden: „Kognitionsstrukturen emergieren aus rekursiven sensomotorischen Mustern“ (ebd., S. 238). 8 Genauer dazu s.u. Kap. 4.2.

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Kognition verkörpert, verteilt und situiert In der neuen Kognitionsforschung („Phase 3“ in der obigen schematisierten Geschichte) wird Kognition mit unterschiedlicher Akzentsetzung als verkörperte, verteilte und situierte charakterisiert. Verkörpert meint zunächst, daß Kognition nicht in irgendeiner Zentralinstanz erfolgt (Gehirn, Geist, res cogitans oder interne Repräsentationen), die sensorische Inputs verarbeitet und Handlungsbefehle ausgibt, sondern daß der gesamte Bogen von den Sinnesleistungen bis zur Aktivität (Sensorik + Denken + Aktion) zur Kognition gehört. Ebenfalls gilt das für den Bogen in umgekehrter Richtung: Aktivität bzw. Handeln führt zur Beschaffung neuer sensorischer Information. In der Vermaschung von Input und Output werden Wahrnehmung und Sensomotorik wichtig für die Kognition. Als Slogan formuliert: Am Anfang war die Bewegung – und nicht ein träger Körper, der auf etwas reagiert und sich nach reiflicher Überlegung dazu entschließt, etwas zu tun. In der Robotik und in der verhaltensorientierten Forschung zur Künstlichen Intelligenz sind Stoff, Medium und Material in den Vordergrund gerückt. Die dingliche und stoffliche Realität des jeweiligen Agenten setzt der Berechnung zwar einerseits Schranken, gibt aber damit auch gewisse dingliche Rahmen oder stoffliche Zwänge vor (constraints), die nicht mehr berechnet werden müssen (Pfeifer/Scheier 1999, S. 312). Auch die Struktur des Körpers strukturiert die Kognition mit. Verkörpert sind kognitive Prozesse oder Funktionen aber auch in Artefakten, etwa einem Rechenschieber oder Taschenrechner, die als Vergegenständlichung kognitiver Prozesse oder als kognitive Stützen dienen. Hier wäre noch einmal daran zu erinnern, daß Computer, Roboter, Moboter, intelligente Agenten und neuronale Netze keine Dinge oder Objekte im klassischen Sinne sind, in ihnen ist Subjektives oder Intentionales oder Kognitives deponiert, verkörpert bzw. an sie delegiert, oder aber sie strukturieren Subjektivität entscheidend mit, wie oben unter der Losung „Dinge verändern Intentionalität“ bereits betont wurde (s.o. Kap. 2.2). In der neuen Kognitionsforschung ist weiterhin von situierter Kognition die Rede. Dieser Begriff wurde eingeführt als Gegenbegriff zu einer ausschließlich durch Handlungspläne strukturierten Kognition. Im vorhinein festgelegte Handlungspläne gelten nur noch als eine Ressource unter anderen, während meistens situative Handungssteuerungen am Werk sind (vgl. Suchman 1987). Verteilt wiederum ist ein Begriff, der ursprünglich in den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz für die Verteilung der Rechenprozesse auf mehrere Prozessoren sowie auf Netzwerkarchitekturen gemünzt war. Doch „verteilte künstliche Intelligenz“ wurde schon bald in einem umfassenderen Sinn verstanden,

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nämlich als Verteilung von Problemlösung auf teilweise autonome technische Agenten. Zu diesen kleinen Gesellschaften technisch verkörperter Agenten oder vernetzter Computer wurden in einem nächsten Schritt dann auch die menschlichen Nutzer hinzugerechnet: Intelligenz erwies sich als verteilt auf eine Assoziation von Menschen, Maschinen und Softwareagenten.9 Im erweiterten Sinn bedeutet „verteilte Kognition“ schließlich die Verteilung der Kognition zwischen mehreren interagierenden oder kooperierenden Menschen oder schließlich zwischen Menschen und Dingen. Wie bereits gesagt, werden die drei Attribute „verteilt“, „verkörpert“ und „situiert“ von verschiedenen Autoren verschieden akzentuiert.10 Man kann beispielsweise einen der Begriffe als Grundlage verstehen, auf dem die anderen aufbauen, oder die drei als unterschiedlich allgemein ansehen.

Kognition auf hoher See Edwin Hutchins hat Kognitionsprozesse nicht im Labor und in Experimenten untersucht, sondern an Bord eines Schiffes, eines Hubschrauberträgers beobachtet, und zwar beim Navigationsprozeß (noch ohne GPS).11 Zwar gilt ihm Kognition eher konventionell als Rechnen, „computation“; diese spielt sich jedoch nicht im individuellen Geist oder Gehirn ab, sondern ist verteilt zwischen Menschen und Dingen. Die Repräsentationen bewegen sich durch verschiedene kognitive Medien hindurch – wozu auch Köpfe, Denkprozesse, kognitive Schemata gehören –, und ihre Verarbeitung durch die verschiedenen – also auch nicht-menschlichen – Medien wird als Kognition verstanden.12 Ähnlich wie in traditionellen soziologischen Ansätzen den einzelnen intentionalen Akteuren soziales Handeln zugeschrieben wird, das in einem Netz und auf Dinge verteilt ist, wurde bei der Kognition vieles als Denkprozesse oder Informationsverarbeitung in den individuellen Kopf hineinprojiziert, was sich, selbst im Falle höchst logischen Denkens, zwischen Kopf und Händen samt Re-

9 Siehe dazu im einzelnen Star 1989, Strübing 1997, Rammert 2000, S. 134 ff., Rammert 2006, S. 186 f. 10 So finden sich etwa in Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013 unter dem Titel einer „Philosophie der Verkörperung“ viele der hier unter dem Oberbegriff der verteilten Kognition zitierten Autoren und Texte übersetzt und diskutiert. 11 Empirisch beruht seine Untersuchung auf teilnehmender Beobachtung, Tonaufnahmen und der Analyse der Kommunikation zwischen den Beteiligten. 12 Der Ausdruck „kognitive Medien“ stammt von mir, Hutchins (1995) spricht von darstellenden oder repräsentationalen Medien („representational media“, S. 154 und passim).

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chen- oder Schreibgerät (Abakus, Stift/Papier, Taschenrechner, Computer) abspielt. Die kognitiven Prozesse finden nicht allein im Kopf statt, sondern zwischen Kopf, Sinnesorganen und kognitiven Artefakten, sozialen Beziehungen und inmitten materieller Strukturen; „die Rechenleistung und -kenntnis ist verstreut über eine heterogene Versammlung von Gehirnen, Körpern, Artefakten und weiteren externen Strukturen“ (Clark 1997, S. 77). Bewußtsein oder Geist nicht mehr als geistigen Stoff (oder Substanz) zu verstehen, der im Kopf steckt und denkt und rechnet, öffnet zunächst den Horizont: Interne Repräsentationen, die in irgendeiner Weise ein Modell der Welt außerhalb bilden, wären dann die Lösung für ein Problem, das es als solches gar nicht gibt (oder eine weitere Lösung auf der Suche nach einem Problem); denn sie werden postuliert, nachdem der mentale Geist von der Welt abgeschnitten worden ist. Die Repräsentations- oder Abbildungs-Hypothese erübrigt sich jedoch, wenn der Geist als „in ständiger Interaktion mit seiner Umgebung“, verstanden wird; es ist „interne Repräsentation von sehr viel weniger der Umgebung nötig“, als in der traditionellen Kognitionswissenschaft angenommen wird (Hutchins 1995, S. 132). Außerdem gibt es externe Repräsentationen, eingelagert oder eingeschrieben in materielle Strukturen (die Zahlen auf dem Rechenschieber, die Worte in den Büchern, die Bücher selbst, die Kataloge in den Bibliotheken …). Konsequenterweise spricht Hutchins auch nicht von Repräsentationen im gängigen Sinne, sondern von Repräsentationen, die ständig in Bewegung sind, genauer noch von einem „repräsentationalen Zustand“, der von einem Träger auf den anderen wandert.13 Das liegt ganz auf der Linie von G. H. Meads Vorstellung von Bewußtsein bzw. Geist (mind): „Solange Bewußtsein als eine Art geistiger Stoff angesehen wird, aus dem Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen, Ideen und Bedeutungen gebildet werden, ergibt sich nahezu notwendig die Annahme, daß diese Dinge in einem Geist zu lokalisieren sind; aber sobald diese Inhalte in die Gegenstände selbst zurückverlegt werden, verschwindet auch die Notwendigkeit, nach einem Lagerhaus für dieses Mobiliar zu suchen.“ (Mead 1980a, S. 317)

Daß die „Inhalte in die Gegenstände selbst zurückverlegt werden“ ist fast eine Paraphrase des in der Forschung zur verteilten Kognition oft wiederholten Slogans, wonach die Welt selbst ihr bestes Modell ist. 14

13 „propagation of representational state across different media“, Hutchins 1995, S. 117. 14 Clark 1997, S. 29.

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(Symmetrische) Kognitive Anthropologie In der Kognitionsforschung wurde traditionellerweise davon ausgegangen, daß „Kultur, Kontext und Geschichte“ aus dem Studium kognitiver Prozesse zunächst herausgehalten werden könnten, um dann später in Form kultureller Faktoren wieder in die Erklärung einzugehen.15 Wenn Dinge und materielle Kultur jedoch für das Denken wesentlich, konstitutiv sind, müssen sie von Anfang an in die Erklärung einbezogen werden. Dann aber ergibt sich unter anderem, daß primitive Kulturen kein primitives Denken implizieren – die kognitive Symmetrie (zwischen Menschen und Dingen) führt zur anthropologischen Symmetrie (zwischen „Modernen“ und „Vormodernen“). Denn nur wer glaubt, Technologie entspringe aus kognitiven Fähigkeiten, und zudem nach kognitiven Fähigkeiten nur innerhalb der individuellen Bewußtseine sucht, wird den beobachtbaren Unterschied zwischen verschiedenen technologischen Stufen, zwischen einer „technisch fortgeschrittenen“ und einer „technisch primitiven“ Gesellschaft als Beweis fortgeschrittenen und primitiven Denkens betrachten. Sobald man die Analyseeinheit kognitiver Prozesse zur Außenwelt hin öffnet, drücken sich in den einfachen oder komplexen Instrumenten nicht länger hauptsächlich die kognitiven Prozesse der beteiligten Benutzer aus (Hutchins 1995, S. 355). Sie sind vielmehr ein Komplement, eine dingliche Stütze für die kognitive Schleife, die auf sie angewiesen ist. In einer minutiösen Analyse des mikronesischen Navigationssystems, das ohne Instrumente wie magnetischer Kompaß und Seekarte, aber mit einem komplizierten Sternenkompaß arbeitet, zeigt Hutchins (ebd., S. 65 ff.), daß die scheinbar falschen, „primitiven“ Annahmen bei dieser Art von Navigation (wie zum Beispiel daß sich die Inseln bewegen, nicht das Boot) als komplexe mentale Medien fungieren, die der Aufgabe der Navigation gerecht werden und sie erfolgreich lösen. Die im Kopf des Navigators vor sich gehenden kognitiven Prozesse können hier durchaus komplexer sein als bei einer Navigation mit nautischen Instrumenten, wie wir sie aus der fortgeschritteneren Seefahrt kennen. Da sie über keine externen kognitiven Medien (außer den Sternen) verfügt, ist diese Art der Navigation aber schwierig zu bewerkstelligen und vor allem zu tradieren (nur mündlich von Person zu Person und nicht vermittelt über nautische Geräte wie Seekarten, Kompaß). Fast könnte man sagen: Das Problem dieser Art von Navigation besteht gerade in der Komplexität ihrer Kognition. Darüber hinaus ist der über Jahrhunderte verlaufende Prozeß der Verbesserung der nautischen Geräte, wie in der abendländischen Seefahrt, hier nicht möglich.

15 Ich folge hier Hutchins 1995, S. 354.

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Kognitive Steigerung? An dieser Stelle bietet es sich an, kurz auf eine relativ verbreitete Vorstellung einzugehen, wonach kognitive Artefakte (Computer, Hypertext, Datenbanken, künstliche Intelligenz) zu einer Steigerung kognitiver Leistungen führen würden. Wir könnten, heißt es bisweilen, mit Denkmaschinen mehr und besser denken. Doch besonders ausgeklügelte Instrumente verlangen vom Benutzer eher wenig kognitiven Einsatz. Im simpelsten Fall werden einfach durch die Nutzung des Instruments Berechnungen durchgeführt; „simpelst“ für den Nutzer, denn gerade die Ausgeklügeltheit des Instruments ermöglicht eine Vereinfachung der Benutzung. So lassen sich am „nautischen Rechenschieber“ die Ergebnisse einer Berechnung einfach ablesen, während die entsprechende Berechnung auf Papier, mit einem Taschenrechner oder gar im Kopf eine Vielzahl von Rechenschritten und – besonders im letzten Fall – beträchtliche kognitive Fähigkeiten verlangt (Hutchins 1995, S. 147 ff.). Eine kognitive Steigerung läßt sich aber vermutlich für das System Mensch/Artefakt feststellen. Demnach können „wir“ vielleicht doch besser denken mit diesen Geräten, aber dann ist das Wir ein System (oder Kollektiv) aus Denkenden plus Gerät bzw. ein in Gesellschaft vor sich gehendes aggregiertes Handeln bzw. Denken. Wenn man dies wieder rückbuchstabieren will in unsere pluralen agency-Regime aus Kap. 2.2: Womöglich haben wir die Handlungsmacht (agency 3), aber kognitive bzw. intelligente Agenten sind für uns tätig (agency 4, Vermittlung, Agentur, Agentenschaft). Die Entlastungsfunktion kognitiver Medien bereitet einer subjektzentrierten mentalistischen Sichtweise einige Schwierigkeiten; damit meine ich eine Sichtweise, die das Erkenntnissubjekt an der Hautgrenze aufhören läßt und dann mit einer „unabhängigen Außenwelt“ konfrontiert, die es erkennen soll. Die Überlegungen von Hutchins führen zu einer Revision vieler geläufiger Annahmen in der Kognitionsforschung und zu einer anderen Vorstellung von künstlicher Intelligenz. Nach der gängigen Sichtweise simulieren Computer Denkprozesse, die sonst im Kopf oder Gehirn ablaufen. Laut Hutchins simulieren Computer jedoch gerade nicht das Denken im Kopf, sondern ein „soziokulturelles System“, ein Hantieren mit und Manipulieren von Symbolen. „Der Computer ist nichts als ein automatisierter Symbolmanipulator“.16 Daher kann er zwar möglicherweise ein brauchbares Modell kognitiver Prozesse darstellen, doch kognitiver Prozesse, die sich von vorneherein nicht im Kopf abspielen, sondern zwischen Kopf (mit Körper) und Welt und anderen.

16 Ebd., S. 359 ff., Zitat S. 360.

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„Wenn wir isolierten individuellen Bewußtseinen die Eigenschaften von Systemen zuschreiben, die sich in Wirklichkeit aus Individuen und von diesen manipulierten Systemen kultureller Artefakte zusammensetzen, dann haben wir individuellen Bewußtseinen einen Prozeß zugeschrieben, der nicht notwendigerweise in ihnen ablaufen muß, und haben es versäumt, nach jenen Prozessen zu fragen, die in ihnen ablaufen müssen, um die Artefakte zu manipulieren. Diese Art der Zuschreibung ist ein schwerwiegender, aber häufig begangener Fehler.“ (Hutchins 1995, S. 173)

Hieraus ergeben sich zwei Fragestellungen. Zum einen die nach den Prozessen, die in den individuellen Bewußtseinen bei Benutzung solcher kulturellen Artefakte gleichwohl ablaufen. Zum anderen, wie man das symbolverarbeitende sozio-kulturelle System genauer zu begreifen hat, an das diese Bewußtseinsprozesse sich ankoppeln oder mit dem sie zusammenarbeiten. Auf die Frage, welche Prozesse in den individuellen Bewußtseinen ablaufen, komme ich weiter unten kurz zu sprechen, etwas ausführlicher widme ich mich der Frage, ob es Repräsentationsprozesse sind (s.u. Kap. 3.2). Die Verschiebung auf ein interaktives sozio-kulturelles System bleibt Thema, zunächst will ich auf den dinglichen Anteil an diesem soziokulturellen System fokussieren, später (in Kap. 4.1) werde ich es unter der Fragestellung der Verteilung noch einmal grundsätzlicher behandeln.

Menschheit mit Zubehör Anhand der nautischen Geräte läßt sich zeigen, wozu kognitive Medien in dinglicher Form gut sind, ja worin sie besonders gut sind. Die vorhandenen Geräte dienen als Erinnerungsstützen für den Umgang mit ihnen, und sie können im Laufe der Geschichte verändert, tendenziell verbessert werden. Sie lassen sich weitergeben, und ihre Gebrauchsweise läßt sich im Umgang mit ihnen kommunizieren und tradieren. Gewiß ist der Erfindungsakt, durch den ein Gerät zum ersten Mal auftaucht, bewunderns- und erforschenswert; doch darüber sollten wir die schlichte Weitergabe, ermöglicht durch seine Dauerhaftigkeit, seine dingliche Verkörperung, nicht vergessen. Denn auf ihr beruht seine nachfolgende Verbesserung und gelungene Sozialisation (Sozialisation im Sinne von Vergesellschaftung, Eingewöhnung in Gesellschaft). In Navigationsinstrumenten ist historische Erfahrung gespeichert, akkumuliert. „Über Jahrhunderte ist Struktur in der Organisation des Materials akkumuliert worden“ (Hutchins 1995, S. 168). Solche Dinge bilden gewissermaßen ein kulturelles und technisches Langzeitgedächtnis: „In der abendländischen Tradition [der Seefahrt] sind physische Artefakte zu Verwahrungsorten von Wissen geworden, und sie wurden als dauerhafte Medien konstruiert, so daß schließlich

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ein einzelnes Artefakt mehr zu repräsentieren vermochte, als irgendein einzelnes Individuum wissen kann.“ (Hutchins 1995, S. 96). Nicht nur in der Seefahrt sind solche darstellenden, kognitiven Medien in Gebrauch. Sondern der kumulative, in Geräten und Instrumenten inkorporierte Erfahrungszuwachs ist bei vielen intellektuellen Technologien zu beobachten, wie bei Rechenmaschinen, schriftlichen Kalkülen, Schrift, Aufschreibesystemen und Inskriptionen. Vielen vertraut ist ein solches externalisiertes kognitives Gedächtnis in der Organisation ihres Schreibtischs, allgemeiner Arbeitsplatzes. Die kognitive Entwicklung der einzelnen Menschen und die Tradierung der Kulturtechniken sind kaum anders vorstellbar als über dingliche Träger.17 Auch Schrift, Bücher etc. sind in diesem Sinne nicht nur kommunikative, sondern auch kognitive und darstellende Medien. Explizit kognitive Dinge wie die kognitiven bzw. darstellenden Medien von Hutchins sind auch die unveränderlichen und mobilen Inskriptionen Latours, die immutible mobiles bzw. unveränderlichen Mobile, obwohl diese ein wenig anders nuanciert sind und andere Prozesse ermöglichen: Überlagerung, Kombinierbarkeit, Vergleich, Kaskadierung, leichter Transport. Die unveränderlichen und mobilen Inskriptionen sind vor allem bei der Generierung und Verbreitung (das heißt Übersetzung) wissenschaftlichen Wissens in Gebrauch (s.u. 3.2).18 Michael Tomasello charakterisiert die kumulative kulturelle Evolution der menschlichen Fähigkeiten mit Hilfe von kulturellen Artefakten durch den sogenannten „Wagenhebereffekt“.19 Danach ist neben der Erfindung die „zuverlässige soziale Weitergabe“ technologischer und kultureller Errungenschaften entscheidend, „die ähnlich wie ein Wagenheber das Zurückfallen verhindern kann, so daß das gerade erst erfundene Artefakt oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt.“ (Tomasello 2002, S. 15). Diese kumulative Verbesserung und Weitergabe ist bei physisch-haptischen Dingen zum einen deutlich dokumentiert (durch ihre Existenz); zum anderen erfüllen sie durch ihre beharrende Existenzform und die physisch-haptische Realisierung der Weitergabe diese Funktion in geradezu idealer Weise. Von dem externalisierten kulturellen Langzeitgedächtnis läßt sich noch einmal ein situativ externalisiertes Gedächtnis unterscheiden, etwa als Erinnerungsstütze dafür, was wann zu tun ist. Als ein solches externes Kurzzeitgedächnis

17 Außer Hutchins siehe Serres 1994, Tomasello 2002. 18 Latour 1990, Latour 1996a, Latour 1996b, S. 159 ff., Hutchins 1995, S. 111, 132. 19 Tomasello 2002, S. 14 f., S. 50 f. Vielleicht ist hier der Ort, um darauf hinzuweisen, daß sich sowohl Hutchins (siehe etwa Hutchins 1995, S. 283) als auch Tomasello auf Vygotskij stützen.

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dienen auch Dinge, die hier oder dort stehen, an denen man etwa auf einem bestimmten Weg zwangsläufig vorbeikommt und die eine bestimmte Aktivität veranlassen, aktualisieren, auslösen können. Bei der Arbeit am Schreibtisch kann zwischenzeitlich Gedächtnis ausgelagert werden in externe Strukturen wie Notizen auf Papier, Gegenstände, die uns, an bestimmten Orten liegend, erinnern sollen an das, was (als nächstes) zu tun ist.20 Als solche situativen Aktualisatoren können alle möglichen greifbaren Dinge dienen: Umweltstrukturen, die Gedächtnisfunktion übernehmen. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Nutzung und Wahrnehmung von Dingen. Hier ist daher ein Vorbehalt angebracht: Dinge lassen sich zwar als externe kognitive Medien nutzen, aber selbstverständlich sind nicht alle Dinge, auch nicht alle Gebrauchsgegenstände kognitive Medien. Denn in technischen Artefakten ist nicht automatisch Wissen eingebaut, auch wenn etwa Wissen zu ihrer Herstellung erforderlich ist. Man sollte also den Begriff der Wissensobjekte für Gebrauchsgegenstände zurückweisen,21 denn damit würde der Wissensbegriff so umfassend, daß zuletzt alles Wissen wäre und der Begriff seine Trennschärfe verlöre (zum Beispiel gegenüber Erfahrung, Können, Handeln auf der einen, Erkenntnis, Bewußtsein auf der anderen Seite). Hier mit dem Begriff eines praktischen oder impliziten „Wissens“ zu operieren, leistet dem inflationären Gebrauch des Wortes eher Vorschub. Das ist zwar eine weitere Variante, die Sozialität der Dinge zu bestimmen, diesmal über das implizite Wissen („tacit knowledge“), das in ihnen inkorporiert ist (Preda 1999, S. 360). Diese Interpretation geht meines Erachtens aber zu weit, so wenn man zum Beispiel in einer Türklinke das Wissen, wie mit ihr umzugehen sei, verkörpert sieht.22 Doch ein Türknauf ist kein kognitives Medium, kein verkörpertes Wissen. Hier ist eine Trennung zwischen Wissen und Können angezeigt. Nicht jedes Können ist ein Wissen; auch wenn jedes Können sich vielleicht als Wissen explizieren läßt: um es zu analysieren oder um es didaktisch aufzubereiten und weiterzugeben.23

20 Clark spricht in diesem Zusammenhang von kognitivem „prompting“ (Auffordern, Veranlassen), Gehlen von „Aktualisatoren“ (Clark 1997, S. 64, S. 68, Gehlen 2004, S. 24). 21 Anders als Preda 1999, S. 347, S. 356. 22 Das Beispiel stammt von mir, Preda spricht von dem „material knowledge“, das eine Tür darstellt, wobei seine Überlegungen den Versuch darstellen, das „Symmetrieprinzip“ mit Hilfe des Wissens auszufüllen. 23 Zur Unterscheidung von Wissen und Können siehe Huppertz 2006 und Neuweg 1999. Beide beziehen sich auf Polanyi 1985.

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Daß nicht alle Dinge Wissensobjekte sind, läßt sich auch anders formulieren: Gewiß ist (nach dem Pragmatismus) jedes Denken (oder Wissen) ein Handeln, daraus folgt aber nicht umgekehrt, daß jedes Handeln ein Denken (oder Wissen) ist.24 Daß Denken ein Handeln sei, ist zudem nur die Hälfte der Wahrheit; es ist ein in bestimmter Richtung qualifizierbares Handeln: ein antizipiertes Handeln, eine Disposition zum Handeln,25 ein tastender Ansatz zum Handeln,26 ein Probehandeln, ein Handeln mit kleinen Energiequanten,27 ein rasches Handeln mit leichten Stellvertretern von schweren Dingen – mit Modellen, mit Inskriptionen, mit unveränderlichen Mobilen –,28 ein verinnerlichtes Handeln und Sprechen.29 Um das bisher Gesagte zusammenzufassen: Wir können einerseits eine Gemeinsamkeit zwischen kognitiven Medien und Gebrauchsgegenständen feststellen, insofern wir in unserem Handeln angewiesen sind auf das in beiden externalisierte Langzeitgedächtnis. In solchen Dingen sedimentiert sind Erfahrungen und Gebrauchsanweisungen bei Gebrauchsgegenständen, darin festgehalten sind zusätzlich Darstellungen oder Inskriptionen bei kognitiven Medien. Aber man muß die oft „implizites“ oder „praktisches Wissen“ genannten Gedächntisstützen in Gebrauchsgegenständen begrifflich unterscheiden vom kognitiven Gebrauch, den man von jedwedem Ding machen kann (als kognitivem Aktualisator) und diesen wiederum von dem expliziter kognitiver Medien (wie Seekarten, Kompaß und Buch). In beiden Fällen kognitiven Gebrauchs dienen die Dinge als Delegierte der Kognition, im ersten Fall ad hoc, im zweiten über längere Zeiträume. Als weitere Artefakte und Kulturobjekte (als welche natürlich Kompasse auch gelten) kann man Kultgegenstände und Kunstwerke anführen, und als wei-

24 Siehe Turner 2002 zur Kritik der impliziten Regelhaftigkeit von Praktiken und zum impliziten Wissen. Vgl. auch unten Kap. 4.1. Mir scheint das ein gar nicht so seltener rationalistischer Kurzschluß zu sein. 25 „‚Denken‘, Vernunft, Intelligenz, welches Wort auch immer wir wählen, ist in seinem Wirklichkeitsbezug ein Adjektiv (oder besser ein Adverb), kein Nomen. Es ist eine Disposition der Aktivität, eine Qualität jenes Verhaltens, das die Konsequenzen bestehender Ereignisse vorhersieht und das Vorhergesehene als Plan und Methode bei der Bewältigung seiner Aufgaben benutzt.“ Dewey 1995, S. 160. 26 „Denken und Begehren, gleichgültig wie subjektiv auch immer sie sein mögen, sind eine einleitende, tastende und anfängliche Form des Handelns.“ Dewey 1995, S. 216. 27 „Das Denken ist ein probeweises Handeln mit kleinen Energiemengen“. Freud 1973, S. 96. 28 Latour verdeutlicht bisweilen anhand von verkleinerten Modellen die Möglichkeit, Zeit und Raum zusammenzuziehen (etwa Latour 1989, S. 375 ff.), die dann mit Inskriptionen und unveränderlichen Mobilen noch erweitert wird (Latour 1990). 29 Denken als verinnerlichtes Sprechen: siehe Hutchins 1995, S. 313 ff., sowie Vygotskij 2002.

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tere Dinge, die in der Soziologie, im Zusammenleben der Menschen zählen, kann man noch ökologisch problematische Sachverhalte nennen. Nicht nur im Hinblick auf Tradierung, sondern auch auf Kreativität sind wir auf die bereits vorhandenen Dinge angewiesen. Wo kommt das Neue her? Diese Frage läßt sich nicht nur subjektseitig oder intersubjektiv beantworten, denn das Neue kommt natürlich auch aus der Auseinandersetzung mit Materialien, aus der Verbesserung bereits vorhandener Geräte, aus dem Wechselspiel zwischen Nutzer oder Designerin und Ding. Und selbst wenn aus der spontanen Kreativität des Subjekts, dann womöglich, weil dieses andernorts entlastet ist.

Hin zu den Sachen, hin zu den Vermittlungen Um zum nächsten Unterkapitel (3.2) überzuleiten, will ich kurz zwei Tendenzen in meiner Haltung zu Dingen hervorheben, die sich als zwei Bewegungen – hin zu den Sachen und hin zu den Vermittlungen – artikulieren lassen. Erstens ist da das Ding, die Sache, der Gegenstand, das Objekt als etwas außerhalb des (Erkenntnis-/Handlungs-)Subjekts Liegendes, das womöglich interessanter ist als (oder genauso interessant wie) das Subjekt, nennen wir es die sachliche, realistische Tendenz: hin zu den Sachen selbst.30 Darunter kann man auch, aber nicht ausschließlich, physisch-haptische Dinge verstehen: Treppen, Geländer, Türen, Stühle, Steine, Blumen, Computer etc. Damit verbinde ich die Aufforderung, diese Dinge in den Sozialwissenschaften umfassender oder begrifflich anspruchsvoller zu berücksichtigen. In dieser realistischen (oder objektivistischen) Haltung liegt eine Kritik an der kulturalistischen oder dualistischen Dingauffasung (einerseits kausale Mechanismen, die von der Naturwissenschaft erklärt werden, andererseits symbolische Interpretation, die von den Humanwissenschaften erklärt oder verstanden wird). Von „Objektivismus“ spricht Whitehead (1988, S. 108). Demnach kann man „die erfahrenen Dinge von unserem Wissen über sie unterscheiden“. Das im Erkenntnisakt Wahrgenommene ist eine Teilansicht von Dingen, „die im allgemeinen von diesem Akt des Erkennens unabhängig sind“. Nach der gegenteiligen Theorie des Subjektivismus wäre das Wahrgenommene „lediglich Ausdruck der individuellen Besonderheiten“ dieses Erkenntnisakts bzw. die Konstruktion eines Erkenntnissubjekts. Eine realistische und objektivistische Sicht verträgt sich gut mit einer Pluralität von Entitäten und dem Umgang mit diesen in vielfältiger Form.

30 Diese Losung stammt bekanntlich von Husserl („Weg mit den hohlen Wortanalysen. Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Erfahrung, zur Anschauung“, Husserl 1987, S. 21).

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Zum zweiten geht es mir um die dingliche Seite scheinbar rein geistiger Prozesse, reiner Erkenntnisprozesse, wie etwa um die materiellen Träger wissenschaftlicher Praktiken, um die dinglich realisierten intellektuellen Technologien bzw. Kulturtechniken, nennen wir es die mediale oder technologische Tendenz: hin zu den dinglichen Vermittlungen, den Inskriptionen, unveränderlichen Mobilen, kognitiven Medien etc. Die beiden dargelegten Tendenzen habe ich ausgehend von der Auseinandersetzung mit Latours Überlegungen entwickelt.31 In seiner Argumentation zieht dieser die dinglichen Mittel intellektueller Technologien bisweilen dazu heran, die vielfältigen Rollen zu illustrieren, welche die Dinge in der Welt und der Gesellschaft spielen (Latour 2007b, S. 132). Es besteht eine gewisse Spannung, aber kein Widerspruch zwischen den beiden Tendenzen. Denn zum einen bilden die vermittelnden Dinge in Form von unveränderlichen Mobilen oder kognitiven Medien eine spezielle Klasse von Dingen. Zum anderen interessiert auch bei den schweren und greifbaren materiellen Dingen ihre Vermittlerrolle. Daß eine Handlung durch ein Ding vermittelt wird, verändert diese (sie wird beispielsweise umständlicher oder sehr viel schneller durchgeführt). Bei den intellektuellen Technologien setzt allerdings die Frage an, worin der Unterschied zwischen Kognitionsforschung und Science studies bzw. zwischen Kognition und wissenschaftlicher Erkenntnis besteht, zu der ich bald (im folgenden Unterkapitel 3.2) im Rahmen der „zirkulierenden Referenz“ kommen werde. Davor scheint es mir sinnvoll, einige Bemerkungen zum Repräsentationsbegriff einzuschieben.

31 Sie lassen sich meiner Meinung nach auch bei ihm finden. Zur ersten Tendenz kann man verweisen auf die verschiedenen Texte zu technischen Objekten in Latour 1996b, wie dem Türschließer, einer Türe, dem Berliner Schlüssel, dem Schlüsselanhänger, dem Sicherheitsgurt, der Bodenschwelle. Vgl. auch Latour 2007b S. 122 f. Für Henning Schmidgen beschäftigt sich aber Latour gerade nicht (oder zu wenig) mit physisch-haptischen oder materiellen Dingen. Zum einen seien Latours Dinge eher die der Wissenschaften, und hier mehr die Inskriptionen und sprachlichen Argumente als die experimentellen Anordnungen (vgl. Schmidgen 2011, S. 65 ff.). Zum anderen kritisiert er, daß Latour die Dinge vornehmlich, wenn nicht grundsätzlich nur in ihrer Verflechtung und Assoziiertheit mit den Menschen in den Blick nimmt (ebd., S. 113 ff.). Zur zweiten, medialen, Tendenz siehe Latour 1990, Latour 2000.

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3.2 D ARSTELLEN , E RKENNEN UND ZIRKULIERENDE R EFERENZ Repräsentationen und ihre Schicksale Hutchins verallgemeinert seine Funde folgendermaßen: Kognition ist verteilt zwischen Mitgliedern, Geräten und Örtlichkeiten des Navigationsteams: „es ist das Navigationssystem, das sich erinnert […], und ein Großteil der Struktur und des Prozesses der Gedächtnisfunktion liegt außerhalb des menschlichen Akteurs“ (Hutchins 1995, S. 142). Wenn dies stimmt, kann man fragen: Was spielt sich dann noch im menschlichen Kopf, was spielt sich im Bewußtsein oder Denken der an der Navigation beteiligten Menschen ab? Auch wenn im individuellen Bewußtsein oder Gehirn weniger repräsentiert wird als traditionellerweise angenommen, so findet ein Teil der kognitiven Prozesse gleichwohl dort statt. Oder auch, genauer und präziser gefragt: Welche Prozesse müssen sich im individuellen Bewußtsein abspielen, damit eine komplexe Symbolmanipulation wie das Bedienen eines Abakus, eines nautischen Rechenschiebers oder eben auch von Stift, Papier, Zahlen samt Dezimal- oder Dualsystem funktionieren kann? (Man beachte die Verschiebung in dieser Fassung der Frage. Die Repräsentation erfolgt nun möglicherweise an der Schnittstelle von Subjekt und Objekt und nicht im Subjekt.) Diese Frage werde ich hier nicht ausführlicher beantworten,32 nur darauf hinweisen, daß sie von den gängigen Kognitionstheorien nicht beantwortet wird, denen sie sich auch nicht stellt, da diese Theorien die Handhabung von externen darstellenden Medien und Artefakten nahezu vollständig ignorieren. Zumindest so viel sei gesagt: Da die wichtige Erweiterung durch herausverlagerte, externalisierte Kognitionsanteile – seien sie dinglich, sprachlich oder kollektiv – in der

32 Man kann sie z.T. aus disziplinären Gründen ignorieren; es ist dies eine psychologische, neurophysiologische, vielleicht auch philosophische Fragestellung. In neurologisch-psychologischer Perspektive stellt sich, wenn man fragt, was sich im individuellen Bewußtsein abspielt, die Frage nach der neuronalen Implementierung von verinnerlichten Darstellungen bzw. Darstellungsanteilen (die Frage also, wie zum Beispiel sprachliche Repräsentationen, Darstellungen neurologisch kodiert, realisiert werden). Wie das soziokulturelle System der Symbolmanipulation und verteilten Kognition funktioniert, ist dagegen eine originär soziologische bzw. kulturwissenschaftliche Fragestellung. In anderer Hinsicht könnte man sich natürlich auch soziologisch darüber Gedanken machen, was sich in den Köpfen der Menschen in Gesellschaft abspielt. Denn jede Soziologie impliziert eine Theorie über die Verinnerlichung von Normen und die Denkprozesse der Gesellschaftsmitglieder (s.u. Kap. 4).

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sogenannten Philosophie des Geistes kaum berücksichtigt wird, sind die meisten Überlegungen in diesem Rahmen extrem verzerrt (tendenziell subjektivistischkantianisch).33

Kurzer Exkurs zum Repräsentationsbegriff Der Begriff der Repräsentation ist äußerst mehrdeutig, vom Wortsinn her läßt sich das englische „representation“ (und die französische représentation) nicht nur mit „Vorstellung“ übersetzen, sondern auch mit „Darstellung“ (und den jeweiligen Konnotationen oder Unterbedeutungen dieser Begriffe; bei Darstellung: Realisierung, Verkörperung, Stellvertretung, Gegenständlichkeit; bei Vorstellung: subjektiv, Innenwelt, Ich, mentale Vorstellung). Interne Repräsentationen lassen sich, wenn man Ich, Subjekt, Person, Selbst nicht ganz wegreduziert, auch als „Vorstellungen“ bezeichnen, externe Repräsentationen will ich im folgenden „Darstellungen“ nennen.34 Es sind hier genaugenommen zwei Fragen zu unterscheiden: 1. Was spielt sich innen ab? 2. Läßt sich dies mit „Repräsentation“ angemessen bezeichnen? Meine Antwort auf die zweite Frage: nein, jedenfalls ist „Repräsentieren“ nicht für die internen kognitiven Prozesse spezifisch. Repräsentationen spielen auch, wenn nicht vor allem außen eine wichtige Rolle, das heißt als Darstellungen. Damit wird es sinnvoll, von „Darstellungen“ (und nicht Vorstellungen) als primärem Begriff auszugehen. Es kann sich immer noch innen Wichtiges abspielen, aber es dürfte, zumindest was Darstellungen angeht, in verinnerlichten Darstellungen oder in inneren Stützen für extern realisierte Darstellungen bestehen (Selbstgespräch als Muster für Denkprozesse; interne Repräsentationen bilden die Verinnerlichung äußerer Darstellungen im Sinne von Vygotskij;35 zum anderen die für die Handhabung äußerer Darstellungsmedien erforderlichen inneren Prozesse). In der klassischen Forschung zur Künstlichen Intelligenz verwendet, unterstellt der Repräsentationsbegriff in seiner starken und engen Definition,36 daß bei der Kognition ein Bild, Modell der Welt, in der der kognitive Akteur agiert, als

33 Wie Schwemmer 1997, S. 46 f., meint, ist der (neurobiologische) Kognitivismus subjektivistisch und kantianisch ausgerichtet. Allerdings öffnen sich die Kognitionswissenschaften zunehmend und beziehen allmählich externe und soziale Beziehungen ein. Siehe etwa De Jaegher/Di Paolo/Gallagher 2010, Böckler/Knoblich/Sebanz 2010. 34 Zur Darstellung als externe Darstellung siehe auch Hacking 1996, S. 219 ff. 35 Außer Vygotskijs ist dies auch die Position von Mead und Dewey. Zu Vygotskij siehe Hutchins 1995, S. 283 ff. 36 S.o. S. 178 zur 1. Phase der Kognitionsforschung.

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Repräsentation verwendet wird. Oder daß außenweltliche Entitäten repräsentiert werden von kognitiven (und/oder neuronalen) Entitäten. Manchmal versteht man unter Repräsentationen auch sprachähnliche Zeichen oder Codierungen, ohne daß diese zwangsläufig etwas Externes innen repräsentieren.37 Da für Hutchins die Darstellungen so leicht die Grenze innen/außen in beiden Richtungen überqueren können, läßt er sich nicht der klassischen Repräsentationsdoktrin zuordnen. Hutchins Hauptbeispiel sind repräsentationale Artefakte wie Seekarten, Kompaß, also darstellende Hilfsmittel der Navigation.

Cartesianischer Realismus Wer bedeutsam von internen Repräsentationen spricht, sieht sie als etwas Besonderes, von externen Darstellungen Verschiedenes, irgendwie Subjektives an; damit wird per definitionem eine Kluft aufgerissen zwischen der Innenwelt, in der, und der Außenwelt, die repräsentiert wird. Nun ist die erkenntnistheoretische Bühne aufgebaut: Entspricht, und wenn wie und warum, meine Vorstellung vom Ding da draußen dem Ding da draußen? Gleichzeitig besteht nun keine Möglichkeit mehr, zu verifizieren, ob es sich wirklich um eine Re-Präsentation handelt (vgl. Schmitz 1996, S. 90). Damit aber macht der Ausdruck Repräsentation keinen rechten Sinn mehr. Es ist nicht so ganz klar, warum die Vertreter eines repräsentationalistischen Kognitivismus den Begriff „Repräsentation“ trotzdem verwenden. Die klassische Repräsentationsdoktrin ist „cartesianisch“. Sie geht von einem dualistischen Weltbild aus. Das heißt in diesem Zusammenhang, daß Vorstellungen, Repräsentationen, Ideen zwar Außenwelt repräsentieren sollen, wir aber keinen anderen Zugang zur Außenwelt haben als über sie, da die Kognitionsprozesse (res cogitans) ontologisch nicht kompatibel sind mit der Außenwelt (res extensa). Der Cartesianismus bzw. Kognitivismus muß daher eigentlich erklären, wie wir wissen, welche Repräsentation die richtige ist bzw. daß wir es überhaupt mit Re-Präsentationen zu tun haben.38 Ein weiteres Merkmal des kognitivistischen Cartesianismus, wie auch des klassischen (das heißt bei Descartes selbst) lautet, daß die inneren Repräsentationen bzw. die Ideen (im Bewußtsein) klarer gegeben sind als Relationen und

37 Manchmal wird Repräsentation im Sinne des Einstehens für eine Bedeutung definiert, als ein interner Code, der Bedeutungen repräsentiert. Das impliziert eine Art innere Gedankensprache (Wilson, S. 147 ff.), gegen die einige Einwände möglich sind, u.a. die von Wittgenstein gegen eine Privatsprache erhobenen (vgl. Wittgenstein 1975, §243 ff., § 268). 38 Zu Descartes Repräsentationsbegriff in diesem Sinne siehe Westphal 1989, S. 30.

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Bezüge zur Außenwelt.39 Man könnte diese Position als naiven Idealismus bezeichnen.40 Mein Gedanke an einen Stuhl ist klar, meine Wahrnehmung eines Stuhles ist vergleichsweise unklar, sei es weil sie vermittelt ist (etwa über sprachliche, begriffliche Darstellungen oder über Sinnesorgane), sei es, weil wir mit ihr aus dem klaren Geistigen ins korruptere Fleischliche übergehen, so daß sich Abschwächungen, Mängel, Irrtümer einschleichen können. Hier sieht man deutlich die dogmatischen Prämissen. Denn man könnte die umgekehrte These vertreten: Wahrnehmungen von Dingen sind relativ klar, man kann auf die Dinge zurückkommen, Wahrnehmungseindrücke überprüfen (das Ding in die Hand nehmen, zu ihm hingehen), anderen die Wahrnehmungen kommunizieren, das von ihnen Kommunizierte mit den eigenen Wahrnehmungen vergleichen etc. (Messungen anstellen, Variationen vornehmen). Wahrnehmung in einem passiv-kontemplativen Sinne gibt es nahezu nur in einer künstlichen Laborsituation, ansonsten eventuell in einer bewußt ästhetischen oder kontemplativen Haltung. Wahrnehmung ist eine Aktivität, zu der forschendes Nachschauen gehört (Gibson 1982). Dagegen ist unser Verhältnis zu unseren Gedanken nicht so eindeutig und kann nicht konsensuell validiert werden. Einen Anschein von Plausibilität gewinnt die umgekehrte Ansicht nur dann, wenn man prototypisch von mathematischen Kalkülen und mathematischen Wahrheiten als Ideen und Repräsentationen ausgeht, was sowohl bei Descartes als auch bei Kant der Fall ist. 41 Es ist kein

39 Diese Argumentation läßt sich mühelos übertragen auf die üblichen sensualistischen Erkenntnistheorien, die von elementaren Daten, Reizen, Sinnesqualitäten ausgehen. Diese werden als wirklich gegeben angenommen, im Vergleich zu denen komplexere Wahrnehmungen (ein Stuhl) als (möglicherweise fehlerhafte) Verarbeitungen dieser Sinnesreize dienen. Siehe die Kritik von Gibson (1982, S. 57 ff.) am Reizbegriff, siehe zu Lockes primären Qualitäten Dewey 2003, S. 194. Wäre dies keine sozialwissenschaftliche Arbeit, würde hierhin eine Auseinandersetzung mit der ökologischen Wahrnehmungstheorie von James J. Gibson gehören, die oft zitiert wird. Siehe aber als Zusammenfassung und Würdigung Grene 1987, 1995. 40 In Anlehnung an den „naiven Realismus“. 41 Diese Plausibilität zu erschüttern, ist eines von Latours Motiven, sich für kognitive Technologien zu interessieren. Wenn schon im Bereich des formalen und mathematischen Denkens die materiellen, technischen und sozialen Vermittlungen zählen, um wieviel mehr in anderen Bereichen. Ein zweites Motiv lautet: Wir müssen auch auf dem Mikro-Level zeigen, daß die wissenschaftliche Erkenntnis nicht (allein) in den Köpfen der Wissenschaftler produziert wird (Latour/Woolgar 1986, S. 168). Ein weiteres Motiv ist ein differenzierter Dingbegriff: Externe kognitive Medien zeigen, daß Dinge mehr sein könnnen als Steine, über die man stolpert, oder Hämmer, mit denen man hämmert.

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Zufall, daß die Kritik an den „klaren und deutlichen Ideen“ von Descartes einen der Ausgangspunkte des Pragmatismus bildet (Peirce 1985). Ich will hier kurz eine Definition nachtragen. Der „cartesianische Realismus“ ist eine Begriffsschöpfung von Joseph Margolis, der ihn definiert als die Anschauung, „daß es eine ‚EINZIG WAHRE THEORIE‘ gibt, in Übereinstimmung mit der der Geist die Welt ‚kopiert‘.“ (Margolis 2004, S. 171)42 Darin impliziert ist, daß diese wahre Theorie in Form von Repräsentationen zu denken sei, Repräsentationen im Geist. Beim Kognitivismus steckt dieser Geist im Kopf, Gehirn, in neuronalen Prozessen, bei der analytischen Philosophie in sprachlichen und logischen Aussagen und Operationen. „In seiner konventionellsten Form vertritt der ‚cartesianische Realismus‘ eine auf explizite Kriterien abhebende Übereinstimmungstheorie. Er bejaht kognitive Vermögen, die zuverlässig (ja wesentlich) dazu befähigt sind, die wirklichen Merkmale und Strukturen der unabhängigen Realität zu erkennen. Er ist an keinen Kontext gebunden und verfährt ahistorisch, trennt streng zwischen menschlichen Erkenntnissubjekten und erkannter Welt und ist auf das Ideal von einer allein gültigen Beschreibung der wirklichen Welt verpflichtet.“ (Margolis 2004, S. 61).

Dementsprechend läßt sich der interne Repräsentationalismus kritisieren. Sein Blick auf die Erkenntnis ist psychologistisch, mentalistisch (er bleibt auf die mentale, interne Phase der Repräsentation fixiert), damit entgehen ihm instrumentelle, kollektive, kommunikative externe Phasen des kognitiven Prozesses (wie sie etwa oben unter den Stichworten verteilt, verkörpert, situiert dargestellt wurden). Er vermag auch Erkenntnis nicht als kollektiven, instrumentellen und vermittelten Prozeß zu denken. Das implizite Ideal besteht in der Kontemplation des Wahren oder dem Haben, Besitzen wahrer Ideen.43 Dieses Ideal bleibt auch in

42 Die beiden Zitate im Zitat stammen von Putnam. Was dieser „metaphysischen Realismus“ nennt, bezeichnet Margolis als „cartesianischen“, ohne Putnam in seiner Begründung oder weiteren Ausführungen notwendigerweise zu folgen. 43 „Die hier verteidigte Position steht im Widerspruch zu dem Glauben, es gebe so etwas wie unmittelbare Erkenntnis, und solche Erkenntnis sei eine unentbehrliche Vorbedingung aller vermittelten Erkenntnis“, Dewey 2002, S. 171. Die Gegenposition artikuliert Russell, für den gewissermaßen die Kontemplation der Wahrheit ein (wenn auch vielleicht nur temporärer) Endpunkt von Erkenntnis ist. Die forschende Tätigkeit, die Dewey und der Pragmatismus betonen, könne nur die halbe Wahrheit sein, „the other half depends upon a receptive passivity“, Russell 2004, S. 62. Sowohl für Dewey als auch für Popper geht es trotz sonstiger Differenzen um Verifikationen und

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den analytischen Korrespondenztheorien zwischen wahren Aussagen und den ihnen entsprechenden Sachverhalten erhalten. Es wird hier nur in das riesige Subjekt einer Sprachgemeinschaft hinein verlagert. Aber es sind dieselben Fragestellungen, mit denen man hier wie dort arbeitet.44 Um zu den kognitiven Repräsentationen zurückzukehren: Es lassen sich Bezüge nach draußen denken, die mit „Repräsentation“ oder „Vorstellung“ nur unzureichend beschrieben sind. Hierbei ist etwa zu denken an taktile, propriozeptive und Gleichgewichts-Empfindungen. Wollen wir tatsächlich sagen, von den Empfindungen an den Fußsohlen würde der Erdboden repräsentiert? Vom Gleichgewichtsorgan das Gleichgewicht oder gar die Schwerkraft? Auch, was Computeroperationen bedeuten, hat zu tun mit einer Referenz, einem Bezug nach außen. Das heißt (in der Regel) aber nicht: einer Repräsentation von Außenwelt. Wenn ein Drucker am Rechner angeschlossen ist, erhält ein bestimmter Algorithmus die Bedeutung: Drucke Seite 1 bis Seite 5 aus (Smith 1996).

Erkenntnisse werden transversal gewonnen „Alles, was im Subject ist, ist im Object und noch etwas mehr. Alles, was im Object ist, ist im Subject und noch etwas mehr. Wir sind auf doppelte Weise verloren oder geborgen: Gestehen wir dem Object sein Mehr zu, Pochen wir auf unser Subject.“ JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Wenn das weiter oben zur verteilten, verkörperten und situierten Kognition Gesagte richtig ist, dann müssen wir, sobald es zum wissenschaftlichen Erkennen kommt, wohl annehmen, daß hier genauso ein Teil, unter Umständen aber noch viel mehr des Erkenntnisprozesses auf Instrumente, Geräte, Gewebeproben,

Falsifikationen (Ryan 1995, S. 377, Anm. 7), beides sind vermittelte Prozesse, keine unmittelbaren Evidenzen oder Wahrheiten. 44 Vgl. Habermas 2004, S. 10. Die Argumentation von Margolis richtet sich vornehmlich gegen solche Erkenntnistheorien, während ich sie hier auf den Kognitivismus zu übertragen versuche.

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Kühlschränke u.ä. übergeht. Schon die Rede von der scientific community oder dem „Denkkollektiv“ (Fleck 1980) identifiziert das Erkenntnissubjekt in der Wissenschaft nicht mehr mit dem einzelnen Wissenschaftler.45 Um epistemische Dinge und dingliche Inskriptionen erweitert, gleicht das wissenschaftliche Erkenntnissubjekt, wenn es als solches überhaupt noch angemessen bezeichnet ist, nicht mehr sehr dem einzelnen Menschen bzw. Bewußtsein. Im Unterschied zum dualistischen Szenario haben wir es bei Erkenntnisprozessen im wissenschaftlichen Sinne meist mit verschiedenen externen Darstellungen zu tun, die miteinander oder mit irgendwelchen Sachverhalten verglichen werden, also: Entspricht diese errechnete Kurve (dort auf dem Bildschirm) dem tatächlichen Verlauf (dort in der Bevölkerung) etc.?46 Oder bei der Entstehung der Wissenschaft: Welcher dieser Berichte ist wahr, welcher falsch, welcher unzuverlässig, lückenhaft etc.?47 Hier könnte man noch einmal an den Darstellungsbegriff im Zusammenhang mit den epistemischen Dingen erinnern (s.o. Kap. 1.5). Darstellung wurde nicht als innerpsychisches Geschehen verstanden, ja noch nicht einmal als Repräsentation (oder Vorstellung) in einem supponierten Erkenntnissubjekt, sondern als Veranstaltung auf dem Labortisch und in den Praktiken der Wissenschaftler, so-

45 In Serres/Latour 2008, S. 239, weist Latour darauf hin, daß die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts einige Zeit gebraucht habe, „um das Erkenntnissubjekt durch ein erkennendes Kollektiv zu ersetzen“. Er stellt dann die französische Wissenschaftssoziologie (also u.a. sich und Callon) in eine Reihe mit den entsprechenden Bestrebungen von Kuhn in Amerika und Habermas in Deutschland. Diese Parallelisierung ließe sich zusammen mit Stengers Versuch, Latour in die Genealogie der PopperSchüler einzuordnen (Stengers 1997b) und Latours kritischem Aufgreifen Kuhns (Latour 1996c, S. 97) zu einer umfassenderen Einordnung Latours in der Wissenschaftstheorie und -geschichte nutzen, was hier zu weit führen würde. Dazu gehören würde auch eine Situierung in der französischen Wissenschaftstheorie und -geschichte mit Serres, Canguilhem und Bachelard, siehe als Ansatz Schmidgen 2011, S. 98 ff., Rheinberger 2007, S. 127 ff. Siehe auch Dosse 1995, S. 126 f. 46 Womöglich meint Bloor dies in seiner Kritik an den epistemischen Dingen mit „Referenz“ (s.o. Kap. 1.5). Bloß setzt er den Referenten der Bezugnahme in „die Natur“, und das ist problematisch. Hier wird „die“ Natur als Verankerung von Realitätsanspruch und Objektivität, als Garant von Wahrheit, Objektivität gesehen. Sich in einem Text auf einen Referenten außerhalb des Textes zu beziehen, ist etwas anderes. Dieser ist außertextlich, außerdiskursiv, aber muß natürlich nicht (in der) Natur sein. 47 Mit Bezug auf die griechische Wissenschaftsentwicklung meint Luhmann zu Recht, daß Wissenschaft erst dann entsteht, „wenn es hinreichend große Mengen von Wissen schon gibt, das man dann kritisch daraufhin durchsehen kann, ob es sich um wahres oder um unwahres Wissen handelt.“ Luhmann 1997, S. 444.

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wie in schriftlichen Darstellungen, Inskriptionen und sprachlicher Kommunikation. Im Unterschied zu Repräsentationen im Erkenntnissubjekt oder im Gehirn, die Welt oder Weltbestandteile stellvertreten sollen, sind epistemisch relevante Darstellungen in der Welt explizierte bzw. explizierbare, in Forschungspraktiken, Worten, Inskriptionen und Reagenzgläsern artikulierte Darstellungen. Sie sind etwas „Öffentliches“.48 Um dergleichen hervorzubringen, sind zwar auch Gehirne und Bewußtseine, oder sagen wir einfach Menschen, erforderlich, die aber nicht alles, was an Erkenntnisrelevantem geschieht, spiegeln, repräsentieren oder sonstwie mit Bewußtseinsprozessen begleiten müssen, sondern im gesamten Konzert von epistemischen Dingen, Inskriptionen etc. mitspielen und „das zum Fortgang Notwendige beitragen“.49 Jedenfalls überqueren die Darstellungen und Zeichen mühelos die Innen/Außengrenze, werden von internen und externen kognitiven Medien getragen. Vielleicht könnte man unsere Liste am Ende von Kap. 1 hier noch um einen kurzen Eintrag erweitern: daß nämlich die neuen Dinge (oder die in neuem Licht gesehenen Dinge) in einem, sei es problematischen, sei es neu gewendeten Verhältnis zur Repräsentation stehen. Während eine der traditionellen (modernen) Dichotomien die zwischen Dingen und Zeichen ist, und auch der Postmodernismus sich eher auf die Seite der Zeichen und Diskurse schlägt, haben wir es hier manchmal mit Dingen zu tun, die als Zeichen genommen werden, und mit Zeichen, die dinglich genommen oder zu Dingen werden50 – fast vormodern. Man könnte auch bescheidener, semiotischer formulieren: daß Indexikalität als Zeichenbeziehung aufgewertet wird (Dingliches kann Zeichen werden) und daß die transparente Repräsentation abgewertet oder zurückgewiesen wird. Zeichen werden in ihrer Opazität, Dinglichkeit thematisiert (Inskriptionen, unveränderliche Mobile). Die Repräsentationsproblematik soll nun überleiten zur Frage nach der wissenschaftlichen Darstellung, nach dem wissenschaftlichen Erkenntnissubjekt und -objekt. Ich will sie anhand der zirkulierenden Referenz zu beantworten versuchen und dabei auch auf die Identität oder Differenz zwischen Kognition und (epistemischer) Erkenntnis zu sprechen kommen.

48 Hacking 1996, S. 223: „Alles, was ich eine ‚representation‘ oder ‚Darstellung‘ nenne, ist etwas Öffentliches.“ 49 Luhmann: „Nie läßt sich in der Kommunikation feststellen, ob Bewußtseinssysteme ‚authentisch‘ dabei sind oder nur das zum Fortgang Notwendige beitragen.“ Luhmann 1997, S. 874. 50 Letzteres ein wiederkehrendes Thema in Aramis (Latour 1992) und eine Definition von technischer Vermittlung in Latour 2000, S. 226 ff.

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Zirkulierende Referenz „Wenn kein Signal sich schneller als Licht fortbewegt, dann reist auch kein Wissen ohne Wissenschaftler, Laboratorien und fragile Referenzketten.“ BRUNO LATOUR

Referenz erfolgt nicht über einen Graben zwischen Erkenntnissubjekt und Natur bzw. Außenwelt. Hier ist an die Erkenntnistheorie von Dewey zu erinnern (Dewey 1995, 2004; Margolis 2004). Wer eine pragmatistisch inspirierte Erkenntnistheorie51 ablehnt, dürfte dennoch kaum den komplexen Referenzprozeß leugnen, den Ludwik Fleck bei wissenschaftlichen Tatsachen unter den Begriff „Denkkollektiv“ gefaßt hat, Latour unter den der „zirkulierenden Referenz“, Rheinberger unter den der „Experimentalsysteme“, Hutchins bezogen auf Kognition unter den der „Fortpflanzung von repräsentationalem Zustand durch verschiedene Medien hindurch“.52 Ich werde Latours Lösung herausgreifen und kurz darstellen.53 Latour hat das Problem der Referenz einmal sehr anschaulich aus der dualistischen Zwickmühle von Subjekt und Objekt oder von Subjekt und äußerer Wirklichkeit gelöst. Anhand der teilnehmenden Beobachtung einer bodenkundlichen Expedition in das Amazonasgebiet entwickelt er den Begriff der „zirkulierenden Referenz“.54 Bei dieser Forschungsreise wurden am Rande des Urwalds bzw. am Saum eines Savannengebiets Bodenproben entnommen und Pflanzenexemplare gesammelt, um die Frage zu beantworten: Rückt der Wald oder die Savanne vor? Die Bodenproben,55 nach Planquadraten aus unterschiedlicher Tie-

51 Wenn denn diese einen solchen Titel überhaupt beansprucht; es erfordert schon eine bestimmte erkenntnistheoretische Position, um der Erkenntnistheorie eine fundamentale Bedeutung zuzuschreiben, was dem Pragmatismus widerspricht. Vgl. Latour 2008b. 52 Zum „Denkkollektiv“ siehe Fleck 1980, S. 124 ff., und Latour 2008b, S. 91 ff.; zur „propagation of representational state across different media“: Hutchins 1995, S. 117. 53 Die mir mit den anderen angeführten Antworten mehr oder weniger kompatibel erscheint, auf eine Differenz komme ich noch unter 4.1 zu sprechen 54 „Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas“, Kap. 1 in Latour 2000, S. 36-95, sowie unter dem Titel „Der ‚Pedologen-Faden‘ von Boa Vista – eine photo-philosophische Montage“, in Latour 1996b, S. 191-248. 55 Für meine Argumentation vereinfache ich im folgenden auf die Bodenbeschaffenheit und lasse die Pflanzenproben beiseite.

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fe hervorgeholt, werden in einem „Pedokomparator“ zusammengestellt und aufbewahrt, ins Labor transportiert und nach und nach in ein gezeichnetes, mit Legende versehenes Bodenprofil transformiert, das schließlich in einem veröffentlichten Text als „interner Referent“ abgebildet ist, das heißt als dem Text intern eingeschriebener Referent. In der Kette vermittelnder Referenzglieder befindet sich (in gewissem, noch zu präzisierenden Sinn) ein Pol der Referenz da draußen, in diesem Falle am Ende der Referenzkette im Wald von Boa Vista mit seiner Bodenformation, den anderen Pol bildet der interne Referent bzw. der Artikel in der wissenschaftlichen Zeitschrift bzw. das Forschungskollektiv. Aber das Interessante, das heißt der komplexe Erkenntnisakt – oder vielleicht können wir auch sagen die Erkenntnishandlung, die aus vielen Akten zusammengesetzt ist –, spielt sich in der Referenzkette dazwischen ab. Mit jedem Schritt wird der vorhergehende Objekt oder Material, und der nachfolgende, der dieses faßt, Subjekt oder Form. Die zirkulierende Referenz läßt sich also auch, wenn man will, Schritt für Schritt im Subjekt/Objekt-Idiom formulieren. Man kann ganz nach Belieben Subjekt/Objekt-Beziehungen in diese Referenzkette einziehen oder darin am Werk sehen: So sind die im Pedokomparator eingefaßten Bodenproben subjektseitig zu verorten, wenn man sie mit dem Boden dort in Boa Vista vergleicht. Sie sind aber objektseitig, wenn sich Wissenschaftlerinnen und Forscher darüber beugen und sich etwa fragen, ob dieser Erdklumpen dort nicht fälschlicherweise mit jenem anderen verwechselt wurde. Was auf der einen Stufe Subjekt war, wird auf der nächsten Objekt für ein neues Subjekt. Auf jeder Stufe kann man sich auch ein „Subjekt“ als re-präsentierend vorstellen (besser natürlich ein intersubjektives Kollektiv aus mehreren Forschenden, technischen Mitarbeitern und Hilfsmitteln).56 Was subjektiv (im Sinne von Erkenntnisform) und Darstellung auf der einen Stufe war, wird auf der nächsten objektiv und Dargestelltes (im Sinne von Gegenstand des Erkennens). Damit sind wir schon, eher kantianisch, dabei, auf der einen Seite einen Subjektpol – das wissenschaftliche Erkenntnissubjekt –, auf der anderen einen Objektpol – das Erkenntnisobjekt – zu abstrahieren, zu purifizieren. Die Frage ist aber, was gewinnen wir mit dieser Redeweise? Und: Zu welchem Zweck verwendet man sie? Eine solche Analyse der Erkenntnisprozesse würde auf einer transzendentalen Ebene argumentieren: Könnte man denn nicht jederzeit durch die zugestandenermaßen komplexe, instrumentelle und kooperative wissenschaftliche Erkenntnissituation einen funktionalen Querschnitt legen, der uns auf der einen

56 Latour beschreibt das, was bei den sukzessiven Schritten der zirkulierenden Referenz geschieht, auch als „Re-Repräsentation“, Latour 2000, S. 87.

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Seite das Erkenntnissubjekt, auf der anderen das Erkenntnisobjekt zeigt? Oder auch diachron, als die ganze Kette umspannend, einen Objekt(pol) auf der einen Seite postulieren (der Waldboden von Boa Vista), und einen Subjekt(pol) auf der anderen (das erkennende Wissenschaftskollektiv). Ja, man könnte einen solchen Querschnitt oder Längsschnitt legen, allerdings läßt sich damit keineswegs die Frage beantworten, worin Erkenntnis im Unterschied zu anderen Tätigkeiten, Aktivitäten besteht. Auch können wir weder dadurch noch durch genauere Analyse der Zwischenschritte der Kette eine definitive Grenze zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt oder zwischen Innen- und Außenwelt ziehen.57 Also die für manche entscheidende Frage eindeutig beantworten: Wo beginnt das Objekt (die unabhängige Außenwelt), wo hört das Subjekt auf (oder das wahr oder falsch sein könnende propositionale Erkennen)?58 Die subtraktive Logik und erkenntnistheoretische Dramatik, die in dieser Frage liegt (entweder – oder: entweder Subjekt oder Objekt, entweder unabhängige Außenwelt oder veränderliche Propositionen, entweder Ding oder Begriff), scheint mir aber nicht weiterzuführen. Sie trifft nur manche Grenzsituationen in der Forschung (etwa beim Ausschließen von experimentellen Artefakten) und dient ansonsten mehr zur Abfrage eines Glaubensbekenntnisses („Glaubst Du an das transzendentale Subjekt?“, „… die Vernunft?“, „… die unabhängige Außenwelt?“, „die Wirklichkeit“,59 Empirismus oder Rationalismus?). Der Erkenntnisakt ist „hochkomplex“.60 Ihn zu zerstückeln in „das“ Erkenntnissubjekt und „das“ Erkenntnisobjekt ist nur in bestimmten Situationen, hinsichtlich bestimmter Fragestellungen hilfreich. Das Entscheidende ist nämlich die Trans-Formation, das heißt: Sie ist das Erkenntnisgenerierende. Es bildet ja die zirkulierende Referenz keine Referenzkette, in der, wie in einer Wasserkette, ein gleiches Element von der Welt (dem Wald) zur Erkenntnis (den Forschenden) weitergereicht würde. Es zirkuliert nicht eine und dieselbe Substanz von einem Pol zum anderen, sondern in jedem

57 Was das Erkenntnissubjekt angeht, so ist es nicht in der Welt. Sondern nur dort, wo Erkennen Anspruch ist, macht es Sinn, ein Erkenntnissubjekt anzunehmen, welches aber bei wissenschaftlicher Erkenntnis ein in hohem Maße supponiertes, nicht mehr im einzelnen Bewußtsein instantiiertes ist. Scheler spricht von der „Daseinsrelativität“ des Erkannten auf „ein wissendes Subjekt überhaupt“ (Scheler 1977, S. 70). 58 Als Frage: wo hört die Kognition auf? (bzw. wo beginnt sie?) im Rahmen der erweiterten Kognition gestellt von Adams und Aizawa 2008 und beantwortet mit: an der Hautgrenze. Andere wiederum ziehen die Grenze zwischen Worten und Welt: Kneer 2008. 59 Latour 2000, S. 7 ff. 60 Wie Dewey (2001, S. 166) es so schön formuliert hat.

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Zwischenschritt erfolgt Transformation und Übersetzung. Und die Kette läßt sich auf beiden Seiten erweitern. Objektseitig: neue Bodenproben, weitere Stichproben etwa an einem anderen Waldsaum. Subjektseitig läßt sie sich – traditionell gedacht – erweitern ins Gehirn oder ins Erleben, in Subjektivität, Reflexivität oder Transzendentalität; im Sinne der Science studies gedacht: in die Auseinandersetzung in der Wissenschaftsgemeinschaft über den Artikel; oder in fachwissenschaftlicher Literatur als Zitat, in Handbüchern etc.; oder durch Übersetzung in andere Netzwerke, wie zum Beispiel populärwissenschaftliche Literatur, Zeitschriften, Vorträge (Ash 2002), Audio- und Video-Sendungen und digitale Netzwerke, also in die (weitere) Öffentlichkeit. Was ist nun aber genau der Referent dieser Referenzkette? Wir haben bisher schon mindestens zwei Antworten auf diese Frage gefunden: 1. Jeweils die vorhergehende Stufe: Was Ding, Materie, Präsenz auf der einen Stufe war, wird auf der nächsten Zeichen, Form, Darstellung; damit wird also auf die jeweils vorhergehende Stufe referiert; jedes Referenzkettenglied ist transitorisch, daher zirkuliert die Referenz. 2. Aber auch: „Der Waldboden in Boa-Vista“ am Ende der Kette ist der Referent der gesamten Referenzkette. Dennoch bildet er vielleicht eher den Horizont der Referenz. Zwar könnte man noch einmal dort hingehen, um nachzuprüfen, andererseits ließe sich die Kette dort auch wieder erweitern (etwa durch die Frage, wie repräsentativ die Bodenproben sind, und durch die Entnahme neuer). Er ist nicht realer, als es die Bodenproben sind. An beiden Enden der Kette findet sich kein absoluter Endpunkt, sondern ein relativer, die Kette läßt sich im Prinzip nach beiden Seiten erweitern (am einen Ende befindet sich nicht Subjektivität, am anderen nicht Objektivität61). Aber Referent der zirkulierenden Referenz ist 3. auch das Bodenprofil als wissenschaftlicher Erkenntnisgegenstand. Das ist einfacher gesagt, als genauer bestimmt – und daran wird noch einmal deutlich, wie komplex der Prozeß des Referierens und die Referenz im wissenschaftlichen Forschungsprozeß sind. Denn man kann hier weiterfragen: Wo befindet sich oder worin besteht dieser Referent? Im Diagramm des Bodenprofils im veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel („interner Referent“)? Zum Teil. Weiter gefragt: im Referenten dieses Diagramms, also in Bodenschichten dort am Amazonas? Wohl auch, freilich interessieren diese Bodenschichten nicht als solche, sondern in einer gewissen Verallgemeinerungsfähigkeit, Relevanz. „In der Natur“ wäre eine Antwort, die den Graben zwischen Zeichen und Welt wieder aushebt, und in ihrer Abstraktheit den Gewinn an Differenzierung, der sich durch die detaillierte Analyse der

61 Oder in der Terminologie von Habermas: am einen nicht „Lebenswelt“, am anderen nicht „objektive Welt“ (Habermas 2004, S. 20 ff.)

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Referenzkette gewinnen läßt, wieder zunichte machen würde. Im Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses? (Wozu der Artikel ja nur einen Beitrag unter vielen anderen leistet.) Gewiß, dieser ist freilich nicht so einfach zu bestimmen.62 Man könnte auch von einem transversalen Prozeß des Referierens sprechen, oder in den Worten Rheinbergers von transversalen Verkettungen von Darstellungen: „Wissenschaftsobjekte“, heißt es bei ihm, „als epistemisch konfiguierte Objekte sind ständig im Fluß befindliche transversale Verkettungen von Darstellungen.“ (Rheinberger 2001a, S. 246) Daher lautet die einzig befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Referenten der zirkulierenden Referenz: 1. jeweils der vorherige Schritt, 2. der Waldboden in Boa Vista, 3. das Bodenprofil bzw. der interne Referent des wissenschaftlichen Diskurses bzw. der Erkenntnisgegenstand der Wissenschaftler. Von zirkulierender Referenz ist aber 4. weiterhin deshalb die Rede, weil man die Kette in jedem Augenblick in beiden Richtungen durchlaufen können muß (bedeutet also die Reversibilität der Zirkulation). Fehlt ein Glied der Kette, bricht die Referenz zusammen.63 Der Referent macht sich nicht durch Widerständigkeit bemerkbar, sondern wird im Zirkulieren über viele Stufen ermittelt.64 Wie weit sich der Begriff der zirkulierenden Referenz verallgemeinern läßt auf den Erkenntnisprozeß aller Wissenschaften, läßt sich nicht so ohne weiteres sagen;65 gewiß lassen sich manche der angeführten Züge verallgemeinern. Etwa,

62 Latour spricht in anderem Zusammenhang von „Proposition“ (Latour 2000, S. 175 ff.), in wieder anderem von wissenschaftlicher „Tatsache“ (matter of fact; polemisch: „unbestreitbare Tatsache“), aber auch vom Forschungsgegenstand als „umstrittener Tatsache“ (matter of concern): Latour 2007b, S. 192 ff. An diesem Punkt denkt die Wissenschaftsgeschichte zum Teil anders weiter. Besonders Canguilhem akzentuiert den Unterschied zwischen dem Gegenstand der Wissenschaften und den naturalen oder sonstwie außerwissenschaftlich qualifizierbaren Objekten. Methodisch geleitete und durch Falsifikationsversuche kontrollierte Theorie zeichnet das Diskursuniversum aus, in dem wissenschaftliche Gegenstände konstituiert werden, vgl. Canguilhem 1979, S, 29. Siehe dazu auch Rheinberger 2007, S. 101 ff. 63 Wie Latour manchmal betont: „Wichtig ist, daß diese Kette reversibel bleibt.“ (Latour 1996b, S. 239). 64 Die Wirklichkeit des Referenten wird nicht als Widerständigkeit, sondern als flüssiges und stabiles Zirkulieren über viele Etappen verstanden. Vgl. Latour 2000, S. 181. Vgl. Cuntz 2008, S. 106, der in diesem Zusammenhang von „Wendigkeit“ spricht, und diese auch als Eigenschaft von Quasi-Objekten festhält. 65 Latour selbst verweist auf Knorr Cetina 2002 und Galison 1997 als Quellen weiterer Beispiele für zirkulierende Referenz (Latour 2001a, S. 325 f.). Aktualisiert und mit einer leicht modifizierten Terminologie auf Paläontologie und Evolutionsforschung bezogen hat er die Fragestellung in Latour 2008b. Siehe auch bezogen auf Helmholtz

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daß eine abstrakte Subjekt/Objekt-Dichotomie sich auflösen läßt in einen vielgliedrigen Prozeß des Referierens, in funktionale Querschnitte mit jeweils anderen Subjekt-/Objektanteilen.66 Auf jeden Fall ist mit zirkulierender Referenz nicht jeder Prozeß der Bezugnahme noch jedes Verhältnis von Zeichen zu Bezeichnetem gemeint.67

Läßt sich zirkulierende Referenz auch als verteilte Kognition verstehen? Es ließe sich die Kette der zirkulierenden Referenz vielleicht auch als verteilte Kognition, als Verkettung kognitiver Medien, als „Fortpflanzung von repräsentationalem Zustand durch verschiedene Medien“ im Sinne von Hutchins beschreiben. Ein Teil des Erkenntnisprozesses wird delegiert: an die Planquadrate im Urwald, an den Pedokomparator, an den Wandschrank mit seinen Fächern, wie auch schließlich an den wissenschaftlichen Artikel mit seinem internen Referenten (dem Diagramm). Der Text hält einen bestimmten Forschungsstand, ein bestimmtes Forschungsergebnis in schriftlicher Form (externer Darstellung) fest, als Basis für diskursive Auseinandersetzung und neue Forschung.68

und dessen Kurven, die das Zucken eines Froschmuskels darstellen: Schmidgen 2009, S. 57 ff. 66 Aber auch Latour hat in anderen Fällen, wo er wissenschaftliche Forschung analysierte, mit anderen Begriffen gearbeitet, um auf andere Besonderheiten des Erkenntnisprozesses aufmerksam zu machen, wie zum Beispiel Proposition/Artikulation als Beitrag zur Ontologie der im Labor emergierenden Entitäten: Latour 2000, S. 175 ff. Zur Artikulation vgl. auch Sloterdijk 2004, S. 219. 67 So mißversteht es etwa Kneer (2008, S. 293 f.), der Latours Ausführungen zur zirkulierenden Referenz in Konkurrenz zu semiotischen Theorien wie denen von Peirce und Saussure liest. 68 Giere und Moffatt (2003) haben versucht, die von Latour beschriebene Forschungsexpedition ins Amazonasgebiet als verteilte Kognition umzubeschreiben, wobei sie ihre Interpretation als über Latour hinausgehend präsentieren. Woran sich die These anschließt, daß der wissenschaftliche Forschungsprozeß vielleicht prinzipiell so, nämlich auf der Grundlage von Kognition (Giere und Moffatt würden sagen als verteilte Kognition, die sie aber sehr anthropozentrisch an den menschlichen Kognitionsträger binden), beschrieben werden sollte. Giere und Moffatt identifizieren letztlich Kognition und Episteme und sehen darin auch noch eine originelle, über Latour hinausgehende Interpretation. Latour macht deutlich, daß er mit seiner bodenkundlichen Expedition einen wissenschaftlichen Forschungsprozeß, und also auch eine ebensolche zirkulierende Referenz beschreibt. Das ist zunächst einmal nicht im Widerspruch zur Interpretation als verteilte Kognition zu verstehen. Eher scheint er sich bewußter zu sein, daß Kognition und wissenschaftliche Forschung nicht dasselbe sind, auch teilt er nicht den rationali-

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Vielleicht kann man hier zunächst terminologisch differenzieren zwischen „epistemisch“ und „kognitiv“69, das heißt zwischen wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen, also epistemischen Prozessen einerseits und (kognitiven, mentalen) Denkprozessen andererseits. Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse sind gesellschaftlich sanktionierte und organisierte Weisen der Wissensgewinnung, in der Regel sind sie als solche institutionalisiert, in wissenschaftlichen Institutionen, Zeitschriften, Gemeinschaften verkörpert und organisiert. Diese Definition ist von den Science studies in verschiedener Form modifiziert worden, im besonderen von Latour als ein Zusammenhang von Netzwerken, Experimenten und Forschenden. Im Unterschied dazu sind kognitive Prozesse individuelle menschliche Bewußtseinsprozesse, die in Problemlösung, Vergegenwärtigung, Besinnung, Reflexion bestehen oder aber als kognitive Schemata Routinen des Handelns, der Kommunikation, des Verhaltens begleiten oder (als Innenstützen) organisieren.70 Andererseits modifizieren die neueren Untersuchungen zur verteilten Kognition das, was man sich unter Kognition vorzustellen hat, nicht unerheblich, da dingliche, körperliche und personale Stützen und Delegationen hinzutreten. Gewiß spielt verteilte Kognition in wissenschaftlichen Prozessen eine Rolle bzw. lassen diese sich teilweise als solche um-beschreiben. Aber daneben gibt es noch die wissenschaftlichen Tatsachen (Latour), die wissenschaftlichen Methoden und Theorien (Canguilhem, Popper) und die wissenschaftlichen Objekte (Rheinberger, Canguilhem), die nicht in kognitiven Prozessen aufgehen.71 Zum anderen besteht ein Unterschied in den Zielen und Strukturen von kognitiven Aktivitäten und wissenschaftlichen Praktiken. Während bei der Navigation des Schiffes dieses sicher in den Hafen zu navigieren ist, geht es etwa bei der Expedition von Meeresforschern darum,72 Wasserproben für wissenschaftliche Analysen zu entnehmen. Hier folgen die Seeleute den Anweisungen der Wissenschaftler, navigieren das Schiff an die nach dem Raster für die Stichproben ausgesuch-

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stischen Optimismus, den die beiden Autoren bei ihrem Versuch entfalten, kognitive und epistemische Prozesse zu verschmelzen. Man muß allerdings berücksichtigen, daß hier ein Bedeutungswandel stattgefunden hat, der insbesondere auf Foucault zurückgeht, mit dem allmählichen Vordringen des Wortes epistemisch in Zusammenhänge, wo vorher noch von kognitiv die Rede war. Hutchins spricht auch von internen kognitiven Artefakten („internal artifacts“): „Die Sterne sind keine Artefakte […], doch sie haben eine Struktur, die, zusammen mit der richtigen Art interner Artefakte (Strategien des ‚Sehens‘) zu einem der wichtigsten strukturierten Repräsentationsmedien des mikronesischen [Navigations-]Systems wird.“ (Hutchins 1995, S. 172.) S.o. Anm. 62. Außerdem sollte man die Struktur wissenschaftlicher Forschungsnetze und -kollektive als ein weiteres Spezifikum hinzunehmen. Die Goodwin (1995) beschreibt.

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ten Stellen. Auch werden diese Proben zum Ausgangspunkt oder Bestandteil eines Netzwerks der zirkulierenden Referenz, das sich vom Schiff bis in die wissenschaftlichen Labore und fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen hinein erstreckt. Die Struktur, besser Strukturierung dieses Netzes (etwa als zirkulierende Referenz) ist es, was Wissenschaft oder wissenschaftliche Forschung oder auch wissenschaftliche Erkenntnis im Unterschied zu kognitiver Aktivität ausmacht. In rationalistischer Perspektive scheinen die kognitiven Prozesse der individuellen Forscher sei es die Grundlage sei es die Schaltstelle des gesamten Forschungsprozesses zu bilden. Schaltstelle sind sie auch in gewissem Sinne, nämlich in dem der Agentur, Vermittlung (s.o. Kap. 2.2). Empirisch sprechen allerdings die Science studies gegen die Annahme einer kognitiven Basis des Erkenntnisprozesses als letzter Instanz der Erklärung. Es gibt, gewiß, einen mentalen Anteil, aber es gibt auch einen Anteil der Dinge, Experimentalsysteme, Forschungsnetzwerke, wissenschaftlichen Diskursuniversen. Man vergegenwärtige sich nur die obigen Ausführungen zur Kognition in komplexen technisch vermittelten Situationen, wie bei der Navigation eines Schiffes (anläßlich Hutchins); die dort angestellten Überlegungen zur verteilten Kognition dürften für Laboratorien und Experimente mindestens ebenso gelten. Forscherpersonen und -bewußtseine spielen, wie bereits gesagt, mit im gesamten Konzert von zirkulierender Referenz, Inskriptionen etc. Sie steuern aber nicht den gesamten Prozeß, sondern nur „das zum Fortgang Notwendige“ bei.73 Wenn schon eine Basis zu suchen ist, dann eher umgekehrt: Die kognitiven Prozesse der Forschenden werden getragen vom kollektiven und instrumentell vermittelten Forschungsprozeß. Da die Kognition teilweise ihr Komplement in Praktiken, Geräten, abgelesenen Inskriptionen findet, macht die isolierte Untersuchung der kognitiven Prozesse der menschlichen Akteure wenig Sinn. Man muß zumindest den „externen Darstellungen“ ein sehr großes Gewicht beimessen. Auch wenn die internen Re-

73 Wie oben in Anlehnung an Luhmann formuliert. Fast so alt wie die Science studies sind auch die Versuche, kognitive Prozesse bei Wissenschaftlern zu untersuchen, siehe zum Beispiel Fuller/De Mey/Shinn et al. 1989. Auch Latour und Woolgar fragen sich, inwieweit die „Denkprozesse“ der Forscher, das „Haben einer Idee“ sich teilweise als soziale Prozesse umbeschreiben lassen (Latour/Woolgar 1986, S. 168 ff.). Sie fordern gar ein zehnjähriges Moratorium für kognitive Erklärungen der Wissenschaft (vgl. ebd., S. 280), ein Moratorium, das Latour in seiner begeisterten Rezension von Hutchins Buch für beendet erklärt (Latour 1996a S. 62). Das Argument verläuft ähnlich wie bei der Intentionalität als angeblicher Grundstruktur sozialen Handelns: daß es so leicht und einfach ist, den Akteuren komplexe kognitive Leistungen (bzw. Intentionalität) zuzuschreiben, die sich aber nur konkret, empirisch erweisen und beschreiben lassen.

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präsentationen nicht ganz wegfallen, sind sie vielleicht sogar als Repräsentationen auf externe Darstellungen angewiesen.74 „Wenn es so etwas gibt wie einen Erkenntnis-‚Akt‘ (‚act’ of knowing,), ist er derselbe für menschliche Teilnehmer und Beobachter. Am Ende besitzen alle dieselbe Erkenntnis [bzw. dasselbe Wissen (knowledge)]“, schreiben etwa Giere und Moffatt (2003, S. 304). Dies kann man anzweifeln. Eher: Bestimmte Netze garantieren, daß jeder, der sich auf sie einläßt – bzw. auf die Argumentation eines wissenschaftlichen Artikels, der sie zusammenfaßt –, zu derselben Erkenntnis gelangt (aber nicht über das gleiche Wissen verfügt).75 Auch die nichtmenschlichen Entitäten haben ihren Anteil am Wissen, und wenn sie es nur, wie Papier und elektronische Speichermedien, fixieren. Und sofern man „knowledge“ als Erkenntnis übersetzt, gilt: Erkenntnis läßt sich, anders als Wissen, erst recht nicht „besitzen“.76 Hier könnte man genauer unterscheiden zwischen den unveränderlichen Mobilen (den relativ unveränderlichen, beweglichen Inskriptionen) und den externen Darstellungen bzw. den „repräsentationalen Medien“ von Hutchins. Wenn letztere auch in vielem mit ersteren vergleichbar sind, in einem Punkt sind sie es nicht. Es ist kein Zufall, daß Latour vornehmlich von Referenz (und nicht Repräsentation) spricht und daß er seine externen Hilfsmittel wissenschaftlicher Referenz nicht externe Darstellungen (wie Giere und Moffatt) oder darstellende Medien (wie Hutchins) nennt, sondern externe Inskriptionen bzw. unveränderliche Mobile. Ein Gemälde (etwa eine Ansicht der Sainte Victoire von Cézanne) stellt einen äußeren Gegenstand dar, dagegen enthält ein repräsentationales Medium wie der nautische Rechenschieber zwar auch Darstellungen, die man aber wohl besser als Inskriptionen bezeichnet, denn sie repräsentieren Längenmaße, Längeneinheiten, Korrelationen von Längenmaßen mit Zeiteinheiten etc. Diese Maße ähneln keinem Ding da draußen oder stellen es dar, sie sind nur Mittel, sich ihm zu nähern, von ihm zu entfernen, es zu messen, zu vergleichen, zu überprü-

74 Sehr nahe an Latour (und Clark) formuliert Giere an anderer Stelle, „daß die Struktur wissenschaftlicher Theorien eine Eigenschaft externer Darstellungen ist, wie etwa Gleichungssysteme, Diagramme und prototypische Modelle. […] Alles, was explizit im Gehirn repräsentiert sein muß, sind Bruchstücke und Stücke [bits and pieces] externer Darstellungen, die nowendig sind, um externe Manipulationen zu erleichtern.“ Giere 2002, S. 298 ff. 75 Man kann schon nicht allen menschlichen Teilnehmern an einer wissenschaftlichen Expedition, an einem wissenschaftlichen Experiment dasselbe Wissen zusprechen. Um wieviel weniger diesen und irgendwelchen Beobachtern. 76 Hier verweise ich auf Isabelle Stengers, die immer wieder die Ereignishaftigkeit von Erkenntnis, Wahrheit, logischen Aussagen demonstriert und beschreibt. Siehe u.a. Stengers 1993, S. 39 f., S. 62, S. 80 ff.; Stengers 2005, S. 53.

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fen etc. Nicht nur ist Latours Wortwahl hier vermutlich geschickter, sie ermöglicht ihm auch, eine interessante These vorzubringen: Wir verwechseln die Mittel, mit denen wir etwas messen, darstellen etc., mit dem, was wir darstellen. Wir nehmen die Landkarte für ein Bild des Territoriums, wir verwechseln die Kartographie mit der darstellenden Malerei (Camacho-Hübner/Latour/November 2010). Mehr noch: Anhand der unveränderlichen Mobile modeln wir unsere Vorstellungen von den Dingen (Latour 1990, 2007a). Das, was wir für Dinglichkeit halten, etwas, das mit wesentlichen Eigenschaften konstant bleibt, während unwesentliche Eigenschaften hinzutreten oder wegfallen können, gilt in Wirklichkeit für unveränderliche Mobile.77 Interessant und relevant ist noch eine andere Fragestellung, die nach den Grenzen der Kognition. Für manche (Adams und Aizawa 2008) bilden die Grenzen des menschlichen Körpers die Grenzen der Kognition. Das ist die konventionelle Sicht, die ich nicht teile. Andere, etwa Giere (2002, S. 294), meinen die Grenzen der Kognition um alles ziehen zu können, was bei kognitiven Resultaten einen Unterschied macht. Nur solche externen kognitiven Hilfsmittel werden als Teil der erweiterten Kognition betrachtet, die den kognitiven Output tangieren. Beispiel: die Computer der Library of Congress, auf die ich zurückgreife, um meine Dissertation zu schreiben, nicht aber die Kraftwerke, die den Strom produzieren, der die Rechner speist. Die Frage, wie weit oder eng man Kognition definieren soll, läßt sich aber auch auf diese Weise nicht endgültig beantworten.78 Letztlich ist hier noch einmal daran zu erinnern, daß man diese Grenzen (wie auch die zwischen innen und außen79) nicht zu starr und fest ziehen soll.

77 Hiermit schlägt Latour vom dinglichen Existenzmodus bei Souriau eine Verbindung zu seinen unveränderlichen Mobilen: Latour 2011, S. 319. 78 Ich erinnere hier an die Abbildung der Klimaanlage im Dachgeschoß des Labors in Laboratory life in Latour/Woolgar 1986, S. 93. 79 Wie von Hutchins 1995, S. 312, festgehalten.

Kapitel 4. Gesellschaft und Denken mit Dingen „Ideen, die nicht kommuniziert, geteilt, und in der Äußerung wiedergeboren werden, sind nur Selbstgespräch, und das Selbstgespräch ist nichts als lückenhaftes Denken.“ JOHN DEWEY

Ich will nun die beiden Perspektiven Sozialität und Kognition mit Dingen expliziter und allgemeiner (über die wissenschaftliche Forschung hinaus) zusammenführen, und zwar anhand zweier Fragestellungen. Die eine ist traditioneller und knüpft an den Begriff des objektiven Geistes und das Denken von Institutionen an, die neuere geht aus von der verteilten Kognition. Ich beginne mit der neueren, indem ich zunächst (4.1) die Verteilung von Kognition als Sonderform sozialen Handelns thematisiere, bzw. die kollektive Lösung kognitiver Probleme als eine Form, wie Sozialität sich bildet, als eine Form von Vergesellschaftung. Anschließend wende ich mich (4.2) der Fragestellung Institutionen und Kognitionen zu: Wenn man dingliche Vermittlungen in die Kognition einbezieht, wird eine neue Verbindung zwischen individuellen Denkprozessen und dem Sozialen vorstellbar. Mit ihren Außenstützen verknüpft sich die verteilte Kognition nahtlos mit gesellschaftlichen Institutionen, und umgekehrt.

4.1 D INGE

SOZIAL DURCH

K OGNITION

Unsere leitende Fragestellung aus dem 2. Kapitel läßt sich in den Bereich der Kognition hinein verlängern. Gefragt wurde: Wie lassen sich Dinge gesellschaftsfähig machen, das heißt soziologisch akzeptabel und konzeptualisierbar? Und die Antworten lauteten: Dinge werden sozial durch Handeln, durch Normativität (bzw. Verdinglichung) und durch Assoziation. Als weiteren Eintrag in

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dieser Liste kann man die folgenden Überlegungen unter den Slogan stellen: Dinge sozial durch Kognition. Hierbei scheint mir der Begriff der Verteilung brauchbar zu sein. Sowohl beim sozialen Handeln als auch in der Kognition wird etwas an Dinge verteilt, was diesen einer bestimmten Tradition gemäß nicht zukommen kann bzw. darf. Ich werde nun einen Übergang vom Kognitiven zum Sozialen herstellen, der an einer soziologischen Interpretation der verteilten Kognition (bzw. von Hutchins’ Studie) ansetzt. Er ließe sich charakterisieren als die allmähliche Verfertigung des Sozialen bei der Kognition, genauer bei der verteilten Kognition oder auch bei der Verteilung der Kognition. Demnach wäre die interaktive, gemeinsame, kollektive Lösung kognitiver Probleme als eine Form zu betrachten, wie Sozialität sich bildet, realisiert. Damit verwandelt sich die alte Frage, wie das Soziale das Kognitive bestimmt, in eine neue: wie Kognition sozial wird oder zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen beiträgt. Mit Latour interpretiere ich die Studien zur verteilten Kognition (wie die von Hutchins) in diesem Sinne als den Versuch, die fortschreitende Kognition und Verteilung der Kognition zu beschreiben, ohne auf eine genuine soziale Kraft oder eine bereits bestehende Gesellschaft zu rekurrieren (vgl. Latour 2007b, S. 26). Eher umgekehrt: Das Soziale bildet sich bei der Kognition. Das bedeutet auch, Sozialität als sich vollziehende Assoziierung oder Versammlung zu denken bzw. zu protokollieren (letzteres bei der empirischen Untersuchung). Beobachtet wird anhand der Kognition das sich zusammensetzende Soziale, ohne daß „die Gesellschaft“ als Erklärung herangezogen wird:1 Kognition als eine Form der Vergesellschaftung, aber eine heterogene. Hier sollte man kurz überlegen, wie sich Kognition zum sozialen Handeln verhält. So wie individuelles Handeln zu sozialem Handeln? Oder so wie spezielles Handeln mit speziellen Dingen (kognitiven Medien, Inskriptionen, unveränderlichen Mobilen) zu Handeln generell? Im zweiten Fall läßt sich auch individuelles kognitives Handeln, das sich etwa auf exteriorisierte kognitive Medien stützt, als soziales Handeln betrachten. Nicht nur, weil die kognitiven Medien Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen sind, sondern auch, weil die heterogene, mit dinglichen Mitteln operierende Kognition Sozialität stiftet, da sie an der einen oder anderen Stelle auf Kooperation angewiesen ist. Denken und Kognition wären nicht per se einsamere oder individuellere Formen des Handelns. Entscheidend sind vielmehr die besonderen Mittel, Medien dieses (kognitiven)

1 Daß sich das Soziale bei der Kognition bildet oder daß Erkennen einen moralischen Aspekt hat, ist ebenfalls ein Gedanke Garfinkels. Siehe Heritage 1984, S. 75 ff.

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Handelns und seine soziogene Wirkung, und weniger sein (bisweilen) privater oder innerlicher Modus. Verteilung von Kognition: sich erstreckend, aufgeteilt  Wenn man Kognition als ein „komplexes soziales Phänomen“ (Lave 1988, S. 1) charakterisiert, so könnte dies dahingehend mißverstanden werden, daß nun das Soziale oder die Gesellschaft als fixes Explanans an die Stelle der Psyche tritt, daß man also einen Soziologismus an die Stelle eines Psychologismus setzt. Hier ist vielleicht der Gegensatz zwischen erstreckter und aufgeteilter Kognition instruktiv: Demnach „erstreckt sich“ die verteilte Kognition über eine Vielzahl von Beteiligten, Akteuren, Entitäten, Instanzen und ist „nicht zwischen ihnen aufgeteilt“.2 Das leuchtet ein, dennoch: Wenn man dieses Sich-Erstrecken als Bewegung versteht, könnte sich eine solche Kognition manchmal auch als „aufgeteilt“ erweisen, nämlich sobald man den Prozeß anhält. Nicht nur in Gedanken anhält in der Art eines funktionalen Querschnitts (wie oben unter 3.2 am Beispiel der zirkulierenden Referenz ausgeführt), sondern auch und gerade, wenn in einer Problemsituation die Handlung bzw. Kognition stockt und nachgedacht wird. Daß sich der Bogen (oder die Aktion) der Kognition über mehrere Akte, Aktanten oder Akteure erstreckt, ist Zeichen einer gelingenden Kognition, zumindest einer Kognition im Vollzug. Das bedeutet umgekehrt, daß es auch Momente in der Kognition – der „Fortpflanzung von repräsentationalem Zustand

2 Den Gegensatz „stretched over“ vs. „divided among“ hat Jean Lave herausgearbeitet. Zitiert wird er von Meister (2002, S. 218) und Star (1996, S. 297), letztere charakterisiert ihn als eine „pragmatics of the stretch“. Laves These lautet: „there is reason to suspect that what we call cognition is in fact a complex social phenomenon. The point is not so much that arrangements of knowledge in the head correspond in a complicated way to the social world outside the head, but that they are socially organized in such a fashion as to be indivisible. ‚Cognition‘ observed in everyday practice is distributed – stretched over, not divided among – mind, body, activity and culturally organized settings (which include other actors)“ (Lave 1988, S. 1, Hervorhebung hinzugefügt). To divide bedeutet „teilen“, mit den Nuancen „einteilen“, „aufteilen“, „zerteilen“; stretched over heißt „aufgespannt, sich erstreckend über“. Meister nimmt, Lave und Star zitierend, die verteilte, sich erstreckende Kognition als Muster für anderes verteiltes Handeln, etwa für die „Kohäsion von translokalen Unternehmungen“ (Meister, 2002, S. 218). Am Beispiel der Roboterkonstruktion macht er deutlich, daß Objekte als Fixpunkte sozialer Handlungen, Praktiken und Diskurse dienen können.

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durch verschiedene Medien“3 – gibt, wo diese Fortbewegung angehalten werden kann oder muß, weil Störungen, Hindernisse auftauchen. Dann haben wir es mit einer Problemsituation oder problematischen Situation zu tun.4 Und problematische Situationen sind oft in einem prominenten Sinne soziale, sozialisierende Situationen. Hier werden dann die verschiedenen Facetten des Handelns handlungs- und deutungsrelevant: Es kann das Gefüge der Akte wirkungsmäßig untersucht werden (agency 1), es kann dieser oder jener Entität oder assoziierten Entitäten als Akteur zugerechnet werden (agency 2), es kann die Machtfrage gestellt werden (agency 3), es kann die Delegation von Teilschritten auf verschiedene Dinge bzw. Medien thematisiert werden, wozu auch interne kognitive Medien gehören (agency 4), oder es kann schließlich jemand für das Problem oder seine Lösung die Verantwortung übernehmen bzw. verantwortlich gemacht werden (agency 5). Das Gegensatzpaar Erstreckung/Aufteilung (stretched over/divided among) muß also nicht so grundsätzlich und unvereinbar verstanden werden.5 Für mich besteht ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen integralem Akteur auf der einen Seite und verteiltem (oder erstrecktem) Handeln auf der anderen. Die Erstreckung kann selbst wieder unterschiedlich gefaßt werden, sie kann ebenfalls Teilung, Arbeitsteilung, Delegation beinhalten, und dann ist Kognition, zumindest zeitweise, eben doch verteilt, geteilt oder aufgeteilt (also „divided“). Eine sich erstreckende Verteilung von Handlungsteilen und Kognitionsakten kann demnach durchaus als funktionale, systematische, hierarchische Arbeitsteilung und Rollenaufteilung organisiert sein. Rammert (2006, S. 187 f.) hebt bei der distribuierten Kognition die „Parallelität“ der Problembearbeitung, die „Selbstorganisation“ und die „lockere Koppelung“ hervor, die er auf sonstiges verteiltes Handeln verallgemeinern will. Er unterscheidet weiterhin verschiedene Formen der Arbeits- oder Aufgabenteilung im verteilten Handeln: hierarchisch, funktional, fragmental; ich würde noch als begrifflich bewußt schwach gehaltene hinzufügen: assoziiert.6

3 4 5 6

Wie die bereits zitierte Formulierung von Hutchins (1995, S. 117) lautet. Im Sinne Deweys: Dewey 2002, S. 131 ff., und Margolis 2004, S 162. Wie von Meister (2002) und Star (1996). Die hierarchische und funktionale Handlungs-/Kognitionsverteilung wird von ihm als eher trivial dargestellt, die als „fragmental“ bezeichnete dagegen hervorgehoben, wenn nicht gar als üblicher Modus der verteilten Kognition oder als neuer Modus gesellschaftlicher Arbeitsteilung verstanden (Rammert 2007b, S. 196). Sie besteht aus einer Kooperation von relativ autonomen parallel agierenden Einzelakteuren oder Einzel-

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Als neuen Gegensatz hätten wir dann einen zwischen wechselnder vs. starrer Verteilung. (Und letzteres ist vermutlich mit „divided“ gemeint.) Weiterhin zu berücksichtigen ist die geteilte Kognition, die geteilte soziale Aktivität im Sinne von Teilhabe („shared“, im Unterschied zu „distributed“ oder „divided“). In der Regel spricht man nur bei Beteiligung von anderen menschlichen Kognitionspartnern von ge-teilter Kognition in diesem Sinne.7 Aber könnte man, so wie von einer Arbeitsteilung, nicht auch von einer Wahrnehmungsteilung sprechen, und zwar auch zwischen Menschen und Geräten?8 Könnte man dementsprechend bei Kognition von einem Miterkennen durch nicht-menschliche Entitäten und Wesen sprechen? Ich denke schon. Teilchenbeschleuniger erkennen mit, Blasenkammern nehmen Teilchen wahr bzw. es gibt eine mit diesen geteilte Wahrnehmung. Und bekanntlich gibt es in den nicht so exakten Wissenschaften eine „Kommunikation mit Zettelkästen“ (Luhmann 1992). Weiterhin läßt sich hier der teilweise auf seine Umgebung verteilte Akteur anführen, welcher durch die Verteilung entsteht. Dieser läßt sich mit agency 1, Wirkungsmacht, fassen, wenn wir die kognitiven Artefakte und Hebel herausarbeiten wollen; mit agency 2, Akteurhaftigkeit, wenn es um kollektive Akteure und Akteurnetzwerke geht; und mit agency 4, Vermittlung, wenn wir die unterschiedlichen Delegationen und kognitiven Delegierten versammeln wollen. Ob man die integrale Handlung zusätzlich noch einem integralen Akteur zuschreibt (agency 3, Handlungsmacht, und agency 5, Verantwortung), ist eine Frage, die sich selbstverständlich stellen und teilweise beantworten läßt. Von der Vorstellung, letzteres sei die einzig relevante Frage, habe ich einen aktantiellen oder sequentiellen Handlungsbegriff abgesetzt, der das soeben noch einmal aufgefächerte Handlungs- und Aktionsspektrum umfaßt. Wichtig erscheint mir im Zusammenhang des Gegensatzes integraler Akteur vs. aktantieller Handlungsbegriff die Möglichkeit, das hier zur Kognition Gesagte mit dem (sozialen) Handeln im allgemeinen in Beziehung zu bringen. Die fortschreitende Zusammensetzung (oder Komposition, Bildung) der Handlung stellt ja eine Um-

agenten, nicht sich komplementär, hierarchisch, funktional o.ä. ergänzenden TeilAgenten. Vgl. Rammert 2006, S. 185 ff. 7 Es ist dies sogar der emphatische Begriff von sozialem Wissen, Bewußtsein, bei Durkheim beispielsweise. 8 In ähnlichem Sinn spricht Goodwin, die Kooperation zweier Forscher vor ihren Bildschirmen beschreibend, von einer Wahrnehmungs- und nicht nur Arbeitsteilung: „not just a division of labor, but a division of perception“ (Goodwin 1995, S. 256). Von „shared representations“ im Zusammenhang mit der Handlungssynchronisierung sprechen Böckler/Knoblich/Sebanz (2010, S. 244).

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(be)schreibung des aktantiellen Handlungsbegriffs dar, also der Verkettung von Akten und Aktanten. Sie paßt auch zu dem, was ich unter sozialem Handeln verstehe (s.o. Kap 2.2., „Verteiltes und verantwortetes Handeln“). Wenn Kognition eine Form sozialen Handelns darstellt, sollte der Übergang zwischen Handeln und Kognition prinzipiell keinen großen Sprung bedeuten. In mancher Hinsicht gibt es Kontinuität, in anderer Besonderheiten, zunächst einmal bei den beteiligten Hilfsmitteln und Artefakten, nämlich darstellenden, kognitiven, inskriptiven. Gerade bei der Kognition wird allerdings der integrale Akteur in den Vordergrund gerückt, und zwar im Sinne eines emphatischen Handlungs- bzw. hier Erkenntnissubjekts. Vielleicht läßt er sich aber auch als Selbst, Person oder denkendes Individuum beschreiben, oder gar als Kognitionsagent.9

Kognition verteilt auf Subjekt und Objekt? Traditionellerweise hebt man allerdings bei der Kognition nicht so sehr die speziellen Hilfsmittel hervor, sondern den anderen, meist inneren, subjektiven Charakter kognitiver Aktivität. Nur weil wir uns Denken oder Kognition als etwas intimer mit einem Ich oder Selbst verknüpft vorstellen, scheint es hier schwieriger, seinen sozialen Charakter anzuerkennen bzw. seine sozialen Aspekte zu sehen. Auch scheint man das, was da denkt oder erkennt, näher bestimmen zu müssen: Geist? Bewußtsein? Selbst? Ich? Subjekt? Beim sozialen Handeln (in Kap. 2.2) kam ich schon auf die Intentionalität zu sprechen, die mir dort als Strukturmerkmal sozialen Handelns zu anspruchsvoll erschien, ich hielt einen weiten Handlungsbegriff als Ausgangspunkt für sinnvoll, ohne intentionales Handeln aus dem Spektrum der Handlungsformate auszuschließen. Gegen die Intentionalisten, Dualisten unterstrich ich den sozialen und institutionellen Charakter intentionalen Handelns. Die Weigerung, von intentionalem Handeln als analytischem „Letztelement des Sozialen“10 auszugehen hieß, sich gegen mentalistische (intentionale) Bewußtseinszustände als letztes Substrat des Handelns und erst recht gesellschaftlichen Handelns zu wenden. Auch oder gerade die intellektuellen Technologien zeigen, daß Geist, Intellekt nicht auf subjektiven Geist reduzierbar ist, nicht in mentalen Bewußtseinszuständen aufgeht, sondern wir uns bei Kognition und Denken auf Dinge, Inskriptionen, Außenhalte stützen. Dennoch gibt es subjektiven Geist, der nicht auf Bücher, Logarithmentafeln, Sprache, Neuronen reduzierbar ist. Wenn es um das Denken, Handeln, Wahrnehmen der einzelnen Menschen geht, kann man subjek-

9 Darauf komme ich noch einmal zurück, s.u. S. 216. 10 Schulz-Schaeffer 2007, S. 26.

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tive Erfahrung, Subjektivität, Subjekt, Selbst, Psyche, Bewußtsein, Intentionalität, Intensionalität, die Erste-Person-Perspektive, Teilnehmerperspektive, Binnenperspektive oder wie immer wir es nennen wollen, nicht ignorieren. Während ich Intentionalität als Handlungsstruktur skeptisch gegenüberstehe, also auch einem von ihr getragenen integralen Akteur, kann ich sie mir als Bewußtseinsstruktur durchaus vorstellen.11 Demnach würde ich mich bei den Diskussionen in der sogenannten Philosophie des Geistes auf die Seite der Intentionalisten schlagen. Andererseits erscheint mir Intentionalität als grundlegende Dimension oder hauptsächliche Definition menschlichen Bewußtseins oder Geistes viel zu dürftig, zu verkürzt (zudem eine spezifisch moderne und defensiv formulierte Fassung).12 Außerdem spielen sich in jenen Diskussionen naturalistische Repräsentationalisten und dualistische Intentionalisten gegenseitig den Ball zu, so daß die Debatte von vorneherein in festgelegten und erwartbaren Bahnen verläuft.13 Ein Indiz für die verschworene Gemeinschaft der Kontrahenten liegt darin, daß beide Lager externe Medien des Geistes nahezu vollständig ignorieren.14 Daher stehe ich nur mit Vorbehalt und nur hinsichtlich der Unreduzierbarkeit von Bewußtsein oder subjektivem Geist auf Seiten der Intentionalisten. Wenn schon Intentionalität, müßten Erläuterungen der Intention und „Neubeschreibungen“ zu ihr dazugehörend gedacht werden (Cursio 2006, S. 159). Dann sind wir aber bald bei Personalität, Verantwortlichkeit, Selbst, die sich nur essentialistisch (und idealistisch) auf Bewußtsein und Geisteszustände reduzieren lassen, und bei einer auch sozial instituierten bzw. gestützten Intentionalität. Die schon beim verteilten Handeln (Kap. 2.2) vertrackten Beziehungen zwischen Handlungssubjekt und Verteilung werden bei der Kognition nicht einfacher, schließlich ist die Vorstellung des unabhängigen Subjekts vom denkenden ausgegangen. Wollte man diese komplizierte Sachlage entzerren, müßte man ei-

11 Hier könnte man daran erinnern, daß die Akzeptierung der Intentionalität auf psychischer, ihre Zurückweisung auf sozialer Ebene auch in Luhmanns Systemtheorie zu finden ist, die von einer strikten Trennung zwischen psychischen und sozialen Systemen ausgeht. 12 Defensiv im Hinblick auf die Expansion der Naturwissenschaften, besonders sichtbar und auch historisch datierbar bei Brentano 1973 [1874]. Auch in der Binnenperspektive, wenn es um das Erleben geht, erscheint mir Intention als sehr eng verstandene Erfahrungsstruktur. Siehe die Kritik von Schmitz an der Intentionalität: Schmitz 1968, S. 1 ff. 13 Stengers sieht eine wechselseitige konsensuelle Anerkennung der sich oberflächlich bekämpfenden Philosophen und Neurowissenschaftler: Stengers 2008, S. 40. 14 Sieht man einmal von sprachlichen ab; was natürlich kein Zufall ist, denn diese kann man, grosso modo, einem bedeutungsgenerierenden Subjekt oder Intersubjekt zuschlagen.

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nige Unterscheidungen einführen. Zunächst wäre zu differenzieren zwischen Subjektivität (oder Denken) im Sinne von Innenleben des Individuums (die Gedanken sind individuell) und im politisch-moralischen Sinn als dem individuellen Wert jedes Einzelwesens (die Gedanken sind frei).15 Allein bei der ersteren Bedeutung von Subjekt, also der individuellen Kognition oder den kognitiven Prozessen im engeren Sinne, scheint eine Verteilung zwischen innen und außen sinnvollerweise denkbar, selbst wenn bei der philosophischen Entdeckung dieser individuellen Kognition von der substantialistischen Annahme einer unteilbaren res cogitans ausgegangen wurde. Aber die Kognition muß nicht zwangsläufig an das Substrat eines denkenden Subjekts gebunden bleiben. Wenn wir unseren Gegensatz integraler Akteur/aktantieller Handlungsbegriff sowie die verschiedenen agency-Facetten (aus Kap. 2.2) auf die Kognition übertragen, sind noch weitere Differenzierungen möglich (von denen ich einige bereits ausgeführt habe). Dem Handlungsträger entspricht hier ein menschlicher Kognitionsträger, Kognitionsagent oder -vermittler, der mit nur leichtem internen Gepäck ausgerüstet sein kann. Koordination, und nicht Kontrolle ist seine Aufgabe (also eher agency 4, Vermittlung, als agency 3, Handlungsmacht). Er koordiniert die Fortbewegung von Repräsentationen bzw. Darstellungen durch unterschiedliche Medien, wobei er „einige Teile des Prozesses internalisiert haben kann“ (Latour 1996a, S. 56). Bei dieser Bewegung durch verschiedene Medien hindurch findet immer wieder eine Umformatierung statt: beim Übergang zur internalisierten Kognition, bei der Verwendung externer Artefakte und bei der sozialen Organisation der Kognition. Das nur leicht ausgerüstete KognitionsSubjekt erinnert an den voraussetzungsarmen Akteur der Ethnomethodologie (vgl. ebd., S 59). Wenn wir von einem solchen Minimalsubjekt ausgehen wollen, fragt es sich allerdings, ob dieses als methodische Vorsichtsmaßnahme zu verstehen ist, also als eine vorsichtige Minimalannahme über ein Erkenntnis- oder Handlungssubjekt (so verstehe ich es), oder ob es eine inhaltliche Aussage impliziert.16 Denn es ist manchmal, bei manchen Gedanken, in manchen Situationen wichtig, ja sogar entscheidend, daß das Individuum für sich denkt, kognitive Inhalte („repräsentationalen Zustand“, wie Hutchins sagen würde) umformuliert, mit sich her-

15 Kritik an der Vermengung der beiden Bedeutungen übt Whitehead 1988, S. 226: „Der auftauchende individuelle Wert jedes Einzelwesens wird in die unabhängige substantielle Existenz jedes Einzelwesens umgewandelt – eine ganz andere Vorstellung.“ 16 Wie es die folgende Aussage Latours in dem Zusammenhang, in dem ich ihm hier folge, suggeriert: „cognition has nothing to do with minds nor with individuals“ (Latour 1996a, S. 56).

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umträgt, äußert und dabei wieder umformatiert. Außer der (internen) Kognition, die im unproblematischen Prozessieren repräsentationalen Zustands besteht, haben wir weiterhin mit dem Nachdenken zu rechnen, das man als innere Kommunikation betrachten kann. Extern haben wir (mindestens) zwei verschiedene Formatierungen, zum einen die mündliche (und gestische) Kommunikation und die damit reproduzierte oder gestiftete soziale Organisation, zum anderen die Einschreibung (bzw. Ablesung) in Medien kognitiver und kommunikativer Natur. Wie man hier sieht, ist die Grenze innen/außen nicht automatisch die entscheidende, es gibt verschiedene Überschneidungen, auch das Nachdenken kann wie (ja als) ein Gespräch ablaufen. Bisweilen ist es aber auch Kontrolle im Sinne von Handlungsmacht oder die Übernahme von Verantwortung, welche die Kette verteilter Kognition artikuliert und auf ein Subjekt ausrichtet. Und auch hier gibt es Akteure und Akteursrollen (bei der „cognition in the wild“: Kapitän des Schiffes, Steuermann etc.). Auch hier stoßen wir wieder auf den Gegensatz zwischen verteiltem, sozialem Handeln vs. emphatischem Handeln, hier im Sinne der Verantwortung (wenn das Schiff versinkt, beispielsweise).

Denkt das Kognitionssystem? Es läßt sich die Frage stellen, ob das zur verteilten, verkörperten und situierten Kognition Gesagte auch systemtheoretisch und funktionalistisch beschreibbar wäre oder gar in einer solchen Beschreibung aufginge. Vielleicht unterscheidet sich ein Kognitions-Netzwerk – Kognition als Akteurnetzwerk – nicht sehr von einem funktionalistisch oder systemtheoretisch gedachten Kognitions-System. Hutchins spricht ja auch explizit von „funktionalen Systemen“, die „aus internen und externen Strukturen zusammengesetzt sind“ (Hutchins 1995, S. 172). Und „es ist das Navigationssystem, das sich erinnert […], ein Großteil der Struktur und des Prozesses der Gedächtnisfunktion liegt außerhalb des menschlichen Akteurs“ (Hutchins 1995, S. 142). Systemtheoretisch wird das „Gedächtnis des Kommunikationssystems selbst“ unterschieden von neurophysiologischen oder psychischen Prozessen (Luhmann 1997, S. 78).17 Dennoch gibt es Unterschiede zwischen der verteilten Kognition und einer systemtheoretisch gedeuteten Kognition; zunächst aber

17 Luhmann: „Das Kommunikationssystem kann denn auch, durch Gebrauch des Eigenmittels Kommunikation, Gedächtnisleistungen einzelner psychischer Systeme substituieren und sich schließlich mit Schrift ein eigenes Gedächtnis schaffen“ (Luhmann 1997, S. 78, Anm.); vgl. auch das Kapitel über Schrift in der Gesellschaft der Gesellschaft, ebd., S. 249 ff.

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Die Gemeinsamkeiten: Beide Theoriezusammenhänge rücken von der Subjektzentriertheit der klassischen Kognitions- oder Erkenntnistheorien ab. Die Systemtheorie verortet Denken, Wissen, Intelligenz nicht im Kopf, sondern zwischen psychischem System und Umwelt, für sie steht fest, daß es Intelligenz „nur als verteilte gibt“ (Baecker 1995, S. 175). Die ANT betont die Angewiesenheit des Denkens auf materielle Praktiken, Inskriptionen und Dinge, desgleichen Hutchins mit seiner verteilten Kognition.18 Darüber hinaus konstatieren Systemtheorie und ANT den Verlust der Einheit, wie sie der klassische (das heißt moderne) Subjekt- und Objektivitätsbegriff gewährleistete. Luhmann formuliert seinen Vorbehalt gegen die klassische Erkenntnistheorie als Auseinanderfallen von Sinn, Referenz und Wahrheit (Luhmann 1997, S. 554, S. 755).19 Darin läßt sich eine gewisse Nähe zu dem ebenfalls dreiteiligen Schema Latours erkennen, wonach Realität, Einheit und Unbestreitbarkeit der Tatsachen auseinanderfallen (Latour 2007b, S. 202 f.). Die Realität dessen, worauf die Referenz erfolgt, verbürgt nicht automatisch die Einheitlichkeit „der“ Natur oder der Welt oder des Kosmos, worin es seinen Platz findet, und diese wiederum ist nicht identisch mit Unbestreitbarkeit (mit Wahrheit, mit gesichertem Wissen, Objektivität).

Die Differenzen: Im Unterschied zur Systemtheorie bezieht die ANT die Dinge ein. Und das wird bei der Verteilung von Kognition auf Dinge wichtig.20 Denn die Systemtheorie geht meist einher mit kognitivem Konstruktivismus. Für diesen gibt es keine Dinge, unter denen wir uns befinden, mit denen wir handeln. Dinge sind vielmehr das Resultat komplexer kognitiver Zuschreibungs-, Externalisierungs- und Rechenoperationen; sie werden konsequenterweise auch stets als „Objekte“ bezeichnet und diese wiederum in letzter Konsequenz aufgelöst in „Eigenwerte“, die rekursiv das Verhalten leiten, die Handlung

18 Was die Skepsis gegenüber dem Intentionalitäts- und Subjektbegriff betrifft, kann man eine Nähe zwischen Latour und Luhmann feststellen. Luhmanns Lösung: Er erkennt Intentionalität als Gegebenheit an, schlägt sie aber den psychischen Systemen zu, nicht den sozialen. 19 Genauer gesagt, spricht er vom „Scheitern des logischen Positivismus und dann auch der analytischen Philosophie mit Versuchen, die Begriffsgruppe Referenz, Sinn und Wahrheit zu integrieren“ (Luhmann 1997, S. 554). 20 Aber natürlich auch bei der Delegation sonstigen sozialen Handelns an Artefakte, Maschinen etc., sowie bei Innovationen mit unterschiedlichem Realisierungsgrad.

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steuern und die Kognition regulieren.21 Für Luhmann sind Dinge letztlich „externe Referenzen, die von der Art, wie man über sie spricht, unabhängig sind“ (Luhmann 1997, S. 244, Anm.).22 Dabei kritisiert Luhmann mit Vorliebe das „Dingschema“, mit dem Entitäten, die keine Dinge sind (wie Kommunikation, Gesellschaft, Wissenschaft), als Dinge gedacht werden;23 wodurch aber das Dingschema bei (physisch-haptischen) Dingen nicht im mindesten diskreditiert sein muß. Das Interesse der ANT an Dingen und die Rückbindung ihrer Erkenntnisse an die Sprache der Akteure hängen zusammen; beide – Akteure und Dinge – werden ernst genommen. Dazu gehört auch, daß ernst genommen wird, was die Akteure über die Dinge sagen (hier setzt nicht der Soziologe ein vorgebliches wissenschaftliches Wissen über die Dinge ein).24 Dagegen können funktionalistische oder systemtheoretische Schnitte nach Belieben gesetzt werden, ohne die Haltung der Akteure zu berücksichtigen. Immer wieder gelingt es dabei der funktionalistischen Betrachtungsweise, kontraintuitive funktionale Einheiten zu entdecken, die dem Bewußtsein der Akteure zuwiderlaufen. Eine solche Perspektive kann erhellend und instruktiv sein, originell und kreativ, therapeutisch wirkungsvoll (Watzlawick, Bateson) und sozialtechnisch effizient. Aber als Methode und Ontologie verallgemeinert, privilegiert sie Metadiskurse jeglicher Art und gerät in die Nähe einer subjektivistischen, idealistisch-konstruktivistischen Erkenntnistheorie.

Kognition (und Handeln) in Bewegung Mit Hutchins können wir verallgemeinern, daß weniger wichtig ist, wo Kognition repräsentiert, gespeichert, verkörpert wird (ob in Kopf, Buch, Bewußtsein, In-

21 „Die Frage ist, wie Sozialität unter der Bedingung von Gleichzeitigkeit (=Unkontrollierbarkeit) möglich ist, und die Antwort lautet: über die Konstitution von Objekten als Eigenwerten des in der Zeit fließenden Verhaltens.“ (Luhmann 1997, S. 29, Anm., Hervorhebung G.R.) Vielleicht noch deutlicher: „...daß Kommunikation im Zuge ihrer eigenen Fortsetzung Identitäten, Referenzen, Eigenwerte, Objekte erzeugt – was immer die Einzelmenschen erleben, wenn sie damit konfrontiert werden.” Ebd., S. 29. 22 Ob dies für einen Antirealisten ein gewisses Zugeständnis bedeutet oder nur eine aktualisierte Version von Kants „Ding an sich“ darstellt, will ich hier nicht beurteilen. Zur Kritik siehe Soentgen 1997, S. 61. 23 Luhmann 1987, S. 426 ff. Man könnte es auch das Substanzschema oder ein substantialistisches Dingschema oder seine Variante des Verdinglichungsbegriffs nennen. 24 Dies entsprechend der ethnomethodologischen oder interaktionistischen Seite der ANT; vgl. Latour 2007b, S. 53, Anm., S. 96 f.

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teraktion oder Lineal), als daß sie in Bewegung ist und immer wieder ein Wechsel der kognitiven Medien erfolgt. Verteilt heißt (mit Hutchins) also: in Bewegung zwischen verschiedenen inneren und äußeren kognitiven („repräsentationalen“) Medien.25 Daß der Pragmatismus das Erkenntnishafte der Erkenntnis nicht erfasse, da er menschliches Bewußtsein nicht begrifflich anspruchsvoll in seine epistemischen Praktiken oder Netze hineinnehme, ist ein bisweilen erhobener Vorwurf.26 Aber der Geist besteht in der Bewegung, und diese kann äußerlich und innerlich bzw. von außen nach innen oder umgekehrt verlaufen. Die Form, die Struktur der Bewegung ist das entscheidende, und dieser kann man mit unterschiedlichen Übersetzungsketten oder -regimen gerecht zu werden versuchen (Latour 2010a), deren oben (in Kap. 3.2) besprochene (epistemische bzw. kognitive) Variante aus unveränderlichen Mobilen bzw. aus kognitiven Medien gebildet wird. Wobei der Übergang zwischen innen und außen nicht per se einen veränderten Aggregatzustand (subjektiv-objektiv) mit sich bringt, der irgendwie sehr bedeutsam wäre. Hier könnte man nun schon fast ein Resümee zur Einbeziehung von Kognition in unsere Argumentation – Dinge in Sozialität und Kognition – formulieren, indem wir die Frage beantworten: Was läßt sich aus der verteilten Kognition für das verteilte Handeln lernen? Zunächst einmal: Gerade im kognitiven Bereich ist es relativ leicht, eine soziale Koordination mittels intellektueller Technologien, Instrumente, technischer Objekte zu demonstrieren bzw. zu beobachten. Das heißt, die Kognition, wenn als Handlung betrachtet, läßt uns die einzelnen Schritte (des Handelns) deutlicher sehen (möglicherweise sind sie hier auch besser dokumentierbar).27 Weiterhin von der Kognition lernen oder entlehnen können wir, daß sie beweglich ist und so mühelos zwischen inneren und äußeren darstellenden bzw. kognitiven Medien wechselt. Auch Handeln wechselt, und das soziale Handeln ganz besonders häufig, immer wieder seine Handlungsträger.

25 Sowohl die Verlagerung von „darstellendem Zustand“ (Hutchins: „representational state“) als auch die zirkulierende Referenz von Latour stehen auf der Seite der Bewegung, des Transports im Unterschied zur Interaktion. Letztere scheint mir eher in der Dimension Akteurhaftigkeit (oder Wirkungsmacht) angemessen thematisierbar. Siehe oben in Kap. 2.5: „Wandel durch Übersetzung“. 26 Zum Beispiel von Russell (2004, S. 53 f., S. 56) gegenüber Dewey und generell dem Pragmatismus. 27 Dieses Argument findet sich hinsichtlich der Wissenschaft bei Tarde und Latour, siehe Latour 2009b.

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Handeln ist „zwangsläufig dislokal“, es gehört „nicht an einen bestimmten Ort; es ist stets verlagert, verschoben, buntscheckig, multipel“ (Latour 2007b, S. 105). Nicht zufällig sieht Latour hierin den entscheidenden Beitrag, den die Ansätze der verteilten Kognition zur Soziologie der Assoziationen leisten.28 Aber Kognition läßt sich natürlich auch als agency 5, Handeln, fassen: Denn selbst wenn sie verteilt ist, ist Kognition nicht nur dann und wann an einem bestimmten Ort (situiert), in einer bestimmten Verkörperung (vermittelt) faßbar, sondern auch bei einem bestimmten Resultat, für das jemand verantwortlich gemacht werden kann, das jemand als Leistung beanspruchen oder als Erkenntnis verbuchen kann. Man könnte nun vermuten, daß das erfolgreiche, kreative wie auch das listige, intelligente Handeln seine Handlungsträger dort wechselt, wo niemand es erwartet. Das impliziert nicht notwendig ein emphatisches, integrales Handlungssubjekt, denn das (bewußte) Denken oder das Ich bzw. Selbst sind nicht zwangsläufig intelligenter als einige ihrer Hilfsmittel.29 Neben dieser sich zusammensetzenden Kognition, die nicht nur in der Navigation, sondern auch in anderen Praktiken und in anderer Form (als zirkulierende Referenz und epistemisches Wissen) auch in der Forschung zu beobachten ist, will ich nun einer weiteren Verbindung zwischen Dingen in Gesellschaft und Kognition nachgehen: nämlich Institutionen, um zuletzt (in Form eines Ausblicks) das Verhältnis von Dingen zu Politik und Öffentlichkeit noch kurz anzusprechen.

4.2 I NSTITUTIONEN

UND

K OORDINATIONEN

Die Betonung verteilten, verkörperten, situierten Wissens in der neueren Kognitionsforschung wartet nur darauf, an traditionelle soziologische Überlegungen und Begriffe angeschlossen zu werden. Vom Außenhalt, den Dinge und externe kognitive Medien bieten, ist es nur ein kleiner Schritt zum Außenhalt, den Institutionen bieten. Kognition wird nicht nur dinglich gestützt, sondern auch von gesellschaftlichen Institutionen.

28 Er erwähnt in diesem Zusammenhang, der schon einmal in Kap. 2.2 unter agency 4, Vermittlung, angesprochen wurde, die Kognitionsforscher Hutchins, Lave und Suchman. 29 „Wenn das Ich nichts als eine leitende Monade unter Myriaden von symbiotischen Monaden desselben Schädels ist, welchen Grund hätten wir letztlich, an deren Unterlegenheit zu glauben? Ist denn ein Monarch unbedingt intelligenter als seine Minister oder seine Untertanen?“, Tarde 2009, S. 61; vgl. auch Latour 2009b, S. 55 ff.

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Ein solcher Übergang von Kognitionen zu Institutionen wird in der neueren Kognitionsforschung zwar oft angedeutet und als Desiderat formuliert, aber selten ausgeführt. So hebt Andy Clark (1997, S. 179) die erstaunlichen Fähigkeiten der Menschen hervor, „eine Vielzahl von speziellen externen Strukturen zu schaffen und aufrechtzuerhalten“, die er als „symbolische und sozioinstitutionelle“ charakterisiert.30 Für die Übersetzung von Kognitivem in Institutionelles oder von Institutionellem in Kognitives fehlen ihm allerdings anspruchsvolle Begriffe. Er greift hier sogar auf biologische Denkfiguren zurück, anstatt einen Sprung hin zu soziologischen Überlegungen zu tun.31 In der Soziologie ist der entlastende Charakter von Institutionen ein klassisches Thema. Wo Clark von „äußeren Gerüsten“ spricht, spricht Gehlen von „Außenstützen“, wo jener von „Aufforderung“, dieser von „Aktualisator“.32 Gehlen sieht den Außenhalt nicht nur in Werkzeugen und Dingen verkörpert, sondern auch in sozialen Institutionen sowie in objektivierten Symbolen. Die Dinge dienen ihm zudem als elementares Beispiel (vgl. Gehlen 2004, S. 24, S. 38). Aber auch Gehlen gegenüber wurde der Vorwurf der „Biologisierung“ erhoben (Plessner 2003b, S. 277). Wenn man Institutionen als Stützen versteht, die dem Mängelwesen Mensch den nötigen Halt geben, den bei Tieren Instinkte bieten, dann scheint sich allerdings dessen Umweltbeziehung bruchlos mit seinem Weltbezug verrechnen zu lassen (vgl. Arlt 1996, S. 75). Den Begriff Außenhalt verwende ich allerdings ohnehin nicht mit seinen anthropologischen Konnotati-

30 Auch andere suchen diese Brücke: Anderson 2003, S. 110 f., Wilson 2004. Hutchins setzt sich im letzten Kapitel von Cognition in the Wild ausführlicher mit dem Verhältnis von Kognition und Kultur auseinander (Hutchins 1995, S. 353 ff.). 31 Oder philosophischen. Dies ist die Einsatzstelle der philosophischen Anthropologie oder auch von Hegels „objektivem Geist“. Der Sprung, der hier zu vollziehen ist, wird ebenso durch Plessners paradoxe Formeln in der Art von „exzentrische Position“, „natürliche Künstlichkeit“ (Plessner 1975, S. 309) angezeigt wie durch die Differenz zwischen subjektivem und objektivem Geist bei Hegel (zu beidem s.u.). Andere würden hier den Übergang zur Wissenssoziologie empfehlen: Knoblauch 2010, S. 324 f. Eine genauere Auseinandersetzung mit dieser würde hier zu weit führen. In ihrer sozialkonstruktivistischen Variante nimmt sie eine dualistische Haltung ein, wenn es um Dinge und heterogene Konstruktionen geht (s.o. Kap. 2.1, s.u. S. 234 f.). 32 „External scaffolding“: Clark 1997, S. 45, „Außenstützen“, „Außenstützung“: Gehlen 2004, S. 44, S. 59; Aufforderung, „prompting“: Clark 1997, S. 64; „Aktualisator“: Gehlen 2004, S. 24.

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onen mit Bezug auf „den“ Menschen, sondern empirisch im Hinblick auf die Individuen.33 Wenn als Außenstützen und Aktualisatoren des kognitiven Handelns nicht nur kognitive Medien und etwa Rechenmaschinen in Betracht kommen, sondern auch soziale Institutionen im traditionelleren Sinn – ist dann noch zwischen beiden Formen der Entlastung deutlich zu unterscheiden?

Können Institutionen denken? Hier ist der Zusammenhang zwischen Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Institutionen und Denken etwas genauer und differenzierter zu betrachten. Man kann sich der Gesellschaft von der Kognition her nähern, was unsere Perspektive darstellte, als wir sagten, daß auch gesellschaftliche Institutionen als Stützen fungieren, vergleichbar technischen Objekten oder kognitiven Medien. Diese Bewegung geht von den kognitiven Studien zur erweiterten Kognition aus. Man kann sich aber auch der Kognition von der Gesellschaft her nähern; dies ist die traditionellere Sicht, wonach die sozialen Kategorien, Klassifikationen das individuelle Denken bestimmen. Sie trifft inzwischen auf einige Gegenargumente oder verlangt nach Differenzierung. Klassisch ist die These, daß sich das Soziale am Denken im Sinne der Teilhabe an einem kollektiven Bewußtsein verstehen läßt. Durkheim hat die Rede von den gesellschaftlichen bzw. „kollektiven Vorstellungen“ in die Soziologie eingeführt, und Mary Douglas (1991) das Thema auf die bündige Formel gebracht: Können Institutionen denken?34 Und das Denken, zumindest das sozial relevante, der Individuen wäre als Partizipation an einem solchen kollektiven Denken zu verstehen. Nicht zufällig ist daher hier die Rede von kollektiven „Vorstellungen“ und nicht Darstellungen (als Gesellschaftsmitglieder haben wir

33 Anstelle der Vorstellung vom Mängelwesen könnte man hier die exzentrische Positionalität Plessners favorisieren (vgl. Plessner 1975, S. 309 ff.). Ich verstehe diese allerdings mehr in einer externalistischen Interpretation, wie sie von Latour und Serres in der Tradition Leroi-Gourhans artikuliert wird (Serres 1994, S. 83 und passim, sowie Latour 2001b): der Mensch als das auf Werkzeuge, externe Mittel und Vermittlungen (und andere Menschen) angewiesene Wesen (dies allerdings nicht als einziges Definiens). Siehe auch die explizite Stellungnahme Latours zu anthropologischen Definitionen: Latour 1995, S. 181 ff. Dort geht es um den „Anteil der Dinge“ (bzw. NichtMenschen) am Menschsein oder bei der Definition des Menschen. Ähnlich im Zusammenhang der Ökologie: Latour 2010b, S. 17. 34 Und diese Frage auch affirmativ beantwortet, denn der Titel ihres Buches (Douglas 1991) lautet: „Wie Institutionen denken“.

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teil an bzw. befinden uns gewissermaßen in einem riesigen kollektiven Subjekt oder Bewußtsein). Für Douglas wie Durkheim besteht der exemplarische Fall des kollektiven Denkens, hier also des Denkens der Institutionen, im Klassifizieren. Wie wir klassifizieren, wird uns gesellschaftlich vorgegeben (hier sei zumindest schon angemerkt, daß nicht alles Denken ein Klassifizieren ist35). Die Beispiele, die Douglas (1991, S. 168 ff.) anführt – Einteilung der Berufe im vorrevolutionären und nachrevolutionären Frankreich; die Etikettierung von Weinen anhand von Anbaugebieten im Unterschied zu der von Traubensorten; die Klassifikation von Textilien –, zeigen, wie sehr solche Klassifizierungen in Praktiken und Verwaltungsaufgaben bestehen oder davon ausgehen; so einfach können diese „den“ Menschen nicht „das“ Denken vorschreiben. Eher auf dem Umweg über die Praktiken und die umlaufenden Dinge prägen sie das Denken der Menschen, und meist auch nur, sofern diese mit den entsprechenden Dingen zu tun haben und umgehen.36 Daneben bleibt aber Raum für eigenes Denken. Dieses kann gesellschaftlich relativ irrelevant sein. Douglas spitzt zu: Sind es die großen oder die kleinen Fragen, die den Gesellschaftsmitgliedern durch die Institutionen abgenommen werden? Eine Antwort lautet, „Entscheidungen von geringerem Gewicht“ würden Institutionen zur Bearbeitung überlassen, „so daß der individuelle Verstand frei werde für wichtige und schwierige Fragen“ (Douglas 1991, S. 179). Die entlastende Wirkung von Institutionen zu loben, weil sie damit das Denken oder Handeln für andere Dinge frei machen, ist eine in diesem Zusammenhang bisweilen vertretene Argumentationsfigur (etwa bei Gehlen). Douglas selbst glaubt so ziemlich das Gegenteil: „Der einzelne überläßt eher die wichtigen Entscheidungen den Institutionen, während er sich selbst mit Kleinigkeiten und taktischen Fragen abgibt.“ (ebd.) Sieht man genauer hin, so ist in beiden Formen des Delegierens etwas anderes Subjektpol: In der Entlastungsthese ist es gewissermaßen das gesellschaftliche Gesamtsubjekt, dem durch die Entlastung in einem Bereich neue Möglich-

35 Und auch nicht alles Klassifizieren wird uns gesellschaftlich vorgegeben (manches sprachlich, was keineswegs dasselbe wie „gesellschaftlich“ ist). Thévenot (2006, S. 191) verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß Kritik geübt wurde an einer Fokussierung auf die Klassifikationssysteme in der europäischen Soziologie, während in der amerikanischen pragmatistischen Tradition die Erfahrung und das Handeln des Individuums in der Entstehung von Wissen und Erkenntnissen stärker berücksichtigt würden. 36 Ein anderes Beispiel wäre die Konstruktion von Fragebögen bzw. von Klassifikationsverfahren (vgl. Thévenot 1984) sowie ihre Bewährung in Analysen und Umfragen mitsamt ihrer anschließenden Veröffentlichung.

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keiten in anderen eröffnet werden. Bei Douglas, die so etwas wie eine Entmündigungsthese vertritt, ist es der einzelne, dem mit der Entlastung durch die Institutionen womöglich wichtige Fragen oder gar das Denken abgenommen werden.37 „Würde man anerkennen, daß legitimierte Institutionen die großen Entscheidungen treffen, dann müßte sich manches ändern. Die Psychologen könnten dann nicht mehr behaupten, diese Erweiterung der kognitiven Funktionen sei eine triviale Angelegenheit“ (ebd., S. 203). Dem kann man zwar zustimmen. Wie aus der Forschung zur verteilten Kognition hevorgeht, beginnen die Erweiterung der kognitiven Funktionen und die Entlastung individueller Kognition aber bereits beim Umgang mit Geräten und kognitiven Medien und der Kommunikation mit anderen Menschen. Das heißt, daß die pauschale Gegenüberstellung von Institutionen und Individuen das Problem dramatisiert. (Hier könnte man daran erinnern, daß Individuen ihre Beziehungen zueinander institutionalisieren können, so daß man keinen ontologischen Graben zwischen Individuen und Institutionen bzw. „der“ Gesellschaft sehen muß.) Über den Umgang mit Geräten ließe sich erklären, wie Institutionen in Individuen oder vielmehr für Individuen denken können (die Verinnerlichung wäre ein zweiter Schritt).38 Institutionen stellen diesen die Mittel, Medien, sprachlichen und praktischen Klassifizierungen bereit. „Denken“ ist im Fall, daß Institutionen denken, zunächst eher metaphorisch zu verstehen, ähnlich wie das kollektive Bewußtsein für Durkheim nicht im Kopf der Gesellschaftsmitglieder präsent sein muß, sondern in ihren Sitten und Gewohnheiten zum Ausdruck kommen kann. Man muß das Denken der Institutionen, von dem Douglas, und die kollektiven Vorstellungen, von denen Durkheim spricht, vom aktualisierten „Bewußtseinszustand“ der Gesellschaftsmitglieder lösen (Descombes 1995, S. 105). Dann aber kommt es in die Nähe dessen, was „objektiver Geist“ genannt wurde, und diesem so problematischen wie interessanten Begriff will ich mich nun kurz zuwenden.

37 Diese Überlegung läßt sich anhand der Diskussionen um Informationssuche im Internet und Suchmaschinen aktualisieren. 38 Entsprechend den Überlegungen von Hutchins, Vygotskij und Latour. Man könnte hier allerdings auch an das Kommunikationssystem von Luhmann denken, das sich erinnert.

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„Objektiver Geist“ „Der Geist ist in seinen Bildern, und nicht die Bilder im Geist… Ich bin in das Thema vertieft und nicht umgekehrt… Wir sind Handelnde auf dieser Szenerie – du und ich in dieser Szenerie hier – die Szenerie ist nicht in uns“. ALFRED NORTH WHITEHEAD

Den Begriff „objektiver Geist“ hat Hegel geprägt. Er bezeichnet damit jenes Wissen, Denken, Erkennen, ja jenen: Geist, um das aus der Mode gekommene Wort auszusprechen, der nicht im individuellen Bewußtsein, im „subjektiven Geist“ (sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Verstand, Selbstbewußtsein39) aufgeht. Unter objektivem Geist ist nicht ein „objektiver“ im Sinne eines unparteilichen oder sachlichen zu verstehen, sondern ein objektivierter, verkörperter, öffentlicher.40 In der Debatte der verteilten Kognition vertritt Hegel, wenn wir ihn in diese einbeziehen wollen, eine nicht-mentalistische Position: Denken und geistige Prozesse spielen sich nicht allein im individuellen Bewußtsein ab. Insofern ist er Anticartesianer (Pippin 2005b). Allerdings sind die externen Stationen des Geistes bei Hegel (wie auch bei den meisten Soziologen) weniger Dinge und Objekte als vielmehr Institutionen und Handlungen, Moralität und Sittlichkeit, Geschichte und Politik.41 Den Gedanken, auch physisch-haptische Dinge, greifbare Gegenstände als Manifestationen des objektiven Geistes zu betrachten, haben Dilthey und Simmel entwickelt.42 Popper hat den Begriff des objektiven Geistes aufgegriffen, um

39 Hegels Stufen des subjektiven Geistes in der Phänomenologie des Geistes (Hegel 1972a). 40 Hegel verwendet die Ausdrücke „subjektiver“ und „objektiver Geist“ explizit im dritten Band der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Hegel 1986). Krüger 2010, S. 99, hält die Differenz objektiver versus subjektiver Geist für eine philosophisch eingebürgerte Begrifflichkeit. 41 Es gibt bei Hegel noch eine weitere Stufe des Geistes, den „absoluten Geist“, der in Religion, Kunst, Wissenschaft bzw. Philosophie zum Tragen kommt. Dilthey rechnet auch diese zum objektiven Geist, dazu genauer Gadamer 1975, S. 215 ff. 42 Dilthey 1983, S. 284 f., S. 289, Simmel 1987, 1992a. Simmel rechnet zu den „objektiv geistigen Gebilden“ neben den institutionellen auch Technik und Wissenschaft und ebenfalls „zweckgeformte Gegenstände“ (Simmel 1987, S. 120). Ausgehend davon

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seine „Welt 3“ zu charakterisieren, zu der neben Aussagen (Propositionen) auch kognitive Medien (wie Bücher, Logarithmentafeln) und Kunstwerke gehören. Diese dritte Welt ist ebenfalls „eine Welt der in Bibliotheken gelagerten Bücher und Zeitschriften, der Diagramme, Tabellen und Computerspeicher“ (Hacking 1996, S. 210).43 Unter diesen erweiterten Begriff des objektiven Geistes lassen sich auch die (in Kapitel 3) dargestellten Denkhilfsmittel und kognitiven Medien fassen. Um den Begriff produktiv zu machen, kann man sich fragen, was man heute noch (oder wieder) sinnvollerweise unter einem objektiven Geist verstehen könnte. Hier lassen sich drei Varianten unterscheiden:44 (a) Geist, der in den Dingen verkörpert ist und nicht im Kopf; dies können technische Objekte, Gebrauchs- und Kunst-Dinge sein. (b) Materielle Geräte, die im weiteren Sinne geistige Operationen vollziehen (Computer), stützen oder aufzeichnen bzw. vorzeichnen (Bücher, Logarithmentafeln), also externe darstellende Medien (im Sinne von Hutchins). (c) Institutionen, Sitten und Gebräuche; also objektiver Geist in der Bedeutung, in der Hegel den Begriff eingeführt hat, wobei man sagen kann, daß dieser objektive Geist in mancher Hinsicht die „Gesellschaft“ der Soziologie avant la lettre ist.45 Descombes (1995)46 votiert für den objektiven Geist im Sinne c, aktualisiert ihn aber; für ihn ist er einer zu folgenden Regel, einem Prinzip, einer Struktur vergleichbar, wie etwa der Grammatik der Sprache, und nicht im „Repräsentationsidiom“, sondern im „Bedeutungsidiom“ zu fassen.47 Die Bedeutung eines Wortes verstehen heißt nicht, daß diese Bedeutung im aktuellen Bewußtsein prä-

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hat Hans Freyer in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine „Theorie des objektiven Geistes“ ausgearbeitet (Freyer 1966; die erste Auflage erschien 1923), die auch technische Geräte als Gebilde des objektiven Geistes aufführt; sie wird in der Techniksoziologie viel zitiert, allerdings meist ohne den historischen Kontext und den Bezug zum objektiven Geist. Hacking (ebd.) hält „diese außermenschlichen Dinge“ und „die geäußerten Sätze“ für etwas „Realeres“ als jene platonische Welt reiner Idealitäten, als die manche Äußerungen Poppers die Welt 3 erscheinen ließen. Zur Welt 3 siehe Popper 1993, S. 123, Popper 1981, S. 272, Stengers 1997b, S. 68 ff. In dieser Dreiteilung folge ich Descombes (1995, S. 98 f.), auch wenn ich sie meinen Bedürfnissen angepaßt habe. Zu Descombes Begriff des objektiven Geistes siehe auch Brandom 2004. Vgl. Dewey zu Hegel und zum objektiven Geist: Dewey/Schilpp/Hahn 1989, S. 17 f. Dem ich weiterhin in diesem und im nächsten Absatz folge. Descombes versteht diese Differenz im Sinne des „linguistic turn“ in der Tradition Wittgensteins: Descombes 1995, S. 105; siehe auch ebd., S.113 f.

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sent sein muß; das ist gegen den „Aktualismus“ der klassischen, das heißt mentalistischen Geisttheorien gerichtet.48 Neben Sprache und Sprachstrukturen sind es Verwandtschaftsstrukturen und mythologische Erzählungsstrukturen, die den objektiven Geist verkörpern; er wäre also ganz im Sinne des Strukturalismus eines Lévi-Strauss zu verstehen (und natürlich im Sinne einer am Strukturalismus orientierten Gesellschaftstheorie). Somit könnte man den objektiven Geist als das von den Individuen Geteilte verstehen, wie einen Vertrag, wie das Miteinander des Gesprächs, das zwar eine Eigendynamik entfaltet, die aber ihrerseits nicht wieder als Subjekt zu denken wäre (ebd., S. 117). Von gesellschaftlichen „Vorstellungen“ sollte man ihn folglich abgrenzen; denn diese beschwören die Gefahr herauf, die Gesellschaft bzw. den objektiven Geist wieder als eine Art Subjekt zu denken, das diese Vorstellungen hat. Dieser Gefahr setzt sich Durkheim mit seinen Begriffen „kollektives Bewußtsein“ und „kollektive Vorstellungen“ aus. Demnach wäre das Kollektiv eine Art Subjekt oder Übersubjekt, das dann in Konkurrenz geriete zu den Individuen als Handlungssubjekten. Und gesellschaftliche Vorstellungen beschwören außerdem, was das Denken angeht, einen Repräsentationalismus herauf. Denken hieße dann vor allem: Vorstellungen haben.49 Um meine eigene Position hier noch einmal zu verdeutlichen: Ich halte a, b und c für unverzichtbare Facetten des objektiven Geistes, setze mich insofern von Descombes ab, der c für den „eigentlichen“ objektiven Geist hält. Ausgehend davon vertritt er eine am Normativen orientierte Sozialontologie, der ich insofern einiges abgewinnen kann, als sie nicht mentalistisch argumentiert. Gleichwohl ist es schwierig, hier ohne den Vorstellungsbegriff auszukommen (oder ein Pendant wie „Idee“), wenn man sich etwa folgende Beschreibung des objektiven Geistes ansieht:

48 Descombes setzt hier einer „actual presence“ eine „habitual presence“ entgegen (Descombes 1995, S. 105); gemeint mit der aktuellen ist die „Präsenz“ eines Inhalts im oder für den subjektiven Geist. Was den objektiven Geist als Chiffre für Gesellschaft betrifft, scheint ihm eine habituelle Präsenz die angemessenere Option: „the presence of the social is best construed as an habitual presence: it is not a ‚state of conciousness‘, but rather consists of that which in the individual is already determined as far as his future reactions to a given situation are concerned“ (ebd., S. 105). 49 Descombes 1995, S. 103: „the representationalism inherited by Durkheim from his philosophy teachers as it were forces him to locate collective thoughts within a collective subject“. Descombes führt die Kritik am Repräsentationalismus interner Bewußtseinsinhalte neben Wittgenstein auf Peirce zurück (ebd., S. 115 f.). Die soziologische Beschreibung ist nicht mit der aktuellen Erfahrung der Menschen befaßt, sondern mit ihren allgemeinen Lebensformen, ihren Bräuchen und Praktiken (ebd., S. 104 f.).

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„Eine gewisse Auffassung von dem Menschen und seinem Verhältnis zur Gesellschaft ist folglich in einigen Bräuchen und Institutionen einer Gesellschaft eingeschlossen. Gewohnheiten und Institutionen drücken gewisse Vorstellungen aus. Tatsächlich können sie der einzige oder angemessenste Ausdruck dieser Vorstellungen sein, wenn die Gesellschaft keine hinlänglich artikulierte oder exakte Theorie über sich selbst entwickelt hat.“ (Taylor 2006, S. 500).

Das, was hier unter „Vorstellungen“ zu verstehen sein könnte, läßt sich zum einen mit Prinzipien- und Regelhaftigkeit beschreiben, mit dem „Sozialen“ in einer normativ ausgerichteten Sozialontologie (wie der von Descombes). In einer anderen, mit dem Bewußtsein der einzelnen Gesellschaftsmitglieder argumentierenden Sozialontologie, ist „Ausdruck der Vorstellungen“ wörtlich zu nehmen: wir (bzw. die Ethnologen) rekonstruieren aus den Verhaltensweisen und Mythen einer Gesellschaft deren Vorstellungen von sich selbst. Mir geht es zusätzlich darum, die Darstellungen (der Vorstellungen) und Dinge einzubeziehen in das, was Gesellschaft ist (und von sich selbst sagt). Auch das gesellschaftliche „Bewußtsein“, wenn es denn existiert, braucht mindestens ebenso wie das individuelle seine intellektuellen Technologien. In manchem antwortet auch Latour (2008a, S. 38) auf dieses Problem. Er zitiert Walter Lippmann: „Gesellschaft ist nicht der Name für ein wirkliches Ding, sondern der Name, den man allen Abstimmungen zwischen den Menschen und ihren Angelegenheiten [things] gibt“.50 Was Latour mit folgenden Worten kommentiert: „Die Gesellschaft existiert nicht. Oder vielmehr, zwischen den Menschen und ihren Angelegenheiten (ihren „Dingen“ [choses]) existieren Abstimmungen, die man aber nie unter die Idee eines Makro-Akteurs subsumieren darf“ (ebd.), hier also eines Makro-Akteurs Gesellschaft. Er verweist dann auf die beiden Auflösungen der Spannung zwischen den Menschen und ihren Dingen, die von ihm als „neo-liberal“ und „soziologisch“ charakterisiert werden, entweder nur die Individuen oder nur die Gesellschaft in Betracht zu ziehen. „Beide delegieren an einen Großen Anderen die Aufgabe, eine Übereinkunft zu erzielen. Und es ist nicht so wichtig, ob es der Markt oder der Staat sein soll, denn in beiden Fällen bedarf die Abstimmung der Interessen nicht mehr der Unterstützung intellektueller Technologien“.51 Mit den intellektuellen Technologien sind hier

50 Im Französischen heißt es „les ajustements des hommes et de leurs affaires“ (Latour 2008a, S. 38), im Englischen „the adjustments between individuals and their things“ (Lippmann 2009, S. 162). 51 Der „große Andere“ ist ein Begriff aus Lacans Terminologie. Siehe Evans 2002, S. 39 f.

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nicht allein kognitive Medien gemeint, sondern auch die vielen „subtilen Netzwerke“ (ebd., S. 39), über die sich Öffentlichkeiten bilden und artikulieren. In den Öffentlichkeiten als instrumentierten (Presse, Web etc.) kann man auch eine Form von intellektueller Technologie sehen. Nicht nur die debattierten öffentlichen Sachen koordinieren, sondern auch die Arenen, Foren, Versammlungen, in denen sie debattiert werden, und natürlich auch die medialen Vermittlungen (die ja teilweise mit Formaten der Debatte zusammenfallen). Diese instrumentierten Öffentlichkeiten ergänzen die traditionellen sozialen Institutionen, reflektieren sie aber auch. Sie stehen – neben kognitiven Medien und Artefakten – für eine weitere aktualisierte Variante des objektiven Geistes.52

In Inskriptionen verkörpert Auch der objektive Geist im Sinne einer Sprach- oder Gesellschaftsstruktur (objektiver Geist c in der obigen Klassifikation) kann objektiviert werden, nicht nur mittels Institutionen, Bräuchen, nicht nur mittels dinglicher Träger wie Häusern, Straßen, Produktionsanlagen, Gebrauchsgegenständen (objektiver Geist a), sondern auch mittels externer kognitiver Medien bzw. Inskriptionen (objektiver Geist b). Letzteres ist der Fall etwa in der Kodifizierung von Recht, in der Verschriftlichung von Sprache bzw. der Aufzeichnung von Grammatik und Wortschatz, in den Verwandtschaftsstrukturen, wie sie im Büro des Ethnologen dokumentiert werden – so etwas wie in Inskriptionen verkörperter objektiver Geist. „Wo werden die strukturellen Effekte tatsächlich produziert?“, fragt Latour und beantwortet die Frage dahingehend, daß auch Linguisten ein Zimmer, ein Büro, Archivkästen, Institute brauchen, nicht zu vergessen „eine Kaffeetasse und einen Fotokopierer“.53 Ob sie dabei die „Sprachstruktur“ allerdings „fabrizieren“, wie er meint,54 ist eine andere Frage, die Struktur wäre jedenfalls nicht sichtbar geworden ohne diese Anstrengungen, und sie bleibt auch nicht dieselbe nach ihrer Materialisierung in neuen Inskriptionen, wie minimal auch immer die linguistischen Forschungsergebnisse zurückwirken auf Rechtschreibung, Lehrerausbildung, Grammatiktheoretiker und Wörterbücher (oder die juristischen Kodifizie-

52 Auf die ich am Ende dieser Arbeit (unter „Öffentliche Sachen und instrumentierte Öffentlichkeiten“ noch einmal kurz zurückkommen werde). 53 Latour 2007b, S. 302. 54 Das aber „bedeutet nicht“, wie er später präzisiert, „daß sie von ‚lokalen‘ Linguisten in ihrem Büro willkürlich hervorgebracht worden wäre. Es bedeutet, daß die aufgeschriebene Struktur auf bestimmte Weisen in Beziehung, Verbindung, Verknüpfung steht zu all den Sprechakten“ (ebd., S. 305).

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rungen auf die Rechtsprechung,55 die soziologischen Schichtentheorien, Klassenmodelle, Umfrageergebnisse oder sonstigen Forschungsresultate auf die Gesellschaft). Aber die Struktur bleibt auch deshalb nicht dieselbe, weil ihr nun dieses zu Teilen hypothetische Kondensat ihrer selbst zur Seite steht. Wissenschaft, Recht, Grammatik werden durch objektivierte Träger tradiert, immer wieder verstärkt und bieten damit Gelegenheit zu ihrer Internalisierung, Memorisierung, Reflexion. „Der Weg nach innen bedarf des Außenhalts“ (Plessner 2003a, S. 196).56 Und da Denken in elaborierter Form nicht denkbar ist ohne Materialisierung und Exteriorisierung wie notieren, aufschreiben, festhalten, fixieren, archivieren, gehört auch solche Verschriftlichung zum objektiven Geist. Denken und Reflexion schließen die Schriftform keineswegs aus, sondern erfordern sie im Gegenteil ab einer gewissen Komplexitätsstufe geradezu, auch dieser objektive Geist läßt sich als etwas Öffentliches verstehen (und beschränkt sich keineswegs auf subjektivistisch verstandene „Symbole“ als Träger).

Kurzer Exkurs zu mathematischen „Dingen“ und Sprache Sieht man Kognition als verkörpert, situiert, verteilt und über Artefakte kulturell mitbestimmt, so stellt das formale und insbesondere mathematische Denken einen besonders instruktiven Grenzfall dar.57 Denn nun läßt sich das Betreiben von Mathematik nicht mehr einfach als ein gedankliches Tun verstehen, das sich auch „in praktischen Handlungen – zum Beispiel im Aufschreiben von Zeichen – niederschlagen kann“, wie etwa Heintz (2000, S. 136) formuliert, so als wäre das Aufschreiben von Zeichen der bloße Ausdruck eines unbhängig davon vor sich gehenden Denkens. Vielmehr stützt sich das Denken auf die aufgeschriebenen Zeichen, der Gedankengang verläuft teilweise innen, teilweise außen, die äußeren Medien tragen einen Teil, die inneren einen anderen Teil des Prozesses. (Die äußeren Medien sind dinglich, wie strukturiert oder beschriftet sie sonst noch sein mögen.58) Anders ausgedrückt, das Denken vollzieht sich auch im Aufschreiben der Zeichen oder vielleicht gar überhaupt in der Schrift, hier den mathematischen Kalkülen. Das Schreiben der Zeichen (oder das Manipulieren der Symbole, der

55 Sowie die Akten und anderen dinglichen Hilfsmittel der Rechtsprechung. Vgl. ausführlich dazu Vismann 2011. 56 Ich bin mir bewußt, daß Plessner diesen auch für meine Argumentation prägnanten Satz mehr auf Selbstdeutung und -erfahrung bezogen hat. 57 Dazu genauer: Latour 1987, Pickering 1995, S. 113 ff., Latour 1997b. 58 Daher im Titel mathematische „Dinge“ im Unterschied zu mathematischen Objekten. Zum Diagramm als externem Medium siehe Netz 1999.

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mathematischen Kalküle) ist das Manipulieren einer Darstellungsmaschinerie, vergleichbar dem Umgang mit einem Abakus.59 Und die Fortschritte der Mathematik erfolgen unter Verwendung und aufbauend auf den sedimentierten Notationssystemen und Kalkülen. Beim Aufschreiben laufen wohl irgendwelche Prozesse auch im Kopf ab, und viele der vorgenannten Prozesse lassen sich zeitweilig oder teilweise internalisieren, aber irgendwann zwischendurch und erst recht am Ende wird stets sichtbar geschrieben oder aufgezeichnet (und am Anfang, bei der Sozialisation zum Mathematiker). Insofern ist die Mathematik ein öffentliches Geschehen und spielt sich nicht vordringlich oder allein im Kopf ab (Netz 1999). Das zur Mathematik und mathematischen Symbolmanipulation Gesagte läßt sich auf die Sprache erweitern.60 Sprache eignet sich in besonderer Weise dazu, Denkprozesse zu objektivieren; mit anderen Worten: Ausgesprochene oder niedergeschriebene Gedanken, weil sie gehört bzw. gelesen werden können (noch dazu von einem anderen Menschen), führen zu einer Objektivierung des flüchtigen Denkens;61 „transitorische kognitive Prozesse“ können sich so „als distinkte Einheiten für ein Bewußtsein konstituieren“ (Linz 2004, S. 64). Und hier läßt sich ebenfalls wieder ergänzen: auch für ein anderes. Die externe Schleife kognitiver Prozesse ist verschieden, je nachdem, ob man einen Rechenschieber benutzt oder einen Rechenschritt aufschreibt und nachliest. Erst recht, wenn man einen flüchtigen Gedanken notiert, einen vagen Eindruck sprachlich äußert, artikuliert. Das ist Exteriorisierung, Objektivierung, Ver-Öffentlichung, die auch mit Bewußtsein verbunden ist, zum Bewußtwerden beitragen kann. Anders gesagt (mit Vygotskij und Cassirer): Denken drückt sich

59 S.o. S. 181 f., S. 216 f. Zum „Dingstatus“ mathematischer Zeichen, die nach Leibniz über eine fühlbare, handgreifliche Natur verfügen müssen, siehe Krämer 1997a, S. 117 ff. Siehe weiterhin Koch/Krämer 1997b. 60 Hutchins 1995, Jäger/Linz 2004. 61 Es gibt natürlich auch explizit „schriftliches Denken“ vgl. Figal 2006, dort allerdings nahezu synonym gebraucht mit philosophischem Denken.

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nicht in der Sprache aus, sondern vollzieht sich in der Sprache.62 Oder (mit Hacking und Schwemmer): Geist ist etwas Öffentliches.63 Aus dem Vorstehenden sollte deutlich geworden sein, daß sich Sprache und formales Denken ebenfalls in Kognition, Gesellschaft einbeziehen lassen, und damit auch in meine Argumentation, daß sie aber nicht direkt mein Thema bilden.

Auch Institutionen brauchen Dinge zum Denken Wir kamen von den Dingen als kognitive Stützen zu den Institutionen als kognitive Stützen. Und sind nun wieder von den Institutionen auf die Dinge zurückverwiesen. Denn auch Institutionen brauchen Dinge, wenn sie denken sollen (oder Menschen in ihnen für sie). Anders gesagt: Außenhalt (in der Kognition, aber auch im Handeln) bieten zwar Institutionen (in diesem Fall als ein Außen des Individuums, Beispiel Verkehrsregeln), aber brauchen auch Institutionen (in diesem Fall als ein Außen der Institutionen, Beispiel Ampeln, Verkehrsschilder). Weitere Dinge, die Institutionen brauchen, um zu denken, können Formulare und Formatierungen sein, „Forminvestitionen“, wie Thévenot sie nennt,64 Klassifikationen, die materiell (inskriptiv) gesichert sind, nicht zu vergessen die traditionellen bürokratischen Hilfsmittel wie Stifte, Akten und Ordner, oder die neueren wie Beamer, Server und Netze (aber auch Gebäude, um diese Hilfsmittel und die mit ihrer Hilfe Denkenden unterzubringen). Solche kognitiven Medien kann man natürlich auch „Grenzobjekte“ nennen, wenn wir diesen Begriff von seiner Bedeutung in der Kooperation wissenschaftlicher Gruppen lösen und auf die Zusammenarbeit auch anderer Gruppen, Gruppierungen und Institutionen auswei-

62 Vygotskij 2002, S. 399: „Der Gedanke äußert sich nicht im Wort, sondern vollzieht sich im Wort.“ Zu Cassirer vgl. Linz 2004, S. 62. Hier muß natürlich auf die Bedeutung von Vygotskij für Hutchins hingewiesen werden sowie auf die diversen anderen Untersuchungen zur Kognition in situ, die sich gleichfalls auf diesen berufen. Kleists „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist 1997) argumentiert ebenfalls ganz in diesem Sinne. Siehe auch Merleau-Ponty 1969, S. III, der sich gegen die Vorstellung verwahrt, Sprache kleide nur ein auch unabhängig von ihr existierendes Denken ein. 63 „Wenn wir den Geist des Menschen durch die Erzeugung und Nutzung von Symbolen definieren, dann schreiben wir ihm damit eine kulturelle Existenz zu, binden wir ihn an die dingliche Form der Symbole und gründen ihn in der Öffentlichkeit einer sich ständig dokumentierenden und jederzeit archivierbaren Äußerungsgeschichte“, Schwemmer 2002, S. 13. Vgl. Hacking 1996, S. 223. 64 „Form investments“: Thévenot 1984, S. 21. Vgl. Wagner 1993, S. 470, Goodwin/Goodwin 1996, S. 91.

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ten.65 Es sind spezifische Dinge, die sich meist als Inskriptionen, kognitive Medien oder Instrumente der intellektuellen Technologien bzw. Kulturtechniken genauer charakterisieren lassen.66 Soziale Bedeutungen hat man sich am besten als solche kognitiven Instrumente oder als externe Darstellungen zu denken, und nicht als Vorstellungen (die abwechselnd in den Köpfen der Individuen oder in einem gesellschaftlichen Gesamtsubjekt placiert werden). Als Äußerungen und schriftliche oder grafische Darstellungen dienen sie als Vermittler zwischen Individuum und Individuum, zwischen Individuum und Gruppe, zwischen Gruppe und Gruppe; sie sind etwas Drittes wie Formulare, instrumentell vermittelte Kategorisierungen und statistische Auswertungen. Die Frage der Institutionalisierung läßt sich entdramatisieren, vom Gegensatz Individuum-Gesellschaft ablösen, wenn man sie analog zu den Gewohnheiten im Handeln oder Verhalten denkt. Institutionen sind gemeinsame Handlungsabstimmungen, -koordinationen, die in Gewohnheiten abgesunken sind bzw. in diese über-setzt worden sind.67 Für dieses Absinken und solche Abstimmungen sind Dinge (Häuser, Straßen, Computer, Formulare) äußerst wichtig, sie bilden Anhalts- und Stützpunkte. Dinge sind Bindeglieder zwischen Situationen, möglicherweise standardisieren sie diese, jedenfalls helfen sie als Instrumente der intellektuellen Technologien und als kognitive Medien bei der Verbreitung und Koordination von Kognitionen; man denke an den Kalender.68 Denn auch physisch realisierte Kalender, Zeit- und sonstige Meßgeräte sind Denkinstrumente.69 Die Differenz „zwischen Wissen, kollektiver Koordination der Aktivitäten und Instrument der Objektivierung“ (Thévenot 2006, S. 186) darf nicht ver-

65 Nicht zufällig präsentiert Star Formulare und Etiketten als eine Form von Grenzobjekten: Star 1989, S. 50. 66 Auch wenn sie heute vielfach von solchen in elektronischer Form ersetzt oder ergänzt werden, scheint mir „Wissensobjekte“ nicht der richtige Terminus für sie. 67 Das ist in etwa der Institutionenbegriff Gehlens, wie er auch von Berger/Luckmann 2004, S. 56 ff., vertreten wird. 68 Den auch Thévenot in diesem Zusammenhang anführt und anhand dessen er Durkheims Interpretation des Kalenders ausgehend von Ritualen und Zeremonien (Durkheim 1994, S. 29) als klassischen Konventionalismus kritisiert: „Wenn die Realität des Objekts mit der sozialen Realität verschmilzt, scheitert der Umweg über das Objekt. Der Kalender ist nurmehr eine Übereinstimmung kollektiver Überzeugungen oder kollektiver Aktivitäten, und nichts von seiner Materialität ist für die Formatierung des Wissens (connaissance) wichtig.“ (Thévenot 2006, S. 187) 69 Hierher gehört dann auch die Überlegung von Hutchins, wonach primitive Kulturen kein primitives Denken implizieren, sondern allenfalls primitive Technologien.

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wischt werden, sondern das Verhältnis dieser Terme ist jeweils zu analysieren und auszufalten,70 eine drei- wenn nicht mehrstellige Relation, die an die Stelle des zweipoligen Schemas der mit sozialen Bedeutungen überlagerten Natur (bzw. Materie) tritt. Üblicherweise, vor allem in einer sozialkonstruktivistischen Sicht, werden zu schnell die Unterschiede zwischen Werkzeug, Klassifikationsschema und sozialer Institution eingeebnet,71 da sie alle einem supponierten Gesellschafts- oder Wissenssubjekt zugeschlagen werden. Die Differenz zwischen subjektivem Geist und objektivem Geist eignet sich gut, um zwischen einer mentalistischen und einer verteilten Vorstellung von Kognition zu unterscheiden.72 Eine mentalistische sieht im subjektiven Geist allen, den es geben kann. Eine eng gefaßte materialistische bestreitet, daß es subjektiven Geist überhaupt gibt.

Entlastung und Verantwortung Es ist noch einmal zu betonen, daß ein komplexer Handlungsbegriff das Absinken von ehemals neuem bewußten Handeln in Gewohnheiten einbeziehen muß; über eine solche Habitualisierung läßt sich ebenfalls eine Beziehung herstellen zwischen sozialem Handeln und kognitivem. Die gewohnheitsmäßig Handelnden können Automatismen, Gewohnheiten, Institutionalisierungen zwar problematisieren und suspendieren, müssen sich aber andererseits auch auf sie verlassen können. In der Gesellschaft, in Gruppen, im Alltagsleben, überall, wo Praktiken in einem komplexen Geflecht ineinandergreifen, kann man ohne Gewohnheiten und Entlastungen keinen Schritt tun. Daher scheint mir Verantwortung und Rechenschaftsfähigkeit, nicht Bewußtsein die angemessene Kategorie zu sein, wenn es um soziales und verteiltes Handeln geht.73

70 Thévenot 2002, S. 56, Thévenot 2006, S. 238, S. 135. 71 Thévenot wirft das Durkheim vor: Thévenot 2006, S. 186. 72 Zwischen Geist und Bewußtsein läßt sich dahingehend unterscheiden, daß Geist qua der dinglichen Form der Symbole oder der Verteilung auf Dinge immer eine öffentliche Seite hat. Krüger 2010, S. 99, identifiziert den subjektiver Geist mit Selbstbewußtsein und bestimmt den objektiven Geist als soziokulturelle „Mentalitäten, die eine institutionelle und sprachliche Wirklichkeit sui generis erlangen“, eine für mich eingeengte Definition, da eben gerade die dingliche Seite fehlt, die für Dilthey, Simmel und MerleauPonty (Merleau-Ponty 1966, S. 398) dazugehört. 73 Das schließt an die Diskussion in 2.2 an: Verantwortlichkeit, Handlungsfeld vs. Intentionalität.

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Während für die einen Bewußtsein und Verantwortung in gesellschaftlichen Prozessen, Praktiken, Institutionen mitlaufen und gelegentlich abgefragt werden,74 sind sie für andere konstitutiv für Gesellschaft, bei Strafe der Entfremdung oder Verdinglichung. Doch eines ist es, Verantwortung zu übernehmen bzw. anzumahnen, etwas anderes, ob tatsächlich stets präsentes Bewußtsein aller Menschen bei ihrem (gesellschaftlichen) Handeln eine halbwegs realistische oder auch nur sinnvolle Annahme für eine Gesellschaftstheorie sei. In gewissem Sinne läßt sich auch die Institutionalisierung von Handlungen, Vorgängen, Kognitionen als Verteilung beschreiben, lassen sich „Institutionen als Systeme verteilter Gewohnheiten“ ansehen (Gehlen 2004, S. 23). Was vorher vom Einzelnen zu erwägen oder überlegen war, wird nun von sozial stabilisierten Verhaltenserwartungen abgestützt: Wege, Kanäle, Knöpfe, Griffe, Gelder. Es müssen Institutionen sich anders legitimieren als einzelne Akteure, auch wenn sie heterogen sind (Dispositive, Akteurnetzwerke sind, enthalten oder zu diesen gehören). Ebenfalls bedenken sollte man, daß Institutionen illegitim sein oder, wichtiger noch, werden können. Die sich verselbständigenden Handlungsketten mit ihren vielen nicht-menschlichen Vermittlern bringen nicht als einzige Probleme mit sich; auch menschliche Vermittler verändern Ausgangsintentionen, gutgemeinte Absichten und Pläne. Hier könnte man an das oben (in Kap. 2.2) zu kollektiven Akteuren Gesagte erinnern. Das Handeln von Institutionen, kollektiven Akteuren, Gruppen wird oft von Agenten und Repräsentanten vollzogen. Diese intervenieren in andere Handlungsformen, hemmen, unterbrechen, verstärken, verlängern diese. Letztlich ist hier auf die verschiedenen Rechtfertigungsregime zu verweisen (Boltanski/Thévenot 2007), in denen man argumentiert, wenn Rechtfertigungen situativ eingefordert werden.

Sozialisation anhand von Dingen? Stephen Turner (2002) kritisiert die übliche Vorstellung, wie gesellschaftliche Regeln beim Individuum ankommen (also mittels Prozessen, die traditionell als Sozialisation, Internalisierung u.ä. bezeichnet werden): Als gäbe es so etwas wie einen zentralen Gesellschaftsserver, von dem die einzelnen Gesellschaftsmitglieder identische Regeln, Normen, Klassifikationen herunterladen.

74 Die Frage ist, wieviel Bewußtsein bei dem „subjektiven Sinn“ vorausgesetzt wird, den das Handeln nach Webers Definition enthalten muß. Gefragt ist, Gehlen zufolge, der Handelnde, der „...angesichts komplizierter, etwa nach moralischen und sachlichen Dimensionen qualifizierter Lagen merkt, wann er die schematische Beurteilung außer Kraft zu setzen und aufmerksam zu werden hat, das heißt sich auf die Lösung eines Ausnahme- oder gar Erstproblems einstellen muß“ (Gehlen 1957, S. 106).

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Die Alternative zu einem solchen Modell sieht Turner in einer dem Konnektionismus verpflichteten Kognitionstheorie,75 für die das, was an Kognition oder an Sozialisation des Individuums letztlich stattfindet, von Individuum zu Individuum verschieden sein wird. Anstelle geteilter kollektiver Vorstellungen (wie bei Durkheim) führt er schlichtere Erklärungen an, wie etwa die Nachahmung (schon bei Mead und Tarde in dieser Funktion zu finden) oder das Vermeiden von Sanktionen (wie bei Weber). Dinge, Objekte bzw. nicht-menschliche Wesen kommen bei ihm insofern ins Spiel, als auch sie eine Alternative zum üblichen Internalisierungsansatz darstellen; er führt hier Andrew Pickering und nicht Latour als Gewährsmann für den Einbezug der Dinge in Gesellschaft an (Turner 2002, S. 13 f.). Als Beispiel bringt er die Pferde, die von den Spaniern auf dem amerikanischen Kontinent eingeführt und an die Indianer „tradiert“ wurden. Die Indianer erlernten die Praktiken, wie mit Pferden umzugehen sei, nicht durch regelgeleitetes Training und Ausbildung von den Spaniern. Sie brachten sie sich, anhand der Pferde, selbst bei (ebd., S. 14). Für mein Argument macht es keinen Unterschied, daß es hier nicht-menschliche Wesen im weiteren Sinne sind, auch Turner verallgemeinert: daß Praktiken „oft um physische Objekte herum ausgeführt werden, deren Verbreitung verlangt, daß die Menschen Fertigkeiten, Gewohnheiten und andere Mittel entwickeln, um sich ihnen anzupassen. […] Das Pferd ermöglichte einen neuen Lebensstil, neue Formen des Kriegs, Konsums und Wohnens: eine neue Kultur.“ Gegen Pickering – für den die „Maschine“ aus Menschen und Objekten alles sei, woraus Praxis, Praktiken bestehen – macht er geltend, daß es gleichwohl kognitive, „mentale“ Elemente im Gefüge von Objekten und Praktiken gebe, worunter er artikulierte Theorien und Ideen sowie menschliche Gewohnheiten versteht.76 Wenn man mehr auf die Instrumentierung und Koordination der Indi-

75 Entsprechend Stufe 2 der obigen KI-Klassifikation in Kap. 3.1. Vgl. im einzelnen Turner 2002, S. 21, S. 61 ff. 76 Daß es mentale Elemente (oder kognitive) in den Gefügen gibt, würde ich nicht bestreiten, wohl aber Turners Charakterisierung dieser. Turner betrachtet als „mental elements“ sowohl „nontacit things, such as articulated theories and ideas“ als auch „tacit things, which I understand as individual habits, that are part of a ‚practice‘. The issue, in part, is whether these mental elements should or should not be considered part of the ensemble.“ ebd., S. 14. Ich würde allerdings Theorien zum objektiven Geist anstatt zum „Mentalen“ rechnen, und würde sagen, daß individuelle Gewohnheiten mentale Elemente oder Aspekte allenfalls aufweisen oder enthalten können, aber nicht aus solchen bestehen (es sei denn es wären kognitive Gewohnheiten). S.o., Anm. 48, die Abgrenzung von Descombes zwischen einer habituellen Präsenz und einer mentalen. Auch Ideen sind nicht durchgängig mental, wenn man an ideologische

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viduen achtet (mit Thévenot), kann man allerdings der starren Alternative – Dinge (bzw. Pferde und Maschinen) oder mentale Kognitionen – entgehen. Turner geht, ähnlich wie ich, von Gewohnheiten aus (Turner 2002, S. 12 f., S. 20), und verbindet diese Orientierung mit einer bestimmten kognitiven Psychologie (die ich nicht teile, die aber, wie ich denke, für sein Argument nicht entscheidend ist).77 Vielleicht ist hier der Ort, um kurz darauf hinzuweisen, daß verschiedene Sozialtheorien meist verschiedene Sozialisationstheorien bzw. Kognitionstheorien mit sich führen. In der Regel bestehen diese bei denen, die von gesellschaftlichen Repräsentationen ausgehen, in einer Abwandlung der klassischen KIVorstellung (wie oben, Kap. 3.1, in dem Schema als Phase 1 bezeichnet). Turner untermauert seine Überlegungen mit einer neuen kognitiven Psychologie, nämlich dem Konnektionismus (Phase 2). Mit dem Einbezug der Objekte, auch wenn er sich diesen nicht ganz zu eigen macht, deutet er die situierte und verkörperte Kognition an (Phase 3). Entscheidend für Turners Argument ist einerseits der interpretative, kreative Anteil der Akteure, andererseits eine weniger normative Sicht auf Praktiken, eine fast naturalistische; „fast“, denn er streicht vor allem die Rolle der Nachahmung bei Mead und Tarde als basalem Mechanismus der Sozialisation (im üblichen Sinne) heraus. Die soziale Logik vom einzelnen her gedacht: Da es keinen Gesellschaftsserver gibt, von dem die einzelnen Mitglieder ihre Einstellungen, Normen herunterladen, gibt es nicht wirklich geteilte (im Sinne von Teilhabe, shared) Werte, sondern es gibt Bezugnahme auf gemeinsame Werte, die extern dinglich oder schriftlich objektiviert sind (sein können). Daß jeder einzelne dabei vermutlich Unterschiedliches empfindet, denkt etc., ist nicht ausschlaggebend, solange er sich mit anderen über diese Werte verständigen kann.78

und ideengeschichtliche Zusammenhänge denkt, die immer auch Darstellungen, Diskurse und Inskriptionen umfassen. 77 Die er noch einmal in einem Zeitschriftenartikel (Turner 2007) pointiert und, wie der Titel anzeigt, überspitzt ausformuliert hat: „Social Theory as a Cognitive Neuroscience“. 78 Andere Beispiele: Sprache, Verkehrsregeln. Dieser Gedankengang unterscheidet sich vom Kulturalismus, der von gemeinsam geteilten Prämissen („shared premises“, Turner 2002, S. 2) in der Weltsicht ausgeht; Turner bringt diese Gegenposition auch mit dem Neo-Kantianismus in Zusammenhang (vgl. ebd., S. 2 f., S. 11, S. 96).

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Technische Objekte und kognitive Technologien als Koordinatoren Die beiden Gesichtspunkte „Gesellschaft mit Dingen“ und „Kognition mit Dingen“ können sich also gegenseitig erhellen und ergänzen. Mit ihren Außenstützen reicht die verteilte Kognition nahtlos an gesellschaftliche Institutionen heran. Und umgekehrt prägen Institutionen und Gruppen die Individuen nicht nur mittels sprachlicher Kategorien und kognitiver Stile, sondern auch mittels dinglicher Außenhalte: über Instrumente, Inskriptionen, technische Formatierungen und kognitive Medien. In den Objektinstitutionen sind wir bereits einem begrifflichen Übergangsobjekt zwischen physisch-haptischen Dingen und traditionellen Institutionen begegnet (s.o. Kap. 2.3), hier erfolgt der Übergang vom Kognitiven zum Sozialen bruchlos. Je mehr und vielfältigere Vermittlungen man in den Blick nimmt, umso deutlicher wird, daß es keinen monolithischen Block Gesellschaft gibt, der den Individuen gegenüberstünde. Sondern es gibt instrumentierte Klassifikationen, Formatierungen und kognitive Technologien, mit Hilfe derer Individuen (oft) denken. Noch gibt es ein monolithisches Individuum, das der Gesellschaft gegenübersteht, sondern dieses enthält, wenn man so will, gesellschaftliche Anteile und kann nur in Gesellschaft (von Menschen und von Dingen) es selbst (zum Menschen, Selbst, zur Person etc.) werden.79 Wenn das Individuum denkt, sollte man das Soziale in oder an seinem Denken eher als Hilfe, Stütze begreifen: nicht als „negativen Zwang, der ‚die Subjektivität einschränkt‘, sondern als ein positives Angebot zur Subjektivierung“ (Latour 2007b, S. 367). Man sollte ohnehin „das Subjekt“ oder Selbst im Sinne des einzelnen Menschen, Individuums aus seiner egologischen Konstitution lösen. Das Selbst wird teilweise sozial konstituiert. Meist werden die gesellschaftlichen Anteile (das Me bei Mead) als verinnerlichte Symbole, Repräsentationen, Kategorien etc. gedacht. Besser verstünde man sie – und sei es nur „auch“ – als Gewohnheiten, Routinen, Kommunikationen und Außenstützen. Sie müssen also nicht „innen“, können „außen“ sein, wie eine Schreibmaschine, eine Tastatur oder ein Telefon.

79 Der Gegensatz Individuum-Gesellschaft läßt sich auflösen in Beziehungen, Interaktionen, Koordinationen zwischen Individuen, zwischen diesen und Gruppen, zwischen Gruppen und Gruppen etc. Siehe auch Dewey 1996, S. 160 f. Das Individuum läßt sich sogar als eine Gesellschaft, eine Assoziation betrachten. Latour zieht hier Tarde heran, für den unterhalb der Ebene des Individuums Sub- oder Mikroakteure denkbar sind, so wie oberhalb (oder quer dazu) kollektive Akteure. Zusammen mit seinem Koautor lobt er Tarde dafür, daß dieser „nie die Gesellschaft dem Individuum entgegensetzt, sondern der Ansicht ist, daß beide nur provisorische Aggregate sind, partielle Stabilisierungen, Knoten in Netzen“ (Latour/Lépinay 2010, S. 17).

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Wie die externen darstellenden Medien bei Hutchins.80 Und wenn sie innen sind, so stehen sie, wie die Sprache (die unter anderem in verinnerlichten äußeren Darstellungen besteht) mit äußeren Darstellungen in engem Zusammenhang.81 Auch internalisieren wir nicht zwangsläufig gesellschaftliche Normen im eng verstandenen Sinn, wenn wir uns mit der Funktionsweise eines Geräts oder dem Weg durch einen Park vertraut machen, dennoch kann beides soziales Handeln sein. Es gibt auf dieser Ebene keinen kategorialen Unterschied zwischen normativen und kognitiven Verhaltenserwartungen. In der Perspektive einer kritischen Soziologie ist hier rasch die Frage da, wieviel das Individuum sich abnehmen lassen kann, soll, darf. Sie wurde und wird hinsichtlich der Legitimität von Institutionen immer wieder vorgebracht, hinsichtlich dinglicher Delegationen führt sie rasch zum kritischen Verdikt der Verdinglichung oder wird in der Zuspitzung zur Frage „Können Computer denken?“ eher umgangen. Das Problem wird gewissermaßen eine Stufe zu hoch gehoben, und der schlichten Frage, wie und ob diese kognitiven Medien beim Denken helfen, ausgewichen. Aber man muß hier (wie Hutchins und Latour) bei Büchern, Linealen, Logarithmentafeln und Seekarten ansetzen. Eine andere Überlegung, mit dem Subjekt des Handelns zusammenhängend: Wer verteilt beim verteilten Handeln, in der verteilten Kognition? Zum Beispiel wenn ich mit einem Taschenrechner oder im Kopf etwas rechne: Verteile ich die Kognition? Ist „die“ Gesellschaft für die Verteilung verantwortlich, weil Taschenrechner in Umlauf sind? Der Markt...? Oder die Institution, die ihn mir zur Verfügung gestellt hat? Der Erfinder des Taschenrechners? Ich, der ihn mir greife, kaufe, ausleihe, benutze? Anders gefragt: Wird bewußt verteilt, bewußt delegiert? Eher nicht, sondern durch technische Innovationen oder „Rationalisierungen“. Jede Innovation ist eine Umverteilung des Handelns. Also wird doch gesellschaftlich verteilt, könnte man argumentieren; in Assoziationen wird nicht nur verknüpft oder in Kommunikationen kommunziert, sondern zusätzlich zirkuliert so etwas wie „Sozialität“ oder Macht, Hierarchie, soziale Differenz. Genauer gesagt, was hier passiert, ist Beteiligtsein an einem kollektiven Tun, Bestandteil, Mitglied einer Gruppe, Gruppierung, möglicherweise Gesellschaft zu sein oder zu werden. Man könnte sagen, gesellschaftliche Differenzen und Differenzierungen, Hierarchie, soziale Klassifizierung (Schichten, Klassen etc.) liegen quer zu Situationen, Interaktionen, Netzwerken.

80 Das Verhältnis Individuum/Gesellschaft läßt sich innerhalb des Individuums bzw. seines Verhaltens artikulieren: Me und I bei Mead; bei Tarde das einfachere Soziale, dem das komplexere Individuelle eine Seite seiner selbst leiht (vgl. Latour 2009b, S. 50). 81 Siehe Hutchins 1995, S. 263 ff., zu Verinnerlichung.

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Außer einer solchen, sagen wir, strukturalistisch inspirierten oder sozialstrukturellen These82 könnte man auch einen eher ethnomethodologischen Zugang zur Gesellschaft wählen. Die Gesellschaft, gesellschaftliche Ordnung wird hergestellt in jeder Situation, Interaktion, in der soziales Handeln in Frage gestellt, begründet, legitimiert etc. oder gewohnheitsmäßig, traditional vollzogen wird. „Jedesmal, wenn ein Ausdruck verwendet wird, um das eigene Handeln zu rechtfertigen, wird nicht nur das Soziale formatiert, sondern ebenfalls eine Beschreibung zweiten Grades davon geliefert, wie die sozialen Welten formatiert werden sollten.“ (Latour 2007b, S. 399) Auf eine spezifische zeitdiagnostische Hypothese habe ich mich nicht grundsätzlich eingelassen oder festgelegt, allenfalls auf eine zunehmende Bedeutung der Dinge verwiesen, auch zunehmend komplexerer (technischer oder wissenschaftlicher). Daß immer mehr gesellschaftliche Integration über Dinge und Geräte erfolgt, ist eine häufige Diagnose, die sich aber unterschiedlich interpretieren läßt. Neben dem oben diskutierten Sachzwang-Argument gibt es etwa die These von Knorr Cetina (1998), daß die Dinge die menschlichen Sozialpartner ersetzen, daß also bei der Auflösung traditioneller sozialer Beziehungen die Dinge die Beziehungsgewinner sind. Hier vernimmt man schon wieder den kritischen Unterton (eigentlich sollten sich die Menschen nur für die Menschen interessieren, alles andere sind abgeleitete, verderbte Sozialbeziehungen). Man könnte die Zunahme technischer Vermittlungen aber auch anders interpretieren: daß soziale Beziehungen im traditionellen Sinn zusehends über Dinge vermittelt werden (wie etwa Telefone und E-Mail andere Familienstrukturen ermöglichen bzw. durchsetzen). Daß also die Beziehungen zu den Dingen (im Sinne Knorr Cetinas) meist Beziehungen zu Menschen vermitteln. Demnach bestünde die interessante soziale Tatsache in einer Verlängerung und Komplizierung der Handlungs-, Übersetzungs- und Interaktionsketten. Und diese Verlängerung hat in mancher Hinsicht positive, in anderer negative Konsequenzen. Hier kann man noch einmal anmerken, daß die Dinge nicht nur in der dualistischen, intentionalistischen Soziologie an den Rand gedrängt werden, sondern auch in der kritischen Soziologie im allgemeinen unter den Verdinglichungsverdacht fallen. Ich komme nun zu einer kurzen Zusammenfassung dieses Unterkapitels (4.2). Das Losungswort lautet „Koordination“, und koordiniert wird vornehmlich mittels Dingen und intellektueller Technologien. Soziale Ordnung bildet sich durch, besteht in Ko-ordination; es gibt keine überwölbende Gesellschaft als Ordnungsmacht oder -garant (das ist nahe an der ethnomethodologischen Positi-

82 Die in mancher Hinsicht mit einer systemtheoretischen kompatibel ist.

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on). Eine historische Chiffre hierfür lautet objektiver Geist, den ich in diesem Zusammenhang auch als einen weiteren Hybridbegriff zur Bevölkerung des „Reichs der Mitte“ vorgeschlagen habe. Eine andere Chiffre lautet „die Gesellschaft“. Unter diesem Oberbegriff gibt es einige traditionellere Lösungen: Koordination über Institutionen (Gehlen), über die Reproduktion der Lebensgrundlagen der Gesellschaft im Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (Marx), über die Gesellschaftsstruktur, wie immer man sie bestimmt; sei es, wie Descombes (1995) über normative Regeln, Strukturen, sei es wie Breslau (2000) in der Tradition Bourdieus als Klassen-, Schichtstruktur. Man könnte sie alle in Termini der Koordination formulieren (das nur als These, um Ansatzstellen für traditionelle Sozialtheorien anzudeuten). Das sogenannte Ordnungsproblem der Soziologie löst sich also in ein Koordinationsproblem auf.83 Ganz in diesem Sinne etikettiert Latour seine Soziologie als eine der Assoziationen (Latour 2007b, S. 23) und polemisiert gegen die Gesamtschauen der traditionellen Gesellschaftstheorien, die er als Panoptiken bezeichnet.84 Das Ganze der Gesellschaft ist nicht zu haben, es ist ein „Großer Anderer“, es ist allenfalls ein Gedanke, der fruchtbar sein kann als Verweisung auf ein prospektives Ganzes: die Gesellschaft als eine noch herzustellende, zu versammelnde.85 Wobei auch die Dinge als Vermittler dienen. Vielleicht sollte hier noch einmal daran erinnert werden, daß diese Vermittlung nicht nur kognitive Medien und Artefakte leisten. Solche habe ich in diesem Unterkapitel (4.2) vor allem deshalb hervorgehoben, weil sie mir erlaubten, eine Brücke zu schlagen zwischen der Rolle der Dinge in der Gesellschaft und in der Kognition. Gewiß vermitteln kognitive Medien und intellekuelle Technologien, und sie vermitteln viel von dem, was sonst sozialen Bewußtseinsformen oder Intentionalitäten gutgeschrieben wird. Aber sie sind natürlich nicht die einzigen Vermittler. Darüber hinaus sind es auch andere Artefakte und Dinge, die gesellschaftlich integrieren und Assoziationen ermöglichen, nicht nur Denk- und Zeigzeuge,86 sondern auch Werkzeuge, Fahrzeuge, Spielzeug, Produktionsanlagen, Roboter, Kunstwerke. Aber auch Umweltzerstörung, schmutzige Flüsse, Klimaveränderung und andere problematische Sachverhalte. Solchen in ganz anderem

83 Also die Frage: Wie ist soziale Ordnung möglich? Von Parsons 1968, S. 89 ff., im engeren Sinne als das Hobbessche Ordnungsproblem formuliert: Wie ist soziale Ordnung unter utilitaristischen Prämissen möglich? 84 Latour 2007b, S. 302 ff. 85 Diese These der Gesellschaft als erst noch zu versammelnder hat Latour vor allem im Schlußkapitel von Eine neue Soziologie … (Latour 2007b, S. 424 ff.) entwickelt. 86 „Denkzeug“: Krämer 1997b; „Zeigzeug“: Heidegger 1979, S. 78.

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Sinn vermittelnden Sachen wende ich mich nun noch kurz zu – allzu kurz, so daß die folgenden Absätze lediglich als Ausblick auf anschließbare Forschungen zu verstehen sind.

Öffentliche Sachen und instrumentierte Öffentlichkeiten Weder Klimaveränderungen noch das Ozonloch sind Dinge im engeren Sinne. Es gibt auch Sachen, die gesellschaftlich integrieren und koordinieren, ohne zwangsläufig physisch-haptische Dinge zu sein. Versammelt und koordiniert wird ebenfalls mittels Sachen, über die man sich streitet, einigt, freut, ärgert, die man diskutiert, erforscht, öffentlich macht, und mittels Öffentlichkeiten, in denen solche Sachen, sobald sie mehrere betreffen, verhandelt werden.87 Zwar kann man auch von „ökologischen Gefährdungen“, wie Luhmann, sprechen, aber das klingt schon deutlich subjektorientiert oder soziozentrisch. Erst recht, wenn man fortfährt: „sie [die Gesellschaft] kann sich also nur selbst gefährden“ (Luhmann 2008, S. 41 f.). Beim öffentlichen Streit um Dinge, bei „Dingpolitik“, wie Latour (2005b) es nennt, geht es zum einen um die Frage, mit welchen Dingen und Entitäten wir unsere Welt bevölkern, zum anderen darum, welche Angelegenheiten, Sachen relevant sind. Denn die öffentlichen Sachen bestehen heute nicht mehr allein in politischen und sozialen im traditionellen Sinn. Neue Öffentlichkeiten bilden sich um Streitfragen (issues), strittige Angelegenheiten (Marres 2007), und sind dementsprechend weder als eindeutige Interessenartikulation noch als diskursbasiert, im Sinne einer beratschlagenden Öffentlichkeit zu verstehen.88 Wenn die vorhandenen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen mit einem Problem überfordert sind, entsteht ein neues Publikum, teilweise, weil es von den Folgen dieser nicht gelösten Probleme betroffen ist.89 Damit ist zu vieles angesprochen und aufgeworfen, um es in dieser Arbeit noch erschöpfend zu behandeln. Denn nicht nur geht es nun um öffentliche Sachen und Streitsachen als zwar mit dem generellen Tenor meiner Arbeit – den Dingen und Quasi-Objekten mehr Raum in der Sozialtheorie zu geben – verein-

87 Diese, wenn man so will, politische Dimension der Dinge verhandelt Latour in Latour 2001a, zusammen mit der von „Naturpolitiken“. 88 Gemeint sind damit die Arenen einer „deliberativen Öffentlichkeit“, wie sie Habermas 2008 beschreibt, also der Öffentlichkeit in Massenmedien und diversen anderen Formaten. 89 Lippmann 2009, S. 121. Deweys Buch zur Öffentlichkeit (Dewey 1996) greift diesen Gedanken Lippmanns auf, kritisiert zum anderen dessen Folgerungen. Vgl. zur Debatte der beiden: Marres 2005.

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barer Begriff, der sie aber dennoch zu sprengen droht. Aber darüber hinaus auch um die medialen Träger, Instrumente der Öffentlichkeiten, damit um Kommunikationsmedien und Massenmedien. Für genauere Erörterung solcher öffentlichen Sachen und instrumentierten Öffentlichkeiten bleibt im Rahmen dieser Arbeit leider kein Raum mehr. Daß sie alle koordinieren, und sei es als Streitsachen, ist das einzige, was sie hier im Sinne meiner Argumentation illustrieren sollten.

Schluß

Die Haltung zu Dingen oder Objekten, die ich in dieser Arbeit entwickelt habe, läßt sich in zwei miteinander zusammenhängenden Bewegungen resümieren. Erstens werden Dinge in Gesellschaft und Kognition aufgewertet, für wichtig gehalten (sie „zählen“, sie „machen einen Unterschied“).1 Damit habe ich einen Blick auf die Dinge kultiviert, der nicht an ihrer Abwertung interessiert war (ob diese nun erkenntnis- oder gesellschaftskritisch motiviert ist). Dinge werden zweitens anders konzipiert, begrifflich neu gefaßt. Wie sie das werden, wie sie in Rechnung gestellt werden und auf welche Weise sie ins Handeln, in Gesellschaft, in den Diskurs eingehen, ist noch einmal eine andere Frage als die Tatsache, daß sie zählen. Oder wie sie von der soziologischen Analyse erfaßt werden können. Zunächst zur ersten Tendenz: Daß Dinge wichtig sind, daß sie zählen, daß es Referenten außerhalb des Diskurses gibt, ist auch in erkenntnistheoretischer Sicht eine realistische Haltung. Daß eine Arbeit, die sich mit körperlichen, greifbaren, materiellen, stofflichen, physisch-haptischen Dingen beschäftigt, von deren Existenz ausgeht, und insofern empiristisch und realistisch orientiert ist, ist ein fast tautologisches Resümee. Daß dieser Realismus als Gegenentwurf oder -position zum sozialen Konstruktivismus sich versteht, ist schon eine dezidiertere Position (die ich auch des öfteren artikuliert habe).2 Vielleicht läßt sich das Interesse an materiellen Dingen, gerade in Wissenschafts- oder Technikforschung, aber auch unter das Etikett Materialismus bringen. Nicht wenige Forschende im Bereich der Science and Technology Studies hätten dagegen nichts einzuwenden.3 Daß es nicht der traditionelle Materialis-

1 Für die immer wieder aufgegriffene Formulierung, daß Dinge „einen Unterschied machen“, siehe etwa Latour 2007b, S. 123. 2 Und auch bei Latour hat mich mehr seine realistische Seite als seine konstruktivistische interessiert. Dazu genauer: Koch 1995. 3 Zur materialistischen Orientierung in der historischen Wissenschaftsforschung siehe Schmidgen 2011, S. 182 f.

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mus ist, wird etwa von Reckwitz (2002) betont, der einen Materialismus der Artefakte und Dinge in der neueren Kulturwissenschaft am Werk sieht (etwa bei Kittler, Latour, Pickering), im Unterschied zu einem der ökonomischen Basis, wie in der traditionellen Wissenssoziologie oder marxistischen Gesellschaftstheorie. Auch Latour reklamiert den Materialismus (Latour 2007a), aber den gängigen Materialismus kritisiert er als Idealismus. Nimmt man den Titel seines Artikels „Can We Get Our Materialism Back, Please?“, so ist eine gewisse Ironie zu spüren. Andernorts (Latour 2007b, S. 225) erkennt er im „aktiven und verteilten Materialismus“ eines Diderot eine Tradition, an die er mit der ANT anknüpft. Ohnehin ist es nicht selbstverständlich, daß die Beschäftigung mit materiellen Dingen oder selbst die Betonung der Materialität der physisch-haptischen Dinge schon Materialismus bedeutet. Eine Gemeinsamkeit zwischen Materialismus und Realismus besteht zwar darin, daß sie von der Existenz der materiellen Dinge außerhalb von Hirn oder „Subjekt“ überzeugt sind (bzw. davon überzeugt sind, daß dies eine plausiblere Annahme ist als ihr Gegenteil). Anders als der Materialismus wäre der von mir reklamierte Realismus aber pluralistisch: „Es gibt keine letzte Basis der Realität, die alles übrige auf einen bloßen ideologischen Überbau reduzieren würde“.4 Aber vielleicht kann die Frage, wie sich die Einbeziehung von Dingen in Kognition und Gesellschaft auf den Begriff bringen läßt, noch anders beantwortet werden. Vielleicht kann man von Objektivismus sprechen (im Unterschied zu Subjektivismus) oder, wie der Begriff lautet, den Harman in die Diskussion gebracht hat, von „Objektorientiertheit“, und damit eine Verschiebung des Interesses anregen: mehr zum Objekt hin oder zu den Dingen hin nachdenken und versuchen, das Begriffsinventar für diese zu erweitern (nachdem für Subjektivität und die Subjekte ein reiches sozialwissenschaftliches Begriffsarsenal zur Verfügung steht, angefangen bei Intentionalität, über Bewußtsein, Subjekt, Subjektivität, Ich, Selbst, Person, Psyche, Normativität, Interesse, Intersubjektivität bis zu Kommunikation). Damit bin ich schon beim zweiten Aspekt einer erneuerten Zuwendung zu den Dingen (neben ihrer Aufwertung), nämlich ihre andere begriffliche Fassung und ihre soziologische Erfassung. Dazu habe ich in dieser Arbeit einige Vorschläge unterbreitet. Dabei habe ich einen anderen Weg durch die Dingwelt eingeschlagen als meist üblich. Weder die Warenförmigkeit noch die Wahrnehmung von Dingen interessierte mich in erster Linie, sondern der vergesellschaftende und erkennt-

4 Harman 2009, S. 72.

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nisfördernde Umgang mit ihnen, wozu ebenfalls gehörte, das Dingspektrum zu erweitern, etwa epistemische Dinge und kognitive Medien einzubeziehen. Ist es mir gelungen, die Dinge in die Gesellschaft einzubeziehen, habe ich die Soziologie oder die Sozialtheorie an dieser Grenze etwas durchlässiger gemacht? Und konnte ich gleichfalls hinsichtlich der Kognition plausibel machen, daß es eine ebenso interessante oder vielleicht noch interessantere, da nicht so bekannte Fragestellung ist, wie die Dinge bei der Kognition, beim Erkennen helfen, an ihm beteiligt sind, als jene übliche Fragestellung, die nach den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit ihres Erkennens fragt? Zunächst habe ich nach den Gemeinsamkeiten verschiedener neuer Dingbegriffe gesucht, von denen ich jetzt nur die (sozial) aktive und bindende (vernetzende) Rolle der Dinge hervorheben will. Ich habe sodann herausgearbeitet, daß für die Ausblendung der Dinge in der traditionellen soziologischen Theoriebildung ein dualistisches Mißverständnis ihrer als natürliche Objekte verantwortlich ist. Daraufhin habe ich verschiedene Varianten, wie Dinge begrifflich in Gesellschaft bzw. in die Soziologie einbezogen werden können, erkundet: Dinge sozial durch Handeln, durch Normativität, durch Assoziation und schließlich auch durch Kognition. Die verschiedenen Formen oder Facetten von agency erwiesen sich als hilfreich, um Dinge in Handlungen zu integrieren (oder umgekehrt uns von Dingen in solche integrieren zu lassen) und von der dualistischen Ontologie im Bereich der Handlungstheorie (subjektiver Intentionen versus kausaler Vorgänge) abzukommen. Vielleicht habe ich damit auch meinen Beitrag geleistet zu einer minimalistischen, sparsamen soziologischen Handlungstheorie. Diese berücksichtigt zum einen die Erklärungen der sozialen Akteure für ihr Handeln, Verhalten, Agieren, zum anderen bezieht sie eine Perspektive der Nachträglichkeit, eine historische, prozessuale Perspektive. Der von mir dabei entwickelte aktantielle Handlungsbegriff ermöglicht mit verschiedenen Aspekten und Instanzen des Agierens und Handelns eine differenzierte Einbeziehung von nicht-menschlichen Entitäten. In diesem Teil meiner Arbeit ergab sich übrigens eine für mich überraschende Erkenntnis (nicht die einzige). Denn die kritische und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der agency bzw. Handlung in Bezug auf Dinge führte nicht dazu, den Handlungsbegriff ad acta zu legen (wie ich es wohl insgeheim gedacht hatte), sondern mündete in ein differenziertes Spektrum sozialen Handelns. Überraschend war weiterhin, daß sich hierzu Max Webers Handlungsbegriff als brauchbar erwies, der in mancher Hinsicht ebenfalls minimalistisch angelegt ist bzw. sich so interpretieren und verwenden läßt.

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Mit den Begriffen Akteurnetzwerke, Assoziationen, Objektinstitutionen habe ich versucht, soziales Handeln und soziale Akteure zu fassen, zu denen auch dingliche Anteile gehören, wobei jeder dieser Begriffe einen anderen Schwerpunkt setzt: So referiert Objektinstitutionen eher auf technische Geräte und Projekte, Akteurnetzwerke betont mehr das aktive Geflecht zwischen Menschen und Dingen und deren Verkettung zu Akten, Praktiken oder Handlungen, während Assoziationen die allgemeinste Fassung heterogener sozialer Gruppierungen darstellen. Die Verbindung zwischen Kognition und Sozialität mit Dingen habe ich zum einen über die verteilte Kognition als eine Sonderform verteilten sozialen Handelns hergestellt: die kollektive Lösung kognitiver Probleme als eine Form, wie Sozialität sich bildet. Als ein Resultat ergab sich hier, daß Kognition und Handeln in Bewegung sind zwischen verschiedenen Trägern, darunter auch nichtmenschlichen Entitäten. Die verteilte Kognition geht zum anderen über Außenhalte bruchlos in gesellschaftliche Institutionen über (und umgekehrt). Koordination mittels dinglicher Außenhalte und kognitiver Instrumentierungen macht einen Großteil dessen aus, was man gesellschaftliche Ordnung nennt. Ich habe in dieser Schrift den Versuch unternommen, eine theoretische Synthese und begriffliche Klärung aus vielen Arbeiten, darunter auch empirischen und historischen, zu ziehen. Ich hoffe, sie selbst wirkt wieder in die empirische Forschung zurück und ich habe dafür (aber auch zu anderen Zwecken) einige brauchbare begriffliche Werkzeuge zusammengestellt, bereitgestellt, zurechtgefeilt und geschmiedet bzw. wie man heute eher sagen müßte, kompiliert und programmiert. Mit zwei Gedanken zur Synthese zwischen Kognition und Sozialität mit Dingen will ich schließen. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Denken mit Dingen und Gesellschaft mit Dingen ergibt sich eher schräg oder transversal. Den Gedanken, daß Gesellschaft als solche eine zu machende, erst noch zu versammelnde ist – und dementsprechend beim konstativen Sammeln von Fakten oder Spuren darüber oder davon, wie Gesellschaft oder Assoziationen sich bilden, auch mitspielt, wie Gesellschaft aussehen sollte (gewissermaßen ein hermeneutischer Zirkel in die Zukunft hinein) –, könnte man auch auf die Kognitionsforschung (und analog Wissenschaftsforschung) ausdehnen. Gewiß erforscht diese die Kognition, empirisch, doch dabei spielt eben auch eine Rolle, wie sie sich vorstellt, daß Kognition sein sollte, könnte. Es läuft stets ein Horizont von Möglichkeiten mit. Dies ist bei weitem keine triviale normative Verzerrung, sondern genauso wie Gesellschaft ist auch Kognition, oder sagen wir sind Denken, Erkenntnis etwas, das im Werden ist und je nachdem, wie die-

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ses Werden nachgezeichnet wird, dessen weitere Entwicklung auch vorzeichnet; im Erforschen zeigt sich ein Forschen, das möglicherweise Instantiierung von etwas Neuem ist. Und (zweitens): Verteilt wird auch im Schreiben. Auch das Verfassen einer Schrift ist ein Verteilen, nicht nur von innen nach außen, im Sinne des Mitteilens; sondern auch ein Verteilen von Gedanken, von Inskriptionen, Sätzen, Argumenten, Beispielen, Propositionen, andererseits ein Versammeln, eine (hoffentlich) neue Zusammenstellung von Gedanken, Thesen, Argumenten. Auch das Schreiben einer Schrift ist eine soziale Handlung, ist Kognition, Erkenntnis. Beansprucht, es zu sein. Erst am Ende, erst im Ergebnis (und vielen Kritiken, Diskussionen und produktiven Weiterverwendungen, sprich Über-Setzungen) erweist sich, ob dies der Fall gewesen sein wird und wie (sehr) es geglückt ist. Ferner ist Kognition, Erkennen nicht nur auf Seiten, Kapitel verteilt, sondern auf mehrere Exemplare oder Versionen, also geteilt mit Leser und Leserin. Wenn die Schrift denn Erkennen weiterträgt, wenn sie denn soziales Handeln wird. Wenn der Funke nicht überspringt, wenn zu viele Argumentationsfehler sich eingeschlichen haben, wenn die Ausführungen die Lesenden nicht mehr interessieren, könnte die Bewegung unterwegs absterben und allenfalls aus dem Scherbenhaufen der Kritik eine Umverteilung, ein neu verteiltes Erkennen bzw. soziales Handeln wieder auferstehen. Wie auch für anderes Handeln, Tun kann „verteilt“ für Kognition, Erkennen heißen: verantwortet, zugeschrieben, repräsentiert, delegiert, beansprucht, benutzt – und natürlich last but not least: aufgeschrieben, das heißt notiert, fixiert, zu einem Ding oder Quasi-Objekt (Buch) geworden, dessen dingliche Kontur hier denn auch mehr oder weniger endet.

Nachwort und Dank

Dieses Buch ist als Ganzes konzipiert und geschrieben worden. Einige Passagen wurden allerdings in anderer Form vorab veröffentlicht bzw. vorgetragen. Das erste Kapitel erschien in kürzerer Form 2008 als „Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge“ in Georg Kneer/Markus Schroer/Eberhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M., S. 76-107. Ich habe es in einigen Passagen erheblich verändert, unter anderem enthält es einen neuen Abschnitt über die technischen Objekte bei Simondon. Ich danke Michael Huppertz, Marianne Karbe und Henning Schmidgen für Kommentare zum Text und den Herausgebern für den Abdruck. Erste Überlegungen zum Bedeutungsspektrum des Agency-Begriffs (Kap. 2.2) habe ich 2007 im „Nachwort des Übersetzers“ angestellt, erschienen in Andrew Pickering, Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin, S. 177-184. Hier danke ich Andrew Pickering und Henning Schmidgen für die Diskussionen bei der gemeinsamen Arbeit an diesem Buchprojekt. Die Überlegungen zum Handlungsbegriff und den fünf Facetten von agency (Kap. 2.2) habe ich zum ersten Mal im Februar 2009 an der Universität Jena vorgestellt, wo ich einen Vortrag hielt mit dem Titel „Können Dinge handeln? Zur sozialen Handlungsmacht nicht-menschlicher Akteure“. Ich danke dem Fachschaftsrat Kommunikationswissenschaften für die Einladung sowie David Goossens für seine Vermittlung. Seit 2010 habe ich auf Einladung Werner Rammerts das Konzept dieser Arbeit und Teile daraus im Forschungskolloquium zur Technik-, Wissenschaftsund Innovationsforschung am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin vorgetragen und zur Diskussion gestellt. Ich danke Werner Rammert und allen Teilnehmern für ihr Interesse und ihre kritischen Nachfragen. Eine erste Version dieser Arbeit wurde im April 2012 als Dissertation an der Technischen Universität Berlin eingereicht. Den beiden Gutachtern Werner Rammert und Hans-Jörg Rheinberger danke ich für ihre Betreuung und kritischen Ratschläge.

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Auch den Freunden und Freundinnen, die zu den verschiedensten Zeiten und Anlässen mit Hilfe, Diskussion und Zuspruch beteiligt waren, wie auch allen namentlich nicht erwähnten Diskussions- und Gesprächspartnern im thematischen Feld dieser Arbeit danke ich hiermit. Vor langer Zeit habe ich mit Bruno Latour und Heinz Bude über das Projekt gesprochen. Beiden danke ich für ihre Ermunterung. Besonders danke ich Michael Huppertz und Henning Schmidgen als meinen beiden ersten Lesern. Michael Huppertz hat darüber hinaus diese Arbeit von ihren allerersten Anfängen an mit Interesse und Kritik begleitet. Harry Brittnacher danke ich für Rat und Tat in kritischen Situationen, besonders was akademische Usancen betraf. Meinem Bruder Herbert danke ich für sein Lektorat. Ich freue mich sehr, daß ich Zora Kreuzers „Pyramide“ (2010) als Titelbild für dieses Buch verwenden darf, und danke ihr dafür. Zuletzt, aber nicht weniger, danke ich Susanne Preisser, meiner Gefährtin in all diesen Jahren, für ihre Unterstützung, Ratschläge, Hilfe und Ermutigung. Und für die vielen Gespräche, die vor allem am Anfang halfen, die Spur zu halten.

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